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Judenverfolgung
(1,923 words)

1. Begri fsbestimmungen
Article Table of Contents
1.1. Verfolgungen
1. Begri fsbestimmungen
J. bedeutet hier antijüd. Gewalt gegenüber einer größeren 2. Typologisierung und
Gemeinschaft, welche über die alltäglichen Dimensionen Unterscheidungen
der Judenfeindschaft hinausging. J. waren »Maßnahmen 3. Deutschland und Europa
von Obrigkeiten gegenüber Juden als Gemeinschaft …, die 4. Reaktionen der
von kollektiven Vorstellungen geprägt wurden und die das Betro fenen
übliche Maß der theoretisch geforderten antijüd.
Bestimmungen übertrafen« [8. 380]. Während der Begri f
Judenfeindschaft für die gewohnheitsmäßige feindselige Einstellung der christl. Bevölkerung
gegenüber Juden steht, sind J. als deren extremsten Auswüchse zu identi zieren; dabei
unterscheiden sich J. von Pogromen, die – im Gegensatz zu Vertreibungen und Verfolgungen –
die vollständige Vernichtung der betro fenen Gemeinden zum Ziel hatten [8. 379–380].

1.2. Pogrom

Der Begri f Pogrom ist nicht neuzeitlich, sondern erfuhr erst seit dem späten 19. Jh. größere
Verbreitung; er stammt aus dem Russischen (pogróm; »Verwüstung«, »Verheerung«) [10. 34,
Fn. 1]. Als Pogrome werden Angri fe auf Eigentum und Personen einer bestimmten Ethnie,
Rasse oder Religion bezeichnet, mit Assoziationen v. a. zu antijüd. Gewalt [3. 13, Fn. 49]. Im
Zuge der antijüd. Übergri fe im russ., griech.-orth. Odessa [10. 15–21] ab 1821 war erstmals von
Pogromen die Rede, doch ließen erst die Ereignisse um die Ermordung Alexanders II. 1881
»Pogrom« zu einem weltweit gebräuchlichen Begri f für derartig brutale Ausschreitungen
werden [10. 35, Fn. 2]. Der Begri f wird heute rückwirkend auf antijüd. Gewalt des MA
(Pestpogrome) und der Nz. angewandt.

Annekathrin Helbig

2. Typologisierung und Unterscheidungen


/
J. können zum einen nach ihren Protagonisten unterschieden werden. Zahlreiche Verfolgungen
wurden von der Obrigkeit initiiert, d. h. aus einem rechtmäßigen Kontext heraus. Dabei ist auf
eine »soziale Funktion der obrigkeitlich inszenierten Verfolgungsmaßnahmen« hinzuweisen,
da diese »die Autorität der Obrigkeit stärken bzw. beweisen [sollten], wie e fektvoll sie Ruhe
und die göttliche und irdische Ordnung wahrten« [8. 387] (s. u. 3.2.). Diesen planvoll legalen
Verfolgungen standen durch einen aufgebrachten, spontan agierenden Mob verübte Pogrome
gegenüber.

Dahingestellt sei, ob sich diese Unterscheidung auch mit den Eindrücken und Gefühlen der
betro fenen jüd. Bevölkerung vereinbaren lässt. Es ist daher an eine alternative Typologisierung
zu denken, die das Ausmaß der – wenn auch subjektiv empfundenen – Zerstörungen aufgreift.
So »scheint es sinnvoll, uns die zeitgenössische Unterscheidung der Betro fenen zwischen
Geserot …, blutigen Verfolgungen, die Leib und Leben bedrohten, und solchen, die weniger
tragische Auswirkungen hatten«, anzueignen [16. 2308].

J. lassen sich auch nach Gründen und auslösenden Faktoren bzw. nach dem räumlichen Bezug
klassi zieren. In diesem Zusammenhang sind weltliche soziale und wirtschaftliche einerseits
und klerikale, d. h. in letzter Konsequenz konfessionelle, antijüd. Ein üsse andererseits zu
prüfen. Im Hinblick auf den räumlichen Kontext ist zu prüfen, ob J. lokal auf eine Region
beschränkt waren und blieben, oder ob es sich um überregionale und in Wellen um sich
greifende Ausschreitungen handelte. Daraus ergibt sich, ob hinter den verschiedenen
gewalttätigen Übergri fen eine durchdachte Organisation und Planung steckte oder ob es sich
um spontan au ammende Aggressionen handelte, die nur örtlich begrenzte Auswirkungen
hatten. In diesem Bezugsrahmen wäre auch die Frage zu diskutieren, unter welchen
Bedingungen sich lokale Ereignisse zu verheerenden Flächenbränden ausweiteten [3. 16–17].

J. werden meist im Kontext von Krisen verortet [2. 166]. Sie waren »Seismograph[en] für
Erschütterungen der Gesellschaft« [8. 155], wobei vom Volk getragene Pogrome »als ›Ventil‹ für
angestaute Spannungen verschiedenster Form« dienten [8. 387] (Soziale Kon ikte).

Annekathrin Helbig

3. Deutschland und Europa

3.1. Spätmittelalter

Neben den J. zur Zeit der Kreuzzüge sind für das europ. MA lokal begrenzte und einige
überregionale Pogrome zu nennen. Diese waren – neben der Bekämpfung der »Ungläubigen«
auf eigenem christl. Territorium während der Kreuzzugsbewegung – in der Mehrzahl durch
Ritualmordbeschuldigungen und den erst durch das Au ommen der
Transsubstantiationslehre (Sakrament) möglich werdenden Vorwurf der Hostienschändung
begründet (Rint eischpogrome v. a. in Franken, 1298; Armlederaufstand im Elsass, 1336–1338).
Daneben spielen für die ma. Geschichte die Verfolgungen während Pest-Epidemien eine
bedeutende Rolle (Anschuldigung der Brunnenvergiftung). Die Ereignisse in Wien am Beginn
des 15. Jh.s, an deren Ende die komplette Zerstörung der jüd. Gemeinde Wiens in der Gesera
/
(hebr., »Verhängnis«, »Schicksal«, »Verfolgung«; Plural Geserot) im März 1421 stand, gingen
ebenfalls auf den Vorwurf der Hostienschändung sowie eine angebliche Verbindung der Juden
mit den Hussiten zurück. Religiös begründete Verfolgungen lassen sich nicht monokausal
erklären; sie müssen im Kontext gesellschaftlicher, politischer, v. a. auch wirtschaftlicher
Entwicklungen oder Geschehnisse interpretiert werden.

3.2. Deutschland in der Neuzeit

Wohl kaum eine jüd. Gemeinde war von Verfolgungen und Vertreibungen ganz verschont, doch
konnten sich Juden oft bereits nach kurzer Zeit wieder in den Städten niederlassen, aus denen
sie vertrieben worden waren. Um ihre Rückkehr zu ermöglichen, konnten sie die Hilfe des
Reichskammergerichts in Anspruch nehmen, das z. B. in Hildesheim 1601 die Anweisung der
Vertreibung rückgängig machte. Auch wenn es wiederholt zur vollständigen Zerstörung von
jüd. Siedlungen und zur langfristigen massenhaften Ausweisung von Juden kam, kann von
einem permanenten Pogrom an Juden in dt. Städten nicht die Rede sein. Man erkannte jedoch
einen »Zusammenhang zwischen Häu gkeit und Dichte der Verfolgungen an einem Ort und
dem Typ der dortigen jüd. Ansiedlung« [16. 2316]. So waren die Gemeinden der Reichsstädte
weitaus häu ger von Verfolgungen betro fen als Gemeinden der Mediatstädte [16. 2316]. Ein
weiterer Zusammenhang bestand mit der Siedlungsdauer. Generell lässt sich sagen: Je kürzer
Juden an einem bestimmten Ort siedelten, umso geringer war die Gefahr ihrer Verfolgung [16.
2316].

Während frühere Verfolgungen – oft aufgrund religiöser Ressentiments, aber auch als eine
Folge des Wucher-Vorwurfs – spontan ausbrachen, lässt sich in der Frühen Nz. eine stärkere
Beteiligung der Obrigkeiten beobachten [17. 259–260]; [16. 2326]. Dies wird als ein Vorstoß »in
die Richtung des nzl.-absolutistischen Staates« [17. 260] bewertet. Nicht selten waren Juden das
Opfer von Machtkämpfen im Reich bzw. in den Territorien. Das bekannteste Beispiel für ein
Eingreifen des Kaisers zugunsten der jüd. Gemeinde ist der Frankfurter »Fettmilch-Aufstand«
(1614; vgl. Handwerker, Abb. 1). Nach einer Intervention Kaiser Matthias', der um die Wahrung
seiner Autorität und Rechte bemüht war, konnten die Frankfurter Juden 1616 wieder in die –
allerdings geplünderte – Judengasse heimkehren. In Worms wurden Juden im Zuge der
Unruhen 1613–1617 vertrieben und ihre Häuser zerstört. Auch die Wormser Juden konnten,
nachdem sich der pfälzische Kurfürst eingeschaltet hatte, in die Stadt zurückkehren. Anders als
bei den Verfolgungen in der Zeit vom 14. bis zur Mitte des 16. Jh.s waren bei diesen Ereignissen
jedoch nicht massenhaft Tote und Verletzte zu verzeichnen. Die Juden erscheinen als Spielball
und Ventil innerstädtischer Kon ikte.

Im 19. Jh. erhielten die Unruhen eine neue Begründung. Mit den Losungen »Hepp-Hepp!« und
»Schlagt die Juden tot!« zogen marodierende Horden im Jahr 1819 zunächst durch Würzburg
und später durch zahlreiche weitere dt. Städte. Dieser Ausbruch von Gewalt gegenüber Juden
wird u. a. als Reaktion auf die beginnende Emanzipation erklärt. Die »Hepp-Hepp-Krawalle«
stellen sich somit in erster Linie als der handgrei iche Ausdruck der Ablehnung von
Emanzipation und Integration der Juden dar [13. 42]. Auf der anderen Seite wirkten die Juden,
als »Fremde in der eigenen Mitte« im »Ringen um eine nationale Identität … als integrierende
/
Faktoren« [13. 37]. Auch die Ausschreitungen im Zuge der Märzrevolution 1848/49 werden mit
dem Kampf um die Emanzipation sowie die »Teilhabe der Juden am Ortsbürgerrecht« in
Verbindung gebracht [13. 46] (vgl. Vormärz).

3.3. Europa

Die Ausweisung der nicht-konversionswilligen Juden aus Spanien im Jahr 1492 auf Befehl des
span. Herrscherpaares Ferdinand und Isabella kennzeichnete den Bruch langer jüd.
Traditionen in Spanien und muss im Zusammenhang der erstarkenden Inquisition betrachtet
werden. Daneben ist für den europ. Raum – neben vielen anderen – auf die fast zeitgleiche
Vertreibung der Juden aus Portugal (1497), Böhmen (1542) sowie auf wiederholte Vertreibungen
der Prager Juden (1543, 1559) hinzuweisen (Verbannung; Zwangsmigration;
Glaubens üchtlinge).

Für die Juden Wiens bedeutete das Jahr 1670 einen Einschnitt. Den Wiener Kau euten war es
gelungen, Leopold I. zur (unblutigen) Ausweisung der Juden zu bewegen. Der Anlass lag neben
wirtschaftlichen Konkurrenzerwägungen auch in fortwährend anhaltenden religiösen
Vorurteilen. So soll Leopolds Frau Juden als Grund für eine erlittene Fehlgeburt und ihre
spätere Unfruchtbarkeit benannt haben.

Als letzte Judenvertreibung im Alten Reich wird die Ausweisung der Prager Juden (später
wurde das Dekret auf ganz Böhmen und Mähren ausgedehnt) durch Maria Theresia 1744 /45
angesehen. Bereits 1748 konnten die Juden jedoch wieder nach Prag zurückkehren.

Eine herausragende Stellung in der jüd.-europ. Geschichte nehmen die Geserot Taḥ-Tat – die
Verfolgungen der Juden im Zuge des Chmielnickiaufstandes (ab 1648) ein. Taḥ-Tat ist ein hebr.
Akronym für die jüd. Jahre (5)408-(5)409 (entspricht 1648–1649). Unter der Führung des
Kosaken Bohdan Chmel'nyc'kyj (Chmi(e)lnicki) kam es zu einem bäuerlichen Aufstand der
Ukraine gegen die poln. Vorherrschaft und zu Pogromen an der jüd. Bevölkerung. Der Umfang
der Verwüstungen und der Opferzahlen ist umstritten [14. 222]. Fest steht, dass zahlreiche jüd.
Gemeinden den Geserot zum Opfer elen.

Annekathrin Helbig

4. Reaktionen der Betro fenen

J. und Pogrome trafen die jüd. Gemeinden nicht immer völlig unerwartet. Dies gilt nicht nur für
lokal begrenzte Verfolgungen, sondern v. a. für sich ausweitende Ausschreitungen. Die
Reaktionen der Betro fenen konnten in rituell-religiösen Handlungen wie Buße und Gebet
erfolgen (Frömmigkeitskulturen; Synagoge). Dazu ist auch die bewusste Vorbereitung auf den
Märtyrertod zu zählen [16. 2318]. Es gibt jedoch auch Hinweise, dass Juden sich zur Wehr
setzten. So verteidigten die Frankfurter Juden – wenn auch erfolglos – 1614 die Judengasse und
errichteten Barrikaden. Allerdings stellte diplomatisches Engagement, auf regionaler wie
Reichsebene, die wichtigste Antwort auf Verfolgungen und Vertreibungen dar [16. 2319].

/
Eine herausragende Persönlichkeit der jüd. Geschichte ist Rabbi Josef ben Gerschon, bekannter
als Josel von Rosheim. Geschickte Verhandlungen v. a. mit Kaiser Karl V. verhinderten in der
ersten Hälfte des 16. Jh.s Verfolgungen von Juden im Rhein-Main-Gebiet. Josel von Rosheim war
darüber hinaus als Fürsprecher der Juden reichsweit tätig. Er intervenierte z. B. gegen
judenfeindliche Bestimmungen und Vertreibungsversuche in Hessen, Sachsen und
Brandenburg.

Daneben ist der diplomatische Ein uss der Ho uden zu benennen. Ihre Macht und ihr Kapital
setzten sie u. a. auch zum Wohl und Erhalt jüd. Gemeinden ein. Nachdem 1744 den Prager
Juden die Vertreibung drohte, begannen jüd. Gemeinden und Ho uden in ganz Europa der
Vertreibung entgegenzuwirken.

Verwandte Artikel: Diaspora | Feindbild | Ghetto | Judenfeindschaft | Jüdische Gesellschaft

Annekathrin Helbig

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Cite this page

Helbig, Annekathrin, “Judenverfolgung”, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in
Verbindung mit den Fachherausgebern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Copyright © J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst
Poeschel Verlag GmbH 2005–2012. Consulted online on 14 May 2020 <http://dx-doi-org.uaccess.univie.ac.at/10.1163/2352-0248_edn_COM_287508>
First published online: 2019

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