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Über einige Neuerscheinungen zur Ästhetik

Dieter Henrich: Fixpunkte. Abhandlungen und Essays zur Theorie der Kunst.
Frankfurt 2003. Suhrkamp. 302 S.
Joachim Küpper u. Christoph Menke (Hg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung.
Frankfurt 2003. Suhrkamp. 335 S.
Winfried Menninghaus: Das Versprechen der Schönheit. Frankfurt 2003. Suhr-
kamp. 386 S.
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Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performati-
ven. Frankfurt 2002. Suhrkamp. 313 S.
Robert Stockhammer (Hg.): Grenzwerte des Ästhetischen. Frankfurt 2002. Suhr-
kamp. 241 S.

Weil ich Henrichs Überlegungen sowohl argumentativ als auch im


Hinblick auf seine so komplexe wie umsichtige Bestimmung des ästheti-
schen Felds für die weitreichendsten der im Folgenden diskutierten halte,
werde ich mit seinen Fixpunkten beginnen und sie als eine Art Landkarte
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benutzen. Auf ihr sollen die Thesen der daran anschließend besprochenen
Bücher eingetragen und so eine Skizze der gegenwärtigen Lage der deut-
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schen ästhetischen Theorie angefertigt werden.

Fixpunkte
Fixpunkte ist, wie der Untertitel sagt, eine Sammlung von Abhandlungen
und Essays zur Theorie der Kunst aus dem Zeitraum von 1963 bis 2000. Im
ersten der drei Hauptteile geht es um die Stellung der modernen, »partia-
len« Kunst und ihrer Theorie innerhalb der Philosophie und letztlich um
das subjektphilosophische Projekt von Henrich; im zweiten um (die Ak-
tualität von) Hegels Kunstphilosophie, im dritten um ästhetische Detail-
probleme. Nicht das geringste Faszinosum ist dabei, wie Henrich der
Kunsttheorie einerseits eine entscheidende philosophische, nämlich sub-
jekttheoretische Rolle zuschreibt, sich andererseits aber nicht deduktiv
von einem philosophischen System aus der Kunst annähert. Vielmehr
lässt er sich von der Kunst gerade auch dort leiten, wo sie dem philosophi-
schen Unternehmen Steine und Rätsel in den Weg legt. Aber nicht nur in
Bezug auf die Philosophie schreibt Henrich der Kunst eine entscheidende
Funktion zu, sondern auch mit Bezug auf das so genannte Leben. Das
macht die Sache insofern spannend, als zwei der hier zur Diskussion ste-
henden Bücher die Kunst zugunsten des Ästhetischen mehr oder weniger
verabschiedet haben und unbesprochen lassen, ob die damit einhergehen-
de Transformation der philosophischen Ästhetik in eine allgemeine
Wahrnehmungstheorie normativ oder deskriptiv zu verstehen ist. Dem-
gegenüber schreibt Henrich der Auseinandersetzung mit Kunst von vor-

Philosophische Rundschau, Band 53 (2006) S. 289–302


© 2006 Mohr Siebeck – ISSN 0031-8159
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ne herein eine normative Rolle zu, die er auch dann noch verteidigen
würde, wenn Kunst zu einem radikal aussterbenden Phänomen geworden
wäre, und zwar eine Rolle, die von außerkünstlerischen ästhetischen Er-
fahrungen nicht übernommen werden kann.
Denn Kunst ist die Möglichkeit schlechthin, um die Logik dessen, was Hen-
rich Subjektivität nennt, anschaulich – nämlich vollziehend und mit einer gewis-
sen Distanz – begreifen zu können. Diese seine Grundthese entwickelt Henrich
im Eröffnungsessay »Subjektivität und Kunst«, welcher eine gedrängte Fassung
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des Vorlesungsbandes Versuch über Kunst und Leben. Subjektivität – Weltverstehen –


Kunst darstellt.1 Sie besagt, dass sowohl die Kunst als auch der Prozess des Lebens
vom Phänomen der Subjektivität her zu verstehen sind. Unter »Subjektivität«
wiederum versteht Henrich einen bestimmten, nämlich »bewussten« Vollzug des
Lebens. Er besteht darin, im Wissen um die Grundlosigkeit des Subjekts – und
d.h. auch im Wissen um die Kontingenz der Weltzusammenhänge, die dem Sub-
jekt nicht nur voraus liegen, sondern die es auch nicht als eine distanzierbare
Ganzheit überblickt – das Leben auf eine stets offen bleibende und sich fortwäh-
rend verändernde Ganzheit hin zu vollziehen. Dazu gehört zweierlei: Im Ent-
wurf einer Ganzheit des je eigenen Lebens und der davon nicht ablösbaren Verge-
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wisserung über seine Welt und mögliche Alternative Welten macht das bewusst
lebende Subjekt auch einen Vorgriff auf eine »Integrationswelt«.2 In dieser müss-
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ten m.E. nicht nur die verschiedenen Welten eines Subjekts zur Einheit kommen,
was auch Henrich betont, sondern eine bestimmte Konstellation von Welten
auch begründet, d.h. alternativen mit Gründen vorgezogen werden könnten.
Das Kunstwerk, oder vielmehr sein »Formverlauf«, stellt vor dem kurz
erläuterten subjekttheoretischen Hintergrund die entscheidende Mög-
lichkeit dar, sich die Logik des bewussten Lebens aus einer gewissen
Distanz und losgelöst vom Zwang, das grundlose Leben meistern zu müs-
sen, zu vergegenwärtigen. Denn seine offene Einheit muss das Kunstwerk
– hier orientiert Henrich sich vor allem an einer musikalisch-formalisti-
schen Terminologie und nicht selten an der teleologischen Sinfonik Beet-
hovens – auf eine ähnlich prekäre Weise herstellen wie das Subjekt unter
den Bedingungen der Moderne die seine. Damit fallen Kunst und Leben
keinesfalls zusammen, aber sie verweisen und brauchen (auf)einander: Ein
Leben ohne Kunst läuft Gefahr, sich eine illusionäre, nämlich alternative-
lose und statische Ganzheit vorzugaukeln oder sich in der Beliebigkeit zu
verlieren. Ein Kunstwerk, das sich zum Leben aufspielte, wäre blind für
die Tatsache geworden, dass es eine (zumindest temporäre) Werk-Ganz-
heit erreichen kann, die es im Vollzug des Lebens vor dem Tod nie gibt.
Gerade und nur in der Konfrontation mit dem Kunstwerk erfahren wir al-

1 D. Henrich: Versuch über Kunst und Leben. Subjektivität-Weltverstehen-Kunst. München/

Wien 2001. Hanser. Die subjekttheoretischen Annahmen hat Henrich u.a. ausgearbeitet
in: Bewusstes Leben. Stuttgart 1999. Reclam.
2 Auf den so kruzialen wie strittigen Punkt, wonach das Selbstverhältnis Henrich zufol-

ge letztlich doch basaler ist als das Weltverhältnis, kann ich hier nicht weiter eingehen.
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so eine Freiheit vom Vollzugszwang, die die Logik des bewussten Lebens
viel deutlicher hervortreten und auch objektivierbarer macht als sie es im
Vollzug samt seinem, wie Heidegger gesagt hätte: » Lastcharakter«, je sein
könnte.

So weit so gut. Aber das klingt mehr nach Kant als nach Hegel; zwar nicht im
Sinn der Kantischen Vermögenslehre, jedoch sehr wohl im Sinn der subjektiven
Vergewisserung des in die Welt-Passens bzw. Welt-Habens, die Kant der ästheti-
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schen Erfahrung zuschreibt. Wie die Kunsttheorie Kants ist auch diejenige Hen-
richs zudem wesentlich vom Subjekt her gedacht, wenngleich das Zentrum dieses
Subjekts nicht die (Natur)Erkenntnis und die dafür nötigen Vermögen ist, son-
dern das bewusste Leben. Was Henrich von der Kantischen Tradition jedoch
trennt und mit Hegel verbindet, ist das fortwährende Insistieren auf der Wichtig-
keit der Gehalte und die damit eng verknüpfte kognitive und zeitdiagnostische
Dimension der Kunst. »Jede Kunsttheorie hat sich der Frage zu stellen, wie der
Zusammenhang zu denken sei zwischen den Instrumentarien formaler Gestal-
tung auf der einen Seite (...) und dem anderen Gesichtspunkt, (...) dass nämlich
Kunst je eine bestimmte Relevanz der Vermittlung, man kann ruhig sagen: der
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Einsicht besitzt und beansprucht, – damit aber eine Bezogenheit auf die Bewusst-
seinslagen und Zeitzustände, die durch das formale Instrumentarium als solches
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keineswegs für definiert gelten können«. (160) Das öffnet den Raum für eine
Kunstphilosophie, die sich zutraut, Ort und Wert der Kunsterfahrung im ganzen
des menschlichen Lebens zu thematisieren, anstatt Kunst als jenen »Raum der
Freiheit« miss zu verstehen, »der jenseits alles Wirklichen und seiner Zwänge eine
Welt des Spieles einräumt und genüssliche Kennerschaft ermöglicht, die sich aus
der Reflexion der Wirklichkeit selbst herausreflektiert«. (155)

Wie die Dimensionen Form und Gehalt, die Hegel Henrich zufolge
auf eine überzeugende Weise zusammen gebracht hat, »die schwer durch-
sichtig gemacht werden kann« (p. 160), einander bei Henrich bedingen,
ist nicht minder undurchsichtig. Denn seine Theorie des Formverlaufs als
Verständigung über die Logik des bewussten Lebens legen die Schlussfol-
gerung nahe, dass alle Kunstwerke immer wieder nur die Logik der Sub-
jektivität vergegenwärtigen. Damit bleibt im Unklaren, wie den Verände-
rungen von Subjektivität gerade auch in der nachhegelischen Moderne
Rechnung getragen werden kann. Es fragt sich des weiteren, ob Subjekti-
vität der einzige Gehalt ist, um den alle Kunstwerke kreisen; und drittens
wie, wenn Subjektivität der einzige Gehalt ist, er mit den doch (unüber-
schaubar) vielfältigen Weltverständnissen zusammen hängt, für deren
zeitdiagnostische Relevanz die Künstler Henrich zufolge ein besonderes
Sensorium haben.
Wie sehr Henrich an mehr als einem formalistischen Formverlauf in-
teressiert ist, kommt am deutlichsten in seinen kritischen Äußerungen
hervor: etwa in seiner gerade ob ihrer Superkürze brillanten Kritik an
Goodman als einer »Verbindung von Logik und Kunsthandel« (295) oder
auch an Positionen, die behaupten, die Kunst spiele ohnehin kaum mehr
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eine Rolle und deshalb solle auch ihre Theorie Ästhetik im weitesten
Sinn werden. Demgegenüber unterscheidet Henrich präzis zwischen so
verschiedenen Dingen wie Kunstphilosophie, Kunstwissenschaft, Künst-
lerästhetiken und allgemeiner Ästhetik samt ihren protoästhetischen Vor-
aussetzungen, um gerade auch die Übergänge und Zusammenhänge zwi-
schen diesen Bereichen zu analysieren.
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Dimensionen ästhetischer Erfahrung


Zumindest wenn man dem Vorwort zu diesem Sammelband glaubt,
scheint das Ende der Kunst eine besiegelte Sache. Küppers und Menke
schreiben dort nämlich:
»Eine Ästhetik, die vom Begriff der Erfahrung ausgeht, kann nicht auf
eine Theorie der Kunst beschränkt, ja nicht einmal um eine Theorie der
Kunst zentriert bleiben. (...) Die ursprünglich kunsttheoretisch motivier-
te Wendung zur ästhetischen Erfahrung hat daher zu einer grundlegen-
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den Reorganisation oder eher zu einer grundlegenden Öffnung und Plu-


ralisierung, des Feldes der Ästhetik geführt; Design, Mode, Körpertech-
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niken, Medien, Natur – all dies gehört nun auch dazu. Ja, im Rückblick
mag dieser Effekt sogar als das eigentliche, seinen Protagonisten mögli-
cherweise nur teilweise bewusste Movens des aesthetic turn erscheinen:
durch eine Umstellung der basalen Begrifflichkeit das Feld des Ästheti-
schen radikal von seiner Zentrierung um den Begriff der Kunst zu befrei-
en.« (9)
Zwar wird als ein in der gegenwärtigen Ästhetik-Diskussion gewichti-
ges Problem später auch noch das der Allgemeinheit von Kunsttheorien
genannt und gefragt, ob man der Pluralität der Künste entsprechend nicht
auch von einer Vielzahl kunstspezifischer ästhetischer Erfahrung ausge-
hen sollte. Doch das bleibt ein Nebenschauplatz. Die meisten Artikel, die
dem Begriff der ästhetischen Erfahrung überhaupt systematisch nachge-
hen – was keinesfalls von allen behauptet werden kann – beschäftigen sich
mit dem Bedeutungsverlust der Kunst zugunsten verschiedener Ästheti-
sierungsphänomene.
Man kann sich über den deskriptiven, fast möchte man sagen: uninteressierten,
Grundton der Einführung wundern, der in der Formulierung »das alles gehört
nun auch dazu« zu sich kommt. Doch muss man dem Vorwort der Herausgeber
zugute halten, dass es die Spannung zwischen an der Kunst einerseits und unter-
schiedlichsten Ästhetisierungsphänomen andererseits orientierten Ästhetiken auf
den Punkt und in die Übersicht bringt. Und wenn man sich auf die Diagnose
vom Ende der Bedeutsamkeit der Kunst zugunsten einer Hochkonjunktur ver-
schiedenster Dimensionen des Ästhetischen einmal eingelassen hat, dann ist die
innerhalb dieses Rahmens keineswegs nur deskriptive, sondern normative
Schlussfolgerung der Herausgeber plausibel, um nicht zu sagen unausweichlich:
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Die Kategorie der ästhetischen Erfahrung wird mitsamt der Implikation, dass die
Künste ihre Zentralstellung in der philosophischen Ästhetik verloren haben, zur
Schlüsselkategorie.
Diese Transformation ist von theoretischen Kontroversen, an die ich hier kurz
erinnern möchte, nicht loszulösen.3 Zwar war die Kategorie der ästhetischen Er-
fahrung seit dem Beginn ihrer Karriere um 1800 nicht ausschließlich für die
Kunst reserviert; man kann vielmehr sagen, dass die mit Amt und Würde ausge-
statte Kunst damals benutzt wurde, um eine neue Form der sinnlichen und emo-
tionalen Erkenntnis populär zu machen und die freie Subjektivität zu feiern. Aber
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immerhin schienen Kunst- und Naturschönheiten verschiedene und vor allem


gleichermaßen anerkannte Weisen der ästhetischen Erfahrung, i.e. Intensivierun-
gen der Subjektivität möglich zu machen. Bekanntlich hat Hegel dann im Ge-
genzug versucht, das Kunst- über das Naturschöne zu stellen und statt dem erfah-
renden Subjekt das Objekt, das Kunstwerk, und an diesem insbesondere seinen
zeitdiagnostischen Gehalt, zum Zentrum zu machen. Diese Tradition wirkt fort
bis zu Heideggers und Gadamers Kritik am Subjektivismus der ästhetischen Er-
fahrung einerseits und Benjamins, Adornos, aber auch Marcuses utopischer Auf-
ladung des Gehalts von Kunstwerken andererseits. »Alles traditionalistischer oder
marxistischer Unsinn!« hat Rüdiger Bubner 1973 in »Über einige Bedingungen
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gegenwärtiger Ästhetik«4 sinngemäß gegen diesen Hegelianismus behauptet.


Bubner zufolge gab es in den frühen 70er Jahren zwei Gründe, zu Kants Theorie
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der ästhetischen Erfahrung zurückzukehren: Erstens das empirische Verschwin-


den der traditionell geschlossenen Werke zugunsten von ästhetischen Ereignissen,
die mit der Erfahrung verlöschen. Zweitens macht Bubner die gar nicht empiri-
sche Überholtheit, sondern normative Kritik dessen geltend, was insbesondere
Philosophen als die in der Kunst beheimatete höhere Wahrheit gepriesen haben.
Bubners Überlegungen richten sich also einerseits gegen Werkästhetiken. Ihr
zweiter Feind sind Wahrheitsästhetiken, die das Wesen der Kunst über die Beson-
derheit von Gehalten bzw. über die besondere Präsentationsform von Gehalten
bestimmen und dabei der Kunst jeweils eine ausgezeichnete Form von »künstleri-
scher« Wahrheit zusprechen.
Diese Tradition des Kantianismus setzt der Band Dimensionen der ästheti-
schen Erfahrung fort. Hier wird nicht nur behauptet, dass zeitgenössische
Kunstproduktionen von der Werkkategorie her nicht zu fassen sind, son-
dern dass die Kunstproduktion überhaupt keine maßgebliche Rolle mehr
spielt, dass sie zumindest überholt worden ist von allgegenwärtigen und
-umfassenden Ästhetisierungstendenzen.
Die Frage ist allerdings erstens, ob diese Gegenwartsdiagnose zutref-
fend ist; zweitens ob man sich zu ihr nicht auch normativ verhalten
müsste; und drittens, ob es nicht theoretische Vorannahmen und Begriff-
lichkeiten sind, die zu einer bestimmten Gegenwartsdiagnose führen. Zu-

3 Vgl. R. Sonderegger: Die Ideologie der ästhetischen Erfahrung. Versuch einer Repolitisie-

rung. In: G. Koch und C. Voss (Hrsg.): Zwischen Ding und Zeichen. Zur ästhetischen Erfah-
rung in der Kunst. München 2005. Fink. S. 86–106.
4 R. Bubner: »Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik«, in: neue hefte für philosophie,

Heft 5, 1973. S. 38–73.


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mal ein Blick auf die boomenden Kunstinstitutionen – und -Märkte5 – ei-
nen schnell darüber belehrt, dass es derart schlecht um die Kunst nicht be-
stellt sein kann. So titelte z.B. die NZZ in der Sonderbeilage zur letzten
Art 37 Basel auf der ersten Seite der entsprechenden Kunst-Sonderbeila-
ge: »Mit weltweitem Wachstumspotential«6. Angesichts dieser für die
Kunst wie für Ästhetisierungen eher gleich günstigen Zukunftsaussichten
kann man nicht umhin, die Wahl eines bestimmten begrifflichen Rah-
mens, der die eine Seite mehr beleuchtet als die andere, auch als ein nor-
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matives Statement ernst zu nehmen: Ästhetisierungen oder Kunst sollen


nicht (mehr) eine so zentrale Rolle spielen. Schon deshalb ist es produk-
tiv, so verschiedene Theorie-Traditionen wie sie die beiden bislang be-
sprochenen Bücher paradigmatisch verkörpern, durch einander zu ver-
fremden, so dass sie sich möglicherweise gegenseitig in ihren blinden
Flecken korrigieren.
Was nun die einzelnen Beiträge von Dimensionen ästhetischer Erfahrung betrifft,
so fällt auf, dass die beschworenen Ästhetisierungsphänomene jenseits der Kunst
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nur vereinzelt und am Rand zur Sprache kommen. Manche durchaus hervorra-
genden Beiträge wie z.B. die von Rorty über Literatur, Koch über Film oder
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Busch über Caspar David Friedrich sind an der im Vorwort als zentral ausgewie-
senen Fragestellung nicht interessiert. Zudem wird auf die außerkünstlerischen
Ästhetisierungsphänomene mehrheitlich noch immer vom Standpunkt der Kunst
(herab-)geschaut.
So schimpft z.B. Bubner über den Verfall der Museen, die zu sozialen events
werden: »Entsprechend erscheint Tate Modern (...) ein gesellschaftlicher Ver-
sammlungsort der gehobenen Art, angefüllt mit überwiegend jungen Leuten, die
hier kollektive Selbstdarstellung in Mode und Körpergestus suchen. Waren die
klassischen Museen Bildungsorte des gesetzten Bürgertums, so inszeniert sich die
soziale und demokratische Avantgarde hier selbst.« (37). Entgegen aller früheren
Kritik an der Werkkategorie, die den Übergang zu Theorien ästhetischer Erfah-
rungen gerade motivieren sollte, verteidigt er nun gegen die »breite Masse der
Kunstliebhaber« diejenigen Nachdenklichen, die sich am »klassischen Werk«
orientieren. (47) Fischer-Lichtes Überlegungen zur Theater-Erfahrung, wonach
alle möglichen kognitiven Effekte auf affektiven und physiologischen, also ais-
thetischen im weitesten Sinn aufruhen, endet mit der so spannenden wie un-
beantworteten Frage, wie unter diesen Voraussetzungen das Theater dann »von
anderen Schwellenerfahrungen, wie sie nicht nur Rituale, sondern auch Feste,
Sportveranstaltungen, politische Kundgebungen und andere Genres von cultural
performances aufzulösen vermögen« (160) zu unterscheiden sind.
Dort wo nichtkünstlerische ästhetische Phänomene losgelöst vom Kunstdis-
kurs besprochen werden – bei Mattenklott die Bildhaftigkeit wissenschaftlicher
Texte, im Fall von Shusterman die auch kognitiv relevante Funktion somästheti-
scher Gefühle für die Konfrontation mit fremden Körpern, die häufig zum
schwer thematisierbaren rassistischen Inbegriff des Fremden werden – , hat man

5 Man konsultiere z.B. nur mal kurz die Künstler-rating-Site von Capital: www.capi-

tal.de.
6 NZZ vom 13. Juni 2006, S. B1ff.
53 (2006) Über einige Neuerscheinungen zur Ästhetik 295
es zweifellos mit unabgegoltenen Herausforderungen zu tun. Aber nicht mit sol-
chen, die erst oder besonders in der Gegenwart als dem Übergang vom Kunstpa-
radigma zu dem des universellen Designs Relevanz erlangt haben.
Auch die letzten drei Beiträge zur Biologie ästhetischer Phänomene
haben nichts mit der Gegenwartsdiagnose der Einleitung zu tun. Alle drei
beginnen nämlich mit der am Ende des 19. Jahrhunderts beginnenden
Geschichte ihrer Disziplin, und es bleibt dunkel, inwiefern die untersuch-
ten Phänomene der Kunst oder der Ästhetik zuzurechnen sind. So lautet
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Bösels Ausblick dann beispielsweise auch: »Vieles von dem, was eben dar-
gestellt wurde, ist im Detail spekulativ. (...) Gibt es eine Eigenart der
Kunsterfahrung, und unterscheidet sich kulturelles Gefallen von andern
Formen des Gefallens? Gib es eine Grenze zwischen Kunst und Nicht-
kunst?« (283) Nicht dass das keine spannenden Fragen wären. Aber sie
werden mit einer Blauäugigkeit und losgelöst von den Jahrhunderte lan-
gen Diskussionen über sie vorgebracht, so dass man nicht weiss, worüber
man mehr den Kopf schütteln soll: über die Ignoranz oder über das Ver-
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trauen in den Fortschritt der Forschung: »In naher Zukunft kann es mög-
lich sein, die Prozesse des Erregens von Aufmerksamkeit durch ein künst-
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lerisches Ereignis, der aktiven Wahrnehmung, der globalen Einordnung,


des differenzierten Erkennens von Brauchbarkeit, das ästhetische Empfin-
den, das Erleben von Erfolg und damit den Beginn einer Neuordnung des
Wissens in einzelnen abzubilden.« (283) Bei Helmut Leder wird es dann
schon fast kabarettistisch, wenn er zum Schluss vorschlägt: »Dabei (= bei
künftigen Untersuchungen, R.S.) ist die Verwendung echter Kunstwer-
ke, wo dies das Untersuchungsdesign zulässt, unbedingt wünschenswert.«
(306) So als stünde der Text nicht im x hoch n-ten Sammelband zum Pro-
blem, was (echte) Kunst ist und ob es sie noch gibt. Der demgegenüber
viel differenziertere Aufsatz von Dietmar Todt gibt am Ende denn auch
zu, dass der von ihm entwickelte Forschungsansatz zur Evolution der äs-
thetischen Erfahrung voraussetzen würde, »dass zuvor Klarheit darüber
besteht, an welchen Charakteristika ästhetische Komponenten eindeutig
zu erkennen sind und welche davon speziell auch für die performativ oder
perzeptiv ausgeprägten Verhaltensleistungen von Tieren gelten können.«
(331)

Das Versprechen der Schönheit


Von den zuletzt besprochenen biologischen Beiträgen zur Ästhetik ist
es nur ein kleiner Schritt zu Menninghaus’ »sexuelle[r] Genealogie künst-
lerischer Praktiken« (10). Sie besteht aus drei Teilen: (1) Einer Rekon-
struktion und Verteidigung Darwins, (2) einer ergänzenden Lektüre
Freuds und (3) einer zwar beeindruckend belesenen, in bezug auf ihren
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argumentativen oder gar systematischen Gewinn m.E. problematischen


Zusammenfassung neuerer Literatur zur Sexualästhetik. Alle drei Ab-
schnitte sind durchzogen von Sticheleien gegen die traditionelle (philoso-
phische) Ästhetik, die ihre eigene sexuelle Vorgeschichte leugne, ohne
dass wirklich deutlich wird, was einer Ästhetik, die in diesem Sinn ur-
sprungvergessen ist, verborgen bleibt; und es ist auch noch die Frage, ob
sexuelle Ursprungvergessenheit für alle ästhetische Theorie gilt. (Hen-
rich und Adorno wären hier nur zwei der prominenteren Ausnahmen.)
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Allerdings fügt diese Studie sich prachtvoll ein in jenen Gegenwartsdis-


kurs, der die Kunst unmelancholisch verabschiedet. Im hohen Ton des auf
sich selbst stolzen Tabubrechers suggeriert sie, man solle sich nach all dem
Reflexions- und Negativitätsquatsch wieder einmal trauen, von der
Schönheit in all ihrer Oberflächlichkeit und unverkopften Sexuallust zu
sprechen.
Der Darwin-Teil, und noch stärker jener, der Darwin gegen seine naturalisie-
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renden Nachfolger verteidigt, ist im wesentlich die Rekonstruktion von Darwins


These, dass aus der Reihe tanzende Schönheit bei der sexuellen Wahl eine ent-
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scheidende Rolle spielt, und zwar eine, die der Logik der natürlichen Wahl bis-
weilen sogar im Weg steht. Will sagen: Um willen auffallender Schönheitsmerk-
male bilden insbesondere die männliche Tiere so überdimensionale oder farblich
so auffallende Geweihe, Federbüsche, Schwänze und dergl. mehr aus, dass das
Überleben dadurch erheblich schwieriger bis unmöglich wird. Dementspre-
chend regiert bei Darwin nicht nur das Gesetz von den Überlebensstärksten son-
dern auch das von den Schönsten. Freud ist dann nötig, weil Darwin zumindest
das Sexualverhalten der Menschen nicht schlüssig erklären kann, bei denen ein
paar von den archaischen tierischen Schönheitsmuster zwar noch herumspuken,
aber überlagert oder sogar abgelöst worden sind von kulturellen Mechanismen.
Attraktiv ist nicht unbedingt wer den schönsten Kopfschmuck oder Schwanz hat,
sondern – Menninghaus beruft sich hier auf Goffman – z.B. Geld oder soziales
Kapital. Ganz so weit geht auch Freud noch nicht, aber er erklärt immerhin die
sublimierende Verschiebung von der Attraktivität der primären zu den sekundä-
ren Geschlechtsorganen und ihrer Fortsetzung in der Kleidung samt all den dazu-
gehörigen Enthüllungs- und Verhüllungsspielen nicht nur im direkten Sehen,
sondern insbesondere in der Phantasie. Soweit ist das Buch ein Lesespaß.

Mit dieser Rekonstruktion möchte Menninghaus einerseits das Entste-


hen der Kunst, andererseits den gesteigerten Schönheitskult der Gegen-
wart erklären. Und damit beginnen die Probleme. Kunst ist für Menning-
haus im Wesentlichen ein Nebenprodukt sexueller Werbung (223f.) oder
die Ab- und Aufarbeitung der Zurückweisung (225). Das führt nicht nur
zu spekulativ bleibenden Thesen wie »Beides, Liebeserwartung und Lie-
besleid, sind vielleicht nicht nur Grundmuster des lyrischen Gedichts,
sondern verschiedene Stellungen ästhetischer Produktion zu sexueller
›Wahl‹ überhaupt« (225f.), sondern auch zu so reaktionär naturalisieren-
den Schlussfolgerunge wie: »Das mag erklären, warum alle Werbung ›se-
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xistisch‹ ist – Werbung ist ganz einfach seit Urzeiten das zeichenhafte Me-
dium sexueller Differenzgewinne.« (223)
Nicht weniger problematisch ist der dritte Teil des Buches, in dem eine
schiere Unzahl jener seit den 1970er Jahren populären empirischen Stu-
dien »zu den Werten und Persönlichkeitsmerkmalen, die mit physischer
Attraktivität assoziiert werden« (235) zusammengefasst werden. Dabei
kommt es Menninghaus nicht auf den Wahrheitswert oder auch nur die
Plausibililtät dieser Studien an. Es reicht, dass derartige Untersuchungen
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in die gegenwärtige Realität wirkungsmächtig eingreifen. Ihre Rekapi-


tulation verfolgt also nicht die Absicht des kritischen Kommentars, und
auch von den Ansprüchen einer Diskursanalyse ist keine Spur zu sehen.
Vielmehr handelt es ich hier um die Reproduktion der Ideologie eines
Zeitalters gerade auch dort, wo Menninghaus sich davon halbherzig zu
distanzieren versucht, indem er auf alle herabschaut, die das kalkulierte
Treiben der Schönheitsindustrie nicht durchschauen. Die sublimieren-
den Theoretiker erscheinen von diesem erhöhten Standpunkt aus als ge-
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nauso verklemmt blöd wie die dumme Masse, die sich heute von den
Strategien des styling und shaping eine vorteilhafte Position im Sozialraum
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verspricht.
Aus kunsttheoretischer Perspektive ist die Erklärung der Kunst aus der Logik
der sexuellen Wahl deshalb problematisch, weil sie die kognitive Seite, die für
künstlerische Phänomene gerade im Unterschied zu den übrigen ästhetischen Er-
fahrungen konstitutiv ist, leugnet. Zudem wird in Menninghaus’ Ästhetik dem
künstlerischen Männchen-Subjekt – die Paradigmen sind nicht zufällig Picasso,
Modigliani und Mick Jagger – eine Rolle zugeschrieben, welche z.B. die moder-
nistische Tendenzen vom Verschwinden des Autors, der ecriture automatique, alea-
torischer Verfahren, multipler Autorschaft etc. überzeugend in Frage gestellt
haben. Nicht zuletzt ist mir ein Rätsel, wie die Schönheitsmonografie mit Men-
ninghaus’ beeindruckenden Studien etwa zur Frühromantik oder zu Celan zu-
sammen zu bringen ist.
Es lohnt sich, hier noch einmal kurz auf Henrichs Fixpunkte, nämlich
den Aufsatz »Geruchsprofil und Geschmack« (von 1977 wohlgemerkt
und in der beeindruckenden Literaturliste von Menninghaus nicht er-
wähnt) einzugehen. Erstens weil dieser Text ein guter Beleg dafür ist, dass
Kunstphilosophen nicht nur verklemmte Sublimierer sind, sondern sich
bisweilen auch Gedanken zur Entstehung und Vorgeschichte von kultu-
rellen und künstlerischen Praktiken machen. Zweitens weil Henrich eine
nahe liegende Gegenthese zu Menninghaus bereit hält, die letzterer an
keiner Stelle diskutiert: »Was auch immer die Erklärungen sind, welche
für das Kulturphänomen der Kunst aus der allerjüngsten Phase der Gat-
tungsgeschichte (...) gewonnen werden könnte, man darf sie auf keinen
Fall für Erklärungen halten, die Kunst in toto auf ihr voraus liegende Be-
dingungen reduzieren. (...) In einem für sie wesentlichen Kern lässt sich
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Kunst auf keine andere Kulturbedingung reduzieren. (...) Eine Erklärung,


die umfassend, die wirklich hinreichend sein will, müsste auf eine Erklä-
rung alles bewussten Lebens ausgehen.« (217f.) Sie müsste also zumindest
auch auf jenes Bedürfnis von Subjekten eingehen, sich auf je zeitspezifi-
sche Weise aus ihrer Grundlosigkeit her verstehen und auf konkrete, kon-
tingente Welten hin entwerfen zu wollen. Damit wird der Spieß nicht
einfach umgedreht und behauptet, das reflexive Bedürfnis von Subjekten
sei wichtiger als ihr sinnlich bis sexuelles. Henrich beendet seine Überle-
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gungen zum Geruchsinn nämlich mit der Bemerkung, dass sich aus dem
Insistieren auf dem sui generis Charakter der Kunst »kein Grund zur Re-
pression der Sinnenlust (...) gewinnen [lässt] (...). Je deutlicher Problem
und Aufgabe der Einen Kunst verstanden sind, um so eher kann auch die
als Resultat der Gattungsgeschichte ganz anders verfasste Kontaktsinn-
lichkeit ohne Regression in ihre Möglichkeiten gesteigert werden.«
(219f.)
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Ereignis und Aura


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Aber es kommt noch schöner. Denn die Unmittelbarkeit, und damit ist
sie – wie man von Hegel weiß – schon gleich mal nicht mehr ganz so un-
vermittelt, gibt es in mindestens zwei Geschmacksrichtungen. Wo Men-
ninghaus behauptet, der Kern der a-kognitiv zu fassenden Kunst sei der
Sexualtrieb, da behauptet Mersch in vielen Variationen und mit immer
neuen Wörtern aus dem Arsenal der von Heidegger inspirierten Dekon-
struktion, ihr Zentrum sei das Ereignis, welches in seiner mystischen Lee-
re aus der Perspektive von Menninghaus wohl als das Allersublimierteste
erscheinen muss. Es geht, um es z.B. in der Terminologie von Sein und
Zeit zu sagen, die Mersch übernimmt, um jenes unbestimmte »dass«, das
jedem »als« vorausgehe. (90) Um das quod, das vor dem quid komme.
Das wird auch Aura, Performativität, Gabe, Vorgängigkeit, Zeigen,
Responsivität, Nichts, das Nichtrepräsentierbare etc. genannt. Listen
äquivalenter Worte finden sich z.B. auf den Seiten 114 – »Einbruch des
Nichts, der Stille, des Nichtmachbaren und Unkontrollierten, der Nega-
tivität des Schocks oder des Störenden und Widerständigen, der Fraktu-
ren und Paradoxa, die ein Unbestimmtes anzeigen und woraus das Ande-
re, Heteronome hervorbricht« – und 223, dort sogar kursiviert: »Perfor-
manz, Ekstasis, Wirkung, Ereignis und Aura«.
Das vielnamige, schwer existentialistisch, im letzten Teil des Buches auch
ethisch und politisch aufgeladene Dass soll in der (performativen) Kunst erfahrbar
sein, die – im Unterschied zu einigen der oben besprochenen Thesen – an keiner
Stelle in Zweifel gezogen wird. Im Gegenteil, Ton und Gestus der Abhandlung
zeugen von einem fast religiösen Glauben an die Kunst samt dem oft damit korre-
53 (2006) Über einige Neuerscheinungen zur Ästhetik 299
spondierenden Kulturpessimismus: die abbildende Fotografie (98ff.) ist genau so
böse wie das Telefon, das die geliebte Stimme auslöscht (100) und wie die einmal
mehr gegeißelten chatrooms (103) und der cyberspace (105).
An der Theorie des solcherart evozierten Dass scheinen mir zwei Dinge pro-
blematisch: (1) Der Unterschied zwischen der Erscheinung dieses Dass im ge-
wöhnlichen Wahrnehmen (und auch im Zeichenhandeln) einerseits und in der
Kunst andererseits wird nicht deutlich. Vielmehr springt der Autor zwischen all-
gemeiner Wahrnehmungs- und Kunsttheorie ohne weitere Erklärung hin und
her. (2) Zudem kann man grundsätzliche Bedenken an der Existenz und Merschs
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Artikulation des Dass haben oder sich von einer philosophischen Abhandlung zu-
mindest wünschen, dass sie dazu mehr sagt als das Dass in immer neuen Wörtern
zu beschwören. Schließlich haben gerade diejenigen beiden Autoren, die für
Mersch eine maßgebliche Rolle spielen, nämlich Wittgenstein und Heidegger,
vehement gegen ein solches Dass argumentiert. So schreibt etwa Heidegger in
Sein und Zeit unmissverständlich, dass es kein als-freies Wahrnehmen und Emp-
finden gibt,7 und Wittgenstein hat auf sinnfällige Weise die Wirrnisse demon-
striert, in die der Versuch führt, ein angeblich unbeschreibliches Etwas zu be-
haupten.8 Vermutlich würde Mersch jetzt kontern, aus der Tatsache, dass man
über das Dass nicht sprechen könne, dürfe man nicht folgern, dass es nicht existie-
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re. Es zeige sich nämlich. Aber dann käme es darauf an, das Zeigen des Unmittel-
baren, dessen Paradoxien neben Wittgenstein z.B. Hegel am Beginn der Phäno-
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menologie entfaltet hat, vorzuführen und vor allem deutlich zu machen, wie es sich
in der Kunst einerseits und – anders vermutlich – im alltäglichen Wahrnehmen
andererseits zeigt.
Schließlich lässt die häufig gebrauchte levinäselnde Terminologie die
Leserin auch fragen, mit welchem Grund es Mersch zufolge das Kunst-
werk und nicht, wie Levinas behauptet hat, das Gesicht des Gegenübers
ist, welches das ursprüngliche Dass zeigt; und wie Mersch dann auch noch
einfach behaupten kann, das Perfomative des Dass sei »universell«: »Not-
wendig scheint alles Ästhetische wie Artistische oder Soziale mit seinem
Ereignen verwoben.« (290)
Aber einmal unterstellt, dass das Dass in der Kunst ganz besonders be-
heimatet ist, so bleibt zu bezweifeln, ob alle Gehalte der Kunst damit als so
gleichermaßen irrelevant erwiesen sind, wie Mersch das will. »Nicht was
dabei im einzelnen zum Vorschein gelangt, ist relevant, sondern dass ge-
schieht«. (290) Gerade im Licht solcher Äußerungen fragt sich dann umso
mehr, warum beispielsweise die »feministische Performance« (231) so para-

7 M. Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1986. 16. Auflage. Martin Niemeyer: »Dass

im schlichten Hinsehen die Ausdrücklichkeit eines Aussagens fehlen kann, berechtigt nicht
dazu, diesem schlichten Sehen jede artikulierende Auslegung, mithin die Als-Struktur ab-
zusprechen. Das schlichte Sehen (...) trägt die Auslegungsstruktur so ursprünglich in sich,
dass gerade ein gleichsam als-freies Erfassen von etwas einer gewissen Umstellung bedarf.«
(149) Das Verteidigen der Als-Struktur ist – wenn überhaupt – also nicht dem »analytischen
Reduktionismus« von Frege und Dummett (vgl. 31) anzulasten.
8 L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. In: Ders.: Werkausgabe Band 1. Frank-

furt 1984. Suhrkamp. S. 225–580, hier S. 362f., § 261.


300 Ruth Sonderegger PhR

digmatisch sein soll und nicht einfach die Performance as such bzw. wo-
durch das Feministische inhaltlich bestimmt ist; zumal dann, wenn man
sich mit den nicht nur inhaltistischen, sondern sexistischen Zuschreibun-
gen von Mersch nicht zufrieden geben will, denen zufolge feministische
Kunst definiert ist durch »Bloßstellung der eigenen Nacktheit, Ausset-
zung der Willkür des Publikums, Zufügung von Schmerz und Wunden«
(231). Wo unter diesen Erniedrigungskanon dann auch noch die selbstbe-
wussten und witzigen, auf die genannten sexistischen Klischees gerade
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reagierenden Aktionen von Valie Export (S. 211) subsumiert werden – sie
hat immerhin Peter Weibel wie einen Hund an der Leine durch Wien ge-
führt und mit ihren nackten Brüsten im Karton die Grabscher zum Anfas-
sen aufgefordert – muss etwas grundsätzlich schief gegangen sein. Aber
nicht nur, wenn sich in Heideggers nacktes Dass Klischees vom schwa-
chen und leidenden Geschlecht einschleichen, begreift man das inhalts-
leere Anliegen von Mersch nicht mehr so recht, sondern auch dort, wo
das leere Dass inhaltsschwer zur eigentlichen Ethik und Politik, ohne dass
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zwischen diesen beiden unterschieden würde, aufgeblasen wird. Mit


Recht hat Johan Hartle das eine »Mogelpackung« genannt.9
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Grenzwerte des Ästhetischen


Auch dieser Sammelband geht einerseits von der Kunst als dem Aller-
selbstverständlichsten aus, zumal von einem bestimmten literarischen Ka-
non, um sich andererseits an keiner Stelle mit der Frage zu beschäftigen,
was denn die Kunst auszeichnet und vom Ästhetischen unterscheidet.
Anders gefragt: Wie allgemein ist der Kunstbegriff und wie der Konjunk-
tiv zu verstehen, mit dem in der Einleitung behauptet wird: »Dann streb-
ten alle Begriffe in allen Sprachen nicht einfach nur zu diesem Grenzwert,
sondern wären in ihrem Streben, vielleicht ohne es zu wissen, bereits ins
Ästhetische eingetreten« (21)?
Ich kann mich bezüglich der Grenzwerte des Eindrucks einer eher leeren Spie-
lerei nicht erwehren. Hier scheint ein bekanntes Problem zum großen Paradox in
vielen Gestalten aufgeblasen zu werden. Seine Grundformel lautet: Zur Kunst
(aber letztlich wohl zu allen Zeichenformationen) gehört eine bestimmte Di-
stanz, aber gleichzeitig ist Kunst immer auf dem Weg, diese Distanz zu über-
schreiten: eklig, grausam, religiös, wahnsinnig etc. zu werden. Aber Robert

9 »Sie (= die Mogelpackung, R.S.) verspricht mit dem ereignishaften Einbrechen des

vorsymbolisch ganz Anderen einen unbestimmten und bedrohlichen Rest, den sie nach-
träglich (...) jedoch wieder als ganz bestimmten Rest moralisiert. Solch Anderes ist gewis-
sermaßen gar nicht so anders, es ist bestimmtes Anderes und als solches letztlich auf mora-
lisch gute Weise harmlos. Vgl. J. Hartle: Der geöffnete Raum. Zur Politik der ästhetischen
Form. München 2006. Fink. S. 232.
53 (2006) Über einige Neuerscheinungen zur Ästhetik 301
Stockhammer behauptet in der Einleitung auch, Kunst könne als Kunst diese
Grenze nie überschreiten. So überkommt einen angesichts des genannten Para-
doxes bestenfalls ein gelangweiltes »so what-Gefühl«. Dabei hätte es spannend und
aufschlussreich sein können, eine (Neu-)Bestimmung des Kunstbegriffs gerade
von verschiedenen Seiten der Überschreitung der Kunstgrenze her zu entwik-
keln, anstatt diesen nur als immerwährenden und auratisiert liminalen voraus zu
setzen.

Merkwürdig bleibt auch, dass das Vorwort eine Gegenwartsdiagnose


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im Modus der Abhandlung zeitspezifischer Grenzbegriffe ankündigt, die


Leser dann aber mit Grenzebegriffen konfrontiert werden, die vermutlich
so alt sind wie die Menschen. Sie lauten: Chaos, Ekel, Geheimnis, Liebe,
Magie, Schmerz, System, Trauma, Das Unsagbare, Wahnsinn. Und noch
mehr, wenn in der Einleitung behauptet wird »In der letzten Konsequenz
(...) müsste dieser Band einen Artikel ›Das Schöne‹ enthalten« (17), auf
die Frage, warum es keinen Schönheitsartikel gibt, aber nicht die gering-
ste Antwort gibt. Angesichts dieser Beliebigkeit ist es konsequent, dass die
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einzelnen Artikel ohne systematischen Anspruch einfach nur mehr alpha-


betisch angeordnet werden. Einmal mehr hat es den Anschein, dass exi-
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stentiell und moralisch aufgeladenen Begriffe benutzt werden, um ein be-


kanntes Phänomen noch einmal zu verkaufen; und zwar ohne Interesse
an den mit den Grenzbegriffe zweifelsohne verbundenen existentiellen,
moralischen und politischen Problemen und gegenwartsspezifischen
Herausforderungen. (Einige Texte sind übrigens aufgrund ihrer idiosyn-
kratischen Sprache grenzig, d.h. sie überschreiten die Grenze der Lesbar-
keit erfolgreich.)

Gegenwartsdiagnose der ästhetischen Theorie


Man könnte geneigt sein, die Linie, entlang derer ich hier einige Neu-
erscheinungen zur Ästhetik zu präsentieren versucht habe, auf den Nen-
ner der alten Debatte Inhaltismus versus Formalismus oder, in Autorenna-
men gesprochen, Kant versus Hegel zu bringen. Das wäre verkürzt. Denn
schon Kant und Hegel waren komplexer. Zudem will ich nicht suggerie-
ren, dass mit Kant und Hegel alles zum gegenwärtigen Stand der Ästhetik
gesagt ist. Diesbezüglich könnten gerade die hier rezensierten Bände zu
einem falschen Bild führen. Es ist nämlich weder vollständig noch dem
Stand der kunsttheoretischen Diskussion, insbesondere der kunsttheoreti-
schen Debatten an der Grenze zwischen dem akademischen, kunstkriti-
schen und dem künstlerischen Diskurs, angemessen. Allerdings macht das
skizzierte Bild ex negativo deutlich, wie selten z.B. in der deutschen Ästhe-
tik der von Hegel und Adorno propagierte Versuch unternommen wird,
von wirklich zeitgenössischen Künsten her Grundbegriffe der Kunstphi-
302 Ruth Sonderegger PhR

losophie zu überdenken bzw. zu konstruieren.10 Selbst für Henrichs inno-


vative und gerade im deutschen Kontext im besten Sinn eigensinnige
Überlegungen gilt, dass sie sich an den Kompositionsweisen von Beetho-
ven und Beckett orientieren. Und das kann nicht das letzte Wort zur Ge-
genwartskunst sein.
Des weiteren ist auffallend, dass Diskussionen um eher Hegelianische,
nicht-formalistische Positionen in der deutschen Ästhetik kaum eine
Rolle spielen und beispielsweise eine Rezeption der französischen und
Bibliotheken der Universitaet Frankfurt am Main 141.2.232.222 Mon, 07 Jul 2014 14:13:33

englischen Debatten über die relationale Ästhetik11 nicht stattgefunden


hat. Auch dass die deutsche Diskussion die Beiträge der Britischen cultural
studies einfach übergangen hat,12 ist kein Vorteil. Schließlich wird deut-
lich, wie selten institutionstheoretische Überlegungen zur Kunst eine
Rolle spielen und offenbar noch immer als der Kunst äußerlich und allen-
falls zur Soziologie gehörig angesehen werden. Darin erweist sich die
deutschsprachige Ästhetik als werk- und subjektverhaftet auch gerade
dort, wo auf der Ebene manifester Thesen das Gegenteil behauptet wird.
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So als ginge es in der Kunst um die sphärische Begegnung eines einsamen


Werks mit einem solitären Rezipienten im luftleeren Raum. Erst dann,
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wenn man sich auf die formenden Kontexte der Kunst und ihrer Gesell-
schaften einlassen würde, begriffe man jedoch, womit sich zeitgenössi-
sche Kunst ganz wesentlich auseinander setzt. Dann könnte die philoso-
phische Debatte darüber beginnen, wo allgemeine philosophische Be-
griffsbestimmungen sich von den jeweiligen künstlerischen Realitäten
leiten lassen müssen und könnte man sich z.B. auch dem kunsttheoretisch
so vernachlässigten wie viel versprechenden Grenzgebiet der Kunstkritik
zuwenden. Sich aus den bekannten damit verbundenen Problemen der
Unreinheit davonstehlen, indem man sich auf bloße Deskriptionen be-
schränkt oder die Kunst zugunsten neuerer Ästhetisierungsphänomene
zum alten Eisen legt, trägt ebenso wenig zum Verständnis der Kunst wie
anderer ästhetischer Ereignisse und Situationen bei.
Ruth Sonderegger (Amsterdam)

10 Ausnahmen sind hier J. Hartle. A.a.O.; Juliane Rebentisch: Ästhetik der Installation.

Frankfurt 2003. Suhrkamp.


11 Vgl. N. Bourriaud: Relational Aesthetics. Les Presses du Réél 2000 (frz. 1998).

12 Vgl. R. Sonderegger: Kunst als Sphäre der Kultur und die kulturwissenschaftliche Transfor-

mation der Ästhetik, in: F. Jäger/B. Liebsch/J. Rüsen (Hgg.), Handbuch der Kulturwissen-
schaft, Band 3: Themen und Tendenzen, Stuttgart/Weimar: Metzler 2004, S. 50–64.

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