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1 reini – 

Text für BtJ- Gemeindemagazin 01. Mär. 2021

1 [Redaktionelle Vorbemerkung: Die in den Fußnoten verzeichneten Belege dienen nur der
2 Verifizierbarkeit und sollen im BtJ-Gemeindemagazin nicht mitgedruckt werden]
3

5 DIE JÜDISCHE GEMEINDE IN HAMBURG STELLT SICH VOR


6

7 Die jüdische Gemeinde in Hamburg ist alteingesessen und seit jeher eine der
8 bedeutendsten Gemeinden in Deutschland. Zusammen mit den Gemeinden der angrenzenden,
9 vormals eigenständigen Städte Altona und Wandsbek, bildete Hamburg jahrhundertelang das
10 Zentrum jüdischen Lebens in Nordwest-Europa.1 Die Dreigemeinde wurde in jüdischen
11 Schriften mit ‫( א״ה״ו‬AHU) abgekürzt, was einer hervorgehobenen Bedeutung entspricht.
12 Berühmte Rabbiner und Gelehrte wirkten hier und wurde aus der gesamten jüdischen Welt
13 konsultiert.
14

15 DIE ERSTEN JÜDISCHEN HAMBURGER


16 Im Mittelalter und der frühen Neuzeit zogen zunächst sephardische Juden, die nach 1496
17 aus Portugal emigrieren mussten in die Hansestadt, oftmals nach einem Zwischenaufenthalt
18 in den Niederlanden. Als Groß- und Überseekaufleute waren sie ein ernst zu nehmender
19 Wirtschaftsfaktor und sie pflegten Kontakte auf Augenhöhe mit der hamburgischen
20 Kaufmannschaft. Dies wird auch dadurch nachvollziehbar, dass die „Portugiesen“
21 Niederdeutsch sprachen – damals kein Platt, sondern die hochoffizielle Staats- und
22 Handelssprache der in der Hanse verbündeten freien Städte, in der Korrespondenzen,
23 Verträge, staatsrechtliche Dokumente usw. von London bis Nowgorod verfasst wurden2.
24 In Laufe der Jahre zogen auch mehr und mehr aschkenasische Jüdinnen und Juden nach
25 Hamburg. Sie arbeiteten als Hausangestellte bei den portugiesischen Patriziern und sprach
26 untereinander Judendeutsch (nicht zu verwechseln mit dem in Osteuropa gesprochenem
27 Jiddisch)3. Eine sephardische und eine aschkenasischen Gemeinde bestanden
28 jahrhundertelang nebeneinander. Das heißt nicht, dass es keine Kontakte untereinander gab,
29 von jüdischen Parallelgesellschaften kann keine Rede sein. Das wird schon klar bei einem
30 Besuch des alten jüdischen Friedhofs an der Altonaer Königstraße: hier ruhen Juden aus
31 vielen Jahrhunderten in einer Anlage in zwei Abteilungen.

2 1
Vgl. Einleitung, in: Graupe, Heinz Mosche, Hrsg. Die Statuten der drei Gemeinden
3 Altona, Hamburg und Wandsbek. Hamburg 1973.
2
4 Ebd., S. 12.
3
5 Zur Klassifikation s. https:/www.ethnologue.com/subgroups/yiddish

6 1
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32

33 EMANZIPATION
34 Die Eingliederung Hamburgs in das Napoleonische Kaiserreich 1811 stellte für die Juden
35 eine erschütternde Zeitenwende dar. Erstmals in der Geschichte erhielten Anspruch auf die
36 vollen Menschen- und Bürgerrechte, wie sie die Französischen Revolution verkündet hatte.4
37 Allerdings währte die Freude nur kurz: Napoleon erlebte sein Waterloo und in Sachen
38 Menschen- und Bürgerrechte wurde frühere Verhältnisse restauriert.5
39 Der Geschmack auf bürgerliche Gleichberechtigung war aber in der jüdischen Gemeinde
40 unvergessen, und fand zusätzlich Nahrung bei den jüdischen Aufklärern – der „Haskala“ –
41 allen voran in den Schriften Moses Mendelssohns. Das heißt aber nicht, dass sich alle Juden
42 dem Zeitgeist ergaben. Vielmehr fächerten sich die religiösen Orientierungen auch in
43 Hamburg zunehmend auf und es entstanden Synagogen-Gemeinschaften von äußerst
44 traditionell bis ultra-progressiv. Da es um Glauben und nicht etwa um Meinen ging, kam es
45 bald zu erbittertem Streit und zu Gegnerschaft.
46 Hamburg wurde die zum Ausgangspunkt des Progressiven Judentums, und das hatte gute
47 Gründe. Jüdischer Handelsgeist wurde in der kaufmännisch geprägten Hansestadt nicht als
48 fremdartig abgelehnt; die jüdischen Geschäftsleute wurden wohl eher als Konkurrenten unter
49 ähnlichen betrachtet. Das nüchtern-pragmatische und tolerante Gesellschaftsklima Hamburgs
50 ließ die Assimilation für viele Juden als eine attraktive Option erscheinen.
51 Im 19. Jahrhundert kam in Sachen Gleichberechtigung der Juden in Hamburg sicherlich
52 manches in Bewegung; zu einer echten bürgerlichen Gleichstellung, wie sie die Französische
53 Revolution postuliert hatte, gelangten sie dennoch nicht. Die Idee der universellen
54 Menschenrechte verblasste nach der Jahrhundertmitte gegenüber einer neuen Ideologie, die
55 das spätere 19. Jahrhundert prägen sollte, der Ideologie der "Nation". Die zunächst liberale
56 Idee des Nationalstaats, die im Jahr 1848 politisch in geradezu revolutionärer Weise zum
57 Ausdruck kam, hatte Schattenseiten, gerade für die Juden: Die Nation, verstanden als
58 institutionalisierte „Volksgemeinschaft“, schloss alle aus, die nicht zum „Volk“ gehörten. In
59 Hamburg allerdings, wo man sich seit Hansezeiten als reichsfreier Staat aus eigenem Recht
60 empfand, verfing die Idee des Nationalstaats nicht so recht. Der in Hamburg geborene
61 Historiker Mosche Zimmermann hat diese Problematik in seinem Buch „Hamburgischer

4
8 Vgl. Postel, Rainer et al., Hamburg und die Französische Revolution. Hamburg 1977
5
9 Vgl. Lentz, Thierry Le Congrès de Vienne. Paris 2013

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62 Patriotismus und deutscher Nationalismus“ umfassend dokumentiert6 und zugleich den


63 Sonderweg Hamburgs als nicht-antisemitische Stadt herausgearbeitet.
64 In der Freien und Hansestadt war es besonders der jüdische Notar Gabriel Riesser, der
65 gegenüber der Jüdischen Gemeinde und der städtischen Öffentlichkeit nationalpatriotische
66 Gefahr deutlich zur Sprache brachte.7 In einer polemischen Auseinandersetzung mit dem
67 Stuttgarter Abgeordneten Moritz Mohl8 im Paulskirchen-Parlament 1848 bestand Riesser
68 z.B. darauf, einen Zusatz über die „Die eigentümlichen Verhältnisse des israelitischen
69 Volksstammes“ ersatzlos zu streichen, um so die vollständige Gleichheit der Juden als Bürger
70 zu manifestieren. Wobei Riesser selbst sich zunächst als Hamburger verstand – der im
71 Übrigen auch Jude war, vor seinem frühen Tod mit 57 Jahren war er Obergerichtsrat und
72 Vizepräsident der Bürgerschaft seiner Vaterstadt9.
73

74 AUFSCHWUNG, ANTISEMITISMUS UND UNTERGANG


75 Im Revolutionsjahr 1848 war die "völkische" Ausgrenzung der Juden, wie sie der
76 Stuttgarter Abgeordnete vortrug, noch nicht zu einer formulierten Doktrin geronnen. Im
77 letzten Viertel des 19. Jahrhunderts jedoch gewann die völkische Rassentheorie Raum und
78 gab Anlass, die Juden anders als nur religiös auszugrenzen. Der verfasste Antisemitismus, der
79 maßgeblich von Ideologen wie Wilhelm Marr10 verbreitet wurde, verfing aber selbst jetzt in
80 Hamburg wenig: „Hamburg ist der nichtswürdigste Platz von der Welt in ganz Hamburg und
81 Umgegend scheinen sich keine zehn Leute für die Judenfrage zu interessiren", schrieb der
82 Redakteur des antijüdischen Blattes "Deutsche Reform" Ende 1880 — also zur Zeit des
83 ersten Höhepunkts der modernen antisemitischen Agitation in Deutschland — enttäuscht an
84 einen Hamburger Freund, den Erfinder des Begriffs Antisemitismus.11
85 Ungeachtet des aufkeimenden Antisemitismus erlebte das Judentum in Hamburg bis zum
86 Ersten Weltkrieg einen Aufschwung. Gleichzeitig differenzierte sich die jüdische
87 Gemeinschaft der Stadt aus: es entwickelte sich ein jüdisches Bürgertum und die
88 Tätigkeitsfelder, in denen Juden arbeiteten, nahmen zu.

6
12 Zimmermann, Mosche, Hamburgischer Patriotismus und deutscher Nationalismus. Die Emanzipation der
13 Juden in Hamburg 1830-1865. Hamburg 1979
7
14 Krohn, Helga, Juden in Hamburg, S. 12 f.
8
15 Ehrle, Peter Michael, "Mohl, Moriz" in: Neue Deutsche Biographie 17 (1994), S. 691 f. [Online-Version];
16 URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd117090565.html#ndbcontent
9
17 Kaufmann, Uri R., Riesser, Gabriel in: Das Jüdische Hamburg,
18 http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/riesser-gabriel
10
19 Puschner, Uwe, "Marr, Wilhelm" in: Neue Deutsche Biographie 16 (1990), S. 247-249 [Online-Version];
20 URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd119024888.html#ndbcontent
11
21 Zimmermann, Mosche, Hamburgischer Patriotismus und deutscher Nationalismus, S. 7

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89 Während nun säkularisierte Juden in Wissenschaft und Kunst, Wirtschaft und


90 Gesellschaft in bedeutende Positionen hineinwuchsen, entwickelten sich die religiösen
91 Positionen der beiden Flügel des Hamburger Judentums, nämlich des orthodoxen "Deutsch-
92 Israelitischen Synagogen-Verbands" und des reform-orientierten "Israelitischen
93 Tempelverbands" auseinander. Allerdings betrachteten die Vertreter beider Verbände die
94 andere Seite nicht unbedingt als Gegner, sondern immer noch als Angehörige einer
95 gemeinsamen Hamburger Gemeinde12. Die Historikerin Helga Krohn beschreibt das
96 Verhältnis der Verbände als tolerant, wozu auch die landsmännische Homogenität der
97 Hamburger Judenschaft beitrug: Es gab, anders als etwa in Berlin, sehr wenige aus Osteuropa
98 zugewanderte Juden, wiewohl diese einen bedeutenden Teil der rituellen Aufgabe in der
99 Gemeinde wahrnahmen.13 Mit einem Wort: die Hamburger Juden stritten sich oft und heftig,
100 waren einander aber nicht fremd.
101 Im Jahr 1906 wurde auf dem Bornplatz, im Herzen des Grindelviertels, eine neue
102 Synagoge gebaut. Vorgesehen war ein "gemäßigter konservativer» Ritus14. Städtebaulich
103 symbolisierte die neue Synagoge die Zugehörigkeit der jüdischen Gemeinde zur Hansestadt,
104 wie der orthodoxe Oberrabbiner Spitzer noch 1931 zum 25jährigen Jubiläum der Bornplatz-
105 Synagoge betonte15.
106 Spitzers positive Einschätzung entsprach den Verhältnissen bis zum Ende der Weimarer
107 Republik, "Man war sich staatlichen Wohlwollens sicher."16 Mit der Wahl Hitlers zum
108 Reichskanzler mithilfe rechter, bürgerlicher Parteien verschlechterte sich jedoch die Situation
109 der Hamburger Juden ab 1933 immer mehr. Enteignungen und Zerstörung jüdischen
110 Eigentums, Zwangs-"Arisierungen" und Repressalien vorher unbekannten Ausmaßes
111 erreichten mit der Pogromnacht am 9. November 1938 ihren ersten Höhepunkt. Mehr als die
112 Hälfte der Mitglieder der Gemeinde emigrierte.17 In der Shoa wurde die meisten der knapp
113 10.000 verbliebenen Hamburger Juden ermordet.18 Damit endete das kontinuierliche Dasein
114 der Hamburger Gemeinde de facto nach fast 500 Jahren.
12
24 Nach dem Gemeindestatut von 1867 waren zwei Verbände zugelassen: Der Synagogenverband und der
25 Tempelverband.
26 Der Synagogenverband konstituierte sich 1868.
27 Krohn, Helga, Juden in Hamburg, S. 125
13
28 Krohn, Helga, Juden in Hamburg, S. 130.
14
29 Krohn, Helga, Juden in Hamburg, S. 140.
15
30 Ebd., S.63f.
16
31 Die Hamburger Juden im NS-Staat 1933 bis 1938/39, S. 69. Die Geschichte des Hamburgischen Judentums
32 während der Weimarer Republik und im NS-Staat wurde umfänglich dokumentiert und kommentiert in der
33 Schriftenreihe des Instituts für die Geschichte der Deutschen Juden, vgl. http://www.igdj-hh.de.
17
34 http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/emigration
18
35 http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/deportationen

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116 MÜHSAMER NEUBEGINN


117 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Gemeinde von einigen wenigen Überlebenden
118 wieder gegründet. Innerhalb einer einzigen Generation, von 1925 auf 1951, sank die Zahl der
119 Gemeindemitglieder von ca. 25.000 auf gerade einmal 1000, d.h., auf ein Zwanzigstel. Erst
120 Mitte der 1950er Jahre kam es wieder zu einem, allerdings bescheidenem, Wachstum –
121 Emigranten kehrten zurück, einige Juden aus Israel und dem östlichen Europa kamen nach
122 Hamburg, und als besondere Gruppe von etwa 150 Mitgliedern traten persische Kaufleute
123 bei, viele von ihnen hatten ihre Teppich-Kontore im Hamburger Freihafen.19
124 Im Jahre 1960 wurde eine neue Synagoge in der Straße "Hohe Weide" eingeweiht.20
125 Damit war die Jüdische Gemeinde in Hamburg wieder sichtbar im Stadtbild. Allerdings lag
126 die neue Synagoge mitten in einem Wohngebiet,21 abseits des ehemals jüdisch geprägten
127 Grindelviertels. Der städtebaulichen Zurückhaltung entsprach eine gewisse Zurückhaltung
128 der Gemeinde in der Öffentlichkeit. Der fast drei Jahrzehnte amtierende Landesrabbiner
129 Nathan Peter Levinson, ein Schüler Leo Baecks, war nicht eben präsent in der Hansestadt, da
130 er zahlreiche weitere Verpflichtungen übernahm, u.a. war auch Landesrabbiner von Baden.22
131 Die praktische Leitung der Gemeinde nahmen Harry Goldstein und dann fast drei Jahrzehnte
132 lang Günter Singer wahr, der auch Kantor der Gemeinde war. Sowohl Goldstein, als auch
133 Singer stammten aus Schlesien, damit waren die drei wichtigsten Lenker der Gemeinde keine
134 Hamburger.23
135

136 AUFBRUCH NACH 1989


137 Der Zusammenbruch der russischen Herrschaft über Osteuropa 1989/1990 ermöglichte es
138 ehemals sowjetischen Juden auszureisen. Die in Deutschland aufgenommenen sog.
139 "Kontingentflüchtlinge" verstärkten die Gemeinden und so war es auch in Hamburg. Die
140 Historikerin Gabriela Fenyes fasst den Strukturwandel der Gemeinde nüchtern zusammen:
141 "1989 hatte Hamburgs Jüdische G.[emeinde] 1.340 Mitglieder, davon waren 30 Prozent älter
19
38 http://www.dasjuedischehamburg.de/print/book/export/html/239
20
39 Menny, Anna, Zwischen Erinnern und Neuanfang – die Grundsteinlegung der Synagoge in der Hohen Weide
40 am 9.11.1958, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 21.08.2017.
41 <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-188.de.v1
21
42 Geschützte Denkmäler in Eimsbüttel
43 Hohe Weide 34: Jüdisches Gemeindezentrum und Synagoge.
44 https://www.hamburg.de/bkm/denkmaeler/177490/hohe-weide-34-synagoge/
22
45 Simon, Hermann, Mit Nathan Peter Levinson sel. A. starb in Berlin ein bedeutender Rabbiner der
46 Nachkriegszeit. In: Jüdische Allgemeine, 02.11.2016
23
47 Lorenz, Ina, Jüdische Gemeinde (1945-1989), in: Das Jüdische Hamburg,
48 http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/j%C3%BCdische-gemeinde-1945-1989

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142 als 60 Jahre, 2004 waren es insgesamt über 5.000 Mitglieder, davon waren 50 Prozent älter
143 als 60 Jahre.24" Neben sprachlichen und mentalitätsmäßigen Problemen erwuchsen der
144 Gemeinde Aufgaben in der Armutsbekämpfung, der Altenbetreuung und der Erziehung der
145 Kinder. Die Gemeinde erarbeitete gemeinsam mit der Landesregierung Maßnahmen zur
146 Verbesserung der Lage. Von 1993 auf 2007 erhöhte sich die per Staatsvertrag zugesagte
147 Unterstützung auf das mehr als Dreifache.25
148 Angesichts der Überalterung der Gemeinde war klar: Die Zukunft der Gemeinde würden
149 die Kinder sein – Kinder, die eine jüdische Schule brauchten. Die Gemeinde und Förderer
150 strebten an, das Gebäude der ehemaligen Talmud Tora-Schule im Grindelviertel, in dem die
151 Bibliotheksschule untergebracht war, zurück zu erhalten. Die Stadt übertrug die Schule, aus
152 formalen Gründen per Schenkung, am 1. Juli 2004 an die jüdische Gemeinde26 Das Haus war
153 allerdings sehr baufällig, zur Renovierung reichten die Mittel aus dem Staatsvertrag bei
154 weitem nicht aus. Eine bedeutende Summe steuerte die Hermann-Hinrich Reemtsma-Stiftung
155 bei 27dank derer die traditionsreiche Schule 65 Jahre nach ihrer Schließung durch die
156 Nationalsozialisten28 am 11. Juni 2007 neu eröffnet werden konnte.
157 Im Gebäude der Talmud Tora Schule ist heute das Joseph-Carlebach Bildungszentrum
158 untergebracht, und auch die Gemeinde hat hier ihre Geschäftsstelle. Inzwischen hat eine
159 ganze Schüler-Generation ihre Schulzeit durchlaufen, und anlässlich der Abschlussfeier am
160 28. Juni 2020 konnte Franziska von Maltzahn, die Leiterin des Joseph-Carlebach-
161 Bildungshaus verkünden: „Das Jahr 2020 ist für das Joseph-Carlebach-Bildungshaus ein
162 besonderes Jahr. Wir sind stolz und glücklich, dass der erste Jahrgang nach der
163 Zwangsschließung der Talmud-Tora-Schule 1942 sein Abitur abgelegt hat.“29
164

165

166 NEUORIENTIERUNG AB 2011

24
51 Fenyes, Gabriela, Jüdische Gemeinde nach 1989, http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/jüdische-
52 gemeinde-nach-1989
25
53 ebd.
26
54 DIE WELT, 1. Juli 2004
27
55 Die Rettung der Talmud Tora-Schule, in: HaYom-Sonderausgabe zum Gedenken an den Mäzen und Freund
56 der Jüdischen Gemeinde in Hamburg, Hamburg 2020.
28
57 Vgl. Randt, Ursula, Die Talmud Tora Schule in Hamburg 1805 bis 1942, Hamburg 2005.
29 4
58 Pressemeldung der Behörde für Wissenschaft, Forschung, Gleichstellung und Bezirke vom 26. Juni 2020,
59 http://www.hamburg.de/servlet/segment/de/pressearchiv-fhh/14016582
60 /abitur-joseph-carlebach-bildungshaus/
61

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167 Seit Anfang 2009 stand die Gemeinde ohne Rabbiner und mit einer baufälligen
168 Synagoge30 vor großen Problemen. Zu dieser Zeit wagte niemand vorauszusagen, dass die
169 Jüdische Gemeinde in Hamburg 10 Jahre später zu den dynamischsten und anerkanntesten
170 Gemeinden Deutschlands gehören würde.
171 Den ersten Anstoss zur Verbesserung der Lage der Gemeinde gab die Wahl eines neuen
172 Vorstands unter Bernhard Effertz am 21. August 2011, dem auch schon der heutige
173 Vorstandsvorsitzende Philipp Stricharz angehörte31. Eine der ersten Amtshandlungen des
174 neuen Vorstands war die Berufung Shlomo Bistritzkys zum Landesrabbiner; die offizielle
175 "Krönung" erfolgte am 16. Januar 2012.32 Bistritzky und seine Familie waren 2003 nach
176 Hamburg gekommen, sie nahmen im April 2015 die deutsche Staatsbürgerschaft an, auch als
177 Zeichen, dass man gekommen sei, um zu bleiben33
178 Vorstand und Landesrabbiner erreichten noch im selben Jahr, dass die Synagoge renoviert
179 werden konnte. Die geschätzten Kosten betrugen 3,5 Mio. Euro, wovon allein eine Million
180 Euro von der Hermann-Hinrich Reemtsma-Stiftung sowie 400.000 Euro von der Stadt
181 Hamburg34 getragen wurden.
182 Seit 2016 besteht unter dem Dach der Einheitsgemeinde die "Reformsynagoge Hamburg"
183 mit Rabbiner Gabor Lengyel35. Nach einer Satzungsänderung konnten nun auch liberal
184 konvertierte Juden Mitglieder der Einheitsgemeinde werden36.
185 Der 2011 eingeschlagen Kurs wurde auch nach den Wahlen vom 26. Juni 2015
186 beibehalten, als Vorstandsvorsitzender amtierte weiter Bernhard Effertz, als 2. Vorsitzender
187 Philipp Stricharz, hinzu kamen die Vorstände David Rubinstein, Stefanie Szczupak und Eli
188 Noe. Seit den Wahlen vom 23. Juni 2019 amtieren Philipp Stricharz (1. Vorsitzender), Dr. Eli
189 Fel (2. Vorsitzender), Stefanie Szczupak und Eli Noe. David Rubinstein gehörte dem

30
64 „Im Betsaal ist neben Dachschäden auch die Bestuhlung für 350Personen insgesamt verschlissen und nicht
65 mehr zu reparieren“, sagte der Pressesprecher der Jüdischen Gemeinde Hamburg, „Die Decke leidet unter
66 Wurmfraß. Auch weite Bereiche der Haustechnik und Sanitäreinrichtungen weisen altersmäßigen Verschleiß
67 auf und erfordern grundlegende Reparaturen oder Erneuerungen.“ HaYom-Sonderausgabe zum Gedenken an
68 den Mäzen und Freund der Jüdischen Gemeinde in Hamburg
31
69 Zum Vorstand gehörten auch Bella Gurfinkel, Ulrich
70 Lohse und Roy Naor. Auskunft der Jüdischen Gemeinde in Hamburg 01. März 2021. S. auch Hamburger
71 Abendblatt Hamburg, 16.09.2011
32
72 BILD Hamburg 17.01.2012
33
73 Hamburger Abendblatt Hamburg, 24. April 2015
34
74 Hamburger Abendblatt 8./9. Dezember 2012
35
75 https://www.jghh.org/de/gemeinde/reformsynagoge-hamburg/was-ist-die-reformsynagoge-hamburg
36
76 Hamburger Abendblatt, 21. Oktober 2016

77 7
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190 Vorstand bis Ende 2020 an; er wurde per Januar 2021 zum Geschäftsführer der Jüdischen
191 Gemeinde in Hamburg bestellt37.
192

193 VOM BILDUNGSHAUS ZU EINEM JÜDISCHEN CAMPUS


194 Im Jahre 2007 wurde das Joseph-Carlebach-Bildungshaus gegründet – als
195 deutschlandweit einzige jüdische Einrichtung, in welcher Kinder von der
196 Krippe bis zum Abitur erzogen werden. Aus anfangs zwölf wurden bis zum
197 ersten Abiturjahrgang 2020 über 200 Schüler38 Die Räume innerhalb der Talmud Tora Schule
198 reichen nicht aus, einige Klassen mussten in eine Container-Konstruktion an der Rückseite
199 der Schule verlagert werden. Mit einer Erweiterung der Anlage soll nun ein neues Joseph-
200 Carlebach-Bildungshaus geschaffen werden, wozu ein benachbartes Gebäude von der
201 Universität Hamburg übernommen werden kann. Zum Bildungskonzept sagt Vorstand
202 Stefanie Szczupak: »Wir wollen ein Bildungshaus ganz im Sinne und auf der Basis der
203 Erkenntnisse von Rabbiner Joseph Carlebach errichten, der seiner Zeit stets voraus dachte«,
204 d.h. kleine Klassen, individuelle Zuwendung und Förderung39 und insgesamt eine Schule mit
205 einem bunten Gemisch von Sprachen, Kulturen, Religionen und sozialen Schichten Das 3

206 Gebäude der Talmud Tora Schule am Grindelhof, der Schulhof und das neue Bildungshaus
207 an der Binderstraße ergäben ein geschlossenes Ensemble, das einem "Jüdischen Campus"
208 gleichkäme40. Käme zu diesem Ensemble eine Bebauung des benachbarten Joseph-
209 Carlebach-Platzes hinzu, hätte das einstmals jüdisch geprägte Grindelviertel ein jüdisches
210 Gemeindezentrum.

211

212
213 POSITIVE ENTWICKLUNGEN BIS 2021
214 Der Bornplatz neben der Talmud Tor Schule bezeichnet den Ort, an dem die 1906 erbaute
215 „Neue Synagoge“ gestanden hatte. Auf dem leeren Platz markierte ein Bodenmosaik den
216 Grundriss – eine Arbeit der Künstlerin Margit Kahl. Mitglieder der Gemeinde, allen voran
217 Philipp Stricharz und die Mitglieder des Vorstands, sondierten schon seit längerer Zeit die
218 Idee, an historischer Stelle die Synagoge wieder zu errichten41

37
79 Auskunft der Jüdischen Gemeinde in Hamburg 01. März 2021
38
80 Hamburger Morgenpost, 24. Dezember 2020
39
81 Ebd.
82 40
Alle unter einem Dach, Jüdische Allgemeine, 28. März 2019
83
41
84 Auskunft der Jüdischen Gemeinde in Hamburg 01. März 2021.

85 8
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219 Als Landesrabbiner Bistritzky 2019 bei einem Presse-Termin einen Wiederaufbau der
220 von den Nationalsozialisten zerstörten Bornplatz-Synagoge öffentlich ins Gespräch brachte,
221 erschien dieses Projekt visionär. Es bildete sich jedoch ein breites Aktions-Bündnis in der
222 Hansestadt, und schon "im Februar 2020 stimmte die Hamburger Bürgerschaft einstimmig
223 dafür, den Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge zu unterstützen"42. Noch vor Jahresende
224 bewilligte der Bundestag eine Unterstützung von 65 Mio. Euro für den Wiederaufbau;
225 Hamburg schloss sich mit weiteren Finanzierungszusagen an.43 Im Februar 2021 wurde im
226 Rahmen einer Feierstunde 107.000 Stimmen für den Wiederaufbau an Hamburgs Staatsrat
227 Jan Pörksen und Dr. Eli Fel, den 2. Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde überreicht44.
228 Mittlerweile ist eine Diskussion über die genaue Form des Wiederaufbaus entbrannt.
229 Interessenten aus Hamburg und der Welt argumentieren für oder wider einen originalgetreuen
230 Aufbau und über die Frage, was mit dem Bodenmosaik auf dem Bornplatz passieren soll. Die
231 Gemeinde begrüßt die breite Teilnahme an den Wieder-Aufbauplänen, verweist aber, so der
232 1. Vorsitzende Philipp Stricharz, darauf, dass sie als Rechtsnachfolgerin der geschädigten
233 Gemeinde das erste Wort bei der Projektierung der neuen Bornplatz-Synagoge haben sollte45.
234

42
87 Homepage der Initiative Wiederaufbau Bornplatzsynagoge
88 https://www.bornplatzsynagoge.org/wir.
43
89 Bild Hamburg 27. November 2020. Ausführlich: Hamburger Abendblatt 28./29. November 2020.
44
90 Jüdische Allgemeine 17. Februar 2021.
45
91 Zusammengefasst in TAZ Nord 29.012021. – En Detail nachhörbar in „Till’s Talk: Die Bornplatzsynagoge
92 kommt!“ 28.01.2021 auf YouTube https://www.youtube.com/watch?v=UMI9rzCCgko

93 9

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