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Hö sche Gesellschaft
(1,590 words)

1. Begri f
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Der Begri f H. G. wurde von Norbert Elias de nitiv
1. Begri f
eingeführt. Sein Buch Die Hö sche Gesellschaft (1933/1969
[6]) übte maßgeblichen Ein uss auf die Erforschung der 2. Kennzeichen
nzl. Gesellschaft aus. Es de nierte H. G. wie folgt: 3. Die Hö sche Gesellschaft
»Individuen werden auf einer bestimmten als Übergangstypus
Entwicklungsstufe europ. Gesellschaften in der Form von
Höfen zusammengebunden und erhalten dadurch ein
spezi sches Gepräge« [5. 66]. Elias ordnete diese Gesellschafts guration – er benutzte den
Begri f der Figuration bevorzugt und vermied den des Systems – strukturgeschichtlich ein. Aus
ihr sei die »berufsbürgerlich-städtisch-industrielle« Gesellschaft hervorgegangen [5. 67]. Elias
fragte aber über den Hof als Ort dieses »sozialen Gebildes« hinaus nach dem »sozialen Feld«,
»in dessen Zentrum sich eine solche Figuration heranbilden konnte« [5. 60]. Die H. G.
beschränkte sich somit nicht allein auf den Fürstenhof, sondern stellte im Rahmen der
Veränderung der nzl. Gesellschaft eine zwischen Ständegesellschaft und Bürgerlicher
Gesellschaft anzusetzende Gesellschaftsformation dar.

Vor Elias interessierten sich vorwiegend Theoretiker der Volkswirtschaft für die Hofgesellschaft.
Thorstein Veblen [11], Werner Sombart [10] und Max Weber [12] hoben v. a. die Funktion der
Höfe für die Entwicklung des Kapitalismus hervor. Ansatzpunkt war der Luxus (Produktion
von Luxusgütern und deren exzessiver sowie ostentativer Verbrauch). In der Kulturgeschichte
des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jh.s erschien die Hofgesellschaft eher als skandalträchtiges,
libertines, sexuell unangemessen freizügiges Gebilde, dem man kaum etwas Positives
abzugewinnen vermochte. Erst der Soziologe Elias, ethnologische und
(sozial-)anthropologische Ansätze, die Semiotik sowie die Systemtheorie Niklas Luhmanns
brachen einer neuen Sichtweise auf den Hof und die Hofgesellschaft Bahn [1. 9–32].

Zur besseren Unterscheidung kann von Hofgesellschaft gesprochen werden, wenn es


unmittelbar um die an einem Hof lebenden und zu einer lokal begrenzten Gesellschaft
»zusammengebundenen« Menschen geht, bzw. von H. G., wenn es um die Gesamtgesellschaft
/
unter dem Ein uss der Hofgesellschaft geht. Der Großteil der verfügbaren Forschung
beschränkt sich auf die Hofgesellschaft und vernachlässigt die Transferprozesse in die
Gesamtgesellschaft, die sich je nach Breite und Tiefe der Transfers zur H. G. entwickelte. Die
Hofgesellschaft als gesellschaftlicher Phänotyp ist eng an die Entwicklungsgeschichte des
Hofes gekoppelt. Rezeptions- und nachahmungsfähige Modelle wurden zunächst im 14. und
15. Jh. auf Mallorca (mallorquinischer Hof), in Burgund sowie in Oberitalien, im 16. Jh. dann
bes. in Spanien und Frankreich ausgebildet.

Wolfgang Schmale

2. Kennzeichen

Als Modellfall einer nzl. H. G. gilt nach wie vor Frankreich. Insbes. seit Ludwig XIV. wurde die
Elite des Schwertadels an den Königshof gebunden; diese Elite lebte und wirkte im
Wesentlichen am Hof selbst ( Hofadel). Der quantitativ größere Rest des Adels lebte hingegen
weiterhin auf dem Land (Landadel) oder in den (kleinen) Städten, war sozial und ökonomisch
aber zumeist dem Amtsadel oder den Kau euten unterlegen.

An keinem anderen Hof in Europa lässt sich die Zusammenführung der Adelselite in derselben
Weise feststellen wie am franz. Hof des 17. und 18. Jh.s, auch wenn entsprechende Tendenzen
europaweit nachgewiesen werden können. Die H. G. im weiteren Sinn reichte über den Hof
hinaus und prägte die Ständegesellschaft um. Sie war sehr eng mit dem als Absolutismus
bezeichneten Macht- und Herrschaftstypus verbunden.

Während in der Ständegesellschaft die Stände gewisse politische Rechte besaßen und in der
Regel auch wahrnehmen konnten – z. B. in Gestalt ständischer Versammlungen –, verloren sie
diese in der H. G. mindestens de facto, wenn nicht sogar de jure wie in Frankreich unter Ludwig
XIV. H. G. bedeutete somit nicht die Ersetzung der ständischen Schichtung der Gesellschaft, da
diese beibehalten wurde, sondern sie bedeutete die Durchsetzung eines neuen Typus
politischer Partizipation. Diese Teilhabe, die kaum im Sinne verbriefter politischer Rechte zu
verstehen ist, beruhte weniger auf traditionellen ständischen politischen Rechten als vielmehr
auf hö scher Rangordnung nach Anciennität des Adelspatents, Nähe oder Distanz zum
Herrscher (die sich u. a. am Hofamt zeigte, das jemand ausübte), auf der Art der Einbindung in
das Hofzeremoniell sowie auf Ehre [8].

Da in England, im Heiligen Römischen Reich, in den österr. Erblanden, in Polen, Ungarn und
Spanien, d. h. in einem großen Teil Europas, die politischen Rechte der Stände auch im
Absolutismus verfassungsrechtlich bestehen blieben und einen durchaus praktischen Wert
besaßen, konnte sich dort der Typus der H. G. kaum in seiner Reinform durchsetzen. Diese
stellte ein franz. Modell dar. Man versuchte sehr wohl, es an andere Höfe kulturell zu
transferieren, um anschließend die Ständegesellschaft vor Ort umzubauen, doch begrenzte
sich dieser kulturelle Transfer oftmals auf eine (mehr oder weniger bescheidene) Imitation der
Schlossanlage von Versailles (Schlossbau).

/
Für die Territorien des Alten Reichs wirkte im Übrigen der Wiener Hof als Vorbild, über den
das span. Hof-Zeremoniell weiterwirkte. Außerdem gab es im Reich zahllose zumeist kleine
Höfe sowie einige größere, so in Dresden, Berlin, Karlsruhe oder München; ihre Zahl wurde auf
bis zu 300 und mehr geschätzt [1]. Auch wenn diese Zi fer etwas zu hoch erscheint, bleibt der
Umstand, dass es im Gegensatz dazu in Spanien, Frankreich und England nur einen zentralen
Hof gab. In den österr. Erblanden existierten neben dem Wiener Hof noch in Graz und
Innsbruck Höfe des Hauses Habsburg, deren Bedeutung jedoch im Lauf der Frühen Nz. neben
der des Wiener Hofes verschwand. Im großen mitteleurop. Raum blieb das Phänomen der H. G.
recht eng an den Hof gebunden und prägte die Gesamtgesellschaft weniger, als es in Frankreich
der Fall war.

Einen eigenen Fall stellte Norditalien mit seiner Vielzahl von Höfen dar, die geradezu dicht an
dicht angesiedelt waren. Die hoftypischen Klientel- und Patronagesysteme waren von
erheblichem gesellschaftlichen Gewicht; zumindest Norditalien und Rom kannten bis in die
habsburgisch-lothringische, napoleonische und nachnapoleonische Zeit nicht nur
Hofgesellschaften, sondern auch eine H. G.

Im franz. Modell gelang die Umprägung der Gesellschaft durch die Hofgesellschaft zur H. G.
vergleichsweise weitgehend. Die H. G. folgte entgegen dem ersten Anschein rationalen
Prinzipien: Rangordnung, Zeremoniell, Amt usw. ermöglichten und erforderten eine rationale
Lebensplanung, bei der die Unterdrückung der A fekte zu den entscheidenden strategischen
Instrumenten gehörte. In der H. G. war der Herrscher nicht nur das Macht-, sondern auch das
soziale Zentrum. Jede Lebensplanung der am Hof zusammengezogenen Adelselite bestand
darin, diesem Zentrum so nahe wie möglich zu kommen.

Diese Konstellation wurde durch den Hof als zentralen und unveränderlichen Ort visualisiert.
Zumeist war diese Zentralität mit einer Residenzstadt verbunden, deren stadtplanerische
Gestaltung durch den Hof und seine Gesellschaft bestimmt wurde [7]; [9]. Die Adelspalais
folgten architektonisch und sozial dem Hof, d. h., die Prinzipien der Hofgesellschaft ossen in
das (residenz-)städtische Milieu ein. Die Wirtschaft der Residenzstädte wurde entscheidend
durch die (Luxus-)Bedürfnisse der mehr oder weniger umfangreichen Hofgesellschaft geprägt
(vgl. Handel). Im Falle Frankreichs galt das sowohl für die Stadt Versailles als auch für Paris, das
keine eigentliche Residenzstadt war. V. a. in Frankreich koppelte sich der hö sche Adel vom
Land zunehmend ab, obwohl er auf das Einkommen aus Grundbesitz in Gestalt der
Feudalrente und vieler verschiedener geldwerter Feudalrechte angewiesen war
(Feudalgesellschaft).

Wolfgang Schmale

3. Die Hö sche Gesellschaft als Übergangstypus

Während die Ständegesellschaft von der Vorstellung begrenzter, nicht ausdehnbarer


Ressourcen ausging, beruhte die H. G. bereits auf dem Prinzip der Konsumgesellschaft. Sie
benötigte die Zurschaustellung von Über uss (Statuskonsum), und das Ausmaß des Konsums
von Ressourcen musste dem Rang und der Stellung am Hof angemessen sein. Da dem Adel die
/
Ausübung eines produktiven Gewerbes in den meisten europ. Ländern nicht erlaubt war, lebte
er im Prinzip von Renteneinkünften aus Grundbesitz, von Pensionen und gelegentlichen
Grati kationen oder Geschenken des Herrschers. Damit wurde der Adel jedoch spätestens seit
dem 18. Jh. von der ökonomischen Entwicklung abgehängt. Die Produktivität des gewerblichen
Bürgertums brachte im Lauf der Zeit einen Zuwachs an tatsächlichen »Machtchancen« [5], die
im Zuge der Französischen Revolution v. a. in Frankreich eingelöst wurden.

Die H. G. entwickelte ein eigenes Bezugssystem von Mensch, Natur und Zivilisation, das in der
Au lärung dekonstruiert wurde. Der Hofmann (Cortegiano) als spezi sche soziale
Erscheinung und Inbegri f des zivilisierten Mannes reicht ins 15. bzw. frühe 16. Jh. zurück [2].
Die Gemessenheit von Gestik, Bewegung, Kleidung, Emotionalität etc. erweiterte sich um
einen reichhaltigen Kanon an guten Sitten und an gutem Geschmack, der in erster Linie an den
Höfen entfaltet und detailliert wurde [3]; [4] sowie beide Geschlechter und schließlich auch
verschiedenste soziale Schichten betraf (Lebensstile).

Im Kontext des Hofs und seiner Gärten wurde die Natur zu einer beherrschten Natur, zumal
die Hofgesellschaft mit der Natur der Bauern – die zwar der Agrikultur unterworfen, aber nicht
beherrscht war – nur in besonderen Fällen in Kontakt kam. Zivilisation im Sinne von Selbst-
Beherrschung (Mensch) und Beherrschung (Natur) war ein Kennzeichen der Hofgesellschaft,
das sich aber in die Gesamtgesellschaft ausbreitete und diese – in Grenzen – zur H. G.
fortentwickelte.

In der Au lärung wurde dieser Zusammenhang aufgebrochen. Die Rationalität der


Hofgesellschaft musste der Rationalität der Entwicklung der Fähigkeiten jedes einzelnen
Menschen entsprechend seinen natürlichen Anlagen durch eine der Natur adäquate Erziehung
und Bildung weichen. Die Hofgesellschaften taten sich damit schwer; früher oder später
mussten sie sich aber anpassen und gaben seit der Restauration im frühen 19. Jh. ein recht
bürgerliches Bild ab (bürgerliche Gesellschaft).

Verwandte Artikel: Gesellschaft | Hof | Hofadel | Hofamt | Ständegesellschaft

Wolfgang Schmale

Bibliography

[1] V. B , Die hö sche Gesellschaft in Deutschland von der Mitte des 17. bis zum Ausgang
des 18. Jh.s, 1993

[2] P. B , Die Geschicke des Hofmanns. Zur Wirkung eines Renaissance-Breviers über
angemessenes Verhalten, 1996 (engl. 1995)

[3] J. D , Myths of Power. Norbert Elias and the Early Modern European Court, 1994

[4] N. E , Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische


Untersuchungen, 1976
/
[5] N. E , Die hö sche Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der
hö schen Aristokratie, 1983 (Orig. 1969)

[6] C. O (Hrsg.), Hö sche Gesellschaft und Zivilisationsprozeß. Norbert Elias' Werk in


kulturwissenschaftlicher Perspektive, 2005

[7] G. P / A. Q (Hrsg.), La corte e lo spazio. Ferrara estense, 3 Bde., 1982

[8] A. P , Die Ökonomie der Ehre. Der hö sche Adel am Kaiserhof Karls VI. (1711–1740),
2003

[9] S. C. P / J. P. N (Hrsg.), Ein zweigeteilter Ort? Hof und Stadt in der Frühen Nz.,
2005

[10] W. S , Luxus und Kapitalismus, 1913

[11] T. V , Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen,
1958

[12] M. W , Wirtschaft und Gesellschaft, 1922.

Cite this page

Schmale, Wolfgang, “Hö sche Gesellschaft”, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in
Verbindung mit den Fachherausgebern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Copyright © J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst
Poeschel Verlag GmbH 2005–2012. Consulted online on 14 May 2020 <http://dx-doi-org.uaccess.univie.ac.at/10.1163/2352-0248_edn_COM_281482>
First published online: 2019

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