Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Dieter Henrich: Fixpunkte. Abhandlungen und Essays zur Theorie der Kunst.
Frankfurt 2003. Suhrkamp. 302 S.
Joachim Küpper u. Christoph Menke (Hg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung.
Frankfurt 2003. Suhrkamp. 335 S.
Winfried Menninghaus: Das Versprechen der Schönheit. Frankfurt 2003. Suhr-
kamp. 386 S.
Bibliotheken der Universitaet Frankfurt am Main 141.2.232.222 Mon, 07 Jul 2014 14:13:33
Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performati-
ven. Frankfurt 2002. Suhrkamp. 313 S.
Robert Stockhammer (Hg.): Grenzwerte des Ästhetischen. Frankfurt 2002. Suhr-
kamp. 241 S.
benutzen. Auf ihr sollen die Thesen der daran anschließend besprochenen
Bücher eingetragen und so eine Skizze der gegenwärtigen Lage der deut-
Copyright Mohr Siebeck
Fixpunkte
Fixpunkte ist, wie der Untertitel sagt, eine Sammlung von Abhandlungen
und Essays zur Theorie der Kunst aus dem Zeitraum von 1963 bis 2000. Im
ersten der drei Hauptteile geht es um die Stellung der modernen, »partia-
len« Kunst und ihrer Theorie innerhalb der Philosophie und letztlich um
das subjektphilosophische Projekt von Henrich; im zweiten um (die Ak-
tualität von) Hegels Kunstphilosophie, im dritten um ästhetische Detail-
probleme. Nicht das geringste Faszinosum ist dabei, wie Henrich der
Kunsttheorie einerseits eine entscheidende philosophische, nämlich sub-
jekttheoretische Rolle zuschreibt, sich andererseits aber nicht deduktiv
von einem philosophischen System aus der Kunst annähert. Vielmehr
lässt er sich von der Kunst gerade auch dort leiten, wo sie dem philosophi-
schen Unternehmen Steine und Rätsel in den Weg legt. Aber nicht nur in
Bezug auf die Philosophie schreibt Henrich der Kunst eine entscheidende
Funktion zu, sondern auch mit Bezug auf das so genannte Leben. Das
macht die Sache insofern spannend, als zwei der hier zur Diskussion ste-
henden Bücher die Kunst zugunsten des Ästhetischen mehr oder weniger
verabschiedet haben und unbesprochen lassen, ob die damit einhergehen-
de Transformation der philosophischen Ästhetik in eine allgemeine
Wahrnehmungstheorie normativ oder deskriptiv zu verstehen ist. Dem-
gegenüber schreibt Henrich der Auseinandersetzung mit Kunst von vor-
ne herein eine normative Rolle zu, die er auch dann noch verteidigen
würde, wenn Kunst zu einem radikal aussterbenden Phänomen geworden
wäre, und zwar eine Rolle, die von außerkünstlerischen ästhetischen Er-
fahrungen nicht übernommen werden kann.
Denn Kunst ist die Möglichkeit schlechthin, um die Logik dessen, was Hen-
rich Subjektivität nennt, anschaulich – nämlich vollziehend und mit einer gewis-
sen Distanz – begreifen zu können. Diese seine Grundthese entwickelt Henrich
im Eröffnungsessay »Subjektivität und Kunst«, welcher eine gedrängte Fassung
Bibliotheken der Universitaet Frankfurt am Main 141.2.232.222 Mon, 07 Jul 2014 14:13:33
wisserung über seine Welt und mögliche Alternative Welten macht das bewusst
lebende Subjekt auch einen Vorgriff auf eine »Integrationswelt«.2 In dieser müss-
Copyright Mohr Siebeck
ten m.E. nicht nur die verschiedenen Welten eines Subjekts zur Einheit kommen,
was auch Henrich betont, sondern eine bestimmte Konstellation von Welten
auch begründet, d.h. alternativen mit Gründen vorgezogen werden könnten.
Das Kunstwerk, oder vielmehr sein »Formverlauf«, stellt vor dem kurz
erläuterten subjekttheoretischen Hintergrund die entscheidende Mög-
lichkeit dar, sich die Logik des bewussten Lebens aus einer gewissen
Distanz und losgelöst vom Zwang, das grundlose Leben meistern zu müs-
sen, zu vergegenwärtigen. Denn seine offene Einheit muss das Kunstwerk
– hier orientiert Henrich sich vor allem an einer musikalisch-formalisti-
schen Terminologie und nicht selten an der teleologischen Sinfonik Beet-
hovens – auf eine ähnlich prekäre Weise herstellen wie das Subjekt unter
den Bedingungen der Moderne die seine. Damit fallen Kunst und Leben
keinesfalls zusammen, aber sie verweisen und brauchen (auf)einander: Ein
Leben ohne Kunst läuft Gefahr, sich eine illusionäre, nämlich alternative-
lose und statische Ganzheit vorzugaukeln oder sich in der Beliebigkeit zu
verlieren. Ein Kunstwerk, das sich zum Leben aufspielte, wäre blind für
die Tatsache geworden, dass es eine (zumindest temporäre) Werk-Ganz-
heit erreichen kann, die es im Vollzug des Lebens vor dem Tod nie gibt.
Gerade und nur in der Konfrontation mit dem Kunstwerk erfahren wir al-
Wien 2001. Hanser. Die subjekttheoretischen Annahmen hat Henrich u.a. ausgearbeitet
in: Bewusstes Leben. Stuttgart 1999. Reclam.
2 Auf den so kruzialen wie strittigen Punkt, wonach das Selbstverhältnis Henrich zufol-
ge letztlich doch basaler ist als das Weltverhältnis, kann ich hier nicht weiter eingehen.
53 (2006) Über einige Neuerscheinungen zur Ästhetik 291
so eine Freiheit vom Vollzugszwang, die die Logik des bewussten Lebens
viel deutlicher hervortreten und auch objektivierbarer macht als sie es im
Vollzug samt seinem, wie Heidegger gesagt hätte: » Lastcharakter«, je sein
könnte.
So weit so gut. Aber das klingt mehr nach Kant als nach Hegel; zwar nicht im
Sinn der Kantischen Vermögenslehre, jedoch sehr wohl im Sinn der subjektiven
Vergewisserung des in die Welt-Passens bzw. Welt-Habens, die Kant der ästheti-
Bibliotheken der Universitaet Frankfurt am Main 141.2.232.222 Mon, 07 Jul 2014 14:13:33
schen Erfahrung zuschreibt. Wie die Kunsttheorie Kants ist auch diejenige Hen-
richs zudem wesentlich vom Subjekt her gedacht, wenngleich das Zentrum dieses
Subjekts nicht die (Natur)Erkenntnis und die dafür nötigen Vermögen ist, son-
dern das bewusste Leben. Was Henrich von der Kantischen Tradition jedoch
trennt und mit Hegel verbindet, ist das fortwährende Insistieren auf der Wichtig-
keit der Gehalte und die damit eng verknüpfte kognitive und zeitdiagnostische
Dimension der Kunst. »Jede Kunsttheorie hat sich der Frage zu stellen, wie der
Zusammenhang zu denken sei zwischen den Instrumentarien formaler Gestal-
tung auf der einen Seite (...) und dem anderen Gesichtspunkt, (...) dass nämlich
Kunst je eine bestimmte Relevanz der Vermittlung, man kann ruhig sagen: der
Delivered by Publishing Technology
Einsicht besitzt und beansprucht, – damit aber eine Bezogenheit auf die Bewusst-
seinslagen und Zeitzustände, die durch das formale Instrumentarium als solches
Copyright Mohr Siebeck
keineswegs für definiert gelten können«. (160) Das öffnet den Raum für eine
Kunstphilosophie, die sich zutraut, Ort und Wert der Kunsterfahrung im ganzen
des menschlichen Lebens zu thematisieren, anstatt Kunst als jenen »Raum der
Freiheit« miss zu verstehen, »der jenseits alles Wirklichen und seiner Zwänge eine
Welt des Spieles einräumt und genüssliche Kennerschaft ermöglicht, die sich aus
der Reflexion der Wirklichkeit selbst herausreflektiert«. (155)
Wie die Dimensionen Form und Gehalt, die Hegel Henrich zufolge
auf eine überzeugende Weise zusammen gebracht hat, »die schwer durch-
sichtig gemacht werden kann« (p. 160), einander bei Henrich bedingen,
ist nicht minder undurchsichtig. Denn seine Theorie des Formverlaufs als
Verständigung über die Logik des bewussten Lebens legen die Schlussfol-
gerung nahe, dass alle Kunstwerke immer wieder nur die Logik der Sub-
jektivität vergegenwärtigen. Damit bleibt im Unklaren, wie den Verände-
rungen von Subjektivität gerade auch in der nachhegelischen Moderne
Rechnung getragen werden kann. Es fragt sich des weiteren, ob Subjekti-
vität der einzige Gehalt ist, um den alle Kunstwerke kreisen; und drittens
wie, wenn Subjektivität der einzige Gehalt ist, er mit den doch (unüber-
schaubar) vielfältigen Weltverständnissen zusammen hängt, für deren
zeitdiagnostische Relevanz die Künstler Henrich zufolge ein besonderes
Sensorium haben.
Wie sehr Henrich an mehr als einem formalistischen Formverlauf in-
teressiert ist, kommt am deutlichsten in seinen kritischen Äußerungen
hervor: etwa in seiner gerade ob ihrer Superkürze brillanten Kritik an
Goodman als einer »Verbindung von Logik und Kunsthandel« (295) oder
auch an Positionen, die behaupten, die Kunst spiele ohnehin kaum mehr
292 Ruth Sonderegger PhR
eine Rolle und deshalb solle auch ihre Theorie Ästhetik im weitesten
Sinn werden. Demgegenüber unterscheidet Henrich präzis zwischen so
verschiedenen Dingen wie Kunstphilosophie, Kunstwissenschaft, Künst-
lerästhetiken und allgemeiner Ästhetik samt ihren protoästhetischen Vor-
aussetzungen, um gerade auch die Übergänge und Zusammenhänge zwi-
schen diesen Bereichen zu analysieren.
Bibliotheken der Universitaet Frankfurt am Main 141.2.232.222 Mon, 07 Jul 2014 14:13:33
niken, Medien, Natur – all dies gehört nun auch dazu. Ja, im Rückblick
mag dieser Effekt sogar als das eigentliche, seinen Protagonisten mögli-
cherweise nur teilweise bewusste Movens des aesthetic turn erscheinen:
durch eine Umstellung der basalen Begrifflichkeit das Feld des Ästheti-
schen radikal von seiner Zentrierung um den Begriff der Kunst zu befrei-
en.« (9)
Zwar wird als ein in der gegenwärtigen Ästhetik-Diskussion gewichti-
ges Problem später auch noch das der Allgemeinheit von Kunsttheorien
genannt und gefragt, ob man der Pluralität der Künste entsprechend nicht
auch von einer Vielzahl kunstspezifischer ästhetischer Erfahrung ausge-
hen sollte. Doch das bleibt ein Nebenschauplatz. Die meisten Artikel, die
dem Begriff der ästhetischen Erfahrung überhaupt systematisch nachge-
hen – was keinesfalls von allen behauptet werden kann – beschäftigen sich
mit dem Bedeutungsverlust der Kunst zugunsten verschiedener Ästheti-
sierungsphänomene.
Man kann sich über den deskriptiven, fast möchte man sagen: uninteressierten,
Grundton der Einführung wundern, der in der Formulierung »das alles gehört
nun auch dazu« zu sich kommt. Doch muss man dem Vorwort der Herausgeber
zugute halten, dass es die Spannung zwischen an der Kunst einerseits und unter-
schiedlichsten Ästhetisierungsphänomen andererseits orientierten Ästhetiken auf
den Punkt und in die Übersicht bringt. Und wenn man sich auf die Diagnose
vom Ende der Bedeutsamkeit der Kunst zugunsten einer Hochkonjunktur ver-
schiedenster Dimensionen des Ästhetischen einmal eingelassen hat, dann ist die
innerhalb dieses Rahmens keineswegs nur deskriptive, sondern normative
Schlussfolgerung der Herausgeber plausibel, um nicht zu sagen unausweichlich:
53 (2006) Über einige Neuerscheinungen zur Ästhetik 293
Die Kategorie der ästhetischen Erfahrung wird mitsamt der Implikation, dass die
Künste ihre Zentralstellung in der philosophischen Ästhetik verloren haben, zur
Schlüsselkategorie.
Diese Transformation ist von theoretischen Kontroversen, an die ich hier kurz
erinnern möchte, nicht loszulösen.3 Zwar war die Kategorie der ästhetischen Er-
fahrung seit dem Beginn ihrer Karriere um 1800 nicht ausschließlich für die
Kunst reserviert; man kann vielmehr sagen, dass die mit Amt und Würde ausge-
statte Kunst damals benutzt wurde, um eine neue Form der sinnlichen und emo-
tionalen Erkenntnis populär zu machen und die freie Subjektivität zu feiern. Aber
Bibliotheken der Universitaet Frankfurt am Main 141.2.232.222 Mon, 07 Jul 2014 14:13:33
3 Vgl. R. Sonderegger: Die Ideologie der ästhetischen Erfahrung. Versuch einer Repolitisie-
rung. In: G. Koch und C. Voss (Hrsg.): Zwischen Ding und Zeichen. Zur ästhetischen Erfah-
rung in der Kunst. München 2005. Fink. S. 86–106.
4 R. Bubner: »Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik«, in: neue hefte für philosophie,
mal ein Blick auf die boomenden Kunstinstitutionen – und -Märkte5 – ei-
nen schnell darüber belehrt, dass es derart schlecht um die Kunst nicht be-
stellt sein kann. So titelte z.B. die NZZ in der Sonderbeilage zur letzten
Art 37 Basel auf der ersten Seite der entsprechenden Kunst-Sonderbeila-
ge: »Mit weltweitem Wachstumspotential«6. Angesichts dieser für die
Kunst wie für Ästhetisierungen eher gleich günstigen Zukunftsaussichten
kann man nicht umhin, die Wahl eines bestimmten begrifflichen Rah-
mens, der die eine Seite mehr beleuchtet als die andere, auch als ein nor-
Bibliotheken der Universitaet Frankfurt am Main 141.2.232.222 Mon, 07 Jul 2014 14:13:33
nur vereinzelt und am Rand zur Sprache kommen. Manche durchaus hervorra-
genden Beiträge wie z.B. die von Rorty über Literatur, Koch über Film oder
Copyright Mohr Siebeck
Busch über Caspar David Friedrich sind an der im Vorwort als zentral ausgewie-
senen Fragestellung nicht interessiert. Zudem wird auf die außerkünstlerischen
Ästhetisierungsphänomene mehrheitlich noch immer vom Standpunkt der Kunst
(herab-)geschaut.
So schimpft z.B. Bubner über den Verfall der Museen, die zu sozialen events
werden: »Entsprechend erscheint Tate Modern (...) ein gesellschaftlicher Ver-
sammlungsort der gehobenen Art, angefüllt mit überwiegend jungen Leuten, die
hier kollektive Selbstdarstellung in Mode und Körpergestus suchen. Waren die
klassischen Museen Bildungsorte des gesetzten Bürgertums, so inszeniert sich die
soziale und demokratische Avantgarde hier selbst.« (37). Entgegen aller früheren
Kritik an der Werkkategorie, die den Übergang zu Theorien ästhetischer Erfah-
rungen gerade motivieren sollte, verteidigt er nun gegen die »breite Masse der
Kunstliebhaber« diejenigen Nachdenklichen, die sich am »klassischen Werk«
orientieren. (47) Fischer-Lichtes Überlegungen zur Theater-Erfahrung, wonach
alle möglichen kognitiven Effekte auf affektiven und physiologischen, also ais-
thetischen im weitesten Sinn aufruhen, endet mit der so spannenden wie un-
beantworteten Frage, wie unter diesen Voraussetzungen das Theater dann »von
anderen Schwellenerfahrungen, wie sie nicht nur Rituale, sondern auch Feste,
Sportveranstaltungen, politische Kundgebungen und andere Genres von cultural
performances aufzulösen vermögen« (160) zu unterscheiden sind.
Dort wo nichtkünstlerische ästhetische Phänomene losgelöst vom Kunstdis-
kurs besprochen werden – bei Mattenklott die Bildhaftigkeit wissenschaftlicher
Texte, im Fall von Shusterman die auch kognitiv relevante Funktion somästheti-
scher Gefühle für die Konfrontation mit fremden Körpern, die häufig zum
schwer thematisierbaren rassistischen Inbegriff des Fremden werden – , hat man
5 Man konsultiere z.B. nur mal kurz die Künstler-rating-Site von Capital: www.capi-
tal.de.
6 NZZ vom 13. Juni 2006, S. B1ff.
53 (2006) Über einige Neuerscheinungen zur Ästhetik 295
es zweifellos mit unabgegoltenen Herausforderungen zu tun. Aber nicht mit sol-
chen, die erst oder besonders in der Gegenwart als dem Übergang vom Kunstpa-
radigma zu dem des universellen Designs Relevanz erlangt haben.
Auch die letzten drei Beiträge zur Biologie ästhetischer Phänomene
haben nichts mit der Gegenwartsdiagnose der Einleitung zu tun. Alle drei
beginnen nämlich mit der am Ende des 19. Jahrhunderts beginnenden
Geschichte ihrer Disziplin, und es bleibt dunkel, inwiefern die untersuch-
ten Phänomene der Kunst oder der Ästhetik zuzurechnen sind. So lautet
Bibliotheken der Universitaet Frankfurt am Main 141.2.232.222 Mon, 07 Jul 2014 14:13:33
Bösels Ausblick dann beispielsweise auch: »Vieles von dem, was eben dar-
gestellt wurde, ist im Detail spekulativ. (...) Gibt es eine Eigenart der
Kunsterfahrung, und unterscheidet sich kulturelles Gefallen von andern
Formen des Gefallens? Gib es eine Grenze zwischen Kunst und Nicht-
kunst?« (283) Nicht dass das keine spannenden Fragen wären. Aber sie
werden mit einer Blauäugigkeit und losgelöst von den Jahrhunderte lan-
gen Diskussionen über sie vorgebracht, so dass man nicht weiss, worüber
man mehr den Kopf schütteln soll: über die Ignoranz oder über das Ver-
Delivered by Publishing Technology
trauen in den Fortschritt der Forschung: »In naher Zukunft kann es mög-
lich sein, die Prozesse des Erregens von Aufmerksamkeit durch ein künst-
Copyright Mohr Siebeck
scheidende Rolle spielt, und zwar eine, die der Logik der natürlichen Wahl bis-
weilen sogar im Weg steht. Will sagen: Um willen auffallender Schönheitsmerk-
male bilden insbesondere die männliche Tiere so überdimensionale oder farblich
so auffallende Geweihe, Federbüsche, Schwänze und dergl. mehr aus, dass das
Überleben dadurch erheblich schwieriger bis unmöglich wird. Dementspre-
chend regiert bei Darwin nicht nur das Gesetz von den Überlebensstärksten son-
dern auch das von den Schönsten. Freud ist dann nötig, weil Darwin zumindest
das Sexualverhalten der Menschen nicht schlüssig erklären kann, bei denen ein
paar von den archaischen tierischen Schönheitsmuster zwar noch herumspuken,
aber überlagert oder sogar abgelöst worden sind von kulturellen Mechanismen.
Attraktiv ist nicht unbedingt wer den schönsten Kopfschmuck oder Schwanz hat,
sondern – Menninghaus beruft sich hier auf Goffman – z.B. Geld oder soziales
Kapital. Ganz so weit geht auch Freud noch nicht, aber er erklärt immerhin die
sublimierende Verschiebung von der Attraktivität der primären zu den sekundä-
ren Geschlechtsorganen und ihrer Fortsetzung in der Kleidung samt all den dazu-
gehörigen Enthüllungs- und Verhüllungsspielen nicht nur im direkten Sehen,
sondern insbesondere in der Phantasie. Soweit ist das Buch ein Lesespaß.
xistisch‹ ist – Werbung ist ganz einfach seit Urzeiten das zeichenhafte Me-
dium sexueller Differenzgewinne.« (223)
Nicht weniger problematisch ist der dritte Teil des Buches, in dem eine
schiere Unzahl jener seit den 1970er Jahren populären empirischen Stu-
dien »zu den Werten und Persönlichkeitsmerkmalen, die mit physischer
Attraktivität assoziiert werden« (235) zusammengefasst werden. Dabei
kommt es Menninghaus nicht auf den Wahrheitswert oder auch nur die
Plausibililtät dieser Studien an. Es reicht, dass derartige Untersuchungen
Bibliotheken der Universitaet Frankfurt am Main 141.2.232.222 Mon, 07 Jul 2014 14:13:33
nauso verklemmt blöd wie die dumme Masse, die sich heute von den
Strategien des styling und shaping eine vorteilhafte Position im Sozialraum
Copyright Mohr Siebeck
verspricht.
Aus kunsttheoretischer Perspektive ist die Erklärung der Kunst aus der Logik
der sexuellen Wahl deshalb problematisch, weil sie die kognitive Seite, die für
künstlerische Phänomene gerade im Unterschied zu den übrigen ästhetischen Er-
fahrungen konstitutiv ist, leugnet. Zudem wird in Menninghaus’ Ästhetik dem
künstlerischen Männchen-Subjekt – die Paradigmen sind nicht zufällig Picasso,
Modigliani und Mick Jagger – eine Rolle zugeschrieben, welche z.B. die moder-
nistische Tendenzen vom Verschwinden des Autors, der ecriture automatique, alea-
torischer Verfahren, multipler Autorschaft etc. überzeugend in Frage gestellt
haben. Nicht zuletzt ist mir ein Rätsel, wie die Schönheitsmonografie mit Men-
ninghaus’ beeindruckenden Studien etwa zur Frühromantik oder zu Celan zu-
sammen zu bringen ist.
Es lohnt sich, hier noch einmal kurz auf Henrichs Fixpunkte, nämlich
den Aufsatz »Geruchsprofil und Geschmack« (von 1977 wohlgemerkt
und in der beeindruckenden Literaturliste von Menninghaus nicht er-
wähnt) einzugehen. Erstens weil dieser Text ein guter Beleg dafür ist, dass
Kunstphilosophen nicht nur verklemmte Sublimierer sind, sondern sich
bisweilen auch Gedanken zur Entstehung und Vorgeschichte von kultu-
rellen und künstlerischen Praktiken machen. Zweitens weil Henrich eine
nahe liegende Gegenthese zu Menninghaus bereit hält, die letzterer an
keiner Stelle diskutiert: »Was auch immer die Erklärungen sind, welche
für das Kulturphänomen der Kunst aus der allerjüngsten Phase der Gat-
tungsgeschichte (...) gewonnen werden könnte, man darf sie auf keinen
Fall für Erklärungen halten, die Kunst in toto auf ihr voraus liegende Be-
dingungen reduzieren. (...) In einem für sie wesentlichen Kern lässt sich
298 Ruth Sonderegger PhR
gungen zum Geruchsinn nämlich mit der Bemerkung, dass sich aus dem
Insistieren auf dem sui generis Charakter der Kunst »kein Grund zur Re-
pression der Sinnenlust (...) gewinnen [lässt] (...). Je deutlicher Problem
und Aufgabe der Einen Kunst verstanden sind, um so eher kann auch die
als Resultat der Gattungsgeschichte ganz anders verfasste Kontaktsinn-
lichkeit ohne Regression in ihre Möglichkeiten gesteigert werden.«
(219f.)
Delivered by Publishing Technology
Aber es kommt noch schöner. Denn die Unmittelbarkeit, und damit ist
sie – wie man von Hegel weiß – schon gleich mal nicht mehr ganz so un-
vermittelt, gibt es in mindestens zwei Geschmacksrichtungen. Wo Men-
ninghaus behauptet, der Kern der a-kognitiv zu fassenden Kunst sei der
Sexualtrieb, da behauptet Mersch in vielen Variationen und mit immer
neuen Wörtern aus dem Arsenal der von Heidegger inspirierten Dekon-
struktion, ihr Zentrum sei das Ereignis, welches in seiner mystischen Lee-
re aus der Perspektive von Menninghaus wohl als das Allersublimierteste
erscheinen muss. Es geht, um es z.B. in der Terminologie von Sein und
Zeit zu sagen, die Mersch übernimmt, um jenes unbestimmte »dass«, das
jedem »als« vorausgehe. (90) Um das quod, das vor dem quid komme.
Das wird auch Aura, Performativität, Gabe, Vorgängigkeit, Zeigen,
Responsivität, Nichts, das Nichtrepräsentierbare etc. genannt. Listen
äquivalenter Worte finden sich z.B. auf den Seiten 114 – »Einbruch des
Nichts, der Stille, des Nichtmachbaren und Unkontrollierten, der Nega-
tivität des Schocks oder des Störenden und Widerständigen, der Fraktu-
ren und Paradoxa, die ein Unbestimmtes anzeigen und woraus das Ande-
re, Heteronome hervorbricht« – und 223, dort sogar kursiviert: »Perfor-
manz, Ekstasis, Wirkung, Ereignis und Aura«.
Das vielnamige, schwer existentialistisch, im letzten Teil des Buches auch
ethisch und politisch aufgeladene Dass soll in der (performativen) Kunst erfahrbar
sein, die – im Unterschied zu einigen der oben besprochenen Thesen – an keiner
Stelle in Zweifel gezogen wird. Im Gegenteil, Ton und Gestus der Abhandlung
zeugen von einem fast religiösen Glauben an die Kunst samt dem oft damit korre-
53 (2006) Über einige Neuerscheinungen zur Ästhetik 299
spondierenden Kulturpessimismus: die abbildende Fotografie (98ff.) ist genau so
böse wie das Telefon, das die geliebte Stimme auslöscht (100) und wie die einmal
mehr gegeißelten chatrooms (103) und der cyberspace (105).
An der Theorie des solcherart evozierten Dass scheinen mir zwei Dinge pro-
blematisch: (1) Der Unterschied zwischen der Erscheinung dieses Dass im ge-
wöhnlichen Wahrnehmen (und auch im Zeichenhandeln) einerseits und in der
Kunst andererseits wird nicht deutlich. Vielmehr springt der Autor zwischen all-
gemeiner Wahrnehmungs- und Kunsttheorie ohne weitere Erklärung hin und
her. (2) Zudem kann man grundsätzliche Bedenken an der Existenz und Merschs
Bibliotheken der Universitaet Frankfurt am Main 141.2.232.222 Mon, 07 Jul 2014 14:13:33
Artikulation des Dass haben oder sich von einer philosophischen Abhandlung zu-
mindest wünschen, dass sie dazu mehr sagt als das Dass in immer neuen Wörtern
zu beschwören. Schließlich haben gerade diejenigen beiden Autoren, die für
Mersch eine maßgebliche Rolle spielen, nämlich Wittgenstein und Heidegger,
vehement gegen ein solches Dass argumentiert. So schreibt etwa Heidegger in
Sein und Zeit unmissverständlich, dass es kein als-freies Wahrnehmen und Emp-
finden gibt,7 und Wittgenstein hat auf sinnfällige Weise die Wirrnisse demon-
striert, in die der Versuch führt, ein angeblich unbeschreibliches Etwas zu be-
haupten.8 Vermutlich würde Mersch jetzt kontern, aus der Tatsache, dass man
über das Dass nicht sprechen könne, dürfe man nicht folgern, dass es nicht existie-
Delivered by Publishing Technology
re. Es zeige sich nämlich. Aber dann käme es darauf an, das Zeigen des Unmittel-
baren, dessen Paradoxien neben Wittgenstein z.B. Hegel am Beginn der Phäno-
Copyright Mohr Siebeck
menologie entfaltet hat, vorzuführen und vor allem deutlich zu machen, wie es sich
in der Kunst einerseits und – anders vermutlich – im alltäglichen Wahrnehmen
andererseits zeigt.
Schließlich lässt die häufig gebrauchte levinäselnde Terminologie die
Leserin auch fragen, mit welchem Grund es Mersch zufolge das Kunst-
werk und nicht, wie Levinas behauptet hat, das Gesicht des Gegenübers
ist, welches das ursprüngliche Dass zeigt; und wie Mersch dann auch noch
einfach behaupten kann, das Perfomative des Dass sei »universell«: »Not-
wendig scheint alles Ästhetische wie Artistische oder Soziale mit seinem
Ereignen verwoben.« (290)
Aber einmal unterstellt, dass das Dass in der Kunst ganz besonders be-
heimatet ist, so bleibt zu bezweifeln, ob alle Gehalte der Kunst damit als so
gleichermaßen irrelevant erwiesen sind, wie Mersch das will. »Nicht was
dabei im einzelnen zum Vorschein gelangt, ist relevant, sondern dass ge-
schieht«. (290) Gerade im Licht solcher Äußerungen fragt sich dann umso
mehr, warum beispielsweise die »feministische Performance« (231) so para-
7 M. Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1986. 16. Auflage. Martin Niemeyer: »Dass
im schlichten Hinsehen die Ausdrücklichkeit eines Aussagens fehlen kann, berechtigt nicht
dazu, diesem schlichten Sehen jede artikulierende Auslegung, mithin die Als-Struktur ab-
zusprechen. Das schlichte Sehen (...) trägt die Auslegungsstruktur so ursprünglich in sich,
dass gerade ein gleichsam als-freies Erfassen von etwas einer gewissen Umstellung bedarf.«
(149) Das Verteidigen der Als-Struktur ist – wenn überhaupt – also nicht dem »analytischen
Reduktionismus« von Frege und Dummett (vgl. 31) anzulasten.
8 L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. In: Ders.: Werkausgabe Band 1. Frank-
digmatisch sein soll und nicht einfach die Performance as such bzw. wo-
durch das Feministische inhaltlich bestimmt ist; zumal dann, wenn man
sich mit den nicht nur inhaltistischen, sondern sexistischen Zuschreibun-
gen von Mersch nicht zufrieden geben will, denen zufolge feministische
Kunst definiert ist durch »Bloßstellung der eigenen Nacktheit, Ausset-
zung der Willkür des Publikums, Zufügung von Schmerz und Wunden«
(231). Wo unter diesen Erniedrigungskanon dann auch noch die selbstbe-
wussten und witzigen, auf die genannten sexistischen Klischees gerade
Bibliotheken der Universitaet Frankfurt am Main 141.2.232.222 Mon, 07 Jul 2014 14:13:33
reagierenden Aktionen von Valie Export (S. 211) subsumiert werden – sie
hat immerhin Peter Weibel wie einen Hund an der Leine durch Wien ge-
führt und mit ihren nackten Brüsten im Karton die Grabscher zum Anfas-
sen aufgefordert – muss etwas grundsätzlich schief gegangen sein. Aber
nicht nur, wenn sich in Heideggers nacktes Dass Klischees vom schwa-
chen und leidenden Geschlecht einschleichen, begreift man das inhalts-
leere Anliegen von Mersch nicht mehr so recht, sondern auch dort, wo
das leere Dass inhaltsschwer zur eigentlichen Ethik und Politik, ohne dass
Delivered by Publishing Technology
9 »Sie (= die Mogelpackung, R.S.) verspricht mit dem ereignishaften Einbrechen des
vorsymbolisch ganz Anderen einen unbestimmten und bedrohlichen Rest, den sie nach-
träglich (...) jedoch wieder als ganz bestimmten Rest moralisiert. Solch Anderes ist gewis-
sermaßen gar nicht so anders, es ist bestimmtes Anderes und als solches letztlich auf mora-
lisch gute Weise harmlos. Vgl. J. Hartle: Der geöffnete Raum. Zur Politik der ästhetischen
Form. München 2006. Fink. S. 232.
53 (2006) Über einige Neuerscheinungen zur Ästhetik 301
Stockhammer behauptet in der Einleitung auch, Kunst könne als Kunst diese
Grenze nie überschreiten. So überkommt einen angesichts des genannten Para-
doxes bestenfalls ein gelangweiltes »so what-Gefühl«. Dabei hätte es spannend und
aufschlussreich sein können, eine (Neu-)Bestimmung des Kunstbegriffs gerade
von verschiedenen Seiten der Überschreitung der Kunstgrenze her zu entwik-
keln, anstatt diesen nur als immerwährenden und auratisiert liminalen voraus zu
setzen.
wenn man sich auf die formenden Kontexte der Kunst und ihrer Gesell-
schaften einlassen würde, begriffe man jedoch, womit sich zeitgenössi-
sche Kunst ganz wesentlich auseinander setzt. Dann könnte die philoso-
phische Debatte darüber beginnen, wo allgemeine philosophische Be-
griffsbestimmungen sich von den jeweiligen künstlerischen Realitäten
leiten lassen müssen und könnte man sich z.B. auch dem kunsttheoretisch
so vernachlässigten wie viel versprechenden Grenzgebiet der Kunstkritik
zuwenden. Sich aus den bekannten damit verbundenen Problemen der
Unreinheit davonstehlen, indem man sich auf bloße Deskriptionen be-
schränkt oder die Kunst zugunsten neuerer Ästhetisierungsphänomene
zum alten Eisen legt, trägt ebenso wenig zum Verständnis der Kunst wie
anderer ästhetischer Ereignisse und Situationen bei.
Ruth Sonderegger (Amsterdam)
10 Ausnahmen sind hier J. Hartle. A.a.O.; Juliane Rebentisch: Ästhetik der Installation.
12 Vgl. R. Sonderegger: Kunst als Sphäre der Kultur und die kulturwissenschaftliche Transfor-
mation der Ästhetik, in: F. Jäger/B. Liebsch/J. Rüsen (Hgg.), Handbuch der Kulturwissen-
schaft, Band 3: Themen und Tendenzen, Stuttgart/Weimar: Metzler 2004, S. 50–64.