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Manuela Boatcă
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Manuela Boatcă
Email: mboatca@zedat.fu-berlin.de
Zusammenfassung
Postkolonialismus ist ein Sammelbegriff für eine Reihe von kolonialismuskritischen Ansätzen in den
Kultur-, Geschichts- und Sozialwissenschaften, die essentialistische Annahmen über den Modellcharakter
westlicher Entwicklung als eurozentrisch anzeigen. Anhand von Perspektiven aus kolonialen Kontexten
machen post- und dekoloniale Ansätze auf die wechselseitige Konstitution von westlicher und nicht-
westlicher Welt aufmerksam. Eine zentrale theoretische Rolle spielt dabei die Kritik an westlichen
Konzeptualisierungen der Moderne vor dem Hintergrund der kolonialen Erfahrung mit dem britischen
Kolonialismus, insbesondere in Indien, sowie mit dem iberischen Kolonialismus, insbesondere in
Lateinamerika. Lücken in der Aufarbeitung der kolonialen Geschichte anderer europäischer Länder
gehen einher mit der mangelhaften Rezeption kritischer, post- und dekolonialer Arbeiten.
Schlüsselwörter
Europäischer Kolonialismus Eurozentrismus/Okzidentalismus Standortgebundenheit methodologischer
Nationalismus Moderne/Kolonialität
Postkolonialismus ist ein Sammelbegriff für eine Reihe von kolonialismuskritischen Ansätzen in den
Kultur-, Geschichts- und Sozialwissenschaften. Gemeinsam ist ihnen, dass sie essentialistische
Annahmen über den Modellcharakter westlicher Entwicklung als eurozentrisch anzeigen und durch
Perspektiven aus kolonialen Kontexten auf die wechselseitige Konstitution von westlicher und nicht-
westlicher Welt aufmerksam machen. Nun sind die Standortgebundenheit kultureller und historischer
Erkenntnis, die diskursive Konstruktion des Sozialen sowie das Ende der modernen gesellschaftlichen
Großtheorien bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren durch poststrukturalistische und postmoderne
Ansätze ins Zentrum sozialwissenschaftlicher Diskussionen gerückt worden. Die postkoloniale Kritik am
Universalitätsanspruch der europäischen Moderne knüpft zum Teil daran an; auch ihre Selbstbezeichnung
erinnert an die ihnen vorangegangenen „Post-Ismen“. Postkoloniale Theorien standen daher von Anfang
an unter dem Verdacht, bekannte Inhalte unter einem leicht veränderten Etikett zu führen.
Der Begriff „postkolonial“ verweist jedoch nicht nur auf die zeitliche Verortung von Gesellschaften
innerhalb einer (abgeschlossenen) Kolonialgeschichte. Er verweist darüber hinaus zum einen auf die
Umgestaltung der ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse, die der Kolonialismus in
ehemaligen oder bestehenden Kolonien wie auch in den Metropolen ausgelöst hat und die bis heute
nachwirken. Zum anderen machen postkoloniale Perspektiven auf die Verschränkung von Macht und
Wissensproduktion im Kontext kolonialer und imperialer Verhältnisse aufmerksam (Gutiérrez Rodríguez
1999; Coronil 2004). Dass Wissen standortgebunden ist, heißt in postkolonialer Sicht, dass markierte wie
unmarkierte Positionen in kolonial tradierte Machtstrukturen eingeschrieben sind: „Es sind also
keineswegs nur die >Anderen< ethnisch, nicht nur die Frauen geschlechtlich, nicht nur der Süden auf
einer Landkarte verortet – auch Männer sind geschlechtlich konstituiert, auch ist Weiß-Sein Effekt
komplexer und sehr wirkmächtiger rassistischer Konstitutionen, auch >der deutsche Soziologe< ist
ethnisch, national usw. positioniert“ (Reuter und Villa 2010, S. 14). Der Postkolonialismus als Begriff
und Perspektive hebt also – trotz bedeutender interner Differenzierungen – weitaus stärker als der
Poststrukturalismus und der Postmodernismus auf den historischen Kontext von (Kolonial-)Macht ab und
leitet daraus ein ganz anderes politisches Programm ab.
Für den Postmodernismus machte das Scheitern der Erklärungsmodelle der abendländischen Moderne, ob
in der Form von religiösen Systemen, Vernunftglaube oder marxistischer Gesellschaftstheorie, ihre
Dekonstruktion als Meta-Erzählungen notwendig. Gesellschaftliche Institutionen und gängige politische
Praxis waren dadurch größtenteils delegitimiert und die ihnen zu Grunde liegenden Konzepte von
Wahrheit, Gerechtigkeit und Moral relativiert. Dagegen setzt der Postkolonialismus mit Dekolonisation
auf die Aufdeckung der Zusammenhänge zwischen den globalen Machtverhältnissen, die im Kontext der
europäischen Kolonialexpansion etabliert wurden, und den historischen und aktuellen
Ungleichheitsrelationen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene. Einen wichtigen Bezugspunkt
bilden dabei die antikolonialen Widerstands- und Befreiungsbewegungen – von den indigenen
Aufständen gegen die spanischen Eroberer im Peru des 16. Jahrhunderts über die haitianische Revolution
1791, den indischen Sepoy-Aufstand 1857/58, den Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika ab 1905 bis
hin zum Algerienkrieg der 1950er/60er-Jahre – einschließlich deren Verarbeitung in den Arbeiten von
Aimé Césaire, Frantz Fanon und Che Guevara, unter anderen.
Als theoretischer Gründungstext des Postkolonialismus gilt das 1978 erschienene Buch „Orientalism“ des
palästinensisch-amerikanischen Literaturwissenschaftlers Edward W. Said. Darin macht der Autor, einer
der führenden Interpreten Michel Foucaults in den USA, die Verschränkung von Wissen und Herrschaft
anhand der diskursiven Konstruktion orientalischer Fremdheit in westlicher Wissenschaft, Kunst und
Literatur deutlich. Als Diskurs, der die westlichen Repräsentationen des Anderen beherrschte und es der
westeuropäischen Kultur erlaubte, an „Macht und Identität zu gewinnen, indem sie sich von dem Orient
als einer Art Ersatz und sogar Untergrundselbst absetzte“ (Said 1978, S. 3), entstand laut Said der
Orientalismus in der Zeit nach der Aufklärung. Wissenschaftliche und literarische Darstellungen des
Okzidents als fortschrittlich, rational, zivilisiert, ja sogar biologisch überlegen und maskulin konnotiert,
die in den folgenden Jahrhunderten produziert wurden, fungierten als Hintergrund für Repräsentationen
des „Orients“ als rückständig, irrational, zivilisierungsbedürftig, rassisch unterlegen und dabei feminisiert
– wodurch er zum legitimen Objekt europäischer (männlicher) Kolonialisierung und Kontrolle wurde.
Mit Saids Analyse wird erstmals deutlich, dass Kolonialismus nicht nur eine soziale Praxis von
Herrschaft darstellt, sondern er der Herrschaft auch als „Diskurs über (vermeintliche) Unterschiede mit
dem Ziel gegenseitiger Abgrenzung“ (Zimmerer 2013, S. 15) zugrunde liegt. Für viele gehört der mit
Said eingeläutete und bald darauf von indischen HistorikerInnen wie Ranajit Guha, Dipesh Chakrabarty
und Partha Chatterjee sowie von LiteraturwissenschaftlerInnen wie Gayatri C. Spivak und Homi K.
Bhabha und SoziologInnen wie Stuart Hall und Paul Gilroy weitergeführte, theoretische postcolonial turn
deshalb zu den wirkmächtigsten Paradigmenwechseln des 20. Jahrhunderts, der erstmals von
Intellektuellen aus den ehemals kolonisierten Peripherien ausging und die epistemologische Dominanz
des globalen Nordens in Frage stellte (Zimmerer 2013).
Eine postkoloniale Intervention, die ins Zentrum dieses disziplinären Selbstverständnisses zielte, stellte
für die Geschichtswissenschaft die Arbeit des Subaltern Studies Collective um den Historiker Ranajit
Guha ab 1982 dar. In Anlehnung an den Begriff des „Subalternen“, der für Antonio Gramsci nicht nur
das Industrieproletariat, sondern auch die arme Landbevölkerung umfasste, richteten sich die Arbeiten
des Kollektivs darauf, die untergeordneten Klassen Indiens als UrheberInnen ihrer eigenen Geschichte
anzuerkennen. Ihre Kritik an der herrschenden Auffassung, die indische Geschichte sei eine Nachahmung
westlicher Geschichte, indische gesellschaftliche Verhältnisse seien feudal oder das subalterne
Bewusstsein präpolitisch, lieferte die Basis, auf der das Subaltern Studies Collective eine wegweisende
Kritik unilinearen Modernisierungsdenkens (Begrich und Randeria 2012) entwickelte. Daran anknüpfend
wird Dipesh Chakrabarty (2000) in einer der vielleicht bis heute bekanntesten Schriften postkolonialer
Theorie für die „Provinzialisierung Europas“ in den Geschichtswissenschaften des globalen Südens und
damit für eine Überwindung des Eurozentrismus plädieren, der dem westlichen Denken und
Erfahrungsraum universalen Normcharakter verleiht: „Es geht darum, in die Geschichte der Moderne die
Ambivalenzen, die Widersprüche, die Gewaltanwendung und die Tragödien und die Ironien
einzuschreiben, die sie begleiten. […] Was jedoch in Geschichtsdarstellungen – die (und sei es implizit)
die Ankunft des modernen Staates und die Idee der Staatsbürgerschaft verherrlichen – effektiv
heruntergespielt wird, sind die Repression und die Gewalttätigkeit, die für den Sieg des Modernen
ebenso wichtig sind, wie die Überzeugungskraft seiner rhetorischen Strategien.“ (Chakrabarty 2000, S.
306)
Von dieser Kritik und den postkolonialen Alternativen zu eurozentrierten Gesellschaftsmodellen blieb
hingegen die Soziologie lange Zeit unberührt. Obwohl die Etablierung der Soziologie als Disziplin in
Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Italien zeitlich parallel zum Wettkampf ihrer Staaten um
afrikanische Territorien und zur Errichtung ihrer Kolonialreiche in Asien und Afrika verlief, reflektierten
soziologische Kategorien, Grundbegriffe und zentrale Erklärungsmodelle nur innerwesteuropäische
Entwicklungen und Erfahrungen. Als Schlüsselmomente der abendländischen Moderne, für die die
Soziologie einen Erklärungsansatz bieten sollte, galten die französische Revolution und die von England
ausgehende Industrialisierung, nicht jedoch die Kolonialpolitik Westeuropas oder die
Kapitalakkumulation durch den atlantischen SklavInnenhandel und die Plantagenwirtschaft in Übersee
(Boatcă und Costa 2010).
Anders als im britischen Kontext, in dem die koloniale Vergangenheit eine prominente Rolle einnimmt,
werden in der deutschen Diskussion sowohl die koloniale Geschichte als auch die Relevanz der
Entwicklungen im nachkolonialen Zeitraum nach wie vor als vernachlässigbare Größen behandelt (Castro
Varela und Dhawan 2005). Innerhalb der deutschen Soziologie hatten postkoloniale Perspektiven deshalb
lange Zeit den Ruf, Importe dritten Grades zu sein: erstens aus der kultur- oder
literaturwissenschaftlichen Diskussion, zweitens aus dem anglophonen Raum, und drittens aus einem
unterschiedlichen, d. h. „genuin“ nachkolonialen Kontext (Gutiérrez Rodríguez 1999). Dabei zielen
postkoloniale Theorien gerade ins Zentrum der für die Soziologie zentralen Begrifflichkeiten. Dadurch,
dass sie binäre Oppositionen wie West-Rest, Erste-Dritte Welt oder Moderne-Tradition als
essentialistisch kritisieren und stattdessen auf die gegenseitige Bedingtheit ihrer jeweiligen Termini
aufmerksam machen, enthüllen sie die positiv konnotierten – den Westen, die Erste Welt, die Moderne –
als präskriptive und ahistorische Universalien (Trouillot 2002, S. 848), denen keine objektive soziale
Wirklichkeit entspricht, und die deshalb Exklusionsstrategien beinhalten. Historische Kontextualisierung
als postkoloniale Methode erlaubt es hingegen, Tradition nicht als objektive Gegebenheit zu betrachten,
sondern als eine aus der Warte der Modernitätstheorie konstruierte Restkategorie und zugleich
notwendigen Bestandteil des Diskurses der Moderne, ohne den die Moderne nicht gedacht werden kann.
Die westliche Moderne habe aber auch feministische Diskurse produziert, die mit der gleichen Differenz
zwischen dem Westen und dem Rest operieren und darüber den westlichen Entwicklungsauftrag
begründen: Wie Chandra Talpade Mohanty in ihrem Aufsatz „Under Western Eyes“ (1984) herausstellte,
wird in Texten westlicher Feministinnen ein homogenes Bild der sexuell unterdrückten, armen,
ungebildeten, traditionellen „Dritte-Welt-Frau“ konstruiert, deren Differenz zu den solidarischen, aber
vermeintlich emanzipierten Frauen aus dem Westen implizit oder explizit über einen
Entwicklungsabstand zwischen dem Westen und dem Rest abgeleitet wird (Kerner 2012). Auch Gayatri
Chakravorty Spivak wandte sich in ihrem nun klassisch gewordenen Text „Can the Subaltern Speak?“
(Spivak 1988) gegen die unzulässige Homogenisierung einer über Tradition und Unterdrückung
definierten Gruppe von Subalternen. Westliche Feministinnen sollten zwar von subalternen Frauen lernen
und zu ihnen sprechen – ihnen jedoch auf Grund ihrer Subalternität die Modernität abzusprechen, die mit
Komplexität und Heterogenität von Auffassungen und sozialen Positionen einhergeht, reproduziere die
gleichen globalen Machtverhältnisse, die eigentlich kritisiert werden sollen. Soziologische Ansätze, die
diese postkolonialen Analysen für eine grundlegende Rekonzeptualisierung des – für die Soziologie
zentralen – Konzeptes der Moderne genutzt haben, sind jedoch die Ausnahme geblieben.
Die Rekonzeptualisierung der Moderne, die der Ansatz vornimmt, setzt also eine geteilte Geschichte
verwobener Modernen voraus, in der die Geschichte von Interaktion und Austausch zwischen Metropolen
und Kolonien den diskursiven Rahmen für die Konstruktion des Modernen und des Nicht-Modernen
zugleich vorgibt. Das Konzept der verwobenen Modernen in Europa und seinen Kolonien begreift also
„die wechselseitige Konstitution, Abhängigkeit und (bisher vernachlässigte) Beeinflussung der
Entwicklung auf beiden Seiten als konstitutiven Zusammenhang auch für die Entstehung der Moderne im
Westen […]. Die nicht-westlichen Gesellschaften und die westliche Moderne haben sich in Interaktion
entwickelt – wenn auch unter Vorzeichen kolonialer Differenz. Das Bild wäre folglich eines von
(partiellen) Unterschieden innerhalb eines großen (globalen) Verweisungs- und
Vernetzungszusammenhanges, der als ein politischer oder Machtzusammenhang aber auch als ein sozial
und intellektuell interaktiver gesehen werden muss“ (Fuchs et al. 2004, S. 30).
Dabei dient wiederum zeitlich wie räumlich die koloniale Erfahrung Indiens ab dem späten 18.
Jahrhundert als Beispiel, in dem Traditionen einerseits von westlichen Missionaren bekämpft, von
europäischen Orientalisten sorgfältig gepflegt und von kolonialen Beamten festgeschrieben und verfestigt
wurden: „Das Nicht-Moderne oder, Traditionale‘ ist eine Kategorie, die selbst erst durch das Projekt der
Moderne geschaffen wurde, und ist daher Teil des Moderne-Diskurses. Mindestens seit der Begegnung
mit der kolonial vermittelten westlichen Moderne im 18. Jahrhundert bildet die Tradition in Indien ein
umkämpftes Terrain, das unter Legitimationsdruck gerät. […] Tradition ist in diesem Kontext nicht
verstanden als eine Genealogie von Praktiken oder Ideen, sie wird vielmehr konstruiert als Kennzeichen
einer im Kern statischen Welt, und damit als Gegenstück zu Entwicklung und Fortschritt.“ (Fuchs et al.
2004, S. 18) Damit baut der Ansatz verwobener Modernen auf Arbeiten des Anthropologen Bernhard
Cohn zum indischen Kastensystem auf, die für viele spätere postkolonialen TheoretikerInnen wie
Nicholas Dirks, Ranajit Guha und Dipesh Chakrabarty von zentraler Bedeutung waren.
Cohn hatte in den 1970ern auf der Grundlage ethnografischer Forschungen aufgezeigt, dass die indische
Tradition – entgegen der damals vorherrschenden funktionalistischen Auffassung – nichts Festes oder
Statisches war, sondern im Gegenteil, im Laufe des späten achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts
von britischen Kolonialbeamten und europäischen Orientalisten als solche aktiv konstruiert wurde. Der
britische Zensus in Indien nach dem Sepoy-Aufstand 1857/58 hatte erst die sozialen Kategorien
erschaffen, mittels derer Indien zu Verwaltungszwecken erfasst werden sollte. Soziale, kulturelle und
sprachliche Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen Indiens wurden codiert und somit
verfestigt. Ethnische Gruppen, die verdächtigt wurden, rituelle Morde zu praktizieren, wurden zu
Studienobjekten einer akribischen Kriminalethnografie, was dazu führte, dass eine zunehmende Anzahl
von Menschen seitens der britischen Kolonialbeamten „kriminellen Kasten und Stämmen“ zugeordnet
wurden. Cohn nannte diesen Prozess „die Objektifizierung Indiens“ und sah ihn als Herrschaftsinstrument
und – in Dirks‘ späterer Terminologie – als Basis kolonialer Gouvernementalität: „Once the British had
defined something as an Indian custom, or traditional dress, or the proper form of salutation, any
deviation from it was defined as rebellion and as an act to be punished. India was redefined by the British
to be a place of rules and orders; once the British had defined to their own satisfaction what they
construed as Indian rules and customs, then the Indians had to conform to these constructions.“ (Cohn
1998, S. 162) Die auf dieser und ähnlicher Basis in anderen Kontexten gewonnene Einsicht, dass die
Kolonien nicht nur EmpfängerInnen von Impulsen und Errungenschaften der westlichen Moderne waren,
sondern als Versuchsfeld für die Verwaltungspraktiken, Sozialtechniken und Planungsmaßnahmen
derselben fungiert haben, hat postkoloniale AutorInnen zu der heute gängigen Bezeichnung der Kolonien
als „Laboratorien der Moderne“ inspiriert (Stoler und Cooper 1997, S. 5).
Die Verwobenheit von Moderne und Kolonialität drückt sich im Falle des lateinamerikanischen
dekolonialen Ansatzes jedoch nicht darin aus, dass man von Moderne im Plural spräche, wie dies noch
bei dem Konzept der verwobenen Modernen der Fall ist, sondern in der Wahl eines Begriffspaares, das
die Untrennbarkeit beider Bereiche bei gleichzeitiger Hervorhebung ihrer Machtasymmetrie einfängt: Das
Konzept der Moderne/Kolonialität soll die Einsicht vermitteln, dass das Weltsystem umso moderner
wurde, je kolonialer es war, d. h. je mehr seine Selbstdefinition sich auf eine Hierarchisierung von
Rassen, Ethnien und Klassen in den kolonisierten Regionen stützte.
Die aus der Kolonisierung resultierende internationale Arbeitsteilung zwischen Zentren und Peripherien
war also nicht nur ökonomischer und politischer, sondern auch kultureller und epistemischer Natur:
Während das Zentrum zum Ort der Moderne wurde, von dem aus die Welt klassifiziert, beschrieben und
studiert wurde, kennzeichnete vielmehr Kolonialität die Peripherien, an der diese moderne Welt ihre
Definitionsmacht zur Geltung bringen konnte. Lateinamerika, die Karibik, Afrika, Südasien oder der
Nahe Osten traten nicht als Teil der „Moderne“ ins moderne Weltsystem ein, sondern als ihre dunkle
Seite – die mittels Eroberung, Versklavung, Genozid, Raubbau, militärischer Intervention,
wirtschaftlicher Ausbeutung und Aberkennung sozialer, politischer und kultureller Rechte ihrer
Bevölkerung untergeordnet und kontrolliert wurde. Um beiden Seiten dieser Entwicklung Rechnung zu
tragen, spricht der argentinische Kulturwissenschaftler Walter Mignolo (2000) deshalb von dem
„modernen/kolonialen Weltsystem“, das ab der kolonialen Expansion Europas 1492 entstanden ist, und
richtet damit den Vorwurf des Eurozentrismus an alle Ansätze, die den Auswirkungen des Kolonialismus
auf die Entstehung der Moderne nicht gerecht werden.
Für die dekolonialen Perspektiven auf Entwicklung war die durch Arturo Escobar (1995) formulierte
Forderung, statt „alternativer Entwicklung“ auf „Alternativen zur Entwicklung“ zu setzen, die logische
Konsequenz der Anerkennung der strukturellen Verwobenheit von Moderne und Kolonialität.
Für die AutorInnen des dekolonialen Ansatzes sind die Amerikas die Grundlage für die Kolonialität, auf
der die Moderne in Europa aufbauen wird, und damit die Basis für das Funktionieren des
modernen/kolonialen Weltsystems als kapitalistische Weltwirtschaft. Durch den Fokus auf die
Kolonisierung der Amerikas in diesem Zusammenhang wird nicht nur der Blick auf eine Region gelenkt,
die bisher sowohl von der Perspektive der multiplen Modernen, als auch von den meisten postkolonialen
Ansätzen vernachlässigt wurde (Coronil 2004). Der Beginn der Moderne selbst wird mit dem Moment
der ersten Kolonisierung verknüpft, und ist somit gegenüber Konzeptualisierungen der Moderne, die von
der (europäischen) Industrialisierung oder der Aufklärung ausgehen, bereits auf die Wechselseitigkeit der
Transformationsprozesse angelegt, die damit in Europa und ihrem „Anderen“ in Gang gesetzt werden.
Für die Kritik des Orientalismus in Anlehnung an Said heißt dies laut Fernando Coronil und Walter
Mignolo, dass der Orientalismus des 18. und 19. Jahrhunderts ohne eine vorherige Vorstellung von
Okzidentalismus, dessen Entstehung auf die Anfänge westeuropäischer kolonialer Expansion im langen
sechzehnten Jahrhundert zurückzuführen sind, nicht möglich gewesen wäre. Als Ausdruck einer
„konstitutiven Beziehung zwischen westlichen Repräsentationen kultureller Differenz und weltweiter
westlicher Herrschaft“ (Coronil 1996, S. 57) stellt Okzidentalismus nicht das Pendant des Orientalismus,
sondern seine Vorbedingung dar, einen Diskurs aus dem und über den Westen, der die Voraussetzungen
für die Diskurse über die Anderen des Westens – d. h. für Orientalismus, aber auch für Antisemitismus,
Rassismus und Sexismus – schafft. Die Auswirkungen des Okzidentalismus im Hinblick auf Sexismus
und Heteronormativität sind jedoch bisher im dekolonialen Ansatz vergleichsweise wenig ausgearbeitet
worden. Im Anschluss an Mignolos Begriff des „modernen/kolonialen Weltsystems“ spricht María
Lugones von einem „colonial/gender system enmeshed in the coloniality of power into the present“
(Lugones 2007, S. 207). Eine weitreichende Kritik der unterbeleuchteten Gender-Perspektive unternimmt
auch Madina Tlostanova in einer auf Zentralasien und den Kaukasus ausgedehnten dekolonialen Analyse
(Tlostanova 2010).
Gegenüber dem Ansatz der verwobenen Modernen macht der Fokus auf die Amerikas hingegen deutlich,
dass sich Laboratorien der Moderne bereits lange vor der britischen Kolonisierung Indiens in den
Amerikas befanden. Die auf karibischen Zuckerplantagen zuerst eingeführten Hierarchien von
Arbeitsformen, Normen sozialer Kategorisierung und Techniken der Disziplinierung und Kontrolle
wirkten auf die europäischen Metropolen zurück – wo sie allerdings als Ausdruck der Effizienz und
Rationalität einer spezifisch westlichen, industriellen Moderne galten (Bortoluci und Jansen 2013, S.
209). Während jedoch die Einzigartigkeit der westlichen Modernität anhand solcher Entwicklungen
behauptet wurde, blieb ihre Herleitung aus dem kolonialen Kontext systematisch ausgeblendet. Eine
Perspektive, die den Fokus auf die gegenseitige Bedingtheit von Moderne und Kolonialität zugleich
richtet, und die Entstehung beider auf das Ende des 15. Jahrhunderts zurückführt, begründet somit eine
räumliche wie eine zeitliche Korrektur gängiger Konzeptualisierungen von Moderne.
Neuere Arbeiten zum französischen, italienischen, portugiesischen und deutschen Kolonialismus machen
nun verstärkt darauf aufmerksam, dass postkoloniale Perspektiven bis vor wenigen Jahren auch in
Gesellschaften mit einer langen kolonialen Geschichte kaum Eingang gefunden haben (Randeria und
Römhild 2013, S. 10). Lücken in der Aufarbeitung der kolonialen Geschichte Europas gehen einher mit
der mangelhaften Rezeption kritischer, post- und dekolonialer Arbeiten und mit dem Fortbestehen
rassistischer Exklusionsstrukturen auf allen Ebenen der Bildungsinstitutionen. Anstatt eines weiteren
Paradigmenwechsels, der mit dem postkolonialen Ansatz eingeleitet werden sollte, begreifen AutorInnen
des Moderne/Kolonialität-Gruppe ihre Perspektive verstärkt als eine Option unter anderen, politischen
eher als theoretisch/akademischen Möglichkeiten: „‚Decolonial‘ is increasingly used to indicate political
and epistemic projects, rather than a disciplinary field of study. […] Decoloniality, therefore, means both
the analytic task of unveiling the logic of coloniality and the prospective task of contributing to build a
world in which many worlds will coexist“ (Mignolo 2012, S. 54).