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GUSTAV SIEWERTH

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GRUNDFRAGEN DER
PHILOSOPHIE IM
HORIZONT DER
SEINSDIFFERENZ

TRIALOGO Verlag
D-78421 Konstanz
Print-On-Demand-Version
Auflage : 2003/06
Alle Rechte vorbehalten!
Copyright 2003 by TRIALOGO
VORWORT

Die hier veröffentlichten Abhandlungen sind in einem Zeitraum von ungefähr dreißig Jahren entstanden.
Sie sind ein philosophisches Gespräch, das im Zusammenhang mit den übrigen Arbeiten des Verfassers
zwar in verschiedenen Richtungen, aber in stetiger Fortentwicklung der transzendentalen Seinsdeutung
geführt wurde. Diese Seinsdeutung gipfelt in der Erörterung der „Differenz von Sein und Seiend“, die
von Martin Heidegger als jener wesentliche Auftrag philosophischer Besinnung bezeichnet wur-
de, die den verengten Horizont der neuzeitlichen Philosophie aufbrechen und den verdeckten oder
vergessenen Ursprung philosophischen Fragens wieder eröffnen könnte. Dabei bestätigt es sich wie
im „Schicksal der Metaphysik“, daß die großen Entscheidungen des Denkens im philosophisch-
theologischen Seinsentwurf des hohen Mittelalters gefallen sind. Um sie einzuholen und in ihrem geistes-
geschichtlichen Gewicht zu erweisen, genügt es nicht, das von den einzelnen Denkern Gedachte in der
Weise historischer Nachzeichnung wiederzugewinnen. Es gilt vielmehr, den unmittelbaren Gang spe-
kulativen Denkens auf die potentielle Systematik hin zu verdichten und zu vertiefen, um in geistesge-
schichtlicher Reflexion die entscheidenden Wenden in ihrer Notwendigkeit, in ihrer theologischen und
existentiellen Bedingtheit, in ihrem systematischen Gewicht wie in ihrer in den Anfängen noch ver-
deckten oder verhaltenen Potentialität sichtbar werden zu lassen und entsprechend zu kennzeichnen. In
diesem Betracht ist die Darstellung der „Seinscharaktere und ihrer Dialektik“ im System des Duns Sco-
tus von besonderer Bedeutung, nicht minder der Aufweis der theologischen Herkunft der modernen „Sub-
jektivität“ und ihrer absoluten „Systematik“ oder „Logik“.
Die Arbeiten über „Definition und Intuition“ und „die transzendentale Struktur des Raumes“ versu-
chen, den seinsvergessenen Lehrbegriffen des kritischen Idealismus und Realismus die ungleich kom-
plexeren und trotz ihrer Ursprünglichkeit und Sachgemäßheit so schwer zugänglichen Lösungen
der Seinsphilosophie gegenüberzustellen. In den Aufsätzen über die Selbigkeit des Wahren, des Guten
mit dem Sein und ihrer Unterschiedenheit tritt zutage, daß eine rein geschichtliche Wiederholung der
entfalteten Lehren des Aquinaten die unvollendete und spannungsreiche Potentialität der „Untersu-
chungen“ verfehlen muß. Ihr entgeht, daß gerade in einer lehrhaften Verfestigung und einer ent-
sprechenden abstrakten Verbegrifflichung der vorläufigen Aussagen ein wesentlicher Grund liegt für das
Hervortreten einer antinomischen Problematik, die ohne eine tiefere Ausfaltung der transzendenta-
len Differenz und des Verhältnisses von Sein und Nichtsein zu radikalen Lösungen treibt.
Auch die frühen Aufsätze über den „Widerspruch im Werke des jüngeren Hegel“ oder über Kants Lehre
von der „Geschichte der menschlichen Vernunft“, die nach der Vollendung der Habilitationsschrift und
ihres Hauptteils „Der Thomismus als Identitätssystem“ in den Jahren 1936 und 1938 verfaßt wurden,
sind ein kritisches Gespräch. In ihm wird versucht, in der Schärfe und Strenge der Seinsphilosophie und

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unter dem Maßgrund ihrer Prinzipien und Methoden die Strukturen und Denkweisen der beiden großen
neuzeitlichen Denkentwürfe aufzuhellen und die in ihnen geschehenen Entscheidungen aus den Aussa-
gen der Denker selbst kritisch nachzuvollziehen.
Die moderne transzendenzlose und seinsvergessene „Subjektivität“ steht im Mittelpunkt der Aufsätze
über Dilthey und den Psychologismus. Durch die Reduktion des Menschen auf eine organologisch und te-
leologisch oder auf eine durch Anlagen und Neigungen prädeterminierte Natur wird offenbar, in
welchem Maße die spezialwissenschaftlichen Aspekte das Wesen des Menschen gefährden.
Die Auseinandersetzung mit den spekulativen Paradoxa Hawthornes kann durchaus mit der Gottesfra-
ge bei Martin Heidegger zusammengelesen werden. In beiden Abhandlungen geht es ja um den
„göttlichen Gott“, der in der Tat durch die „Notwendigkeiten“ ontotheologischen und logischen Denkens
in seinem unzugänglichen freiheitlichen Wesen und Walten verstellt oder der Undenkbarkeit preisgege-
ben wird. Beide Erörterungen stehen zugleich in einem inneren Zusammenhang mit der zentralen Arbeit
über die Seinsdifferenz. Durch sie soll vor allem deutlich werden, wie die seit dem hohen Mittelalter
aufgegebene Frage nach dem Wesen der Seins- und Gottesdifferenz in ihrer Verklammerung mit
dem „Nichtsein“ kraft der fortschreitenden Logisierung des Seins die gnostische und rationalistische On-
totheologik der modernen Philosophie hervortreten ließ. Wird der Aquinate in diesem letzten und
höchsten Horizont spekulativ aus seinen Prinzipien weitergedacht, so wird offenbar, daß die „Seins-
vergessenheit“ Heideggers wie die „Ontotheologik“ Hegels nur als theologisches Geschick begreifbar
sind. Deshalb kann auch nur in der überlegenen Helle der unverkürzten Differenzstrukturen wie in der
unaufhebbaren Absolutheit der personalen Subsistenz des Seins und ihrer relationalen (existentiellen)
Transzendenz die Ontotheologik Hegels in ihren Scheinnotwendigkeiten, ihren zerrüttenden Widersprü-
chen und ihrer verdeckenden Nivellierung unaufhebbarer Unterschiede entschleiert werden und die
Wahrheit ihrer bedeutsamen und positiven spekulativen Vollzüge ans Licht treten. Da die theologische
eschatologische Systematik Hegels sowohl im „Nationalsozialismus“ wie im „dialektischen Materia-
lismus“ (im Versuch, die unaufgehobenen Widersprüche im politischen und gesellschaftlichen Bereich
und nicht nur in der geschichtstranszendenten „Idee“ zu versöhnen) ihre epochale Ausprägung gewann,
so bedeutet die spekulative Auseinandersetzung mit ihr eine Aufgabe, der sich kein Philosophie-
render entziehen kann, der sich der Forderung Heideggers stellt, zu bedenken, was heute „ist“
und „seins-geschicklich“ waltet. Es gilt auch hier der Satz Heideggers, daß „man einen Denker nur ehrt,
indem man denkt“ oder die Lehre des Aquinaten, daß in der Wahrung und Erhellung eines philo-
sophischen Prinzips für die Wahrheit und das Heil der Menschheit Wichtigeres geschah als im Gesamt al-
ler übrigen Erkenntnisse natürlichen Denkens.
Der letzte Aufsatz „Christentum und Tragik“, der 1934 eine von Theodor Haecker gestellte Frage zu
beantworten sucht, ist das Ergebnis eines lange währenden Bedenkens der antiken Tragödie. Ihr exis-
tentielles Mysterium steht nicht nur in einem wesenhaften Zusammenhang mit der sich gleichlaufend er-
eignenden Philosophie - ihm eignet auch im Geschichtsgang des abendländischen Geistes ein verweisender
Bezug zum Geschehen auf Golgotha. Sofern die Gnade erlittenen „Wissens“ alle irdische Glückseligkeit

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überschattet, deutet sie auf eine göttliche Weisheit, die den Aufgang göttlichen Lebens nur im verschul-
deten oder die Schuld tilgenden Untergang des sich läuternden oder sich opfernden Daseins zum unver-
lierbaren, göttlich ermächtigten Ereignis werden läßt.

Freiburg i. Brg., im Juni 1963

Gustav Siewerth

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DEFINITION UND INTUITION

Die „Definition“ ist herkömmlich ein Lehrstück der Logik. Da diese es mit den Begriffen und den aus
ihnen gebildeten Urteilen, mit den Regeln der Verknüpfung unter der Norm der Richtigkeit, gleich
ursprünglich mit den Begriffszeichen, d. h. den Worten und den aus ihnen gebildeten Sätzen zu tun hat, so
bezeichnet man primär mit „Definition“ die Umgrenzung oder Ausgrenzung der Worte und ihrer Bedeu-
tungen. Ein Wort „definieren“ besagt aber im Grunde nichts anderes, als es zu klären, zu erläutern und
seinen Bedeutungsumkreis festzulegen. Dieses Geschäft ist nur sinnvoll, wenn ein Ausdruck durch an-
dere Worte, die irgendwie als ursprünglicher gegeben angesehen werden, die einfacher und deshalb
leichter faßlich sind, verdeutlicht wird.
Schon in diesen wenigen Sätzen zeigt es sich, daß die „Logik“ keine ursprüngliche Wissenschaft ist,
sondern auf einem Grunde aufruht, von dem her sie ermöglicht ist. Denn das Gesagte ist nur sinn-
voll, wenn die „Worte“ und ihre „Bedeutungen“ aus einem Elemente herstammen und auf es zurück-
verweisen, das so etwas wie eine Aufhellung eines Zusammengesetzten und Mannigfaltigen durch
Einfacheres ermöglicht und in welchem das Einfachere als das ursprünglicher Einsichtige und Gege-
bene erscheint. Das kommt in der Logik selbst zum Ausdruck, indem sie neben die Worterklärung (defini-
tio nominalis oder definitio quoad nomen) die Umgrenzung der Sache selbst oder die Wesensumgren-
zung setzt (definitio realis oder quoad rem).
Diese Umreißung der Sache aber kann dieser Logik gemäß auf zwei Weisen geschehen: erstens durch
Bezeichnung einer allgemeinen Gattung, innerhalb der die Sache sich findet, um dann durch bestimmte
Eigenheiten irgendwelcher Art von anderen Dingen der gleichen Gattung unterschieden zu werden. Die-
se Eigenheiten sind Kenn-zeichen und Merk-male der Sache, durch die sie eindeutig wiedererkannt
und im Gedächtnis behalten (gemerkt) werden kann (definitio descriptiva). Zweitens kann die Sache
umgrenzt werden, in dem die „Wesenselemente“, die das Ganze einer Sache konstitutieren und
zugleich unterscheidend kennzeichnen, genannt werden (definitio essentialis). Eine Definitio ist sol-
chermaßen eine „Rede, wodurch die Wesenheit der Sache selbst erläutert wird“ (oratio, qua ipsius rei
essentia declaratur) (Sebast. Reinstadler, Elementa philosophicae scholasticae. Vol. I.).
Diese Wesenserläuterung geschieht durch die „nächste Gattung“ (genus proximum) und den artge-
benden Unterschied (differentia specifica). Als Beispiel sei genannt: „Der Mensch ist das Lebe-
wesen, das mit Vernunft begabt ist“ (animal rationale). Würde statt Lebewesen Leben oder Sein
gesagt, also nicht die nächste Gattung genannt, so wäre die Umgrenzung (gegen höhere Seinsbe-
reiche) aufgelöst, da eine Unterscheidung des Menschen vom reinen Geist, also einem Engelwesen
oder einem Gott, nicht mehr zum Ausdruck gebracht würde. Wäre der artgebende Unterschied nicht
getroffen, wie wenn gesagt würde, der Mensch ist das „aufrecht gehende“, das „spontan reagierende“

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oder das „urteilende“ Lebewesen, so würde sein Wesen mit tierischen (niederen) Daseinsformen zu-
sammenfallen. Es wäre insofern desgleichen unbestimmt.
Es braucht nicht große Mühe, zu erkennen, daß diese Sach- oder Wesensdefinition mehr voraus-
setzt, als in den Lehrbüchern der Logik zum Ausdruck gebracht wird. Diese Wissenschaft wird so-
wohl in der modernen Scholastik wie auch in der modernen Wissenschaftstheorie als erste, durch sich
selbst begründete Erkenntnis von den Regeln des Denkens und seiner richtigen Anwendung bestimmt,
wodurch die Vorstellung nahegelegt wird, als gäbe es einen durch sich selbst einsichtigen Funktiona-
lismus des Denkens, dessen im Subjekt liegende Gesetze aller möglichen Wissenschaft zugrunde
liegen. In Wahrheit setzt sie, wie im obigen Falle, stets die in der Metaphysik erhellten Wesens-
strukturen des Seins und der seienden Dinge voraus, von deren schulmäßiger Überlieferung sie wie von
einem Selbstverständlichen ausgeht und lebt, ohne ihre eigene Abhängigkeit bedenken zu können.
Wenn Rainstadler mit allen modernen Scholastikern die „Logik“ an den Anfang der Elemente der
Wissenschaft stellt, so drückt sich hierin nichts anderes aus als der Verfall der modernen Philosophie.
Dies erhellt, wenn wir die Wesens- und Sachdefinition tiefer auf ihre Ermöglichung befragen. Sie er-
möglicht sich allein durch eine ursprüngliche Einsicht in ein gattunghaft Allgemeines, das viele seien-
de Wesen einschließt und von diesen aussagbar ist. Des weiteren macht sie die Annahme, daß das
Allgemeine der Gattung im Ganzen und Einen des Artwesens irgendwie fortwalte und einem
konstituierenden, gründenden Wesensteil zugeordnet ist, dem die Artunterscheidung als ein for-
meller Bestimmungsgrund entspricht. Drittens muß dieses „Allgemeine“ ursprünglicher gegeben und
durch seine elementarere Einfachheit einsichtiger sein als das Wesen selbst, das von ihm erhellt werden
soll. Viertens entsteht die Frage nach der „Umgrenzung des Allgemeinen der Gattung“ selbst. Dieser
Versuch, das Umgrenzende der Gattungen selbst einzugrenzen, führte schon bei Aristoteles zur
Erkenntnis, daß das Sein und die Substanz, also die höchsten Gattungen, nicht mehr definierbar sind.
Es ist selbstverständlich, daß damit alles „logische Definieren“ zu einem halt- und bodenlosen Spiel
wird, wenn nicht die obersten Gattungen, der Einsichtigkeit des Allgemeineren gemäß, von höchster
Intelligibilität sind, wenn sie nicht, wie Aristoteles sagt, durch sich selbst das Offenbarste
(saphestaton), das Gewisseste (gnorimotaton), das im Bestand Festeste (bebaiotaton) und das in sich
selbst Gründende, das Voraussetzungslose und an sich selbst Vorliegende (anypotheton) sind und der
„Definition“ nicht bedürfen, um wahre Erkenntnis zu erwirken. (Vgl. Aristoteles, Metaphys. G 3.)
Dieselben Fragen eröffnen sich vom artgebenden Unterschied her. Denn wenn er die Sache selbst
und das Wesen konstituiert, so muß er erstens als solcher in die Erscheinung treten. Er muß daher ei-
nem informierenden Grunde zugeordnet sein und doch zugleich so verhüllt sein, daß seine Heraushe-
bung neben äußerlichen, scheinhaften Bestimmungen sinnvoll ist. Wodurch aber kommt er zur Erschei-
nung, und zwar so, daß er das durch sich selbst unklarere Wesen aufhellt? Wie verhält sich sein arthaf-
tes Bestimmen zum Seienden selbst? Ist nicht alles logische Definieren eine Verstellung und Zerstü-
ckung der Sache, wenn diese selbst nicht aus einer inneren Geschiedenheit ihrer konstituierenden
Gründe durch Einigung zu einer realen Einheit kommt? Umgreifen schließlich die höchsten Gattun-

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gen, wie das Sein und das Leben, nicht schon durch sich selbst auch die möglichen artgebenden Unter-
schiede, so daß die Definition die logische Forderung, daß die erläuternden Elemente sich nicht vor-
aussetzen und einschließen dürfen, letztlich gar nicht erfüllen kann? Denn gehört nicht jeder Artunter-
schied auch zum Sein, so daß auch von ihm her wie bei der Gattung das Geschäft der Definitionen im me-
taphysischen Horizont des Seins sich heillos verwirrt? Auch hier zeigt es sich, daß es Möglichkeit und
Sinn nur bewahrt, wenn es im Letzten und Allgemeinsten des Seins Unterscheidungen gibt, welche die
Einheit des Seins nicht antasten, also nur zum Ausdruck bringen, wie das Sein durch seine Artung als
Sein zu sich selbst kommt, daß also der Unterschied eine Weise der Einheit und Einigung des Seins
selber ist. Deshalb sagt der Aquinate, daß das Sein nicht nach „logischer Weise“ durch genus und spe-
cies entwickelt und verdeutlicht werden kann; es wird vielmehr in sich selbst „kontrahiert“, d. h., es
bewegt sich als das gleiche durch seine Bestimmungen fort, oder es wird „nach aktuierendem und emp-
fänglich-ermöglichendem Sein geschieden“ (ens dividitur per actum et potentiam), wobei der Einheit
des Seins dadurch Rechnung getragen wird, daß die Potenz jeweils als „Nicht-sein“ oder „Noch-
nicht-Sein“ (oder als mögliches Sein) bestimmt wird.
Daraus ergibt sich, daß die „Definitio der Logik“ ermöglicht und getragen ist durch die Metaphysik.
Sie wäre nur dann Sachumgrenzung, wenn gezeigt würde, wie das Seiende selbst aus dem Sein her ent-
springt und sich aus seinen Gründen konstituiert und zu sich selbst heraufgeht. Nur wenn das undefi-
nierbare Sein so begriffen wird, daß es (außer in Gott) nicht zu sich selbst kommen und real subsistieren
kann, wenn es sich nicht scheidet nach Wesen und Sein und sich solchermaßen verendlicht, hat alles De-
finieren seinen Grund in der Sache. Dann ist die Wesenheit die Eingrenzung (limitatio) des Seins und
als Seiendes ein definitum eines indefinitum (illimitatum). Diese Wesenheiten aber gehen dann not-
wendig aus dem Allgemeinsten des Seins zu immer größerer Eingrenzung fort, bis dahin, daß sie
schließlich nicht mehr in sich selbst gründen, sondern eines Empfänglichen und Anderen, als sie selbst
sind, bedürfen, eines Nicht-Wesentlichen, worin sie als einigende Gründe zu sich selbst kommen und
sich erhalten.
So sind alle Wesen der sichtbaren Natur zusammengesetzt aus einem, das sie artet, einigt und durchwal-
tet, und einem anderen, das durch sie geeinigt wird. Jede Pflanze, jedes Lebewesen baut sich solcher-
maßen aus den Elementen der Natur auf, die von den Alten das Materielle oder das Empfänglich-
Mütterliche genannt wurden. Sofern dieser Aufbau des Elementaren in Stufen geschieht, prägt er
sich gattungshaft (werdehaft) aus, so daß die niedere Einigungsstufe vom Materiellen her umfänglicher
ist als die informierende Artung.
Ist ein Gattungsbereich festgelegt, so ergeben sich aus ihm von selbst die Weisen der herkömmlichen
Definitionen. Erstens kommt es darauf an, das Artbesondere oder das Einzelne unterscheidend herauszu-
heben. Diese Heraushebung und Sicherung des Besonderen kann durch Beschreibung von Besonderheiten
geschehen, die hinreichen, die Sache von anderen zu unterscheiden. Diese Unterscheidungsabgrenzung
kann durchaus zufällige Momente enthalten, wofern nur in ihnen gegeben ist, daß sie in anderen Seien-
den der gleichen Gattung oder Art nicht anzutreffen sind. Solche Bestimmungen sind im genauen

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Wortverstande Kenn-zeichen und Merk-male für ein unterscheidendes Wiederfinden der Sache. Sind
derlei Merkmale aber durchhaltend bei jedem Seienden der gleichen Art gegeben, dann gehören sie of-
fenbar zum Wesensgefüge selbst, dessen einigendes Sicheingrenzen sich in ihnen enthüllt. Dann wird das
Kenn-zeichen zum Wesenszeichen, und die Unterscheidungsumgrenzung nähert sich der Wesensdefiniti-
on. Diese vollendet sich mit der Einsicht, daß in der Tat das Merk-mal das Ganze der Wesenheit be-
stimmt und alle möglichen anderen Äußerungen durchwaltet und verständlich macht. So wäre die Defini-
tion des Menschen als „animal rationale“ dann wesenhaft und echt, wenn es sich erweisen läßt, daß alle
anderen menschlichen Bestimmungen, wie das freie Handeln, die Technik, das Lachen und Sprechen,
durch die fügende Einigungskraft der Ratio ermöglicht wären.
Die Definition hebt daher am Ursprung jene Bestimmungen heraus, wodurch ein Ding oder eine Sache
im Sein der Natur wie in ihrer Erscheinung sich als einig und in sich und durch sich begrenzt und dadurch
von allen Wesen unterschieden erweist. Ihre Bedeutung besteht letztlich darin, daß sie den Blick auf das
gründende Ganze des Wesens zu richten und ihn im Fortgang der (wissenschaftlichen) Bestimmung darin
zu halten weiß. Eine Wesensdefinition ist daher Ausgang, Grund und Medium der Erkenntnis - eine Un-
terscheidungsdefinition hingegen nur eine Kennzeichnung zur Fest-legung und Fest-stellung einer Sa-
che im Strom mannigfaltiger Erscheinungen.
Es ergibt sich aus dieser Klärung, daß eine „Definition“ sehr verschiedenen Charakter haben kann. Im-
mer kommt es darauf an, ein Mannigfaltiges so zu umgrenzen, daß es als Einheit von anderen hinrei-
chend unterschieden oder aber aus sich selbst in seiner inneren Einheitsordnung sichtbar wird. Die Aus-
grenzung ist daher die Weise, eine Sache als Einheit im Mannigfaltigen und Zufälligen ihrer Erschei-
nung gegen den Schein zu sichern und sowohl der Verwechslung mit anderen Dingen wie der Verwor-
renheit und Unklarheit zu wehren. Da eine solche Tätigkeit nur möglich ist, wenn es eine vorgängige
oder ursprüngliche Offenheit von Wesenszügen und Wesensgründen gibt, die zugleich die Kriterien ih-
rer durchhaltenden Wesentlichkeit an sich tragen, so ist jede Ausgrenzung stets eine Bestimmung „von
etwas her“ (de - finitio). Als solche Gegebenheiten gelten die allgemeinen Gattungen (Sein, Leben, Le-
bewesen, Ding, Pflanze, Tier usw.), die einen solchen „Umfang“ haben, daß sie unmittelbar in der Erfah-
rung sichtbar und erfaßbar sind. Eine weitere Weise der Aufhellung der Erscheinungen liegt in ihrer
inneren Ordnung, in der Regelmäßigkeit, Gleichheit und Ähnlichkeit ihrer Abfolge und Zusammen-
hänge, was zumindest darauf verweist, daß sie im Wesen gründen. Schließlich widersetzt sich jede
Wesenheit der Abscheidung nicht-zufälliger Bestimmungen, von denen der „abstrahierende Logos“
absehen möchte. In diesem Sinne gehört notwendig alles das zum Wesen einer Sache, was sich nicht
wegdenken läßt, ohne sie zu zerstören oder aufzuheben. So ist kein Ton denkbar ohne eine gewisse
klangliche Farbe oder Intensität, wodurch eine wesenhafte Verbindung erhärtet ist, ohne daß schon der
innere Grund für die Notwendigkeit einer solchen Einheit einsichtig sein muß. Des weiteren erhellt, daß
jede De-finitio einer Sache von einem Allgemeinen her geschieht, in dem sie sich besondert.
Von diesem „Allgemeinen“ her hängt letztlich die „Sachlichkeit“ und die besondere Artung des Um-
grenzens selber ab. So wurde oben gezeigt, daß jede echte Sachdefinition im Sein als Sein gründet und

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von ihm her ermöglicht sein muß. Es könnte jedoch auch jederzeit dieser Anspruch unerfüllt bleiben
und die Sachbestimmung sich in der Ordnung der Natur oder der Lebewesen oder der quantitativ gemes-
senen Erscheinung der materiellen Vorgänge halten. Solchermaßen gibt es von einer Sache soviel De-
finitionen, als sie an verschiedenen Ordnungen teilhat und von ihnen her gemessen wird. So wird
eine Pflanze anders bestimmt, wenn sie als besondere Weise des Seins oder des Naturlebens, oder als
chemischer Prozeß oder als Nahrung oder als sichtbare Gestalt betrachtet wird. Die apriorischen Maße
und Sichtweisen einer Wissenschaft entscheiden daher auch über ihr spezifisches Definieren, das oft keine
Wesensbestimmungen mehr enthält, sondern nur noch die Ordnung von Erscheinungen nach gegebenen
Maßen enthüllt. Es ist möglich, daß z. B. die Naturwissenschaft Elemente nach Gewicht definiert, ohne
darüber Auskunft zu geben, was mit dieser Bestimmung eigentlich getroffen ist, und ob es sich um eine
„Wesensbestimmung“ handelt. Die Umgrenzung ist selbst durch das Nicht-mehr-Befragte der Maße
„zufällig“ und gewinnt ihre Rechtfertigung allein durch den theoretischen und praktischen Erfolg, d. h.
durch die Erfahrung, daß sich die Erscheinungen weitgehend den Maßen fügen und die Vorgänge zu
technischem Gebrauch verwendbar werden. Das Durchgängige mathematischer Bestimmungen läßt al-
lerdings notwendig die Frage entspringen, wie Natur geartet ist, wenn sie gemäß solchen Maßen
durchgängig oder weitgehend bestimmt erscheint.
Jedes Definieren ereignet sich als eine Weise von Erkenntnis. Es setzt daher ein gewisses Unbestimmtes
voraus, das durch sie überwunden wird, um die Einheit einer Sache zu sichern. So ist die Worterklä-
rung als Eingrenzung gegen die Mehrdeutigkeit, die Unbekanntheit oder die Ungenauheit eines Wor-
tes gerichtet; die Unterscheidungsdefinition gegen die Verwechselbarkeit von ähnlichen Gegenstän-
den, die Wesensdefinition gegen die Zufälligkeit und den Schein der Erscheinung, die Seinsumgren-
zung gegen das Bodenlose der Gattungsbestimmungen und das Zufällige der Verbindung der Teile ei-
ner Definition. Dabei zeigt sich, daß das Geschäft der Definition in erster Linie eine Versicherung gegen
einen Schein, eine Undeutlichkeit oder Unsicherheit ist und daher in keiner Weise mit der Erkenntnis
einer Sache zusammenfällt. Eine Sache definieren heißt unter diesem Gesichtspunkt nichts anderes, als
am Ursprung sich der Sache so zu versichern, daß der Blick auf sie hingerichtet bleiben kann, ohne durch
Fehlaspekte dauernd verwirrt oder beirrt zu werden oder gar die Sache überhaupt aus dem Auge zu
verlieren. Durch sie kommt das Erkennen im eigentlichen Sinn erst in Gang, indem die wesentlichen
Umgrenzungsbestimmungen bezeichnet und durch andere Bestimmungen so entwickelt und erhellt
werden, daß alle möglichen Merkmale der Sache in ihrer wesenhaften gegenseitigen Ermöglichung ver-
standen werden. Die Definition „animal rationale“ umreißt daher die Aufgabe, von der Einigungs-
macht des Logos und der seins-vernehmenden Schaukraft der Vernunft her alle Weisen des
Menschseins in ihrem wesenhaften Begründungszusammenhang aufzuhellen. Ohne diesen inneren
Fortgang ist die Definition eine leere, sperrende Hülse, die bei Halbgebildeten den Schein vollendeter
Erkenntnis erzeugt und sie in der Gewißheit anfänglicher Erfassungen versichert und zugleich beschränkt.
Dennoch ist leicht einsehbar, daß die Definition nicht nur dem Sprechen und Erkennen dient, sondern
selbst im Erkennen sich vollzieht und eine Weise von Erkenntnis bedeutet. Definition besagt stets eine

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Verbindung von Worten zu einem Satz oder von Merkmalen zu einem In-sich-Einigen oder Ganzen.
Solch eine Tätigkeit aber setzt stets eine Erfassung der Definitionsteile als solcher voraus, die ja nicht
wiederum durch Definition bestimmt werden müssen, soll man nicht, was unmöglich ist, ins Unendli-
che gehen. Eine solche Erfahrung aber ist unmittelbar und wird in der Philosophie als „einfache Hin-
nahme“ (Auffassung) (simplex apprehensio) bezeichnet. Sie ist nichts anderes als ein unmittelbares An-
schauen und Vernehmen, in dem sich einfache (nicht zusammengesetzte) Wesenszüge durch sich selbst
dem Blick darbieten. Eine solche unmittelbare Hinnahme kann nun auch gegenüber der Zusammengehö-
rigkeit von einfachen Gegebenheiten (also einer Relation) statthaben, so wenn die figurale Ein-
heit der drei Seiten eines Dreiecks unmittelbar aufgefaßt wird. Es ergeben sich in solchem Vernehmen
„Bedeutungseinheiten“, in sich einige Ganzheiten, die nichts darstellen als ursprüngliche, durch Er-
scheinungen gegebene und getragene Anschauungen, über deren notwendige Verknüpfung nichts ausge-
macht ist. Sie könnten daher per accidens auch innerlich unmöglich oder scheinhaft sein, wie ein „Tier,
das redet“. Immer aber gründen sie in einer Weise intelligibler Schauung (visio), die als solche je-
dem Urteil und jeder Erkenntnis vorausgeht und daher weder als wahr noch als falsch bezeichnet werden
kann.
Ihr gegenüber erweist sich das „Urteil“ oder die Erkenntnis als eine Verknüpfung oder Trennung, die
unter das Maß des Wesensnotwendigen gestellt ist und die Einheit einer Sache als wesentlich oder aber
als unwesentlich erhellt. In diesem Falle wird also die definitorische Verbindung noch einmal durchlau-
fen, doch so, daß die einzelnen Teile am Maße eines Wesentlichen, das ursprünglich („apriori“) auf-
leuchtete, gemessen werden. Dabei erweist sich der Verstand als ein abstrahierendes (abziehendes, auf-
lösendes) Vermögen, welches die unmittelbar gegebenen Wesenszüge beliebig und souverän vonein-
ander löst oder aber zueinander rückt, um sie in ihrem Zusammenhang und Zusammenhalt zu erproben.
Indem er dieses versucht, erfährt das schauende Vernehmen von den Phänomenen her eine Ge-
genwehr oder aber eine Übereinstimmung, wobei und wodurch sich die ursprüngliche Sicht erhär-
tet oder auflöst und das Urteil hervorgeht. Das Urteil waltet daher über einem vom Verstand her-
vorgebrachten Unterschied, dem es entweder sich von der Sache her entgegensetzt oder ihn bestätigt.
So kann der Logos die Ausdehnung von der Farbe unterscheiden und auf Grund dieses unmittelbar
aufgefaßten Unterschiedes versuchen, die Phänomene voneinander abzulösen. Bei diesem
Versuch erfährt er eine Nötigung von seiten der Phänomene, die so miteinander verbunden sind, daß
mit dem Schwinden der Ausdehnung auch die Farbe vergeht. Im Grunde erfährt das Phänomen der Far-
be in der Ablösung eine Zerstörung, deren Not den abstrahierenden Verstand selbst vor ein Nichts, d. h.
immer auch vor die Un-möglichkeit seines Tuns bringt und dieses als leer und scheinhaft entlarvt. Ge-
länge jedoch die Ablösung, so wenn vom Menschen seine „weiße Hautfarbe“ abgelöst wird, so ent-
springt mit der Möglichkeit anderer Hautfarben die Einsicht in das „Zufällige“ der weißen Farbe, die
das Menschsein als solches nicht bestimmt. Dann wird ebenfalls durch eine Bestätigung des Verstandes-
spiels dessen vorgängige Befangenheit im Schein einer vielleicht möglichen Einheit aufgelöst und sein
unsicheres Versuchen zu einer Entscheidung über Wesen und Unwesen gebracht. Das Urteil aber durch-

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mißt hier die Phänomene unter dem Richtmaß des sich wehrenden oder nachgebenden Wesens- und
Seinsbestandes einer Sache.
Deshalb ist jedes Urteil eine Entscheidung über die Scheidung des Logos, deren Richtmaß im Wesenden
Sein selbst gefunden wird und von diesem her zur Erscheinung kommt. Es ist stets eine Durchmessung
der Erscheinungen vom Sein der Sache her (mensuratio), ferner eine „Rückführung der bloßen Phäno-
mene auf den Wesensgrund“ (reductio) und schließlich die Auflösung eines Scheins ins Notwendige des
Wesenden (resolutio). Außerhalb dieser einsichtigen Urteilsvollendung (intellectus dividens et com-
ponens) ist der „discursus rationis“ (Thomas) daher für das „Urteil“ insofern notwendig, als dieses
im unmittelbaren Erfassen der Phänomene zugleich im Schein vorerst un-absehbarer Möglichkeiten
verharrt. Er ist eine Anzeige der Endlichkeit und Unvollkommenheit der menschlichen Erkenntnis, die
von den sinnlichen Gegebenheiten, d. h. von den materiell zerstreuten und aufgelösten Dingen ausgeht
und am Anfang noch keineswegs über Schein und Wesen entschieden hat. Die Arbeit des Verstandes ist
daher nur eine Voraussetzung des Urteils. Sie bringt die unmittelbaren Erfassungen (simplices appre-
hensiones) so zusammen oder auseinander, daß sie dabei vor den Wesensblick, die Schaukraft der
Vernunft, des Intellekts oder des nous gebracht und in seinserhellter Einsicht in ihrer Notwendig-
keit oder Zufälligkeit vernommen werden. Man kann auch sagen, die Scheidungen und Verknüpfun-
gen des Verstandes stoßen an die Wesensgrenzen der in sich und aus sich wesenden und sich durchhal-
tenden Dinge, bei welchem Vorgang die Vernunft den Rückstoß des Wesens erfährt und in die Ein-
sicht ins Innere eines haltgebenden Grundes genötigt wird. Solchermaßen de-finiert, begrenzt die We-
sensmacht des Seins das Spiel des Verstandes und zwingt ihn in den Dienst der ideierenden, wesens-
einsichtigen Vernunft.
Aus diesem Zusammenhang erhellt, daß die einfachen Erfassungen am Ursprung keine Erkenntnisse,
sondern nur „intentiones“ sind, in denen der Verstand durch Verknüpfung und Scheidung die Erhel-
lung des Wesens „intendiert“. Der Verstand ist solchermaßen nichts als die „Vernunft auf dem Wege“,
die im Dunkel, im Vagen und Unsicheren des Scheins sich bewegt, die suchend versucht, wagend er-
wägt, um solchermaßen die Sache und das Wesen anzuzielen, bis es sich durch die ihm eigene Bestän-
digkeit enthüllt.
Es ist nicht schwer einzusehen, daß ein solches Unternehmen bodenlos, ohne gesicherten Ausgang und
ohne Ziel wäre, wenn nicht das Wesens- und Seinsmaß in der Form des vollendeten Urteils, also in der
Weise einer Vernunfteinsicht immer schon gegeben wäre. Wäre aber diese erste, vorgegebene Ein-
sicht in gleicher Weise durch einen versuchenden Diskurs zustande gekommen, so müßte man ins Un-
endliche, d. h. ins In-definite und Un-definierte weitergehen, wodurch alles Erkennen aufgehoben wür-
de. Daraus folgt, daß die ursprünglichsten Maßgründe aller Erkenntnis nur dann maß-gebliche Herr-
schafts- und Ausgangsgründe (archai, principia, dignitates) sein können, wenn sie unmittelbar in ih-
rer Notwendigkeit für die Vernunft hervorgehen, und zwar aus einer nur ihnen eigenen vordringli-
chen Leuchtkraft, die sich im Mannigfaltigen der sinnlichen Erscheinungen unmittelbar enthüllt und
ausweist. Da aber jede faktische Erscheinung nur dann sich in ihrem notwendigen Wesensbestand ent-

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hüllt, wenn der scheidende Verstand diesen im Diskurs erprobte und durch Unwesentliches gleichsam
herausforderte, so folgt, daß auch am Ursprung unserer Erkenntnis eine allerletzte und höchste Heraus-
forderung an einem letzten, unverrückbaren Seins- oder Wesensbestand geschehen sein muß. Da nun aber
am Ursprung keine vermittelnde Bewegung des Verstandes stehen kann (weil sein Tun ohne jeden
einsichtigen Maßgrund wäre), so muß sich hier die sonst dem Verstande gemäße herausfordernde
Scheidung im Vernehmen (der Vernunft) selbst in zeitloser Unmittelbarkeit und Vollendung ereignen.
Demnach wäre am Anfang der ganze rationale Urteilsvollzug durch eine durch sich selbst vollendete
Synthesis oder Negation überholt, die innerhalb der schauenden Vernunft statthat, also als reine In-
einsschau, Zusammenschau und Einschau (contuitus, intuitus, intellectio), als reine Einsicht (perspicientia,
inspicientia) sich vollzieht. Dieser Intuitus wäre in der Tat das reine „Er-äugnis“ schlechthin, das
reine Wesen und die ursprüngliche Wahrung des Seins wie des Erkennens in der Wahrheit. So sagt
Thomas: „Die Vernunft wird dadurch, daß sie Formen empfängt, nicht bewegt; sie wird vielmehr
ruhend vollendet und einsichtig: erkennt sie aber durch Bewegung, so wird sie gehindert“, d. h., die
Bewegung hat den Sinn, Hindernisse zu beseitigen.1
Eine „Intuition“ ist demgemäß ganz genuin im Bilde des „Blitzes“ darstellbar, sofern dieser sich deut-
lich als Lichtstrahl und Lichtbewegung vollzieht, doch so eilig, daß man bei der Erfassung des Aus-
gangs auch schon das Ende und die ganze Strahlstrecke im Auge hat und solchermaßen den Anfang von
der Vollendung her erfassen kann. Da Blick ursprünglich „Blitz“ bedeutet, so wäre im Grunde ein
„Augen-blick“ soviel wie eine „intuitive Erhellung“, ein unmittelbares „Einleuchten“ wesenhafter Bezü-
ge.
Dieses Einleuchten trägt die Vermittlung in sich selbst; sie ist aber stets veranlaßt durch eine Her-
ausforderung, die im hin-nehmenden (receptiven) Erkennen selber liegt. Denn jede Empfängnis o-
der Hinnahme „hebt“ notwendig „an“, so daß eine vernehmende Anschauung nicht denkbar ist ohne das
Gedächtnis ihres Anfangs und Noch-nicht-Seins. Sofern aber der ganze Vorgang der „Erscheinung“ den
Charakter eines Heraufgangs und Werdens hat, hält sich die vernehmende Vernunft ursprünglich im
Elemente des Nichtseins, des Anfangenden, Kommenden und insofern des Bestandlosen. Das Offenbar-
werden des Seins ereignet sich nur, indem es zunächst oder gleich ursprünglich das Vernehmen mit
dem ihm und der Erscheinung eigenen Nichtsein übereignet. Dieses innere Nichtsein im Erkennen ist
gleichsam der Äther der Vernunft, den sie nur gewahrt, wenn Seiendes erscheint, der aber nur ins Walten
und ins Helle einer Sicht kommt, um sofort und gleichursprünglich vom Sein überwaltet und über-
lichtet zu werden. Dann leuchtet unmittelbar das Wesenswort oder Wesenslicht des Seins auf, in-
dem es sich als Nicht-nicht-Sein, als Negation einer Negation und somit als Bestand ausweist, der vom
Nicht her weder treffbar noch auflösbar ist. Das erste Vernehmen des Seienden und des Seins ist daher
keine „einfache Hinnahme“, kein „Begriff“ und keine „intentio“, sondern ein urteilendes, durchmes-
sendes Begreifen des Seins, eine „conceptio entis“ und in keinem Betracht ein conceptus; wobei
das in der Rezeptivität einer endlichen Vernunft gelegene Maß des Nicht-seins vom Sein her abgewiesen

1
G. 2. 50. (=Summa contra gentiles)

17
und entmächtigt wird. Die Vernunft wird daher vom Sein her in gewisser Weise über-mächtigt o-
der ins Sein und seine Notwendigkeit genötigt. Deshalb sagt der Aquinate, daß am Ursprung „das
Sein die wahren Aussagen hervorbringt“ (ens facit veras enuntiationes). - Es ergibt sich zugleich, daß
der erste Ausgang der Erkenntnisse eine abweisende (negative) Bestandsicherung ist, in der Seiendes
sich als Nicht-nicht-Sein erhellt.
Wird dieses intuitive Seinsbegreifen in einer Weise von Reflexion vom Verstande her gegliedert
und definitorisch in Worte gesetzt, so ergibt sich das „Widerspruchsprinzip“, dessen negative Ur-
teils- und Satzform immer eine nach-trägliche, verstandesgemäße Nachzeichnung eines zeitlosen, intui-
tiven Erkenntnisblitzes ist.
Ist der Seinsbestand gesichert, dann tritt er (wiederum durch die Form der Erscheinung und ihre Man-
nigfaltigkeit herausgefordert) als in sich seiende Einheit hervor, die das schlechthin Mannigfaltige als
eine Weise des Nichtseins bekundet. Daß jedes Seiende eine in sich gründende Einheit ist, gehört daher
auch ins intuitive Begreifen der Vernunft. Diese Einsicht „intuiert“ unmittelbar weitere, wie die,
daß das in sich Seiende ein Mannigfaltiges nur in der Weise an sich tragen kann, daß es dieses auf sich
hin einigt und als Teile auf Einheit hin verfügt und zusammenhält, wobei ebenfalls unmittelbar ein-
leuchtet, daß das Ganze mehr als die Teile ist. Es erscheint somit als das ursprünglichere seiende-
re Sein und damit als Grund und Ur-sache des Mannigfaltigen. Auch das sogenannte Kausalprinzip ge-
hört solchermaßen zum intuitiven Urteilsbestand der Vernunft. Da Seiendes in sich selbst einig ist, so
kann es nur dieser Einheit gemäß wirken, so daß es sich in jeder Wirkung sichtbar darstellen muß.
Entsteht also ein Seiendes, so ist es erstens als Sein wesenhaft nicht-Nichtsein und weist damit einen
Ursprung aus dem Nichts ab, zweitens ist es als „Wirkung“ seiner Ursache ähnlich, so daß es als
„Seiendes“ notwendig auf ursprünglicher „Seiendes“ hinweist, aus dem es entspringt. Damit ergibt
sich, daß die herkömmlich als „Prinzipien“ bekannten Formeln nichts mit „logischen Verstandessätzen“
zu tun haben, daß sie vielmehr eine rationale Nachzeichnung der urtümlichen intuitiven Seinserkennt-
nis bedeuten, durch die jede Vernunft zu sich selbst aufgelichtet und zum Urteilsvollzug ermächtigt ist.
Diese intuitive anfängliche Durchlichtung unseres Geistes, zu der auch die Ursichten vom Guten und vom
Schönen gehören, ist keineswegs arm; sie ereignet sich aber zunächst so sehr im Allgemeinsten und Höch-
sten, daß es eines festen Entschlusses oder eines günstigen Geschickes bedarf, daß sie nicht vom andrän-
genden Konkreten und Mannigfaltigen der Dinge und des Weltlaufs als bedeutungslos zur Seite ge-
setzt wird, wenn es auch nie geschieht, daß ihr Vernunfts- und Gewissenslicht gänzlich erlischt, weil es
wesenhaft zum Menschsein gehört. Wer es preisgibt, verfällt heilloser Skepsis und einem ziel- und bo-
denlosen Umtrieb im Wesenlosen.
Diese intuitive (zusammenschauende) Einsicht ist nicht auf die Ausgänge beschränkt. Jedes Urteil ist
von ihr ermöglicht, indem die vorgängige Helle der Vernunft Anruf und Macht bedeutet, Dunkel und
Schein der unmittelbaren Erscheinungen aufzuhellen. Also geht das Versuchen des Verstandes vom
Einsichtigen her aus und „diskurriert“ nicht aufs Geratewohl, sondern hält sich in sinnvollen Grenzen,
um immer am Ende seines Tuns die Phänomene so einander zugeordnet zu haben, daß der intuitive Blitz

18
der Einsicht, der contuitus, die wesenhafte Zusammenschau sich ereignet. Jedes Urteil, jeder
Schluß entspringt aus einer Intuition und vollendet sich in ihr. Deshalb wächst mit jedem echten
Urteilsvollzug der intuitive Umkreis der Vernunft, bis dahin, daß ein weise gewordener Denker aus
der intuitiv durchlichteten Seinsordnung her Seiendes nicht mehr in umständlichem rationalem Diskurs
prüfend sichten und vergleichen müßte, weil sich ihm viele Dinge unmittelbar aus ihren ihm bekannten
Gründen bieten. Der weise Mensch vernimmt daher die Erscheinungen in „intuitiver ad-perception“,
nicht in grübelnder Anstrengung. Er stellt sie jeweils in einen solchen Reichtum geklärter Hin-sichten,
daß viele wesenhafte Bezüge wie von selbst aufleuchten und einsichtig werden. Freilich ist es dem Men-
schen nicht gegeben, seine Erkenntnis so zu steigern, daß er die umsichtig suchende ratio entbehren könn-
te, zumal mit der Einsicht auch die Fragen wachsen und die konkrete Individuation der wechselnden Er-
scheinungen immer neue und unabsehbar mannigfaltige Gegebenheiten darbietet.
Wie die Definition stellt sich daher auch die Intuition in verschiedenen Weisen dar. Die erste
„Intuition“ ist die Ausgangserkenntnis der Vernunft in ihrer unmittelbaren Seins- und Wahrheitshel-
le. Die zweite ist die rationale, reflexive Nachzeichnung des intuitiven Wahrheitsbestandes in Form
von Sätzen, die den Charakter von „logischen Prinzipien“ zu haben scheinen und im Sprechen und Lesen
der richtig geformten Sätze immer wieder in ihrer unmittelbaren Einsichtigkeit aufleuchten. Die dritte
ist die Intuition, die jedes Urteil als „reductio“ und „resolutio“ im Seins- und Wesensmaß der Ver-
nunft vollendet, die als „Wissen“ im ontologischen Gedächtnis des Geistes „habituell“, d. h.
in intuitiver „Erinnerung“, bereitliegt; die vierte ist jede habituelle (systematische) Vollendung des
Denkens, das einen solchen Reichtum wesenhafter Bezüge enthält, daß viele Erscheinungen sich ohne
mühsamen Verstandesdiskurs unmittelbar in ihrer Wesensbezüglichkeit aufhellen. Eine fünfte Weise
von „Intuition“ entspringt aus der Erschließung des göttlichen Grundes alles Seienden, in dessen Licht
alle Wesen der Welt und das Sein selbst einen ana-logen, verweisenden, transzendierenden Charak-
ter gewinnen. Solchermaßen werden sie Spuren, Abbilder und Spiegel des Absoluten, deren urbildli-
ches Aufleuchten die Vernunft als „speculative“ und „contemplative“ erfaßt. Wie sich hier der rationa-
le analoge Diskurs in „spiegelnde Einsicht“ und schließlich in eine contemplative, d. i. contuitive Zu-
sammenschau von Wirkung und Ursache, Geschöpf und Schöpfer verwandelt, dies zu zeigen würde den
Rahmen dieser Arbeit überschreiten.
Des weiteren gibt es Weisen von „Intuition“, die nicht im Maßgrund und im Licht der Seinsnot-
wendigkeit wurzeln, aber doch nicht ohne sie verständlich sind. Die erste ist diejenige, die im
deutschen Sprachgebrauch mit dem Wort „Intuition“ gemeinhin benannt wird. Sie wird der „begriffli-
chen Zergliederung“ und der umsichtig und maß-gerecht schließenden (zusammenschließenden) Ver-
knüpfung einzelner, fest definierter oder gemessener Elemente entgegengesetzt. Von ihr wird gesagt,
daß sie „gefühlsmäßig“ voraneile und für ihre Einsichten keine überzeugenden Gründe nennen kön-
ne, aber doch vielfach das Rechte treffe - was Anlaß ist, Leitmechanismen im Un-bewußten der Seele
anzunehmen.

19
Dazu ist zu sagen, daß die reflexive, rationale, satzhafte Entfaltung intuitiver Einsichten diese selbst
gar nicht konstituiert, sondern ihr nachfolgt, so daß es sehr wohl ein seinhaft versichertes Denken
geben kann, das sich im gängigen Betrieb wissenschaftlicher Aussagen nicht ausweisen
kann. Des weiteren ist es durchaus möglich, daß Wesenszusammenhänge und eine innere Abfolge der
Erscheinungen sich im Figuralen und Gestalthaften, im Rhythmus eines Geschehens und im Unbeachte-
ten mannigfaltiger Phänomene anzeigen und den Gefühlsgrund so erregen und formieren, daß er
unmittelbar ins Walten eines echten Zusammenhangs einschwingt und seiner inne wird, ohne die
Weise der Verknüpfung und den Gang der Enthüllung für sich selbst zu erfahren. Solchermaßen
gibt es „Intuitionen des Herzens“, aus dessen sympathetischem und antipathetischem Gefühls-
grund im konkreten Daseinsvollzug unmittelbar gegebene Verknüpfungen auftauchen, deren Echtheit
und Wahrheit nur „erfühlt“ ist. Wenn auch bei einfachen Menschen oft die Gründe für solche
Einsichten verborgen bleiben, so kann doch ein wachsamer Feinsinn, der auf die tiefe poietische, nachges-
taltende und einfühlende „Kunst des Gemütes und der Liebe“ eingeübt ist, sie ans Licht heben und zei-
gen, daß solche „Intuition“ oft aus tieferen Erfahrungen, Einsichten und vor allem aus einem abtasten-
den Gefühlsdiskurs gegenüber den Erscheinungen seine Gewißheit hat.
Ist gar das Wort verfallen, oder sind die Maßgründe der rationalen Diskurse wesenlos geworden, sind
die Begriffe definitorisch verfälscht, wie bei den meisten der sogenannten Gebildeten unserer Zeit, so
liegt oft auf seiten der intuitiven Einsichten nicht nur die größere Gewähr für wesenhaftes Erkennen,
besonders im Bereich des menschlichen Daseins, sondern sehr oft gründen die Einsichten in echten We-
sens- und Seinssichten, deren reflektierte, rationale Enthüllung nicht geschehen kann oder, wenn sie ge-
schieht, nicht ernst genommen wird. In diesem Verhalt gründet die oft erfahrene Tatsache, daß ein meta-
physisches Sprechen aus der Tiefe des Seins viel leichter und tiefer vom Ungebildeten als vom soge-
nannten Gebildeten verstanden wird, wenn jener auch weniger Worte „darüber“ machen oder die
Darstellung in ihrer Strenge nicht wiederholen kann.
Es gibt freilich auch eine Scheinintuition, die an Hand von Ähnlichkeiten unter den Phänomenen zu
schnellen, unvermittelten Einsichten zu kommen meint, die in Wahrheit einem kritisch auflösenden Dis-
kurs des Verstandes nicht standhalten.
Schließlich gibt es entsprechend der reinen Ordnungsdefinition innerhalb eines angenommenen Maßsys-
tems auch eine vordergründige Notwendigkeitsverknüpfung, die den Bezug zum Sein und seinem We-
sen verloren hat oder die ihn nicht mehr bedenkt. Solche Notwendigkeiten liegen in den Sätzen der
Mathematik; in den abstrakten „Geltungen“ der Logik, der seinslos gültigen „Werte“ oder forma-
ler, seinsloser Sollensgesetze usw. Sie werden stets als durch sich selbst gegebene „Wesenseinsich-
ten“ mit evidentem Geltungsanspruch und einer dem Seienden apriorischen, d. h. maß-gebenden Gül-
tigkeit angenommen, ohne daß sie am Licht der Seinsprinzipien gemessen und überprüft wurden. Da-
durch erhalten sie einen ab-soluten, d. h. einen von der Wirklichkeit abgelösten und ihr darin anschei-
nend überlegenen Charakter, dieweil ihre Gültigkeit dem zeitlichen Wandel der Phänomene ent-
hoben scheint. Da sie zugleich außerhalb der „Seinsprinzipien“ angenommen werden, so ist die Instanz

20
zu ihrer Überprüfung aufgegeben, was negativ ihre „Unantastbarkeit“, positiv aber ihre Bedeutung
als Maßgrund für jede mögliche „Objektivität“ „wissenschaftlicher“ Aussagen begründet.
In Wahrheit beruhen alle solche seinslosen „Notwendigkeiten“ immer in willentlich verfügten Set-
zungen. Sie sind „Hypo-thesen“, aus Freiheit gelegte Gründe, auf Grund deren sich „Notwendigkeit“
erst ergibt. Dies gilt auch für die am meisten gerühmten „Axiome der Mathematik“, die in der Tat
keine „Einsichten“, sondern Setzungen und Forderungen darstellen. Im Rahmen der Seinsdeutung
hat es die Mathematik nach dem Aquinaten mit der „intelligiblen Materie“, d. h. mit einem Wesen-
und Seinslosen zu tun, dessen Einigungen durch den zählenden Verstand ihm eine abstrakte, d. h. vom
Verstand selbst gesetzte Einheit und damit eine analoge Weise von Sein gewährt. Diese aus dem rech-
nenden Verstand erfolgende „Seinsweise eines an sich völlig Unbestimmten“ und allein vom
Verstand Verknüpften macht ihre „Rationabilität“ aus, wobei sowohl der Vorgang der Einigung als
bloße Zusammenstellung und die Einheit als gezählte Summe sich so sehr im Seins- und Bedeu-
tungslosen halten, daß sie durch den Verstandesvollzug selbst hinreichend bestimmt und erhellt sind.
Im Fortgang dieses Spieles hält sich der Verstand immer in der gleichen Dimension seines eigenen
Tuns, das er mit dem ihm eigenen Licht vollzieht und fortschreitend erhellt.
Dabei ergibt sich sofort eine entscheidende Frage, ob es in der Mathematik überhaupt ein letztes Urteil
im Sinne der metaphysischen Seinserkenntnis gibt. Es wird zuwenig bedacht, daß es keinen ge-
ringen Unterschied macht, ob ich sage 3 x 3 ergibt 9 oder 3 x 3 ist 9. Im ersten Falle sage ich aus, daß
ein bestimmter Rechenvorgang zu einer Einheit hinführt oder sie erst folgen läßt, während im zwei-
ten Fall ein „Seinsbestand“ zum Ausdruck gebracht ist, was einen großen Unterschied einschließt. Denn
wäre die Neun wesenhaft und seinshaft nur das Erfolgende einer Rechenoperation, so müßte sie durch al-
le möglichen Operationen definiert werden, die es gibt. Da es deren aber für jede Zahl unendlich viele
gibt, so wäre jede Zahl ein absolut In-definites und Unmögliches. Wird sie aber als „bestimmte Einheit“
gesetzt, so gewinnt sie einen (vom Verstand ihr gegebenen) analogen Seinscharakter, wodurch sie a-
ber wesenhaft nur sie selbst ist und nicht ausschließlich durch eine Relation zu anderen Zahlen be-
stimmt wird, wiewohl solche Relationen in ihr als der Einheit von 9 Einheiten begründet sind. Das Ur-
teil müßte daher auf diesen Verhalt Rücksicht nehmen, wenn es keinen Verfälschungen verfallen
will, die unter Umständen sehr folgenschwer sind. Immer müßte man sagen: 3 x 3 ergibt eine 9,
und dieses Entsprungene „ist“ als neue (gesammelte) Einheit mehr als der Rechenprozeß: nämlich
eine nur durch sich selbst bestimmte, unverwechselbare Einigung; es ist ein Ganzes, das als durch sich
selbst bestimmtes mehr ist als alle seine Teile, sofern man sie vereinzelt und dann erst rechnend zu-
sammenstellt; es nimmt in der Reihe der Zahlen einen ihm eigenen Ort und Wert ein. Das, was 9 „ist“,
„besteht“ daher immer schon vor jedem möglichen Rechenvorgang, der eine 9 „ergibt“; es besteht
aber nur in einer Reihe, deren Charakter vorher vom Verstande (freilich einer echten Möglichkeit
gemäß) gesetzt wurde.
Versteht sich die Mathematik nicht in dieser Weise, dann ruiniert sie das Denken der rechnenden
Menschen, weil sie dazu führt, als ergäbe das bloße Rechnen und Einigen als solches eine seinshafte

21
Gleichheit und damit eine Sache. 2 x 2 kann ja nicht ohne weiteres 7 - 3 gleichgesetzt werden. In
Wahrheit ist das „Rechnen“ nur eine Verstandessynthesis, in deren Ende die Vernunft das von der
Synthesis vorgestellte „Eine und Ganze“ in seinem Seinscharakter und damit die Gleichheit der Re-
sultate vernimmt.
Daß diese Mathematik Seiendes darstellen kann, das liegt in der „Materialität“ der Natur be-
gründet, die der „Empfänglichkeit“ des Menschengeistes entspricht. Von ihr her aber ergibt sich kei-
nerlei Gewähr und Notwendigkeit ihrer Setzungen. Daß 1 und 1 zwei ist, ist eine willkürliche An-
nahme und nicht mehr als eine Forderung, nämlich die Einigung in der Form einer Zusammenstel-
lung zu halten, in der die Teile im Ganzen ihren Bestand so weit bewahren, daß sie jederzeit wieder
als Einheiten herauslösbar sind. Ohne diese Forderung wäre nicht einzusehen, warum 1 und 1, da
sie im Wesen ja völlig unbestimmt sind, sich nicht so einigen sollten, daß sich eines ergibt, wie im
chemischen Prozeß, oder 3 wie im Einigungsvollzug einer Zeugung. Die Mathematik hat daher gar kei-
ne ursprünglichen Wesensnotwendigkeiten, sie ist ein Vollzug, deren Regeln vom Verstande gesetzt
und eingehalten werden. Die Notwendigkeiten ergeben sich erst, wenn die ersten Forderungen ange-
nommen und nach ihnen verfahren wird. Die abstrakte Zahl als leere Einheit ist so nichtig und wesen-
los, daß man die Frage aufwerfen könnte, ob der Mensch überhaupt eine solche Setzung vollzogen
hätte, wenn in der Natur nicht die zählbaren (die zerstreuten, äußerlich zusammenstellbaren und
scheidbaren) Dinge angetroffen würden. Darum ist im Ursprung die Zahl immer positiv, d. h. in
Analogie zum seienden Ding genommen worden.
Es würde zu weit führen, den hypothetischen Charakter der Notwendigkeit für die übrigen Wissen-
schaften, die Wertlehre, die Logik im einzelnen aufzuweisen. Ihre Wirksamkeit für das neuzeitliche
Geistesleben steigert sich in dem Maße, als der Verfall der Metaphysik, die Seinsvergessenheit,
die Instanz entthronte, ohne die das Hypothetische und Axiomatische der Anfänge nicht mehr bedacht
werden kann. Dadurch gewannen diese „Regeln“ und „Setzungen“ einen seinshaften, absoluten Gel-
tungscharakter. Der Fortgang der Wissenschaft hielt sich in der Entfaltung dieser axiomatischen Not-
wendigkeiten und gewann dadurch den Anschein absoluter, notwendiger oder „objektiver“ Verknüp-
fungen.
Indem das Seiende von ihnen her gemessen wurde und man nach der Regel des Descartes verfuhr,
daß man das nicht mehr als gegeben und wirklich ansah, was nicht aus solcher Notwendigkeit „klar
und distinkt“ bestimmt werden konnte, so wurde der Natur und dem Seienden eine Antwort abver-
langt und der Reichtum ihrer ursprünglichen Erscheinungsweisen auf eine einzige, das quantitativ
Bestimmbare, reduziert.
Der ungeheure Erfolg solchen Geschehens ist nun die eigentliche Rechtfertigung dieses Vorgehens, das
nicht von den Ausgängen, sondern von der Ergiebigkeit des Tuns Energie und Gewicht erhält. Da-
bei währte der Schein der „Gesetzlichkeit“ so lange, als Natur als mechanistisches Getriebe, in ihren
Bewegungserstreckungen und ihren äußeren Wirkungen und Kraftmitteilungen, also in einem Relations-
gefüge von Wirkteilen betrachtet wurde, was angesichts ihrer materiellen Zerstreutheit und Teilbar-

22
keit in unerhörtem Maße möglich war. Im Maße man aber zu den seinshaften Wirkgründen, den in sich
seienden Elementen und individuellen Substanzen, d. h. ins Innere der elementaren Atome vorstieß,
erwies sich notwendig die Mathematik als ungeeignet, die spontanen Vorgänge zu präzisieren. Was
heute als „statistische Gesetzlichkeit“ bezeichnet wird, verbirgt in dieser Aussage die Tatsache, daß
das „Naturgesetz“ als „Notwendigkeit des Seins und damit auch der Wirkgründe aller Natur“ eine
unbegründete Hypothese war, eine rationalistische Schimäre, die der Verstand ersann und der Natur
als Maß anlegte, soweit mit Erfolg, als Natur in passiven, bewegungs- und energieempfänglichen Tei-
len und einer nach außen wirkenden Energie in die Erscheinung trat.
Die hypothetische Axiomatik aber nimmt nun nach dem Verlöschen der Seinsintuition den Ort der intui-
tiven Prinzipien ein. Da sie nicht mehr bedacht werden kann, so wird sie das regelnde Maß des Den-
kens. Die Verknüpfung des Verstandes richtet sich nach ihr aus und kommt daher nicht mehr zu spekula-
tiver, intuitiver Auflösung ins Wesenhafte, sondern geht nach Regeln der Richtigkeit ihren vorweg ge-
richteten Gang. Die Vernehmungskraft der Vernunft wird diesem erblindeten Geschehen ein- und un-
tergeordnet, indem sie das anschauliche Material beibringt und darauf achtet, daß es sich in rechter Wei-
se ordnet. Die fügende Synthesis des rationalen Diskurses wird solchermaßen das eigentliche We-
sen des Urteils und der Erkenntnis. Erkennen ist dann wesenhaft ein synthetisierendes Vor-stellen im
Subjekt, dessen Funktionsregeln (angefangen von kategorialen Schematismen) zu enthüllen sind. Da
die synthetisierende Funktion des Verstandes über die Reichweite und Geltung der Erkenntnis ent-
scheidet und alles beiseite gesetzt wird, was sich diesem Vorgehen nach Regeln nicht fügt, so läßt sich
offenbar aus der Untersuchung des Erkenntnisvermögens ein hinlängliches Maß gewinnen für seine
Leistung und Möglichkeit. Damit wird die nicht mehr verstandene, überlieferte Metaphysik des Seins,
d. h. die der Verstandessynthesis transzendente Gegebenheit als „dogmatischer Schein“ vom „denken-
den Subjekt“ her entlarvt und als idealer Horizont einer seinslosen Vernunft der Verstandestätigkeit
behufs Sicherung seiner synthetisierenden „Objektivität“ untergeordnet. Die seinserkennende Ver-
nunft wird, wie Hegel sagt, „unter die Taufe des Verstandes gehalten“ und die neuzeitliche Erkennt-
niskritik, die Absteckung der Grenzen des Verstandesvermögens, als „Prolegomenon jeder möglichen
Metaphysik“ zum eigentlichen „Prinzip“, zum maßgebenden Ausgang und Geleit aller Philosophie. Es
ereignet sich eine geradezu groteske Verkehrung in der Geschichte des menschlichen Denkens, sofern der
intuitionslose, erblindete Verstand, vom Erfolg der mathematischen Naturwissenschaft geblendet, seine
Befangenheit zum Dogma macht und die intuitive Seins-Vernunft des Dogmatismus zu überführen
trachtet. Der Einbruch des radikalen Dogmatismus in eine seinsentfremdete Philosphie konnte offenbar
nicht geschehen, ohne daß der vernunftlose Verstand sein eigenes, intuitionsloses Wesen dem Walten
der Vernunft und ihrer metaphysischen Erkenntnis aufprägte und die entthronte Königin des Geistes vor
seinem Gerichtshof anklagte und zu seiner Dienstmagd entmächtigte.
Um dies zu erhärten, dazu bedarf es nur einer Durchleuchtung der Einleitung zur „Kritik der reinen Ver-
nunft“. Schon im ersten Abschnitt wird die menschliche Erkenntnis folgendermaßen gekennzeichnet:
„Denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch

23
Gegenstände, die unsere Sinne rühren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Vers-
tandestätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen und so
den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung
heißt.“2

Es ist nicht schwer zu erkennen, in welchem Maße hier das Erkennen nach dem Modell der technischen
Verarbeitung eines rohen Stoffes entworfen ist. Dieser Stoff ist offenbar eine qualitätslose, ungeord-
nete Masse, der nach dem Maß der Kausalität der Naturdinge die Sinne „rührt“ und „Vor-
stellungen bewirkt“. Diese „Einwirkung und Rührung“ bleibt offenbar ganz im Rohen, d. h. im Chaoti-
schen und Ungeordneten der Naturdinge befangen und ist nur „Anlaß“3, daß das Erkenntnisvermö-
gen zur „Ausübung“ und der Verstand „in Bewegung“ gebracht wird. Diese Bewegung aber wird „als
vergleichende, verknüpfende und trennende“ „Verarbeitung“ eines „rohen Stoffes“ ganz als techni-
scher Vorgang beschrieben, durch den der „Gegenstand der Erkennntnis“ erst hergestellt und seine Erfah-
rung ermöglicht wird.
Es ist klar, daß damit die Frage entsteht, „was unser eigenes Erkenntnisvermögen („durch sinnliche
Eindrücke bloß veranlaßt“) aus sich selbst hergibt“, die wir freilich nur dann beantworten können, wenn
uns „Übung darauf aufmerksam gemacht hat“.
Dieses vom Erkenntnisvermögen „Hergegebene“ ist dann notwendig soviel wie der gestaltende, verursa-
chende Grund der Gegenstände der Erfahrung und wird somit mit Recht „apriori“ genannt, weil es
„von aller Erfahrung“, d. h. von sinnlichen Einwirkungen „unabhängig ist und weil ihm nichts Empiri-
sches beigemischt ist“.
Welches ist nun aber das Kriterium oder das Merkmal für das Apriorische? Kant antwortet: „Findet
sich erstlich ein Satz, der zugleich mit Notwendigkeit gedacht wird, so ist er ein Urteil apriori; ist er
überdem auch von keinem abgeleitet, als der selbst wiederum als ein notwendiger Satz gültig ist, so ist
es schlechterdings apriori.“ Diese Behauptung gründet wiederum darin, daß „Erfahrung ihre Urteile
niemals wahr oder streng gebe“, weil sie „nur angenommene und komparative Allgemeinheit“ haben,
die durch Induktion gewonnen ist. Darum lehrt Erfahrung nur, daß etwas so oder so beschaffen sei, aber
nicht, daß es nicht anders sein könne.
Aus diesen wenigen Sätzen erhellt, daß Kant keine intelligible Anschauung, keine intuitive Seins-
erkenntnis und infolgedessen auch keine Wesenserfassung kennt. Der ganze Erkenntnisvorgang er-
eignet sich daher in einer durch und durch zufälligen Natur, die von sich her nichts an Wesendem und
Währendem hergibt, sondern erst durch die „Bearbeitung des Verstandes“ in eine Ordnung nach not-
wendigen Regeln gebracht wird. Die Erkenntnis ist daher eine synthetische Vorstellung eines Gegens-
tandes, der wie eine Maschine seine gesetzliche Ordnung allein aus dem Verstand seines Schöpfers
gewinnt.

2
Alle Hervorhebungen vom Verfasser, auch die folgenden
3
Kritik der reinen Vernunft (Einführung in die K.d.r.Vft.)

24
Wodurch aber ist es einsichtig, daß „Erfahrung“ keine „Notwendigkeit“ bei sich hat? Und was besagt
das Wort „Notwendigkeit“ an dieser Stelle? Kant gibt im Hinblick auf diese Frage ein Beispiel,
wenn er „apriori gegebene Begriffe“ erwähnt. Er sagt: „Laßt alles weg, was im Körper empirisch ist,
so bleibt doch der Raum übrig, den er einnahm, und den könnt ihr nicht weglassen.“ Danach wäre an ei-
nem Gegenstand das notwendig, was man nicht von ihm ablösen kann, ohne ihn aufzulösen.
Liegt aber darin der geringste Anlaß zur Annahme, daß dieser unlösbare Seinsbestand nicht zur äu-
ßeren Natur gehört? Nur wenn ich die durch nichts begründete Annahme mache, Natur sei ein chaoti-
sches Gewoge völlig ungeordneter Gegebenheiten ohne Wesen und Bestand wie der weiche Ton für den
Töpfer und das „Empirische“ sei nichts als eine „zufällige Affektion“, wie der Ton dem Töpfer vor die
Hand kommt, nur dann sind die Sätze sinnvoll. Sie ruhen daher völlig auf nicht mehr bedachten Axi-
omen und Hypothesen auf und sind solchermaßen durch und durch dogmatisch.
Der „Schluß“ gelingt daher auch nur durch eine sophistische Aequivokation. Nachdem Kant das Nicht-
wegdenkbare von der Ausdehnung beim Körper oder von der Substanz beim Objekt überhaupt hervor-
gehoben hat, fährt er fort: „Ihr könntet also, überhaupt durch die Notwendigkeit, wodurch sich dieser
Begriff Euch aufdrängt, gestehen, daß er in Eurem Erkenntnisvermögen apriori seinen Sitz hat.“ Es
braucht nicht viel zu erkennen, daß es hier nicht um die Notwendigkeit des Rufdrängens geht, sondern
um die der inneren Einheit des Begriffes. Metaphysisch gesehen ist an diesen Sätzen beinahe alles prob-
lematisch oder falsch: So ist die Definition des Körpers als „res extensa“ nur eine Unterschei-
dungs-, aber keine Wesensdefinition, da der Seinscharakter der „res“ und noch mehr der der „Ausdeh-
nung“ nicht mehr durchleuchtet und bedacht wurde. Des weiteren ist kein Grund angegeben, daß die
Unauflösbarkeit der Phänomene sie notwendig aus dem Naturbereich heraushebt, da „Natur“ selbst
nicht mehr metaphysisch, sondern vom Modell der herstellenden Technik interpretiert ist, ohne daß
auch nur der leiseste Ansatz zu einer kritischen Reflexion gegen diese cartesische Entwesentlichung
und Depotenzierung, die schon einer Verballhornung gleichkommt, zu spüren wäre. Drittens ist nicht
gesehen, daß das Nicht-wegdenken-dürfen nur eine Forderung ist, die das Denken selbst erhebt,
ohne daß sie aus dem Sein selbst sichtbar gemacht werden könnte. Denn tatsächlich liegt im Begriff ei-
ner „res extensa“ überhaupt keine Notwendigkeit dafür, daß sie bestehe, so daß sich selbst nach Kants
Annahme ergibt, daß sie auch nicht apriori im Verstande bereitliegen könne, sondern ihm zumindest
so „gegeben“ ist, wie sie selbst als kontingentes Seiende geschaffen wurde oder uns erscheint, da es ja
möglich ist, jederzeit Teile der quantitativen Natur als nicht-existent zu denken und somit die Natur
selbst. Nur wenn ich die Forderung erhebe, der Verstand müsse die „res extensa“ denken oder denken
können, darf ich sie nicht so weit aufheben, daß ihr Wesensgrund erlischt. Aber solche „Forderung“
ist eine reine willentliche Setzung und entbehrt jeglicher einsichtigen Notwendigkeit. Die Kritik der
Reinen Vernunft ruht daher durch und durch auf dogmatischen, uneinsichtigen Annahmen auf. Man
könnte auch gegen Kant schlagend ad hominem argumentieren: Da ich in einer sinnlichen Affektion
das, was „rührt“, nicht wegdenken kann, ohne daß die Affektion erlischt, so gehört das die Sinne
Rührende, also der Stoff der Natur, zum apriori des Verstandes.

25
Dasselbe ergibt sich in noch verstärktem Maße im Fortgang der Ausführungen. Bekanntlich ist
„die eigentliche Aufgabe der reinen Vernunft“ nach dem 6. Abschnitt der Einleitung in der Frage
enthalten: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Im 4. Abschnitt hat Kant die Urteile
nach analytischen und Erweiterungsurteilen unterschieden. Dabei bezeichnet er den Satz: „Alle
Körper sind ausgedehnt“ als analytisch. Auch hier wird die „cartesische Definition“ als selbstver-
ständliches Absolutum vorausgesetzt, hinter die man nicht zurückgehen kann. An die Stelle intuitiver
Vernunfturteile aus dem Sein als Sein sind also Begriffsdefinitionen getreten, deren meta-
physische Herleitung und Durchleuchtung nicht mehr versucht wird.
Dieselbe Abhängigkeit von einer „Begriffslogik“, deren Wurzeln bis auf Suarez zurückgehen, wird
sichtbar bei der Darstellung der synthetischen Erfahrungsurteile. Als Beispiel nennt Kant den Satz:
„Alles, was geschieht, hat seine Ursache“, und fügt hinzu: „In dem Begriffe von etwas, was geschieht,
denke ich zwar das Dasein, vor welchem eine Zeit vorhergeht usw., und daraus lassen sich analytische
Urteile ziehen. Aber der Begriff einer Ursache liegt ganz außerhalb jenem Begriffe und zeigt etwas von
dem, was geschieht, verschiedenes an, ist also in dieser letzten Vorstellung gar nicht mit enthalten. Wie
komme ich denn dazu, von dem, was überhaupt geschieht, etwas davon ganz verschiedenes zu sagen
und den Begriff der Ursache, obzwar in jenem nicht enthalten, dennoch als dazu und sogar notwendig
Gehöriges zu erkennen? Was ist hier das unbekannte x, worauf sich der Verstand stützt, wenn er außer
dem Begriff von A ein demselben fremdes Prädikat = B aufzufinden glaubt, welches er gleichwohl
damit verknüpft zu sein erachtet.“ Die Antwort ist, daß es nicht Erfahrung ist, die mich dazu veranlaßt,
daß ich vielmehr „mit dem Ausdruck der Notwendigkeit, mithin gänzlich apriori und aus bloßen Begrif-
fen diese zweite Vorstellung zu der ersten hinzufüge“ (4. Abschnitt).
Diese wenigen Sätze zeigen, daß Kant nirgend mehr den Boden des Seins berührt, sondern als der
Erbe einer rationalistischen Schultradition in festen „Begriffsdefinitionen“ denkt, die in der Logik zu
richtigen Sätzen miteinander verfügt werden. Diese Begriffsdefinitionen mit ihren spröden (ab-soluten)
Abgrenzungen sind ihm das eigentliche Element des Denkens, das solchermaßen als „Synthesis von Be-
griffen nach Maßgabe von Begriffen“ erscheint. Sagt er doch selbst (Abschnitt 3): „Ein großer Teil und
vielleicht der größte von dem Geschäfte unserer Vernunft besteht in Zergliederungen der Begriffe, die
wir schon von Gegenständen haben.“ Die innere Abhängigkeit Kants von der traditionellen Logik
tritt daher nicht nur in der Entwicklung seiner Verstandeskategorien zutage. An dieser Stelle wird ihm
sogar „etwas, was geschieht“ zu einem abgegrenzten „Begriff“, der zwar das Dasein, vor welchem eine
Zeit vorhergeht, „enthält“, aber nichts von einer „Ursache“ bei sich hat. Diese „Ursache“ wird ihm
vielmehr auch zu einem „Begriffe“, der als solcher „ganz außerhalb jenem (obengenannten) Be-
griffe“ liegt und „etwas von dem, was geschieht, verschiedenes anzeigt“. Damit ist auch die
Begriffswelt, wie die Dinge der Natur chaotisch vereinzelt waren, in lauter spröde, abgelöste Beg-
riffseinheiten aufgelöst, so daß sich auch hier das Denken vor eine der technischen ähnliche Aufgabe ge-
stellt sieht, diese zerstreute Welt von Begriffs- oder Lichtpunkten zu einem sinnvollen Ganzen zu
verknüpfen, also die geistige Welt erst herzustellen. Da es keine intuitive Seinserfahrung gibt, also

26
auch kein Element, nämlich das Sein, in welchem ein Geschehendes oder Werdendes sich als dem Sein
Entsprungenes, d. h. als Seiendes bekundet, so ist ein geheimnisvoller Mechanismus, ein Leitsystem
für die denkende Synthesis notwendig, die den spröde isolierten Begriffen eine Gewalt antut und sie
in eine Ordnung der Verknüpfung nötigt, von der sie aus sich selbst nichts an sich tragen. Die Wei-
se, wie Kant hier spricht, ist denn auch in der Tat geradezu eine Offenbarung seiner ver-
zweifelten, d. h. seiner begriffsversperrten Situation. Er fragt nach einem „unbekannten x“, wor-
auf sich der Verstand, dem die Begriffe nichts mehr hergeben, stützen muß, um A und B mit-
einander zu verknüpfen. Wenn er zugleich sagt, daß er diese Verbindung „mit dem Ausdruck der
Notwendigkeit, mithin gänzlich apriori und aus bloßen Begriffen“ zustande bringt, so zeigt er we-
nigstens an, daß diesen letzten apriorischen Begriffen für sich selbst die spekulative Fundierung man-
gelt, daß sie vielmehr, an sich ein unbekanntes x, in der Notwendigkeit des Denkens und zu denken,
also in einer Forderung gründen und deshalb auch in den erstgenannten Begriffen, die am Ende
seiner Sätze zu „Vorstellungen“ werden, in keiner Weise anzutreffen sind, so wenig wie Ordnung
in der Natur angenommen wurde. Auch hier zeigt sich also der Forderungscharakter der apriorischen
Notwendigkeit, die für einen Herstellungsprozeß zu seiner Ermöglichung gesetzt wird und somit
einen durchaus hypothetischen Charakter hat.
Im 5. Abschnitt wird diese Urteilslehre dann durch die mathematischen Urteile bestätigt, die ins-
gesamt als synthetisch a priori bezeichnet werden. In diesem Abschnitt wie in den weiteren Kapiteln
zeigt sich deutlich, daß Kant das Ideal der synthetischen Wissenschaftlichkeit in der Mathematik und der
mathematischen Naturwissenschaft durch deren faktischen Erfolg erhärtet sah und von dorther das Maß
für den synthetischen Urteilsprozeß der Vernunft hernahm.
Das berühmte Beispiel lautet: 7 + 5 = 12. Auch hier spricht Kant von einem „Begriff der Summe“ von 7
und 5, der „nichts weiter enthält als die Vereinigung beider Zahlen in eine Einzige“, wodurch aber
„ganz und gar nicht gedacht ist, welches diese einzige Zahl sei, die beide zusammenfaßt“. Man muß
daher „über diese Begriffe (7 + 5) hinausgehen, in dem man die Anschauung zu Hilfe nimmt, die
einem von beiden korrespondiert, etwa seine 5 Finger ... oder 5 Punkte, und so nach und nach die Einhei-
ten der in der Anschauung gegebenen 5 zu dem Begriffe von 7 hinzutut“. „Indem ich für den Begriff der 5
die Finger meiner Hand als Anschauung zu Hilfe nehme, so tue ich die Einheiten, die ich vorher zusam-
mennahm, um die Zahl 5 auszumachen, nun an jenem meinem Bilde nach und nach zur Zahl 7 und sehe so
die Zahl 12 entspringen.“
Auch hier gibt es eine begriffliche Einschränkung des Denkens, wenn auch im „Begriff einer Summe“
so etwas wie ein Sollen oder eine Aufgabe mitgedacht und vorgezeichnet wird. Diese Überschreitung
des Begriffes geschieht jedoch hier nicht nach apriorischen Regeln, sondern „unter Zuhilfenahme der An-
schauung“, oder wie Kant an anderer Stelle sagt, „vermittels einer Anschauung“. Das Bedeutungsvolle
liegt in dieser „Mittel-stellung“ der Anschauung, die nicht nur ein „Mittleres“ zwischen Begriffen,
sondern zugleich ein „Mittel“ (Instrument) der Synthesis wird. Kant bleibt sich darin treu, daß er die
„Begriffe“ primär aus anschauungslosen Umreißungen (Definitionen) ansetzt und die genannten Sum-

27
menbegriffe daher in höchst umständlicher und elementarer Weise (durch Finger oder Punkte) nachträg-
lich in anschauliche Vorgänge auflöst, um dann auf diesem neuen Boden synthetisch voranschreiten zu
können. Das Urteil selbst aber wird wiederum als ein Herstellungsprozeß dargestellt, sofern „nach und
nach“ die Einheiten „hinzugetan“ werden, um die Zahlen „aus-zu-machen“, bis der Zählende die Zahl
12 „entspringen“ sieht.
Es erfüllt sich daher alles das, was für ein reines Verstandesurteil verlangt wird. Dies geht nicht von
der Intuition der Vernunft aus, um durch den Diskurs in ihr zu endigen, sondern hält sich im Hervorbrin-
gen einer Synthesis, als deren „Resultat“ (im eigentlichen Verstande des Wortes) der gesuchte Ge-
genstand entspringt. Diesem Vorgang und Hervorgang aber ist die Anschauung als Instrument und Mittel
der Bewegungssicherung und Führung untergeordnet. Das Resultat wird im Medium der Anschauung
herausgezählt.
Notwendig fehlt daher hier die Möglichkeit einer metaphysischen Durchlichtung. Es bleibt völlig unver-
ständlich, was die Copula oder das Gleichheitszeichen in diesem synthetischen Verstandes- oder Rechen-
urteil eigentlich besagt. Mußte Kant nicht darauf bestehen, statt des „ist“ stets „ergibt“ zu sagen? Und ist
die Zahl 12 wirklich nur die Resultante aus dem Additionsprozeß, was, wie oben gesagt wurde, dazu
führte, sie durch alle möglichen Rechensynthesen zu bestimmen, was ihren Zahlencharakter völlig aufhö-
be? Ist dieser nicht durch die Zahlenreihe und die ausschließende Einigung von 12 wieder auflösbaren
Einheiten zum Ganzen einer Einheit als fester Bestand schon gegeben, wenn überhaupt das Geschäft des
Zählens beginnt? Ist dieses nicht ermöglicht und umgriffen von einem intuitiven Erfassen der Zahlenreihe
und ihrer möglichen Einheiten? Ist nicht das Urteil auch ohne Synthesis in seinem Wesen erfüllt, wenn
das umständliche zählende Durchlaufen anschaulich gegebener Teile gar nicht statt hat. Ist etwa 1 + 1
= 2 weniger ein Urteil, weil keine Synthesis statt hat, sondern ein einfacher „Bestand“ eingesehen
wird? Hier zeigt es sich deutlich, daß das Wesen des Urteils durch den „verbindenden“ Diskurs
verfehlt ist. Denn die „Veranschaulichung in der Vorstellung“, die rationale Synthesis macht das
Urteil nicht aus, sondern bringt nur einen vorliegenden Bestand vor den schauenden Intellekt, daß die
Einheit und Notwendigkeit gesehen werden kann. Wenn Kant selbst die Notwendigkeit von Begriffen
dadurch bestimmt, daß Gegebenheiten nicht weggedacht werden könnnen, so zeigt er selbst mit Evidenz,
daß diese gerade darin besteht, daß keine Synthesis hergestellt wird, sondern ein vorgängig beste-
hender Zusammenhalt sich dem ablösenden Verstand widersetzt und somit dem trennenden Tun des
Verstandes überlegen oder transzendent ist. Was aber nicht geschieden werden kann, kann auch nicht
verknüpft werden. Deshalb ist in einem Urteil, das eine notwendige Verbindung ausdrückt, die logi-
sche Urteilsform durch die Copula „ist“ selbst überstiegen und negiert. „Jede Rose ist farbig“; dieser
Satz ist in keinem Betracht eine Herstellung oder eine Synthese von Rose und Farbigkeit, so als
würden zwei „Begriffe“: Rose und Farbe, die für sich „definiert sind“, miteinander zusammengefügt.
Vielmehr bringt der Verstand „Intentionen“ oder „abstrakte Gehalte“ zusammen, um dabei zu erfah-
ren, daß sein Geschäft entweder durch die Gegebenheiten der Erfahrung „seinshaft“ überholt ist und das
von ihm „Getrennte“ in Wahrheit als Einheit „ist“, oder aber er erfährt im Versuch der Trennung den

28
Gegenstoß des Wesensbestandes, so daß in jeder notwendigen oder allgemeinen Aussage sich das
Widerspruchsprinzip wiederholt (reductio in principia). Der Satz: Jede Rose ist farbig, ist daher als
Urteil eine reine Intellectio, eine Einsicht in einen unauflösbaren Wesensbestand und besagt zu-
gleich, daß ein auflösender Diskurs des Verstandes gescheitert ist.

Das Urteil ist daher seiner intuitiven Struktur gemäß genauer definiert, wenn es lautet: „Daß eine Rose
nicht farbig ist, dies ist un-möglich“, wobei das „möglich“ auf einen nichtigen, seinslosen Entwurf des
Verstandes verweist. Der Verstand urteilt daher überhaupt nicht, noch konstituiert seine Synthesis
das Urteil, sondern er bringt Gegebenheiten der Erscheinung oder des Wissens zusammen, d. h., er stellt
sie vor, damit die Sicht in einen seinshaften, d. h. immer vorgegebenen und metaphysisch konstitu-
ierten (synthetisierten) Wesensbestand ermöglicht wird. Der Verstand ist der Diener und, Knecht der
Vernehmungs- und Schaukraft des Geistes, der im Sein und Seienden sein Licht hat. Dies erhellt aus
dem Satz des Aquinaten: Die Wahrheit folgt unserer Vernunft in ihrer vollkommenen Erkenntnis,
wenn diese immer schon zur Synthesis gelangt ist,4 d. h. diese hinter sich hat, denn „das Wahre ist das
Un-geschiedene des Seins und dessen was ist“. Sent. I. 19. 51.
Dasselbe Ergebnis zeigt eine Analyse der angeblich synthetischen Urteile apriori in der Naturwissen-
schaft. Wenn Kant sagt, daß in aller Mitteilung der Bewegung „Wirkung und Gegenwirkung einander
gleich sein müssen“, so ist eine solche Formel in mehr als einer Hinsicht aufschlußreich. Denn der Satz
ist in der Tat eine „Synthesis von Begriffen“, die als reine Hypothesen und Annahmen unkritisch ge-
setzt sind. Kant macht nämlich die Voraussetzung, daß die Körper passive mechanisch (von außen) aktu-
alisierte, quantitativ bestimmte Einheiten sind, deren Veränderungen allein durch äußere Anstöße er-
folgen, dergestalt, daß die Wechselwirkungen von Stoß und Hemmung (Gegenstoß) einander genau
korrespondieren. In diesem Sinne liegt allerdings eine Synthesis aus recht willkürlichen Begriffen,
nämlich einer mechanistischen Weltkonstruktion, vor, deren Gültigkeit nur soviel Notwendigkeit an sich
hat, als man die seinslosen Verstandesbegriffe anerkennt. Freilich gibt es auch hier keine „Synthesis“ im
Sinne einer hervorgebrachten Erkenntnis, da der Satz nur das ausdrückt, was man zuvor schon definito-
risch als gültig erklärt hat. Mißt man diesen Satz aber am substantiellen Sein oder an den Erkennt-
nissen der modernen Naturwissenschaft, so ist eine solche Korrespondenz nichts als eine wirklichkeitslose
Schimäre, da ich in keinem Sinne die Annahme machen kann, daß ein nicht mechanistisch wirkendes A-
tomgefüge auf die gleichen Einflüsse „gleich“ reagiert oder daß die ausgelöste Wirkung (etwa eine
Kettenreaktion) genau dem auslösenden Stoß entspricht.

Die ganze Bodenlosigkeit des Geschäftes der Kritik der reinen Vernunft ist daher schon in der Einleitung
deutlich zutage getreten. Es ist ein durch und durch dogmatisches Unternehmen, ein großer Versuch, aus
dem rationalistischen Begriffserbe einer logischen, mathematisch-naturwissenschaftlichen Technik her das
Wesen der menschlichen Erkenntnis zu erhellen und diese selbst als rationale Technik einer apri-
orischen Synthesis zu erweisen. Die „eigentliche Aufgabe“, „wie sind synthetische Urteile apriori

4
G. 1. 59.

29
möglich“, ist ein Scheinproblem, das nur deshalb aufgegeben werden konnte, weil ein seinsvergesse-
nes Zeitalter sich intuitionslos an eine Fülle willkürlicher Axiome verloren hatte. Es ist wahrhaft eine
Tragödie, daß ein so großer Denker wie Kant von einem Ansatz ausging, dessen Voraussetzungen zu
bedenken ihm unmöglich war. Wenn er sagt (in Abschnitt 6), „daß die Metaphysik bisher in einem so
schwankenden Zustand der Ungewißheit und Widersprüche geblieben ist, ist lediglich der Ursache zuzu-
schreiben, daß man sich diese Aufgabe und vielleicht sogar den Unterschied der analytischen und
synthetischen Urteile nicht früher in Gedanken kommen ließ“ - so zeigt eine Durchdringung seiner
grundlegenden Ausführungen, daß es das, was er „synthetische Urteile a priori“ nannte, überhaupt
nicht gibt, daß er vielmehr einer Verwechslung und Verkehrung zum Opfer fiel und in der Tat,
wie Hegel sagte, „die Vernunft unter die Taufe des Verstandes hielt“ und „des Menschen allerhöchste
Kraft“ (Goethe) in die Knechtschaft eines dienenden Prinzips brachte.
Schon die antike Philosophie hat den „Dogmatismus der Sophisten“ und das leere Treiben der Skepsis
überwunden, als sie den nous im waltenden Wesen des Seienden verwurzelte und mit Aristoteles das
Sein als Sein als das Offenbarste, das Gewisseste und Voraussetzungslose aller Erkenntnis enthüllte.
Von Aristoteles her ergibt sich freilich, daß jeder „Begriff“ und jedes „Urteil“, das nicht im Sein
seinen Ausgang hat und wieder in es „aufgelöst“ werden kann, eine „dogmatische Setzung“ ist. Viel-
leicht ist unser ganzer spezialisierter Wissenschaftsbetrieb, der, wie Heidegger sagt, in seinen Wur-
zeln abgestorben ist, nichts als eine Gefangenschaft der Geister im Unbedachten und Unbedenkbaren
und eine einsichtlose Beirrung durch Begriffe und abgelöste Phänomene.
Kants große Kritik ist freilich dennoch ein metaphysisches Unternehmen, den verlorenen
Seinsbestand einerseits wie die Freiheit andererseits im Wesensakt des Geistes zu retten und
die ratlose Zersplitterung des abendländischen Geistes zu überwinden. Was durch Descartes'
wesenlose Zerspaltung der res cogitans und res extensa, durch seine Depotenzierung des Seins
ins Denken und der Natur in äußere Erstreckung grundgelegt wurde, was durch die mechanische
Naturwissenschaft, durch den englischen nominalistischen Empirismus, durch das technische
Herstellen einerseits und die begriffliche Logisierung des Seins in der scholastischen Traditi-
on andererseits unvereinbar auseinanderklaffte, das suchte Kant im Rückgriff auf die Leibniz-
sche Synthese der appetitiven Apperzeption der apriorisch weltentwerfenden Subjektmonas zur
Einheit zu fügen. Aber auch dieses Unternehmen vollzog sich im Lichte des vergessenen
Seins. Wiewohl Kant in strenger Begrifflichkeit durch Verstandeskritik die Vernunft, ihre
Ideen und ihr Ideal dienend einem endlichen „Verstande“ als „Bedingung objektiver Er-
kenntnis“ zuordnete, so hielt er freilich dennoch den systematischen Aufriß im Lichtkreis einer
wenn auch bloß möglichen archetytischen Seinserkenntnis, deren Macht sich einmal notwendig
gegen den Verstand und sein wesenloses Tun richten mußte. Sofern aber die Vernunftideen
dem apriorisch, d. h. aus eigenem Grunde synthetisierenden Verstand dienend untergeordnet
waren, waren auch ihre „Ideen“ dem Wesensbestand der res cogitans oder des denkenden Sub-

30
jektes eingefügt, so daß sich die spekulative Bewegung gegen die Verkehrung Kants nun not-
wendig in der Dimension des Subjektes vollziehen mußte. Einer archetypischen Vernunft aber,
die notwendig den sinnlichen Empfängnis- wie den rationalen Einigungsprozeß umfaßte,
ermöglichte sich dies ungeheure Unterfangen nur, indem der Mensch aus seinem „Tatwillen“
nun auch noch die letzte Dimension „herstellenden Machens“ bezog und wie Gott und in Gott al-
les Seiende aus seinem ideierenden Grunde hervorgehen ließ. Was diese „systematische Her-
vorbringung“ an Wahrheit enthält und in welchem Maße der Mensch an Gott partizipiert, dies
von der aristotelisch-thomistischen Seinsenthüllung sichtbar zu machen, scheint uns die schwie-
rigste Aufgabe zu sein, die der Philosophie bisher aufgegeben war. Wir sind überzeugt, daß
ihre Bewältigung nur durch eine Rückbesinnung auf die thomistischen Seinslehren und ihre
spekulative Vertiefung gelingen wird, deren Grundstrukturen im „Thomismus als Identitäts-
system“ vorgezeichnet worden sind.

31
DIE TRANSZENDENTALE STRUKTUR DES RAUMES

1. Die Weltverfassung der Sinne als potentiae propinquae

Im Bereich der Wahrnehmung gibt es eigentlich keine reine „Bewußtseinsimmanenz“ überhaupt.1 Eine
„A-priori-Bestimmung“ durch die Anschauungsform des Raumes setzt das Subjekt in gar keiner Weise
einer „äußeren“ Welt entgegen, sondern entrückt es umgekehrt in die Sphäre der Äußerlichkeit. Es ist
daher auch nicht notwendig, die „Gegenständlichkeit“ durch einen der Willenstiefe des Subjekts
entspringenden dynamischen Prozeß zu sichern, der die Bewußtseinsphänomene „transzendiert“ und sie
aus der Immanenz heraushebt. Vielmehr ist das Subjekt durch den Wesensgehalt der Anschauung selbst
der „eigenen Immanenz“ bereits enthoben, so daß es nicht einmal einem künstlichen Versuch einer Sub-
jektivierung der Gegebenheiten als „reiner Vorstellungen“ gelänge, die Äußerlichkeit aufzuheben.
Denn jeder mögliche vorgestellte Raum ist keinem möglichen wirklichen entgegengesetzt, sondern ent-
weder ein Ausschnitt des wirklichen oder aber eine Setzung, die sich in einen wirklichen Raum konti-
nuieren läßt. Würde aber, was unmöglich ist, aller Raum vorgestellt, so enthielte er auch den wirkli-
chen, so daß die „ideelle Totalität“ sich in sich selbst wenigstens der Möglichkeit nach dem „Äußeren“
gegenüber öffnete.
Freilich bräche mit der Annahme dieser letzten unmöglichen Hypothese (der vorgestellten Raumtotali-
tät) das Problem der transzendentalen Ästhetik, das Kant aufgegeben hat, erneut hervor, sofern eben
die „gegenständliche Welt“ innerhalb der apriorischen Raumganzheit und durch sie ermöglicht
würde; dann würde ja gerade erwiesen, daß die immanente Form des Vorstellens, der Raum also, so
etwas wie eine äußere Welt gleichsam aus sich selbst hervortriebe. Die „Ausgekehrtheit“ des Wahr-
nehmens wäre dann umschlossen von einer innerlichen Anschauungsform, durch die das Subjekt sich
selbst gleichsam den Horizont vorhält und freigibt, in dem eine „äußere Welt“ sichtbar werden kann.
Dann schiene es wiederum, als sei nun doch das „Äußere“ völlig dem Subjekt verfallen. Und die
Transzendenz dieses Subjektes könnte nicht aufgezeigt werden von seinen „Gegenständen“ her.
Indem wir diese Frage stellen, wird es notwendig, noch tiefer in die Wesensstruktur des von Maréchal
entwickelten Wahrnehmungsverhältnisses einzudringen. Die Frage sei zugleich Anlaß, die Bedeu-
tung des Raumes für die Möglichkeit menschlichen Erkennens in ihren Grundzügen aufzuzeigen,
ohne freilich in eine systematische Entwicklung des Problems überzugehen.2
Die Frage ist zunächst, wie der Sinn erkennt. Wodurch ist sein intentionaler, schauend erfassender
Akt „aktualisiert“? Ist es nicht so, daß die „species“ der Dingform auf das im Organ ruhende „Ver-
mögen“ trifft und es auf diese Weise zur Tätigkeit der Wahrnehmung bestimmt? Diese Vorstellung

1
Vgl. die feinsinnige Analyse, die Joseph Maréchal Le Point de Départ de la Métaphysique. Cahier V, 1ère éd., p. 115-116 ;
ème
2 éd., p. 175-176, von diesem Zusammenhang gegeben hat.
2
Vgl. Gustav Siewerth, Metaphysik der Erkenntnis nach Thomas von Aquin, 1933

32
mag um so allgemeiner sein, je mehr man gewohnt ist, den sinnlichen Erkenntnisvorgang als ana-
loge Ausprägung des intellektuellen zu begreifen.
Der Unterschied ist jedoch bedeutsam. Denn das Vernunftvermögen ist sozusagen um einen Grad „po-
tentieller“ als der Sinn; es ist selbst als Potenz in Möglichkeit, so daß all seine aktuale Tätigkeit durch
die vom tätigen Intellekt „erleuchtete“ „species intelligibilis“ heraufgeführt wird. Eine solche allge-
meine Potenzialität besteht nicht für die Sinnlichkeit, über die Thomas folgende Aussage macht:
„(Aristoteles) sagt, daß die erste verändernde Bestimmung des sinnlichen Wesens durch den Erzeu-
ger geschieht. Er weist damit die erste bewegende Veränderung auf, die so geartet ist, daß sie aus der
reinen Potenz in den ersten Akt hinüberführt. Diese Veränderung aber geschieht vom Erzeuger her;
denn durch die Kraft, die im Samen ist, wird die sinnliche Seele aus der Potenz in den Akt mit all ihren
Vermögenskräften herausgeführt. Wenn aber das Lebewesen schon gezeugt ist, dann hat es seinen
Sinn (Sinnesvermögen) auf die Weise, wie jemand die Wissenschaft hat, wenn er schon gelernt hat.
Wenn er aber aktuell wahrnimmt, dann verhält er sich wie jener, der actu erwägt.“3 An anderer Stel-
le nennt Thomas den Sinn eine „potentia propinqua“, die er einer „potentia remota“4 entgegenstellt.
Der Sinn steht seinen Gehalten gegenüber in vollendeter Disposition, 5 in habitueller Freiheit und
Sicherheit, nicht anders als die Vernunft ihren bereits vollzogenen Erkenntnissen gegenüber, wenn
ihm auch mancherlei Gegenstände als äußere nicht so (d. h. wie die bereits erkannten Inhalte der Ver-
nunft) zu seiner Verfügung stehen.6 Genaugenommen besitzt der Sinn all seinen Gehalten gegenüber
die Naturvollendung, die der Vernunft gegenüber den ersten Prinzipien, deren Erkenntnis Thomas „habi-
tuell“ nennt, eignet.
Wird daher ein Wesen, das die Wahrnehmung hat, aktuell wahrnehmend (prout habens sensum fit
actu sentiens),7 „so kann im eigentlichen Sinne gar nicht mehr von Veränderung (alteratio) und Lei-
den gesprochen werden, sofern sie ja aus der zweiten Potenz in den Akt übergeht“.8 Das heißt: Die Po-
tenz ist keine reine Möglichkeit, sondern bereits (wenn auch unvollständig) Aktualität. Von dem Wahr-
nehmungssinn gilt aber, daß er in Potenz so geartet ist wie das Wahrnehmbare im Akt (est tale qua-
le est illud). Diese Gleichheit und Ähnlichkeit besteht freilich nicht für den Wahrnehmungssinn vor
seiner „Generation“, also vor der ersten Aktualisierung, die im eigentlichen Sinne ein Akt der „As-
similation“ genannt wird,9 sofern eben durch sie die „Ähnlichkeit“ erst erzeugt wird.
Wie kann Thomas eine solche Ähnlichkeit behaupten? Dadurch, daß die sinnliche Form die erste Mate-
rie, die Potenz aller Natur, aktualisiert und „organisiert“; sofern aber die Form des Sinnes die Mate-
rie übersteigt und teilhat an der „Universalität“ der Geistform, wird der Sinn die Potentialität der
Materie entsprechend umfassender aktualisieren. Er wird aber im gleichen Maße der Natur „ähnli-
cher“ werden, da er ihre substantielle Potenz in ihrer ganzen Möglichkeit organisch erfüllt.

3
Thomas Aquines, in: Aristotelis librum de anima, 1. II, lect. 12. Ed. Pirotta, n. 374.
4
Ebd., n. 381.
5
Ebd., n. 373 und 375.
6
Ebd.
7
Ebd., n. 382.
8
Ebd.
9
Ebd., n. 382.

33
Auf diese Weise kann der Sinn vor seiner eigentlichen Tätigkeit schon zum „Leben erwachen“ und in
diesem Leben den andringenden Eindrücken gegenüber offenstehen. Ja in jedem Fall, da ein Ein-
druck die „Tätigkeit“ der Sinne vollendet, wird diese Vollendung die Bedingungen der eigenen Mög-
lichkeit mit sichtbar machen, zu denen eben das Offenstehen der potentia propinqua des Sinnes in und
durch die „Potenz der Natur“ (also das ursprüngliche Leben der Sinne) gehört.
Diese Tatsache der Wahrnehmungsvollendung ist phänomenal leicht aufweisbar. „Wenn der Mensch
sieht, so hat er schon gesehen, und wenn er hört, so hat er schon gehört.“ Wenn unser Bewußtsein er-
wacht, sind unsere Sinne offen, schaut das Auge ins Dunkle, hört das Ohr innerlich in die Stille hinein, er-
lebt der Tastsinn seine organische Körperlichkeit, ist der Sinn im Ganzen erwacht zur „Potenz der Na-
tur“ als einer erscheinenden. Man könnte hinzufügen: Die Tatsache, daß selbst der Schlafende durch
Licht und Laut erwacht, weist auf eine gewisse Wachheit seiner äußeren Sinne hin, die die Reize unmit-
telbar aufnehmen.
Der Nachdruck liegt jedoch nicht auf der Tatsache des „Erwachtseins“ der Sinne, sondern ihrer innerlichen
„Ähnlichkeit“ mit den Dingen. Das Bedeutsame ist, daß sie an der „Potenz der Natur“ erwacht sind, daß
sie habituell zugerichtet wurden durch das „Organ-werden“ der ersten Materie durch die generative
Form.
Liegt in der Organisation der Materie durch die Sinnenform auch eine apriorische, „objektive“ oder
gegenstandsbezogene Erfülltheit des potentiellen Gewahrens? Genügt es nicht, zu sagen, daß die Sinn-
form „allgemeine“ Form ist und deshalb auf alle „Qualitäten“ hingerichtet ist? Man hüte sich vor ei-
nem thomistischem Denken nicht gemäßen Spiel mit leeren, allgemeinen Möglichkeiten. Thomas betont
nicht umsonst die habituelle Vollendung des Sinnes, welche die „Ähnlichkeit mit den Dingen“ zur Fol-
ge hat. Der Sinn wird von den Qualitäten der Dinge berührt, weil er „materiell“ bewegbar ist, er
wird jedoch nicht im eigentlichen Sinne, sondern nur per accidens „verändert“, weil der organische
Eindruck „spirituell“ erfaßt und aufgenommen wird. Das letzte aber bedeutet, daß das „geistige“ Ge-
wahren des Sinnes selbst die organische Potenz und damit die Materie irgendwie umfaßt, oder besser,
daß es als solches in deren Seinsbedingungen eingesenkt ist, wie umgekehrt die Materie durch den Sinn
organisiert und belebt wurde.
Könnte daher der Sinn sich selbst reflexiv erfassen, so gewahrte er sein innerliches Erfülltsein mit der
materiellen Potenz aller Natur.
Kehren wir von diesem Ergebnis zu Maréchals transzendentalen Untersuchungen zurück! Liegt es
nicht nahe zu sagen, daß die Erweckung der Materie zum organischen Leben der Sinne den reinen un-
bestimmten Raum unseres Vorstellens erzeuge? Denn er ist ja die frühste und erste Bestimmung der
Materie überhaupt. Allein gerade dadurch, daß er objektive Bestimmung der Materie ist, als solche
aber immer ein bestimmtes Quantum darstellt, kann er nicht die apriorische Bestimmung des sinnlichen
Gewahrens sein. Denn dieses ist „allgemein“ und deshalb durch keinen Inhalt vordeterminiert.
Aber hat der reine Raum denn überhaupt Inhalte? Ist er nicht ein leeres Kontinuum ohne jedes be-
stimmte Quantum? Man wird leicht gewahren, daß man damit etwas Unmögliches ausgesagt hat,

34
denn jede noch so konfuse Raumanschauung ist in der Tat quantifiziert und damit determiniert. Ein An-
schauen des reinen Raumes ist daher unmöglich.
Dennoch wird unschwer zu erfassen sein, daß ein durch ein konfuses Quantum bestimmtes Gewahren
nicht durch dieses Objekt im eigentlichen Sinn erfüllt wird, daß es sich vor einem tieferen und allge-
meineren Inhalt abhebt, der im objektiven Quantum selbst mitgegeben ist, aber darüber hinaus das An-
schauen in eine allgemeinere Dimension hineinhält. Dieses Allgemeine kann nun keine reine Raum-
vorstellung sein, weil es eine solche überhaupt nicht geben kann. Läßt man aber das bestimmte Quan-
tum beiseite, so bleibt nicht ein unendlicher reiner Raum, der durch Bestimmungen eingeschränkt würde,
sondern die reine „Potentialität des Raumes“. Diese Potentialität des Raumes ist nichts anderes als die
reine Dynamis der Kontinuität und Diskretion, die der Möglichkeit nach zu jeder bestimmten Quan-
tität entfaltbar (heraufführbar) ist, ohne diese Quantitäten actu zu enthalten.
Daraus ergeben sich eine Reihe wichtiger Bestimmungen:
Der apriorische Raum ist keine Größe. Er ist reine, unendliche Kontinuität ohne Quantum und reine Dis-
kretion ohne Bestimmung. In dieser reinen Apriorität (als reine gegenstandsgebende Potenz) ist der
Raum überhaupt nicht vorstellbar, wiewohl er alles Anschauen trägt und ermöglicht. Er ist daher
auch keine subjektive, „immanente“ Vorstellung. Noch weniger ist er eine „komprehensive
Totalität“, die eingeschränkt wird, weil eine solche Ganzheit dem Wesen des Raumes widerstreitet
und daher auch nicht das Anschauen apriorisch erfüllen kann. Dennoch ist das sinnliche Gewahren
als förmlicher Akt ganzheitlich; er ist „actus iam perfecti“ und als solcher seinen möglichen
Gegenständen gegenüber umfassend. Zugleich ist eine organische Wahrnehmung als materielle
Wesenheit in ihren ursprünglichsten und unmittelbaren Akten ohne jede Reflexion, so daß es auch nicht
möglich wäre, eine innere „Erstreckung“ des Anschauen selbst zu gewahren. Anschauen als
ursprüngliches Offenstehen hat also keinen „Inhalt“ und somit auch keine „Raumvorstellung“, wiewohl
es durch die organische Potenz und die habituelle Vollendung des Vermögens ganz ins „Offene“, ganz
an die „Dinge“ herangerückt ist und eine formale (umfassende) Ganzheit darstellt, die auf das
Formalobjekt der räumlichen Natur hingeordnet ist.
Diese gegensätzlichen Momente zu verknüpfen und so eine echte ontologische Erkenntnis von der sinnli-
chen Transzendenz zu gewinnen, ist keine leichte Aufgabe.
Zunächst sei folgende Ergänzung hinzugefügt. Die ganze Sinnlichkeit hat ihre Wurzel im Tastsinn,
dessen Wahrnehmen dadurch gekennzeichnet ist, daß es eine echte „passio ex parte organi“ bedeutet; d.
h., der warm Empfindende wird selbst in seinen empfindenden Organen warm und der kalt Empfindende
kalt. Es entsteht hier die Frage, ob ein die Organqualitäten selbst aufnehmendes Empfinden überhaupt je
ohne jede gegenständliche Erfüllung sein kann. Ragt nicht notwendig, wenn auch noch so vage, dunkel
und verschwommen das Organ und damit notwendig auch seine materielle Erstreckung ins Emp-
finden selbst hinein, so daß der sinnlich beseelte Leib sich in einem ganz vagen Sinne auch Ge-
genstand wird und die immer schon erwachte Sinnlichkeit erfüllt.

35
Wir versuchen nun die Gesamtheit der Aussagen zu einem einheitlichen, phänomenal aufweisbaren und
ontologisch durchleuchteten Zusammenhang zu verknüpfen.
Zunächst ist zu sagen, daß das organische Gewahren notwendig „im Raum“ und „durch den Raum“
schaut, wenn es auch nicht den Raum als Gegenstand vor sich sieht; es ist ja ein materieller Akt und
daher in seinem Wesen von der Materialität bestimmt. Diese Materialität aber ist reine Potenz und
daher auch im Hinblick auf den Raum nur bestimmbar als „Potentialität des Raumes“. Diese Potenti-
alität aber ist reine Kontinuation und Diskretion ohne vorgängige Bestimmung durch ein Quantum. Sie
hat als solches keine Bestimmung, keinen „Inhalt“ und keinen Halt in sich selbst, sondern ist sich gleich-
sam entrückt in ein anderes ihrer selbst, nämlich in den möglichen Raumakt selbst, den sie aus sich
nicht hervortreiben kann. Wenn also das Schauen bestimmt wird, so ist es sich selbst „entrückt“, es hat
sich „versehen“ in ein anderes, das es erfüllen muß. Sofern nun dieses andere, wie beim Tastsinn, durch
das „leidende“ Organ, das immer auch schon irgendwie „gelitten hat“, d. h. das immer schon in der
Veränderung steht, unmittelbar aktuell gegenwärtig ist, ist die innere Entschränkung in eine kon-
fuse, vage Raumgegenständlichkeit immer schon geschehen. Der Sinn ist vom „Schauen“ ins „Anschau-
en“ aufgebrochen.
Was er anschaut, ist aber irgendwie quantitativ. Diese Quantität aber ist immer ebenso aktuelle Ge-
gebenheit wie reine Potentialität. Ihre Potentialität (Kontinuität und Diskretion) ist ebenso apriorische
Mitgift des sinnlichen Schauens selbst, das sich daher über die Gegebenheit hinaus erstreckt, wie es diese
Erstreckung niemals als objektive Gegebenheit oder Bestimmung zu fixieren vermag. Dennoch
ist die Potentialität umfassend, in dem Sinne, daß es kein mögliches Quantum geben kann,
das nicht in die potentielle Erstreckung hineinfällt. Der Sinn wirft sich daher schauend einen Horizont
möglicher Anschauungen vor, einen vagen Umkreis, der aber als solcher keine bestimmende Vorstellung
werden kann, weil er der Begrenzung im Ganzen widerstreitet. Daher kann er nie „subjektive Form“
in einem gegenständlichen Sinne sein, wohl aber der im Schauen aufbrechende Umkreis, in dem Ge-
genständlich-Quantitatives erscheinen kann.
Erscheint diese gegenständliche Gegebenheit, so ist an ihr selbst die ganze Potentialität erwacht, so daß
ihre von außen gegebene Bestimmung scharf herausspringt, weil sie eben nicht in einer vorgegebenen
Aktualität (Vorstellung) als Eingrenzung sichtbar wird, sondern als Akt einer Potenz, die für sich keine
Gegenständlichkeit und Aktualität besitzt, dennoch aber das Offene möglicher Erscheinungen vorgibt.
Damit tritt die transzendierend erfahrene „Äußerlichkeit“ der quantitativen Determination notwendig
hervor.
Ihr erster Charakter ist ihre unableitbare Individualität und Aktualität, ihre aus keiner Vorgabe ableit-
bare „Grundlosigkeit“. Diese „Grundlosigkeit“ besagt ein durch und durch positives Phänomen. Die
quantitativen Determinationen sind durch und durch zufällige Gegebenheiten, die von keinem „Prin-
zip“ abgeleitet werden können, sondern durch die einfache Unmittelbarkeit ihrer Gegenwart ge-
kennzeichnet sind. Sie sind zudem durch ihre dreidimensionale Erstreckung (die besonders der Tast-
sinn enthüllt) substanzartig geprägt, d. h., sie tragen das Bild des „In-sich-Seins“ so an sich, daß es

36
„erfahren“ werden kann. Zugleich sind sie von einer wesenhaften „Nichtinnerlichkeit“, „Nicht-
Immanenz“, weil sie nicht als formale Wesenseinheit aufgefaßt werden können. Sie sind nämlich dis-
krete Kontinuen, in denen sich jeder Teil zum anderen zufällig und äußerlich zuordnet. Das ist der
Charakter, den Maréchals feinsinnige Analyse herausarbeitete, d. h., es gibt überhaupt keine Mög-
lichkeit, eine aktuelle „Raumvorstellung“ als rein-immanente a priori zu setzen. Nicht nur weil sie
aus der potentiellen Allgemeinheit des Räumlichen herausspringt; sie ist als „Individuum“ ebenso
zufällige Unmittelbarkeit wie „äußere“ Welt, weil sie seinshaft auf jede mögliche aktuale Erstreckung
bezogen ist. Wird daher ein Quantum auch „nur“ vorgestellt, so ist es als solches auch draußen, weil es
entweder eine Stelle in der wirklichen Welt einnimmt oder auf diese durch Kontinuität beziehbar ist.
Wird nun noch hinzugefügt, daß der Sinn durch seine körperliche Organität seine eigene Erstreckung
gewahrt und als Körper eine „Stelle“ in der Welt einnimmt, so ergibt sich, daß er in der Tat als „po-
tentia propinqua“ und „actus iam perfecti“ notwendig eine äußere Welt gewahrt, daß er im Anschauen
unmittelbar transzendiert.
Mehr noch: In dem Maße als er den potentiellen Horizont durch eine aktuale Raumwelt erfüllt, wird
das Schauen selbst durch und durch „welthaft“. Das heißt, die Erscheinungen der Dinge treffen ur-
sprünglich keine leere Potenz, sondern auf einen bereits erfüllten Schauakt, in dem sie eine bereits erfüll-
te Stelle besetzen. Das Licht leuchtet daher in einer „dunklen Welt“ auf, und der Mensch, der ins
Zimmer tritt, tritt an die Stelle anderer erfahrener Gegebenheiten, die er verstellt. Immer sieht der
Mensch nichts absolut Neues, sondern etwas „Anderes“ an Stelle eines „Anderen“.
Diese Analyse der sinnlichen Transzendenz faßt die ontologischen Momente zusammen, die nach
Thomas die Sinnlichkeit kennzeichnen, und stützt sie durch die Zuordnung zu den phänomenalen Gege-
benheiten. Der Sinn ist „potentia generata“, „organischer Akt“, als solcher „actus iam perfecti“ und
im Zustand der habituellen Vollendung. Zugleich ist er „actus materialis“, d. h. in die „Bedingungen
der Materie“ versenkt, über sie „ausgegossen“ und so nach außen gekehrt. Durch seine Materialität ist
er passiv und bestimmbar, durch seine Formalität universal und kommt seinen möglichen Bestim-
mungen irgendwie intentional zuvor. Als „actus corporis“ aber ist er durch sich selbst ursprünglich er-
füllt. Durch seine potentielle Offenheit (Passivität) ragt er ins Unmittelbar-Äußere. Durch die Ma-
terialität, Quantität und Individualität der Gegenstände bleibt er auch in der Determination außer-
halb seiner selbst, oder umgekehrt, er transzendiert mit den Inhalten der eigenen Körperlichkeit in das
Äußere einer nach drei Dimensionen erstreckten Welt. Sofern er sich ursprünglich in dieser Welt
erfüllt, ist der Sinn unmittelbares Sein und Schauen in einer „Welt“.
Durch diese Betrachtung spricht die Bedeutung der „Quantität“ für die Erkenntnis des Menschen in
die Augen.
Der Raum allein ermöglicht die Transzendenz des sinnlichen Gewahrens, wie er zugleich die Qualitä-
ten als „äußere“ in der räumlich disparaten Ordnung gemäß der Organisation der äußeren Sinne zur
Wirkung und Erscheinung kommen läßt. Werden daher die Qualitäten ursprünglich den äußeren Sin-
nen als „eigentliche“ Objekte zugeordnet, der Raum aber dem Gemeinsinn, so ergibt sich, daß die äuße-

37
ren Vermögen als eine differenzierte Organisation des Gemeinsinnes erscheinen, in dessen tieferem und
umfassenderem Gewahren die einzelnen Sinnesempfindungen gleichsam als Momente und Teile einge-
schlossen sind. Sie transzendieren nur durch den „Gemeinsinn“, der das eigentliche Prinzip der „Äu-
ßerlichkeit“ ist.
Aber der Raum ist nicht nur veräußernd, er ist durch denselben Charakter zugleich einigend, so daß sich
durch ihn die verschiedenen Gegebenheiten der Sinne zur Ordnung einer Welt zusammenfassen las-
sen. Indem aber die Welt sich ordnet, wird sie „gereiht“, gezählt“, bezogen und geschieden usf., so
daß der Gemeinsinn durch seinen Gegenstandsbereich das wesentlichste Medium für die Herausarbei-
tung des Zusammengehörigen und Allgemeinen darstellt.
Darüber hinaus ist das Quantum als ursprünglichstes Akzidens der Substanz nicht nur ein Mittleres zwi-
schen den qualitativen Akzidentien und der Substanz, sondern ist sinnlich anschaubares Abbild des In-
sich-Seins. So vermittelt er in der Anschauung die Einigung der verschiedenen Qualitäten zum einheit-
lichen Wesensbild; darüber hinaus aber stellt er den substantiellen Grund „symbolisch“ dar, so daß die
sinnliche Anschauung auf ihre Weise zu einer Vorstufe von intellektueller Allgemeinheit gelangen
kann. Die Quantität erweist sich so als das von Kant so mühsam gesuchte „Schema“, das die sinnlich
zufällige Individualität zum allgemeinen Wesensbild zu vermitteln vermag, weil sie ein Mittleres
zwischen Substanz und Akzidenz bedeutet.
„Nur wenn die Anschauung „das nach drei Erstreckungen ausgedehnte Quantum“ vor sich hat, oder besser,
wenn sie „in ihm ist“, schaut sie ursprünglich der Möglichkeit nach Anderes, Äußeres, Mannigfaltig-
keit, Einheit, Ganzheit, Zusammenhang, Geschiedenheit, Insein, und Bezogensein und darin alle akzi-
dentellen und substantiellen Verhältnisse einer individuellen Natur. Im Quantum wird irgendwie
das Wesen wie auch die Mannigfaltigkeit des Nicht-wesentlichen ursprünglich angeschaut. Im Raum
ist Äußerlichkeit und Innerlichkeit unmittelbar vereint.“10
Damit erweist sich die Quantität als intelligibles „Symbol“, dessen Bedeutung für die intellek-
tuelle „Anschauung“ noch nirgend hinreichend gewürdigt wurde. Denn wenn sie die individu-
ellen Gegebenheiten der äußeren Sinne als „objektives Schema“ zum Begriffe vermittelt, so
ist es kein Zweifel, daß auch die intelligible Anschauung, die ja immer sinnliche Gegeben-
heiten voraussetzt, von ihr erfüllt ist. Man braucht nur darauf hinzuweisen, daß etwa die on-
tologische Kategorie der Reflexion nur durch die in sich zurückkehrende Kreisbewegung „an-
schaulich“ gemacht werden kann, um die ganze Bedeutsamkeit des Problems zu enthüllen.

10
Gustav Siewerth, Die Apriorität der menschlichen Erkenntnis nach Thomas von Aquin. In: Symposion, Jahr-
buch der Philosophie, Bd. 1, 1948, Freiburg i. Br.

38
2. Sinnlicher und intelligibler Raum

Wird die Frage der „Transzendenz“ in dieser Dimension eröffnet, so erweist sich in der Sphäre
der im potentiellen Raum schauenden Sinne eine „Subjektivität“ im Sinne des Kantischen Aprioris-
mus als eine unkritische Position, die weder die Möglichkeit einer Anschauungsform noch die räumli-
che Quantität phänomenologisch oder metaphysisch auflichtete, sondern sie wie eine „absolute Gege-
benheit“ aufnahm und einem ebenso ungedeuteten Subjekt einpflanzte. Denn setzt man einen apriori-
schen (universalen) Raum, so ist er entweder actu unendlich, was in sich unmöglich ist und jeder Er-
fahrung angeschauter Räumlichkeit widerspricht. Oder aber der Raum ist endlich; in diesem Falle muß
er begrenzt werden, was zugleich besagt, daß der Anschauende die „innere“ Raumform in eine äußere,
nicht subjektive Räumlichkeit transzendiert; denn der Raum kann nicht „begrenzt“ werden, ohne ihn
in der Anschauung ins Jenseitige der Grenze zu kontinuieren. Sagt man aber, das Subjekt habe rauman-
schauend keine Grenze, so ist es wesenhaft geöffnet auf etwas, was es selbst nicht umfaßt und zu eigen
hat. Also ist eine solche Annahme mit einer nach „außen“ hin gerichteten Rezeptivität identisch. Denn
was auch immer das Subjekt „anschauend“ an Raum aus sich hervorbrächte, es bliebe auf „Ferneres“ und
„Nichtangeschautes“ hin offen, was schon im Falle des endlichen Raumes gesagt wurde. Kraft
dieser Offenheit aber ist der vorgestellte Raum schon eine Eröffnung auf etwas hin, was das
Subjekt nicht ist, da der Raum ohne Äußerlichkeit nicht konstituierbar ist. Der Raum als reine subjekt-
immanente Anschauungsform ist daher ein Widerspruch, weil Raum solcher Innerlichkeit oder Imma-
nenz wesenhaft widerstreitet.
Andererseits ist es auch nicht möglich, die Anschauung der Räumlichkeit zu „entsubjektivieren“ im
Sinne einer absoluten Äußerlichkeit. Denn dieses „Außen“ gibt es nur in der Dimension der räumli-
chen Erstreckung, so daß keine äußere Sphäre denkbar ist, die nicht die Anschauung selbst zur Mitte
hat. Unter diesem Blickwinkel nimmt der Anschauende eine Stelle im Raum ein, der immer „subjektiv“
und „äußerlich“ zugleich ist.
Der Raum ist daher das Transzendentale oder das Transzendenz von Welt und Sinnlichkeit
schlichthin.
Die „Antinomien“ des „Raumes“, die in seiner unendlichen Kontinuierbarkeit und Diskretion liegen,
entspringen daher der Einheit von „Potentialität“ und „Förmlichkeit“ zugleich, die beim „Anschauungs-
raum“ immer gegeben sind. Denn ist der Sinn organische förmliche Potenz, so ist er kraft seiner Förm-
lichkeit nicht ohne die Einheit der immanenten Umfassung, kraft seiner empfänglichen Potentialität
nicht ohne unbegrenzte Offenheit und kraft seiner Organität nicht ohne quantitative Determination zu
denken. Die Auflösung dieses Gegensätzlichen zwang uns, den Raum selbst zu unterscheiden: erstens in
eine nicht anschaubare (formal eingefaßte, unbegrenzte) Raumpotenz, zweitens in einen äußeren
quantifizierten, begrenzten (dinglichen) Raumakt, drittens in den beiherspielenden Anschauungshorizont,
der sowohl durch unbegrenzte Potentialität (Offenheit) wie durch eine vage Quantifizierung (Begren-
zung) bestimmt ist - offenbar ein schwebend Mittleres zwischen der ersten und zweiten Raumbestimmung,
an welchen beiden die dritte partizipiert. Offenbar gibt es keinen quantitativen Raumakt, der die Potenz

39
nicht tiefer und umfänglicher (in gewisser Weise ganz) aktualisiert. Viertens gibt es die intelligible,
nicht anschauliche Transzendenz der Raumgrenzen im ganzen durch die Annahme einer endlosen, aus-
einanderstrebenden Bewegung, womit zugleich das infinite Ganze der Raumpotenz gedacht wird. Da die-
ses Ganze wie auch die endlose Bewegung nicht sein kann ohne einen tragenden Akt - weil eine reine
Potenz soviel wäre wie ein reines Nichtsein oder ein Nichts -, so ist mit einer solchen intelligiblen An-
nahme nicht anderes gesetzt als das formale Ganze eines anschauenden empfänglichen Vermögens,
innerhalb dessen eine mögliche Aktuierung ohne Ende fortschreiten könnte.
Eine Phänomenologie des „Raumes“ sollte daher sorgsam achthaben, daß sie die potentielle Räumlich-
keit der sinnlichen Empfängnis und ihre intelligible Totalisierung nicht mit der Wirklichkeit des
Weltraumes verwechselt, die sich nur einer metaphysischen Durchdringung aus dem Sein des Seienden
enthüllt.

3. Der wirkliche Dingraum

Dieser metaphysischen Betrachtung gemäß ist der Raum „Erstreckung“, „Nähe“ oder „Ferne“, die
durch seinshafte Differenz oder ein inneres „Gefälle“ der wirklichen Dinge entsteht, sofern diese
nur durch eine (zeitliche) Bewegung überwindbar ist. Wo zeitliche Bewegung als Annäherung oder
Entfernung (Einigung oder Zerstreuung) unterschiedener Wesen oder Gründe wirklich ist, gibt es
„Raum“. Deshalb ist auch ein „räumliches ausgedehntes Ding“ wesentlich durch eine innere Entfernung
seiner Teile und deren vermittelnde Bewegung ermöglicht, kraft der das Ganze in auseinanderge-
spannter Erstreckung wirklich ist. Daraus folgt für solche „Ausgedehntheit“ oder „Räumlichkeit“: ers-
tens, daß eine das Ganze seinshaft (substantiell) umfassende, einfache Form (wie eine Entelechie) kei-
ne Ausdehnung oder Erstreckung aufweisen kann; zweitens, daß die substantiale Einheit von Form
und Materie, sofern sie zu einer vollendeten Einigung gelangte, die keiner weiteren her-stellenden
Bewegung bedarf, nicht ausgedehnt oder räumlich gedacht werden kann, weil jede Ferne und Differenz
aufgehoben ist. Drittens, daß die „Räumlichkeit“ „akzidentell“ zum Substanzgrunde hinzukommt, so-
fern er in seiner Einigung (von Form und Materie) in einer Differenz verharrt. Diese Differenz kann
nur so verstanden werden, daß es nicht möglich ist, den potentiellen, materiellen Grund formal völlig zu
aktivieren und zur Einigung zu bringen. Viertens bedarf es der Annahme, daß die Substanz dieses
noch Nicht-geeinten bedarf und daß die noch nicht aktualisierte Potenz einen gewissen Zusammenhang
besitzt mit der aktualisierten oder substantiell geeinten. Werden diese Voraussetzungen gemacht, so
ergibt sich fünftens, daß die Substanz in ihrer Ausdehnung auf nicht substantielle Weise sich erstreckt.
Dies geschieht notwendig nicht in rein förmlicher Kausalität, sondern auch zugleich in der
Weise beeinflussenden (effektiven) Wirkens, sofern sie als einigende, bewegende, ordnende Einheit
wirk-lich ist und anderes, als sie selber ist, sich zu- und einordnet.

40
Indem diese Erstreckung geschieht, ohne die die Substanz nicht sein kann, tritt sie als räumliches Wesen
hervor, die ihr Dasein zugleich in der Weise vermittelnder, zuordnender Zeitigung und Bewegung er-
wirkt und zu eigen hat.
Diese Erstreckung setzt nun voraus, daß die einige Substanz im ganzen ihrer selbst auf die noch poten-
tielle Materie hin, wie Thomas bei den Geistvermögen sagt, „resultiert“, d. h. sich auf das seinshaft
Mindere hin ausfaltet, wie das Licht in den Farben auseinandergeht. Ohne eine solche „Resultation“
ist die „akzidentelle“ Raumerstreckung, die ein Seinsgefälle durchwaltet, nicht zu denken. „Resultation“
bedeutet eine Entäußerung, die einmal eine Weise formaler Kontinuation und zum anderen das Heraus-
treten eines Neuen, Mannigfaltigen (Licht -Farben) in Analogie zur effektiven Ursächlichkeit bedeu-
tet.11 Also stellt das Hervortreten des ersten Akzidenz der Substanz, d. h. der ersten Erstreckung und
Entäußerung ein formal-effizientes Wirkfeld dar, kraft dessen die Substanz in ihrer Entäußerung sich
erstreckend kontinuiert, doch so, daß sie in diesem (gleichsam verdünnten) Auseinandertreten an je-
dem Punkte (effizient) auf anderes, als sie selber ist, disponierend und energetisierend einwirkt. So-
fern dieses Andere, die Materie, als das Andere des Seins und der Form, seinslose, ungeformte Mannig-
faltigkeit (zerstobene Flüssigkeit) bedeutet, ist das aktuierende kontinuierliche Erstreckungsfeld
zugleich influierende, auf das Zerstreute des Materiellen hin sich besondernde Quantenenergetisie-
rung oder einstrahlende Wirkursächlichkeit. Sofern sich dieses Einwirken durch die Widerständigkeit
des Ungeordneten zeitlich ereignet, ist ein Zeitraumfeld bewegender Annäherung entstanden, das sich
in dem Maße, wie es sich erstreckend ausfaltete, in bewegender Zuordnung der energetisierten Teile
auch kreisend auf die Substanz hin „rückeinfaltet“, wie H. André sagt. Diese Bewegungen: die konti-
nuierliche Erstreckung, die besondernde, einfließende Energetisierung, die richtende, vermittelnde Zu-
ordnung und die kreisende Rückeinfaltung auf die Substanzmitte hin konstituieren die Räumlichkeit
eines materiellen Dinges.
Zum Dingraum gehört also erstens die raumlose Form, die raumaufhebende Substanz, die Ermögli-
chungsbedürftigkeit des Substanzgrundes, die seinshafte (metaphysische) Ferne (der Seinsabfall) von
Akt und Potenz, Einheit und Mannigfaltigkeit, Form und Chaos, Selbigkeit und Andersheit; des weite-
ren neben dem Zusammenhang des Materiellen die resultative Kontinuation und die effektive Wirk-
Besonderung, also das Wirk- und Erstreckungsfeld der Substanz, die Energetisierung der teilhaften
Materie, die vermittelte Zuordnung von widerständigen Teilen zu Teilen, schließlich das Rückstrom-
feld (Anziehungs- und Einzugsfeld) der organisierten, einschwingenden energetisierten Potenzteile in
den Substanzgrund, was zugleich dessen substantiale Empfänglichkeit einschließt.
Alle diese Bestimmungen müssen vereinigt werden, wenn von einem räumlichen Ding die Re-
de sein soll. Neben diesem feinsinnigen Gefüge thomistischen Denkens, das im wesentlichen durch die
moderne Naturwissenschaft bestätigt wird und dieser den Weg aus ihren Antinomien weisen kann, er-
scheinen die Materie-Raum-Konzeptionen z. B. eines Descartes als einseitige und fragwürdige Simp-
lifikationen seinsvergessenen Denkens.

11
Vgl. Gustav Siewerth: Die Metaphysik der Erkenntnis nach Thomas von Aquin, 1933 II, S. 21 ff.

41
4. Der Seinsraum des Universums

Das Dinggefüge ist daher ein Analogon zur Seinskonstitution, die im „Identitätssystem“ darge-
stellt wurde. Demgemäß kommt ein Ding dadurch zustande, daß der umfassende Seinsakt die Wesen-
heiten resultieren läßt, um in ihnen zur Wirklichkeit zu kommen, weil er als einfache Einheit (wie eine
nicht erstreckte materielle Substanz) nicht existenzfähig ist. Sofern er aber in den Wesenheiten
auseinandergeht und sich besondert, muß er selbst als aktuierender informierender Strom dieser Be-
sonderung folgen; er muß sich, ohne seine Akteinheit einzubüßen, „dividieren“ und „kontrahieren“, um
jede einzelne Wesenheit aktuierend zur Subsistenz zu bringen. Indem er dies tut, aktuiert er die
Wesenheiten zugleich auf sich selbst hin, so daß er sie in die Ek-sistenz und die Transzendenz im
Rückzugsfeld des Seienden auf das Sein hin ereignet. Dies ist der letzte Horizont der metaphysischen
Wirklichkeit, in der der Ek-sistenz- oder Seinsraum aufbricht, in welchem alle Wesen im Entfaltungs-
feld des Uni-versums ihren Wesenort, ihre Ferne und Nähe, aber zugleich die Zeitigungsdimension
ihrer Seinsaktuierung wie ihrer strebenden Rückkehr zum Grunde innehaben. Der Existenzraum ist der
Lichtraum des Seins, die Lichtung der Wahrheit, das Reich des Guten wie der Empfängnisgrund der
Herzen, die Strebedimension des Wollens und der Horizont geistigen Schauens und Erkennens.

5. Der physische Weltraum

In diesen Seins- und Existenzraum des Universums ist der Weltraum der physischen, materiellen Dinge
eingefügt und kann ohne den ersten gar nicht verstanden werden. Ja, man kann sagen, daß die Seins-
konstitution in der Physis nicht nur zu unmittelbarer Darstellung, sondern zu wesenhafter Vollen-
dung kommt, sofern kraft der „Materialität“ die Wesenheiten nicht nur „konstituiert“ werden, sondern
sich selbst aus der materiellen Potenz und in ihr „ermöglichen“ bis zur „Selbstauszeugung“ und
„Selbsthervorbringung“.
Demgemäß ist ein jedes materielle Wesen nicht nur aus dem Sein her seiner Form gemäß entsprungen,
es steht nicht nur im unerschöpflichen aktuierenden Seinsakt, der seine Formen in der Geschichte der Ar-
ten und Gattungen unaufhörlich einströmen läßt, wenn eine Potenz eines neuen Aktes bedarf - sondern es
hat teil an einem allgemeinen Ermöglichungsgrund des Seienden. Wenn der Seinsakt, die reine aktua-
le Unendlichkeit, sich durch die endliche Form besondert, so ist es metaphysisch notwendig zu sagen, daß
diese formale Besonderung die unendliche Divisionsmächtigkeit des Aktes nicht erschöpft. Daher kann
die Form, die in sich reflektierte und auf sich hin gesammelte Einheit, noch einmal durch einen Ausstrom
aus dem Sein unterschritten werden. Geschieht dies, dann tritt eine Dimension hervor, die von sich her
keinerlei formale Ordnung und Einheit mehr aufweist. Es ist reine Seins-Potenz, ununterscheidbare
Selbigkeit und absolut unterschiedene Mannigfaltigkeit zugleich, absolute, unvergleichliche Besonde-
rung, Enge und Verdichtung in unbegrenzter Ausbreitung und Flüssigkeit. Da es aber ein letztes seins-
entsprungenes Element ist, so ist es nur noch bestimmbar in seiner Nichtwirklichkeit als ein „Streben zum

42
Sein“, das durch ein Anderes, als es selber ist, erweckt, geeinigt, geordnet und dann in die Wirklichkeit
übergeführt werden kann.
Nur wenn es diese Potenz gibt, ist die Räumlichkeit der Natur als fernende und annähernde Erstreckung
aufzulichten. Denn diese materielle Potenz ist in der Wirklichkeit ein echtes Analogon zur Raumpotenz
der sinnlichen Anschauung, ein reines Kontinuum an Selbigkeit und reine Diskretion zugleich. Wie a-
ber der potentielle Raum nicht anschaubar war, so ist diese Seinspotenz ohne eigene Wirklichkeit, d.
h., sie ist nur, sofern sie irgendwie durch einen Akt umgriffen und durch besondere Akte verwirklicht
worden ist. Sofern dies letzte in den materiellen Dingakten geschieht, ereignet sich die dingliche
Erstreckung, die oben dargestellt wurde. Zugleich wird sichtbar, daß die dingliche quantitative Energe-
tisierung die Potenz nicht voll substantiiert (nicht durchaktualisiert), sondern nur so weit erweckt, daß
sie ins Walten kommt und als Ermöglichungsgrund existent wird, so wie in der quantifizierten An-
schauung der Horizont des potentiellen Raumes aufbrach. Also ist die materielle Wirklichkeit in
ihrer räumlichen Erstreckung zugleich immer ein Mittleres von aktuierter und durch diesen Akt
eröffneter (zu realer Ermöglichung des Aktes aufgeschlossener) Potenz, wodurch der Weltraum als Kör-
pererstreckung und Darkörperungs- oder Wirkfeld sich auftut.
Wie aber der potentielle Sehraum von dem Anschauungsvermögen umgriffen war oder wie die Sub-
stanz ein formales (resultatives) Erstreckungsfeld entäußert, so kann es kein Wirken von Körper zu
Körper geben, ohne daß es neben dem substantialen „Darkörperungsfeld“ ein weiter ausgreifendes Be-
wegungs- und effizientes Wirkfeld gibt. Gibt es aber solche rein effiziente Strahlungsströme von Körper
zu Körper, so ist die Frage, ob die materielle Raumpotenz zu ihrer Vermittlung genügt.
Daß dies nicht bejaht werden kann, ergibt sich daher, daß die Körper durch sich selbst nur ihren eige-
nen Dingraum konstituieren, daß aber die außerkörperliche Raumpotenz, die nur eröffnet, aber nicht
aktualisiert ist, noch gar keinen wirklichen Raum bedeutet. Wäre der materielle Grund räumlich „er-
streckt“, so müßte er auch körperhaft aktuiert sein. so daß die Welt ein Gewebe von Körpern wäre.
Sofern dies nicht zutrifft, muß man annehmen, soll ein Körper auf einen anderen wirken, daß die
„Entfernung“ oder „Nähe“ ein vermittelndes Feld darstellt, das sich im materiellen Grund ausbrei-
tet und dadurch zu effektiver (strahlender) Wirksamkeit kommt. Ohne ein solches wirkungstragendes
und vermittelndes Feld gibt es keine „Welt“, weil weder „Nähe“ noch „Ferne“, sondern Beziehungs-
losigkeit besteht. Welt bestünde nur soweit, als im inneren Erstreckungsfeld die Dinge sich unmit-
telbar berührten, wie etwa auf der Erde ein Ding das andere begrenzt.
Gibt es aber einen Weltraum mit seinen „Abständen“ und „Fernen“, so ist die metaphysische Konse-
quenz, daß es auch für das äußere Wirken ein kontinuierliches Stromfeld geben muß, das ausgehend von
den Energie- und Massenzentren die Welt sich auf die besonderte Andersheit der materiellen Raum-
potenz hin erstreckt und in ihr und durch sie zu allvermittelnder Wirksamkeit kommt. Dies aber be-
deutet, daß die quantifizierte Besonderung des lichtenden oder energetischen Wirkens etwas Sekundä-
res darstellt, das aus einem einigen, unmeßbaren und unsichtbaren Stromfeld entspringt, sobald dies
auf Materielles auftrifft und nur dort in die Erscheinung tritt, wo es anderes als es selber ist, aktuiert.

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Erfaßbare Bewegung, meßbare Energie gäbe es dann nur im potentiellen Berührungs- und Wirkfeld,
dessen „Zeitigungen“ und Bewegungsrelationen uns den sichtbaren und meßbaren Kosmos eröffnen.
Die seinshafte metaphysische „Ferne“ wäre dann identisch mit einer Durchmessung der „Wirker-
scheinung“ im Materiefeld, das durch die Dinge konstituiert und in der Materie eröffnet ist. Wo keine
Aktuierung der Potenz statthat, wäre daher kein wirklicher Raum, weil er in einer währenden Konti-
nuation aufgehoben ist. Alle „Ferne“ wäre daher von einem Bewegungs- und Fernelosen übergriffen.12
Was das für die Deutung der naturwissenschaftlichen Phänomene bedeutet, kann hier nicht weiterver-
folgt werden. Es sei nur auf die von André betonte Differenz von nicht wahrnehmbarem „lichtendem“
und dem sichtbaren „leuchtenden Licht“ verwiesen, die tiefe Folgerungen enthält.

6. Der Licht- und Erscheinungsraum

Man wird jedoch leicht sehen, daß der Raum im selben Maße verschwindet, als die Ferne aufgehoben
wird. Deshalb ist das „Sehfeld“, das durch das für das Auge unbewegte Licht eröffnet wird, kein „rea-
ler Raum“ mehr. Daß der „Sehraum“ als solcher in die Erscheinung tritt, verlangt daher eine weitere
metaphysische Differenzierung.
Gäbe es nur diese bewegungslose Sichtvollendung, so wäre das Problem gar nicht stellbar, das uns hier
angeht. Das Schauen hätte ein Bildschemen vor sich, das weder „Per“-„spektive“ noch eine innere Erstre-
ckung aufwiese, es sei denn, man reduzierte die „Undeutlichkeit“ von Gegebenem auf eine „Hemmung“
oder Minderung seines Erscheinens, also auf eine Weise von Bewegtheit, was freilich nicht in sinnlicher
Anschauung, sondern nur in intelligibler Deutung möglich wäre. Schon daraus ergibt sich, daß ein
Kind in seiner Frühzeit keinen „Blick in die Welt“ tun kann, sondern sein Schauen wie ein traumhaf-
tes Gewahren zu eigen hat.
Die sichtbare „Welträumlichkeit“ er-eignet sich daher im eigentlichen Sinne durch „angeschaute“
Bewegung der Dinge und des schauenden Menschen selbst. Sofern diese sich bewegende Erstreckung im
tastenden Wurzelsinn der organisierten Leiblichkeit erfahren wird, gewinnt der Sehraum aus seiner
Wurzel die Nähe- und Ferne-Dimension, auf Grund der er sich erst in die Erscheinungsdimensionalität
des Geschauten und Gehörten auseinanderspannt. Daher bricht der Mensch, sofern er handelnd in den
Raum einbricht, sich das „Anschauungsbild“ auf, was freilich auch durch Annäherung anderer Wesen
geschehen kann. Unter dieser Hinsicht ist der Tastsinn der Wurzelgrund für die welthafte Trans-
zendenz der gesamten Sinnlichkeit des Menschen.
Der wirkliche Weltraum ist daher in seiner Eröffnung eine innere Schichtung unterschiedener Be-
wegtheit und der entsprechenden Ferne (oder Nähe), die zugleich von einer das Räumliche transzendie-
renden Helle übergriffen ist. Diese umgreifende Helle bedeutet für den „Sehraum“ dasselbe, was

12
Eine solche Annahme ist philosophisch gesehen mehr als eine ,Hypothese“, weil sie sowohl der Seinskonstitution des
Universums, der Konstitution des materiellen Seienden wie des formalen Anschauungsraumes entspricht. Außerdem stellt sie
die einzig mögliche metaphysische Deutung der Welträumlichkeit dar, die nicht in unauflösliche Antinomien führt.

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das formale Vermögen für den potentiellen Anschauungsraum bedeutet. Wäre alle Bewegtheit der
Natur wie das Licht, so gäbe es im eigentlichen Sinn keinen Raum, weil es keine Entfernung gäbe.
Der Raum als die Dimension der äußeren Welt ist daher ein Ereignis der Annäherung und Entfer-
nung, die innerhalb des umgreifenden Lichtfeldes durch die Bewegungs- und Wirkerfahrung der
Dinge und Wesen in ihrer relativen Erstreckung sich eröffnet. Eine Schwalbe hat andere „Entfernun-
gen“ vor sich als ein Fußgänger. Sofern freilich Bewegung und Ferne in der wirklichen Verfassung
der Dinge gründen, ist der Raum „wirklich“.
Wenn Kant Raum und Zeit „subjektiviert“, muß er die „Affektion“ der Sinnlichkeit folgerichtig
„verabsolutieren“ im eigentlichen Sinn, da sie weder durch Ferne und Nähe noch durch Bewegtheit be-
stimmt sein kann. Die Folgerung der Idealisten, sie unmittelbar aus einem göttlichen Subjekt her-
vorgehen zu lassen, ist dann unvermeidlich. Der „reinen Innerlichkeit“ entspricht solchermaßen die
absolute (transzendente) Äußerlichkeit, eine Differenz, die denkend nicht durchgehalten werden kann.
Wird der Raum daher in seinem metaphysischen Wesen gesehen, so ist das moderne „Subjekt von Er-
scheinungen“, dem die „Wissenschaft einer Erkenntnistheorie“ zugeordnet wird, eine schlechthin unvoll-
ziehbare Setzung.
Die transzendentale Eröffnung oder Entrücktheit des sinnlichen Erfahrens ist freilich nicht auf den Ge-
meinsinn beschränkt, der ja nicht gegen die äußeren Sinne schlichthin geschieden werden kann, weil er
deren Wirksamkeit ebenso vermittelt wie umhält, durchwaltet und einigt. Wie die Qualitäten der
Dinge durch ihre quantitative Erstreckung (durch eine konstitutive „Entfernung“ am Ding) vermit-
telt sind und deshalb selbst immer „erstreckt“, d. h. räumlich und zeitlich in die Erscheinung treten, so
ist auch die Erfahrung der Farben, der Töne, der ertastbaren Eigenschaften notwendig Ding- und Welt-
wahrnehmung. Dies gilt in dem Maße, daß auch halluzinierte Erscheinungen welthaften Charakter ha-
ben. Es gibt überhaupt keine Möglichkeit, eine vorstellende Innerlichkeit ohne Weltbezug zu denken.
Auch noch etwas „nur Vorgestelltes oder Phantasiertes“ gewinnt seine positiven wie negativen Cha-
raktere aus dem Weltentwurf unseres anschauenden Vorstellens. Nicht die Welt kommt zu einem
„Subjekt mit Erscheinungen“ hinzu, sondern die bloße Subjektivität mit ihren phantastischen und ir-
realen Entwürfen ist eine Weise des zur Welt erschlossenen und in die wirkliche Welt denkend und
erinnernd transzendierenden Daseins.

7. Die gerichtete sichtende Sicht der Sinne

Dabei sei noch einmal darauf verwiesen, daß die Empfängnis aller Sinne weder vom Verneh-
mungsakt des Gemeinsinnes noch von der Seins- und Wesenserkenntnis der Vernunft ablösbar
ist. Es ist der „Mensch“, der erkennt. Deshalb entspringen nach Thomas die Vermögen nicht
nur aus dem transzendental (durch das „Sein selbst“) aktuierten Geist- oder Wesensgrund des
Menschen, sondern zugleich so, daß das universalere Vermögen das weniger universale aus sich

45
als seine eigene Vermögens- oder Empfängnisdimension entläßt.13 Solchermaßen ist das Ver-
nunftvermögen nicht nur unmittelbar empfänglich gegenüber dem im Vernehmen unmittelbar
anwesenden Geistgrund und den den geistigen Vermögen entspringenden Akten, sondern es öff-
net sich selbst für das Vernehmen einer dinglichen Welt im „Medium“, d. h. im vermittelnd
Mittleren des in den Raum aufgebrochenen „Gemeinsinnes“, der sich selbst wiederum in den
fünf Sinnen ausfaltet und in ihnen und durch sie vernimmt. Daraus aber ergibt sich, daß die
qualitative (besonderte) Empfängnis der äußeren Sinne (Gesicht, Gehör, Geschmack, Geruch und
Getast) immer auch wesenhaft und gleichursprünglich eine solche des umhaltenden (metaphy-
sisch früheren) Gemeinsinnes und der Vernunft ist. Also hat sie im intuitiven Licht der Seins-
und Ding-Erkenntnis wie im einigen Horizont einer räumlich eröffneten Welt statt.
Wenn das zutrifft, dann ist der auffassende Sinn des Menschen alles andere als eine „tierische
Sinnlichkeit“, sondern er ist aus seiner Wesenswurzel her seins- und wirklichkeitsgemäß eröffnet,
dieweil er wesenhaft das Medium eines geistigen Vernehmens der Wirklichkeit bedeutet. Also er-
faßt unser Auge niemals „physiologische“ Reize oder Eindrücke, sondern notwendig eine der
Seins- und Wesenserkenntnis zugeordnete, die wirkliche Substanz raumdimensional darstellen-
de und vermittelte Erscheinungsordnung. Dies aber bedeutet, daß das intelligible Vernehmen
als der ursprüngliche Akt des Menschen vermittels der substanzartigen Tiefen- und figuralen
Ordnungssicht der räumlich ausgedehnten Erscheinungen den Sehakt des Auges im Vernehmen
richtet und zentriert. Er disponiert „habituell“ die universale Sehpotenz als „potentia propin-
qua“, so daß es keine „Erscheinung“, keine „Information“ geben kann, die das Sehen nicht auf
die figurale Ganzheit, auf ihre gegliederte, qualitative Komplexion und schließlich auf eine
mögliche Mitte hin „sichtet“. Also ist jedes Vernehmen auch ein Hin-nehmen unter einer „sich-
tenden Sicht“, die aus dem (apriorischen) Wurzelgrund des Vermögens her ergeht und deshalb
nicht einer physiologischen Reizstelle zugeordnet werden kann.
Jedes „Raumbild“ wird daher in einem „kompositionellen Akt“ (Auersperg) gesichtet. Deshalb er-
trägt das vom Sein- und Weltvernehmen eröffnete und wurzelhaft gerichtete Vernehmen der
äußeren Sinne keine länger dauernde Reizverwirrung, die durch prismatische oder durch Um-
kehrbrillen erzeugt wird, sondern ordnet die chaotischen oder umgekehrten Bilder unter Füh-
rung des Tastsinnes oder der Welterfahrung dem wirklichen Bilde wieder zu. Dieser Umschlag
der „verkehrten Bilder“ erfolgt z. B. beim „widersinnigen Rauchabstieg einer Zigarette“, wie
bei „nach unten flammenden Kerzen“14 , was die Bildsichtung des Auges in ihrer tiefen Bedingt-
heit durch das „Sinnvolle“ einer Welterfahrung erscheinen läßt.
Zu diesem Phänomen sagt ergänzend Hans André, daß „die Wahrnehmung das Vorhanden-
sein zweier Gebilde am gleichen Ort ablehnt, wenn diese verschieden gebildet sind“.15 „Tref-
fen“ z. B. „zwei Striche von verschiedener Richtung korrespondierende Stellen (des Auges), so

13
Vgl. Die Apriorität der menschlichen Erkenntnis nach Thomas von Aquin, a.a.O., S. 140 ff.
14
Nach Hans André, Vom Sinnreich des Lebens, (ohne Jahr), S. 524/5.
15
Ebd., S. 292.

46
wird auch nicht ein kleinster Teil von ihnen vereinigt, sondern der eine von ihnen wird gerade
in der Umgebung der identischen Stelle ausgelöscht“.16 Diese durch v. Weizsäckers Versuche
erwiesene Tatsache beweist nach dessen Worten, daß „die binokulare Wahrnehmung nicht ei-
nem Prinzip der Ortswerte gehorcht, sondern einer Regel der Einheit des Gegenstandes“.
Diese „sichtende“, gegenstandgebende Erschauungskraft des Auges erhellt in ihrer Notwendig-
keit aus der thomistischen Lehre von der habituellen Vollendung der Empfindungseröffnung
der Sinne als potentiae propinquae: Sie sind durch die apriorische Vermögensstruktur des Men-
schen, wie wir eingangs zeigten, in den vollendeten Akt eines wahr-nehmenden Weltverneh-
mens entrückt, so daß kein äußerer Reiz dieses Schauen erst aktualisiert, sondern stets im voll-
endet eröffneten Seh- oder Wahrnehmungsraum heraufgeht. Der Sinn hat schon gesehen und
„Welt gelernt“, wenn er sieht. Widerstreitet daher eine Erscheinung den Bedingungen der Welt-
und Dingwirklichkeit, die im Wurzelvermögen des Tastsinnes (in der Erfahrung des eigenen Leibs, der
Leibbewegung und Leibhaltung) immer unaufhebbar dem Menschen offenbar sind, so verwandelt der
Mensch das „Reizbild“ aus den ursprünglicheren Gegebenheiten und ordnet es ihnen „sinnvoll“ zu, d.
h., er schafft sich aus den Reizen ein Wirklichkeit vermittelndes Anschauungsmedium, indem er die
naturgemäße Disponiertheit einer potentia propinqua neu erzeugt und die widernatürliche Reizverwir-
rung durch innere Zu- und Umordnung überwindet.
Diese unerhörte, durch die modernsten Experimente bestätigte Lehre des Aquinaten von der sinnlichen
Erkenntnisverfassung erklärt auch den von André dargestellten Versuch Dr. Christians, daß das Auge
auch bei gradlinigen hin- und wiederkehrenden Bewegungen, die durch zwei sich aufhebende Umkrei-
sungen entstehen, sofort die Umkreisungsmitten aufsucht und deshalb nicht die tatsächliche Horizontal-,
sondern die relative Kreisbewegung wahrnimmt.17 Denn das Auge sucht offenbar die nächsten Bezie-
hungs- und Mittel-Punkte auf, wie es seiner gewohnten Dingerfassung entspricht.

8. Die Wahrnehmung der Farben und die organische Vollendung des Auges

Aus dieser urtümlichen Vollendung der Sinne fällt nun auch ein helles Licht auf die Wahrnehmung der
Qualitäten wie der Farben. Hier gilt sich zu erinnern, was wir oben sagten, daß nach Thomas eine
Wahrnehmung (prout habens sensum fit actu sentiens) in der Potenz „tale est quale est illud“, quod actu
sentit. Dieses Vernehmen entspringt daher nicht der „ersten Potenz“ der Materie, sondern der „zwei-
ten“ eines Organs, in welchem die sensitive Organisation den gesamten Möglichkeitsbereich der Materie
sich „assimilierte“.
Diese „Assimilation“ ist daher nicht, wie wir schon sagten, einfachhin eine Eröffnung auf den materiellen
Werdegrund der Dinge, sondern ein geschehener Nachvollzug des qualitativen (und quantitativen) Er-
eignens der Physis, d. h., es gibt kein Geschehen, das in der Lichtempfängnis oder der Farbreflexion der

16
Ebd.
17
Ebd., S. 291

47
Dinge geschehen könnte, das im Auge nicht bereits seine Ereignis-vor-gängigkeit aufzuweisen hätte.
Solchermaßen ist der Sinn im Organisationsakt schon universal „lichtdurchstimmt“; er ist „farbgela-
den“, wie z. B. die Intellektpotenz „dinggeladen“ wäre, wenn sie das Licht des „aktiven Intellek-
tes“ vor der Wesensempfängnis empfangen hätte.
Diese organisierte Farb- und Licht-Durchprägung erklärt es, daß das sehende Auge im Zublick wie eine
lichtende Quelle erscheint, daß der Mensch aus sich „herausschaut“, wenn er etwa wahrnimmt. Dennoch
ist diese Farbassimilation noch eine „Potenz“, d. h., sie ist einer lichtenden Aktuierung bedürftig.
Als aufgeladene Organisation ist sie jedoch der gesamten Farbdimension gemäß differenziert, so daß
jedem Farbeindruck auch verschiedene Empfänglichkeitsdispositionen entsprechen müssen, die ihrer-
seits nach der Farbenskala und ihren Entsprechungs-, Gegensatz-, Ergänzungs- und Mischungsgesetzen
strukturiert sind. Solchermaßen besteht notwendig im Auge eine dynamische, differenzierte Komplexion
aller Bedingungen der materiellen Welt, deren Mannigfaltigkeit zugleich durchwaltet ist vom eini-
gen Graugrund der Farbigkeit und von dem ihm entsprechenden Einigen der Helle des Lichtes.
Diese Ausdifferenzierung ist daher offenbar aus einer umfänglichen einigen Tiefe her auf eine beson-
dere Mitte hin nicht nur flächenhaft, sondern wurzel- und grundhaft strukturiert, so daß man an-
nehmen kann, daß hinter der komplementären Farbpotenz von Rot und Grün die umfänglichere von
Gelb und Blau und hinter dieser die von Weiß und Grauschwarz die Sehtiefe erfüllt. Diese letzte ist
daher auch, sofern Sehen überhaupt möglich ist, immer gegeben; ihre Zerstörung kommt der Vernichtung
des Sehens selber gleich.
Dieser vorgängigen Licht- und Farbassimilation des Auges entspricht seine resonantielle Empfindlich-
keit. Wird eine Farbqualität gesehen, so ereignet sich daher keine innere, eindringende „Information“
wie bei der Qualifizierung eines Dinges, sondern das „Aufleuchten“ dessen, was bereits in höchster Dis-
position und Bereitschaft das in die Welt eröffnete Schauen erfüllt. Aus dieser Erfülltheit ergibt sich ers-
tens, daß das Auge eine lichtende, sichtende „Verstärkungsmacht“ (André) besitzt, die im Blick die Har-
monie oder Disharmonie, die hervorbrechende Intensität oder Eigenheit von Farben artikuliert erfaßt
und sich dem Farbeindruck aus-drücklich hingibt.
Zweitens ist es unmöglich, daß die aktuierte Dynamis im komplexen Organisationsgefüge der Emp-
fängnis völlig isolierbar ist. Beim Sehen einer Qualität wird daher notwendig die komplementäre
Potenz miterregt, zumal die immer mitschwingende Helle je nach ihrem Grad die ganze Potenz ir-
gendwie anreizt. Diesem Anreiz gegenüber muß das schauende Sichten sich wahrscheinlich auch ge-
gen die hintergründige Erweckung abschirmen, was offenbar nicht nur negativ geschieht, sondern eine
verborgene resonantielle Verinnigung aus dem komplementären Farbgrunde her bedeuten kann. Viel-
leicht liegt solchermaßen z. B. das Hervorspringend-Erregende des Roten auch darin, daß es sich
gegen das ruhevoll mittlere Grün abhebt. Also läge in jeder Farbe auch etwas Ausschließendes, sich
negativ Betonendes, ohne daß die negierte oder niedergehaltene komplementäre Dynamis in die Sicht
kommt.

48
Diese Erwägungen würden es hinreichend erklären, daß nach starken, lichtbetonten Farbempfindungen
im geschlossenen Auge Komplementäreffekte auftreten müssen.
Aus dieser Organvollendung des Auges erhellt die erregungslose Unmittelbarkeit des Gewahrens, die
affekt- und affizierungslose Gegenständlichkeit des Schauens. Sofern des weiteren die „Assimilation“
der Farben und der anderen Qualitäten dem Gemeinsinn des Raumes wie dem Wurzelsinn des Getastes
ontologisch nachgeordnet ist und ihnen entspringt, so ist die potentia propinqua des Auges (wie aller
Sinne) in ihrer Dynamis der früheren des Getastes und des Gemeinsinns eingepflanzt, die deshalb auch
als der potentielle Vermögensgrund der äußeren Sinne betrachtet werden und in die Erscheinung treten
können. Sowohl das Gesicht wie das Gehör erlöschen deshalb nicht völlig, weil sie in der Raumanschau-
ung wurzeln. Sie sind deshalb im Dunkeln oder in der Stille als erwartendes Schauen oder Lauschen
erfaßbar, das in einen (dunkeln oder stillen) Raum hineinsieht oder hineinlauscht, in welchem nichts
zu gewahren ist, aber jederzeit etwas erscheinen könnte.18 Was wahrgenommen wird, erscheint deshalb
notwendig an einer Stelle im immer schon gesehenen Weltraum und wird als nah oder fern erfahren.
Was wir sehen, sehen wir daher in einer Welt, und zwar als wirklichkeitsgerechte Erfahrung.
Schließlich sind in der Organisation der „zweiten (formalen) Potenzstufe“ alle Phänomene ontologisch
deutbar, die der Verfassung des wahrnehmenden Subjektes entspringen, was oben hinreichend ge-
schehen ist.

9. Der „kritische Realismus“

Die Frage nach der „Wahrheit“ der sinnlichen Erfahrung zwingt zur Auseinandersetzung mit der Wirk-
lichkeitszerspaltung des sogenannten „erkenntnistheoretischen kritischen Realismus“. Sofern bei Kant
die Erscheinung raum-zeitlich und kategorial verobjektiviert wird, hat bei ihm die „sinnliche Quali-
tät“ keinen rechten Ort. Sie ist einerseits reine „Erscheinung“ und müßte, sofern sie nicht apriori gesetzt
werden kann, aposteriori entspringen. Als reine „Gegebenheit“ wäre sie daher dasjenige, das am
meisten der transsubjektiven Sphäre zugehört. Um jedoch der Konsequenz ihrer transzendenten Ge-
gebenheit auszuweichen, fällt sie unter die Bestimmung der „empirischen Affektion“, die wesentlich ne-
gativ gekennzeichnet ist. Als „Affektion“ ist sie dem Subjekt zugehörig, als „empirisch“ ist sie zufällig
und gesetzlos (chaotisch), so daß sie im Grunde aus der transzendentalen Fragestellung herausfällt.
Sie ist irgend etwas am Subjekt, für das es keinen apriorischen und keinen transzendenten Grund gibt,
d. h., sie entspringt weder dem Subjekt noch dem Ding an sich. Irgendwie wird sie damit wie bei
Descartes aus der philosophischen Fragestellung ausgeschlossen.
Im „kritischen Realismus“ ereignet sich eine merkwürdige Umkehrung. In ihm wird die ganze apriori-
sche Ausstattung des transzendentalen Subjekts (Ideen, Kategorien, Anschauungsformen) der Welt-
und Dingwirklichkeit zurückgegeben; nur die Qualitäten der Sinne entspringen dem „Subjekt“, und

18
Vgl. Gustav Siewerth: Die Sinne und das Wort, 1956

49
zwar seinen sinnlichen Empfängnisorganen. Die Wirklichkeit ist daher im Sinne des Cartesischen Ra-
tionalismus und entsprechend den quantitativen Meßmethoden der Naturwissenschaft strukturiert,
während der gesamte Reichtum der Qualitäten vom Subjekt erzeugt wird. Demnach ist der sinnlich ver-
nehmende Geist ein Wesen von unermeßlicher Produktivität. Was die Sinne empfangen, sind Quanten,
Wellen, Bewegungs- und Energiestöße, die dann im Innern des Menschen mit einer verborgenen Kunst
umgesetzt werden in qualitative Erscheinungen. Den Beweis hierfür liefern die künstlichen Farb-, Ton-
und Empfindungserregungen unserer Sinne und deren „subjektive“ Verschiedenheit.
Diese beinahe weltweite Lehre, die in allen naturwissenschaftlichen Werken mit ihrem philosophischen
Dilettantismus wiederholt wird, ist nicht nur ohne die Spur eines „Beweises“, sie ist auch für eine phi-
losophische Betrachtung ebenso unwahrscheinlich wie unmöglich.
Zum ersten ist sie nicht die Frucht einer tieferen „erkenntnistheoretischen Besinnung“, sondern weit
mehr eine Übernahme des sogenannten naturwissenschaftlichen „Weltbildes“, dessen quantitative mes-
sende Methode im Hinblick auf die Erfahrung von „Wirklichkeit“ nicht mehr zum Problem
gemacht wurde. Vor dem neuzeitlichen Mathematizismus hat nie ein Denker (auch nicht ein Materia-
list) daran gedacht, die gesamte Wirklichkeit zu entqualifizieren und zu einer mechanischen Ver-
bindung von absolut gleichen Elementen zu machen. Auch für Demokrit waren die Atome qualitativ unter-
schieden. Diese wissenschaftliche „Naturphilosophie“ verabsolutiert unausgesetzt die „relationalen“
(wechselseitigen) Bestimmungen und macht aus einem Bezugssystem der Energie-, Massen- und Bewe-
gungsmessung so etwas wie eine „reale Welt“, in der in der Tat nichts „anderes“ vorkommt als quanti-
fizierte Größen; freilich nur deshalb, weil man etwas nicht als „wirklich“ gelten läßt, wenn es nicht
mathematisch gemessen werden kann. Man könnte mit Recht dieses Weltbild als „naiven Quantenrea-
lismus“ bezeichnen, wie es ohne Zweifel ein folgenreicher Trick war, die metaphysische Welt- und
Wirklichkeitsdeutung aller großen Metaphysiker als „naiven, unkritischen Realismus“ zu deklassieren.
Das Erstaunliche ist, daß auch die „theologische“ Metaphysik der „Neuscholastik“ diesem unkritischen
Kritizismus erlag, wiewohl er im Gesamtsystem dieses Denkens überhaupt keinen Ort hat. Denn ist schon
der endliche Geist wesenhaft dieser produktive Abgrund unendlicher Qualitäten, durch die er offenbar
sein inneres Leben hat, so ist doch notwendig auch der absolute Geistgrund in seinem einfachen Wesen
das einfach-einzige „Meer qualifizierter Fülle und Wesenhaftigkeit“. Ist aber dieser einfache Grund
der Schöpfer dieser Welt, so ist es doch durch und durch antinomisch, wenn ihm ein qualitätenloses Uni-
versum entströmte, dessen elementar-quantitative Gleichförmigkeit und Zerstreutheit keinerlei Analo-
gie mit diesem einfachen Wesen aufwiese, sowohl im Hinblick auf die qualitätslosen Elemente wie
die qualitätenlose äußere Synthesis von „Teilen“ zu „Teilen“.

50
10. Die Aporien des kritischen Realismus

Nimmt man diesen Widersinn an, dann ergeben sich eine Fülle unlösbarer, antinomischer Probleme.
Denn welchen Sinn kann es haben, den Qualitäten schaffenden Geist mit diesem qualitätslosen Weltme-
chanismus zu verknüpfen? Wie sollte es überhaupt eine „substantielle“ Einheit von Geist und mate-
rieller Leiblichkeit geben, wenn die gekennzeichnete Differenz absolut ist? Was könnte eine „mate-
rielle Organisation“ der Sinne überhaupt bedeuten, wenn die Quantität die eigentliche Realität dar-
stellt? Ist dann die sinnenhafte Empfängnis etwas anderes als eine okkasionale Auslösung für eine
qualitative Umsetzung, die doch eine radikale Ver-fälschung der Welterfahrung herbeiführt? Worin
liegt die Zuordnung der quantifizierten Reizwirkung zur qualitativen Produktivität beschlossen? Ist
es eine äußere, von Gott gesetzte Beziehung? Kann man diese Frage überhaupt stellen, ohne vor
der peinlichen Künstlichkeit des göttlichen Wirkens und der grotesken Beschränktheit der schöpferi-
schen Wirksamkeit Gottes zu erschrecken, die in einer solchen Annahme vorausgesetzt ist? Ist sie
aber „innerlich“ begründet, dann muß doch das Quantum selbst einen Qualifizierungsgrund bedeuten,
was nicht denkbar ist, ohne die Weltwirklichkeit wiederum hintergründig zu qualifizieren, womit
die Prämissen negiert werden.
Zugleich entsteht die Frage nach dem „Ort“ der Weltqualifizierung. Ist dieser Ort der Geist, das ani-
malische Leben oder das Lebendige überhaupt? Wäre es nur der Geist, dann müßte die Tierwelt in
einer reinen Quantenwelt existieren, und kein Schmetterling würde durch farbige Blüten oder Düf-
te angezogen. Ist es aber das Leben, dann wäre jedes Lebewesen ein qualifizierender, schöpferi-
scher Weltgrund.
Lebt aber das Leben innerlich in einer qualitativen Welt, so entsteht die Frage, ob es diese Qualitäten
nicht im Lebensvollzug selbst erzeugt und nicht nur in der Dimension der Welterfahrung. Träfe das
aber zu, dann hätten wir doch eine qualifizierte Lebenswirklichkeit, in der es Töne, Farben und Düf-
te als Lebensereignis gäbe. Treten sie aber hier in der organischen Materie auf, gibt es dann auch nur den
geringsten Grund, die nicht lebendige Materie als „unqualifiziert“ zu bezeichnen, da doch im Erschei-
nungsmodus zwischen ihr und dem Lebendigen kein Unterschied aufzufinden ist.
Geradezu unlösbar aber wird das Problem der schöpferischen Umsetzung der Quantenreize in Qualia.
Wie soll sich dieses schlechthin Unbegreifliche und Verborgene überhaupt ereignen? Der Vorgang ist
weder physisch noch psychisch, noch geistig verständlich zu machen. „Physisch“ kann er nicht sein, weil es
zum Wesen des Physischen gehören soll, nur in quantifizierten Vollzügen abzulaufen. „Psychisch“
kann er nicht sein, weil das Psychische durch fühlende Selbstdurchdringung bestimmt ist. Wie aber soll
dann diese Weltproduktion möglich sein, ohne daß auch nur ein einziges Lebewesen jemals etwas davon
erfahren hat? Zum Leben gehörte ein unzugänglicher, von ihm selbst weder fühlend noch wahrnehmend
erreichbarer Produktionsgrund, dessen Kennzeichnung sich jeder ontologischen Bestimmung entzöge. Es
wäre ein geheimer Mechanismus ohne jedes fühlende Leben. Wir hätten also eine durch und durch quali-
fizierte „unterseelische“ Physis neben der dinglichen Quantenphysis und dem eigentlichen reflektierten
Lebensbereich. Gäbe es diese unvollziehbare Aufspaltung, dann verkomplizierte sich die Frage der Ein-

51
heit der drei Bereiche bis zu einer ontologischen Wirrnis, die jedem Denkenden als eine Zumutung er-
scheinen muß.
Denn erstens müßte doch, ist schon die Produktion ein verborgener, unbewußter Untergrund, wenigstens
der Hervorgang in das psychische Wahrnehmen sich diesem selbst enthüllen; irgendwie müßten wir er-
fahren, wie die Qualitäten in uns „entspringen“, wenn uns ihr „Entstehen“ auch verborgen wäre.
Zweitens müßten diese Qualitäten doch auch auslösbar sein ohne äußere Bedingungen, da doch die „füh-
lende Psyche“ mit diesem psychischen Schöpfungsgrund einig ist und deshalb auch eine tiefere Nähe zu
ihm aufweist als die äußere, quantifizierte Physis. Muß es dann nicht gelingen, daß die durch Gedächtnis
und Einbildungskraft aktualisierte Seele, die doch die gleichen Quanten innerlich zu eigen hat, den Pro-
duktionsgrund zur Erzeugung anrege? Da dies völlig unmöglich ist und nie erfahren wurde, so gehört
schon ein erstaunliches Maß von unkritischem Dogmatismus dazu, solch eine Lehre ernsthaft zu vertre-
ten.
Schließlich ist es unverständlich, daß die Empfängnis einer äußeren Quantenwelt in der Wahrnehmung
mit der inneren Qualitätenproduktion zu einer „objektiven“ Einheit verschmilzt. Da diese Wahrneh-
mung schlechthin vernehmend ist und sich im Außenbereich des Lebens ereignet, so kann die Qualifizie-
rung auch nur in diesem Bereich ihren Ort haben. Hier aber ist das Seelenleben im höchsten Maße ver-
nehmend erschlossen, so daß eine Erzeugung und ein Hervorgang in diesem Bereich, also in den sinnli-
chen Organen selbst, mit Notwendigkeit auch wahrgenommen werden müßte.
Wäre die Umsetzung aber „geistig“, so wäre kraft der Einheit des Geistgrundes etwas schlechthin
Widersinniges gesagt, weil diese Produktivität notwendig als „Akt“ erfahren werden müßte. Mehr
noch, der Geist müßte jederzeit in der Lage sein, solche Qualitäten „vorstellend“ zu erzeugen, so
daß ein Blinder oder Tauber die Qualitäten der Farben oder Töne wenigstens innerlich müßte erzeu-
gen können. Da dies aber nicht möglich ist, so bricht die ganze Konstruktion des „kritischen Realis-
mus“ als haltlos in sich zusammen.
Denn wenn die Produktivität psychisch oder animalisch wäre, so müßte sie nach allen metaphysischen
Prinzipien auch „geistig“ sein, da es im Hinblick auf das apriorische Vermögen nichts Seelisches geben
kann, das nicht auf vollkommenere Weise auch im Geistgrunde wirklich ist. Da aber der Geist in sei-
nem eminenten Leben nicht die Spur einer Qualitätenerzeugung zu eigen hat, so kann sie auch nicht
zum wesenhaften Apriori des seelischen oder animalischen Lebens gehören.

11. Die Qualitäten und die naturwissenschaftliche Methode

Diese metaphysisch nicht durchzuhaltende Welt- und Wirklichkeitszerspaltung widerstreitet denn auch
von Grund auf dem phänomenalen Bestand der Welterfahrung. Was wir sehen oder wahrnehmen,
sind „sachhaltige“ Gegebenheiten, deren quantitative Auflösung in energetische Einheiten nichts
auszumachen vermag über die qualitativen Charaktere, die in jeder Synthesis urspringen und ganz-
heitlich in die Erscheinung treten. Weil es sich hier um Unableitbares handelt, deshalb ist die formalis-

52
tische Verschleifung der physikalischen und chemischen Synthesen ein beirrendes Sophisma, da ja natur-
wissenschaftlich gar nicht auszumachen ist, was die eindringende Einigung der im Wesen völlig unbe-
kannten Elementarpotenzen in ihren so tief unterschiedlichen Modi seinshaft bedeutet. Es ist eine verbrei-
tete Unart, so zu tun, als wäre zum Beispiel die nicht auflösbare (wohl aber verwandelbare) energeti-
sche Mesonenwolkensynthese im Proton, die Photon-Energie-Massesynthese im Elektron, die Kräfteaus-
tauschsynthese (Mesonen) der positiv geladenen Kernprotonen, ferner die atomaren, nach Umkreisungs-
bahn, nach Kerngruppen, Elektronenzahl und Ladungsspannung formal bestimmten Einheitsgefüge,
ferner die formengesetzlich determinierten chemischen Elektronenschalenangleichungen mit ihren
Doppelumkreisungen, die hochqualifizierten organischen Molekularsynthesen der Nucleoproteide mit
ihren steuernden Assimilationsfeldern, schließlich die gesteuerte, sich ganzheitlich auszeugende Syn-
these der lebendigen Zellkerne - als wäre all dies im Hinblick auf „Synthesis überhaupt“ einerlei Ding,
das man hinreichend erkannte, wenn man die Energie-, Massen-, Ladungs-, Bewegungs- und Ord-
nungsverhältnisse fixierte und die tiefen formalen Unterschiede des Geschehens als eine beiläufige und
graduelle Differenz auf die Seite rückt.
Dabei wird die Frage nicht gestellt, was denn eine „Synthesis“ überhaupt bedeutet und wie sie onto-
logisch möglich ist. Für ein metaphysisches Denken ist es selbstverständlich, daß eine seinshafte Kon-
stitution überhaupt nur möglich ist, wenn in der Einigung der Anziehung, des Ladungs- und Bewegungs-
gleichgewichts, der Elementar- und Kernverdichtung usf. eine akt-potentielle Differenz waltet, die
quantitativ überhaupt nicht treffbar ist und jeden Vorgang unableitbar ursprünglich qualifiziert. Hat
man denn den Sinn dafür eingebüßt, daß schon jede geometrische Konstellation, die durch Größe und
Figur charakterisiert ist, als „qualitative“ Differenz erfahren wird und als ganzheitliche Struktur als ein
eigenes und ursprüngliches Gebilde hervortritt? Ist denn ein Quadrat nicht eigenschaftlich und figu-
ral etwas völlig anderes als zwei zusammengelegte rechtwinklige und gleichschenklige Dreiecke? Wenn
hier schon eine phänomenologische Analyse Figuralqualitatives erschließt, so sollte es doch selbstver-
ständlich sein, daß eine im Wesen undurchschaubare, wechselseitig eindringende Synthesis unerkann-
ter Kräfte nicht möglich ist ohne eine währende Qualifizierung, so daß die hartnäckige Behauptung, es
gäbe keine Qualia in der Natur, einen durch nichts erweisbaren Vorstellungsmechanismus zur Vorausset-
zung hat, der die unbekannten Naturkräfte nicht nur durch die Zahl mißt, sondern sie mit qualitativ in-
differenten, abstrakten Zahlengrößen gleichsetzt und ihre Synthesen mit Rechengleichungen. Diese
leicht unterlaufenden Vertauschungen sind dem philosophisch nicht gebildeten Naturwissenschaftler zu
verzeihen, aber nicht dem rationalistischen Philosophen, der sie zur Grundlage seiner „kritischen“ Refle-
xionen macht. Seit Descartes ist die Philosophie Naturwissenschaftstheorie, die ihr eigenes Wesen
vergaß und sich nicht im Sein des Seienden, sondern auf der „zweiten Stufe der Abstraktion“, in der
„intelligiblen Materie“ der Quantität und des bloßen Begriffes angesiedelt hat.19
Wenn es daher metaphysisch unmöglich ist, eine qualitätlose Natur überhaupt zu denken, so zwingt
der Blick in die Wirklichkeit der Welt zur Annahme eines wesenhaften Reichtums unableitbarer, durch

19
Gustav Siewerth, Die Abstraktion und das Sein nach der Lehre des Thomas von Aquin, 1958.

53
und durch qualifizierter Einheiten. Denn das Dasein im Kosmos ist nicht nur qualitativ erscheinend, son-
dern es basiert auf der qualitativen Differenz und ihrer Eröffnung. Denn nur durch die innere Qualifizie-
rung ist Natur das Reich aller Wesen. Alle Wesen leben in gleicher Weise von jenem Licht, das Helle
und Wärme gewährt, die Farben ins Leuchten bringt und zugleich die Photosynthese des täglichen
Brotes im Blattgrün der Pflanze ermöglicht. In diesem Licht- und Lebensstrom erblüht das Leben und
geht lichthaft hervor, indem es sich als Duft, als Blüte, als Frucht, innerlich für sich selbst quali-
fiziert und den anderen Wesen verlockend kostbar, wohlschmeckend, erquickend und erkräfti-
gend wird. Nichts von diesen urtümlichen Gaben kann ein Mensch oder ein Tier aus sich selbst erzeu-
gen, sondern sie werden ihnen aus dem Walten der Natur geschenkt. Niemals aber ließe sich der un-
erhörte Einklang der Natur verstehen, würden die Qualitäten erst nachträglich vom Empfänger er-
zeugt. Dann wäre alles Naturwerden eine künstliche äußere Zuordnung, während in Wahrheit die Er-
zeugung der Blüten und Düfte, die Früchte der Pflanzen tief in deren Lebensgefüge verwurzelt ist
und deshalb als eine Wesenseigentümlichkeit angesehen werden muß.20
Wäre die Wirklichkeit nicht „qualifiziert“, so wäre sie nicht zu denken. Gäbe es nur die quantitativen
Funktionen, so wäre ein „schöner Mensch“ in Wirklichkeit ein qualitätloser Funktionsmechanismus und
seine Schönheit ein Gemächte des Beschauers. Es gibt keinen Grund zu einer solchen monströsen Unter-
stellung. Metaphysisch gesehen ist vielmehr jede Wesenssynthese ein unableitbar ursprüngliches Gan-
zes, das alles Teilhafte transzendiert und als dienliches Wirkgefüge sich ein- und zuordnet. Nur
weil es diese seinshaften Synthesen mit ihren unableitbaren Qualitäten gibt, ist die erhebende Mög-
lichkeit mit Goethe zu denken, daß unsere Sinne das feinste wirklichkeitsgemäße Instrumentarium
sind, das es überhaupt geben kann.
Dem widerstreitet es nicht, daß es doch zahllose Vorgänge gibt, die den Sinnen nicht zugänglich
sind. Wird alle Energieentfaltung auf elektromagnetische Strahlungen zurückgeführt, so bedeuten
freilich die sichtbaren Farben nur einen relativ kleinen Ausschnitt aus diesem reichgestuften Strahlungs-
gefüge, das nach beiden Seiten die Lichtsphäre erheblich überschreitet. Aber diese Jenseitigkeit bedeu-
tet nicht Qualitätlosigkeit, auch wenn wir sie nicht erfahren können. Andererseits macht dieses
„Ausschnitthafte“ die Universalität des lichtenden und leuchtenden Lichtes um so geheimnis-
voller, sofern in diesem Bereich das Leben und Erscheinen aller Natur gründet. Denn dies ist nur mög-
lich, weil die Lichtkraft tief in den Atomgefügen wurzelt, in den Ladungs- und Gefügewandlungen
als Strahlung ausgeht, um nahezu alle Dinge der Natur ins Leuchten zu bringen.
Diese Eigenschaften machen das Licht zum wesenhaften universalen Erscheinungsmedium.
Man muß stets beachten, daß eine quantitative Maßskala und ihre Gradualität in keiner Weise et-
was über die qualitativen Differenzen aussagen kann, die in diesen Bereichen walten, wie an den Am-
plituden- und Frequenzziffern der Farben Blau, Grün, Gelb und Rot nichts über ihre qualitativen
Strukturen abzulesen ist. Deshalb kann es durchaus möglich sein, daß es wesenhafte Unterschiede der

20
Vgl. Seybold, Die Pflanzenpigmente als physiologisches Problem. In: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaf-
ten und der Literatur, 1957, S. 215-229

54
Energie-ausstrahlung gibt, die im Maßsystem der Naturwissenschaft untergehen. Unter dieser Rücksicht
kann man weder die nichtsichtbare Strahlung vom Licht her schlichthin negativ als qualitätlos kennzeich-
nen, noch kann man das „Licht“ als elektromagnetisches Phänomen einfach nivellieren und als gering-
fügigen Teil ansehen - schon deshalb nicht, weil in der gestuften Skala zwischen hellstem Weiß und
dem dunklen Schwarz Grenzen gegeben sind, die seinsmäßige Struktur haben, sofern das Schwarz als
das Negative der Farbigkeit und das Weiß als Maximum keine Steigerung zulassen.21
Für die Physis ergibt sich nur, daß die Erscheinungssphäre der Sinnlichkeit im Hinblick auf die Wellen-
quanten begrenzt ist, was aber nicht das Licht als unzureichend kennzeichnet. Eine Erscheinung ist not-
wendig ein Hervor-gang (eines Einigen durch das Andere) und kann niemals mit dem wirklich Sei-
enden identisch sein. Deshalb gibt es notwendig eine Konstitutions- und Wirktiefe der materiellen
„Wirklichkeit“, die sich zwar in der Erscheinungssphäre durch Wirkungen anzeigt, aber selbst nicht un-
mittelbar hervortreten kann. Eine intelligible DurchMessung durch das metaphysisch frühere Quantum
wie durch die Aktualität des Seins „erschließt“ daher die Wirklichkeit in anderen Dimensionen, als das
unmittelbare Anschauen es vermag, ohne daß damit die allvermittelnde Versammlung des erscheinen-
den Anwesens negiert wird. Was im „Licht“ anwest, partizipiert in seiner Offenbarkeit irgendwie an al-
len Prinzipien und Gründen der materiellen Wirklichkeit bis hinab in die energetischen Synthesen
der einfachen Elektronen, aus denen die Photonen entspringen.

12. Die Natur als göttliches, undurchdringliches Mysterium

Wird das Ganze des Gesagten in den Blick genommen, so ergibt sich mit der Unmöglichkeit des „kriti-
schen“ Realismus die Notwendigkeit, die Physis in ihren qualitativen Wesenstiefen zu eröffnen. Selbst-
verständlich bedeutet dies nicht einen Rückgang zu den fünf Elementen der antiken Philosophie; viel-
mehr gilt es, den unerhörten Wesensreichtum der anorganischen und organischen Welt gemäß den Er-
gebnissen der modernen Naturwissenschaften zu erschließen. Denn gibt es überhaupt Qualitäten in der
Natur, dann wurzeln sie auch in den allerletzten Konstitutionsgründen der Wirklichkeit, so daß wir
der Folgerung nicht entrinnen, daß in allen Synthesen und ihren wesenhaften Differenzen formale
Einheits- und Einigungsgründe und unaufklärbare Potenzunterschiede walten, die die Konstitutionswei-
sen der physikalischen, chemischen und organischen Synthesen bemessend bestimmen. Dann ist die Natur
kein mechanisches Funktionsgetriebe von quantitativer Gleichförmigkeit, sondern ein unermeßlich ge-
stuftes Reich unmeßbar einmaliger, individueller Wesen, deren formale und qualitative Struktur
sich der mathematisch messenden Wissenschaft verbirgt, wohl aber der Schaukraft einer geistigen
Sinnlichkeit sich enthüllt. Sie enthüllt sich notwendig in unableitbarer Ursprünglichkeit, in welcher
die Wesen wie die Farben sich analog abstufen und durch ihre qualitative Einzigkeit hindurch das

21
Vgl. Felix Budde, Primäre und sekundäre Qualitäten in: „Divus Thomas“ 1953, wo der Nachweis erbracht wird, daß die
qualitativen Farbempfindungen in ihren wesenhaften Eigenschaften und Beziehungen den naturwissenschaftlichen Maßord-
nungen der Wellen und Photonen nicht entsprechen.

55
Berückende des Gegensätzlichen, des Verwandten, des Reinen oder Vermischten, des arthaft Verschie-
denen und gattungshaft Selbigen oder Gleichen hervortreten lassen. Diese Gesetzlichkeiten und Harmo-
nien sind von so tiefer Wesenhaftigkeit, daß sie eine metaphysische Lehre von den Naturphänomenen
ermöglichen, die zwar keine „Technik“, wohl aber ein ehrfürchtiges Verstehen des Wunderbaren und
Geheimnisvollen zu schenken vermag, aus welchem die aller Technik seinshaft und wesenhaft überge-
ordnete Poiesis der bildenden Künste entspringt. Die Natur ist geistgeboren und geht deshalb in ihrer
Auflichtung auch für den Geist in göttlichem Wesensreichtum herauf, der jedem Schauenden und Den-
kenden sich enthüllt.
Dem Metaphysiker eröffnet sich solchermaßen die Wirklichkeit in allen ihren Dimensionen, so daß es
keinen Grund gibt, die Betrachtungsweise des Naturwissenschaftlers oder des Künstlers „antinomisch“
entgegenzusetzen und sie „absolut“ verschiedenen Sphären zuzuordnen.
Die möglichen Täuschungen, die Verschiedenheiten des subjektiven Vernehmens sind kein ernsthafter
Einwand. Ist die materielle Organisation wesenhaft ein differenziertes Baugefüge von unermeßlicher
Mannigfaltigkeit, so ist es selbstverständlich, daß eine organische Sinnlichkeit auch Störungen, Aus-
fällen, Vermischungen, Nebenwirkungen aus dem potentiellen, widerständigen Mitgrund her ausge-
setzt werden kann. Kein einziges Phänomen aber ist angetan, die empfängnisbedürftige „Leere“
oder „potentielle“ Indifferenz der Sinne in Zweifel zu setzen, die alles, was sie wahrnehmen, den
Wesen der Natur zu verdanken haben. Die Tatsache, daß kein Blinder eine Farbe erfinden oder in-
nerlich erzeugen kann, ist ein Hinweis, daß wir es in den Qualitäten der Naturdinge mit einem unab-
leitbar Ursprünglichen zu tun haben, das dem göttlichen Grunde des Seins entsprang und als seine ge-
heimnistiefe Offenbarung heraufgeht.

56
WESEN UND GESCHICHTE DER MENSCHLICHEN VERNUNFT
NACH IMMANUEL KANT

Jede systematische Philosophie bedeutet als Lehre vom Sein eine absolute Position. Als solche
erhebt sie den Anspruch, die Struktur, die Notwendigkeit und Bedingtheit, die Endlichkeit und
Unvollendung des vorausgehenden Denkens aufzeigen und als systematische Philosophiegeschichte
entwickeln zu können. Am Gewicht der Tradition erweist sich ihre gedankliche Macht wie ihre Be-
schränktheit und Zufälligkeit. Je ungeschichtlicher sie sich auf einem rein systematischen Boden an-
baut, um so schwieriger wird es ihr, den eigenen geschichtlichen Ort zu bestimmen, der entweder als
Fortentwicklung, als Vollendung oder als radikaler Neubeginn von ihr begriffen und ausgewiesen
werden muß. Dieser Ausweis bedeutet immer auch eine Auseinandersetzung mit dem geschichtlich ü-
berlieferten Denken, das ja nicht einfachhin als Zufälligkeit abgetan werden kann, sondern in seiner
Eigenart und geschichtlichen Bedingtheit selbst erklärt werden muß. Solch eine Auseinandersetzung
führt notwendig dahin, mit dem Bewußtsein der geschichtlichen Bedeutung die vermeinte eigene Uni-
versalität oder Originalität zu verschärfen und damit den systematischen Neuversuch entscheidend neu
zu charakterisieren. Dabei treten notwendig Gesichtspunkte hervor, die dem unmittelbaren spekulativen
Begreifen verborgen bleiben mußten. Die Frage nach der geschichtlich orientierten Selbstdeutung ist
daher oft von höchster Fruchtbarkeit für die Klärung systematischer Positionen.
Gegenüber dem kritischen Idealismus Kants ist unter dieser Betrachtungsrücksicht die Frage
zu stellen, warum in der Geschichte des menschlichen Denkens überhaupt so etwas wie „Kritik der
reinen Vernunft“, d. i. eine kritische, grundstürzende und grundlegende Neubesinnung, notwendig
war und ist. Da Kant selbst diese Frage immer wieder aufwirft, hat er, ohne es unmittelbar zu wol-
len, zugleich die Frage mitbeantwortet, wie denn die menschliche Vernunft überhaupt geartet sei, in
welcher die „Kritik“ als grenzensetzende Selbstbesinnung eine so entscheidende Rolle spielt. Die Ant-
wort zeigt das menschliche Denken in einer inneren Bedrohtheit von solchem Ausmaß, daß die Selbstsi-
cherung und Selbstversicherung als die wesentlichste Aufgabe erscheint. Aus einem sich in seiner
Sphäre frei und sicher bewegenden, von einer unmittelbaren Schau in die universalen Strukturen des
Seins erfüllten und geführten Denken wird eine bedrohte, boden- und haltlose Tätigkeit, eine endli-
che, in Grenzen geschlagene und von den Grenzen her beirrte und verwirrte Macht, deren Hauptge-
schäft die „Selbst-versicherung“ wird. Das Denken wird im eigenen Bereich und nicht erst auf dem
Umweg über das Ethos einer menschlichen Aufgabe „existentiell“. Der moderne Begriff der „Existenti-
alität“ hat über den Begriff einer philosophischen Ethik hinaus diesen betonten Charakter der denke-
rischen Selbstversicherung vor der Übermacht eines geschichtlichen oder absoluten Scheins. „Existentia-
lität“ deckt sich in diesem Zusammenhang mit „Endlichkeit des Denkens als solchen“.
Im folgenden sei dieser Verhalt an der Kritik der reinen Vernunft aufgewiesen.

57
Für alle Dialektik ist die lebendige Rede in ihrem Miteinander und Gegeneinander kennzeichnend.
Sie hat ihre Möglichkeit durch die Einheit ihres Zieles, durch die als selbstverständlich vorausgesetzte
innere Einheit und Ganzheit des Logos. Was sie damit ausschließt, ist der Widerspruch des Gedankens
und der Seinsbestimmungen. Seiendes ist nur, sofern es Eines ist, und Wahrheit ist nur, sofern sie die
Einheit des Seienden oder des Seins sichtbar werden läßt. Ihre innere Spannung, Schärfe und Bewegt-
heit aber hat die Dialektik gerade durch die Infragestellung dieses Zieles, durch den aufhebenden Wi-
derstreit des Gedankens und der Rede. Da aber der Gedanke zunächst unmittelbarer Blick in das Sei-
ende ist, das Seiende aber an sich selbst, sofern es offenbar ist, notwendig wahr ist, so gilt es, den
Grund der Möglichkeit des Widerspruches sichtbar werden zu lassen.
Er besteht darin, daß verschiedene Bestimmungen, die sich gegenseitig ausschließen und daher keine
Einheit bilden können, mit gleichem Recht als Wesensmerkmale des gleichen Wirklichen hervortreten.
Das aber ist nur möglich, sofern beide oder doch wenigstens eine der entgegengesetzten Bestimmungen
einen Schein bei sich führt, durch den sie zum Irrtum verleiten. Ein Schein bedeutet aber immer not-
wendig eine Ähnlichkeit, die zu einer ungerechtfertigten Gleichsetzung führt, oder eine Unähnlichkeit,
die eine wirkliche Einheit verdeckt.
Aus dem wesentlichen Verhältnis zum Schein und zum Widerspruch lassen sich die Grundgestalten
der antiken Dialektik herleiten, die Sophistik, die Skepsis und die Philosophie - die Sophistik als die
Unterlegene des Scheins, von ihm gebunden und beherrscht, abgezogen ins Unwirkliche und Unechte -
die Skepsis als die durch den Schein ermächtigte, allen Bestand des unmittelbaren Bewußtseins und
der Philosophie auflösende Haltung der Freiheit gegenüber dem Ernst und der bindenden Notwendig-
keit des Gedankens, die ebenso als Gleichmut wie als Ungebundenheit zutage treten kann - die Philo-
sophie, sofern sie aus dem Schein und dem widersprechenden Umtrieb sinnlicher Erfahrung oder rein
verständigen Denkens zu ihrer wesenhaften Möglichkeit sich befreit und den Schein als eine Weise der
Erscheinung am Wesen begreifen lernt.
Die Dialektik Kants erscheint von dieser Sicht her als eine Einheit von skeptischer und philosophischer
Dialektik, die durch ein negatives Ergebnis zugleich eine positive Einsicht in die Endlichkeit menschli-
chen Denkens sicherstellen will.
Die uns zunächst angehende Frage lautet: Welches ist der Schein der transzendentalen Dialektik und
durch welche Wesenszüge ist er gekennzeichnet? Wir vergegenwärtigen uns noch einmal, daß diese
Frage für keine Philosophie zufällig ist und bei Kant nicht etwa nur deshalb gestellt werden kann,
weil bei ihm in der Tat vom Schein öfter und in vielfacher Weise die Rede ist. Ist wirklich die Dia-
lektik die Methode der Philosophie, dann besteht für jede Philosophie die Aufgabe, einen Schein
abzustellen oder die Wahrheit und Offenbarkeit der Dinge einem Schein zu entreißen. Philosophie ist
Überwindung des Scheins, ihre Wahrheit ist kein einfacher „Aufweis“, sondern eine „Enthüllung“,
die Hervorkehrung des Wirklichen aus einer wesenhaften Verdeckung; sie ist gegen etwas gerichtet,
was aber so sehr zu ihrer eigenen Möglichkeit gehört, daß sie immerfort sowohl vor den Erscheinungen
wie ihrem eigenen Bestimmen auf der Hut sein muß, um wahr sein zu können. Wahrheit steht so ur-

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sprünglich in einer widerstreitenden Möglichkeit, nämlich des Scheins und der Erscheinung, einer ech-
ten Erfassung des Seins oder des Irrtums, daß sie nur aus der Anstrengung und dem Kampf geboren
wird.
Sie kann freilich das Wesen nur dadurch seines Scheins entkleiden, daß ihr immer schon ein Maß
gegeben ist, das sie instand setzt, das Wesen als solches zu „messen“, es als Wesen zu bestimmen und
den Schein als Schein gegenüber dem Wesenhaften zu entlarven. Das bedeutet, daß alles Erkennen sich
das Wesen des Seins immer schon so weit enthüllt hat, daß es durch diese Sicht zu weiterer Klärung
ermächtigt worden ist. Unser Erkennen kann den Kampf der Wahrheit nur kämpfen, den Widerstreit
der Dialektik nur schlichten, wenn es selbst immer schon in der Wahrheit steht und sich Seiendes
und das Sein vorgängig enthüllt hat. Etwas ans Licht bringen heißt also immer soviel, wie es in die
Helle des schon Entdeckten bringen und an diesem als entdeckt und wesenhaft aufweisen. Eine Sache
als wahr erkennen bedeutet, sie auf ihre uns immer schon gegebene Wahrheit hin entfalten. Wenn ge-
sagt wird, Philosophie sei Wiedergewinn des Sprachgebrauchs, so meint das vor allem auch,
daß es in aller Rede wie im Denken eine ursprüngliche Wahrheit gibt, ein Unverstelltes, durch keine
Deutung und durch keinen Schein Überdecktes und Verdunkeltes, das von sich aus offenbar ist, das im-
mer im entdeckenden Blick liegt und alles weitere Forschen ermöglicht, ausrichtet und scharf hält.
An ihm gehen dem Denkenden seine Fragen auf, sind ihm die Wege vorgewiesen, werden seine Ur-
teile gemessen.
Dialektische Philosophie ist daher in der Helle ursprünglicher Wahrheit gegen einen Schein gewendet
- nicht gegen den zufälligen, daß manche Dinge einander ähnlich sehen und deshalb miteinander
verwechselt werden können -, sondern gegen einen notwendigen Schein. Dieser Schein ist durch das
Verhältnis von Wesen und Erscheinung gesetzt. Die Erscheinung vermittelt die Erkenntnis des
Wesens, d. h., sie steht in der Mitte zwischen Wesensbegriff und an sich seiender Sache, ohne daß dieses
„Zwischen“ auch nur im geringsten wie das Dazwischenlagern von physischen Schichten verstanden
werden darf. Diese vermittelnde Mitte, die Erscheinung, ist mit dem Ausgang wie dem Ziel der
Vermittlung durch eine innerliche Ähnlichkeit verbunden, die als der eigentliche Grund des not-
wendigen transzendentalen Scheins anzusprechen sein wird. Denn was unmittelbar anschaulich
gegeben ist, enthält offenbar dieselben Bestimmungen wie die gedachte Wesenheit, so daß es keinen
Grund zu geben scheint, Denken und Anschauung, Gedachtes wie Geschautes gegeneinander abzuschei-
den. Das unmittelbar Gegebene, das leibhaft und anschaulich Gegenwärtige hat daher den Schein bei
sich, alle Wahrheit und Gewißheit auszumachen.
Diese Macht des Scheins macht sich geltend, wenn der Verstand die unmittelbare Gegebenheit der Dinge
in der Anschauung für die absolute Form ihrer Wahrheit und Wirklichkeit nimmt und die aufge-
faßten Bestimmungen als unwandelbare Setzungen festhält. Dann entsteht die „Borniertheit“ des
Denkens, die durch Philosophie zu überwinden ist.
Gehört es nun zum Wesen des Verstandes, dem Schein der unmittelbaren Anschauung, d. h.
der Erscheinung zu verfallen, dann hat für Philosophie in der Tat zu gelten, daß sie gegen etwas ge-

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wendet ist. Da der Verstand aber durch das spröde Aufgreifen des Unmittelbaren die wesenhafte
Ganzheit zerstört oder die Einheit in eine Vielheit von Bestimmungen auflöst, so ergibt sich als das
Geschäft der Philosophie, das Wesen aus der Verworrenheit des Scheins zu befreien. Eine solche „Be-
freiung“ hat auch statt, wenn noch kein verständiges Bestimmen vorgegeben ist, sondern nur eine
sinnliche Anschauung. Immer kommt es darauf an, die Einheit des Wesens aus einer Vielheit von Ge-
gebenheiten herauszuheben oder die logischen Möglichkeiten des Seinkönnens auf eine einzige zu be-
schränken. Der bloße Augenschein gibt immer mehrere Möglichkeiten vor: So sind verschiedene Metal-
le von der gleichen äußeren Erscheinung. Vielleicht handelt es sich um Gold, Double, Kupfer, Bronze
oder etwas anderes. Erst eine eingehendere Prüfung schränkt den Bereich der Möglichkeiten ein, bis nur
eine einzige übrigbleibt. Dann erst ist die Sache selbst offenbar oder wahr geworden.
Diese Mannigfaltigkeit kommt jedem Schein zu, so daß sich Philosophie immer einem vorgängigen
Bewußtsein gegenüber irgendwie als beschränkend beweist. Immer wird eine Freiheit aufgehoben, eine
Möglichkeit genommen und damit ein vages Sich-Verhalten in eine Entscheidung gezwungen. Diese
Entscheidung zu vermeiden zeichnete gerade die negativen dialektischen Formen aus, von denen wir
sprachen: die Haltlosigkeit und Unverbindlichkeit der Sophistik, die Zurückhaltung oder die
„Enthaltung“ des Skeptikers, sie kennzeichnet aber auch die „Sprödheit“ des Verstandes, der alles
Sichtbare zur Wahrheit macht und in dieser unverbindlichen Entscheidung zu keiner tieferen Erhel-
lung der Wirklichkeit fähig ist.
Kehren wir nun zur Beantwortung der Frage zurück, welches der Schein bei Kant sei.
Zu Beginn seiner Vorrede der ersten Ausgabe der Kritik der r. V. sagt Kant: „Die menschliche Vernunft
hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse, daß sie durch Fragen belästigt wird,
die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie
aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft. In
diese Verlegenheit gerät sie ohne Schuld. Sie fängt von Grundsätzen an, deren Gebrauch im Laufe der
Erfahrung und zugleich durch diese hinreichend bewährt ist. Mit diesen steigt sie (wie es auch ihre Na-
tur mit sich bringt) immer höher zu entfernteren Bedingungen. Da sie aber gewahr wird, daß auf diese
Art ihr Geschäft jederzeit unvollendet bleiben müsse, weil die Fragen niemals aufhören, so sieht sie
sich genötigt, zu Grundsätzen ihre Zuflucht zu nehmen, die allen möglichen Erfahrungsgebrauch über-
schreiten und gleichwohl so unverdächtig scheinen, daß auch der gemeine Menschenverstand damit im
Einverständnisse steht. Dadurch aber stürzt sie sich in Dunkel und Widersprüche, aus welchen sie
zwar annehmen kann, daß irgendwo verborgene Irrtümer zugrunde liegen müssen, die sie aber nicht
entdecken kann, weil die Grundsätze, deren sie sich bedient, da sie über die Grenze aller Erfahrung
hinausgehen, keinen Probierstein der Erfahrung mehr anerkennen. Der Kampfplatz dieser endlosen
Streitigkeiten heißt nun „Metaphysik“.“
Hier ist am Ende der Schein mit einem einzigen Worte bezeichnet. Die „Metaphysik“ selbst ist der
Schein.

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Ein ganzes ungeheures Gebiet des Wissens und der Wissenschaft hat den Grund seiner Möglichkeit im
Schein des Wirklichen, ein Gebiet, dessen innere und äußere Ausmaße weit hinausgehen über all
das, was uns in anderen Wissenschaften vor Augen gestellt wird.
So erscheint uns hier im Anfange die Wahrheit als ein kleiner Teil, der einem ungeheuren Schein
abgerungen wird.
Von diesem Schein ist ferner gesagt, daß er ein „Schicksal“ der menschlichen Vernunft sei, eine Macht,
die über sie kommt, der sie aber aus der Tiefe ihres Wesens antworten und erliegen muß. Schicksal
geschieht nur dann, wenn die äußere Macht sich zugleich aus dem Inneren unseres Wesens her ereignet,
wenn die Gewalt zugleich unsere Schwäche ist, wenn ein Ereignis von uns innerlich vorweggenom-
men und aufgenommen war. Im anderen Falle regiert der blinde Zufall, geschieht ein Mißgeschick,
irgendein Begebnis, nicht aber das Schicksal.
Dieser Doppelcharakter des Schicksals bestätigt sich auch in den Worten Kants. Denn er sagt, daß dieses
besondere Schicksal „durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben sei“. Es besteht darin, daß sie
„mit Fragen belästigt wird“, die sie nicht abweisen, aber auch nicht beantworten kann. Schicksal be-
deutet also hier, daß der Vernunft etwas zugemutet wird, was über ihr Vermögen geht. Zugleich aber
ist es ihre Natur selbst, die dieser Maßlosigkeit notwendig verfällt, die die Belästigung sich nicht
nur gefallen läßt, sondern die ihr anheimfällt, offenbar des Glaubens, durch eine gelungene Antwort
das lästige Drängen loszuwerden. Es gehört also zu ihrem Schicksal, daß sie nicht nur über ihre Kräfte
versucht wird, daß sie sich nicht nur über ihr Vermögen überhaupt täuscht, sondern daß sie in ihrer
Tätigkeit in dieser Täuschung befangen bleibt.
Kant geht nun dazu über, das Geschehen der Selbsttäuschung in kurzen Zügen zu entwickeln. Nach
seiner Darstellung ist dieses notwendige Sicheinlassen auf den Schein kein einfacher Irrtum, sondern ei-
ne sich fortwährend steigernde Verlegenheit, in welche die Vernunft ohne Schuld gerät, d. h., die
Vernunft handelt irgendwie aus einer Verlegenheit. Sie hat dabei offenbar das Bewußtsein, mit dem,
was ihr wesentlich ist, nicht zuzureichen, weshalb sie zu Methoden ihre Zuflucht nimmt, die sie nicht
rechtfertigen kann. Aber sie genießt dabei nicht das Glück der Selbstberuhigung oder der reinen Be-
friedigung ihres Triebes nach Metaphysik. Es gelingt ihr nicht, die sie bedrängenden Fragen aufzu-
lösen, sondern sie stürzt in immer größere Dunkelheiten und Widersprüche. Das Ergebnis ist, daß sie
in noch größere Verlegenheit gerät.
Wie geschieht nun dieses Anheimfallen an den Schein? Oder schärfer gefragt, durch welchen Schein
gerät die Vernunft in die Widersprüche und das Dunkel ihres völligen Nichtvermögens?
Zunächst erwähnt Kant Grundsätze, deren Gebrauch im Laufe der Erfahrung unvermeidlich und zugleich
durch diese hinreichend bewährt ist. Solche Grundsätze liegen der unmittelbaren Erfahrung zugrunde,
ermöglichen sie und empfangen durch die Richtigkeit und Fruchtbarkeit der Erfahrung zugleich ihre
Bestätigung. Solch ein Grundsatz ist z. B. der Satz der Kausalität, der besagt, daß nichts, was ge-
schieht oder wird, ohne eine vorausgehende und bedingende Ursache sei. Von diesen Sätzen sagt
nun Kant, daß man mit ihnen immer weiter und höher steigen könne. Dieses „Höhersteigen“ ge-

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hört zur Natur unserer Vernunft und besagt soviel wie zu „entfernteren Bedingungen aufsteigen“.
Damit wird zugleich offenbar, um was es sich bei der schicksalhaften Versuchung unserer Vernunft ei-
gentlich handelt. Es liegt in ihr offenbar ein Trieb, zu immer entfernteren Bedingungen aufzusteigen.
Dieser Trieb aber ist der Vernunft nicht äußerlich, er ist weder erworben noch eingepflanzt, sondern es
macht das Wesen der Vernunft aus, in allem, was immer sie erkennt, zu Bedingungen aufzusteigen, von
unmittelbar gegebenen zu entfernteren zu gelangen und das Band der notwendigen Abhängigkeit und
Zusammengehörigkeit des Seienden sich sichtbar zu machen. Wenn dieses Fortschreiten zu weiteren
Bedingungen aber die Kraft der Vernunft übersteigt, so muß wiederum ein Schein vorliegen, der die
Vernunft verleitet, ihrer Grenzen nicht zu achten.
Dieser Schein kann auf mehrfache Weise bestimmt werden. Man kann sagen, es müsse offenbar eine
große Ähnlichkeit vorliegen zwischen den Grundsätzen des unmittelbaren Erfahrungsgebrauches und
möglichen anderen, die sich auf die Bedingungen aller Wirklichkeit beziehen und sie bestimmbar
machen. Das würde besagen, daß die Grenze des Erfahrungsgebrauches sich nicht scharf manifestiert, so
daß die Vernunft kein bestimmtes Maß ihres Vermögens gewinnt. Es könnte aber auch eine die Erfah-
rung übersteigende Fähigkeit der Erkenntnis geben, die wesentlich von der Erfahrungserkenntnis ab-
wiche und diese als solche nicht auf ihre Ebene heraufzuziehen vermöchte. Diese Wesensverschie-
denheit würde dann von der Vernunft in ihrer unmittelbaren Tätigkeit übersehen. Allein dies ist wie-
derum nur möglich, wenn eine innere Verwandtschaft und Bezogenheit beider Fähigkeiten vorliegt,
welche die Vernunft dazu verleiten, ihrer Grenzen und Verschiedenheit nicht zu achten.
Am Ausgang der „überfliegenden“, ihre Grenzen übersteigenden Tätigkeit steht also ein Schein, ei-
ne Ähnlichkeit, eine Verwechslung. Sie bringen die Vernunft dazu, im Aufsuchen der Bedingungen
der Wirklichkeit keiner Grenzen zu achten, immer höher aufzusteigen und immer entferntere Bedingun-
gen und Gründe ins Feld zu führen.
Allein dieser Versuch, der eine erste Verlegenheit abstellen soll, bringt sofort eine neue hervor.
Denn die Vernunft hat sich auf eine unendliche Aufgabe eingelassen. Die Fragen nach den Bedin-
gungen, die sie anfangs quälten, hören ja mit dem „triebhaften“ Heranführen von Gründen nicht auf,
sondern entstehen mit jeder Antwort mit gleicher Heftigkeit. Die Vernunft erkennt bald, daß ihr Ge-
schäft jederzeit unvollendet bleiben müsse, weil die Fragen niemals aufhören. Aus dieser neuen Ver-
legenheit sucht sie einen Ausweg. Sie findet ihn darin, daß sie zu neuen Grundsätzen ihre Zuflucht
nimmt, die allen Erfahrungsgebrauch überschreiten. Wird also vorher das Feld der Erfahrung triebhaft
erweitert und seine Grenze immer weiter hinausgeschoben, so wird es jetzt endgültig verlassen.
Was hier geschieht, ist für das Wesen der Vernunft von größter Wichtigkeit. Es wird gesagt: „Die
Vernunft ergreift ihre Zuflucht.“ Sie ist also wohl in ihrer Tätigkeit bedroht. Und nicht nur dies: Sie
selbst ist zwar irgendwie triebhaft gegen diese Bedrohung gerichtet; da aber diese Bedrohung von der
eigenen Unfähigkeit herzuleiten ist, sich das eigene Vermögen und seine Grenzen zu enthüllen, so be-
deutet dies, daß die Vernunft von ihrem eigenen verworrenen Wesen bedroht sei; zugleich aber gibt es
obendrein einen Urtrieb der Vernunft, sich an dieser Verworrenheit zu befriedigen und zu Nichtver-

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nünftigem seine Zuflucht zu nehmen. Wird nun dieser Trieb auch noch als vernunftgemäß und der Ver-
nunft wesentlich bezeichnet, so folgt, daß die Vernunft eine Doppelnatur zu eigen hat, eine innere Un-
einheitlichkeit und Unstimmigkeit, die sich sogar triebmäßig äußert und die verschiedenen Seiten
des Vernunftwesens gegeneinander bewegt. Die Vernunft überschreitet triebhaft ihre Grenzen, weil sie
von einem Schein verleitet wird, sie kommt aber durch die Warnung der verbleibenden Fragwür-
digkeit nicht zu sich selbst zurück, sondern sie weicht ihrer Beunruhigung aus und nimmt Zuflucht bei
Grundsätzen, die der eigentlichen Vernunfttätigkeit nicht mehr angemessen sind.
Aber auch diese Zufluchtnahme geschieht nicht von ungefähr, sondern sieht in der Formulierung Kants
ein wenig nach einem Selbstbetrug aus, den sich die Vernunft triebhaft und notwendig antut. Denn diese
Grundsätze der Vernunft selbst scheinen „so unverdächtig“, daß sogar der gemeine Menschenverstand
damit im Einverständnis steht. Damit sagt Kant auf seine Weise, daß diese Zufluchtnahme wieder ein
Versagen vor der Übermacht des Scheins bedeutet. Die Grundsätze, die sich in der letzten Verlegenheit
des Geistes wie von selbst anbieten, haben das Aussehen echter allgemeiner Seinsgesetze. Sie schei-
nen der Wirklichkeit zuzugehören und uns deshalb auch Wirklichkeit zu enthüllen, nicht anders als die
Grundsätze des unmittelbaren Erfahrungsgebrauchs. Dieser Täuschung verfällt nicht nur die wissen-
schaftlich forschende Vernunft, sondern die Macht der falschen Grundsätze erstreckt sich auf
menschliches Denken überhaupt und verführt es, eine Wirklichkeit jenseits der Grenzen der Er-
fahrung anzunehmen.
Diese Grundsätze sind nach dem Vorausgehenden offenbar so geartet, daß sie die höchsten und letzten
Bedingungen aller Wirklichkeit beistellen und das Fragen der Vernunft befriedigend beantworten.
Allein, auch das ist nur ein Schein. Eine ursprüngliche Neigung des Geistes wird zwar erfüllt, aber
doch nur, sofern er im Wahne einer Selbsttäuschung befangen bleibt. In dieser kann er jedoch nicht
verharren, will er nicht durch die Übermacht des Scheins und kraft der inneren Gewalt seines Triebes
nach Ganzheit und durchgehender Gesetzlichkeit radikal dem Schein und dem Irrtum verfallen. Die
Vernunft wäre dann ein Vermögen der absoluten Seinsverdunkelung, der Verstellung ihrer eigenen
Wirklichkeit und jener der Welt.
Eine solche Möglichkeit ist an sich nicht von der Hand zu weisen. Denn wenn schon der Geist vom
Scheine in einem solchen Ausmaß bedrängt und überwältigt wird, daß sich eine ganze Menschheit an
ihn verliert, so wäre immerhin mit der Möglichkeit zu rechnen, daß dieser Schein unser Schicksal
sei, daß er die einzige Weise sei, wie der endliche Geist seine Welt aufnehmen muß, will er über-
haupt sich auf sein Vermögen zur Erkenntnis einlassen. Aber dann hätten wir schon aus dieser Ver-
fangenheit heraus gar nicht mehr die Möglichkeit, überhaupt von Schein zu sprechen, da uns das
Maß entginge, das den Schein als Schein entlarvte und die Wahrheit zutage kehrte. Wir stünden in
einer „einfachen Wahrheit“ und hätten kein Bewußtsein von ihrer inneren Verkehrtheit.
Schon die Tatsache, daß Kant hier von Schein spricht, ist uns Anzeige dafür, daß die Zuflucht der Ver-
nunft ein vergebliches Beginnen war. Denn nun entsteht eine neue Verlegenheit, nicht mehr so harm-
los wie die vorangehenden, die darin bestanden, daß die soeben beantworteten Fragen irgendwie

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wieder auftauchten, sondern eine grundstürzende Gefährdung der Vernunft. Denn es erhebt sich der
Widerspruch, die sicherste Anzeige, daß den Erkenntnissen keine Wahrheit innewohnen kann, und es
ergeben sich Dunkelheiten, für deren Durchlichtung sich keine neuen Grundsätze anbieten. Dieser
Widerspruch hält zwar die Vernunft zurück, in die oben gekennzeichnete absolute „Täuschung“ zu ver-
fallen, aber es droht nun die Gefahr der Lähmung und Verwirrung bis zum völligen Absinken in
Teilnahmslosigkeit und Skepsis. Denn für die Durchlichtung der sich nun zeigenden Widersinnigkeiten
bieten sich keine neuen Grundsätze mehr an. Die Gedanken beginnen sich gleichsam aneinander zu rei-
ben und unentwirrbar zu verknoten. Zugleich aber ist es der Vernunft unmöglich gemacht, sich von den
Ungereimtheiten zu befreien, nachdem sie sich auf die „überfliegenden“ Grundsätze einließ.
Denn sie spotten dem Einspruch jeder Erfahrung, oder, wie Kant sagt, sie wollen „keinen Probier-
stein der Erfahrung mehr anerkennen“. Darum gibt es nun auch kein Zurück mehr, weil ihre allgemei-
ne Gültigkeit unwiderruflich ist. Dennoch aber zeitigt ihre Anwendung auf die Welt der Erscheinun-
gen den Widerspruch, das heißt, er verleiht zwei oder mehreren sich gegenseitig aufhebenden Sätzen
je für sich selbst den unaufhebbaren Schein, wahr zu sein. Der Geist ist daher zunächst darauf angewie-
sen, die unvereinbaren, sich gegenseitig ausschließenden Seiten gegeneinander auszuspielen und ei-
nen endgültigen Sieg, eine einfache unmittelbare Bereinigung durch die Anerkennung einer Seite
herbeizuführen. Allein, ein solches Unterfangen ist deshalb fruchtlos, weil für beide Seiten die glei-
chen Grundsätze mit gleicher Gewißheit zur Verfügung stehen, so daß, wie Kant sagt, „ein Kampf-
platz endloser Streitigkeiten entsteht“. Dieser Kampfplatz ist die in der Antike ausgebildete, im Mit-
telalter und in der Neuzeit fortentwickelte „Metaphysik“.
Die Entwicklung des Scheins der menschlichen Vernunft endigt also im Unmöglichen, im Widerspruch.
Dieser Widerspruch ist ausgezeichnet durch den Anspruch der beiden entgegengesetzten Glieder, alle
Wahrheit zu besitzen. Jede Seite hat den Schein der Wahrheit bei sich. Aus dem einfachen Schein ist
daher ein doppelter geworden, der die Gefahr zur Skepsis bei sich führt, zugleich aber das Positive
aufzuweisen hat, daß er durch seine Verwirrung das Denken wachhält und verhindert, sich völlig an
Unwirkliches zu verlieren und seine ursprüngliche Kraft. das Sein, zu enthüllen, einzubüßen.
Damit sind wir instand gesetzt, die Wesenszüge der durch den ontologischen Schein bestimmten Ver-
nunft schärfer zu fassen. Zuvor sei jedoch darauf hingewiesen, daß menschliches Erkennen in seiner un-
mittelbaren Tätigkeit von Kant durchaus mit den Mitteln der antiken Skepsis gekennzeichnet wird.
Denn es wird von ihm gesagt, daß es seine Möglichkeit zur Metaphysik dadurch erkauft, daß es, um
nicht weiter fragen zu müssen, unausgewiesene Grundsätze an den Anfang setzt. Gerade dies aber ist
der Inhalt der zweiten Trope der späteren antiken Skepsis, mit welcher sich diese gegen die Philoso-
phie wendet. Es erhellt damit unmittelbar die Berechtigung Hegels, Kants Philosophie als „Skepsis“
zu bestimmen. Sie ist Skepsis, sofern sie die ganze überkommene Metaphysik des sophistischen
Selbstbetruges zeiht.
Aus dem Vorausgehenden läßt sich die Natur des „Scheins“ der menschlichen Vernunft zusammenfas-
send ablesen. Er erweist sich zunächst allgemein als eine Antwort der gegenständlichen Seinsbereiche

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auf einen Trieb der Vernunftnatur, nach der Totalität aller Bedingungen des Seins zu fragen, auf
eine Sehnsucht nach absoluter Ausweitung unseres Erkenntnisbereiches, welcher kein faktisches Ver-
mögen entspricht.
Dieser Trieb kommt zur Befriedigung durch den Schein in den Grundsätzen der unmittelbaren Erfah-
rung, die durch ihre Sicherheit und erwiesene Richtigkeit dazu verführen, die Regeln der Verknüp-
fung aller erfahrbaren Wirklichkeit auf alle Wirklichkeit schlechthin anzuwenden. Es liegt also hier
eine Ähnlichkeit der Gesetzlichkeit und Notwendigkeit der Erfahrung mit der Allgemeinheit transzen-
dentaler Erkenntnis vor, welche der Vernunft zum Verhängnis wird.
Des weiteren gibt es Grundsätze, die ihrerseits den Schein bei sich führen, seinsgesetzlich zu sein oder
der Erfahrung zu entstammen, während sie in Wahrheit bloße Gebilde des Verstandes sind oder
bloße Sätze der Vernunft. Sie können daher nicht beanspruchen, von wirklichen Dingen ausgesagt zu
werden. Der Schein dieser Grundsätze ist im Grunde nur die Umkehrung des Obengenannten. Denn
wenn es Regeln der Erfahrung gibt, die einen Schein ontologischer Allgemeinheit bei sich führen, so
müssen umgekehrt solche ontologisch allgemeinen Grundsätze das Ansehen haben, der Erfahrung zu ent-
stammen oder doch die gleiche ontologische Relevanz und Gültigkeit aufzuweisen wie die
Regeln der Erfahrung. Die Ähnlichkeit beider Bereiche führt notwendig zu einer Unsicherheit über die
Grenzen ihres Gebrauches. Denn die Überschreitung der Grenzen der Erfahrung hat ganz das harmlose
Aussehen einer Fortführung der Erforschung der Bedingungen des Seins am Leitfaden der durch Erfah-
rung gesicherten und erwiesenen Grundsätze. Der erste Schein bedingt also eine Grenzunsicherheit
der Regeln der Erfahrung von ihrer Seite her, während der zweite Schein darin besteht, daß die
Grenzüberschreitung der Vernunft unmittelbar durch bewußte formulierte Grundsätze gerechtfertigt
wird, die ein verdächtiges Abbild echter Grundsätze menschlichen Erkennens darstellen.
Ist diese Grenzüberschreitung aber geschehen, so ergibt sich unmittelbar ein dritter Schein, der zu einer
subjektiven Beruhigung der Vernunft führt. Sie entspringt jenem „Ansehen der Grundsätze“ und der
auf ihnen beruhenden Erkenntnisse, wirklich die Totalität des Seins darzustellen. Es ist der Schein
der absoluten Wahrheit, die mit verführerischer Gewißheit den Trieb der Vernunft befriedigt, so daß
die Vernunft, wenn sie nur auf diese unmittelbare Gewißheit blickte, dem Schein völlig und wi-
derstandslos verfiele. Das Schicksal des endlichen Geistes wäre dann der Irrtum.
Dennoch ist gerade diese Gewißheit die Macht der Auflösung dieser Scheinerkenntnis und die Beunru-
higung der Vernunft. Denn da die Erkenntnis aus endlichen, bestimmten Bedingungen entsprang, so gibt
es notwendig mehrere Urteile, die den gleichen absoluten Anspruch aufweisen und die gleichen Gründe
und Voraussetzungen haben. Sofern sie aber miteinander nicht übereinstimmen, schließen sie sich als
unmöglich aus und überführen sich gegenseitig der Unwahrheit.
Was zunächst zutage tritt, ist der „absolute Widerspruch“, d. h. die absolute, in gleicher Weise gültige
und in sich unerschütterliche Gewißheit zweier sich ausschließender Erkenntnisse über den gleichen
Seinsverhalt. Damit hat sich aber die absolute Gewißheit in sich selbst verkehrt und aufgehoben.
Denn nun tun sich Fragen auf, die gänzlich unbeantwortbar sind, zu deren Auflösung die Vernunft je-

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des Mittels und jeder Grundlage ermangelt. Die höchste Bedingung aller Wirklichkeit erscheint als in
sich selbst fragwürdig, weil sie sich durch verschiedene, sich gegenseitig ausschließende Momente
konstituiert.
Damit hat sich uns enthüllt, in welchem Maße und auf welche Weise die menschliche Vernunft in den
Schein verstrickt ist. Er ist ihr Schicksal. Ihr Verhältnis zum Schein kennzeichnet die geschichtliche Phase
ihrer Reife und Entwicklung. Wenn es diese Übermacht des Scheins gibt, die Kant uns vor Augen
stellt, dann ist unser Erkennen nicht mehr als eine ungebrochene gradlinige Entwicklung einer ur-
sprünglichen Sicht in das Sein zu begreifen, als eine immer fortschreitend sich bereichernde und vertie-
fende Enthüllung der Wahrheit, sondern als eine schicksalhaft tragische Beirrung durch einen we-
senhaften Schein, als die Katastrophe dieser notwendigen Fehlentwicklung und schließlich als die
sprunghafte schmerzvolle Entbindung aus den Fesseln dieses unseligen Verhängnisses. Die Vernunft
erscheint geschichtlich in verschiedenen Phasen, die jeweils absolut voneinander geschieden sind, die
nur durch Brüche, Unterbrechungen, durch dialektische Gegensätzlichkeiten miteinander in Beziehung
stehen.
Darum gibt es, wie Kant selbst im Fortgang entwickelt, ein „Zeitalter des Despotismus der Vernunft“, da
der Mensch hemmungslos dem Schein der Metaphysik verfallen war. Durch die ungehemmte Hingabe
an die vermeintliche Wahrheit mußte dann aber auch das Resultat des Widerspruches mit
leidenschaftlicher Erregung erlebt werden, weil die „Gesetzgebung noch die Spur der alten Barbarei an
sich hatte“, so daß die „Metaphysik durch innere Kriege völlig zu entarten drohte“. Es gibt also
eine Phase der inneren Zerreibung der Philosophie, ein Zeitalter endloser, auswegloser und bodenloser
Kämpfe und Streitigkeiten bis zur völligen Verzweiflung an der Einheit und Wahrheit des Geistes
überhaupt. Diese letzte Phase aber ist der Skeptizismus, eine „Art Nomadentum“, das „allen beständi-
gen Anbau des Bodens verabscheut und von Zeit zu Zeit die bürgerliche Vereinigung zertrennt“. Das
heißt: es handelt sich um eine Haltung, die sich an keine der ontologischen Gesetzlichkeiten mehr
gebunden weiß, die allüberall die Scheinhaftigkeit, das Haltlose, den Widerspruch und die Brüchig-
keit der metaphysischen Wahrheiten aufspürt, die mit entbundener Ironie jede Position der Philo-
sophie gegen die andere ausspielt und damit alle menschlichen Verhältnisse zu verwirren droht. Denn
dieses geistige Geschehen spielt sich nicht nur im Bereiche esoterischer Erkenntnisse ab, sondern be-
stimmt die menschliche (politische und religiöse) Existenz im Ganzen, wodurch ihm ein epochaler, ge-
schichtsbildender Charakter im Sinne der Hegelschen Geistesgeschichte zukommt.
Die Skepsis wird abgelöst durch die Phase des ewigen Neubeginnens der Vernunft, die, der skeptischen
Verwirrung nicht achtend, immer wieder aufs neue versucht, von irgendeiner Seite aus das Ganze der
Bedingungen der Wirklichkeit aufzubauen, wenn es auch jetzt durch den bereits ins Bewußtsein getre-
tenen Widerspruch nicht mehr dazu kommt, gleichsam im naiven Glauben den Bau durchzuführen. Diese
Versuche werden abgelöst durch eine Zurückbesinnung des Menschen auf die Grenzen seines Ver-
mögens, die nach Kant in der neueren Zeit in der englischen Philosophie geschah. Diese Besinnung ist
die Phase der endgültigen metaphysischen Entthronung des metaphysischen Scheins. Weil die Entthro-

66
nung jedoch wieder im Sinne einer echten dialektischen Gegensätzlichkeit zu weit gehen muß „und die
Geburt der vorgegebenen Königin aus dem Pöbel der gemeinen Erfahrung abgeleitet wird“, so erhebt
sich der Dogmatismus des metaphysischen Scheins noch einmal. Denn es ist unmöglich, das Unter-
nehmen der Metaphysik aus mißverstandener Erfahrung abzuleiten. So entsteht eine Situation, die
weder den Mut zur Skepsis noch die Kraft zur Metaphysik besitzt. Es ist ein Augenblick des „Überdrus-
ses und des gänzlichen Indifferentismusses“. Dieser Indifferentismus aber ist für Kant die „Mutter des
Chaos und der Nacht der Wissenschaften“, aber doch auch zugleich der Ursprung, wenigstens „das Vor-
spiel einer nahen Umschaffung und Aufklärung der Wissenschaft, wenn sie durch übel angewandten
Fleiß dunkel, verwirrt und unbrauchbar geworden“.
In diese nur dialektisch verstehbare Phase der menschlichen Vernunft fällt nun das Unternehmen und
die Aufgabe der reinen Vernunft. „Es ist nämlich umsonst, Gleichgültigkeit in Ansehung solcher Nach-
forschungen erkünsteln zu wollen, deren Gegenstand der menschlichen Natur nicht gleichgültig sein
kann“. Deshalb muß Kant diesem Satz folgerichtig hinzufügen, daß diese Gleichgültigkeit auch in
Wahrheit nicht dem Leichtsinn oder der Interesselosigkeit entspringt, sondern im Gegenteil den Aus-
druck der gereiften Urteilskraft des Zeitalters darstellt. Diese Reife wendet sich scheinbar von der
Metaphysik ab, weil sie sich nicht länger mit Scheinwissen hinhalten lassen will und weil sie da-
nach verlangt, nun endlich das beschwerlichste aller Geschäfte auf sich zu nehmen, nämlich die Grenzen
und Möglichkeiten der Vernunft zu untersuchen, wie Kant sagt, einen „Gerichtshof einzusetzen, der die
Vernunft in ihren gerechten Ansprüchen sichere, dagegen alle ihre grundlosen Ansprüche nicht durch
Machtsprüche, sondern nach ihren ewigen unwandelbaren Gesetzen abfertigen könne“. Dieser Gerichts-
hof ist die Kritik der r. V.
Sie stellt den letzten Schritt der Philosophie dar, ihres unseligen Schicksals der notwendigen Verstri-
ckung in den transzendentalen Schein Herr zu werden und sich ein für allemal auf die Insel der Wahr-
heit zurückzuziehen. Diese dialektische Entfaltung des Menschengeistes, die sich in Brüchen und Entge-
gensetzungen vollzieht, zeigt unverkennbar eine innere Verwandtschaft mit dem in antithetischen Phasen
sich entwickelnden absoluten Geist der Hegelschen Systematik. Der Schein bestimmt nicht nur die Ver-
fahrensweise der menschlichen Erkenntnis im einzelnen, sondern stellt eine Macht dar, die der Er-
kenntniskraft der einzelnen Vernunft schlechthin überlegen ist, so daß sie ihr zum beirrenden Schicksal
wird. Die Bewegungen der Erkenntnis, die freilich jeweils von Individuen vollzogen werden, setzen
daher stets eine allgemeine Erkenntnisstufe voraus, sei es die der Skepsis oder jene der dogmatischen
Verwirrung oder nominalistischen Selbstbegrenzung des Denkens, um einen entscheidenden Schritt
in das Reich der Wahrheit zu tun. Die Vernunft ist wie bei Hegel epochale Vernunft, ein all-
gemeiner Geist, der durch Schicksal und Arbeit der Individuen zu seinem Ziele kommt.
Darüber hinaus zeigt die Geschichtlichkeit der Vernunft auf eine grundlegende existentielle Verfassung
der philosophierenden Menschheit. Der Mensch ist durch die Macht des transzendentalen Scheins beirrt,
so daß sich als Grundhaltung der Erkenntnis ergibt, gegen etwas gewendet zu sein. Er steht ir-
gendwie an einer Grenze, an der er durch den übermächtigen Schein der Dinge, der allgemeinen

67
Seins- und Vernunftgesetzlichkeit und sein inneres Erkenntnisverlangen fortgesetzt bedrängt wird.
„Sich erhalten gegen die Übermacht des Seienden“, diese eigenartige Formulierung Martin Hei-
deggers über das Wesen der Philosophie gewinnt hier von Kant her ihr eigentliches Gesicht. Das
„Seiende“ steht damit immer schon in seinem Schein, es stellt nicht nur die unbestimmte, wahllose,
aufdringliche Fülle der Dinge und des Sichbegebenden dar, sondern meint auch immer den Schein von
Universalität und Totalität, in welchem der Existierende als Erkennender ja immer schon befangen
ist. Im Grunde ist es der Inbegriff der ganzen geistigen Tradition, „Weltwissen“ und „Weltanschauung“
und die sich aus der Beirrung durch den allgemeinen Schein ereignende Geschichte, welche den ur-
sprünglichen Erkenntnisbereich überwuchern und verdecken. Philosophieren bedeutet daher immer
soviel, wie Boden und Bereich der echten selbsteigenen Möglichkeit und damit die spezifische Schärfe
und Verbindlichkeit der wesenhaften Verfahrensweise zu gewinnen und zu sichern. Der Mensch hat
seine Freiheit nur, indem er sich einer allgemeinen Befangenheit und Gefangenschaft jeweils neu ent-
reißt. Hier wie an so vielen Stellen erweist sich in der Tat Heideggers Philosophie der Endlichkeit
von der Position Kants entscheidend bestimmt. Eine vom Ergebnis der Philosophie her gedeutete ge-
schichtliche Situation der Erkenntnis enthüllt rückblickend die tragisch oder unheimlich bedrohte, aus
der eigenen Wesensmitte her beirrte Grundverfassung des Menschen. Seiner Erkenntnis ist das
„Unwesen der Wahrheit“ näher und in gewisser Weise ursprünglicher als das aus der allgemeinen
Verdecktheit mit höchster Anspannung hervorgekehrte und enthüllte Wesen.
Es gilt freilich, den Unterschied zwischen Kant und Heidegger zu sehen. Bei Kant bedeutet der
Schein trotz seiner unabsehbaren Übermacht doch irgendwie eine dialektische Phase, über die es ein
endgültiges Hinausschreiten gibt. Der „Ozean des Scheins“ wird zwar nicht von sicher gezogenen U-
fern eingefaßt; weil er aber als grenzenlos erkannt wird, wird die Überfahrt nicht mehr gewagt. Die
Vernunft bescheidet sich endgültig bei dem sicheren Besitz der „Erfahrung“. Die Scheinansicht der
Welt wird als leere Dekoration der Dinge oder als Vernunftsgespinst nicht mehr ernst genommen. Bei
Heidegger hingegen wird die Grenze konstitutiv für das Selbstverständnis des Daseins, das sich auf
keinen gesicherten Bezirk der reinen Erfahrung zurückziehen kann. Die Frage nach dem Sein
enthüllt vielmehr die Grenze als Wesensbestimmung des Daseins, das sich des Wesens nur versi-
chern kann, wenn es sich des Scheines und der Uneigentlichkeit erwehrt. Wer sich nicht in wa-
cher Abgrenzung gegen das Uneigentliche hält, ist schon dem Schein und dem Unwesen verfallen.
Auch bei Kant tritt freilich diese Seite zutage, sofern bei ihm von einem Grundtrieb der mensch-
lichen Vernunft gesprochen wird, die Erfahrung zu „überfliegen“. Auch eine Kritik der Grenzen des
Verstandesgebrauches ist daher dem Schicksal nicht entwachsen, angesichts des bezaubernden Scheins
absoluter Erkenntnis nicht ernst genommen und immer neu umkämpft zu werden. Sie muß daher allezeit
neu errungen werden.

68
DIE TRANSZENDENTALE SELBIGKEIT UND VERSCHIEDENHEIT
DES ENS UND DES VERUM BEI THOMAS VON AQUIN

Die Abhandlungen über das Sein, das Wahre und das Gute in den Quaestiones de Veritate gehören
mit Recht zu den bewunderungswürdigsten Lehrstücken des Aquinaten. Thomas hat im wesentlichen
die dort erarbeiteten Lösungen in die Summa theologica übernommen. Die scholastische Entwick-
lung freilich hat den spekulativen Auftrag, der in der Weite und Tiefe dieses Denkens lag, nicht
mehr verspürt. Sie hat es zu einem „ontologischen Begriffsgefüge“ nivelliert und die unabsehbare
Problematik dieses Ansatzes aus dem Blick verloren.
Unsere Aufgabe soll sein, unter dem Gesichtspunkt der Einheit und Konvertibilität der Transzendenta-
lien die Frage zu erörtern, welchen Charakter und welche Bedeutung die Differenzen haben, die Tho-
mas im Hinblick auf die Transzendentalien herausarbeitet. An diesen Differenzen ist nicht nur die ge-
schichtliche Eröffnung, die Grenze und Gefahr metaphysischen Denkens und Sagens, sondern mehr noch
das tastende Vorlaufen und die Potentialität abzulesen, die dem Denken des Aquinaten eignen; man
kann es nicht härter mißverstehen, als wenn man es zu einem perfektionierten „Lehrsystem“ ernied-
rigt, statt seine denkerische Offenheit und Bewegtheit aus dem Denken des Seins als Sein zu enthüllen
und in ihr weiter zu denken.

1.

Die Erörterung bei Thomas steht, da es um eine unterscheidende Klärung und Verdeutlichung geht,
unter einem gewissen Vorrang des Unterschiedes des Seins, des Wahren und des Guten. Das Wahre
wie das Gute fügt etwas zum Sein hinzu und unterscheidet sich durch eine solche Hinzufügung. Der Sa-
che nach aber ist das Wahre wie das Gute selbig mit dem Sein; so daß gesagt werden kann, daß das,
was ist, als ein Seiendes auch wahr und gut sei. Der Unterschied aber waltet in der Dimension, wie das
Sein (ens) sich zu anderem verhält, und zwar im Falle des verum in der Weise der Übereinkunft (con-
venientia). Eine solche Übereinkunft setzt nun voraus, daß sie der Universalität des Seins als Sein ge-
mäß sei. Aus dieser Forderung ergibt sich die aristotelische Definition der Seele als des „Anderen“ o-
der als des Terminus der Übereinkunft mit dem Seienden, gemäß der sie „in gewisser Weise alles
ist“ (III. de Anima).
Gemäß dieser Übereinkunft gibt es keinen Unterschied in der Sache selbst, sofern jedes Seiende wahr,
d. h., von Gott erkannt und für den Menschen erkennbar ist. Wohl aber gibt es einen Unterschied im
Hinblick auf die Offenbarkeit für uns, sofern „es nicht notwendig ist, daß derjenige, der das Sein

69
erkennt, auch das Wahrsein des Seins auffaßt“.1 Ob diese Unterscheidung dem Sein als Sein gegen-
über aufrechterhalten werden kann, ist eine Frage von Gewicht: inwieweit nämlich die Erkenntnis
des Seins ohne (reflexive) Erfassung der Angleichung oder Übereinkunft des Denkenden und des
Seins möglich ist. Da die wahre Erkenntnis nicht in der unmittelbaren Hinnahme (apprehensio) der
Wesenserscheinungen geschieht, sondern stets durch die Tätigkeit der „teilenden und einigenden Ver-
nunft“ vermittelt ist und sich nur im Urteil ereignet, so ist es angesichts der notwendigen „Praesenz
der Akte in der erkennenden Seele“2 unmöglich, daß die ratio der „Angleichung“, d. h. der
Wahrheit nicht irgendwie miterkannt ist. Die Unterscheidung der rationes des Seins und des Wah-
ren läge dann in einer späteren ausdrücklichen definitorischen oder quidditativen Hervorhebung der
Verschiedenheit. Also wären die für sich bestehenden „Hinsichten“ in gewisser Weise spätere Abs-
traktionen, die dem ursprünglichen Einen und Ganzen der „Lichtung des Seins in der Wahrheit“
nicht gemäß wären. Diese Hervor- und Heraushebung ist freilich keine Verfälschung; aber sie ge-
fährdet den metaphysischen Seinsentwurf, wenn man die Unterscheidung im Bereich der selbigen
Transzendentalien „begrifflich“ oder gar „vorstellungsgemäß“ akzentuiert. Denn dem Begrifflichen
eignet eine gattunghafte oder artliche Verschiedenheit, während unsere Vorstellungen überdies durch
Unterschiede qualitativer und individueller Prägung bestimmt sind. Hält sich der Denkende an die
verdeutlichende Schärfe solcher Unterschiede, so wird die einige transzendentale Dimension des Seins
im Modus einer quidditativen Apprehensio zugunsten ihrer besonderen Bezüge aufgelöst, was eine
verdeutlichende „Lehre“ erleichtert. Solche „Lehre“ aber führt die Gefahr einer rein begrifflichen
Verfestigung und Abtrennung bei sich, die die geschichtliche Lehrüberlieferung der Metaphysik von
vornherein belasten und beirren wird. Am Ende kommt es dann zu einem isolierten Lehrstück über den
„Seinsbegriff“. Die damit umschriebene Aufgabe fordert, die spekulative „Auffassung“ der Verschie-
denheit des Seins und des Wahren in der ursprünglichen Einheit beider zu halten, die im intuitiven
Denken der Prinzipien waltet, und die Möglichkeit und Tragweite einer besondernden „Absehung“
metaphysisch, d. h. vom Sein als Sein her zu erhellen.

2.

Diese Scheidung der rationes hat eine weitere Frage von höchstem Gewicht geradezu erstickt oder ver-
flacht. Das Sein ist dadurch wahr, daß es von Gott gedacht ist und vom Menschen gedacht werden kann.
Nimmt man diesen Satz mit dem Unterschied der rationes des ens und verum zusammen, bedenkt man
des weiteren, daß dem minus ens ein minus verum3 entspricht, so eröffnet sich die Möglichkeit, das An-
sich-sein der Naturdinge aus dem Wahrheitsbezug herauszulösen. Sie sind ontologisch wahr, weil sie
von Gott gedacht sind, während das Erkanntwerden durch die Menschen nur eine Möglichkeit darstellt,

1
V. 1. 1. 3. (De Veritate).
2
V. 10. 8. et 10. 9. 6.
3
V. 1. 1. 5.

70
die vom Menschen her gestiftet ist und das Sein der Dinge nicht angeht. Zwar ist „die Beziehung der
Wissenschaft zum Wißbaren etwas in der Natur der Sachen, nicht aber die Beziehung des Wißbaren
zur Wissenschaft“, die „nur ratione“4 ist; d. h., sie ist „nicht in der Natur der Dinge“. Dennoch sagt
Thomas auch, daß „eine Sache wahr sei, sofern sie geeignet ist, über sich eine wahre vorstellende Erfas-
sung (aestimatio) zu bilden (formare)“; daß ferner „die Sache, die außerhalb der Seele ist, die Ver-
nunft bewegt“.5 Demnach scheint es nicht möglich, diese von der Sache ausgehende Bewegung als „nur im
Verstande“ seiend zu kennzeichnen.
Wird die Sache aber zum „in sich seienden Ding“ oder zur „Substanz“, die von ihr her keine reale Be-
ziehung zum Wissen hat, so scheint die Selbigkeit der Transzendentalien nur dadurch gewahrt, dass
das Seiende dem göttlichen Intellekt angeglichen ist. Im endlichen Bereich aber wird die Relation
„zufällig“, wodurch das Sein in der Substantialität der Dinge als In-sich-sein und An-sich-sein
auf die Seite tritt und gegenüber dem verum ein Übergewicht erhält. Die Konvertibilität ist für den end-
lichen Bereich aufgehoben oder doch wesenhaft eingeschränkt, sofern eine wirkliche Sache zwar not-
wendig subsistiert, aber nur „per accidens“ wahr ist. Es scheint daher möglich, eine Ontologie als
besondere Wissenschaft aufzubauen, der so etwas wie eine „Erkenntnistheorie“ nicht nur neben-,
sondern sogar vorgeordnet wird, da die Wahrheitsrelation ja von der menschlichen Vernunft gestif-
tet wird und in ihr terminiert.
Diese Entwicklung der Scholastik wurzelt in dieser Unterscheidung im transzendentalen Bereich, die die
ermöglichende Selbigkeit und Einheit aus dem Blick rückte und sich mit ihrer Rettung durch die Wahr-
heit des göttlichen Denkens Genüge sein ließ. Hält man aber die Selbigkeit des ens und des verum
gemäß ihrer ursprünglichen Offenbarkeit im Denken des Seins des Seienden im Blick, so ist es un-
möglich, das Insichsein der Dinge ohne das immer mitwaltende Wahrsein zu denken. Dann aber wäre
das Sein wesenhaft „Offenbarkeit für den Geist“. Wenn das aber der Fall ist, dann ist auch notwendig
die „Beziehung zur Wahrheit der Wissenschaft“ real auf seiten der Dinge. Sofern sie sind, sind sie
durch ihr Sein Maß und Ermöglichung ihrer Erkenntnis. Das aber bedeutet den selbstverständlichen
metaphysischen Verhalt, daß den Weisen des Seins sich das entsprechende Wahrsein vom Seinssinn
her notwendig zuordnet.
Dies erhellt durch eine metaphysische Bestimmung der Arten des Seins. Entweder ist das Sein durch das
Sein, durch die Form oder durch die Materie in seiner Subsistenz ermöglicht. Im ersten Falle ist es
die erste Wahrheit selbst, im zweiten ist es die Wahrheit einer sich selbst erfassenden Intelligenz. Im
dritten aber ist es mit innerer Notwendigkeit eine in der Materie sich entäußernde und sich im An-
dern seiner selbst her- und darstellende, d. h. eine erscheinende Substanz. Das absolute An-sich-sein
von endlichen (nicht intelligenten) Substanzen ist dem transzendentalen Seinssinn und seiner Selbig-
keit mit der Wahrheit zuwider. Ihre Subsistenz in der Materie besagt vielmehr, daß sie durch ihre
Materialität zur „Erscheinung“ kommen. Sofern sie also in der Materie subsistieren, sind sie erschei-
nende, sich selbst darstellende Wesen. Ihre „Erkennbarkeit“ ist keine passive Bestimmung, die ih-

4
V. 1. 5.
5
V. 1. 2.

71
nen durch den Erkennenden angetan wird, sondern sie sind „erkennbar“, weil sie aus dem aktuieren-
den Grunde ihres Seins her hervorgehen und scheinend erscheinen. Sie sind wesenhaft durch „Anwe-
senheit“ und Offenbarkeit das, was sie sind. Die Lehre Heideggers, daß das Seiende durch sein Sein
anwest und offenbar ist, erweist sich somit als eine spekulative Rückgewinnung der Transzendentalität
des Seins.
Damit aber erhält die „Zufälligkeit“ der endlichen Wahrheitsrelation und ihr „Sein im Verstande“ ei-
nen anderen Charakter, sofern sie in der zeitlichen Zufälligkeit des Erkennens, nicht aber im Sein
der Dinge fundiert. Die endliche Erkenntnis verändert das Ding nicht im Modus einer Tätigkeit,
noch bringt sie etwas an die Dinge heran - nicht deshalb, weil sie das Ding nicht angeht, sondern
weil der fundierende Akt von seiten des Dinges durch die Erscheinung des Dinges in der Welt immer
schon geschehen ist, da er zum materiellen Sein wesenhaft gehört. Er geschieht daher nicht mehr, wie
der intellektuelle Erkenntnisakt sich ereignet, weil er immer schon geschah und das Seiende selbst in
seinem Ansichsein mitkonstituiert. Also wird im Erkennen das Ding nicht angetastet oder verändert,
was nur durch das metaphysisch aufgelichtete Wesen des Erscheinens begreiflich ist. Das „Nur im Ver-
stande“ bedeutet daher keine Einschränkung gegenüber dem Ding, so als ginge es das Ding nichts an.
Wäre das substantielle Ding als eine Weise des Seins „nur an sich“, so wäre das dem Wesen der In-
telligibilität des Seins zuwider. Da es „am Sein“ teilhat, so ist das Seiende nur insoweit „bei sich
selbst“, als es sich zugleich als Sein auflichtet, was in der wesenhaften Erscheinung des Dinges
sich ereignet und allein durch die Vernunft zur Vollendung kommt.
Dieser Verhalt verdeutlicht sich vom Wesen des Seins her. Ist das Sein ursprünglich und eigentlich
„subsistierende Wirklichkeit“, bedeutet aber „Subsistieren“ soviel wie „Zu-sich-zurückgehen“,6 so
kann Seiendes, das „vom Akt des Seins her seine Benennung hat“, in der materiell vereinzelten Sub-
stanz metaphysisch nur im Hinblick auf die Form, nicht aber auf den Akt des Seins terminieren. Es er-
öffnet sich daher vom Seinssinn her notwendig auf eine Auflichtung hin, in welcher es in seiner Konsti-
tuierung aus dem Sein her auch zur „Rückkehr“ zu sich selbst kommt, was allein in der wahren Er-
kenntnis sich ereignet.
Deshalb ist auch das Erkenntnislicht des „tätigen Verstandes“ keine apriorische Ausstattung des Sub-
jektes, sondern eine Eröffnung des alles Wirkliche konstituierenden Seins, das als Sein des Seienden
von den Dingen her lichtet. Also ist der Geist lichtend in diesen Grund verfügt. Das Sein ist es, das
sich anzeigt, und zwar in einer Erhellung, die das eigene Erscheinen hinter sich läßt. Durch dieses
Verfügtsein vernimmt der Geist erkennend in gewisser Weise in einem bis zum Grund hin durchlichte-
ten „Erscheinungsraum des Seins“, in welchem am Ursprung die Differenz zwischen Grund und Entäu-
ßerung, zwischen Wesen und Erscheinen im Einigen des Seins getilgt ist. Deshalb ist das Erkennt-
nislicht eine Teilnahme an der Veritas prima et creatrix und dadurch nicht neben dem Sein und den
Seienden.

6
S. Th. 1. 14. 2. 1.

72
Solchermaßen aber ist der die Transzendentalien denkende Geist an einem Ort, der seine Notwendig-
keit (über alle Zufälligkeit und Kontingent hinaus) im Ganzen des Seins des Seienden mitenthüllt,
wofern eben das Sein spekulativ gedacht wird. Wird es aber in seiner Aktualität gedacht, der nichts
hinzugefügt werden kann, so sind auch alle Dinge bereits immer mit in die Wahrheit gestellt, sofern
sie allesamt nichts sind als Entfaltungen und Weisen des Seins. In der Dimension der spekulativ ver-
standenen Transzendentalien wird somit die Differenz von Idealismus und Realismus gegenstands-
los, sofern sich die Anliegen beider Lehren erfüllen.7
Daher sind alle Dinge wesenhaft „erscheinende Natur“ und durch ihr Sein „Seiende für den Geist“. Ihr
Seinswesen ist mit ihrer Substanz zugleich ihre Anwesenheit in der „Lichtung der Wahrheit“. Die
„Zufälligkeit“ der vereinzelten Sacherkenntnis ist von der transzendentalen Einheit des Wahrseins
umschlossen und durch sie in ihrem Vollzug ermöglicht. Sofern das Ding vom Sein her aktuiert und
benannt ist, ist es erstens notwendig als materielle Natur im Ganzen der Welt erschienen und ins „Of-
fene“ eines möglichen sinnlichen Empfängnisraumes heraufgegangen und zweitens im transzendenta-
len Akt der Seinserkenntnis mit aufgelichtet. Sofern der Geist im Denken des Seins (das alle Diffe-
renzen einschließt und als Akt Nichtsein und Potentialität ausschließt) an der „ersten Wahrheit“ par-
tizipiert, sind alle erscheinend anwesenden Dinge ins Wahrsein oder in die „Lichtung des Seins“
gerückt. Sie sind alle schon inchoativ und real miterkannt, soweit sie selbst aus dem Sein entsprangen
und als Seiende im Sein nicht nur ihren Wesensort (in der Dimension der Verendlichung des Seins),
sondern auch vom Sein her ihre transzendentale oder analoge Prägung haben. Also wird die „Wahr-
heitsrelation“ auch im endlichen Bereich nicht durch Erkenntnisakte erst gestiftet. Diese sind viel-
mehr durch das Wahrsein ermöglicht und vollziehen sich in ihm. Alles Erkennen ist auch im menschli-
chen und endlichen Bereich „eine Wirkung der Wahrheit“8, nicht nur weil die Dinge zuvor von Gott
erkannt sind, sondern weil Wahrheit immer schon „ist“ und waltet, wenn einzelne Erkenntnisakte sich
vollziehen.
Es ist kein Zweifel, daß die nicht weitergedachte Differenz im transzendentalen Bereich und
ihr überbetonter Vorrang vor der nicht durchgehaltenen Selbigkeit einen Substanzrealismus
heraufführten, der auf der anderen Seite die logische „Subjektivität des Erkennenden“ so
akzentuierte, daß der Weg in den Idealismus einerseits wie in den geistlosen Empirismus an-
dererseits nahegelegt, wenn nicht unvermeidlich wurde.

7
Vgl.:“Identitätssystem“ 2. Auflage S. 189/92
8
V. 1. 1.; vgl. zu diesem Abschnitt: „Wort und Bild“ vom Verfasser

73
3.

Nicht minder bedrängend ist die liegengelassene Frage nach der Differenz überhaupt. Wenn sich näm-
lich das Sein selbst im Unterschied von Sein, Sache, Einheit, Etwas (aliud quid) usw. darstellt, so ist
die Differenz selbst eine transzendentale Bestimmung, wie Thomas ausdrücklich lehrt. Wie aber ge-
hört sie zum Sein des Seienden? Wie kommt Thomas dazu, beim Wahren eine „relative Hinzufü-
gung“ zum Sein zu lehren, so daß mit dem Wort „Sein“ etwas anderes ausgedrückt wird als mit
dem Wort „wahr“, ohne daß hier eine reine „nugatio“, eine Vernebelung derselben Sache durch
verschiedene Aussageweisen vorliegt.9 Das Sein als Sein ist doch in keinem Betracht ein genus und
verträgt daher keine artende Differenz. Andererseits „gibt es nichts, was dem Sein äußerlich wäre, es
sei denn das Nichtsein“.10 Wie kann es aber dann so etwas wie eine „Ordnung der Übereinkunft“ ge-
ben, die nicht durch und durch „Sein“ ist, so daß das verum doch nur eine Verdeutlichung des Seins und
keine Hinzufügung bedeuten kann?
Thomas hat diese Frage nicht gestellt, eben wohl deshalb, weil er sich primär in der endlichen Diffe-
renz der Problementfaltung hielt, die bei Aristoteles durch die Gegenüberstellung der Formen und des
Nous vorgezeichnet war. In der großartigen Herausarbeitung des transzendentalen Seinshorizontes
durch Thomas aber bekommt diese Frage ein entscheidendes Gewicht. Was ist das Wesen der Vernunft,
von der gesagt wird, daß sie einmal „alles machen“ und „zugleich alles werden“ kann, wenn sie eine
Hinzufügung zum Sein konstituiert, und zwar dergestalt, daß die Differenz zugleich nichts zum Sein
„der Sache nach hinzufügt“? Was also ist eine „Hinzufügung“, die zugleich „nichts ist im Hinblick auf
das Sein selbst“?
Es ist kein Zweifel: Sofern die Vernunft ein „Seiendes“ ist, rückt sie in die Reihe der entia und des ens
und wird wie diese erkannt, so daß in dieser Hinsicht von einer Hinzufügung nicht die Rede sein
kann. Wird sie aber als ein Seiendes dem Sein entgegengesetzt, so wird das „Sein“ in die Dimensi-
on der endlichen Gegenübersetzung verwiesen. Diese Entgegensetzung ist dann durch endliche
Modi des Seins ermöglicht. Die Vernunft erhält die Seinsart der erkennenden Subjektivität, der
res cogitans oder des „Bewußtseins“ und das von ihr Erkannte die Seinsart der endlichen, gegenü-
berliegenden Objektivität. Damit aber beginnt die Dialektik der Vergegenständigung des Seins,
der im gleichen Maße eine Subjektivierung und Verbegrifflichung des Denkens entspricht. Da die
Verschiedenheit der Seinsarten vom Ausgang her die Fragestellung beherrscht, bekommt der Ge-
sichtspunkt der „Übereinkunft“ einen durch und durch aporetischen Charakter. Wie soll das in seiner
Seinsart Verschiedene überhaupt zur Einheit, ja zur Selbigkeit des Wahrheits-Seins-verhältnisses
gelangen können? Da die Differenz von Subjekt und Objekt das Denken gefangenhält, so wird die
Einheit und Selbigkeit des Seins durch die vorwaltende Differenz oder die verschiedene Ausprägung
des Seienden aufgelöst und die metaphysische Lösung verbaut. Sie drängt mit Notwendigkeit dahin,
in der Seinsart des Erkennens den Grund der Möglichkeit objektiver Erkenntnis zu suchen und die

9
V. 1. 1. (7) 1.
10
Pot. 7. 2. 9.

74
Frage nach einer Seinsweise (des Subjektes) der nach dem Sein vorzuordnen. Sofern in einer solchen
Differenz sich Erkenntnis primär als Tätigkeit des Subjektes erweist, so liegt alles an der apriori-
schen Ausstattung des Subjektes, wie sich objektive Erkenntnis ermöglichen lasse. Das „Denken
als Denken“ muß die „logischen“ Prinzipien beistellen, die eine Erfassung der gegenständlichen
Dinge verbürgen. Sofern diese „Dinge“ aber zunächst noch als an sich selbst seiende Substanzen ge-
dacht werden, ist die „Übereinkunft“ nur durch Gottes Wirken möglich, der als der Einheitsgrund der
mannigfaltigen Wirklichkeit hervortritt. Eine solche Wahrheitsfundierung setzt aber voraus, daß die
Subjekt-vernunft aus „reinen Begriffen“ Gottes Dasein und Wesen erschließt und ihn als schöpferi-
schen, alle endliche Wahrheit und Wirklichkeit fundierenden und ermöglichenden Grund enthüllt.
Ist die Vernunft aber apriorisch mit solchem Vermögen ausgestattet, das heißt, ist sie das apriorisch
ermächtigte „Vermögen der Prinzipien oder der Ideen“, dann ist ihre Tätigkeit allein der Grund der
Wahrheit aller Erkenntnis. Sofern aber diese Wahrheit das Sein der Dinge enthüllt, so kann neben
ihr kein Ansichsein bestehenbleiben; also bedeutet Wahrheit immer soviel wie „denkende Ermöglichung
und Erzeugung der Objektivität der zu erkennenden Dinge“.
Wird aber daran festgehalten, daß das Subjekt keinen sachlichen Gehalt der sich durch die Sinne
gebenden Dinge aus sich selbst erzeugen kann, so wird Wahrheit mit der unmittelbaren Erscheinung
der unendlich verschiedenen Dinge identisch. Dann wird notwendig alles, was die Vernunft aus ihrer
modalen Seinsart erzeugt, d. h. jeder allgemeine Begriff und jeder verbindliche Satz (Gesetz) zu ei-
nem „nur Subjektiven“, das für die Erkenntnis des Seienden belanglos bleibt. Nur die „empirische“
Erfahrung und die Ähnlichkeit oder Gleichheit der „Fälle“ verbürgt eine mehr oder minder große
Wahrscheinlichkeit des Erkennens, das durch und durch auf den Bereich der sinnlichen Erscheinung ein-
geschränkt ist und das Ansichsein der Dinge nicht erreicht.
Die dritte Möglichkeit ist die Verbindung apriorischer oder logischer Entwürfe, Kategorien oder Geset-
ze, mit den Erscheinungen der sinnlichen Empfängnis, so daß sich die „Gegenständlichkeit oder Objek-
tivität der Erkenntnis“ als eine konstituierende Zu- und Einordnung des Besonderen unter allgemeine
Kategorien und Gesetze erweist. Eine solche Einigung drängt jedoch notwendig zur Aufhebung der ur-
sprünglichen Verschiedenheit, entweder wie bei Kant durch eine Apriorität der Erscheinungsmodi oder
aber durch die Auflösung der apriorischen Regeln zugunsten induktiver (wahrscheinlicher) Allge-
meinheiten wie im Positivismus.
Viertens bietet sich die Möglichkeit, die innere Neigung des denkenden Subjektes zur Erkenntnis als
„unendliches Streben“ zu verabsolutieren und „Wahrheit“ als unendlichen Prozeß der Annäherung zu
begreifen, wobei die „Sache selbst“, die angestrebt wird, in ihrer Objektivität durch die „Unend-
lichkeit“ des Strebens selbst verbürgt wird. Diese Lehre Maréchals ist der letzte Versuch, inner-
halb der reinen Essenzen- und rationalen Begriffsphilosophie der Suarezischen Scholastik die Dimen-
sion des Seins zu eröffnen. Sie ist trotz ihres spekulativen Tiefsinns unthomistisch, was ich bereits im
„Thomismus als Identitätssystem“ darlegte.11

11
Vgl. „Das Schicksal der Metaphysik“, S. 248/51

75
Alle diese Möglichkeiten mit ihren unlösbaren Aporien entspringen aus der liegengelassenen Frage
nach dem Wesen der „Wahrheitsrelation“. Wenn die Vernunft eine relationale Hinzufügung zum
Sein ermöglichen soll, ohne die unauflösbare Identität des ens und verum anzutasten, wenn des
weiteren das Sein nichts außer sich hat als das Nichtsein, so kann die hier in Frage stehende Rela-
tion des Seins auf den Geist nicht durch die „Seinsart“ der Vernunft näher bestimmt werden, ohne in die
obengenannten Ungereimtheiten der modernen Philosophie aller Spielarten zu verfallen. Das Wesen
der Vernunft als des Terminus der Wahrheitsübereinkunft kann daher nur in der Negation jeder Art
und Artung von Sein bestehen. Was aber bedeutet dies metaphysisch? Da das Sein nichts außer sich hat
als das Nichtsein, so ergibt sich mit zwingender Notwendigkeit, daß die Vernunft nur insoweit neben
das Sein treten kann, als sie durch „Nichtsein“ bestimmt ist.
Das „Nichtsein“ ist nun in die Dimension des Seins als „erste Materie“ bestimmt. Diese Materialität
ist der Grund der Möglichkeit der substantialen und akzidentellen Veränderung oder des Werdens
in der Natur. Was hier jedoch zum Werden kommt, ist die endliche Form, die dadurch bestimmt ist,
daß sie nicht in sich selbst subsistiert. Diese Form aber ist eine bestimmte (endliche) Seinsart, die al-
lein imstande ist, das Nichtsein der Materie zu aktualisieren. Daraus aber geht hervor, daß das
Nichtsein der Materie keine Potenz oder Möglichkeit gegenüber dem Sein als Sein, sondern nur
gegenüber endlichen Formen besitzt. Zugleich ergibt sich, daß das Nichtsein der Materie vom Sein
her gar nicht absolut ausgeschlossen ist, sondern seine letzte und äußerste modale Entfaltung in der Di-
mension der Ermöglichung des Seienden bedeutet.
Dann aber ist das vom Sein metaphysisch ausgeschlossene Nichtsein, das im menschlichen Denken und
Bestimmen des Seins als Sein waltet, von Grund aus anderen Charakters. Es ist nicht die äußerste Potenz
der Subsistenz des Seins, sondern es west notwendig jenseits der endlichen Seinsgründung überhaupt.
Also ist das Nichtsein des Geistes oder die Potentialität der empfänglichen Vernunft „seinsloser“ als das
„Nichtsein der Materie“, es stellt das Äußerste dar, das dem Sein als Sein gegenübergestellt wer-
den kann, nämlich das „Nichts schlechthin“.
Der Sachverhalt, daß das Nichtsein nicht im subsistierenden oder akzidentellen Sein seine Wurzel haben
kann, ist von Thomas immer wieder ausgesprochen worden. Das Seiende ist in jeder seiner Arten pri-
mär und eigentlich reine Positivität, die als solche keinerlei Beziehung zum Nichtsein einschließt und
sichtbar macht. Sofern aber „Nichtiges“ als „Beraubung“ oder als „einfache Negation“ (d. h. als An-
dersheit oder Minderung) in den Dingen angetroffen wird, hat es durch sich selbst keine Kraft, „sich
die Vernunft anzugleichen“.12 Seiendes kann sich nur in seiner Einheit und Positivität bekunden, die,
wie Thomas lehrt, in der Spezies oder Form der Dinge gründet.13 Also kann es im Hinblick auf seine
Nichtigkeit „keine Erkenntnis in unserer Vernunft erwirken“.14 „Daher hat es dies, daß es irgend-
einem Intellekt angeglichen werde, nicht aus sich selbst als einem Nichtseienden, sondern aus dem In-

12
V. 1. 5. 2.
13
Ebd.
14
Ebd.

76
tellekt selbst (ex ipso intellectu), der die ratio des Nichtseienden in sich selbst empfängt“.15 Das
Nichtsein in den Dingen hat daher keine ontologische Wahrheit, weil es weder der göttlichen noch der
menschlichen Vernunft entspricht, im genauen Verstande dieses Wortes. Es kann sich nicht aussprechen
und die Vernunft bewegen und ihr deshalb auch nicht von sich her entsprechen. „Was also an „Nichtsein“
einer Sache zugesprochen wird, „das wird ihr von seiten der Vernunft zugeteilt“ (attribuitur ex par-
te intellectus).“16 An vielen Stellen aber lehrt Thomas, daß die Vernunft das „Nichtsein“ in sich selbst
bildet (fingit, format, facit).17
Diese unerhörte Lehre ist in der oben gekennzeichneten Versachlichung der Wahrheitsrelation als
einer Beziehung zwischen verschiedenen Seienden völlig aus dem Blick gerückt. Auch Thomas hat
nirgend den Versuch gemacht, diese seine Aussagen in systematischer Durchdringung zu einigen und sie
für die Erhellung der transzendentalen Selbigkeit des Seins und der Wahrheit zu nutzen. Wenn ir-
gendwo, dann zeigt sich hier das Potentielle seines spekulativen Denkens. Da er aber zugleich lehrt,
daß ein Irrtum oder eine Dunkelheit in der Dimension der Transzendentalien oder der Prinzi-
pien den ganzen philosophischen Entwurf bestimmt, so enthüllt sich uns hier zugleich eine der
Wurzeln des Schicksals der modernen Metaphysik, die wesenhaft durch die Vergessenheit
und Verdunkelung des Seins als Sein und durch das Ausweichen ins Seiende oder in die begriffliche
Subjektivität bestimmt ist, ein Schicksal, das durch die Wesensphilosopheme des Scotus und des Suarez
in Gang gekommen ist.
Hält man aber die thomistischen Lehren im Blick, dann bietet sich die Möglichkeit einer lichtvollen
Durchdringung der Seinsmetaphysik. Die Potentialität oder Möglichkeit der empfänglichen Vernunft ist
früher und ursprünglicher als die Potentialität der ersten Materie: Also bedeutet sie die letzte Opposi-
tion zum Sein als Sein, die nur noch mit dem „reinen Nichts“ oder dem absoluten Nichtsein umschrieben
werden kann. Durch dieses „Nichtsein“ aber ist die Vernunft allem endlichen Seienden vorweg, so daß
sie in ihrer „Teilhabe an der ersten Wahrheit“ ursprünglich dort wurzelt, wo das Sein selbst durch Got-
tes Macht aus dem Nichtsein entspringt. Daraus folgt, daß der Geist nicht durch die Positivität des
Seins und des Seienden bestimmt ist, sondern in seiner Empfänglichkeit den Abgrund der Nichtigkeit
und des Nichtseins umfaßt, der allem Seienden transzendent ist und doch in seiner Nichtigkeit von ihm
ausgeschlossen ist.
Indem der Geist diese Tiefe von Nichtigkeit in sich birgt, steht er gegenüber jeder endlichen Weise
von Sein in einer metaphysisch, d. h. vom Sein her erhellbaren Opposition. Er ist als solcher in der Tat
das „Andere“ des Seins, das nun durch eine „Convenientia“, durch ein Übereinkommen sich als
„Wahrheit“ konstituieren kann, ohne damit in die Aporetik einer „Relation zwischen verschiedenen
Seienden“ zu geraten. Denn nun ergeben sich folgende Sachverhalte:
1. Es gibt keine endliche Form, die von sich her eine Potentialität, die im reinen Nichts west, aktualisie-
ren könnte.

15
Ebd.
16
V. 1. 5. 2.
17
Der Thomismus als Identitätssystem, 2. Aufl. 1961, S. 37-39.

77
2. Daher bedarf es der Aktualität des „Seins selbst“, deren lichtende Macht allein in diesem Ab-
grund an Potentialiät bestimmend walten kann.
3. Jede Weise von Sein, sowohl die Aktualität des esse ipsum, der „actualitas omnium actuum“, das
„Einfachste und Förmlichste“ in allen Dingen, wie auch das Licht der „tätigen Vernunft“, ist jedoch, ge-
messen an Gottes Aktualität, ein endlicher Ausstrom des göttlichen Seins, dem es nicht gegeben ist,
„das Nichtsein“ in Sein umzukehren. Also bewahrt die Aktualisierung der möglichen Vernunft in
sich selbst die ihr eigene „Nichtigkeit“. Was sie empfängt, ist eine Bestimmung und Auflich-
tung durch das Sein, die jedoch, sofern sie auf seiten der Vernunft ist und sie auf endliche Weise (mo-
dal oder formal) bestimmt, nichtig bleibt. Es sind seinslose, substanzlose, „allgemeine“ und d. h.
grund- und haltlose Schemen, Bilder, formale qualia, die die Vernunft zum Leben erwecken.
4. Erwacht also die potentielle Vernunft zum Leben, so erwaltet sich in ihr selbst die ursprüngliche
Mitgift ihrer „Nichtigkeit“. Da diese Nichtigkeit durch keine endliche Bestimmung getilgt werden
kann, so tritt nun die Tätigkeit der Vernunft als eine vom Nichtsein durchwaltete Aktualität dem Sein
gegenüber, das zugleich gemäß seiner einfachen, unscheidbaren Aktualität und Selbigkeit in ihr
west. Denn es allein übersteigt kraft seiner unauflöslichen (unendlichen) Aktualität und Positivität
die nichtige Formalität möglicher Vernunftbestimmungen und behauptet sich gegen sie, ohne freilich
im Empfängnisgrund die „eingedrückten“ endlichen species seinshaft zu verwirklichen, was nur Gott
vermöchte.
5. Also scheidet die empfangene Vernunft sich notwendig in sich selbst in das aufgehende Sein und das
ihr ursprüngliche Nichtsein. Da ihr Wesen aber „Erkenntnis“ ist, die sich nur in reiner immanenter
Tätigkeit vollziehen kann, so wirft die aktualisierte Vernunft das ihr eigene Nichtsein (das sie nach der
Empfängnis in der Form von qualia zu eigen hat) als Maßgrund dem Sein entgegen, um es als Eigenes
und Inneres zu gewinnen.
6. Daher ist der Erkenntnisakt der Vernunft keine „einfache Hinnahme“, weil diese in die nichtige
Potentialität der Empfängnis versenkt ist und deshalb den Modus der Subjektivität und der nichtigen
Begrifflichkeit an sich hat. Diese Nichtigkeit und Subjektivität überwindet die Vernunft, indem sie
das in ihr entspringende „Nichtsein“ in einem „rationalen Diskurs“, d. h. in ihrer ursprünglichsten
Tätigkeit gegen „das in ihr lichtende Sein“ hin bewegt, um es auf diese Weise zu eigen zu gewinnnen.
Dieser Versuch aber geschieht auf dem Wege der vergleichenden Angleichung.
7. In diesem Versuch erfährt nun die Vernunft die Unmöglichkeit ihres Versuchens. Das Sein widersetzt
sich der ihm entgegengehaltenen Möglichkeit des Nichtseins und tritt daher in der Helle der Vernunft
als „Nicht-Nichtsein“ hervor, wodurch es mit dem Nichts jede Herkunft und Bestimmung durch das
Subjekt abweist.
8. Indem dies geschieht, geht die Bewegung des Subjektes unter in die Wahrheit, die aus dem Sein
selbst her aufleuchtet, dergestalt, daß in der wahren Erkenntnis alles Subjektive nur noch negiert und
nichtig beiherspielt, während das Sein als Sein „seingelassen“ und solchermaßen erkannt wird.

78
9. Auf diese Weise erhellt, daß die erste Erkenntnis weder ein „Begriff“ sein kann, noch durch die
Form der endlichen Dinge wesenhaft konstituierbar ist. Sie ist vielmehr mit innerer Notwendigkeit ein
negatives Urteil, das in der Subsistenz, d. h. im Sein des Seienden gründet und die leere Mög-
lichkeit von Begriffen, die der Vernunft entstammen, als nichtig abweist und negiert. Diesem
Sachverhalt entspricht genau die von Aristoteles gegebene Fassung des ersten, gewissesten und vor-
aussetzungslosen Ausgangs aller Erkenntnis: „daß dasselbe zugleich subsistiere und nicht subsistie-
re, das ist für dieses selbst und gemäß diesem selbst nicht möglich“, - ein Satz, der einen rationalen
(nichtigen) Möglichkeitsentwurf enthält und abweist. Er ist deshalb keine „Synthesis apriori“, wie Kant
oder J. Lotz lehren, sondern deren Negation.
10. Die Wahrheit ist daher von Grund aus eine doppelte Angleichung der Sache und der Vernunft
und enthält stets die Negation der damit gegebenen Nichtigkeit.
a) Die erste beruht darin, daß das Sein des Seienden sich der nichtigen Potentialität der Vernunft mit-
teilt. Hier liegt auf seiten des Seins eine einfache Kontinuation seiner unauflösbaren Aktualität vor,
welcher auf seiten der Vernunft eine einfache Empfängnis entspricht.
In dieser Unmittelbarkeit ist das Sein als Kontinuation schlechthin wirklich; als Empfängnis von We-
sensformen (also des Seienden) im potentiellen Grunde aber ist es seins- und substanzloser Begriff
(ein quale im Verstande)18. Als Einheit von Sein und Nichtsein aber west es zugleich als „reine Mög-
lichkeit“. Sofern diese „begriffliche Möglichkeit“ vom Sein her entsprang, enthält sie gleichursprünglich
wie das Sein so auch das Nichtsein, das dem potentiellen Wesen der Vernunft entspricht.
In dieser ungelösten Schwebe eines nicht ausgetragenen Widerspruchs aber wird die Vernunft durch die
ihr eigenen Gehalte „intentional“, d. h., ihr Streben ist darauf gerichtet, den Widerspruch zwischen
Sein und Begriff auszutragen.
b) Diese Bewegung bedeutet nun die zweite und eigentliche Angleichung, die von der Vernunft her ih-
ren Ausgang nimmt. Sie durchmißt die kontinuierte Aktualität des Seins im Medium ihrer begriff-
lichen „intentio“, indem sie dem Sein das Nichtsein entgegenhält. Dieses „Nichtsein empfängt sie
in sich selbst“, sofern ja alles, was „empfangen“ ist, dem Sein nach ein „subsistenzloses Akzidens“ und
unmittelbares (grundloses) „Anfangen“ ist, dem noch kein erkannter Grund vorausgeht. In der
Abweisung der „Möglichkeit“, daß das Sein Nichtsein sei, bewahrt sich das Sein in seinem unaufheb-
baren Ansichselbstsein und seiner unauflösbaren Einfachheit. Es leuchtet als solches ein in den Ver-
nunftsgrund, dessen Eigenlicht und dessen eigene Tätigkeit nun erlischt und im intuitiven Urteilsakt
der erfaßten oder verinnerten Selbigkeit des Seins untergeht: Das Sein ist in seiner Offenbarkeit die
Wahrheit und es allein, wodurch zugleich die mit der Vernunft gestiftete Einheit der Übereinstimmung
von dieser erfahren wird.
Also geschieht hier das Wunder der Wahrheitsrelation: Sie ist die Aufhebung der Verschiedenheit, die
im Nichtsein gründet, auf das Sein hin, wodurch dieses in seiner Selbigkeit mit sich selbst hervortritt
und zugleich in der immanenten Tätigkeit des erkennenden Subjekts sich in ihrer Aufhebung als

18
In Met. L. 7. (1959).

79
Wahrsein bekundet. „Aufhebung“ besagt hier genau das, was Hegel mit dem Wort zum Ausdruck
bringt: nämlich eine nichtende, bewahrende Vollendung (Erhebung). Die negierte (nichtige) Möglich-
keit des Verstandes bleibt als Ermöglichung des Erkennens im Urteil erhalten und erhöht sich zugleich
in der durch die Negation verschärften Auflichtung des „Seins“ als „Nicht-nichtseins“ oder des „Sub-
sistierenden“, das als Seiendes jede mögliche Nichtsubsistenz und damit seine Herkunft aus dem
Nichtsein abweist.
Also ist die Wahrheit wesenhaft ein Ereignis des Seins. Als göttliche Wahrheit oder als Wahrheit
des reinen Seins oder des actus purus übersteigt sie daher notwendig alles Relationale und kenn-
zeichnet die einfache Wesenheit Gottes, nicht ohne freilich zugleich die personale Differenz fundie-
rend zu durchwalten.
Nur sofern das Sein des Seienden oder das Seiende in seiner Subsistenz und Aktualität erkannt ist
und als solches alles „Subjektive“ ausschließt und doch zugleich darin dem Subjekt sich erschließt, läßt
sich das Wesen der Wahrheit, der Erkenntnis und der Vernunft auflichten. Alle „Logik“ und „Er-
kenntniskritik“ vor einer „Ontologie“ sind daher im Wesen Verfälschungen des Denkens. Deshalb sagt
Thomas: „Da aber in der Sache ihre Wesenheit und ihr Sein ist, so gründet die Wahrheit mehr im
Sein als in der Wesenheit der Sache, wie ja auch der Name eines Seienden vom Sein her gegeben
wird; und in der Tätigkeit der Vernunft, die das Sein der Sache empfängt, wie es ist, wird die We-
sensbestimmung der Wahrheit durch eine gewisse Verähnlichung auf das Sein selbst hin vollendet,
worin das Wesen der Wahrheit besteht.“19
Da wir uns hier streng im transzendentalen Bereich halten und die „Wahrheit“ wesenhaft durch das
Nichtsein im Geiste ermöglicht ist, so ergibt sich die Frage, wie das Nichts zur Transzendentalität des
Denkens und des Seins überhaupt gehört. Vielleicht ist das Nichts das vergessene Transzendentale
schlechthin, dessen Nichtbeachtung auch das Sein verdunkelte und die verengten Wesensphilosopheme
heraufführte, die nach Thomas das kirchliche Denken bestimmen und die Wirrnis der modernen Philo-
sophie zur Folge hatten.
Nicht minder folgenreich sind die Differenzen, die in den Quaestiones de Veritate zwischen dem Sein,
dem Wahren und dem Guten zur Aussage kamen. Ihnen sei eine besondere Erörterung gewidmet.

19
Sent. I. Dist. 19. 5. 1. sol.

80
DIE TRANSZENDENTALE SELBIGKEIT DES ENS UND DES BONUM

I.

Im obigen Aufsatz über die Selbigkeit und den Unterschied des verum und des ens habe ich die weit-
reichende Potentialität der grundlegenden Ausführungen des Aquinaten über die Transzendentalien
zu erhellen versucht, deren liegengelassene Fragestellung und definitorische Verfestigung das a-
bendländische Denken schicksalhaft bestimmt. Im Hinblick auf diese Ausführungen und unter ihrer
Voraussetzung sei im folgenden in ähnlicher Weise die Lehre vom Guten abgehandelt, die besonders
in der 21. Quaestio de Veritate entwickelt ist und für den summarischen Systementwurf grundlegend
geblieben ist. Es würde zu weit führen, den Fortschritt bei Thomas selbst, der sich in der Summa c. Gen-
tiles anzeigt, mit in die Fragestellung aufzunehmen.
Für das bonum gilt alles, was über das verum im Verhältnis zum ens gesagt wurde. Es ist eine „posi-
tive Hinzufügung“ zum Sein, die jedoch zugleich wegen der Selbigkeit der Transzendentalien ers-
tens nur „relational“ (durch den Bezug zur Seele) und zweitens nur „ratione“ möglich ist, da „seinshaft“
zum Sein als solchem nichts hinzukommen kann.1 Diese „Hinzufügung“ ist daher nicht „real“, wie es ge-
schieht, wenn eine res oder essentia realiter sich in ihre Akzidentien ausfaltet oder von ihnen von außen
bestimmt wird. Sie ist auch nicht eine „logische Kontraktion“, die darin besteht, daß die „potentielle
Implikation“ einer Gattung durch die Differenzen bestimmt wird, wodurch das, was die Gattung bereits
(confus) enthält, herausgehoben wird; hierbei hat die nur „rationale Hinzufügung“ eine fundie-
rende Entsprechung „in der Sache“, die nach Form und Materie zusammengesetzt ist.2 Die Hinzu-
fügung des Guten ist vielmehr „rein rational“, und das heißt, daß ihr in der Sache an sich selbst
nichts entspricht, so daß die „Rationalität“ oder das „Sein im Verstande“ die positive Beziehung
selbst konstituiert.
Für das ens gelten die obengenannten Hinzufügungen ohnedies nur in einem abgewandelten Sinn.
Das esse universale verträgt überhaupt keine Hinzufügung,2 weil es alles ursprünglich Offenbare
umfaßt und in seiner realen Gegebenheit aussagt und meint; die logische contractio des genus hat ihre
Entsprechung in den zehn Genera der Kategorien, die jedoch als kat ousias legomena nicht Akzidentien
und Differenzen außerhalb der Wesensheit, sondern bestimmte reale Seinsweisen (determinati modi es-
sendi)3, also die ausgefaltete Wirklichkeit des Wesens aussagen. Sie „fundieren“ deshalb „in der
Wesenheit der Sache“.4 Hier liegt also keine „bestimmbare Gattung“ vor, die in der bestimmungs-
fähigen Materialität der Sache „fundiert“, vielmehr ist die alle ihre Modi ermöglichende, hervor-
gehen lassende und tragende wirkliche Wesenheit selbst der Fundierungsgrund, so daß die „Hinzufü-
1
Vgl. vorhergehenden Abschn., Punkt 3
2
V. 21. 1.
3
V. 21. 1.
4
Ebd.

81
gung“ mit der metaphysischen Entfaltung der res aus ihrem sich in alle Seinsweisen entfaltenden Akt-,
Form- oder Wesensgrund identisch ist. Es handelt sich daher um die Metaphysik selbst, sofern sie aus
den principia praecognita das anwesende Seiende auflichtet. So aber, sagt Thomas, kann das „Gute
zum Sein“ nicht hinzugefügt werden, weil das „ens qua ens“ keinerlei Entfaltung und Hinzufü-
gung zuläßt. Also bleibt nur die dritte Möglichkeit, soll das Gute wie das Wahre nicht ein Synony-
mum oder ein „nugatorium“ sein, daß es sich um eine „reine ratio“ handelt, um etwas, was „im Vers-
tande“ ist und zur Sache selbst nichts, es sei denn die „Relation dieser ratio zur Sache hin“ hinzu-
fügt.
In dem obengenannten Aufsatz habe ich die Aporien dieser Lehre entwickelt, die, wie für das Wahre,
alle auch für das Gute gelten. Es ist danach erstens darauf zu achten, daß die transzendentale Unter-
scheidung, also die „rationale Definitio“, nicht selbst als ursprüngliche Differenz im Modus des We-
sensdenkens oder Vorstellens die transzendentale Gegebenheit verunklärt, weil die definitorische Ab-
grenzung trotz ihrer verdeutlichenden, hervorhebenden Bedeutung für Erkenntnis und Lehre nicht
das transzendentale Sein und sein gleichursprüngliches Anwesen in ihrer real nicht scheidbaren Einfalt
aus dem Blick rücken darf. Denn es gibt kein offenbares Sein, das nicht immer schon unmittelbar
auch als „verum“ in seiner „Offenbarkeit“ im Geiste lichtet und reflexiv als „verum“ gegenwärtig ist. So
aber erweckt das Sein als „perfectivum“ des Erkennens gleichursprünglich das Streben (zur Wahrheit)
und enthüllt sich als „gut“.
Zweitens ist die transzendentale Selbigkeit des ens mit dem verum und bonum nicht allein auf das Er-
kanntsein durch Gott und seine im Schaffen mitgeteilte Güte zu begründen und die endliche Beziehung
nur äußerlich oder akzidentell hinzuzufügen, was sich durch das Ansichsein der Dinge und
ihre „Beziehungslosigkeit“ zum menschlichen Erkennen nahelegt. Die „relatio non mutua“ würde so
nämlich die „subjektive Tätigkeit“ des Erkennens und Strebens so eminent akzentuieren, daß das, was
von der Sache her als verum und bonum schon vollendet waltet, sowie die Ermöglichung und die Ter-
minierung der menschlichen Tätigkeit vom Sein her und auf das Sein hin aus dem Blick gerückt wer-
den.
Ist das Wesen des Seins Intelligibilität und Intelligenz, Güte und Liebe, so kann dieses Göttliche in
keiner Seinsweise erlöschen. Unter dieser Rücksicht trat uns auch die materielle Natur wesenhaft als
„lichtendes Erscheinen“ entgegen, das sich im Erkanntwerden immer schon vollendet vom Sein her
schenkt, wie es in den „Prinzipien jeder wirklichen Erkenntnis“ bereits vollendet in der „Lichtung
der Wahrheit“ steht. Diese primordiale Eröffnung des Seins und aller Wirklichkeit in der Wahrheit
gilt nun auch uneingeschränkt für „das Gute in den wirklichen Dingen“.
Es ist nun bedeutungsvoll, daß das „ontische“ Wahrheitswesen als lichtender Hervorgang, der in der
lichtenden Aktivität der empfänglichen Intelligenz und der kategorialen „Praesenz“ der tangiblen
Dinge in einer leuchtenden, tönenden „Natur“ seine Gewähr hat, erst die gleichlaufende Sicht aller
Transzendentalien schenkt. Diese durchgängig gleiche Struktur ist nun bei Thomas nicht anzutreffen.
Denn für ihn sind alle Dinge zwar unmittelbar an sich selbst gut, wie sie seiende sind, während das

82
Wahrsein sich nur bei denjenigen Wesen ereignet, die „das Wahre erkennen“.5 Diese Beschränkung
ist keineswegs zwingend. Wird nämlich gesehen, daß die Dinge wesenhaft in ihrer materiellen Kon-
stituierung auch in die „Natur“ hervorgehen, indem sie sich aus dem materiellen Grund als „Gebilde“
her- und darstellen und ins erscheinende Bild bringen, so erwirken sie mit ihrem Sein im sich selbst
konstituierenden Walten auch das ihnen gemäße „Wahrsein“. Die „Schönheit der Natur“ ist solcher-
maßen als „Erscheinen“ zugleich eine Phase im Zu-sich-selbst-Kommen des Seins, dem nicht nur
die Intelligibilität, sondern die „Intelligenz“ eigen ist; die Seienden sind daher durch ihr Sein „für
den Geist und seine Wahrheit“.

II.

Mit der seinshaften Transzendentalität des bonum wird nun dessen „rationale Relativität“ im 3. Arti-
kel von Thomas selber aufgehoben. Denn wenn er sagt, daß „alle Dinge (auch die Naturwesen) das
Gute erstreben, aber nicht alle das Wahre erkennen“, so kann vom bonum als einer „relatio rationis“
nicht mehr die Rede sein. Es ergibt sich daher, daß Thomas die eben gekennzeichnete spekulative
Ausfaltung des Wahrseins im Sinne der Selbigkeit mit dem Sein seinen anfänglichen Definitionen
zum Trotz beim Guten selber vollzieht.
Er ruft damit eine neue Verlegenheit hervor und muß seine allgemeinsten Prinzipien einschränken, wenn
nicht verwandeln. Denn aus der Definition, die das Gute in der Rationalität fundiert, müßte zwin-
gend folgen, daß das Wahre früher sei als das Gute, weil das relationale Streben nach einem Gu-
ten als einem „Ziel“ die Offenbarkeit und Wahrheit dieses Ziels voraussetzt. Dadurch aber, daß Thomas
beim Guten als einem „perfectivum“ nicht nur das rationale „Ziel“, sondern auch das Walten aus
dem Sein (secundum esse)6 im Blick hat, wird der spekulativ transzendentale Gesichtspunkt der Sel-
bigkeit prävalent. Noch mehr wird die Spekulation durch die Aussage des Aristoteles im Sein
gehalten, daß das „Wahre im Geiste, das Gute aber in den Dingen ist“. Denn das „Gute im Ding“ ist
doch dies, daß es nicht nur „In-sich-sein“, sondern „Sein für ein Anderes“ ist; also ist es auch für dieses
Andere irgendwie erschlossen, weil sonst alles Anstreben vergeblich wäre.
Dadurch tritt die „rationale Relativität“ zugunsten der aus dem Sein her waltenden Vollendung zu-
rück. Es wird dann folgerichtig gesagt, daß die Seienden „früher vom Guten vollendet werden als
vom Wahren“. Diese Vollendung soll darin bestehen, daß sogar „die Materie“ mit einem naturhaf-
ten appetitus ins Sein und zur Form strebt. „Alle aber, die das Sein schon besitzen, lieben ihr Sein (esse
suum) naturhaft und bewahren es mit ganzer Kraft“ (tota virtute). „Daher ist jedes Seiende (ens) da-
durch gut, daß es das Sein (esse) hat.“ Es ist nun bedeutsam; daß Thomas hier keinen „Willen zu sich
selbst“, auch „kein Streben zu einer Naturvollendung“, sondern offenbar das „esse“ und die „Subsi-

5
V. 21. 3.
6
Ebd.

83
stenz“ im Blick hat, was er durch den Beisatz erhärtet: „Obwohl viele Weisen von Güte dem Sein,
durch das die Dinge subsistieren, beigefügt werden.“7
Danach sind die Dinge aus ihren konstitutiven Gründen her gut, sofern sie in ihrer Materie die Form
und das esse erstreben und durch die Form das esse und die Subsistenz „mit aller Seinskraft (virtus)
bewahren“.8
Es ist offenbar, daß dieser Gesichtspunkt zu transzendental tieferer Auflichtung drängt. Man braucht nur
das esse spekulativ in seiner gründenden Aktualität zu verstehen und bei der Subsistenz das Prinzip: „daß
das esse propter agere“ ist, zu beachten, um zu erkennen, daß das von den Seinsgründen her waltende
Gute aller Dinge auch die kategoriale Ausfaltung der res zu ihrer Wirkvollendung und zur Empfäng-
nis der ihr notwendigen Vollendungen im Gesamt des Universums aller Dinge betreffen muß. Thomas
sagt selbst, daß „die Sache ihr Ziel gemäß seinem ganzen Sein (secundum totum suum esse) anstrebt“9
Daher erstrebt z. B. kein Lebewesen sein „esse“ ohne die vollendete Wesens- und Daseinsentfaltung,
in der es primär in die Wahrheit, ins Anwesen, in die Selbstdarstellung und zur Erscheinung kommt,
um dann erst und freilich immer auch zugleich als „perfectivum“ für sich und andere dazusein. Es ist
daher für eine spekulative Ausfaltung des Gesagten im Sinne des seinshaften Wahrheitswesens nicht
notwendig, die Priorität der Wahrheit und ihre seinshafte Transzendentalität zu opfern. Zugleich weist
das Streben zum Sein und die Tendenz zur Selbstbewahrung und zur innehaltenden Selbsterfahrung
auf eine Tiefe des Gutseins, in der es das Dasein wie das Wahrsein umfaßt. So aber ist das „Gu-
te“ transzendentaler als das Sein und das Wahre und solchermaßen das Hervortreten der letzten
Tiefe des Seins selbst, das als bonum in sein eigentliches Wesen kommt. Wiederum erweist es sich,
wie dringend notwendig es ist, die thomistischen Lehren in ihrem anfänglichen Entwurf weiter zu den-
ken und zu klären, weil man sonst in Aporien gerät oder sich mit dem definitorisch Verschiedenen be-
gnügen muß, das nicht weiter gedacht wird.
Die Problematik läßt indes tiefere, echt thomistische Dimensionen zutage treten. Die Betonung des
esse rei als perfectivum eines seinshaften Strebens steht offenbar im Zusammenhang mit jener aus-
zeichnenden Bestimmung des Guten, daß es ein „absolutum“ ist, in dem es irgendwie um das „Sein ei-
ner Sache“ als solcher geht. Deshalb deutet Thomas das bonum als „diffusivum sui“ nicht als eine aus-
strahlende, einfließende oder „beeinflussende“ Mitteilung, sondern sieht es ganz in der Sicht der Fi-
nalursächlichkeit, 10 in der es dem Strebenden um das „ganze Sein“ des Erstrebten geht, und zwar so,
wie es in sich und an sich selbst ist. Im Guten wird die differentia rationis mehr als beim verum
gleichsam ausgelöscht, so daß das reine ursprüngliche Selbstsein des esse in re im höchsten
Maße betont wird.
Die Folgerung müßte nun sein, daß das ens selbst auch in seinem Realsein in der Wirklichkeit primär
angestrebt wird, da ja das erste Transzendentale das ens und die res ist. So terminiert das Erkennen
in seinen Prinzipien ursprünglich urteilend im ens, in der subsistierenden res oder der Substanz, die
7
Ebd. a. 2.
8
Ebd.
9
V. 21. 1. 4.
10
Ebd.

84
auch das erste offenbare verum ist, wobei freilich die göttliche Vermittlung als „impressio primae veri-
tatis“ den Geist zum Prior der Substanzerkenntnis vor den Weisen der Erscheinung ermächtigt. Im ersten
Urteil lichtet bereits das ens vom actus essendi her, der freilich erst in der nachfolgenden „Abstraktion“
für sich erfaßt und angeblickt werden kann.
Wäre nun das „Gute“ diesem Seins- und Wahrheitswesen gemäß, so müßte es ein ursprüngliches
Streben geben, das auf die Wesen in ihrem Wirklichsein als entia und res ginge, von dem her es sich
zur „Ersten Güte“ erheben müßte. Aber bei Thomas scheint doch im Gefüge der transzendentalen Be-
stimmungen eine der Konstitution der Wirklichkeit gemäße Gradualität den je tieferen Gründen ge-
mäß zu walten. Wird nämlich im ersten Urteil die „Substanz“ intendiert oder die res als solche in ih-
rem unmittelbaren (individuierten) Anwesen, so kommt in der Reflexion auf das verum das unum
der res oder die „Form“ als Prinzip der Intelligibilität und der „Angleichung an den Geist“ in den
Blick, während das esse die Wahrheit zwar ermöglicht, aber doch als Wahrheitsgrund gleichsam im
Hintergrund bleibt. Denn was unmittelbar der Form der Vernunft adäquat ist, was die „species intel-
ligibilis“ erwirkt, ist das „Formale“ in den Dingen, während das Sein das wahre Urteil zugleich
ins Nichtadäquate und deshalb Sein-zu-Lassende eröffnet. Im Guten aber, in dem es um das totum esse
rei, also um die letzte und höchste Weise der Angleichung geht, wird daher die Sache unmittelbar in
ihrem Wirklichkeitsgrund, dem esse, aufgelichtet und damit zugleich von der Aktwurzel her in ihrer
Subsistenz angestrebt.
Im Bezug auf dieses „esse rei“ liegt damit notwendig ein ausgezeichneter Modus von Transzendenz
vor, da das „esse“ als solches zugleich über die res hinaus entschränkt ist, so daß im Guten immer ir-
gendwie „Gott“ angestrebt wird. „Die Ziele“, sagt Thomas, „haben teil an dem Grundverhalten der
Zielursache aus der Ordnung zum letzten Ziel.“11 Deshalb „wird das Wesen eines Geschöpfes
nur gut genannt aus einem Verhaltensein (habitudo) zu Gott hin, aus welchem Verhalten es die ratio
einer Zielursache zu eigen hat“. Oder noch schärfer: „Ein Geschöpf kann wesenhaft gut genannt werden,
sofern es keine geschaffene Wesenheit gibt, in der nicht ein Verhaltensein auf Gottes Güte hin gefun-
den wird.“12
Dieser Bezug läßt daher die Betonung des „esse“ im konstitutiven Streben der Dinge in einem besonde-
ren Licht erscheinen. Denn die erste Güte drückt „als die Schöpferin alles Guten“ „den erwirkten Din-
gen ihr Gleichnis auf“, so daß „jedes Ding durch das Gleichnis des höchsten Guten wie durch eine ein-
wohnende Form gut genannt wird“.13 Von einer „similitudo“ aber kann nicht gesprochen werden, ohne
daß der Abbildbezug mit ins Walten kommt, so daß sich im Streben auf das esse immer zugleich auch
dasjenige mit eröffnet, von dem her und auf das hin eine Ähnlichkeit im esse selbst sichtbar wird.
Dies müßte besagen, daß die Dinge, sofern sie ihr esse als „perfectivum“ anstreben, in ein Göttliches
verfügt sind. Will man daher die Aussagen des Aquinaten nicht einfach nebeneinander stehenlas-
sen, sondern sie spekulativ denken, so waltet im Streben der Dinge von ihren Seinsgründen her im

11
V. 21. 1. 1.
12
Ebd.
13
V. 21. 4.

85
Bezug zu ihrem esse eine Tiefe, die im Heraufgang der strebenden Wirklichkeit erst dann zum
Austrag kommt, wenn das „Gleichnis selbst“ im strebenden Geiste auf das „Sein selbst“ oder auf Gott
hin ausgefaltet und vollendet wird. Deshalb ist der Satz, daß „alle Dinge ihr esse“ anstreben, nicht
zu lösen von dem aus der Summa c. Gentiles, daß „alle Wesen der Natur den Menschen anstreben“,
durch den sie allein ins göttliche Leben gelangen.

III.

Aus dieser Verschärfung der Transzendenz des Zielstrebens, das nicht mehr in der res oder im ens ter-
miniert, ergibt sich nun eine erstaunliche Abwandlung der „Konvertibilität“ der Transzendentalien,
die ihre „Selbigkeit“ nahezu in Frage und damit erneut in die Frage stellt. Wenn das Seiende nach
Substanz und Akzidenz sich vervielfältigt, so wird auch das Gute vervielfältigt“,14 aber „in einem
entgegengesetzten Sinn“. Denn gemäß seiner substantialen Güte wird etwas secundum quid (also ir-
gendwie eingeschränkt) gut genannt, gemäß der akzidentellen Güte aber schlichthin gut. 1 5 „Da-
her nennen wir einen ungerechten Menschen nicht schlichthin gut, sondern nur in einer gewissen
(partiellen) Hinsicht, sofern er nämlich ein Mensch ist, den gerechten Menschen aber schlichthin gut.“16
Als Grund gibt Thomas an, daß das „ens absolut in sich selbst betrachtet wird“, während das Gute einen
„Bezug auf anderes einschließt“. In sich selbst wird nun eine Sache durch die konstitutiven Wesens-
gründe zur Subsistenz gebracht, aber in ihrem Bezug zu allen anderen Wesen vollendet sich eine Sache
nur durch „vermittelnde, der Wesenheit zugefügte Akzidentien“, da die Tätigkeiten, durch die eines
sich mit einem anderen einigt, aus der Wesenheit nur „durch vermittelnde Vermögen hervorgehen, die
der Wesenheit zugefügt sind“. Daher ist die „bonitas absoluta“ der Substanz zu unterscheiden von der
„bonitas per participationem“, die dem „esse participatum“ zugeordnet ist.
Zu diesen Ausführungen ist zunächst einmal zu bemerken, daß sie wiederum die „ratio boni“ verschie-
ben. Denn wenn nach dem Guten als Substanz oder Akzidenz gefragt wird, so müßten sie doch folge-
richtig unter dem Gesichtspunkt der „Appetibilitas“ und des „Perfectivum“ betrachtet werden. Statt des-
sen ist es unverkennbar, daß Thomas wiederum die erste definierte Bestimmung des Guten verläßt und
die „bonitas per causalitatem“17, die im Streben (nicht im Zielgrund) participative waltet, an ihre
Stelle setzt. So aber stellt er die der Konvertibilität der Transzendentalien gemäße Frage gar nicht.
Denn sie müßte doch lauten: Wenn ein ens (ein Mensch) als ein bonum angestrebt wird, und zwar als
ein perfectivum, geht es dann mehr um das wirkliche subsistierende Wesen des Menschen, um seine
Subsistenz und Person oder um Eigenschaften, Tugenden oder akzidentelle Bestimmungen? Er könnte
die Antwort geben, daß es ein solches Streben nicht geben dürfe, da jedes Streben zum Guten durch das
„letzte Ziel“, die göttliche Güte, formiert ist. Wenn Thomas aber von diesem Streben zum Guten sagt,

14
V. 21. 5.
15
Ebd.
16
Ebd.
17
V. 21. 2. 2.

86
daß es als solches auf das Wesen Gottes „secundum totum esse“ geht, so wäre für ein mögliches analoges
Streben auf endliche Wesen und Güter zu folgern, daß es um so vollkommener sei, als es auf das esse
totum geht, zwar auch auf die Akzidentien, aber primär und eigentlich auf die subsistierende Wesen-
heit, also beim Menchen auf die Person. In diesem Fall wäre erstens die definierte ratio boni erhalten
geblieben und die Frage streng gestellt, und zweitens brauchte die Konvertibilität der Transzendenta-
lien in ihrer inneren Notwendigkeit nicht angetastet zu werden.
Die Argumentation aber könnte dann strenger sein. Denn der Satz „einen ungerechten Menschen nen-
nen wir nicht schlichthin gut“ ist in mehrfacher Hinsicht im Zusammenhang problematisch. Erstens ist die
„Ungerechtigkeit“ ja kein Charakter der Substanz als solcher, zweitens ist sie der ursprünglichen, im
Gewissen unmittelbar und notwendig zum Guten geneigten Wesensnatur keineswegs zugehörig, so
daß man ohne diese privative „Zufügung“ einen Menschen in seinem Sein und Wesen doch für
schlichthin liebenswert halten müßte. Drittens aber entsteht die Frage, in welchem Sinne der „gerechte
Mensch“ außerhalb seiner Wesenssubsistenz ein bonum für andere sei. Wäre es in diesem Falle nicht
die „Gerechtigkeit als solche“, die für andere das Streben zu Gott hin wichtig und anregend
macht, die jedoch mehr oder minder zufällig „an diesem Menschen“ wäre?
Würde also die Lösung des Aquinaten streng in der transzendentalen Ebene gehalten, so enthielte
sie weitgehende Folgerungen. Die Wesen wären zwar in sich gut, weil sie selbst ihr „Sein“ aus ihren
Gründen her anstreben, aber sie begegnen einander unmittelbar nicht kraft ihrer substantialen Güte. Je-
de einzelne formiert sich zum Guten durch das Streben nach Gott und durch eine Teilhabe an der „ers-
ten Güte“. So aber ergäbe sich aus der transzendentalen Durchlichtung die Gefahr einer eigenar-
tigen Abblendung gegenüber der substantialen Güte des Seienden. Die kühle „Indifferenz“ der
Liebe zu allen Mitmenschen und die Begründung aller Freundschaft ausschließlich aus dem Rückblick
von Gott her und auf ihn hin wären dann dem transzendentalen Wesen des Guten gemäß.
Es gibt nichts Entscheidenderes als eine transzendentale Bestimmung, weshalb zu ihrer Klä-
rung alles aufgeboten werden muß. Die Abbiegung von der Definition und die Verschiebung in
der Konvertibilität liegen auf derselben Ebene wie die Ablösung des verum vom Seienden, so-
fern es sich als an sich seiende Welt konstituiert. Das übersehen des Verhaltes, daß jedes ens
notwendig ins vollendete Wahrheitswesen der Erscheinung und des Anwesens im immer
vorweg aufgelichteten Sein des Seienden heraufgeht, hat die Entfaltung der Transzendenta-
lien ohne Zweifel schon beim verum in ihrer spekulativen Sicht begrenzt und schwerwie-
gende Folgen gezeitigt.18 Dasselbe tritt nun verschärft beim Guten zutage.

18
Vgl. die Untersuchung „Die transzedentale Selbigkeit und Verschiedenheit des ens und des verum bei Th.v.A., Ziffer 3

87
IV.

Wir müssen jedoch das Gewicht der Sache sehen, die bei Thomas im fünften Artikel zum
Austrag kommt und die Erörterung führt. Denn im Grunde ist es gerade der absolute Bezug auf
die „Realität“ des bonum, der das Abbiegen hervorruft. Das Gute geht so sehr auf die „res sub-
sistens“, es terminiert so absolut in der Wirklichkeit, daß es nicht wie das verum vom Seinsakt her in
die intelligible und intelligente Eröffnung des Kosmos aller Wesen gebracht werden kann. Wäre es dem
verum gleich, so eröffneten sich die Wesen aus ihrem Sein, wie zur Erscheinung, so ins Spiel ihres Le-
bens, in dem sie sich einander übereigneten und sich gegenseitig liebend verschwisterten und vermähl-
ten.
Dieses „Spiel“ ist dem Wesen des Guten durchaus gemäß, aber es fragt sich, ob es dem Streben zur Rea-
lität und Subsistenz, das im Guten waltet, von Grund aus entspricht und es erfüllt. Wird dieses Spiel
nicht doch dem Ernst des sittlichen Strebens gegenüber zum Schwarm, weil die „Substanzen“ durch die
„Akzidentien“ zwar in die Wahrheit und Güte heraufgehen, aber die „reale Einigung“ aus der Tiefe
des „Seins selbst“ verweigern und deshalb den zum esse participatum aufgelichteten Geist nicht be-
friedigen? Es ist aber der Seins- und Wirklichkeitssehnsucht des Geistes nicht gemäß, sich im Seins-
losen eines nicht subsistierenden Aktes oder im Spiel der Wesenheiten, die ihr Sein und Insichsein
nicht übereignen, zu verschwärmen, so daß der Ernst sittlichen Strebens nicht zur Ruhe kommt, es sei
denn in der subsistenten Güte, in Gott selbst. Im Guten kommt daher nicht das „Sein“ (das esse in seiner
allgemeinen actualitas) zu sich selbst, sondern es geht aus der Subsistenz des Seienden über in die Sub-
sistenz des Seins, also in „Gott“. Daher muß man sagen, daß Gott selbst im „Guten“ die Wesen durch
sein höchstes Gleichnis, das Sein, zu sich selbst zurückgerufen hat. Also ist der Seinsakt, der als Wur-
zel der aktiven lichtenden Intelligenz der Grund des verum ist, nicht in gleicher Weise die bewe-
gende Kraft des Willens, sondern dieser muß primär von Gott selbst angestoßen werden.19 Der appeti-
tus unseres Herzens und Willens ist kein Naturtrieb, keine Neigung aus den Wesensgründen, sondern
ein von Gott entfachtes Feuer im innersten Grunde unseres Wesens. Diese Transzendenz motiviert und
begründet die Ausführungen des Aquinaten. Das Dasein des Menschen ist wesenhaft und vom Ursprung
her ins Göttliche und auf den wirklichen Gott hin befeuertes Streben.

V.

Diese Transzendenz auf Gott hin kann und darf jedoch nicht vom subsistenten Sein des Menschen
gelöst werden, wenn sie auch nur dann zum Ausdruck kommt, wenn dieses sich durch seine propria
und accidentia ausfaltet und ermöglicht. In diesem Austrag ist im freien Vollzuge der Existenz die
subsistente Person in ihrer grundgebenden Tiefe, in ihrer umhaltenden, vom Sein her aufgelichte-
ten Universalität immer gegenwärtig. Durch diese Gegenwart bleibt die strebende Ausfaltung im-
mer als personale Tat im Selbstsein des Menschen gesammelt, auch wenn er sich im Streben auf Gott hin

19
De Malo 6.

88
selbst transzendiert. Für die Gnadenlehre der Theologie bleibt freilich die wichtige Frage zu beant-
worten, was die mögliche höhere „Vollkommenheit“ eines Akzidenz vor der Wesenssubstanz zu bedeu-
ten hat.20
Wird aber am Primat der personalen Subsistenz festgehalten, dann ergibt sich eine andere Sicht, die
der vollkommenen Entsprechung der Transzendentalien gemäß ist. Dann geht mit den Wesen aus
ihrem Sein nicht nur der Reichtum der Vermögen hervor, nicht nur kommt ihre Natur zur Erschei-
nung, sondern es geht im freien, von der subsistenten Person hervorgebrachten und verantworteten Han-
deln und Streben ein Göttliches hervor, das um so mehr unsere Liebe erweckt, als es uns zu Gott hin
weist und wir selbst zu Gott entschlossen sind. So aber eröffnen sich uns in der zum Guten und aus
der Seinsgüte geneigten Wirklichkeit des geliebten Menschen immer alle metaphysischen Tiefen des
Daseins: Die Substanz oder die Person in ihrer unableitbaren Tiefe und Ursprünglichkeit, der entfal-
tete Reichtum des zur Erscheinung kommenden und in Freiheit hervorgebrachten Lebens in der wal-
tenden „Lichtung der Wahrheit“, das subsistente Sein selbst als die achtunggebietende Tiefe sittli-
cher Erschlossenheit und das „totum esse substantiale“ des Menschseins im spiegelnden Glanz und in
der Liebenswürdigkeit eines göttlichen Gleichnisses, das um so lichter aufglänzt, je mehr es das Urbild
in einem sich angleichenden Streben sichtbar macht. Nur so läßt sich im Bewahren der Selbigkeit der
Transzendentalien das volle Wesen des Guten enthüllen.
Es scheint mir daher für das Wesen der Sittlichkeit gefährdend, wollte man die transzendentale
Differenz nicht aus der anfänglichen Einseitigkeit herausrücken, die oben zutage getreten war.
Nur wenn dies geschieht, wird die personale Liebe ins rechte Licht gebracht. Wenn Thomas
die freundschaftliche Liebe mit Aristoteles durch die „benevolentia“ bestimmt, die darin be-
steht, daß wir „dem Freunde Gutes wollen“, so entspricht dies dem Verhalt, daß wir das un-
mittelbare Dasein des Freundes auf seine Wohlfahrt und sein Heil hin, zu dem er selbst ent-
schlossen ist oder sein soll, transzendieren. Aber nicht diese benevolentia ist das Wesen der
Freundschaft, weil wir solches „Wohlwollen“ im Grunde jedem Menschen schulden, sondern,
wie Thomas sagt, „eine mutua amatio“, eine „communicatio“ oder „conversatio mutua“21, in
welcher eine beschenkende, sich erfreuende Einigung waltet. Wenn wir begriffen haben, daß
das sittliche Streben auf Gott gerichtet ist secundum totum esse, so ist eine Liebe und Freund-
schaft um so größer und sittlicher und dem Urbild gemäßer, als sie das totum esse reale eines
Menschen umfaßt und mit der Offenbarung und Verwirklichung einer Liebe oder Freund-
schaft auch die Verpflichtung der Treue, der Fürsorge und Hilfe übernimmt für alles, was
zum Sein des Menschen gehört. Vollends kann eine eheliche Liebe gar nicht in ihrer Voll-
kommenheit begriffen werden, ohne personale substantiale Übereignung und Übernahme, in
welcher der ganze Reichtum des Daseins zum Geschenk und zur Aufgabe wird.

20
Vgl. Gustav Siewerth, Das Schicksal der Metaphysik, S. 337-345
21
S. Th. 2. 2. 23. 1.

89
VI.

Nur aus dieser Erkenntnis erhellt das, was man die „Seinsgemäßheit des Guten“ bei Thomas nennt.
Beim verum hatte uns als drittes großes Problem die Frage bewegt, daß die „additio rationis“ nur dann
zum ens nichts hinzufüge, wenn die anima nicht als ein „ens“ begriffen wird, sondern wenn der in-
tentionale Bezug durch das „Nichtsein in intellectu“ bestimmt wird. Die Vernachlässigung dieser ent-
scheidenden Frage, so konnte gezeigt werden, hat für die neuzeitliche Metaphysik schwerwiegende
Folgen gehabt. Ihre Entfaltung aber enthüllte uns das volle Wesen der „Wahrheitsangleichung“,
welche „urteilende intellectio“, negierende und assimilierende „Befestigung“ und „sein lassende“ Er-
öffnung zugleich ist. Sie ist als res vera die Offenbarkeit der positiven Realität des ens und somit
zugleich die divisio oder Ur-teilung des ens als „nicht-Nichtsein“. Als verum aber ist sie zugleich ur-
sprünglich „compositio“ (adaequatio rei et intellectus), sofern die Ausgeschlossenheit des Nichtseins
bejaht wird. Also ist im ersten Urteil der „intellectus dividens et componens“ vollendet am Werk.
Dieser Sachverhalt waltet nun uneingeschränkt auch beim Guten. Es liegt als ens perfectivum
„secundum esse quod habet in rerum natura“ ganz auf seiten des Seins und der Dinge selbst, so daß es in
der Einigung mit dem strebenden Geiste ganz es selber bleibt. Also bringt das Streben zum Sein nichts
hinzu, sondern muß in demselben Maße, wie das Sein als Gutes vollendet ist, als „Nichtsein“, als
„Mangel“ und „Leere“ begriffen werden. Ist dieses letzte Sein aber „Gott selbst“, so ist der Weg zu
Gott als Weg zum Guten nur als eine alle Wesensgrenzen negierende „Entleerung“, als ein „Ent-
werden“, als die Demut einer unendlichen Empfangsbereitschaft zu begreifen. Hier wird offenbar, daß
die Mystik Eckharts eine ihrer Wurzeln in der transzendentalen Spekulation des Aquinaten hat.
Das aber wirft zugleich Licht auf die „Rationalität“ des „Zieles“, sofern es ein „appetitum et deside-
ratum“ im Geiste ist, der als solcher in der „tensio“ sich zum Guten erstreckt, ohne es zu berühren. In
diesem Falle waltet im zielgebenden Vorentwurf des Geistes notwendig eine stellvertretende „Ieali-
tät“, die auch in den transzendentalen Dimensionen des „Seins“ und des „bonum in communi“, wie in
den ursprünglichen Sichten der immer angestrebten „felicitas“ eine subsistenzlose Nichtigkeit und
intentionale Begrifflichkeit aufweist. Werden diese „Zielbilder“ als „Werte“ „objektiviert“ oder als
„Geltungen“ „hypostasiert“, so tritt das Vermittelnde und an sich selbst Nichtige einer bloßen intentio
oder eines Strebeentwurfs als das Gute hervor. Dann gewinnen die dem Streben gemäßen „vorläufi-
gen“ Entwürfe als „Regeln“ des Strebens ein Gewicht, das dem metaphysischen Denken nicht gemäß
ist. So aber entspricht der begrifflichen Objektivierung und der Logisierung des modernen Denkens
die „Idealisierung“ und „Objektivierung“ der „subjekt-relationalen Werte“ in der Ethik.
Sie haben den Schein ihrer Notwendigkeit nicht nur im Offenen der denkenden und strebenden Trans-
zendenz, die den Grund nicht „berührt“ und deshalb sich schwebend im „Seins- oder Subsistenzlosen“
hält, sondern mehr noch in der offenbaren Verworrenheit und Unvollkommenheit des konkreten Da-
seins, gegenüber dem die Ziele sittlichen Handelns als „gesollte“ und „aufgegebene“ transzendent er-
scheinen.

90
Man muß nun beachten, daß es gegenüber der sinnlichen Erscheinungswelt in der Tat einen seinshaft
transzendenten abstrakten ordo gibt, der der Formalität und dem Wesen des Geistes entspringt. Aber
dieser abstrakte, formale ordo dankt einmal alle seine Gehalte der Erfahrung des Seienden, wie er
zum andern von sich aus niemals die Wesenstiefe der Wirklichkeit und des Seins unmittelbar ent-
hüllen kann. Wo aber das Sein selbst und das Wesen seinem Sein gemäß in Walten kommt, d. h., wo
die Fülle des Wirklichen der dem Seinsgrund gemäßen Analogie und Zusammengehörigkeit gemäß sich
enthüllt, da tritt auch die den Gründen eigene göttliche Vollendung hervor und begeistet den Geist zu
jener Liebe, die in der strebenden Hingabe und einigenden Durchdringung von immer Wesenhafterem
berührt und beschenkt wird. Deshalb gibt es keine „Wertidealität“, die der Liebe eines ins göttliche
Leben erschlossenen Herzens an Güte gleichkäme.
Wo immer aber Gutes angetroffen wird, da waltet auch die „conversatio mutua“ liebender und ge-
liebter Wesen. Diese Liebe aber ist immer eine substantiale Eröffnung personal subsistierender Na-
turen, die in Freiheit in der Fülle ihres in allen Vermögen sich entfaltenden Daseins wirkend und
empfangend in die Erscheinung treten. Denn „das Sein des Geschöpfes wird durch eine gewisse abbildli-
che Ähnlichkeit auf das erste Sein hin selbst Sein genannt“,22 und es geht deshalb, wo immer es sich
dem Sein und den Wesenheiten gemäß verhält, in göttlicher Vollendung, in Schönheit und Anmut aus
sich selbst hervor. Wer „die Wahrheit sagt“, erfüllt deshalb keine transzendentalen Ideale, sondern
handelt nur dem gemäß, was seinem In-der-Wahrheit-Sein wesenhaft entspricht. Also läßt er das
walten, was er immer schon aus seinen Gründen her ist. Nur wenn es diese anfängliche Vollendung
der wirklichen menschlichen Existenz in der Wahrheit und im Guten gibt, tritt ihrem vollendeten
Wesen und Walten gemäß auch die ideelle (rationale) Forderung hervor, alles Handeln und Wir-
ken in der waltenden Wahrheit und in der Wesenskraft der ursprünglichen Güte zu halten. Also ist al-
les Böse ein „seinswidriger Abfall“ und nicht eine vorgegebene Verdorbenheit, aus der der Mensch
sich zu transzendenter Idealität zu erheben hätte.
Nur durch die ursprüngliche Vollendung der personalen, sittlich erschlossenen Natur, durch die spie-
gelnde Tiefe des Seins und die unübersteigbare, göttliche Vollendung einer reinen schenkenden Liebe
ist es möglich, das sittliche Werden des Kindes verständlich zu machen, das sich nicht unmittelbar „zu
Gott“ erhebt und deshalb erst gut genannt werden könnte, wenn es sich „auf Gott hin“ ausrichtet. In
Wahrheit steht das Kind im Walten der Liebe im exemplierenden Licht des „intelletto d'amore“
(Dante) ursprünglich in der implicativen Dichte des Guten. In der Liebeshuld der Mutter wie in der
ernsten Güte des Vaters wird daher archetypisch das Heilige und Gottes Bild offenbar, die das Herz
des Kindes zur Liebe und Ehrfurcht anmuten, sein Gewissen in der Erkenntnis der Liebe formieren und
es vom Ursprung her zu menschlich und sittlich gutem Dasein erwecken.23
In dieser Liebe aber waltet stets die Seinstiefe der subsistenten Personalität, die erkennend und
strebend ins Sein des Seienden, in die Wahrheit und ins transzendentale Gute und damit participati-
ve zu Gott als dem „letzten Ziel“ erschlossen ist. In dieser Sicht schließt sich erst die gleichlaufende

22
V. 21. 4. 7.
23
Vgl. Gustav Siewerth, Die Metaphysik der Kindheit.

91
Selbigkeit der Transzendentalien, sofern man sagen kann, daß das Ursprünglichste im Wahren wie im
Guten das vom Sein her subsistierende Seiende selber ist, das in je tieferer Eröffnung aus seinen
Gründen hervorgeht und die Existenz ihrem rationalen und voluntativen Streben gemäß in je ver-
schiedener Tiefe auf das Seiende, auf den einigenden, durchwaltenden Akt und auf Gott hin entrückt
und begeistet.

92
DER WIDERSPRUCH IM WERKE DES JÜNGEREN HEGEL

Eine systematische Studie

Die Frage geht auf die Bedeutung des „Widerspruches“ im Werke des jüngeren Hegel. Sie fragt
bewußt nach dem „Widerspruch“, nicht aber nach dem „Satz des Widerspruches“, denn in der Form ei-
nes Satzes oder Grundsatzes begegnet der Widerspruch dort nicht. Dennoch steht das Problem von
vornherein im Gewicht dessen, was im „Grundsatz des Widerspruches“ zum Ausdruck gebracht oder ge-
fordert ist, und es steht nicht nur tatsächlich im Geltungsbereich dieses „ersten“, „vorausset-
zungslosesten“, „bekanntesten“, alles begründenden Grundes, so daß er von uns unter dieser Rücksicht
befragt werden kann, sondern Hegel selbst hat mit aller Schärfe auf die „verstandes“- oder „refle-
xionsgemäße“ Einseitigkeit und Beschränktheit des allgemeinen „Vernunftsgesetzes“ vom
Widerspruch hingewiesen, dessen Inhalt und Form von der seinsinnerlichen, konstitutiven „Wirklich-
keit“ des Widerspruches aufgehoben und in sein Gegenteil verkehrt wird.
Um die Frage in Gang zu bringen, sei daran erinnert, was es um den Satz des Widerspruches sei.
Der Satz, von Platon zuerst formuliert und von Aristoteles als „Grundwahrheit“, d. h. als erste in
sich gegründete und alles andere begründende Erkenntnis (arche) zum Problem erhoben und entfaltet,
lautet: Daß dasselbe demselben gemäß demselben zugleich insei und nicht insei, ist unmöglich. Die
Übersetzung des yparchein mit Insein (inesse) schließt sich an Thomas an. Es ist jedoch notwendig, zu
bemerken, daß das griechische Wort einen weiteren Umkreis hat, der sowohl das „Zugrundeliegen“
wie auch das „einfache Wirklichsein“, als auch das „In- und Beisein“ begreift, wodurch der Satz sich
sowohl auf das ganzheitliche Wirkliche wie auf den Seinsgrund und die ihm zukommenden Bestim-
mungen erstreckt und so auch ursprünglich verstanden sein will.
Indem dieser Satz das Sein (einai) selbst bestimmt, ist er als „Bestimmen“ eine Weise vernünftigen
Verhaltens und geht dies sogar notwendig zuerst und eigentlich an. Denn das Wirkliche hat als solches
keine Beziehung zum Unmöglichen. Deshalb ist der Satz wesentlicher formuliert, wenn er das enthält,
was die eigentliche Möglichkeit auf das Unmögliche hin einschließt: nämlich das auffassende Denken.
So aber lautet er (nun nicht als verdoppelte logische Ausgabe desselben Satzes, sondern als entfalte-
tes Bewußtsein dessen, was er an sich sein muß): Es ist unmöglich, anzunehmen (apolambanein), daß
das-selbe sei und nicht sei. Der eigentliche Gegensatz (to enantion) liegt also nicht zwischen Sein und
Nichtsein, sondern zwischen Annahme und Annahme (enantion doxa doxe). „Wer sich über das Sein
täuscht“, so sagt Aristoteles, „hat irgendwie zugleich die entgegengesetzten Annahmen. Deshalb müs-
sen alle, die etwas aufweisen wollen, auf diese letzte Annahme hinführen. Denn sie ist von Natur (d. h.
durch sich selbst) Ausgang und Grund aller anderen Grundsätze.“
Was daher nicht auf diesen Satz zurückgeführt werden kann, hat keine Wahrheit, weil es dem Seinssinn
zuwider ist. Ist es dem Seinssinn zuwider, dann notwendig auch seinem eigenen Wirklich- und Mög-
lichsein. Ein Denken, Vernehmen oder Sagen, das es nicht mehr mit dem Sein zu tun hat, ist in sich selbst
aufgehoben, denn Denken bedeutet immer: Etwas, Seiendes denken.

93
Der Grundsatz des Widerspruches ist daher im eigentlichen Sinne eine Selbstverständlichkeit, weil er
aus sich und im Verstehen selbst unmittelbar verstanden ist; er ist so allgemein wie das Verstehen
selbst und deshalb nicht minder ein Grundsatz der Philosophie wie ein Grund des gemeinen Verstehens
überhaupt.
So aufdringlich ist diese Selbstverständlichkeit, daß ihr die Lehre Hegels zum Ärgernis werden
muß, der Widerspruch sei nicht nur denkbar, sondern er erst und er allein erschließe im Durchgang
durch seine Unmöglichkeit die Möglichkeit und Wirklichkeit des Seins, weil das Sein sich selbst
aus dem Widerspruch gegen sich selbst als einfache Einheit und Identität erst ermöglicht und herstellt,
„ohne welche Erkenntnis sich kein Schritt in der Philosophie tun lasse“. Dieses Ärgernis aber wird not-
wendig zur „Fassungslosigkeit“, in jedem Verstande dieses Wortes, so daß es nicht verwundert, wenn
immer wieder wohlmeinende „Rettungen“ Hegels hervortreten, die sich mit dem Hindernis trösten,
daß Hegel ja nicht den „logischen“ Widerspruch aufhebe, sondern daß sein Widerspruch „nur“ speku-
lativ sei und den Verhalt ausdrücke, daß ein Endliches im Unendlichen kein Bestehen habe und sowohl
sei wie nicht sei, daß also die Unterscheidung von Natur und Geist in der Einheit unendlichen Lebens
keine Wirklichkeit und kein Bestehen hat; im Grunde also eine Harmlosigkeit (die im Gedanken
einer creatio ex nihilo schon längst ausgesprochen ist) oder aber eine tiefsinnige Analogie zur Speku-
lation über die Trinität, deren reale Mannigfaltigkeit doch nichts ist als das Sein der Einheit selbst.
Daß dem nicht so sei, bedarf keines umfänglichen Aufweises, der an dieser Stelle auch gar nicht ge-
leistet werden soll und kann. Denn der ontologische Widerspruch Hegels duldet keine „logische
Widerspruchslosigkeit“ neben sich, weil es ja der Logos selber ist, der sein Leben aus dem Widerspruch
gegen sich selber gewinnt und daher die Identität jeder formal-logischen Setzung nicht erhalten kann,
sondern sie in den Widerspruch entgegengesetzter Bestimmungen forttreibt. Andererseits aber trifft es
auch nicht zu, daß der Grundsatz des Aristoteles ein „nur logisches“ Prinzip sei und als solcher von He-
gel nicht angetastet werde. Denn dieses „erste logische Prinzip“ ist doch für Aristoteles nie auf die
formale Aussagestruktur beschränkbar, sondern es ist das Prinzip des Seinsverständnisses. Dieses
Seinsverständnis aber ist nicht vom Sein im Ganzen ablösbar und betrifft daher ursprünglich jede spe-
kulative Ontologie.
Damit aber stehen sich die Lehren des Aristoteles und Hegels unversöhnlich gegenüber, und zwar
deshalb, weil nach Aristoteles das Sein an sich selbst den Widerspruch überhaupt nicht wirklich an sich
trägt und durch dessen Setzung in seinem Wesen verfehlt wird. Denn dieses konstituiert sich nicht in
der Aufhebung eines Widerspruches, sondern die konstituierenden Gründe des Seins sind a priori außer-
halb der Möglichkeit, sich zu widersprechen. Soweit sie das aber tun, verhalten sie sich nicht mehr als
Prinzipien der Wirklichkeit. Die eigentliche „Möglichkeit“ des Widerspruchs beruht nicht auf der
Realität des Seins, sondern auf der Endlichkeit des irrtumsfähigen Geistes, der das An-sich-Un-
wirkliche und das Sich-widersprechende sich vorzustellen vermag. Bestünde aber diese Lehre des Aris-
toteles zu Recht, so wäre es offenbar gar nicht möglich, daß Hegel seine ontologische Grundlehre ur-
sprünglich dem Unmittelbar-wirklichen spekulativ abgewann. Der einzige echte Ausgang kann

94
vielmehr nur die Grundverfassung des menschlichen Geistes sein, der sich als geschichtlich existierender
im Irrtum und damit im Widerspruch befindet. Der ontologische Schein dieses Widerspruches läge a-
ber darin, daß er als solcher die geschichtliche Existenz und damit das Mensch-sein selbst irgendwie zu
kennzeichnen vermag.
Als unsere Aufgabe ergäbe sich aus dieser Sicht her, aufzuzeigen, wie Hegel in der Tat diesen Aus-
gang nimmt und in seinen Jugendwerken auch dem „ontologischen Schein“ verfällt, eine geschichtliche
(mögliche) Verhaltensweise des Menschen schlechthin mit der Grundstruktur seiner und aller Wirk-
lichkeit gleichzusetzen. Erst indem der „Widerspruch“ in seiner „Existentialität“ gesehen wird,
indem der Prozeß des geistigen Abfalls der selbstmächtigen, ihrer selbst gewissen und darin „wah-
ren“ praktischen Vernunft zum notwendigen Geschehen des Seins selbst erhoben wird und das Seiende
aus dem Widerspruch einer abgefallenen Vernunft und Einbildungskraft wiedergeboren und in
seinem „Unsein“ als „Wirklichkeit“ und „Objektivität“ verfestigt wird, wird der Widerspruch onto-
logisches Prinzip. Dieses geistige Geschehen spekulativ nachzuzeichnen sei das Ziel der nun folgenden
systematischen Deutung der Jugendschriften Hegels.
Ist das absolut Gegensätzliche nach Aristoteles gar keine Weise der Wirklichkeit, sondern erst im Spre-
chen und Widersprechen, im legein und antilegein, in sich selbst ermöglicht, so folgt, daß alles wirk-
lich Widersprechende in seiner Wirklichkeit ursprünglich nur erfahrbar und erweisbar ist im Leben des
sich widersprechenden Geistes, und nicht sofern dieser sich einfach hinnehmend zu Seiendem verhält,
sondern zu sich selbst oder zu seinen Setzungen über das Seiende. Dieses Sich-Verhalten des Geistes
ist nun, so es sich selbst widerspricht, immer irgendwie in sich aufgespalten in Spruch und Ge-
genspruch, in dieser Doppelung aber auf die notwendige Einheit eines Sinnes bezogen. Denn wenn zwei
schlechthin verschiedene Aussprüche oder Setzungen vorliegen, die nicht zugleich eins sein sollen, so ge-
hen sie sich nicht an und können sich nicht widersprechen. Sind sie aber beide so geartet, daß einer den
anderen ausschließt, so sind sie aufeinander bezogen, dieweil sie sich gegenseitig aufheben oder ver-
nichten. Bleiben sie aber beide irgendwie bestehen, so ist entweder das Denken, die Einheit beider
zerstört, und das Sichverhalten ist nur noch ein leerer Umtrieb mit sich selbst, oder aber es ist als ech-
tes Verhalten in sich selbst aufgehalten“, d. h., es ist im Versuch, sich einer Seite zuzuwenden, durch
die andere zurückgehalten, und ist, je mehr es auf die eine hindrängt, auf die ausschließende andere zu-
rückgeworfen. Kann es aber den Widerspruch nicht schlichten oder die eine Seite endgültig gegen die
andere setzen, so ist das in sich aufgehaltene Verhalten gerade durch sein Eins-sein-müssen in sich
zerspalten. Es ist notwendig entzweit, als entzweite Einheit des Verhaltens aber in sich „verzweifelt“.
Warum aber kann das Denken sich nicht für eine Seite entscheiden? Weil jede den gleichen An-
spruch an absoluter, ausschließender Wahrheit hat, der sich zwar in sich selbst gültig ausweist, der a-
ber zugleich nicht hinreicht, den der anderen zu entmächtigen. Da aber um der notwendigen Wahrheit
willen nur eine Seite wahrhaft berechtigt sein kann, so ist eine durch die andere in ihrem Wahrsein
entmächtigt, so daß sie notwendig nur im Schein der Wahrheit steht. Das Verhalten zu sich selbst
kann also nur dann den Widersinn des Widerspruches durchhalten, in ihm aufgehalten sein und sich in

95
ihm aufhalten, wenn es sich mit dem Schein irgendwie Genüge sein läßt. Dieses Sich-Aufhalten im
Schein kann nun als lebendiges Sein des Widerspruches begriffen werden. Diese lebendige Wirk-
lichkeit des Widerspruches vermag in verschiedenen Weisen hervorzutreten.
Der Mensch verhält sich wider sein Wissen durch die Nötigung des Scheins in absoluter Wendung und
Verfestigung der Haltung einseitig, doch so, daß die Einseitigkeit des Verhaltens an ihr selbst nicht of-
fenbar wird. Zu sagen, solch ein Mensch verhalte sich widerspruchsvoll, kann nun einen zweifachen
Sinn haben. Erstens das Verhalten erscheint einem Zuschauer widerspruchsvoll, welcher eine zweite, die
Notwendigkeit und den absoluten Anspruch der ersten aufhebende Möglichkeit vor sich sieht, die aber
dem Sich-verhaltenden verborgen bleibt. Oder zweitens das Verhalten steht im Widerspruch zu einem
ursprünglicheren, allgemeineren, das sich als bestimmendes Maß, wenn auch unbewußt, durchhält. In
diesem Falle ist das Vergessen oder eine vermeinte Beziehungslosigkeit beider Verhaltungsweisen der
Grund, daß der gekennzeichnete Widerspruch wirklich wird. Der Mensch spricht also faktisch gegen
sich selbst, doch so, daß er im jeweiligen Spruch sich selbst irgendwie zugleich nicht trifft. Es ist leicht
einsehbar, daß hier eine spezifische Zerrissenheit vorliegt, die ihren Ort in der Mitte des Geistes
hat, daß er nämlich sein muß oder sein soll, wie er zugleich, gemessen an einem jeweils abgedrängten
oder in die Tiefe der Vergessenheit versenkten oder in seiner bewußten Geltung abgestumpften Wol-
len und Müssen, nicht sein darf oder sein kann. Diese Zerrissenheit des Bewußtseins ist es, die eine
Unmöglichkeit möglich und sogar notwendig machen kann. Ist aber der Mensch so geartet, daß
er die absolute Einheit und Notwendigkeit seines Selbstseins in sich verliert und sich in ihm nicht nur
eine Unmöglichkeit ermöglicht, sondern notwendig ereignet, so steht sein Dasein in einer schranken-
und hemmungslosen Breite und Vielseitigkeit des Verhaltens. So fällt ein grelles Licht auf eines der
frühsten Worte des jungen Hegel, das seine ganze Entwicklung kennzeichnet: ,Der Mensch ist ein so
vielseitiges Ding, daß sich alles aus ihm machen läßt. Das so mannigfaltig verflochtene Gewebe seiner
Empfindungen hat so vielerlei Enden, daß alles - geht's nicht von dem einen, so geht's von dem andern
- sich daran anknüpfen läßt.“
Wird aber tiefer auf die Wirklichkeit dieses Widerspruches reflektiert, so liegt in ihm immer ein
drittes Verhalten eingeschlossen. Denn wenn wirklich eine Verhaltungsweise ursprünglich die andere
ausschloß, so ist ein Grund zu erfragen, der sie in sich selbst abstumpfte oder sie aus dem Bewußtsein
abdrängte, daß sie sich gegen ihr Gegenteil nicht geltend machen konnte. Dieser Grund kann nur in
einem dritten Verhalten liegen. Das ursprüngliche Verhalten verhielt sich wider sein Wesen nicht
ausschließend. Dies ist aber nur möglich, wenn es irgendwie in sich so begrenzt war, daß es seinen An-
spruch über das Ganze der menschlichen Tätigkeit nicht durchhielt, so daß als drittes Verhalten ein
Sich-Halten in der Gleichgültigkeit und vagen Unentschiedenheit oder Bewußtlosigkeit des Daseins
sich ergibt, in welchem die innere Notwendigkeit des ersten erlischt. Es ist deshalb kein Zufall, daß
Hegel schon in dem angeführten Satz die Vielseitigkeit des Menschen nicht an die Vernunft anknüpft,
so, als sei diese aus sich zu Spruch und Widerspruch befähigt, sondern an die Empfindung, die hier
als gleichgültiges Gestimmtsein begriffen werden will, das sich zu nichts ausschließend verhält. Der

96
Mensch ist also in diesem Widerspruch immer zugleich außer ihm in der Gleichgültigkeit eines an sich
unbestimmten, allgemeinen Gehabens, oder er hält sich als sich widersprechende Mannigfaltigkeit in
einer Seinsebene, die gegenüber der ausschließenden Einheit der Vernunft eine allumschließen-
de Einheit des Lebens bedeutet; oder die den Widerspruch aus- und durchhaltende, ihn ermöglichende
Einheit ist das Leben. Es ergibt sich für uns hier unmittelbar die Grundkategorie, die, wie schon Dil-
they hervorhob, das ganze Denken des jungen Hegel trägt. Es ist das Leben, das gegenüber jeglicher
Bestimmtheit der Vernunft, der Natur und der Existenz die ganze Breite seiner widerspruchsvollen
Unmöglichkeiten möglich und als Verhalten wirklich werden läßt.
Aber weil es dieses Leben, diese Weite und Breite gibt, deshalb kann nun auch die Vernunft aus
der Einheit des selbstbewußten Geistes sich auf den Widerspruch einlassen. Der Mensch kann sich im
Bewußtsein des Widerspruches in ihn begeben und sich in ihm halten, weil er den Rückstoß der Aus-
schließung durch ein zweites, ihm gleich notwendiges Verhalten gleichsam abstoppen kann und zwi-
schen die Schärfe der sich gegenseitig vernichtenden und aufhebenden Setzungen und Verhaltungen
die abdrängende, abstumpfende oder gar auslöschende Weichheit und Unbestimmtheit des sich selbst
aus sich tragenden Lebens zu stellen imstande ist. In diesem Falle entscheidet sich der Mensch gegen sich
selbst und seine Notwendigkeit, so daß sich zur möglichen Unmöglichkeit des lebendigen Gehabens die
Freiheit des Geistes gesellt, die Widersprechendes möglich macht. Es ist daher wiederum nicht zufällig,
daß die Freiheit und die absolute, durch keine Grenze aufgehaltene oder in Schranken geschlagene
Selbstmächtigkeit des sich zum Ganzen seines Seins ermöglichenden Menschen zum notwendigen Aus-
gang des Hegelschen Seinsentwurfes gehört.
Diese Freiheit aber ist die Freiheit der Vernunft, d. h. der dem Seinsganzen zugewandten Erkenntnis.
Bedeutet ihr der Widerspruch ihres Setzens notwendig die Zerstörung ihrer wesenhaften Einheit, so ge-
schieht in der „Hybris“ oder der „Not“ einer solchen freien Entscheidung notwendig ein Abfall von
sich selbst. Dieser Abfall aber kann nur geschehen, wenn es einen Spielraum des Fallens gibt, in den
hinein das Dasein verfällt. Ist die Vernunft aber die ursprüngliche und notwendige Einheit des Geistes
und als diese Einheit die Wahrheit aller möglichen Seins- und Verhaltungsweisen, so erhellt, daß
jener Spielraum des Lebens und der Freiheit, in den sich das Dasein im Widerspruch mit sich selbst
begibt, außer der Vernunft liegt. Die Vernunft aber, die ihre widersprechenden und widersinnigen
Verhaltungsweisen und Seinsweisen als wirkliche außer und neben sich hat, ist notwendig eine end-
liche, begrenzte Vernunft, die den Anspruch nicht mehr erheben kann, das Ganze, Erste und Allgemeins-
te des Seins zu sein. Es ergibt sich hiermit eine Grundthese des Hegelschen Jugendwerkes, daß nämlich
die Vernunft in ihrer abstrakten „Allgemeinheit“ weder das Ganze noch den höchsten Grund des Seins
bedeutet. Der Widerspruch ist also nur möglich, weil die Erkenntnis des Seins durch die Vernunft end-
lich (abstrakt) ist, während hinter ihr die beiden Unendlichkeiten der Freiheit und des Lebens liegen.
Mit dieser eingeschränkten Allgemeinheit der Vernunft hat nun jedoch auch der Widerspruch seine ab-
solute Schärfe eingebüßt, dieweil eben jeweils außer den sich ausschließenden Verhaltungen oder
Setzungen eine dritte möglich ist, die beide schlechthin aufhebt, die aber als Verhaltung sich jenseits

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jeder endlichen, vernunftgemäßen Entgegensetzung hält. Damit aber setzt Hegel ursprünglich als
Weise der Existenz eine einfache, ungebrochene, ganzheitliche, uneingeschränkte, in sich durch und
durch positive Möglichkeit menschlichen Daseins, die jenseits aller Entgegensetzung steht. Es ist dies
jene absolute Höhe des Lebens, die als „Liebe“, als „pleroma des Gesetzes“ und „der Liebe“, als
„reines Leben“, als „All des Empfindens“, als „durchfühlender“, „lebendiger Geist“ die Deutung des
christlichen Geistes in den Jugendschriften trägt.
Mit dieser Ebene des gottgeborenen, reinen Lebens wäre indes der Widerspruch des Lebens in sich
nichtig und belanglos geworden. Wir stehen in einer beziehungslosen Unendlichkeit, welche die Ge-
gensätzlichkeiten der endlichen Vernunft unter und außer sich hat, ihre innere Nichtigkeit erkennt und
beiseite schiebt. Allein, die endliche (abstrakte) Allgemeinheit der Vernunft war doch ursprünglich
identisch mit der autonomen, selbstmächtigen, freien praktischen Vernunft des sich in den Scheinwider-
spruch verlierenden Lebens. Sie ist doch irgendwie so allgemein wie das Leben selbst. Deshalb ist im
gleichen Maße, wie im widerspruchsvollen Verhalten die Vernunft außer sich fiel, das Verhalten doch
von ihr umhalten und durchprägt geblieben, weil sie schlechthin die Form und der Lebensakt der Frei-
heit selber ist. Daher ist die Vernunft nur in den Schein ihres Außersichseins gefallen, so daß der
junge Hegel über den Abfall und Verfall des Geistes sagt: „Die Vernunft konnte nie aufhören,
doch irgendwo (außer sich) das Absolute, das Selbständige, das Praktische zu finden.“ Da das Selb-
ständige, Absolute und Praktische aber immer notwendig das Vernünftige ist, so bleibt die Vernunft
in ihrem Abfall bei sich selbst, d. h., sie wird im Abfall in den Widerspruch des Lebens irgendwie in
sich zerrissen und erscheint nun als Vernunft in einer ihr nicht gemäßen Weise der Erkenntnis oder des
erkenntnisvollen Verhaltens, doch so, daß das ungemäße Außersichsein unter dem Maß und Gewicht
ihrer Eigentlichkeit verharrt.
Zum äußeren Spielraum des Verfallens kommt daher jetzt eine wesenhaft innere Möglichkeit des Aus-
einanderfallens und des Zerreißens. Sofern aber dieses Auseinanderbrechen in verschiedene Verhal-
tungen. absolut ausschließend ist, so wie die Wahrheit und der Irrtum sich ausschließen, so muß jetzt
im absoluten Verhalten der Vernunft selbst jene oben besprochene dritte Verhaltungsweise des gleich-
gültigen Bestehenlassens oder des freien Ermöglichens des Unmöglichen aufzufinden sein. Das heißt,
die Vernunft als Denken und Erkennen ist in sich selbst Leben und freiheitliche Selbstbestimmung,
die entweder in sich selbst den Spielraum der möglichen Entäußerung trägt oder ihn aus sich erzeugt.
Als solche steht die Existenz des Menschen ursprünglich als Vernunft zugleich außer sich, doch so, daß
das Nichtvernünftigsein durch und durch vom Anspruch und Maß der Vernunft geprägt ist. Was also Zer-
reißung ist, ist im selben Maße, wie es Abfall und Ausbruch bedeutet, zugleich das gleiche Leben des
Vernunftganzen, und ebenso, wie es absolut negativ ist, ist es zugleich durch und durch positiv be-
stimmt.
Durch diese positive Bestimmung steht es in einem mehrfachen Bestimmungsverhältnis zur Allge-
meinheit und Einheit der Vernunft. Erstens ist es als „Abfall“ durch die Vernunft selbst in die Zerris-
senheit seiner inneren Unmöglichkeit gehalten, d. h., es ist in sich tot und nichtig. Zweitens ist es als ver-

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nunftinnerliches Verhalten eine Weise des Lebens und hat den Schein des vernünftigen Bestehens bei
sich, durch den es sich erhält und in seiner Nichtigkeit fortwährt. Drittens ist es als Vernunft in sich
selbst produktiv gegen sich selbst gerichtet, um jederzeit aus seinem Anderssein oder seiner Unei-
gentlichkeit in den eigentlichen Lebenskreis des Ganzen wieder einzumünden oder sich aufhebend
neu wiederzugewinnen.
Was hat das für die Seinsweise der Vernunft und der Wahrheit zu bedeuten? Zum ersten wird ge-
fordert, daß die Vernunft ein selbstgewisses, für sich selbst durchsichtiges, allgemeines, umfassendes
Leben sei. Diesen Ausgang nimmt Hegels Denken in der Tat. Es ist die durch Schönheit und Maß in
sich ausgeglichene und vollendete Natur des griechischen Volkes, die Hegel von der praktischen
Vernunft Kants her deutet und visionär erschaut.
Praktische, autonome, gesetzgebende Vernunft ist wesenhaft ein allgemeines Prinzip, das der zufälli-
gen, individuellen „Affektion“ der sinnlichen Triebe das Lebensgesetz der Gemeinschaft (als all-
gemeine Gesetzgebung) entgegenstellt. Wenn nun der Gegensatz der gesetzgebenden Vernunft ge-
gen die Sinnennatur schwindet, fällt notwendig das freiheitliche Selbstbewußtsein aus dem durch
die Sinnlichkeit vereinzelten Subjekt in die vollendete Allgemeinheit des Vernunftlebens, d. h., sie
wird mit dem Lebensakt einer menschlichen Gemeinschaft, in diesem Falle des freien Volkes, identisch.
Zugleich aber fällt das höchste Gut, nämlich die Seligkeit freien vollendeten Lebens, mit dem Lebens-
akt der praktischen Vernunft, d. h. mit dem Leben des Volkes, zusammen. Damit aber gibt es
zugleich keinen Grund mehr für die Annahme eines transzendenten Gottes, der dem moralischen
Dasein einen angemessenen Stand der Glückseligkeit zumesse, da ja das „schöne“ freie Leben in sich
selbst das Leben eines „seligen Gottes“ bedeutet, der von den Schranken der Sinnlichkeit nicht mehr
wesentlich affiziert wird. Gott, Leben, Freiheit und Wahrheit fallen daher schlechthin in eins zusam-
men.
Diese göttliche Natur aber trägt in sich die konkrete Fülle menschlichen Lebens. Sofern aber die Vernunft
sich ursprünglich bestimmend gegen die Sinnlichkeit verhielt und deren endliche Daseinsweise aus-
schloß, so rücken nun beide sich vollendend aufeinander zu und wandeln sich in die beide einende Mit-
te der Gottmenschnatur. Diese Mitte ist das „die Masse seiner Sinnlichkeit“ aus der Tiefe und All-
gemeinheit der Vernunft „durchfühlende“, durchstimmende „Herz“; an die Stelle der ent-
gegengesetzten „abstrakten“ Vernunft Kants, die als endlicher „Verstand“ ihre „gegenständigen“ „Ob-
jekte“ außer sich hat und darin unvernünftig ist, tritt eine tiefere Kraft der Gottnatur, welche die aus
der Vernunft geborene Fülle sinnenhaften Lebens sich selber durchsichtig darstellt, den Geist versinn-
licht und die Sinnlichkeit vergeistigt, eine schöpferische Kunst des Herzens, die „Einbildungskraft“
als Vermögen des Volksgeistes selbst. Diese ist eine transzendentale, schöpferische, allgemeine Le-
bensmacht, die aus ihrer Tiefe alles sinnhafte Außensein, das Sein der Natur, ihre Vergeistigung in der
Schönheit und die ganze „Welt“ des Lebens, den inneren Daseinsraum des Volkes ursprünglich aus
sich entläßt und bestimmend bei sich hält.

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Diese Gott-mensch-natur enthält zweitens in ihrer Lebensmitte den gekennzeichneten Spielraum des
Verfalls in den Widerspruch. Ist sie aber schlechthin vernünftige, freie, selbstige, sich selbst erwir-
kende, darstellende und genießende Lebenseinheit, sich selbst durchsichtig und sich selbst gemäß, so
bedeutet notwendig jede Andersheit des Lebens, jedes Gegenüber, alle Gegenständigkeit, jede
Weise des sich ablösenden Fürsichseins, jede Besonderung und Vereinzelung einen „lebendigen
Widerspruch“. Denn der Lebensakt des Volksgeistes ist das Leben der freien Vernunft, die sich ab-
solut und ausschließend verhält, so daß jede Absonderung nicht nur dem allgemeinen Vernunft- und
Lebensgeist entstammt, sondern eins mit ihm bleibt, und als vernünftiges Leben alles andere von sich
ausschließt. Der Geist ist also ursprünglich geartet, in der Ganzheit seiner selbst auseinanderzubrechen,
doch so, daß das, was sich ablöst, in sich selbst durch und durch ausschließend ganzheitlich und so-
mit dem Ganzen selbst widersprechend ist.
Diese Möglichkeit gründet in der Mitte des freien Selbst, dessen Freiheit keine Schranke einer Unmög-
lichkeit aufweist, zum andern aber in der unbestimmten Breite des Lebens, aus welchem in den Katast-
rophen der Natur der „mörderische Gegensatz gegen das Leben“, der Tod, ersteht, der, an sich
selbst ein absoluter Wider- und Gegensinn gegen das Leben“, dieses in seiner Mitte auseinanderreißt
und in „gräßlicher Verwüstung“ verkehrt. Hegel faßt dieses Schicksal des Umschlags in den Widersinn
in den lapidaren Satz: „Daß höchste Not Heiliges (d. h. das Geistleben des Volkes) verletzt, ist ein i-
dentischer Satz.“ So begegnen uns hier als die Wurzeln des Widerspruches: der freie Abfall des
Geistes von sich selbst und die zerstörende Katastrophe der Natur, die den Geist vergewaltigt. Beide
aber sind Untiefen, Grundlosigkeiten des freien, ungebundenen Lebens, Ereignisse infolge einer vor-
ausgesetzten Unordnung der endlichen, sterblichen und vielfältigen Natur, nicht aber Setzungen eines
mit sich selbst im Widerspruch lebenden Denkens des Seins oder gar der Widerspruch des göttlichen
„Pleroma der Liebe“.
In diesem Auseinanderbruch der sich selbst freiheitlich und schöpferisch bildend setzenden und
durchdringenden Geistnatur fällt nun notwendig alles in die absolute Verkehrung seiner selbst, und der
Spielraum des Abfalls ist die schöpferische Mächtigkeit der Selbstermöglichung des Lebens. Schon
Fichte hatte in der „Kritik aller Offenbarung" aus einem spekulativen Begreifen der autonomen Ver-
nunft gefolgert: „Die Idee von Gott, als Gesetzgeber durchs Moralgesetz in uns, gründet sich auf eine
Entäußerung des Unsrigen, auf Übertragung eines Subjektiven in ein Wesen außer uns, und diese
Entäußerung ist das eigentliche Prinzip der Religion, insofern sie zur Willensbestimmung ge-
braucht werden soll." Bei Hegel wird diese Entäußerung der Vernunft zum absoluten Gegensinn
und Widerspiel gegen ihre Selbstmacht. Die Vernunft, die ihrer autonomen Natur im Orkan der Zer-
reißung nicht mehr mächtig und darin sich nicht mehr durchsichtig ist, nimmt das Gegenspiel der Na-
tur-gewalt in der Weise der eigenen Mächtigkeit auf, weil nichts außer ihr selbst sich ereignen
kann, und entwirft sich selbst außer sich als allgemeine, ganzheitliche, absolute Macht über das Leben
und das Selbst und nennt dies Gemächte ihrer selbst Gott, den „absoluten Herrn". Das heißt, die absolu-
te Verkehrung des Seins der Vernunft ist die transzendente Idee der allmächtigen, absoluten Gottheit.

100
So wird in der Idee des „allmächtigen Herrn" über Natur, Leben und Tod, des schrankenlosen Herr-
schers absoluter Willkür, d. h. in der radikalen reformatorischen Transzendenz der Gottheit vom
jungen Hegel die letzte Dimension des Verfalls und der Verkehrung des menschlichen Geistes in den
reinen „Widersinn" des Lebens und der Wirklichkeit umrissen.
Sofern aber die Vernunft selbst entäußernd ist, wird sie notwendig mit jener Kraft identisch, die das
selbstdarstellende Bilden des Volksgeistes ermöglichte, d. h., sie wird zur „transzendentalen Einbil-
dungskraft", die sich selbst so zum Gegenbild ausbildet. In diesem Gegenbild zerfällt nicht nur der freie
Selbstbesitz der Vernunft in sich selbst und wird „Versagen", „Schwäche", „passiver Verzicht" und
„sklavische Unterordnung", sondern er erhält sich gleichursprünglich in defizienten Weisen der Ur-
sprungseinheit als „Herrschsucht", als ausschließender „Haß" oder einheitsuchende „Sehnsucht".
Die bildende Kunst der Volksphantasie aber zerfällt entweder in dämonische Entartung, in sterile
Verkümmerung oder ihr einigendes Bilden schlägt um in das „geistlose" Setzen des „Verstandes", der
statt der Welt schöner Bilder oder Mythen die Wirklichkeit in die spröde „Gegen- und Widerstän-
digkeit" für sich seiender Dinge und Bestimmtheiten „versteinert", die als absolute Setzungen alle
Einheit des Lebens zerstören. Deshalb ist der Verstand die „Macht der Reflexion", in der Lebendiges
sich absolut auf sich selbst zurückwendet, sich aus dem Ganzen herausschneidet und dem Tode preisgibt.
Dieser Verstand, die eigentliche Macht des Todes und der Versteinerung, ist die Vernunft selbst im Ab-
fall von sich selbst und deshalb eine allgemeine, allbestimmende Macht. Er zerreißt und „objekti-
viert" Natur zur bloßen Dinglichkeit, läßt die urbildende Kunst verkümmern, setzt den Geist als
„Subjekt" gegen eine Welt von „Gegenständlichkeit", reißt das „Individuum" aus der organischen Ein-
heit seines Volkes, macht sein absolutes Selbstsetzen zum „kalten Gesetz" gegen und über der Sinnlich-
keit, er „fixiert Vergängliches als ewig" und schlägt alle Zusammenhänge und Fülle des Lebens in
den „nur allgemeinen" Begriff, der das Einzelne, Lebendige außer oder „unter sich" hat. Hegel for-
muliert bündig: „Der Verstand ist das Töten!"
Indem so der widersinnige Umschlag des Geistes in sich selbst geschieht und der ganze Lebensumkreis,
die organisierte Einheit eines Volkes in ihrer Geist- und Lebensmitte zerspalten oder von den ab-
gespaltenen Mächten durchherrscht und widergeistig durchprägt wird, gerät das Leben aus sich selbst in
die absolute Unruhe des Widerstreites, in die Bewegung der Selbstauflösung, der sich bewahrenden
Selbstbewährung und der wiederherstellenden Einigung, d. h., es wird als geschichtliches Dasein beg-
riffen. Aus dem Leben und dem Verfall des absoluten Volksgeistes oder des gottmenschlichen Lebens-
ganzen erwachsen dem jungen Hegel so die spezifisch geschichtlichen „Gebiete des Lebens" und „des
Todes" und eine Fülle kategorialer Bestimmungsweisen des menschlichen geschichtlichen Daseins, die
hier nicht mehr gekennzeichnet werden können. Die Fruchtbarkeit dieses Zugriffes liegt darin, daß
jede Kategorie eine spezifische Dimension der Abwandlung aufweist, die alle Weisen der Einheit
und Zerreißung des Geistes anzusprechen imstande ist. Denn sie alle stehen durch die Auflösung des
Geistes als eines schöpferisch sich selbst bildenden und für sich ausbildenden Lebens immer sowohl im
negativen Bereich des Verfalls wie im positiven der sich ermächtigenden Lebensfülle, Breite und

101
Tiefe, die sich bis in den Widersinn des Todes ausmißt und als innerliches Leben in der Zerreißung
wieder neugewinnt. So steht alles Anderssein ursprünglich im Schein des Widerspruches, jeder Wi-
derspruch im Todeslos seiner Lähmung, Erstarrung, Auflösung oder Aufhebung, d. h. in seinem
„Schicksal“, alles Widerständige aber im Innenraum des sich an ihm entzündenden, darstellen-
den und immer neu gewinnenden Lebens.
Hegels Seinsentwurf erweist sich so als ursprünglicher radikaler Gegenwurf gegen den Zustand der
Zerrissenheit des Geistes, in dem er sich selber vorfand. Die reformatorische Gnadenlehre, die absolute
Transzendenz des absolut prädestinierenden Gottes, die pietistische Subjektivierung der Fröm-
migkeit, die Auflösung des Religiösen (es folgen Worte Hegels) „in Kirche und Staat, Gottesdienst
und Leben, Frömmigkeit und Tugend, geistliches und weltliches Tun“, im philosophischen Felde die
Skepsis Jakobis, die Antinomik Kants, die Widerspruchsdialektik des Geistes bei Fichte sind die geis-
tigen Mächte, denen er sich im Ansatz entwindet, um im Lehrbegriff seiner „subjektiven“ Geistreli-
gion den Widerspruch wieder auf seine Weise hervorzutreiben. Der lebendige Widerspruch aber zeich-
net sich bei ihm gegenüber Kant und Fichte dadurch aus, daß er aus der Geist- und Lebenseinheit
selbst hervorbricht, gleichsam schöpferisch erzeugt wird, und daß er die Ganzheit menschlichen Tuns
und Gestaltens im geistigen Kosmos einer lebendigen Volks- und Lebensgemeinschaft bestimmt und
durchherrscht. Daß aber ursprünglich der Widerspruch nicht als ontologisches Prinzip des Absoluten
selbst begriffen war, geht auch daraus hervor, daß der junge Denker am Ausgang wie am Ende sei-
ner frühen Systematik jenseits aller Widerspruchszerspaltenheit steht, im „reinen Leben“ des sich in
der „Liebe“ zeugenden und in schöpferisch-mythischer Einbildungskraft darstellenden „religiösen
Genius“. Sein vorwärtsweisendes Wort „Reines Leben zu denken, ist die Aufgabe“ wandelt sich daher
im ersten Systemfragment zur Losung: Reines Leben zu leben in der Liebe und zu gestalten in der Re-
ligion!
Freilich hatte der Widerspruch des Geistes trotz dieser Versuche, dessen reine Lebenseinheit zu ge-
winnen, sich in gleicher Allgemeinheit unbewußt behauptet. Denn alle Versuche, das reine Leben
darzustellen, hatten immer wieder den absoluten Widerspruch des Lebens erzeugt und schließlich ein
„ungeheures Feld der Objektivität“, d. h. der „Gegenständlichkeit“ außer sich gelassen. Alle Gestal-
ten des „reinen Lebens“, „Christus“ selbst und die „junge christliche Gemeinde“ erschienen nämlich
Hegel in pietistischer Einseitigkeit. Deshalb schienen sie nicht nur die ganze Fülle gesunden bürgerli-
chen, staatlichen und politischen Lebens unberührt zu lassen, sondern ihr „abstrakter“ Geist schien Na-
tur, Welt und Gott als feindliche unversöhnliche Gegensätze auseinanderzureißen.
So begegnen wir hier einer weiteren Quelle des konstitutiven Widerspruchsprinzips, die freilich in-
haltlich mit den gekennzeichneten des im Widerspruch existierenden Geistes gleichkommt, sich aber
insofern von ihm unterscheidet, als sie unbewußt das Denken Hegels selber innerlich bestimmt. Das ist
jener Widerspruch, der nicht mehr an einer geschichtlichen Existenz in ontologischer Phänomenologie
abgelesen wird, sondern der der Seinsdeutung Hegels selber entspringt. Diese Deutung aber steht unter
dem Vorrang der absoluten Lebens-, Liebes-, Geist- und Vernunftidentität, die als „Licht“, „Liebe“

102
und „Religion“ die ganze Fülle des gegenständlichen Seienden und die innerlich entgegengesetzte E-
xistenz sich einzuwandeln und als Identität zu „erleben“, zu „genießen“ oder sie wenigstens „anzu-
schauen“ trachtet. Sofern aber die Gestalten und Weisen der Wirklichkeit sich einer solchen „allmysti-
schen“ Durchdringung und Einwandlung widersetzen oder immer wieder in den um so schärferen
Gegensatz fallen, wird der Widerspruch zu einer Bestimmung, kraft welcher sich alles Endliche gegen
seine Verunendlichung erhält und sein Dasein überhaupt hat.
In dieser Form aber steht der Ansatz Hegels, aristotelisch gesehen, noch unter Wahrheit seiner eige-
nen Unmöglichkeit, die ihn irgendwie entlarvt. Denn dieser Widerspruch bedeutet in der ersten Kon-
zeption notwendig eine Infragestellung der Identität überhaupt oder aber des mit ihm behaupteten
Gegensatzes, und beides tritt bei Hegel irgendwie zutage. Das erste, sofern sich die spekulative I-
dentität überhaupt nicht herstellen läßt und daher auch als Ausgangsprinzip irgendwie ins Un-
faßbare entgleitet, das zweite, sofern der „Widerspruch des Wirklichen“ zu einer Bestimmung der
Philosophie wird, die als solche von dem Akt der überphilosophischen Religion aufgenommen
und der ihr notwendigen „Reflexion“ enthoben wird. Dadurch wird der Widerspruch nur zum
Schein absolut, da er ja von einem Prinzip gesetzt wird, das sich irgendwie rein auf seiten des Endli-
chen hält und daher seinen Setzungen und Gegensetzungen keine wirkliche Gültigkeit, sondern nur
eine scheinhafte verleihen kann. Damit aber ist der eigentliche Boden der Philosophie überhaupt zu-
gunsten einer unmittelbaren „Mystik des Erlebens“ verlassen.
Hier aber steht Hegel vor der Entscheidung: Entweder er gibt die Philosophie als solche preis, oder er
revidiert seine Ausgangsposition von der unmittelbaren substantialen absoluten Geist- und Lebensiden-
tität, oder aber er verharrt bei der Weise seines Philosophierens und macht den Versuch, die absolute
Widerspruchsgegensätzlichkeit in der gleichen Ebene, in der sie sich als solche bekundete und sichtbar
machte, wieder zu tilgen, d. h., er versucht, den absoluten Widerspruch des Denkens als seinskon-
stitutiv zu begreifen und den inneren Umschlag des Widerspruchsdenkens in die notwendige absolute
Identität als Prinzip des Seins selbst zu begreifen. Eine andere Möglichkeit aber hatte er nicht mehr,
das Mannigfaltige und das Eine als identisch zu denken, es als solches „lebendig“ anzuschauen und zu
genießen. Die kritische Frage, ob es wirklich das „Denken“ sei, das das „Sein umkehrt“ und die Ein-
heiten der geschichtlichen Wirklichkeit organisierte und innerlich konstituierte, vermochte er freilich
dann nicht mehr zu stellen und zu beantworten, da ja das formale Gefüge eines Widerspruchsdenkens
jedem Wirklichen irgendwie angemessen sein mußte und, was seine eigenen „logischen“ Ansprüche
anging, bei der Betrachtung des Wirklichen auch auf seine Kosten kommen mußte oder konnte. Daß sich
hierbei das formale Denken von tieferen Inhalten nährt, die es weder ursprünglich in sich birgt noch
auch wesenhaft ermißt und bewegt, konnte innerhalb dieses Denkens selbst nicht mehr offenbar werden.
So ist das Ergebnis der ersten systematischen Versuche Hegels, gemessen am Gesamtwerk und an der
immanenten Forderung, daß das „reine Leben“ auch das All des Lebens sei, das nichts neben und außer
sich hat, notwendig auf den Umschlag in die spätere dialektische Systematik angelegt, welche die
Einheit wie die Zerspaltenheit des Seins gleich wesenhaft betont. Seine Konsequenz weist zwar jetzt

103
noch über das philosophische Erkennen hinaus in die religiöse, prophetische Daseinsgründung hinüber,
für die Hegel jedoch keine Bestimmung in sich trug. Wie aber will das „reine Leben“ je die unge-
heure Weite des zerrissenen Lebens in sich aufnehmen, wie will es je den „Widerspruch“ der Anders-
heit und Objektivität, der feindlichen Welt und des auf die mystische All-lebens-einheit unbezogenen
praktischen Lebens einen, wenn es nicht selbst das Leben und Sein dieses Widerspruches ist, ihn er-
kennend durchmißt und ihn im geschichtlichen Prozeß entmächtigt und auflöst. Wie überwindet es sonst
den Abgrund jener Widersprüche?
Hegel hat in der Tat bereits im Jugendwerk den Weg zur späteren Lösung beschritten. Indem das
Absolute oder das All des Lebens seine Fülle und Bewegung darin hat, daß es sich aus seinen endli-
chen Gestalten und Manifestationen zu sich selbst und seiner reinen Lebenseinheit in der erkennend
durchlichteten Liebe zurückgewinnt, indem Hegel schließlich diesen Prozeß philosophisch nachvoll-
zieht und in spekulativer Erkenntnis „die Widersprüche“ als den Bereich der »reflektierenden“ Ver-
nunft oder des „Verstandes“ bestimmt, aus denen die spekulative Vernunft sich in die reine Lebens-
einheit zurückhebt, hat er die Philosophie faktisch zur Allgemeinheit dieses Lebens ermächtigt und
braucht so später keinen weiteren Schritt zu tun. Ist auch die Philosophie selbst noch nicht die eigentli-
che treibende, auflösende, überwindende, zeugende Tiefe des allgemeinen Geistes, so sind doch alle
Gestalten und Möglichkeiten, wenigstens negativ, von ihr angesprochen und umschrieben worden.
Freilich bedeutet diese Rolle der Philosophie auf der Höhe der Frankfurter Erkenntnis zugleich die ab-
solute Gegenfrage gegen das spätere Werk Hegels. Denn das „Systemfragment“ gipfelt in der Ein-
sicht, daß der absolute Grundsatz des Systems: „das Leben sei die Verbindung der Verbindung und
Nichtverbindung“, eine endliche Bestimmung der Reflexion darstelle, die nicht in der Einheit, sondern
im Widerspruch des Lebens verharrt, seine Dissonanz nicht löst und daher auf dem Gipfelpunkt seiner
höchsten Möglichkeit gegen sich rein negativ wird und aus sich selbst ins Überphilosophische um-
schlägt. Damit hat Hegel, das Schicksal seines späteren Werkes vorwegnehmend, hellsichtig aufge-
zeigt: seine Jugendthese enthält die Unmöglichkeit, durch Vernunft allein die Einheit des Lebens und
des Geistes zu begreifen oder zu setzen. Denn der Identität ist die Nichtidentität gleichursprüng-
lich und gleichgewichtig beigegeben, und die eine hat gegen die andere kein Maß und keine
Macht als die der Willkür und des Zufalls. Wie im Jugendwerk unserem Aufweis gemäß der Wi-
derspruch oder die Negativität des Lebens der freien Willkür des Geistes und dem völlig unbe-
stimmten Abgrund der Natur entsprang, die beide der Erkenntnis nicht zugänglich sind, so gibt es für
die Vernunft auch keine hinreichende Notwendigkeit, daß sich der absolute Widerspruch je in eine ab-
solute Einheit umkehre. Gehört ferner der Widerspruch ursprünglich zum absoluten Leben des Gei-
stes, so ist es überhaupt unmöglich, ihn auszulöschen, und jeder Versuch, die Einheit des Geistes aus
dem Widerspruch zu gewinnen, ist dazu verdammt, den Widerspruch wieder hervorzutreiben,
weil er zum Leben der Vernunft wesenhaft gehört. Daher ist es das Schicksal des sich absolut widerspre-
chenden und nur im Widerspruch mit sich selbst zeugenden Geistes, daß sich sein Sich-selbst-
Wiederfinden immer wieder in die unendliche Andersheit des Gegenwurfes fortwälzt und der krei-

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sende Kreis der vernünftigen Dialektik sein eigenes Bewegt- und Geworfensein nicht einholt und
doch zugleich von der Wahrheit der Geschichte überholt wird.
So zeigt eine Analyse des Jugendwerkes Hegels, daß der Seinswiderspruch des absoluten Idealismus
ursprünglich der „Widerspruch“ des irrigen oder abgefallenen Geistes bedeutet, in dessen immanente
Widerspruchsstruktur sich das Philosophieren Hegels selbst irgendwie verfing. Dieser Widerspruch aber
wurde von Hegel nicht dem menschlichen Dasein denkend aufgepfropft, sondern er ist das „Schicksal“
des Tübinger Theologen gewesen, weil er irgendwie eine allgemeine Verhaltungsweise und Wirklich-
keit des geschichtlichen Daseins war. Das schicksalhafte Vermächtnis, das den Widerspruch irgendwie
schon enthielt, war vor allem die reformatorische Radikalisierung des religiösen Verhältnisses von
Natur und Gnade, die Steigerung der Transzendenz und einer entsprechenden Entmächtigung der Krea-
tur. Vor den Schauern und Unerträglichkeiten der absoluten Transzendenz, vor der radikal entgött-
lichten, von keiner Kraft und Gnade wandelbaren und göttlich belebbaren, gefallenen Kreatur fliehen
die jungen Tübinger Theologen zunächst in die Autonomie der praktischen Vernunft Kants, in welcher
der gottgebürtige Funke des Geistes wieder hell aufleuchtete, dann aber darüber hinaus in imma-
nenter Konsequenz in eine „mystische Einheit“ des All- und Geistlebens, welche zuerst
Hölderlin in genialer ursprünglicher Schau als eine innerlich in „Idealität“ und „Realität“ sich ent-
zweiende, sich am „Gegensatz“ entzündende und aus ihm zur höchsten und steilsten Höhe des Lebens
wieder in sich zusammenschlagende selige Einheit begriff. Hegel aber vollzog das Unmögliche, indem
er eine mit Schauern erfaßte höchste Selbstentfremdung und „gräßliche Zerreißung“ des Lebens, in wel-
cher eine widervernünftige Transzendenz alles „Schöne“ und „Freie“ der Menschennatur erstickt und
zerstampft, mit der absoluten Einheit seliger Selbstgewißheit einssetzte und als Widerspruchseinheit
„logisch“ entwickelte. Daß er in Wahrheit keine Einheit erzeugte, sondern den genialsten und dichtes-
ten Schein, der je menschliches Denken blendete, über die Wirklichkeit warf und ihm selber
verfiel, ist das Tragische dieser dem Christentum entsprungenen „Gnosis“. Ihrer innerlichen Entschlei-
erung unter der nüchternen Führung des Aristoteles und ihrer Zurückführung auf die elementare e-
xistentielle und schicksalhaft angetretene Verfassung des persönlichen Geistes sei dieser Beitrag ge-
widmet.

105
DIE DIFFERENZ VON SEIN UND SEIEND

I. DAS WESEN DER SEINSDIFFERENZ

Differenz besagt Unterscheidung und Unterschied. Der Gebrauch dieses Wortes im Rahmen unseres
Themas grenzt seine Bedeutung von vornherein ein. Unser Blick ist nicht auf die unmittelbar
gegebenen Unterschiede zwischen Ding und Ding, Wesen und Wesen (Steine, Mensch, Tier), zwischen
Individuum und Individuum gerichtet, sondern auf jene Differenz, die (als Grund der Möglichkeit sol-
cher Unterschiede) das Sein als Sein betrifft. Also geht es um die Transzendentalität der Differenz,
die aus dem „Sein als solchem“ und in ihm waltet. Gibt es aber eine solche Differenz im „Sein selbst“, so
ist sie notwendig selbst von Grund aus „seinshaft“ oder „real“ im metaphysischen Sinn.
Diese „Realität“ der Differenz ist deshalb nicht selbig mit einer physischen Geschiedenheit oder
Trennbarkeit von Sache und Sache, von physischer Substanz und akzidentellen Teilen, wie sie in der
alltäglichen Wirklichkeit begegnen. Was sie vielmehr auszeichnet, ist ihr aus dem Sein als Sein ge-
dachtes und deshalb seinshaft oder transzendental waltendes Unterschiedensein. Sie ist daher als Dif-
ferenz einem empirischen Erfahren unzugänglich, wiewohl sie nicht weniger, sondern mehr an aus-
einanderklaffender (differre = sich auseinandertragen) Unterschiedenheit mit sich führt. Denn „je hö-
her und allgemeiner ein Unterschied im Sein ist, desto größer ist er“ (Thomas).
Das Sein wie auch das Seiende (esse und ens) steht jedoch primär unter der ebenfalls transzendentalen
Sicht der Einheit oder der Einfalt (omne ens qua ens est unum, in-dividuum, simplex, et omne ens ut
compositum est totum; esse est aliquid simplex). Also kann die Differenz nur aus und innerhalb die-
ser Einheit und Einfachheit gedacht werden, ohne welche sie „unendlich“ oder „unfaßlich“ würde. Denn
was nicht vorgängig als Weise von Einheit bestimmt wurde, kann auch nicht als ,unterschieden“
begriffen werden, schon deshalb, weil „un-endlich verschiedene“ sich nicht mehr vergleichen
lassen.
Daher ist Differenz immer die Zwei- oder Mehrfältigkeit eines Einigen, die Nicht-identität einer
Identität, die Andersheit eines Selbigen.
Diese Andersheit kann sich offenbar in mehrfältiger Weise zur Selbigkeit verhalten. Deshalb müssen
die Weisen und Möglichkeiten von Differenz von diesem Verhältnis her gekennzeichnet werden:

Die Weisen der Seinsdifferenz

1. Die Differenz ist aus der Einheit erwaltet, und zwar so, daß sie als Ausfaltung oder als Seinsweise
des Einen und Selbigen hervortritt. Die Einheit ist nur durch den Unterschied das, was sie ist. Also
hält sie im Aufbrechenlassen der Differenz die Unterschiede je im Einigen des sich scheidenden Grun-
des. Das Hervortreten wie das Bestehen der Differenz gibt es nur im Ereignis oder im Akt ihrer

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gleichursprünglichen Aufhebung ins Einige des Ganzen und Gründenden. Das Verschiedene bleibt im
Einfältigen geeinigt. Die Ausfaltung ist wie ein Kreis, der in jedem Moment alles Teilhafte im Sel-
bigen seines Mittelpunktes wie (im Rücklaufen in das Ganze der Umfangslinie) im Einigen sei-
nes Kreisseins hält. Auf ähnliche Weise scheint der Mensch in seinem Handeln immer im Einigen und
Ganzen seiner selbst zu stehen. Sofern sein Handeln für ihn und um willen seiner selbst geschieht, ist er
offenbar der mit sich selbst identische Ausgang und Zielgrund seines Handelns. Er könnte aber nicht
zu sich selber kommen, geschähe dies nicht durch eine Tätigkeit, in der er sich von sich selbst un-
terschiede und irgendwie aus sich herausträte. Noch entschiedener ist dies Verhältnis in der Theologie
ausgesagt worden, sofern Gott als vollendete Seins- und Wesenseinheit nur im Hervorgang der Diffe-
renz der subsistenten göttlichen Personen und durch sie west und ist.
2. Das Verhältnis ändert sich, wenn die Differenz sich gegen die Einheit geltend macht. Dann geht das
Einige aus seinem einfachen (oder seinem different-einigen) Grunde in eine Mannigfaltigkeit aus-
einander, und zwar so, daß dies Unterschiedene in einer Andersheit und Unterschiedenheit sich gegen
die Einheit erhält und als Verschiedenes hervortritt. Der Unterschied kommt so mit den Verschiedenen
zum „Stehen“ oder ins „Bestehen“. Das Unterschiedene gewinnt „Stand“ gegen die gründende
Einheit und ist von dieser in ein eigenes Bestehen entlassen. So entläßt Gott in der Schöpfung die
Seienden in ein wirkliches An-sich-, In-sich- und Für-sich-Sein. Er läßt sie das sein, was sie aus sich
und für sich selber sind.
Kommt nun dieses bestehende Anders- und Für-sich-Sein ins Walten, und zwar aus seinem Unterschie-
densein, so gelangt es in die Schwebe der gleichgültigen (als gleichgewichtig geltenden) „In-
differenz“ zwischen Einheit und Unterschiedenheit. Diese In-differenz besagt hier nicht aufgehobene,
getilgte Differenz, sondern Gleichgültigkeit des Verhältnisses von Selbigkeit und Andersheit, von Ein-
heit und Vielheit, von Identität und Verschiedenheit. Indem die Einheit sich nicht gegen den Bestand des
Verschiedenen geltend macht, wird sie und der Unterschied selbst gewichtslos. Sie wird selbst zu
einem „Differenten“ oder „Unterschiedenen“ und so in der Dimension der Für-sich-Bestehenden
„indifferent“. Das Wort „In-differenz“ hat diesen von Grund aus „dialektischen“ Charakter, daß es als
„Nicht-Unterschied der Verschiedenen“ auch die gründende Einheit betrifft. Indem alles verschieden
gedacht wird, wird alles ins Unterschiedensein radikalisiert. Das Unterschiedensein als solches unter-
scheidet sich nicht und tritt als eine Weise von Gleichheit (In-differenz) hervor. Also verhalten die Un-
terschiedenen sich in ihrem für sich seienden Bestand „gleichgültig“ (in-different) zueinander. Es ist
alles „sein“gelassen und so eines (auch der Grund) in-different gegen das andere.
Diese „Indifferenz“ liegt daher in einer Schwebe von Gleichgültigkeit oder im Geschehen eines sich
radikalisierenden Unterschiedes. Was besagt nun diese Radikalisierung?
a) Das Unterschiedene verfestigt sich in sich selbst, so daß das Verschiedene (über die Schwebe der
Gleichgültigkeit hinaus) gegen die Einheit und aufhebende Einigung prävalent wird. Wenn dies
möglich wäre, so gäbe es offenbar keine Grenze für die Artikulierung der Differenz oder Andersheit.

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b) Diese treibt sich dann fort in die Unterschiedenheit bis zur Vergessenheit des Einigen und Selbigen.
Das Mannigfaltige und Verschiedene erscheint schließlich eigentlicher und grundhafter als die Einheit
selbst. Dies kann nur geschehen, wenn die Einheit als gründende sich verbirgt oder vergessen ist. Da
aber auch das Mannigfaltige nicht ohne Einheit erscheinen oder gedacht werden kann, so läßt es sich
folgerichtig nur noch von den Unterschiedenen her als deren Produkt begreifen und her-stellen. Die Ein-
heit gewinnt notwendig die Form eines Ag-gregates oder eines Baugefüges aus vorgängigen Elemen-
ten, das aus den Verschiedenen hervor-gebracht und so auf äußerliche Weise „gemacht“ wurde. Da-
bei muß zugleich die machende Zuordnung der je verschiedenen Elemente deren Verschiedenheit ne-
gieren und als äußerlich wirkende nivellierende Gewalt in die Erscheinung treten. Unter diesem
Betracht ist jeder „Materialismus“ gezwungen, den vorausgesetzten elementaren Bestand der „Ver-
schiedenen“ entweder im wesenlosen Chaos des Unterschiedenseins „bestehen“ zu lassen oder diese ins
Einigende eines Maschinengefüges zu vergewaltigen.
Solchermaßen ergeben sich als Weisen der sich radikalisierenden Differenz: Die gründende Set-
zung des Anderen - seine Entlassung in den Bestand - das waltende, sich verfestigende Bestehen oder
das Fallen-lassen in die In-differenz des Gleichgültigen - schließlich die Verkehrung des bestehenden
Verschiedenen in tragende und gründende Elemente, ihre Nivellierung ins Selbige einer gemachten
und hervorgebrachten Einigung, die nicht mehr aus dem Einigen des Ursprungs, sondern aus dem
Gleichgültig-Verschiedenen und Vielen (der Zahl) und ihrer Zuordnung her waltet.
Es ist dem Gang unserer Entfaltung gemäß offenbar, daß sich auch diese Möglichkeit der prävalent
werdenden Differenz nicht aus sich selbst versteht, man müßte denn die Differenz ursprünglicher und
früher ansetzen als die Einheit. Täte man dies, so wäre das vergleichende Denken, das den Unter-
schied feststellt und sich in ihm bewegt, ein sinn-widriger Widerspruch, weil die absolut Verschiedenen
unversöhnbar und unvergleichbar auseinanderklafften und jedem Logos, jeder cogitatio, d. h. je-
der denkenden Verknüpfung Hohn sprächen. Die vorausgesetzte absolute Ent-zweiung oder Mehr-
fältigkeit des Wirklichen könnte nur als Ver-zweiflung des Denkens in die Erscheinung treten.
c) Also muß jede Weise von waltender Unterschiedenheit vom Sein her gedacht werden. Das aber be-
sagt, daß sie im Ursprung und Urspruch des Seins immer schon als im Grunde ihrer Möglich-
keit wesen muß, so daß sie auch nur vom Sein her zum Austrag kommen kann.
Also ist das Sein wesenhaft immer schon eine „Identität des Nichtidentischen“. Dann aber gehören Sein
und Nichtsein, Selbigkeit und Verschiedenheit, Einheit und Mannigfaltigkeit gleichursprünglich ins
Sein des Seienden, und zwar so, daß sie von ihm her absolut aufgehoben sind, wie sie von ihm her ins
Bestehen gebracht oder ins Unwesen des Unterschieds fallengelassen werden können.
Ist es jedoch immer die Einheit und Aktualität des Seins, von denen her der Unterschied ins Bestehen
kommt, so läßt sich die sich ablösende, nicht aufgehobene Unterscheidung nur denken als eine ab-
fallende (fallengelassene oder defiziente) Ab-wandlung und Wandlung „des Seins“ ins Wenigersein
des nur noch „Seienden“, des „Einen“ ins Gleichgültige des nur noch „Mannigfaltigen“, weil außer-
halb dieser Weise der Ermöglichung des bestehenden Unterschiedes keine andere denkbar ist.

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Stellt man aber diese Ablösung, dieses Anheimgeben in den Bestand zugleich positiv in die Entfal-
tung und ins Walten des Seins, so wird das Verschiedensein der bestehenden Anderen selbst zu einer
Mitgift des Seins, das aus sich den Bestand der Verschiedenen ermöglicht. Sie erscheinen dann als die
„Seienden des Seins“, die nur insofern Stand und Grund in sich selber haben, als sie zugleich auf den
Grund des Seins bezogen sind. Sie sind als Seiende aus dem Sein her, durch das Sein und auf das Sein
hin seiend. Also sind sie nur vom Sein her zu denken, und zwar als eine Weise der Seinsentfaltung.

Die Differenz als Weise der Seinsermöglichung

Diese Seinsentfaltung kann besagen, daß das Sein als Grund schöpferisch waltet und die Seienden (als
Ab-bild) aus sich hervorgehen läßt oder daß es als Sein in und durch die Bestehenden sich selbst ermög-
licht. In diesem zweiten Fall waltet das Sein offenbar als „konstitutiver Grund“ der Seienden. Diese
beiden „Ermöglichungen“ des Bestehenden als Weisen des Seins können und müssen in Wahrheit als
ein Geschehen begriffen werden, sofern der schöpferische Hervorgang eines „Bestehenden“ aus dem
„göttlichen Sein“ die „Vermittlung“ durch den konstituierenden Akt des „reinen Seins“ einschließt.
Bei diesem Verhältnis ist zu beachten, daß die Unterschiedenen als die Seienden des Seins dieses als
Grund oder Akt selbst schon notwendig vom Unterschied bestimmt sein lassen. Wenn er dort auch in an-
derer Weise waltet als in den unterschiedenen Dingen, so ist er doch der Grund der Möglichkeit des in
den Seienden bestehenden Unterschiedes. Daher ist dieses Bestehen und Unterschiedensein nicht nur ei-
ne negative (nichtige) und aufzuhebende oder zu tilgende Weise des Seienden, sondern auch eine po-
sitive Auszeichnung, die das Sein und die Seienden wesenhaft bestimmt und unverlierbar zu ihnen ge-
hört.
Dann aber kann sowohl das göttliche wie das aktuierend-konstitutive Sein nur „Ereignis“ werden im
Seienden, wenn deren Unterschiedensein und Bestand, wenn ihr Fürsichsein oder ihre Subsistenz am
Ursprung unangetastet hervortritt und sich als Wesenszug durchhält. Also stehen die Seienden als un-
terschiedene nicht schlichthin im Bezug der aufhebenden und verwandelnden Einigung ins Sein,
sondern vorab in der „Indifferenz“ ihrer Verschiedenheit, ihrer Vielheit und Andersheit. Sie sind das,
was sie sind, durch sich selbst und entfalten sich daher aus diesem Selbst- und Verschiedensein in ein je
für sich seiendes Dasein.
Als diese Unterschiedenen aber können sie zugleich das nicht in den Vollzug kommen lassen, was
sich vom Sein oder vom Grund her allein ereignen kann. Soll dieser sich in ihnen aber „ermög-
lichen“ oder einigend walten, so ergibt sich den Voraussetzungen gemäß ein neues und für die Deutung
der Differenz entscheidendes Verhältnis: Die Seienden stehen als Viele und Unterschiedene erstens
im negativen Verhältnis der Seinsminderung zum Sein oder Grund; zweitens im unaufhebbar posi-
tiven des Bestandes oder des Fürsichseins; drittens in der Ohnmacht oder in der Indifferenz (Gleichgül-
tigkeit) oder Freiheit des Bezugs auf das Sein oder den Grund, wenn dies Verhältnis vom Vielen und
Unterschiedenen her betrachtet wird; viertens in der Möglichkeit des einigenden, in die Aufhe-
bung oder in die Transzendenz führenden Waltens des Seins oder des Grundes.

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Soll daher das ursprünglich durch den Unterschied ausgezeichnete und bestimmte Sein sich im beste-
henden Seienden (diesen Voraussetzungen gemäß) „ermöglichen“, so kann es dieses „Bestehen“ weder
schlichthin aufheben noch gleichgültig liegen- und stehenlassen. Daher müssen wir folgern, daß der
Grund das Für-sich-Bestehende und Unterschiedene einerseits als ein Absolutes setzt und bewahrt, wie
er es in den Bezug bringt, oder es aufbricht in einen transzendierenden Überstieg. Dieser Bezug auf
den Grund oder das Sein kann daher nur noch Ereignis werden, wenn das Seiende als Für-sich-
Bestehendes im transzendierenden Vollzug zugleich sein eigenes Fürsichsein ausfaltet und erhält. Der
Grund aber kann dann nur noch im Für-sich-Bestehenden aktuierend, mitwaltend, erleuchtend, bega-
bend und begnadend am Werk sein, und zwar so, daß er be-ziehend, ausrichtend, ermöglichend und
erkräftigend waltet. Dies besagt immer ein Doppeltes: Er hat das Bestehende in der Seinsdifferenz
seines Bestandes zu behüten und zugleich in das Geschehen oder die Geschichte (in Ge-schick und Schi-
ckung) der Einigung zu stellen. Solchermaßen steht der Mensch in seinem selbstursächlichen, freien
(indifferenten) Selbstsein zugleich im Vollzug und Ge-schick einer auf das Sein und den Grund
bezogenen und von ihm her „partizipativ“ oder „durch Gnade“ ermöglichten Transzendenz.

Der Austrag der Differenz in der Seinsermöglichung

Auch dieser Austrag der Differenz auf die Einheit hin läßt sich mehrfältig kennzeichnen:

a) Das Ununterschiedene oder Eine als Sein des Seienden


Es wird zugestanden, daß der unterschiedene Bestand sich in seinem Anderssein erhält - aber nur so
lange, bis das reine Sein als Sein in ihm Ereignis geworden ist. In diesem Augenblick entschwindet
mit dem differenten Vielen zugleich der Unterschied der Vereinzelung überhaupt. Die Unterschie-
denen treten dann als ein nur Vermittelndes hervor, das mit dem Ereignis des Seins dahinschwindet
oder dessen Bestand sich von der Vollendung her als wesenlos, als scheinhaft, als Schleier der Maja
entlarvt.
Das „Bestehende“ wird zwar als notwendig und positiv angesehen, aber doch nur als eine vermit-
telnde Voraussetzung. Deshalb ist es mit dem Ereignis des vollendeten Seinsgeschicks abgetan. Mit ihm
schwindet es dahin. Der Mensch geht unter in der Nacht der Indifferenz, des Einen oder des Nirwa-
na, welches Sein und Nichtsein in ungeschiedener Selbigkeit und Vermischung ist. Diese „Ver-
mischung“ oder „Ungeschiedenheit“ im Grunde kennzeichnet diesen zugleich so, daß von ihm her ein
„wirklicher Unterschied“ im different Bestehenden gar nicht ableitbar oder als positiv bestimmbar ist.
Deshalb fällt dieses Denken in der Annahme der Differenz des Seienden in einen lähmenden Wider-
spruch. Der Unterschied der Welt wird aufdringlich und absolut. Er wird vom Unterschiedslosen
nicht verstehbar, wie auch das Verschiedene vom Einen her nicht in eine sinnvolle sittliche Fügung zu
bringen ist. Es bleibt nichts übrig, als sich ihm zu ergeben und seine gleichgültige und verworrene
Mannigfaltigkeit walten zu lassen. Nimmt man aber das unterschiedslose Sein als das Eigentliche an,
mit dessen Erscheinen aller Unterschied dahinschwindet, so tritt das unableitbar Differente als ein

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„Schein“ zutage, dessen „Wahrheit“ freilich erst mit dem Hervortreten des Einen und Ungeschiedenen
offenbar wird. Die Indifferenz der Asiaten gegenüber der Welt oder ihr Verfallensein an ihr über-
mächtiges Walten wie ihre kontemplative, apersonale Versunkenheit hat hierin ihren wesenhaften
Grund.
In ähnlicher Weise ist das Verhältnis des Unterschiedenen und Bestehenden in der deutschen und nie-
derländischen Mystik gekennzeichnet worden. Ihr höchstes Ereignis ist die Versenkung in den unter-
schiedslosen „Grund Gottes“, mit der alle Differenz, die innergöttlich-trinitarische wie die zwischen
Gott und Geschöpf, aufgehoben wird oder bedeutungslos zur Seite tritt. Auch hier ist es das neuplato-
nisch-plotinische unterschiedslose „Eine“, das diese weltlose Entrücktheit und bestandlose Entwurzelung
des Geistes heraufführt - mit dem gleichen Ergebnis, daß der wesenlos gewordene Unterschied aus dem
Anspruch des Seienden in der Reformation als ein Absolutum, nämlich als unwandelbare, aus dem
Heilsgeschehen herausfallende „natura corrupta“ oder als heillose „Welt“ in ein um so entschiedene-
res unbegrenzbares Walten kam.
Ist das Sein oder das Eine solchermaßen als das „Grundlos-Waltende“ begriffen, das den Menschen
„er-eignet“ und am Ursprung ins Sein „entrückt“, ohne ihn zu sich selbst als subsistente Person und
unterschiedenes Seiende zu ermächtigen, so nähert sich das abendländische Denken dem apersonalen und
weltlosen Seinsrausch der Asiaten. Es droht die Gefahr, daß in der Entschleierung der Seinsgeschichte
als „Irre“ die Differenz gewichtlos wird. Die Philosophie bescheidet sich gegenüber der wissenschaftli-
chen Enthüllung des Seienden und gegenüber dem Willen zu weltgestaltender Politik. Sie erscheint als
eine „Phänomenologie“ der „offenbaren Verborgenheit“ des Seins, das nicht mehr gründend zu Stand
und Bestand bringt, sondern nur noch lichtend sich in den Seienden eröffnet, die (wie im Denken Asiens)
nur noch Medien der Seinseröffnung und des Seinsereignisses sind. Die „Grundlosigkeit“ des Seins
wird so zum „Abgrund“ jenseits der unableitbaren Unmittelbarkeit der Seienden, der im Spiel von
Eröffnung und Verbergung, von Ereignung und Verweigerung, von Nähe und Entzug, von ursprung-
hafter, an sich haltender Innigkeit und ausständigem Verfallen in die Gefahr kommt, die Differenz von
Sein und Seiend in ihrem Wesen zu verfehlen.
Es ereignet sich wider Willen entweder die Aufhebung der Differenz ins „Innig-Einige“ des Seins, in
eine schauend unmittelbare Versunkenheit, in das be-rückende und ent-rückende Spiel des Seins, das
die Seienden als die Medien seines Erscheinens bei sich hat, oder der heillose Verfall in die Irre des
unüberholbaren Weltlaufs, der als „Metaphysik des Seienden“ „seinsvergessen“ in die Raserei
„des Willens zum Willen“, d. h. in die Leere eines unendlichen Entzugs ausmündet. Es ist kein Zwei-
fel, daß diese Gefahr mit der Akzentuierung einer wesenhaften Seite der Philosophie Martin Hei-
deggers hervortritt.

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b) Die waltende Indifferenz des Unterschiedes
Als zweite Möglichkeit bietet sich an, den Austrag zwischen Sein und Seiend, zwischen Einheit und
bestehender Verschiedenheit im indifferenten Bezug stehen und es mit dem Spiel des „Lebens“ oder des
„Seins“ sein „Be-wenden“ haben zu lassen. Das heißt, bald den „Bestand“ zu dulden, bald ihn aufhe-
bend über sich hinaus zu treiben, um ihn wieder ins Anderssein zurückfallen zu lassen. Das Seiende
steht im Wandel dieses „Bewendens“, gleichviel ob es Welt baut oder transzendiert. Es ist „ein Wer-
den und Vergehen, ein Bauen und Zerstören ... in ewig gleicher Unschuld“, in welchem „das rollende
Weltrad“ „Schein und Sein mischt“. „Die Welt ist das Spiel des Zeus“ (Nietzsche). „Gestaltung, Um-
gestaltung, des ew'gen Sinnes ew'ge Unterhaltung“ (Goethe).
Es bedarf keiner tiefen Erwägung, um zu erkennen, daß in diesem Spiel sich kein Seins-geschick
mehr ereignet, weil es im indifferenten Bestehen, im Scheinernst der Weltbauerei und des beziehenden
(transzendierenden) Denkens, im ewigen Auf- und Niedergang immer nur bei dem ankommt, was es
je schon ist, so daß sein weltimmanenter Fortgang, sein Ringen und Gestalten es ebenso berückt wie
narrt. Es ist daher kein Zufall, daß die Vertreter dieses Weltspieles sich im Ereignis solcher denkend
hervorgerufenen Verzweiflung des immer Vergeblichen und Nichtigen schließlich dem weltimmanenten
„Fortschritt“ in Gestalt einer sich technisch organisierenden Gesellschaft überantworten.

c) Die bestehende Differenz als Einigung und Ermächtigung


Ist das Sein des Seienden in seinem Grund immer schon durch seine Differenz zu sich vermittelt, so kann
das Verhältnis von Sein und Seiend weder in austilgender, verschwebender Aufhebung noch im Spiel o-
der Umtrieb des Bestehenden zum Austrag kommen. Das wahre Verhältnis kann daher nur als eine
fortschreitende Übereignung in den sorgsam behüteten Bestand der Andersheit und des Selbstseins
begriffen werden, in welchem sich die Verschiedenen zugleich dem Grunde als einem durch die Differenz
zu sich gekommenen oder bei sich seienden annähern. Das heißt, die aufhebende Einigung waltet zu-
gleich als behütende Bewahrnis der Andersheit wie als entrückende Verselbigung mit dem Einen,
als innehaltende Eingründung in den Bestand wie als Teilhabe gebende Ermächtigung zur einigenden,
personalen Gemeinschaft mit dem Grund. Das „Andere“ des Seins ist daher immer unendlich empfängli-
che Potenz wie innehaltende, sich aus dem Akt des Seins ermächtigende Subsistenz. So aber ist es
standhaltendes, unaufhebbares Für-sich-sein. Es wird nur erhoben und einigend begabt, indem es
sich standhaltend bewahrt. Also vertieft sich die Differenz in der innehaltenden Subsistenz im selben
Maße, wie sie sich in der innehabenden Übereignung ins Einige transzendiert. Das Sein kommt sol-
chermaßen aus der Tiefe seines einigen Differentseins zur Erscheinung. Darin ist es nicht nur wesenhaft
Sein, Akt, Einheit, Grund, sondern gleichursprünglich Seiendes, Subsistenz, Verschiedenheit, Hervorge-
gangenes oder Gegründetes.
Also ist es um so mehr dem Bestand anheimgegeben, als es sich in der Übereignung einigend im Einen
versammelt. Wird dies zu Ende gedacht, so ergibt sich aus dem „Bedenken der Differenz zwischen Sein
und Seiend“ (Heidegger) dies, daß das Sein sich nur durch „Personalität“ (d. h. durch eine aus dem

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Sein und im Sein sich ereignende Subsistenz) zur Erscheinung bringen kann. Daher ist es das Wesen
des Seins des Seienden, daß die bestehende Differenz (und mit ihr die Indifferenz des freien Fürsich-
seins) auch im Erreichen des göttlichen Zieles nicht untergeht, sondern zu höchstem Selbstsein in der
Gottesmitteilung ermächtigt ist.

d) Die verschlungene Vielfalt und Schwebe der Differenz


Diese drei Weisen des Differentseins und des Bestehens sind offenbar seins-geschickliche Möglichkei-
ten, die aus der In-differenz des Bestehens, d. h. aus der Freiheit des Grundes „zulassend“, aus der
Freiheit des „bestehenden Anderen“ in „selbstursächlicher Entschlossenheit“ und Verweigerung sich er-
eignen können. Wird zugleich vorausgesetzt, daß nirgend die „Notwendigkeit des Logos“ waltet, weil
solche „Notwendigkeit“ den „Bestand“ der Andersheit erschüttert und sein In-sichsein in Frage stellt,
so gibt es keine Phase der Seinsübereignung, keine seinsgeschickliche Zeitigung, die vor ihrer letzten
Vollendung nicht in Gefahr und Versuchung stünde, die Ermächtigung in das „Spiel des Nur-
Bestehenden“, in den Abfall des weltimmanenten „Fortschritts“ oder in „die falsche Transzendenz
des reinen unterschiedslosen Seins“ zu verkehren. Deshalb können und müssen dem Wesen des Seins
gemäß die drei genannten Weisen der Differenz: die negierende Durchnichtung des Bestehenden zu-
gunsten des Seins, das indifferente Spiel oder die weltimmanente Entschlossenheit wie die ermächtigen-
de (begnadend-begabende) Übereignung und Verselbigung im Geschick der Seinsgeschichte
zugleich miteinander Ereignis werden. Gottes Ermächtigung des Menschen ist zugleich auch die je grö-
ßere „Versuchung“, die von uns abzuwehren eine wesentliche Bitte des „Vater unser“ ausmacht.
Durch diese Versuchung wird das Ereignis der Geschichte im Austrag der vielfältigen Möglichkeiten
ebenso mehrfältig wie zwielichtig, sofern die Geschehnisse ineinander übergehen und eines sich gegen
das andere kehren kann. Dann nährt sich das Weltspiel nicht nur fortgesetzt aus der göttlichen Er-
mächtigung, sondern es wird zugleich in seinem sich radikalisierenden Für-sich- und Anders-sein von
der geschicklichen Ermächtigung überholt, in seinem Leichtsinn, seiner Verzweiflung wie in seiner
erborgten Abkünftigkeit entlarvt und in seinem Bestehen erschüttert. So aber kann es sich nur noch
als verzweifelter Trotz bewahren, oder aber es wird ausrichtend gerichtet und erweckend ins Einige
gerufen.

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II. DIE DIFFERENZ DES SEINS
IN DER CHRISTLICHEN PHILOSOPHIE UND THEOLOGIE

Diese Kennzeichnung der Differenz des Seins kann von der christlichen Philosophie und Theologie
her verdeutlicht werden. In der Theologie tritt die Seinsdifferenz hervor:
Als das Differentsein des göttlichen Seins selbst, das als einfache Einheit nur ist in der zeugerischen
und liebenden Übereignung seiner ganzen Wesensfülle an die real verschiedenen Subsistenzen (Per-
sonen) wie in deren relationaler Durchdringung im Einigen des Seins oder Wesens. Die „Person“, das
subsistente Fürsichsein, ist schlichthin identisch mit ihrer „Relation“, in welcher das „Zeugen“, das
„Gezeugtsein“, wie der „Liebeshauch“ Gottes ebenso die Differenz aussagen wie den gegenseitigen
Bezug der uneingeschränkten Wesensübereignung und damit die Selbigkeit des Wesens.

Das Entspringen der ideellen Differenz aus der realen der göttlichen Subsistenzen

Gott aber ist im Wesen denkender Geist, der sich zeugend ausspricht, wie er sich denkend und liebend
durchdringt. Durchdringt er seine unendliche Wesenstiefe, so wird darin auch die Differenz „unend-
lich“, wie sie seinem einfachen Wesen anheimgegeben ist. Liegt aber in der trinitarischen Differenz
das „Früher“- und „Größersein“ des Prinzips vor dem Principiatum, so ist auch der seine Unend-
lichkeit durchdringende Geist nicht zu denken, ohne daß er auf Grund seiner seinshaften Dif-
ferenz auch seine „Andersheit“ denkend entspringen läßt. Ist Gott „das einfache Sein selbst“ in seiner
sich durchdringenden dreifachen Subsistenz, so kann seine „Andersheit“ nur als „Nichtsein“
und als „Nicht-Einheit“ gedacht werden.
Solchermaßen ist das Nichtsein wie das Nichts ein Produkt des göttlichen Geistes selbst, ohne welches
die göttliche Selbstdurchdringung in ein zeugendes und liebendes Leben gebannt bliebe, das den Kreis-
schluß seiner absoluten Differenz und Einfachheit nicht überschreiten könnte. Gott wäre der Vater seines
Sohnes und ihrer beiden Geist, aber weder Schöpfer noch Herr, noch der väterliche König seines ewigen
Reiches.
Was daher die mittelalterliche Theologie „die Nachahmbarkeit“ Gottes nannte, ist sein ewiges Diffe-
rent-sein, das in der Selbstdurchdringung seines erkennenden Geistes und seiner Liebe den Abgrund
des Nicht-Gottseins in sich selbst aufklaffen läßt, weil das „Nicht-Vatersein“ oder „Nicht-
Sohnsein“ zu seinem einfältigen Wesen gehört.
Dieses „Nicht-Gottsein“ enthält notwendig den ganzen Abgrund an Möglichkeiten, die sich zwischen
dem reinen, dreifach substistenten Sein Gottes und dem absoluten Nichts ausbreiten. Diese Möglichkei-
ten sind daher ein gedachtes und entworfenes Produkt jenes zeugenden Urspruchs, der sich im
„gezeugten Wort“ seiner selbst als reine Selbigkeit aus seiner Differenz zu sich selbst oder zu seiner
unendlichen Lebens- und Wesensfülle vermittelt hat. Sein ursprüngliches Einig- und Differentsein
kommt daher nur zu sich selbst, in dem es zugleich sich gegen die absolute Andersheit und Nichtigkeit in
seinem Selbstsein durchmißt.

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Das göttliche Denken als Ort des „Nichtseins“ - die „ars divina“

Damit aber läßt die Selbsterkenntnis Gottes die „absolute Differenz“ aufbrechen, die anfänglich der
„ungeschiedene Abgrund“ des Nichtseins ist, in welchem alles in gleichgültiger Möglichkeit und Nich-
tigkeit versenkt ist. Diese produzierte Nichtigkeit ist zugleich ein Abyssus entwerfbarer Möglichkeit,
die als gedachte Andersheit des einfältig-einen Gottes zwischen der differenten gleichgültigen
Vielheit und einer geordneten Mannigfaltigkeit, zwischen einem Seinsgemäßeren und Einigeren und
einem abfallend Nichtigeren und Aufgelösteren ausgebreitet ist. Denn die Andersheit Gottes kann
als „Nichtsein“ weder positiv noch negativ begrenzt werden; sie durchspannt daher den unaus-
meßbaren Bogen von der nachbildlichen Andersheit seiner Unendlichkeit und Fülle bis zum Verlö-
schen alles Positiven ins „spur“-los Nur-Andere des Nichtigen. Insofern dieser Möglichkeitsabgrund
in seiner „schlechten Unendlichkeit unendlicher Abwandlungen“ weder ausmeßbar noch in seiner
göttlichen Beziehbarkeit ausschöpfbar ist, ist Gott das „ewige Spiel“ oder die „ars divina“, die den
Abyssus der denkbaren Möglichkeiten oder der „rationes“ in der zeugenden Selbstdurchdringung
als eigenes Leben in unsäglicher Freiheit ausfaltet.
In dieser Ausfaltung treten diese rationes und Entwürfe der „göttlichen Kunst“ nicht nur in ihrer
gedoppelten Abkünftigkeit aus Gottes entspringen lassendem und entwerfendem Denken hervor, sie
behalten auch diese ihre ur-sprüngliche Nichtigkeit, wenn sie Gott gegenübergestellt werden. Hierbei
erweisen sie sich als nichtig, sofern sie Gottes innerem Leben nichts an Vollendung hinzufügen und
ihn daher nicht affizieren noch seine Unendlichkeit als sein „Anderes“ begrenzen. Dies besagt, daß es
keinen Grund gibt, daß Gott die Möglichkeiten ins Dasein überführt, noch daß er sie in ihrem
Nichtsein liegenläßt. Also enthüllt sich Gott in der Selbstdurchdringung in seinem Urspruch zugleich
als „unendliches Sein“, als „unendliche Seins- und Wesensfülle“, als „unendliche, denkende, ent-
werfende (spielende) Freiheit“, als „unendliche, schöpferische Allmacht“ wie als „grundloser Ab-
grund der Freiheit“, der durch nichts als durch seinen Liebeswillen oder seinen grundlosen Entschluß
handelt und wirkt.
Also gibt es nicht an und neben Gott ein „extra“ im scotistischen Sinn. Es gibt weder einen an ihm
hängenden „ordo idearum“ noch einen „ordo essentialis“ oder „idealis ad esse“, wie ihn die neo-
platonische Essenzenphilosophie des Suarez annahm, eine Position, die mit Notwendigkeit die
„ratio sufficiens“ alles Seienden nicht in Gott, sondern in der unendlichen Wesensfülle (in der
„quantitas realitatis“ und der „maxima varietas“ einer „vollkommensten Welt“ [Leibniz]) zu finden
trachten mußte. Gott wird „ontotheologisch“ mit der Welt so verklammert, daß er schließlich nur
noch als der in der Welt zu sich selbst kommende Weltgeist begriffen werden konnte.

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Die Unmöglichkeit eines „ordo idearum ad esse“ oder die „Freiheit Gottes“

Es ergibt sich aus dem Gesagten, daß es überhaupt keine „ewigen Ideen“ in Gott gibt, die als „or-
do idealis“ einer zu schaffenden Welt einen an Gottes Wesenheit aufweisbaren „Bestand“ inneha-
ben. Es gibt weder eine „vollkommenste Welt“ noch einen begründenden Bezug von der Nich-
tigkeit der erspielten Entwürfe und Möglichkeiten der ars divina zum schöpferischen Entschluß Gottes,
der aus un-endlichen Möglichkeiten und Nichtigkeiten nur im einigen Entschluß zu seiner eige-
nen Wesens- und Liebestiefe entscheidend und erwählend aus den vorangegangenen göttlichen
Ermöglichungen den ewigen Weltentwurf als „göttliche Idealität“ hervorgehen ließ. Da es in diesem
Entwurf keine „logische Herleitung“ des Partikulären und Einzelnen aus dem Allgemeineren gibt,
so ist dieser Entwurf auch nirgend ein „mechanisch“ oder „logisch“ entfaltetes „System“. Es ist ein
myriadenfacher Hervorgang von Entscheidungen und Berufungen, deren Vollzug das ewige drei-
personale Gespräch der Gottheit mit sich selber bedeutet, das freilich in seiner freien Lebens- und
Liebesfülle zugleich vom Einfältigen eines Wesensentschlusses getragen und durchwaltet ist. Das
heißt: Gottes ewiger Entschluß hat sich zum Unableitbaren seines währenden Freiseins und zum
Unsäglichen schlichthin unbegründbarer Vollzüge entschlossen. Gott ist ein undurchdringliches
„Meer herrschaftlicher Freiheit“, die jeder „ontotheologischen“ Notwendigkeit spottet.

Der Entschluß Gottes aus und zu sich selbst

Sagt man also, Gott habe sich „zur Schöpfung“ entschlossen, so besagt dies (da auf seiten der vielfach
nichtigen Möglichkeiten seiner „Kunst“ auch nicht der leiseste Bestimmungsgrund aufweisbar ist),
daß er sich „aus sich selbst“ entschloß. Dieses „Aus-sich-selbst“ aber ist notwendig auch ein „Zu-sich-
selbst“, da die Wesenstiefe Gottes ebenso bezuglos zur Welt des Nichtseienden oder des endlich Seien-
den ist wie diese zu Gottes innerem Leben. Also bleibt nur übrig zu sagen, daß Gott sich „zu sich selbst“
entschloß, zu seiner Macht, zu seiner Freiheit, zu seiner Herrlichkeit oder Herrschaft oder zu seiner
Liebe. Da diese innere Wesenstiefe Gottes oder der Abgrund seines Entschlusses nicht an den Hervor-
bringungen selbst kraft ihrer beziehungslosen Nichtigkeit erscheinen kann, so ist es allein an Gottes
Offenbarung gelegen, wieweit er selbst in der empfänglichen Endlichkeit des Seienden zur Erscheinung
kommen will und dieses Seiende über seinen Bestand hinaus in eine seins- und gottgeschickliche
Bewegung gerät. Sofern daher Gottes Entschluß aus seiner Wesenstiefe und auf diese hin waltet, ist
der schöpferische Hervorgang oder die Setzung von Welt von grundloser Beziehungslosigkeit zu Got-
tes innerem Leben.

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Das Wesen der Ideen

Das Einzige, was gesagt werden kann, ist dies, daß alle Seinsmitteilung einen Grad der Vollendung
aufweist, der einem göttlichen Hervorgang und der Positivität des abbildlichen Seins gemäß ist. Al-
so gibt es im Seienden je einen in sich selbst „gerechten“ Bestand, der sich in unabsehbarer Weise
(bei aller Unvollkommenheit) genügen oder in Freiheit sich in seiner Endlichkeit bescheiden könnte.
Sofern jedoch Gott zur Offenbarung seiner Wesenstiefe entschlossen ist, ist die Welt nur als „seins-
und gottgeschickliche Zeitigung“, als fortschreitende Begabung und Begnadung, d. h. als eine aus
göttlicher Weisheit und Lebenstiefe waltende „Geschichte“ begreifbar. Auf Grund dieses freien
Waltens und Begabens verhält sich der Vorentwurf der göttlichen Ideen different zum Seienden. Die
„Idee“ eines Seienden deckt sich daher nicht mit seinem endlichen (potentiellen) Bestand. Sie
bringt in der vor-sehenden Gottheit das je schon zum Ausdruck, was am Seienden erst Ereignis wer-
den oder wozu das empfängliche Seiende ermächtigt werden soll. Die „Ideen“ sind daher Gott selbst
als Vorentwurf seiner Erschlossenbeit und Entschlossenheit im Hinblick auf die Schöpfung wie auf die
Selbstübereignung an das Seiende und auf dessen Ermächtigung.
Aus dieser Betrachtung aber ergibt sich die ganze Bodenlosigkeit eines endlichen ideellen Perfektio-
nismus, der im „ordo aeternus idearum“ vorgestellt wird.

III. DIE ZWEI WEGE DER DIFFERENZ-ENTHÜLLUNG

Die absolute Differenz zwischen Gott und den nichtigen Möglichkeiten und Dingen bietet daher zwei
Betrachtungsweisen. Die eine, die von Gott her das Wesen der Differenz enthüllt, und die andere, die
den Bestand des geschaffenen Seienden zum Ausgang hat. Ist die erste wesenhaft auf Wort und
Ereignis der Offenbarung angewiesen (Theo-logie), so ist die zweite ein Versuch, vom bestehenden
Seienden her, das des Seins- und Gottesgeschicks be-dürftig ist, d. h. vom „Endlichen“ oder „Empfängli-
chen“ (finitum est receptum et recipiens) fragend und denkend gegen den Grund vorzurücken. Da sol-
ches nur aus einem seinsgeschicklichen (erleuchtenden) Anreiz und der in ihm offenbar werdenden
Armut des Denkens geschehen kann, so enthüllt es sich wesenhaft als Eros zur göttlichen Sophia. Diese
ist dann als die sich mitteilende, erleuchtende und begabende Güte des Seins zu denken, dessen Eröffnung
das Denken von Grund aus und absolut aktualisiert. Es ist daher als die „Grundermächtigung“ oder als
die „göttliche Teilhabe“ des Geistes, als seine Freiheit und Würde zu begreifen. Denn kraft der Unü-
bersteigbarkeit des reinen Seins, seiner Universalität und grundlosen Aktualität ist er allem Kommen-
den vorweg, so daß er es urteilend durchmessen und im Abgrund eines schon Erkannten wie einen Her-
vorgang oder eine Ausfaltung heraufgehen lassen kann und muß, wiewohl er von sich her zu solcher
Ausfaltung ohne die ermächtigende Offenbarung unfähig ist. Deshalb kann Gottes Offenbarung und
Erscheinen, wie die im Glauben sich vollziehende Erkenntnis nur im Sein des Seienden, wie im
Seinsverständnis Ereignis werden. Das ist das seinsgeschichtliche Wesen der „Philosophie“.

117
Es ergibt sich aus dieser Wesensenthüllung von Offenbarung und Philosophie, daß sie nicht nebeneinan-
der bestehen können. Geschieht eine offenbarend erleuchtende Ermächtigung, so bringt sie auch das
ursprünglich „Bestehende des Seienden“ tiefer ins Licht der Selbsteröffnung und der je schon partizi-
pierten Licht- und Seinstiefe, so daß sich in der „sacra doctrina“ göttlich erleuchteten Denkens auch die
„Philosophie“ in eine vollendete Ermächtigung transzendentalen Wissens und Denkens wandelt. Je
mehr sie im Licht der Offenbarung in den Grund einrückt, wird sie ihres vollen Wesens eines seins-
geschichtlichen Ereignisses inne. Allerdings steigern sich damit Versuchung und Gefahr einer dem
Seienden gemäßen Usurpation des Seins und der in ihm waltenden Offenbarung Gottes ins Maßlose.

A. Die Weisen der Seinsdifferenz, ihre Aufhebung


und ihr Bestehen

a) Betrachten wir nun die unendliche Differenz zwischen Gott und den Seienden von Gott her, so er-
geben sich folgende Merkmale:

1. Der Bezug des Seins und des Seienden zu Gott

1. Sie ist von Gott her in der Idee seiner selbst, d. h. im Entschluß zu sich selbst völlig aufgehoben und
in ihrer vielfältigen Nichtigkeit offenbar: Sie ist die Differenz zwischen dem unendlichen, different
existierenden Gott und einem produzierten, spielend eröffneten, ihn nicht begrenzenden, nicht ergänzen-
den bestands- und wesenlosen Nicht-sein oder Möglichsein, das nur im Entschluß Gottes zu seiner ei-
genen Freiheit und Liebe, im Entwurf seiner „Iealität“ und in seinem freien Schaffen seinen zu-
nächst bezuglosen Bestand als mögliches und wirkliches Seiendes gewinnt.
2. Da Gottes Seinsmitteilung in nicht ausmeßbaren Graden an seiner Vollendung teilhat, so ist
jeder Bestand an Seiendem als In-sich- und Für-sich-sein in seiner positiven Realität durch sich selbst
„gerecht“ und eine je zureichende Manifestation des göttlichen Willens und der göttlichen Macht.
Schon die „Spuren“ Gottes in endlichen Wesen könnten diesen Genüge sein und bekundeten einen mög-
lichen Entschluß Gottes zur Offenbarung seiner schöpferischen Macht und Herrlichkeit. Andererseits
gibt es wie im Nichtsein, so auch im bestehenden (immer potentiellen) Seienden keine Grenze oder
keine Vollendung, die Gottes Selbstentschluß zuvorkommend bände und in Schranken schlüge.
3. Wird Gottes Schaffen jedoch spekulativ als ein Entschluß zu sich selbst, zu seiner Freiheit und Liebe
begriffen, so ergibt sich, daß Schöpfung nicht im Geist- und Wesenlosen solcher bestehender Seiender
auslaufen kann, die keinerlei Offenbarung des Grundes entsprechen könnten. Daher ist Gottes
Schöpfung wesenhaft eine Entsprechung zur Tiefe seiner geistigen Lebens- und Wesensfülle, d. h. eine
Eröffnung des Geistes für den Geist. Ja, es muß sogar auch philosophisch mit der Möglichkeit gerech-
net werden, die uns durch die Offenbarung als gott-geschichtliche Wirklichkeit eröffnet wurde, daß
Gott sich zur Offenbarung und Mitteilung seiner absoluten Lebens- und Liebesfülle entschlossen hat.

118
Dies aber besagt, auf die Schöpfung hingewendet, daß Gott seinem eigenen einfachen Wesensgrunde
gemäß sich selbst schaffend hervorgebracht hätte, wenn es dem nichtigen Nicht-sein und Nicht-Gottsein
gemäß wäre, das unmittelbar zu sein, was der das Nichts schlechthin negierende und außer sich lassen-
de Gott an und für sich selber ist. Gott kann daher nach Thomas „aus dem Nichts“ „nicht sich selber
schaffen“. Wohl aber entspricht es ihm, wie Thomas ebenfalls betont, das Seiende sich schöpfe-
risch „nach dem Maße des Möglichen anzugleichen“, wenn er schaffend zu sich selbst und seiner We-
sensmitteilung oder Wesenserschließung entschlossen ist.
Ist er aber einiges Leben und als solches Sein, so ist auch der erste schöpferische, gottimmanente Aus-
fluß seines Lebens „das Sein schlichthin“. Könnte dieses Sein (diese ursprünglichste Emanation Gottes,
diese „Idee aller Ideen“) als solches zu sich selbst kommen, so wäre es Gott selbst und trotz seiner An-
dersheit mit ihm selbig. Dann aber wäre auch sein „Nichtsein“ eine sinnlose „Voraussetzung“, da es
ewig nichts wäre als „das reine Sein“. Das Schaffen Gottes wäre ebenso ein Widerspruch, wie es als
Prozeß auseinanderfiele in eine unendliche Götterreihe, d. h. in den baren Widersinn der schlechten
Unendlichkeit.

2. Die Differenz in der Emanation des Seins

Damit aber tritt die Differenz zwischen Sein und Nichtsein auch in der Sphäre des Geschaffenen her-
vor, und zwar in vielfacher Weise: Der Akt des Seins erweist sich als in sich selbst ebenso nichtig,
wie er alle Wesens- und Lebensfülle Gottes im Modus der Emanation in sich birgt. „Emanatio“ drückt
dieses Verhältnis genau aus, sofern sie „ausfließender Fluß“ besagt, der als „Fluß“ mit dem Grunde
unscheidbar einig ist, wie er sich zugleich als „Ausfluß“ unendlich von ihm unterscheidet. In dieser
Auskehr aber verliert er sich selbst, so daß er als bestandlos oder „nichtsubsistent“ bezeichnet werden
muß. Er kehrte nicht bei sich ein und verliefe ins Nichtige, wäre er nicht auch die überquellen-
de, an sich und innehaltende Macht des subsistenten Gottes selbst.
Kraft dieser Nichtigkeit ist daher das entfließende Sein selbst entweder ein leerer, nichtiger Gedanke,
oder aber es ist ein sich in einem Andern seiner selbst ermöglichender Akt. So aber muß es als ent-
springend-lassender idealer Licht- und Lebensraum begriffen werden, in dem und aus dem her die gött-
liche Kunst ermöglichend waltet. Dem im Entschluß Gottes zur Ver-wirklichung im begeisteten (gott-
immanenten) Seinsakt wie dem göttlichen Denken ist es zu danken, daß die Möglichkeiten in der Flüs-
sigkeit des Seins „Licht und Leben in Gott“ (Thomas) werden und dem Akt als passive Einigungs-
gründe gegenübertreten. Als solche vom Akt unterschiedene sind sie zugleich für sich selbst „nichtig“,
weil ohne das emanierende Sein nichts ins für sich seiende „Bestehen“ oder ins Seiendsein gelangen
kann. Also sind sie als Verendlichungen des Aktes nur „wesende“ Einigungsgründe. Sie sind in sich
selbst eingefaßte, auf sich selbst reflektierte „Formen“, die nur in Gottes schöpferischem Denken und

119
aus dem Akt seiner Macht und durch seinen Entschluß ihren Bestand haben. Sie wesen in Gottes be-
geistender seinsträchtiger „Idealität“ als die empfänglichen „Mütter“, als Schoßgründe der Seinsgeburt.1
Solchermaßen erweist sich das „Universum der Ideen“ als ein vielfach vermitteltes Produkt des einfälti-
gen, absolut entschlossenen, göttlichen Denkens. Das noch gottimmanente, noch nicht emanierte „Sein“
als allgemeiner Akt ist die Wirkhand der „göttlichen Macht“ und (sofern es der Akt jeder mögli-
chen Schöpfung ist) die „Idee der Ideen“. Es ist nicht nur der entspringen lassende (ideelle Grund) für
das schöpferische, auswählende, den ganzen Prozeß durchwaltende Denken Gottes, sondern in eins als
Akt eine begeistende Ausstrahlung, kraft der die ideellen Wesensformen zur empfänglichen Potenz
praeformiert werden. So erst sind sie im Gegensatz zu den schlechthin nichtigen rationes „Licht und
Leben“, d. h. konstitutive Gründe in „Gott“, und doch nichts neben dem göttlichen Denken.

3. Die Unableitbarkeit und Ursprünglichkeit der Wesen

Wie aber das Sein Gottes das Nichtsein beziehungslos nichtig neben sich hat, so ist auch das Verhält-
nis von Akt und Wesen von der Differenz einer beziehungslosen Nichtigkeit bestimmt. Das heißt: Es
waltet nicht nur eine unendliche Unbestimmtheit zwischen dem Kosmos der Wesen und dem reinen
Sein (Kontingenz), sondern es ist überhaupt unmöglich, dessen Akttiefe und Fülle unmittelbar zur
Darstellung und Mitteilung zu bringen. Also ist die ausgebreitete Fülle der Wesenheiten (unter mög-
lichen anderen) auf die freie indifferente Entscheidung Gottes angewiesen, wenn sie auch noch so
sehr unter dem regelnden Geheiß des einigen Seins steht. Dies besagt, daß das „Reich der Wesen“
einerseits als geordnetes „Uni-versum“ hervortreten muß, in dem jedes Wesen als Teil auf sich
selbst, auf die mitseienden Anderen, auf das Ganze des Universums, wie auf das Sein als Akt bezogen
ist, wie es andererseits in allen Teilen und Graden des Wesenhaften und Bestehenden von unableit-
barer Ursprünglichkeit ist. Es ist ein je freier Hervorgang des göttlichen Entschlusses.
Also sind die Seienden und je Besonderen (Individuen) nicht in logische Bezüglichkeit auflösbar. Es
gibt keine „systematische Weltkonstruktion“ der besonderten Wesenheiten, wohl aber eine allgemeine
Struktur der ideellen Seinsermöglichung einer universalen Schöpfung, d. h. eine metaphysische Bestim-
mung der für ein Universum möglichen konstitutiven Gründe, ihrer Erstreckung und Wirkwei-
sen.

4. Die Schöpfung und der Geist-charakter des“ reinen Seins“

Der eigentliche Schöpfungsakt ist nach dem Gesagten die zeugerische Selbstaktuierung des Seins im
empfänglichen Schoß der Wesenspotenzen, durch die oder durch deren einigendes Innehalten das ema-
nierende „Sein selbst“ zu Stand und Subsistenz kommt. Da es selbst als nicht-empfangener Akt Geist
vom Geiste Gottes ist (omne ens sine materia est intelligens), so ist es dem Wesen des reinen Seins

1
Vgl. „Das Sein als Gleichnis Gottes“.

120
und der realen Differenz von Sein und Wesen gemäß nicht nur im substantiell Seienden einer „mate-
riellen Welt“, nicht nur im Reich des sich selbst innehaltenden und sich fühlend zu eigen habenden „Le-
bens“, sondern in einer universalen (empfänglichen) „Geistespotenz“ sich zu sich selbst zu aktuieren.
Das heißt: Nur im „Schoße der Vernunft“ kann das Sein seine Reflexion zu sich selbst gewinnen und
als subsistierende „Person“ ins Dasein treten. Diese „Personalität“ gewinnt dann ihre höchste, alle
Differenzen versammelnde und ins Wahrsein eröffnende Tiefe, wenn sie zugleich dem ganzen Kos-
mos der Wesenheiten bis in die materiellen, d. h. in die eingeschränktesten Empfängnisse des sich er-
möglichenden Seienden hinein geöffnet ist und alles erkennend, strebend und liebend dem Sein (aus
dessen ereignender Macht und Helle) zurückbringt.
Die Schöpfung ist daher die im Inneren der göttlichen Idealität sich ereignende Vermählung von Akt
und empfänglicher Wesenspotenz, kraft welcher endlich Seiendes und mit ihm das Sein zu Stand und
ins entäußerte Bestehen kommt. Dieses Bestehende verdankt solchermaßen auch seine „Äußerlich-
keit“ der einräumenden Innerlichkeit des göttlichen Lebens und bleibt von ihm schlichthin umhalten.

5. Die Division des Seins und die Materie

Wie das Sein aber seine einfache Tiefe im Ereignis der essentialen Aktuierung bewahrt, wie es
sich in sich selbst auf die Wesen hin „dividiert“ und „mitteilt“,2 ohne der essentiellen Mannigfaltig-
keit schlichthin anheimzufallen, wie es also als Akt den Essenzenkosmos überragt, so ist auch seine
entspringen lassende Vermannigfaltigung nicht an die Schranke der in sich reflektierten Formen oder
Wesen gewiesen. Indem es diese aber in der divisiven Vermannigfaltigung überschreitet, eröffnet sich
eine letzte Dimension, die als reines „Nichtsein“, als reines „Apeiron“, als „schlechte Unend-
lichkeit des Unbegrenzten und Unverfaßten“, als „reine wesenlose Geteiltheit und Ausgegos-
senheit“, d. h. als Abgrund der wesen- und formlosen „Materialität“ hervortritt. Sofern dieser Ab-
grund aus dem Sein selbst entsprang, bleibt er notwendig auf dieses bezogen, so daß er als empfängli-
cher Grund doch zugleich bestimmt ist als „Dynamis des Seins selbst“. So aber hat er eine strebende
Tiefe zu eigen, die als „Hin zum Seiendsein“ ein gründender, mittragender Eros genannt werden
muß, der in den aktuierenden Formen im Ereignis der Verwesentlichung ins Seiendsein drängt und
als unendlicher Dranggrund dem aktuierenden Seinsgeschick Antwort gibt.
Sofern das Sein wesenhaft durch „Subsistenz“ bestimmt ist, ist dieser letzte Ausfluß des Seins für
sich selbst reines „Nichtsein“ (non-ens). Deshalb bedarf es eines formierenden, sich im Andern sei-
ner selbst zu sich reflektierenden Prinzips, durch welches dieses „Nichtsein“ als mittragender Grund ins
Walten kommt. Da es aber durch eine Form ins Seiendsein aktuiert wird und als „appetitus ad esse“
kraft eigener Dynamis sich im Seienden gründend geltend macht, partizipiert es an der „Güte des
Seins“, sofern diese durch „Streben“ bestimmt wird. Als ein „bonum“ aber ist es eine Weise des
„Seins“. Wie dies als reiner Akt durch Nichtsubsistenz nichtig und „nicht-seiend“ ist, so ist auch die sei-

2
Vgl. Gustav Siewerth, Der Thomismus als Identitätssystem. 2. Aufl. 1961.

121
ner „Mächtigkeit“ entsprechende Weise von „Möglichkeit“ als „nichtseiend“ doch ein seinshafter Grund,
dessen Wesen nur durch seinen Bezug zum Sein auf hellbar ist.

a) Die vierfache Nichtigkeit der Materie


Durchdringt man diesen Verhalt spekulativ, so ergibt sich eine mehrfältige Nichtigkeit der Materie:
Erstens die Nichtigkeit, die sie mit allen potentiellen Formen gemein hat, die dem Akt entspran-
gen; zweitens die Nichtigkeit der Formlosigkeit, d. h. der verströmenden Nichtreflektiertheit und
Nicht-verfaßtheit; drittens die Nichtigkeit der „Nichtsubsistenz“, d. h. die Unmöglichkeit, unmittelbar
den Seinsakt zu empfangen; viertens die „Nichtigkeit“ in der formalen Aktualisierung, sofern diese
den „appetitus ad esse“ nur teilhaft aktualisiert. Deshalb gibt sie immer neuen Aktualisierungen
Raum, die sich jeweils nur „privativ“ ereignen. Dies besagt, daß jedes materielle Wesen in seiner
förmlichen Aktualisierung andere Ermöglichungen zum Erlöschen bringt und wieder neuen ausgesetzt
sein kann.

b) Die Materie als substantieller Werdegrund


Diese „Materie“ ist das „Herz“ aller irdischen Dinge. Sie ist der Grund der Möglichkeit der
zeugenden Ursächlichkeit des Seienden, das sich selbst oder die Individuen derselben Gattung
hervor-bringt. In ihrer ununterscheidbaren Selbigkeit wie in der Universalität ihrer Potentialität
gründet die Einheit der materiellen Welt. Ihre Wandel- und Werdepotenz ermöglicht in der sub-
stantialen Mitte des tierischen und menschlichen Lebens eine fortschreitende Disponierung, d. h. eine je
komplexere Organisation und eine je gesteigerte Strebe- und Funktionsbereitschaft, der eine „ent-
staltende“ Auflösung unzureicher Formierungen entspricht. Kraft dieses „Stirb und Werde“ ist die
Materie der zum Leben in den verschiedensten Formen erweckte Ab-grund des des Nicht-seins
mächtigen Seins, die dauernde Verwandlungs- und Ersterbestätte des Seienden, d. h. die in der unbe-
schränkten Flüssigkeit des Nicht-seins eingewurzelte Tiefe alles Lebens, das aus dem Muttergrund
der materiellen Erde in immer neuer Ermöglichung im Ereignis der Lebens- und Geistgeschichte
zu sich selbst als strebende Liebe heraufgeht.

c) Der Aktgrund des Seins und seine zeitgeschichtliche Informationskraft


Dabei eröffnet sich eine Seinsermöglichung, die bisher nirgend gedacht wurde, wiewohl sie allein
dem leidigen Ungedanken, Gottes Schaffen ins Nacheinander von zeitlichen Setzungen zu bannen,
entgeht. Denn ist das Sein der entspringen lassende Grund der Wesen und partizipiert jedes Seiende
am Sein, so ist es dem Sein gemäß, seine Wesensfülle nicht auf einmal, sondern zeitgeschichtlich aus-
zubreiten. Dann aber ist es nicht nur möglich, sondern der Teilhabe der Wesen am Sein gemäß,
daß ihre sich disponierende Verwandlung, sobald sie die Einigungskraft einer Artform übersteigt,
die mitteilende Tiefe des Seins beansprucht und das Hervortreten neuer Formen heraufführt. Es
entspricht der Seinspotenz der Materie als einer „potentia ad esse“ (nicht nur zum Wirken), die nach

122
Thomas die „höchste und letzte Form“, nämlich „die menschliche Seele“ anstrebt, daß der
Werdegang des Lebens (in der fortschreitenden Disponierung der Materie) nicht in Sackgassen
oder im Untergang endet, sondern gemäß dem „appetitus ad esse“ jedes Seienden im „Kairos“ der
Lebensgeschichte die formenschwangere Tiefe des Seins zu neuer und höherer Information anregt.
Nimmt man nämlich an, daß in der „Materie“ ein „appetitus ad esse per animam humanam“ waltet,
so macht er sich im Werden der niederen Arten notwendig auf die Weise geltend, daß das emp-
fängnisfähige, sinnenhaft geöffnete Leben sich disponierend „überlädt“ (André). Es bereichert und
organisiert sich zu solcher extremen Gestalt, daß es sich zugleich gefährdet, sofern die Artform der
im materiellen Grund sich ereignenden Empfängnisse und der sich steigernden Dynamik der Le-
bensanforderung nicht mehr gewachsen ist. Sie gelangt an das Ende ihres einigenden Vermögens und
müßte an der Steigerung des Lebens zugrunde gehen, wenn nicht eine neue Information erfolgte.
Diese könnte nur aus Gottes Schöpfermacht geschehen, wenn man nicht annähme, daß in der
„einmaligen Schöpfung“ die „Idee der Ideen“ als entäußerter partizipierter Seinsgrund in seiner
entspringen lassenden Tiefe zum Hervorgang neuer Formen „begabt“ und „geneigt“ wäre.
Diese die wesenswidrige „Evolution von unten“ überwindende Lehre, die zugleich der biologischen
„Zeitigung“ in der Lebensgeschichte gerecht wird, setzt daher voraus, daß das Sein im Schaffen Got-
tes als Akt aller Wesen einerseits mit noch nicht aktuierten Formen begabt ist, wie es andererseits
durch die Partizipation der verwirklichten Wesen und Arten zu informierender Aktuierung materiel-
ler Potenzen beansprucht werden kann, weil es nämlich wesenhaft auf diesen Kairos der Daseins-
erhaltung und Lebensverwandlung hingeordnet ist. Selbstverständlich ist dem Sein als „Akt der Ak-
te“ diese Möglichkeit nur eigen, sofern es in seiner die Rezeptivität der Formen überragenden
Tiefe in seiner Wurzel in Gottes ausströmen lassender Macht und Idealität gründet.
Die Partizipation des Seienden am Sein hat daher auch eine verborgene, auslösende Macht. Diese
Macht kann jedoch nicht ohne eine innere Zuordnung verstanden werden, die, göttlichen Ursprungs,
das Sein des Seienden als entspringen lassenden Grund der Formen mit der sich im Werden substan-
tiell disponierenden Ge-schichte des materiellen Seienden in verborgener Weise verknüpft. Das U-
niversum des ausgefalteten Seins hat daher nicht nur eine wesensräumliche, sondern eine zeit-
geschichtliche Dimension. Es breitet sich nicht nur im gleichzeitigen Gesamt aller Wesen, sondern
auch im Nacheinander der Wesensverwirklichung aus. Also gibt es auch in der Lebensgeschichte eine
„Zeiten- und Zeitigungsfülle“, in der sich das materielle Werden zu höchstem Reichtum überlädt und
damit sein „Ende“ erreicht. Dieses sein „Verenden“ aber ist zugleich die Entbindung einer neuen
Potenz, deren Hervorbringung dem Urspringen neuer komplexerer Informationen Raum gibt. Somit
verliefe die „Geschichte des Lebens“ analog zur „Geschichte der Offenbarung“, in welcher Gott die
Menschen allmählich für immer neue Hervorgänge seiner erlösenden Liebe disponierte.
Diese „Zeitigungsfülle“ des sich entstaltend disponierenden materiellen Lebens ist in unserer Zeit
von Hans André, dem Meister einer philosophischen Biologie, einem der tiefsten Denker unter den
Gegenwärtigen, in seinen zahlreichen Werken ans Licht gebracht worden. Neben seinen Eröff-

123
nungen sind die rationalistischen Konstruktionen Teilhard de Chardins ohne Gewicht. Das Schwei-
gen um André wie der laute Lärm um Chardin kennzeichnen ein Zeitalter, in welchem jede einli-
nige, leicht faßliche Systematik der komplexen Tiefe der Wahrheit vorgezogen wird.
In der „Materie“ ist die Differenz zwischen Sein und Nichtsein selbst ins Bestehen und damit
in ein währendes Ereignis gebracht, das im menschlichen „Herzen“, dem „Opfer- und Verwand-
lungsgrund“ des Daseins (André) (in welchem Thomas die Potenz einer dauernden sub-
stantiellen Verinnerlichung des Materiellen ins Menschsein sieht), zum verborgenen Heiligtum der
reifenden Zeitigung, d. h. der Gottesgeschichte wird, bis das erdverwurzelte Herz (als „radix
sancta fructifera“) im Abgrund seiner verflüssigenden Leiden geweitet und gefestigt wird, seine
letzte Vollendung durch Gott zu empfangen. 2a
Es ist in diesem Zusammenhang erhellend, daß im Verhältnis der sich in der Materie her-
stellenden und in Stand kommenden Formen (wie den Pflanzen und Tieren, die zugleich das Materiel-
le ins Organische lebensgeschicklich übereignen) sich im Bereich der sinnenhaft eröffneten Welt das
Verhältnis des Seins zu den Wesenheiten wiederholt und erfahrbar darstellt.

6. Das bestehende Seiende und seine differente „Ermächtigung“

Indem solchermaßen alle möglichen Differenzen ins Walten wie ins Bestehen gebracht werden, ist das
Seiende in allen seinen Wesensgründen in den Bestand, in die unbezügliche Freiheit des in sich sei-
enden, substantialen Innehaltens und Innehabens freigegeben. In eins damit steht es in der seinsge-
schichtlichen einrückenden Ermöglichung ins Einige oder Ganze des Universums, ins Einigere des
lichtenden, alles durchwaltenden Seins bis zur Empfängnis der göttlichen Offenbarung und Übereig-
nung.
Diese „Ermöglichung“ bedingt eine weitere und letzte Differierung im Seienden selbst. Wird es
nämlich als das zur Subsistenz gekommene (in sich reflektierte) Sein verstanden, als das im Uni-
versum ausgefaltete „Abbild Gottes“, so ist es in seiner substantialen Vereinzelung, in seinem Sei-
endsein vom „Sein als solchem“ und vom „Universum der Seienden“ geschieden. Deshalb ist es
notwendig, seine innehaltende Subsistenz aus ihrer Akt- und Formtiefe in eine neue Erstreckung zu
bringen, in welcher sie am Einigen aller Wesen partizipiert und die eigene Besonderung ins All-
gemeine des Seins transzendiert. Diese Erstreckung und Transzendenz kann nicht im Modus der
aktuellen Subsistenz geschehen, da das Seiende dann als universaler Akt, d. h. als Gott begriffen wer-
den müßte. Ist sie aber nicht subsistierender Akt, so ist sie notwendig eine aus dem subsistenten Akt-
grund hervorgegangene und von ihm innegehaltene Wirkerstreckung, in dem sich das Seiende wir-
kend „ermöglicht“. Diese Möglichkeit oder Mächtigkeit, der eine möglich-mächtige Empfänglich-
keit entspricht, ist das „Vermögensgefüge“ der Seienden, das „totum potestativum“, in welchem sich
die Substanz wirkend und empfänglich auf alles Seiende hin „ausfaltet“.

2a
Vgl. Siewerth, Der Mensch und sein Leib, 1953

124
Dieses Potenzengefüge ist durch wichtige Merkmale gekennzeichnet. Erstens ist es entsprechend der rea-
len Differenzierung der zu erreichenden Seinsgründe und der besonderten Arten des Seins gegen den
substantialen Grund wie innerhalb seiner selbst in der Verschiedenheit der Vermögen real unter-
schieden, so daß jedes Vermögen in eigener und spezifischer Weise sich wirkend verhalten kann.
Zweitens ist es als entsprungene Ausfaltung, als „resultatio naturalis“, doch eine Seinsweise der
Substanz, deren Aktualität um willen des Wirkens da ist (actus est propter agere). Deshalb ist
der Grundakt der Substanz: das Innehaben oder das Innehalten, das „Sichverinnern“ von durchwal-
tender Universalität. Die Potenzen sind solchermaßen der ausgefaltete Grund selbst, der durch sie
am Sein wie am Seienden partizipiert. Drittens ist die Ermöglichung der Potenzen im Hinblick auf ihre
wirkliche Wirk- und Empfängniserstreckung auf die Teilnahme an umfassenden Seinsgründen ange-
wiesen, innerhalb derer ihre Ausbreitung und Erstreckung statthat. Dieser Grund ist für den sinnli-
chen Bereich die universale Potenz der Materie und die Eröffnung ins Offene des universalen
Raumes. Für die geistigen Potenzen ist es das Seins- und Wesenslicht des „aktiven Intellektes“ wie
das den Willen anstoßende Wirken Gottes selbst, kraft welchem die innere Vermögenserstreckung von
transzendentaler Umfänglichkeit wird. Durch sie ist der Mensch ursprünglich in die Wahrheit wie
ins Gute verfügt.

7. Die Geschichte des Geistes als steigende Ermächtigung in der währenden Diffe-
renz. Die Personalität als Subsistenz und Relation

Diese Transzendenz ist im Innehalten des Subjektes zugleich der Grund der different bleibenden Er-
mächtigung des Seienden. Durch sie ist die Geschichte der Menschheit im Einrücken gegen die Gründe
des Seins wie in Gottes offenbarender Mitteilung seines Lebens zugleich mit der je größeren Einigung
ein Hervortreten der unaufhebbaren Differenz der Subsistenz des Seins und des Seienden. In dieser
Unaufhebbarkeit des Selbstseins steht das Seiende in der Freiheit des gleichgültigen Spiels im Anders-
und Nichtsseienden, bis zu Abkehr und Abfall ins Scheinhafte, in Irre und ins Böse.
Nirgend aber begrenzt seine Endlichkeit oder sich steigende Abkehr in Nichtigkeit und Verfall die of-
fenbarende Übereignung und Erweckung durch den göttlichen Grund, der in der Lichttiefe des parti-
zipierten Seins mitteilend waltet, wie disponierend in den materiellen Empfängnis- und Strebegrün-
den der Welt. Was er jedoch jeweils erwaltet, ist keine „Aufhebung“ des Bestehenden ins Einige
des Seins, in die Notwendigkeit des Logos (Hegel), in den Geistakt der sich im Gleichgültigen dahin-
schwindender Individuen ausformenden „Idee“, oder gar in das „Kollektiv der Arbeit“. Er waltet
nicht als einebnende Gewalt, als bacchantisch verzehrender Rausch, als Notwendigkeit eines die Indi-
viduen für sich verbrauchenden Weltgeistes, als das aufhebende, einsaugende Nichts des wesenlos
Einfachen und Einen der Asiaten, sondern als begnadende, heimholende, lösend-erlösende Er-
mächtigung, die das erschütterte Haus der göttlichen Empfängnisse zugleich stützt und in seinem Be-

125
stande festigt (Augustinus). Indem er schließlich „in der Fülle der sich zeitigenden, im Herzgrund ge-
reiften Zeit“ selbst aus der subsistenten Tiefe des göttlichen Seinsaktes „Fleisch“ wird und als
„comprehensor alles Geschaffenen“ sich dem Geschick der verfallenden Seins- und Bestandsverkeh-
rung als „Lamm Gottes“ ausliefert, werden alle Differenzen ins Einige göttlichen Lebens gekehrt, wie
zugleich die absoluteste Differenz einer letzten Entscheidung und Scheidung sichtbar wird.
In dieser Sicht bedeutet die „Ausgießung des Geistes“, der „in den Herzen wohnt“, die letzte und
tiefste Disponierung und liebende Erweckung des Naturgrundes, der in unendlichen Ersterbungen
und Liebesopfern heranreift zu einer Vermählung von Höhe und Tiefe, von Geist und Leben, Sein
und Materie, bis zur Offenbarung und verselbigenden Mitteilung aller Tiefen des göttlichen Le-
bens, das im „Reiche Gottes“ „Gott alles in allem“ geworden ist. Das Geschöpf ist aus seinem
subsistenten Bestand, in seiner personalen wie naturhaft individualen Wurzel während, in auszeu-
gender und erweckend einhauchender Liebe als „Kind“ und „Sohn“ Gottes in schauender Teilhabe
und Teilgabe „geworden wie Gott selbst“, was es sich zugleich im bestandenen Abgrund des Todes
und des Nichts innehaltend und zueignend selber „verdiente“. Die geschöpfliche Differenz hat sich in
eine absolute gewandelt. Dies besagt: Im Einigen göttlichen Lebens wurden die Geschöpfe der göttli-
chen Subsistenz angeglichen. So aber existieren sie nur noch als die Relation der ewig vollzogenen Ü-
bereignung der Liebe und der Güte des Seins. Dann aber erfüllt sich, daß die Differenz von Gott
und Nicht-Gott im Wesen teilnehmend schon ermöglicht war durch die innergöttliche des trinitari-
schen Unterschieds und deshalb in der Vollendung der Seins- und Gottesgeschichte ins göttlich ei-
nige Leben einmündet. Sie kann nicht mehr nur durch das Differentsein der für-sich-seienden Sub-
sistenzen oder Personen, sondern sie muß auch wesenhaft als „Relation“, als zur Liebesfülle des Seins
und Gottes ermächtigte Ek-sistenz begriffen werden. Der schöpferische Entschluß Gottes war daher
immer schon selbig mit jenem Vollzug, in dem Gott zeugend und liebend zu sich selbst hervor-
ging.
Man kann dies auch so ausdrücken: Wie die Differenz vom Sein und Nichtsein der inner-
göttlichen Differenz entsprang und in ihr sich im Entschluß in der göttlichen Idealität in alle
Möglichkeiten aus göttlicher Freiheit ausfaltete, so nimmt auch Gott in seiner Freiheit in der
Fleischwerdung des Wortes wie in der Ausgießung des Geistes in die Herzen, deren Leiden
er seufzend teilt und dem Vater mitteilt, alle Differenz der geschaffenen und verfallenden
Entäußerung an und bereitet die Verschiedenen und Für-sich-Bestehenden zur Selbigkeit
seiner Seins- und Wesensübereignung.

126
B. Die Seinsdifferenz in der Philosophie

Dieser Sicht vom göttlichen Grund her muß der Austrag der Differenz vom endlich Seienden her ent-
sprechen. Der Mensch existiert ursprünglich im Ganzen des Universums in sinnenhafter Ausge-
kehrtheit an das Seiende, wie er als erkennender und strebender von der Wahrheit und Güte des
Seins aufgelichtet und bewegt ist. Dies besagt, daß er nicht in der Indifferenz des Seienden seinen
Bestand hat (als Ding unter Dingen), sondern daß er immer als „Natur“ in die Ek-sistenz herauf-
ging. In dieser Eröffnung ek-sistiert er immer schon als der aus dem Einigen des Seins „Ermächtig-
te“ oder „Ereignete“. Dieses „Ereignis“ ist ineins seine Auflichtung und transzendierende Erstre-
ckung wie seine Eingründung in den Bestand seiner selbstursächlichen Freiheit.
Es ist durchaus begründet, dem naturhaften Hervorgang und der apriorischen Vollendung dieser
Seinserkenntnis gemäß, die ursprüngliche Existenz in einem ausgezeichneten Seinsverhältnis zu den-
ken, in welchem sie im Ganzen der Wirklichkeit und ihrer alles durchwaltenden Gründe, d. h. in einer
unentfalteten Innigkeit, denkend zu sich selbst heraufging.
Gab es diese archaische „.Innigkeit“, deren Nachhall sich noch bei Naturvölkern anzeigt, so war sie
seinsgeschicklich eine Mitgift jener konstituierenden Gründe, aus deren durchdringender Vermählung
alles in Stand und Dasein kam, das Urereignis des Seins und die beseligte Feier der göttlichen
Schöpfung. Oder es war ein Gnadenereignis Gottes und der einhüllende, erweckende Lebensstrahl sei-
ner Liebe, der das Dasein des Menschen ursprünglich zu Gott begeistete.3
Im letzten Falle ist der erfahrbare, geschichtliche „Naturstand“ des Menschen eine aus seinem Selb-
stand hervorgegangene Verweigerung, dem ein Entzug göttlichen Lebens entsprach, während im ersten
Fall die Übereignung in den Selbstand als Folge der innehaltenden Festigkeit des In- und Fürsich-
seins aller Wesen, ihrer Widerständigkeit und der Härte ihres An-sich-selbst-seins erscheint. Sol-
chermaßen tritt in der Erfahrung des Seiendseins, im Urwort des „Ist-sagens“ die dem Menschen
gemäße Wahrheit des im Seienden zu sich selbst gekommenen Seins hervor, in welcher er, des eigenen
Selbstandes inne, das Universum der Wesenheiten ebenso sich gegenüberstehend erfährt, wie er von
ihm umgriffen ist.

1. Der Mensch im Widerstreit des Seienden

Indem ihm dieses „Seiendsein“ der ihm angemessene Ausgang seines Denkens und das Maß seiner
Wahrheit wird, gerät die archaische Existenz in einen Zwist, dessen Austrag im Mythos, in der
Philosophie wie in der politischen Weltbewältigung und Daseinsordnung geschieht. Aus der kind-
haften Geborgenheit der Natur heraustretend, erfährt der Mensch den kosmischen Streit, den Lebens-
und Todeskampf des Seienden um seinen Bestand. Diesen Streit kann der Mensch nur bestehen, wenn er
sich dem alles durchfügenden Walten göttlicher Mächte, d. h. der Übermacht derjenigen anvertraut und

3
Es scheint mir bedeutsam, daß sich die „Innigkeit des Ursprungs“, die bei Heidegger vor der „Seinsvergessen-
heit“ und einer sich in „Seinsprägungen“ ausfaltenden je „epochalen Irre“ waltet, aus dieser Sicht ergibt.

127
sich ihrem Willen und Gesetz unterwirft, die des Seienden und des Mannigfaltigen mächtig sind. Nur
aus solcher seins- und gott-geschichtlichen Teilhabe ist er ermächtigt, das eigene Leben urheberschaft-
lich (autoritativ) als Gemeinwesen aufzubauen, sich denkend und fügend, schützend und hegend in ei-
nem Teil der Erde einzurichten und wohnend das eigene Wesen erinnernd und planend zu entfalten. So
existiert der Mensch im „mythischen Zeitalter“ im unausgetragenen Spannungsverhältnis von Sein und
Seiend, in einer nicht fixierbaren Bewegtheit im „Mittleren“ einer aufgebrochenen Differenz im Welt-
gefüge und deren nur teilhaften Überwindung durch einigende, ordnende Kräfte, die selber in der
Differenz des „Vielen“ oder „Seienden“ stehen und deshalb dem Walten des Schicksals unterworfen
sind.
Dem Seienden um des eigenen Selbstseins und Seinkönnens willen zugekehrt, erfährt der Mensch da-
her mit dem Wunderbaren der Wesen und des Kosmos, mit der Herrschaft und Herrlichkeit ordnender
Fügung der Mächte das Tragische ihrer Verzwistung und die ratlose Not seiner Untergänge. Er weiß
um das Gesetz der Götter, um das Unableitbare ihrer Ratschlüsse, um seine Verschuldung wie um
das Verhängnis eherner Notwendigkeit. Dessen unbetretbare Ferne und Dunkelheit läßt das „Sein des
Seienden“ gewichtlos werden und vor dem welthaften Walten der Mächte in der geängsteten Weltver-
stricktheit der Sorge erblassen. Andererseits ist das Todeslos und der Widerstreit der Mächte der
Anstoß, die heil-lose Verfassung der Welt und des Seienden ins Einige und Unversehrbare des Seins
und ins Heilige eines göttlichen Grundes zu übersteigen. Also steht das Dasein in der Schwebe einer
sich verschärfenden Indifferenz und einer vorrückenden Geschichtlichkeit des fragenden Denkens.

2, Die Gigantomacheia des Seins

Erscheint aber dem Denkenden solchermaßen „das Sein des Seienden“, so beginnt die Gigantomacheia
der Philosophie, in der alles Bestehende in die Krisis der Unterscheidung, der Scheidung und Entschei-
dung gestellt wird. Gehört das „ist“ des Seiendseins dem Sein oder ist es aus Gnaden des Seien-
den? Wird dieses Seiendsein dem Sein zugesagt, dann zieht sich dieses inneseiend und innehal-
tend in sich selbst zusammen. Es rückt in unerreichbare Fernen, wie es als Grund die Seienden in den
Schein des Seiendseins, ins „Nichtsein“ oder ins Abkünftige eines „Gegründeten“ fallen läßt, das
aus den ewigen Gründen (Ideen) nachbildend gefügt und ins Gesetz der Fügung gezwungen ist. Die
Philosophie wird ein transzendierender „Analogos“. Sie kann den Grund des Seienden nur im Mo-
dus des Bestehenden und in sich Wesenden vermittelnd auflichten, aber von sich her nicht zu „verkos-
tender Berührung“ des Grundes, d. h. zur „sapientia“ werden. Darum klafft zwischen Gott und Welt,
zwischen dem reinen Sein und dem Seienden, zwischen dem Göttlich-Guten und dem verschuldeten,
endlichen Dasein ein Abgrund, der die Philosophie ins Gewichtlose eines esoterischen Bemühens oder
in die Erwartung einer göttlichen Seinseröffnung weist.
Darum gehört es zum Wesen des geschichtlich ereigneten Geistes, daß die Philosophie das in ihr wal-
tende Prinzip, das Sein des Seienden, wie Tiefe und Wesen der Differenz nicht durchmessen und de-

128
finierend fassen kann. Ihr Denken bleibt der Ordnung der Essenzen und dem Unmittelbaren ihres
Anwesens verhaftet. Sie gerät wiederum in die Gefahr fortschreitenden Verfalls, der in der Ver-
zweiflung der Skepsis den höchsten Grad nichtiger Indifferenz erreicht. Erst im Ereignis der Offen-
barung des schöpferischen Geistes wird daher das „Sein selbst“ wie die „absolute Differenz“ zur
Ermächtigung des Denkens, in welchem die Philosophie im gott- und seinsgeschichtlichen Vollzug
der „sacra doctrina“ ins eigene Wesen kommt.
Diesem Anheimfall des Denkens an den endlichen Bestand oder an ein weltloses Transzendentes
entspricht im Raum der politischen und technischen Weltbewältigung eine um so tiefere innehal-
tende Verselbstigung der sich disponierenden und zugleich verfestigenden Menschennatur,
die innerlicher, versammelnder, erdhafter und stärker wird - aber auch härter, sich abschließender und
selbstbezogener. Darum folgen nicht nur, dem Mythos wie der Offenbarung entsprechend, dem „gol-
denen“ das „silberne“, das „erzene“ und schließlich das „eiserne“ Zeitalter im Sinne der schauder-
erregenden Verendlichung bis in die Organisation der technokratischen Verhärtung, sondern es dis-
poniert sich in solchem Geschick zugleich das wie „von Drachenzähnen“ zerriebene Herz zu jener
steigenden Verflüssigung, in welcher sich die göttliche Liebe wachsend ihr verborgenes Reich berei-
tet.

3. Zusammenfassung der Differenzstrukturen

Betrachten wir rückblickend das Ergebnis der Untersuchung, so sind folgende Grundzüge festzuhalten:
1. Das eigentliche Wesen der Seinsdifferenz ist das zeugende und schöpferische Hervortreten der per-
sonalen Subsistenz. Ihr Wesen ist eine Scheidung im aktualen Seinsgrund selbst, der sich in der un-
auflösbaren Identität seiner selbst durch das subsistente Differentsein im relationalen Bezug der tota-
len oder partizipativen Seins- und Wesensübereignung zu sich selbst vermittelt. Diese Differenz ist
nicht aufhebbar. Ihr Nachbild tritt in der Geschichte der Menschheit durch steigende „Ermächtigung“
in der fortschreitenden Übereignung des einigen Seinsgrundes immer mehr hervor.
2. Neben ihr ist die Differenz des ideellen Entwurfs der Andersheit von der Wurzel her durch
„Nichtigkeit“ bestimmt und immer im Denken des absoluten Geistes aufgehoben. Sie hat aber einen
vermittelnden (positiven) Charakter, sofern in ihr die Möglichkeit des schöpferischen Hervorganges
des Seienden gründet.
3. Neben diesen Differenzen gibt es des weiteren die Differenz des Seins-abfalls (vom Akt zur Form
und zur Materie) oder der Seinsverendlichung, die jedoch wie jede Differenz auch positive Charak-
tere hat. Diese sind die Ausfaltung der Seinsfülle im Kosmos der Wesenheiten, die Ermöglichung
der konstitutiven Verwirklichung des Seins in den besonderten Substanzen, die Ermöglichung der
materiellen Erzeugung wie der selbursächlich-reifenden Verwandlung der Naturen im einigen Ele-
ment des universalen Werde- und Empfängnisgrundes der Materie.

129
4. Diese Seinsminderung und positive Ermöglichung hat ihr Widerspiel im Wesens- und Substanz-
gefüge des individualisierten und besonderten Seienden. Der potentiellen Minderung und Ver-
mannigfaltigung entspricht der resultative Hervorgang mannigfaltiger Vermögen, die als „Akziden-
tien“ den geringeren Seinsgrad haben, wenn man ihre Seinsart am In-sich-sein der Subsistenz mißt.
Sie sind jedoch im Hinblick auf die transzendierende Ermöglichung Weisen der Vervollkommnung
des Seienden und können (nach Thomas) im Modus der partizipierenden Ermächtigung, besonders
in den göttlichen Mitteilungen, an Aktuierungstiefe den formalen Substanzgrund übertreffen.
5. Schließlich durchwaltet die absolute Differenz auch die seins- und gottgeschichtliche Ermächtigung
der existierenden Geister und Personen, auch dann, wenn die unaufhebbare „Person“ kraft der In-
differenz ihrer Freiheit - statt in den Grund einzurücken - sich den endlichen Besonderungen und den
seinslosen Scheinentwürfen des Geistes zuwendet und darin die Ordnung der Schöpfung seinswidrig
verkehrt. Die darin sich ereignende absolute Besonderung des Bestehenden kennzeichnet als das ver-
wirklichte Böse die letzte Verfallsdimension des Nichtseins. Ihre Wendung ins Leben ist der göttlichen
Erlösung zu danken, der Überwindung des Todes wie der Sünde durch das Liebesopfer des ewig und in
der Zeit geschlachteten Lammes.
6. Alle diese genannten Differenzen sowie ihre positiven Einigungs- und Ermächtigungsvollzüge sind
jedoch ein einiger Austrag der Seinsdifferenz, deren Stadien oben spekulativ gedeutet wurden. So
liegt im Seinsabfall der Wesenheiten und individualisierenden Materie zugleich der Grund der
Möglichkeit für die Personierung und Subsistenz des Seins in der Endlichkeit, wie in der materiel-
len Zeugung und Selbstdisponierung des Herzgrundes die menschliche Person im sittlichen Werk er-
mächtigt wird. Deshalb haben alle Differenzen auch teil am unaufhebbaren Bestand der geistigen Per-
son und sind in den geschichtlichen Gang der Vergöttlichung wie des Verderbens verflochten. So
endet die Verwandlung des sinnlichen Naturstrebens in der pneumatischen Verfestigung und Ver-
flüssigung der organisierten Materie, wie diese in der Verklärung als „unverwesliche Leiblichkeit“
das ewige Leben gewinnt.
7. Entscheidend für den Austrag der Differenzen bleibt ihre innere Ordnung wie ihr aus dem Einigen
Gottes und des Seins gedachtes und ermöglichtes Wesen. Wird dieser spekulative Zusammenhang ge-
stört, werden die realen Differenzen mit den ideellen gleichgesetzt oder werden die Seienden durch
einen absoluten, unaufhebbaren Unterschied spröde und absolut vereinzigt und vereinzelt, dann verhal-
ten sie sich antinomisch gegen den Grund, so daß das Geschehen der einigenden Ermächtigung zugleich
als sich steigende „Subjektivierung“ hervortreten muß. Die Geistesgeschichte als „seinsvergessene Irre“
kann nur durch die spekulative Durchdringung der Seinsdifferenz in ihrem Wesen aufgehellt werden.
Der tiefe Gedanke Heideggers, die „Metaphysik“ im Sinne der „Seinsvergessenheit“ als „Irre“ und
fortschreitende „Subjektivierung“ zu begreifen wie seine Forderung, die Differenz von „Sein und
Seiend“ zu bedenken, kommt so im spekulativ vollendenden Vollzug thomistischen Denkens über ein
Programm hinaus philosophisch zum Austrag.

130
IV. DIE ÜBERSPRINGUNG DER SEINSDIFFERENZ IN DER
PHILOSOPHIE

Dieses Differenzgefüge ist durch den realen Unterschied von Sein und Wesen wie von Sein und Sei-
endem (Akt und Subsistenz) bestimmt, wobei der letztere in seiner Struktur die Differenz der gött-
lichen Personen und ihre Selbigkeit mit dem Wesen Gottes widerspiegelt. Es ist, wiewohl es eine
Ausfaltung und Vollendung des philosophischen Seinsdenkens darstellt, durch die Theologie vermit-
telt.4 So sind alle ideellen Differenzen nur aus dem realen Unterschied der göttlichen Subsistenzen spe-
kulativ herleitbar und in ihrer vielfältigen Nichtigkeit wie in ihrer vermittelnden Struktur zu erhel-
len. Aber auch das unaufhebbare Bestehen der geschaffenen Subsistenz eröffnet sich erst durch die
Theologie in ihrem Gewicht. Nur durch sie kann von einer „Abbildlichkeit“ zu den göttlichen Personen
gesprochen werden. Nur von ihr her eröffnet sich die Dimension ihrer innehaltenden, sich selbst be-
stimmenden Mächtigkeit, kraft welcher die Mitteilungen Gottes immer auch zu Ereignissen der
menschlichen Freiheit werden - bis zur Vollendung in der „visio beatifica“. In ihr geht ja die mensch-
liche Personalität und Individualität nicht unter; sie wird vielmehr in der wachsenden Teilnahme
auf göttliche Weise gefestigt und in absoluter Weise aktualisiert.
Hat man dies erkannt, dann ist man imstande, das geistesgeschichtliche Geschehen denkend nachzu-
vollziehen, das mit der Auflösung oder der Beseitigung der zentralen Differenz von Sein und Seiend,
von Sein und Wesen in der Philosophie Ereignis wurde.
Die Wurzeln dieses Geschehens sind bekannt. Sie scheinen zunächst philosophischer Natur zu sein, so-
fern das Denken nach Thomas, beeinflußt durch den Kommentator Avicenna, die Metaphysik des Aris-
toteles in der Usia des Seienden oder in der formal bestimmten „Seinsheit“ (essentia) als solcher ans
Ende kommen ließ. Sie radikalisierte sich dadurch, daß die bei Thomas aufgesprungene Differenz zwi-
schen Wesen und Sein das Denken in der Auseinandersetzung zu einer entschiedenen Fassung des
„Seins als solchen“ antrieb. Darüber hinaus gewann sie ihre Ausprägung in der platonisierenden au-
gustinischen Theologie, in welcher die menschliche Erkenntnis als eine Teilnahme am ideellen Licht
der Gottheit gedeutet war. Schließlich vollendet sich diese Wesensmetaphysik „theologisch“, sofern der
Denkende aus der theologisch offenbaren, schöpferischen und zur beseligenden Schau rufenden Gottheit
auf die geschaffenen Essenzen zurückblickte und sie unter dem Gesichtspunkt ihrer Geschaffenheit wie
ihrer möglichen Gotteserkenntnis und Gottesschau interpretierte. Dabei zeigte es sich, daß im Ausfall
des „Sein des Seienden“ nur das theologische Vorrücken gegen den Gottesgrund und in
seine das Seiende ermöglichende Idealität die Essenzenphilosophie vor einem Zerfall in eine nur end-
liche Phänomenologie bewahren konnte.

4
Vgl. hierzu Gustav Siewerth, Schicksal der Metaphysik (1959), S. 68-86

131
A. Die theologische Essenzenmetaphysik des Duns Scotus

Dieses Vorrücken in die ewigen Ideen der Gottheit und die Verlegung der Seinskonstitution in das Den-
ken der Gottheit ereignet sich bei Duns Scotus, bei Nicolaus von Cues wie auch bei Meister Eckhart.
Fragt man unter der Sicht der Seinsdifferenz, wie sich das Denken vor allem bei Duns Scotus wan-
delt, so ergeben sich folgende Charaktere5:

Das Sein des Seienden ist Gott

Das Sein des Seienden ist Gott selbst und allein. Er konstituiert alles Seiende bis zur Perfektion einer
formellen Individualität und daseinsgerechten Möglichkeit in seinem ewigen Denken. Das Sein des
Seienden ist daher seine „göttliche Gedachtheit“.

Die vermittelnden Charaktere des Seins

Das Vermittelnde des emanierenden Seins, seiner entspringen lassenden, sich vermannigfaltigenden
und aktuierenden Macht und seiner notwendigen Idealität (im Gegensatz zu den bloßen rationes
der göttlichen Idealität) tritt nun in essentiell abgewandelter Weise hervor.

a) Die „positio ad extra“

An die Stelle der konstitutiven Schöpfungskomposition tritt eine einfache „positio ad extra“. Die
vollendete, formal individualisierte Idee, die fertige Substanz wird „nach außen gesetzt“. Dieses „Set-
zen“ fügt der Wesenheit nichts Neues hinzu. Es ist offenbar ein bloßer energetisierender Ausstoß, der
zum göttlichen Denken hinzukommen muß und auf ein (wie wir sehen werden) „formal distinktes“ Wol-
len in Gott verweist. Damit entfalten sich folgende dialektischen Momente:

aa) Die theologische Bestimmung des Seins


Das Seiende hat sein Sein ausschließlich im „Gedacht und Gewolltsein“. Es fällt als Gedachtes in die
göttliche Idealität. Aber auch sein „Gesetztsein“ ist an ihm selbst unmittelbar nicht aufweisbar, da
das, was „ist“, mit seiner „Wesenheit“ identisch ist. Also ist es in seiner Positivität“ nur noch als
göttlich „Gewolltes“ und „Gesetztes“ zu erkennen. Dies besagt, daß die Metaphysik des Seins des Sei-
enden nur noch als „Theologie“ vollziehbar ist.

5
Die folgende Darstellung hat einen systematischen Charakter aus der Logik der übersprungenen Seinsdifferenz.
Ihre Deckung mit den geschichtlich hervorgetretenen Denkweisen zeigt deren Notwendigkeit und spekulative
Größe auf. Die Ergebnisse lassen sich in allen Einzelheiten aus den Werken des Scotus und Suarez leicht bele-
gen. Zu ihrer Verifizierung verweise ich auf G. Siewerth, Schicksal der Metaphysik, auf die Darstellung des Sys-
tems des Duns Scotus von Stephan Gilson und das jüngst erschienene Buch von Walther Hoeres „Der Wille als
reine Vollkommenheit nach Duns Scotus“ (1962), in welchem die scotistische Systematik in eindringlicher Weise
hervortritt.

132
bb) Das perfektionslose Sein
Mit der Gegebenheit des Seienden als „ideelle objektivierende Setzung“ schwindet das „Dasein“ in
die Positivität des Wesensbestandes, dessen innere notwendige Fügung und Vollkommenheit die Ob-
jektivität und Sachhaltigkeit des Denkens verbürgt. Damit wird das perfektionslose „Dasein“
gleichgültig und gewichtslos, was im späteren Denken mehr und mehr hervortritt.

cc) Das „Außen“ Gottes


Die Setzung wird „nach außen“ vollzogen. Sie geschieht nicht wie bei Thomas „aus dem Nichtsein der
Wesenspotenz und der Nichtsubsistenz des Aktes“, sondern sie ereignet sich als Ausstoß in das
Nichtsein „des Außen“. Dieses „Außen“ ist von großer dialektischer Valenz.
Erstens bezeichnet es das „Außergöttliche“ als etwas, was offenbar neben Gott existiert. Das Nichts
wird zu einem Abgrund, in den hinein etwas „gesetzt“ werden kann - wobei sicherlich ein später
Nachhall des platonischen „Chaos“ zu spüren ist.
Zweitens wird dieses Nichts oder Außen qualifiziert, sofern die in Gott schon vollendet gedachte
Wesensform erst in ihm zu einem gesetzten Bestand kommt. Ohne diese Qualifizierung ist es nicht mehr
verständlich, warum die im Denken vollendet konstituierten Wesen nicht auch schon in Gott „wirk-
lich“ seien und lebten, da sie ja (wie wir sehen werden) das „Sein“ unscheidbar in sich selber haben.
Sie könnten ja auch jederzeit in Gott ins Leben gesetzt werden, was spekulativ leichter verstehbar ist
und der christlichen Lehre vom schöpferischen Gott tiefer entspricht.
Drittens wird das „Nichts“ „dialektisch“ durch gegensätzliche Charaktere. Besaß es dem soeben ausge-
sprochenen Gedanken gemäß eine bestandgebende (materiale) Potenz, so ist es zugleich (wie eine
nicht disponierte Materie) ein absoluter Widerpart gegen das Seiendsein. Sofern dies die Essenz ist,
wird ihre formale Einigungskraft als eine Abwehr gegen die Durchnichtigung begriffen.6 Die Form
qualifiziert sich durch ihr graduell größeres Seiendsein gegen die Nichtigkeit; sie wird eine „Nega-
tion der Negation“. Da auch Gott eine solche Essenz ist, so ist auch er durch eine solche „absolute Nega-
tivität gegen das absolut begriffene Nichtsein“ (durch unendliche Intensität) zu begreifen. Die Position
Hegels kündet sich an.

b) Die innere Einheit der Essenzen


Die Wesenheiten entspringen nicht aus dem Sein, sondern unmittelbar aus Gott, der solchermaßen
als der Eine dem Mannigfaltigen unmittelbar gegenübertritt. Diese Nähe bringt die Essenzen als
solche mehr und mehr in die Einheit einer Gattung, so daß die göttliche Ursache (neben der „moda-
len Unterscheidung“ durch die Unendlichkeit) von der „Essenz“ her durch qualitativ gleiche Wesensbe-
stimmungen mit den endlichen Wesensformen übereinkommt. Diese „einfachen Vollkommenheiten“
(perfectiones simpliciter) durchwalten in gleichsinniger und in eindeutiger (univoker) Weise alle Es-

6
Vgl. W. Hoeres, Der Wille als reine Vollkommenheit nach Duns Scotus, S. 32-33.

133
senzen, die solchermaßen als eine unmittelbare Ausfaltung des einen Gattungsgrundes in seine ihm
zugemessene Mannigfaltigkeit erscheinen. Sie nähern sich dem Entfaltungsmodus einer „resultatio na-
turalis“, kraft welcher der Lichtgrund in die ihm wesensähnlichen Farben auseinandergeht. Scotus
selbst betont zwar zugleich Gottes unbedürftige Transzendenz und die absolute Freiheit seiner
„Wahl“ und „Setzung“, aber die Dialektik der essentiellen Gattungsreihe, ihrer univoken Wesens-
vollendung, sowie ihrer ideellen Vollendung bestimmt zugleich sein Denken in entgegengesetzter Rich-
tung.

c) Der Seinscharakter der Essenzen als Möglichkeiten


Was aber tritt an die Stelle der aufgegebenen „Aktuierungsmacht des Seins“? Diese ist entweder mit
der „denkenden“ oder „setzenden“ Gottheit identisch oder sie fällt den Wesenheiten zu. Die „Essenz“
selber wird dann notwendig „seinshaft“. Dies hat sie erstens aus „ihrer ewigen Gedachtheit“, zweitens
aus ihrer „individuellen Determination“, drittens aus ihrer mit Gott einsinnig einigen „einfachen Voll-
kommenheit“; viertens aus ihrer formalen „unio continens“, kraft der sie ihre formellen Bestimmun-
gen zusammenfaßt und sich gegen das Nichtsein wehrt und behauptet.
So aber wird ihr „Möglichsein“ (d. h. ihre Nähe zum Sein) in ihr selbst gradhaft qualifiziert. Die
Wesenheiten werden ein positiver „ordo ad esse“. Die Essenz erhält eine akthafte Positivität und wird
(je nach ihrer Vollkommenheit) in sich selbst „energetisch“ aufgeladen. Gott kann also die Wesenheiten
nicht bis zur letzten Vollendung denken, ohne daß mit ihrer gedachten Vollendung schon etwas von sei-
ner schöpferischen Energie in sie einströmt und sie aufs Seiendsein hin prädeterminiert. Damit aber
werden sie - schon vor ihrer „positio ad extra“ - zum Wesen- und Wirklichsein ideell qualifiziert.
Das Sein des Seienden wird solchermaßen zum „Möglichsein“, das eine dynamisch aufgeladene Seins-
trächtigkeit und Vollkommenheit bedeutet und deshalb das Ungeschaffene ins Geschaffene, das Ge-
dachte ins Wirkliche kontinuieren läßt. Das Sein des Seienden ist sein ewiges „Möglichsein“, wie
bei Platon die idea als das ontos on begriffen wird.

d) Der Vorrang des Möglichen vor dem Wirklichen


Damit bekommt das „Mögliche“ einen gewissen Vorrang vor dem Wirklichen und Nur-faktischen. Die
„Widerspruchslosigkeit“ des setzenden Denkens qualifiziert jeden Gegenstand zu „objektiver“ Reali-
tät. Daraus ergibt sich wiederum, daß das Denken das Wirkliche oder das Seiende nur noch aus der
Dimension der „absoluten Idealität“ und „schöpferischen Mächtigkeit“, d. h. nur noch „theologisch“
deuten kann.

134
e) Die Identität von Sein und Nichtsein
Zugleich ist es mit dem „Widerspruch von Sein und Nichtsein“ behaftet. Denn ist das Seiendsein ei-
gentlich seine „Möglichkeit“, so wird das „Nichtsein oder Nochnichtsein“ gleichbedeutend mit einer
„positiven Aktualität“, zunächst zwar mit einer „inclinatio ad esse“, in welcher die schöpferische Set-
zung zurücktritt vor dem „Seinsgemäßen“ der ewigen Essenzen. Wird aber die Essenz so innig mit der
Wirklichkeit verspannt, so tritt die Tendenz mehr und mehr hervor, „Sein und Nichts“ zu verselbigen
und Gottes Denken als notwendige Konstituierung seiner ihm zugehörigen Mannigfaltigkeit zu be-
greifen.

f) Die Quantifizierung der Essenzen


Diese Essenzen sind „gradhaft“ gestuft. Sie bilden eine wohlgefügte, kontinuierliche Reihe. Dadurch
wird nicht nur der ordo ihrer seinshaften Notwendigkeit erhöht, sondern das später bei Leibniz her-
vortretende Prinzip der notwendigen Weltkonstruktion, die geordnete Quantifizierung und Intensi-
vierung der unendlichen Stufungsfolge, 7 die „catena aurea“ des Wesensreiches erhält ein be-
deutsames Gewicht. Die Ordnung der Essenzen in Analogie zur Zahlenreihe ist zwar eine aristoteli-
sche Aussage, die jedoch bei Scotus durch den Ausfall des Seinsaktes und durch die formelle Indivi-
duierung alles Seienden zu einem schlichthin universalen Seinsprinzip wird. Gott selbst wird sogar in
seinem (wie wir sehen werden) formal distinkten Wesensbestand, zu dem die Unendlichkeit als E-
xistenzmodus hinzutritt, als ein erstes Gattungsprinzip in die zählbare Wesensstufung verspannt.
Die Nähe zum Cusaner ist unverkennbar, wie auch die onto-theologische Verklammerung des ideel-
len Entwurfs mit Gottes Denken sich verschärft.

g) Der Bezug zum göttlichen Grund


Die Graduierung der Wesensformen sowie ihr unmittelbarer Bezug zu Gott bestimmen weitere wesen-
hafte Merkmale dieser Metaphysik.

aa) Die Analogie des Seins und die Univozität der allgemeinen Wesensbezüge
Die Formen sind Abbilder Gottes, deren Abbildlichkeit nicht durch das „erste Gleichnis des Seins“
vermittelt sind. Also ergibt sich notwendig eine unmittelbare „Analogie“ der Wesensformen. An
ihnen muß daher jene Differenz hervortreten, die bei Thomas im Seiendsein waltet. Dieses ist bei Tho-
mas nicht mehr von der Substanz und diese von actus essendi „abstrahierbar“, weil das Sein als sol-
ches (sowohl als Akt wie als Subsistenz) von einer endlichen Form nicht übersteigbar ist. Alles Denken
muß sich daher in diesem Medium bewegen. Da das „Sein“ als Akt jedoch durch seine Nichtsubsistenz,
das subsistierende Seiende durch seine essentielle Endlichkeit bestimmt ist, so kann die Weise, wie sie
den einfachen subsistenten Akt „widerspiegeln“, nur noch „spekulativ“, d. h. auf Grund einer „Pro-

7
... quia finitas rei non dicit nisi certum gradum suae essentiae et quantitatem virtualem suae essentiae (Rep. Par. 1 d. 2
q. 3 n 3).

135
portion“ der Akt- und Subsistenzcharaktere begriffen werden. Sofern aber diese Charaktere das
Seinsein schlichthin bestimmen, so hält sich ihre Unterscheidung zugleich im unauflösbar Einen des u-
nübersteigbaren Seins und in der Einheit einer Bezeichnung. So besagt „Analogie“ immer eine Diffe-
renzierung in einem nicht mehr übersteigbaren Medium, das daher auch Verschiedenes in einem Wort
zusammenfaßt.
Da bei Scotus Gott und die Wesensformen selbst das Sein des Seienden sind, so muß er die „formell un-
terschiedenen Seienden“ als Formen so unmittelbar auf Gott, die höchste Form, beziehen, wie Tho-
mas das Sein als Substanz und Akt attributiv und proportial Gott zusagt. Da aber die Formen je-
weils „wesenhaft verschieden“ sind und jenseits dieser Verschiedenheit nichts anzutreffen ist, so muß
Scotus sie in ihrer formalen Einfachheit unterscheiden in ein „Differentes“ und „Beziehbar-Gleiches“.
Dieses Beziehbare muß selber etwas „Förmliches sein“, das nun aber in seiner „Einfachheit“
nicht mehr auflösbar ist in eine „analoge“ Verschiedenheit. Denn das Prinzip der Verschiedenheit
liegt ja in der einfachen Form als solcher, so daß dessen Negation nur die einfache, nicht mehr differen-
zierbare Beziehung ergibt. So treten für Scotus qualitative, einfache Charaktere in den Formen her-
vor, die nicht nur die ganze Stufungsreihe als dieselben durchwalten, sondern auch in Gott als
dieselben angetroffen werden. Sie müssen deshalb als „einfache Vollkommenheiten“ (wie Einheit,
Güte, Weisheit, Freiheit, Erkenntnis, Wesenhaftigkeit, Seiendsein) „univok“ von Gott ausgesagt
werden können.8

bb) Der intuitive Bezug ins Göttliche


Des weiteren sind die Wesenheiten nicht mehr durch den Akt des Seins und dessen Empfängnis als un-
endliche oder endliche zu begreifen, sondern durch ihre einfache Wesenheit selbst. Folgerichtig werden
die Seinsweisen der Unendlichkeit und Endlichkeit zu Bestimmungen der Form, die aber ihr Wesensge-
füge und ihre inneren Vollkommenheiten gegen sie bewahrt. Sie werden zu „modalen Existenzwei-
sen“, zu Attributen, hinter denen und durch die hindurch die einfachen Wesensbestimmungen sich als
solche durchhalten9 und solchermaßen die unendliche und endliche Wirklichkeit miteinander verklam-
mern. Wiewohl in der Wirklichkeit die Dinge in „modaler Analogie“ existieren, geht die Erkenntnis
kraft ihrer Erfassung der Wesensvollendung unmittelbar auf die „einfachsten Momente der Formen“
und kann sie unmittelbar dem göttlichen Grund zusprechen. Die theologische Metaphysik bringt daher
das Denken in eine intuitive Nähe zur göttlichen Essenz, auf deren Anschauung es hingeordnet ist. Der
wesenhafte Formakt geht nicht auf das Sein des Seienden, sondern unmittelbar auf Gott.

cc) Die Struktur der Stufungsfolge


Dieser Bezug zum Absoluten ergibt sich auch aus dem Wesen der Stufungsfolge. Denn diese ist offenbar
durch drei Merkmale bestimmt. Das erste ist die wachsende oder fallende Einigungskraft, die dem Nicht-
sein widersteht, die sich folgerichtig bis zu Gott hin erstreckt, wie wir oben ausführten. Das zweite

8
Vgl. Gustav Siewerth, Das Schicksal der Metaphysik, S. 94 f.
9
Non tollitur ratio formalis istius perfectionis propter istum gradum (infinitum) OX. I. d. 8 q. 4 n 17.

136
ist der je größere Anteil an der göttlichen Vollendung; das dritte ist die je endlichere Ausprägung
oder die modale Bestimmung dieser Vollkommenheiten. Betrachtet man die Stufung unter der ers-
ten Rücksicht, dann gewinnt sie die in sich positive Aufladung eines „ordo ad esse“, der in Gottes
notwendigem Sein kulminiert. Dann hat die Essenz teil an der Seinskraft der göttlichen Idealität
und ist weithin mit ihr identisch. Nimmt man den zweiten Gesichtspunkt der Stufung in den
Blick, dann ergibt sich eine steigende Qualifizierung, die ihr einsinniges Maß in Gott selber hat.
Die „modale“ Wandlung von Grad zu Grad ändert jedoch nicht den Grundcharakter der formalen
Vollkommenheiten. Diese wesen in einer geheimnistiefen Indifferenz zu allen modalen Aus-
prägungen. Sie weisen unmittelbar durch sich selbst auf die „reine Vollendung“ hin, die in Gott
verwirklicht ist. Damit sind die Formen in ihrer positiven Wesenhaftigkeit, in ihrer transzendentalen
Vollkommenheit unmittelbar „participativ“ zu Gott. Sie sind gewissermaßen die Ausfaltung und kon-
tinuierliche Ausstrahlung seiner Wesensfülle. Was sie an Nicht-Göttlichem haben, kann als mo-
dale Verendlichung und „Vermischung“ nicht konzipiert werden, ohne daß das dann rein hervor-
tretende Wesenhafte (wie das „reine Sein“ bei Thomas) in den Grund transzendiert, als dessen
teilhafte Ausprägung es erscheint. Das Leben der Formen ist daher ein unmittelbarer Impetus und Auf-
stieg zu Gott, wenn es sich nicht in der „Indifferenz“ der positiven Vollkommenheit hält, was
insbesondere die Freiheitslehre des Scotus kennzeichnet.
Angesichts dieser univoken Wesenspartizipation und des Möglichkeitscharakters des Seins wird
im Rahmen dieser theologisch gedachten Prämissen der ontologische Gottesbeweis zwingend. Die
vollkommenste Möglichkeit der an sich schon seinshaft geladenen Möglichkeiten „schließt selbst-
verständlich das Dasein ein“.
Wirft man nun einen Blick auf das dritte Merkmal der Ermöglichung, so ergibt sich dies, daß die
Formen als quantifizierte Grade des Seins durch ihre modale Beschränkung wie bestimmende Aus-
schnitte eines Unendlichen erscheinen, das ihnen irgendwie zugrunde liegt. So ergibt sich neben der
Unendlichkeit Gottes ein nach außen hin entworfenes Abbild, das aber dialektisch gegensinnige Charak-
tere hat. Es ist das Sein als reine Potenz, eine Art unendlicher Ausbreitung, die durch die Formen einge-
schränkt wird. Unter diesem Betracht erscheinen die Formen entweder als „Teile“ einer unendlichen „I-
dee Gottes“ oder aber als Bestimmungen „einer unendlichen Potentialität“. Auch hier ist die Nähe zur
idealistischen Dialektik zu spüren. Ihre „Teilhabe am Sein“ ist die Weise, wie sie sich selbst negie-
rend und bestimmend zu ihm verhalten. Das Sein wird zu ihrer Potenz und so in seinem Wesenssinn
verkehrt.

Die Umwandlung der Seinskonstitution

Die Konstituierung des Seienden aus Sein und Wesen bei Thomas hat ebenfalls ihr Widerspiel in der
scotistischen Sicht. Sie muß sich innerhalb des Wesens selbst ereignen. Da jedoch das Wesen in
formaler Individuierung und Vollendung „gesetzt“ wird und ins „Dasein“ tritt, so liegt die Kompo-
sition in der göttlichen Idealität allein. Diese Teilung und Verbindung im Formengefüge selbst ergibt

137
sich, wenn die Stufungsreihe der Wesenheiten durchlichtet wird. Denn jeder Grad der Reihe kann als
solcher nur aus dem Ganzen resultieren. Er hat deswegen notwendig Anteil an Gott, dem obersten Stu-
fungsmaß, wie am untersten, dem Nichtsein. Zugleich aber ist er auf die Reihe selbst bezogen und
stellt eine „teilhafte“ oder „eingeschränkte“ Weise des höheren Grades dar. So aber ergibt sich,
daß in jeder Wesenheit eine Verbindung und Teilung waltet.
Diese Teile sind offenbar der von Gottes Vollendung partizipierende Formakt, die Affizierung
durch das Nichtsein sowie der Grad der modalen Verendlichung. Sie entsprechen in thomistischer Sicht
dem Sein, der Potentialität des Wesens und der endlichen Bestimmtheit der Wesensform. Da aber
bei Scotus die Charaktere der Seinsvermittlung fehlen, so muß die formale Einheit des „Wesens“
selbst in sich geschieden werden: erstens in ihre positive Qualität oder Form; zweitens in ihren Bezug
zum Grund, d. h. in ihr Hinsein auf absolute Vollendung; drittens in ihre das Nichtsein negierende
Aktualität; viertens in ihre Bestimmbarkeit durch andere absolute Vollkommenheiten; fünftens in ihre
Kontraktion zu einem individuell bestimmten Grad innerhalb der allgemeinen Art- und Gattungs-
strukturen der Reihe; schließlich sechstens in ihre Weise, als unio continens die verschiedenen Merk-
male zu einem Wesen zu einigen.
Dies ist die vielberufene „distinctio formalis“ des Scotus, die einen „seinshaften Charakter“ hat im
Sinne der seinsermöglichenden Idealität - aber nicht mehr im Sinne der aus dem Sein des Seienden ge-
dachten konstitutiven Verwirklichung.
Da diese distinctio innerhalb der Wesenformen statthat, so sind folgende Merkmale zu verzeichnen:

a) Die veränderte Formalitas


Die Form bekommt einen anderen Charakter. Sie ist nicht mehr schlichthin das einfache Prinzip der in
sich reflektierten Einigung, das nur durch den einfacheren actus essendi in die Potenz gebracht und in die
resultatio ihrer Vermögen auf das Seiende hin ausgefaltet werden kann. Sie ist als absolute Indivi-
dualität aus sich selbst ein vollendeter Akt, der aus seinem eigenen Wesensgrund als seinem letzten
Verwirklichungsprinzip ausgefaltet ist. Andererseits aber ist sie ein materiales Prinzip, sofern sie
durch ihre „haecceitas“ informiert und determiniert wird. Auch sie ist wie das „Möglichsein“ ein
„Widerspruch“, sofern sie formal bestimmend und material bestimmbar dem gleichen Prinzip gegen-
über waltet (nämlich ihrer Individuierung gegenüber). Dieser „Widerspruch“ tritt freilich nur hervor,
wenn die ideelle Komposition als reale Konstitution gedacht wird. Außerhalb der Seins-
metaphysik kann von einem „logischen Widerspruch“ nur noch im Hinblick auf unvereinbare We-
sensmomente die Rede sein.

b) Die „distinctio formalis“ in Gott


Diese „distinctio formalis“ betrifft nicht nur die modale Komposition, sondern auch die formalen qua-
litativen Vollendungen, die der endlichen Form in mannigfaltiger Weise zukommen können. Da
diese Vollendungen „univok“ von Gott ausgesagt werden, so muß auch ihre „Verschiedenheit“ an die-

138
sem unmittelbaren Bezug zu Gott hin Anteil haben. Das ergibt sich auch daraus, daß ja auch das göttliche
Denken von den formalen Distinktionen durchwaltet ist. Also ergibt sich die Folgerung, daß Gott
selbst (wie er ja auch gegen das Nichts gestellt ist und unmittelbar in die Wesensvollendungen konti-
nuiert) von der „distinctio formalis“ betroffen ist.10 Da das „Wesen und Unterschiedensein“ das „Sein
des Seienden“ ist, so ist auch Gott in sich selbst formal konstituiert und hat sein Leben als eine Weise
formaler Erfolgungen aus seinem Grunde zu eigen.

c) Die Reichweite der formalen Unterscheidung und die absolute Besonderung


Die „formale distinctio“ und ihre entsprechende compositio durchwalten daher alles Seiende: Gottes
Wesenheit, das göttliche Denken und seine ideellen Entwürfe, die transzendentalen Bestimmungen
oder die „passiones entis“, die reinen Formen und Wesenheiten, die Substanzen der wirklichen Dinge
und Wesen wie ihre Potenzen und schließlich die Individuen. Vergleicht man die formellen Unter-
scheidungen in Gott mit denen, die sich an endlichen Wesen finden, so scheint es selbstverständlich,
daß die „distinctio formalis“ in wesenhaft verschiedener Weise hervortritt oder sich „wesenhaft“ in sich
selbst abwandelt. Aber dieses „Verschiedensein“ der Unterscheidungen läßt sich nicht mehr näher
bestimmen, da die Dimension des ideell ermöglichten „Formalen“ nicht mehr überstiegen werden
kann.
Neben dieser „distinctio formalis“ tritt die „reale“ zwischen Ding und Ding um so radikaler hervor.
Jedes Ding ist bis in die Wurzeln hinein formal individuiert, so daß sich die Wesen im selben Maße,
wie sie „als Grade“, als „Teile einer Gattung“, konzipiert sind, in der Realität als absolute Verein-
zelungen gegenübertreten. Auch die materiellen Wesen sind solchermaßen formal durchdetermi-
niert, so daß entweder die materiellen Elemente ins Wesenseinige des Formaktes integriert werden
müssen - oder aber sich nur noch okkasional und zufällig an den formalen Wesensgründen finden.11
Das Leib-Seele-Verhältnis wird daher notwendig dialektisch und erhält schwervereinbare Züge.
Auch sofern unsere Erkenntnis durch die Sinne und durch Abstraktion vermittelt ist, ist sie nicht
dem formalen Charakter unseres Wesens angemessen. Ihre Verfassung muß daher auch als Folge
der Erbsünde begriffen werden. Dem formalen Geist entspricht die unmittelbare Erleuchtung durch
Gottes ideelle Ausstrahlungen, wie Thomas dies von den reinen Geistern lehrt.

d) Die Folgerungen im Hinblick auf die Erkenntnis


Diese „distinctio formalis“ hat, wie schon im Vorausgehenden deutlich war, einschneidende Folgen für
das Wesen der Erkenntnis.

aa) Die phänomenale Wahrheit

10
Hoeres, a. a. O., S. 65 und 71.
11
Man beachte, daß mit dem Schwinden des real differenten Seinsaktes auch die nichtförmliche Ermöglichung der Materie
als reiner Potenz spekulativ nicht mehr vollziehbar ist. Die Materie wird daher selber förmlich oder akthaft, so daß
sich eine „Wesens- und Seins-Konstitution“ nicht mehr vollziehen läßt. Das Materielle tritt als positive Gegebenheit
notwendig neben die immer schon dinglich individualisierte und substantiierte Form.

139
Der formalen Vollendung des Geistes entspricht eine intuitive Unmittelbarkeit des Vernehmens.
Während die Differenz zwischen Seiendem und Sein bei Thomas dazu führt, „daß die potentielle
Form“ nur durch die „Bewegung des Urteils“ das Sein oder Seiende erreicht, ist es der geistigen Form
eigen, unmittelbar in die Förmlichkeit der Sache hineinzublicken. Da diese sich als ganze manifes-
tiert, so muß sich ihre individuelle Vollendung dem geistigen Blick unmittelbar darbieten und eine
„intuitive Erkenntnis der anwesenden Sache“ ermöglichen.

bb) Die Vollendung der Erkenntnis


Dieses unmittelbare „Einscheinen“ der geistigen, real einfachen Formen wäre daher der geistigen
Vernehmungskraft adäquat, wenn diese sich nicht in einem erbsündig-geschwächten Zustand befände
und auf die Vermittlung durch die Sinne beschränkt wäre. Da die Form das letzte und höchste Prinzip
ist, so kann alles, was als „reine Vollkommenheit“ in ihr waltet und an Gottes Wesenheit in einsinni-
ger Weise teilhat (wie Wille, Freiheit, Vernunft, Erkenntnis), auch unvermittelt hervortreten und das
Erkennen aktualisieren. Die vollkommenen formalen Charaktere sind zugleich auf ihre höchste Wesen-
vollendung in Gott unmittelbar hingeordnet. Was bei Thomas für die verborgene Tiefe der innehal-
tenden Subsistenz der Person gilt, daß sie unaufhebbar dem göttlichen Walten gegenübersteht, das muß
Scotus schon der formalen Vernunft als solcher zusprechen, da sie in unübersteigbarer Vollendung west
und wirkt. Sie ist daher gegenüber allen übernatürlichen Gegebenheiten und Gottes Erscheinen selbst
zuvorkommend zureichend ausgestattet. Sie besitzt von sich her eine universale Adäquatheit zu jedem
möglichen Gegenstand, wie umgekehrt nur die Totalität der gesamten Wirklichkeit ihre virtuell er-
weckte Potenz „adaequieren“ kann.

cc) Die aktuale Vollendung und die Selbsterkenntnis


Deshalb existiert sie immer schon im „ersten Akt“ ihrer eigenen, formell vollendeten Wesenheit,
d.h. „im Gedächtnis“ ihrer schauenden Vollendung, wenn sie in einen „zweiten Akt“ im Sinne einer
Tätigkeit ausgeht. Sie wird nicht eigentlich durch das Seiende und das Sein und sein Wahrheitslicht
zu sich selbst aktuiert. Sie erfaßt ja Wesenheiten, denen sie in gleicher formaler Vollendung und
Aktualität gegenübersteht. Also ist der mögliche Verstand durch sich selbst in einer der gegenständli-
chen Form adäquaten Vollendung im Akte. Folgerichtig müßte er auch in sich selbst einleuchten und
die eigene Formalität durchdringen, wie es dem reinen Engelgeist gemäß ist, von dem in der scoti-
stischen Sicht der Mensch nur gradhaft unterschieden sein kann.
Wenn dies nun tatsächlich nicht der Fall ist, dann muß der gegenwärtige Zustand durch eine besondere
Seinsschwäche gekennzeichnet sein, die dem Wesen des Menschen nicht adäquat ist. Deshalb ist die nur
sinnliche Erkenntnisweise, vor allem die einschränkende (die wesenhafte Selbsterkenntnis des Subjek-
tes behindernde) Hinordnung auf sie, nur durch einen Wesensverfall zu erklären, nämlich aus der
erbsündigen Verfassung des Menschen. Wiederum zeigt es sich, daß die scotistischen Prinzipien durch

140
die Einfachheit und absolute Vollendung des Formalen die Wesenseinheit der menschlichen Natur
gefährden, sofern die Geistform in der vollendeten Gattung der Engel steht.
Zugleich wird deutlich, daß die reformatorischen Urstands- und Korruptionslehren in der Dialektik der
Wesensphilosophie wurzeln. Sie sind ein Ereignis der seinsvergessenen Theologie des späten Mittel-
alters. Bis in die Absolutheit der universalen Vernunftvollendung, die„rational“ dem Glaubensobjekt
von sich her adäquat ist, durchziehen sie noch die Lehren Karl Barths.

dd) Der tätige Verstand


Ebenso folgerichtig ist es, daß der aktive Intellekt sein Licht nicht mehr aus der Aktualität des actus
essendi her zu eigen hat, sondern eine Eigenschaft der Form ist. Als solche gibt es keinen Grund
mehr, ihn gegen die virtuelle Aktualität der anschauend lichtenden möglichen Vernunft zu unterschei-
den, noch auch dieser von ihm her (und dem Sein) das erweckende Wahrheitslicht zukommen zu las-
sen. Er bringt die sinnlichen Gegebenheiten nur in eine gewisse leuchtende Helle, so daß sie vom
schauenden Intellekt erfaßt und sich aktiv zugeeignet werden können. Das unsichere Schwanken des
Scotus in dieser Lehre zeigt, daß er sich der Dialektik seiner Position bewußt war, die mit der aris-
totelischen Tradition schwer zu vereinbaren ist. Denn wenn schon die Objekte formal individuiert sind
und die aktive Vernunftschau naturhaft auf alle Entitäten hingeordnet ist, dann ist nicht einzusehen,
warum sie nicht unmittelbar mit der sie auszeichnenden „Intuition“ auch das sinnlich Gegenwärtige ak-
tiv erfassen soll.

ee) Die Abstraktion und die Subtilität der universalen Rationalität


Zugleich verwandelt sich die Lehre von der Abstraktion. Diese kann nicht mehr als das Vordringen in
die konstitutiven Wesens- und Seinsgründe verstanden werden. Sie erhält andere Charaktere. Erstens
wird „abstrakt“ alles das, was von der individuellen, intuitiv in ihrer Anwesenheit erfaßten We-
senseinheit abgehoben wird, wie jedes Bild und jede Species. Zweitens wird das Abstrakte mit
dem Confusen, dem Undeutlichen und nur noch Ähnlichen identisch, sofern die Vernunft nicht auf die
individuellen Wesen, sondern auf ihre allgemeinen Zusammenfassungen gerichtet ist. In diesem
Fall wird die Erkenntnis „analog“ und „unbestimmt“, weil sie keine realen Wesenseinheiten, son-
dern nur ihre confusen Abbilder und ihre Ähnlichkeiten fassen kann. Drittens wird die Position dia-
lektisch, wenn die Vernunft auf das „allgemeine Wesen“, auf Arten und Gattungen stößt. Entwe-
der sind diese vage und irreale „Bilder“ jenseits der einzelnen Dinge, oder es sind deren ideale
Kompositionsprinzipien, die wir oben kennzeichneten. Dann west das schauende Denken im unmittel-
baren Vernehmen der je einfacheren Gegebenheiten im Inneren ideeller allgemeiner Wesensund
Gattungsgründe, die für sich indifferent zur Wirklichkeit wesen, aber doch das singuläre Wesen durch
formale Komposition ermöglichten. Diese indifferenten Begriffsweisen sind den apriorischen
Lichtgründen, den eingegossenen species der „reinen Geister“ bei Thomas vergleichbar. Durch sie

141
wird alles intelligibel Erscheinende im Sinne einer noematischen Phänomenologie seinshaft, „ob-
jektiv“, oder als „ideale Gegebenheit“ auch zu einem wesenhaften „Quid“.
Da die Vernunft eine vollendete Form ist, so hat sie ferner eine apriorische Richtungsbestimmt-
heit ihrer Akte. Was immer sie daher als eine einfache Ratio oder Bedeutung erfaßt, ist dann als
denkbare oder einsichtige Einheit auch „real“ und betrifft ein formales Kompositionselement. Da die
Form selbst bestimmend und im gleichen Zuge passiv bestimmbar ist, so ist das Denken freigesetzt zu ei-
nem nicht mehr begrenzbaren rationalen Verweben (Subtilität). Jede Ratio, jeder Begriff, jede In-
tentio oder Bedeutung geht auf Sachhaltiges und Wesenhaftes im Sinne der formalen (ideellen)
Komposition.
Also ist jede Prädikation, jede Bestimmung eines Gegenstandes, einer Substanz, einer Art, einer
Gattung, eines Akzidenz von gleicher logischer und sachhaltiger Valenz. Bei Scotus kann daher
in seiner Vermögenslehre wie in der individualisierenden „haecceitas“ die Wesensform ebenso als
sich ausfaltender Aktgrund wie als passiv bestimmbares Substrat gefaßt werden. Damit ist die meta-
physische Seinskonstitution und die logische Begriffssynthesis auf eine Stufe erhoben, wobei Akt und
Potenz, Formalität und Materialität beliebig umschlagen. So gewinnt das Denken eine unbegrenzte
Flüssigkeit, wie es zugleich dialektisch wird, wird es an der Metaphysik des Seienden gemessen. Die
Identität von Möglichkeit und Wirklichkeit, die formale distinctio und compositio sichert ihm eine
unendliche Objektivierbarkeit. Man kann sagen, daß das im göttlichen Äther der förmlich distinkten
Objektivität angesiedelte Denken (wie der göttliche Intellekt im flüssigen Element seiner Possibilia) ei-
ne unendliche Verwebungs- und Kompositionskunst entfalten kann. Dieses formale Begriffsdenken
bringt eine erstaunliche Erleichterung mit sich, dieweil es sich im Raum absoluter Phänomene wie in
dem Bedeutungsraum der Worte bewegen kann. Es vermag konfuse, analoge Allgemeinheiten,
distinkte Hinsichten, fixierte Begriffe, seinslose Merkmale, Wesenhaftes und Akzidentelles, in der
Flüssigkeit einer unendlichen Potentialität und Bestimmbarkeit und im einigenden Element der be-
stimmbaren Förmlichkeit miteinander zu verknüpfen und wieder rational zu scheiden. Seine theologi-
sche Struktur setzt es zudem instand, die sich ergebenden Gegensätze zur tatsächlichen Wesensverfas-
sung des Menschen durch theologische Deutung zu entkräften. Es ist deshalb verständlich, daß es im
Raum der theologischen Schulen die tiefere und strengere Seinsmetaphysik des Aquinaten mehr und
mehr verdrängte.

e) Die transzendentalen Bestimmungen

Diese Charaktere machen sich besonders in der Dimension der transzendentalen Aussagen geltend.
Da das Seiende die Wesensformen sind und das Denken sich förmlich ereignet, so muß in der Form als
solcher, soll sie nicht im Endlichen eingeschlossen bleiben, sich ein schlichthin Universales und Trans-
zendentales finden, das im Prozeß der modalen Abwandlung nicht aufgelöst wird. Es läßt sich daher
aus der abwandelnden Komposition mit den Modi der Unendlichkeit und Endlichkeit rein herausschä-

142
len. Denn auch die modalen Hinsichten der „Endlichkeit“ und „Unendlichkeit“ erscheinen als „rationale
Einfachheiten“, die man „logisch“ komponieren und intensivieren kann. Sie werden daher mit den
durchgehenden einfachen Wesenbestimmungen „verbunden“, so daß diese auch ohne sie in ihrer idea-
len Wesentlichkeit in sachhaltiger Einfachheit heraustreten können. Solche Elemente sind das Eine,
Einfache, Wesen, Wille, Liebe, Weisheit, Erkennen usf., die somit durch alle Formen hindurch in
einsinniger Einheit als dieselben walten. Indem der Geist diese Quidditäten erfaßt, blickt er not-
wendig in eine Sphäre hinein, die sowohl Gott, die göttliche Idealität, wie das Seiende durchwest.
Die Ratio wird universaler Geist, der alles Wirkliche in den Abgrund einer universalen (rationalen
oder ideellen) Begründungsdimension übersteigt. Dadurch gewinnt das Denken folgende Züge:

aa) Ratio simpliciter simplex


Die Ratio übersteigt jeglichen Seinsbestand in die einfachsten Sichten ihrer Denkblickpunkte. Auch die
Transzendentalien werden auf solche Weise noch einmal in abstrakte Wesensbestimmungen (in rationes
simpliciter simplices) aufgelöst und ideell oder formal komponiert.

bb) Die kategoriale Indifferenz der Begriffe


Das Denken gewinnt absolute Bestimmungen, die sich indifferent zu den Modi der Endlichkeit und Un-
endlichkeit verhalten. Da diese Bestimmungen aber in der Realität immer eines von beiden sind, so
erhebt sich das Denken entweder über die göttliche und endliche Wirklichkeit in den Grund einer uni-
versalen Ermöglichung, oder aber es hebt sich in sich selbst zurück in eine subjektive indifferente Kate-
gorialität, mit der es jeder Bestimmung durch die wirklichen Dinge je schon vorweg ist.
Nimmt man aber die „einfache Vollkommenheit“ als durchwaltende Quiddität an, so steht man vor
der Schwierigkeit ihrer „Indifferenz“. Denn was ist das für ein „Wesen“, das einsinnig gleichbleibt,
wenn es zu unendlicher oder endlicher Seinsweise determiniert wird. Wie kann eine Bestimmung, die
eine unendliche Determination erfährt und sich gegen sie bewahrt, noch von einer endlichen überhaupt
getroffen werden? Ist die „einfache Vollendung“ nicht notwendig identisch mit ihrer „reinen Vollen-
dung“ in Gott oder doch eine „Participation“ an dieser? Trifft aber dies zu, dann gibt es keine „indiffe-
rente“ Univozität, sondern jede Wesenserfassung verweist zugleich (ana-log) auf ihren göttlichen Ter-
minus.

cc) Die Dialektik der Seinscharaktere


Nimmt man unter dieser Hinsicht die univoke Ratio des Seins in den Blick, so gerät das scotisti-
sche Denken in die Nähe idealistischer Dialektik.
Ist das Sein die „Gesetzheit des Seienden“, so ist es entweder nicht von Gott aussagbar, oder Gott muß
begriffen werden als die sich selbst gegen das Nichts aus dem Geist denkend ermöglichende „Setzung“.

143
Ist das Sein die „Gedachtheit der Wesen“, so wird es selbig mit der göttlichen Idealität. Das menschliche
Denken west dann im denkenden Hervorgang Gottes wie der „ewigen Wesensgründe“ im Sinne
der Hegelschen Logik.
Ist das Sein eine universale, alles Seiende „durchwaltende Quiddität“, die „eindeutig“ von Endlichem
und Unendlichem aussagbar ist, so wird es zur bestimmbaren Potenz, die von den Seinsweisen des End-
lichen oder Unendlichen erst determiniert wird. Wird es als bestimmender Akt konzipiert, so müssen die
Modi der Unendlichkeit und Endlichkeit als „Nichtsein“ begriffen werden, was ein absoluter Wider-
spruch ist.
Ist das Sein eine schlichthin bestimmende (einsinnige) Quidditas, so erhebt es sich über alles Seiende
und wird zu einem Gott und die Wesen übersteigenden geistigen Ermöglichungsgrund im Sinne des
Hegelschen Geistbegriffes. Sagt es aber nur die actu determinierte und daseiende Wesensform aus,
so ist es identisch mit der Pluralität der verschiedenen Formen. Dann ist es in seiner Einfachheit ein
unadäquater Begriff, eine Gattung, die durch die „Seiende“ erst zu bestimmen ist, was in sich selbst wie
zu der gemachten Voraussetzung widersprüchlich ist.
Versteht man das „Sein“ als „Gattung“ im thomistischen Sinn, so sind in ihm in „konfuser Weise“ alle
Differenzen enthalten. Dann aber umspannt es bereits „einfassend“ seine „inferiora“, so daß (wie bei
Suarez) Gott immer schon mitgedacht ist, und zwar in seiner vollendeten Aktualität. Dann gründet die
spätere Bestimmung der Gattung entweder in einer akt-potentiellen (formal-materiellen) Differenz
aller (auch der göttlichen) Wirklichkeit - oder aber die Erkenntnis entfaltet sich ontologistisch als rei-
ne Explikation des schon vollendet Gegebenen im Sinne der idealistischen absoluten Systematik.
Ist das Sein ein „allgemeiner Begriff“, so ist es entweder eine subjektive (indifferente) Kategorie - die
wiederum durch die wirklichen Formen erst bestimmt werden muß -, oder es ist eine Erfassung der alles
durchwesenden Idealität. In diesem Falle aber bezeichnet es nicht die wirklichen, sondern die mögli-
chen Formen und wird mit Gottes ermöglichendem Denken identisch. Geht es aber auf die möglichen
Formen allein, so werden diese aus ihrer wesenden Potentialität zu einem seinshaften Grund, zu einem
ordo ad esse innerhalb des göttlichen Denkens.
Bezeichnet das Sein die Quiddität in ihrer „Gegebenheit“ oder „Erkanntheit“, dann wird es zu einer
„Relation“ auf das erkennende Subj ekt oder es wird zum Inbegriff der göttlichen „Objektivität“, in
welcher dieser denkend alle Dinge ermöglicht. Wird es aber zur universalen Ratio der Objektivität
für das endliche Subjekt, dann rückt dieses in die Mitte des Seins.
Wird das Sein kraft seiner absoluten Möglichkeit und Vollkommenheit zur unendlichen Realität
selbst (im Sinne des ontologischen Gottesbeweises), so enthält es Gottes Wesen und wird mit Gott iden-
tisch. Auf diese Weise wird Gott nicht nur „der erste und eigentliche Gegenstand des Denkens“, was
der scotistischen Theologie gemäß ist, er wird auch in seiner univoken Erfaßtheit zu dessen eigentli-
chem Medium.

144
Wie immer man daher den „quidditativen“ Seinsbegriff auch wenden mag, immer stehen wir
entweder im Widerspruch, weil er nichtseiende, determinierbare Potentialität besagt, oder a-
ber wir stehen in der Konsequenz des absoluten Idealismus.

Die Zusammenfassung der Differenzstrukturen

Betrachtet man rückblickend das Ergebnis unter dem Gesichtspunkt der Differenz des Seins, so zeigen
sich Charaktere an, die vorwärtsweisend das Geschick des Denkens entschieden haben.
Erstens werden die realen konstitutiven Differenzen ideell und formell. Als solche durchwalten sie
das gesamte Gefüge der Wirklichkeit.
Zweitens west auch das menschliche Denken im Raum der absoluten Wesens- und Seinskomposition.
Es wird onto-theo-logisch und tendiert zu idealistischer Ermöglichung des Seienden.
Drittens ist das Denken von Grund aus offenbarungstheologisch vermittelt.
Viertens wird das Denken dialektisch, sofern es Möglichkeit und Wirklichkeit, Akt und Potenz
entweder in eine Ratio zusammenfaßt oder aber in ihrem Sinn umkehrt. Zugleich tritt innerhalb der
formalen Konstitution und ihrer absoluten Wesenseinheit das Prinzip der Kausalität zurück und wird
durch den Identitäts- und Widerspruchssatz bzw. durch die formelle Wesensergänzung, d. h. durch das
„Prinzip vom zureichenden Verstandesgrund“ ersetzt. Sofern jedoch in dieser Konstituierung der Wi-
derspruch waltet, erhält das Widerspruchsprinzip schon wurzelhaft den späteren dialektischen Charak-
ter wie bei Hegel.
Fünftens läuft neben der abstrakten und univoken Nivellierung und Identifizierung eine radikale
formal-individualisierende Differenzierung einher. Die schöpferische Setzung wird gleichbedeutend
mit formaler Vereinzelung. Aus dieser scharfen Differenz wird sich daher sehr bald und mit einer
inneren Notwendigkeit die Lehre des Nominalismus entwickeln, wonach die allgemeinen Begriffe die
formal vereinzigte Wirklichkeit nicht mehr zu erfassen und darzustellen vermögen.
Sechstens wird das Nichts oder das Nichtsein zu einem positiven Element, zu dem sich das Seiende rela-
tional verhält.
Siebtens wird die spontane, formelle Ratio zur aktiv universalen Ersichtigungsmacht. In ihrer uni-
voken Partizipation an allen formellen Vollkommenheiten, in ihrer Erfassung der ewigen Wesens-
gründe wie in ihrer ontologischen Selbstversicherung Gottes wird sie zu einem engelhaft ausgestat-
teten Geist. Im Maße sie an dieser Vollendung teilhat, wird zugleich die sinnliche Verfassung des
Menschen wesenlos oder ein zufälliger Behelf.

145
B. Die Essenzenmetaphysik bei Franz Suarez

Dieses in seiner Art grandiose scotistische Denken bestimmt weithin die noch einflußreicheren Werke
des großen Spaniers Franz Suarez, der wie kein anderer Denker die neuzeitliche Philosophie bestimmt
hat. Da bei Suarez nicht mehr wie bei dem Franziskaner Scotus die menschliche Vernunft durch die
Partizipation am göttlichen Licht geprägt ist, sondern durch ihre formal ewige Geistigkeit sich das
adäquate (ewige) Objekt erzeugt,11a so gewinnt die Subjektivierung der individualisierten Geistform
noch entschiedenere Züge.

Die förmliche Individualisierung

Die Individualität wird schlichthin zum umgreifenden Wesensgrund für alles, was denkend als „allge-
mein“ hervortritt. Es ist deshalb folgerichtig, daß sowohl die ideellen ewigen Wesenheiten wie auch
die wirklichen Wesen individualisierte Essenzen sind, ja, daß auch die Materie nur noch als indivi-
dueller passiver Massenpunkt verstanden werden kann. Damit werden die res spiritualis wie die res
extensa in zwei nahezu unvereinbare Seinsweisen geschieden, so daß die Einheit von Leib und Seele
mehr und mehr problematisch wird.12

Die Erkennbarkeit des Individuellen

Ist der Geist aber selber „förmliche Individualität“, so muß er folgerichtig auch die Individualität
der Dinge auf geistige Weise erkennen können, soll sich ihm überhaupt die Sache eröffnen. Da nun a-
ber die Seinsweise des Geistes von der der materiellen Dinge wesenhaft unterschieden ist, so verdichtet
sich das Fragen auf das Problem der Rezeptivität. Sollen die Sinn- und Einbildungskraft wirklich-
keitsgemäße Bilder vermitteln, so müssen dies „individuelle species“ sein. Da aber weder sie auf
den Geist wirken noch dieser auf die Sinne wirken kann, so gewinnt die Vernunftform notwendig
den Charakter einer intelligiblen Produktivität. Diese eignet zunächst dem „aktiven Intellekt“, der
wie schon bei Scotus nicht mehr „ein göttlich deriviertes Licht“ ist, sondern der formalen Aktivität des
menschlichen Subjektes zugehört. Er wird solchermaßen eine dem möglichen Verstand untergeordnete
Potenz oder eine seiner möglichen Wirkweisen (instrumentum), womit sich wiederum das in der
Seinsmetaphysik entfaltete Verhältnis umkehrt.13 Nur weil der aktive Verstand in der „unio conti-
nens“ einer mit einem organischen Leib verbundenen Seele „wurzelt“14, ist er imstande, in einem ge-
heimnisvollen Parallelismus (Suarez sagt: „in einer wunderbaren Ordnung und im Gleichklang im
Tätigsein“) die im Phantasma abgebildete individuelle Wesenheit der seienden Dinge im spirituel-
len Element nachzubilden und als „intelligible species“ zum Aufleuchten zu bringen. So aber setzt

11a
De Anima, L 4, c 3, 20.
12
Vgl. Gustav Siewerth, Das Schicksal der Metaphysik, S. 158 f.
13
De Anima, L. 4, c 8, 11: „intellectus possibilis est ergo sine dubio absolute perfectior (quam intellectus agens), qui est
„ut instrumentum quoddam datum praeparandis possibili speciebus“.
14
Ebd. c 5. 12.

146
er eine „geistige species“ in „singulärer Einzigkeit“ dem möglichen Verstande gegenüber, ohne
diesen primär in den Akt des urteilenden Begreifens zu aktualisieren.15 Er eröffnet vielmehr den in-
neren Raum der „geistigen Objektivität“16, der als Produkt der Geistform durch reine „Relationalität“
und „noematisdie Möglichkeit“ gekennzeichnet ist. Das Wesen der Abstraktion ist die „productio spe-
ciei individualis“.

Die virtuelle Vollendung des möglichen Verstandes und seine begriffsbildende Produktivität

Diesen intelligiblen, formal individualisierten Species (womit Suarez, wie Walther Hoeres zu Recht
betont,17 die nominalistische Differenz zwischen Sache und Subjekt zu überwinden sucht), steht nun der
im scotistischen Sinne formal (virtual) aktualisierte „mögliche Verstand“ als eine rationale Schaukraft
gegenüber.18 Die sich anbietende Konsequenz wäre, daß diese mit intuitiver Durchsicht jede individuel-
le Species bis auf ihren Wesengrund und ihre individuelle Singularität erfaßte. Das Denken müßte
sich als eine Abfolge von Erkenntnisakten mit jeweils radikal verschiedenen Gegenständen er-
eignen. Denn es gibt nicht die Spur eines ontologischen Grundes, daß eine universale reine Geist-
form eine reine förmliche spirituelle Species, die keine realen Unterschiede in sich birgt, nicht bis
auf den Wesengrund durchdränge. Dies müßte um so mehr hervortreten, als Suarez auch die „distinctio
formalis“ des Scotus als „sachhaltige Differenz“ nicht mehr anerkennt. Die individuelle Wesenform
wird daher sogar in der Idealität Gottes nicht mehr „formal konstituiert“. Sie waltet umgekehrt als
Grund der Möglichkeit allgemeiner oder abstrakter Strukturen.19 Suarez kann offenbar in der Konse-
quenz des Scotus alles Wirkliche nur noch begreifen, wenn es durch sich selbst aus seiner förmli-
chen Wesenheit her schon individualisiert ist. Deshalb würde ihm die Hinzufügung einer „haeccei-
tas“ wie eine „Zusammensetzung zweier individualisierter Dinge“ sein. Erwägt man in diesem Zu-
sammenhang, daß jeder materielle Massenpunkt für sich solch eine positive, individuierte Entität
ist, dann kann man die Schwierigkeiten verstehen, die sich fürderhin für die Wesenseinheit von Leib
und Seele ergeben. Der Leib ist dann wie jeder Körper nur noch als ein Baugefüge aus absoluten Mas-
senpunkten zu verstehen, so daß die Formel Fonsecas verständlich wird, daß sich „Leib und Seele“ zu-
einander „sicut partes re diversae“20 verhalten.
Es ist in diesem Zusammenhang bedeutsam, daß der metaphysischen Konsequenz (wie schon bei Sco-
tus) durch den phänomenalen Bestand wie durch die Tradition des Denkens Einhalt geboten wird,
wodurch sich das Denken einerseits gegen gefährdende Folgerungen sichert, andererseits in
schwer vereinbare Positionen gelangt. Dies zeigt sich im folgenden: Das Denken vollzieht sich in
15
Ebd. L. 4, c 2, 18 Intellectus enim abstrahere speciem, nihil est aliud quam virtute sua efficere speciem spiritualem
repraesentantem eandem naturam, quam phantasia repraesentat, modo tarnen quodam spirituali.
16
Ebd. „elevatio a materiali repraesentatione phantasmatis ad spiritualem repraesentationem, speciei intelligibilis, dicitur
abstractio“. Vgl. c 3, 5 „species spiritualis impressa repraesentativa singularis rei materialis est“, et c 3. 12.
17
„Wesen und Individuum bei Suarez“, in: Scholastik 1962, Heft 2.
18
De Anima, L. 4, c B. 10: „intellectus agens remote solum concurrit producendo species“. „intellectus possibilis actum
cognitionis elicit“; ja, « intellectus possibilis est sufficiens ad assentiendum primis principiis, sicut voluntas ad amandum
finem ultimum. »
19
Disp. Met. VI.; n6.
20
Petri Fonsecae Instititionum Dialecticarum libri octo; L. 4, c 4.

147
allgemeinen Begriffen. Es gibt nicht nur den begreifenden Fortgang von Individuum zu Individuum,
sondern auch deren Zusammenfassungen zu Arten, Gattungen und transzendentalen Allgemeinheiten.
Diese allgemeinen Begriffe werden durch den „möglichen Verstand“ durch eine zweite Abstraktion
gebildet. In dieser Abstraktion verhält sich der „mögliche Verstand“ „conformans“ (mitbildend) zu
dem tätigen Verstand.21 Er bildet eine neue „species“, die er „unabhängig von der singularen Spezies“
und „ohne Erinnerung an eine Singularität“ im Geiste bewahrt. Also ist „diese Abstraktion eine Tä-
tigkeit des möglichen Verstandes, der die allgemeine Natur ohne individuierende Bedingungen be-
trachtet. So wird durch diesen Akt die Natur als allgemein und abstrakt repräsentiert.“22 Diese All-
gemeinheiten treten zudem als „rationes simplices“, als einfache, nicht mehr auflösbare Einheiten, als
Begriffe und intentiones hervor, die je für sich dem Denken eine gegenständliche Objektivität verlei-
hen. Suarez sagt sogar: „Die allgemeine Abstraktion (von den individuellen species) war notwendig,
um die ewigen Objekte der Wissenschaft beizustellen“23 (objecta scientiarum perpetua). Ihre „Er-
möglichung“ ist eine Aporie, die das Denken wieder scharf in die nominalistische Bahn einweist.

a) Die vergleichende Abstraktion

Zunächst muß der anschauende Intellekt der individualisierten species dem geistigen Objekt gegen-
über in eine wesenswidrige Schwäche versetzt werden. Es zeigt sich nämlich, daß seine ideeierende
Erfassung dem individualisierten Ganzen der species nicht gewachsen ist.24 Die Erzeugung dieser gei-
stigen species hat, was wichtig ist, die Einbildungskraft nach deren vermittelnder Tätigkeit nahezu
überflüssig gemacht, so daß diese im rationalen Denken keine weitere Rolle mehr spielt. Sie hat
auch die typisierende Allgemeinheit, das Ergebnis der vergleichenden, der absehenden und verselbi-
genden Tätigkeit der Einbildungskraft übersprungen, so daß der „mögliche Verstand“ nun ihre Leis-
tung nachholend hervorbringen muß. Dies besagt, daß er die individuierten Gegenstände mitein-
ander „vergleichen“ und nach ihrer „Ähnlichkeit“ und „Unähnlichkeit“25 ordnen und scheiden muß, um
zum „allgemeinen Begriff“ zu gelangen: „Der Verstand hat die Fähigkeit, sowohl die Individuen selbst
und als solche zu betrachten, als auch das, was als diesen Gemeinsames von den species repräsentiert
wird, was besagt, die Universalien zu betrachten. Und auf diese Weise erkennt er die Gattungen, und
zwar durch Übereinkunft (convenientia) der species.“

21
De An. lib. 4, c 3. 14.
22
Ebd. 19.
23
De An. L. 4, c 3. 20.
24
Hoeres, a. a. 0., S. 205: „Unser Verstand muß nach Suarez dieses Wesen für sich, gleichsam nur als abstrakten Grundriß
auffassen, weil er in seiner Schwäche nicht bis zu den Besonderheiten und Einzelheiten vordringen könne, in denen die kon-
krete Ausgestaltung des Wesens bestehe“ (Disp. Met. V. s. 2 u. 37).
25
Ebd. 13, vgl. auch Disp. Met. VI.; 1; n. 12.

148
b) Die Dialektik der „Ähnlichkeit“

Diese „Ähnlichkeit“ läßt sich nun in der Suarezischen Metaphysik nicht mehr metaphysisch tiefer
begründen, da jedes Wesen formal individualisiert ist und deshalb im Ganzen seiner selbst und in
allem, was es ist, durch Unterschiedenheit und Andersheit bestimmt ist. Da Suarez radikaler als Sco-
tus diese individuelle Verschiedenheit zum ideellen Grund der Wesensermöglichung erhebt, so ist
das „Ähnliche“, die „convenientia“ oder „similitudo“ mehrerer Wesen, notwendig eine „irreale“ oder
gar „unwesentliche“ Weise ihres „Erscheinens“. Er muß sogar die „Ähnlichkeit“ selbst dialektisch
bestimmen, indem er sagt, daß die „Dinge sich in dem ähnlich seien, worin sie verschieden sind“.26
„Ähnlichkeit“ aber ist im Wesen die Vereinigung mehrerer Bestimmungen, wodurch eine Sache
gleiche Merkmale mit ungleichen nebeneinander oder in Vermischung an sich trägt. Betrachtet man
unter dieser Hinsicht das schon bei Scotus vielfach herangezogene Beispiel der Ähnlichkeit der Far-
ben, so springt der Verhalt in die Augen. Sie sind nämlich vergleichbar, weil sie erstens allesamt
sichtbare, leuchtende, ausgedehnte Qualitäten darstellen. Zweitens besitzt jede eine gewisse leuch-
tende Intensität, mit der sie ins Anschauen heraufgeht. Drittens stellen sich die Farben in einer Stu-
fungsfolge dar, in der sie zwischen Weiß und Schwarz eine größere Nähe zu den Extremen besitzen
und sich solchermaßen als eine Abfolge darstellen, in der zwei Prinzipien, das Lichte als leuchten-
der Akt und das Dunkel als erlichtbare Potenz, sich durchdringen. Deshalb kann die höchste Farbe,
das Weiß, als das Licht selbst und das Nichtmehrfarbige, das Dunkel, als Schwarz hervortreten.
Durch diesen Charakter trägt jede Farbqualität an ihr selbst die Möglichkeit, sich erstens durch Be-
lichtung, zweitens durch Verdunkelung oder Ver-grauung und drittens durch Vermischung mit ande-
ren Qualitäten hin zu verwandeln. Jedes geübte Auge kann deshalb im Rosa die Rötung und im
Violett die Verblauung, im Hellgelb die Ver-weißung gewahren. Schließlich entspringen nicht nur
Farbqualitäten durch Vermischung (wie das Grün aus Gelb und Blau), sondern sie spielen har-
monisch oder kontrastbildend mit- und gegeneinander.
Solchermaßen haben die alten Metaphysiker die „Farben“ als eine Ausfaltung eines einigen Grun-
des, des Lichtes, angesehen und ihre Vermannigfaltigung, ihre Ähnlichkeit und Verschiedenheit
durch eine aktpotentielle Komposition gedeutet, was ohne Zweifel den Sachverhalt trifft. Suarez
aber muß die qualitative Differenz seiner radikalisierten Formenmetaphysik gemäß absolut setzen. Er
glaubt in der Verschiedenheit als solcher auch die Ähnlichkeit vor sich zu haben. Folgerichtig muß er
annehmen, daß die intelligible Schau in der Lage sei, an einer einzigen Qualität als solcher in offenbar
„formaler Abstraktion“27 sowohl den Differenz- wie Identitätsbezug „rational“ unterscheiden zu
können, was offenbar ein Irrtum ist. Hätte jemand nur eine einzige Farbe erfahren, so gäbe es keine
Möglichkeit zu solcher Unterscheidung.

26
Disp. Met. II. 3. n. 16.
27
De An. L. 4, c 3, 20. Diese formelle Abstraktion „konzipiert die propria ratio (den wesenseigentümlichen Begriff) eines je-
den Dinges“, also „den Unterschied zwischen der abstrahierten Sache und den übrigen Gegebenheiten, von denen sie abs-
trahiert wird“ - eine offenbar schwierige Position, da die „übrigen Gegebenheiten“ ja durch eine „individuelle geistige spe-
cies“ repräsentiert sind und als solche allesamt schon einen „abstrakten“ Charakter haben.

149
Solchermaßen werden die Kategorien Selbigkeit und Verschiedenheit „dialektisch“. Sie
sind in „einer ratio“ des Denkens in einem „conceptus simpliciter simplex“ zusammengefaßt.

c) Die Entwirklichung der Begriffe

Der schauende Intellekt hat daher in der formal individualisierten Sache keinen Grund mehr für ei-
ne völlige Übereinkunft mit seinem“ allgemeinen Konzept“. Dieser wird nun wirklich, was das Wort
sagt, zu einer „Ausgeburt“ eines Denkens, das im Vergleichen des spröd Vereinzelten eine „confu-
sio“, eine Verschmelzung, vornimmt und diese in sich „verschwommene“ Vermischung heterogener
Elemente als „einfache Einheit“ setzt und als „allgemeine Natur“ begreift.
Diese nicht mehr typische, nur noch „begriffliche“ „Allgemeinheit“ wird nun „abstrakt“ genannt im
Sinne der „universalen Abstraktion“;28 es ist klar, daß sich die „Verschmelzungen“ auf beliebig viele
Gegebenheiten erstrecken können, bis die letzten „Vereinfachungen“ erreicht werden, die dann der
Einfachheit der Form gemäß in „präzisem“ Zuschnitt erscheinen, sozusagen als „Denkblickpunkt“,
und nur noch ein Moment der Wesensmannigfaltigkeit betreffen können - wobei es nicht mehr verständ-
lich ist, daß die „magis communia“ leichter und früher erkannt werden.29

d) Das „Fundamentum in re“

Wie daher der „tätige Intellekt“ die species der Einbildungskraft unberührt liegenließ, so läßt
jetzt der tätig schauende Verstand die geistimmanente „Objektivität“ der individuellen „species“ -
im offenbaren Widerspruch zu deren formaler Vollendung - liegen und bewegt sich denkend in den
allgemeinen, von ihm „formierten“ rationes, die als „intentiones intellectae“, als „Begriffe“ die ei-
gentliche „Würdenordnung vernünftiger Gegenständlichkeit und Objektivität“ konstituieren.
Diese Begriffe oder „Denkblickpunkte“ haben zwar noch ein „Fundament“ in den Dingen, nämlich die
oben gekennzeichnete „Ähnlichkeit“. Diese „Ähnlichkeit“ aber ist durch die radikalere „Unähnlich-
keit“ der formellen species bestimmt. Also lassen sich beide nicht mehr voneinander ablösen, so daß
erstens die Ähnlichkeit mit gleichem Recht als Verschiedenheit bestimmt werden kann und zweitens in
ihrem Beziehungspunkt nicht mehr fixierbar ist. Es kann daher nicht mehr gesagt werden, worin
diese Übereinstimmung besteht. Die individualisierte Geistspecies wie die individuelle Sache au-
ßerhalb der Seele ist daher ein unbekanntes „Ding an sich“ mit einer nicht weniger unbekannten
„Konvenienz“. Das heißt, es wird zwar ein „fundamentum in re“ zu Recht behauptet, aber man kann nicht
mehr sagen, worin es besteht. Denn das, worauf der allgemeine Begriff geht, ist im Ganzen seiner selbst
als „Verschiedenes“ etwas „Unbegriffenes“, wie es als „Ähnliches“ im Ganzen etwas „Begriffe-
nes“ sein soll.
28
De An. ebd.
29
Ebd. 16.

150
Nominalistische Subjektivierung

Damit ist die intendierte Überwindung des Nominalismus in seine dialektische Radikalisierung um-
geschlagen. Der Raum der Gegenständlichkeit hat sich mit den rationes intellectae der Begriffe über
die intelligible geistimmanente species in das Innerste der produktiven (formell einschmelzenden o-
der synthetisierenden) Form zurückgezogen, die somit später als „fensterlose Monade“ in ihrem ei-
gentlichen Wesen hervortreten wird.

a) Die transzendentalen modalen rationes

Ihr Verinnerungsprozeß aber steigert sich noch durch die subjektimmanente Erzeugung der „transzen-
dentalen Bestimmungen“, die nun als „reine rationes“ (logoi) oder höchste „einfachhin-einfache Denk-
blickpunkte“ die individualisierte und formalisierte Wirklichkeit völlig hinter sich lassen. Deshalb er-
scheinen sie als das reine, nicht mehr sachhaltige Gewebe der reinen Form selbst, die darin die eigene
„Förmlichkeit“ in sich selbst transzendiert. Also kann es sich nur noch um eine wirklichkeitslose moda-
le Qualifizierung, um eine „Konvenienz“ alles Wirklichen handeln. Da sie in der geistigen Form
„modal“ zum Austrag kommt, so ist sie nur noch als „ens ut sic“, als eine begriffliche „Sobestimmtheit“
oder als Modalität begreiflich. Die Wissenschaft, die sich auf diesem leeren, einfachsten Denkblick-
punkt aufbaut, ist daher eine allgemeine, formale Onto-logik, wobei die „Logik“ das entscheidende
Charakteristikum ist. Sie erfolgt aus einer „formellen Tiefe“ des Subjektes, in welcher dieses so-
wohl die Individuation wie die Förmlichkeit in das nicht mehr faßbare Medium der „überförmlichen
Konvenienz“ übersteigt und solchermaßen „transzendental umfänglich“ und einfach wird.

b) Die Wahrheit als logische Richtigkeit

Sofern diese transzendentalen Modalbegriffe universale Einschmelzungen sind, zweitens als „Sein“
(ens) bezeichnet werden und drittens als einfachste, präzis zugeschnittene Denkblickpunkte im Erkennen
nicht verfehlt werden können, so konstituieren sie ohne urteilende Bewegung durch sich selbst die ur-
sprünglichste Wahrheit. Also besteht die Wahrheit des Denkens nicht mehr in der „Adäquatio der
Vernunft mit der wirklichen Sache“, sondern sie ist mit dem Innewerden und schauenden Innehaben des
selbsterzeugten Begriffes identisch. Hält man aber an der „Adäquatio zwischen Verschiedenen“ fest, so
wird die Verknüpfung der Begriffe durch Subsummierung unter die umgreifenden Gattungen oder
umgekehrt durch Prädikation auf die einfassenden Arten und Individuen hin das eigentliche Geschäft
der Erkenntnis. Diese wird solchermaßen mit einer urteilenden Verknüpfung von apriorisch ge-
gebenen (produzierten) Begriffen nach den (formalen) Regeln der Identität und des Widerspruchs
oder der „formellen Begriffsergänzung“ (Prinzip vom zureichenden Verstandesgrund) identisch. Die
Wahrheit wird „logische Richtigkeit“, die ihre Begründung nur aus der Evidenz apriorischer Beg-
riffsbedeutungen und durch Reflexion auf die logische Verknüpfungskunst des denkenden Subjektes und

151
seiner modal-logischen Regeln gewinnen kann. Sie erschöpft sich in „Begriffsanalyse und Be-
griffssynthese“ und wird als „Erkenntnistheorie“ die Geltung und Reichweite dieser Begriffe zu
bestimmen haben.

c) Der Bezug der Erkenntnis zur Wirklichkeit

Diese Begriffssynthesen müssen nun freilich doch auf Wirklichkeit bezogen werden. Entweder ge-
schieht dies, sofern sie sich im „modalen Sein als solchem“ vollziehen, das als höchste Gattung und
einfachste Abstraktion in allen anderen Begriffen enthalten ist - oder aber durch Beziehung auf die
individuellen Formen. Dabei ereignet sich wiederum eine dialektische Antinomie. Da die wirkliche
individuelle Form einfach ist und keine distinctio realis oder formalis aufweist, so kann die „Syn-
thesis nach Gattung und Arten“, nach Wesen und Individualität, mit der Sache selbst nichts zu tun
haben. Sie liegt allein auf seiten des Verstandes, der das, was er vorher ohne Sachgrund „abstrahier-
te“ und „abschnitt“, nun ebenso ohne Sachbezug wieder zusammenfügt. Walther Hoeres sagt daher
mit Recht,30 daß „der modus additionis bzw. compositionis, so wie er sich meinem Verstande dar-
stellt, nicht in der Sache gegeben sei“.
Die dialektische Antinomik dieser Position tritt hervor, wenn man fragt, warum eine formal einfa-
che geistige species denn überhaupt „geschieden“ werden muß, da sie sich ja dem Geiste und seiner
Schau unmittelbar und ganzheitlich darbietet. Der ganze begriffliche Apparat mit seiner logischen
Verwebung ist doch nur eine Verstellung dessen, was unmittelbar schon gegeben ist. Entweder liegt
der Grund zu. diesem Umweg auf seiten der Sache oder des Subjektes. Auf seiten der formal-
individualisierten Sache und ihrer „species intelligibilis“ gibt es keinen Grund, die ganzheitlich-
individuelle (förmliche) Wesensfügung aufzuteilen. Sagt man nun, es läge an der Schwäche des
menschlichen Geistes, so würde das besagen, daß die species sich ihm nicht adäquat darbieten kann.
Da sie einfach, formal und geistig ist und keine metaphysischen Teile hat, so gibt es nur noch die
Möglichkeit, daß sie in dem nicht hinreichend eröffneten Geist beim Informieren unzureichende
Abbilder erzeugt, so daß es dieser nicht mehr mit der Sache, sondern mit ihrer „Erscheinung“ zu tun
hat. Aber auch diese Position steht in dialektischem Widerspruch zu anderen Aussagen von Franz
Suarez, besonders mit jener, daß der subjektimmanente tätige Verstand die species als „rein geisti-
ges Produkt“ erzeugt, so daß es widersinnig wird, im Innern des Geistes eine Differenz von „Erschei-
nung“ und „individuellem Formbild“ aufbrechen zu lassen.
Die Lösung läßt übrigens die Frage entspringen, wie etwas „Nichtsynthetisiertes“ durch eine „Syn-
thesis“ von Merkmalen dargestellt werden kann. Auch hier ergibt sich unmittelbar, daß es sich nicht
mehr um eine „Adaequation“, sondern um eine nicht mehr aufhellbare (nur fundamentale) „Ähn-
lichkeitsentsprechung“ handeln kann. Das Denken müht sich daher vergebens, die verlassene Wirk-
lichkeit wieder zu erreichen. Was es im Urteil zustande bringt, ist daher ein neues, durch rationale

30
Hoeres, a. a. O., S. 198.

152
oder kategoriale Synthesis erzeugtes und gesetztes „SubjektObjekt“ jenseits der „an sich seienden“
Wirklichkeit.

d) Die Wesenserkenntnis

Fragt man im Rahmen dieser radikalen Individualisierung und Formalisierung des Seienden nach
der „Wesenserkenntnis“, so ist es evident, daß sie durch Allgemeinheiten nicht zu erreichen ist. Es
gibt im Grunde nur unendlich (formal) verschiedene Individuen, weshalb z. B. von der „Menschheit“
nur noch in einem analogen Begriff gesprochen werden kann. Sie kann daher nur in „liberaler“ Aus-
faltung der Individualitäten oder aber über das abstrakte, allgemeine Gesetz der Vernunft, d. h. in
formalisierter Gesetzesethik in die Erscheinung treten.
Da aber die „Individuen“ sogar das Fundament des „ordo ad esse“ der Ideen sind, so ist die „We-
senheit“ notwendig schon eine „göttliche Abstraktion“, die offenbar der gattungshaften Ordnung der
absolut Verschiedenen auf Grund ihrer „Ähnlichkeit“ entspringt. Dem „ordo ad esse“ der ewigen
Essenzen muß daher auch in Gott eine Abstraktion entsprechen. Dem allgemeinen Verstandesdenken
entspricht daher eine göttliche Abstraktion und allgemeine „Objektivierung“.
Das formale denkende Subjekt steht daher im unaufhebbaren Geschick einer nominalistischen Ent-
wirklichung. Könnte der faszinierende erste Ansatz von Franz Suarez festgehalten werden, so be-
stünde das Denken in intuitiven Erkenntnisakten individueller Größen, die sich den realen Wesen-
heiten gemäß gegeneinander besonderten und sich in nicht kontinuierbaren Sprüngen ablösten. Was
„Gattungen“ oder „allgemeine Begriffe“ sind, könnten nur zufällige oder willkürliche konfuse Zu-
sammenfassungen von diskreten Einheiten sein. Diese Begriffe dienten als Behelfe. Sie wären in
Wahrheit nur Aggregate oder Zusammenstellungen diskreter Größen. Im besten Fall wären es vage
Erscheinungsmodi im Innern der Form, deren je vorläufige Einheit immer wieder im intuitiven Er-
kenntnisakt sich auf ein einzelnes bestimmtes Objekt hin vereinzigte und die anderen Individuen in
einer vagen Überschau in einem Blickhorizont stehenließe - eine Konzeption, die der antino-
minalistischen „Intuition“ entspräche, in welcher der mögliche Verstand die „materialia singularia
absque reflexione“ und damit „direkt“ erkennt.31
Wird aber der allgemeine Begriff „sachhaltig“ und damit die „intellektuelle Urteilssynthesis“, so
muß die formelle Einheit der Individuen aufgebrochen werden in einen begründenden „Wesensplan“
und das „individualisierende Material“, in dem dieser zur Verwirklichung kommt, wie dies Walter
Hoeres im antinomischen Gegenzug gegen die Lehre von der individuellen Einheit dann vollzieht.32
Dieser „Wesensentwurf“ könnte jedoch als Erfassung der „Sache“ nur im scotistischen. Sinne in der I-
dealität erfolgen. Also wird es notwendig, das Denken in der Dimension der göttlichen archetypischen
Ermöglichung anzusiedeln.

31
De An. L. 4, c 3. 7.
32
Hoeres, a. a. O., S. 205 und S. 209.

153
Die Dialektik der Seinslogik

Diese theologisch vermittelte „Subjektivität“ vollendet sich, wir wir sagten, in den transzendentalen
Allgemeinheiten, die in der Folgezeit zu Recht als das apriorische Element der „Ideen“ bezeichnet
wurden, weil ihnen keinerlei „objektive“ Gegenstände mehr entsprechen konnten. Entsprechend den
radikalen individualisierten Sachmonaden „modalisieren“ sich die höchsten Allgemeinheiten bis zum
letzten Grad der Sach- und Wesensentfremdung. Sofern sie aber durch einschmelzende „Konfusion“
entstehen, wird in ihnen nicht nur die Ähnlichkeit aller endlichen Wesen, sondern auch die Realität
der wesensähnlichen Gottheit mit einbezogen, so daß die apriorische Begriffslogik in ihren
höchsten Allgemeinheiten alle Dinge, ja Gott selbst „einschließt und umfaßt“. Damit erhebt sich
das begriffserzeugende Subjekt in seinem modalen Akt- und Intellektgrund in den reinen Äther
der absoluten Idealität, in der es nicht nur den Abgrund der „möglichen Essenzen“, sondern auch das
Sich-selbst-denkende Wesen Gottes in seiner Einfachheit und Vollkommenheit umspannt. Also kann es
Gott, der sein „erster und vorzüglicher Gegenstand“ ist, auch in „ontologischer Möglichkeit und Wirk-
lichkeit“ apriori beweisend hervorgehen lassen und erkennen, in dem es die „rationes sufficientes“ der
göttlichen Wesenswirklichkeit in absoluter Synthese beibringt. Damit erhält „das Sein“ schlechthin dia-
lektische Bestimmungen.
Es ist eine leere Begriffsgattung, der nichts Reales mehr entspricht, so daß es sich vom Nichts der be-
stimmbaren universalen Intellektpotenz nicht mehr unterscheiden läßt. Zugleich ist es der aktuale umfas-
sende Inbegriff alles Seienden, der umfassende Formakt, der alle möglichen und wirklichen Individua-
litäten umgreift. Drittens ist es das Medium der transzendentalen Objektivierung aller rationes und
Begriffe. Viertens hat es als höchste Vollkommenheit und Einfachheit in seiner univoken Prädikation
nur noch eine Entsprechung in Gottes absoluter Aktualität und Einfachheit. Fünftens ist es als durch-
waltende Universalität seinshaft nur noch auf Gottes schöpferisches Walten und ermöglichendes Denken
zu beziehen. Sechstens ist es ein subjektimmanentes Produkt, eine modale irreale Qualität einer endli-
chen Form. Siebtens ist es vom Ausgang des Abstraktionsprozesses nichts als ein inkonvenienter, nomi-
nalistischer „Denkblickpunkt“, der die höchste Beziehungslosigkeit zu den real anwesenden Individuen
charakterisiert.

Zusammenfassung

Überblickt man das Ergebnis, so ist bei Suarez in seinen großen theologischen Werken (auch die
Disputationes metaphysicae sind weithin theologische Traktate) die „Differenz von Sein und Seiend“
nach der scotistischen Negation des realen Unterschiedes in die radikalste Differenzierung der
förmlich individualisierten Wirklichkeit und zugleich im dialektischen Gegenzug in die höchste sub-
jektimmanente (auch formalindividuelle) Identifizierung und Verselbigung umgeschlagen. Sowohl die
Differenz wie die Identität ist nicht mehr aus dem Sein, sondern aus der produktiven einfachen Form ge-
dacht. Durch diese konträre Vereinzelung ins different Mannigfaltige und seine einschließende (mo-

154
dale) abstrakte Nivellierung und Subjektivierung werden die Bestimmungen des Seins dialektisch
verflüssigt. Der immanente Widerspruch treibt zur Radikalisierung der Extreme, zu dialektischer Be-
wegtheit und zu überfliegender Transzendenz. Noch sind bei Suarez durch die mäßigende Macht der
theologischen Substanz und die Differenzspannung des Glaubens wie der Tradition die konträren Po-
sitionen gleichsam in der Schwebe gehalten. Sie erscheinen bald als teilhafte Aspekte, als „nur ratio-
nale“ oder „logische“ Bewegung, als ein relationales (begriffliches) Bezugsystem innerhalb von
Wirklichkeiten, die im Glauben und in der Theologie ihr vorweggedeutetes Wesen behaupten. Sie
haben als „logische Medien“ eine ordnende, klassifizierende und beziehende Funktion und trugen dazu
bei, den phänomenalen Bestand der Einzelfragen zu erweitern und das begriffliche Denken zu „subtili-
sieren“.

Die Fortwirkung

Sofern sie aber doch zugleich die Wahrheit des „Seins“ zu entfalten beanspruchen, mußte die la-
tente Potentialität sich mit der unwiderstehlichen Macht denkerischer Konsequenz enthüllen und
die antinomischen Wesensentwürfe hervortreiben. So erweist schon ein Überblick über das moderne
Denken, daß es in der ungeheuer reichen und breiten geistigen Landschaft angesiedelt ist, die Suarez
aufgetan hat. Es hat sich jeweils aus Prämissen vollzogen, die in dieser offenbarungstheologisch ver-
mittelten Rationalität wurzeln und als unbedenkbare „Selbstverständlichkeiten“ die Geister
bestimmen. Mit jeder metaphysischen Denkbewegung wird der in den Prinzipien waltende Wider-
spruch aufbrechen und eine antinomische Dialektik zur Folge haben.
Man kann zum Beispiel Kants Denken nicht verstehen, wenn man nicht seine Verwurzelung in der neuen
Scholastik beachtet, mit der er nicht nur den theologischen „Dogmatismus“ teilt, sondern ihn sogar
radikalisiert. Seine Kritik hält sich im Horizont der „seinsvergessenen Wesensphilosophie“ und des
formalisierten Subjektes mit seinen apriorischen rationes oder Kategorien. Indem er den ontologischen
Gottesbeweis „kritisiert“ (übrigens mit Unterscheidungen, die - wie zum Beispiel „das Dasein als
vollkommenheitslose Setzung“ - der scotistischen Tradition gemäß sind und deshalb auch nicht die
Schärfe und Tiefe der thomistischen Kritik erreichen), nimmt er dem Begriffssubjekt die „ratio suffi-
ciens“ für die Objektivierung der transzendentalen Konzepte. Diese werden nun in der Tat zu „modalen
Inbegriffen“, zu „Möglichkeitsentwürfen“, über deren Ansichsein nichts mehr ausgesagt werden kann.
Kant hält sich in dieser universalen, nur förmlichen Idealität durchaus im Horizont der reinen In-
tellekt- und Vernunftform, von der Leibniz sagt, daß sie den Engelgeistern der thomistischen Theo-
logie (philosophisch sind es nur „mögliche“ Entwürfe!) adäquat sei. Auch seine Unterscheidung eines
archetypischen und ektypischen Intellektes, deren er zur Unterscheidung von „Ding an sich“ und
„Erscheinung“ bedarf, steht im Raum der Theologie einer schöpferischen, unendlichen Intelligenz.
Deshalb ist das kantische Subjekt durch und durch am Modell der einerseits rezeptiven, andererseits
spontanen, produktiven und transzendental synthetisierenden formalen Monade orientiert. Auch
die dieser entgegenstehende Welt des „Empirischen“ ist gemäß der englischen nominalistischen Tradi-

155
tion von der radikalen und deshalb chaotischen (scotistisch-ockhamistischen) Individualisierung der
Wirklichkeit bestimmt, die das Subjekt zwar affizieren, aber ihm keine ordnende und regelnde Be-
stimmung erteilen kann. Alles was allgemein, gesetzlich oder regelnd ist, stammt daher aus dem
formalen, Einheit und Ordnung stiftenden Subjekt.
Wie die Ideen oder die transzendentalen Allgemeinheiten sind daher auch die rationes oder Kategorien
für sich selbst wirklichkeitslose Formakte, leere „Möglichkeiten“ ohne anschauliche Gehalte. Sie
sind als reine, seinslose „Begriffe“ überhaupt nur faßbar, wenn man um die inadäquaten, von ei-
nem unbekannten Fundament her gespeisten Allgemeinheiten und Einfachheiten der Suarezischen
Tradition und um ihre wahrheitstiftende, rational objektivierende „Urteilsetzung“ weiß, wie sie
zugleich als „Konstitutionsgründe“ der Objekte ohne die distinctio und compositio formalis der scotisti-
schen Tradition unverständlich sind. Wie diese Gegebenheiten sind sie bestimmend und bestimmbar.
Ganz im Sinne der Tradition aber sind ihre Verknüpfungsmodi und ihre formalen (inhaltlichen) Unter-
schiede der Begriffs- und Satzlogik entnommen. Auch das Geschäft des Denkens besteht für Kant wesent-
lich in „Begriffsanalyse“ und „Begriffssynthese“. Sofern diese Bestimmungen jedoch sach- oder ob-
jekt-konstitutiv fungieren, verfallen sie in antinomische Widersprüche, deren Überwindung wieder bei
den Idealisten zur kritisierten „Ontotheologik“ zurückführte.
Auch die „Kategorie“ verfiele derselben kritischen „Entwirklichung“ wie die Ideen, gäbe es nicht ein
Kriterium ihrer Verifizierung, nämlich ihre objekt-konstituierende Verknüpfung mit der Anschauung
und den Erscheinungen. Aber auch dieses „Anschauen“ west im formalen Subjekt, in subjektiven An-
schauungs-„formen“, die eine „reine“ Formalisierung der Rezeptivität darstellen und deshalb zu
determinierender Qualifizierung und Subjektivierung der empfangenen Gehalte führen. Die von
Kant entwickelten Antinomien sind im Wesen Ausfaltungen des unaufhebbaren Widerspruchs einer
universalen unendlichen Förmlichkeit mit einer endlichen Rezeptivität.
Im Grunde gilt für diese „Anschauung“, daß die sie tragende Einbildungskraft in ihrer „transzen-
dentalen Funktion“ und der „notwendigen Einheit in der Synthesis“ der Erscheinungen nicht so
sehr dem organischen Vermögen der thomistischen Metaphysik als dem formalisierten „tätigen Intel-
lekt“ entspricht, sofern er die individualisierten Gehalte auf intelligible Weise ins Leuchten bringt
und die Anschaulichkeit und Objektivität der allgemeinen Begriffe verbürgt. Der allgemeine Begriff
oder die Kategorie enthüllt daher nicht das Seiende, sondern konstituiert durch eine Synthesis apriori
die subjektimmanente „Gegenständlichkeit“ der Erkenntnis.
Diese Konstituierung bleibt durchaus „förmlich“. Sie hat deshalb nur „objektiven“, aber keinen
seinshaften Charakter. Dieses formale Subjekt bliebe in seiner Endlichkeit verhaftet, wenn es nicht
als Wille eine transzendentale, dem Subjekt entsprungene formale „Allgemeinheit“ als ein der
Wirklichkeit transzendentes Gesetz bejahte und in diesem Aufbruch an die Idealität einer absoluten
Vernunft rührte. Auch diese absolute Spontaneität des sich selbst bestimmenden Willens mit seiner ihm
als Willen zukommenden Neigungsgüte steht ohne Zweifel in der scotistischen Tradition, wie auch die
Bestimmung des Guten als „allgemeines autonomes Gesetz“ der Modalität und inhaltsleeren Förm-

156
lichkeit eines Denkens entspricht, dem mit dem „Seienden des Seins“ auch das Wesen des Guten nicht
mehr zugänglich ist.

C. Die Differenz im Denken Hegels

Ein Rückblick auf die Differenzstruktiven des scotistischen und suarezischen Denkens enthüllt eine fort-
schreitende Verselbigung aller Unterschiede in der objektivierenden, formal einfachen Monade, die
durch ihre modalen einfachsten Begriffe, d. h. durch ihre Ideen an Gottes Idealität partizipiert, wie um-
gekehrt Gottes Denken durch die Energetisierung des absoluten „ordo ad esse“ der Ideen „ontotheo-
logisch“ (Heidegger) mit der Welt verspannt wird. Deshalb liegt der Fortgang des modernen Den-
kens neben den dialektischen Positionen der „reinen Empirie“, der „begrifflichen Bedeutungsanalyse“
und der Radikalisierung einer „formalen Logik“ vor allem in der panentheistischen Identifizierung
aller Unterschiede mit der sich selbst objektivierenden einfachen Gottheit, die im Sichselbstdenken
in ideeller „Setzung“ in ihre absolute „Andersheit“ aufbricht und diese kraft der in dieser Setzung wal-
tenden Antinomie wieder ins Einige göttlichen Lebens bewegt. Wie bei Leibniz das System einer Mo-
nadologie im Modus der „bestehenden“ formalen Differenz hervortritt, so stellt Hegels Denken die
„dialektischen Bewegungen“ der modernen Subjektphilosophie als notwendige und systematische Toli-
tät dar.

Die eine absolute Differenz

Hegel bezeichnet selbst seine Philosophie als „Logik“. Er bezeugt damit ihre Herkunft aus der scho-
lastischen Tradition. Darum ist das Wesen des Seins oder das Sein des Seienden das göttliche und
das menschliche Subjekt. Es ist schlichthin denkende Subjektivität.
Also ist das Denken der Ursprungsort alles Seienden und Wesenden. Daher kann dessen Unterschied
nur aus dem Denken des Denkens selbst entspringen. Da dieses Denken identisch ist mit dem göttlichen
Subjekt, sind seine elementarsten Vollzüge immer auch archetypische göttliche Hervorgänge, in denen
Gott sein ewiges Wesen ausfaltet und zur Darstellung bringt. Das Denken west in der substantiellen
Tiefe des göttlichen Seins. Also ist das aus dieser Tiefe Gedachte auch selbig mit Gottes Ideen. Das
Subjekt ist das entspringen lassende Sein des Seienden und zugleich identisch mit dem endli-
chen (entgegengesetzten) Produkt des Absoluten, d. h. mit einer „empirischen Individualität“. Es
ist der apriorische Konstituierungsgrund aller Wirklichkeit und Objektivität, der schöpferische Abys-
sus eines Universums von Wesenheiten, wie es immer schon selbst als Seiendes im Geschehen des Ab-
soluten konstituiert ist und in und mit der Natur wie innerhalb der gottmenschlichen Geschichte existiert.
In dieser seiner widersprüchlichen Mannigfaltigkeit steht es in der „absoluten Differenz“, der Kon-
tinuation des absoluten Unterschiedes in alle Unterschiede. Das aber besagt zugleich: Es ist als
Subjekt die Identität oder Selbigkeit aller Differenzen. Also gibt es bei Hegel nur eine Differenz,
nämlich den absoluten Unterschied des sich selbst denkenden Denkens.

157
Was aber besagt dies? Das Ab-solute ist das von aller Vereinzelung und Konkretion Abgelöste. Die-
ses Absolute kann nicht gedacht werden, ohne daß der Widerspruch aufbricht. Denn geschieht diese Ab-
lösung in der Form des allgemeinen Begriffs, z. B. als reines Sein, so tritt es selbst als ein „Gedachtes“
über und neben die besonderen Wesenheiten und Dinge und erscheint selbst als ein Besonderes. So aber
ist es weiterhin zu absolvieren von aller Bestimmtheit. Geschieht dies, dann erhebt sich das Denken
über alles Gedachte (über alle Objektivitionen) in den reinen Äther seiner selbst. Es ist reine den-
kende Unendlichkeit, reines Ich, das im Denken zugleich die eigene Unendlichkeit vor sich bringt.
Indem jedoch solchermaßen das Denken sich selbst denkt und sagt (A = A), geschieht wiederum eine
Verdoppelung. Also bricht die Differenz von Subjekt und Objekt in der reinsten und einfachsten I-
dentität auf, die sich damit wesenhaft und notwendig auch als „Nicht-identität“ bekundet. Sie ist Sel-
bigkeit und zugleich ein anderes ihrer selbst und damit Eines und Vieles zugleich. Begreift man das
mit sich Selbige als Sein, so kann seine Andersheit nur noch als Nichtsein bestimmt werden. Diese Be-
stimmungen schließen sich ebenso absolut aus, wie sie im reinen Geschehen des Denkens zusammenfal-
len und selbig sind. Also ist das Wesen der Wirklichkeit die sich denkend widersprüchlich entzweiende
selbige Subjektivität.
Demgemäß ist die Differenz ein im Unendlichen sich ereignender Widerspruch, in dem die höchste
Innigkeit und Einfalt zugleich auf unendliche Weise mit dem ausgeschlossenen Anderen ihrer selbst i-
dentisch ist.
Da diese Differenz unendlich ist, so ist der Unterschied selbst nicht mehr in seinem Wesen bestimmbar.
Er ist schlichthin von jener Maßlosigkeit, in der alle Modi des Seins und Nichtseins enthalten sind,
so daß es füglich keine Weise des Seins und Nichtseins mehr geben kann, die nicht von ihm zuvor-
kommend in ihrer Weise von Selbigkeit und gegensätzlicher, widersprüchlicher Andersheit zu
kennzeichnen wäre.
Denn ist die Differenz absolut oder unendliche Entgegensetzung, so bleibt jede Weise von Selbstent-
fremdung (wie der Fall des Geistes in die Natur, des Seins ins Nichts, des Denkens in die entzweite
Objektivität, in Irre und Schein, des Subjektes in die Menge vereinzelter Individuen) von ihr umgrif-
fen. Sie schließt deshalb auch die Möglichkeit ein, die zwischen dem Sein und dem Seienden wal-
tenden Differenzstrukturen als Weisen ihrer Ausfaltung spekulativ zum Austrag kommen zu lassen.
Sie geht jedoch über diese hinaus, sofern es das Absolute selber ist, das aus der Tiefe seiner Unend-
lichkeit in die Differenz fällt und sie auf unendliche Weise befeuert. Es ist nicht nur der Prozeß der
radikalen Zerstreuung ins Wesenlose der materiellen Vereinzelung, sondern auch die Energie
des sich partikularisierenden Lebens und Denkens. So aber waltet es als unendliche Leidenschaft wie
als absoluter objektivierender und sich „bornierender Verstand“, als das sich absolut verhärtende Böse
wie als die Irre der schlechten Unendlichkeiten gegen sich selbst. Die Differenz wird absolute Zerris-
senheit, ein Abgrund der Verfeindung, der Verhärtung, des Todes; ein Tierreich zerstörerischer Leiden-
schaften und absolut verfestigter geschichtlicher Gestalten.

158
Der gedoppelte Widerspruch

Diese maßlose Differenzierung ist jedoch immer zugleich absolute Einheit und Selbigkeit. So wi-
derspricht sie sich in jeder Abscheidung und Unterscheidung mit derselben maßlosen Energie des
Denkens, die den Unterschied hervortrieb. Sie ist daher immer schon von der ideellen Vernünftigkeit
der sich selbst denkenden Identität überholt. Indem solchermaßen die Differenz wie die Differen-
ten sich in und an sich selbst widersprechen, werden sie scheinhaft und nichtig. Sie sind, je mehr
sie sich ihres Anteils, ja ihrer Selbigkeit mit dem Absoluten erinnern und diese zum Austrag brin-
gen, in sich selbst verwirrt und geschwächt. Sie existieren „wahnhaft“, d. h. im bloßen Schein ihres An-
ders- und Für-sich-seins. Also waltet in ihrer absoluten Differierung, in der Maß-losigkeit ihrer
Leidenschaften ein Fieber, eine Krankheit, die im Licht der „ein-scheinenden Vernunft“ wie im Ge-
schick des einerseits zerrüttenden, andererseits sich selbst vernichtenden Widerstreits vergeht. So ist
die Differenz der Tod der Entfremdung und Verzweiflung, der sich im Lichte und der Macht vernünfti-
gen Denkens als Scheintod entlarvt oder ins Leben des Geistes zurückfindet. Die sich selbst diffe-
rierende Identität ist daher immer „negierende Negativität“, die im Ausgang die Identität, im
Fortgang die Negativität negiert. Also ist die absolute Differenz immer ein gedoppelter Wider-
spruch: einmal der Entgegensetzung gegen die Identität wie zugleich der Widerspruch gegen die
Entgegensetzung. Die Differenz zerrüttet ihre Differierung und kehrt sich in sich in das um, was sie
immer schon ist: vernünftige Identität. So aber waltet diese ebenso setzend wie aufhebend, hervor-
bringend wie vernichtend, zerstreuend wie einigend.
Sofern diese vernünftige Identität wesenhaft und notwendig der Widerspruch ihrer selbst ist, bedeutet alle
aufhebende Ab-solvenz im gleichgewichtigen Gegenzug auch ein Eintreten in die klaffende Tiefe
der unendlichen Differenz, die im Geschehenlassen oder als Geschichte sich durchmessend der Unaus-
meßbarkeit anheimfällt. Solchermaßen ist das Wesen des Absoluten ein ewig kreisender Kreis, ein
immer neu geschehender absolvierender Schluß wie zugleich ein anbrechender Entschluß, der als ewiger
immer schon geschehen ist, wie er als werdende Geschichte unbeendbar im Vollzug ist. Er ist immer An-
fang, Ende und die Mitte der Geschichte zugleich. Gott ist immer bei sich, immer außer sich und immer
auf sich zurückkommend. Man könnte sein Wesen mit Goethes Worten kennzeichnen:

„Daß Du nicht enden kannst,


das ist Dein Los,
und daß Du nie beginnst,
das macht Dich groß.
Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe
Anfang und Ende immerfort dasselbe.
Und was die Mitte bringt, ist offenbar
das, was am Ende ist und anfangs war.“

159
Der Widerspruch in der Differenz und seine Problematik

Aus dem Gesagten aber ergibt sich: Nicht nur das Absolute als „Identität der Nichtidentität“ ist ein ab-
soluter Widerspruch, sondern auch die Differenz selbst ist durch den Widerspruch bestimmt, und zwar
in jedem ihrer Momente. Das aber enthält dies, daß sie in ihrem Wesen nicht mehr faßbar ist. Denn wenn
die Differenz die Identität in ihre Geschichte vermittelt, aber selber dabei „widersprüchlich“ ist, so
ist diese Vermittlung in sich selbst gebrochen. In ihr waltet ein Schein, der für den Denkenden sich als
nichtig offenbart. Ist sie aber ein „Schein“, so ist an ihr die diesen Schein ermöglichende Wahrheit
verborgen anwesend, die aus ihrer Verborgenheit zu lösen und ins Wesen zu bringen ist. Es
muß sich daher zeigen, daß neben einem scheinhaften Vollzug in Hegels Denken die spekulativ zu ent-
hüllende Wahrheit der Seinsdifferenz in ihrem theologisch wie philosophisch zugänglichen Wesen
waltet und diesem Denken Möglichkeit und Tiefe schenkt.
Was besagt es, daß die Differenz in sich selbst ein Widerspruch ist?
1. Die Differenz ist immer schon aufgehoben und kommt gar nicht ins Walten: Sie ist „nur rational“ oder
„ideell“.
2. Die Differenz bewegt sich in der Dimension einer endlichen Entgegensetzung und trügt mit
dem Schein einer absoluten Bewegung.
3. Die Differenz partizipiert in den Modi philosophierender Analogie oder gläubig vermittelter Lehre
„spekulativ“ (d. h. ab- und nachspiegelnd) am Mysterium der Seins- und Gottgeschichte. Diese nachbild-
liche „Teilhabe“ wird mit dem archetypischen Walten des Grundes verselbigt, wie die gnadenhafte
Ermächtigung gläubigen Denkens und das verborgene Mysterium der gott-menschlichen Geschichte
im Prozeß des „absoluten Wissens“ erinnernd beansprucht und mit dialektischen Kategorien nachge-
zeichnet wird, die kraft ihrer implizierten Widersprüche die wesenhafte Differenz überspielen.
4. Die Differenz geht ins Unaufhebbare auseinander und wird unendlich. Dies wiederum besagt:
a) Die setzende Gründung aus der Identität wie der aufhebende Rückbezug ist nicht denkend er-
bracht.
b) Die Verschiedenheit ist weder denkend noch durch geschichtliches Geschehen in ein Einiges zu fü-
gen. Sie „klafft“ unendlich und hält sich gegen den denkenden Vollzug durch.
5. Die Differenz impliziert daher verschiedene Weisen von Unterschiedenheit. Der denkende Prozeß
geschieht in der widersprüchlichen Breite einer scheinbar unterschiedslosen Verschwommenheit und Ver-
schmelzung. So aber wird das Denken „sophistisch“. Dies besagt, daß es sich im scheinbar Einigen all-
gemeinster Kategorien tatsächlich in verschiedenen nicht vermittelten Ebenen bewegt und beliebig in
verschiedene Sphären überwechseln kann.
6. Die Differenz lebt von der neuscholastischen Identifizierung von Möglichkeit und Realität. So er-
zeugt sie den Schein eines göttlichen Prozesses, der in Wahrheit nur in (erborgten) Möglichkeitsdi-
mensionen menschlichen Denkens sich entfaltet.

160
7. Der „Widerspruch“ wird dadurch erzeugt, daß die Gottes- und Seinsvollzüge wider ihr Wesen
„essentialisiert“ oder „rational logisiert und objektiviert“ werden. Darum geschieht vielfach keine
gottes- und seinsgeschickliche Absolvenz, sondern nur eine Auflösung endlicher Positionen, die den
Schein absoluter Vorgänge an sich tragen.

Der Widerspruch im Vollzug der Logik

a) Der Widerspruch im Wesen Gottes

Diese verschiedenen Strukturen seien im folgenden aufgewiesen: Gott ist absolute denkende Sub-
jektivität und Substanz, die als „Identität der Identität und der Nichtidentität“ west. Diese Formel ent-
hält eine bei Hegel nicht voll ausgetragene Problematik. Denn ist Gott seiende Substanz oder das
Sein schlichthin, so ist die Differenz als „Identität der Identität“ im substantiell einfachen Sein beschlos-
sen. Dies besagt, daß der Unterschied, in welchem das substantielle absolute Denken sich ausspricht, im
Einigen des Seins und des Geistes aufgehoben und sich in substantialer Identität in sich versammelt hat.
Dann ist die „Nichtidentität“ zweierlei Wesens: Erstens diese, die als ideelle Möglichkeit im Her-
vorgang der „Identität der Identität“ als die innerliche Wirkeröffnung der göttlichen Macht waltet;
zweitens die ausgeschlossene Nichtigkeit oder Andersheit gegenüber dem göttlichen Sein. Ist Gott we-
senhaft das aus sich seiende, sich denkend durchmessende unendliche Subjekt, so fällt in der vernünf-
tigen Durchdringung das „Endliche“ als das „Andere“ der seienden Gottheit der absoluten Nichtig-
keit anheim. Es ist „nichts“ als „gedachtes Produkt“, das Gottes Sein weder „affiziert“ noch
seine Macht „begrenzt“. In dieser dreifachen Nichtigkeit geht es metaphysisch der göttlichen „Idealität“
schlichthin voraus.33
Indem Hegel beide Weisen von Nicht-Identität „identisch“ setzt, hat er sowohl die ideelle
Produktion des Nichtseins, den Abyssus der Möglichkeiten, die ars divina als innergöttliche Tä-
tigkeit und Freiheit gegenüber der schlechten Unendlichkeit der Möglichkeiten übersprungen und den
Prozeß der „Identität der Identität“, d. h. die göttliche Selbstauszeugung unmittelbar mit dem Ent-
schluß Gottes zur Schöpfung und Offenbarung seiner selbst verselbigt. Hegel bewegt sich daher
von vornherein im Prozeß der geoffenbarten Wahrheit und der Theologie, die des Schöpfungs- und
Erlösungsaktes Gottes und Gottes ewiger Selbstauszeugung im Glauben versichert ist und die
menschliche Geschichte als die Verwirklichung des ewigen göttlichen Selbstentschlusses versteht.
Indem Hegel die spekulative Vermittlung der grundlosen Freiheit Gottes und seine aus ihr begrün-
dete Transzendenz überspringt, wird der freiheitliche, vielfach vermittelte Entschluß Gottes zur Not-
wendigkeit seines Wesens. Also wird die Nicht-identität als „ordo idearum“ wie als das Hervortreten
des Seienden wesenseinig mit Gott verspannt. Gott ist „Identität“ und zugleich wesenhaft und not-
wendig der Austrag der Nicht-identität in ihrer vollen Breite. Die Welt wie die Natur ist das not-

33
Vgl. Gustav Siewerth, Der Thomismus als Identitätssystem, 2. Aufl. 1961, S. 31-40 .

161
wendig entspringende Resultat des göttlichen Denkens, wie Gott der ewige Ausgang seiner selbst ins
Ausgegangensein des Seienden ist. Er ist daher nie „Substanz“ oder „Sein“, sondern das nicht-
identische „Werden in das Nichtsein und aus dem Nichtsein“. Also ist er nie absolutes Fürsichsein
und als solcher der freie Grund seiner Hervorgänge, sondern je immer schon sein Ausgegangensein
in die Objektivität in „konkretester Konkretion“. Daher bleibt es von vornherein offen, wieweit er in
diese Nichtidentität verstrickt und in sie aufgegangen ist oder in welchem Maße Identität und Nicht-
identität wie zwei bestehende Pole sich gegenüber stehenbleiben. Offenbar west er gleichursprünglich als
natura naturans et naturata wie als identisches Subjekt.
Daraus ergibt sich, daß Gottes Wesen nicht mehr zu fassen ist. Ist er Substanz und Identität der Iden-
tität, so ist die Differenz der Nicht-Identität der Nichtigkeit anheimgegeben.
Ist er der Entschluß der Idealität, so hat er denkend alle Nicht-Identität bereits in ewiger Gegenwart
versammelt. Ist er aber der notwendige Fall ins Andere, so west er gleichgültig in jeder Phase des
Andersseins. Dann ist nicht mehr auszumachen, was im Widerstreit von Sein und Nichts, von Einheit und
Vielheit, von gleichgewichtiger Selbigkeit und Andersheit sein Wesen ist.
Denn dieses könnte ebenso im Offenbarwerden der Andersheit gegenüber dem Einen, wie des Einen ge-
genüber dem Anderen, wie im gleichlaufenden Nebeneinander von Identitäts- und Differenzweisen,
und zwar in unentschiedener Fülle geschehen, wie schließlich in einem sich ewig fortwälzenden Kreislauf
von Identifizierung und Auflösung. In der Verflüssigung und Nivellierung aller innergöttlichen Diffe-
renzen gewinnt diese Philosophie den Anschein eines abgründigen Tiefsinns, während sie in Wahrheit
einer spekulativen Schwäche erliegt und deshalb im Alles-Sagen nichts Faßbares mehr zum Ausdruck
bringt.

b) Die unaufhebbare Andersheit des denkenden Subjekts

Diese Schwäche enthüllt zugleich die Unfaßbarkeit der Position des Philosophierenden selbst. Denn
ist der Prozeß Gottes reines Denken, so ist auch der „Unterschied“ nur ideell und hält sich wie die ihn
denkende Spekulation in der irrealen Schwebe eines im Denken (immer schon) ausgetragenen Pro-
zesses, der die Nichtidentität ewig ein- und überholt hat. Solchermaßen ist das Werk der „Logik“ auch
schon in seinem Beginnen des Resultates versichert und wäre ohne das Bewußtsein der Aufgehobenheit
aller Unterschiede nie begonnen worden.
Ist jedoch der göttliche Entschluß im Modus der Seienden und der Natur realisiert, so ist auch der Her-
vorgang nicht wiederholbar. Denn Gottes Entschluß waltet aus einer uneinholbaren Tiefe, womit er
zugleich das endliche Subjekt unaufhebbar in die Andersheit entlassen hat. Auch die abstrakteste Weise,
sich als reines Ich in den Äther des Absoluten zu erheben, vermittelt diesem Ich nur den Schein einer
Identität mit dem Absoluten, kraft dessen es zwar ein blasses Nachbild des Spiels von denkender Iden-
tität und Nichtidentität entfalten, aber nirgend auch nur eine Spur der hervorbringenden Schöpfung
oder einer sich real aufspaltenden Substanz nachvollziehen kann. Die Spekulation west daher durch-

162
aus rezeptiv, endlich und in teilhabender Differenz aus dem uneinholbaren Geschehen des Absoluten
und hält sich in der Differenz der endlichen Entäußerung.
Würde man sagen: Es sei selbstverständlich, daß Gottes Wesen in der Vermittlung existent ist und
daß die Subjektivität diese ihre „Gesetztheit“ nur im schon vollzogenen Akt des Absoluten und
durch ihn hindurch in dessen Leben kehren kann, so hätte man damit zugestanden, daß die sich
selbst denkende Subjektivität im Prozeß der Philosophie eben nicht diesen Ausgang des Aktes voll-
zieht und deshalb nur eine vom Absoluten her vermittelte „Teilhabe“ darstellt, die den Modus ihrer
Andersheit und Gesetztheit nicht real übersteigt. Nur deshalb ereignet sie sich in der Prävalenz der
Nichtidentität oder im Modus des Widerspruchs, weil sie ihre nachbildliche und vermittelte Teilhabe
sach- und wesenswidrig mit der absoluten Subjektivität identifiziert.

c) Die Herkunft des Scheins der Identität

Dennoch bleibt zu sagen, woher dieser erstaunliche Schein der absoluten „Identität“ waltet. Man muß
sich, tritt man diese Aufgabe an, an all das erinnern, was über die metaphysische Grundlegung der
modernen idealistischen Subjektivität am Anfang dieser Erörterung gesagt wurde. Die Notwendig-
keit aus dem Seienden des Seins gedachter Folgerungen ist mächtiger als die Aufdring-lichkeit un-
mittelbarer Phänomene. Ist einmal das in sich reflektierte Subjekt als absolute individuierte Sub-
stanz und als produktiver Wirkgrund seiner Konzepte und Intentionen begriffen, ist das „Sein als sol-
ches“, als höchste „Gattung“ in der Ordnung der Begriffe angesiedelt, hat es im Raum der absolut
verstandenen „Essenzen“ keine Entsprechung als die ihrer „objektiven“ Gedachtheit oder ihrer göttli-
chen „Gesetztheit“, so wird die „Wahrheit des Denkens“ mit den logischen Synthesen apriorischer Kon-
zepte oder ihrer absoluten (ideellen) Ermöglichung, d. h. ihrer widersprüchlichen Objektivierung und
Konstituierung identisch. Dann läßt sich das Ansich-Sein des Wirklichen nur noch über den ontolo-
gistisch (in reinen Begriffen) offenbaren Gott und den „ordo ad esse“ der göttlichen Ideen „deduzieren“,
oder aber das Subjekt bleibt unaufhebbar im Gewebe seiner endlichen Objektivationen beschlossen.
Indem sich dieser Subjektivierungsprozeß im Fortgang bei Descartes, Leibniz und Wolff systemati-
siert und bei Kant seine kritische Ausprägung erhält, werden sowohl die Erstreckungs- und Zeiti-
gungsweisen der Dinge als „Erscheinungsweisen“ entwirklicht und als Anschauungs„formen“ formal
subjektiviert, wie auch die das Satzgefüge tragenden Beziehungsmodi der Logik als sach- oder ob-
jektkonstitutive „Kategorien“ dem Verstande zugesprochen werden. Dieser setzt sie einerseits auf un-
ableitbare und mechanische Weise, andererseits in denkender Befragung des Gegebenen in Funktion
und konstitutiert in Einheit mit den Anschauungsformen seine „Objekte“, wobei die sinnliche Affektion
(wie bei Suarez) nur noch auslösend beiherspielt. Diese „Kunst des menschlichen Verstandes“ gewährt
daher allem, was „erscheint“ und als „Gegenstand erkannt“ wird, auf undurchdringliche Weise
„Dasein“, „Substantialität“, „Wirksamkeit“ und „Wechselwirksamkeit“, „Möglichkeit“, „Notwen-
digkeit“, „Einheit“ und „Vielheit“, „Ausdehnung“ und „Zeitlichkeit“.

163
Diese erstaunliche Annahme, daß die Dinge, die Pflanzen, Tiere und Mitmenschen nur deshalb für den
Menschen „Dasein, Wirksamkeit, Einheit und Vielheit“ haben, weil diese jeweils vom „Subjekt“ in
den schon subjektiv bestimmten Erscheinungsmodus eines unbekannten „Dings an sich“ hinein-
„gesehen“ (Hegel), besser hinein-„gesetzt“ und durch einen geistigen Mechanismus „synthetisierend“
„hineingebaut“ (konstituiert) wurden, wäre den vom Sein her denkenden Griechen als eine Vergewal-
tigung des Denkens erschienen. Aristoteles hätte darauf verwiesen, daß hier die „auflichtende“ Tätig-
keit des nous poietikos, der alles in die Helle des Geistes bringt, was vorgängig sich den „empfängli-
chen Sinnen“ in seiner vollendeten Formalität darbot, mit der göttlichen Fügung des Seienden gleich-
gesetzt wurde. Er hätte geltend gemacht, daß es keinen Grund gibt, dem göttlichen Grund des walten-
den Seins die Fähigkeit abzusprechen, einem „vernehmendem“ Subjekt durch die Macht des göttlich
gefügten und im nous göttlich lichtenden Seienden das anzutun, was es selber jedem Gegenstand und
allem Seienden anzutun sich anmaßt. Er hätte auf den Widersinn aufmerksam gemacht, von „Erschei-
nungen“ und „Affektionen“ oder vom „unbekannten Ding an sich“ zu sprechen, wenn erstens gar
nichts aufweisbar ist, was erscheint und zweitens vor dem „Kategorial“ verschenkten „Dasein“ und
der „Möglichkeit“ doch nur das bare „Nichts“ vorwalten kann, worauf Hegel mit Recht hinweist.
Bedenkt man dies, dann erst wird man die Not und Notwendigkeit begreifen, in die das durch die
Theologie individualisierte und durchformalisierte (empfängnislose) Subjekt geraten war, und die
Gewalt, die es einem seinsvergessenen Denken antat, das sich in die substanzlose Allgemeinheit seiner
„Begriffe“ eingesponnen hatte und seine rationale Verknüpfungssystematik sowie einen Möglichkeits-
entwurf irrealer „Ideen“ für das Wesen der Philosophie hielt.
Was in diesem Denken seins- und geistesgeschichtlich hervortrat, war dies, daß alles, was erschien
und gedacht wurde, daß alle „Gegenständlichkeit“ ein immer je aus dem Subjektgrund hervorgebrach-
tes Produkt war. Also war der Mensch in einer Welt, die er fortgesetzt mit einer verborgenen Syntheti-
sierungsmechanik selber konstituierte und setzte. Da diese Setzung sich zudem als Ausschnitt inner-
halb der dreifachen Unendlichkeiten eines idealen „Ich“, eines idealen „Ganzen von Welt“ und des u-
niversalen idealen „Seins“ vollzog, so war sie, worauf wiederum Hegel hinweist, entweder entspre-
chend der ideellen „Möglichkeit“ dieser Ideen, selber durch und durch nichtig, nämlich eine Setzung
aus dem „Nur-Möglichen“ ins „Nur Mögliche“ (ein offenbarer Widersinn, den man keinem Denken-
den zumuten konnte) - oder aber die im Denken doch gar nicht überschreitbare „Unendlichkeit des
reinen Seins“ war als Grund der Möglichkeit aller Objektivität und Realität selber „real“. In diesem
Falle aber war der Konsequenz nicht zu entgehen, daß dann die objektivierende und konstituierende
Setzung des transzendentalen Subjektes identisch wird mit der archetypischen, ideellen Produktion der
gesamten Wirklichkeit, wozu dann freilich auch das Subjekt in seiner empirischen Vereinzelung selber
gehört.
Damit aber fällt die Differenz zwischen dem Denken des Menschen und Gottes dahin, wie das Denken
schlichthin als produktiver Grund aller Wirklichkeit fungiert. Also war nicht nur die göttliche Idealität
unmittelbar zur göttlichen Selbstunterscheidung geworden, sondern diese ursprüngliche Differenz ist

164
zugleich die von Denken und Objektivierung überhaupt, so daß die göttliche Idealität mit der Objekti-
vierung des menschlichen Verstandes (und der Vernunft) zusammenfiel. In allem Denken geschieht
daher fortgesetzt eine Selbstauszeugung Gottes, ein Entwurf der göttlichen Idealität, eine schöpferi-
sche Konstituierung von Welt und eine rationale Objektivierung von begrifflich verfaßter Wahrheit.

d) Der Widerspruch in der logischen Seinskonstitution

Diese Nivellierung der aus dem Sein des Seienden gedachten Differenzen in einen göttlichen Unter-
schied läßt nun den Widerspruch in der „Differenz“ wie in der „Identität“ grell aufspringen.
Denn folgerichtig wird das, was „Erscheinung“ oder einem denkenden Subjekt je vorgegebene „Wirk-
lichkeit“ des Seienden ist, nicht mehr verständlich, da es ja immer im Ganzen seiner selbst als Anders-
heit der denkenden Subjektivität erst hervorgehen und ermöglicht werden muß. Der Unterschied zwi-
schen „Realität“ und konstituierender „Idealität“ des reinen Denkens ist radikal aufgehoben. Was wir
an sich seiende Welt nennen, ist ein Schein, der in jeder absoluten Reflexion des Denkens auf sich
selbst verschwinden müßte. Aber zugleich tritt mit derselben Notwendigkeit das Gegenteil hervor.
Denn da dieses absolute Ich das göttliche ist, das im Denken seiner selbst immer und ewig die Welt in
ihrer ganzen Fülle schon gesetzt hat und nur in dieser setzenden Differenz seine Wirklichkeit hat, so
kann es kein „setzendes“ Denken geben, dem nicht je schon das „Entgegengesetzte“ zuvorgekommen ist,
zumal dieses denkende „Ich“ als „empirische Individualität“ je schon gegeben ist und dem An-sich-sein
des Seienden gemäß von der absoluten Substanz her (d. h. durch den konstituierenden Verstand) ins
Bestehen kam. Nimmt es dieses Entgegengesetzte auf, so ist es wesenhaft nicht mehr hervorbringende
Produktion, sondern vernehmende, empfangende Vernunft. Ist es aber hervorgehen lassende Setzung,
so muß es, wie es sich selbst als Individualität hervorbringen und setzen muß, zugleich und zuvor das
schon Bestehende (also auch sich selbst) negieren und vernichten. Das Absolute benimmt sich also im
Einigen dieser Differenz wie ein Wesen, das fortgesetzt Welt produziert, um sie zugleich und im sel-
ben Akt zu vernichten. Der Denkende vernichtet jedoch alles Seiende nur, um Seiendes sein zu lassen.
Dieses sinnwidrige Geschäft hält der Hegelsche Geist jedoch nur durch, sofern er die vorausgesetzte Ni-
vellierung der Differenzen, der er seinen archetypischen gottgleichen Thron verdankt, wieder aufhebt
und der ideellen Differenz des sich denkenden Absoluten die Realität des Seienden radikal entgegen-
setzt. Dann geschieht das Denken der „Logik“ im reinen Äther der Idealität und entfaltet sich als
„die Darstellung Gottes, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines
endlichen Geistes ist“34.
Aber auch diese Aussage widerstreitet dem Gang der Logik, sofern deren Denken schon in den ersten
Schritten in der Auslöschung der Differenz von Sein und Nichts aus seiner reinen Einfachheit und I-
dentität ins „Werden“ übergeht und als „Dasein“ sich qualifiziert und determiniert. Der Geist wird als
denkende Logik „konkret“ und läßt Natur und Geschichte bis zur Konstituierung des wirklichen geisti-

34
„Wissenschaft der Logik“, Einleitung S. 31.

165
gen Reiches der Idee als „daseiend“ erfolgen. Denn er hat ja in der Identifizierung von Sein und
Nichts „nichts“ mehr außerhalb dieses Prozesses gelassen. Deshalb wird die Logik als das „reine
Wissen“ bestimmt als „konkrete lebendige Einheit, daß in ihr der Gegensatz des Bewußtseins von ei-
nem subjektiv für sich Seienden und von einem Objektiven als überwunden... gewußt wird“ 35 .
Hegel hat also von Anfang an beides „aufgehoben“: Die subjektive Idealität in das Andere der abso-
luten Objektivität und Konkretion und alles Anderssein in den reinen Äther der absoluten Logik.
Also war es eine unzureichende Behauptung, daß Gottes ewiges „Wesen“ hier entfaltet wurde, weil
es ja in jedem Moment durch das Geschehen der Zeit läuft und nur als geschichtlicher Hervorgang
gedacht werden kann. Demgemäß geht die Logik kontinuierlich ins konstituierende und konstituierte
„Dasein“ über oder in die absolute Er- und Ent-schlossenheit. Sie west daher immer schon im erfolgten
ewigen Entschluß und stellt dessen absolute Erschließung als Hervorgang dar.
In Wahrheit kann jedoch aus der nivellierten Identität von Sein und Nichts und der absoluten Diffe-
renz nichts mehr logisch erfolgen. Hegel opfert vielmehr, wie man leicht nachweisen kann, in jedem
Schritt seiner archetypischen Weltkonstitution die Gewalt der Nichtidentität oder des Nichtseins
wider seine Voraussetzungen der Identität. So läßt er das „Verschwinden des Verschwindens“ als „Ver-
schwinden des Werdens“ ins „Dasein“ übergehen,36 während er ebenso das „Bestehen des Verschwin-
dens“ oder „das Verschwinden des Bestehens“ ins „Nichts“ deduzieren könnte. Ohne diese Vernachläs-
sigung zweier spekulativ gleichgewichtiger Möglichkeiten könnte Hegel tatsächlich keinen Schritt sei-
ner Logik vollziehen und bliebe in der anfänglichen Identifizierung des abstrakten „ens ut sic“ mit dem
abstrakten „Nichts“ des potentiellen Verstandes gefangen. Indem er diese Gefangenschaft sprengt und
aus der Verselbigung von Sein und Nichts über das „Werden“ ins „Dasein“, in „die ruhige Ein-
fachheit“, die „Sein“ ist, übergeht, hat er den Raum der Begriffslogik verlassen und ist in den der
spekulativen Metaphysik eingetreten. Das Sein wird dann zum aktuierenden Grund, der das Nichtsein
(der endlichen Wesen und Bestimmungen) als die Potenz seiner Verwirklichung zu eigen hat. Insofern
Hegel diese Seinskonstituierung in seiner Logik immer mitvollzieht, gewinnt sein Werk eine be-
wundernswürdige spekulative Tiefe. Ihre Deutung, wie der Aufweis ihrer Nähe zu der Konstituie-
rung des Seienden und des Universums, wie der personierenden Transzendenz des spekulati-
ven Thomismus ist eine bedeutsame Aufgabe.37
Dabei vollzieht Hegel seine „Deduktionen“ so, daß er die Bestimmungen der schon gesetzten Natur
und der geschehenen Geschichte entnimmt, wie es einer rezeptiven Vernunft entspricht. Ohne
diese Rezeptivität könnte er seinen Begriffen keine Gehalte und keine Farben aufsetzen. So be-
zeichnet er den Übergang ins „Dasein“ als „Qualifizierung“38. Würde man solche „Qualifizierung“
als „ein ganz Einfaches, Unmittelbares“, als „seiende Bestimmtheit“, als „Realität“, die sich
„durch Negation überhaupt“ „als Grenze oder Schranke bestimmt“ und als „Eigenschaft“ „in einer

35
Ebd. S. 42.
36
Ebd. S. 93.
37
Vgl. Gustav Siewerth, Der Thomismus als Identitätssystem, 2. Aufl. (1961), S. 31.40.
38
„Wiss. d. Logik“, S. 97 f.

166
äußerlichen Beziehung sich als immanente Bestimmung zeigt“39, als „Farbe oder Gestalt“, von einem
Blinden „denkend“ erfolgen lassen, so würde sich mit Evidenz ergeben, daß hier nichts „gesetzt“, son-
dern „leeres Stroh“ gedroschen wird, dessen Körner aus nachbarlichen Tennen entwendet und zu philo-
sophischer Deutung „rezipiert“ wurden.
Hegel kann sich daher nur deshalb in der einfachen absoluten Differenz bewegen, weil er die Diffe-
renz von Idealität und Realität voraussetzt und bald eine Sphäre gegen die andere „tauscht“. So aber
ereignet sich eine fortgesetzte „Täuschung“, die deswegen nicht durchschaut wird und sich einer Kritik
entzieht, weil der aufbrechende „Widerspruch“ stumpf und kraftlos gemacht werden kann. Er läßt
sich ja jeweils auf die „absolute Differenz und Identität“ von Sein und Nichtsein, Einheit und Viel-
heit, Subjektivität und Objektivität zurückführen. Da diese Differenz „immer schon“ im menschlichen
Denken waltet, so ist der „logische Hervorgang“ oder die „Begründung“ gleichursprünglich
auch ein „absolvierender Rückgang“ aus der Andersheit in den Grund. So aber wird dem Denkenden
verschleiert, daß dieser erste „Widerspruch“ selber nicht weniger problematisch ist und echte Diffe-
renzen und Verselbigungen mit unmöglichen identifiziert hat. So waltet der Schein nahezu unauf-
hebbar, weil man von einer Verschleifung in die andere hinüberwechselt, wobei die komprehensive Zu-
sammenfassung aller Unterschiede in einen und aller Verselbigungen in eine es auch einem spekulativ
geschulten Denker nahezu unmöglich macht, jeweils Scheinhaftes und Seinsgemäßes zu unterschei-
den und dem Gefängnis der Logik zu entrinnen. Die immer mitwaltende großartige Konstitutions-
spekulation läßt ihn leicht erblinden gegenüber der Bodenlosigkeit und Scheinhaftigkeit vieler Vollzü-
ge.
Weil also Hegel seine Logik in der Idealität vollzieht und seine realen Erfolgungen der schon
erfolgten Realität entnimmt, bleibt er selbst im Schein befangen, sich in der Idealität zu bewegen,
wiewohl fortgesetzt das Denken sich konkretisiert und den göttlichen Entschluß über die konstituierte
Natur in die Urteilsschlüsse der spekulativen Wahrheit vorantreibt. Deshalb endet die Logik mit
dem Übergang des Absoluten in den Entschluß, was entweder der Ausdruck einer absoluten Verzweif-
lung, eines Sich-fort-wälzen der Identität in die Nichtidentität oder die Offenbarung eines spekula-
tiven Sophisma ist, das eines Denkers unwürdig ist.
Im Grunde ereignet sich in später Wiederholung eine Position der scotistischen und suarezianischen
Metaphysik, die unter Überspringung der Seinskonstitution die vollendete durchformalisierte Individu-
alität in Gottes Denken ansiedelte und das Sein mit dieser „ideellen Möglichkeit“ und ihrem „ordo
ad esse“ gleichsetzte. Da es spekulativ nicht mehr faßbar ist, warum diese Formen (wie die reinen
Sternengeister der Antike im ewigen Äther) nicht schon in Gott ein seliges Leben haben, so muß Sco-
tus den Vorgang der Schöpfung wie einen „Sündenfall“ darstellen, indem er ihn als „positio ad extra“,
als eine „Setzung ins Nichtgöttliche“ bestimmt, wobei er weder sagen kann, was dieses „extra“ ist,
noch auch, wieso eine Entfremdung gegenüber Gott so etwas Positives wie eine „Schöpfung“ sein kann.

39
Ebd. S. 101.

167
Der gleiche Widerspruch ereignet sich im Geschichtsgang der logisierten Theologie bei Hegel, wenn er
die vollendete Konkretion des sich selbst ins Andere und Konkrete denkenden Denkens nach ihrer
Vollendung in den Entschluß, sich zu realisieren, aufbrechen läßt.
Es zeigt sich darin auch dies, daß Gott als Subjekt sich nicht nur selbst denkend entfaltet, sondern daß
er als „Identität der Nichtidentität“ seinen „Anfang“ auch immer schon in seinem „Nichtsubjekt“-sein
hat und sich deshalb uranfänglich aus seiner Entfremdung im „Sein“ und „Nichtsein“, in die ge-
setzte Dinglichkeit und die „Natur“ zu sich selbst zurückholen muß, um sich als absolutes Sub-
jekt oder als Identität der Nichtidentität zu wissen. Deshalb gibt es im Hegelschen Denken zwei gleich-
gewichtige Möglichkeiten: Die eine ist, vom ewigen Subjekt zur Natur und Geschichte überzugehen;
die andere ist, den absoluten Geist in seiner Subjektivität aus Natur und Geschichte werdend zu sich
selbst finden zu lassen. Die dialektische ideelle Logik wie der dialektische Materialismus, beide
als Werdegänge des Absoluten, haben in dieser „Theologie“ die gleiche göttliche Weihe emp-
fangen.

e) Die Unaufhebbarkeit des Widerspruchs in der Differenz

Die Logik Hegels bewegt sich daher in einem währenden unaufhebbaren Widerspruch.
1. Sie muß in einen Entschluß übergehen, der schon ewig erfolgt ist und dessen Entfaltung und Reali-
sierung das Geschäft der Logik bedeutet.
2. Wiewohl alles „absolut“ in der konkretisierenden Durchdringung von Sein und Nichts sich voll-
zieht, wird dennoch nichts konstituiert:
a) weil alles schon konstituiert ist,
b) weil alles sich in der Idealität vollzieht.
3. Sofern also Hegel nichts konstituiert, ist die Differenz rein ideell. Die Bestimmungen sind im
Prozeß des Denkens, in seiner anfänglichen Identität und schließlich in der Vollendung des Systems
radikal aufgehoben, so daß die Differenz nie real wird. Also ist sie nichtig und gewichtlos. Meta-
physisch erscheint hier dies, daß das göttliche Denken als differentes nicht anders begriffen werden
kann, als daß es seine rationes und Ideen als ein Produkt seiner ewig vollendeten Selbstdurchdringung
ins Vollendete und Einige seines geistigen Lebens aufgehoben hat. Also kann Thomas sagen, daß „die
Ideen Gott selber sind“. Es gibt weder ein „Außerhalb“ und „Gegenüber“ Gottes, da ja schon das Nichts
ein Produkt seines Denkens ist. In Gottes Denken ist daher die ideale Differenz in der vielfachen Wei-
se „nichtig“, wie es eingangs gekennzeichnet wurde.40
4. Zugleich ist bei Hegel die Differenz unendlich, sofern ihre absolute Differierung immerfort die Na-
tur wie die konkrete Geschichte außer und neben sich hat und an keiner Stelle den göttlichen Schöp-
fungsakt einholt. In der Unendlichkeit dieser Verschiedenheit aber wird die spekulative Differenz sel-
ber im schlechten Sinne unendlich. Sie entgeht daher dem Begriff und waltet in unaufhebbarem Dunkel

40
Vgl. Gustav Siewerth, Der Thomismus als Identitätssystem, 2. Aufl. (1961), S. 31-40.

168
ihrer Faktizität. Hierbei tritt die Wahrheit hervor, daß erstens kein spekulativer Schritt von der Ide-
alität zur Realisierung möglich ist, weil zwischen beiden die „Grundlosigkeit der göttlichen Freiheit“
waltet. Zweitens rührt daher das apriorische Setzen des menschlichen Denkens nirgends an dem göttli-
chen Hervorgang selbst. Wie es sich als absolut unfähig erweist, göttlich Gesetztes real erfolgen
zu lassen, so gelangt es im spekulativen Prozeß auch nur zu einer „imaginären“ Versöhnung „in der
santa casa (der Logik) heiligen Registern“41. Die geschichtliche Realität, insbesondere das Verhältnis
von „Gesellschaft“ und Staat klafft in unerträglicher Differenz.42
5. Die Differenz waltet daher im Geschehen einer nachbildlichen Teilhabe, so daß sich sowohl die
Differierung wie die Absolvenz außerhalb der absoluten Identität und Nichtidentität vollzieht. In die-
sem Fall aber ist die „Differenz“ in sich selbst „different“ gegen ihren Grund, dem sie ihre Ermögli-
chung, ihre Teilhabe, aber auch ihre unüberschreitbare Grenze dankt. Dies drückt sich darin aus, daß
die „Logik“ die Idealität des Absoluten nachbildlich abbildet und nicht archetypisch schöpferisch
waltet; daß sie der daseienden „Gesetztheit“ bedürftig ist, um die göttlichen Prozesse teilhaft und a-
nalog, d. h. in spekulativer Deutung des gegebenen Seienden des Seins, zu erhellen; daß sie schließ-
lich im Abstrakten eines endlichen Subjektes sich vollzieht und beziehungslos zur Realität ihr Spiel
treibt.
Nur unter der Voraussetzung, daß Gott seine Wesenstiefe offenbart hat und die menschliche Geschich-
te sich von Gott her ereignet, ist anzunehmen, daß das, was der Mensch als wirklich und als Er-
möglichung dieses Wirklichen denkt (und damit sein spekulatives Denken selbst), ins Ereignis der Of-
fenbarung oder das Kommen Gottes gehört und solchermaßen Gottes Walten in ihm Ereignis wird. Aber
es ist dann nicht auszumachen, in welchem Maße dieses Gedachte gegenüber Gottes Walten defizient
ist und deshalb von ihm überwaltet ist.
Diese verbleibende „Differenz zur göttlichen Differenz“ in ihrem vollen Gewicht zu entschleiern,
dazu bedarf es der sorgsamen Unterscheidungen und der Ausfaltung dessen, was im Einigen und Dif-
ferenten des Seins des Seienden wie in der Offenbarung Gottes waltet. Nur wenn dies in der nüchter-
nen Helle der spekulativen Theologie des Aquinaten geschieht, kann die philosophische Arbeit Hegels
positiv gewürdigt und die Beirrung dieses Denkens entschleiert werden.

Der Widerspruch im Wesen des Verstandesund die Wahrheit des Seins

Dieselbe auflösende Widersprüchlichkeit der Differenz waltet im Wesen des Verstandes.


Als Natura naturans und naturata ist das Absolute die Unmittelbarkeit des An-sich-Seienden als rei-
nes Scheinen und Erscheinen. Wie es die denkenden Subjekte in ihrer Vielheit als Voraussetzung sei-
nes Erscheinens setzte, so sind auch die Dinge als scheinend-erscheinende immer schon im Sich-
41
Karl Marx, Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie, in: Die Frühschriften, herausgegeben von S. Landshut (1953), S.
24 und 29.
42
Vgl. Gustav Siewerth, Der Triumph der Verzweiflung, in: „Häresien der Gegenwart“ 1961

169
selbst-Denken der absoluten Substanz (und ihrer absoluten Entäußerung ins Objektive und Andere) ins
Dasein und ins Walten gekommen. Sie sind mindestens so „wirklich“ wie alles das, was in den Subjek-
ten selbst als ihre endliche und empirische „Individualität“ anwest. Diesem An-sich-Seienden gegenüber
ist das menschliche Subjekt (gemäß der denkenden Subjekt-Objekt-Identität durch das unendliche
intellektuelle Anschauen und die kategoriale, setzende Synthesis) konstituierender Verstand. Durch
diese Verständigkeit kommt das scheinende Erscheinen ins An-sich-sein des „Daseins“, ins
gründend-ergründete „Wesen“ und Anwesen, ins vernünftige „Sein des Seienden“, wie das Subjekt in
die Geschichte seiner absoluten Ermächtigung und absolvierenden Aufhebung.
Auch hier waltet ein zerstörender, auflösender Widerspruch:
1. Dem „konstituierenden Verstand“ ist immer schon die Setzung ins An-sich-sein des scheinenden Er-
scheinens und der denkenden Subjekte selbst vorausgegangen, was als Ausgang des denkenden Absolu-
ten in die Andersheit nur als „denkende Konstituierung“ und „Objektivierung“ begriffen werden
kann. Also geschieht die Setzung, die der menschliche Verstand vollzieht, entweder außerhalb des Ab-
soluten, so daß eine nicht mehr begründbare Verdoppelung vorwaltet; oder aber sie ist mit der absolu-
ten identisch. In diesem Falle aber muß entweder die zweite die erste im Setzen zugleich zerstören,
oder aber sie wird überflüssig, weil das Erscheinende schon sein Gesetzt- und An-sich-sein voraussetzt.
2. Deshalb ist die „Setzung des Verstandes“ nicht mehr als gründende Konstituierung, als „Synthesis
apriori“ begreifbar; sie waltet vielmehr als durchschauende Absolvenz des schon Gesetzten in seine
konstituierenden Gründe, um es so in den vernünftigen Begriff für ein vernünftiges Begreifen zu brin-
gen.
Würde die begreifende Analyse aber eine reale Verflüssigung des An-sich-Seienden als eines „nur
Erscheinenden“ sein, so träte sie wiederum als sinnwidrige Vernichtung eines absolut gesetzten Bestan-
des hervor. Will man diesem Schluß entgehen, so bleibt nur die Möglichkeit, den Verstand als Durch-
lichtung der Erscheinung zu begreifen, und zwar als ihre Eingründung auf ihr schon gesetztes Ansichsein
hin, womit die Erscheinung selbst einer schon seienden Sache zufällt, wie diese darin zur Erscheinung
oder „in die Wahrheit“ kommt. Zugleich aber bezieht der Verstand die Sache als erkannte damit auf
das endliche Subjekt, das sich selbst als „vernehmendes“ Subjekt begreift und seiner Teilhabe
am Absoluten inne wird.
Solchermaßen ist der Verstand ein hinüber-weisender Logos, der die aufgelösten Erscheinungen in den
Grund der Sache und sich selbst in seiner begreifenden Subjektivität auf das Absolute hin bezieht.
Was er jeweils im „Ist“-Sagen denkend setzt, ist daher das „Sein der Wahrheit“, worin er die Un-
mittelbarkeit des aus dem göttlichen Denken entströmten (geschaffenen) Seienden des Seins in das ihm
Wesenhafte seines Erscheinens und seiner geistigen Tiefe bringt.
Die Seins-Konstitution des vernünftigen Verstandes bei Hegel gewinnt durch diese Betrachtung ihre
Wahrheit wie ihre Tiefe. Denn nach Thomas ist das esse oder der actus essendi „real“ distinkt gegen
die Wesensform, besonders gegen die materielle. Nimmt man diese „reale“ Unterscheidung ernst, so
ergibt sich die unausweichliche Folgerung, daß das Sein, das in den Seienden zur Subsistenz kommt, in

170
seiner gründenden Tiefe als „perfectissimum“ und „formalissimum“ der Dinge „Geist“ ist, das mit
dem esse selbst zur „Verwirklichung“ drängt. Denn „omne ens sine materia est intelligens“. Al-
so ist die Folgerung, daß dieses esse, wie es in den Seienden zur Subsistenz, so erst im denkenden
Geist in sein eigentliches verborgenes Wesen, in seine Wahrheit und darin zur Reflexion auf sich sel-
ber kommt. Daher ereignet sich im „Ist“-Sagen des denkenden und erkennenden Verstandes oder der
Vernunft in der Tat etwas wie eine „Setzung“, die im Urteil des intellectus dividens et componens
sich vollzieht.43 Wiederum enthüllt sich uns so die Tiefe Hegelschen Denkens, die die unmittelbare
Seinsmetaphysik übersteigt und in der Auseinandersetzung zwingt, ihre ganze spekulative Tiefe
aufzuschließen.
3. Weil Hegel die Differenz von Sein- und Wahrsein im absoluten Unterschied aufgehen läßt, steht
bei ihm das „abstrakte Ansichsein“ des Begriffes als eine konstituierende Setzung des Verstandes der
göttlichen Setzung widersprüchlich gegenüber. Der synthetisierende, d. h. aufhebend waltende
Verstand wird daher gegenüber der Identität der göttlichen Vernunft in widersprüchlicher Weise ein ab-
solut differenzierender Objektivierungsprozeß. Er ist empfängliches, vernehmendes Bestimmtwerden
durch das scheinende Erscheinen. Zugleich ist er in unvereinbarer Gegensätzlichkeit noumenale (ver-
nünftige), konstituierende Gründung. Gegenüber dieser Weise seins- und vernunftgemäßen Setzens ist
er wiederum widersprüchlich die Macht der sich antinomisch verhärtenden absoluten Entfremdung.44
Diese Widersprüche sind allesamt unvereinbar und lassen sich nicht „dialektisch“ in ein Drittes auf-
heben. Denn es erscheint, daß die Bewegung des Denkens als absolute je schon vollzogen ist, so daß
die Tätigkeit des endlichen Subjektes sie nicht mehr ersetzen kann, sondern nur noch als eine neue po-
sitive Möglichkeit in ihr und mit ihr auf die Ermächtigung der endlichen Subjektivität hin verlau-
fen kann. Dann aber wird der „Verstand“ in Einheit mit dem metaphysisch gedeuteten nous oder in-
tellectus zu einem Prozeß, der das göttlich Gesetzte und ins Erscheinen Gebrachte auf sein
Wahrsein hin vollendet. Er ist dienende, verknüpfende ratio oder Logos, der „sehen läßt“, um alles ins
ursprünglich offenbare Wahrsein zu bringen. So aber waltet er selbst als ein Entsprungenes und Zuge-
höriges des Seins des Seienden. Ausgezeichnet durch eine „Teilhabe am Sein selbst“ „setzt“ er alles
Seiende und Erscheinende „in die Wahrheit“, indem er es auf das Sein hin „reduziert“ und „absol-
viert“. Er denkt es über das Sein auf das Absolute hin zurück, wie er es aus und in ihm als absolute
Wahrheit eröffnet und setzt. Diesem absoluten Grund gegenüber verhält er sich daher als ein teilneh-
mendes Abbild, das freilich dem absoluten gegenüber in solcher Tiefe eröffnet ist, daß dessen ge-
schichtliches Sich-Offenbaren in ihm als göttliche Ermächtigung Ereignis werden kann.
Wird er aber, wie bei Hegel, absoluter Verstand, so ist er selber der Auf- und Ausbruch des Absolu-
ten in die Objektivität und Andersheit. Dann aber dirimiert er das An-sich-sein des Erscheinenden, weil
er noch gar nichts „gegenüber“ hat, und setzt das Objekt absolut ins Dasein. Dem aber widerspricht er
insofern, als er einerseits Erscheinungen ins Wesen und Sein denkt, sie also aufs Für-sich-sein des ab-
soluten Subjektes absolviert, wie er sie zugleich in absolut entgegengesetzter Richtung in die bor-

43
Vgl. Gustav Siewerth, Das Schicksal der Metaphysik, S. 238-241
44
Ebd. S. 270-273.

171
nierte Objektivität denkt und sie so gegen das Absolute verhärtet. Der Verstand ist schöpferisches
konstituierendes Leben, empfängliche Potenz, synthetisierende Einigung und der zerreißende trennende
Tod zugleich; er ist in sich selbst ein sich zunichte machender „Widerspruch“.

Die Antinomien der denkenden Reflexion

Eine dritte Untersuchung zeitigt dasselbe Ergebnis. Hebt sich nämlich das Denken als „res cogitans“,
als „absolute Substanz“ oder „absolutes Ich“ (Descartes, Spinoza, Fichte) in den reinen Äther der un-
endlichen Subjektivität, ins reine Denken oder Sein, so kreist es anfänglich im Widerspruch seiner
leeren Abstraktheit und der je vereinzelten Konkretheit seines denkenden Vollzugs. Wird diese abs-
trakte, bestimmungslose Allgemeinheit als das Absolute begriffen, so erhebt sie sich gegenüber den
Gestalten des Lebens und der Natur in eine offenbar unerreichbare Transzendenz, in deren „Nacht“ und
„Indifferenz“ alles Endliche untergeht; oder aber sie gelangt im denkenden Subjekt kraft dessen
„intellektueller Anschauung“ in „den absoluten Indifferenzpunkt“45; sie hebt als „Subjekt-Objekt“ die
„immanente Grenze“ auf und läßt das absolute Leben in „Kunst und Spekulation“ zur Erscheinung
kommen.
Wird dieses Erscheinen zum Vollzug und Leben des Absoluten selbst, so kreist das Denken unaufhebbar
in Widerspruch der Identität und Differenz von unendlicher und endlicher Subjektivität. Dieses „unend-
liche Ich“ ist als die absolute Subjekt-Objekt-Identität des Denkens notwendig die implizierte Idealität
aller Andersheit und zugleich der immer schon vollzogene Entschluß in alle Natur und Wirklich-
keit. Also hat es sich immer schon ausgesprochen, und zwar in uneinholbarer Absolutheit.

a) Die Darstellung der Antinomie


Diesem Urspruch gegenüber erscheint nun das menschliche denkende Subjekt, auch im Rückgang in
die reine Sphäre seiner Einfachheit und Unbestimmtheit, absolut different. Deshalb ist es unmöglich,
ein „Prinzip der Philosophie“ aus der Einfachheit des unmittelbaren Denkens zu gewinnen, weil sich
„die absolute Synthese“ durch die Reflexion nicht in einem Satz aussprechen läßt“46. Denkt der Denken-
de daher seine Einheit und Selbigkeit und spricht sie aus, so wird keine absolute unendlich-endliche Ein-
heit gesetzt, sondern nur eine formelle „Identität“ als selbig erklärt: A = A. Dennoch hat nach Hegel in
diesem ersten Satz des Denkens sich das Subjekt „objektiviert“ und sich im „Prädikat“ verdoppelt.
Indem es diese Verdoppelung als Selbigkeit ausspricht, ist in Wahrheit ein B hervorgetreten, so
daß der Satz gleichursprünglich formuliert werden kann: A = B. Also ist ein Widerspruch, eine
„Antinomie“ entstanden, die solchermaßen zum Wesen des Denkens gehört.47 Dieser Widerspruch
aber hat den heilsamen Zwang bei sich, die beiden Sätze nicht nebeneinander bestehen zu lassen,
sondern in eine kreisende (spekulative) Identität aufzuheben, in welcher erkannt wird, daß sie sich im-

45
Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems; Hrsg. Glockner, Bd. 1, 1927, S. 142/3
46
Ebd. S. 62.
47
Ebd. S. 63 ff.

172
sich implizieren und ineinander aufheben. Denn A = A hat an seiner Form die Verschiedenheit, im
Inhalt die Identität ausgesagt, während A = B einer inhaltlichen Verschiedenheit in der Form die
Gleichheit zuspricht. Also ist im Ausgang des Denkens offenbar, daß es nur im Widerspruch
der Identität zweier Verschiedenheiten zum Austrag kommen kann und als solches sich als Weise des
absoluten Denkens enthüllt. In der Identität dieser Verschiedenheit tritt nach Hegel „das wahre Ver-
hältnis der Spekulation, das Substantialitätsverhältnis“, als „das transzendentale Prinzip“48 hervor,
wenn auch unter „dem Schein des Kausalverhältnisses“, in welchem der „Dogmatismus“ die bei-
den Sätze „in unvollständiger Synthesis“ nebeneinander bestehen läßt.
Man muß die Sätze spekulativ verstehen, um ihr Gewicht auszuschöpfen. Das Denken west in seinem
Ausgang, in dem es sich als Ich selbst denkt, in der Differenz und Identität des Absoluten. Wenn dies
der Fall ist, dann ist auch die setzende und gesetzte Objektivierung im ausgesprochenen „Satz“ ih-
rer logischen Form gemäß „die absolute Differenz“, die alle möglichen Differenzen impliziert, weil sie
die „Identität in die Erscheinung setzt“.
Dies kann besagen, daß sich alle Differenzen aus ihr entwickeln lassen, wie dies, daß sie die höchste
Weise der Selbstentfremdung des Absoluten ausdrückt, so daß alle anderen Differenzen in den auf-
klaffenden Abgrund zwischen der Identität des reinen Denkens und der formellen Objektivierung in
der Form eines Satzurteils fallen.
Es ist also zugleich mitgesagt, daß alles, was zur endlichen Erscheinung der Subjektivität gehört, wie
ihre Abstraktheit, ihre Faktizität, ihre formelle Darstellungsweise, schon die Weise ist, wie das reine
Ich oder Denken sich je schon entäußert hat und als solches unendlich-endlich existiert. Also ist
wirklich das absolute Ich selbst in diesen Aussagen zur Darstellung gekommen, wenn nämlich
die formelle Seite in die spekulative Aufhebung übergegangen oder der Verstand zur Vernunft ge-
bracht worden ist.

b) Die Auflösung der Antinomie


Da es sich um den Ausgang oder die „Prinzipien“ des spekulativ denkenden Subjektes handelt, so be-
finden wir uns an einem ausgezeichneten Ort der Auseinandersetzung. Wir fragen:
1. Verlangt die ursprüngliche Selbstversicherung des denkenden Subjektes überhaupt die gekenn-
zeichnete formelle Objektivierung? Wäre das Ich das „reine Sein“ oder „Ich“ in seiner ungeschiede-
nen Einfalt, so wäre nicht einzusehen, wie es als dieses ohne vollendete Reflexion auf sich selbst über-
haupt da und existent sein könnte, schon deshalb, weil es nur als solches in den Akt des Denkens von
„Anderen“ übergehen kann. Dann wäre die Differenz (der Reflexion) je schon absolut aufgehoben und
nur als reine Identität mit sich selbst wirklich. Die Differenz hätte einen rein „ideellen“ Charakter;
und könnte nicht in antinomischer Widersprüchlichkeit hervortreten, weil ja das denkende Ich seiner
Identität als denkende Gedachtheit immer schon gewiß ist.

48
Ebd. S. 74/5.

173
Würde aber denkend auf diese in sich absolut reflektierte Identität „reflektiert“, so läge auch hierin
kein Zwang, sie zu „objektivieren“. Das Denken träfe so auf das A, daß es die sich selbst denkende Dif-
ferierung bereits im A eingeschlossen erkennte, so daß es selbst in diesen Kreisschluß der reinen
Selbstbewußtheit einginge. Die von Hegel formulierten Antinomien dürfen also an der zu denkenden
Sache gar nicht hervortreten, weil sie ihr nicht entsprechen, sondern sie wesenswidrig zerstören. Aus
dem sich selbst denkenden Ich läßt sich daher keine antinomische (reale) Differenz ableiten.
2. Erst wenn ich die Voraussetzung mache, das sich erscheinende Subjekt müsse „vorgestellt“ (repräsen-
tiert) werden, kann man anscheinend diese Antinomik hervorrufen. Dann aber wird „Ich“ vor seiner
reflexen Objektivierung zu einer „unbewußten Sache“; es wird zu einem Dinghaften gemacht, dem die
Reflexion auf sich selbst oder auf sein Selbigsein hin denkend durch Objektivierung erst angetan
wird. In diesem Falle aber bewegt sich der Denkende nicht mehr in der Sphäre des absoluten Ich,
sondern eines Subjektes, das in seinem Denken von außen empfängt und deshalb „vor-stellend“ exis-
tiert. Dieses „Subjekt“ könnte nicht mehr in „substantieller Identität“ mit dem Absoluten begriffen
werden. Wird dann gesagt: A = A, so ist damit zum Ausdruck gebracht, daß die denkende Identifizie-
rung nicht schlichthin zur Sache selbst gehört, die als „vorgestellte“ ein „Gegebenes“ und somit
nicht reines absolutes Denken ist. Also ist auch die Form der Gleichung, die aus der Differenz des set-
zenden (vorstellenden) und gleich-setzenden Denkens herzuleiten ist, kein Grund, das Vorgestellte
selber zu differieren und in den Satz A = B übergehen zu lassen. Denn die Differenz (des Satzes) liegt
ja gar nicht auf seiten der Sache. Sie wird ihr denkend angetan, wobei den Voraussetzungen gemäß
der Akt des Denkens (wie auch die Form des Urteils) als „relatio non mutua“ dem an sich seienden Sub-
jekt nicht eigen ist. Es liegt also keine Antinomie vor, sondern eine einfache Selbigkeit und „unbezogene
Andersheit“.
3. Eine Antinomie könnte nur eintreten, wenn dem sich denkenden Denken die Form des „Vorgestellt-
seins“ schlichthin als inadäquat gegenüberstünde. Ist dieses aber sowohl in reiner reflektierter Subjek-
tivität wie in seinem Vorgestelltsein offenbar, so läßt sich das Denken nicht in der genannten Formel
darstellen. Sie müßte immer lauten: A ist als vorgestelltes oder gedachtes A nicht mit dem
denkenden A identisch. Also muß es stets aus seiner Ungleichheit in das Denken zurückgedacht
werden, das schlichthin als seine aufgehobene Differenz das ist, was es ist. Also läßt sich auch in ei-
nem objektivierenden Denken die logische Ausdrucksform nicht rechtfertigen.
4. Erhebt man sich aber in den göttlichen Äther des absoluten Denkens, so ist gar keine Möglichkeit ge-
geben, „Antinomien“ als Ausdruck der Selbstdurchdringung zu formulieren, da der absolute Akt jede
entspringende Nichtidentität als Seinsweise der Identität auf sich bezöge und aufhöbe. Wenn schon
das endliche Ich immer in der Form der aufgehobenen Reflektiertheit existiert, so gehen in der Nacht,
oder besser, im Licht der göttlichen Selbigkeit alle Differenzen unter.
5. Nimmt man aber Hegels Antinomik an, so ergibt sich, daß der Satz A = A nichts als eine for-
melle (endliche) Objektivierung oder ein Vorgestelltes ist. Dann aber wird auch die Form der Diffe-
renz „objektiv“ und wird am Satzbestand abgelesen. Wird dann der gegenteilige Satz angespro-

174
chen, (A = B) so wird die mitwaltende Differenz ebenfalls objektiv und der Form des ersten Satzes
unterworfen. Da jedoch diese Form (=) genau so differierend bleibt wie A = A und beide Aussa-
gen sich der Form nach nicht unterscheiden, so kann auch keine Aufhebung mehr statuiert werden. Denn
es ist nicht abzusehen, daß das Zeichen (=) im zweiten Satz etwas anderes ausdrückt als im ersten.
Die Identifizierung von A = B ist daher bei weitem geringer als in A = A, da die (gleichsetzend)
differierende Form auch noch den differierenden Inhalt bei sich hat. Wenn daher aus dem ersten
Satz A = A sich der zweite ergab (A = B), so ist nicht einzusehen, warum nicht sich mit gleichem
und größerem logischem Recht der Satz ableiten läßt A = B = A = C = A = D usw. Denn die I-
dentifizierung von A und B ergibt etwas, was weder A noch B ist, wenn Differente sich auf
sich beziehen. Da jedoch zugleich auch die differierende Form bestehenbleibt, so ist die
Identifizierung von A = B wesenhaft unterschieden vom ersten A, so daß sich ein Neues ergibt,
das mit C zu bezeichnen wäre.
Daraus ergibt sich, daß die formelle Antinomik einen unendlichen Charakter hat. Die Differenz
wird daher nichtig, weil sie maßlos wird. Sie fällt in eine schlechte Unendlichkeit.
6. Wie jede Position Hegels hat auch seine „Antinomik“ ihre spekulative Tiefe, die sie ins Metaphysi-
sche erhebt. Denn sowohl in der Sphäre des Denkens wie der Sachen gibt es keine aus dem Akt des
Seins und der Wesensform her waltende Identität, die nicht durch eine Differenz das ist, was sie als
einig-einigende Einheit darstellt. Ist die denkende Subjektivität mit dem Seienden aus dem Sein her
verwirklicht und deshalb „ein Ereignis des Seins“, das in der Subsistenz sich verwirklicht, so existiert
oder west sie nicht nur in der „anschauungslosen Selbstgegenwart der Anima“ (Thomas) in unmittelba-
rem Erscheinen an, sondern noch wesenhafter in der Unmittelbarkeit eines „Seienden“. So aber erweist
sie sich zugleich als empfängliche, vom Seienden des Seins her denkende Intelligenz, die sich in ihrem
subsistenten Grundsein nur vom Seiendsein her, d. h. aus den Prinzipien des zur Welt geöffneten
Denkens begreifen läßt. Dieses Seiendsein aber west erscheinend (d. h. durch seine Akzidentien) an
und kann daher nur als ein Selbiges und Einiges spekulativ gedacht werden, wenn es als hervorgehen
lassender, ansich- und innehaltender Grund verstanden wird. Als solcher aber steht er wesenhaft in
einer konstitutiven Gründung, in welcher die selbige (identische) Form sich in einem Anderen ihrer
selbst (Materie) zu sich selbst erwirkt und sich solchermaßen „verwirklicht“.
Diese verwirklichte Selbigkeit ist zugleich der Grund der Möglichkeit der ansprechenden Iden-
tifizierung. Sage ich A = A (eine Tanne ist sich selbst gleich oder eine Tanne), dann besagt der Satz
als Urteil, daß ein erscheinendes Wesen aus seiner Unmittelbarkeit in seine unaufhebbare Selbigkeit
zurückreflektiert und in sich gefestigt wird. Dabei ist zu beachten, daß das nur logische Spiel der Ver-
selbigung von schon als selbig gedachten Begriffen oder Objekten hier auszuschließen ist, da es sich um
ein echtes „Urteil“, also um eine „Erkenntnis“ handeln soll. Vollzieht man aber das obige Urteil, so
spielt die Differenz von erscheinender Unmittelbarkeit und denkender Rückführung in den subsistenten
Formgrund notwendig beiher, so daß sich das „Seiende“ als selbig nur als innehaltende Substanz
oder als Wesen fassen läßt. So aber kann ich auch sagen, daß die im Urteil ausgedrückte Unterschei-

175
dung (A = A) auch die Sache bestimmt, die dann im Identischsein eine Weise von Nicht-identität
bei sich hat. Diese berechtigt mich, zu sagen: Diese (erscheinende) Tanne ist in ihrem Erscheinen
(und allem, was es vermittelnd ermöglicht) nicht identisch mit ihrem Wesen oder ihrem substantiellen
Grund. Erst die spekulative Einigung dieser differenten Sätze enthüllt dann in der Tat die Selbig-
keit als eine solche, die durch die Konstitution oder ihre kategoriale Ausfaltung und nur durch sie
(sowohl der Sache wie dem Gedachtwerden nach) möglich ist. Was hier von der Tanne gesagt ist, gilt
nicht minder von der Selbsterkenntnis, sofern sie durch Akte (Akzidentien) vermittelt wird.
Diese Betrachtung enthüllt zugleich den wesenhaften Ort der Hegelschen Spekulation. Immer stoßen
wir in der Würdigung ihrer Wahrheit auf jene partizipierende Tiefe des endlichen Geistes, sofern er
mit dem Seienden dem göttlich emanierten Sein entsprang und deshalb nur in der Reflexion des Seins
in der Subsistenz des Seienden und in der Reflexion des Seienden aus der Wahrheit des Seins ins
Denken gelangt.
7. Indem Hegel die Reflexion des sich denkenden Subjektes identisch setzt mit der sich entäußernden
Gottheit, die nur im Andern ihrer selbst zu sich kommt, wird ihm die Differenz des endlichen Sub-
jektes zur absoluten. Er identifiziert daher die innergöttliche wie die ideelle schöpferische Differenz
mit der rezeptiven, objektivierenden endlichen Verständigkeit. Denkt aber diese sich selbst, oder läßt
sie die Differenz denkend entspringen, so fällt diese selbst im Satz A = A und A = B in die Diffe-
renz einer schlechten Unendlichkeit, in der sie in ein „reines Werden“ übergeht, das als ihre immer
schon geschehene Entäußerung keinerlei Notwendigkeit mehr hat, sich als Identität herzustellen.
Was daher als „vorgestelltes A“ gesetzt wird, ist daher immer auch identisch mit aller möglichen (un-
begrenzbaren) begrifflichen Objektivierung, die als „gedachte“ die Selbstdarstellung der absoluten
Negativität des reinen potentiellen Denkens ist.
So aber ergibt aus der mehrfältigen Analyse der Satzantinomik, daß die Differenz zugleich reine
aufgehobene Idealität, absolute Entäußerung, der Fall in den sich fortwälzenden unendlichen (unauf-
hebbaren) Widerspruch ist, wie sie positiv eine nachbildliche Darstellung der Seins- und Subjektkon-
stitution bedeutet.
Das Ergebnis ist auch hier die Widersprüchlichkeit der Differenz: ihre Nichtigkeit durch Aufhe-
bung, ihre Nichtigkeit durch Unaufhebbarkeit wie ihr Bestehen im spekulativen Denken einer parti-
zipierenden endlichen Subjektivität.

Abschließende Erwägung

Diese widersprüchliche Nichtigkeit der Differenz durchwaltet die Hegelsche Philosophie. Es ist ein be-
deutungsvolles Anliegen, die Gefahr zu enthüllen, die in dieser Vielfalt des Differenzverhältnisses
das Denken bedroht. Da Hegels theologische Logik in der Konsequenz der Selbstausfal-
tung und Phänomenologie des absoluten Geistes auch die geschichtlichen Auseinandersetzungen seiner
Zeit und die inneren Spannungen und Kämpfe der liberalen kapitalistischen Wirtschaftswelt
rechtsphilosophisch mit den Kategorien der absoluten Dialektik zu fassen sucht, so gewinnt

176
der „Widerspruch“ eine geschichtsmäßige, explosive Dynamik. Denn in dieser Welt, in der es um
Armut und Reichtum, um Elend oder Erfolg, um Untergang oder Fortbestand geht, wird das, „was
nur eine Aufhebung in der spekulativen Idee“ erfährt, oder was „als unaufhebbar einer schlechten
Unendlichkeit anheimfällt“, oder was „als notwendige göttliche Aufhebung“ ideell entworfen wird, zu
einem erregenden Anreiz, der die Leidenschaften der Betroffenen befeuert.
Ich verweise in diesem Zusammenhang auf meine Arbeit „Triumph der Verzweiflung“49, in welcher die
Hegelschen Gesellschafts- und Staatslehren genauer analysiert wurden. Wenn Hegel keine Möglich-
keit sieht, das „System der Bedürfnisse“, in welchem „jeder sich selbst zum Zweck hat“, so daß „alles
andere ihm nichts ist“, in eine auch nur rationale Ordnung zu bringen (wiewohl das Ergebnis des
grausamen „Bildungs- und Zuchtprozesses“ der wirtschaftenden Gesellschaft: die internationale allge-
meine „Person“, von Hegel „das würdige Element der Idee“ genannt wird), so wird ein solcher Wi-
derspruch nicht mehr ertragen. Für Hegel, für den die aufhebende Identität spekulativ wesenhaft auch
die klaffende Differenz des Absoluten bei sich hat, kann es freilich gleichgültig sein, in welchem
Zustand die niederen Phasen der Dialektik des absoluten Geistes verharren, wenn nur die Idee ih-
re praktisch-sittliche und staatlich-politische Ausprägung, ihr spekulatives Zu-sich-selbst-Kommen
gewinnt. Also kann er zur Rechtfertigung einer der sozialen Frage gegenüber unzureichenden Staats-
gewalt sagen: Der „göttliche Richter“ oder der im Staate „praesente Gott“ „hat ein unendliches Recht,
die Besonderheit freizulassen“. Mit diesem Satz fälscht Hegel das Unvermögen zu realer Versöh-
nung mit spekulativem Pathos in eine positive Potestas um. Denn der Satz sagt spekulativ, daß der
Staat und der in ihm verkörperte Geist als „Identität der Nichtidentität“ einerseits alles auf seine
Identität, auf seine Einheit und Ordnung hin fügen und versöhnen kann, wie er sich ebenso „un-
endlich“, d. h. ohne jedes einschränkende Maß entschließen könnte, alles in seiner dialektischen
Verwirrung und Verzweiflung, d. h. in der Seinsweise der „Nichtidentität“ liegenzulassen.
Wenn aber der Staat wie der göttliche Geist sich der Gerechtigkeit versagen, so wird notwendig
„die organische Substantialität“ des wirklichen, von unendlicher Leidenschaft durchpulsten Lebens als
„allgemeines Subjekt“ mit „unendlicher Selbstbestimmung“ (die ihm nach Hegel eignet) hervortreten,
dem „Pöbel“ den geschuldeten Ausgleich der Gerechtigkeit zu gewähren. Dann wird „die allgemei-
ne rationale Gesellschaftsperson“ den bürgerlichen Nationalstaat als einen unfähigen und grausamen
Götzen beiseite räumen und das „Kollektiv aller arbeitenden Menschen“ als das Medium und Substrat
der sich verwirklichenden Idee erkennen. Die spekulative, ideelle Aufhebung der Differenz wird mit
der Macht denkerischer Notwendigkeit keine reale Differenz dulden und alles zum „substantialen
Ganzen“ fügen.
Wie daher in der seit dem späten Mittelalter gegen den „göttlichen Grund“ vorrückenden Theologie
das Seiende zur „gesetzten Gedachtheit“ wird, so nivellieren sich in der Folge die mit der Seinskonsti-
tution, mit der Schöpfung und Erlösung gegebenen Differenzen in das Eine des sich selbstdenkenden
Absoluten. Zugleich tritt das formal individuierte Subjekt mehr und mehr in liberaler Singularität

49
G. Siewerth, Der Triumph der Verzweiflung, in: „Häresien der Gegenwart“, 1961.

177
und Ungebundenheit hervor. In dem Maße jedoch, wie sich beide dialektisch konträre Positionen am
Ernst des geschichtlichen Geschehens entlarven und zerrütten, tritt der verletzte oder der proletarisch
entrechtete und entwürdigte Lebensgrund hervor, um als „völkische Lebenseinheit“ oder als das
„System der gesellschaftlichen Bedürfnisse“ und „der Arbeit“ den göttlichen Gang der Welt-
geschichte zu vollenden und das „Reich Gottes“ als „nationalen, sozialen Rassenstaat“ oder als „uni-
versales Arbeitskollektiv“ zu begründen.
Da dieses Geschick aus der Dialektik eines offenbarungstheologisch bestimmten und ermächtigten
Denkens her waltet, so ist auch seine Wendung wesenhaft eine Sache denkender Besinnung, die im
Durchdringen der Differenz von „Sein und Seiend“ das Ereignis der abendländischen Geistesge-
schichte in seiner tiefsten geistigen Entscheidung durchmißt und einholt.

178
SPEKULATIVE PARADOXA?

Ich möchte hiermit zu Whiteheads und Hawthornes Paradoxa, die Heinrich Scholz im Philosophischen
Jahrbuch 1949, 2. Heft, vorlegte, Stellung nehmen. Ich beginne mit

1. der“ Willensform des Paradoxon“

Dazu ist zu sagen: Die aufgestellten Sätze sind allesamt falsch.


1. „Alles, was Gott ist (oder in sich hat), ist (oder hat) er notwendig als zu seinem Wesen gehörig.“
Dieser Satz enthält eine Aequivocation von Notwendigkeit und ist sachlich unvertretbar. Gott hat un-
endliche Möglichkeiten in sich. Sie gehören nur als possibilitates zu seinem Sein, in dem sie gründen,
und zwar nur als endliche Nachahmungen, die aus der göttlichen produktiven Vernunft erst als „non
entia“ gesetzt sind. Possibilitas meint gerade dies, daß das „Mögliche“ nicht ist und deshalb in dem,
was es „sein“ kann, das Sein (und Wesen) Gottes gar nichts angeht. Es hat mit der Seinsnotwendigkeit
Gottes gar nichts zu tun. Die rationes sind nämlich keine „Möglichkeiten“, die Gottes Können und
Macht sowie seine Freiheit „bestimmen“. Sie sind so sehr nichts, daß sie Gott weder „affizieren“ noch
„ergänzen“, noch „begrenzen“. So erst sind sie das „reine Nichts“. (Vgl.: Thomismus als Identitätssys-
tem, 2. Aufl. S. 40/3.)
Dieses Nichts (oder Nichtsein des Möglichen) ist notwendig in Gott, aber nicht als „Notwendiges“, das
Gottes Sein als Sein etwas anginge und irgendwie bestimmen könnte (gleichsam als „Modus“ der We-
senheit wie bei Spinoza).
Des weiteren wäre zu fragen, was „Wesen“ heißt: Wenn es bedeutet: „formaler Zusammenhang“, so
ist der obige Satz sinnlos. Gott ist nur als reine Aktualität. Die Notwendigkeit, daß Gottes Sein ist
und zugleich in ihm und mit ihm „Mögliches“, dieser Zusammenhang sagt nichts aus über die
Weise, wie das notwendig gegebene Mögliche (also das Nichtnotwendige) sich zu Gottes Sein ver-
hält. Es liegt hier eine glatte „Aequivocation“ der „Notwendigkeit“ vor.
Das Sein Gottes ist schlechthin Akt und somit der bestimmende Grund für alles, während es selbst nicht
bestimmt wird. So ist es allein notwendig als das von außen nicht bestimmbare, auch nicht durch das
Nichts der Möglichkeiten. Wohl aber ist Gottes Sein für unsere Vernunft das Nötigende, falls wir ge-
gen es ein mögliches Nichtsein setzen. Was aber das Sein Gottes für sich selbst ist, entgeht uns völ-
lig und ist mit der „Nötigung und Notwendigkeit unseres Denkens“ für uns nicht gegeben. Es steht
daher von sich her auch gar nicht in irgendeinem fixierbaren Gegensatz zur „Zufälligkeit“, da Gottes
Sein selbst ja nicht eine „logische“ Kontraposition zu anderem Sein ist. Zu sagen, Gott ist nicht wie die
Welt zufällig, macht ihn nicht zum konträren oder relativen Gegensatz. Diese Unvergleichbarkeit er-
gibt keinen Grund her zu einfacher Ausschließung wie zu einfacher Gleichsetzung.

179
2. Der zweite Satz ist geradezu ein theologisches und spekulatives Skandalum. Er lautet:
„Gott ist der Wille (oder hat in sich den Willen), die Welt zu schaffen.“
Gott hat zwar die Welt geschaffen, aber ist nie „Wille zur Schaffung der Welt“. Da die Welt endlich
ist, so kann sie auch nicht das unendliche Wollen Gottes affizieren, qualifizieren oder terminieren
(als Ziel). Der Satz muß heißen: Gott hat im Willen und Entschluß zu sich die Welt geschaffen (spe-
kulativ). Gott hat sich verherrlicht im Schaffen der Welt (theologisch) oder Gott hat aus Liebe, d.
h. aus dem Entschluß seiner selbst (denn er ist Liebe) die Welt geschaffen.
In keinem Falle ist er „Wille, die Welt zu schaffen“.
3. Der dritte Satz „Gott hat auch die Möglichkeit gehabt, die Welt nicht schaffen zu wollen“, ist
sachlich unhaltbar. Er muß heißen: In der Welt liegt keine Notwendigkeit, zu sein oder geschaf-
fen zu werden. Auch in Gott liegt kein (nötigender) Grund, die Welt oder diese Welt zu setzen.
Wenn Gott also schuf, so nur, weil er selbst sie „grundlos“, d. h. in absoluter Spontaneität gesetzt hat.
Dieses „grundlose Handeln“ ist aber Gottes ewiges Wesen. Der Satz: „Gott hat auch die Möglichkeit
gehabt, die Welt nicht schaffen zu wollen“, ist dasselbe wie: Die absolute Aktualität des Willens ist
zugleich auch absolute Nichtaktualität des Willens. Die Formel ist spekulativ widersinnig. Ohne
Zweifel liegt hier eine Aequivocation der „Möglichkeit“ vor, sofern die rein „logische“ Wider-
spruchslosigkeit unseres Denkens (Gott könnte als Gott gedacht werden, ohne die Welt geschaffen zu
haben) mit Gottes sich frei entschließender Tat gleichgesetzt wird. Von dieser gilt der Satz des A-
quinaten: „Unter der Voraussetzung, daß Gott dieses will oder gewollt hat, ist es unmöglich, daß
er es nicht will oder nicht gewollt hat, deshalb nämlich, weil sein Wille unveränderlich ist“ (V.
23.4.1).
4. Der vierte Satz ist auch unhaltbar. „Der Wille“, die Welt zu schaffen, „ist notwendig gewe-
sen“. Wenn das bedeutet, daß die Zufälligkeit und das mögliche Nichtsein der Welt in Gottes
Wille ein „notwendiger Bestandteil (d. i. ein Seinsmoment) waren“, dann ist dies unsinnig. Der Satz
muß lauten: Gott hat sich aus Freiheit entschlossen, eine zufällige Welt zu setzen, ohne daß die
Welt dieses Wollen oder diesen Entschluß irgendwie bestimmte, weil in ihr selbst gar kein Grund
liegt für ihr Geschaffenwerden. Richtig wäre zu sagen: Gottes Wollen ist schlechthin nicht nichtsei-
end (notwendig) und setzte als solches eine zufällige Welt. Gott ist aber nicht „Wille, die Welt zu
schaffen“, in dem Sinne, als sei er nichts anderes als oder wesenhaft: „Relation zur Welt“ oder als
habe er sich wegen und auf Grund der Zufälligkeit entschlossen.
5. „Der Wille, die Welt zu schaffen, ist nicht notwendig gewesen.“ Der Satz enthält keine Wahr-
heit. „Der Wille, die Welt zu schaffen“, existiert spekulativ überhaupt nicht. Gottes Wille, der
die Welt als „zufällig“ setzte, ist freilich notwendig.
Man sieht, wie leicht sich alle sogenannte „Logik“ an der Wahrheit vergeht. Die spekulative Be-
wegung des Seins vollzieht sich in einem Medium, in dem mit „definierender Satzlogik“ gar nichts
auszumachen ist, weil sie kein Kriterium für die spekulative Wahrheit hat. Schon die Kategorie
„Seinsnotwendigkeit“ wird vom Logiker nicht verstanden. Nur so ist die naive Forderung verständ-

180
lich, daß nach dem Wesen der Notwendigkeit nicht zu fragen sei. Als wenn Gottes Notwendigkeit
die eines Satzes oder einer endlichen Wesensbedeutung sei. Bei Gott ist gerade das, was uns nötigt,
seine innere Unbegrenztheit, die als schaffende eben „grundlos“, d. h. allein aus sich selbst tätig ist.
Als solche aber ist sie seine Freiheit, seine Macht wie seine ewige Wirklichkeit.

2. Über die Wissensform des Paradoxon

Auch diese Sätze sind fragwürdig oder falsch.


ad 1. Der erste Satz heißt: „Gott weiß, daß die Welt existiert.“ Die Frage ist, was ist hiermit ge-
meint? Wenn er bedeutet: „Gott weiß die Existenz der Welt, weil sie von sich her Gottes Erkennen
bestimmt“, so ist der Satz falsch. Gott weiß, daß die Welt existiert - nicht aus der Welt.
ad 2. „Daß die Welt existiert, ist eine zufällige Tatsache“ (nicht schön formuliert: Es gibt keine not-
wendigen Tatsachen!) Aber der Satz ist auch falsch. Die Welt existiert zufällig, d. h. ohne Grund an
und in ihr selbst. Das aber bedeutet noch nicht, daß der Grund in Gott „zufällig“ sei. Zu sagen: Der
ewige Entschluß Gottes hat keine Notwendigkeit in seinem Denken, heißt nicht, daß er Gott „zu-
fällt“ wie eine endliche Tatsache. Gott setzt ihn durch seine Freiheit. Sein Entschluß allein ist hier
Grund, und dieser ist ewig. Er ist nicht durch reines Denken, weder in Gott noch im Menschen begründ-
bar, eben weil Gott nicht nur Denken, sondern sich im Denken entschließender und erschließender Wille
ist.
ad 3. „Alles, was Gott ist oder in sich hat, ist notwendig, nicht zufällig.“ Dieser Satz ist falsch. Gott hat
vieles in sich, was nur „möglich“ ist. Gott hat alle „Zufälligkeiten“ in sich, aber nur und gerade so,
daß sie als Möglichkeiten sein Sein nicht bestimmen und begrenzen. Erst sein Entschluß läßt erfolgen,
daß es Zufälliges wirklich gibt. Der Satz selbst ist spinozistischer Nonsens.
Es wäre gut, wenn beim „Zufälligen“ unterschieden würde zwischen dem Tatsächlichen (Nicht-
Notwendigen) des Daseins der Wesenheiten und dem mitfolgenden Zufälligen (Beiläufigen) des Un-
wesentlichen.
Aus den richtigen Sätzen folgt überhaupt nichts, vor allem kein „logisches“ Paradoxon, während
aus der „definierenden“ Logik sich im Verhältnis zum indefinierten und undefinierbaren Sein nur
„Paradoxa“, das heißt „Unsinnigkeiten“ ergeben. Der Unsinn liegt im geistlosen Primat der Logik,
dem leider auch moderne Scholastiker vielfach verfallen sind. Vollends ist ein Denken des Göttlichen
außerhalb des un-definierten analogen Seins entweder eine leere Begriffsspielerei oder eine reine
„Widerspruchsdialektik“. Gegen diese blendende Sophisterei der Neuzeit auf der Ebene einer „de-
finierenden Satzlogik“ aber gilt der Satz Hegels: „Das gewöhnliche Unrecht, welches spekulativem
Gehalte angetan wird, ist, ihn einseitig zu machen“ (Logik 1, 1. Abschnitt, Anm. 2), was in allen Sät-
zen Harthornes bzw. Whiteheads leicht nachweisbar ist.
Der spekulative Verhalt ist der: Die Welt ist eine von unendlichen Möglichkeiten, von denen kei-
ne Gott etwas angeht im Sinne der Begründung seines Wirkens. Sein Wirken kommt aus Gott und
geht auf Gott. Weder in Gottes Wesen (als das im Denken Gottes allein Wesende) liegt also ein Grund,

181
noch in den endlichen Möglichkeiten, daß Gott die Welt will. Er will sie „grundlos“, d. h. aus Frei-
heit im Entschluß zu sich selbst. Darin weiß er die Welt, nicht aus ihrer „Faktizität“, die aus der
göttlichen Setzung erst erfolgt. Gottes Sein liegt daher jenseits der „logischen“ Entgegensetzung von
Notwendigkeit und Tatsächlichkeit, weil er alles dies erst begründet. Die Welt wird von Gott zur
Tatsächlichkeit bestimmt, nicht umgekehrt. Gott weiß daher die Welt aus seinem Entschluß und nicht
aus ihrer „Tatsächlichkeit“. Er weiß auch in diesem Entschluß, daß die Welt absolut nichtig ist und ihn
nicht bestimmt, ergänzt oder qualifiziert. Sowenig wie Raffael in seinem künstlerischen Tun an der
Sixtinischen Madonna dadurch bestimmt wurde, daß er an einem Pinselstrich x n und am anderen
x n -7 oder xn + 7 Farbatome hatte, auch wenn er um deren Zahl gewußt hätte, eben weil er zugleich
um die Beziehungslosigkeit jeder bestimmten Atomzahl zu seinem Werke wußte, das im Hinblick
auf seine Vollendbarkeit weder von einer xn möglichen Variabilität der Atomzahlen noch von einer
unendlich großen Variabilität der „tatsächlichen“ oder „zufälligen“ Ordnung der Einzel-Atome zu-
einander berührt wurde. Bei Gott besteht dies Verhältnis in ganz anderen Dimensionen, dieweil er
etwas setzt, was von sich her überhaupt keinen Bezug zu seinem Wesensakt selber hat, ohne freilich ihn
selbst wieder durch seine „Beziehungslosigkeit“ zu begrenzen. Aus Gottes Freiheit und ewigem
Entschluß ist alles möglich, er kann aus Freiheit alle Beziehungen stiften, also auch das bloß tat-
sächlich Geschaffene auf das eigene Sein in Freiheit zurückbeziehen. Aber diese Stiftung ist genau so
grundlos „aus Freiheit und Liebe gesetzt“ wie die Schöpfung der Welt. Nichts im Geschöpf hat diese
Bewegung der Gnade hervorgerufen und Gott daher auch nicht qualifiziert. Was in der Zeit er-
scheint, ist daher als göttliches Leben in der Ewigkeit schon geschehen und daher nur ein Offenbarwer-
den dessen, was Gott ist. Gott ist, was er ist, allein aus ihm selbst.
Die Paradoxien treten nur auf, wenn endlich (rationale) Bezüge und Kategorien zu Seins- und We-
sensbestimmungen Gottes gemacht werden. Die „Analogie des Seins“ macht diese Kategorien zwar
„ver-weisend“ auf etwas in Gott, aber nicht „bestimmend“ im Sinne der Definierung. So verweist die
Faktizität der Welt auf die intelligible Grundlosigkeit des göttlichen Wollens und das (notwendige)
Nicht-Nichtsein eines Faktischen auf das Seins-notwendige in Gott. Aber Gott wird dadurch nicht
„notwendig“ wie ein Seiendes und nicht „tatsächlich“ wie dieses. Denn das intelligible unbegründete
Wollen Gottes ist selbst ewig-intelligibler Grund seines Seins, sofern er sich wollend intendiert und
darin zugleich für sich als notwendig erschließt und erkennt. Aus diesem intelligiblen Wollen erfolgt
erst das Nichts seiner ihn deficient nachahmenden rationes, die nur so zu seinem Wesen gehören, daß
sie als von Gottes Vernunft entworfene „Möglichkeiten“ ihn weder anreizen noch bereichern, noch
begrenzen. So allein sind sie beziehungslos „nichts“ in ihm und bestimmen daher auch in nichts seine
Freiheit und sein Wollen, wenn er sie aus seinem Entschluß ins Sein ruft. Sein (ewiger, unend-
licher = unbeschränkter) Entschluß läßt erst erfolgen, daß es Tatsächliches und Notwendiges für
uns gibt.
Genauso sinnlos wäre es freilich, vom Endlich-Notwendigen her zu sagen: Gott wäre ein festge-
rammter, unveränderlicher Block, „eingegrenzt“ in lauter „eherne Notwendigkeit“, eine Denk-

182
oder Vorstellungsweise, die im platten durchschnittlichen „Denken“ oder besser „Räsonieren“ über
Gott, das vom griechischen Ansatz her unter dem Primat der un-wandelbaren Wesensbeständigkeit
steht, aus Gott ein phantastisches „Gespinst von Notwendigkeiten“ oder einen „Seinsfelsen“
macht. (Es gibt sogar „Theologen“, die vom „Sosein“ [!] Gottes reden.) Gottes Sein zwingt unser
Denken zwar schlechthin zur Anerkennung und läßt ihm nicht die Freiheit, seine ihm bekannten
Möglichkeiten und Wandelbarkeiten auf Gottes Sein zu übertragen. Aber dieser uns angetane Zwang
ist keine Beschränkung Gottes, sondern gerade dessen unbeschränkte, d. h. durch und durch aus
sich selbst seiende und wollend setzende freie Aktualität. Die Seinsnotwendigkeit in Gott ist daher
keine Seins-gesetzlichkeit in ihm. Die vom Menschen her entworfene Aussage: „Gott ist reine Notwen-
digkeit“ hat nicht mehr Wahrheit als die logisch entgegengesetzte: „Gott ist reine Urtatsache“, die-
weil der notwendig seiende Gott zugleich eine freie ewige Tat und Entscheidung ist. Von einem
Widerspruch beider Sätze könnte nur innerhalb einer rationalistisch und definitorisch begrenzten Logik
die Rede sein. Da die „Notwendigkeit“ Gottes zwar unser Denken nötigt, aber als Sein durch nichts
„begrenzt“ ist, so steht ihr auch keine „Tatsächlichkeit“ als Grenze und qualifizierende Bestimmung
gegenüber. Gottes Sein ist vielmehr der entspringen lassende Grund aller Tatsachen und als freier
schöpferischer, sich selbst intendierender (theologisch: zeugender und hervorgehen lassender) und
durchdringender Geist- und Willensgrund die Urtat oder Urtatsache aller Tatsächlichkeit. Als solche
aber ist sie wiederum durch keine faktische Erfolgung von Geschaffenem qualifiziert, dieweil Gott sich
in dem, was er als ewiger schöpferischer Geist ist, zu allen endlichen Möglichkeiten nicht anders „ver-
hält“ als zu einer einzigen oder zu jenen, die er schaffend verwirklichte, genauso wie der Künstler
Raffael sich beim Malen eines Bildes zu der faktischen Satzung von xn Farbatomen nicht anders verhält
als zu xn - oder + 100.

183
MARTIN HEIDEGGER UND DIE FRAGE NACH GOTT

Martin Heideggers Philosophieren steht im Hinblick auf die Frage nach Gott unter verschiedenen
Sichten. Zunächst war man beirrt durch die Tatsache, daß in der Enthüllung der Daseinsverfassung in
„Sein und Zeit“ die Frage ausblieb, wiewohl die Existenz im Ruf ihres Gewissens wie im „sich äng-
stigenden Vorlaufen“ in die „Möglichkeit der maßlosen Unmöglichkeit des Todes“ das „Seiende im
ganzen“ der Nichtigkeit anheimgegeben erfuhr und als „Freiheit zum Tode“ zur „ontologischen“
„Eigentlichkeit“ des Seinskönnens ermächtigt schien.
Wie war es möglich, die transzendierende Grundverfassung einer unter dem Stachel der Nichtigkeit
stehenden Existenz denkend zu enthüllen, ohne zugleich das entgleitende „Seiende im ganzen“ fra-
gend auf das göttliche Sein hin zu übersteigen? Zeigte sich hier ein vorweg entschiedener „A-
theismus“ oder eine „Indifferenz“, die offenbar erblindet war für alles das, was als Geschick der
griechischen und abendländischen Philosophie jeden in Anspruch nimmt, der es unternimmt, das Sein
des Seienden zu denken?
Heidegger hat auf diese Erwägung im Humanismusbrief eine ausgefaltete Antwort gegeben. Hält
man sie mit dem in den „Holzwegen“ und in der Schrift „Identität und Differenz“ Gesagten zu-
sammen, so löst sich der Schein der Indifferenz. Die Frage wird offenbar um so brennender und
schmerzlicher gespürt, als sie für Heidegger von der überkommenen Metaphysik hoffnungslos
verbaut ist. Heidegger aber erhebt dieser Metaphysik gegenüber den Anspruch, „anfänglicher zu
fragen“, weil er „aus der Frage nach der Wahrheit des Seins denkt“.1
Dieses Anfängliche hat sich uns im Gang der Metaphysik durch die von dieser beherrschte Sprache ent-
zogen.2 Es verlangt daher ein „Rückschreiten“ in den bisher übersprungenen Bezirk, aus dem her das
Wesen der Wahrheit allererst denkwürdig wird“ (Idt. S. 45). Also läßt es sich nur in sorgsamster
durchhaltender Geduld ohne Beirrung eröffnen, stehen wir doch vor dem Geschick, daß die „Geschichte
des Seins“ „notwendig mit der Vergessenheit des Seins beginnt“.3 „Das Sein kommt (schon bei Par-
menides) nicht an das Licht seines eigenen Wesens.“ Also bleibt „im Erscheinen des Seienden als solchen
im ganzen die Wahrheit des Seins aus“ (Hw. S. 244). „Es ist nichts mit dem Sein“ (Hw. S. 245), ein
Satz, der als Enthüllung des Wesens der Metaphysik deren Selbigkeit mit dem Nihilismus zum
Ausdruck bringt.
Man kann daher nicht nach Gott fragen, solange die anfänglichste und unmittelbarste Verborgenheit
des „Seins“ als „Wahrheit“ nicht gegen den Schein der „Metaphysik“ des Seienden wie gegen die
„Seinsvergessenheit“ aufgelichtet ist. Die unter diesem Geschick stehende und von ihm beirrte Spra-

1
Humanismusbrief (im folgenden zitiert als Hum.) S. 36
2
Identität und Differenz (im folgenden zitiert als Idt.) S. 72.
3
Holzwege (im folgenden zitiert als Hw.) S. 243.

184
che muß zuvor „an ihr Wesen“ zurückgegeben werden, damit sie die „Wahrheit des Seins“ als
das „Sein der Wahrheit“ ohne Verfälschung oder Verstellung sagen könne. „Erst aus der Wahrheit
des Seins läßt sich das Wesen des Heiligen denken. Erst aus dem Wesen des Heiligen ist das Wesen
der Gottheit zu denken. Erst im Lichte des Wesens von Gottheit kann gedacht und gesagt werden, was
das Wort Gott nennen soll“ (Hum. S. 37).
Es ist nun auffällig, daß Heidegger in diesem vorläufigen Entwurf sich gar nicht auf die Frage
einläßt, ob Gott „ist“, sondern daß es ihm offenbar um die Auflichtung seines Wesens geht. Dabei ist
ohne Zweifel mitgesagt, daß dem Denken des „Heiligen“ und des „Wesens der Gottheit“ aus „der
Wahrheit des Seins“ ein solcher Aufweis überflüssig ist. Denn „Anwesenderes“ als das „offenbare
Sein“ kann es gar nicht geben. Was in ihm sich wesenhaft anzeigt, ist damit auch in seinem Dasein
verbürgt. Das Entscheidende ist also, „das Offene des Seins zu lichten“ und „die Dimension des Heili-
gen“ aus ihrer „Verschlossenheit“ zu lösen (Hum. S. 37).
Dieses göttliche Wesen und „der Gott“ stehen außerhalb eines systematischen, begründenden
Weltentwurfs. Es hat offenbar keinen Sinn, Gott in einem „objektiven Weltbezug“ zu denken, der zu-
gleich nichts darüber zu sagen weiß, wie Gott sich außerhalb der Begründung und Erhaltung des
Seienden zur menschlichen Existenz verhält. Unter diesem Betracht ist das zu lesen, was in den „Holz-
wegen“ gesagt ist: „Nicht daß Gottes Existenz als unbeweisbar erwiesen wird, ist der härteste
Schlag gegen Gott, sondern daß der für wirklich gehaltene Gott zum obersten Wert erhoben wird.
Denn dieser Schlag kommt gerade nicht von den Herumstehern, die nicht an Gott glauben, sondern von
den Gläubigen und deren Theologen, die vom Seiendsten alles Seienden reden, ohne je sich einfal-
len zu lassen, an das Sein selbst zu denken, um dabei innezuwerden, daß dieses Denken und jenes Re-
den, aus dem Glauben gesehen, die Gotteslästerung schlechthin ist, falls sie sich in die Theologie des
Glaubens einmischen“ (Hw. S. 240).
Was Heidegger hier anprangert, ist erstens die Herabwürdigung Gottes zu einem „Objekt“ ethi-
schen Wertschätzens, das ihn in die Wertentwürfe menschlicher Subjektivität verspannt, und zweitens
jene begriffliche Objektivierung, die Gottes Name durch die Nichtigkeit und Dürre ontologischen
Vorstellens und „abstrakter Seinsbegriffe“ in starre Wesenlosigkeit verflüchtigt.
Deshalb ist die Frage bei Heidegger offenbar auf einen „lebendigen Gott“ gerichtet, der der ins Gött-
liche erschlossenen Ex-sistenz Antwort gibt. Der „Ernst“ und die „Strenge“ des Fragens suchen im Ge-
heimnis der Geschichte nicht nur nach den vermittelnden „Winken“ der „Göttlichen“ oder der „Boten Got-
tes“, sondern nach dem Zeichen der göttlichen „Nähe“ oder „Verweigerung“, die freilich nur dem sich er-
öffnen, der „in die Dimension des Heiligen“ „hineindenkt“ (Hum. S. 37). Alles kommt darauf an, zu er-
fahren, „ob der Gott sich nahe oder entziehe“ (ebenda).
Deshalb kann auch nicht ausgemacht werden, wieweit Heidegger sich selbst im Geschick dieser seins-
vergessenen „Metaphysik“ und somit im „Fehl“ „des Gottes“ weiß. Denn diese „Metaphysik“ „ver-
endet“ im „Aufstand des Menschen“ und „der Vergegenständigung der Welt“: in der „Loskettung
der Erde von ihrer Sonne“, im „Wegwischen des ganzen Horizontes“, der „die übersinnliche Welt

185
als die wahrhaft seiende meint“ - in der „Tötung Gottes“ (Hw. S. 243). „Christlicher Glaube wird
da und dort sein, aber die in solcher Welt waltende Liebe ist nicht das wirkend-wirksame Prinzip
dessen, was jetzt geschieht. Der übersinnliche Grund der übersinnlichen Welt ist, als die wirksame
Wirklichkeit alles Wirklichen gedacht, unwirklich geworden. Das ist der metaphysische Sinn des
metaphysisch gedachten Wortes: „Gott ist tot““ (Hw. S. 234).
Ist also „Gott als Gott“ im Geschick des „nicht mehr rückgängig zu machenden Weltentzugs und Welt-
zerfalls“ (Hw. S. 30) auch für Heidegger „unglaubwürdig“ geworden? West er auch für den dieses
Geschick feststellenden Denker schlichthin in „abwesender Verweigerung“? Ist deshalb das Nennen
Gottes, sowohl des „göttlichen“ wie des Gottes „der christlichen Theologie“ und des „christlichen
Glaubens“, nur die Erinnerung an etwas Verlorenes, oder weiß Heidegger irgendwie um den zwar
abwesenden, aber lebendigen Gott? Woher kommt dem Denker Heidegger dann diese „Nähe“ und
Offenbarkeit, die dem Namen erst Sinn und Gewicht verliehe? Ist er für ihn noch jener Verborgene,
der in der „verbergenden Tiefe des Seins“ dem Denken zum Suchen aufgegeben ist? Oder hört „das
Ohr seines Denkens“ nur noch den erschreckten, aber grimmig gewissen Schrei, den der „tolle Mensch“
Nietzsches nach dem getöteten Gott geschrien hat (Hw. S. 246)? Oder waltet in ihm der Schmerz, daß
der in der „Wahrheit“ und im „Heiligen“ des Seins offenbare Gott wie ein „Verabschiedeter“ behan-
delt und als ein „Getöteter“ weltweit verschrien wird? Ist ihm Gottes Nähe nur „verstellt“ durch eine
„seinsvergessene Metaphysik“, die er am tiefsten fürchtet in der Gestalt der „objektivierenden Theo-
logie“? Sagt er doch: „Wer die Theologie, sowohl diejenige des christlichen Glaubens als auch dieje-
nige der Philosophie, aus gewachsener Herkunft erfahren hat, zieht es heute vor, im Bereich des Den-
kens von Gott zu schweigen“ (Idt. S. 51).
Steht Heidegger gar unter einer verborgenen Verschränkung durch die Kantische Kritik und ihren
Aufweis der „Grenzen des Denkens“? Woher nimmt er angesichts der nirgend in ihren „Grenzen“
aufgelichteten „Wahrheit des Seins“ das Recht zu der Aussage, daß das Denken, das „in die Wahr-
heit des Seins verweist“, nicht „theistisch“ sein könne „aus Achtung der Grenzen, die dem Denken als
Denken gesetzt sind“ (Hum. S. 37)?
Diese kaum beantwortbaren Fragen zeigen, wie schwer es ist, Heideggers Fragen nach Gott selbst in
eine angemessene Frage zu bringen. Dies gelingt noch am ehesten, wenn wir seiner Frage: „Wie
kommt der Gott in die Philosophie?“, die er „aus dem besonderen Blick auf Hegel“ (Idt. S. 53) stellt,
nachgehen. Sie steht vor der bewegenden Tatsache: „Solange wir die Geschichte der Philosophie nur
historisch absuchen, werden wir überall finden, daß der Gott in sie gekommen ist“ (Idt. S. 52).
Um sich dieser Frage zu nähern, macht Heidegger eine seltsame Voraussetzung, nämlich die, „daß
die Philosophie als Denken das freie, von sich aus vollzogene Sich-Einlassen auf das Seiende als
solches ist“ (Idt. S. 52). Von diesem freien „Sich-Einlassen“ leitet sich nun die Folgerung her, daß
die Philosophie „von sich aus, ihrem Wesen nach verlangt und bestimmt, daß und wie der Gott in sie
komme“ (ebenda S. 53). Die „Gottes Kommen“ bestimmende Entscheidung ist nun diese, daß das Sein
als „der Gedanke“ (als „Singulare tantum“) gedacht wird, der bei Hegel als die „Bewegung des

186
Seins von seiner Leere zu seiner entwickelten Fülle“ hervortritt. Heidegger fragt nun: „Wie kann
„das Sein“ überhaupt darauf verfallen, sich als der „Gedanke“ darzustellen?“, und er antwortet:
„Wie anders denn dadurch, daß es als Grund vorgeprägt ist, das Denken jedoch - dieweilen es mit
dem Sein zusammengehört - auf das Sein als Grund sich versammelt in der Weise des Ergründe-
und Begründens“ (ebenda S. 54). Also besteht das Wesen des Denkens wie des Seins darin, Begrün-
detes aus sich hervorgehen zu lassen und es im Grund zu versammeln. So aber ist das Denken Ratio, lo-
gos, der das En panta durch Versammlung des Vielen auf das Eine als ein Ganzes „vorliegen“ läßt (e-
benda S. 54).
Ist das Sein aber wesenhaft Grund, Eines, Ganzes und Logos, so ergibt sich, daß es wesenhaft ein grün-
dender, sich begründender und ergründender Hervorgang ist. Als Grund ist es schlichthin der Prozeß
des Verursachen, als Eines ist es der Hervorgang ins Mannigfaltige des Seienden, als Ganzes ist es
die einigende, zusammenhaltende Tiefe des Seienden und als Logos der ergründende Durch- und
Rückgang des Geschehens in den Grund, der sich solchermaßen als causa sui enthüllt und vor sich
bringt. Also west der Logos selbst als Grund und zugleich als der begründend Einende und Versam-
melnde, als En (Eines).
Dieses „Eine“ ist nun, wie Heidegger sagt, „zwiefältig“. Es ist das Eine, das im Seienden selbst
überall als das Erste anwest und einend im Mannigfaltigen waltet. So ist es das „Allgemeinste“.
Zugleich aber ist es das Eine, auf das hin das überall Anwesende „einigt“. Dieses „Eine Einende“ aber
ist zugleich „das Höchste“ (Zeus; ebenda S. 67). Also „versammelt der Logos gründend alles in das
Allgemeine und versammelt begründend alles aus dem Einzigen“ (ebenda). So aber erscheint das
Sein im Wesen als „ein Kreisen, ein Umeinanderkreisen von Sein und Seiendem“ (ebenda S. 68). Es ist
wesenhaft ein gründender, sich selbst begründender Prozeß, in dem das Sein und Eine zunächst das Sei-
ende gründet, zugleich als das Allgemeine, als Sein des Seienden, bei den Dingen ankommt, sie „in
sich birgt“ und sich mit ihnen als den „Seienden“ entbirgt, um dann über das „Allgemeine“ sich
wieder als Logos auf das „Eine“ und „Höchste“ hin zu versammeln. Nennt man nun das „Allgemeine“
Sein oder on, so ist das Geschehen des versammelnden Logos „Onto-logik“; sofern aber das on als En
zugleich das Höchste oder Gott ist, ist sein eigentlicher Titel: „Onto-theo-logik“.
Also ist Gott die verursachende Ursache seiner selbst: causa sui. „So lautet der sachgerechte Name
für den Gott in der Philosophie. Zu diesem Gott kann der Mensch weder beten, noch kann er vor ihm op-
fern. Vor der causa sui kann der Mensch weder aus Scheu ins Knie fallen, noch kann er vor diesem Gott
musizieren und tanzen“ (ebenda S. 70). „Demgemäß ist das gott-lose Denken, das den Gott der Philoso-
phie, den Gott als causa sui preisgeben muß, dem göttlichen Gott vielleicht näher. Dies sagt hier nur:
Es ist freier für ihn, als es die Onto-theologik wahrhaben möchte“ (ebenda).
Mit dieser Darstellung des Seins als gründenden Logos ist die gesamte abendländische philosophische
„Theologie“ (im aristotelischen Sinn) auf die Logik Hegels zurückgeführt. In ihr tritt die „sich
wissende Wahrheit“ hervor als „Idee“ und als „Geist“; sie „ist“ in der Tat der ewige Ent-schluß

187
Gottes in die Zeit und die aufhebende, absolvierende Versammlung seiner Verfallenheit an das
Seiende.
Heidegger zwingt mit dieser bedeutsamen Sicht zu mannigfacher Frage und Stellungnahme. Ers-
tens: Ist es Heideggers Lehre vom Wesen der Philosophie als eines „Ereignisses des Seins“, auch und
gerade, wenn sie „notwendig mit der Seinsvergessenheit beginnt“, angemessen zu sagen, daß sie von
sich aus geschieht? Damit setzt Heidegger das „freie“, „von sich aus sich vollziehende“ Denken der
Subjektivität nicht nur an den Anfang, sondern ermächtigt es zugleich, das „Kommen Got-
tes“ zu verlangen und zu bestimmen, wie es zu geschehen hat. Ist es nicht notwendig zu erhellen, wo-
her dieses Denken eine Kenntnis von „Gott“ hat und wie es „darauf verfallen“ kann, „in Freiheit“
und „von sich aus“ sich Gottes zu bemächtigen? Entschiede es nämlich über Gott aufs Geratewohl,
ohne von ihm überhaupt etwas zu wissen, dann wäre Gott als eine zufällige Mitfolge und dazu auf
Grund eines Irrtums oder einer verengten Sicht in die Philosophie gekommen, als ein „Ein- und
Zufall“, der am Anfang weder gesehen noch bedacht werden konnte. Was aber ist es mit dem Sein,
daß es sich dem von sich ausgehenden Denken willig gibt, ja sogar „darauf verfällt“, „sich als „der
Gedanke“ darzustellen“? Besagt dieses „Verfallen“, daß das Sein dem Denken anheimfällt und da-
bei sich in seinem Wesen verbirgt, wenn nicht verstellt, dann liegt es offenbar mehr am Sein als
am Denken, daß das Sein sich als „Gedanken“ und damit zugleich als „Grund“ „prägt“ und „mani-
festiert“. In welcher Lage aber befindet sich dann der Mensch, wenn ihm solches geschieht, und in wel-
che Not ist Gott genötigt, wenn das Denken des Seins und des Seienden ihn als Denken ins wesens-
widrige Gründen verspannt und ihn und den Menschen der Notwendigkeit des „Umein-
anderkreisens“ anheimgibt, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt!
Dieses Geschick ist in Wahrheit ein Verhängnis, das vom Sein her gegen das Wesen des „göttlichen
Gottes“ geschieht und zugleich gegen des Menschen Herz, das des Heils bedürftig ist und der Huld und
sie ersehnt. Es geschieht gegen das „Heilige“ und die „Wahrheit des Seins“. Also ist das freie, von sich
aus vollzogene Denken der Philosophie ein ebenso verwegenes wie abwegiges Geschehen, das den
transzendentalen Horizont unheilvoll verdunkelt, die göttliche Tiefe des Seins durch das Gespinst der
Ontotheo-logik gegen den „göttlichen Gott“ hin abschirmt und den Menschen zerspaltet in einen krei-
senden Logos und ein verarmtes, dem Heillosen überantwortetes Herz.
Zweitens ist angesichts dieses Ergebnisses zu sagen, daß der versammelnde Logos tatsächlich nirgend
in der antiken wie in der mittelalterlichen Philosophie zum „begründenden Grund“ schlichthin gewor-
den ist in dem Sinne, daß das „ist“ des Seienden selbst nichts wäre als der selbstbegründende Prozeß
des göttlichen Grundes, der causa sui. Der Logos ist als „Ratio“ wesenhaft als vermittelnde Bewe-
gung des endlichen Denkens hervorgetreten, dessen Ausgang und Vollendung der einsichtig-schauende
nous, Intuitus oder Intellectus ist, dem sich das Sein nicht als „gründender Grund“, sondern als ein u-
nübersteigbares Vollendetes gibt. Deshalb besagt das Sein nirgend „Ursache“ oder „Verursacht-
sein“, weil es im ersten Fall nur von Gott, im zweiten nur von den Seienden ausgesagt werden könn-
te. Deshalb kann Thomas sagen, daß das Sein weder „Geschaffensein“ noch „Ursache“ bedeutet, das

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letzte nur, wenn es als „exemplar“ auf die endlich Seienden bezogen wird oder in einer gegenüber dem
Grund abfallenden Minderung sich auf die Wesenheiten hin verendlicht und als informierender Akt,
als „Sein des Seienden“ waltet (causa formalis).
Drittens ist das Sein als En oder Eines keineswegs notwendig zugleich das Ganze und Eine seiner
welthaften Ausfaltung in die Seienden. Dieses „Eine“ des „Seins“ ist nach Thomas so sehr aller welthaf-
ten Mannigfaltigkeit und deren Versammlung transzendent, daß es schlichthin negativ als „Nichtge-
teiltheit“, als „in-divisum“ oder „in-dividuum“ bestimmt werden muß. Dabei muß zugleich die
negative Einfachheit einer punkthaften Differenzlosigkeit von ihm ferngehalten werden. Das heißt: Es
ist philosophisch nicht zu sagen, was das Wesen der Einheit des Seins oder Gottes ist.
Viertens „kommt“ nach der Darlegung Heideggers „Gott“ gar nicht in die Philosophie, sondern diese ist
als versammelnde Logik in ihm oder mit ihm selbig. Denn das Sein als „Grund“ läßt nicht Gott kom-
men, sondern nur sein Gründen, das er ist, zum Vorschein kommen. Dieser Tatbestand aber entspricht
der Lehre Hegels, daß Gott „der eine und einzige Gegenstand der Philosophie“ sei. Sie ist selber der
„Gang Gottes durch die Zeit“, in welcher Dimension die Frage, wie „der Gott in die Philosophie
komme“, zu einem Mißverständnis ihrer selbst wird. Der ewig wesende Gott hat die Philosophie als
sein Wesen immer schon an sich genommen.
Fünftens ergibt sich in der Tat, daß man zu diesem Gott nicht beten kann, sofern ja der philosophie-
rende Logiker selbst der Gott „ist“ und unter dem göttlichen Impuls steht, den göttlichen Prozeß den-
kend zum Austrag zu bringen. Wer den Gott zu sich zurückbringt, verdient mehr, daß der Gott
ihn preise, als daß er den des versammelnden Logos bedürftigen Gott anbete.
Sechstens ist damit die Frage aufgegeben, woher dieses Schicksal, dieser offenbare Verfall des Den-
kens waltet, der in der Tat mit Hegels geistesmächtiger „Logik“ das Abendland beirrt und im sä-
kularisierten Fortschrittswahn wie in eschatologischen Heilsprojekten seine satanische Ausprägung er-
fuhr. Es braucht nicht viel, um zu erkennen, daß es nicht der „Eros der Philosophie“ gewesen sein kann,
der im „Unwegsamen des Seins“ und des „Seienden“ suchend und fragend sich mühsam vortastete.
Wie könnte er als suchendes Erhellen in der selbstgewissen Sicherheit des allversammelnden Logos
über Gott verfügen und ihn selbst in die gründende Fügung verspannen? Das „trachtend-betrachtende
Begehren“ nach einer Eröffnung des Seins oder „des Gottes“, die sich im Wunderbaren und Göttlichen
des Wesenhaften und der kosmischen Fügung anzeigten, aber zugleich im Verworrenen des Zufälligen,
des Unvollkommenen und Unheilen verbargen, blieb bis auf Aristoteles im unsicheren Tasten über
sein eigenes Wesen. Es vermochte weder das Allgemeine des on in den Seienden noch auch das kyriota-
tonon (das durchherrschend Erste) als theos im Sinne des alles setzenden und auf sich zurückbezie-
henden, gründenden logos zu erhellen und zu sagen. Blieb ihm doch das theion und kyriotaton das anwe-
sende Seiende, die ousia selbst, während sich ihm das Allgemeine des Seins als des aktuierenden,
durchwaltenden Aktes verbarg. Gott aber oder das „Eine“ weste weder bei Platon noch bei Aristote-
les oder Plotin als weltverspannter Logos. Selbst die Dialektik des platonischen „Parmenides“ kulmi-
niert im Unzugänglichen des absoluten „Umschlags“, des exaiphnes (des unversehens Plötzlichen),

189
während die noesis noeseos des Aristoteles, nicht als „Logos des Logos“, sondern als die göttliche Ver-
nunftschau ihrer selbst, in unerreichbarer Transzendenz und in einer Allgemeinheit weste, die des
materiellen, vereinzelten Weltaktes weder denkend noch schaffend mächtig war. Wenn auch der
Mensch in der „leidenslosen Tätigkeit“ der „theoretischen Vernunft“ am göttlichen Leben Anteil hatte,
so läßt sich doch wohl nicht eine Spur aufweisen für den Gedanken, daß Gott im Denken der Menschen
„Auskehr und Rückkunft seines Denkens“ habe.
Erst Thomas von Aquin war es vorbehalten, im Licht der sacra doctrina das Sein des Seienden von
der Substanz zu scheiden und zugleich Gottes denkenden Willen mit der überlieferten Theologie zum
Grund aller Wirklichkeit zu machen. Er tat dies freilich zugleich so, daß er die sammelnde Ratio des
Menschen als mühsamen Gang begriff, der im Undurchdringlichen des Seins auslief. Denn in diesem
„Sein des Seienden“ waltet eine mehrfältige Analogie, kraft deren es über die jeweiligen Weisen
und Stufen seiner Verwirklichung hinausweist. So bringt es Gottes Dasein und Wesen nur im spie-
gelnden Gleichnis ins Licht. Gott selbst aber verbirgt sich abgründig in seine Ewigkeit, in seine un-
zugängliche Freiheit, in seine transzendente „Unbezogenheit“ und „Unbedürftigkeit“, vor allem in
seine maßlose „Grundlosigkeit“. Der Denkende berührt und enthüllt nirgend Gottes Wesen; noch mehr
aber ist die Weise des begrifflichen Vorstellens und sagenden Bezeichnens im Verweisungsgang von
Grund aus überstiegen und abgetan. Also ist unser Erkennen Gottes ein durch langes geschichtliches Mü-
hen sich vortastendes zusagendes (affirmatives) Verweisen, und zwar auf Grund des Seins des Seien-
den, das Gott nur im Gleichnis der Ähnlichkeit spiegelt. Die Nichtigkeit und Äußerlichkeit des „Seins“
als „Seins des Seienden“ verbirgt zugleich Gottes Wesen ohne Maß. Daher steht alle denkende Ver-
weisung im Dunkel einer undurchschreitbaren Nacht, so daß „der Philosoph mehr sagen kann, was Gott
nicht ist, als was er ist“. Weder das Schaffen Gottes noch sein freies begnadendes Walten ist dem Den-
kenden ohne das Licht der Offenbarung zugänglich. Auch das, was Gott als „Grund“ ist und sein kann,
verbirgt sich sowohl in seiner grundlosen Freiheit wie im Wesen seines Vollzuges.
Es ist hingegen das Wesen der Theologie, durch den Akt des denkenden Glaubens vom offenbarenden
Gott auf sein Wesen und sein Wort hin vermittelt zu sein. Die Theologie erkennt Gott nicht nur vom
Sein des Seienden her, sondern sie enthüllt aus seinem offenbarenden Wort das Werk und Walten
Gottes als Schöpfung, Erlösung, Heiligung und Gericht. Bedenkt man dies, so wird offenbar, daß der
„Logos“ im Sinne Hegels und Heideggers nur von ihr her in jenen gründenden Vollzug eingewie-
sen worden sein kann. Indem das theologisch aufgelichtete Denken von Gottes schöpferischer Unend-
lichkeit auf das Seiende zurückblickte, gewann das „Allgemeine“ des Denkens in der Tat eine dem Sei-
enden vorgegebene Apriorität. Indem es zugleich in seiner begrifflichen Allgemeinheit Gott als ei-
nen „seienden“ „umfaßte“, enthielt die Ratio in ihren Begriffen (vor allem im „abstrakten“, „univo-
ken“ „Sein als solchem“, dem ens ut sic) sowohl das „Allgemeine“ wie das „Höchste“ und „Einfachste“.
Indem nun diese begriffliche Apriorität als „logisches System“ oder als „Onto-Logik“ ausgefaltet wur-
de, trat seit dem späten Mittelalter jene logische Notwendigkeit und in sich kreisende Ver-

190
spanntheit mehr und mehr hervor, die Heidegger als das Wesen der Philosophie und der Metaphy-
sik herausstellt.
Diese Verspanntheit von Notwendigkeit und Möglichkeit, von Sein und Nichtsein, Idee und Wirklich-
keit (ordo ad esse) hat die Systematik der „absoluten Logik“ Hegels hervorgetrieben. Heidegger
verkennt offenbar, daß Hegel weder ein Theologe noch ein Philosoph ist. Er ist vielmehr ein „Logiker
der Offenbarung“, was zu allen Zeiten als „gnostische“ Nachahmung des Glaubens bestimmt wurde.
Hegels geniales Werk ist wesenhaft „säkularisierte Theologie“. Da ihr weder das Sein des Seienden
noch das geglaubte Wort Gottes Ursprung und Ausgang des Denkens ist, sondern die potentielle Un-
endlichkeit des reinen, unendlich-endlichen Begreifens, gewinnt es die Kraft seiner Gewißheit al-
lein durch das logische Ergründen und Durchlaufen aller Wirklichkeit und des geoffenbarten und heils-
geschichtlichen Wahrheitsmaterials. Dies geschieht am Modell der absoluten denkenden Identität in den
(ideellen) Differenzen der Andersheit, der Möglichkeit, der Mannigfaltigkeit und des ausschließenden
und aufhebenden Widerspruchs. Seine „Wahrheit“ ist das hervorgebrachte „Resultat“ des systemati-
sierenden, verknüpfenden und versammelnden Willens des vergöttlichten logos und seiner allver-
söhnenden Dialektik. Sie ist das „grau in grau gemalte“ gespenstische Gespinst, der verdunkelte
Widerschein der göttlichen Wahrheit der allversöhnenden Liebe und des aus Glaube, Hoffnung und
Liebe erwachsenden „Reiches Gottes“.
Siebtens muß man Heidegger zustimmen, daß „der Gott als causa sui preisgegeben werden muß“ und
daß der wahrhaft Denkende, der dieses Gottes ledig geworden ist, also der „Gott-lose“ der Onto-
theo-logik, dem „göttlichen Gott“ näher ist. Er ist freier für ihn, wie jeder freier für die Wahrheit
ist, der einen verstellenden und hemmenden Irrtum überwunden hat. Darin wird ihm kein christli-
cher Theologe widersprechen.
Es ist jedoch die Frage, ob Heidegger das Zwielichtige dieser Freiheit sieht, wie sie sich selbst im
Blick auf den „göttlichen Gott“ versteht. Ist er nicht in Gefahr, in der Deutung alles abendländi-
schen Denkens als seinsvergessenen Prozeß des gnostischen Logos selbst in einer negativen Gnosis zu
enden, in der die staunende Bewunderung vor dem Vollendeten des Hegelschen Denkens sich doch auch
in der Abhebung von ihm an dieses ausliefert? Ergibt sich nicht notwendig, daß der Ge-
schichtsgang des Denkens als onto-theo-logische „Irre“ die Menschheit schon in seinem Beginn an den
falschen Gott der Logik auslieferte? Bedeutet daher die Übersteigung dieses Anheimfalls oder das
Entrinnen durch die „Besinnung“ des Heideggerschen Denkens nicht notwendig eine „Eschatologie des
Umschlags“, in welcher sich das Denken angesichts der universalen Heillosigkeit in den Ursprung flüch-
tet? Kommt dann aber „das Bedenken der Differenz“, zu der Heidegger gegen die logisch verspannen-
de Einheit auffordert, nicht in die Gefahr, daß sie als „Besinnung auf einen vergessenen Ursprung“ in
eine neue Phase dialektischer Entgegensetzung der „absoluten Logik“ ausmündet und nur durch diese
überhaupt in den Blick kommt? Indem sie sich selbst „geschichtlich“ oder in Heideggers Worten
„seinsgeschicklich“ ereignet, ist sie doch auch, wie es in den „Holzwegen“ heißt, in „das Äußerste eines

191
Abschieds“ „versammelt“, so daß sie zum erschauernden Rückblick wird auf dem eschatologischen End-
punkt einer durch Hegel und Marx gekennzeichneten „Ver-endung“.
Weil Heidegger im Bedenken der Differenz und im „An-sich-Halten“ der immer geschichtlichen Exis-
tenz dieses Absprungs und dieser Verlorenheit nicht entraten kann, gerät er, vielleicht wider Absicht und
Willen, in der „geschicklichen“ „Geschichtlichkeit“ seines Denkens (trotz dessen ungleich höherer speku-
lativer Entfaltung und seiner phänomenologisch ursprünglicheren Sichten) doch in die Nähe der Philoso-
phen der „Hoffnung“, die (wie Ernst Bloch auf dem freilich kaum erträglichen Niveau der marxisti-
schen Erlösung durch Arbeit) Hegels absolutes System in eine neue, nun ganz radikale Differenz
stellen. Diese eröffnen dieses System damit auf eine „künftige Ankunft“ hin und beruhigen sich mit der
Fortschrittsgnosis einer auf Einheit hin sich dialektisch vergöttlichenden Menschheit. Man sieht im
Gefolge Hegels offenbar nicht mehr, daß hier die Nüchternheit und Strenge des Denkens an eine
Hoffnung vergeben ist, die außerhalb des christlichen Glaubens nicht die Spur einer Bürgschaft bei sich
hat. Sie ist nach dem Geschehen der letzten fünfzig Jahre und im Hinblick auf die Weltwirklichkeit
ohne den Glauben an den Erlöser Christus ein fast kindischer Wahn. Der Leichtsinn dieser Hoff-
nung betäubt das Gewissen gegenüber dem Geheiß, wenigstens das offenbare Wahre zu denken und
die säkularisierten Theologumena der Hegelschen Rechts-, Staats- und Gesellschaftstheorien, besonders
in ihrer wahnhaften Eschatologisierung durch das marxistisch-kommunistische Heilsprojekt, als bo-
denlos zu entlarven.
Wer aber ist der „göttliche Gott“? Wie ist er für Heidegger noch zu denken, wenn er mit dem Sein
und dem Heiligen nicht gedacht werden kann, ohne daß die Existenz an sich gehalten wird“, das heißt:
ohne daß der Gott durch das waltende „Heilige“ die Existenz in jenes Heil fügte, auf Grund dessen der
Name Gottes vom „prophetischen Dichter“ wieder so genannt werden kann, daß er den denkenden Geist
aus sich hin bindet und verpflichtet? Wenn das philosophische wie das theologische Denken nichts wäre
als die Irre der „Onto-theo-logik“, wenn das abendländische Denken ausliefe im „Aufstand der Seins-
vergessenheit“ und der seinserblindeten „Vergegenständigung der Welt“, dann wäre doch der „gött-
lichere Gott“ vor allem diese „Freiheit“, die sich verweigerte, um die Menschheit in das gnadelose
Geschick der wahrheitslosen Logik zu stürzen. Er gewährte freilich zugleich die Möglichkeit, dieser
„Freiheit“ zuzutrauen, daß sie sich trotzdem nicht zum Fall, sondern zur Heimholung der Menschheit
entschlossen habe. Dann bliebe im „zeitgeschicklichen Geschick“ dies unser Auftrag: erwartend in das
Geheimnis der Ferne Gottes und seiner geahnten Wiederkehr wie in ein Unfaßbares uns denkend
vorzutasten. Ist also dies das Wesen des Denkens, im „entbergenden Sein-lassen des verborgenen
Seins des Seienden“, in der unaufhebbaren Verborgenheit der a-letheia den „göttlichen Gott“ zu ah-
nen und uns für ihn „frei“ zu halten?
Woher kommt solcher „Glaube“ in das philosophische Denken? Das Bedenken der Differenz von Sein
und Seiend, das Heidegger gegen Hegels Denken setzt, ist ja längst im Denken der großen abendländi-
schen Theologie im Vollzug, so daß es uns aufgetragen ist, in sorgfältigem Durchmessen das hier Ge-
leistete und Vorgegebene tiefer und weiter zu eröffnen, nämlich die großen Unterscheidungen zwischen

192
Wesen und konkreter Wirklichkeit, zwischen Sein und Wesen, zwischen Sein und Subsistenz, zwischen
Sein und Gott, zwischen Gottheit und Person, die freilich allesamt im Tieferen einer abgründigen
Einheit wesen und nur durch sie zu denken sind. Ohne diese die Differenz „an sich haltende“ Einheit
bliebe alles Denken im Undurchmeßbaren der aufklaffenden Verschiedenheit befangen. Wer die Diffe-
renz des Differenten bedenkt, sagt erst dann etwas philosophisch Bedeutungsvolles aus, wenn er den
Weg zu ihrer Durchlichtung eröffnet. Fragt aber Heidegger im Blick auf Hegels Logik im Bedenken
der Differenz wirklich etwas anderes, als ich in „Thomismus als Identitätssystem“ zu erhellen suchte:
wie die Differenz als „realer Unterschied“ im Bereich des „Seins selbst“ und aller Transzendentalien
walte; welches ihr Wesen und ihre Herkunft sei; wie die Wesenheiten oder die Seienden sich zum
Sein verhalten; wie das Sein nur durch die Differenz als „Sein des Seienden“ ins Anwesen und in die
Verwirklichung und die Seienden in die Transzendenz kommen; wie sie und das Sein als „andere“
von Gott her ermöglicht und denkend auf Gott zurückgeführt werden können, ohne daß Gott in die
Welt verspannt würde und eine dialektische oder absolute Aufhebung durch den Logos alles ins Eine
verschlänge? Erfragt er etwas anderes als das, was sich im Selbstand der „Person“ anzeigt, die nicht aus
der menschlichen Natur, sondern aus dem Sein und seiner Subsistenz das ist, was sie in ihrer unaufheb-
baren Differenz als „transzendentales Selbst“ ist? Fragt er also zugleich nach jener Freiheit des vom
Sein her denkenden Menschen, deren gesellschaftliche oder politische Aufhebung oder Verflüchtigung
einen metaphysischen Terror und das schmachvollste Sakrileg darstellen, das Menschen zu denken und
sich anzutun vermögen?
Woher kommt also der Glaube an den göttlicheren Gott angesichts der furchtbaren Ungöttlichkeit sei-
ner gnadelosen Verweigerung? Ist es nicht doch dies, daß das „Seinsgeschick“ der Menschheit auf der
Höhe seiner sich abgründig verdunkelnden Voll-endung einst durch Gottes Menschwerdung und sein
Kreuz ins Heil gewendet wurde? Wird er daher nicht auch als „Geist“, wie einst als „Wort“, derjeni-
ge sein, der die Menschheit auf dem Gipfel ihrer Selbstentfremdung und ihres usurpierten Mißbrauchs
der göttlichen Offenbarung, auf der Höhe ihrer satanischen Gottlosigkeit durch seine Freiheit und Nähe
zu sich heimführt?
Ist also dieses ahnende Denken etwas anderes als die fortwaltende Gnade des Glaubens, dem das
Denken sich durch das Unübersteigbare und Undurchdringliche des Seins enthoben glaubte? Läßt
sich aber das „Sein“ geschichtlich als „Ereignis“ wie als „Verweigerung“ denken, ohne es zugleich
als den Raum einer göttlichen Offenbarung zu eröffnen, die sich im Vorschein des „Heiligen“ we-
nigstens dem andächtig ahnenden Denken als Möglichkeit anzeigt? Denn wenn Heidegger mit Höl-
derlin und Jacob Böhme den „göttlichen Gott“ als den „Freudigen“ und den „Erfreuten“ denkt, auf den
„das Spiel des freigelösten Schwingens in entschiedenster Zugehörigkeit zurückschwingt“, als „den Va-
ter“, der „zu öffnen und aufzuhellen“ liebt, indem er das Älteste des Anfänglichen und Heilen den
trauernden Sterblichen als „Ahnung“ aufgehen läßt, daß alle „Trauer“ nur aus „alten Freuden“
stammt, dann verweist auch solches Sagen in eine „Innigkeit“ der liebenden Einheit von Gott und
Mensch, die ohne die geoffenbarte Vaterschaft der schöpferischen Liebe angesichts der wirklichen Welt

193
nicht mit Ernst zu denken ist. Aber auch dieses „Spiel“, diese „Freiheit“ und „Güte“ sind noch über-
holt durch „das Göttlichere“ einer Freiheit, „die es nicht als einen Raub angesehen hat, Gott gleich zu
sein“, sondern, annehmend die Gestalt des Knechtes, sich „ausleerte“ und „sich erniedrigte in Unterwor-
fenheit bis zum Tode, ja bis zum Tod am Kreuze“ (Phil 2,6-9).
Ist es dies, was die unverspannte Grundlosigkeit des aus der Differenz gedachten Seins des Seienden uns
anzeigt, daß es dem Denken keine begriffliche Schranke auferlegt, sich dem Göttlichsten zu öffnen?
Wäre dieses Denken aber dann nicht bedrängt und verdunkelt durch die Not der weltgeschichtlichen
Seinsvergessenheit und durch die mangelnde Bürgschaft einer Aufhebung ihrer bis ans Ende währenden
Ver-endung? Nur wenn dieses Geschick aus der Entscheidung einer bereits geschehenden Ankunft her
west und die „Onto-theo-logik“ der Gnosis sowie „der Aufstand der objektivierenden Ratio“ die letzte
Dimension eines verzweifelten Anheimfalls an den homo humanus auf dem Grund einer Verwei-
gerung oder logischen Verstörung des Glaubens4 darstellt, ist zu hoffen, daß mit der Gefahr auch
das Rettende wächst.

4
Zur Erhellung dieses Geschehens verweise ich auf meine Bücher „Das Schicksal der Metaphysik. Von Thomas zu Heideg-
ger“ und die zweite, verbesserte und erweiterte Auflage von „Der Thomismus als Identitätssystem“ (1961).

194
DILTHEY UND DIE WISSENSCHAFT DER PÄDAGOGIK

Der Sinn aller pädagogischen Forschung ist nach einem Wort des Grafen Paul York von Wartenburg
„das Praktisch werden können“, das dieser zugleich als „den eigentlichen Rechtsgrund aller Wis-
senschaft“ bezeichnet; ja, er sagt: „Die praktische Abzweckung unseres Standpunktes ist die pädagogi-
sche im weitesten und tiefsten Wortsinn. Sie ist die Seele aller wahren Philosophie und die Wahr-
heit des Platon und des Aristoteles.“ Dieser bedeutende Satz würde in der großen philosophischen
Tradition nicht als eine Verleugnung der „reinen Theorie“ der in sich selbst gründenden und zu Ziel
und Ruhe kommenden Erkenntnis des Seins und der Wahrheiten verstanden. Er bedeutet dort die
Erfüllung der kontemplativen Durchlichtung der Vernunft durch die geistigen Gründe des Seins.
Zur „caritas illuminativa“ erweckt, soll das innere Licht des Schauens im aufzeigenden Wort in den
Herzen der Schüler und Jünger zeugen.
Was aber in der Vernunft eines Menschen zeugen kann, ist allein die im Wort bezeugte und aufge-
wiesene Wahrheit, die nur in der im Geiste des Schülers immer schon waltenden Wahrheit wie aus des-
sen Gewissens- und Neigungsgrund persönlich ergriffen wird.
Will Pädagogik solchermaßen bindende Einsicht und Erkenntnis sein, so muß sie sich auch in einer ihr
gemäßen wissenschaftlichen Weise entwickeln und darstellen lassen.
Wie solches möglich sei, ist allerdings eine immer wieder aufgeworfene Frage. Schon Wilhelm Dil-
they hat in einem ersten von H. Nohl herausgebrachten Versuch, „Über die Möglichkeiten einer allge-
meingültigen pädagogischen Wissenschaft“ zu handeln, zum Ausdruck gebracht, daß die Pädagogik im
Rahmen der modernen geschichtlich orientierten Geisteswissenschaften „allein rückständig geblie-
ben“ sei: „Die Mißachtung, mit der man ihr begegnet, beruht auf dem richtigen Gefühl, daß sie eine
Wissenschaft im modernen Verstande noch gar nicht sei.“
Allein der bedeutsame Diltheysche Versuch einer Wissenschaftsbegründung enthüllt die ungeheuren
Schwierigkeiten, außerhalb der allgemeinen, aus der menschlichen Natur abgeleiteten ethischen, anth-
ropologischen und methodischen Lehren, die die herkömmliche Pädagogik aus dem 17. und 18. Jahr-
hundert übernommen hat, zu einem wissenschaftlich begründeten Ansatz zu kommen. Dilthey spürt es
einerseits, daß „nur aus dem Ziel des Lebens“ „das der Erziehung abgeleitet werden kann“, sagt aber
zugleich, daß die Ethik „dieses Ziel nicht allgemeingültig bestimmen kann“. „Was der Mensch sei
und was er wolle, erfährt er erst in der Entwicklung seines Wesens durch die Jahrtausende und nie bis
zum letzten Worte, nie in allgemeingültigen Begriffen, sondern immer nur in den lebendigen Erfah-
rungen, welche aus der Tiefe seines ganzen Wesens entspringen. Dagegen hat sich jede inhaltliche
Formel über den letzten Zweck des Menschenlebens als historisch bedingt erwiesen.“
Da im späten 19. Jahrhundert die Philosophie verfallen war, darf man die Aussagen Diltheys, wo
immer sie sich finden, nicht überanstrengen, weil sie einem ontologisch strengen Anspruch kaum ge-

195
wachsen sind. So ist im obigen Satz unklar, was mit dem „Menschen“ gemeint sei, der hier „Er-
fahrungen“ macht. Der geschichtliche Mensch lebt doch immer nur ein persönliches Leben und kann
nur in ihm „Erfahrungen“ im eigentlichen Sinne machen. Deshalb sind die Sätze nur verständlich,
wenn der einzelne „verstehend“ den Lebensprozeß der Menschheit, der durch Jahrtausende geht, sich
erschließt. Dann bedeutet aber „Erfahrung“ die deutende Aufschließung des Lebens- und Wesens-
ganzen „Mensch“, dessen „lebendige Erfahrungen“, die zudem „aus der Tiefe seines ganzen Wesens“
entspringen, der einzelne für sich in offenbar gleichzeitiger Unmittelbarkeit zu eigen machen kann.
Entspringen sie aber dem „ganzen Wesen“, so enthüllen sie es auch in seiner umfänglichen We-
senstotalität, so daß der Beisatz unverständlich wird, daß es sich nicht „in allgemeingültigen Beg-
riffen“ erfassen lasse. Denn was aus dem ganzen Wesen sich in Jahrtausenden durch Erfahrung
manifestiert, das ist notwendig „allgemein“ und kann auch als solches ausgedrückt werden.
Dilthey hebt jedoch dies von ihm selbst Gesagte wieder auf, indem er „alles Inhaltsvolle“, also auch
jedes „sittliche Prinzip“, das sich in solcher Erfahrung enthüllte, „als geschichtlich bedingt“, histo-
risch erwachsen und historisch eingeschränkt“ bezeichnet. Damit ist alles Menschliche und Geistige
relativiert und kann nur als zufällig aufgegriffene oder tatsächlich geglaubte Regel gelten,
welcher der endliche und eingeschränkte Mensch anheimfällt und von ihr ebenso bestimmt wie beirrt
wird. Eine wesenhafte Begründung, der wissenschaftliche Strenge und Verbindlichkeit eignet, kann
es nicht mehr geben. Dann bedeutet pädagogische Wissenschaft nie etwas anderes als die Be-
schreibung der geschichtsmäßigen Ideale, Weltanschauungen, Prinzipien, ihrer psychologischen
Wirksamkeit und der Erfahrungen, die die Menschen auf dem Wege zu ihrer (relativen) Verwirkli-
chung gemacht haben. Sofern diese Erfahrungen selbst aber durch die Wirksamkeit der Ideale be-
stimmt sind, sind auch sie „historisch bedingt und beschränkt“ und haben keinen normgebenden Cha-
rakter.
Aus dieser Position folgt, daß Pädagogik eine „historische Wissenschaft“ ist, die sich mit dem
Aufweis des jeweils Gegebenen und seiner relativen Gültigkeit begnügen muß. Seine normgebende
Kraft kann nur festgestellt werden, wobei man nicht weiß, ob der Pädagoge die geschichtlich Beirrten
und Gebannten wegen ihres Glaubens bewundern oder wegen ihres unbegründeten Ernstes belächeln
soll - wenn man nicht die in Diltheys Lehre gründende Annahme macht, daß der so verfahrende His-
toriker kein Kriterium dafür hat, in welchem Maße er selbst „historisch beschränkt“ ist und sich un-
ter Umständen gründlich täuscht, wenn er historische Gegebenheiten verstehend beschreibt und aus ge-
schichtlichen Bedingungen ableitet. Jeder Christ würde z. B. solchen „Beschreibungen“ gegenüber sa-
gen, daß solche Pädagogik, selbst „geschichtlich beirrt“, nur soviel „versteht“, als ihrem verengten
Standort entspricht, aber dann vom Wesen des überzeitlichen Christentums oder der Kirche und von der
diesen eigenen göttlichen Geschichtlichkeit überhaupt nichts „verstanden“ hat. Diese „historisch be-
schreibende“ Pädagogik ist daher eine unsichere Nachzeichnung von kulturgeschichtlichen Phänome-
nen und kann in ihrer Hinkehr zum Konkreten der Geschichte gerade das nicht mehr sein, was sie lei-
denschaftlich sein will: sie kann nicht mehr „praktisch werden können“, weil sie wissenschafts-

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methodisch die Energeia aller Praxis, die verbindliche Norm, das sittliche Prinzip, den religiösen
Glauben, das zielgebende Ideal zerstört. Die Erfahrung von Verhaltungsweisen innerhalb „relativer
Normen“ ist und bleibt eine Utopie. Wer feststellen wollte, wann und wo Kinder und Menschen am
besten „erzogen“ wurden und am besten gediehen, hat nirgends festen Boden unter den Füßen. Gelöste,
gleichgewichtliche Freiheit, „intellektuelle Aufgeschlossenheit“ z. B. sind außerhalb einer sittlichen
und religiösen Welt nicht zu unterscheiden von blasser, schwärmerischer Oberflächlichkeit oder von
substanzlosem Alexandrinertum; und nicht der augenblickliche Zustand der Kinder, sondern allein
die Geschichte ihres Lebens enthüllt die Wahrheit über das, was sie eigentlich sind. Der relativisti-
sche Pädagoge kann daher als Kulturhistoriker zwar eine Fülle beachtlichen geschichtlichen Materials
herbeibringen, besonders wenn er nicht deutet, sondern die geschichtlichen Mächte in ihrem Selbstzeug-
nis zu Wort kommen läßt; er kann anregen, bereichern und den Blick ausweiten, aber er kann kein „wis-
senschaftlicher Pädagoge sein“, weil er der inneren Strenge und Gewissensbindung entbehrt, die al-
lein Erziehung und Bildung tragen und ermöglichen.
Dilthey hat die eigene Substanzlosigkeit wohl gespürt. Das sich geschichtlich entfaltende Menschsein
hat sich, im Maße er den transzendentalen Bereich, die Wahrheit und das Gute, relativiert, und das
heißt, im Wesen zerstört, für ihn damit in einen Lebensgrund und Lebensprozeß verwandelt, der
aus dieser seiner Lebenstiefe alle Weisen des Menschseins hervortreibt. Es ist das seit der Romantik
im deutschen Raum sich immer unheimlicher wiederholende Geschick, daß der moderne Mensch in
seinem „historischen Bewußtsein“, d. h. ganz überwältigt von der aufgearbeiteten Fülle der Kultur-
phänomene und ihrer verwirrenden Mannigfaltigkeit, diese nicht mehr als das Werk des sich wal-
tend enthüllenden Seins, einer sich offenbarenden Gottheit und der metaphysisch vernehmenden oder im
Glauben erleuchteten Vernunft zu fassen vermochte und sie daher in den Lebensgrund des Menschen
selbst versenkte. Dieser wurde der schwangere Muttergrund des Geistes, aus dem in einem Trieb-
und Drangprozeß das Leben sich selbst in seiner ganzen Fülle entwarf und in den Werken der Kultur
offenbarte, ordnete und festigte. Dilthey hat aus tiefbegründeter Wahlverwandtschaft in Hegels Ju-
gendschriften das unbegrenzte, umfängliche Leben als den sich entwerfenden Grund der Geist- und
Kulturgestalten erkannt, aus dem die Widerspruchsdialektik des geschichtlichen Geistes sich ermög-
licht und entfaltet. Die innere Verwandtschaft dieser Konzeption zu Nietzsches „schaffendem, Werte
setzendem Willen zur Macht“ ist unverkennbar, ebenso zu Schopenhauers sich in Vorstellungen ausges-
taltendem „Willen zum Leben“, ferner zu den Grundvorstellungen eines biologistischen Evolutio-
nismus, der aus einem Urlebensdrang durch Anpassung oder fortschreitende Lebens- und Wirk-
ermächtigung die Fülle der hochorganisierten Lebensgestalten und als letzte geschichtliche Naturer-
scheinung den Menschen hervortreibt. Dieser umfängliche, sich ausdifferenzierende Naturgrund steht
noch als fundierender, tragender Trieblebensgrund, ja als die eigentliche „Lebensmacht“ hinter
der Anthropologie Schelers und Nic. Hartmanns; er ist die selbstverständliche Voraussetzung der na-
turalistischen Psychologie, der unbewußten Triebprojektionen Freuds wie der archetypischen Aufla-

197
dung der unbewußten kollektiven Gattungsnatur der Seele durch ein eingebürtiges Erbe von „Inbil-
dern“ bei C. G. Jung.
Dieses Geschick der „Subjektivierung“ des Menschen, eines naturgesetzlich faßbaren Trieb- und Le-
bensgrundes, läßt sich nur verstehen aus dem gleichzeitigen Zusammenlaufen der Grundlehren,
die das „moderne Bewußtsein“ bestimmen: Die Verengung des „Seins als solchen“ auf die Urgewiß-
heit des Denkens als Denken, d. h. auf die „res cogitans“ bei Descartes - die monistische Zusammen-
ziehung des Seins auf die eine einheitlich geregelte Natur, die sich aus einem Grunde entwickelt und
differenziert -, die kritische Auflösung der intelligiblen Transzendenz der Vernunft und die katego-
riale apriorische Aufladung des „Verstandes“ bei Immanuel Kant, wodurch die ganze Metaphysik der
Vergangenheit, und das heißt praktisch alle Philosophie, als ein „Ozean des Scheins“ entlarvt war -
die Konstruktion des Seins, der Natur und der Geschichte aus dem absoluten Geiste, der sich sich selbst
entgegensetzt und aus dem Anderen seiner selbst zu sich zurückkehrt und hierbei alle seine möglichen
Daseinsgestalten hervortreibt -, schließlich die historische Erschließung der „Kultur“ als eines unend-
lich vielartigen Gewebes von geistigen Gestalten und organisch erwachsenen Epochen, die nicht mehr
aus der Metaphysik einer wahrheitsmächtigen Vernunft, wohl aber aus einem unendlich produktiven
Lebensgrund herleitbar scheinen.
Nur wer dies Geschick überschaut, kann auch Wesen, Bedeutung und Beirrung der modernen Päda-
gogik enthüllen, deren Vertreter ja nur zu einem geringen Teile den geistesgeschichtlichen Prozeß
selbst an den Entscheidungsstellen mitbestimmten, sondern ihrem Daseinsort gemäß „Vollstrecker des
Auftrages ihrer Zeit und ihres Gewissens“ waren. So hat denn auch Diltheys „Wissenschaftsbegrün-
dung“ vier Aspekte: erstens die Relativierung und historisierend kritische Auflösung der ethischen
und metaphysischen normativen Zielgründe; zweitens die Hinwendung zum geschichtlichen Gang
der pädagogischen Entwicklung von der Familienerziehung, den „primitiven Formen der Erziehung“
bei den Naturvölkern, von den ersten Schularten im Rahmen der religiösen Kulturen bis hinauf zum
differenzierten Bildungswesen der modernen Gesellschaft; drittens die Analyse des „schaffenden
Vermögens des Erziehers und des Verhältnisses dieses Vermögens zu den Anlagen des Zöglings“,
seine „Bildsamkeit und die Beschreibung der Wesenszüge des pädagogischen Genius“, und viertens
die „analytische Darstellung der einzelnen Vorgänge, welche in der Erziehung ineinandergreifen,
sowie die Ableitung allgemeingültiger Normen, welche die Erziehung so gut als die Kunst, die Wis-
senschaft oder das sittliche Leben regeln“.
Es ist nicht schwer zu erkennen, daß für Dilthey das eigentliche Gewicht auf dem vierten Gesichts-
punkt liegt, weil dieser allein die „Möglichkeit einer allgemeingültigen, pädagogischen Wissen-
schaft trägt“. Da Erziehung wesenhaft normiert ist, d. h. eine Kunst ist, die von einem Ziel her geregelt
ist und nach Regeln verfährt, Metaphysik, Ethik und Religion aber keine allgemeingültigen Prin-
zipien bieten (da sie ja geschichtlich bedingt und beschränkt sind), so kann nur der Lebensgrund
selbst, aus dem die Geschichte erwächst, nach übergeschichtlichen Normen befragt werden. Deshalb
„kann nur in dem Seelenleben selber eine Teleologie aufgesucht werden, deren Ausdruck jeder all-

198
gemeingültige Satz über den Zweck des Lebens und jede solche Regel des Handelns schließlich sein
muß“. Der innere einheitliche Grund dieser Zweckmäßigkeit ist „die Erhaltung, ja Steigerung der ei-
genen Existenz seiner Gattung“. Es gibt einen „Kausalzusammenhang zwischen dem Organismus“ des
einzelnen Menschen und „der Außenwelt“, und diesem zweckmäßigen Zusammenhang „entspringen
seine Handlungen“. „Da uns eine unmittelbare Einsicht in die Teleologie versagt ist, so treten unsere
Gefühle zwischen die Bilder oder Vorstellungen einerseits und die Willensantriebe, Bewegungen o-
der Handlungen andererseits. Diese Einrichtung hat einen teleologischen Charakter. Derselbe be-
steht in der Struktur unseres Seelenlebens, nach welcher unsere Vorstellungen und Gefühle die Triebe
ins Spiel setzen und diese dann Handlungen erwirken ...“
„Auf dieser Zweckmäßigkeit im seelischen Zusammenhang beruht die Möglichkeit, daß sich die Arten
erhalten und eine Steigerung der Organisation innerhalb der Lebewesen eintritt. Ebenso enthält die-
ser teleologische Zusammenhang die Wurzeln aller zweckmäßigen Effekte im Menschenleben, in Ge-
sellschaft und Geschichte. Man kann also auch von einer Struktur oder einem Typus des Seelenlebens
reden, der von den niedersten Stufen des tierischen Daseins aufwärts bis zum Menschen reicht, und
zwar werden innerhalb dieses Typus die Glieder des Zusamenhangs zwischen Reiz und Bewe-
gung immer mehrere, und die Verbindungen zwischen ihnen werden immer mannigfaltiger. So
entsteht auf dem Gipfel dieser psychischen Entwicklungsreihe der Typus des Menschen.“ - „Hiernach
besteht der Typus des vollkommenen Menschen in der Vollkommenheit dieser drei Arten von Vor-
gängen (Reize, Wahrnehmung, Denken - Trieb, Begehren, Wille - Gefühle), in der richtigen Abmes-
sung ihrer Stärke und einem angemessenen Ineinandergreifen derselben.“ - „In der Funktion unserer
Gefühle liegen die Rätsel, von deren Auflösung der Einblick in den teleologischen Zusammenhang unse-
res Seelenlebens einmal zu erwarten ist.“
Über diese Gefühle werden dann drei Sätze formuliert, die als Fundierung der pädagogischen Anth-
ropologie angesehen werden können und sollen. Erstens sind „Gefühle und Trieb im Seelenleben zu-
sammengesetzte Zustände“, in denen wieder einfachere Bestandteile unterschieden werden können.
Diese elementaren Reaktionen „gehen durch die Formen von Gefühl und Trieb hindurch“.
Zweitens können diese Elementarreaktionen des Lebens als eine Mannigfaltigkeit von Gefühls- und
Triebkreisen dargestellt werden, (Harmonie, Kontrast, Symmetrie, Rhythmus), die „die
Charakteranlage des Menschen bilden“.
Drittens sind diese Reaktionsweisen des Gefühls und Triebes „am Anfang der seelischen Entwicklung
noch nicht untereinander verbunden. Jede von ihnen wirkt, wenn auch in roher und eingeschränkter Art,
zweckmäßig. Aber erst die Entwicklung des Seelenlebens stellt durch beständige Anpassung zwischen
ihnen die Beziehungen her, durch welche dann ein vollkommener teleologischer Zusammen-
hang des Seelenlebens in dem Individuum und in der aufsteigenden Entwicklung des Seelenreichs
und der Geschichte entsteht.“
Als Zweck dieser Vorgänge aber werden genannt „Erhaltung, Glück, Entwicklung der Indivi-
duen, Erhaltung und Steigerung der Art und Gattung“. Der Charakter des Lebens ist daher „als

199
vollkommener Zusammenhang eines organisierten Typus“ notwendig geregelt und kann daher
„durch ein System von Regeln“ bestimmt werden. Diese Regeln aber sind zugleich Leitnormen für
das Leben, das sich als teleologische „Entwicklung“ darstellt.
Aus jedem Satz Diltheys spricht seine Befangenheit in einem offenbar von der Biologie des 19. Jahr-
hunderts bestimmten, organologischen, naturalistischen Evolutionismus und jene erschütternd nai-
ve Naturgläubigkeit, die historisierend relativierte und damit entwurzelte Welt des Geistes aus ei-
nem organischen teleologischen Funktionalismus der Lebensvorgänge wieder herausklauben zu kön-
nen. Hier ist der Mensch in der Typenreihe der Naturausprägungen selbst schon am Ursprung „ge-
prägter Typus“ und „Charakter“, also ein höher organisiertes Tier unter Tieren, dessen Lebensvoll-
zug aus Elementarreaktionen einiger Urtriebe normgerecht aufgebaut werden kann. Es ist wahrhaft
erstaunlich, daß ein Mann wie Dilthey, der die ethische und metaphysische Welt durch seinen Relati-
vismus wissenschaftlich „abbaut“ und hierin unverkennbar einen kritischen Scharfsinn entwickelt, of-
fenbar blind ist gegenüber der radikalisierten Relativierung des Menschen, die in dieser seiner „Wis-
senschaftsbegründung der Pädagogik“ zutage tritt. Der Glaube an die naturwissenschaftliche Empirie
ist so beherrschend, daß er und seine ihn verehrenden Zeitgenossen offenbar den Stein der Weisen ge-
funden zu haben meinten, als sie den Menschen als begrenzten „Typus“, als „strukturierte Einrich-
tung“, als „zweckmäßig funktionierenden Organismus“, als „gefühlsgeprägten Charakter“, als „voll-
endeten Zusammenhang von Elementarreaktionen“ usw. begriffen und ihn wie ein Lebewesen aus
dem Ei seines individuellen und gattunghaften Werdegrundes als vollkommene teleologische Wirk-
maschine sich „entwickeln“ ließen. Dilthey sieht nicht, daß jeder „Typus“ nur verstanden werden
kann aus einem allgemeinen Horizont der Natur und des Seins, der so etwas wie verschiedene Ausprä-
gung überhaupt ermöglicht, daß jede vereinzelte Organisation ein blinder Zufall ist, wenn das um-
greifende Ganze im Dunkeln gelassen ist. Er sieht nicht, wie vage und nichtssagend seine Grundkate-
gorien sind, die unbesehen als metaphysische Zauberworte seine Ausführungen tragen, daß der
„Trieb zur Erhaltung des Lebens“ oder „zur Steigerung des Lebens des Individuums und der Gat-
tung“, oder gar „Wille zum Glück“, „Anpassung an die Natur“ keine verbindliche Norm begrün-
den können, wenn man nicht zuvor das Leben, die Gattung und das Glück, die Natur als verbindlich
in ihrem Wesen erhellt hat. Alle diese Kategorien sind so unscharf und flexibel, daß man aus ihnen
ebenso die radikale Aufhebung jeder Norm ableiten könnte. Denn könnte nicht der Wille zum Indivi-
duum den zur Erhaltung der Gattung aufheben? Und worin liegt es begründet, daß beide zu jenem
Ausgleich kommen müssen? Könnte „Wille zum Glück“ nicht jederzeit als die Aufhebung jeder ver-
bindlichen Norm und einer allgemeinen Teleologie menschlichen Lebens sich erweisen? Und müßte er
dies nicht im selben Maße, als sich „Harmonie und Ausgleich“ nicht herstellen lassen und das Glück
nur in der Durchsetzung des Stärkeren gewährleistet wäre? Wenn sich aus solchen Urreaktionen der
„ethische Wert“ und „Selbstzweck“ der Person herleiten lassen sollen, dann ist die Relativierung der
Moral und aller Normen auf einen dunklen Lebensgrund hin so radikal gelungen, daß dagegen
die „geschichtlich beschränkte“ Ethik und Metaphysik wie ein Reich des Lichtes erscheinen. Dilthey hat

200
kein Gefühl dafür, wie er sich selbst geradezu verspottet und welchen verzweifelten Weg er als histo-
risierender Zweifler begeht. Er sieht schließlich nicht, daß das Ziel dieser Teleologie der Urlebens-
zusammenhänge letztlich in der Herausformung jener Kultur- und Lebensformen besteht, deren Rela-
tivität und Unverbindlichkeit er vorher bekundete. Die „Teleologie“ ist daher selbst relativ und
kann in keinem Sinne als normgebendes Gefüge entwickelt werden. Wenn das Erziehungsideal ei-
ner Zeit und eines Volkes „historisch bedingt und geartet ist“, so kann es daneben keine Vollkom-
menheit eines teleologischen Zusammenhanges“ geben, „den ein Seelenleben im Ineinandergreifen
seiner Vorgänge bildet“, so daß sich daraus eine „allgemeine Bedingung“ aufweisen ließe, aus
der man eine „Abstraktion aus der geschichtlichen Lebendigkeit des Menschen“ gewinnen könnte, die
„als solche einer wissenschaftlichen Darstellung“ zugänglich wäre.
Gäbe es diese „Vollkommenheit“, dann wäre nicht einzusehen, warum sie nicht in der Geschichte sich
das ihr entsprechende Ideal zugeordnet hätte, wie jeder Vogel das seinen Jungen entsprechende Nest
baut. Und läßt sich diese „Vollkommenheit“ zweitens überhaupt anders bestimmen, als daß man sie
vom Telos oder Ziel des Lebensgefüges her bestimmt? Wäre dieses aber mit seinem Funktionieren
selbst identisch, so müßte man ein „Ideal“ von funktionaler Ablaufsharmonie, ihrem Rhythmus und
ihrem Tempo gewinnen können, um eine solche Aussage zu fundieren. Da dies unmöglich ist ohne me-
taphysische, allgemeingültige Maßstäbe, so enthüllt sich Diltheys Denken als ein Lebenspositivismus,
der kein Bewußtsein hat von seiner nominalistischen Bodenlosigkeit, den er für oberflächliche Leser
durch den pseudometaphysischen Gebrauch großer Worte verdeckt. Wenn er abschließend bemerkt: „So
hat sich uns die Möglichkeit einer allgemeingültigen Pädagogik ergeben; in der Vollkommenheit der
Vorgänge und ihrer Verbindungen, die in der Teleologie des Seelenlebens verbunden sind, hat sie eine
sichere allgemeingültige Grundlage; in der Deskription, der Analysis und Regelgebung vermag
sie den Charakter strenger Sicherheit zu erreichen“, so zeigt er nur, in welchem Maße er selbst
durch seinen Lebensnaturalismus beirrt ist. Er sieht nicht, daß menschliches Leben, als sich über-
steigendes, nur durch transzendente Zwecke geregelt werden kann und daß Wesen und Gültigkeit
des Guten und der Ideale über die Vollkommenheit der Lebensvorgänge von der Wurzel an ent-
scheiden.
Dilthey ist freilich in seinem Gesamtwerk durch seine geistesgeschichtliche Orientierung immer wieder
über seinen naturalistischen Ansatz hinausgegangen. Darum billigt er auch einer umfassenden Be-
trachtung, nach welcher die Natur auf den Zweck (der „Bildung und Vollkommenheit“, „unter einem
höchsten philosophischen Gesichtspunkt“) hinarbeite, „ihr Recht“ zu. Darum würdigt er Otto Willmanns
und Lorenz von Steins Bildungslehren und sagt: „Pädagogik in diesem Verstande ist das höchste
und praktische Ziel, zu welchem die Philosophie leiten kann.“ Aber er sinkt immer wieder ins Histori-
sche wie ins Subjektiv-Psychologische ab, wenn er fortfährt: „Solange die Institutionen der Gesell-
schaft nicht dieses (philosophisch erhellte) Ziel als letztes und höchstes wirklich verfolgen, wird die
Lehre von der Erziehung sich auf die Tätigkeit der Erwachsenen an dem heranwachsenden Ge-
schlechte zum Zwecke der Bildung desselben einzuschränken haben.“ Welche rührende Selbstbe-

201
scheidung des Pädagogen, der erst dann sich entschließen will, ein philosophisch begründetes Ziel
anzustreben, wenn die „Gesellschaft“ sich zuvor entschlossen hat, und welch eine subjektivistische
„Geschichtslosigkeit“, die nicht mehr weiß, daß in der Gesellschaft nur das zur Wirksamkeit kommen
kann, was vom Erzieher in ihr dem heranwachsenden Geschlecht als verbindlich enthüllt und be-
zeugt wurde.
So ist denn auch „Bildung“ nach Dilthey nichts als die erreichte „Vollkommenheit“ der Vor-
gänge und ihrer „Verbindungen im Seelenleben“, „wobei solche Vollkommenheit und Bildung aus
dem „teleologischen Charakter des Seelenlebens“ als Selbstzweck zu betrachten sei“. „Ist doch jeder Be-
griff von Zweck und Selbstzweck nur daher genommen, daß in dem befriedigten Zustand unserer
Gefühle alle Vorgänge ihren Mittelpunkt haben.“ Man kann keinen stärkeren Ausdruck finden
für einen flachen naiven Lebenshumanismus, der in seinem eigenen subjektiven Gefühlsgrund Maß-
grund und Ziel und im Funktionsmechanismus seine höchste Vollkommenheit in einem besitzt. Dieser
Bildungssubjektivismus und geistesgeschichtliche Relativismus hat nicht nur Sprangers zeit-
geschichtlich relative Strukturpsychologie, seine Charakterologie und Typenlehre bestimmt, sondern
auch seinen Bildungsbegriff hervorgetrieben, der in der „geschlossenen, in sich selbst befriedigten
Persönlichkeit“ kulminiert. über die auflösende potenzierte Subjektivierung dieses Bildungsdenkens
habe ich an anderer Stelle ausführlich gehandelt. (Vgl. „Bildende Erziehung“ in „Unsere pädagogi-
sche Aufgabe heute“.)
Das Bedeutsame an Diltheys Versuch liegt ohne Zweifel in der Weite seiner Gesichtspunkte, in der er
in echter geschichtlicher Orientierung den großen Wirkmächten der Erziehung, der Familie, der Ge-
meinde, dem Staat und der Kirche aufgeschlossen ist und um das „Gleichgewicht der Kräfte“ ringt,
durch die allein „die Allseitigkeit der Erziehung gesichert ist“. Schon Hermann Nohl wies in der Ein-
leitung darauf hin, daß Diltheys „Analyse der psychischen Elementarprozesse“ unverbunden neben der
Analyse der geschichtlichen Inhaltlichkeit steht. Er meint, daß die „Allgemeingültigkeit der Pädago-
gik“ nur „in der Einsicht in die Struktur der pädagogischen Wirklichkeit“ gründe, die Dilthey selbst
in seiner Abhandlung doch zum ersten Male entwickelt.
Freilich, man darf nicht das Positive der verzweifelten Anstrengung Diltheys aus dem Auge verlie-
ren. Es geht ihm ja nicht um das Pädagogische, sondern um seine „Wissenschaft“, d. h. um einen un-
mittelbaren Daseinsbereich, der sich streng und allgemeingültig jenseits der historischen Relativi-
tät erschließen und verbindlich machen läßt. Daher kehrt die Frage nach dem Woher solcher
strengen Aufweisbarkeit und Darstellung auch gegenüber der „Struktur der pädagogischen Wirklich-
keit“ wieder. Gegenüber Diltheys Entschiedenheit steht daher Nohls Konzeption zunächst im „Unwis-
senschaftlichen“ des geschichtlichen Lebensstromes. Diese „Wirklichkeit“ enthält aber das Ganze
des menschlichen Daseins, seine rassische, nationale, stammesgeschichtliche und individuelle Man-
nigfaltigkeit, seine geschichtlich-kulturelle und religiöse Entwicklung, die Ausgestaltung und
Reichweite der erziehlichen Gemeinschaften der Familie, der Gemeinden, des Staates, der Kirche, der
Gesellschaft, den ganzen Kosmos des „objektivierten“ Kulturerbes, die Tradition des gegebenen Schul-

202
und Erziehungswesens, die geschichtliche Situation, das Wesen des Kindseins, seine Empfänglichkeit
und Bildsamkeit, sein Reifen und sein vom Gewissen und der Vernunft her sich neigendes Erkennen
und Streben, schließlich die Offenbarung Gottes und die Kirche, die mit dem Anspruch heilsverbind-
licher Wahrheit heraustritt.
Es bleibt aber die Frage offen, welche Erkenntnisweisen dieser Wirklichkeit angemessen sind und wie
sich Erziehung fruchtbar und wesensgemäß ereignet. Was ist das Ziel der Erziehung, und wie faltet
sie sich gegenüber der Mannigfaltigkeit des Lebens aus; was ist sie als „Pflege“ der Natur, als „Füh-
rung“ im sittlichen Wachstum und als „Bildung“ in der Erkenntnis der Natur und des Seins und des
inneren Wachstums schöpferisch bildender Vermögen? Vor allem ist jede Bildungs- und Erziehungs-
frage von der metaphysischen nach dem Wesen des Menschen und seiner Daseinsziele umgriffen. Jede
geistesgeschichtliche Empirie, jede Erschließung der geschichtlichen pädagogischen Wirklichkeit er-
hebt sich nur dann über die unverbindliche Weise einer historischen Wissenschaft, wenn sie in phäno-
menologischer Enthüllung wesensallgemeine Strukturen aufweist, wenn sie die innerlich führenden
Güter und Ideale eines Zeitalters metaphysisch sichert und als verbindlich erhärtet und das Zeitbe-
dingte ausscheidet; wenn sie exemplarische Modelle als normgebende Regulative sichtbar macht;
wenn sie schließlich das Ganze der Erziehungswirklichkeit philosophisch aus dem Grunde des trans-
zendierenden Daseins und seinem transzendentalen Horizont her entfaltet und das Erziehungsgesche-
hen selber als den Lebensakt einer liebenden Person begreift, die in Wahrheit und im Guten im Ge-
wissen versiegelt und im Herzensgrunde überströmend erweckt ist. Erziehung ist solchermaßen „sich
neigende, heilsgewillte Liebe“ (Eggersdorfer), umschließende „dialogische Partnerschaft“ (Buber) und
ein zum Sein und zum Guten erschlossener „Eros“, der im Herzen des geliebten Jüngers, aber immer
zugleich „im Schönen zeugt“, das Meister und Jünger im Geistgrund vereinigt (Platon). Nur in dieser
Dimension läßt sich die „pädagogische Wirklichkeit“, ihr Verhältnis zu allen möglichen bildenden
Gehalten und schließlich der empfängliche und doch immer spontane und persönliche Geist- und Her-
zensgrund des Kindes bestimmen, sein Reifen und Mündigwerden bis zur selbstmächtigen sittlichen
Person und zur ehrfürchtig gebundenen Gotteskindschaft des Menschen, wodurch dieser als Glied irdi-
scher Gemeinschaften zugleich im Gottesreich verwurzelt ist. Dilthey hat schöne und erhebende Worte
gefunden für den pädagogischen Genius, für seine Ursprünglichkeit, kraft der er „im Gefühl seiner
Würde“ mit „Begeisterung“ sich seiner Aufgabe widmet. Seine Anziehungskraft ist durch „die im-
pulsive Macht“ bedingt, mit der er sich äußert und hingibt. In ihm herrschen „Gemüt und An-
schauungskraft“ vor. Denn „wir verstehen und bestimmen einen Menschen nur, indem wir mit ihm füh-
len und seine Regungen in uns nachleben. Wir verstehen nur durch Liebe.“ Darum fordert er eine
„Kunst der Liebe“, eine „ungebrochene Naivität“, mit der der pädagogische Genius sich „dem Kinde
nähert“.
Wer mit Ernst diese weisen Sätze liest und ihre Wahrheit faßt, wird erkennen, daß Pädagogik als
praktische Erziehungskunst von den verkürzenden Aspekten der Spezialwissenschaften zwar angeregt,
aber nicht in der Wurzel ermöglicht wird. Sie ist ein Lebensvorgang, der in seiner schöpferischen

203
Fruchtbarkeit nur aus jenen Wurzelgründen hervorwächst, in denen das liebende Menschenherz aus dem
Gedächtnis einer liebevoll umhegten Kindschaft und aus dem erleuchteten Gewissensgrund dem Ganzen
des Daseins in Liebe aufgeschlossen ist, weil es dieses als von Gottes Liebe begründet und von ihr
zum Heile gerufen weiß. Darum sind alle großen Erzieher religiöse, gläubige und liebende Men-
schen gewesen. Der pädagogische Vollzug ist immer ein konkretes, persönliches und individuelles Ge-
schehen, das zwar vom Wesenhaften und Allgemeinen her geregelt, aber nie determiniert ist, so daß
es nie geschieht ohne freie Entscheidung und schöpferische Bewältigung und Bestimmung einer ge-
schichtlichen Situation. Denn jede menschliche Handlung ist ein Ereignis im Konkreten und Einma-
ligen des Daseins und zielt auf das Wirkliche selbst, das es bewegt und vollendet.1
Aus dieser metaphysischen und existentiellen Sicht des Pädagogischen ergibt sich, daß es ein Unheil
wäre, den Erzieher des Volksschulkindes vorab durch den Wissenschaftler der Universität auszubil-
den, die doch nur mit mühsamer Anstrengung aus den anthropologischen Einseitigkeiten der Spezial-
wissenschaften sich zu jener metaphysischen Universalität und Selbstbegründung zurücktastet, aus
der unsere Kultur erwachsen ist, und die immer noch im Gewissensgrunde des Menschen unserer Tage
wirksam ist. Die „verstehende erzieherische Liebe“ braucht eine andere Atmosphäre zu ihrer Erwe-
ckung und zu ihrem Gedeihen. Darum ist eine wissenschaftliche Durchdringung der so vielartigen pä-
dagogischen Problembereiche nur fruchtbar, wenn sie dem Ursprünglichen des Daseins erschlossen und
zugetan bleibt, aus dem allein sich Erziehung und Bildung ereignen, ohne in ein wurzelloses Treiben
zu verfallen. Dies wenigstens kann uns Diltheys verfehlter Versuch einer Wissenschaftsbegründung
der Pädagogik lehren, wofür wir ihm in der gegenwärtigen Situation unseren Dank schulden.

1
Vgl. Gustav Siewerth, Die menschliche Willensfreiheit nach Thomas von Aquin.

204
DER PSYCHOLOGISMUS IN DER PSYCHOLOGIE

Die Psychologie ist durch die ihr eigenen Subjekt-aspekte mit besonderem Nachdruck auf die Ur-
sprungsstufen der menschlichen Entwicklung verwiesen. Die Psycho-analyse, die Komplex-
Psychologie, die Psychologie der unbewußten Stammesvererbung, die Charakteriologie und Typen-
psychologie, die Lehre von den Entwicklungsstadien, schließlich die Weltbild- oder Umweltpsycholo-
gie ist mit methodischer Konsequenz dem unentfalteten Ursprung zugeordnet. Diese Wissen-
schaft hat es mit der inhaltlichen oder funktionalen Prägung des Menschen, mit dem dispositionellen
Angelegtsein, der konstitutiven Grundverfassung, der inneren „Ordnungsstruktur“, der Natur des Men-
schen als solcher zu tun. Sie macht dabei nicht nur die Voraussetzung, daß es diese Vorprägung gibt,
sondern vielfach auch, daß in ihr das „Wesen“ des Menschen, sein „Charakter“ und „Wert“ beschlos-
sen ist. Der Mensch ist das, was in ihm naturhaft, durch Erbschaft oder durch prägenden Einfluß an- und
eingelegt ist. Könnte man (wie in der Biologie in die Urpotenzen und Urformen der Gene) in diesen
Grund eindringen und ihre das Ganze aufbauende Mitgift erkennen, so müßte sich uns das Geheim-
nis des Menschen entschleiern. Das Kind erscheint so als der noch eingehüllte Substanzgrund des Gesamt-
lebens, als Ausgang und Ursprung des Lebens, zugleich als „Prinzip“ zu seiner Deutung und Erkennt-
nis. Man glaubt, das menschliche Streben aus dem „libidinösen“ Urquell, wesentliche Erkenntnisin-
halte aus „Archetypen“ einer menschheitlichen Seelenerbschaft, den späteren Charakter aus den „Kom-
plexen“ einer Ur- und Selbsterfahrung „erklären“ zu können, das Menschsein aus „Grundtrieben“,
dem „Willen zur Macht“, dem „Geltungsdrang“, dem Trieb nach „Herrschaft, Besitz und Genuß“,
dem Entwindungs- und Überwindungsdrang der Urangst, aus dem ekstatischen Trieb zur Auflösung,
zum Tode, dem Streben und der Neigung zur Ergänzung, zur Gemeinschaft bis zur kollektivistischen
Einordnung, dem Ausdrucks- und Gestaltungswillen herleiten zu können.
Die Kritik dieser Lehren verdichtet sich immer wieder in den Vorwurf des „Psychologismus“. So sagt
W. Leibbrand in seiner Würdigung des Werkes von C. G. Jung, daß dieser im Psychologismus begonnen
habe und ihm verhaftet geblieben sei bis ans Ende. Beachtet man zugleich die achtungsvolle Würdi-
gung, die Jungs Werk in dieser Besprechung1 erfährt, so wird die Frage um so gewichtiger, was
denn mit diesem Vorwurf gemeint sei. Um ihn zu verstehen, muß man die Psychologie selbst überstei-
gen. Gäbe man zu, daß es die Psychologie als in sich selbst begrenzbare Wissenschaft gäbe, die durch
ihren Gegenstand, ihre Methode und ihre Grunderkenntnisse (Prinzipien) wie etwa die Mathematik
definierbar sei, so wäre der Vorwurf sinnlos. Niemand wird der Mathematik entgegenhalten, daß sie
sich im „Mathematismus“ verlöre. Solches könnte nur geschehen, wenn die Mathematik beanspruche,

1
Hochland, Juni 1955

205
durch ihre Sätze die Natur, das Leben oder gar den Geist bestimmen zu können, d. h., wenn sie den ihr
eigenen Bereich überschritte.
Nun aber ist die Psychologie die wissenschaftliche Lehre vom Seelenleben des Menschen. Scheint es da
nicht, daß es dann eine Grenzüberschreitung gar nicht geben könne, da doch offenbar der Be-
reich so weit reicht wie das Menschliche selbst? Wie aber kann dann die obengenannte Schwierig-
keit entstehen, und was kann sie besagen?
Die Psychologie ist eine „moderne Wissenschaft“. Als solche begann sie unter der exemplarischen Füh-
rung naturwissenschaftlichen Denkens. Dieses besteht wesenhaft darin, den Zusammenhang von Phäno-
menen durch messende Erfahrung in seiner Notwendigkeit aufzuweisen und in festumrissenen (mathe-
matischen) Formeln zu fixieren. Solch ein notwendiger Zusammenhang und seine ihn ausdrückende
Formel wird ein „Gesetz“ genannt. Dieses meint nichts anderes als eine die individuelle Mannigfal-
tigkeit der Dinge und Phänomene durchherrschende und beherrschende Macht, die sie als innere
Einheit begreifbar macht. Eine gesetzlich durchherrschte Natur ist daher wesenhaft eine Allnatur, die
aus ihrem Wirkgrund her alles Vereinzelte nur als Phase und Moment von „Natur überhaupt“ er-
scheinen läßt.
Wir wissen, daß die jüngste Entwicklung der Naturwissenschaft diesen Gesetzesanspruch aufgehoben
hat - er hat jedoch von vornherein im methodischen Weg empirischer Erfahrung, generalisierender
Ordnung und Identifizierung der Phänomene die Psychologie bestimmt und ihren Weg vorgeschrie-
ben. Die materialistische Elementenpsychologie wie der empirische Sensualismus stand ganz unter sei-
nem Einfluß. Aber auch die Ganzheits- und Strukturpsychologie ist der Versuch, auf der Ebene
komplexer Phänomene, der nicht auf Früheres zurückführbaren „Ganzheiten“, sogenannte Wesensgesetz-
lichkeiten, d. h. ordnende und beherrschende Allgemeinheiten sichtbar werden zu lassen. Gäbe es nun
solche die Natur als solche durchherrschenden Ganzheiten, so enthüllte sich in ihnen eine menschliche
„Allnatur“, die sich in den Individuen ausformt. Nur sofern es diese gibt, kann man aus einem Seelen- o-
der Triebgrunde mit seinen anlagemäßigen Verzweigungen, seinen Zielentwürfen und seinen ver-
erbten Inhalten den Menschen „rekonstruieren“ und jedes individuelle Verhalten auf „Triebdeter-
minanten“, ihre Entfaltungswege, ihre Abirrungen und die geheimen Mechanismen der Tarnung, der
Verdrängung, der unbewußten Umwege und aufweisenden Symbole zurückführen und wissenschaftlich
durchleuchten. Immer ist dabei vorausgesetzt, daß der Mensch wesenhaft eine das Individuum tragende
und durchherrschende und ihren Urwillen mit Macht verwirklichende Natur sei, ein unbewußtes, von
der Generation her bestimmtes „Tierwesen“, ein blinder Urwille, dem die kleine Leuchte des Bewußt-
seins dienstbar sei, ein „disponierter Organismus“, mit vorbestimmten Prägungen (Charakter), die
alle seelischen Abläufte bestimmen, ein Gefäß, angefüllt mit dem Urerbe von Urbildern, Zielgründen,
Urerlebnissen und Urgewohnheiten, ein Strombett unbewußten Geschehens und Strömens mit seinen
Untiefen an Angst, Todesnot, Machtrausch, Schwermut und an Liebesneigungen und -Sehnsüchten, das
sich im sittlichen Bewußtsein eine unsichere, von der Tiefe her gefährdete Einfassung geschaffen hat.
Dieser Mensch ohne die Sonde der Psychologie ist wie ein Schwimmer, der mit seinem Kopf aus dem

206
Wasser hervorschaut, der nur die künstlich aufgeworfenen Ufer anblickt, nicht wissend, wohin die
Fahrt geht, welche Ungeheuer ihn in den Wassertiefen umkreisen und welchen Katarakten er sich
nähert.
Einen starken Antrieb erfuhr diese Betrachtungsweise von der naturalistischen Biologie, die den „homo
sapiens“ als späte Entwicklungsstufe einer tierischen Ahnenreihe zu begreifen sucht und die typisch
menschlichen Bewußtseinsleistungen einer späten psychologischen und pathologischen Ausformung,
vor allem der epigenetischen Entwicklung des Großhirns und seiner differenzierten Rinden- und
Ganglienstruktur zuschreibt und somit die „Bewußtseinswelt“ auf einen animalischen, instinktiv gere-
gelten, urtümlich artbestimmten Triebgrund aufgepfropft hat. Die Gedankenwelt des späten Scheler
(vgl. Der Mensch im Kosmos) ist ganz von dieser Vorstellung bestimmt. Er wie auch Nicolai Hart-
mann sehen daher im Lebensdrang der Natur die eigentliche „Macht“ des Daseins beschlossen, wäh-
rend das Höhere zwar durch komplexere Organisation, aber zugleich durch Seinsschwäche bestimmt ist.
Der nur wesende, dem Ewigen und Gültigen zugekehrte Geist entbehrt für sich der substantiellen
Leidenschaft und damit der Daseinsmächtigkeit, die der Mensch seiner animalischen Triebnatur al-
lein verdankt.
Dieses letzte Bild des urtriebbestimmten Menschen ist im Bewußtsein vieler zeitgenössischer
Forscher ihr höchster Triumph, der die Tiefenpsychologie instand setzt, nach dem Vorbild ihres geniali-
schen Schöpfers Friedrich Nietzsche das Leben der Individuen wie der Gemeinschaften, der Kulturen
und Religionen zu deuten und ihre dionysisch-dämonischen Untergründe aufzudecken. Sie ist nicht minder
als das dumpfe Gesetzesall, das mechanisch bewegte Weltungeheuer der klassischen Natur-
wissenschaft, das freiheitlose Gegenbild einer triebgetragenen menschheitlichen Allnatur. Wie in der
Welt der Natur Gott, so ist im Menschen der Geist ausgetrieben und die Freiheit zum Schein und
Trug des Bewußtseins geworden.
Diese Seelengrundentwürfe, die von ihren Autoren oft als Erkenntnissystem des Menschen und des
Seins mit metaphysischen Ansprüchen vertreten werden, nicht anders als die klassische Naturwissen-
schaft eine Metaphysik der Natur und des Seins vertrat, sind nicht einfachhin Abirrungen einer wis-
senschaftlichen Psychologie, sondern die radikale Ausformung einer wesenhaften Tendenz des began-
genen Erkenntnisweges. Wer in Gesetzesform erfaßbare Prägungen und Zusammenhänge feststellen
will, muß den Menschen als Naturform ansehen, die irgendwelchen Determinanten unterworfen
ist. Aristoteles hat deshalb die Lehre von der Seele als „physische Wissenschaft“ bezeichnet und von
dieser die „Dialektik“ unterschieden, die es mit dem Geist und seinem Erkenntnisleben zu tun hat,
wobei ohne Zweifel mit der „Physis“ nicht der moderne Naturbereich, sondern die im Wachsen und
Werden des Menschen hervorgehenden Ausfaltungen des ursprünglichen Wesensgrundes gemeint sind.
Nur sofern diese hervortretenden Grundvermögen in der Weise vollendeter Wirkbereitschaften als
„habituelle“ Ausprägungen in organischer Durchformung existieren, wie etwa die fünf Sinne, sind sie
„Gegenstand“ einer Lehre von der Seele.

207
Die moderne Wissenschaft hat in diese Seelenverfassung die habituell vollendeten Neigungs- und
Strebedurchprägungen als typische, charakterliche, morphologische, funktionelle, instinktartige
oder erblich determinierte Gegebenheiten einbezogen und versucht, die Mechanismen oder die Wirk-
zusammenhänge einer Natur“ aus solchen Voraussetzungen herzuleiten. Sofern es solche endli-
che, die vegetative und sensitive Lebens- und Neigungssphäre sowie die körperlichen Wirkweisen
eingrenzenden Prägungen gibt, sofern es weiterhin tragende Grunderlebnisse, Gewohnheiten, Notzu-
stände, Liebesneigungen gibt, die eine beherrschende Wirkmacht ausüben über spätere Handlungen, Er-
fahrungen und Erlebnisse, hat die Psychologie in der Tat einen Bereich, der durch eine gewisse Gesetz-
lichkeit bestimmt scheint. Vollends da, wo der Mensch seelisch erkrankt, wo er die Herrschaft über sich
verliert, scheinen sich seine Handlungen freiheitslos in rein funktionale Abläufte zu verwandeln, mit
denen allgemeine Grundprägungen, vor- und außerbewußte Neigungen und charakterliche Determi-
nanten in die Erscheinungen treten. Darum hat die Psychologie ihr bestes Beweismaterial und ihre
stärksten Impulse in den Krankenstuben der Psychiater gewonnen.
Dieser Wissenschaft wohnt daher die Tendenz inne, den Menschen in eine geprägte Natur und sein Le-
ben in die transzendenzlose Immanenz des „Subjektes“ zu verlegen, wobei das Wort „Sub-jekt“
(griechisch: Hypokeimenon) hier im strengen Wortsinn als tragender Untergrund der Vorgänge ver-
standen wird. Überall da, wo die subjektive Seite des Geistes- und Seelenlebens neben dem sich
selbst übersteigen den, von einer Sache her geregelten Zielstreben und gegen es zutage tritt, findet der
Psychologe den seelenhaften Subjektgrund als solchen am Werk und trifft so auf seinen Gegenstand.
Besonders wenn das Leben sich selbst und seinem verantwortlich von Zielen her geleiteten Tun ent-
gleitet oder wenn es „versagt“, erscheint der eigenwillige oder eigengeprägte Subjektgrund in posi-
tiv oder negativ bestimmter Verfassung. In allen Hemmungen, in jeder affektiven Vorbestimmtheit,
in störenden Stimmungen, in enthemmter Heftigkeit, in jeder Weise des Unvermögens, der Fehlleis-
tungen, der Beirrung durch Fehlvorstellungen, der Beeinträchtigung und Ablenkung durch Ge-
wohnheiten, in jeder Funktionsstörung, aber auch in Indisponiertheiten fehlgebildeter oder noch nicht
entwickelter Vermögen, in charakterlicher Vereinseitigung und Verhärtung wie überhaupt in jeder in-
neren Leistungsgrenze und der Abhängigkeit unseres Handelns vom Haushalt unserer leiblich-
seelischen Natur usf. wird eine „subjektive“ Verfassung sichtbar, deren Wirkweise der Psychologe
erfassen, deren Einflüsse er abschätzen, deren Verursachung er aufdecken kann. Sofern er dabei das
Subjektive solcher Gegebenheiten in den Subjektgrund hineinprojiziert und auf letzte Wurzeln und
Urneigungen hin zurückverfolgt, wird ihm notwendig eine urtümliche Subjektverfassung, der Le-
bensgrund als solcher zum eigentlichen Ausgang und zum Maß-, Form- und verborgenen Zielgrund des
menschlichen Handelns, dessen geheimes Wirkgeflecht er mit den Mitteln der „aufschließenden Analy-
se“ aufzudecken trachtet, um so dem unbewußten Schwimmer den Blick in den ihm verborgenen Le-
bensstrom zu gewähren, der ihn in ein herrschaftliches oder doch beruhigtes Einvernehmen mit sei-
nem „Urselbst“ bringen soll. Sofern der Psychologe dabei von der prävalenten Eigentümlichkeit der
Seins- und Sachbereiche, von den Maßgründen des Wahren und des Guten absieht oder ihre Inhalte

208
und Ansprüche in Triebprojektionen, in Trieb- und Seelenbilder und Ausformungen umdeutet, er-
scheint das Phänomen des „Psychologismus“, das zu erzeugen der Wissenschaft der modernen Psycho-
logie wesenhaft innewohnt.
Ein wissenschaftliches Wort wie Psychologismus hat stets einen harmlosen Klang; es täuscht über die
innere Zerstörung, die der Sache selbst angetan wird, die um so gefährlicher ist, als der trügeri-
sche Schein im Bereich der Psychologie maßlos ist. Er hängt mit der metaphysischen Einheit des Men-
schenwesens und der Einfachheit des durchformenden Seelengrundes zusammen. Es gibt daher kein
menschliches Phänomen, das sich nicht durch alle Bereiche des Seelenlebens hin erstreckte und seine
Entfaltungen mitbestimmte. Was immer man vom Menschen aussagt: sein sinnliches Vorstellen, seine
sinnliche Empfänglichkeit, seine Rationalität und Vernünftigkeit, seine sinnliche Konkupiszenz,
sein Geltungs- und Machtstreben, seine Liebesneigung, sein geistiges Wollen, seine Angstgestimmt-
heit, sein Willen zu Glück und Frieden, sein Streben nach Wahrheit und Güte, seine Naturbestimmt-
heit, seine Leiblichkeit, seine Arbeitsverfassung, sein Streben nach Besitz, seine Ge-
meinschaftsverflechtung wie sein personales Selbstsein, seine Freiheit wie seine motivische Nötigung,
seine Daseinsbefindlichkeit, seine apriorische Innerlichkeit, sein Gedächtnis wie sein Daseinsentwurf
auf die Zukunft hin, seine unbewußte oder vorbewußte Seelentiefe usw., immer stehen wir vor Gege-
benheiten, die das ganze Menschsein durchgreifen und sich deshalb als „anthropologisches oder psycho-
logisches“ System entfalten lassen und den Schein eines aufhellenden Menschenbildes an sich tragen.
Da im Krankheitsfalle notwendig alle Strukturen im Seelenleben betroffen sind, so läßt sich von den
genannten Bereichen her auch eine fruchtbare Therapie entwickeln, die dem heutigen Menschen Hei-
lung und Heil bedeutet und die Wahrheit der Lehre selbst für ihn erhärtet.
Die „Wahrheit“ dieses Denkens ist aber zugleich auch sein Irrtum, der immer einen Schein und damit
eine „Ähnlichkeit“ mit der Sache selbst voraussetzt. So waltet in jedem religiösen Liebesakt nicht nur
etwas vom Streben der Natur, nicht nur ein Modus von Geltungs-, Macht und Glücksstreben, son-
dern dieser stellt eine „Analogie der Entsprechung“ und eine „Analogie der Attribution“, d. h. der
„inneren Hinordnung“ dar, so daß für den ungeübten Geist aus solchen vagen Analogien leicht wesen-
hafte Identifikationen entstehen. Die Geschichte der Psychologie ist daher eine sich korrigierende Abfol-
ge von solchen menschlichen Grundverfassungen, deren beirrende Teilhaftigkeit die reaktive Ergän-
zung und oft deren zeitgenössischen Ruhm bedingte.
Das Wesen des Pychologismus ist die Zerstörung des Menschenwesens, als eines „imago a Deo et ad
Deum“, wie der Aquinate formuliert. Dieses „Ab- und Hinbild“ existiert nur in wesenhafter Über-
steigung seiner selbst und in innerer Ermächtigung durch die Macht des Seins und des Guten, so daß
das Selbstsein des Subjektes sich um so mehr entleert, als es aus dem sittlichen und religiösen Daseins-
entwurf, der sich aus der transzendentalen Wahrheit her regelt, heraustritt. Als Für-sich-Sein ist es
die leere, unerfüllte Potenz, in ihrer Bedürftigkeit freilich um so triebmächtiger und triebgespann-
ter und in ihrer Wahrheits- und Seinsentfremdung um so sehnsüchtiger wuchernd im Vagen ahnungs-
trächtiger Bilder und Träume. Nach der Lehre des Thomas stellt die Potenz stets eine Analogie zum

209
Akt dar, die freilich stets in einem unbestimmten, dunklen Umkreis von Möglichkeiten brütet und
als Erwartung von Ahnungen, schattenhaften Vorentwürfen und Bildern erfüllt ist, die aus dem der
Potenzstufe entsprechenden Seinsbereich entliehen sind. Ja die Potenz ist, besonders im Bereich
der Naturformen, stets irgendwie umfänglicher als der Akt der Seienden, von denen keiner die
ganze Empfängnistiefe der Natur und des menschlichen Herzens ausfüllt, so daß das unendliche, un-
geordnete Spiel der Ahnungen und Träume, die vage Flüssigkeit und Wandelbarkeit, das Unverbind-
liche tiefsinnig-trüber Entsprechungen, das blasse Eigenlicht oder das geliehene analogische Schein-
licht der nicht in die Entscheidung gerufenen Innerlichkeit den Schein der Freiheit und der Tiefe und
einer lösenden Kraft aus Erstarrung und falscher Bindung bei sich hat.
Wie aber der Psychologismus die Kraft des Wahren und Guten zerstört und die Potenz über den Akt
erhebt, so wird seine Macht unheilvoll und die Beirrung unaufhebbar, wenn sich der transzendentale
Wille und die Erkenntnis auf ihn hin versiegeln. Im Maße der Mensch sich als „Triebentfaltung aus
dem Naturgrund“ begreift, als „determinierte Urform“ oder als „gelebte Erbschaft“, verliert er mit
dem unerbittlichen Gewissensspruch sittlichen und religiösen Lebens den inneren Maßgrund, die
göttliche Mitgift des „inneren Gerichtshofes“ und erblindet notwendig gegenüber dem eigenen
Trieb- und Lebensstrom, dem er dann als „glücklich Enthemmter“ verfällt und seine willentlich
versiegelte Übermacht in der Tat durch alle geistigen Manifestationen hindurch verfolgen kann. Es
ist kein Zweifel, daß das „Geistesleben“ der „babylonischen Hure“ und ihrer „Kultur“ vom irdi-
schen Brand libidinöser Süchte in allen ihren Lebensäußerungen durchlodert ist und daß ihr auch noch
wie in der Schule Freuds die „Logik des Aristoteles“ oder die „Himmelserscheinung eines Engels“ zum
„Symbol“ libidinöser Projektionen und raffinierter Triebverkleidungen werden. Diese Psychologie
hat das unheimliche Schicksal, daß jeder von ihr so viel Erfahrung und so viel Bestätigung haben
kann, als er haben „will“, so wie jeder sein Leben als Fluch erfährt, der es vorab verfluchte. Darum
sagt Max Picard zu Recht: „Das Bild der Psychoanalyse erzeugt erst das Monstrum „Mensch“.“
Wir sagten, die Psychologie verfällt leicht dem Schein der „vorgeprägten“ Subjektivität, sie lebt
von deren Prävalenz, also vom Übergewicht der freiheitlosen Determinanten des Menschen, von sei-
ner personalen Begrenztheit und seinem personalen Verfall. Auch da, wo sie ihre Verfehlung des
Menschen erkennt und in den jüngsten Entwicklungen die Transzendenz, die „intentionale Überstei-
gung“ des Menschen, seine hierarchische Ordnung nach „Schichten“ und regulierenden Herrschafts-
zentren betont, die innere Struktur sittlichen oder religiösen Lebens aufzuhellen trachtet, bleibt
ihre Begriffsbildung wie ihre Blickrichtung dem „Akt und Subjektgefüge“ zugeordnet und erzeugt
den Schein, das Wesen des Geschehens selbst in den Blick zu bekommen. Aber dies letzte ist ein Irrtum.
Sie bleibt einem nur „analogen Aktbild“ verhaftet. Für die metaphysische Erkenntnis ist nämlich
jeder Akt wesenhaft bestimmt durch das „intendierte Objekt“. „Actus specificatur per objectum.“ Das
heißt, daß man das Denken nur vom Gedachten, die Liebe vom Geliebten, das Wollen vom erstrebten
Gut her, ein Vermögen nur vom ermächtigenden Seinsbereich her und die personale Freiheit nur aus der
Metaphysik der transzendentalen Erstreckung des Geistes „wesenhaft“ erkennen kann. Wird daher

210
die Psychologie „streng“, so muß sie den Versuch machen, die Subjektdeterminanten wie aus eigenen
Gründen zu umgrenzen. Gar zu leicht trennt sie diese dann ab vom transzendentalen Daseinsentwurf
des Menschen. Sie läßt sie als selbständige Größen erscheinen und erzeugt in Sprache und Vorstel-
lung den Irrtum des Psychologismus und ein Scheinbild vom Menschen. Jeder, der etwa die „Typen-
lehre“ Sprangers liest, kann die verfälschende, psychologistische Wirkung dieser so fragwürdi-
gen und substanzlosen Schemenbilder unmittelbar erfahren.
Zudem kann man Seinsphänomene streng nur von ihren letzten Horizonten, von denen her sie sind, um-
grenzen. Je mehr daher eine Psychologie den Menschen als ein in der Wurzel geeintes Triebgeflecht
bestimmt, diese Wurzel aber als Urphänomen des Lebens selbst zu fassen glaubt und durch seine
weitreichende Verzweigung erhärtet, wird sie definitorisch streng, sofern sie die vereinzelte Äuße-
rung und Erscheinung durch die Abwandlungs- und Manifestationsmodi hindurch systematisch um-
grenzen kann. Hier lauert jedoch die große Gefahr einer bloß analogen Zurichtung und sachlichen Ver-
fälschung der Phänomene, die sich kraft der oben gekennzeichneten Einheit des Menschenwesens nur zu
willig jedem unzureichenden Aspekt rückspiegelnd darbieten. Gar zu leicht entdeckt daher solche
Wissenschaft das, was sie in die Erscheinungen hineinsieht.
Außerhalb dieser psychologistischen Begrifflichkeit und ihrer Terminologie ist die Psychologie auf die
Aussageweise und den Deutungshorizont der Metaphysik angewiesen, auf eine daseins-analytische
Hermeneutik oder aber auf die Selbstauslegung des menschlichen Daseins, das sich selbst in seinem Er-
leben, im dichterischen, religiösen Wort, in volkstümlicher Weisheit mannigfaltig bekundet hat.
Manche Psychologie des „Denkens“, des „Gewissens“ z. B. sammelt mit Fleiß Tatsachen und Beobach-
tungen und hält die zu deutende Sache selbst oft im Dunkel durchschnittlichen Verständnisses, oder sie
bringt unausgewiesen und unbewußt weltanschauliche Vorentscheidungen und Meinungen mit, von de-
nen her sie die Tatsachen deutet. Liest man zum Beispiel Piagets vielgelobtes Buch über das Gewissen
des Kindes, so weiß man nicht, worüber man sich mehr wundern soll, über die Unbekümmertheit, mit
der hier „Gewissensbekundungen“ als solche registriert, oder die Naivität, mit der sie aus höchst
fragwürdigen Ansätzen her gedeutet werden.
Als ein Beispiel für das Gesagte seien H. Rempleins „Psychologie der Persönlichkeit“ einige Sätze
analysiert, die man beliebig aus allen Teilen des Werkes erweitern könnte. Dabei kommt es darauf an,
ebenso auf die verfälschte Sprache zu hören wie die Fragwürdigkeit der Sache zu sehen. Wir lesen
Seite 403 ... „Da die Anlage das Gesetz vorschreibt, entwickelt und verhält sich nur der echte Mensch
gemäß seinem inneren Gesetz, wogegen der unechte nach fremden Formen lebt. Man muß das Gesetz,
wonach er angetreten, als das Wesentliche eines Menschen ansehen und insofern Echtheit auch als We-
sentlichkeit ansprechen. Das Wesen aber wirkt im Innern, in der Tiefe; es macht den Kern der Per-
sönlichkeit aus. Deshalb kann man mit Lersch die Ursprünglichkeit auch bestimmen als das Mittel-
punkthafte und Tiefenhafte, die Innerlichkeit des im Existieren schöpferischen Seelengrundes. Aber
diese Innerlichkeit sollte bis in die feinsten Verästelungen des äußeren Verhaltens hinausstrahlen und
alle Handlungen des Menschen durchdringen. Unter diesem Gesichtspunkt ist Echtheit einer Persön-

211
lichkeit soviel wie Übereinstimmung ihrer Äußerungen mit ihrer wesenhaften Innerlichkeit, Unechtheit
das Gegenteil.
Um Mißverständnissen vorzubeugen, muß ausdrücklich betont werden, daß Echtheit der Persönlichkeit
sich so wenig mit Wahrheit deckt wie Unechtheit mit Lügenhaftigkeit, Unaufrichtigkeit und Heuche-
lei. Bei einem verlogenen Menschen ist die Lügenhaftigkeit so echt, d. h. dem Wesen entsprechend,
wie die Wahrhaftigkeit unecht, d. h. nicht wesensgemäß wäre. Hieraus sieht man zugleich, daß Echt-
heit und Unechtheit nicht ethische, sondern ausschließlich psychologische Maßstäbe sind. Im Sinne
der Übereinstimmung von Außen und Innen können ethisch minderwertige Eigenschaften ebenso echt
sein wie wertvolle Züge unecht. Bei einem geltungssüchtigen Psychopathen ist die Aufgeblasenheit so
echt wie die Bescheidenheit unecht.“
Die psychologistische Verfälschung beginnt mit dem ersten Satz: „Die Anlage schreibt das Gesetz
vor“, die „Anlage“ ist selbst das „innere Gesetz“, demgemäß sich der Mensch „entwickelt und ver-
hält“. Anlage ist daher hier nicht mehr Vermögen, es ist nicht von transzendentaler Empfänglichkeit und
durch das Walten des Seins zu sich und zum Sein ermächtigt, sondern als gesetz- und formgebendes
Innere notwendig die bereits formal durchgeprägte, inhaltlich erfüllte Entelechie des Lebens. Diese
Urform des Menschen ist seine eigentliche Determinante und so das „Wesentliche“ eines Menschen.
Diese psychologistische Sprache lebt unbewußt und naiv von einer metaphysischen Konzeption: Der
Mensch ist von der Wurzel her durchprägtes, individuelles „Animal“, in Analogie zum Tier oder
Pflanzenwesen konzipiert, das allerdings nach dem Gesetz der Natur lebt, von der es gelebt und be-
stimmt wird. Zugleich wird das methodische Problem dieser Wissenschaft sichtbar. Fragt der Psycholo-
ge wirklich danach, was ein „Gesetz“, was „Wesen“, was Anlage sei, oder nimmt er diese Kategorie
blind aus einer überkommenen Philosophie oder aus der Umgangssprache her auf, sie bald psycholo-
gistisch abwandelnd oder sie von Fall zu Fall unstreng verändernd? Die obigen Sätze bedeuten in
strengem Durchdenken, daß in der Anlage das Wesen des Menschen zu suchen und daher in ihr über ihn
entschieden sei; d. h. in der Anlage zum Sprechen über die „Sprache“, die (welche Ungeheuerlich-
keit!) ihr Gesetz aus der urtümlichen Angelegtheit des Individuums empfangen soll. Die Handlungen
des Menschen sind nicht durch die Ziele und Mittel, nicht durch das Richtmaß der sittlichen Regeln,
nicht durch das angestrebte Gut, sondern von den „Anlagen“ her das, was sie sind, da diese ja das
„Wesen“ des Menschen bedeuten. Das ist eine bedenkliche, für jeden Akt und Lebensbereich ganz of-
fenbare Verfälschung, wenn man nicht wiederum die zielgebenden Inhalte und letzten Güter des Men-
schen, wie Gott, den Mitmenschen, den Geliebten, die Gattin, das Kind, als archetypische Urbilder
und formgebende Neigungsbilder in den Seelengrund, d. h. in die Anlage hineinzieht, wodurch der ge-
nannte Widersinn nur durch einen neuen „Schein“ aufgehoben und der substanzlose Psychologismus
auf die Spitze getrieben wird.
Wir hören des weiteren, daß der echte Mensch gemäß seinem inneren Gesetz lebt, wogegen der un-
echte nach fremden Formen lebt; da dieses „Gesetz“, wonach der Mensch angetreten, als das
Wesentliche eines Menschen angesehen werden muß, so kann ein Mensch im Grunde vom Sein oder

212
von Gott her oder von der Gemeinschaft nichts „Wesentliches“ mehr empfangen oder nur das, was er
schon innerlich besitzt, da er ja sein individuelles Anlageschema ausleben oder entwickeln muß.
Die Empfängnis in Erkenntnis und Liebe steht daher von vornherein unter dem Verdacht der hetero-
nomen „Fremdgesetzlichkeit“; der Mensch, der ja wesenhaft im Opfer seiner individuellen Be-
schränktheit als sittlicher und religiöser existiert, wird in seinem Wesentlichsten unter den Verdacht
der „personahaften“ Selbstentfremdung, eines maskenhaften Scheinbildes gestellt, das C. G. Jung
entwirft. Daß es dies „Verfallen an das Man“ (Heidegger), diese dauernde Gefahr der Umkehrung
oder Verfälschung des sittlich Guten durch das Triebhafte gibt, enthüllt die Analyse des sittlichen
Lebensvollzuges. Dieser ist nur durch die feinen Maßstäbe sittlicher und religiöser Unterscheidung
wesenhaft aufhellbar, die als geistliche Praxis, als Gewissensübung und in der Lehre der „Unter-
scheidung der Geister“ im religiösen Leben geübt wird. Die letzte Tiefe und Substanz des sittli-
chen und religiösen Lebens ist freilich dem menschlichen Urteil entzogen.
Das Entartungsbild der „Persona“ kann nun neurotische und pathologische Extremformen aufweisen,
die den Arzt angehen. Seine Durchleuchtung vom Psychologischen allein her wäre jedoch immer von
psychologischer Vagheit und Unverbindlichkeit, d. h. im eigentlichen Sinne nur „analogisch“ oder in
einer allgemeinen Formalstruktur möglich, da der eigentliche Ort der Entschleierung in der persönli-
chen ethischen und religiösen Gewissenstiefe und im konkreten religiösen Lebensentwurf des Men-
schen liegt.2
Wir hören des weiteren, daß das „Wesen“ im Innern, in der Tiefe wirkt. „Echtheit ist Wesentlich-
keit.“ Sie ist der „Kern der Persönlichkeit“, „das Mittelpunkthafte und Tiefenhafte“, die Innerlichkeit
des im Existieren schöpferischen Seelengrundes. Diese Worte stammen von Lersch. Mittelpunkthaft
kann wohl nur bedeuten, auf den Mittelpunkt hin und vom Mittelpunkt her bestimmt sein. Zugleich
wird ein metaphysisches Wort wie „Seelengrund“ gebraucht. Man muß auch hier die Forderung erhe-
ben, daß eine Wissenschaft, für die solche Kategorien zentral sind, sich selbst als metaphysisch begreift
und entfaltet.
In diesem Zusammenhang aber ist das Wort für den philosophisch nicht geschulten Leser psychologis-
tisch beirrend. In philosophischer Sicht ist der „Seelengrund“ die Teilhabe der Seele an ihrem gött-
lichen Ursprung, ein Funke von Gottes Licht, ein Impuls seiner Liebe, ein Sein in der Wahrheit und
im Guten als ein ursprüngliches Ermächtigtsein zu transzendentalem geistigem Leben, also eine ur-
sprüngliche ekstatische, sich selbst übersteigende Erstreckung des Geistes ins göttliche Leben der Liebe,
der Wahrheit und der Güte. Hier ist gerade nicht das Ich oder das Subjekt, geschweige denn eine er-
füllte Urform oder ein individuelles Gesetz „Mittelpunkt“, sondern die Seele kreist im Ursprung
um jene göttliche Tiefe des Seins, die in Gottes Licht ihre Mitgift geworden ist. Echtheit wäre also
Entfaltung des Menschen aus der Wahrheit zur Wahrheit, aus dem Guten des Gewissens zum Guten,
was freilich der individuellen Eigenart nicht widerstreitet, sondern sie in der weiten Landschaft des
Seins erst zu sich ermöglicht, aber sie auch unausgesetzt ins Opfer oder in die Beschneidung ihrer stö-

2
Unter diesem Blickwinkel ist es kein Zweifel, daß die Psychologie ihre heutige epochale Bedeutung der Säkularisation des
religiösen Lebens verdankt.

213
renden Beschränktheiten stellt. Die Tiefe der Innerlichkeit wäre zugleich das Äußerste an transzen-
dentaler Erstreckung und Öffnung auf das Sein und das Gute hin, dessen Zentrum nicht die Seele, son-
dern Gott ist. Bei Remplein aber wird „Echtheit“ zur „Übereinstimmung der Äußerungen einer Persön-
lichkeit mit ihrer wesenhaften Innerlichkeit“, wobei der Schein prävalent ist, diese Innerlichkeit sei
eine individuell vorgeprägte und gesetzlich regelnde Wesensform. Was in Wahrheit bei der mensch-
lichen Persönlichkeit als Temperament und individuelle Eigenart immer nur beiherspielt, wird hier,
weil es im Kranken überwuchern kann, zum „Wesen“ umgefälscht. Auch das sprachlich so frag-
würdige „Tiefenhafte“ oder „Mittelpunkthafte“ Lerschs scheint psychologistisch etwas Inhaltliches und
Subjekthaftes, d. h. eine Urprägung um den Mittelpunkt herum zu legen, was in Rempleins Darstel-
lung dem Leser zumindest nahegelegt wird.
Die nächsten Sätze zeigen dann den Psychologismus in seiner ganzen verwüstenden Unkraft. „Echt-
heit deckt sich nicht mit Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit“, „Unechtheit nicht mit Lügenhaftigkeit, Un-
aufrichtigkeit und Heuchelei“. „Bei einem verlogenen Menschen ist die Lügenhaftigkeit so echt, d.h.
dem Wesen entsprechend, wie die Wahrhaftigkeit unecht, d.h. nicht wesensgemäß wäre.“ „Echtheit und
Unechtheit sind daher „nicht ethische, sondern ausschließlich psychologische Maßstäbe“.
Man fragt zunächst, woher der „Psychologe“ das Recht nimmt und wie er dies methodisch vermag, zu
entscheiden, was ein „ethischer Maßstab“ ist, wenn er nicht die Voraussetzung gemacht hätte, das Ethi-
sche sei von der Psychologie übergriffen und ihrem Urteil irgendwie unterworfen oder das „psycho-
logische Wesen“ des Menschen ließe sich absolut vom ethischen und religiösen abscheiden und als sol-
ches in eigener Sprache bestimmen, die die metaphysische Aussageweise in eine rein psychologische
verwandeln könnte. In Wahrheit kennt er das Ethische offenbar so wenig, daß er sich eine durchaus un-
sittliche Sprachverwüstung gestattet, die im Zusammenhang mit großen vorausgehenden metaphysi-
schen Worten, wie Seelengrund, Wesentlichkeit, Persönlichkeitskern, Existenzmittelpunkt, Lebensge-
setz usw., in ihren zerstörerischen Konsequenzen geradezu ungeheuerlich ist. Da alles aus den Anlagen
kommt, diese aber das Wesen sind, so ist also das Wesen (!) eines (wohl habituellen Lügners) die Lü-
genhaftigkeit, diese also Seelengrund, Lebensgesetz usf. und seine „Echtheit“. Gewiß sagt der Volks-
mund, ein „echter Lügner“ oder auch ein „echter Verbrecher“. Aber es wäre zu fragen, ob er primär
auf die habituellen Wirkbereitschaften, die das äußere Verhalten weithin determinieren können,
zielt oder aber wesentlich auf die unsittliche Radikalität der verbrecherischen Entscheidung und die
abgefeimte Bosheit des Lügners. „Echt“ ist also das Radikale oder Integrale im Unsittlichen.
Echtheit geht in der Tat auf eine Übereinstimmung der Handlung mit einem allgemeinen Neigungs-
grund des Herzens und der Seele. Im unsittlichen Verhalten aber wird gerade diese Übereinstim-
mung mit einem menschlich Wesenhaften durch eine gebräuchliche Aussagereihe negiert: „Alles an
diesem verlogenen Kerl ist „unecht“, „wesenlos“, „Schwindel“, „Angabe“, in einem Maße, daß „er auch
noch lügt, wenn er die Wahrheit sagt“.“ Solch ein Mensch ist eben im transzendentalen Entwurf seines
Seelengrundes nicht bei sich, sich selbst entfremdet, form-, gesetzlos und gewissenlos; er ist den
Forderungen und Ansprüchen des Seins, der Wahrheit und dem Guten entfallen. Daß es diese totale

214
Verderbnis außerhalb einer in selbstbestimmender Freiheit erwachsenen Dämonisierung rein „psycho-
logisch“ gar nicht gibt, es sei denn in der Form psychotischer Auflösung des Menschen, sollte zu-
rückschrecken lassen, die metaphysischen Worte und Gegebenheiten des Menschen psychologistisch zu
zerdeuten.
Immer aber ist Echtheit prävalent ein ethischer Maßstab. Sie ist sofort zerstört und im Wesen verfälscht,
wenn sie ihren ethischen Sinn verliert. Zu sagen, es sei „unecht“, daß der Lügner die Wahrheit sage,
hat doch den ethischen Sinn, daß entweder die wahre Aussage als Lüge intendiert war, oder aber, daß
sie beiläufig, akzidentell anfiel, ohne daß ein Wahrheitswille dabei im Spiel war. Das aber ist pri-
mär „sittlich unecht“ und kann es deshalb auch psychologisch sein. Wäre nur der geringste Gewissens-
anruf spürbar gewesen in einem lügnerischen Menschen oder hätte er die Wahrheit gesagt, um seinen
Freund nicht zu schädigen, oder hätte er die Mühe der inneren Sammlung geleistet, um vor Gericht
keinen Meineid zu sagen, so wäre es eine psychologistische Schamlosigkeit, zu sagen, solches
wäre „unecht“, weil das „Wesen dieses Menschen die Lügenhaftigkeit“ sei.
Gewiß deckt sich „Echtheit“ nicht mit „Wahrhaftigkeit“, sofern es „echte Lebensäußerungen des Men-
schen gibt“, z. B. im künstlerischen Schaffen, die nicht unmittelbar von der Tugend der „Wahrhaftig-
keit“ reguliert scheinen, oder sofern das „Echte“ auch wesentlich von Dingen wie Münzen ausgesagt
wird. Aber im Grunde ist die Scheidung für den menschlichen Bereich ein Irrtum, sofern die Wahrhaf-
tigkeit wesenhaft als sittliche Tugendkraft auf die innere Übereinstimmung der Handlung mit dem
Ziel, der Aussagen mit der Wirklichkeit, auf die innere wesensgemäße Zuordnung aller Seins- und
Lebensbereiche, besonders des eigenen Herzens gerichtet ist. Einem unechten künstlerischen Schaffen
liegt daher auch ein sittliches Verhältnis zugrunde,3 sofern der Mensch offenbar nicht von der Not-
wendigkeit der künstlerischen Aussage, sondern in eitler Selbsttäuschung von dem Drang einer falschen
Selbstdarstellung beseelt ist, die ihn innerlich gegenüber seinem Werk erblinden läßt. Wer unechte
Dichterlinge kennt, weiß, daß dieses Mißverhältnis sich nicht nur in ihren künstlerischen Produkten
widerspiegelt. Das Ethische aber ist wesenhaft durch Echtheit bestimmt, oder man müßte, wie Remplein
wohl annimmt (allerdings dann in arger Verkürzung seines Wesens), nur die „Übereinstimmung ei-
ner Handlung mit einem Gesetz“ als ethisch bezeichnen. In Wahrheit umgreift das Ethische die Hand-
lungswurzeln des transzendental ausgespannten und gewillten Seelen- und Geistgrundes wie die habi-
tuelle Durchprägung der naturhaften Neigungsgründe, die als solche keine „Urformen“ darstellen,
sondern in der freien, sittlichen Existenz aufgebaut werden; darüber hinaus aber ist jede sittliche
Handlung wesenhaft ein Akt geistiger Liebe und immer über eine Erfüllung eines Gesetzes hinaus
eine je konkrete Realisierung, deren Echtheit wesenhaft in dem konkreten Handlungsvollzug besteht,
der vom Feinsinn ethischer Klugheit und der intuitiven Kraft sittlicher Wirklichkeitsdurchdringung
zartfühlend reguliert ist. Denn im Ethischen ist das Subjekt jeweils dem konkreten und individuellen
Kosmos des Seins (dessen Zentrum und Grund Gott ist) zugeordnet, den er in persönlicher Ent-
scheidung und in schöpferischer Gestaltung aufzubauen, in selbstloser Pflichterfüllung zu bewahren hat

3
Auch eine „unechte Münze“ kann es nur auf Grund eines menschlichen Betrugs geben.

215
oder sich in liebender Hingabe mit ihm einen soll. Daher umgreift das Ethische alles Psychologische
bis in die letzten freiheitslosen Entartungsformen des Menschlichen hinein und macht erst sichtbar,
wo spezifisch „Psychologisches“ zur Erforschung aufgegeben ist.
In einem fundierenden Sinne ist die Psychologie daher eine besondere Betrachtungsweise der Lehre
vom sittlichen Handeln, der Lehre vom Erkennen wie der Lehre vom Dasein des Menschen über-
haupt.
Man wird vielleicht den Einwand erheben, daß die philosophische Strenge den zitierten Sätzen unan-
gemessen sei, daß sie im Grunde viel anspruchsloser und harmloser gemeint seien und daß ja die Psy-
chologen durchaus bereit seien, noch so etwas wie eine Ethik oder eine Metaphysik vom Menschen zu-
zulassen. Allein dieser Einwand verschärft nur den Ernst der Auseinandersetzung. Eben die analogi-
sche Uneigentlichkeit, die unstrenge Vagheit der Aussage und die schillernde Vieldeutigkeit, die ihre
„Interessantheit“ ausmacht, die scheinbare Lucidität, mit der hier der Mensch psychologistisch in den
Griff und wie ein Tier oder eine Pflanze in ein morphologisches System gebracht wird, gerade dies ist
der dauernd hervorgebrachte Schein dieser Aussagen. Da heute Millionen und eine Unzahl soge-
nannter Gebildeter in diesen substanzlosen Schemen denken, wird das menschliche Dasein zunehmend
seiner eigentlichen geistigen Schärfe und der Entscheidungskraft beraubt und die pädagogische, die re-
ligiöse wie die ethische Situation und Aufgabe auf unangemessene Weise verwässert oder ins Unei-
gentliche und Akzidentelle aufgelöst. Die Entschwerung, die mit solcher Lösungs- und Er-
lösungstechnik erreicht wird, hat den Schein einer Befreiung an sich, die stets mit einem größeren Kon-
flikt im Dasein der Menschheit erkauft wird. Außerdem ist das Geltenlassen von Ethik oder Metaphy-
sik neben einer Wissenschaft vom Menschen eine Zerstörung eben dieses Menschen. Sie ist im Grunde
ein Ausweichen vor der Frage nach Rang, Ordnung und innerer Begründung des eigenen Tuns. Wo
man das Ethische oder Religiöse im menschlichen Bereich auch nur „ausklammert“, hat man es nicht
mehr mit dem Menschen, sondern dem Un- und Widermenschlichen zu tun. Gerade die Harmlosigkeit
ist etwas, was von der Sonde des Geistes zu entschleiern ist, weil es im Wesenhaften des Menschen
nichts Harmloses gibt und man ungestraft nicht die höchsten Worte und Dinge des Geistes zu irgendwel-
chem unwesentlichen Geschäft aufraffen und ohne Dank und Dienst gebrauchen und verfälschen darf.
Die größte Gefahr aber liegt im analogischen Schein aller Psychologismen, deren Entstehung und We-
sen oben hinreichend gekennzeichnet wurde.
Im übrigen ist es nicht so, daß man auf dem Felde der Wissenschaft eine Sache dadurch rechtfertigen
könnte, indem man gutmütig darauf hinweist, daß die Ausführungen doch auch etwas an „Wahrheit“
enthalten. Solches Verhalten mißversteht den Irrtum wie die Wissenschaft. Denn der erste kann über-
haupt nicht eintreten ohne das Phänomen der Analogie oder der Verwechslung des Ähnlichen, so
daß er notwendig in einem Modus von ontologischer Wahrheit fundiert. Jeder Irrtum weist daher
etwas auf und kann deshalb für den Weisen als Anregung, als Sichtweise und Materialbeistellung
von Bedeutung sein, was ihn selbst jedoch nicht rechtfertigt. Es ist nämlich gerade die Aufgabe der
Wissenschaft, durch Strenge den Schein aufzulösen, die Analogien, die Mannigfaltigkeit wie das We-

216
sentliche der Strukturen herauszuarbeiten, die wesenhafte, seinsenthüllende Macht der Sprache zu
bewahren, nicht aber den Schein zu erzeugen. In diesem Sinne dient diese Kritik der Wahrheit, die ei-
nen höheren Rang hat als jedes noch so großartig gefügte und mit unendlicher Mühe erarbeitete
Lehrgebäude, dessen gelehrte Vielseitigkeit, dessen Gedankenfülle und Materialbeistellung (wie in
Rempleins Werk) damit in keiner Weise übersehen oder herabgewürdigt werden.
Daraus ergibt sich, was für jede Geisteswissenschaft gilt, die über die einfache Beistellung von Tat-
sachenmaterial hinausgeht, daß die Psychologie als Wissenschaft notwendig eine Weise philosophi-
scher Erkenntnis ist. Sie kann über den „Charakter“, das „Gewissen“, das Spiel, den Ausdruck, das
Symbol, den Trieb, den Seelengrund, über Begabung und Vermögen, Freiheit und Motiv, über Ent-
wicklungsweisen des Menschen, über Sublimierung und Lebenssteigerung, über Gefühl und Stimmung,
Vaterschaft und Mutterschaft wesenhaft keine anderen (höchstens unausgewiesene, verworren-vage
und analogische) Aussagen machen als eine philosophische Durchhellung dieser Seinsbereiche.
Diese Erkenntnis nimmt der „Psychologie“ nichts als den verwirrenden Schein, den sie unausgesetzt
erzeugt, und den falschen Anspruch, mit naturwissenschaftlicher oder wesenseigener Empirie die „Le-
bensgesetzlichkeit“ des Menschen zu enthüllen; sie gibt ihr dafür die angestammte Würde der „ersten
Wissenschaft“, die ihr eigenes Wesen nur als Weise von Metaphysik als Selbstentfaltung des
Seins und des transzendierenden Daseins begreift. Innerhalb dieses Entwurfs gibt es die Lehre vom
Seelenleben des Menschen, gibt es den phänomenologischen Aufweis von Lebensäußerungen und den
Blick auf die Abwandlungsvielfalt des Individuellen. Es ist irrig, zu meinen, aus jeder Arti-
kulierung einer Blickrichtung, aus jeder Differenzierung des zu beobachtenden Bereiches erwachse
eine neue Wissenschaft oder es sei der Philosophie eigen, auf Beobachtung oder Beistellung von Erfah-
rungstatsachen zu verzichten. Allerdings weiß sie den Wert solcher Empirie abzuschätzen und gibt ihr
nicht als solcher schon eine seinserschließende Bedeutung.
Was aus dieser Darstellung folgt, ist die Notwendigkeit einer Besinnung auf die Einheit unserer
menschlichen Erkenntnis. Man kann nicht ungestraft scheiden und des Glaubens sein, in der Ausfal-
tung des Zerspaltenen einen größeren Reichtum an Erkenntnissen zu gewinnen. Wer Vereinzeltes,
Teilhaftes, Momente, Phasen, Stadien zu bestimmen sucht, darf nicht aus dem Lebenskreis des Um-
greifenden heraustreten, wenn er nicht der Beirrung und der Auflösung des Wesens verfallen will.
Psychologie ist daher von der Geistlehre der Metaphysik nur so weit verschieden, als der Mensch
selbst sich von seinen Lebensgründen und seiner personalen Freiheit scheidet. Soweit dies geschieht,
nähert sich die Psychologie der Psychiatrie4 oder wird zu einer Magie, die ihren „Gegenstand“
selbst in die Scheidung stellt und damit in ein Animalisch-Unmittelbares verwandelt, das man durch
Erkenntnis seiner Gesetzlichkeit und der seelentechnischen Behandlung beherrscht. Der Psychologe
handhabt die Methode, die Grenzen und Determinanten des Menschen ausfindig zu machen und ihn so

4
Wenn vom Psychiatrischen her ein ursprünglicher eigener Ansatz methodischer und hermeneutischer Art auch für die
Psychologie begründet wird, so kann man dies gelten lassen. Es ist freilich auch hier vor jeder Überbetonung der Abgren-
zung zu warnen. Der Umschlag von „Existenz“ in „kranke Natur“ setzt für eine tiefere Erhellung die philosophisch-
theologische Sicht des geistigen, sittlichen Daseinsentwurfes voraus. Dieser wird das psychiatrische Forschen, wie es tat-
sächlich in den letzten Jahrzehnten geschah, aufs tiefste befruchten.

217
zu beherrschen, oder er tritt durch die psychologische Auflösung sittlicher und religiöser Situationen
an die Stelle des Erziehers und des Priesters. Der Friede, den er dem Menschen bringt, wird meistens
erkauft um den Kaufpreis des Höchsten und Letzten, zu dem der Mensch befähigt und berufen ist.
Sofern der Mensch eine individuelle und artlich geprägte Natur ist, sofern er als endliches Wesen
in allem Handeln, Schaffen und Gestalten die Grenzen seiner Wirksamkeit erfährt, sofern er des wei-
teren aus der Kindheit her naturhaft, seelisch und geistig wächst und von Lebenskreis zu Lebenskreis
aufsteigt, sofern er in seinem Lebensgrund selbst durch die negativen wie positiven Neigungs- und
Vermögensprägungen (habitus) „charakterlich“ bestimmt ist und schließlich durch Erkrankung dem
wuchernden Eigenleben seiner Natur verfällt, ist es aufgegeben, diese Seiten des Menschen durch
Beobachtung und psychologische Deutung zu erhellen. Diese spezifisch psychologische Aufgabe verfehlt
sich selbst und entwirft zerstörende Psychologismen, soweit sie dabei die genannten Erscheinungen aus
dem transzendierenden, vom Sein und vom Guten her im Gewissen angerufenen und zu verant-
wortlicher Selbstbestimmung beauftragten und ermächtigten personalen Geistgrund herauslöst. Kein
Mensch ist in seinem Wesen ein „Typ“ oder ein „Charakter“, eine „Erbschaft“ oder ein „Triebentwurf“,
sowenig er durch irgendwelche „Determinanten“ in seinem Schicksal verständlich wird.
Auch die geistige Erkrankung ist ein personales Geschehen von undurchdringlicher Tiefe, und jede
unbewußte Affektentladung tritt in den Bereich der geistigen, persönlichen Auseinandersetzung
und wird von der Gewissenstiefe her als Sünde und Schmerz, als qualvolle Unfreiheit erfahren und
verarbeitet, oder aber sie ereignet sich im gewissenlosen Einverständnis mit der Lust der Selbstdurch-
setzung oder Selbstbefriedigung. Wenn eine Verdrängung eines ganzen Lebensentwurfs geschah, z. B.
eine tiefe Liebesneigung sich nicht eingestanden wird, so ist primär zu fragen, aus welcher Zerstö-
rung oder Blockierung wesenhafter Daseinsmöglichkeiten sich solches herleitet; d. h. in welcher Ge-
wissensverwirrung auf Grund der metaphysischen und religiösen Wirrnis eines Zeitalters sich z. B.
ein Inzestkomplex aktualisieren und das Seelenleben „unbewußt“ determinieren konnte. Die Frage,
warum der Mensch flieht und verdrängt und gewissenswidrig verlockt wird, kann nur enthüllt werden,
wenn die Wesensstruktur des menschlichen Daseins aufgehellt und die tödlichen Irrlehren eines Zeit-
alters und die Unechtheit seines sittlichen Verhaltens entlarvt wurden. All dies mit Freud nur aus
dem Mechanismus einer Libido-Triebnatur zu deuten ist selbst eine monamanische Verdunkelung des
Menschseins, hinter der folgenschwere Verdrängungen von metaphysischen Wahrheiten liegen.
Darum eignet der Psychologie eine Blickrichtung auf den Menschen, die ihre Wahrheit nur bewahren
kann im metaphysischen Entwurf der Existenz. Sie ist daher innerlich eine Ausfaltung der Meta-
physik wie der Ethik und einer dieser entspringenden Pädagogik. Im Hinblick auf den christlichen
Menschen ist sie der Sichtweise der Theologie unterworfen. Umgekehrt ist keine Ethik und keine Pä-
dagogik denkbar, die nicht auch die Naturverfassung des Menschen im Blick hält, die also zugleich
Psychologie betreibt.
Die moderne Scheidung der Fachbereiche, die es in der Theologie und Philosophie nicht geben kann und
weder in der Antike noch im Mittelalter anzutreffen ist, ist durch sich selbst schon eine „Unwahrheit“

218
und kann daher in ihrer Ausfaltung durch den Wissenschaftsbetrieb nichts als „Unwahrheit“ erzeugen.
Das Zeitalter der Psychologie hat den Anschein erweckt, unendlich viel vom Menschen erkannt zu ha-
ben, und viele ihrer Erkenntnisse sind bedeutsam, so sie im Ganzen des Seins und der Existenz Wurzel
und Ort haben. Es ist jedoch immer zu fragen, wie beirrend falsch die psychologische Systematik und
wie verkehrend und zerstörend die seelischen Determinanten sein können, die man aufwies, wie
vage und unverbindlich die subjektivistischen Leitbilder vom Menschen sind, die erzeugt wurden,
schließlich in welchem Maße der moderne Mensch im sich versiegelnden Einvernehmen mit der Psycho-
logie gerade das geworden ist oder sich als sein Wesen vorstellt, was diese Wissenschaft von ihm
aussagt. Wenn irgendwo, so gilt auch hier das Wort des hl. Paulus, daß „der geisterleuchtete, der
pneumatische Mensch alles beurteilt, während er selbst von niemand beurteilt wird“, also auch in
seinem Glaubens- und Liebesleben von keiner „Psychologie“ erreichbar ist.
Aus diesen Zusammenhängen erhellt zugleich die große Bedeutung einer tiefgehenden geistigen
Verantwortung, die die Lehrenden im Raum einer Hochschule in ihrer Lehre aufeinander ver-
pflichtet. Die innere geistige Einheit unserer Bildung ist zugleich Bürgschaft und Ermächtigung der
Wahrheit. Wo ihr im Namen von „Freiheiten der Lehre“ grundsätzlich widersagt wird, ist die
Wahrheit selbst geopfert. Auf die Dauer entstehen Fehlsichten und Fehlhaltungen, die das Menschsein
in seiner Substanz gefährden und das Geistesleben in einem uferlosen Kraftverbrauch durch reaktive
Korrekturen und kritische Bereinigungen zwar äußerlich interessant und bewegt erscheinen lassen, aber
innerlich der Substanzlosigkeit preisgeben, es in Breite und Vagheit versanden lassen und dem Ringen
um die höchsten und wesentlichen Dinge entfremden. Wo aber in pädagogischen Hochschulen die Psy-
chologie zur fundierenden und führenden Wissenschaft gemacht wird, ist eine Monstrosität
Praxis geworden, die auf weite Sicht das Menschsein gefährden wird und die Pädagogik der tiefsten
Kräfte beraubt. Die jüngste Entwicklung dieser Wissenschaft kann mit Grund als eine Selbstkorrektur
verstanden werden und gibt zu der Hoffnung Anlaß, daß der Psychologismus an seinem ureigenen
Entstehungsort überwunden wird. Die Gefahr dieses Mißverständnisses des Menschen, der Vorrang
der potentiellen Anlage vor dem transzendental geregelten Geistakt des Menschen hält jedoch so
lange an, als diese Wissenschaft den Anspruch eines durch sich selbst umgrenzten Gegenstandsbereiches
und einer entsprechenden Methode aufrechterhält und ihre eigene metaphysische Ermöglichung nicht
begreifen will.

219
CHRISTENTUM UND TRAGIK

Was ist das Tragische? Es ist nicht Leid, und es ist nicht Schuld und auch nicht beide zumal. Das
Tragische ist die „Existenzkategorie des Abendlandes“, in der der ursprünglich zum Christen-
tum berufene Erdkreis in unmittelbarem Aufbruch steht zum Mysterium der erlösenden Gottheit,
um von der Tragödie des Gekreuzigten ebenso ewig überwunden und überholt wie ewig bestätigt zu
werden. Es ist ein aus der wirkenden Tiefe der zu Christus rufenden Gottheit selbst ermöglichter,
absoluter Wille, der als solcher weder der erlösten noch der schlechthin gefallenen Natur an-
gehören kann; es ist unendlicher Wille, Wille nicht zum Nichts, zum Chaos, zur leeren Form oder zum
weltlosen Schein grenzenloser Entrückung, sondern schöpferischer Liebes- und absolut verpflichtender
Gewissenswille zumal, in welchem der Geist des Geschöpfes im Ganzen seiner selbst sich bewegt und
entschließt zur absoluten Bewahrung und Gestaltung der Welt im Chaos ihrer allseitigen Be-
drohung; sich entschließt, die Aufgabe des Daseins als einer göttlich geglaubten und gewußten auf sich
zu nehmen mit dem absoluten Ernst letzter sittlicher Entscheidung.
Aber das Tragische ist nicht dies allein. Es ist vielmehr das furchtbare Erlebnis und Ergebnis dieses
Versuches, daß der absolute schöpferische Ernst zur heiligen Ordnung der Welt in sich uneins wird,
nun nicht gegen die vorweggewußte Grenze der Bedrohung, sondern gegen denselben Aufbruch
des Gewissens, der ihm im Bereich des Dramas als einer absoluten Handlung selbst begegnet. Das
Tragische liegt aber eben darin, daß der Widerspruch aufsteht inmitten dieses Wissens und Tuns,
daß der absolute Wille sich gegen sich selber stellt, daß die letzte edelste, erhabenste Bewegung
der Menschheit, die in sich die Bestätigung des Gewissens, der Weisheit und heroischen Hingabe
hat, sich offenbart als Furie der Zerstörung, daß das Antlitz der Wahrheit und des Gesetzes sich in der
Begegnung mit sich selbst wandelt in die unheilbringende Meduse des Todes und darin die schuldige
Tiefe dieses unendlichen Willens an den Tag hebt.
Aber nicht nur das ist das Tragische. Es bleibt vielmehr entscheidend, daß der Mensch auch im
Orkan der Zerreißung und Verwüstung, im Feuerbrande des Geistes und Gewissens, in der lastenden
Gewißheit der Schuld das Bewußtsein und den Willen behauptet, nicht wanken und weichen zu dürfen
noch zu können aus der Notwendigkeit des absolut gesetzten Anfangs, eben weil dieser eine Bewe-
gung des Gewissens und der Güte war; daß der Mensch diesen Ausgang und Grund zum tragi-
schen Drama als ein schlechthin übermenschliches Daimonion ehrfürchtig und treu bewahrt und daß
er in der Offenbarung seiner Schuld zugleich der letzten Möglichkeit des Daseins inne ward: Ver-
senkt war nämlich der Gewissenhafte und Tatbereite des Geistes im handelnden Aufbruch zur seienden
Welt, in den übermenschlichen Gewissens- und Gesetzeswillen der Gottheit selbst, und was er erlebt,
ist nichts als die Offenbarung des Unsäglichsten, daß nämlich Willen und Wissen dieser Gottheit mit-
zerbrachen und zerspellten an der schuldhaften Tiefe und abgründigen Zerrissenheit des unheilbaren

220
Daseins, daß Sterben und Leiden der Menschen nur Anteile sind an dem maßlosen Weh einer ewig ge-
opferten Gottheit, mit anderen Worten, was der Mensch erlebt in der Tragik, ist nichts als Offenbarung
und Verwirklichung von Mythos des Dionysos.
Und zum allerletzten: Auch das ist noch nicht das volle Wesen des Tragischen. Was die Tragik vollen-
det, ist vielmehr die Treue des Geistes, die Ehrfurcht und Tiefe der „Erinnerung“. Diese Erinnerung
aber ist ein ungeheurer Inbegriff. In ihr hat die tragische Persönlichkeit sich selbst bewahrt zur
Tiefe erhabenster Würde und Weisheit. Der Mensch wird sich nämlich bewußt, im Mysterium von
Aufgang und Untergang Zeuge geworden zu sein der Notwendigkeit dieser göttlich-menschlichen
Maßlosigkeit, nicht nur erfuhr er die Gebrochenheit des Geistes selbst, nicht nur ermißt er den Abgrund
der lastenden Verlorenheit des Daseins, er weiß vielmehr seinen Untergang als den Tod eines Unend-
lichen, eines göttlichen Allgemeinen. Er weiß, daß der Gott diese Welt nur dann in das Leben seines
Willens und Gesetzes stellen kann, wenn dieser Wille an ihr zugrunde geht, wie ebenso der zur Frei-
heit Gottes berufene Mensch seiner Endlichkeit erstirbt. Aber beide ersterben sie nicht in ihr verzeh-
rendes Gegenteil, sondern in jene Sphäre der Freiheit, welche die Endlichkeit ebenso unendlich
und ursprünglich als die ihre weiß, wie sie die Unendlichkeit ewig besitzt. Diese Sphäre aber ist
der Abgrund des Leides, den Gott und Mensch in unendlichem Entschluß ihrer Freiheit zu tragen be-
fähigt sind, so sehr, daß in dieser Sphäre alle qualitativen Differenzen sich überschneiden und ver-
wirren. So sagen wir Christen in einem geheimnisreichen Widerspruch, daß Gott Mensch werden
muß, um leiden zu können, und daß der Mensch göttlich werden muß, um wahrhaft leiden zu dürfen.
Die Erinnerung des Tragischen schließt daher vor allem ein das Bewußtsein der Notwendigkeit und
schöpferischen Macht des Sterbens, daß der heilige Wille des Ausgangs sich nicht nur bewahrte in
Handlung und Untergang, sondern sich läuterte und darin zur letzten Möglichkeit fortwuchs: zur
Weisheit des Duldens mit Gott und mit der Welt, zur Demut der Erkenntnis der Schuld, zum milden
Einverständnis in die tragische Heimsuchung der Unschuld, zur Größe heroischer, zum Letzten bereiter
und in allem geprüfter Freiheit. Diese Freiheit aber weiß sich als qualitativ unübersteigbarer Gip-
fel, und neben ihr versinkt aller Wert unmittelbarer Glückseligkeit. So schließt die klassische Tra-
gödie Antigone, in der der heilige Wille des Gesetzes und der heilige Wille des Blutes sich Ver-
derben bereiteten, also:

Um vieles zuerst vor Glückseligkeit steht das Wissen ...


Gewaltige Blicke vergalten gewaltige Schläge der Erhabenen
und lehrten das Alter das Wissen.

Diese Freiheit, in welcher der „Wissende“ sein Glück geopfert weiß, ist eine kulminierende Höhe des
Daseins, in welche eine die Erlösung vorbereitende göttliche Gnade den Menschen emporhob über die
Sphäre eines ästhetischen Weltgenusses und über die Ebene des sittlichen weltgestaltenden Pathos in
die Demut und Tiefe einer heroischen Weisheit. Der Ort dieser Freiheit kennzeichnet sich damit von

221
selbst: Es ist der in die unsägliche Leere und erfüllte Tiefe eines göttlichen Unterganges und
Versagens vorgetriebene Wurf und Sprung der Freiheit des Menschen als ein Sich-Halten und Wis-
sen in letzter Unmöglichkeit vor Gott und Mensch, es ist ein Stehenmüssen und Stehenkönnen in der
gleichen nur um so gewichtigeren Unmöglichkeit dieses Stehens und Verharrens, es ist die sich fortge-
setzt übersteigende Tiefe und Höhe der Freiheit und Würde einer abgründigen Personalität, in welcher
das endliche Bewußtsein sich aller Endlichkeiten entkleidet, um sie um so gewaltiger zu bewahren. Es
ist das Reifwerden der Freiheit zur letzten Offenbarung und Erlösung Christi, es ist ein Bewußtsein, das
ebensosehr in die Würde eines unaufgebbaren gewaltigen Anspruchs wie in die erschauernde Tiefe ei-
ner erhabenen Verzweiflung gestellt ist.
Es erhellt nun schon, daß das Tragische eine Tiefe hat, die von einer entrückenden Mystik her keine
Versöhnung erwarten kann, weil es sein Selbst nicht aufgeben darf und kann, soweit es vom Ursprung
her dieser Welt verpflichtender göttlicher Wille war, daß die Macht, die es aufnehmen will, viel-
mehr im allerletzten Maße Wille und Aufbruch zum Heile dieser Welt sein muß.
Es erhellt aber noch mehr, daß es eine schlechthin übertragische Sphäre gar nicht geben kann, einmal,
weil alles Tragische auf seiner Höhe in der Mitte zwischen der qualitativen Differenz von göttli-
chem und menschlichem Leben steht, daß es gar nicht eingehen könnte in irgendeine ewig
gleiche, völlig unerschütterte Seligkeit, weil ihm dann das Unmögliche zugemutet würde: zu „ver-
gessen“, die „Erinnerung“ ihres „Selbst“ zu tilgen und die Seligkeit für höher zu achten als das
„Wissen“, den absoluten Prozeß und die Würde ihrer Freiheit als trübselige Täuschung, als einen
blendenden Schein auszulöschen.
Genau aus dieser Antinomie, aus diesem Widersinn erwachsen die immer wiederholten Anwürfe
des tragischen Geistes gegen den seligen Gott, vor dem das Leid der Welt ein Spiel und Nichts be-
deuten soll; von hierher wehrt sich das dionysische Abendland gegen den übertragischen Gott der apol-
linischen Spekulation, empfindet der moderne, für alle Antinomien hell gewordene Geist den Wirbel
des Widerspruchs, in welchen sich alle absolute „Unbeweglichkeit“ und Notwendigkeit einer ewig
vollendeten Aktualität begibt, wenn von dorther zugleich der Anspruch auf Erlösung und gestaltender
Mitvollzug unserer tragischen Geschichte der Freiheit erhoben wird. Nur von diesem Begriff von
Tragik und Freiheit kann fortgeschritten werden zu einer wesenhaften Erfassung der göttlichen Liebe,
die nicht von vornherein der Gefahr der Setzung einer allzu billigen und allzu erbaulichen Vollkom-
menheit erläge. Es ist unmöglich, an dieser Stelle den Inbegriff des Gemeinten auch nur annähernd
„adäquat“ zu entfalten.
Wichtig aber bleibt das Vorausgehende, daß diese Liebe um ihres eigenen Wesens willen mithalf, den
Kelch der Tragik zu bereiten, weil nur über Versagen, Freiheit und Wissen der Tragödie das be-
grenzte Dasein bereitet wird zur Offenbarung des vollen Wesens der Liebe. Denn diese Liebe ist der
gleiche, nur schlechthin unbegrenzte Wille zum Heil der Welt, ist ein gleiches abgründiges Versagen
vor dem Unheil der Sünde und der Verlorenheit der Welt, um jedoch einzig im absoluten Ge-
schehen ihrer unendlichen Hingabe und Entäußerung sich noch zu rechtfertigen und als heiliges Leben

222
sich ewig zu gewinnen. Denn nur im Ausmessen und Offenbaren dieses letzten, sich selbst zu jeder Ab-
gründigkeit des Endlichen entschließenden Liebeswillens erhält und offenbart sich die echte Unendlich-
keit des Geistes, die das Endliche nicht austilgt oder verschwimmen macht in Grenzenlosigkeiten, son-
dern es an sich selbst bereitet zur unübersteigbaren Würde persönlicher Freiheit. So ist diese Liebe
eine gewaltige Einigung, die Umwandlung der Unendlichkeit und Endlichkeit zur Würde wesen-
hafter Freiheit und Tiefe, das ewig schöpferische Übermaß der Gottheit, die in der Maßlosigkeit
der Entäußerung alles Maß des Endlichen auf sich nimmt, rechtfertigt, überhöht und bewahrt, um
sich zugleich im Unmaß heiliger Liebe zu wandeln in Gerechtigkeit und offenbarerisches Gericht vor der
unaufhebbaren Grenze der Vermessenheit des Bösen.
Dieser Prozeß aber ist der ewige Ratschluß der Trinität, ist die heilige Tiefe, das innigste Heiligtum
göttlichen Lebens, das sich dem in Schuld und Endlichkeit stehenden Geschöpfe gar nicht offenba-
ren konnte, wenn dieses nicht bereitet wäre in tragischem Versagen heiligen Lebens, weil es sonst ver-
ginge oder verzagte oder blind bliebe vor den unendlichen Schauern schöpferischer Liebe, deren Mittei-
lung und Entäußerung, deren heiliges Überwallen nur hindurchfließt durch den Liebestod des ewig
geopferten Sohnes, nur herabströmt aus der Majestät der tieferschütterten Vaterliebe, die den Sohn
ewig dahingab, um schließlich Leben zu werden im Reiche persönlicher Freiheit, im Reiche der Gottes-
gemeinschaft durch den Heiligen Geist, in dessen heiliger Liebestiefe alle Seufzer und Leiden der tra-
gischen Kreatur schmerzenstief mitgelebt wurden, um diese einzureihen und heilig zu läutern zum
Glied des heiligen Leibes des Herrn.
Diese Liebe ist nicht etwas schlechthin Übertragisches, sondern die schöpferische Gestaltung und Über-
höhung der Tragik selbst zum köstlichsten Vermächtnis aller Ewigkeiten im Abgrund göttlichen Le-
bens.
Es ist unmöglich, die Tiefe des Gesagten hier spekulativ zu begründen und zu entfalten. Aber uns will
scheinen, daß nur im heiligen Ernst dieser Theologie eine Begegnung möglich ist mit dem tragi-
schen Bewußtsein des Abendlandes, dessen Gottes- und Kirchenferne und -feindschaft vielfach nichts
anderes ist, als daß das substantielle Bewußtsein des der Welt liebend verpflichteten tragischen Gewis-
sens sich aufbäumt gegen die Ernst- und Substanzlosigkeit einer im unschöpferischen und unberührbaren
Kreisschluß ewigen Schauens befangenen Gottheit, die zu einer in Schuld und Qual seufzenden Kreatur
nicht einmal eine „ratio realis“ aufzuweisen hat. Der tragische Mensch erschauert vor Jehova, zu lieben
vermag er allein Christus, seine Überwindung und Bestätigung und die trinitarische Tiefe und Ma-
jestät der in Christus geoffenbarten Gottheit; was er aber nicht erträgt, ist ein die Person gefährdender
freiheitloser Himmel aus Licht und Seligkeit und die unbewegte Allgemeinheit eines substanzlosen Ver-
schwebens und Genießens.

223
QUELLENNACHWEIS

Definition und Intuition


In: Studium Generale, Berlin 9 (1956), Heft 10, S. 579-592.

Die transzendentale Struktur des Raumes


In: Hans André: Natur und Mysterium. Einsiedeln, Johannesverlag (1959), S. 199-237.

Wesen und Geschichte der menschlichen Vernunft nach Immanuel Kant


In: Zeitschr. f. philosophische Forschung, Reutlingen (1947), Heft 2/3, S. 250-265.

Die transzendentale Selbigkeit und Verschiedenheit des ens und des verum bei Thomas von Aquin
In: Philosophisches Jahrbuch der Görresgesellschaft, Festschrift für H. Conrad
Martius. Freiburg-München, 66 (1958), S. 22/23.

Die transzendentale Selbigkeit des ens und des bonum


In: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft. Festschrift für Alois Dempf, Freiburg-München, 68 (1960),
S. 370-381.

Der Widerspruch im Werk des jüngeren Hegel


In: Blätter für deutsche Philosophie. Zeitschr. der deutschen philosophischen Gesellschaft. 14 (1940/41), Heft 1/2,
S. 109-125.

Die Differenz von Sein und Seiend

Manuskript

Spekulative Paradoxa?
In: Philosophisches Jahrbuch der Görresgesellschaft. Freiburg-München, 64 (1956), S. 55-59.

Martin Heidegger und die Frage nach Gott


In: Hochland, München, 53 (1961), Heft 6, S. 516-526

Dilthey und die Wissenschaft der Pädagogik


In: Erbe und Entscheidung (Beiträge zu Grundfragen gegenwärtiger Pädagogik). Aachen (1956), 4. Heft und (1957)
1. Heft, S. 17-29.

Der Psychologismus in der Psychologie


In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik. Bochum, 31 (1955), Heft 4, S. 233-246.

Christentum und Tragik


In: Rhein.-Main. Volkszeitung, Nr. 50, 51 v. 28. Februar u. 1. März 1934.

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