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Kopernikanische Wende
(1,415 words)

1. Allgemein
Article Table of Contents
Die Vorstellung, dass das heliozentrische (= hel.)
1. Allgemein
astronomische System des Nikolaus Kopernikus
(Heliozentrisches Weltbild) eine Revolution der 2. Kontext und
Astronomie bzw. des kosmologischen Weltbilds bedeutet Verö fentlichung der
kopernikanischen
habe, ist ein im 18. Jh. entstandener historiographischer
Astronomie
Topos. Er wurde von Astronomiehistorikern wie Jean-
3. Auseinandersetzungen im
Sylvain Bailly und Wissenschaftshistorikern wie Etienne
17. Jahrhundert
de Montucla geprägt, die im Auftauchen und in der
Durchsetzung des kopernikanischen (= kop.) Systems
einen fundamentalen Einschnitt und einen Durchbruch
der aufgeklärten wiss. Vernunft sahen [3. Kap. 7,2]. Dieses Bild verbreitete sich rasch und fand
ungezählte Übernahmen, deren wirkmächtigste wohl Kants Anspielung auf eine u. a. an
Kopernikus erläuterte Revolution der »Denkungsart« in der Physik war [1. Vorrede]. Die wiss.
histor. Forschung des 20. Jh.s betont demgegenüber einerseits die Zeitgebundenheit der kop.
Astronomie, andererseits die Bedeutung der Entwicklungen des 17. Jh.s für den Umbruch des
astronomischen Weltbilds.

Niccolò Guicciardini

2. Kontext und Verö fentlichung der kopernikanischen Astronomie

Die Möglichkeit, das Planeten-System hel. aufzufassen, war schon von dem griech.
Mathematiker und Astronomen Aristarchos von Samos im 3. Jh. v. Chr. vertreten worden und in
der astronomischen Diskussion seither immer präsent. Um das Zustandekommen der kop.
Theorie und ihre Rezeption richtig einzuordnen, muss ihr Kontext berücksichtigt werden:
Verschiedene Faktoren trugen dazu bei, dass die ma. Vorstellung vom Kosmos und die Rolle der
Astronomie hinterfragt wurden.

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Zum einen wurde die ptolemäisch-aristotelische Sichtweise ( Aristotelismus) in der späten
Renaissance durch die Blüte neuplatonischer, neupythagoreischer und neustoischer
Philosophien in Frage gestellt (Platonismus; Neustoizismus). Nach Ansicht von Neuplatonikern
wie Marsilio Ficino, der um die Wende zum 16. Jh. in Florenz wirkte, war die Mathematik nicht
nur ein nützliches Werkzeug, um Himmelserscheinungen vorherzusagen; für ihn war die
gesamte Welt nach math. Gesetzen und Harmonien gestaltet. Eine scharfe Trennung zwischen
Mathematik und Physik war in dieser Perspektive nicht akzeptabel.

Zum anderen standen Neuplatoniker und Neustoiker der aristotelischen Vorstellung fester,
materieller Himmelssphären, die für die Bewegungen der Gestirne verantwortlich seien,
skeptisch gegenüber. Philosophen des 16. Jh.s, zumeist Neuplatoniker oder Neustoiker, aber
auch Bibelinterpreten, die ihre kosmologischen Überzeugungen auf eine wörtliche Auslegung
der Schöpfungslehre gründeten, begannen die Existenz solcher Sphären in Zweifel zu ziehen.
Sie glaubten, die Planeten bewegten sich eher »wie Fische im Wasser« denn als feste
Bestandteile eines kosmischen Sphärensystems. Außerdem erkannte man in platonischer
Tradition der Sonne häu g einen Sonderstatus als Quelle von Licht und Leben zu.

Kopernikus nahm an diesen philosophischen Bewegungen teil. Er verbrachte zwar sein Leben
als Geistlicher im Ermland, einer auch nach der Reformation kath. Region Ostpreußens, doch
war er als junger Mann nach Italien gereist, wo er in Bologna Jura und Medizin studierte und
1503 in Ferrara im ersten Fach graduierte. Dort bewegte er sich in einem anti-aristotelischen
kulturellen Klima, dessen Ein uss auf ihn kaum zu überschätzen ist. Während seines
Italienaufenthalts begann er, Astronomie zu studieren und zu praktizieren. Er interessierte sich
v. a. für die Verbesserung des Julianischen Kalenders, mit der sich viele Astronomen der Kirche
beschäftigten. Diese Tätigkeit regte vermutlich seine kritische Lektüre der astronomischen
Tradition an. Zurück im Ermland, widmete sich Kopernikus der beobachtenden Astronomie
nur wenig, begann jedoch bald damit, sein hel. System auszuarbeiten. Die kulturelle
Atmosphäre vor Ort war derartigen Neuerungen aufgeschlossen, da die meisten Bischöfe, unter
denen er arbeitete, von den toleranten Vorstellungen des Erasmus von Rotterdam beein usst
waren und oft gute Kontakte zu Protestanten unterhielten.

In der Tat wurden die kop. Forschungen zuerst in protest. Kreisen rezipiert, wie z. B. dem Zirkel
um Philipp Melanchthon in Wittenberg. Dabei setzte sich – wie es auch das anonyme, von dem
lutherischen Theologen Andreas Osiander verfasste Vorwort zur Erstausgabe des kop.
Hauptwerks De revolutionibus orbium coelestium ( Nürnberg, 1543; »Von den Umdrehungen der
Himmelskörper«) formulierte – ein instrumentalistisches Verständnis durch: Das hel. System
sollte als nützliche math. Hypothese zur Vorhersage astronomischer Ereignisse gelesen werden,
nicht jedoch als Beschreibung des realen Au aus des Planetensystems. In der zweiten Hälfte
des 16. Jh.s war diese sog. Wittenberger Interpretation vorherrschend und die Zahl der
Heliozentriker klein: Es können »nur zehn Kopernikaner für die Zeit zwischen 1543 und 1600«
nachgewiesen werden [6. 85].

Niccolò Guicciardini

3. Auseinandersetzungen im 17. Jahrhundert /


In Italien erwies sich die Verteidigung des kop. Systems im 17. Jh. als schwieriger, u. a. weil mit
dem Einsetzen der Gegenreformation (Katholische Reform) auf dem Trienter Konzil (1545–
1563) die Naturmagie (und mit ihr hel. Vorstellungen, die oft mit dem Pythagoreismus in
Verbindung gebracht wurden) und Neuplatonismus wegen ihres Abweichens von biblischen
und aristotelischen Vorstellungen unter kirchlichen Verdacht gerieten. Im ausklingenden 16. Jh.
ging die kath. Kirche u. a. gegen Philosophen wie Bernardino Telesio, Francesco Patrizi und
Giambattista della Porta vor, deren anti-aristotelische Werke auf den Index verbotener Bücher
gesetzt wurden. Ein schlimmeres Schicksal ereilte Giordano Bruno, den großen Verfechter
einer aus Magie, Neuplatonismus und visionärer Kosmologie zusammengefügten Philosophie,
wie sie für ital. Anti-Aristoteliker charakteristisch war. Bruno wurde von der Inquisition
verurteilt und 1600 in Rom verbrannt.

Auch Galilei, der von der Wahrheit des kop. Systems überzeugt war, geriet am Hof der Medici
in Florenz in eine polemische Auseinandersetzung mit den aristotelischen Hofphilosophen.
Gefährlicher waren jedoch Spannungen mit den orent. Dominikanern, die ihn der Ketzerei
bezichtigten. Die Inquisition verfolgte diesen Fall zwar nicht, doch Papst Paul V. intervenierte
und verlangte von der Indexkongregation, der Kardinal Bellarmin vorstand, eine o zielle
Stellungsnahme. Dies führte 1616 zu einem päpstlichen Edikt, in dem das hel. System für
unvereinbar mit dem kath. Glauben erklärt wurde, weil die Lehre von der Bewegung der Erde
und dem Stillstand der Sonne dem Text der Bibel widerspreche. Kopernikus' De revolutionibus
wurde jedoch nicht auf den Index gesetzt; die in Osianders Vorwort formulierte Wittenberger
Interpretation (s. o. 2.) vermochte es vor dem Verbot zu schützen. Die Kongregation forderte
lediglich, dass die Besitzer des Werks einige Textpassagen korrigierten, in denen die Bewegung
der Erde erwähnt wurde.

Die Beziehungen zwischen Galileo und der kath. Kirche entwickelten sich bes. gut nach der
Wahl von Ma feo Barberini zum Papst Urban VIII. (1623), der seine wiss. Arbeit verteidigte und
sich schon auf seine Seite gestellt hatte, als dieser von den orent. Aristotelikern angegri fen
wurde. Urban VIII. war auch von Galileis Werk Il saggiatore (1623; »Die Goldwaage«) sehr
angetan, das gegen die Jesuiten polemisierte. Zu Beginn des 17. Jh.s waren die jesuitischen
Kollegien – v. a. das Collegio Romano – zu wichtigen naturwiss. Zentren geworden, an denen u.
a. Astronomie, Mathematik und Geographie gefördert wurden. Auf astronomischem Gebiet
traten die Jesuiten v. a. durch teleskopische Beobachtungen hervor (Teleskop); dabei machten
sie sich die neuen astronomischen Ansichten von der Fluidität des Himmels sowie die
Mehrzahl von Galileis Beobachtungen des Planetensystems und das geozentrische Weltbild
Tycho Brahes zu eigen. Galilei lag jedoch mit zwei mächtigen Jesuiten im Streit: Mit Orazio
Grassi war er uneinig über die Natur der Kometen, mit Christoph Scheiner über die der
Sonnen ecken. Diese Spannung mit den Jesuiten blieb für die späteren Auseinandersetzungen
prägend.

Als Galilei 1632 den Dialogo … sui due massimi sistemi del mondo (»Dialog … über die beiden
hauptsächlichen Weltsysteme«) verö fentlichte, verlor er die Gunst des Papstes. Dieser hatte
ihm nahegelegt, das kop. hel. Weltbild nicht als wahre physikalische Theorie, sondern als
nützliche math. Hypothese darzustellen; Galileo nutzte jedoch den Dialogo, um dieses o fen zu
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verteidigen und die aristotelische Wissenschaft zu verspotten. Der Papst fühlte sich
hintergangen und veranlasste eine Untersuchung vor einem Inquisitionstribunal. Das 1632
gefällte Urteil verbot den Dialogo und ordnete Hausarrest für Galilei an. Die Galilei-A färe kann
dabei nicht einfach als gegen die Naturwissenschaft gerichteter feindseliger Akt der kath.
Kirche interpretiert werden, denn trotz des Urteils wurde Galilei sein Leben lang auch von
innerkirchlichen Kreisen unterstützt.

Die Verurteilung hatte jedoch langfristige Folgen für die ital. und europ. Kultur; sie wurde von
den Wissenschaftlern und Historikern der Au lärung als Bestandteil des Dramas des kop.
Systems gedeutet [2]. Erst 1757 widerrief die röm.-kath. Kirche das anti-kop. Dekret von 1616,
und der Dialogo blieb bis 1831 auf dem Index. In den meisten nordeurop. Ländern konnte die
hel. Astronomie dagegen ohne besondere Schwierigkeiten weiterentwickelt werden.

Eine ausgewogene Betrachtung der Anfänge der hel. Astronomie kann sich daher nicht auf die
Umstände der Verö fentlichung von De revolutionibus und die Kon ikte des 17. Jh.s
beschränken, sondern muss auch die tiefgreifenden Veränderungen durch die beobachtende
Astronomie, Keplers Analyse der Planeten-Bahnen und die Himmelsmechanik in der Folge von
Newtons Principia einbeziehen. Außerdem sind wichtige kulturelle Aspekte der modernen
Kosmologie nicht auf Kopernikus zurückzuführen, sondern auf zahlreiche andere
Veränderungen in der Interpretation der Natur (Kosmos).

Verwandte Artikel: Astronomie | Geozentrisches Weltbild | Heliozentrisches Weltbild | Kosmos


| Naturwissenschaft und Religion | Weltbilder

Niccolò Guicciardini

Bibliography

Quellen

[1] I. K , Kritik der reinen Vernunft, 21787

[2] J. F. M , Histoire des mathématiques, Bd. 2, Teil 4, 5. Buch, 21799 (Ndr. 1968).

Sekundärliteratur

[3] H. F. C , The Scienti c Revolution. A Historiographical Inquiry, 1994

[4] I. B. C , Revolution in Science, 1985

[5] T . S. K , The Copernican Revolution, 1966 (dt. 1980)

[6] R. S. W , »The Copernicans and the Churches«, in: D. C. L / R. L. N ,


God and Nature, 1986, 74–114.

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Cite this page

Guicciardini, Niccolò, “Kopernikanische Wende”, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und
in Verbindung mit den Fachherausgebern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Copyright © J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst
Poeschel Verlag GmbH 2005–2012. Consulted online on 14 May 2020 <http://dx-doi-org.uaccess.univie.ac.at/10.1163/2352-0248_edn_COM_297162>
First published online: 2019

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