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Götz Aly

Rasse und Klasse

Nachforschungen zum
deutschen Wesen

S. Fischer

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2003


ISBN 3-10-000419-1
Götz Aly legt in seinem neuen Buch eine Sammlung historischer Arbeiten vor,
die das 20. Jahrhundert umspannen. Sie zeigen, wie leicht die Vorstellungen
von völkischer und sozialer Homogenität ineinanderflössen. Eben diese
Mischung machte den Erfolg des Nationalsozialismus aus. Er verband die
Wünsche nach Revolution und Beharrung, er verband Volk, Elite und Mob. Es
war die ungeheure geschichtliche Beschleunigung - das Gefühl, in einem
revolutionären Umbruch auf der Seite der Sieger zu stehen -, die den
Befürwortern und Mitläufern buchstäblich die Sinne raubte. Im Gegensatz zu
den kommunistischen Regimen blieb Hitler-Deutschland eine jederzeit mehr-
heitsfähige Zustimmungsdiktatur. Aly versteht Geschichte nicht als Spiegelsaal
der eigenen Überzeugungen, eher als menschlichen Irrgarten, der vermeintliche
Gewissheiten ständig gefährdet.

Aly publiziert seit mehr als 25 Jahren


zur Sozialpolitik und zur Geschichte
des 20. Jahrhunderts, insbesondere
zum Nationalsozialismus, u.a. im S.
Fischer Verlag: »‹Endlösung›.
Völkerverschiebung und der Mord an
den europäischen Juden«; im Fischer
Taschenbuch Verlag: »Die restlose
Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus«
(zusammen mit Karl Heinz Roth), »Vordenker der Vernichtung. Auschwitz
und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung« (zusammen mit
Susanne Heim) und »Macht - Geist - Wahn. Kontinuitäten deutschen
Denkens«. - 2002 erschien »Das letzte Kapitel. Der Mord an den ungarischen
Juden« (zusammen mit Christian Gerlach; DVA).

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Götz Aly

Rasse und Klasse

Nachforschungen zum deutschen Wesen

S. Fischer

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Abbildung auf der Titelseite:
Liebesgrüße aus Warschau. Von Schorsch als kleines Andenken
für seinen Freund Otto Schellhaß, einem angeheirateten Onkel
des Autors, der das Kriegsende, nachdem er zu einer kurzen
Zeitstrafe nach § 175 StGB verurteilt worden war, im Gefängnis
Berlin-Spandau erlebte.

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2003


Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Walter H. Fehle
Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 3-10-000419-1

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Inhalt

Verdrängte Geschichte 8
Deutsche Vorkämpfer der Judenemanzipation

Wohltaten europäischer Gesittung 13


Ein rheinischer Fürst im albanesischen Dornengarten

Dafür wird die Welt büßen 21


Ethnische »Säuberung«, ein europäischer Irrweg

Den Tod nicht fürchten 30


Blutige Weihen: Ernst Jünger trifft Osama Bin Laden

Für ein modernes Afghanistan 35


Ein deutscher Idealist am Rand der Ökumene

Handfeste Brauchbarkeit 43
Das Rabattgesetz oder die Freiheit des Feilschens

Sehr verdünnt 45
Mutmaßungen über das Triebleben des Adolf H.

Nationaler Sozialismus 49
Der Dritte Weg oder Hitlers Traum vom Volksreich

Merke er sich das, Fähnleinführer! 57


Warum ein Großgrundbesitzer nicht NS-Opfer sein darf

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Unsere gesellschaftlichen Verhältnisse 63
Fortschritt., hum. Arzt in Jena, Ausmerzer

Die Fahrt ins Blaue 69


Alfred Döblin und die Berliner »Listenkranken«

Zur Schonung des Steuerzahlers 79


Massenmord als Technik staatlicher Umverteilung

Insbesondere Leningrad muß verhungern 84


Annäherung an die Generation Kübelwagen

Im Dienste des Volkes 94


Der kleine Kaufrausch an der Heimatfront

Klassenversöhnung untm Galgen 97


Werner Höfer im Gefüge des Volksganzen

Ein Arbeitsunfall 101


Rassenkunde, Nebenerwerb und Versicherungsrecht

Planungssicherheit für den Holocaust 108


Hitlers Geheimrede vom 12. Dezember 1941

Eichmanns geregelte Behördenarbeit 114


Eine Rose auf das Grab von Bomber-Harris

Tadellose Luftschutzgemeinschaft 123


Walter Kempowskis Panoptikum vom Januar 1945

In reinen Arbeitergegenden 127


MPA, Zwergdackel Bübchen und der Ernst der Lage

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Ehrenbürger Bersarin 132
An Fritz II. vorbei, auf dem langen Weg nach Westen

Was, bitte, ist ein Sudetendeutscher? 135


Liebeserklärung an die Randlböhmen

Einmal für alle Zeiten Schluß machen 137


Der Völkermord an den Jugoslawiendeutschen

Wohin mit der Beute? 141


»Identität«, ein verschwiemelter Kampfbegriff

Kritisch, optimistisch und verlogen 145


Vom Nazi zur Stasi, ein Fachmann für Volksaufklärung

Von den tragenden Volkskräften isoliert 150


Rudolf Schottlaender oder die Verbreitung von Licht

Hitlers Volksstaat 160


Notiz zum Klassencharakter des Nationalsozialismus

Biobi bliographische Anmerkung 170

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Verdrängte Geschichte
Deutsche Vorkämpfer der Judenemanzipation

Im Jahr 1771 stellten die führenden Gelehrten Preußens mehrheitlich den


Antrag auf Aufnahme des Philosophen und ausdrücklich so bezeichneten
Juden Moses Mendelssohn in die Berliner Akademie der Wissenschaften.
Friedrich II., dem die Entscheidung zustand, lehnte ab. Gründe gab er nicht
an. Aber wo sonst im damaligen Europa findet sich eine vergleichbare
Initiative? In Zürich zum Beispiel war es »einem Beschnittenen«, wie
Mendelssohn sich mokierte, »nicht einmal vergönnt«, auch nur besuchsweise
in die Stadt zu gelangen.
Zehn Jahre später, 1781, wandten sich die Juden im französischen Elsass in
ihrer besonders bedrückten und verzweifelten Lage an Mendelssohn. Der gab
die Bitte um Beistand an seinen angesehenen christlichen Freund Christian
Wilhelm von Dohm weiter, und so entstand in Berlin die berühmte
Denkschrift »Über die bürgerliche Verbesserung der Juden«, die sich auf ein
einziges, damals in Europa kaum irgendwo akzeptiertes Argument stützte:
»Der Jude ist noch mehr Mensch als Jude.« Dohm leitete daraus die
politische Forderung nach der schrittweisen Emanzipation der Juden ab.
1787 berichtete Graf Mirabeau, der damals als freier Autor und bezahlter
Zuträger des französischen Hofs in Berlin lebte, seinem König über die
anhaltenden Bemühungen zur Judenemanzipation in Preußen. So fanden die
Ideen aus einer niederdeutschen, protestantisch geprägten Welt in Ludwig
XVI. einen Förderer, und nur deshalb veranstaltete die königliche
Gesellschaft für Wissenschaft und Künste im lothringischen Metz 1788 ein
Preisausschreiben zu der Frage: »Gibt es Mittel, die Juden glücklicher und
nützlicher in Frankreich zu machen?«
Die antijüdischen Äußerungen des späten Luther sind nicht zu bestreiten;
aber bedenkt man die zeitgleichen Dominikanerumtriebe gegen die
»Christusmörder«, die »Bluttribunale« gegen die Hebräer von Lissabon, dann
lässt sich damit nicht im Entferntesten ein protestantischdeutscher Sonderweg
begründen. Vor der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert finden sich keine
plausiblen Anhaltspunkte für ein Einschwenken der deutschen Entwicklung
in die annähernde Richtung Auschwitz. Deshalb beginnt die seriösere
Erklärung zur Vorgeschichte des Holocaust häufig mit der deutschen
Romantik, den antinapoleonischen Kriegen und dem demokratischen
Vormärz. Nach diesem Interpretationsmuster stand der teutonische Bluts-
und Sprachnationalismus gegen das westliche Leitbild der Verfassungs-
nation. Wo andere die universellen Menschenrechte und die bürgerlichen

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Freiheiten zu den Leitbildern der Moderne erhoben, turnten die Deutschen
unter der Anleitung von Friedrich Ludwig Jahn um ihre Volkseiche. Selbst
Heinrich von Kleist besuchte (ein- bis zweimal, sagen die Kleistforscher) die
Christlich-Germanische Tischgesellschaft, die satzungsgemäß »keine Juden,
keine Franzosen und keine Philister« duldete. Bald sangen, ja grölten
deutsche Demokraten »... soweit die deutsche Zunge klingt«. Ernst Moritz
Arndt - der in der Weimarer Republik, im Dritten Reich, in der DDR und in
der Bundesrepublik gleichermaßen Verehrung fand - warnte vor der
»Judensintflut« und vor der Assimilationspolitik, die das preußische
Emanzipationsedikt vom 11. März 1812 eingeleitet hatte, weil er»den
germanischen Stamm von fremdartigen Bestandteilen rein zu erhalten
wünsche«.
Ist der historische Fluchtpunkt auf diese Weise bestimmt, lässt sich eine
scheinbar gerade Linie zur Rampe von Auschwitz-Birkenau ziehen. Sie
verbindet die schwarz-rot-goldene Barrikadenseligkeit eines Richard Wagner
mit dessen so genanntem Erlösungsantisemitis mus (Saul Friedländer); sie
verbindet die südbadischen Hungerkrawalle der Achtundvierzigerzeit, die
sich gelegentlich auch gegen jüdische Händler und Geldverleiher richteten,
zwanglos mit dem Berliner Antisemitismus-Streit von 1879 und mit der
Sonderzählung deutscher Soldaten jüdischen Glaubens im Jahr 1916, mit der
eine (im Ergebnis nicht bestätigte) Drückebergerei aufgedeckt werden sollte.
Auf ein solches empirisches Fundament lässt sich dann der passende
politisch-theoretische Überbau setzen: Von Bismarcks gewaltsamer
Trennung der Begriffe Nation und Demokratie führte der Weg zur autoritär
vorgeprägten Volksgemeinschaft. Tausende Intellektuelle pflanzten ihr eine
aggressive Überheblichkeit ein, bald schon in Form des wissenschaftlich
geadelten, von höchsten Stellen geförderten Züchtungs- und Auslese-
gedankens. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges aggregierten sich die
schon geschaffenen politischen Elemente mit Aggression und Selbstmitleid,
den Faktoren der Niederlage, zu einer hochexplosiven Mischung. Daher bot
es sich Ende 1918 an, »die Juden als Blitzableiter zu benutzen«, wie damals
auf einer Vorstandssitzung des Alldeutschen Verbandes tatsächlich empfoh-
len wurde.
Ein solches, einmal konsensfähig gewordenes Geschichtsbild besorgt sich
seine Details von selbst. So unbestreitbar, so gründlich recherchiert die
Fakten im Einzelnen sein mögen, so wenig stimmen sie in der Summe - als
popularisiertes Geschichtsbild. Deutschland war vor 1933 kein besonders
judenfeindliches Land, das belegen Abertausende Dokumente. Und in ihrer
Gesamtheit verhielten sich die deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg
keinesfalls schlechter als die anderer Nationen. Einen arteigenen teutonischen
Blutdurst hat es nicht gegeben. Die großen, durch die Nachkriegskrisen und

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Bürgerkriege begünstigten Pogrome fanden nicht in Deutschland statt,
sondern in Polen, in der Ukraine, in Westungarn und in Rumänien. Und weil
das so war, erklärt die Geschichte vor 1918 im Hinblick auf den Holocaust
wenig. Inzwischen hat sich ein ahistorisches Ignorieren aller gegenläufigen
Tendenzen eingebürgert; auf einen binneneuropäischen Vergleich wird
weitgehend verzichtet.
Nehmen wir als Beispiel die nur noch Spezialisten geläufige
Menschenrechtspolitik des Kaiserreichs zugunsten der rumänischen Juden.
Auf französische Initiative - mit britischer Unterstützung, gegen russische
Einwände - erreichte Bismarck auf dem Berliner Kongress 1878, dass in die
Verfassung des fortan souveränen Staates Rumänien die Artikel 43 und 44
aufgenommen werden mussten. Wegen der regelmäßigen Pogrome nahmen
die europäischen Großmächte die Juden des Landes »als Gesamtheit in
Schutz«, und die beiden Artikel legten fest, dass »der Unterschied der
Religion und Confession niemandem gegenüber als Grund zur Aus-
schließung« von bürgerlichen Rechten, Berufen, Ehrenämtern und Gewerben
geltend gemacht werden dürfe. Im Sinne Bis marcks drängte Ernst von
Braunschweig, der deutsche Vizekonsul in Bukarest, auf die »beschleunigte
Lösung der Judenfrage« - eine damals positive Formulierung, die in ihrem
politischen Klang der Parole von der »Lösung der sozialen Frage« entsprach.
Der schwäbisch-jüdische Schriftsteller Berthold Auerbach schrieb über die
durch den Berliner Kongress international garantierte Emanzipation der
rumänischen Juden: »Wir waren sehr bewegt, wir hatten lange für die Sache
gekämpft, es ist eine Freude, daß der Erfolg ein so voller und schöner ist.«
Der Vorstand der Jüdischen Gemeinde zu Berlin bedankte sich »mit
freudigem Stolz auf die Großtat hin, die sich vollzogen hat in der Hauptstadt
Deutschlands, in einem Areopag, geleitet vom Kanzler des Deutschen
Reiches«.
Dieselben Regelungen traf der Kongress, der sich mit der staatlichen
Ausformu ng der Hinterlassenschaften der osmanischen Herrschaft
beschäftigte, für Serbien, Bulgarien und Griechenland. Allerdings ignorierte
das souveräne Rumänien die Verpflichtung. Die Bukarester Gesetzgeber
verkehrten die Auflage in ihr Gegenteil. Sie machten die Juden, denen die
Rechte bis dahin wegen ihrer Religion versagt worden waren, kurzerhand zu
»Fremden«, zu Ausländern. Die Pogrome hielten unvermindert an, und
Rumänien entwickelte ausgeklügelte antisemitische Gesetze und
Verwaltungstricks. Im Frühjahr 1907 berichtete der deutsche Gesandte
Alfred von Kiderlen-Waechter aus Bukarest mit deutlichem Entsetzen, es sei
charakteristisch, »daß Hand in Hand mit der agrarsozialistischen Bewegung
eine antisemitische Bewegung« gehe, und in Teilen der rumänischen

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Regierung und Verwaltung glaube man, die Unruhen »am besten durch
Hinweisung der Unzufriedenen auf die Juden« zu kanalisieren.
Im Ersten Weltkrieg kämpfte Rumänien auf der Seite der Entente gegen
Deutschland und Österreich-Ungarn. Doch gelang es den Mittelmächten
Anfang 1918, sowohl mit Russland als auch mit Rumänien zu zwei
Friedensschlüssen zu kommen, die Truppen für die westeuropäische und für
die italienische Front freisetzen sollten. Trotz der höchst angespannten
militärischen und innenpolitischen Lage setzten die Mittelmächte im
Separatfrieden mit Rumänien, dem Ende März 1918 paraphierten Bukarester
Frieden, die Artikel 27 und 28 durch. Aus den schlechten Erfahrungen der
vergangenen 40 Jahre erlegten sie dem besiegten Land abermals und
ausdrücklich die rechtliche Gleichstellung aller Religionsbekenntnisse auf
und die »Einbürgerung der staatenlosen Bevölkerung Rumäniens mit
Einschluß der dort bisher als Fremde angesehenen Juden«. Max Warburg
beglückwünschte den deutschen Verhandlungsführer, Staatssekretär Richard
von Kühlmann, herzlich; die rechte Presse in Deutschland warf ihm vor, er
habe sich den »alljüdischen Interessen« gebeugt und er verbittere mit »der
Aufnahme der Judenemanzipation in den rumänischen Friedensvertrag, die
Rumänen unnötigerweise gegen Deutschland«.*
In der hier kurz skizzierten Geschichte spielten selbstverständlich auch
ökonomische und politische Interessen eine Rolle. Gelegentlich finden sich in
den einschlägigen Aktenbänden des Auswärtigen Amtes Marginalien, die den
insgesamt erfreulichen Eindruck trüben. Am deutlichsten die von Kaiser
Wilhelm II., der am 9. April 1918 an den Rand eines wohlwollenden Artikels
der Berliner Börsen Zeitung über die Bedeutung der Bukarester Juden in
Handel und Bankwesen schrieb: »Blutsauger! die das Volk verderben!« Doch
erweist sich die kaiserliche Bemerkung als für die praktische Politik
unbedeutende Ausnahme, betrachtet man die gesamte einschlägige
Überlieferung.
Erzählt wird das deutsch-jüdisch-rumänische Kapitel heute kaum noch -
wohl deshalb, weil es in der allerorten zum weltanschaulichen Curriculum
vereinfachten deutschen Geschichte als unlogischer, gewissermaßen toter
Arm erscheint. Das Problem der Faktenselektion besteht nicht etwa darin,

* Wer sich für die spiegelverkehrte Nazi-Interpretation der Geschichte interessiert,


mag das 1938 in Leipzig erschienene Buch Die Judentrage in Rumänien lesen. Sein
Verfasser, Hans Schuster (1915-2002), erwarb damit den Doktortitel, arbeitete
anschließend an der deutschen Gesandtschaft in Bukarest und dann an der deutschen
Botschaft in Zagreb. 1948 trat er in die Redaktion der Süddeutschen Zeitung ein,
wurde dort 1960 Chef der Innenpolitik und von 1970-1976 Mitglied der
Chefredaktion.

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dass den Deutschen im Wege einer verengten Geschichtsschreibung zu viel
an historischer Schuld aufgebürdet würde. Es geht nicht um Entlastung, Ziel
der hier vorgetragenen historischen Fakten ist es allein, die einigermaßen
angemessene Beschreibung der geschichtlichen Elemente zu fördern, d ie zum
Holocaust führten. Wer sich dafür interessiert, merkt rasch, wie wenig
hilfreich die verbreiteten Formeln zur leichteren Ge schichtsbewältigung sein
können. Den Mord an den europäischen Juden wird nur begreifen, wer darin
auch die extrem radikalisierten Grundmuster des europäischen Nationalismus
im 20. Jahrhundert erkennt.
Es ist daher an der Zeit, die Begrenzung zu überschreiten, die den Blick auf
den nationalen Urgrund der Deutschen fixiert. Darin zeigt sich erstens eine
ins Negative verkehrte nationale Selbstüberschätzung und zweitens ein ganz
unangebrachter Optimismus. Wäre Auschwitz hauptsächlich auf das deutsche
Wesen zurückzuführen, dann müssten alle Konsequenzen in dem Augenblick
gezogen sein, in dem die (Re-)Zivilisierung der dann zu Recht so
bezeichneten Täternation als abgeschlossen gelten könnte. Das scheint heute
fast gelungen. Immerhin attestierte der Historiker Heinrich August Winkler
seinen Mitbürgern schon vor einigen Jahren die weitgehend erfolgreiche
»Ankunft« auf ihrem langen Weg nach Westen; schon vorher bemerkte der
Amerikaner Daniel Goldhagen über die heutigen Deutschen: »Sie sind wie
wir!«

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Wohltaten europäischer Gesittung
Ein rheinischer Fürst
im albanesischen Dornengarten

Am 7. März 1914 trafen Fürst Wilhelm I. und Fürstin Sophie, geborene


Prinzessin von Schönburg-Waldenburg, endlich im albanischen Durazzo
(Dürres) ein. Die Hafenstadt nahe Tirana war zur Hauptstadt des neuen
Fürstentums auserkoren. Das Herrscherpaar ließ mehr als tausend Kisten
entladen, Automobile und Waffen. Als recht eng und unbequem empfand
man den »Palast«, genannt Konak, eine rasch renovierte Kaserne. Zur
Entourage gehörten der Leibarzt Dr. Berghausen, der gerne mit den Herren
von der Presse plauderte, und Hofmarschall von Trotha, der infolge seines
verletzenden Verhaltens gegenüber den Albanern bald zurücktreten musste.
Doch zunächst ließ sich die Sache gut an. So berichtete der Handelsattache
des österreichisch-ungarischen Konsulats aus Durazzo: »Der Umbau und die
Einrichtung des fürstlichen Palais mit Anschluß einer elektrischen
Kraftanlage, die Errichtung mehrerer neuer Gebäude für fremde
diplomatische Vertretungen, für die Ministerien und Ämter, die Gründung
von Hotels etc. hoben die Einfuhr von Baumaterialien und Möbeln in
besonderem Maße.« Der Handel nahm für wenige Wochen »einen früher nie
geahnten Aufschwung«. Dank der Tatsache, »daß der neue Staat nach den
beiden Balkankriegen im Mittelpunkte des europäischen Interesses stand«,
strömten »Kaufleute, Journalisten etc.« in die Stadt. Hinzu kamen »die
zahlreichen Offiziere und Mannschaften des vor Durazzo liegenden interna-
tionalen Geschwaders«. So erfuhr »der Konsum von Esswaren, Getränken,
Zigaretten u. s. w. einen sehr bedeutenden Aufschwung«.
Wilhelm I. von Albanien, mit vollem Namen Wilhelm Friedrich Heinrich
Prinz zu Wied, war ein Vetter von Kaiser Wilhelm II. und gehörte zum
materiell etwas heruntergekommenen rheinischen Uradel. Wilhelm ließ sich -
so steht es im »Genealogischen Handbuch des deutschen Adels«, Band l - am
21. Februar 1914 von einer albanischen Delegation in Neuwied am Rhein die

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Krone des Fürstentums Albanien anbieten und akzeptierte, so war es zuvor
im Berliner Auswärtigen Amt nach langen Konsultationen zwischen den
Großmächten besprochen worden. Schon bald nach dem Beginn des Ersten
Weltkrieges, nach nur 184 Tagen seiner Herrschaft, verließ er am 3.
September 1914 das Land. Das geschah unter Vorbehalt seiner Rechte,
weswegen auch sein 1913 geborener Sohn Karl Viktor Wilhelm Friedrich
Ernst Günther Erbprin z von Albanien blieb. Das weitere Leben Wilhelms zu
Wied ist hier nicht von Interesse, er starb am 18. April 1945 in Predeal in
Rumänien, auf dem Schloss seiner königlichen Tante Elisabeth, als »vorm.
reg. Fürst von Albanien«.
Die Frage, warum nur Fürst, beantwortete das Berliner Tageblatt vom 20.
Februar 1914 mit dem bündigen Hinweis: »Das Albanische kennt
bekanntlich keinen Unterschied zwischen ›Fürst‹ und ›König‹.« Mehr spricht
jedoch für die weniger schmeichelhafte Erklä rung, der zufolge weder
Albanien noch der Fürst die Königswürde erhalten sollten. Beide erfreuten
sich einer besserwisserischen Missachtung durch Kaiser Wilhelm II. Ihm war
es, wie es in seinen Memoiren (Ereignisse und Gestalten) heißt, »überhaupt
unsympathisch, daß ein deutscher Fürst sich dort blamieren sollte«. Im Alltag
ließ sich Wilhelm I. von Albanien bescheiden als Hoheit anreden, nicht etwa
als Durchlaucht. Von Herrschaft kann man in seinem Fall ohnehin kaum
sprechen, eher von Anwesenheit. Sie dauerte 184 Tage.
Wie es zu der deutsch-albanischen Verwicklung gekommen war,
offenbaren die Akten, die sich im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes
in Berlin finden. Am 28. November 1912 hatte das albanische Volk seine
Unabhängigkeit proklamiert. Aber ähnlich wie in Mazedonien machten sich
im Süden, im Epirus, Griechenland und im Norden, im Kosovo, Serbien über
das Land her, um es gleichfalls einvernehmlich zu teilen. Auch Italien
verhielt sich keinesfalls friedfertig; Österreich-Ungarn betätigte sich als
Schutzmacht der wenigen albanischen Katholiken. So versammelten sich
1913 die Botschafter von Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich,
Italien, Russland und Großbritannien in London und beschlossen die
Schaffung Albaniens (»... ont pris en mains la creation de l'Etat Albanais«).
Dazu richtete die Staatengemeinschaft eine Kommission mit Sitz im
südalbanischen Valona (Vlore) ein, die sich mit allerhand »unerfreulichen
Nachrichten«, sprich: mit Massakern, befasste. In erster Linie mit solchen,
die damals griechische Freikorps und getarnte reguläre, nationalhellenistisch
indoktrinierte Armee-Einheiten an Albanern begingen. Die
Waffenstillstands-Vereinbarung zwischen Griechen und Albanern wurde seit
Dezember 1913 von holländischen Gendarmerie-Offizieren überwacht;
ursprünglich war Schweden für diese Aufgabe vorgesehen gewesen.
Vergeblich hatten die Zeitungen in Den Haag und Amsterdam vor einem

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solchen Abenteuer gewarnt, »das gefährlich werden« könne. Schon damals
wurde hinsichtlich ethnischer Streitfragen »das Mittel des Gebiets-
austausches« propagiert und immer und immer wieder die Schweiz als
Vorbild anempfohlen. Allerdings änderte das nur wenig daran, dass sich die
Griechen, wie der deutsche Gesandte in Athen mitteilte, weiterhin »gegen die
mohammedanische Bevölkerung die unerhörtesten Grausamkeiten haben zu
Schulden kommen lassen und die unglücklichen Mohammedaner in Massen
niedermetzelten«.
In Italien, dessen kleinimperiale, vergleichsweise menschenfreundliche
Gelüste mit Hilfe der internationalen Intervention ebenfalls im Zaum
gehalten werden sollten, versuchte man weiterhin Einfluss auf die
gegenüberliegende levantinische Küste zu erlangen. Das geschah, wie man in
Wien sofort und zu Recht argwöhnte, »unter dem Deckmantel
philanthropischer Sanitäts-Stationen«. Rom wollte sich zumindest in den
Besitz einer küstennahen albanischen Insel bringen, dort eine Marinebasis
errichten und auf diese Weise gegebenenfalls die gesamte österreichisch-
ungarische Kriegsflotte in der nördlichen Adria einsperren. Mit solchen
Gedanken im Hinterkopf sprach man auf dem Quirinal bedeutungsschwer
von der Notwendigkeit, Albanien, »diesem dunkelsten Winkel in Europa, die
Wohltaten europäischer Gesittung endlich zuteil werden« zu lassen.
Selbstverständlich sahen die Diplomaten am Wiener Ballhausplatz darin
nichts weiter als eine modische Umschreibung italienischen Machtstrebens.
In Italien selbst erhoben sich Gegenstimmen, weil ein »Eintreten in den
albanesischen Dornengarten« die Gefahr in sich berge, »mit der halben Welt
aneinander zu geraten und beträchtliche Streitkräfte für eine unbestimmte
Zeit festlegen zu müssen«. Insgesamt betrachtete man von Rom und Mailand
aus, wie II Secolo resümierte, die Angelegenheit als lockere Szenenfolge der
»komplizierten albanesischen Komödie«. Seine Hoheit Wilhelm L, Fürst von
Albanien, spielte darin keine vorteilhafte Rolle.
Schon zu Beginn lag die Sache nicht einfach. In St. Petersburg äußerte der
zuständige Minister Sazanow: »Die Schaffung eines selbständigen Albaniens
ist ein großer Fehler gewesen.« Vielmehr hätte man das Land, da »man es
nun einmal nicht zwischen Griechenland und Serbien habe teilen wollen,
unter türkischer Oberhoheit durch einen tüchtigen Pascha verwalten lassen
sollen«. Die Hohe Pforte in Konstantinopel protestierte gegen Wilhelms
Benennung zum künftigen Herrscher von Albanien mit den Worten: »Alle
Flotten der Welt werden die Bewegung nicht zu verhindern vermögen,
welche die Muselmanen Albaniens gegen einen christlichen Fürsten erfaßt
hat.« Aber London hatte sich für den Prinzen zu Wied begeistert, da er als
deutscher Protestant am besten die Meinung zerstreuen könne, Österreich-
Ungarn und Italien würden Sonderstellungen in Albanien eingeräumt. Am

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27. Januar 1914 stöhnte Kaiser Franz Joseph I. in Wien gelegentlich einer
Hof-Galatafe l zu Ehren des Geburtstags seines kaiserlichen Kollegen in
Berlin: »Albanien ist eine schwere Geburt, und das Kind wird gewiß noch
viel Sorge machen.« Und weiter berichtete der deutsche Gesandte über die
Allerhöchsten Ansichten: »Es gäbe eben viele Leute, die das Kind nicht
lebensfähig erhalten möchten. Bedauerlich sei das Zögern des Prinzen Wied.
Er, der Kaiser, hätte eigentlich den Herzog von Urach lieber auf dem
albanischen Thron gesehen. Dieser habe selbst eine große Passion für diese
Mission gehabt und sei ein entschlossener, tatkräftiger Mann. Dessen
Kandidatur habe aber Italien nicht haben wollen. Wie die Dinge lägen, müsse
man aber nun an dem Prinzen Wied festhalten.«
Drei Tage später, in der Nacht vom 30. Januar 1914, war der
österreichisch-ungarische Kreuzer Panther vor Durazzo erschienen, an Bord
der englische und der deutsche Konsul. Sie setzten mittels einer
Dampfbarkasse über und stellten ein Ultimatum an Essad Pascha – einen
schon siebzigjährigen, in Mittelalbanien respektierten Honoratioren. Der
beugte sich, jedoch unter der Bedingung, dass er, »damit sein Ansehen und
seine Ehre gewahrt würden, an der Spitze der Deputation stehen« werde, »die
dem Prinzen zu Wied die albanische Krone anbieten soll«. So wurde Essad
Pascha umgehend nach Neuwied expediert, um dort dem Prinzen die
albanische Krone anzutragen.
Am 6. Februar 1914 zeigte sich der zögerliche Prinz zu Wied, nachdem
ihm zuvor 10 Millionen Francs Vorschuss zugesagt worden waren, die aus
einer für die Gründung des Fürstentums aufgelegten, von der internationalen
Staatengemeinschaft garantierten Anleihe von 75 Millionen Francs für einen
albanischen Staatshaushalt stammten, intern zur Thronbesteigung bereit und
teilte ebenso unöffentlich wie vage mit, er werde sich »demnächst« nach
Albanien begeben. In einem Gutachten hatte ihm ein k. u. k. Hauptmann
Ulmanski am 2. Februar eine »geordnete, kraftvolle und gerechte Herrschaft«
empfohlen. Fehle es gegenüber den Albanesen an der gebotenen
»Machtäußerung«, dann »dürfte ihr Gehorsam ausbleiben«. Auch die
Bayerische Staatszeitung wünschte dem frisch gebackenen Albaner-Fürsten
nur das Beste: »Wenn es seiner Energie gelingt, gleich den anderen
deutschen Fürstensprossen in Rumänien, Griechenland, Bulgarien, in
Albanien die Kultur einzuführen und das Land als einen gleichberechtigten
Faktor in die Reihen der Balkanstaaten einzufügen, dann hat er nicht nur
Albanien, sondern Europa einen großen Friedensdienst geleistet.«
Sehr viel skeptischer beurteilte Kaiser Wilhelm II. das deutsche
Engagement, das er dennoch zuließ und förderte. Auf einem Bericht der
Kaiserlichen Gesandtschaft in Athen, in dem die griechische Ansicht
wiedergegeben wurde, »die Albaner seien eben einmal ihrer großen Mehrzahl

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nach Räuber«, notierte Majestät: »Der klarste Beweis für den
verbrecherischsten Leichtsinn, um nicht zu sagen Unsinn von Wien und
Rom, aus diesen Elementen einen Culturstaat zusammenzimmern zu wollen!
Das wird ein böses Ende nehmen!« Dem Blatt vorgeheftet findet sich in den
Akten der übliche Vordruck: »Bemerkungen Seiner Majestät auf Seite...«
Kaiser Wilhelm II. tat sich gerne als Albanienexperte hervor, ordnete an, dass
ihm sämtliche Depeschen und Berichte vorzulegen seien, die sich auf
Albanien bezogen, und kommentierte sie mit zumeist ungespitztem Bleistift.
Solchem Pessimismus zum Trotz setzte Fürst Wilhelm I. sofort nach seiner
Ankunft im März eine albanische Verfassung mit mehr als zweihundert
Paragraphen in Kraft und ernannte den ersten Ministerpräsidenten, Turkhan
Pascha, der allerdings wegen seiner vielen Auslandsreisen in der Berliner
Wilhelmstraße bald den Eindruck erweckte, »als ob er als ›Ratte‹ das
sinkende Schiff verlasse und ein neues Unglück ahne«. Tatsächlich brach
bereits Mitte Mai der Aufstand los - mit muslimischer Ideologie, aber mit
Geld, das aus den christlichen Hauptstädten Belgrad und Athen kam.
Zumindest für Belgrad lieferten Krupp und Skoda die Waffen.
Die deutschen Verantwortlichen in Durazzo versuchten sofort, die Gründe
für die Rebellion herauszufinden, doch ohne Erfolg: »Wenn man die Leute
fragt, wozu sie sich zusammengetan hätten, antworten sie, sie machten
Revolution. Über den Grund der Revolution äußern sie sich verschieden.« In
Berlin schrieb der Kaiser dazu an den Rand: »übliche Alban. Beschäftigung«.
Zu der Mitteilung, dass die albanische Bevölkerung an dem neuen Herrscher
die landesüblichen »Beweise namentlich seiner Freigiebigkeit« vermisse,
merkte er zufrieden an: »aha! Habe ich ihm nahegelegt.« Im Hinblick auf die
bald presse- und aktenkundigen Startschwierigkeiten des Fürsten von
Albanien riet er: »Man soll doch bloß mal, wie wir jetzt auf der Reise, sich
dieses Bergland ansehen, um klar zu werden, daß eigentlich vorläufig dort
überhaupt nichts zu ›machen‹ ist.« »Wir«, also Kaiser Wilhelm II. Höchst
Ihro selbst, reiste Anfang April 1914 von Venedig nach Corfu, weil er die
Dinge »aus nächster Nähe studieren« und so einen »Weg zur Verständigung
und zur endgültigen Lösung des epirotisch-albanischen Problems finden«
wollte, Er benutzte dafür S. M. S. Hohenzollern. Die diplomatischen Berichte
von Bord des kaiserlichen Dampfers tragen den roten Stempelaufdruck »aus
dem Hoflager«.
Als man sich in Rom über den »Mangel an Energie und Entschluß-
fähigkeit« des Fürsten von Albanien belustigte und bereits nach 14 Tagen
seiner Regentschaft prognostizierte, »daß die Dinge kein gutes Ende
nähmen«, notierte der Kaiser herzlos an den Rand des Berichts: »wundert
mich nicht«. Offiziell ließ er ihm freilich mitteilen: »Der Fürst möge

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überzeugt sein, daß Seine Majestät sich auf das Wohlwollendste für ihn und
sein Land interessiere.«
Am albanischen Aufstand änderte das nichts. Immerhin begab sich der
gelernte Offizier Fürst Wilhelm I. selbst in die Kampfzone und »exponierte
sich bei den Gefechten« derart, dass ihn seine Umgebung um größere
Vorsicht bat. Er schlug zunächst vor, rumänische Truppen nach Albanien zu
holen und auf diese Weise Ordnung zu schaffen. Dann rekrutierte er
albanische Truppen, geführt von Essad Pascha. Die ließen sich den Sold
auszahlen, verschwanden in die Berge und wurden selbst zu Rebellen. In
seiner Not initiierte Wilhelm die Gründung von Büros zur Anwerbung von
»Freiwilligen« in Wien und Berlin. Einige davon trafen tatsächlich in
Durazzo ein und »brachten noch eine kleine Belebung in das
Geschäftsleben«. Da eine solche Söldnerwerbung nach deutschem und
österreichischem Recht jedoch streng verboten war, führte die hilflos-hastige
Initiative des Fürsten sofort zum öffentlichen Skandal. Verschreckt ließ
Wilhelm I. alsbald verbreiten, er sei gegen eine solche Fremdenlegion,
vielmehr wolle er sich der »Organisation einer regulären Eingeborenen-
Truppe zuwenden«. Die suchte er in Gestalt von 12 000 Malissoren- und
Mirditenkriegern zu finden, gewissermaßen einer Art albanischer Bayern, die
im Hochland lebten, eigentümliche Sitten pflegten und auf den Rest der
Albaner leicht verächtlich herabblickten.
Das aber rief den Vertreter des Auswärtigen Amtes, Legationsrat Rudolf
Nadolny, auf den Plan: »Die Regierung kann Gendarmen anwerben oder
Truppen ausheben, aber einen Volksstamm gegen den anderen ins Feld
führen, das heißt den Bürgerkrieg sanktionieren.« Überhaupt macht Nadolny
nach den regelmäßigen Lageberichten, die er aus Albanien nach Berlin
sandte, einen äußerst ruhigen und verantwortungsbewussten Eindruck. Später
stützte er Reichspräsident Ebert und wurde 1934 vorzeitig in den Ruhestand
versetzt. Nadolny war begeisterter Hobbyfotograf, seinem Albanienalbum
aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes verdankt sich die hier
abgebildete Fotografie von Wilhelms Regentschaft in Albanien. Nach seinen
ersten Fehlgriffen entwickelte Fürst Wilhelm die Idee, Oberst Thomson,
einen Offizier der niederländischen Friedenstruppe, zum Chef seiner
Gendarmerie zu machen. Das gelang, doch bald schon fiel der »sehr
tatkräftige« und »außerordentlich bewährte« Mann aus Groningen im Kampf
gegen die Rebellen - ein Ereignis, das ganz Holland erschütterte. So wurde
Thomsons Leichnam in die Heimat verschifft und dort, unter gewaltiger
öffentlicher Anteilnahme, auf einer Eisenbahnlafette quer durch die Nieder-
lande gefahren. Königin Wilhelmina gab »in eindrucksvollen Worten dem
Stolze der Niederländer Ausdruck«.

18
»Spaziergang in Albanien des Herrscherpaares: Fürst und Fürstin v. Wied.« Das Foto
ist dem Albanien-Album des damaligen Vertreters des Auswärtigen Amtes in
Durazzo, Legationsrat Rudolf Nadolny, entnommen. Das Album wird im Politischen
Archiv des Auswärtigen Amts verwahrt.

Derweil machten sich die politischen Kreise in Wien lustig: »Tatsache ist,
daß Fürst Wilhelm nicht über einen Büchsenschuß weit von den Toren seiner
Hauptstadt irgendwelche Macht ausübt.« Man nannte ihn unpopulär und
unfähig. Das Deutsche Volksblatt in Wien kommentierte am 7. Juli 1914:
»Es war ein Verbrechen, einen unerfahrenen Prinzen an die Spitze eines
Staates zu stellen, der noch nicht einmal auf dem Papier fertig war.« Nur
erschienen auch die Alternativen nicht rosig: »Geht der Fürst aber, so
bedeutet das erst recht neue Wirren.« Schließlich entsandte die kaiserliche
Kriegsmarine den Kreuzer Breslau nach Durazzo. Am 11. Juli 1914
räsonierte die Rheinisch-Westfälische Zeitung: »Vor wem sollten die
Rebellen etwa Furcht haben? Vor den feigen Gesellen, die außer den
holländischen und deutschen Soldaten dem Fürsten die Sicherheit verbürgen?
Oder vor den Marinesoldaten? Die Überlegenheit der Aufständischen ist viel
zu groß, als daß ihnen ein ernsthafter Widerstand geleistet werden könnte.«
In Belgrad freute man sich, so der Kaiserliche Gesandte, »daß seit dem
Abzug der serbischen Truppen in Albanien völlige Anarchie herrsche und es
Europa nicht gelinge, ein geordnetes Staatswesen zu schaffen«.
Am 17. Juli telegraphierte der Vertreter des Auswärtigen Amtes an Bord
der Breslau nach Berlin: »Fürst fragt mich immer häufiger und dringender
nach meiner privaten Ansicht, ob er das Land verlassen und die Krone

19
niederlegen soll?« Einen Tag später wandte sich der Fürst über den
Staatssekretär im Auswärtigen Amt resigniert und resignationsbereit an
seinen Vetter Kaiser Wilhelm II. Der bemerkte am Rande des Gesuchs mit
hartem Sarkasmus: »Sehr schmeichelhaft für den Fürsten! Eine stärkere
Verurtheilung seiner Schlappheit nicht denkbar.«
Am 3. September 1914 flohen Wilhelm und Sophie samt Hofstaat Hals
über Kopf. Zwei Tage später marschierte Essad Pascha wieder in Durazzo ein
und hielt dort vor dem verwaisten Palais des Fürsten zu Wied eine Rede, die
aus diplomatischen Quellen komplett überliefert und vom österreichisch-
ungarischen Geschäftsträger zusammengefasst worden ist: Essad halte
neuerdings, »im Gegensatze zu früheren Äußerungen, das Schlagwort vom
Islam und vom mohammedanischen Fürsten für das wirkungsvollste«. Die
Pointe, die auch andere zeitgenössische Quellen bestätigen, war die: Nach der
wohl begründeten Ansicht der Hohen Pforte in Konstantinopel agierte Essad
als politischer Gelegenheitsmohammedaner, ferngesteuert von Belgrad und
»vollkommen in serbischen Händen«.
Der Erste Weltkrieg verlief für Albanien vergleichsweise unblutig. Mal
besetzte die eine, mal die andere Kriegspartei kampflos Teile des
unwegsamen Landes und verbesserte die Infrastruktur. Zugleich erörterten
beide Seiten die gegensätzlichsten Aufteilungen und Annexionen Albaniens
nach einem jeweils angenommenen Sieg. Nur Fürst Wilhelm I. erhob
dagegen 1917 seine Stimme - in einer nicht für die Öffentlichkeit bestimmten
»Denkschrift über Albanien«: »Im Namen der Albaner und im Namen der
Gerechtigkeit muß ich die Wiederherstellung meines selbständigen,
souveränen und erblichen Fürstentums fordern.«

20
Dafür wird die Welt büßen
Ethnische »Säuberung«, ein europäischer Irrweg

So ethnisch »rein« wie heute war Europa zuvor nie. Seit dem Abschluss der
Konvention von Lausanne, die 1923 den obligatorischen Austausch der
jeweiligen griechisch-orthodoxen und mohammedanischen Minderheit
zwischen der Türkei und Griechenland regelte, wurden in Europa mehr als 40
Millionen Menschen nach ethnischen, religiösen oder sprachlichen Kriterien
zwangsweise umgesiedelt. Mit den einzelnen Umsiedlergruppen wurde sehr
unterschiedlich verfahren. Unrecht geschah allen.
Erst nach 1990, angesichts des Krieges im ehemaligen Jugoslawien, ließen
die französischen Behörden das Elsässische als Unterrichtssprache zu.
Widerwillig - aber sie taten es - erinnerten sich die Polen jener 250000
Ukrainer, die sie 1946/47 vom Bug an die Oder verschleppt und entlang der
neuen Westgrenze »zerstreut« hatten, die ihrer Sprache, ihrer Schrift und
ihrer Kirchen beraubt, also gewaltsam »polonisiert« worden waren. Plötzlich
erschienen die vor nur zwei Generationen deportierten Völker wieder: die
Krimtataren, Karelier, Tschetschenen oder Wolgadeutschen. Langsam kehrte
eine Vorstellung davon zurück, auf welche Weise zum Beispiel Lemberg,
eine der schönsten Städte Europas, im Verlauf weniger Jahre ruiniert worden
war, und zwar im multinationalen Zusammenspiel: 1939/40 zogen die
Deutschen gemäß dem geheimen - zwischen Ribbentrop und Molotow
vereinbarten - Umsiedlungsprotokoll aus; 1941/42 folgte im Zeichen
deutscher Herrschaft der Mord an den Juden der Stadt; 1945/46 der Exodus
der Polen und dann die Einsiedlung nicht etwa von ortsnahen, bäuerlichen
Ukrainern, sondern vorzugsweise von Russen. Vergleichbares gilt für Riga
oder Wilna, für Czernowitz oder Brunn, für Thessaloniki oder Klausenburg.
Infolge des Potsdamer Abkommens verloren mehr als 20 Millionen
Menschen ihre Heimat, wurden zwangsweise umgesiedelt: nicht nur von den
Sudeten in die Schwäbische Alb, von Königsberg nach Gelle, auch aus
Siebenbürgen in die Puszta, aus Lemberg nach Breslau, aus Grodno nach
Stettin, aus Fiume nach Triest. In den ungezählten Trecks der Jahre 1944 bis
1948 mussten jene 32 000 »Volkstschechen« mitziehen, deren Vorfahren
Katharina II. (neben anderen) als Kolonisten nach Russland geholt hatte. Sie
wurden jäh in die ehemals deutschen Gehöfte Westmährens verfrachtet.
Plötzlich kehrten wieder einige zehntausend Ingermanländer - eine finnisch-

21
ugrische Minderheit, seit alters in der Region St. Petersburg ansässig - aus
dem geschichtlichen Nichts zurück. Die Agrarpolitik Stalins hatte sie zum
Teil schon 1930/31 in den Fernen Osten Russlands deportiert, 1941 flohen
nicht wenige nach Finnland, die restlichen wurden 1943/44 - beim Rückzug
der Wehrmacht - dorthin transportiert. 1945 wurden sie, wie man sich damals
ausdrückte, in die UdSSR »repatriiert«: zur Petschora, einem Fluss 2000
Kilometer nordöstlich ihrer alten Heimat, der weit hinter dem Polarkreis ins
Eismeer mündet. Jeder Dritte starb auf dem Weg dorthin.
Massenvertreibungen setzen sich aus den Schicksalen einzelner Menschen
zusammen: Michael T, Jude aus Tarnopol, wurde als Sechsjähriger vor den
Deutschen versteckt, die Familie polonisierte sich zur Tarnung und überlebte.
Sie wurde, wie alle Polen der Region, 1946 nach Beuthen (Bytom)
umgesiedelt, aber dort nach zwei Jahren als jüdische Familie identifiziert. Die
Behörden bedeuteten dem Vater, er, seine Frau und seine Kinder hätten sich
die Umsiedlung erschlichen. Also mussten die T. s verschwinden. Ihr Weg
führte über Österreich nach Kanada. Michael T. ist heute emeritierter
Professor in San Francisco, seiner »Heimat«, wie er glücklich und in bestem
Deutsch zu sagen pflegt, das er als DP in Linz an der Realschule lernte, die
auch Hitler besucht hatte.
Wladimir N. wurde 1943 als Zwölfjähriger aus Südrussland nach Sachsen
verschleppt, weil Himmlers Rasseprüfer seine Wolgadeutsche Großmutter
entdeckt, ihn als »rückdeutschungsfähig« eingestuft und ihm daher die
deutsche Staatsbürgerschaft auf Widerruf verliehen hatten. Sowjetische
Geheimpolizisten verhafteten N. 1946 in Leipzig und »repatriierten« ihn nach
Sibirien. Seit 1990 leben N. und seine gleichfalls russische Frau in Berlin -
zwei Deutsche im Sinne des Grundgesetzes, gebrochen und entwurzelt.
Das Potsdamer Abkommen regelte einerseits die Repatriierung, und
andererseits hieß es in Artikel XIII knapp, dass »die Überführung der
deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen,
Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland
durchgeführt werden muß«. Die Vertreibung der Deutschen schuf den
Spielraum dafür, »den Gürtel der gemischten Bevölkerung« in Mittel- und
Ostmitteleuropa »zu entmischen«. All das folgte nicht den verständlichen
Hassausbrüchen der durch Deutschland barbarisch unterdrückten Völker,
»sondern«, wie Hannah Arendt kommentierte, »dem sorgfältig
ausgearbeiteten Plan der Großmächte«.
Dennoch gilt für das Potsdamer Abkommen und für die in den Jahren
zuvor zwischen den Alliierten geführten Verhandlungen zu den Themen
»Grenzziehung« und »nationale Entflechtung«: Sie waren in hohem Maß
Folge des von Deutschland entfesselten Krieges und insofern reaktiv. So

22
erfüllte sich, was der sudetendeutsche Sozialdemokrat Johann Wolfgang
Brügel im Dezember 1939 vorausgesagt hatte, als er die damals aktuelle
Umsiedlung der 60000 Deutschbalten analysierte: »Inzwischen gehen die
Projekte, alle Schwierigkeiten dieser Welt durch Zwangsdeportationen dieses
oder jenen Volkes zu lösen, weiter. Böse Beispiele«, so fuhr Brügel in der
Pariser Exilzeitschrift Der Sozialistische Kampf fort, »verderben bessere
Sitten. Schon taucht in französischen Rechtsblättern (siehe L'Epoque vom 19.
September 1939) der Gedanke auf, Tschechen und Polen mögen nach dem
Zusammenbruch der deutschen Zwangsherrschaft ihr früheres Staatsgebiet
zurückerhalten, aber gereinigt von irgendwelchen nationalen Minderheiten:
›Es wird notwendig sein, eine massenhafte und vollkommene Austreibung
von Elementen einer fremden Minderheit durchzuführen.‹ Es scheint, daß das
deutsche Volk die Geister, die der Nationalsozialismus gerufen hat, nicht
mehr loswerden soll.«
Die Vertreter der westlichen Alliierten reagierten allerdings nicht allein auf
den rassistischen Terror, den die Deutschen entfesselt hatten, sie erhofften
sich mit dem Potsdamer Abkommen auch die nachholende ethnische
Korrektur der Pariser Friedensordnung von 1919/20. Damals hatten die
Sieger des Ersten Weltkrieges das Modell des französischen Nationalstaats
auf die östlichen und südöstlichen Regionen Europas übertragen und 20 000
Kilometer neuer Staatsgrenzen in Europa fixiert. Unter macht- und
bündnispolitischen Gesichtspunkten hatten sie Mehrheitsvölker privilegiert.
Den Minderheiten garantierten sie einerseits, wenn auch halbherzig,
internationalen Schutz, andererseits förderten sie die freiwillige
Auswanderung in den Staat ihrer Nationalität. Das Experiment verlief
unglücklich. Plötzlich gab es Minderheiten, für die sich niemand zuständig
fühlte, allen voran die Juden. Wünsche nach Grenzrevisionen, ir-
redentistisch-nationale Bewegungen, Streitigkeiten, deren Verbissenheit
schon den Versuch zum gerechten Ausgleich fast aussichtslos erscheinen
ließ, beherrschten die beiden folgenden Jahrzehnte. Sie wurden periodisch
verschärft infolge raschen Bevölkerungszuwachses und schier unun-
terbrochener ökonomisch-politischer Krisen. Gleichzeitig reduzierten sich die
Möglichkeiten der Binnen- wie der Außenmigration bis zur Unmöglichkeit.
Erstere schwand infolge der neuen Grenzen, die eine Binnenwanderung von
Kattowitz ins Ruhrgebiet oder von Krakau nach Triest unterbanden, letztere
infolge der Einwanderungsrestriktionen, die 1922/24 in allen klassischen
Immigrationsländern in Übersee ergingen, weil sich angesichts der
Industrialisierung der Landwirtschaft dort das Gefühl einstellte, das Boot sei
voll. Beide Einschränkungen trugen dazu bei, den Nationalismus im Inneren
der neu gegründeten Staaten zu radikalisieren. Die Begriffe »Polonisierung«,
»Magyarisierung«, »Romanisierung«, die die rechtliche Benachteiligung von

23
Minderheiten zugunsten des seinerzeit so genannten Wirtsvolkes
beinhalteten, wurden ein Jahrzehnt vor der berüchtigten »Arisierung«
erfunden. An die Stelle der von Wirtschaftskrisen und -gefallen bewirkten
»natürlichen« Migration rückte die Vorstellung von der ethnisch
differenzierenden »Wanderung in der Hand des Staates«.
Winston Churchill schöpfte aus geschichtlicher Erfahrung, als er im
Dezember 1944 vor dem britischen Unterhaus argumentierte: »Die nach
unserem Ermessen befriedigendste und dauerhafteste Methode ist die
Vertreibung. Sie wird die Vermischung von Bevölkerungen abschaffen, die
zu endlosen Schwierigkeiten führt...» Churchill und auch Roosevelt
rechtfertigten ihren Optimismus mit dem Hinweis auf das »in vieler Hinsicht
erfolgreiche Abkommen von Lausanne«. Die Konvention war am 30. Januar
1923 unter Vermittlung des Völkerbundes zustande gekommen und
kodifizierte - nach einem elfjährigen Krieg - den so genannten
Bevölkerungsaustausch zwischen der Türkei und Griechenland. Sie hatte die
»Entmischung« von Menschen zweier Völker zum Ziel, auch wenn sie
Ausnahmen für die Griechen Konstantinopels und die Türken Westthrakiens
festlegte. Unter dem maßgeblichen Einfluss des Flüchtlingskommissars
Fridtjof Nansen, zu dessen engsten Mitarbeitern Vidkun Quisling gehörte,
hatten die versammelten Diplomaten nach schier endlosem Zögern
schließlich doch Entschlossenheit gezeigt und - die Situation lässt sich nach
den Jugoslawien-Kriegen wieder nachempfinden - auf eine rasche
»endgültige Friedensregelung« gesetzt.
Die Initiatoren stimmten darin überein, dass »das zweifellos damit
verbundene Leid durch den Vorteil wettgemacht würde, der beiden Ländern
letztendlich aus einer größeren Homogenität der Bevölkerung und der
Beseitigung alter und tiefwurzelnder Streitfragen erwachsen dürfte«.
Griechenland zählte zu jener Zeit fünf Millionen Einwohner. Nun hatte das
Land 1,5 Millionen Flüchtlinge und Zwangsumsiedler aus Kleinasien aufzu-
nehmen: 300 000 starben in den Lagern an Hunger und Seuchen, bevor die
Hilfslieferungen Nansens eintrafen, von zehn Geflohenen waren acht Frauen
und Kinder, die Männer einer ganzen Generation im Krieg waren gefallen -
einem Krieg übrigens, der ein griechischer, von Großbritannien unterstützter
Angriffskrieg gewesen war. Im Gegenzug wurden 350000 Türken -
insbesondere aus Nordgriechenland - in jene Städte und Dörfer an der Küste
Kleinasiens transferiert, in denen seit mehr als zweieinhalb Jahrtausenden
Griechen gelebt hatten. Da das Kriterium der Religion galt, mussten 20 000
so genannte Kretatürken - moslemisierte Griechen, die kein Wort Türkisch
sprachen - ihre Heimat verlassen. Dasselbe galt für mehrere Zehntausend
moslemischer Albaner im Norden des Landes. Aus Menschen, die über
Jahrhunderte nach Berufen und Wohnvierteln, Traditionen und Religionen

24
differenziert gelebt, und, wenn auch nicht ohne Streit, doch die
wirtschaftlichen und politischen Belange ihrer Regionen gemeinsam
organisiert hatten, waren Objekte moderner Nationalstaaten geworden.
Eine gemischte Kommission, der neutrale Mandatare des Völkerbunds
angehörten, überwachte den Austausch. Sie beschäftigte sich mit Fällen wie
beispielsweise dem der Witwe W. und ihrer Kinder: Die Familie ihres
Mannes war vor dem Übertritt zum Islam jüdisch gewesen, sie selbst
väterlicherseits mohammedanisierter griechischer, mütterlicherseits alba-
nischer Abstammung. War sie zu Recht ausgesiedelt worden? Nansen
erwirkte, dass der Völkerbund 14 Millionen englische Pfund zur Ansiedlung
der vertriebenen Griechen gewährte. Er ließ Siedlungen bauen, Arbeitsplätze
schaffen, Ödland urbar machen. »Was ursprünglich den Anschein hatte, ein
Unglück für das Land zu werden«, resümierte er, »ist so in einen glänzenden
Erfolg verwandelt worden.« Die Griechen siedelten die Vertriebenen im
Norden an, um das Land zu »hellenisieren«; die Türken, die größere, intakte
Wohngebiete wieder auffüllen wollten, begannen, viele zehntausend
Muslime aus Rumänien, Bulgarien und Jugoslawien »heimzuholen«. Das
Programm des Renationalisierens hält bis heute an - auch in Griechenland,
wo das Nationale Institut für Aufnahme und Niederlassung griechischer
Auswanderer und Rückkehrer in den letzten Jahren mehr als 50000 pontische
Griechen ansiedelte.
An der Konferenz von Lausanne hatten Vertreter Großbritanniens,
Frankreichs, Italiens und der europäischen Anliegerstaaten teilgenommen.
Alle stimmten zu - mit einer Ausnahme: Der Washingtoner Delegierte lehnte
den Vertrag mit Nachdruck ab, da er der Verfassung seines Landes
fundamental zuwiderlaufe . Der britische Außenminister, Lord Curzon,
stimmte ihm zu mit der Bemerkung, es handle sich um eine »durch und durch
schlechte und verwerfliche Lösung, für die die Welt in den nächsten hundert
Jahren schwer büßen« werde. Dem vorgezogenen Abkommen über den
Bevölkerungsaustausch folgte im Sommer 1923 der griechisch-türkische
Friede von Lausanne, der den von Sevres aus dem Jahr 1920 aufhob und
damit das gesamte Pariser Friedenswerk dem Revisionismus zur Disposition
stellte.
Nur nebenbei: Die in Sevres noch garantierte Autonomie der kurdischen
Minderheit wurde mit dem neuen Friedensvertrag annulliert - entsprechend
der gerade angewandten Maxime Eine Religion - ein Volk. (Die türkische
Delegation hatte sich gegenüber den westlichen Verhandlungsführern
geweigert, den für sie völlig inhaltsleeren europäischen Begriff »Rasse« zu
akzeptieren und als Grundlage des Minderheitenschutzes anzuerkennen.)

25
Das Programm der ethnischen Entflechtung, verbunden mit nationaler und
sozialer Homogenisierung, fand in Europa die verschiedensten Anhänger.
Bereits 1918/19 hatte Frankreich die Bevölkerung des wiedergewonnenen
Elsass in vier Gruppen sortiert: in Voll-, Dreiviertel- und Halbfranzosen
sowie Deutsche. Auf dieser Grundlage wurden den einzelnen Elsässern die
Bürgerrechte gewährt, beschränkt oder entzogen - im letzteren Fall die
Vertreibung über die Rheinbrücke verfügt. Mit der Deportation der Kulaken,
denen bald nationale Minderheiten und ganze »bestrafte« Völker folgten,
beteiligte sich auch die Sowjetunion seit den frühen 1930er Jahren am
europäischen Projekt der »Homogenisierung«. Aus antibolschewistischer und
doch kongenialer Richtung äußerte der feudal-konservative ungarische
Reichsverweser Miklós Horthy bereits 1934 gegenüber dem polnischen
General Pilsudski, was er nach einem von ihm erwarteten Zerfall der
Sowjetunion für ratsam hielt: »Um für ewige Zeiten dann Ruhe und
Zufriedenheit zu schaffen, kann man die Bevölkerungen verschiedener
Gegenden und Nationalitäten vertauschen.«
Im Jahr 1939 reagierte er - für seine Begriffe ungewöhnlich freundlich - auf
Hitlers Umsiedlungsprogramm: »Ihre Absicht, die deutschen Minderheiten in
ihre Urheimat umzusiedeln, regelt eine Menge Fragen, verhütet Reibungen
und es sollte dieser ausgezeichnete Gedanke auf andere Minderheiten
Anwendung finden.« Mitte Mai 1944, als die Deportation der ungarischen
Juden gerade begonnen hatte, äußerte Horthy gesprächsweise: »Nach dem
Krieg müsse jede fremde Rasse, ob Jude, Rumäne, Serbe oder Deutscher, das
Land verlassen, die Ungarn müßten und wollten wieder Herren im Lande
sein.«
Offen auf die Lausanner Konferenz berief sich 1939 Edvard Beneš,
Präsident der tschechoslowakischen Exilregierung in London. Besonders in
Mitteleuropa, so argumentierte er, sei es im Jahr 1918 nicht möglich
gewesen, »Staaten zu errichten, die national und sprachlich gleichartig waren,
es sei denn, daß man eine Umsiedlung vorgenommen hätte«. Dieser Ausweg
sei damals zwar »von dem französischen Soziologen Bernhard Lavergne
vorgeschlagen«, aber abgelehnt worden, »weil er scheinbar im Gegensatz zu
den idealistischen Neigungen stand, die die Pläne eines neuen Europas 1919
beherrschten«. Benes plädierte für die zwangsweise ethnische Entmischung,
zunächst im Sinne eines wechselseitigen Bevölkerungs- und Gebietsaus-
gleichs. Er vertrat die Überzeugung, dass dieser Weg auch zur Entwicklung
funktionsfähiger Demokratien in Ostmitteleuropa führen würde. Seine
Bereitschaft zum Kompromiss schwand in dem Maß, wie Kriegsführung und
Besatzungsherrschaft der Deutschen blutiger wurden.
Der gelernte Nationalökonom und Soziologe hatte von 1918 bis 1938 als
Außenminister, zuletzt als Staatspräsident der Tschechoslowakei amtiert. Er

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gehörte zur Führungsspitze des Staates, der in den 20er und 30er Jahren eine
zwar nicht großzügige, aber - gemessen an den anderen neu gebildeten
Staaten - doch duldsame Minderheitenpolitik betrieb. Ein Staat auch, der
demokratisch blieb, obwohl sich alle Nachbarn mit totalitären oder doch
wenigstens autoritär-halbdiktatorischen Regimen einrichteten.
Mussolini hatte nicht ganz Unrecht, als er 1938, unmittelbar nach dem
Abschluss des Münchner Abkommens, bemerkte, das Land sei eigentlich
eine »Tschecho-Germano-Polno-Ungaro-Romano-Slowakei« gewesen. Die
Deutschen korrigierten diesen Zustand in den Jahren 1938/39 gewaltsam. Ein
Vorgang, den der deutsche Nachwuchsdiplomat Adam von Trott zu Solz
1939 in London als »selbstverständliche Notwendigkeit« rechtfertigte.
Bereits am 12. Juli 1939 nahm sich der in Prag stationierte Wehrmachts-
general Erich Friderici auf seine, durchaus zukunftsträchtige Weise des
»tschechischen Problems« an: »Es gibt nur eine Lösung: die tschechische
Gemeinschaft örtlich und geistig aufzulösen und hierzu zunächst die
führende Schicht aus dem Räume Böhmen/Mähren herauszubringen. Das
Radikalmittel der physischen Ausrottung ist unter normalen Verhältnissen
nicht möglich...«
Am 6. Oktober 1939 kündigte Hitler eine »neue Ordnung der
ethnographischen Verhältnisse« an, »um auf diese Weise wenigstens einen
Teil der europäischen Konfliktstoffe zu beseitigen«. Selbstverständlich berief
sich der Diktator dabei nicht öffentlich auf den Vertrag von Lausanne und
damit auf den ihm verhassten Völkerbund. Aber auf der Ebene der
Diplomatie, der bevölkerungs- und rechtswissenschaftlichen Expertisen
geschah das mit aller Deutlichkeit. Noch als die offizielle deutsche Politik,
wie in allen Jahren zuvor, mit Rücksicht auf die großen auslandsdeutschen
Minderheiten dem Projekt »Lausanne« höchst ablehnend gegenüberstand,
hieß es beispielsweise im Januar 1937 in der politisch hellhörigen Zeitschrift
für Geopolitik Karl Haushofers: »Von der Öffentlichkeit als Möglichkeit und
Vorbild viel zu wenig beachtet wurde der große Austausch nach Beendigung
des griechisch-türkischen Krieges; er riß Millionen von Menschen im
Staatsinteresse aus ihrer Heimat und gab ihnen einen neuen Boden - eine
harte, aber saubere Lösung der Minderheitenfrage.« Als der Chef der
Abteilung Raumordnung im Generalgouvernement, Hansjulius Scheepers, im
Sommer 1941 die »Osterweiterung« des großdeutschen Lebensraums
konzipierte und ethnographisch begründete Massenumsiedlungen vorschlug,
wies er darauf hin, »daß eine der größten bisher bekannten zwangsweisen
Evakuierungen, die nach dem Weltkrieg zwischen Türken und Griechen
durchgeführt wurde, bereits nach 20 Jahren zu einer absoluten
Konsolidierung geführt hat«. Aber auch die Neue Zürcher Zeitung begrüßte
im Sommer 1939 das deutsch-italienische Umsiedlungsprogramm für

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Südtirol unter der Überschrift »Moderne Völkerwanderung«. Das geschah
unter Hinweis auf die »wohltätige Wirkung« des »bitteren, aber
verheißungsvollen Auftakts« zwischen Griechenland und der Türkei, mit
dem »beide Staaten an Einheit der Bevölkerung gewonnen« und ihre
Beziehungen entspannt hätten.
Sparen wir uns die Darstellung der folgenden deutschen Umsiedlungs-
politik. Sie reichte in ihren Perspektiven schließlich bis zur Krim und bis
nach Leningrad. Im Sommer 1941 sahen die Deutschen die Vertreibung, das
Verhungernlassen und Hinmorden von mehr als 30 Millionen Menschen vor,
wobei Experten darüber diskutierten, ob es nicht besser 60 Millionen sein
sollten. Nicht nur im Ausmaß, sondern auch in den Mitteln und Methoden
unterschied sich diese Politik von all ihren Vorläufern und auch vom
Potsdamer Abkommen. Kennzeichnend dafür ist die Frage, die der Chef der
Umwandererzentralstelle Posen-Litzmannstadt, Rolf-Heinz Höppner, im
September 1941 seinem Vorgesetzten Eichmann stellte: »Wesentlich ist
dabei im übrigen, daß von Anfang an völlige Klarheit darüber herrscht, was
nun mit diesen ausgesiedelten, für die großdeutschen Siedlungsräume
unerwünschten Volksteilen endgültig geschehen soll, ob das Ziel darin
besteht, ihnen ein gewisses Leben für dauernd zu sichern, oder ob sie völlig
ausgemerzt werden sollen.«
Das bleibt als geschichtlicher Kontext wichtig, will man einen
demokratischen Politiker wie Beneš historisch gerecht beurteilen. Aber zu
dessen Erfahrungen gehörte eben auch, dass schon das Münchner Abkommen
vom 29. September 1938 im siebenten Abschnitt einen Passus zum
»Austausch der Bevölkerungen« enthielt, den Chamberlain unter Hinweis auf
das in Griechenland, in Bulgarien und in der Türkei »angewandte Prinzip des
Bevölkerungsaustauschs« empfohlen hatte. Noch am 27. August 1939
versuchte die britische Regierung, den Krieg Deutschlands gegen Polen zu
verhindern, indem sie, wie Hans Lemberg belegt hat, den Austausch der
jeweiligen deutschen und polnischen Minderheiten als »sehr hilfreichen
Lösungsweg« ins Gespräch brachte.
Wie sehr das Mittel der Zwangsumsiedlung auch unter den westlichen
Staatsmännern verbreitet war, zeigt sich an der Diskussion, die in den Jahren
1944/45 in den Niederlanden geführt wurde. Pragmatisch, wie die Holländer
sind, sollte die Ostgrenze einigen Plänen zufolge periodisch und
entsprechend einem auf drei Millionen prognostizierten Bevölkerungs-
wachstum nach Osten verschoben werden. In der letzten Stufe, die den
Plänen zufolge binnen 25 Jahren erreicht werden sollte, wäre die neue
deutsch-niederländische Grenze dann knapp vor Köln verlaufen, und bis
dahin hätten acht Millionen Deutsche der holländischen Ostexpansion
weichen müssen. Da sich die niederländische Regierung dabei aber sowohl

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an der »sittlichen Erkenntnis« wie am »Geschäftssinn unseres Volkes«
orientieren wollte, wurde das Projekt schon nach einigen Monaten zu den
Akten gelegt. (Es blieb bei der Annexion von 70 Quadratkilometern und
10000 Einwohnern, eine Maßnahme, die 1963 größtenteils rückgängig
gemacht wurde.)
Ein solcher mäßigender Pragmatismus setzte sich im Falle Ostmitteleuropa
nicht durch. Die wenigen Warnungen hinsichtlich möglicher Spätfolgen
blieben marginal. Zwar trieben Ideologen und Diktatoren die Politik der
Zwangsumsiedlung auf die Spitze, doch hingen gerade die Pragmatiker und
viele Demokraten in den europäischen Hauptstädten gleichfalls der
Vorstellung an, nur eine ethnisch, religiös oder wenigstens sprachlich
homogenisierte Bevölkerung gebe ein gutes Staatsvolk ab. Insofern sind die
Kriege im ehemaligen Jugoslawien auch das böse Nachspiel, das dem Drama
eines großen europäischen Irrwegs folgt. Sie entsprechen jener Prognose, die
der nationalkonservative, 1939 als Jude von Königsberg nach Chicago
verjagte Historiker Hans Rothfels 1946 in seiner leidenschaftlichen Kritik des
Potsdamer Abkommens veröffentlichte: »Wie immer sich diese Politik auf
ihre Objekte, also für diejenigen auswirkt, die Haus und Heimat verlieren -
ein Segen ist das neuerliche, destruktive Vorgehen selbst für die Seite der
Sieger nicht.« Der letzte Satz der dreißigseitigen Analyse Rothfels' lautete:
»Warum sollte sich die Methode der Zwangsumsiedlung nicht auch auf dem
Balkan ausbreiten und dort zu unglaublichen Ergebnissen führen? Auf lange
Sicht können Rückwirkungen in vielen Teilen der Welt entstehen, wenn die
gewaltsame ›Eliminierung von Minderheiten‹ zur akzeptierten politischen
Doktrin wird.«
In den Jahren nach 1923 betrachteten die zeitgenössischen Rechtsgelehrten
den obligatorischen Menschentransfer als juristisches Novum. Sie stellten
fest, es habe sich um ein »echt völkerrechtliches Rechtsgeschäft« gehandelt,
und fragten, ob es denn zulässig gewesen sei. Dagegen standen zwei
Argumente: die Rechtsstellung des Individuums und die morale
internationale. Noch in den 20er und 30er Jahren konnten nach herrschender
– allerdings umstrittener - Meinung nur Staaten, nicht Individuen Subjekte
des Völkerrechts sein; und ein deutscher Autor stellte 1932 ernüchtert fest:
Die völkerrechtliche Garantie der Unverletzlichkeit und Freiheit der
Persönlichkeit sei »Zukunftsmusik«, es gebe »im Völkerrecht keine
allgemeinen Menschenrechte«. Grundlegend änderte sich die Rechtslage des
Individuums erst mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom
10. Dezember 1948. Der Inhalt dieser Proklamation wurde nach
siebzehnjähriger Arbeit im Internationalen Pakt über bürgerliche und
politische Rechte konkretisiert. Demn ach sind Zwangsumsiedlungen heute
völkerrechtlich eindeutig verboten.

29
Den Tod nicht fürchten
Blutige Weihen: Ernst Jünger trifft Osama Bin Laden

Der heilige Krieg gilt Osama Bin Laden als »eine Form der Hingabe, egal,
was er kostet«. Er richtet sich gegen die Kräfte der Verrottung. Bin Laden
preist ihn als »Antwort auf den Westen und säkulare Strömungen in der
arabischen Welt«, ja, als Vollstreckung eines göttlichen Willens,
»islamischen Boden von allen Ungläubigen zu säubern«. Der Dschihad
erscheint in seinen Worten als Absolutes, als letzte große Schlacht gegen die
Schwärme gieriger Geier. Diese beschmutzen die arabische Welt und
plündern die Reichtümer des Bodens und sichern, exemplarisch in Saudi-
Arabien, das parasitäre Prassen von sage und schreibe 5000 Prinzen - zum
Nachteil der in Knechtschaft gehaltenen Massen. So gesehen erscheint die
Vernichtung der Fremd - und Günstlingsherrschaft als existenzielle Notwen-
digkeit. Danach werde, so lautet die Verheißung, ein Zeitalter der
Glückseligkeit heraufziehen.
Seine soziale Dynamik gewinnt der Kampf Bin Ladens aus der nach innen
wie nach außen gerichteten Aggression: aus Krieg und Bürgerkrieg, aus
heldenmütiger Gefahrenabwehr und permanenter Selbstreinigung. Zum
Selbstmordattentat gehört die Liquidierung der Verräter, das Abhacken des
lackierten Fingernagels, die Vernichtung des Unreinen im eigenen
Volkskörper. Glückt die Synthese, entfesselt sie nach den Gesetzen dieser
politischen Alchemie einen Sturm der Veränderung, eine Entscheidung
zwischen Gut und Böse. Die behauptete Situation absoluter
Existenzbedrohung rechtfertigt das bedingungslose Opfer des eigenen Lebens
und den Einsatz aller, aber auch aller Mittel gegen einen verschlagenen,
heimtückischen - im Inneren schon virulenten - Feind.
So betrachtet, lässt sich das totalitär-gewalttätige Gerassel Bin Ladens
unschwer als Manifest für eine an Haupt und Gliedern revolutionierte
panislamische Bewegung lesen. Deren ideologischer Kernbestand aber
enthält nichts Fernes, Unverständliches. Er ist aus den Umbruchs- und
Schreckensperioden der jüngeren europäischen Geschichte bestens bekannt.
Die völkisch-sozialen Panbewegungen, die sich in Europa vor 1914
herausbildeten - Panslawismus, Pangermanismus -, setzten, um es in
Anlehnung an Hannah Arendt zu sagen, auf einen schwülstigen Pseudo-

30
Mystizismus. Sie grenzten sich vom wohlstandstrunkenen Imperialismus ab
und lenkten stattdessen das Interesse auf die inneren, immateriellen Werte
kulturgeschichtlich einander ähnlicher Volksverbände und behaupteten deren
jeweilige »messianische Mission«. Das »erweiterte Stammesgefühl« solcher
Panbewegungen stand gleichermaßen gegen die interessengeleitete Stumpf-
heit der Parteien, gegen die Schranken der Klassen und gegen die Enge
einzelner Nationalstaaten, deren Grenzen aus dieser Perspektive als
willkürlich, bestenfalls zufällig gezogen erschienen.
Bin Laden prangert die Ausbeutung durch den Westen an, die Seuche des
Materialismus, die schon tief in die Poren des eigenen Volkes gedrungen sei,
und stellt gleichzeitig sämtliche Staatsgrenzen der arabischen und
islamischen Welt in Frage. Für ihn gehen deren Territorien in dem höheren
Begriff »heiliger Boden« auf. Es sei der Feind gewesen, der die
Gemeinschaft der Muslime, »die Ummah in kleine und winzige Staaten teilte
und in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einen Zustand der Verwirrung
stürzte«.
Bin Laden appelliert an »die Völker des Islam« in einer altbekannten,
typischen Mischung: Sie besteht aus dem endgültigen Heilsversprechen, das
aber zunächst die rücksichtslose Niederwerfung eines satanischen Feindes
verlangt. Diese militärische Aufgabe erfordert - fürs Erste - eine
entsagungsvolle Selbstbesinnung auf die eigenen Kräfte und führt durch den
stahl- und schwefelgesättigten Jungbrunnen des Erneuerungskrieges. Das
erzwingt und ermöglicht die totale Mobilisierung im Namen der als Einheit
gedachten Ziele Kampf und Erneuerung. Erst dann gedeiht das Gute; erst
dann steigt aus den Trümmern des Alten und Bösen die (islamistische)
Heilsrepublik.
Fasst man die Weltanschauung anhand einiger Interview-Äußerungen und
Aufrufe Bin Ladens so zusammen, dann muss man zu deren näherem
Verständnis nicht den Koran lesen oder, wie Joschka Fischer, ein »hochin-
teressantes« Buch über Allah. Ergiebiger erscheinen die Schriften Ernst
Jüngers. Dort finden sich zwischen 1919 und 1933 alle jene Elemente einer
Sozialrevolutionären Utopie, denen auch in der Gedankenwelt Osama Bin
Ladens ein nekrophiler Seitenaltar zukommt. Beide argumentieren in einer
hohen, hochgebildeten und distinguierten Sprache extrem grob gegen ihre
Zeit an. Jüngers verkünstelte Kommandoerklärungen zur Vernichtung der
Weimarer Republik ähneln in Ton und Inhalt denen Bin Ladens gegen die
kompromissbereite arabische Staatenwelt. Wo dieser »Ungläubige«,
»Heuchler« und »Werkzeuge des Verbrechens« brandmarkt, sieht jener einen
»Tiefpunkt kulturpolitischer Falschwirtschaft«.

31
Beide beschreiben einen strukturell verwandten, lebenssüchtigen und daher
schon ziemlich verlebten Feind: Für Jünger bildet der Bürger jene Hassfigur,
die für Bin Laden der wesensähnliche »Amerikaner« repräsentiert. Den
Bürger kennzeichnet nach Jünger »ein Europäertum, dessen Metaphysik die
des Speisewagens ist, ein Amerikanismus mit der Gleichsetzung von
Fortschritt und Komfort«. Schlaff und welk lümmeln diese Repräsentanten
des Niedergangs in der »künstlichen Gesundheit der Sanatorien«.
Folgerichtig erscheint der (Erste) Weltkrieg nicht als Katastrophe, sondern
als »neues Verhältnis zum Elementaren, zum Mutterboden, dessen Krume
durch das Feuer der Materials chlachten wieder aufgesprengt und durch
Ströme von Blut befruchtet ist«. Jünger sieht darin den »breiten, roten
Schlußstrich« unter einer Zeit, die ein ekelhafter, kampfvergessener
Krämergeist beherrscht habe. Wer die treibenden Kräfte eines Osama Bin
Laden und seines Geheimbundes Al-kaida verstehen will, kann sich mit
einigem Gewinn auf die blutigen Selbsterfahrungen konzentrieren, die
Europa im 20. Jahrhundert hinter sich brachte. Der moderne und noch dazu
deutsche Intellektuelle Ernst Jünger steht als Beispiel für viele.
Bin Laden verhöhnte 1996 einen US-Verteidigungsminister mit dem
Hinweis auf die Moral seiner Kämpfer: Sie »lieben den Tod so, wie du das
Leben liebst« und werden dem Feind »singend beibringen, daß es nichts zu
erklären, daß es nur Töten und Nackenschläge gibt«. Dabei bestehe nur ein
Problemchen: Sie »streiten sich darum«, wer den Feind »bekämpfen und
töten darf«. Um es mit Jünger zu sagen, der vom Prinzip »vernichtender
Veränderungen« sprach: »Das tiefste Glück des Menschen besteht darin, daß
er geopfert wird, und die höchste Befehlskunst darin, Ziele zu zeigen, die des
Opfers würdig sind.« Für die nachgeborenen Kämpfer hinterlassen die kalten
Zeugen des »heroischen Realismus« nur eine unabdingbare Botschaft: »Man
muß dort stehen, wo die Zerstörung nicht als Abschluß, sondern als Vorgriff
aufzufassen ist.«
Bei Jünger hieß es vor knapp 80 Jahren: »Der wahre Wille zum Kampf
jedoch, der wirkliche Haß hat Lust an allem, was den Gegner zerstören kann.
Weil wir die echten, wahren und unerbittlichen Feinde des Bürgers sind,
macht uns seine Verwesung Spaß.«* Die radikalen Verschwörer um den
1923 hingerichteten Albert Leo Schlageter, die mit terroristischen Aktionen
gegen die französische Besetzung des Ruhrgebiets vorgingen, ehrte Jünger

* Als links radikaler, revolutionsbegeisterter Student versuchte der Autor 1970 die
folgende Weisheit Mao Tse-tungs an eine Außenfassade der Freien Universität Berlin
zu schreiben: »Der Feind verfault mit jedem Tag, während es uns täglich besser geht.«
Ein US-Soldat, der das benachbarte Harnack-Haus bewachte, unterband das
Unternehmen bereits nach dem zweiten Buchstaben.

32
als »Männer, die den Sprengstoff liebten und den Nachweis führten, daß den
wirklichen Mann kein Übermaß der Gewalt einschüchtern kann«. Ihnen
applaudierte er: »Das ›Liebend unterzugehen!‹ Hölderlins könnte ihr
geheimes Sinnwort sein. Gerade der verlorenste Posten hinterläßt die
ungetrübteste Erinnerung.« Die 1936 fertig gestellte Langemarck-Halle auf
dem Reichssportfeld in Berlin-Charlottenburg steht für denselben Gedanken.
Sie ist dem Ruhm der jugendlichen, unausgebildeten Kriegsfreiwilligen
gewidmet, die am 10. November 1914 in Westflandern in den Heldentod
gingen - zu Zehntausenden, ohne jeden militärischen Sinn. Der flach
eingemeißelte Text stammt von dem später gleichfalls gefallenen Walter
Flex, einem soldatischen Liedermacher der Zeit: »Ihr Heiligen / Grauen
Reihen / Geht unter Wolken / Des Ruhms / Und tragt / Die blutigen Weihen /
Des heimlichen / Königtums.«
Wo für Bin Laden jeder Kämpfer, der sich für die Sache der Reinheit
opfert, auf einen glänzenden Platz im Paradies abonniert ist, wird er bei
Jünger nach dem Tod lebendiger als je«, weil »er als Gestalt der Ewigkeit
angehört«. Der Salonbolschewist wie der verspießerte Reaktionär, der
Demokrat ohnehin, plappert aus einer solchen Sicht über die Misere der
Welt, während doch nur die eine Position angemessen erscheine: »Das Ganze
im Kampfe aufzusuchen.«
Jünger verherrlichte an dem völkischen Terroristen Schlageter wie an den
bald populären Bombenlegern der Dithmarscher Landvolkbewegung »die
völlige Klarheit der Richtung« und den »Verzicht auf jeden Kompromiß«.
Die Nationalsozialisten waren ihm zwar als Bewegung sympathisch, nicht
jedoch als Partei, die sich um eine legalistische Fassade bemühte. Das Fehlen
tagespolitischer Winkelzüge zeichnet auch Bin Laden aus. Er versteht sich
nicht als Politiker, der zwischen irgendwelchen Realitäten taktieren müsste,
eher als Bote einer Sache, die ihre Stärke allein aus der Ablehnung jeder nur
denkbaren Halbheit gewinnt: »Was stirbt, was abfällt«, so sagte es Jünger
1932 in seiner Kampfschrift Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, »ist das
Individuum als Vertreter geschwächter und zum Untergang bestimmter
Ordnungen. Durch diesen Tod muß der einzelne hindurch, gleichviel, ob
seine dem Auge sichtbare Laufbahn durch ihn beendet wird oder nicht, und
es ist ein guter Anblick, wenn er ihm nicht auszuweichen, sondern ihn im
Angriff aufzusuchen strebt.« Der Charakter eines solchen Angriffs verändert
sich mit dem Stand der Technik. Er offenbart schließlich »ein Höchstmaß an
Aktion bei einem Mindestmaß an Warum und Wofür«. Die anonyme Wir-
kungs- und Herrschaftsweise der kapitalistisch-arbeitsteiligen Welt provo-
ziert demnach auch neue Techniken des Angriffs. Es seien nicht mehr die
Massen, die den Kampf auszufechten hätten, erforderlich sei vielmehr ein
technisiertes Vorgehen, das »sich mit entschlossenen Stoßtrupps der Herz-

33
und Hirnpunkte der Regierungsstädte zu bemächtigen versucht«. Dasselbe
zeige sich auf dem Feld des politisch-terroristischen Kampfes: Er richte sich
nicht länger »gegen die persönlichen oder individuellen Vertreter des Staates,
gegen Minister, Fürsten oder Staatsrepräsentanten, sondern gegen
Eisenbahnbrücken, Funktürme und Fabrikdepots«.
Jünger sah »neue Schulen des politischen Gewaltakts« entstehen und
imaginierte »ganze Stadtbilder von einer Verwesungsstimmung überlagert«.
Auf einem solchen entgrenzten Schlachtfeld, einer »Arbeits- und Kampf-
landschaft«, kann es demnach keinen Unterschied zwischen Kombattanten
und Nichtkombattanten mehr geben. Der Einzelne verschwindet, »er wird
mitgetroffen beim Angriff auf das Kräftefeld, in das er einbezogen ist«. Hier
zeigt sich dieselbe Gewissheit, aus der heraus Bin Laden im Herbst 2001
sagen konnte: »Die Anschläge vom 11. September waren nicht gegen Frauen
und Kinder gerichtet. Die wahren Ziele bildeten Amerikas Symbole für
militärische und wirtschaftliche Macht.«*

* Die Zitate Bin Ladens sind verschiedenen Interviews aus den Jahren 1996 bis 2001
entnommen, die Jüngers aus dessen Buch Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt,
Hamburg 1930, und dem posthum veröffentlichten Band Politische Publizistik 1919-
1934, Stuttgart 2001.

34
Für ein modernes Afghanistan
Ein deutscher Idealist am Rand der Ökumene

Am 20. Oktober 1928 schrieb die Pädagogische Vakanzenzeitung in Berlin


die Stelle eines Lehrers aus. Gefordert wurden die Fächerkombination
Mathematik/Physik/Chemie und ein ärztliches Zeugnis über die Tropen-
diensttauglichkeit. Vorstellen sollten sich nur »pädagogisch geschulte
Akademiker mit langjähriger Praxis«, das Gehalt sei Verhandlungssache. Die
Bewerbungsunterlagen waren an die Königl. Afghanische Gesandtschaft in
Berlin NW 23, Lessingstraße 9, zu richten, und der Gesuchte sollte
mindestens für zwei Jahre an der »Königlichen Amani Oberrealschule i. E.
zu Kabul« unterrichten - i. E. bedeutete »in Entwicklung«, die Unterrichts-
sprache war Deutsch.
Die Existenz der Schule verdankte sich nicht weitsichtiger deutscher
Kulturdiplomatie, vielmehr ging die Initiative allein von Dr. Walther Iven
aus. Er schlug dem afghanischen Reformkönig Amanullah 1922 die
Errichtung einer solchen Lehranstalt vor, weil er in Berlin-Charlottenburg
eine Gruppe junger Afghanen unterrichtete, die nach Deutschland zur
Ausbildung geschickt worden war. Amanullah hatte das Land 1919 gegen die
Interessen Großbritanniens in die Unabhängigkeit geführt; er nahm die
Anregung Ivens auf, wie er die schnelle Modernisierung und Verwestlichung
des Landes generell förderte. Seine Frau, Königin Soraya, ließ er im Oktober
1928 öffentlich entschleiern, er führte für einen kurzen Moment die
Gleichheit vor dem Gesetz ein, die Trennung von Staat und Religion und die
allgemeine Wehrpflicht. Vorübergehend wurde in Kabul das Tragen
europäischer Straßenanzüge und die entsprechende Haartracht gewünscht,
sogar an einigen Primarschulen die Koedukation eingeführt, der Sonntag statt
des Freitags als gesetzlicher Ruhetag festgelegt. 1928 schickte der König gar
eine ganze Gruppe von Studentinnen an eine Hochschule in die bereits
säkularisierte Türkei.
Für den neu geworbenen deutschen Lehrer erfolgte die Anreise per Schiff
von Genua nach Bombay, von da ging es 50 Stunden mit der Bahn nach
Peschawar, von wo die Fahrt noch einmal so lange mit dem Lastwagen nach
Kabul dauerte. In einem Auskunftsblatt des Auswärtigen Amtes »für Lehrer,
die nach Afghanistan gehen wollen« hieß es dazu weiter: »Theater, Konzert

35
und Kino gibt es nicht, Radioempfang ist sehr schwierig, es bleibt nur das
Lesen, Besuche, Nachmittagsteas auf den Gesandtschaften, Tennis und
Reitsport, Spaziergänge.« Die Bezahlung war nicht genau geregelt, und die
Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung warnte mehrfach im gereizten Ton der
Standesorganisation davor, sich durch einen Dr. W. Iven »für die sogenannte
›deutsche Schule‹ in Kabul anwerben zu lassen«. Dieser mache aus Lehrern
schlecht bezahlte »Kulturproletarier«, eine Art billigen »Kulturdünger,
bestimmt, den afghanischen Boden anzureichern«. Iven bestritt das nicht. Ein
Lehrer könne zwar standesgemäß leben, nicht jedoch Ersparnisse bilden. Im
Übrigen müsse man »auf Alkohol, Zigarren und Zigaretten sowie weiblichen
Verkehr verzichten können«. Iven beschrieb die Sitten als rau, eigenartig und
patriarchalisch: »Lebhafte Fehden zwischen einzelnen Ortschaften, auch
zwischen Nomaden und Ackerbauern sind häufig. Nachts ist in Afghanistan
ständiger Wachdienst wie im Mittelalter in Deutschland.« Während einer
Expedition, die ihn 1932 vielleicht als ersten Europäer in manche Täler des
Hindukusch führte, sah er Menschen, die einer »kargen, harten Natur«
trotzten und »als Nachbarn des Todes am äußersten Rand der Ökumene«
lebten.
Iven war 1881 in Stettin geboren worden, hatte die Mittelschule und
anschließend das Lehrerseminar besucht. Nach dem Militärdienst und der
zweiten Lehramtsprüfung ging er an die deutsche Schule in Heidar Pascha,
Türkei, 1903 an die deutsche Oberrealschule in Konstantinopel; 1908 gehörte
er zu den ersten Lehrern an der deutschen Schule in Teheran, im Nebenamt
tätig als Korrespondent der Kölnischen Zeitung, für die er »die politischen
und wirtschaftlichen Verhältnisse«, insbesondere die Revolutionen von 1908
und 1909 schilderte. Im Jahr 1912 kehrte er nach Deutschland zurück, trat in
den Schuldienst von (Berlin -)Charlottenburg ein und unterrichtete bald
Begabtenklassen. Nach vier Soldatenjahren, in denen er auch als
Dolmetscher und Fernsprecher in Bagdad, in Persien und in Mossul
verwendet wurde, kehrte Iven wieder in den Schuldienst zurück, holte
nebenbei das Abitur nach, studierte in Berlin und promovierte 1922 mit einer
Arbeit über »Das Kulturland Persien«.
Dieser Mann eröffnete am 15. April 1924 die von ihm initiierte Schule in
Kabul mit 120 Schülern; zu Ehren des königlichen Förderers wurde sie
Amani-Schule genannt. Sie fand regen Zuspruch, die Zahl der Schüler nahm
rasch zu, Amanullah schickte seinen jüngsten Bruder dorthin, einige Prinzen
und 14 seiner Pagen. Die Unterrichtssprache war - außer in Geschichte,
Religion und Persisch - Deutsch, die innere Gliederung nach Art einer
Gesamtschule organisiert: Die Anfangsabteilung umfasste die Klassen l bis 5,
gefolgt von der mittleren Abteilung (Klassen 6 bis 9) und der höheren
Abteilung (Gymnasialabteilung) mit den Klassen 10, 11 und 12. Der

36
Unterricht dauerte von 8.00 bis 16.00 Uhr, unterbrochen von einer gut
einstündigen Gebets- und Mittagspause. Das Ausbildungsziel bestand für die
Lehrer in der »Vorbereitung ihrer Zöglinge auf das Studium an deutschen
Universitäten und Hochschulen mit dem Zweck, S. M. tüchtige höhere
Beamte, Ingenieure, Ärzte und Lehrer zu beschaffen und die Schüler zu
selbständigen, verantwortungsvoll handelnden und charakterfesten Menschen
zu erziehen«. Schließlich sollte Afghanistan mit Hilfe der neu ausgebildeten
Elite »nach dem Muster Japans zu höherer Weltgeltung aufrücken«.
Mit dem Abschluss des deutsch-afghanischen Schulabkommens, dessen
Durchführung dem Preußischen Unterrichtsministerium oblag, erreichte Iven
bereits 1928, dass die künftig in Kabul abzulegende Reifeprüfung anerkannt
und seine Schüler uneingeschränkt zum Studium an sämtlichen preußischen
Universitäten und Hochschulen berechtigt sein würden. Zwar unterstand die
Schule der afghanischen Staatsregierung, doch konnte das Preußische
Unterrichtsministerium den Lehr- und Rahmenplan erheblich beeinflussen.
Der erste Abiturientenjahrgang sollte die Amani-Schule 1935 verlassen.
Bis dahin waren jedoch erhebliche Hindernisse zu überwinden. 1929 wurde
Kabul unter verdeckter britischer Förderung von einem rebellischen Stamm
erobert, der König musste nach Kandahar fliehen und abdanken. Während die
deutschen Diplomaten unsicher zwischen Anerkennung und Nichtaner-
kennung der neuen Machthaber schwankten, riet der Mittelost-Referent im
Londoner Foreign Office dem deutschen Außenminister Gustav Stresemann
zur Gelassenheit: Nach seinem keinesfalls interessenneutralen Eindruck hatte
Amanullah wegen seiner überstarken Modernisierungspolitik jeden Rückhalt
in der Bevölkerung verloren, und an seine Rückkehr auf den Thron war
überhaupt nicht zu denken - »erst nach der Schneeschmelze wird man sehen
können, ob eine Persönlichkeit und eventuell welche imstande ist, ganz
Afghanistan zu beherrschen«, bemerkte man in London.
Auch Schuldirektor Iven nahm die afghanischen Wirren des Jahres 1929
einigermaßen gleichmütig, obwohl seine Schule zu den wichtigen und nun
anstößigen Modernisierungsvorhaben des verjagten Königs gehörte.
Nachdem das Schlimmste vorüber war, schrieb er im Dezember einen
Bericht an das Auswärtige Amt »über das Schicksal seiner Anstalt unter der
Räuberregierung und ihre Neueröffnung nach der Thronbesteigung des Emirs
Mohammed Nadir Schah«. Am 14. Januar 1929 hatten Banden des Räubers
Bacha-i Sagaos (»Sohn des Wasserträgers«) Kabul erobert. Der neue
Machthaber zeigte sich »fremdenfeindlich und fanatisch-religiös«, schaffte
das Unterrichtsministerium ab und schloss alle Schulen. Das bedeutete für
Iven zumindest vorläufig das Ende »der modern und fortschrittlich
denkenden« Herrschaft. Die deutschen Lehrer Chinnow, Liebig und Maier
ergriffen die Flucht.

37
An seine Frau in Berlin schrieb Iven über den Zustand der Schule nach
dem Interregnum »kohistanischer« (tadschikischer) Rebellen und der
Rückeroberung durch »Afghanen« (Paschtunen): »Die Schule hat den
Kohistanis als Kaserne und den Afghanen als Viehstall gedient, Schafe und
Ziegen im 1. Stock, Kühe und Pferde unten, Kamele im Garten. Es war ein
erhebendes Bild, und dann dieser Mist in allen Klassen.« Er konnte nicht
verhindern, dass die Soldaten Tische, Bänke, Pulte, Stühle, späterhin auch
Türen und sogar Dielen und Treppengeländer verheizten, in allen
Klassenzimmern offene Feuer entzündeten und die Fensterscheiben auf dem
Basar verhökerten. Die Lehrmittelsammlung und die 1000 Bände der
Lehrbücherei verschwanden spurlos. »Gegen den Vandalismus war ich
ohnmächtig«, so schrieb er, schließlich wurde ihm das Betreten der Schule
überhaupt verboten.
Der Spuk dauerte bis zum 15. Oktober 1929, und wenige Tage später hatte
Iven seine erste Audienz beim neuen König, Nadir Schah. Der begrüßte ihn
»als alten Bekannten«, äußerte sich anerkennend über die Leistungen der
Schule und erklärte, er wolle sich weiter der Entwicklung Afghanistans
widmen, wenn auch »in einem langsameren, den Verhältnissen des Landes
besser angemessenen Zeitmaß«. Das dauerte allerdings noch einige Wochen,
da nach Ivens Beobachtung die neue Regierung »den einmal entfesselten
Raubinstinkten gegenüber eine ganze Weile völlig machtlos blieb«.
Bereits am 9. November begann Iven wieder einen provisorischen
Unterricht: »Als Deutschlehrer sind einstweilen einige afghanische Studenten
aus Berlin eingetreten, bis ich Lehrer aus Deutschland bringe«, berichtete er
an die deutsche Gesandtschaft. Jedes Anschauungsmaterial, so klagte er,
fehlte. Einer seiner afghanischen Lehrer war erschossen worden, die anderen
kehrten zurück. Auch die Schüler fanden sich wieder ein, »allerdings
verwildert und geistiger Anstrengung entwöhnt«, »die Schulordnung wurde
als Belästigung empfunden«, Pünktlichkeit war selbst den Lehrern und
Schuldienern »ein unbekannter Begriff geworden«.
Doch am Ende des Jahres hatte Iven einen Teil der verschwundenen
Bibliothek in den Basarläden zurückgekauft, mit dem Aufbau einer neuen
Lehrmittelsammlung begonnen, überalterte oder schwach begabte Schüler
entlassen und neue aufgenommen. Acht Wochen nach der Wiedereröffnung
besuchten 302 Knaben die Schule. Der Bericht endete mit der Bemerkung,
Afghanistan sei ein sehr junges Land, »in dem es von Zeit zu Zeit immer
wieder gären« werde und in dem »neue Umwälzungen in fernerer Zukunft
durchaus denkbar« seien. Allerdings könne »der Bestand unserer Amani-
Schule auf lange Zeit als gesichert gelten«, vorausgesetzt es gelänge, den
»unvermeidlichen Fortschritt«, der durch die deutsche Unterrichtsarbeit
entstehe, mit den religiösen Gefühlen »der Mollahs« zu versöhnen.

38
Obwohl die deutsche Reichsregierung deutlich zu dem gestürzten
Amanullah gehalten, im März 1926 einen Freundschaftsvertrag geschlossen
und den König 1928 mit allem Pomp in Berlin empfangen hatte, norma-
lisierten sich die Beziehungen zu dem neuen Herrscher rasch. 1931 leitete der
deutsche Militärberater in afghanischen Diensten, Major Christenn, das
Manöver der Kabuler Garnison mit 10000 Mann. Die Soldaten trugen
feldgraue deutsche Stahlhelme »und zeigten eine recht stramme Haltung«.
Während der abschließenden Parade schritt ein besonders groß gewachsener
Afghane voran, angetan mit Pickelhaube und blauem Waffenrock.
Nach dem Bericht des deutschen Gesandten begann »Afghanistan 1931
allmählich wieder aufzuatmen und zur Ruhe zu kommen«. König Nadir
Schah hoffte auf »deutschen Unternehmergeist« und verwies darauf, dass
»die ganze Volksstimmung in Afghanistan für die Zusammenarbeit mit
Deutschland« sei. Tatsächlich verliefen die folgenden Monate für die
deutsche Schule ruhig und produktiv. Die unteren Klassenstufen wurden
schon bald wieder dreizügig. Im März 1932 zählte Iven 491 Schüler und 23
Lehrkräfte, darunter sechs deutsche, sein Jahreshaushalt betrug umgerechnet
rund 100000 Reichsmark. Ein Jahr später besuchten schon 619 Schüler die in
Afghanistan hoch angesehene Lehranstalt - sie war die größte des Landes.
Bald bot die Schule unentgeltliche Nachmittagskurse für Deutsch an, Beamte
und Offiziere besuchten sie. Im Jahr 1933 standen immerhin 25 Deutsche im
Dienst des afghanischen Staates. Die Deutschen bildeten die stärkste
europäische Kolonie in Kabul und arbeiteten als Lehrer, Ingenieure,
Kaufleute, Fachschullehrer an Handwerkerschulen oder als Leiter von
Staatsbetrieben. Der Chef der Staatsdruckerei kam aus Deutschland, ebenso
der Sachverständige für den Exportartikel Lapislazuli oder der Berater zum
Aufbau des Postwesens. Einer von ihnen schwärmte: »Mitten in Zentralasien,
weitab vom Heimatland, wirst du auf den Straßen eines orientalischen Basars
mit ›Guten Tag‹ angesprochen! Nicht als Einzelerscheinung, sondern als
Regel.«
Alles schien in bester Ordnung. Man erwog sogar, die afghanische
Pelzbörse von London nach Leipzig zu verlegen. Doch am 8. November
1933 fiel König Nadir Schah einem Revolverattentat zum Opfer - begangen
während einer Preisverleihung an die besten Schüler des Landes im Garten
des Schlosses, verübt von einem Zögling der Amani-Schule. Nachfolger
wurde der 18-jährige Sohn Nadir Schahs, Zahir, der bis 1973 regierte, dann
als Exilkönig in Rom lebte und erst im Januar 2002 für einige Wochen
wieder nach Kabul zurückkehrte. Der Königsmörder hatte sich zuvor bei
seinem Lehrer Elias Balke, der Zeichnen, Biologie und Deutsch unterrichtete,
mit den für Attentäter einschlägigen Worten verabschiedet: »Ich gehe auf
eine große Reise.« Nach Balkes Bericht wurde er nach der Tat bei

39
Sonnenuntergang vor den Toren Kabuls gevierteilt, »sein zerrissener Körper
den wilden Hunden und Wölfen überlassen«.
Bereits im Juli 1933 hatte der Afghane Seyed Kemal, der in Berlin
studierte, den dortigen Gesandten seines Landes ermordet, den ältesten
Bruder des Königs. Zwei Monate später war ein afghanischer Lehrer der
Amani-Oberrealschule in die britische Gesandtschaft in Kabul eingedrungen,
wollte den Gesandten erschießen, traf jedoch einen Sekretär und zwei
afghanische Ortskräfte tödlich. Natürlich hatten weder die deutschen Lehrer
noch Direktor Iven zu politischen Attentaten angestiftet. Doch entstammten
viele Schüler den Familien, die den gestürzten Amanullah als legitimen
König und seinen Nachfolger Nadir Schah als Usurpator ansahen.
Im Zusammenhang mit dieser Attentatsserie wurden der andere Mörder
und einige Mitverschworene, darunter der afghanische Stellvertreter Ivens,
zum Tode durch den Strang verurteilt, ebenso eine Reihe von Oberstufen-
schülern. Außerdem benannte man die Amani- nun in Nedjat-Oberrealschule
um. Der neue Name stand für Befreiung, gemeint war die Befreiung von der
tadschikisch dominierten Räuberherrschaft Bacha-i Sagaos' im Jahr 1929. Im
Bericht der Deutschen Gesandtschaft vom 29. Dezember 1933 hieß es zur
Lage der Schule: »Einmal ist die Zahl der voraussichtlichen Abiturienten in
Verbindung mit dem Königsmord durch Hinrichtungen, Verurteilungen und
Verhaftungen ziemlich vermindert worden. Zur Zeit sitzen noch 24 Schüler
in Untersuchungshaft. Auf der anderen Seite besteht bei der Regierung, vor
allem bei dem allmächtigen Premierminister, eine sehr starke Verstimmung
gegen die Schule.«
Iven überwand die gefährliche Situation. Und trotz allem nahm er - ein Jahr
früher als geplant - im Mai 1934 die sechs ersten Reifeprüfungen in Kabul
ab. Zwei Kandidaten bestanden mit Auszeichnung, drei mit »gut« und einer
mit »genügend«. Zu den Abiturienten gehörten seither und bis heute, dem
Ziel der Schule gemäß, spätere Spitzenbeamte, Wissenschaftler, Ingenieure,
Minister und Ministerpräsidenten. Auch der von der Sowjetunion eingesetzte
Statthalter Babrak Karmal hatte in den dreißiger Jahren die Amani-
Oberrealschule absolviert und hernach dort als Lehrer gearbeitet.
Im Jahr 1935 kehrte Iven nach Berlin zurück. Zum einen deshalb, weil
wegen der Attentate sämtliche deutschen Lehrer der Schule ausgewechselt
wurden. Zum anderen hatten sich politische Misshelligkeiten entwickelt. Der
schon vorgestellte Major Christenn war früh zum Leiter des »NSDAP-
Stützpunktes Kabul« avanciert, hatte sich monatelange Auseinanderset-
zungen mit Iven geliefert und schließlich obsiegt. In einer »Auskunft« des
Stützpunktes über Iven hieß es im März 1935: »Obwohl sein Wesen mehr
zum demokratisch-ausgleichenden Kompromiß neigt, fügte er sich doch nach

40
einigem Widerstreben der Disziplin des Stützpunktes.« Eher unfreiwillig trat
Iven im Oktober 1933 der NSDAP bei, aber »ohne nationalsozialistische
Überzeugungstreue«, wie seine Parteioberen meinten, ohne »ehrliche innere
Begeisterung«.
Unter den Vorzeichen Hitler-Deutschlands festigten sich die Beziehungen
zu Afghanistan bald wieder auf eine zeitgemäße Weise, aber ohne Iven. Der
in Berlin inhaftierte Gesandtenmörder Seyed Kemal wurde in Berlin
verurteilt und im Januar 1935 in Plötzensee hingerichtet.
1936 entstand zusätzlich zur Nedjat-Oberrealschule eine deutsche Privat-
schule, im selben Jahr eröffnete die Lufthansa eine Linien-Verbindung
Berlin-Teheran-Kabul.
1937 errichtete das afghanische Wirtschaftsministerium in Zusammenarbeit
mit der Siemens-Niederlassung in Kabul ein Technikum und bestellte einen
Deutschen zum Leiter. Siemens hatte den Auftrag zur besseren Elektri-
fizierung Kabuls erhalten; deutsche Ingenieure, geschickt von der
Organisation Todt, brachten den Bau des Wasserkraftwerks Tschak voran.
Die Schüler des ersten Jahrgangs der Techniker-Fachschule rekrutierte man
noch zwangsweise. Das änderte sich jedoch rasch, 1941 erlernten bereits 220
junge Männer die Berufe Starkstromelektriker, Maschinen- und
Kraftfahrzeugschlosser, Schweißer oder Werkzeugmacher. 1939 erhielt
Afghanistan einen Kredit des Deutschen Reiches von 55 Millionen Reichs-
mark (heute etwa 500 Millionen Euro).
Schließlich verhandelten deutsche und afghanische Diplomaten 1940/41
darüber, wie das Land nach einem erfolgreichen »Weltblitzkrieg« Hitlers im
Rahmen einer territorialen Neuordnung einen Zugang zum Indischen Ozean
und - dafür notwendig - deutsche »Flugzeuge, Tanks und Flak im benötigten
Umfang« erhalten könnte. In den diplomatischen Aufzeichnungen tauchte der
klangvolle Begriff »Achse Berlin-Bagdad-Kabul« auf. Am 17. Februar 1941
erhielt der Wehrmachtsführungsstab von Hitler den Auftrag zur »studien-
mäßigen Bearbeitung eines Aufmarsches in Afghanistan gegen Indien im
Anschluß an die Operation ›Barbarossa‹«. Die Wehrmachtsführung
errechnete daraufhin einen Bedarf von 17 Divisionen. Bis zum Herbst 1942
verfolgte Hitler die Idee, die britische Stellung im Nahen und Mittleren Osten
mit Hilfe einer zangenartigen Landoperation zum Einsturz zu bringen: aus
Transkaukasien heraus in den Irak hinein, aus Lybien mit den Truppen
Rommels gegen den Suezkanal, unter gleichzeitiger Entfesselung einer
»revolutionären arabischen Freiheitsbewegung«, insbesondere im Irak.
Afghanistan allerdings legte sich nach dem Beginn des Krieges gegen die
Sowjetunion auf Neutralität fest. Am 11. Oktober 1941 zwangen der
englische Gesandte und der Sowjetbotschafter die afghanische Regierung, die

41
deutsche und die italienische Kolonie in Kabul auszuweisen. Immerhin
erreichte die afghanische Regierung in dieser Lage noch die britische Zusage,
den Deutschen freies Geleit bis in ein neutrales Land zu gewähren, die
diplomatischen Beziehungen bestanden bis zum Erlöschen des Deutschen
Reiches am 8. Mai 1945.
Seit 1941 führten afghanische Lehrer den Betrieb der Nedjat-Oberreal-
schule weiter, 1943 wurde dort Deutsch als Unterrichtssprache abgeschafft,
aber weiterhin als erste Fremdsprache gelehrt. 1950 kamen wieder deutsche
und österreichische Lehrer. Die Schüler brachten »Kabale und Liebe« oder
»Emilia Galotti« auf die Bühne, noch bevor die diplomatischen Beziehungen
1955 wieder aufgenommen wurden. Ludwig Erhard, Heinrich Lübke, Kurt-
Georg Kiesinger und Walter Scheel machten Afghanistan ihre Aufwartung.
Die in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht eben verwöhnten deutschen
Diplomaten notierten mal »unfaßbare«, mal »notorische Deutschfreund-
lichkeit« und rechneten das besonders der Nedjat-Oberrealschule zu. Ihre
Existenz aber war, wie das Auswärtige Amt schon 1935 festgestellt hatte, das
Werk des Gründungsdirektors Iven - »seiner seltenen Geschicklichkeit und
hervorragenden Kunst der Menschenbehandlung« sei es »fast ausschließlich
zu verdanken, daß die Schule sich überhaupt hat entwickeln können, und daß
sie im Stande war, alle diese gefährlichen Schwierigkeiten zu überwinden«.
Walther Iven, ein von seiner selbst gestellten Aufgabe gebändigter deutscher
Idealist, starb im April 1945 als Führer einer Volkssturmkompanie im
Norden Berlins.

42
Handfeste Brauchbarkeit
Das Rabattgesetz oder die Freiheit des Feilschens

Im Sommer 2001 fielen das Rabattgesetz und das damit verbundene Verbot
der Zugabe. Schon die Ankündigung hatte die Sitten gelockert, selbst in der
Marien-Apotheke einer bayerischen - sagen wir: Nobelgemeinde. Wer dort
im Februar maßgefertigte, nur in Rosabraun lieferbare Stützstrümpfe der
Kompressionsstufe II kaufte und zudem eine Serie angenehm von dunkelblau
bis anthrazit abgetönter Stützkniestrümpfe (K-Stufe I, gehobenes Reha-
Konfektionssegment) erwarb, erhielt dazu ein Fläschchen mäßigen Rotweins.
Als »kleines Dankeschön«, wie die approbierte Apothekerin beim
Durchziehen der Kreditkarte schmeichelte. In ihrem »Auf Wiedersehen« lag
eine seltsame Freude - die Freude an allem Chronischen, dem noch ein
umsatzfähiger Rest von Eitelkeit und Lebenserwartung anhaftet.
Als das Rabattgesetz dann definitiv abgeschafft wurde, empfahl es sich
angeblich, den Wein zurückzuweisen, auf besserer Qualität zu bestehen oder
gleich über Gewinn- und Nachlassmargen zu sprechen. Von nun an konnte
der Kunde, wie die Nachrichtenagenturen sofort behaupteten, »grenzenlos
feilschen«. Die Wendung wies in aller Naivität auf den Ursprung des
Gesetzes, das sich seinerzeit ausdrücklich gegen »das Gefeilsche«, den
»artfremden Händlergeist der liberalistischen Systemzeit« und die »jüdische
Krämerseele« richtete. Bereits am 12. Mai 1933 hatte das Gesetz zum Schutz
des nationalen Einzelhandels den »Übelstand des Zugabeunwesens«
unterbunden, am 25. November desselben Jahres folgte das »RabG«, das
Reichs-Rabattgesetz. Beide Gesetze bezweckten die »Läuterung des
Wettbewerbs« und den Kampf gegen »Entartungen«, wie der Kommentator
und Mitinitiator des Gesetzes, Elmar Michel, schrieb. Sein Werk erschien
1934 und 1957: »In den Grundzügen brauchte nichts geändert zu werden«,
heißt es in der zweiten Auflage. Warum auch? Zuerst war Michel
Regierungsrat im Reichswirtschaftsministerium, dann Ministerialdirektor in
der Bundesrepublik. Nein, ereiferte er sich 1957, das RabG »enthält keine
typisch nationalsozialistischen Gedanken«. Schließlich sei die »Kampf-
stellung gegen Warenhäuser nicht auf die NSDAP beschränkt« gewesen.
Nicht zuletzt hatte Michel persönlich schon 1932 an dem Gesetz gearbeitet,

43
allerdings, so schwärmte er wenig später, erst »nach der Machtergreifung«
Vorschriften »von handfester Brauchbarkeit« erhalten.
Ob es sich hier um einen verbohrten Nazi handelte oder um den
Repräsentanten eines europäischen Zeitgeistes, der sich dem bedrohten
Mittelstand protektionistisch verpflichtet sah, kann dahingestellt bleiben. In
jedem Fall beförderte dieser Verwaltungsjurist in einer ihm günstigen
Situation ein ordnungspolitisches Gesetz, das bald siebzig Jahre hielt und
zumindest in den ersten 60 Jahren seiner Existenz einer verbreiteten
Stimmung entsprach. Feste Preise, feste Löhne, betonharte Arbeitsverträge,
ein ordentlicher Mieterschutz - das bestimmte die Regelmäßigkeit und die
Qualität des deutschen Lebens. Alle gingen, sieht man von einem
kriegerischen Vernichtungsausfall ab, immer gern auf Nummer Sicher.
Abstrakter ausgedrückt, konnte man vom Standortvorteil hoher
gesellschaftlicher Vertragsfähigkeit und -sicherheit sprechen.
Erst im Jahr 2001 hatte sich das Rabattgesetz überlebt. Schon das lässt die
Zäsuren von 1933 und 1945 flacher werden. Bis heute sind Zigtausende von
Gesetzen und Verordnungen des Dritten Reiches entweder wörtlich oder in
ihren damaligen Grundzügen in Kraft. Wir empfinden sie als angenehme
Selbstverständlichkeiten: die Vorschriften des Mutterschutzes zum Beispiel,
die Rachitisprophylaxe, das Ehegattensplitting, die Straßenverkehrsordnung,
die Meldegesetzgebung, die lateinische Schreibschrift in der Schule oder die
(aus Kostengründen lange verhinderte) Aufnahme der Rentner in die
Krankenversicherung.
Tatsächlich wird mit dem Rabattgesetz mehr als eine überfällige Altlast
entsorgt, und wer daraus am Ende den Vorteil zieht, erscheint durchaus offen.
Mit dem Gesetz verschwindet ein Stück der typisch deutschen geborgenen
Gesellschaft. Die eingangs geschilderte Apothekerin wird sich bald fragen
lassen müssen, warum nicht Hinz und Kunz mindestens 90 Prozent ihrer
Waren feilbieten können? Warum sie ein staatlich finanziertes Studium
absolviert hat, um hinterher für überhöhte Preise minderwertigen Rotwein
über die Theke zu reichen? Ob sie ihrer Tätigkeit nicht einfach auf
versicherungsfreier Honorarbasis nachgehen kann? Und ob die von ihr
erbrachten heilkundlichen Restleistungen nicht günstiger in der Ukraine zu
haben wären?

PS: Michel avancierte 1940 zum Chef der Wirtschaftsabteilung beim


Militärbefehlshaber Frankreich, zuständig für die Ausplünderung des Landes
und für die Arisierung jüdischen Eigentums.

44
Sehr verdünnt
Mutmaßungen über das Triebleben
des Adolf H.

Ein Buch, das der Alexander Fest Verlag in der Herbstvorschau 2001
verheimlichte, dann wenige Stunden vor der Auslieferung »jetzt erstmalig«
ankündigte und gleichzeitig in zwölf Ländern erscheinen ließ, steht unter
dem Vorzeichen des Erfolgs. Wenn es zudem von der nicht ganz
unwahrscheinlichen intimgeschichtlichen Mutmaßung handelt, Adolf Hitler
sei homosexuell gewesen, spricht einiges für Sensationsmache. »Hitlers
gleichgeschlechtliche Veranlagung lässt sich belegen«, verhieß die
Ankündigung, das zwinge »uns«, so wurde man als Interessierter betätschelt,
»das Leben des deutschen Diktators neu zu sehen«.
Manches sah man schon vorher. Jenseits möglicher gleich- oder
andersgeschlechtlicher Präferenzen erfreute sich Hitler nicht gerade
blendender sexueller Gesundheit und münzte den Mangel früh in einen
Vorteil um. Als vorbildlich für die nationalsozialistische Führerschaft galt
ihm der katholische Klerus, wie er vor seinen Vertrauten mehrfach dozierte.
Das Zölibat, die ungeteilte Hingabe an die höhere Sache, das Fehlen von
Kindern - genauer gesagt: familiärer Erb- und Bereicherungsinteressen - habe
es der Kirche über Jahrhunderte hinweg erlaubt, sich immer wieder aus der
ganzen Breite des Volkes zu erneuern. Als gesichert kann auch eine
ausgeprägte Egophilie des späteren Diktators gelten, die befriedigenden
Liebesbeziehungen oder persönlichen Freundschaften überhaupt im Weg
stand. Möglicherweise wurde Hitler seine Art der Machtausübung zur
absoluten Trieberfüllung.
Für solche Fragen interessiert sich Lothar Machtan, der Autor des Buches
Hitlers Geheimnis, nicht.* Einsinnig legt er es auf den empirischen Beweis
an, dass Hitler homosexuell gewesen sei. Mag sein, aber stichhaltig sind viele
der angeführten Zeugnisse nicht. So wird die Behauptung, Hitler habe u m

* Lothar Machtan, Hitlers Geheimnis. Das Doppelleben eines Diktators,


Berlin 2001.

45
1910 von Richard Wagner angenommen, »dass auch er homosexuell gewesen
sei«, auf eine eher windige Fußnote gestützt: »Kurt Ludecke, I knew Hitler,
New York 1937.« Die beiden lernten sich erst 1922 kennen, und Lüdecke
versuchte Hitler in den dreißiger Jahren zu erpressen. Warum Hitler 1912/13
von Wien nach München wechselte, ist sonnenklar. Er wollte sich vor dem
Militärdienst in Österreich drücken. Rein spekulativ begründet Machtan das
mit einer möglichen »Furcht vor den drakonischen Strafen«, die in der k. u.
k. Armee auf »Unzucht mit Personen desselben Geschlechts« standen.
Mit seinem ersten angeblichen Intimfreund August (»Gustl«) Kubizek - der
gemeinsame Lebensabschnitt dauerte vier Monate und wird auf 30 Seiten
ausgewalzt - soll Hitler gerne ausgedehnte Spaziergänge im Grünen
unternommen und Wagner-Opern und - aha - Konzerte der Wiener
Sängerknaben besucht haben. Das sagt Eingeweihten offenbar alles, zumal,
wenn man Magnus Hirschfeld bemüht, der wissenschaftlich festgestellt habe,
»daß homosexuelle Liebespaare die Abgeschiedenheit der Natur und das
Dunkel berauschender Opernaufführungen suchten«. Wer gegen diese
Beweisführung den unwissenschaftlichen Einwand erhebt, womöglich
wüssten auch Heteros, was sie in einem märkischen Wäldchen, auf einem
verschwiegenen Friedhof oder in den hinteren Kinoreihen so alles machen
könnten, dem wird als Hilfsargument entgegengehalten, Hitler habe sich
noch 1938 mehrfach um den, damals auch öffentlich gewürdigten,
»Jugendfreund des Führers« bemüht, ihn sogar getroffen. Nicht nur das, er
habe ihm sogar aus einer unangenehmen Situation geholfen und 1938 ein
Straf- und Disziplinarverfahren gegen ihn niederschlagen lassen. Ohne den
Funken eines Beweises behauptet Machtan angesichts einiger unleserlich
gemachter Wörter in dem dazugehörigen Protokoll: »Vermutlich haben wir
es mit einer klassischen Sexualdenunziation zu tun.« Schon möglich,
insgesamt spricht die Aktenlage allerdings für eine nicht minder klassische
Geldunterschlagung.
Im Zentrum des bald ermüdend eintönigen, sich in den
Argumentationsfiguren wiederholenden Buches steht als Kronzeuge ein
gewisser Hans Mend, der im selben Regiment wie Hitler diente und 1915 an
der Westfront Einschlägiges beobachtet haben will: »Wir hatten Heulager.
Hitler lag mit Schmidl, seiner männlichen Hure, nachts zusammen. Wir
hörten ein Rascheln im Heu. Darauf knipste einer seine elektrische
Taschenlampe an und brummte: Da schaut einmal die zwei schwulen
Brüder.« 36 Seiten danach erhebt Machtan diese Kolportage in veredelter
Paraphrase (»sexuelle Beziehung mit Ernst Schmidt«) zum unumstößlichen
Indiz: »Im Kontext der hier angestellten Ermittlungen gewinnt diese Aussage
ein Gewicht, das für den Historiker so etwas wie Beweiskraft besitzt.« Zwar

46
behauptet der Autor immer wieder, er unterziehe seine Indizien einer
gewissenhaften Quellenkritik, aber das bleibt ein Lippenbekenntnis.
Unterstellt, die beiden »schwulen Brüder« hätten, wie der angebliche Zeuge
es umschreibt, tatsächlich miteinander koitiert, dann stellte sich zunächst die
Frage, in welchem Ausmaß solche Kontakte auch zwischen heterosexuell
aufgelegten jungen Männern unter den Bedingungen des soldatischen Alltags
üblich wurden, noch dazu in der dem Stellungskrieg eigenen Mischung aus
Isolation, Langeweile und Lebensbedrohung. Zum Vergleich böte sich etwa
die zehnjährige Belagerung Trojas an, über die der attische Komödiendichter
Eupolis später einigermaßen drastisch schrieb: »Keiner der Belagerer sah je
eine Hetäre. Also verkehrten sie anal miteinander. Nach dem Sieg kamen sie
mit Ärschen nach Hause, die weiter offen standen als die Tore der eroberten
Stadt.« Auf eine solche sittengeschichtlich einordnende Relativierung des
Aussageinhalts verzichtet Machtan, weil sie seine These schwächen würde.
Erst zig Seiten später, nachdem er Hitler mehrfach den »homosexuellen
Kameraden« zugeordnet hat, folgt im falschen Zusammenhang die
halbherzige Einschränkung: »Im körpernahen Umgang war selbst für
heterosexuelle Soldaten die Grenze zur Gleichgeschlechtlichkeit schnell
gestreift.« Gestreift? Wer, bitte, hat hier wen wie wo und womit gestreift?
Zweitens hätte sich die kritische Aufmerksamkeit auf die Glaubwürdigkeit
des Zeugen Mend zu richten. Er gehörte, das wird hinreichend deutlich, nach
dem Krieg zu den Verlierern. Zwischen 1919 und 1930 wurde er mehrfach zu
Freiheitsstrafen wegen Betrugs, Diebstahls und Urkundenfälschung
verurteilt. Machtan hält sich damit nicht auf, schnell adelt er den Klein-
kriminellen zum »schlichten Mann«, will sagen zu einem, der so redet, wie
ihm der Schnabel gewachsen ist, also wahrheitsgemäß. Auf dieser Basis wird
dessen Äußerung über Hitler zur feststehenden Tatsache und Mend einer, der
»um Dinge wusste, die Hitlers Karriere schnell beenden konnten«.
Erwiesenermaßen wollte er von seinem früheren, nun weltberühmten
Regimentskameraden 1932 Geld erpressen. Der reagierte nicht, aus welchen
Gründen auch immer. Aber Machtan entkräftet dieses, seine These störende
Faktum fünf Seiten weiter mit der Begründung: Hitler sei »mit einer
Sexualdenunziation, und darauf zielte die Mendsche Drohung im Kern, zu
diesem Zeitpunkt kaum mehr zu Fall zu bringen gewesen«. Der
offensichtliche Widerspruch zwischen beiden Feststellungen interessiert den
Autor nicht - egal, ob argumentativ so oder andersherum: In beiden Fällen
behauptet Machtan die manifeste und ausschließliche Männerliebe Hitlers als
feststehende Tatsache.
Apropos feststehend: Eine physische Voraussetzung für seinen
Sexualbefund bildet der Umstand, dass der Soldat Hitler »keine Deformation
seiner Geschlechtsorgane« aufwies, wie Machtan erforscht haben will. Für

47
die Zeit nach 1923 spricht dagegen ein Zeuge von »teilweiser Impotenz« des
Führers (stressiger Parteiaufbau, Manager-Syndrom) und von einer »175er
Neigung«, die er allerdings nur »sehr verdünnt« ausgelebt habe. Wie oft es
sich Adolf H. einfach selber besorgte und welche signifikanten Bildfetzen
ihm dabei durch den recht unruhigen Kopf schössen, harrt allerdings noch der
wissenschaftlichen Aufhellung. So wenigstens könnte der sonst eher
unverständliche, in jedem Fall männlich-markige Schlusssatz Machtans
gemeint sein: »Wenn wir Hitlers Leben Geheimnisse entreißen können, so
müssen wir es tun.« Nur zu! Nach seiner Überzeugung knackte der Autor mit
seinem Buch »in der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts eines der
letzten tabuisierten Themen«. In Wirklichkeit verwurstete er eine Menge
Tratsch und schließt interpretatorische Konsequenzen für die Beurteilung des
Nationalsozialismus und der damit untrennbar verbundenen Massenver-
brechen ausdrücklich aus.
Im Übrigen entstand das so genannte Mend-Protokoll unter nicht ganz
geklärten Umständen in jenen nationalkonservativen Kreisen, die sich
1938/39 mit Umsturzplänen trugen. Diese scheuten 1938 noch den
Tyrannenmord. Aber sie scheuten auch einen politischen Prozess, der nach
einem erfolgreichen Putsch gegen Hitler fällig gewesen wäre, und zwar aus
einem einfachen Grund: Sie wollten nämlich die wichtigsten bis dahin
erzielten außen- und innenpolitische Ergebnisse nationalsozialistischer
Politik keinesfalls revidieren. Daher suchten sie Belastungsmaterial, das
ihnen erlauben würde, sich mit unpolitischen Anschuldigungen aus der
Affäre zu ziehen. Für sie - und eine solche Ausweichreaktion mag bis heute
aktuell sein - erschien das Bild vom »Perversen«, von der »schwulen Sau«
Hitler am allerbequemsten.

48
Nationaler Sozialismus
Der Dritte Weg oder
Hitlers Traum vom Volksreich

Im Jahr 1933 hatte Adolf Hitler »Arbeit, Arbeit, Arbeit« versprochen und
sein innenpolitisches Nahziel im Laufe von vier Jahren einigermaßen
erreicht. Noch meldete die Reichsanstalt für Arbeit Ende Februar 1936 mehr
als 2,5 Millionen Arbeitslose. Auch blieben Löhne und Renten im Vergleich
zu 1929, dem letzten Jahr vor der Weltwirtschaftskrise, auf tiefem Niveau.
Im Jahr 1928 betrug die Gesamthöhe aller Arbeitseinkommen 42,6
Milliarden RM, 1935 magere 31,8 Milliarden RM. Erst 1938 erreichte die
Lohnsumme - nicht etwa der Stundenlohn - die Höhe von 1928. Allein die
relative Besserung, das Gefühl von Aufschwung und autoritärer
Entschlossenheit reichten, um die Massenloyalität zu wahren. Allgemein
setzte sich, nach einigen Monaten des Abwartens, Ende 1933 auch in breiten
bürgerlichen Kreisen die in einem privaten Tagebuch niedergelegte Meinung
durch, »man bekommt doch mehr und mehr die Zuversicht und den Glauben,
daß es unter dieser Regierung wieder aufwärts gehen wird mit Deutschland«.
Bald kehrte das Saargebiet nach einer freien, überwältigend eindeutigen
Volksabstimmung in den Reichsverband zurück. Das bewirkte eine tiefe
Demoralisierung aller deutschen Antifaschisten, die mit ganzer Kraft
versucht hatten, diese demokratisch getroffene Entscheidung zu beeinflussen.
1936 wurden das Rheinland remilitarisiert und, ebenfalls unter Bruch des
Friedensvertrags, die Wehrmacht in höchster Eile und überaus modern
aufgerüstet. Sie bewährte sich schnell als Interventionsstreitmacht im
Spanischen Bürgerkrieg. Von 1933 bis Mitte 1939 wandte das Deutsche
Reich 90 Milliarden Reichsmark für die Wiederaufrüstung auf. Die für
damalige Begriffe ungeheure Summe entsprach mehr als drei normalen
Reichshaushalten. Die Verschuldung des Reiches belief sich Ende August
1939 auf 37,4 Milliarden Reichsmark. Der Wirtschaftsboom war mit
Krediten finanziert worden.
Zug um Zug und zur zunehmenden Freude der Deutschen annullierte Hitle r
jene Knebelungen, die das Versailler Diktat dem Reich auferlegt hatte. Die
politischen Überraschungsaktionen, mit denen er die schmählichen, wie zum
Hohn als »Frieden« bezeichneten Demütigungen beiseite schob, erfüllten die

49
Nation mit Genugtuung. Außenpolitisch profitierte die deutsche Regierung
jetzt vom spät erwachten schlechten Gewissen der einstigen Sieger. Die
politisch Verantwortlichen in Frankreich und Großbritannien verfingen sich
in einem regelrechten Schuldkomplex, der ihre Reaktionsfähigkeit gegenüber
dem »Dritten Reich« lahmte. Ja, sie belohnten den offen Vertragsbrüchigen
Diktator 1936 mit den von allen diplomatischen Interventionen freien
Olympischen Sommer- und Winterspielen, die das Regime in Berlin und
Garmisch-Partenkirchen glanzvoll inszenierte.
Mit dem in den Pariser Friedensverträgen ausdrücklich verbotenen
Anschluss Österreichs an Deutschland verwirklichte sich ausgerechnet im
März 1938 der bürgerlich-demokratische Traum von 1848. Freilich vollzog
sich die Bildung eines großdeutschen Nationalstaats nicht in den Formen der
Republik. Aber sie vollzog sich - unter dem begeisterten Jubel des Volkes.
Wird heute die geschichtliche Entwicklung des deutschen Nationalstaates
mehrheitlich als langer, komplizierter Weg nach Westen interpretiert, so
damals als langer, an Hindernissen mindestens ebenso reicher Weg zur
großdeutschen Kulturnation.
In Erinnerung an die März-Revolution von 1848 erklärte Hitler am 30.
März 1938 in Frankfurt am Main, in der Stadt des Paulskirchen-Parlaments:
»Das Werk, für das unsere Vorfahren kämpften und bluteten, kann nunmehr
als vollbracht angesehen werden.« Hitler präsentierte sich in der alten
Krönungsstadt als »Vollender einer Sehnsucht«, als »Reichswiederher-
steller«, der das »Versailler Friedensdiktat Seite für Seite zerrissen« hatte.
Bereits am 15. März 1938 hatte er auf dem Wiener Heldenplatz pathetisch
ausgerufen: »Ich kann in dieser Stunde dem deutschen Volk die größte
Vollzugsmeldung meines Lebens abstatten. Als Führer und Reichskanzler der
deutschen Nation und des Reiches melde ich vor der Geschichte nunmehr
den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich.«
Es folgte das Münchner Abkommen vom September 1938. Damit lieferten
die Westmächte die demokratische Tschechoslowakei der Willkür des
Reiches aus und besiegelten das schnelle Ende der »Rest-Tschechei«. Im
Frühjahr 1939 beschloss die Wiedergewinnung des Memellandes die Kette
äußerlich friedlicher Rückeroberungen. Der ununterbrochene Siegeszug
schwächte die Bedenkenträger in Deutschland, die Freunde der realistischen,
wenig glanzvollen Kompromisse dauerhaft. Sie blieben auf der Strecke
(wurden nicht etwa ins KZ gesperrt), ob sie nun Hjalmar Schacht hießen,
Ludwig Beck oder Carl Goerdeler. Die auf Vermittlung Bedachten, darunter
seinen Achsen-Freund Mussolini, bezeichnete Hitler gerne als »Schweine-
hunde«. Sie störten seine so volkstümliche Politik der klaren Alternativen,
des alles oder nichts.

50
Die innen- und außenpolitischen Erfolge der ersten sechs Jahre sicherten
Hitler einen hohen Grad an Massenzustimmung. Sie reichte weit über die
Stammwählerschaft der NSDAP hinaus und entzog der innerdeutschen
Opposition jede Grundlage. Als illegal eingereister Verbindungsmann der
linkssozialistischen SAP beobachtete Willy Brandt im Sommer 1936 unter
Berliner Arbeitern eine Stimmung, die er als »nicht überschwenglich, auch
nicht betont regimefreundlich«, aber als »erst recht nicht regimefeindlich«
kennzeichnete.
Hitler konnte Juristen, Berufsdiplomaten und Generalstabsoffiziere nicht
leiden. Doch zu seinem Vorteil ließ er sie gewähren, ließ ihnen Zeit zur
partiellen Anpassung. Die expressionistisch-massenwirksamen Aktionen der
nationalsozialistischen Bewegung fanden ihr Widerlager in einer staatlichen
Bürokratie, die bei aller Anpassungsbereitschaft keines ihrer hergebrachten
Steuerungs- und Kontrollprinzipien aufgab. Der Rechnungshof des
Deutschen Reiches überprüfte die Verwaltung des Ghettos Lodz-
Litzmannstadt ebenso wie die »Verwaltung des Judenvermögens« in Serbien.
Insgesamt zerstörte der NS-Staat die Grundlagen der alten bürgerlichen
Ordnung weit weniger als der spätere DDR-Sozialismus. Das macht die
kurzen zwölf Jahre seiner Herrschaft heute so schwer begreiflich. Sie
gewannen ihre extremen Energien aus der permanent gehaltenen Spannung
zwischen rationalen und emotionalen politischen Bedürfnissen, aus
konservativen und utopischen Visionen, aus alten und neuen Eliten, aus der
Spannung zwischen der technisch-modernistischen Lust an allem Machbaren
und der gleichzeitigen Mythologisierung des angeblich Althergebrachten. Die
Regierung Hitler verwirklichte lange aufgeschobene Reformgesetze und
zeigte gleichzeitig revolutionären Schwung. Sie warf Unnützes über Bord,
wie zum Beispiel die Sütterlinschrift, und versprach die Volksmotorisierung.
Bei aller Unduldsamkeit und Grausamkeit gegenüber kämpferischen
Sozialisten und von Staats wegen definierten Juden empfanden die
Deutschen Hitler nicht - wie man im Rückblick leicht vermuten könnte - als
unerbittlichen Ausgrenzer, sondern als den großen Integrator. Die
Institutionen des Geistes und auch des Staates bewahrten sich ein erhebliches
Maß an innerer Pluralität. Sie versagten sich in ihrer übergroßen Mehrheit der
blinden Ideologisierung. Im Gefüge der Gauleiter, der Ministerien und dem
weiterhin dreigliedrigen Staatsaufbau blieb die Repräsentanz unterschied-
licher Interessen gewahrt. Manche Nachkriegshistoriker sehen in der
polykratischen Struktur einen Nachteil, ja eine Blockade. Das Gegenteil ist
richtig. Erst die ständige Binnenspannung erzeugte das hochbrisante und bald
zerstörerische Gemisch aus Realpolitik, Ideologie und national-sozialer
Utopie. Sie führte, in extrem kurzer Zeit, zum größten Krieg und zum

51
größten Massenverbrechen der Neueren Geschichte - zur Ermordung der
europäischen Juden.
Dennoch erschien im Nationalsozialismus nur weniges unnormal. Die
Deutschen gerieten in ihrer übergroßen Mehrheit in einen atemberaubenden
Taumel geschichtlicher Geschwindigkeit. Und eben deshalb entwickelten
sich deutsche Intellektuelle zu ganz verschiedenartigen und verschiedenartig
nützlichen Werkzeugen der Diktatur - in der Spannung zwischen Bruch und
Kontinuität, Karrierismus und ungehemmter wissenschaftlicher Wahrheits-
suche. Es waren die radikalen Historiker des SS-Sicherheitsdienstes, die zum
Beispiel dem wilhelminischen Antisemiten Gustav Freytag vorwarfen, er
habe in seiner altmodischen Staatsfixiertheit die befreiende Bedeutung des
Begriffs »Volk« noch nicht erkannt. Dieselben Leute wandten sich gegen den
universitären Muff von tausend Jahren. Sie mokierten sich exemplarisch über
das nazistische »Reichsinstitut für die Geschichte des neuen Deutschland«,
das sie für methodisch rückständig hielten, weil es »die Geschichte der
Arbeiterbewegung und des Bauerntums im 19. Jahrhundert vollständig
vernachlässigt« habe.*
Neben den Bedürfnissen nach radikaler Aktion, nach revolutionärer
Veränderung, nach einer Propaganda der Tat integrierte der
Nationalsozialismus solche nach maßvoller Veränderung. Da wollten die
Bauern entschuldet werden und die Vorzüge einer festen Marktordnung
erreichen, die sie von den Unwägbarkeiten der Ernte und der Preisbildung auf
dem Weltmarkt befreite. Das Reichslandwirtschaftsministerium reagierte auf
die Not der Bauern schnell. Ärzte wollten eine wirksame Tuberkulose-
bekämpfung durchsetzen, verlangten nach entsprechenden Meldegesetzen,
nach Zwangsmaßnahmen und nach allgemeiner Prävention durch bessere
Wohnverhältnisse und eine schlagkräftige Organisation der
Medizinalverwaltung.
Neben dem Ressentiment gegen alles Fremde vereinte die - insgesamt
gesehen - klassenübergreifende Wählerschaft Hitlers die unbestimmten
Veränderungswünsche fast aller Deutschen in der modernen Volkspartei
NSDAP. Sie bot dem proletarischen Technikfreak das NSKK, das NS-
Kraftfahrerkorps, dem Gebildeten die SS-Reiterstaffel. Die von den sozialen
Bewegungen des 19. Jahrhunderts für das 20. Jahrhundert erhobene
Forderung zur sozialen Aufwärtsmobilisierung breiter Volksschichten fand in

* Joachim Lerchenmueller (Hg.), Die Geschichtswissenschaft in den Planungen des


Sicherheitsdienstes der SS. Der SD-Historiker Hermann Löftler und seine Denkschrift
»Entwicklung und Aufgaben der Geschichtswissenschaft in Deutschland«, Bonn
2001.

52
der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands eine im Rückblick
wirkungsvolle Förderin. Ein Mann wie Martin Heidegger glaubte »an die
große Erneuerung aus der geistigen und sittlichen Kraft des Volkes«. Das
»Neue Reich« erfüllte solche Sehnsüchte beispielsweise im Reichsarbeits-
dienst. Er wurde vom Juni 1935 an für alle deutschen Männer und Frauen zur
Pflicht. Das entsprach zu diesem Zeitpunkt keiner sozialökonomischen
Notwendigkeit mehr, vielmehr ging es Hitler darum, den Klassenkonflikt zu
neutralisieren. In diesem Sinne hatte er am 1. Mai 1933, der in jenem Jahr
erstmalig gesetzlicher Feiertag war, gefordert: Auch der Intelligenzler oder
spätere Angestellte müsse mindestens einmal im Leben körperliche Arbeit
kennen lernen und so die Kluft zwischen den »Arbeitern der Stirn und der
Faust« verkleinern.
Schnell standen Hitler und seine Männer für die Politik des großen Rucks.
Sie bewiesen politischen Gestaltungswillen und nutzten die Möglichkeiten
der neuen Medien. Dazu gehörte die rasche, staatlich gewollte Verbreitung
des Volksempfängers, des VE-301, dessen Modell-Nummer auf den 30.1.
(1933), den Tag der Machtübernahme, verwies. Eine Mischung aus
punktuellem Terror und Massenzuwendung erlaubte der neuen Regierung
eine Herrschaftsform, die sich am ehesten als jederzeit mehrheitsfähige
Zustimmungsdiktatur kennzeichnen ließe - als Deutsche Demokratische
Diktatur.
Aber Zustimmung für wen? In der Öffentlichkeit existierte Hitler nicht als
Mensch, der in »Fräulein Braun« eine stets vernachlässigte Freundin fand,
seine Ticks pflegte und an Magen-Darm-Beschwerden litt. Vielmehr wurde
das politische Produkt »Führer« vom Ministerium für Volksaufklärung und
Propaganda kommuniziert. Hitler war der erste Medienkanzler Deutschlands.
In den Hochglanzfiktionen seines Leibfotografen Heinrich Hoffmann
erschien er als zölibatärer Übermensch. Nicht zufällig gehörte Eva Braun
ursprünglich zur PR-Entourage Hitlers: Sie hatte bei Hoffmann das
Fotografieren gelernt, als Einzige durfte sie, und sie tat es mit Hingabe, ihren
Adolf H. ständig fotografieren, »typen«, wie man damals sagte. »Möglichst
natürlich«, versteht sich.
Als kultische, nicht selten ekstatische Stimme teilte sich »der Führer« im
Radio mit, in der Wochenschau als sorgenvoller, doch entschlossen
dreinblickender Retter des Vaterlandes. Anlässlich triumphaler Massenevents
mimte er das vollständig entkörperte »divinatorische Genie« (Goebbels).
Albert Speer, Art-Director deutscher Größe, der mit seinem Chef den Hang
zur gruftig -pubertären Höhlenästhetik teilte, zauberte den jeweils passenden
Hintergrund: die Marschsäulen und Lichtdome, die Paraden knackiger Leder-

53
und Uniformkerle oder die Reigen leicht verhüllter Ehrenjungfern
(Mindestgröße: 165 cm). Das Dritte Reich sprach Menschen an, die aus den
unterschiedlichsten Milieus stammten, und es pflegte eine mehrschichtige
Staatserotik.
Am 1. September 1939 beendeten die Demokratien des Westens die Politik
des Auftrumpfens. Die Sowjetunion dagegen unterstützte Hitler-Deutschland
und trat am 17. September 1939 mit dem Einmarsch in Ostpolen in jenen
Krieg ein, der sich 20 Monate später zum Zweiten Weltkrieg ausweitete. »Im
Krieg«, schreibt lan Kershaw, »fand der Nationalsozialismus zu sich selbst.«
Dessen Schlüsselbegriff hieß wie der jeder anderen sozialutopischen
Massenbewegung des 20. Jahrhunderts -»Kampf«. Nun zeigten sich die
Deutschen zu Beginn des Zweiten Weltkrieges keineswegs übertrieben
kämpferisch, sondern sehr viel skeptischer als im Juli 1914. Aber die Sache
fing gut an und erschien zeitlich begrenzt. Eine Serie umstandsloser
Eroberungen ließ jede ängstliche Erinnerung an den Ersten Weltkrieg schnell
verblassen. Polen, Belgien und Frankreich mussten 1939/40 die seit
Jahrhunderten umstrittenen Grenzprovinzen zurückgeben, die sie sich nach
1918 einverleibt hatten. Von 1933 bis 1941 vergrößerte sich die Fläche des
Deutschen Reiches (ohne Protektorat Böhmen und Mähren sowie
Generalgouvernement) um immerhin 45,4 Prozent. Mehr noch: Die
kriegerischen Anfangserfolge Hitlers verliehen den unsäglichen Leiden, den
Millionen Toten und Invaliden des Ersten Weltkrieges, dem Leid der
Kriegswaisen und -witwen rückwirkend einen Sinn. Die deutschen Opfer der
Jahre 1914/18 erschienen binnen weniger Wochen nicht länger als im
Maschinengewehrfeuer oder im Giftgas elend Verreckte, sondern als
Vorkämpfer eines zunächst verspielten, aber schließlich umso größeren
Sieges.
Hitler sah darin erst den Anfang. Bereits am 15. Januar 1940 kolportierte
Goebbels - einer der wenigen, die ihm fast freundschaftlich nahe standen -
seinen verehrten Führer beispielsweise so: »Nur wenn es keinen Weg zurück
mehr gibt, findet man auch den Mut zu ganz großen Entschlüssen.« Am 22.
Juni 1941, dem ersten Tag des Russlandfeldzuges, war diese Situation
geschaffen. Die führenden Militärs hatten sich dem für das Regime und das
Deutsche Reich schließlich tödlichen Angriff nicht widersetzt. Hervorheben
ließe sich hier Edmund Wagner, Generalquartiermeister des Feldheeres und
1944 Mitverschwörer des 20. Juli, der am 5. Oktober 1941 an seine Frau
schrieb: »Immer wieder staune ich doch über die militärische Beurteilung
durch den Führer. Er greift diesmal, man kann schon sagen entscheidend, in
den Verlauf der Operationen ein, und bisher hat er immer recht behalten.«
Bis zu diesem Zeitpunkt bestand Hitlers politisches Geheimnis im frechen
Überraschungscoup, in der Integration der Gegensätze. Hitler bewegte sich

54
ähnlich einem dilettierenden Seiltänzer, der sein Gleichgewicht nur mit Hilfe
immer weiterer, immer schnellerer, zuletzt hastiger und atemloser
Ausgleichsbewegungen halten kann, um schließlich doch abzustürzen. Das
Regime Nationaler Sozialismus brauchte Expansion und Krieg, nur so konnte
es sich halten. Oft deutete Hitler die Möglichkeit seines baldigen Todes an,
um mit diesem Hinweis das zur Selbststabilisierung erforderliche, überdrehte
Tempo seines Regierens zu wahren. Er und seine insgesamt überaus jungen
Gefolgsleute erzeugten eine Aura der Atemlosigkeit, des Jetzt-oder-nie, wie
sie jedem Revolutionär eigen ist. Im Jahr 1933 war Goebbels 35 Jahre alt,
Heydrich 29, Speer 28, Eichmann 27, Mengele 22, Himmler und Frank
waren 33. Göring - einer der Älteren - hatte gerade seinen 40. Geburtstag
gefeiert. Noch im Jahr 1943 konnte Goebbels notieren: »Interessant ist eine
Statistik, die mir von Seiten des Arbeitsministeriums vorgelegt wird. Danach
beträgt das Durchschnittsalter der führenden Persönlichkeiten auch in der
mittleren Schicht in der Partei 34 und innerhalb des Staates 44 Jahre. Man
kann also in der Tat davon sprechen, daß Deutschland heute von seiner
Jugend geführt wird.« Der Historiker Theodor Schieder rechnete die
Deutschen zu den »jungen Völkern« Europas, denen, die sich im
revolutionären Aufbruch befanden.
Nach der gescheiterten Sommeroffensive von 1942 wurde Hitler schnell
zum Phantom, das sich in der geheimen masurischen »Wolfsschanze« unter
sieben Metern Stahlbeton verkrochen hielt. Der Nazi-Grusel dort
dokumentiert die Verrücktheit einer ganzen Nation. »Hitlers Schlafzimmer
war spartanisch eingerichtet, winzig, ein Feldbett, sonst fast nichts«, erinnerte
sich ein Nachrichtensoldat später an »den Schlafraum des ›Chefs‹«. Eine von
Hitlers Sekretärinnen berichtete aus dem frisch betonierten Feldlager, das so
gut versteckt war wie der Schatz einer Schnitzeljagd: »Das Bett mußte man
immer erst durch die eigene Körperwärme trocknen, es fühlte sich ständig
feucht an.«
Die Lager- und Kriegsromantik, die Lust am Verborgenen, am einfachen
Leben - der gewollte Zivilisationsbruch - stand für die jugendbewegte,
kriegerische und klassenkämpferische Distanz zum bürgerlichen Überfluss,
für die freiwillige Ausrichtung, für eine als alternativ verstandene
Militarisierung des Denkens. Die individuelle Freiheit relativierte sich im
Hochgefühl von Gleichheit. Dem entsprachen Sendungs- und Allmachts-
vorstellungen, die eben keine Phantasien blieben. So äußerte Hitler
angesichts der Katastrophe von Stalingrad im November 1942: »Ich höre
grundsätzlich immer erst fünf Minuten nach zwölf auf!« Seiner Sekretärin
Traudl Junge erklärte er auf die Frage, warum er nicht heiraten und Kinder
haben würde: »Ich finde, die Nachkommen von Genies haben es meist sehr
schwer in der Welt.«

55
Unwidersprochen monologisierte Hitler über seinen Traum vom
»deutschen Volksreich«: Er sah die Bauern der deutschen Mittelgebirge in
der Ukraine siedeln und ein von Berlin gesteuertes Europa »zum Land der
unbegrenzten Möglichkeiten« werden. Zur Realität hielt er zunehmend
Distanz. Als sein Panzerheld Heinz Guderian (»Nicht kleckern, klotzen!«)
am 20. Dezember 1941 die taktische Frontbegradigung zugunsten der
Männer seiner stark überstrapazierten Zweiten Panzerarmee und der halb
erfrorenen Zweiten Armee in einem persönlichen Gespräch mit Hitler
durchsetzen wollte, befand der Angesprochene: »Sie sollten sich mehr
absetzen. Glauben Sie mir, aus der Entfernung sieht man die Dinge schärfer.«
Einige Tage später enthob er Guderian seines Postens, nicht zum Zweck der
Degradierung, sondern um auch ihm zum gewünschten Abstand zur Realität
des nutzlosen Massensterbens zu verhelfen. Bis Ende März 1942 waren von
den 3,2 Millionen deutschen Soldaten, die neun Monate zuvor in die
Sowjetunion eingefallen waren, gut eine Million verwundet, vermisst oder
tot.
Getreu seinem Motto, sich von der Realität »abzusetzen«, sah sich Hitler
niemals eine niedergebombte und ausgebrannte deutsche Stadt an. »Ich weiß,
wie es ist«, erwiderte er 1944 auf die Anregung, sich das Elend in München
einmal selbst anzusehen, »aber ich werde es ändern. Wir haben jetzt neue
Flugzeuge gebaut, und bald wird dieser ganze Spuk ein Ende haben.«
Gleichzeitig widmete er sich voll »leidenschaftlicher Intensität« dem Neubau
deutscher Städte. In den Flächenbombardements sahen er und die Verfechter
eines neuen, rationell durchstrukturierten Deutschlands den Vorzug unge-
hemmter Planungsfreiheit.
Aber wie konnte sich dieses Regime trotz seiner halsbrecherischen
Instabilität so lange und derart effizient an der Macht halten? Wie gelang es,
die Massenunterstützung, die Mehrheitsfähigkeit in Deutschland immer
wieder zu gewinnen? Die nahe liegende Antwort ist bis heute nicht
akzeptiert. Für Hitler stand das Volkswohl an erster Stelle. Es war die Einheit
von Wirtschafts -, Sozial-, Rassen- und Kriegspolitik, die diesem Staat die
Unterstützung sicherte. Das Dritte Reich errang seinen innenpolitischen
Zuspruch als das Reich der kleinen Leute und jener deutschen Intellektuellen,
die beschlossen hatten, ihren Klassendünkel aufzugeben. Hitler propagierte
einen »Sozialismus ohne Proletarier«. Er bot den Krauses eine gemeinsame
Perspektive jenseits des Klassenkampfes, er verstand sich als Politiker des
Dritten Weges. Diese Ziele sollten schnell erreicht werden, binnen einer
Generation, mit Hilfe des erbeuteten Eigentums und der Äcker der
Vertriebenen und Ermordeten, mit Hilfe der Rohstoffe und unter Ausbeutung
der Arbeitskraft all derer, die nicht zur deutschen Herrenrasse zählten.

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Merke er sich das, Fähnleinführer!
Warum ein Großgrundbesitzer nicht NS-Opfer sein darf

Im Juli 1998 fasste das Bundesverwaltungsgericht einen knappen Beschluss.


Es verwarf das Rechtsmittel der Revision und bestätigte so ein Urteil, das die
2. Kammer des Verwaltungsgerichts Greifswald im August 1997 gefällt
hatte. Obsiegt hat das Landesamt für offene Vermögensfragen Mecklenburg-
Vorpommern, unterlegen ist die Muttland Aufbaugesellschaft mbH,
Gewinner sind die öffentliche Hand und eine Vielzahl kleinerer wie größerer
Liegenschaftsinhaber. Sie können nun endgültig zu Eigentümern werden,
bauen, verkaufen oder beleihen.
Zu diesem nicht ungerechtfertigten Zweck aber kränkten die Verwaltungs-
und Bundesrichter die antifaschistische Ehre eines Mannes, der im Februar
1945 im KZ Sachsenhausen gewaltsam zu Tode kam, nachdem er zuvor - seit
dem 21. Juli 1944 - unter unklaren Vorwürfen in den Gestapogefängnissen
Stralsund und Stettin inhaftiert gewesen war. Hätten sie Malte zu Putbus als
Opfer der NS-Herrschaft eingestuft, dann wäre die Enteignung seines nach
heutigen Normen fast unermesslichen Landbesitzes unrechtmäßig gewesen
und das Besitztum hätte dessen Erben zurückgegeben werden müssen. Und
weil sie das nicht wollten, aus wohlerwogenen Gründen vielleicht nicht
wollen konnten, mussten sie ein ehrabschneidendes Urteil schreiben. Die
Begründung der Greifswalder Kammer umfasst 214 Seiten, der
Streitgegenstand ein Sechstel der Fläche Rügens, genauer gesagt: die
Begüterung Putbus. Zu ihr gehörten bis 1945 exakt 44 Güter, 152 Bauernhöfe
und sieben gewerbliche Betriebe, die Kreidebrüche und -schlämmereien in
Jasmund, Mönkendorf, Sehlitz, Dumsevitz, Dubnitz, Groß-Volksitz und
Poissow. Gemäß dem letzten Betriebsprüfungsbericht vom 31. Juli 1940
handelte es sich um 18360,47 Hektar Land. Dazu gehörten Schloss Putbus
und Park, das Seebad Lauterbach, kleine Sommerresidenzen und Förstereien.
Den Mittelpunkt bildeten die repräsentativen, im klassizistischen Stil
gebauten Beamten- und Handwerkerhäuser der Stadt Putbus, der Marstall,
das Pädagogicum, die Christuskirche; schließlich das Jagdschloss Granitz
wie das Theater von Putbus, beide von Karl Friedrich Schinkel entworfen.
Fast alles ist gut erhalten, vieles renoviert. Nur das Schloss selbst fehlt, es

57
wurde 1960 kurzerhand abgerissen, nicht aus dem antifeudalen Furor der
frühen DDR-Jahre, sondern weil das Geld für die schon begonnenen
Erhaltungs- und Sanierungsarbeiten ausgegangen war.
Kein Zweifel, die fürstlich Putbus'sche Herrschaft passte schon lange nicht
mehr ins Bild des modernen Staats, sei er nun demokratisch, nazistisch oder
volksdemokratisch verfasst. Die Bewohner seiner aufgeklärten, selbstverlieb-
ten Stadtneugründung hatte sich Fürst Wilhelm Malte I. im Jahre 1806
mittels einer Zeitungsannonce gesucht; sie sollten, so stand im Text,
»hinlängliche Beweise eines ordentlichen und stillen Betragens« beibringen.
Noch 1944 entrichteten die Bauern ihre Pacht in Form von Naturalien, sie
lieferten einen Teil ihrer Roggenernte an die fürstlichen Rentämter ab.
Hätten die Gerichte den in Sachsenhausen ermordeten Malte zu Putbus als
Opfer des Nationalsozialismus, also als Opfer politischer Verfolgung
anerkannt, wäre die Regelung dieser immerhin beachtlichen offenen
Vermögensfrage rechtstechnisch nicht möglich gewesen, wie es nach dem
Gerichtsurteil geschehen konnte. Aber die Raison der Wiedervereinigung
verlangte es so, das wollten CDU, SPD und PDS gemeinsam. Die
Unsicherheit vieler und ein Investitionshindernis erster Ordnung mussten
beseitigt werden. »Gesprengte Ketten« hieß das Störtebeker-Historical, das
im Jahr des Urteils 1998 auf Rügen gegeben wurde: »Ein neuer, vier Jahre
andauernder Zyklus über das Leben des Robin Hood der Meere«, der, so will
es die Legende, den Reichtum der Pfeffersäcke in das Kleingeld der Massen
verwandelte. Aus einem Alteigentümer lassen sich viele Neueigentümer
machen, Freibeuter und Likedeeler unter sich.
Es waren die kleinen Leute, andere gab es kaum, die ihren Fürsten zur Zeit
der NS-Herrschaft beim SS- und Polizeiapparat denunzierten, recht bald
nachdem er sein Erbe 1935 angetreten und ihnen zunächst die gewissenhafte
Lektüre von Mein Kampf anempfohlen hatte. Natürlich ging es dabei auch
um die Höhe der Pachten. Die Preisstoppverordnungen Görings sollten die
Junker Ostelbiens nachhaltig treffen und taten es auch. Zu Putbus, der den
Weltkrieg mitgemacht, danach in den Freikorps gegen die bolschewistische
Gefahr, gegen Pöbel und Gosse, so wird er sich ausgedrückt haben, gekämpft
hatte, war der NSDAP bereits 1932 beigetreten. Als Nationalist und
Antidemokrat gewiss, doch auch deshalb, weil er zumindest einen Teil seines
Herrendünkels im Krieg abgelegt hatte. Anreden allerdings ließ er sich nicht
als Parteigenosse, sondern als Rittmeister, wahlweise als Herr zu Putbus.
Rasch zerstritt er sich mit den kleinen örtlichen Funktionären: »... das
merke er sich, Fähnleinführer«, so redete er mit ihnen, so protokollierte das
Gaugericht Pommern der NSDAP seine Tonlage. Als zu Putbus sich
weigerte, an den nationalen Beflaggungstagen ausschließlich die

58
Hakenkreuzfahne zu hissen, und deshalb vom Bürgermeister und
Ortsguppenleiter Schröder, dem örtlichen Bäcker, zur Rede gestellt wurde, da
beschied er dem nationalsozialistischen Funktionär, »daß er zu dem alten
Ärger noch jeden Augenblick neuen hinzufügt«. Einen anderen Vorfall im
März 1939 protokollierten die Parteirichter so: »Zu Putbus hat versucht, auf
seinen Angestellten Jahn, Zellenleiter und Betriebsobmann seiner
Verwaltung, einzuwirken, sein jüngstes Kind taufen zu lassen. Dessen
Ablehnung hat er mit den Worten beantwortet, er sei genauso verrückt wie
der Kreisleiter und die ganze Partei. Im Verlauf des Gesprächs hat er zur
Judenfrage Stellung genommen und in seiner Erregung geäußert, er könne
die Juden verstehen, sie würden sich an Deutschland einmal rächen, sie
hätten ihre Ehre und verteidigten sie. Es sei ungerecht, sie aus Deutschland
zu verweisen, Gott werde Deutschland durch die Juden strafen. Er hat weiter
erklärt, das deutsche Volk sei das dümmste Volk auf der ganzen Erde und
seine Führung treibe heute eine Politik, als ob ein Elefant im Porzellanladen
trample.«
Wenig später notierte der Putbuser Ortsgruppenleiter: »Die Bewegung steht
im scharfen Gegensatz zu Herrn Malte zu Putbus.« Außerdem sorgte er
dafür, dass der Fürst für drei Tage in Schutzhaft genommen und in Putbus
Plakate angeschlagen wurden, die ihn als »Judenfreund«, »Saboteur Hitlers«
und »Landesverräter« bezeichneten. Trotz einiger verteidigender
Einlassungen - die zitierten die Greifswalder Richter im Jahre 1997 gern und
in aller Breite - wurde Malte zu Putbus aus der NSDAP ausgeschlossen, Ein
Verfahren vor dem Sondergericht Stettin wegen »Heimtücke« wurde nach
einer Intervention des Reichsjustizministeriums mit einer Verwarnung
eingestellt.
Das Sondergericht Stettin leitete der notorische Blutrichter Johannes
Paulick. Er hatte es so weit getrieben, dass er später nicht einmal mehr in den
bundesdeutsehen Justizdienst übernommen wurde. Paulick war in Stettin
Gaurechtsberater gewesen. »Er galt«, wie es in einer Urkunde der
Ludwigsburger Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen heißt, »als
rechte Hand des Gauleiters von Pommern, Schwede-Coburg.« In den letzten
Kriegswochen leitete er das Standgericht und sorgte dafür, dass sämtliche
Akten des Sondergerichts am 28. April 1945 in Greifswald, wohin sie
verlagert worden waren, verbrannt wurden. Anfang Februar 1945 führte er
als kommissarischer Richter des Volksgerichtshofs mindestens eine
Verhandlung in Stettin. Diese Verhandlungen fanden in der letzten
Kriegsphase auch außerhalb von Berlin statt. Paulick organisierte damals die
Räumung der pommerschen Ge fängnisse, er entschied täglich über Leben
und Tod. Gefangene aber, die aus geringfügigen Gründen inhaftiert waren,
ließ er laufen.

59
Bis zum Tag der Überstellung nach Sachsenhausen besaß dieser Mann die
Gewalt über den Untersuchungsgefangenen Malte zu Putbus. Dass der am 21.
Januar 1945 an seinen Sohn schrieb, er erwarte seinen Prozess in Berlin,
dieses Wort dann strich und Greifswald dahinter setzte, passt zu dieser
Gesamtsituation. Paulick war, auch das ist in Ludwigsburg aktenkundig, ein
erklärter persönlicher und politischer Gegner des Fürsten zu Putbus.
Alle diese Fakten ignorierte das Greifswalder Gericht im Jahr 1997 mit
Vorsatz. Nicht die geringste Anstrengung unternahmen die Richter, um die
Szene und die handelnden Personen zu beleuchten. Die Inhaftierung des
Malte zu Putbus wird in der Tat »regional« gewesen sein. Sie wird auf das
Betreiben Paulicks zurückgegangen sein und auf das des Gauleiters Franz
Schwede, eines Mannes von reinstem deutschen Arbeiterblut aus dem
Memelländischen, eines gelernten Maschinenschlossers, seit der
gemeinsamen Kampfzeit in Bayern eng mit Heinrich Himmler verbunden. In
Schwedes Gau wurden die Geisteskranken zuallererst, schon im Oktober
1939, durch die SS ermordet; die Stettiner und Schneidemühler Juden schon
im Februar 1940 in die Region Lublin deportiert. Schwede war der Inbegriff
des sozialen Nazis - Malte zu Putbus, ein weltläufiger, gelegentlich
starrsinniger und gewissensfester Reaktionär, sein natürlicher Feind.
Die Erste Deutsche Republik versäumte in den zwanziger Jahren den
Sozialrevolutionären Akt durchgreifender Fürstenenteignung, der dieser Art
von überkommener Herrschaft ein Ende gesetzt hätte. Schon deutlich
weniger als die Republik war das Dritte Reich ein Staat der Junker. Und 1942
schien eines der großen Ziele des Sozialpolitikers Heinrich Himmler zum
Greifen nah: »Gelöst ist auch das Problem der Klassen und Stände. Nicht
Stand und Abstammung sind entscheidend, sondern die Leistung«, erklärte er
seinen SS-Fahnenjunkern. Sie stammten aus allen Schichten der deutschen
Bevölkerung, mehrheitlich aus den unteren. Jeder träumte vom Siedlungshof
im annektierten deutschen Osten oder im Schwarzerde-Gebiet. Die Fläche
sollte aus ökonomischen Gründen 20 bis 50 Hektar betragen, der
Großgrundbesitz nach dem Sieg aus denselben Gründen aufgelöst und
umverteilt werden. Hier liegen die historischen Voraussetzungen dafür, dass
die sozialen Schranken in der Bundesrepublik weit niedriger sind als im
benachbarten Frankreich, die Möglichkeit sozialer Aufwärtsmobilisierung
weit höher ist.
In denselben Kontext gehört das KdF-Bad Prora auf Rügen, dessen
Baugrund zu Putbus zur Verfügung stellte. Die Grundlagen des heutigen
deutschen Massentourismus wurden hier von Robert Ley, dem Chef der
Deutschen Arbeitsfront, gelegt. »Wir müssen die ganze freie Zeit nach der
Arbeit ausbauen«, begründete er sein »Kraft-durch-Freude«-Projekt, »zu

60
einem gigantischen Werk, es wird das Größte sein, was diese Revolution
vielleicht hervorbringt.« Dauerhaft wurde es jedenfalls.
Konterrevolutionär, dem Alten verhaftet erschien dagegen die Begüterung
Putbus - längst schon angefeindet, von einem Betriebsführer verwaltet, hielt
sie sich jedoch bis 1945 in der Rechtsform des Familienfideikommisses. Sie
war also unverkäuflich, ihren Besitzern kamen nur die Erträge aus den
Ländereien zu, gegebenenfalls die Schulden, aber Teile des Besitzes durften
weder verkauft noch beliehen werden. Der Code Napoleon, der diese Form
feudaler Bodenordnung in Frankreich und in den westlichen Gebieten
Deutschlands aufgehoben hatte, konnte nach Mecklenburg und Pommern
nicht durchgreifen; kaum mehr Wirkung entfaltete die Weimarer Verfassung,
deren Artikel 155 diese Form feudaler Besitzstandswahrung ausdrücklich
verbot. Selbst das entsprechende Reichsgesetz vom 6. Juli 1938, das der
republikanischen Verfassungsnorm endlich zur Geltung verhelfen sollte,
drang zunächst nicht durch, weil im Krieg die großagrarische Produktion
nicht gestört werden sollte. Erst der Alliierte Kontrollrat bestätigte das Gesetz
zur Abschaffung der Familienfideikommisse 1947 ausdrücklich als geltendes
deutsches Recht. Erst damit erlosch eine vorkapitalistische Form des
Großgrundbesitzes, die endgültig zu beseitigen deutsche Republikaner,
Sozialdemokraten und Nationalsozialisten fast 150 Jahre lang vergeblich
versucht hatten.
Die Enteignung der Putbus'schen Ländereien durch die sowjetische
Besatzungsverwaltung im September 1945 lag in der geschichtlichen Logik
des 20. Jahrhunderts. Großgrundbesitz stört die Entwicklung der Märkte, die
Flexibilität der Arbeitskraft und die Akkumulation des Kapitals. Die
postmittelalterliche Art der Bodenordnung stand, so idyllisch die
Verhältnisse im Einzelfall sein mochten, für den Stillstand und Niedergang
ganzer Regionen, sei es im Ungarn der Zwischenkriegszeit, dessen
unproduktive, sozial ungerechte Besitzverteilung Hitler immer wieder
beklagte, oder im italienischen Süden, der damit den Anschluss an die
industrielle Entwicklung verlor.
Selbst wenn es nicht nachweisbar ist, dass Malte zu Putbus noch von den
Behörden Hitlerdeutschlands enteignet wurde, wie es sein Sohn Franz den
Greifswalder Richtern erklärte, so sprechen alle historischen Fakten dafür,
dass eine solche Enteignung vorgesehen war. Seine politische Verfolgung,
sein gewaltsamer Tod sollten die Verfügung über seinen Besitz ermöglichen.
Schon im September 1943 hatte Goebbels notiert: »Ich schlage dem Führer
vor, so schnell wie möglich den Großgrundbesitz der ehemals regierenden
Familien zu beschlagnahmen.« Hitler pflichtete dem bei. Im Sommer 1944
marschierten die ersten Neusiedler in Gestalt der Volksdeutschen Flüchtlinge
bereits an, und aus generellen wie nunmehr praktischen Erwägungen setzte

61
Heinrich Himmler im August 1944 durch, dass sie auch auf den enteigneten
Gütern der »Verbrecher des 20. Juli« angesiedelt werden sollten. Zu Putbus
unterhielt zu den Verschwörern lockere, vielleicht nur verwandtschaftliche
Beziehungen. Ob er als Verdächtiger oder, wie einige andere Großgrund-
besitzer auch, einfach im Schatten der großen Razzia am Tag nach dem
gescheiterten Attentat verhaftet wurde, ist unklar; mehr spricht für die zweite
Version. Diese und andere Unklarheiten sind aus mehreren Gründen schwer
zu klären. Zwar wurde Stettin schwer bombardiert, ein großer Teil der
Dokumente am Ende des Krieges von den Deutschen vernichtet. Darin aber
liegt nach aller Erfahrung kein wirkliches Hindernis für die NS-Forschung.
Dass im Gegensatz zu westdeutschen Städten und Regionen selbst die
einfachsten lokalgeschichtlichen Grundlagen fehlen, ist vielmehr Folge einer
bewussten Geschichtspolitik der SED. Sie hatte die Erforschung des
deutschen Alltagsnazismus in seinen regionalen Ausprägungen sorgsam
vermieden. Sie beschränkte sich auf die Strukturen des Großkapitals, der
Kriegsmaschinerie, der Partei- und Regierungsspitzen, auf Industrielle und
eben Junker. Sie schonte den kleinen deutschen Mann, das eigene Staatsvolk;
alle Schuld musste bei Leuten wie zu Putbus liegen. Dafür, um dieser
Selbstrechtfertigung willen, schuf sie ein Zerrbild des Dritten Reiches, das
die wichtigste Einsicht verstellte: Nie zuvor und nie danach gab es in der
deutschen Geschichte eine höhere Übereinstimmung zwischen Volk und
Führung als in jenen zwölf Jahren.
Sosehr die Greifswalder Richter 1997 der Rechtssicherheit und einer
Gerechtigkeit dienten, die sich wie schon in den Jahren 1944/48 als
Verteilungsgerechtigkeit verstand, so wenig sahen sie sich der historischen
Wahrheitsfindung verpflichtet. Im entscheidenden Punkt ihres Urteils
verstiegen sie sich zu Sätzen, die den Tatbestand der Verdrehung erfüllen:
»Es fragt sich«, so wanden sie sich, »ob von einer politischen Gerichtetheit
der Verfolgung gesprochen werden kann und ob Malte zu Putbus etwa -
wofür Anhaltspunkte bestehen - wegen einer regional beschränkten
Verfolgung dieser durch Aufsuchen einer Fluchtalternative hätte begegnen
können.« Das Bundesverwaltungsgericht schloss sich dieser opportuni-
tätsgeleiteten, wirklichkeitsfremden, geradewegs widerwärtigen Definition
des Begriffes »NS-Verfolgung« an. Es sprach sein Urteil gegen alle
historischen Tatsachen - im Namen des Volkes, unter dem Beifall des
Volkes.

62
Unsere gesellschaftlichen Verhältnisse
Fortschrittl., hum. Arzt in Jena, Ausmerzer

Er war Mitbegründer der modernen Kinderheilkunde, engagierter Retter der


Neugeborenen und Säuglinge, eine Stütze der Mütter. Ihm, der 1877 in Kairo
geboren worden war, in Heidelberg und München Medizin studiert hatte,
wurde eine Fülle von Ehrungen zuerkannt - besonders in Jena, wo er im
Auftrag der Carl-Zeiss-Stiftung seit 1917 die Universitätskinderklinik aufge-
baut hatte. Er leitete sie bis zu seinem Tod 1953; Jena machte ihn 1947 zum
Ehrenbürger, die DDR überreichte ihm bald schon den Nationalpreis I.
Klasse. Die Friedrich-Schiller-Universität, der dieser dem nationalen Erbe
verpflichtete Name 1934 beigelegt wurde, verlieh ihm die Ehrendoktorwürde,
Straßen, Kindergärten und selbstverständlich die Jenenser Kinderklinik
wurden nach ihm benannt.
Endlich aber wurde im Jahr 2000 auch öffentlich zur Kenntnis genommen,
was längst hätte bekannt sein können. Wie so viele deutsche Professoren für
Kinderheilkunde - Bamberger, Catel, Bessau, Duken, um nur einige zu
nennen - beteiligte sich auch Jussuf Ibrahim an den »Euthanasie«-Morden im
Dritten Reich. Der Mann, den die Thüringer lange und in gewissem Sinn zu
Recht als engagierten Arzt verehrten, geriet 1942 in Misskredit. Nicht wegen
Widerstands, wie die Stadtlegende noch jahrzehntelang behauptete, sondern
weil er allzu offen an dem geheimen, jedoch keineswegs unbekannten
Staatsprogramm zur tödlichen »Erlösung« behinderter Kinder mitwirkte.
Ibrahim hatte damals in die Krankengeschichten einiger Kinder geschrieben:
»Euthanasie beantragt!« Deshalb beschwerte sich der Chef der für Thüringen
zuständigen Heil- und Pflege- und Mordanstalt Stadtroda (seit 1942
Nervenklinik) bei der Kanzlei des Führers über den Geheimnisverrat des
Jenenser Professors. Dort aber legten die Beamten den Fall in aller Stille bei.
Die »Ungeschicklichkeit« Ibrahims sei »menschlich«, schließlich habe man
mit ihm in den Fragen der Euthanasie »sehr schön zusammengearbeitet«.
Ibrahim engagierte sich für den leistungsstarken, gesunden Nachwuchs
Thüringens und für die Verminderung sozialer Lasten, auch insofern verstand
er sich als »Helfer der Mütter«.

63
Die Fakten wurden bereits 1985 veröffentlicht - auf der Basis von Quellen,
die auch aus Archiven der DDR stammten.* Sie waren unter den
ostdeutschen Medizinhistorike rn, die sich für die Freiexemplare bedankten,
auch bekannt und führten, wie man heute weiß, zu verschiedenen
Abwehrreaktionen. Nachdem die Universitätskinderklinik in Jena 1985 in
Westdeutschland ins Gerede gekommen war, nahm sich die Ostberliner
Generalstaatsanwaltschaft des Falles an. Handschriftlich vermerkte der
bearbeitende Staatsanwalt Lothar Reuter: »Die Sache ist brisant, da Prof.
Jussuf als fortschrittl., hum. Arzt in Jena gewürdigt wurde.« Er gelte als
»Schwärm der thür. Mütter«. Deshalb wurde die Untersuchung bald wieder
eingestellt und die Abteilung Internationale Verbindungen beim
Generalstaatsanwalt der DDR (das war der stets freundliche Günther
Wieland) »informiert, keine Auskunft zu erteilen, um eine Diskriminierung
der DDR zu vermeiden«.
Eine kritische lokal- und institutionsgeschichtliche Selbstaufklärung musste
die DDR auf breiter Front vermeiden, weil sonst nicht einer ihrer
antifaschistischen Mythen hätte weiterbestehen können. Stattdessen erschien
über Ibrahim eine Hagiographie, die, frei von jeder Quellenangabe, aus dem
durchaus angepassten Freund erbhygienischer Ausmerze einen Helden
formte, der seinerzeit unter »drohenden Wolken«, dem Argwohn der
Gestapo, vor allem aber unter »terroristischen anglo-amerikanischen
Bombenangriffen« fast ununterbrochen sein Leben riskiert habe. **
Schließlich, im Januar 2000, machten zwei Fachleute, die sich schon lange
mit den ärztlichen Verbrechen der NS-Zeit auseinander setzten, das
prinzipiell Bekannte zum Stein öffentlichen Anstoßes: Die Jenaer
Historikerin Susanne Zimmermann legte neue, von Ibrahim selbst verfasste
Dokumente vor, in Jena öffentlich unterstützt von dem angesehenen
Frankfurter Publizisten Ernst Klee. Wie in der alten Bundesrepublik der
siebziger Jahre protestierten vor allem die älteren Jahrgänge. Seinerzeit galt
solche Aufklärung im Westen als vom Osten gesteuert. Im Jahr 2000
sprachen die mittlerweile demokratisch legitimierten Honoratioren Jenas von

* Karl Friedrich Masuhr/Götz Aly, Der diagnostische Blick des Gerhard


Kloos, in: Reform und Gewissen. »Euthanasie« im Dienst des Fortschritts (=
Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 2),
Berlin 1985, S. 81-106.

** Wolfgang Schneider, Arzt der Kinder. Aus dem Leben Jussuf Ibrahims,
Jena 1970.

64
einer inszenierten Kampagne des Westlers Klee. Sie wandten sich gegen
einen eingebildeten »westlichen Angriff auf die alte Funktionselite der
DDR«.
Von alldem konnte keine Rede sein. Susanne Zimmermann, die seit eh und
je in Jena lebt, präsentierte einen handschriftlichen Brief Ibrahims an den
Chefarzt der Mordanstalt Stadtroda. In diesem Schreiben bescheinigte
Ibrahim einem fünfjährigen Zwillingskind »keine aussichtsreiche Zukunft«:
»Vielleicht könnte er bei Ihnen nähere Beobachtung finden. Euth.? Heil
Hitler, Ibrahim.« Das Kind starb im Juni 1944 in Stadtroda, offiziell an Herz-
Kreislauf-Schwäche.
Erst auf öffentlichen Druck nach dem gemeinsamen Auftritt von Klee und
Zimmermann wurde im Frühjahr 2000 die »Kommission der Friedrich-
Schiller-Universität Jena zur Untersuchung der Beteiligung Prof. Dr. Jussuf
Ibrahims an der Vernichtung ›lebensunwerten Lebens‹ während der NS-Zeit«
eingesetzt. Sie gab den Tatsachen schnell die Ehre. Neben lange bekannten
Quellen erschlossen die Mitarbeiter der Kommission neue. Der mehr als 50
Seiten starke Abschlussbericht stützt sich auf 222 Quellenhinweise und führt
- nüchtern, glasklar formuliert - zu der Feststellung: »Professor Dr. Jussuf
Ibrahim hat die Praxis der nationalsozialistischen Vernichtung
›lebensunwerten Lebens‹ frühzeitig gekannt und dennoch Schwerstge-
schädigte Kinder der gezielten Tötung überantwortet.« Er hat sich an diesem
Vernichtungsprogramm »wissentlich und freiwillig beteiligt«.*
Die Kommission dokumentierte sieben Fälle, in denen Ibrahim an der
Ermordung behinderter Kinder in unterschiedlicher Weise beteiligt war.
Diese Patienten wurden ermordet, nicht weil sie, wie Ibrahims Verteidiger bis
zuletzt glauben machen wollten, in einem angeblichen Endstadium
unsäglichen Qualen ausgesetzt gewesen waren, sondern weil ihre
Lebenserwartung hoch war, weil sie der Volksgemeinschaft - der
Solidargemeinschaft, würde man heute sagen - und auch ihren nächsten
Angehörigen »zur Last« fielen, dauernder Pflege bedurften und niemals
leistungs- oder auch nur arbeitsfähig gewesen wären. Allein darin bestand der
Grund. Die Kommission legte einen weiteren handschriftlichen Begleitbrief
vor, mit dem Ibrahim ein Kind in die weit über Thüringen hinaus berüchtigte
Mordanstalt Stadtroda einwies: »Sehr geehrter Herr Kollege! S. Seh. aus E.,
jetzt 12 Vz Mon. alt, leidet an Microcephalia vera. Ein Erbmoment ist nicht
bekannt. Eine normale Entwicklung wird sich nicht erreichen lassen. Euthan.

* Der Bericht der Ibrahim-Kommission aus dem Jahr 2000 findet sich unter
www.verwaltung.uni-jena.de/oeff/ibrahim.

65
wäre durchaus zu rechtfertigen und im Sinne der Mutter. Vielleicht nehmen
Sie sich des Falles an? Mit besten Empfehl. u. Heil Hitler! Ergebenst Dr.
Ibrahim.« Die Empfehlung hatte es in sich. Denn die praktizierenden
Mordärzte in Stadtroda und die drei von Hitlers Parteikanzlei fest engagierten
Gutachter hielten die Patientin noch für zu jung, die Prognose für zu
unsicher, um schon jetzt eine Entscheidung über Leben und Tod zu treffen.
Interessant sind auch einige Veröffentlichungen Ibrahims. 1942 schrieb er
in einem Handbuchartikel zur Therapie der Meningitis tuberculosa: »Es ist
wohl meist richtiger, von einer Verlängerung des Lebens mit allen Mitteln
abzusehen.« Über die von Spina bifida bewirkten Behinderungen meinte er
im selben Buch: »Wo schwere Lähmungen vorhanden sind, erweist man dem
Kind keinen Dienst, wenn man alles tut, das Leben zu verlängern.« Wie viele
seiner Fachkollegen sah auch Ibrahim schon 1934 »Rassendispositionen der
Juden für ganz bestimmte Nervenleiden«.
Nachdem die Fakten kaum mehr zu bestreiten waren, verteidigte Peter
Liebers (Jena) im Neuen Deutschland vom 14. April 2000 sein sozialistisch
veredeltes Idol: »Die Hilflosigkeit der Ärzte gegenüber den Kranken, denen
sie nicht helfen konnten, führte zu derartigen Überlegungen, die in ihrem
Ursprung dem heutigen Streit um Sterbehilfe für Krebspatienten im
Endstadium ihrer Krankheit vergleichbar sind. Vieles spricht dafür, dass er
Ibrahim vorgeworfene Fall gerade in diesen Grenzbereich medizinischen
Handelns fällt.« Liebers hat ganz Recht, so dachte man in Thüringen schon
lange. Die »Euthanasie«-Morde stießen dort auf keinen nennenswerten
Widerstand, sondern auf wohlwollenden Konsens. Nur in Thüringen fand
nach 1945 kein einziger Strafprozess wegen der Massenmorde an
behinderten Menschen statt. Das lag auch an der breiten öffentlichen
Befürwortung des Verbrechens gerade dort. Als Indikator dafür kann die
Entwicklung der vom NS-Staat wie von der späteren DDR gewollten
Kirchenaustritte genommen werden. Als sich Hitler 1939 darüber
unterrichten ließ, um ein Bild von der Massenloyalität zu gewinnen, erhielt er
folgende Statistik: In München waren 2,2 Prozent der Kirchenmitglieder
ausgetreten, in Leipzig 9,9, in Berlin schon 10,1. Mit großem Abstand - mit
15,8 Prozent - führte jedoch Jena. Schließlich gründete die Renitenz, mit der
die Mehrheit der Jenenser Ibrahim verteidigte, auf gewissen materialistischen
DDR-Traditionen. Wer in der DDR ein schwer behindertes Kind oder eine
chronische Krankheit hatte - etwa dialysepflichtig war - und einen
Ausreiseantrag stellte, der war ruck, zuck im Westen, um das sozialistische
Aufbauwerk nicht weiter zu belasten.

66
Als Susanne Zimmermann ihre Forschungen 1987 begann, verweigerte ihr
die Urkundenstelle vom Rat des Kreises Stadtroda die Einsicht in die
Sterberegister. »Es gäbe Anweisung von oben«, so wurde ihr gesagt,
»Auskünfte über die ehemaligen Insassen der Stadtrodaer Kinderabteilung zu
verwehren.« Eine solche Anordnung bestand seit den sechziger Jahren.
Damals hatte das MfS unter der Bezeichnung Operativvorgang Ausmerzer
Untersuchungen über Stadtroda begonnen, weil zuvor ein Ermittlungs-
erfahren der Staatsanwaltschaft Göttingen gegen den ehemaligen Direktor
Gerhard Kloos eingeleitet worden war - wegen Mordes in 1500 Fällen (in
Stadtroda waren neben den Kindern auch Hunderte von erwachsenen
Patienten ermordet worden). Dabei ergab sich für die Stasi-Ermittler rasch
ein merkwürdiges Bild:
Die Ärztin, die zwischen 1942 und 1945 die Station für behinderte Kinder
in Stadtroda leitete und einzelne Kinder aufgrund von Gutachten ermordete
und dafür eine spezielle Gratifikation der Kanzlei des Führers empfing, stand
der Abteilung bis zu ihrer Pensionierung 1965 vor. Sie hieß Margarete
Hielscher; 1933 war sie der NSDAP beigetreten, später dann der SED.
Ähnliches galt für eine Reihe von Pflegern und Krankenschwestern und für
den stellvertretenden Leiter der Anstalt, Hans Schenk, wie die für die DDR-
Ermittlungen eigentümlichen Sozialanamnesen der Verdächtigen zeigen. Die
Nachfolge Ibrahims an der Universitätskinderklinik Jena übernahm Erich
Häßler. Er hatte sich an der Universitätskinderklinik Leipzig an den
»Euthanasie«-Verbrechen beteiligt. Den Lehrstuhl für Psychiatrie und
Neurologie hatte nach dem Krieg Rudolf Lemke inne, zuvor Richter am
Erbgesundheitsobergericht Jena. Während in der Bundesrepublik 1963 gegen
den ehemaligen Direktor von Stadtroda wegen Mordes ermittelt wurde,
bestätigten ihm die DDR-Kollegen »gerne« , dass er »an der Durchführung
des Euthanasieverfahrens der ehemaligen NSDAP in keiner Weise beteiligt
gewesen« sei. Überhaupt sei in Stadtroda nicht ein Patient »der Euthanasie
unterzogen worden«. Die gesamtdeutsche Leugnungsgemeinschaft
funktionierte glänzend, und so konnte die Staatsanwaltschaft Göttingen das
Verfahren unter ausdrücklichem Hinweis auf die günstigen DDR-Zeugnisse
einstellen.
Auf ganz ähnliche Weise verfuhr auch die Bezirksverwaltung der
Staatssicherheit, die in der DDR prinzipiell alle NS-Ermittlungsverfahren
führte. Ihr machte vor allem die Karriere von Rosemarie Albrecht zu
schaffen, die n der DDR zur Dekanin der Medizinischen Fakultät Jena
aufgestiegen war. Aber unter Kloos' Leitung hatte sie als blutjunge
Assistenzärztin zweifelsfrei den gewaltsamen Tod von mindestens 50 Frauen,
darunter den Mord an der kommunistischen Reichstagsabgeordneten Helene
Fleischer, verantwortet. Das musste zu einer unheilvollen Dialektik zwischen

67
antifaschistischer Theorie und zukunftsweisender Staatspraxis führen: »Die
Aufdeckung der vermutlichen Euthanasieverbrechen in Stadtroda bedeutet«,
so schlössen die MfS-Ermittler in Gera 1965 den Operativvorgang
Ausmerzer, »daß nach Einschätzung der BV [MfS-Bezirksverwaltung Gera]
die national anerkannte und international bekannte Dr. Albrecht in das
Verfahren einbezogen werden muß.« Und weiter: »Da Beschuldigte aus der
DDR in höheren Positionen des Gesundheitswesens stehen, könnte bei der
Auswertung ein unseren gesellschaftlichen Verhältnissen widersprechendes
Ergebnis erreicht werden. Aus diesem Grund wird vorgeschlagen, die
Bearbeitung des Vorgangs mit einer Sperrablage im Archiv des MfS
abzuschließen.«

68
Die Fahrt ins Blaue
Alfred Döblin
und die Berliner »Listenkranken«

Am 14. September 1964 meldete sich eine Frau aus Basel bei der
Staatsanwaltschaft in West-Berlin. Sie fragte nach den merkwürdigen
Umständen, unter denen ihr Onkel im Januar 1945 in den Wittenauer
Heilstätten gestorben war: »Es interessiert mich zu wissen«, schrieb sie, »ob
in den genannten Heilstätten Euthanasie angewendet wurde?« Der zuständige
Ermittlungsbeamte legte zehn Tage nach dieser Anfrage ein Blatt 2 der Akte
an, verfügte das Rubrum »Gegen Unbekannt wegen Mordes Aktion
Gnadentod« und schloss die Akte für immer.
Bevor sich eine Initiativgruppe im Jahr 1988 des Schicksals von mehr als
10000 ermordeten Berliner Psychiatriepatienten annahm und unter dem Titel
Totgeschwiegen eine Ausstellung erarbeitete, wurde das Thema nur einmal in
43 Jahren öffentlich aufgeworfen. Ein unscheinbarer Artikel mit der
Überschrift »Die Fahrt ins Blaue« - gedruckt 1946 nicht in Berlin, sondern
800 km entfernt in der Badischen Zeitung - handelte von »einer Geschichte«,
die der Autor »im Großen und Ganzen schon kannte«, die ihn »aber durch
ihre Einzelheiten berührte, als wäre sie neu«. Anvertraut hatte sie ihm ein
ehemaliger Kollege, der den Autor in einem kleinen Schwarzwaldort auf
offener Straße ansprach, weil sie beide - Jahrzehnte zuvor - in einer der vier
großen Berliner Irrenanstalten gearbeitet hatten. »Immer leicht benommen
und erregt«, erzählte der frühere Kollege, wie der Direktor ihm und den
anderen Ärzten sechs Jahre zuvor auf einer der üblichen Konferenzen und
zwischen den anderen Punkten mitgeteilt habe, es seien Listen anzulegen für
alle Kranken, die sich länger als fünf Jahre in der Anstalt befänden »und die
zudem nicht soviel arbeiteten, daß dies auf ihre Verpflegung in Anrechnung
gebracht werden könne«. Es seien Fragebogen verteilt und von den
Stationsärzten ausgefüllt worden. Nach einer gewissen Zeit setzten
»Evakuierungen« ein. Zuerst kam das »Verbrecherhaus« an die Reihe, dann
die anderen Häuser, »eine Station nach der anderen«. Weiter referierte die
Badische Zeitung aus dem Bericht: »Die Angehörigen, nicht benachrichtigt,
kommen sonntags zu Besuch, verstehen nichts. Die Pfleger können keine

69
Auskunft geben. Schließlich wird mitgeteilt: Die Berliner Anstalten müssen
weitgehend geräumt werden, die Kranken kommen in Provinzialanstalten.
Die Angehörigen schimpfen eine Weile herum, aber beruhigen sich. Es
leuchtet ihnen ein, denn die Krankenhäuser der Stadt leiden unter den
Fliegerangriffen, und man kann sich überzeugen: Die leeren Räume werden
frisch gestrichen und zu Krankensälen für innere und chirurgische Kranke
umgewandelt.« Die zum Abtransport fertig gemachten Kranken sollten ihren
Namen auf der Haut tragen. Sie »waren zu zeichnen - die Pfleger und
Pflegerinnen sagten: wie Schweine«. Die öffentlich Bediensteten halfen
einem jeden, die Bluse abzulegen, das Hemd über die Brust hochzustreifen,
und während sie ihm beruhigend zusprachen, musste der Patient »den Buckel
krumm machen«: »Die Pflegerin hinter ihm schreibt deutlich mit dem
Farbstift einen Vor- und Zunamen auf die Haut - Tränen in den Augen.« Das
alles sei im Morgengrauen geschehen, große Personenautos - Busse - rollten
vor, die Fenster mit weißem Papier verklebt. Abtransport. »Langsam aber
sickerte durch, wo die Fahrt ins Blaue endete.« Nicht in einer billigeren,
weniger kriegsgefährdeten Provinzialanstalt, wenn, dann nur als
vorübergehender Zwischenaufenthalt. Die Kranken mussten, zunächst
ahnungslos, später durchaus wissend, in Brandenburg und anderswo in
Gaskammern, getarnt als Duschräume, treten. Nach dem Bericht geschah das
so: »Man läßt sie sich auf die Bänke setzen. Eine stellt sich in die Ecke. Eine
zieht es vor, sich auf den Boden zu setzen. Die Pflegerinnen winken: ›Ruhig
sein‹, warten, und schließen die Tür. Die Kranken sind allein. Eine steht auf,
fängt ihren stereotypen Kreisgang an. Eine flüstert und schimpft auf etwas
Unsichtbares. Da rauscht es. Es scheint, die Duschen gehen. Eine auf der
Bank läßt den Kopf sinken und plumpst, ihrem Kopf nach, dumpf auf die
Steinplatten. Die im Kreis gegangen war, blickt auf und sackt in den Knien
zusammen. Auf der Bank lehnen sie eine neben der anderen, rutschen, zwei
zusammen und einzeln, herunter, fallen übereinander. Die ›Duschen‹
rauschen.«
Auf den »Friedhöfen kamen bald ganze Serien von Urnen auf einmal an«.
Fünftausend bis sechstausend Berliner traten dem Bericht zufolge 1940 und
1941 diese Fahrt ins Blaue an. Zuletzt - 1945 - sei die Zahl der Anstalts-

* Der Artikel Döblins findet sich vollständig abgedruckt, von H. D.


Heilmann eingeleitet und kommentiert, in dem Buch Feinderklärung und
Prävention. Kriminalbiologie, Zigeunerforschung und Asozialenpolitik (=
Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 6),
Berlin 1988.

70
patienten auf ein Zehntel abgesunken. »Man hieß auch nicht mehr ›Heil- und
Pflegeanstalt‹, sondern ›Krankenhaus‹ und hatte eine Kinderabteilung, eine
Station für heilbare Nervenkranke und so weiter.«
Jedes Detail des kurzen Zeitungsartikels stimmt. Sein Verfasser, der
französische Besatzungsoffizier Alfred Döblin, beschrieb in äußerst knapper
Form die wichtigen Elemente der »Aktion T4« in Berlin." Am 20. Januar
1940 hatte der Reichsverteidigungskommissar für den Wehrkreis III »im
Zuge der Neugestaltung des Heil- und Pflegeanstaltswesen« angekündigt, er
werde »in der nächsten Zeit die Verlegung einer größeren Anzahl von
Insassen« dieser Anstalten anordnen. Der Erlass legte auch fest, dass die
Angehörigen über die Verlegung nicht zu unterrichten seien, dies sei Sache
der Aufnahmeanstalt. Im Laufe des Jahres 1940 meldeten allein die
öffentlichen Berliner Heil- und Pflegeanstalten rund 6000 ihrer Patienten
über die Medizinalabteilung des Reichsinnenministeriums an die neu
geschaffenen »Euthanasie«-Behörden in der Tiergartenstraße 4 (»Aktion
T4«), Im Ergebnis führten die Meldungen zur Ermordung der meisten derart
registrierten Patienten und dazu, dass bereits am 31. Oktober 1940 die größte
Anstalt, nämlich Berlin-Buch, geschlossen und anderen Zwecken zugeführt
werden konnte. Die Anstalt Herzberge wurde im Juni 1941 zum Lazarett
umgewandelt, Wuhlgarten wenig später zum Hospital. Wittenau blieb die
einzige aufnehmende Anstalt der Stadt. 1939 lebten 9204 psychiatrische
Patienten in Berliner Heilstätten, Ende 1941 noch 3525, 1945 noch 1807. In
den Verwaltungsbüros der Berliner Friedhöfe kamen in den Jahren 1940 und
1941, genau wie Döblin berichtete, Tausende von Urnen an. Auf Beschluss
des deutschen Gemeindetages, der das Mordprogramm schon in seiner
Sitzung am 3. April 1940 eingehend besprochen hatte, wurden den
Friedhofsinspektoren der Stadt genaue Anweisungen für die zu erwartenden
Massensendungen immer gleicher Urnen des gleichen Absenders erteilt.
Während die Zentrale der »Aktion T4« weiterhin dabei blieb, den Namen
und später auch die laufende Nummer der zur Ermordung bestimmten
Kranken auf einen Leukoplaststreifen zu notieren und ihren Opfern auf den
Rücken kleben zu lassen, bildete das von Döblin beschriebene Verfahren,
ihnen - »wie Schweinen« - ein Identifikationsmerkmal direkt auf die Haut zu
schreiben, eine Berliner Besonderheit. Der Vorschlag stammte vom
stellvertretenden Direktor der so genannten Zwischenanstalt Neuruppin, der,
am 29. August 1940 an das Berliner Hauptgesundheitsamt gerichtet, Döblin
zufolge wohl direkt an die Berliner Anstalten in Form einer Weisung
weitergeschickt und dort zur gängigen Praxis wurde:
»Bei der Übernahme der Transportkranken aus Berliner Anstalten«, so
heißt es in dem Schreiben, »haben sich gewisse Schwierigkeiten ergeben
insofern, als die mit den Namen beschriebenen Leukoplaststreifen auf dem

71
Wege hierher zum Teil bereits verloren gegangen sind, wodurch die
Identifizierung der einzelnen Persönlichkeiten nicht mehr mit Sicherheit
gewährleistet ist und unliebsame Personenverwechslungen vorkommen
können. Folgende Maßnahmen haben sich seitens der hiesigen Anstalt bei
Abgabe von Transportkranken bisher aufs beste bewährt. Jeder Patient erhält
den vollen Namen auf das Rückenteil seines Hemdes eingenäht. Außerdem
wird der volle Name - erforderlichenfalls auch der Geburtstag - mit rotem
Kopierstift - der hierbei angefeuchtet sein muß - auf die bloße Haut zwischen
die Schulterblätter geschrieben, der sich für längere Zeit unverwischbar
erhält. Bei der Übergabe der Kranken erhält jeder Patient eine Kennmarke
aus Blech mit fortlaufender Nummer (eingestanzt) mit Bindfaden im
Knopfloch befestigt. Der Transportleiter notiert bei der Übernahme des
einzelnen Kranken diese Nummer in ein ihm ausgehändigtes
Namensverzeichnis. Dieses Verfahren hat sich bisher sehr gut bewährt, und
es war hierdurch bisher eine absolute Identitätssicherheit gewährleistet.«
Der Verbesserungsvorschlag kam nicht zufällig aus Neuruppin. Kaum hatte
die »Aktion T4« im Frühjahr 1940 begonnen, stellten sich bürokratische
Unzuträglichkeiten und Personenverwechslungen ein. Daher wurden die
Patienten nicht mehr direkt nach Brandenburg transportiert und nicht mehr
unmittelbar im dortigen Zuchthaus mit Kohlenmonoxid ermordet, sondern in
so genannte Sammelstellen zwischenverlegt. Für Berlin war das insbesondere
die Landesanstalt Neuruppin. Sie wurde Ende Juni 1940 zur »Sammelstelle«
umorganisiert, und der für die Anstalt zuständige Brandenburgische
Provinzialverband forderte das Hauptgesundheitsamt Berlin am 7. August
auf, sie zu belegen. Von den so bezeichneten »Berliner Listenkranken«
konnten dort gleichzeitig 203 Männer und 203 Frauen aufgenommen werden.
Im Unterschied zu den anderen brandenburgischen »Sammelstellen« (Teupitz
und Wittstock) sollten Neuruppin »nur Berliner Kranke aus Berliner
Anstalten zugewiesen werden«. Die beiden dafür eingerichteten Häuser lagen
»so günstig, daß der An- und Abtransport der Kranken reibungslos und ohne
Aufsehen erfolgen konnte«.
Die Verlegung aus der öffentlichen Berliner Heil- und Pflegeanstalt nach
Neuruppin und von dort wenige Wochen später weiter in die
Vergasungsanstalt wurde anhand von Namenslis ten und mit Bussen der
Transportabteilung der »T4« - der »Gemeinnützigen Kranken-Transport
G.m.b.H. (GEKRAT)« - bewerkstelligt. Alle übrigen Aufgaben wie die
Festlegung des Transportzeitpunktes, die Vorbereitung der Kranken zum
Transport, der Schriftverkehr mit den Angehörigen, die Beratung von
Schwierigkeiten, die sich aus dem heimlichen Umbringen eines Menschen
ergeben können, all diese Probleme löste die Staatsverwaltung unabhängig
von der zunächst außerinstitutionell agierenden »Aktion T4« völlig

72
selbständig. Im Fall der Berliner Kranken waren das die Landesanstalt
Neuruppin, der Brandenburgische Provinzialverband, das Berliner
Hauptgesundheitsamt und die so genannte Ursprungsanstalt.
Die Verantwortung in Neuruppin trugen Direktor Dr. Bruno Petzsch und
sein Vertreter Dr. Hans Berendes, die Männerabteilung der »Sammelstelle«
leitete Oberpfleger Weigt, die Frauenabteilung Oberpflegerin Semke. Zuvor
waren mindestens drei nicht mehr benötigte Mitglieder des dortigen
Pflegepersonals (Erwin Braatz, Heinz Unverhau und Kurt Arndt) an die »T4«
ausgeliehen worden und organisierten die Krankentransporte in die
südwestdeutschen Vergasungsanstalten Grafeneck und Hadamar.
Bereits nach sechs Wochen, am 14. September 1940, wurde die Zahl der
Plätze in Neuruppin, die als Zwischenstation auf dem Weg in die Gaskammer
dienten, um 300 auf 706 erhöht, »damit«, wie das Hauptgesundheitsamt
begründete, »die erhebliche Zahl der zu verlegenden Berliner Listenkranken
baldigst erledigt werden kann«. Dieses Ziel war bis Ende November bereits
erreicht, und einige tausend Berliner hatten über Neuruppin den Weg in den
Tod angetreten. Am 2. Dezember teilte der Provinzialverband dem
Hauptgesundheitsamt mit, die Sammelstelle werde »durch allmählichen
Abtransport der Berliner Listenkranken eingehen«. Als neue - entsprechend
kleinere - »Sammelstation für Berliner Kranke« wurde zum gleichen
Zeitpunkt eine Abteilung der Landesanstalt Brandenburg-Görden herge-
richtet.
Der Neuruppiner Direktor war ausdrücklich ermächtigt, der ihm durchaus
nicht ominösen GEKRAT die angeforderten Kranken herauszugeben. Wie
die Vollstrecker der »Euthanasie« selbst war er ermächtigt, nicht verpflichtet,
schon gar nicht wurde ihm irgendetwas befohlen. Auf die Frage der Leiter
der brandenburgischen Zwischenanstalten, »ob sie auf Wunsch der
Angehörigen usw.« Patienten »ohne Mitwirkung der Transport G.m.b.H.«
entlassen dürften, »wurden die Anstalten dahin verständigt, daß
Entlassungsanträgen in jedem Fall zu entsprechen sei«. Ausgenommen
blieben, »wie auch sonst«, nur Insassen, die polizeilich eingewiesen, siche-
rungsverwahrt oder als gemeingefährlich eingestuft worden waren. Die
Anweisung zeigt, welchem Zweck die Zwischenanstalten - neben dem
Ausschließen von Verwechslungen - insbesondere dienten: Der Aufenthalt
dort, der etwa 14 Tage dauerte, bedeutete nichts anderes als die Möglichkeit,
auf die Interventionen besonders hartnäckig nachfragender Angehöriger zu
reagieren, nämlich die schon zur Ermordung vorgesehenen Kranken zu
entlassen, und zwar »in jedem Fall«. In ganz Deutschland, insbesondere aber
in Berlin, machten nur wenige Väter, Mütter, Geschwister oder Kinder der
deportierten Anstaltsinsassen von diesem stillschweigenden, öffentlich nicht
bekannten Angebot Gebrauch.

73
Insgesamt stimmt, was Werner Heyde am 23. April 1941 vor den
versammelten Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälten des
Reiches zum Verhalten der Angehörigen sagte: »In 80 % der Fälle sind die
Angehörigen einverstanden; 10% protestieren, 10% sind gleichgültig.« Ihre
Reaktionen sind - soweit für Berlin überliefert - tatsächlich deprimierend.
Mal beschwerte sich eine Frau, dass ihr »eine goldene Brücke mit fünf
Zähnen, davon l Goldkrone« nach dem Tod ihrer Schwester nicht
ausgehändigt worden war. Der Stellvertretende Leiter der Anstalt Neuruppin
verwies in der Antwort kühl darauf, die Brücke sei am 3. April 1941 »dem
Transportführer Oberpfleger Drehmel aus Bernburg gegen Quittung
ausgehändigt worden«. Ein Vater forderte sachlich die Rücküberweisung
eines Vorschusses von 100,- RM für die Behandlung seines Sohnes, da dieser
nicht mehr unter den Lebenden weile. Noch vor Verlegung und Tod ihres
Mannes bat eine Frau vorsorglich um die Zusendung von Anzug,
Aktentasche, Oberhemd und goldener Uhrkette. Alles war verschwunden.
Wegen dieser Schwierigkeiten und dem dahinter sichtbaren Bestehlen der
Todgeweihten durch Ärzte und Pfleger mussten vom November 1940 an
ausführliche Eigentumsnachweiskarten doppelt für jeden zu verlegenden
Kranken ausgefüllt, zusätzliche Sammellisten gefertigt und alles mehrfach
guittiert werden. Heyde bemerkte offensichtlich auf der Basis solcher
Beschwerden: »Jetzt wird der Nachlaß genau registriert, um den es den
Angehörigen zumeist zu tun ist.«
Die Berliner Anstaltsdirektoren und ihre jeweiligen Vertreter hatten bei der
konkreten Zusammenstellung der Transporte den gleichen
Entscheidungsspielraum wie ihre Kollegen in den Brandenburgischen
Provinzialanstalten: nämlich die Macht und das Recht, auf diesen Listen »mit
roter Tinte die Kranken durchzustreichen, die nicht verlegt werden können«,
sei es, dass sie bereits gestorben oder als Arbeitskräfte unentbehrlich waren.
Dementsprechend schickte die GEKRAT auch Listen, die wesentlich mehr
Namen von Patienten enthielten, als tatsächlich abgeholt werden konnten. Ihr
Leiter schrieb bereits im Juni 1940 an die Anstaltsdirektoren: »Ich überreiche
Ihnen in der Anlage die Transportliste in dreifacher Ausfertigung. Die
Transportliste enthält 95 Namen, es werden aber nur 75 Kranke abgeholt, so
daß Ihnen ein gewisser Spielraum für verlegte, verstorbene usw. Kranke
bleibt.« Die Direktoren wurden damit nicht nur organisatorisch zu Mittätern.
Sie ließen nicht nur Meldebogen ausfüllen und Transporte vorbereiten,
sondern sie entschieden bei jedem Patienten konkret über Leben und Tod,
indem sie etwa jeden fünften von der Liste strichen. Dieses Recht nutzten die
Anstaltsdirektoren, je mehr Kranke umgebracht waren, desto umfassender.
Im April 1941 nahm der Neuruppiner Direktor mehr als ein Drittel der
Kranken als »arbeitende Kranke« von einer Verlegungsliste. Gleichzeitig ließ

74
er sogar fünf Patienten der Anstalt Neuruppin per telefonischer Intervention
beim Leiter der Vernichtungsanstalt Bernburg vor den Toren der Gaskammer
abfangen und zurückschicken. Die Gründe sind nicht bekannt.
Die Akteure werden solche Interventionen nach 1945 zu »Widerstand«
stilisiert haben. Tatsächlich war zwischen den Anstaltsdirektoren - hier
exemplarisch für die Provinz Brandenburg - und der schematisch und
bürokratisch vorgehenden Zentrale in der Berliner Tiergartenstraße nach
einigen Monaten gemeinsamer Massenmordpraxis ein Interessenkonflikt
entstanden. Während die »T4« den Anstaltsdirektoren unterstellte,
ungerechtfertigt viele Patienten von der Verlegung in den Gastod
zurückzuhalten, ihre inzwischen veralteten Listen und Meldebögen
abarbeitete und der medizinische Leiter der »T4«, Professor Werner Heyde,
darauf pochte, »daß aus Gründen der Verantwortlichkeit eine selbständige
Zurückbehaltung von Kranken unter keinen Umständen in Frage kommen
kann«, bezichtigten die Direktoren die »T4« einer widersinnigen Auswahl.
Sie beanspruchten für sich den praktischen Blick für die effizientesten
Kriterien des Mordens. In einem ausnahmsweise als »Geheim« deklarierten
Schreiben des Provinzialverbandes vom 23. April 1941 trat dieser
Kompetenzstreit deutlich zutage. Er wird mit dazu beigetragen haben, die
»Aktion T4« vier Monate später in der zentralistischen Form zu beenden und
das Morden in den öffentlichen Anstalten den einzelnen Direktoren und ihren
Mitarbeitern zu überlassen. Allerdings war es den Berlin-Brandenburgischen
Anstaltsdirektoren schon im April gelungen, die Entscheidungsgewalt über
damals so bezeichnetes lebenswertes und lebensunwertes Leben an sich zu
ziehen.
»Es ist von den Direktoren der Brandenburgischen Landesanstalten in
letzter Zeit mehrfach darüber geklagt worden«, so schrieb der Oberpräsident
Brandenburgs am 23. April 1941, »daß durch die Reichsarbeitsgemeinschaft
Heil- und Pflegeanstalten in Berlin W. (das war die ›Aktion T4‹] bzw. die
Gemeinnützige Kranken-Transport G.m.b.H. in Berlin W 9, Sammellisten
von Kranken zum Abtransport in eine fremde Anstalt überreicht worden sind,
die in der Mehrzahl solche Kranken enthielten, die für die Anstalt durch ihre
Tätigkeit noch von Nutzen sein könnten, während andere, durch Meldebögen
bereits gemeldete Kranke, die infolge ihres chronisch-erregten, oder
unsauberen und stark pflegebedürftigen, auch verblödeten Zustandes sich
eher für einen Abtransport geeignet hätten, nicht angefordert wurden. Es ist
daher von meinem Sachbearbeiter bei der Reichsarbeitsgemeinschaft Heil-
und Pflegeanstalten angeregt worden, dass die Direktoren der Anstalten eine
Liste derjenigen Kranken, die möglichst umgehend abgeholt werden könnten
und deren Abtransport für die Anstalten nützlicher und unbedenklicher
erschiene, aufstellen und einreichen sollten. Es ist mir zwar völlig klar, daß

75
damit eine neue, nicht unerhebliche Arbeitsleistung für die Anstaltsleiter, die
beteiligten Ärzte und Kanzleien verbunden ist; aber es kann dadurch
vermieden werden, daß durch die wiederholte Anforderung von tätigen
Kranken unnütze Arbeit entsteht und die Landesanstalten ihnen noch
nützliche Kranke verlieren, während andere schwierigere und nur sie
belastende Kranke dableiben. Die Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und
Pflegeanstalten hat diesem Vorschlag zugestimmt. Ich ersuche daher, danach
verfahren zu wollen, also solche Listen aufzustellen und über mich an die
Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten einzureichen. Es sollen
nach Möglichkeit nur solche Kranken in die Listen aufgenommen werden,
für die Meldebögen bereits ausgefüllt worden sind; in anderen geeigneten
Fällen müssen Meldebögen den Listen beigefügt werden.«
Die Berliner Anstalten dienten nicht nur als Exerzierfeld des Massenmords,
hier wurden auch die Techniken der Todesverwaltung nach dem Prinzip
Versuch und Irrtum ausgetestet, korrigiert und weiterentwickelt. Dem
entspricht, dass die Direktoren schon an den vorbereitenden Diskussionen
beteiligt waren. So trafen sich in der ersten Augusthälfte 1939 zehn bis 15
Herren im Amtszimmer Philipp Bouhlers in der Kanzlei des Führers, die die
praktischen Details und die Kriterien des geplanten Tötens besprachen -
darunter »die leitenden Ärzte der Anstalten Buch bei Berlin, Wittenau bei
Berlin und von zwei weiteren Berliner Anstalten« [Herzberge und Wuhl-
garten). Bouhler wies bei dieser Besprechung darauf hin, dass in begrenztem
Umfang die Tötung der Insassen der Heil- und Pflegeanstalten beabsichtigt
sei und Hitler dies bereits angeordnet habe. Zweck sei die bessere
therapeutische und pflegerische Versorgung der Übrigbleibenden im
bevorstehenden Krieg und die Schaffung von Lazarettraum.
Im September 1939 besuchten die sich gerade formierenden Organis atoren
der »Euthanasie« die Anstalten Buch und Wittenau. Sie verschafften sich
dabei einen eigenen Eindruck von den Menschen, deren Ermordung sie
bereits beschlossen, aber noch nicht im Einzelnen festgelegt hatten. Im selben
Monat fand in der Kanzlei des Führers abermals eine Besprechung statt, »um
das durch den Auftrag entstandene Problem im größeren Rahmen von Seiten
entsprechender Fachärzte zu beraten«. Neben Männern wie dem
Reichsärzteführer Leonardo Conti, dem Berliner Ordinarius für Psychiatrie
und Neurologie Max de Crinis, dem hessischen Euthanasie-Aktivisten und
Anstaltsdirektor Friedrich Mennecke und dem Leiter der Abteilung
Volksgesundheit im Innenministerium Herbert Linden waren auch diesmal
»die vier Leiter der Berliner Anstalten« dabei, wie Zeugenaussagen eindeutig
belegen.
Das erklärt, warum sich das einfache Tötungspersonal in der
Vergasungsanstalt Grafeneck und später in Hadamar zum guten Teil aus

76
Berliner Anstaltspflegerinnen und -pflegern rekrutierte: Aus Wittenau
wurden im Dezember 1939 die Pflegerinnen Käthe Hackbarth, Friedel
Lichtenstein, Maria Appinger, Hedwig Michael und der Pfleger Stuhl nach
Grafeneck zum »Sonderauftrag« abgeordnet - Personalentscheidungen, die
nur unter der empfehlenden Mitwirkung und dem Einverständnis der Berliner
Anstaltsdirektion getroffen werden konnten. Namentlich bekannt sind weitere
zwölf Männer und Frauen, die aus Berliner Nervenkliniken in die
Mordzentren abgeordnet wurden. Ein Arzt der Wittenauer Heilstätten, Dr.
Ernst Hefter, arbeitete als Gutachter für die »T4«. Außerdem tötete er in der
Kinderklinik Wiesengrund behinderte Kinder. Einer seiner Assistenten dort
war der Kinder- und Jugendpsychiater Gerhard Kujath.
Noch Furcht erregender ist die Karriere des Irmfried Eberl, Amtsarzt im
Hauptgesundheitsamt Berlin, von dort abgeordnet als Leiter der
Tötungsanstalten Brandenburg und Bernburg, 1942/43 Kommandant von
Treblinka. Eberl kommt in der Geschichte Döblins vor. Alle Zeugenaussagen
und Dokumente belegen, dass er jener »junge Arzt« war, der im Herbst 1941,
nach dem Ende des ersten Mordprogramms, als Nachgutachter noch einmal
die Anstalten nach »lebensunwerten« Patienten durchforstete. Als die
Berliner Heil- und Pflegeanstalten dann schon stark geleert waren, heißt es in
Döblins Bericht, sei ein junger Arzt erschienen, »von oben geschickt«, der
mit den Pflegern noch einmal jeden noch vorhandenen »Fall« durchging mit
dem Bemerken: »Wir müssen feststellen, ob diese Kranken durch ihre Arbeit
fürs Haus wirklich unentbehrlich sind. Es wäre sonst ungerecht gehandelt im
Vergleich zu denen, die wir schon fortgebracht haben.«
Sehr wahrscheinlich erscheint auch die unmittelbare Mordbeteiligung eines
der leitenden Wittenauer Ärzte im Zusammenhang mit der »Aktion T4«: Der
Oberarzt Willi Behrendt könnte im Sommer 1941 vorübergehend Leiter des
Tötungszentrums Hadamar gewesen sein. Dies bezeugte die ehemalige
Wittenauer Pflegerin Hackbarth 1948, und dafür spricht eine Formulierung,
die sich auf einer Beförderungsurkunde Behrendts aus dem Jahr 1942 findet.
Dort heißt es, der Beförderte könne sich »des besonderen Schutzes des
Führers sicher sein«. Die seltsame Formel gewinnt an Gewicht, wenn man sie
mit der Aussage Hackbarths zusammen liest: Demnach kam Mitte Januar
1941 »fast sämtliches Pflegepersonal nach der Heilanstalt Hadamar an der
Lahn. Die Leitung hatten die Ärzte Dr. Baumhardt und Dr. Hennicke inne,
die aber später zur Wehrmacht einberufen wurden. Für sie kamen Direktor
Dr. Behrend und Dr. Gorgaß.« Zur genaueren Beschreibung der Person gab
Hackbarth an, dieser Behrend sei mittlerweile »ca. 50 Jahre alt« und
»Direktor« in Berlin; seine damalige Tätigkeit beschrieb sie knapp und
eindringlich: »Leiter in Hadamar, Geisteskranke vergast.«

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1964 erstattete ein ehemaliger Patient der Wittenauer Heilstätten
Strafanzeige gegen den damaligen Professor der Freien Universität Gerhard
Kujath und den damals in der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik noch tätigen
Oberarzt Willi Behrendt. Konkret begründet warf er ihnen die Beteiligung an
der Ermordung von Kindern und Erwachsenen in den Wittenauer Heilstätten
vor. Der Staatsanwalt suchte nicht nach Dokumenten, desinteressiert
vernahm er einige tatbeteiligte »Zeugen«, Vorhalte machte er keine,
protokollierte jedoch die fadenscheinigsten Ausflüchte und nutzte sie dann
als Grundlage des späteren Einstellungsbeschlusses. Schnell war man nur in
einer Hinsicht: Der Anzeigende, Werner K., wurde schon nach wenigen
Wochen polizeilich in eine Düsseldorfer Nervenheilanstalt eingewiesen. Das
geschah auf Betreiben des Bezirksamts Reinickendorf von Berlin, also des
Arbeitgebers eines der beiden Angeschuldigten. Von K. gehe, so die
Begründung, eine »Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung«
aus, und er steigere sich »offenbar krankheitsbedingt in die Vorstellung
hinein, daß ihm in der Zeit seiner Unterbringung in den hiesigen Karl-
Bonhoeffer-Heilstätten Unrecht geschehen sei, für das er Entschädigung
verlangen könne«.
Willi Behrendt wurde 1973 in Ehren pensioniert, Gerhard Kujath starb
1978 als anerkannter Jugendpsychiater; Werner K. wurde wegen der offen-
sichtlichen Unbegründetheit seiner staatlich erzwungenen Einweisung nach
wenigen Wochen aus der Düsseldorfer Nervenklinik entlassen, arbeitete
weiter als Kraftfahrer in Essen und erhielt von 1988 an eine von der Partei
Die Grünen erstrittene Zusatzrente aus dem Berliner Härtefonds für
vergessene Opfer des Nationalsozialismus. Seine Krankenakte aus der NS-
Zeit, die es 1964 noch gab, war 1988 in der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik
nicht mehr aufzufinden. Der Beamte des Bezirksamtes Berlin-Reinicken-
dorf, der den Anzeigenden K. 1964 so schnell als öffentliche Gefahr und als
Rentenneurotiker abgestempelt und die Polizei gegen ihn mobil gemacht
hatte, stieg alsbald zum Verwaltungsdirektor der Wittenauer Heilstätten auf,
die man schon 1957 in Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik umbenannt hatte.

78
Zur Schonung des Steuerzahlers
Massenmord als Technik staatlicher Umverteilung

Die nebenstehende Urkunde handelt vom Krieg gegen die Sowjetunion,


genauer: von den Zielen, die ein erheblicher Teil der Deutschen, ihrer Eliten
und die Reichsregierung damit verbanden. Mehr als 40 Jahre ruhte das
Dokument als Teil des Bestandes »Reichs-Kredit -Gesellschaft« in den
Geheimmagazinen der DDR-Staatsbank, dann in denen des Zentralen
Staatsarchivs in Potsdam. Erst nach 1990 wurde es in einem abseitigen,
schlecht erschlossenen Bestand des Bundesarchivs zugänglich. Der Aktentitel
lautet: »Unterlagen und Aktenvermerke mit sonstigen Stellen«.
Das Schriftstück ist das zweiseitige, nicht ganz vollständig überlieferte
Kurzprotokoll für den Vorstand der einstigen Berliner Großbank Reichs-
Kredit -Gesellschaft A.G. (RKG), deren Geschäftstätigkeit sich seit 1939 auch
auf die Finanzierung und Refinanzierung der deutschen Angriffs- und
Vernichtungskriege erstreckte. Der Verfasser ergibt sich aus dem
Diktatzeichen oben links: »B« steht für Dr. Bernhard Benning (1902-1974),
den Direktor der Volkswirtschaftlichen Abteilung der RKG. Auf dem linken
Rand des Dokuments zeichneten die wichtigsten Mitglieder des Vorstands
ab, deren Paraphen sich anhand der im Bundesarchiv verwahrten offiziellen
Musterunterschriften leicht zuordnen lassen. Von oben nach unten: Alfred
Schaeffer (seit 1948 Direktor der Rheinisch-Westfälischen Bank), Alfred
Olscher, Otto Gerlitz (nach 1945 Direktorium der Handels - und
Gewerbebank Heilbronn), Paul Greyer und Heinrich Post. Am oberen Rand
steht das Zeichen der Aktenregistratur, am unteren lässt sich »ZdAB«
erkennen: Zu den Akten, Benning. Benning hatte am 18. Januar 1943
aufgeschrieben, was er drei Tage zuvor im Deutschen Klub von Berlin gehört
hatte. Der Klub war 1933 - ohne einen Wechsel in der Geschäftsführung - aus
dem 1924 gegründeten nationalkonservativen Deutschen Herrenklub
hervorgegangen, dem führende Industrielle, hohe Ministerialbeamte und
ausgesuchte Wissenschaftler angehörten. Er residierte in der Jägerstraße 2/3,
inzwischen Sitz der Hamburgischen Landesvertretung. (Der Club von Berlin,

79
Der letzte Satz des abgebildeten Schriftstücks endet so: »... der ukrainischen
städtischen Bevölkerung: a) Normale Bevölkerung: wöchentlich 1500g Brot
und 2000g Kartoffeln, insbesondere kein Fett und kein Fleisch.«
(Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde)

der heute eine ähnliche, gewiss geläuterte Funktion übernommen hat, sitzt in
der Jägerstraße 1.)
Der protokollierte Vortrag selbst fand am 15. Januar 1943 statt. Als
Vortragender trat Reichslandwirtschaftsrat Hanns Deetjen (1902-1995) auf.

80
Er hatte zunächst Reichsbauernführer Walther Darre als Referent für
Öffentlichkeitsarbeit gedient und wurde dann als Beamter ins
Reichslandwirtschaftsministerium übernommen. In der SS brachte es Deetjen
zum Obersturmbannführer; in der SS-eigenen Lehr- und Forschungsgemein-
schaft Ahnenerbe betreute er das mehrbändige Werk »Wald und Baum in der
arisch-germanischen Geistes- und Kulturgeschichte«.
Benning verstand sich dagegen als nationalkonservativer Fachmann, der
zwar der NSDAP beitrat, den Sachverstand jedoch stets über die Dogmen der
Partei stellte. Aus der Logik des Bankers teilte er insbesondere den in dem
Protokoll angesprochenen Gesichtspunkt, die Ukraine solle mittels der
Lieferung von billigen Rohstoffen, Getreide und Arbeitskräften »den Krieg
bezahlen«. Dahinter stand eine ganze Regierungsphilosophie. Bereits am 8.
November 1941 waren unter dem Vorsitz von Hermann Göring die
»Allgemeinen Grundsätze für die Wirtschaftspolitik in den neu besetzten
Ostgebieten« verabschiedet worden. Den finanzpolitischen Teil hatte Otto
Donner (1902-1981) ausgearbeitet, ein geschätzter Berater Görings und
Professor für Finanzwissenschaft an der Universität Hamburg. »Durch billige
(landwirtschaftliche) Produktion«, so formulierte er für die Spitzen des
Regimes, »unter Aufrechterhaltung des niedrigen Lebensstandards der
einheimischen Bevölkerung sind möglichst hohe Produktionsüberschüsse zur
Versorgung des Reiches und der übrigen europäischen Länder zu erzielen.
Auf diese Weise soll für das Reich eine Einnahmequelle erschlossen werden,
die es ermöglicht, den wesentlichen Teil der zur Finanzierung des Krieges
aufgenommenen Schulden unter möglichster Schonung des deutschen
Steuerzahlers in wenigen Jahren abzudecken.« Auch Hitler kam in seinen
berühmten »Monologen im Führerhauptquartier« auf Schuldentilgung zu
sprechen: »Wir werden ein Getreideexportland sein, für alle in Europa, die
auf Getreide angewiesen sind. Den Ukrainern liefern wir Kopftücher,
Glasketten als Schmuck und was sonst Kolonialvölkern gefällt.«
Das Konzept beinhaltete nach der übereinstimmenden Ansicht führender
deutscher Ökonomen, dass »in Zukunft Südrußland sein Gesicht nach Europa
wenden« müsse. Die Implikationen hatten die deutschen Wirtschaftsstrategen
schon vor dem Überfall ausgearbeitet und den Militärs als eindeutig
formulierte Richtschnur an die Hand gegeben. Da in der Sowjetunion die
landwirtschaftlich intensiv genutzten Gebiete von den Industriezonen
»räumlich scharf getrennt« waren, sollten die innersowjetischen
Zuschussgebiete von den agrarischen Überschussgebieten der Ukraine
einfach militärisch abgeriegelt werden. Deshalb sollte die UdSSR
entindustrialisiert und die Menschen in den Industriezentren Mittel- und
Nordrusslands dem Hungertod preisgegeben werden: »Es wird darauf
ankommen«, so hieß es im Mai 1941 in den wirtschaftspolitischen

81
Richtlinien des Reichslandwirtschaftsministeriums, »die Bevölkerung in die
sibirischen Räume abzulenken«. Klar war den Verfassern, dass die
sowjetischen Arbeiter zugunsten der deutschen »größter Hungersnot
entgegensehen müssen«. Vom »zwangsläufigen Absterben« von mindestens
30 Millionen Menschen - vor allem in den Städten - war im Kontext dieser
Strategie mehrfach und eindeutig die Rede.
Das Protokoll Bennings hatte die DDR - aus Angst vor
Restitutionsforderungen - zwar der Öffentlichkeit vorenthalten, aber so
wurde die Urkunde immerhin überliefert. Hätte sie nämlich im Westen
gelegen, wäre sie mit größter Sicherheit vorsätzlich vernichtet worden. Die
Akten der nach 1945 vorsichtshalber Stück für Stück abgewickelten
Reichsbank zum Beispiel gelangten nicht ins Bundesarchiv. Vielmehr
blieben sie in Frankfurt am Main in der Hand des Abwicklers, der seine
Tätigkeit erst 1978 beendete. Am 4. August 1976 hatte das
Bundesfinanzministerium - unter Leitung des Sozialdemokraten Hans Apel
und unter der Kanzlerschaft Helmut Schmidts - angeordnet: »Der Umfang
der Akten, die gegebenenfalls noch längere Zeit aufzubewahren sind, ist
möglichst gering zu halten.« Wie erst vor einigen Jahren anlässlich der
amtlichen Recherchen nach den Wegen des Nazi-Raubgoldes vom
Bundesarchiv festgestellt wurde, bediente sich der Abwickler für die von der
Regierung Schmidt/Genscher gewünschte Spurenbeseitigungsaufgabe gerne
der Notenverbrennungsanlage in der Deutschen Bundesbank.
Bleiben noch die Karrieren der Beteiligten. Hanns Deetjen wurde 1955
Staatssekretär im Niedersächsischen Agrarministerium und blieb es bis 1965.
Bernhard Henning wurde 1950 Mitglied des Direktoriums der Bank
deutscher Länder und 1957 Mitglied des Direktoriums und Zentralbankrats
der Deutschen Bundesbank und blieb in diesen Positionen bis 1972. Otto
Donner avancierte 1952 zum stellvertretenden Exekutivdirektor iür die
Bundesrepublik beim Internationalen Währungsfonds und war von 1954 bis
1968 deutscher Exekutivdirektor bei der Weltbank und gleichzeitig
Repräsentant der Westdeutschen Landesbank für Nordamerika.
Erwähnen wir aus der grotesken Geburtstags- und Nachrufslyrik in der
gehobenen westdeutschen Presse nur die wegen eines biographischen Details
interessante Eloge der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu Bennings 60.
Geburtstag: »Daß ihn, den liberalen Wirtschafts - und Währungspolitiker, die
sowjetische Besatzungsmacht am Ende des Zweiten Weltkrieges fünf Jahre
(in Buchenwald) internierte, gehört zu den unerforschlichen
Schicksalsschlägen, bei denen nicht danach gefragt wird, ob sie verdient oder
unverdient hereinbrechen.« Tatsächlich schrieb Benning einige Monate nach
dem Vortrag Deetjens im Weltwirtschaftlichen Archiv, das die Spitzen der
deutschen Nationalökonomie am Institut für Weltwirtschaft in Kiel

82
herausgaben: Zur Abtragung der Kriegsschuld böten sich erstens die
»Reprivatisie rung von Reichsbesitz in den eingegliederten Ostgebieten« (also
enteigneter polnischer und jüdischer Besitz) an und zweitens die »laufenden
Reichseinnahmen aus ›Schleusengewinnen‹ auf Grund der Einfuhr von
verbilligten Waren aus den besetzten Ostgebieten«. Damit meinte Benning in
erster Linie die Ukraine und setzte darauf, dass dort »nennenswerte Beiträge
für die Tilgungsaufgaben aktiviert« und so die deutschen Kriegsschulden
bald nach dem »Endsieg« beglichen sein würden. Der Protokollant teilte die
Meinung des Vortragenden Deetjen.
Bis heute haben sich die Repräsentanten der Bundesrepublik weder am 22.
Juni noch am 8/ 9. Mai offiziell mit diesem Krieg auseinander gesetzt. Noch
nie ist ein Bundespräsident, ein Bundestagspräsident oder auch nur ein
Regierender Bürgermeister, ein Bundeskanzler oder Bundesaußenminister an
einem dieser Tage vor das sowjetische Ehrenmal im Berliner Tiergarten
getreten. Notwendig wäre das aus drei Gründen. Zur Erinnerung an die vielen
Millionen Opfer aus allen Republiken der ehemaligen Sowjetunion und zum
Gedenken an die Toten der Roten Armee, die das Recht der Notwehr auf
ihrer Seite hatten. Daneben - und nicht im Widerspruch dazu - wäre an die
deutschen Opfer zu erinnern, die aus rassistischer Überheblichkeit oder aus
Abenteuerlust, aus falschem Gehorsam, aus ebenso falschem vaterländischen
Pflichtgefühl oder einfach unter verschiedenen Formen des Mitläufertums
und des Zwangs in diesen Krieg gezogen sind. So leicht das kollektive Urteil
über die Wehrmacht fällt, so schwer ist über das Schicksal des einzelnen
deutschen Gefallenen - zum Beispiel über Gerhard Schröders Vater Fritz - zu
rechten. Schließlich wäre eine offizielle Geste am 8. Mai oder am 22. Juni,
dem Tag des Überfalls auf die Sowjetunion, auch deshalb im Sinne fast aller
heute lebenden Deutschen, weil sie eines sehr genau wissen: Nicht unbedingt
ihren Wohlstand, aber ihr Glück und ihre Freiheit verdanken sie allein der
Niederlage.

83
Insbesondere Leningrad muß verhungern
Annäherung an die Generation Kübelwagen

Zumindest was die Wiener Zeit angeht, steckt Joachim Fests erfolgreiche
Hitler-Biographie voller Fehler, das hat Brigitte Hamann eindrucksvoll
gezeigt. Lesenswert ist sie dennoch. Auch konnte Hamann die Geschichte
vom »lieblosen, ja grausamen« Sohn Adolf, der seine todkranke Mutter im
Sterben einfach allein gelassen habe, widerlegen. Das Gegenteil ist richtig.
Aber den Psychiater Erich Fromm führte die Legende zu einer lange
erfolgreichen Theorie: Der Diktator habe seit seiner Jugend an »Nekrophilie«
gelitten, das habe zu seiner extremen Destruktivität geführt. Im Faktischen
finden sich auf jeder Seite von Hannah Arendts Eichmann-Buch Ungenauig-
keiten oder grobe Irrtümer, anregend bleibt es allemal. Im Jahr 1980 edierte
Eberhard Jäckel den Dokumentenband Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen
1905-1924. Von 203 angeblichen Hitler-Handschriften stammten mindestens
76, einschließlich das auf dem Schutzumschlag faksimilierte »Autograph«,
aus der Feder des Fälschers Konrad Kujau. Es dauerte Jahre, bis sich die
Gedenkstättenverwaltung von Auschwitz überzeugen ließ, die in 19 Sprachen
angebrachten Erinnerungstafeln am Ende der Rampe in Birkenau müssten
entfernt werden: »Märtyrer- und Todesort von 4 Millionen Opfern, ermordet
von nazistischen Völkermördern, 1940-1945«, stand dort. Tatsächlich starben
in Auschwitz etwa eine Million Menschen, die weitaus meisten, weil sie
Juden waren.
Wie jede Wissenschaft unterliegt auch die Historiographie der ständigen
Selbstrevision. Darin liegt nichts Ehrenrühriges. Geschichtsrevision ist nicht
das rechtsradikale Treiben einiger Unbelehrbarer, sondern die Aufgabe eines
jeden Forschers. Dieser Anspruch ist die innere Feder, ohne sie gibt es keinen
wissenschaftlichen Fortschritt.
Mit der Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941
bis 1945« griff das Hamburger Institut für Sozialforschung 1995 ein Thema
auf, das eine in der Bundesrepublik und in Österreich gern gepflegte Legende
von der »deutschen Soldatenehre« im Krieg gegen die Sowjetunion und
gegen Südosteuropa widerlegte, öffentlichkeitswirksam und plakativ. Die
Wehrmacht, ein »marschierendes Schlachthaus«, diese Zuspitzung Michael

84
Naumanns hat ihren Grund. Die gesamte Forschungsliteratur, die seit 1995
veröffentlicht wurde, bestätigt das immer und immer wieder.
Aber das öffentliche Interesse an der Ausstellung förderte so richtig erst
der CSU-Krawallmacher Peter Gauweiler, als er 1997 in München zum
Protest der alten Kameraden aufrief. Gauweiler argumentiert in diesem
Zusammenhang gern mit seinem Vater, dem Wehrmachtssoldaten Otto G.,
der als Invalider aus dem Krieg zurückgekehrt sei. Letzteres ist unbestreitbar;
1940 aber war Dr. jur. Otto Gauweiler als Stellvertretender Amtschef des
Distrikts Warschau auch für die Ummauerung des Ghettos zuständig.
Neben wütenden, in Saarbrücken auch terroristischen Angriffen auf die
Wehrmachtsausstellung gab es jedoch berechtigte Kritik. Aber die Autoren
der Ausstellung haben sich solchen gut begründeten Einwänden lange,
überlange verweigert. Allen voran Jan Philipp Reemts ma, der als Mäzen und
Vorstand des Hamburger Instituts in einer Doppelrolle agiert, die zur
Herrschaft der Hofschranzen führen muss.
Reemtsma überzog die Kritiker der Ausstellung mit Klagedrohungen und
Prozessen. Seine obsessive Rechthaberei musste zum Ärgernis werden.
Deshalb geschah es den Hamburger Ausstellungsautoren recht, als sie wegen
ihrer Nachlässigkeiten im Herbst 1999 dumm dastanden. Sie hatten die
Gelegenheit, die Richtigstellungen beizeiten vorzunehmen, aber sie
reagierten mit dem Anwalt. Die Einwände, die der polnisch-deutsche
Historiker Bogdan Musial schließlich öffentlich erhob, aber dem Hamburger
Institut längst unterbreitet hatte, erwiesen sich als stimmig. Dasselbe galt für
die Kritik des jungen ungarischen Uniformspezialisten Krisztián Ungváry.
Es war grob fahrlässig, wenn Reemtsma und seine Ausstellungsmacher
Fotos von Menschen, die der NKWD im sowjetisch annektierten Ostpolen in
den Stunden vor dem Einmarsch der Wehrmacht ermordete, zu Opfern des
deutschen Soldatenterrors umetikettierten, und es verletzte die individuelle
Ehre dieser Toten. Die blutige Geschichte des 20. Jahrhunderts verlangt, dass
man nicht einfach beschlagnahmt, was dem eigenen politischen Weltbild zu
nützen scheint. So wurde die Ausstellung im November 1999 in aller Form
geschlossen und zwei Jahre später durch eine völlig neu konzipierte,
teilweise selbstkritische Neufassung ersetzt.
Die gut drei Millionen Wehrmachtssoldaten, die am 22. Juni 1941 über die
deutsch-sowjetische Interessengrenze von 1939/40 vorrückten, sprachen vom
Russlandfeldzug. In Wahrheit begann »der ungeheuerlichste Eroberungs-,
Versklavungs- und Vernichtungskrieg der Neuzeit«, wie Ernst Nolte es 1963
ausdrückte. Andreas Hillgruber übernahm diese Kennzeichnung 1965
ausdrücklich und beschrieb einen Krieg, der nicht wie 1940 gegen Norwegen
oder Frankreich als »europäischer Normalkrieg« geführt worden war.

85
Demnach zielte »das ›Barbarossa‹-Unternehmen als Eroberungs- und
Vernichtungskrieg« vom ersten Tag an auf die Ausrottung des »jüdischen
Bolschewismus«, auf die Gewinnung von Kolonialraum und auf die
Unterwerfung der slawischen Massen. In deren Gedächtnis sollte, so schrieb
Hillgruber, »jede Erinnerung an eine russische Großstadt beseitigt« werden.
Schließlich sollten die eroberten Gebiete für ein deutsch beherrschtes
Kontinentaleuropa »das - vermeintlich - unerschöpfliche Reservoir an
Rohstoffen und Lebensmitteln darstellen«.
Gemessen an der frühen Klarheit Hillgrubers und Noltes wirkt der Titel der
zweiten Wehrmachtsausstellung recht unbestimmt: »Verbrechen der
Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944«. Doch die
sechs zentralen Themen sind klar und angemessen. Sie handeln von der
Beteiligung der Wehrmacht an der Ermordung der sowjetischen Juden, von
dem weithin gewollten Massensterben von mehr als drei Millionen
sowjetischen Kriegsgefangenen, vom Ernährungskrieg, von Deportation und
Zwangsarbeit, vom Partisanenkrieg, von Repressalien und Geiseler-
schießungen. Der Aufbau und ein beachtlicher Teil der Dokumente stützen
sich - ohne dass dies irgendwo erwähnt würde - auf die bahnbrechende Arbeit
von Christian Gerlach Kalkulierte Morde (1999), die von der deutschen
Wirtschafts - und Vernichtungspolitik in Weißrussland handelt.
Da die neue Ausstellung - weit mehr als die Vorgängerin, die zwischen
1995 und 1999 Aufsehen erregte - auf überliefertes Schriftgut setzt und auf
die kritische, notwendigerweise schriftlich angelegte Kontextualisierung der
Fotodokumente, wird sich mancher lieber die textgleiche Buchversion zur
Hand nehmen. Auf Stelltafeln gezogen lassen sich die mehr als 500000
Schriftzeichen ohnehin kaum bewältigen.
Am Ende der Dokumentation steht eine in diesem Fall gewiss notwendige
Selbstvergeschichtlichung des Projekts. Angedeutet werden die politischen,
dann die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen um die erste Wehr-
machtsausstellung, die schließlich in einem selbstverschuldeten Desaster
endete. Die Andeutung, dass dafür das »damalige Ausstellungsteam«, das
Hannes Heer geleitet hatte, die wesentliche Verantwortung getragen habe und
»über das Ziel hinausgeschossen« sei (Reemtsma im November 1999), gehört
zu den bedauerlichen Unscharfen der revidierten Darstellung. Ohne den
erklärten Willen Reemtsmas wird am Hamburger Institut für Sozialforschung
kein Rechtsanwalt in Bewegung gesetzt. So beschließen zwei banale
Farbfotos eine eindringliche Dokumentation, die vom millionenfachen
Sterben und Morden handelt. Sie zeigen Reemtsma einmal im November
1999 in Hamburg (»Nach der Kritik an einzelnen Fotos gibt Jan Philipp
Reemtsma bekannt, daß die Ausstellung mindestens drei Monate nicht mehr
gezeigt wird.«), dann folgt jene anrührende Szene, die sich ein Jahr später in

86
Frankfurt am Main zutrug: »Der Sprecher der Historikerkommission zur
Überprüfung der Ausstellung, Gerhard Hirschfeld, übergibt Jan Philipp
Reemtsma den Abschlußbericht der Kommission.«
Die Bildsprache erinnert an den allein unterschriftsberechtigten Vorstand
eines Wohltätigkeitsvereins, der nach einigen Unregelmäßigkeiten eine nicht
ganz einfache Buchprüfung hinter sich gebracht hat. Nur Puristen werden
sich daran stoßen, dass die Prüfungskommission vom Geprüften bestellt und
finanziell ausgestattet wurde. Der Band endet, nachdem zuvor auch
Kritisches dokumentiert wurde, unangenehm triumphalistisch mit einer
zweiseitigen Collage linksliberalen Schulterklopfens: »Ein Freispruch erster
Klasse«, wird Johannes Willms von der Süddeutschen Zeitung zitiert;
»blamiert sind nun jene«, so darf Volker Ullrich von der Zeit abschließend
beisteuern, »die vor einem Jahr allzu rasch bereit waren, die Thesen Musials
und Ungvárys für gesicherte Erkenntnisse zu halten...«
Tatsächlich blamierten Bogdan Musial und Krisztián Ungváry mich, Götz
Aly, ebenso wie Volker Ullrich, Reinhard Rürup, Horst Möller und tutti
quanti. Bezeichnenderweise deckten eben zwei junge Historiker aus Polen
und Ungarn, denen das Jahr 1989 den Blick weit geöffnet hatte, fehlerhafte
Bild- und Uniformzuschreibungen auf - nicht die alteingesessene deutsche
Fachwelt. Sie schwieg, wahlweise ergingen wir uns im politisierenden Ja-
Aber, in grundsätzlicher, gegenüber dem faktischen Detail nachlässiger
Befürwortung oder Ablehnung. Jedenfalls bedeutet die Revision der
Wehrmachtsausstellung tätige Reue und einen weiteren, beachtlichen
Zwischenschritt auf dem langen Weg zur Historisierung der NS-Zeit. Die
dafür offenbar notwendigen Provokationen verdanken sich - blickt man
entspannt auf die Auseinandersetzungen zurück - Hannes Heer ebenso wie
Peter Gauweiler, den tief gehenden Forschungen von Christian Gerlach
ebenso wie den Uniformstudien Krisztián Ungvárys.
Natürlich hat das Reemtsma-Institut den Schock noch nicht ganz
überwunden. Eine gewisse aufklärerische Überheblichkeit ist geblieben. So
führt die Auswahlbibliographie nicht die Aufsätze der Kritiker auf, dafür aber
fast jede Gelegenheitsarbeit der Befürworter, unter ihnen Heribert Prantl.
Ebenso fehlen die frühen, warnenden Arbeiten von Sybil Milton über die
verbreitete Schlamperei im Umgang mit Fotodokumenten aus der NS-Zeit
oder der Nachweis, wo die breit präsentierten Dokumente über tödliche
Hungerexperimente an gefangenen Rotarmisten vor immerhin 20 Jahren
schon einmal veröffentlicht wurden. Stattdessen wird eine angeblich von
Wolfgang Benz u. a. herausgegebene »Enzyklopädie des Holocaust«
aufgeführt, die es nicht gibt.

87
Auch fehlt das erwähnte frühe Buch Noltes Der Faschismus in seiner
Epoche ebenso wie Hillgrubers fundamentale Studie Hitlers Strategie. Nur so
lässt sich in einem oberflächlichen Überblick zur juristischen, publizistischen
und politischen Verarbeitung nach 1945 behaupten, »erst mit dem politischen
Wandel in den sechziger und siebziger Jahren« habe sich »in der
Bundesrepublik eine kritische Militärgeschichtsschreibung herausgebildet«.
Tatsächlich verliefen die Veränderungen untergründig und vielschichtig. Das
weiß jeder, der damals in der alten Bundesrepublik in die Schule gegangen
ist. Die Generation Kübelwagen zeigte sich tief gespalten: Während der eine
Lehrer knarrend vom »Völkermord in Dresden« und vom Krieg »als
Reiseunternehmen des kleinen Mannes« daherredete, sprach der andere, der
ebenfalls Soldat gewesen war, mit gesenkter Stimme von »unvorstellbaren
Verbrechen an Juden in der Nähe von Kiew«. Beiläufig bemerkte Letzterer,
dass die örtliche »Arbeitsgemeinschaft für christlich-jüdische Verständi-
gung«, der er angehöre, einen Dia -Abend veranstalte.
Nicht allein im selbstreferenziellen Drumherum, auch im laufenden Text
der neuen Wehrmachtsausstellung fällt gelegentlich ein Mangel an
Souveränität auf. Da geht es zum Beispiel um die fotografisch zweifelsfrei
dokumentierte Erschießung von 24 jüdischen Männern in dem ukrainischen
Marktflecken Dubno durch Wehrmachtssoldaten, geschehen am 25. Juni
1941. In den Stunden zuvor hatte der überstürzt abrückende sowjetische
NKWD dort einige hundert Häftlinge erschossen. Anders als in der ersten
Wehrmachtsausstellung werden solche Fakten nun deutlich erzählt, in diesem
Fall allerdings in einer merkwürdigen Tonlage: »Durch das schnelle
Vorrücken der deutschen Truppen war es dem sowjetischen Geheimd ienst
nicht gelungen, die politischen Häftlinge des örtlichen Gefängnisses nach
Osten zu verschleppen. Sie wurden von den Wachmannschaften erschossen.«
Was würden die Ausstellungsautoren zu dem folgenden, ihrer
Darstellungslogik entsprechenden Satz sagen: Durch das schnelle Vorrücken
der US-amerikanischen wie der sowjetischen Truppen und infolge der
zerbombten Eisenbahnstrecken war es der deutschen Polizei 1944/45 nicht
gelungen, die jüdischen Zwangsarbeiter zu evakuieren. Sie wurden
erschossen.
In der neuen Ausstellung werden die umstrittenen Fotos und Bildsequenzen
der ersten Wehrmachtsausstellung nur ausnahmsweise gezeigt, dann aber
diskutiert und möglichst genau analysiert. Das geschieht exemplarisch
anhand des Pogroms, das sich zwischen dem 3. und 7. Juli 1941 in Tarnopol
ereignete. 1995 hatten es die Ausstellungsmacher noch der überhaupt nicht
anwesenden 6. Armee zugeschrieben und die Toten auf den Fotos insgesamt
zu Juden erklärt. Ähnlich wie in Lemberg oder in Dubno lagen auch im
Gefängnis von Tarnopol Hunderte von Leichen, darunter die von zehn

88
deutschen Kriegsgefangenen, die Angehörige des NKWD ermordet hatten.
Das klare Resümee des immerhin 22 Seiten langen Vergleichens und
Diskutierens verschiedener Bildquellen lautet: »Das Pogrom in Tarnopol ist
nicht der 6. Armee anzulasten, wie in der Ausstellung Vernichtungskrieg.
Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944‹ geschehen. Im vorliegenden
Bildmaterial überlagern sich die Ereignisse, NKWD-Opfer wie auch Pogrom-
Opfer sind zu sehen. Die Aufnahmen sind aber in der Hauptsache Dokumente
des Pogroms. Außerdem geben die Fotos Auskunft darüber, dass zahlreiche
deutsche Soldaten der Wehrmacht und SS anwesend waren. Sie schauten zu,
machten den Mördern Platz und griffen nicht ein. Sie ließen die Morde
geschehen. Die SS bescheinigte der Wehrmacht eine ›erfreulich gute
Einstellung gegen die Juden‹.«
Daneben lassen sich Tausende von Fällen dokumentieren, in denen
Wehrmachtssoldaten selbst Juden ermordeten, deren Ermordung forderten,
logistisch unterstützten oder davon profitierten. In aller Selbstverständlichkeit
schickte zum Beispiel die Feldkasse der 707. Infanterie -Division versiegelte
Päckchen mit Münzen an die Reichshauptkasse in Berlin. In dem nicht etwa
mit einem »Geheim «-Stempel versehenen Begleitschreiben hieß es lapidar:
»Das Geld stammt aus Erschießungen von Juden.« Der Stadtkommandant
von Charkow (hier nun die 6. Armee) meldete zunächst: »Von irgendwelchen
Maßnahmen gegen die Juden wurde bisher Abstand genommen, um diese
vorerst aus ihren Schlupfwinkeln zu locken und vor dem Eintreffen der
nötigen Kräfte nicht zu verstören.« Einen Monat darauf, am 15. Oktober
1941, erteilte er den Befehl zur »Umsiedlung« sämtlicher Juden. Die
Massenexekutionen durch die Erschießungskommandos der Sicherheits-
polizei und eines Gaswagentrupps dauerten bis zum 7. Januar 1942.
Der neue Mut zur Differenziertheit lässt in der Ausstellung sichtbar
werden, wie sehr die Ermordung der Juden die einheimische
Mehrheitsbevölkerung vielerorts für die Deutschen einnahm. Zu Anfang
erleichterte sie die Besatzung in großen Teilen der Sowjetunion und nicht nur
dort. »Wenn durch eine Streife festgestellt wird«, so steht es im Lagebericht
des Kommandanten in Weißrussland vom Oktober 1941, »daß in einem Dorf
die Stimmung der Bevölkerung abwartend und ängstlich ist, und man
vernichtet in diesem Dorfe die Juden und ihren bolschewistischen Anhang,
dann wird man ein freies Aufatmen in diesem Dorfe in kürzester Zeit
verspüren und der aufrichtigen Unterstützung der weißruthenischen
Bevölkerung gewiß sein.« Aus der ukrainischen Eisenerz-Stadt Krivoj Rog
meldete die Ortskommandantur, dass eine »Aktion gegen die restlichen Teile
der Juden« im Gange sei, »wobei die gesamte ukrainische Hilfspolizei
eingespannt ist«: »Die Stadt Krivoj Rog hat die von Juden verlassenen
Wohnungen beschlagnahmt, die Möbelstücke an sich genommen und an

89
bedürftige Einwohner verkauft. Ein erheblicher Posten hierfür ist auf der
Einnahme -Seite im Etat eingestellt.«
Unter diesem Gesichtspunkt ließe sich zum Beispiel auch die deutsche
»Vergeltungspolitik« in Serbien darstellen. Für einen durch Partisanen
getöteten deutschen Soldaten wurden dort zunächst 100 Geiseln erschossen,
für einen verletzten 50. Die Quoten setzten Hitler und das Oberkommando
der Wehrmacht fest. Die örtlichen Generäle bezweifelten jedoch die
generalpräventive Wirkung solcher Maßnahmen. Sie befürchteten im
Gegenteil eine Stärkung der Partisanenbewegung. Deshalb ordneten sie an,
vorzugsweise männliche Juden und Zigeuner als Geiseln festzusetzen und zu
erschießen. Sie vermuteten aus guten Gründen, die nationale
Mehrheitsbevölkerung würde darauf weniger aufgebracht reagieren als auf
die Erschießung von Serben, zumal mit dem Eigentum der Ermordeten
Ähnliches geschah wie in Krivoj Rog. Auf dieselbe Weise erfüllte übrigens
der Militärbefehlshaber Frankreich einen beachtlichen Teil seiner
»Sühnequoten«. Diese Wahrheit macht die Feststellung der
Ausstellungsautoren, die Wehrmacht habe den »systematischen Völkermord
an der jüdischen Bevölkerung« Serbiens begonnen, keineswegs falsch. Doch
enthält die Darstellung von Motiven, die sich aus dem Antisemitismus eines
besetzten Landes herleiten, eine Wahrheit, die nicht verschwiegen werden
sollte.
Besonders ausführlich werden in dem Katalog die Planungen für das
»Unternehmen Barbarossa« dargestellt, so zum Beispiel die Staatssekretärs-
konferenz vom 21. Mai 1941, auf der unter Beteiligung von Wehrwirtschafts -
general Georg Thomas, 1944 beim 20. Juli dabei, festgestellt wurde: »Der
Krieg ist nur weiterzuführen, wenn die gesamte Wehrmacht im 3. Kriegsjahr
aus Rußland ernährt wird. Hierbei werden zweifellos zig Millionen
Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande
herausgeholt wird.« Während sich Eduard Wagner, Generalquartiermeister
des Heeres, noch am 13. November 1941 notierte: »Nichtarbeitende Kriegs-
gefangene in den Gefangenenlagern haben zu verhungern«, veränderte sich
die Linie im Dezember. Von jetzt an galt es, »möglichst viele Kr.Gef. wieder
arbeitseinsatzfähig zu machen und zu erhalten«. Bewirkt hatte das die
deutsche Niederlage vor Moskau, die Umstellung der deutschen Strategie und
Kriegswirtschaft auf einen längeren, durchaus Ungewissen Krieg. Von nun
an sollten möglichst viele Gefangene als Zwangsarbeiter eingesetzt werden.
Allerdings kam die Entscheidung für viele der Ausgehungerten zu spät: Bis
zum 1. Februar waren von 3,3 Millionen gefangenen Soldaten der Roten
Armee bereits zwei Millionen in deutschen Lagern und während der
Transporte gestorben. Das entsprach, wenn man die ersten drei
Kriegswochen abzieht, in denen die Gefangenen noch von ihren körperlichen

90
Reserven zehren konnten, einer durchschnittlichen Sterbequote von
zehntausend Mann pro Tag. Im Ersten Weltkrieg hatte Deutschland an
Hunger gelitten, damals starben von 1,4 Millionen russischen
Kriegsgefangenen lediglich 5,4 Prozent.
Das systematische Verhungernlassen der Gefangenen entsprach der
deutschen Strategie im Osten. Der schon vorgestellte General Wagner
untersagte »jede Abgabe von Truppenverpflegungsmitteln an die
Bevölkerung der besetzten Gebiete«. Ebendiese Truppen hatten sich zur
Schonung der deutschen Heimat »aus dem Lande« zu ernähren, zu plündern
und rücksichtslos zu requirieren. Bald hinterließen sie tiefe so genannte
Kahlfraßzonen, für die Hermann Göring im November 1941 »das größte
Sterben seit dem Dreißigjährigen Krieg« prognostizierte. Fünf Tage später
kündigte Wagner an: «... daß insbesondere Leningrad verhungern muß.«
Zwei Monate zuvor hatte er seiner Frau geschrieben: »Zunächst muß man sie
in Petersburg schmoren lassen, was sollen wir mit einer 3 ½ Mill-Stadt, die
sich nur auf unser Verpflegungsportemonnaie legt. Sentimentalitäten gibt's
dabei nicht.« (Wagner zählte wie der gleichfalls zitierte
Wehrwirtschaftsgeneral Thomas später zu den Verschwörern des 20. Juli.)
Ähnliche Richtlinien wurden auf örtlicher Ebene erlassen. So ordnete der
Kommandant von Charkow an: »Die deutsche Wehrmacht hat am Unterhalt
der Stadtbevölkerung Charkows keinerlei Interesse.« Da es aber wegen der
militärischen Schwierigkeiten schon bald auf die Versorgung des
Bevölkerungsteils ankam, der für die Deutschen Zwangsarbeit zu verrichten
hatte, finden sich für Charkow oder auch für Kertsch im November 1941
Hinweise wie dieser: »Die Liquidation der Juden wird wegen der gefährdeten
Ernährungslage der Stadt beschleunigt durchgeführt.«
Der gewollten Hungersnot folgte bald die massenhafte Verschleppung von
Arbeitskräften ins Reich. Beides förderte den Partisanenkrieg. Übersehen
wurde in der gesamten Diskussion um die Entschädigung ehemaliger
Zwangsarbeiter, dass die deutschen Armeen auch in der Sowjetunion
Hunderttausende Menschen zum Stellungsbau, zu Transport- und
Reparaturarbeiten zwangen. Nicht nur für den Pionier-Regimentsstab (mot)
520 galt die Weisung: »Offiziere sind befugt, sich weigernde Zivilisten
erhängen zu lassen.« Ins Reich verschleppt wurden allein Arbeitsfähige,
ausdrücklich »kein Familienanhang«. Mussten Gebiete geräumt werden, galt
die Devise, Krüppel, Kranke, Alte und Kinder zurückzulassen und die
Menschen, die zur Arbeit gebraucht werden konnten, zu »evakuieren«.
Lebensmittelvorräte, die nicht abtransportiert werden konnten, waren
generell zu vernichten. So heißt es im Kriegstagebuch des
Armeeoberkommandos 6 im Herbst 1943: »Wegen Nichtbefolgens des
Evakuierungsbefehls wurden 105 Zivilisten erschossen. An Vieh, das nicht

91
mitgeführt werden konnte, wurden 320 Kühe, 4 Pferde, 20 Schafe, 5 Ziegen
und 12 Schweine abgeschossen.«
Auf die Dauer verschaffte diese Art der Kriegführung den Partisanen
Rückhalt, zumal sich das Vorgehen der Deutschen gegen die Partisanen dann
wieder und hauptsächlich gegen die Zivilbevölkerung richtete, so zum
Beispiel während der Aktion »Schneehase« im Frühjahr 1943. Dabei wurden
von Wehrmacht und SS 2283 angebliche Partisanen erschossen, jedoch nur
54 Waffen erbeutet. Die deutschen Verluste betrugen 37 Mann, die Beute
belief sich auf 2789 Stück Vieh, 85 Tonnen Getreide, 143 Tonnen Heu. Zu
diesen Unternehmen gehörte stets die »Abbeförderung der Erntevorräte, des
Viehs und alles Verwertbaren«, ebenso das Abbrennen der Dörfer zur
Schaffung von »Wüstenzonen«.
Die neue Wehrmachtsausstellung vermeidet falsche Verallgemeinerungen.
Nicht selten wird im Text auf Kritik aus den Reihen der Wehrmacht
verwiesen, sei sie nun taktisch oder grundsätzlich begründet gewesen. So
wurde mancherorts versucht, den Befehl zur Erschießung von
»Kommissaren« außer Kraft zu setzen. Immer wieder unterstellten Befehle
einen Hang zu »falscher Humanität« oder zur »Weichheit« und reagierten
damit auf offensichtlich vorhandene Verhaltensweisen deutscher Soldaten
und Offiziere. Am Ende des Hauptteils der Ausstellung steht daher ein
Abschnitt über die Handlungsspielräume.
Neben dem Besuch der Ausstellung lohnt es sich, die noch lebenden
Soldaten zu befragen. Nehmen wir zum Beispiel den Leutnant der Reserve
Ernst A., geboren 1912, weißer, also 1935 nicht wehrpflichtiger Jahrgang,
freiwillige Meldung zum Wehrdienst 1936, abgeleistet beim IR 12 in
Halberstadt. In den ersten Septembertagen 1939 folgte die freiwillige
Meldung zur Truppe, 1940 eintägige Gefechtserfahrung in Frankreich,
Rückkehr zum Verwaltungs- und Ausbildungsdienst. Im Dezember 1942
erhielt der Offizier den Marschbefehl für die Ostfront. Anreise über
Warschau und Minsk (dort Besuch im deutschen Theater), Einsatz östlich
von Orscha, Übernahme einer völlig abgekämpften Einheit, Einweisung
durch Oberst Hübner: »Sie stehen hier auf altem germanischem Waräger-
Boden.«
Am 16. Februar findet das erste Gefecht statt. Schnee, Morgendämmerung,
russischer Vorposten, ein kleines Dorf brennt. Zwei russische Gefangene
werden gemacht. »Die sperrt ihr dort in den Keller«, ordnet der Leutnant an,
wie es seiner Ausbildung, seiner Erfahrung im Frankreichfeldzug und der
Haager Landkriegsordnung entspricht. »Wieso, die erschießen wir«,
entgegnen die Männer, die hier schon länger kämpfen. Der Neuling bleibt bei

92
seinem Befehl und wird Minuten später schwer, aber nicht tödlich getroffen
zusammenbrechen.
Genauso hat Ernst A. diese Geschichte als Geschichte seiner Verwundung
(nicht der gefangenen Rotarmisten) schon immer erzählt. Als er die
Wehrmachtsausstellung 1997 in München besuchte, wurde in ihm noch eine
andere Szene lebendig, die ihn noch wochenlang beschäftigte. Im
Spätsommer 1942 habe er nach einem halben Jahr Lazarett und
Rekonvaleszenz - beschränkt kriegs-verwendungsfähig - den
Ausbildungsdienst in einer Kaserne zwischen Frankfurt und Gießen
angetreten. Dort habe ihm ein Kamerad im Kasino ganz aufgeregt von
Massenerschießungen bei Minsk erzählt, »wo die Leute selber hi r Grab
ausschaufeln mußten«. - »Ich habe das damals nicht geglaubt.«

93
Im Dienste des Volkes
Der kleine Kaufrausch an der Heimatfront

Nein, krank sei der Professor wirklich nicht, erklä rte seine Vorzimmerdame,
er sei auch nicht unterwegs zu einem wissenschaftlichen Kongress. Ludolf
Herbst, der an der Berliner Humboldt-Universität den Lehrstuhl für
Zeitgeschichte innehat, beginne seine Lehrveranstaltung am Dienstag um 14
Uhr und unterrichte auch mittwochs. Dann, dann vielleicht könne man ihn
erreichen.
Herbst hatte, das war der Grund der vergeblichen Telefonmühen, im
Februar des Jahres 2000 ein Gutachten über die Ausstellung »Betrifft: Aktion
3. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn. Dokumente zur Arisierung«
erstellt. Die Ausstellung verantwortete Wolfgang Dreßen, Professor für
Politische Wissenschaft in Düsseldorf. Sie wurde zuerst im Stadtmuseum
Düsseldorf und dann an mehreren anderen Orten gezeigt. Nicht aber an der
Humboldt-Universität, dort nämlich lehnte Herbst in seiner Expertise für die
Abteilung Öffentlichkeitsarbeit die Übernahme ab. Seine Begründung
lautete, die Ausstellung verfolge »keinen genuin wissenschaftlichen Zweck,
sondern eine einseitige und so nicht akzeptable Aufklärungsabsicht«. Wie
und warum er zu diesem Ergebnis kam, ist unbekannt, schließlich ließ er
seine Überlegungen - dazu reichte die Zeit - ausdrücklich als »vertraulich«
einstufen. Deutsche Professoren sind es gewöhnt, ihre Gutachten hinter dem
Rücken von Kollegen zu formulieren, sie der öffentlichen Nachprüfung zu
entziehen.
Nach Auskunft der HU-Pressestelle, die auf Nachfrage einige Argumente
preisgab, störte Herbst, dass die Ausstellungsmacher sich über das
hinweggesetzt hatten, was er unter Datenschutz verstehe. In der Tat
schwärzten Wolfgang Dreßen und seine Mitarbeiter die Namen, die die
»arischen« Erwerber des geraubten jüdischen Eigentums in den Dokumenten
ausweisen, nicht, und zwar deswegen, weil die Millionen
Arisierungsprofiteure diesen Schutz nicht verdienen. Datenschutz wäre in
diesem Fall Täterschutz gewesen.
Daher wurde die kleine Ausstellung »Deutsche verwerten jüdische
Nachbarn« schließlich im zweiten Stock des Berliner Bezirksrathauses

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Kreuzberg eher versteckt als gezeigt. Sie konzentrierte sich auf die Seite des
Holocaust, die als staatlich gelenkter, jedoch gemeinnützig angelegter
Massenraubmord bezeichnet werden muss. Dreßen arbeitete am typischen
Beispiel der »Aktion M« heraus, wie das vor sich ging. Diese Aktion diente
der Umverteilung von Möbeln aus den Wohnungen von gerade deportierten
Juden in den besetzten Westgebieten - also in Holland, Belgien und
Frankreich - an solche Deutsche, deren Wohnungseinrichtung durch alliierte
Bombenangriffe zerstört worden war. In den Jahren 1942/43 rollten allein
340 Waggons mit derartigen Möbeln nach Berlin, 2435 in das schwer
getroffene Hamburg, mehr als 6000 nach Bremen, Wilhelmshaven und
Delmenhorst. Zudem wurden nach Hamburg allein aus Holland 45
Schiffsladungen mit insgesamt 27227 Tonnen »Judengut« verfrachtet -
gedacht als unbürokratische Soforthilfe für Bombengeschädigte. Bei den
Auktionen ersteigerten sage und schreibe 400000 Hamburger - genauer
gesagt: hauptsächlich Hamburgerinnen, die Männer waren im Krieg - Stücke
aus dem Geraubten. Mindestens 100000 Haushalte aus dem Raum Hamburg
profitierten damals auf diese Weise von der Ermordung der europäischen
Juden. Die Arisierung im Krieg gestaltete sich als die vergnügliche Jagd nach
Schnäppchen, als kleiner Kauf rausch an der Heimatfront.
Aus den Proletariervierteln der Ernst-Thälmann-Stadt Hamburg berichtete
eine Bibliothekarin: »Die einfachen Hausfrauen auf der Veddel trugen
plötzlich Pelzmäntel, handelten mit Kaffee und Schmuck, hatten alte Möbel
und Teppiche aus dem Hafen, aus Holland, aus Frankreich. Einige meiner
Leser forderten auch mich auf, mich einzudecken. Es war das geraubte
Eigentum holländischer Juden, die - wie ich nach dem Kriege erfahren sollte
- schon in die Gaskammern abtransportiert waren. Ich wollte damit nichts zu
tun haben. Aber in meiner Ablehnung musste ich bei den primitiven, sich
raffgierig bereichernden Menschen, insbesondere bei den Frauen, vorsichtig
sein.«
Ein solches Zeugnis gibt einen Hinweis auf den volkstümlichen Kern der
Arisierung. Die Organisatoren dieser Umverteilungspolitik sprachen voller
Stolz »von der großen psychologischen Wirkung auf die Volksgenossen« -
»aller Berufsschichten«, wie ein Bericht ausdrücklich vermerkt. Und weil
sich diese »Verwertung von Judengut« als kriegspsychologisch so effizient
erwies, erscheint es als konsequent, dass diejenigen, die im besetzten
Westeuropa die Möbel erfassten, sich bei der SS beschwerten, sofern diese
die Juden nicht schnell genug deportierte. Im Dezember 1943 schrieb ein
besorgter Mitarbeiter des Möbel-Sonderkommandos in Belgien: Er bitte
darum, »baldmöglichst die Judenaktion in Lüttich weiter zu führen, damit die
Erfassung der Judenmöbel und Abtransport in das Reich erfolgen kann«.
Dieses Verhalten entsprach der politischen Grundhaltung Hitlers, der die

95
noch begrenzten Deportationen im Herbst 1941 auch deshalb gebilligt hatte,
um den ausgebombten Familien im Nordwesten des Reiches schnell zu
neuem Wohnraum zu verhelfen.
Die deutsche Zeitgeschichtsforschung vermied es lange Zeit, die Volksge-
meinschaft als Zugewinngemeinschaft zu sehen. Wolfgang Dreßen deutete
demgegenüber die alle Schichten verbindende, dabei jeweils
klassenspezifische Art der Vorteilsnahme und Bereicherung in seiner
Ausstellung öffentlich an. Die Ausstellung handelte von der Arisierung im
Rheinland. Aber Berlin, die deutsche Stadt, in der ein Drittel der deutschen
Juden wohnte und mithin der Hauptteil der kleinen und größeren
Arisierungsgewinnler, ist von einem solchen Schritt noch weit entfernt.
Ludolf Herbst monierte die »einseitige Aufklärungsabsicht« Dreßens und
stützte die vielseitigen Interessen des Verschweigens.

96
Klassenversöhnung unterm Galgen
Werner Höfer im Gefüge des Volksganzen

Jahrgang 1913. Er sei so jung gewesen, ein ehrgeiziges, eher unpolitisches


Kerlchen, sagte Werner Höfer 1988 zu seiner Rechtfertigung. Mit seinem
sonntäglichen »Internationalen Frühschoppen« gehörte Höfer bis zu diesem
Zeitpunkt zu den prominentesten Fernsehjournalisten der Bundesrepublik.
Vorgehalten wurde ihm im Spiegel ein Artikel, den er im Jahr 1943 zur
Hinrichtung des wegen »Heimtücke« zum Tode verurteilten Pianisten
Karlrobert Kreiten geschrieben hatte. Hof er war damals 30 Jahre alt. Jung
waren sie eigentlich alle. Reinhard Heydrich, einer der Älteren, war 38, als er
1942 auf dem Höhepunkt seiner Macht in Prag an den Folgen eines Attentats
starb. Deutschland hatte nie eine jüngere, geistig wendigere Elite als in jenen
zwölf Jahren.
Nie zuvor hatte sich die junge Intelligenz vom Abitur an so ungehindert
entfalten können. Kompromiss war dieser Generation ein Fremdwort, eine
Schwäche der parlamentarisch-liberalistischen Systemzeit. Widerspruchs-
geist galt ihr als Kritikastern, Zweifel als Schwäche. Jeder Expansionsschritt
des Deutschen Reiches bedeutete individuellen Aufstieg, Entfaltung der
eigenen Wünsche und der sozialen Utopie eines funktionierenden, von allen
Störfaktoren freien deutschen Volksganzen. Verwaltet nicht in mühseligen
Prozeduren des demo kratischen Interessenausgleichs, sondern durch eine
Intelligenz, die sich der »restlosen Lösung« aller Probleme verschrieben
hatte, die das Wort »Endlösung« früh für die Abschaffung aller möglichen
Fragen und Probleme gebrauchte. Sie verband gesellschaftliche Theorie und
gesellschaftliche Praxis in einer Weise, die rückschauend den Elfenbeinturm,
die Politikferne mancher Religionen zum Hort des Humanen werden lassen.
Nur wer den intelligenten, von Männern wie Höfer repräsentierten Kern
enträtselt, kann das Funktionieren und die mörderische Effizienz der NS-
Herrschaft erklären.
September 1943. Sizilien war gerade von den Westalliierten befreit
worden, Charkow zum zweiten Mal von sowjetischen Truppen zurück-
erobert, Hamburg zerstört, 42000 seiner Einwohner tot, mehr als 100000
verletzt, Italien kündigte das Bündnis mit Deutschland auf. Am 26. August
beschrieb der Inlandsdienst des Sicherheitsdienstes (SD) gefährliche

97
Veränderungen der Stimmungslage: Es bestünden Zweifel, »ob wir es
schaffen«, die einzige Hoffnung sei »baldige wirkungsvolle Vergeltung«,
»Unglauben« mache sich breit. Goebbels beklagte, »daß in weiten Kreisen
des deutschen Volkes jetzt am Sieg gezweifelt wird. Der breiten Massen hat
sich eine gewisse Skepsis, um nicht zu sagen Hoffnungslosigkeit
bemächtigt.« Wenn der Blitzkrieg nach außen schon nicht mehr geführt
werden konnte und zwischen der Ankündigung »neuer Waffen« und ihrer
Produktion eine merkliche Lücke klaffte, dann wenigstens musste der
Blitzkrieg nach innen funktionieren.
Am 3. Mai 1943 war Karlrobert Kreiten festgenommen worden, weil er
sechs Wochen zuvor gegenüber einer Freundin seiner Mutter - Ellen Ott-
Monecke - unter anderem geäußert hatte, »der Führer habe keine Ahnung von
der Kriegsführung, von der Musik und mische sich nur in alles hinein«.
Am 3. September verurteilte der Volksgerichtshof den seit vier Monaten
als eine Art Geisel für das Wohlverhalten der deutschen Intelligenz
inhaftierten Karlrobert Kreiten in einem in dieser Weise auch dort unüblichen
Schnellstgerichtsverfahren. Am 7. September wurde Kreiten hingerichtet.
Am 15. September veröffentlichen deutsche Zeitungen eine kurze Notiz über
die Vollstreckung und die Urteilsbegründung: Kreiten habe »eine
Volksgenossin in ihrer treuen und zuversichtlichen Haltung« zersetzend
beeinflussen wollen.
Am 16. September berichten die geheimen Inlandsmeldungen des SD: »Die
in den letzten Tagen in der gesamten deutschen Presse veröffentlichten
Notizen über die Todesurteile, die gegen Defätisten gefällt wurden, finden in
allen Kreisen immer stärkere Beachtung. Es sei erfreulich, daß man nicht nur
den ›kleinen Mann‹ bestraft.«
Vier Tage später veröffentlicht Hof er zur propagandistischen Einbettung
des Mordes seinen Artikel. Er betonte »die tatsächliche oder nur eingebildete
Genialität« Kreitens und - entsprechend dem SD-Bericht - auch die Stellung
von »kleinem Mann« und prominentem Künstler »im Gefüge des
Volksganzen«. Die Hinrichtung des »ehrvergessenen Künstlers«, dem so
wenig verziehen werde wie »dem letzten gestrauchelten Volksgenossen«,
festigte den von Sicherheitsdienst und Propagandaministerium angestrebten
sozialen Burgfrieden. Höfer formulierte aus der Perspektive des
Himmler'schen Sicherheitsdienstes. »Kürzlich«, so schrieb er düster drohend
in seinem Artikel, »ist einem Kreis Berliner Künstler in kameradschaftlichem
Tone ins Gewissen geredet worden, sich durch einwandfreie Haltung und
vorbildliche Handlungen der Förderung für würdig zu erweisen, die das neue
Deutschland - auch in den Stunden seiner härtesten Prüfung - den
künstlerisch Schaffenden hat angedeihen lassen.« War Höfer bei diesem

98
Treffen dabei, war er es selber, der dort in »kameradschaftlichem Tone«
gesprochen hatte, oder und das ist wahrscheinlich - erfand er hier eine
Geschichte und sprach namens seiner Auftraggeber öffentlich und nicht »in
kleinem Kreise« zu seinesgleichen, die, wie er selbst, Privilegien gegen
erklärte Linientreue eintauschen sollten?
Beruhigend gewirkt. Die Meldungen aus dem Reich, vom Sicherheitsdienst
erstellt, erwähnen in der von Heinz Boberach herausgegebenen und
gekürzten Fassung Höfer einmal namentlich: Sein Artikel »Der Atlantik-Wall
steht«, am 13. April 1943 in verschiedenen Zeitungen unter verschiedenen
Überschriften veröffentlicht, habe »allgemein beruhigend gewirkt«. Auch
Goebbels freute sich noch drei Wochen später: »Unsere
Atlantikwallpropaganda hat doch außerordentlich gewirkt.« Ohne
namentliche Erwähnung, aber doch im Kontext der SD-Meldungen lassen
sich andere Artikel Höfers historisch einordnen. Als der SD am 20. und 27.
September 1943 über beunruhigende Versorgungsengpässe im bombenzer-
störten Bremen berichtete, spendet Höfer drei Tage später in den Bremer
Nachrichten Trost: »Wenn heute ein Volksgenosse an seinem Werkplatz oder
im Luftschutzkeller schwach zu werden droht, so mag er bedenken, daß es
nur noch eine übersehbare Spanne durchzuhalten gilt...» In derselben Zeit
mehrten sich die Klagen von Evakuierten aus den bombengefährdeten
Städten über die schlechte Versorgungslage mit Haushaltsgegenständen. Also
schrieb Höfer, dass dieser Mangel auch sein Gutes habe - »als Gesundbad
gegen die Zivilisationskrankheiten«.
Schließlich blieb zur Machterhaltung nach innen und außen nur die
Hoffnung auf Wunderwaffen. Ende Juli/ Anfang August 1944 konstatierten
die SD-Berichte mehrfach, wie sehr die deutsche Bevölkerung die
Vertröstung auf »V1« und »V2« und »Vergeltung« als »Bluff«,
»Baldriantropfen« und leeres »großes Geschrei« registrierte.
Und prompt platzierte Hof er am 13. August auf der ersten Seite der von
Goebbels herausgegebenen Wochenzeitung Das Reich seinen Artikel über
»neue Waffen«. Er lobte die »echte Erfindertat« der deutschen Konstruk-
teure, »mit den ersten Entwürfen für die erste Vergeltungswaffe bereits das
Richtige zu treffen«.
Höfer verteidigt sich 1988 als seinerzeit »apolitischer Feuilletonist«. Zur
hochdifferenzierten NS-Herrschaft gehörte jedoch ein politisch-unpolitisches
Feuilleton. Es war »zum Range des dritten politischen Ressorts ‹« erhoben
worden, wie der regimetreue Zeitungswissenschaftler Emil Dovifat 1940
meinte und fortfuhr: »Dies aber schließt nicht aus, daß auch der
kulturpolitische Teil journalistische Formen wählt, die dem Leser zum
Herzen sprechen, die ihn ganz gewinnen und durch ihre persönliche

99
Werbekraft sein Vertrauen in die Zeitung stärken und damit für deren
politische Führung gewinnen. Die Stunde des guten gesinnungsgebundenen
Feuilletonismus hat wieder geschlagen.«
Terror ohne Gerechtigkeitslücke. Höfer war kein unpolitischer Journalist,
und es war nicht - wie er gerne behauptet - der »reine Zufall«, der ihn 1949
zum politischen Journalisten machte. Ein Journalist des Jahres 1941 bekam in
der Stellung, die Höfer innehatte, in der Regel keine gefilterten Nachrichten.
Er filterte selbst. Die Hintergrundgespräche mit Staatssekretären,
Ministerialdirektoren oder Generälen verliefen in aller Regel ziemlich
unverblümt - gleichgültig, ob es sich um die Versorgung mit Lebensmitteln,
die Realitäten an der Front oder die Massenerschießung von Juden handelte.
Werner Höfers Biographie erklärt sich ganz zwanglos: Er arbeitete im
unmittelbaren Auftrag des Sicherheitsdienstes und (vielleicht auch: oder) des
Propagandaministeriums. Als Kriegsberichterstatter der Organisation Todt
und als Pressereferent im Rüstungsministerium setzte man ihn offiziell ein,
um ihn leicht »unabkömmlich« zu stellen und um aus diesen Bereichen selbst
Stimmungsberichte zu bekommen. Dass prominente NS-Journalisten in
dieser Weise arbeiteten, steht außer Frage. Warum nicht auch Werner Höfer,
der so offensichtlich paralle l zu den SD-Meldungen schrieb und zugleich
hinsichtlich Zeit und Ort seiner Veröffentlichungen so merkwürdig
unregelmäßig publizierte?
Er gab dem Hass der kleinen Leute eine Sprache, eine gemeinsame
Sprache, und damit eine Richtung. Höfer machte aus Zwangsarbeit »ein
neues arbeitendes Europa«, aus Geschützsalven ein »robustes Konzert«, aus
einem jüdischen Kaufmann ein »unterwertiges Beispiel« und aus Krieg,
Plünderung und Mord die »wehrhafte Kultur«. »Der berühmte Mann und der
namenlose Arbeiter«, so beendete Höfer seinen Begleitartikel zur Ermordung
des Pianisten Karlrobert Kreiten, »die in der abendlichen U-Bahn
nebeneinander sitzen - sie können sich ohne Vorbehalt grüßen.« Den Grund
dafür sah er in der sozialen Ausgewogenheit des Terrors. Die exemplarische
Hinrichtung des »ehrvergessenen Künstlers« sollte jeden Gedanken an eine
soziale Gerechtigkeitslücke oder Schieflage, so würden Journalisten heute
sagen, im Hinblick auf die Hinrichtungshäufigkeit widerlegen - eine
deutsche, von Werner Höfer moderierte Klassenversöhnung, zelebriert über
dem Leichnam von Karlrobert Kreiten.

100
Ein Arbeitsunfall
Rassenkunde, Nebenerwerb und Versicherungsrecht

Als Gustav von Hirschheydt am 4. Juni 1942 plötzlich an einer


Fleckfieberinfektion verstarb, handelte es sich versicherungsrechtlich um
einen Arbeitsunfall. So jedenfalls sah es seine Witwe, Pauline v. H., die auf
eine erheblich höhere Rente hoffen konnte, sofern der Tod ihres Gatten
ursächlich mit seiner beruflichen Tätigkeit zu tun hatte. Zweifellos hatte sich
Hirschheydt die tödliche Krankheit »bei der Behandlung von Leichen«
zugezogen, wie seine Frau gegenüber dem Versicherungsamt richtig angab.
Ihre Formulierung enthielt allerdings eine kleine Weglassung; tatsächlich
hatte sich ihr Mann »an Flecktyphus-Judenleichen, welche nicht desinfiziert
waren« angesteckt, wie sie in einem Privatbrief den Hergang genauer
beschrieb. Aber warum hatte Hirschheydt die Leichen nicht desinfiziert? Das
hätte zu den Selbstverständlichkeiten seines Berufs gehört, mit dessen Regeln
er es sehr genau nahm.
Gustav Adolf Paul von Hirschheydt war am 11. März 1883 in
Sternberg/Estland geboren worden. In Riga lernte er den Beruf des
anatomischen Präparators und verstand es bald, Zeichnungen und Aquarelle,
später Fotografien für die Vorlesungen seiner Chefs zu fertigen,
Einbalsamierungen vorzunehmen und komplizierte Kriminalfälle zu lösen.
Eine besondere Kunstfertigkeit entwickelte er für die Herstellung von
Abgüssen und Moulagen. Die überlieferten Fotos zeigen ihn als hageren,
pflichtbewussten Mann. Am Revers trug er das Kreuz der antibolsche-
wistischen Baltischen Landwehr. Wie alle Deutschbalten, die sich 1933 zu
Baltendeutschen wandelten, wurde er infolge des deutsch-sowjetischen
Umsiedlungsvertrags vom September 1939 schon sechs Wochen später mit
Hilfe von KdF-Schiffen über die Ostsee ausgesiedelt - zunächst nach Stettin.
Während des Winters 1939/40 saß er mit seiner Frau in Köslin fest und
bewarb sich von dort am Anatomischen Institut der neu gegründeten
Reichsuniversität Posen. Sein Arbeitsverhältnis war zunächst befristet, am 1.
April 1941 erlangte er die Festanstellung als Oberpräparator. Das Ehepaar
bezog die Wohnung einer vertriebenen polnischen Familie, und der

101
gemütlich-zuverlässige Hirschheydt bildete die Stütze des anatomischen
Instituts.
Sein Chef wurde der Leipziger Privatdozent Hermann Voss, der es im
fortgeschrittenen Alter erst dank der Annexion Posens zum Professor brachte.
Einer Generation von deutschen Medizinstudenten ist er durch den Voss/
Herrlinger, das kleine Handbuch der Anatomie, bekannt. Das hatte er 1944
für anatomische Schnellkurse von Medizinstudenten entwickelt, die nur kurz
von der Wehrmacht beurlaubt wurden. Wegen seiner praktischen Kürze
erschien das Werkchen, das die komplizierte Vielfalt der älteren Lehrbücher
auf griffiges Prüfungswissen reduzierte, in der DDR und bald auch in der
alten Bundesrepublik passend.
Dagegen werden nur wenige Voss' Tagebuch kennen, das 1987 in
Westberlin auszugsweise veröffentlicht wurde und den später in Jena vielfach
geehrten, immer wieder als freundlichen, frei von jedem Dünkel
beschriebenen Professor von seiner dunklen Seite zeigt: »Ich glaube, man
muß diese Polenfrage«, so heißt es da unter dem Datum vom 2. Juni 1941,
»ganz ohne Gefühl betrachten. Wir müssen sie vernichten, denn sonst
vernichten sie uns. Und deshalb bin ich froh über jeden Polen, der nicht mehr
lebt.« Da das Anatomische Institut über das einzige Krematorium der Stadt
verfügte, verbrannte die Gestapo dort nachts die Leichen der Erschossenen.
Voss schaute morgens regelmäßig in den Ofen, errechnete sich aus der
Aschenmenge die Zahl der Hingerichteten und notierte: »Die Polen sind
augenblicklich wieder sehr frech und infolgedessen hat unser Ofen viel zu
tun. Wie schön wäre es, wenn man die ganze Gesellschaft durch solche Öfen
jagen könnte.«* So viel zu Hermann Voss, der in der DDR zum allseits
hofierten Devisenbringer aufstieg und »wegen seiner Verdienste um die
Weiterentwicklung der Wissenschaft im Dienste des Friedens« als »Hervor-
ragender Wissenschaftler des Volkes« geehrt wurde.
In Posen allerdings gestaltete sich die materielle Situation des Ehepaars
Hirschheydt zunächst recht mäßig. Noch im April 1940 hatten die deutschen
Behörden das Gepäck aus der alten baltischen Heimat nicht freigegeben
beziehungsweise noch nicht aufgefunden. Für den Kauf der Winterkartoffeln
musste der Umgesiedelte um einen Vorschuss bei der Universitätskasse

* Das Posener Tagebuch des Anatomen Hermann Voss, erläutert von Götz Aly, in:
Biedermann und Schreibtischtäter. Materialien zur deutschen Täterbiographie (=
Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits - und Sozialpolitik, Bd. 4), Berlin
1987, S. 15-66.

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betteln. Sein Monatsgehalt betrug 230 Reichsmark. Im September 1941
erhielt er einen kleinen Nebenverdienst am Institut für Altertumskunde der
Reichsuniversität - »gegen ein entsprechendes Entgelt« oblagen ihm dort die
Arbeiten im Gipsfigurenkabinett.
Den Beginn seiner Erkrankung Ende Mai 1942 bagatellisierte Hirschheydt.
»Wissen Sie«, sagte er zu einem Kollegen noch sechs Tage vor seinem Tod,
»ich bin von einer Laus gebissen worden - jede Laus ist ja nicht gefährlich.«
Aus Anlass der späteren amtlichen Überprüfung des Arbeitsunfalls wurde
dann angegeben, eine solche Laus habe ihn gelegentlich einer »Kontrolle der
u. a. eingetroffenen Flecktyphusleichen« gebissen. Berufsunfall mit Todes-
folge, der Sachverhalt erschien eindeutig, und die Witwe insistierte: »Der
diesbezüglichen Einleitung meiner Rente sehe ich schnellstens entgegen«.
Deutscher Beamter war der Verstorbene zu Lebzeiten nicht mehr
geworden, nicht einmal hatte er die gesetzlich geforderte Anwartschaft von
mindestens 60 Monaten in der Pflichtversicherung erfüllt. Härteklauseln oder
Übergangsregelungen für »Rückkehrer« aus dem Baltikum gab es nicht. Frau
von Hirschheydt schien also nicht in den Genuss der gesetzlichen Rente zu
kommen, die für die Hinterbliebenen von Berufsunfällen vorgesehen war.
Das wurde die Stunde ihres Sohnes Wolf gang v. H., »Träger des Goldenen
Ehrenzeichens der Partei und aktiver Teilnehmer am 8./9. Nov. 1923 in
München«. Er empörte sich, dass man seine Mutter nun mit lächerlichen 30
Mark Angestelltenrente abspeisen wolle, sie, die »mit unermeßlich großem
Vertrauen nach Deutschland gekommen« sei. Ganz so schlimm war es nicht,
immerhin hatten die Behörden Pauline v. H. ein Sterbegeld von 232,62 und
eine monatliche Rente von 58,20 Reichsmark zugestanden. Ausnahmsweise
und »ohne Anerkennung eines Rechtsanspruchs« wurde die Unterstützung
dann im Januar 1943 erhöht auf immerhin 190,- RM monatlich. Frau von H.
reichte das nicht, zumal ihr noch Lohnsteuer abgezogen werden sollte: »So
etwas ist doch gar nicht möglich«, beschwerte sie sich: »Es ist doch bei der
Umsiedlung immer wieder gesagt worden, daß Beamte auch als Beamte
übernommen werden. Mein Mann war Mitglied der NSDAP, Blockwalter der
DAF und hat vor allen Dingen in Riga gegen die Juden und Freimaurer
gekämpft - und mußte ein Opfer seiner scheußlichen Arbeit werden.«
Aber warum bestritt die Rentenversicherung das Vorliegen eines
Arbeitsunfalls? Sie bezog sich auf den Unfallbericht von Hermann Voss
(»Blatt 43 der Personalakte«). Ebendieses Blatt fehlt heute, offensichtlich
wurde es irgendwann entfernt, um den Fall stillschweigend zu regulieren. Mit
größter Sicherheit wird Voss wahrheitsgemäß und zur Selbstrechtfertigung
als v. H.s Dienstvorgesetzter mitgeteilt haben, dass sein Oberpräparator in
den Räumen des Anatomischen Instituts einer freien (pflichtwidrig
unangemeldeten) Nebentätigkeit nachgegangen war und die Leiche, die er

103
nach den Grundregeln der anatomischen Kunst sofort hätte desinfizieren
müssen, aus bestimmten Gründen nicht desinfiziert hatte." Jedenfalls war die
Behauptung, er hätte sich die Infektion »bei der Kontrolle der u. a.
eingehenden Fleckfieberleichen zugezogen«, erfunden. Richtig hätte es statt
Kontrolle heißen müssen:... bei der Bearbeitung dieser Leichen zum Zweck
des Nebenerwerbs.
Was es mit der Nebentätigkeit Hirschheydts genau auf sich hatte, zeigt der
Schriftwechsel mit dem Auftraggeber Dr. Josef Wastl, seines Zeichens
Kustos der Anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums in
Wien. Er wandte sich im Februar 1942 an Hirschheydt: »Wie mir Prof.
Scheffzig mitteilte, besteht die Möglichkeit, daß unser Museum Schädel
männlichen und weiblichen Geschlechts von Polen etc. von Ihnen erwerben
könnte. Da wir an den verschiedenen Polentypen Mangel leiden, würde es für
unsere Arbeit sehr wertvoll sein, solche Schädel zu besitzen. Je mehr, desto
besser.« Darauf bot Hirschheydt postwendend »Polenschädel (männ, u.
weibl.) zum Preise von je RM 25,-« an, die von hingerichteten Polen
stammten, »die wir durch die Staatsanwaltschaft erhalten«. Hinsichtlich der
verfügbaren Altersgruppen schränkte Hirschheydt die Erwartungen fürs Erste
etwas ein (»Polenschädel von Kindern und Jugendlichen kann ich Ihnen
vorläufig nicht liefern«), machte aber von sich aus ein Angebot:
»Judenschädel (männ.) 20-50]ähriger kann ich Ihnen auch zum Preise von
RM 25,- offerieren, [...] auch Totenmasken der entsprechenden Individuen
aus Gips liefern im Preise von RM 15,-. Von besonders typischen Ostjuden
könnte ich Ihnen auch Gipsbüsten anfertigen, damit man die Kopfform und
die oft recht eigenartigen Ohren sehen kann. Der Preis dieser Büsten würde
sich auf 30,- bis 35,- RM stellen.«
Zwei Tage später bestellte Wastl Polen- und Judenschädel »soviel als
lieferbar, einschließlich Gipsmasken«, außerdem »Gipsabgüsse von
typischen Ostjuden, die Auswahl und Anzahl überlasse ich Ihnen«,
Hirschheydt bestätigte den Auftrag und kündigte die Lieferung von zwölf
polnischen Männer- und von drei polnischen Frauenschädeln an, außerdem
zwei Schädel von Juden mit Gipsbüsten und »20 Judenschädel (mann., 30-
50-jährige)« mit dazugehörigen Gipsmasken. Der Gesamtpreis betrug
1318,50 Reichsmark (etwa das Sechsfache des Hirschheydt'schen
Monatsgehalts).

* Geheimes Staatsarchiv Berlin, I HA/Rep. 76/989 (PA Hirschheydt). Inzwischen


wurde die Akte an das Bundesarchiv übergeben, dort: BA R 4901/14906.

104
Warum Hirschheydt trotz der ausdrücklichen Anforderung Wastls keine
Totenmasken der ermordeten Polen mitlieferte, begründete er nicht aus-
drücklich. Aus dem Schriftwechsel wird aber deutlich, dass ihm Angehörige
der Gestapo oder des Sondergerichts verboten hatten, irgendwelche Daten
oder Abbildungen mitzuteilen, die eine spätere Identifizierung der
Ermordeten erlauben könnten. Die Einschränkung galt für Polen, die
dezimiert, nicht ausgerottet werden sollten - nicht jedoch für Juden, die
insgesamt vernichtet werden sollten und daher später nicht mehr von ihren
Angehörigen erkannt werden könnten.
Schon erkrankt und auf dem Sterbebett ließ Hirschheydt seinem Wiener
Geschäftspartner mitteilen, die Erfüllung des Auftrages verzögere sich etwas,
da er sich »wahrscheinlich an dem Leichenmaterial infiziert« habe. Wenige
Tage später notierte Voss in seinem Tagebuch: »Eben haben wir Herrn von
Hirschheydt begraben. Es ist alles so gekommen, wie ich es vor drei Wochen
vorausgesehen habe. Als ich am 29. Mai morgens ins Institut kam, wurde ich
mit der Nachricht empfangen, daß Herr v. H. krank geworden sei. Da wußte
ich Bescheid. Es war gut, daß Eva mit hier war. Ich habe üble Stunden
durchgemacht. Man ist mit seinen Nerven zu sehr herunter. Es hört hier ja gar
nicht auf mit diesen Zwischenfällen. Ich war früher gern in meinem Institut.
Ich hasse es jetzt und werde mich nicht länger darin aufhalten, als unbedingt
nötig ist. Morgen früh fährt Eva wieder nach Hause. Dann sitze ich wieder
mit all meinen Sorgen hier allein. Ein elendes Leben.«
In der Chronik des Anatomischen Instituts der Reichsuniversität Posen
wurde Voss genauer: »Am 4. VI. ist Oberpräparator von Hirschheydt am
Fleckfieber gestorben. Er hatte vor einiger Zeit vom Wiener Anthro-
pologischen Museum den Auftrag bekommen, Gipsabgüsse von Juden-
leichenköpfen anzufertigen. Diese Judenleichen werden hier aus den
Judenlagern eingeliefert, um hier im Gebäude verbrannt zu werden. Sie sind
oft stark verlaust, und wie sich jetzt herausgestellt hat, nicht genügend
desinfiziert. An einer solchen Leiche hat sich Herr v. H. Läuse geholt und
zwar am 16. Mai; am 28. Mai hat seine Krankheit begonnen. Das
Anatomische Institut verliert in ihm einen selten treuen und arbeitsamen
Angestellten, der mir in den ersten Aufbauzeiten eine große Hülfe war und
schwer zu ersetzen sein wird.«
Nach von H.s Tod wickelte Voss den Auftrag ab und fragte in Wien an, ob
der Auftraggeber vom Naturhistorischen Museum in Wien die Unterkiefer
der Schädel mit Spiralen befestigt haben wolle oder nicht: »Außerdem«, so
teilte er mit, »hat Herr von Hirschheydt noch fünf Masken und zwei Büsten
mehr angefertigt, die ich Ihnen einschl. der zugehörigen Judenschädel zu den
bekannten Preisen anbiete.« Die Rechnung lag bei. Wastl überwies abermals
315 Reichsmark und bedauerte das vorläufige Ende dieser Beziehung: »Es ist

105
sehr schade, daß durch den Tod Ihres Chefpräparators derzeit keine weiteren
Lieferungen von Schauobjekten stattfinden können. Ich hoffe jedoch, daß in
absehbarer Zeit wieder eine geschäftliche Verbindung sich ermöglichen
lassen wird.«
Im Jahr 1939 hatte Wastl die Sonderschau »Das körperliche und seelische
Erscheinungsbild der Juden« im Naturhistorischen Museum organisiert, die
vom 8. Mai an in Wien gezeigt wurde. In dieser Ausstellung tat er sich mit
einer neuen Judensystematik hervor, indem er seine Ausstellungsobjekte in
mehrere Unterrassen aufgeteilt hatte (»Dunkle Ost-Rasse«, »Vorderasi-
atische« und »Orientalische Rasse«), aus deren Mischung sich
»zeitbeständige Zuchtformen« und »bestandsfeste Kombinationen« ergeben
hätten, die zudem »besonders in der seelisch-geistigen Haltung erkennbar«
seien. Diese Unterschiede zeige »nicht nur das Judenkind, sondern auch der
Judenmischling vom ersten Lebenstage an«. Die allen jüdischen Rassentypen
eigene Gemeinsamkeit bestehe darin, dass sie, auch im Fall der
Rassenmischung, die jeweils andere Rasse »in ihrer Richtung abändern«.
»Hieraus hat sich«, so erläuterte Wastl, »der tiefgehende Rassenunterschied
zwischen Juden und Nichtjuden im Orient entwickelt.«
Daraus leitete er die besondere Anfälligkeit für Krankheiten ab - sei es
Zahnfäulnis, Pest oder Kokainismus - und erklärte sie zur erbbedingten
Folgeerscheinung »langandauernder Inzucht«. *
Pauline von H. teilte Dr. Wastl den Tod ihres Mannes am 2. Juli 1942 in
einem schwarz umrandeten Trauerbrief mit. Sie berichtete dem Geschäfts -
freund in Wien bei dieser Gelegenheit über das Leben ihrer Familie (»wir
sind die ältesten Nationalsozialisten des Baltikums«) im Allgemeinen und
ihres Mannes im Besonderen: »Er war Forscher und Wissenschaftler durch
und durch, sein Leben hieß ›Arbeit‹. - Er war Ahnenforscher, bearbeitete die
Judenfrage und war Antisemit ganz und gar und hat schon in Lettland viele
Menschen darin aufgeklärt und machte ganze Arbeit. Als mein Mann den 27.
Mai an Flecktyphus erkrankte, zwölf Tage nach dem Biß einer Flecktyphus-
Judenlaus, und mit hohem Fieber in der Universität ohnmächtig zusammen-
brach, bat er die Assistenten, Sie sofort in Kenntnis zu setzen, warum sich die
Sendung seiner Ausstellungsarbeiten verspätet hat. Leider war es meinem
Mann nicht mehr vergönnt, noch den letzten Schliff, wie er sagte, mit einigen
Finessen noch in seine Arbeiten hineinzubringen und den passenden Ton
dazu. Wie hatte mein Mann gehofft und sich gefreut, im Juni dieses Jahres
nach Wien zu kommen, und die Ausstellung und das Museum sich anzu-

* Glasnegative der Ausstellungstafeln liegen in der Anthropologischen Abteilung des


Naturhistorischen Museums Wien.

106
sehen und seine Arbeiten zu besichtigen, bei denen er seine Nächte geopfert
hat. Er hoffte auch im Süllen, daß unser Führer mal diese Räume und sich
seine Arbeiten mal ansehen würde, wenn er das Museum besichtigt. Wenn es
einmal dazu kommen sollte, Herr Doktor, dann bitte vergessen Sie nicht, den
Namen meines Mannes dabei zu nennen und dem Führer zu sagen, daß mein
Mann bei dieser Arbeit sein Leben gelassen hat.«*
Um der perfekten Abgüsse und Nachbildungen willen hatte Hirschheydt
auf die Desinfektion der Leichen verzichtet. Seinem beruflichen und
geschäftlichen Ehrgeiz folgend, wollte er die Gesichter der Toten in einem
möglichst frischen, lebensnahen Zustand abbilden. Deshalb verstieß er gegen
eine Grundregel seines Berufs. Hirsch-heydts Abgüsse und die von ihm
gelieferten Schädel lagerten bis 1992 im Fundus der Anthropologischen
Abteilung des Naturhistorischen Museums in Wien. Danach wurden die
Schädel der Juden in Wien bestattet. Dann dauerte es weitere sieben Jahre,
bis sich die Leitung des Naturhistorischen Museums entschloss, die Schädel
der 1942 hingerichteten Polen aus den Magazinen des Museums
herauszunehmen. In eigens angefertigten Kopfsärgen wurden sie im Frühjahr
1999 dem Botschafter in Wien übergeben und bald nach Polen
zurückgebracht. Ausgesegnet wurden die sterblichen Reste in der Kirche Am
Kahlen Berg, die den Namen des polnischen Königs Johann III. Sobieski
trägt, der 1683 Wien von den türkischen Belagerern befreite.

* Der Schriftwechsel mit dem Naturhistorischen Museum Wien findet sich ebendort
in der Anthropologischen Abteilung, Stehordner »Korrespondenz 1941-1947«.

107
Planungssicherheit für den Holocaust
Hitlers Geheimrede vom 12. Dezember 1941

Lange haben Historiker nach dem Befehl zur Judenvernichtung gesucht oder
- sofern sie eine »Führer-Weisung« ausschlössen - nach anderen zentralen
Dokumenten. Das Protokoll der Wannsee-Konferenz schied aus. Hier hatten
sich Männer der zweiten Garnitur eingefunden, die nicht vom Befehl, wohl
aber von einer »Genehmigung« Hitlers sprachen. Dem Treffen war also eine
wie immer geartete übergeordnete Einigung vorausgegangen. Wenn sich
diese schon nicht dokumentieren ließ, so mussten sich wenigstens solche
Indizien dafür finden lassen, die plausible Rückschlüsse auf Ort, Zeitpunkt
und personelle Zusammensetzung einer solchen Besprechung erlaubten. Die
Recherchen liefen ins Leere.
1997 aber gelang es einem 34-jährigen Berliner Geschichtswissenschaftler,
die alte Frage knapp zu beantworten. Um es vorwegzunehmen: Die
Begründung ist genial.* Mit fast mathematischer Präzision geschrieben,
umfasst der Aufsatz 37 Seiten einschließlich 223 Quellenhinweisen. Der Titel
lautet: »Die Wannsee-Konferenz, das Schicksal der deutschen Juden und
Hitlers politische Grundsatzentscheidung, alle Juden Europas zu ermorden«.
Der Autor heißt Christian Ge rlach. Er fand und kombinierte Belege für eine
interne Rede Hitlers aus dem Jahr 1941, die kein anderer Forscher zuvor auch
nur erwähnt hatte.
Schon grollte Hans Mommsen, der Senior unter den Holocaustforschern:
Der junge Mann sei zwar »ausgezeichnet«, habe sich aber auf »Abwege«
begeben, noch dazu mit »altmodischen Methoden«, und überhaupt, er mache
»zuviel Wind«. Tatsächlich aber setzte sich Gerlach keineswegs naiv
zwischen jene Stühle, die Zeithistoriker seit Jahrzehnten besetzt, vererbt und
allenfalls widerwillig zentimeterweise verrückt haben. Die einen, die so

* Nachzulesen in: Werkstatt Geschichte, H. 18, 6. Jg. (1997), in leicht überarbeiteter


Form in: Christian Gerlach, Krieg, Ernährung, Völkermord. Forschungen zur
deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1998, S. 85-166.

108
genannten Intentionalisten, unterstellten den absoluten, bereits in der
frühesten Programmatik angelegten Willen Adolf Hitlers zum Rassenmord.
Selbst auf das Mittel der Austilgung - das Gas - habe er sich schon in der
»Kampfzeit« festgelegt. Andere betonten den vorauseilenden Gehorsam der
»Paladine«. Richtiger wäre von deren großen Freiheiten zu sprechen, die sie
sich nach dem höchst flexiblen Motto »Es ist der Wunsch des Führers ,..«
nahmen. Sieht man von einer im Aussterben begriffenen Variante ab (»Wenn
das der Führer gewusst hätte!«) oder der gleichfalls angejahrten Reduktion
(»Marionette des Monopolkapitals«), so machte eine ernst zu nehmende
Schule die These vom lavierenden, ja »schwachen« Diktator stark: Dieser
habe Konflikte gescheut, Entscheidungen vor sich hergeschoben - daher seine
Empfänglichkeit für große Zukunfts-, Eroberungs- und Neuordnungs-
visionen.
Trotz vielfältiger Unterschiede im Detail und in der Gewichtung steht nach
Auffassung der insgesamt so bezeichneten Funktionalisten doch eines fest:
Die deutsche Judenpolitik radikalisierte sich schrittweise. »Es ist ernsthaft zu
erwägen«, hatte der niemals bestrafte Jurist Rolf Heinz Höppner am 16. Juni
1941 geschrieben, »ob es nicht die humanste Lösung ist, die Juden, soweit sie
nicht arbeitseinsatzfähig sind, durch irgendein schnellwirkendes Mittel zu
erledigen. Auf jeden Fall wäre dies angenehmer, als sie verhungern zu
lassen.«
Der Brief war an Eichmann adressiert, der fast täglich mit seinem
Residenten Höppner in Posen telefonierte. »Geben Sie mir das schriftlich«,
wird Eichmann gesagt und das Schreiben in den hierarchischen Geschäfts -
gang eingespeist haben. Einen Befehl wollte Höppner nicht, er bat um die
wohlwollende Prüfung seines Neuerervorschlags. Er fand ihn kühn, »teil-
weise phantastisch«, aber »durchaus durchzuführen«. Im Übrigen sprach er
ausschließlich von der Ermordung der arbeitsunfähigen, nicht aller 500 000
Juden, für die er im Warthegau und speziell im Ghetto Lodz zuständig war.
Die anderen wollte er in ein Arbeitslager sperren, alle gebärfähigen Frauen
sterilisieren lassen, »damit mit dieser Generation das Judenproblem
tatsächlich restlos gelöst wird«.
Noch Ende September 1941 konnte Eichmann das andauernde Drängen
Höppners nur ausweichend beantworten. In jedem Fall stärkt das Dokument
die These von der fortschreitenden Judendiskriminierung bis zu jenem Punkt
absoluter Segregation und Pauperisierung, an dem die schon lange betriebene
Politik des sozialen Todes in die industrielle Ausrottung umschlug, gemäß
innerer Logik, von keinem Einzelnen mehr gesteuert, aber von vielen
Personen und Institutionen gewollt.

109
Jenseits der Frage, ob dem Holocaust ein Befehl vorausging, herrschte
Konfusion auch über das Datum der Entscheidung. Einige Historiker
plädierten mit guten Gründen für den März 1941, andere - und zunehmend
mehr - für den September/Oktober desselben Jahres. Die vorherrschende
Meinung war jedoch, »auf dem Höhepunkt der Siegeserwartung« im Ostkrieg
- am 31. Juli 1941 - sei »alles klar gewesen«. Gleichgültig aber, ob sie Hitler
als Urheber oder eher als Moderator betrachteten, setzten fast alle Forscher
voraus, die »Endlösung« habe sich allein aus antijüdischen Maßnahmen
heraus entwickelt. Sie betonten den Primat des Ideologischen und
verzichteten folglich darauf, die Wechselwirkungen anderer politischer und
militärischer Faktoren auf die Judenpolitik auch nur in Betracht zu ziehen.
Das galt für die äußerst wechselhafte Besatzungs- und Germanisie-
rungspolitik, für die Kriegs-, Wirtschafts - und Ernährungslage. Vernach-
lässigt wurde auch das induktive Miteinander von Volk und Führung, das
Victor Klemperer so minuziös zu Protokoll nahm.
Gerlach setzte dem Streit der Schulen ein vorläufiges Ende. Er scherte sich
nicht um die Schmähungen aus den hier wie dort tief gestaffelten
Fußnotenfronten. Er arbeitet strikt empirisch. Nur so konnte er behaupten und
begründen, Adolf Hitler habe seine Grundsatzentscheidung zur vollständigen
Vernichtung der europäischen Juden am 12. Dezember 1941 bekannt
gegeben. An diesem Tag sprach Hitler in seinen Privaträumen der
Reichskanzlei vor den etwa 50 Reichs- und Gauleitern, dem obersten
Führungsgremium der NSDAP. Fast alle bekleideten in Personalunion auch
Staatsämter. Die Versammlung war am 9. Dezember per Fernschreiben für
den 10. einberufen, am selben Tag auf den 11. und dann noch einmal auf den
folgenden Tag verschoben worden. Seine Einladung zur Wannsee-Konferenz
hatte Heydrich am 29. November verschickt und die Konferenz für den 9.
Dezember anberaumt. Am 8. Dezember sagte er den Termin auf unbestimmte
Zeit ab. Erst einen Monat später gingen die neuen Einladungen heraus - für
den 20. Januar 1942.
Schon die Parallelität der Ereignisse gibt der Rede Hitlers ein gewisses
Gewicht. Aber welches, wenn die erste Einladung zur Wannsee-Konferenz
schon vierzehn Tage zuvor abgeschickt worden war? Die Verschiebung
folgte, so könnte man einwenden, dem politischen Durcheinander, das der für
die deutsche Führung unerwünschte japanische Angriff auf Pearl Harbor vom
7. Dezember mit sich brachte.
Aber Gerlach begründet mit überzeugenden Details, die ursprünglich
anberaumte Wannsee-Konferenz habe ein ganz anderes Thema gehabt als
diejenige, die dann sechs Wochen später tatsächlich stattfand. Es sei zunächst
lediglich vorgesehen gewesen, die Probleme zu erörtern, die bei der
Deportation der (groß)deutschen Juden entstanden. Diese hatte auf Druck der

110
Bürgermeister, Gauleiter und Regierungspräsidenten am 15. Oktober
begonnen - nach einer ausdrücklichen Genehmigung Hitlers, die sich anhand
des Himmler-Kalenders auf den 17. September datieren lässt. Die
Zielbahnhöfe waren Lodz, Riga und Minsk, aus pragmatischen Gründen dann
noch Kaunas. Dabei zeigten sich sofort enorme Schwierigkeiten und
Reibungsverluste:
Es ging um die genaue Abgrenzung der so genannten Voll- und Halbjuden,
um Einsprüche aus der Bevölkerung, um die Zurückstellung derjenigen, die
zwangsweise in der Rüstungsindustrie arbeiteten, um Vermögensfragen, um
die Deportation der Alten und der im Ersten Weltkrieg ausgezeichneten
deutsch-jüdischen Soldaten, schließlich um das Tempo und die Prioritäten
des »Umsiedeins«. Erst nach der Rede Hitlers vom 12. Dezember konnte
Heydrich, wie Gerlach zeigt, das Thema ausweiten und eine Konferenz zur
»Endlösung der europäischen Judenfrage« einberufen.
Hitler sprach zu seinen engsten Vertrauten in einer der schwersten Krisen
seiner Herrschaft. Aachen hatte am 8. Dezember, Köln in der Nacht zuvor
harte Bombenangriffe erlitten, die deutsche Luftwaffe an der Ostfront seit
dem 22. Juni 2093 Flugzeuge verloren, die Panzermotoren waren
verschlissen und festgefressen, die Lokomotiven westeuropäischer Bauart auf
den rasch umgenagelten Schienensträngen eingeeist, 160000 Soldaten des
Ostheeres gefallen, Tausende erfroren in den Schützengräben und Lazaretten.
Die Truppe sei »am Ende«, meldeten die Generale. Die Gegenoffensive der
Roten Armee hatte begonnen. Im Reich liefen Gerüchte um über die
neuerliche Senkung der Fleisch- und Fettrationen.
Auf der anderen Weltseite hatte Japan nicht, wie der deutsche
Bündnispartner gefordert und gehofft hatte, den Krieg in den sowjetischen
Fernen Osten getragen, sondern die USA angegriffen. Deutschland musste
am 11. Dezember mit der Kriegserklärung an die USA reagieren. Für Hitler
und für die Deutschen wandelte sich der europäische Konflikt schlagartig
zum Zweiten Weltkrieg, zur Situation des alles oder nichts. In diesen Tagen
übernahm Hitler den militärischen Oberbefehl (»das bißchen
Operationsführung«), verordnete drakonische Härte in den besetzten Ländern
Europas (»Todesstrafe grundsätzlich angebracht«), den Soldaten an der
Ostfront hatte er nicht mehr zu bieten als den Aufruf zu »fanatischem
Widerstand«.
Was Hitler am 12. Dezember zur Judenfrage sagte, ist doppelt, in den
Formulierungen fast identisch überliefert. Einmal im Tagebucheintrag des
Berliner Gauleiters und Propagandaministers Joseph Goebbels vom 13.
Dezember und einmal im Regierungstagebuch des Reichsleiters und
Krakauer Generalgouverneurs Hans Frank vom 16. Dezember. »Bezüglich

111
der Juden ist der Führer entschlossen«, so heißt es bei Goebbels, »reinen
Tisch zu machen. Der Weltkrieg ist da, die Vernichtung des Judentums muß
die notwendige Folge sein. Diese Frage ist ohne jede Sentimentalität zu
betrachten. Wir sind nicht dazu da, Mitleid mit den Juden, sondern nur
Mitleid mit unserem deutschen Volk zu haben. Wenn das deutsche Volk jetzt
wieder im Ostfeldzug an die 160 000 Tote geopfert hat, so werden die
Urheber dieses blutigen Konflikts dafür mit dem Leben bezahlen müssen.«
Zwei Tage später legte Rosenberg, Reichsleiter fürs Ideologische und
Minister für die besetzten Ostgebiete, Hitler ein Redemanuskript zur
Genehmigung vor und notierte: »Über die Judenfrage sagte ich, daß die
Anmerkungen über die New Yorker Juden jetzt nach der Entscheidung etwas
geändert werden müßten.« Am 18. Dezember vermerkte der Abteilungsleiter
Allgemeine Politik im Ostministerium, Otto Bräutigam, später Chef der
Ostabteilung im Bonner Auswärtigen Amt: »In der Judenfrage dürfte
inzwischen durch mündliche Besprechung Klarheit geschaffen sein.«
Am 14. Dezember traf Himmler den Mann, der in Hitlers Kanzlei die
Morde an deutschen Geisteskranken organisierte: Viktor Brack. Schon zuvor
umschrieb man die Vernichtung von Menschen in Gaskammern als
»Anwendung Brackscher Hilfsmittel«. Himmler notierte sich die
Besprechungspunkte »Kurs im Ostministerium, Euthanasie«. Gleichzeitig
hatte Bracks unmittelbarer Vorgesetzter, Reichsleiter Philipp Bouhler, zwei
Termine bei Hitler. In all diesen Besprechungen ging es immer um dasselbe
Thema: um die Abordnung des »eingespielten Personals«, das schon die
Gaskammern der »Euthanasie« betrieben hatte, in die Vernichtungslager, die
zur Ermordung aller Juden jetzt auf- und ausgebaut wurden. Bouhler
formulierte es so: die Abstellung seiner Leute »zu einer bis in die letzte
Konsequenz gehenden Lösung der Judenfrage«.
Der Ton lag auf den Wörtern »letzte Konsequenz«. Bis zum 12. Dezember
1941 waren bereits eine Million Juden ermordet worden: In den besetzten
Gebieten der Sowjetunion traf es zuerst die wehrfähigen Männer, seit Mitte
August auch Frauen, Kinder und Alte. Die Ghettos wurden ausgehungert. In
der Nähe von Lodz, in Chelmno, hatten die Massenmorde mittels Gaswagen
schon am 8. Dezember begonnen. Doch wurden dem Morden hier noch
Grenzen gezogen. Die Opfer hatte man zunächst noch genau kontingentiert
und auf 100000 arbeitsunfähige Juden festgesetzt, etwa im Sinne der
Vorstellungen, die Höppner schon im Juli geäußert hatte. Seit Oktober
geplant und gebaut wurde das Vernichtungslager Belzec mit einer Kapazität,
die zur Vergasung von täglich 500 Menschen ausreichte. Auch die
Konzeption dieses Lagers beruhte noch auf der Selektion der
Arbeitsunfähigen. Als diese Vernichtungsanlage im März 1942

112
funktionsfähig war, wurde sie nach wenigen Wochen des industriellen
Mordens wieder geschlossen und in ihrer Kapazität wesentlich erweitert.
Unabhängig von Hitlers grundsätzlicher Entscheidung hatten die Praktiker
der deutschen Rassenpolitik die Ermordung der Juden in allen besetzten
osteuropäischen Ländern diskutiert, gefordert oder schon begonnen. Über ein
geschlossenes Konzept verfügten sie jedoch vor dem 12. Dezember nicht.
Die Arbeitsunfähigen, die Wehrfähigen, schließlich die Ostjuden überhaupt
hatten sie nach und nach in den Kreis der Vernichtung einbezogen, nur
ausnahms weise auch schon einige tausend deutsche Juden. Die lokalen und
regionalen Initiativen dokumentierten den weitverbreiteten Vernichtungs-
willen, gelegentlich die Grenzen: Die Ermordung der ostjüdischen
»bodenständig vertierten Horden«, so sagte es der Generalkommissar in
Minsk, sei doch etwas anderes als die von »Menschen, die aus unserem
Kulturkreis kommen«. Am 16. Dezember bat er um »dienstliche Anweisung«
zum Mord, die er im Fall der deutschen Juden »auf eigene Verantwortung«
nicht geben könne.
Den Inhalt der Geheimrede, die Hitler vier Tage zuvor gehalten hatte,
kannte er noch nicht. Nach allem steht dessen alleinige Verantwortung nicht
zur Debatte. Hitler befahl nicht, sondern genehmigte in aller Deutlichkeit,
was vielerorts bereits begonnen hatte und viele längst schon wollten. Aber
erst seine Rede verhalf den Funktionären der Rassenation zu letzter
Planungssicherheit, wie man heute sagen würde.
Christian Gerlach fand den archimedischen Punkt heraus, der es erlaubt,
die politische Entstehungsgeschichte des Holocaust klarer denn je
nachzuzeichnen und zu deuten.

113
Eichmanns geregelte Behördenarbeit
Eine Rose auf das Grab von Bomber-Harris

Das erst im Jahr 2000 vom israelischen Staatsarchiv freigegebene Eichmann-


Manuskript »Götzen« liegt in maschinenschriftlich transkribierter Fassung
vor. Sie ist bequem lesbar, enthält jedoch zahlreiche Schlampereien. Der
»rieg gegen Angland« enträtselt sich leicht, »Dr. Fiedscher« heißt Feldscher,
»Glöcks« Glücks usw. Wo allerdings das Wort »ansiedeln« mit kenntnis -
freier Hartnäckigkeit in »aussiedeln« verkehrt wurde, hilft allein spezielle
Quellenkunde weiter; politische Psychologie wird gebraucht, wo schon im
Inhaltsverzeichnis Deportationsangelegenheiten in »Reparationsangele-
genheiten« verkehrt werden. So viel zur Transkriptionskunst des israelischen
Staatsarchivs.
Adolf Eichmann legte seinen letzten Text als Selbstdarstellung an, er
versuchte sich zu erklären und ins rechte Licht zu rücken. Der Arbeitstitel
Götzen sollte ausdrücken, dass der später eines Besseren belehrte Autor die
NS-Führer lange vergottet, ihnen »mit allen Fasern« geglaubt hatte. Dem
Autobiographen Eichmann erlaubte der Titel zudem die gelegentliche
verfremdende Distanz: »Jedes Jahr einmal, im Herbst, hielten die Götter
Heerschau. Sie stiegen von ihrem Olymp herab und zeigten sich in breiter
Front den Massen...« Oder: »Inzwischen war ich längst zum Offizier
avanciert und meine Verhaftung an die Götter war noch bindender
geworden.« Vollständig sei diese »Verhaftung« allerdings nie gewesen.
Zum Beispiel begründete Hitler seine berühmt -berüchtigte Androhung zur
»Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa« mit der angeblichen
Kriegstreiberei des »internationalen Finanzjudentums«. »Nein«, ereifert sich
Eichmann über mehrere Seiten, »die internationale Hochfinanz war und ist
mit das größte aller Übel; daran gibt es nichts zu rütteln. Aber hier den Tenor
auf das Wort ›Jude‹ legen, heißt die Sachlage verkennen.«
Alternativ zu Götzen erwog Eichmann den bildungsbürgerlichen Titel
»Gnothi seauton«, was salopp so viel meint wie »Geh in dich«, pathetischer:
Bedenke die Grenzen deines Menschseins, oder: Erkenne dich selbst.

114
Einen noch unbestimmten Lektor bat er um gelegentliche »Satzauf-
lockerung«, damit sein »sachlich-nüchterner ›Amtsstil‹ leichter lesbar«
würde; der Schutzumschlag sollte einfarbig in »Perl- oder Taubengrau«
gehalten sein, die Titelei in »klarer, linienschöner Schrift«. (Auch wenn es
geschichtspolitisch tätige Graphiker hartnäckig ignorieren, so hatte das
nationalsozialistische Deutschland die Frakturschrift als unmodern verpönt
und in den Schulen die lateinische anstelle der deutschen Schreibschrift
eingeführt.)
Das überlieferte Konvolut von 676 Blättern gliedert sich in drei Teile. Teil I
handelt von der Judenpolitik in Deutschland, Österreich, Böhmen und
Mähren, dem annektierten und besetzten Polen, »verbunden damit die
Stellung des Befehlsempfängers im Durcheinander mit seiner Innenschau«.
Teil II befasst sich mit »Deportationsangelegenheiten in 12 europäischen
Ländern«. Teil III führt zum inneren Monolog »nach dem Sturz des eben
noch Gültigen«. Den beiden ersten Teilen ist jeweils eine lange Liste von
Beweisdokumenten angefügt, die alle in den Jerusalemer Prozess eingeführt
worden waren. Im laufenden Text verweist Eichmann auf diese
gerichtsbekannten Urkunden.
Der Exposition folgt die wirre, oft endlos sich wiederholende
Durchführung, die von jeder noch so bescheiden angesetzten Druckreife weit
entfernt bleibt. Gleichwohl hielt der Autor seine Arbeit am 6. September
1961 für im Wesentlichen abgeschlossen. Mit dem Abstand von zwei
Monaten vermerkte er im November allerdings, er halte das Geschriebene
nach dem abermaligen Überfliegen für »gelegentlich unvollständig«, »zu leer
und zu oberflächlich«, auch fühlte er sich durch eine mögliche israelische
Zensur seines Manuskripts gehemmt: »Am liebsten wäre mir, ich könnte es
ausführlicher u. freundlicher neufassen.« Es handelt sich also um einen Text,
den Eichmann nicht für endgültig hielt, wobei sich sein Zögern und seine
späteren Veränderungen hauptsächlich aus der Furcht erklären, einzelne
Sätze könnten zu seinem »Nachteil ausgelegt oder gedeutet« werden. Einige
Passagen strich er nicht nur, er machte sie unleserlich, vorzugsweise in den
historisch interessanteren Partien.
Wie in seinen polizeilichen und gerichtlichen Aussagen hielt sich
Eichmann beim Schreiben der Götzen strikt an sein Verteidigungskonzept.
Demnach hatte er sich für »eine planvoll gelenkte Auswanderung« der Juden
aus innerer Überzeugung eingesetzt, um den Bedrängten zum -
verantwortungsethisch gerechtfertigten - »kleinsten aller Übel« zu verhelfen.
Die Transformation dieses teilweise realisierten Vorhabens zum Massenmord
habe sich infolge der Kriegslage ergeben, befohlen von den »Göttern und
Untergöttern«. Eichmann bestreitet die Massenerschießungen, Todeslager
und Gaskammern nicht. Wie im Prozess spricht er vom »kapitalsten

115
Verbrechen in der Menschheitsgeschichte«, »dem größten und gewaltigsten
Todestanz aller Zeiten«.
Er selbst habe sich dabei stets korrekt verhalten und den Verfolgten die
insgesamt bedrohliche Situation eher erleichtert als erschwert. Alle seine
Schreibtischtaten, die später zur »Endlösung« beitrugen, will Eichmann nur
auf Befehl, im Zustand der »Persönlichkeitsspaltung« begangen haben, weil
seine innere Stimme ihm zwischen »Fahneneidbruch« und Verbrechen
keinen Ausweg gewiesen habe. Diese prozessrechtlich legitime Argumen-
tation ist in jedem Punkt unwahr. Hunderte von Dokumenten zeigen das
Gegenteil: die Lust des über seine ursprüngliche Bildungsgrenze hinaus
aufgestiegenen SD-Offiziers an der großen organisatorischen Herausfor-
derung wie an der kleinen persönlichen Gemeinheit. Eichmann war nicht
»der Architekt des Holocaust« (eine Figur, die es ohnehin nicht gab), aber er
war um praktische, vor allem praktikable Vorschläge zum Deportieren,
Erschießen und Vergasen niemals verlegen. Und diese Art von extrem
destruktiver Konstruktivität erwartete er von seinen nachgeordneten
Mitarbeitern. Sie alle begriffen ihre Arbeit als kreative Herausforderung. Sie
dachten mit, waren teamfähig, identifizierten sich mit ihrer Aufgabe - hoch
motivierte Mitarbeiter.
Nehmen wir das Beispiel Wien. Eichmann traf dort am 16. März 1938 ein,
vier Tage nach dem Einmarsch der Wehrmacht. Die erste Aufgabe seines
Kommandos bestand darin, jüdische Funktionäre und Intellektuelle anhand
vorbereiteter Listen zu verhaften, sie kurzzeitig ins KZ Dachau zu
verschleppen, gefügig zu machen und solche Unterlagen zu beschlagnahmen,
die für die weitere Verfolgung hilfreich sein konnten. In einem zweiten
Schritt wollte Eichmann binnen eines Jahres 20 000 - insbesondere arme -
österreichische Juden abschieben, in die Flucht jagen und zur Auswanderung
zwingen. Tatsächlich wurden in der fraglichen Zeit an die 100 000
vertrieben, so sehr hatte er »die Herrschaften« - gemeint waren die von ihm
ausgewählten, ständig kontrollierten und bedrohten Mitarbeiter der Jüdischen
Kultusgemeinde - »auf den Trab gebracht«. Dem neu ernannten Vorsitzenden
der jüdischen Kultusgemeinde in Wien, Dr. Josef Löwenherz, verpasste er
gleich zu Anfang eine Ohrfeige, was er im Verhör als ausnahmsweise
Entgleisung bedauerte, damals aber an seinen Vorgesetzten Hagen, den
»lieben Herbert«, meldete: »Ich habe sie vollständig in der Hand, sie trauen
sich keinen Schritt ohne vorherige Rückfrage.«
Bald konzipierte und leitete Eichmann die Wiener Zentralstelle für jüdische
Auswanderung. Sie wurde zum Modell für ähnliche Einrichtungen in Prag
und Berlin, denn hier wurden die Kompetenzen unterschiedlicher Ministerien
und Ämter in einer einheitlichen Abschiebebehörde gebündelt. Die
Entrichtung der Reichsfluchtsteuer und Gebühren, die, ähnlich dem Kauf von

116
Devisen, einer Teilenteignung gleichkamen, die Bewilligung und Ausstellung
der Pässe, die Erteilung der Visa und Einreisegenehmigungen - alles wurde in
einem Arbeitsablauf unter einem Dach, dem des Rothschild-Palais, erledigt.
So konnte der frisch gebackene Behördenleiter Eichmann, obwohl er die
unterschiedlichsten Beamten und selbst jüdische Gemeindeangestellte
beschäftigte, »absolut die Linie des Sicherheitsdienstes bei der Durchführung
der Judenfrage in Österreich gewährleisten«.
Auch wenn er es später stets bestritt, so bestand sein Erfolgsgeheimnis
nicht allein in der Entwicklung einer reibungsarmen bürokratischen Technik,
sondern auch im dosierten, für die Betroffenen unvorhersehbaren,
individuellen Terror. In der Wiener Zentralstelle traktierten Eichmanns
Gestapo-Mitarbeiter die »auswanderungslustigen« Juden beispielsweise
regelmäßig mit der Frage: »Was bist du?« Die arglose Angabe des Berufes
hatte Prügel zur Folge, was sich unter den verängstigten Antragstellern rasch
herumsprach - die gewünschte, dann mit einem beifälligen »Sehr gut, sehr
gut!« kommentierte Antwort lautete: »Ich bin ein jüdischer Betrüger, ein
Gauner...» Die Zahl der Selbstmorde unter den Wiener Juden, die in
normalen Zeiten allenfalls fünf je Monat betragen hatte, stieg sofort auf
durchschnittlich 70 an.
Zu Beginn seiner Abkommandierung nach Österreich hatte Eichmann noch
um seine berufliche Zukunft gebangt und gegenüber Hagen befürchtet, er
werde wohl kaum »als Referenterl« hier bleiben: »Weißt du«, schrieb er im
gefühlsseligen Ton des politisch Bewegten, »es tut mir ehrlich leid, daß ich
wahrscheinlich von der Arbeit, die ich gerne machte und in der ich
gewissermaßen jetzt schon seit Jahr und Tag zuhause war, weggehen muß.«
Tatsächlich begann nach seinen Wiener Erfolgen der Aufstieg. All das bleibt
in den Götzen unerwähnt. Wo es um seine wirkliche Tätigkeit zu gehen hätte,
lügt Eichmann, verschweigt, schwindelt sich an der Wahrheit entlang, beruft
sich auf Befehle oder weicht auf anekdotisches Spielmaterial aus: etwa
höchst geheime Ermittlungen über die zu einem Zweiunddreißigstel getrübte
Rassenreinheit der »Diätköchin des Führers«, Fräulein Eva Braun. Seine
besonders langatmigen Einlassungen zur Sache, zu einzelnen im Grunde
unwichtigen Dokumenten und Interpretationen während der Beweis -
aufnahme, lassen sich als verzweifelte Nachträge des Angeklagten für seine
realen Richter lesen, die zum Zeitpunkt der Niederschrift die
Beweisaufnahme zwar abgeschlossen, aber weder den Schuldspruch noch das
Strafmaß verkündet hatten.
Im Allgemeinen ist der Text in einem berichtenden, schubweise im
kitschig-literarisierenden Stil gehalten. Zum Beispiel: »Die deutschen Panzer
rasselten durch Prag. Die goldene Stadt an der Moldau. ›Slata Praha‹ wie der
Ceche zu seiner Hauptstadt sagt.« Da gleiten dann Eichmanns Blicke aus

117
verträumten Gässchen hoch zum Veitsdome, da umweht, raunt und kündet es
im gar heimeligen städtebaulichen Kleinod. Papperlapapp. Das Über-
raschende allerdings ist, wie gut dieselbe Darstellungsmethode funktioniert,
wo es um die behaupteten inneren Folgen einer Massenerschießung bei
Minsk geht. Eichmann will nur als verspäteter, angewiderter Zwangs-
zuschauer teilgenommen haben, der sich hernach die Spritzer eines
Kindergehirns vom Mantelaufschlag wischen lassen musste. Das besorgte
zwar sein Fahrer, Eichmann ging es, folgt man seiner Darstellung, dennoch
nicht gut: »Ich fand keine Ordnung mehr im Wollen und Willen des
Waltens.«
Aber er kann auch nüchterner: »Noch als SS-Obersturmbannführer küßte
ich sehr herzlich meine halbjüdische Cousine, die mich mit meinem Vater auf
meiner Dienststelle besuchte, und man brach am Abend in einer netten
Weinstube in Berlin einigen netten Flaschen den Hals. Und warum sollte ich
meine bildhübsche zwanzigjährige halbjüdische Cousine nicht küssen, sagte
ich zu meinem ständigen Vertreten, dem Sturmbannführer Günther; so was
kann doch unmöglich Reichsverrat sein. Er hatte diesbezüglich strengere
Auffassungen.« Die Episode wird zurechtgeschönt sein, doch steht fest, dass
Eichmann keine besonderen antisemitischen Prägungen erfahren hat. Sich
selbst ordnet er als durchschnittlichen Vertreter seiner Generation ein, der
»von tausend Idealen beseelt gleich vielen anderen in eine Sache
hineingeschlittert« sei, als Jungaktivist des nationalen Aufbruchs. Zugleich
sieht er sich als Passivum, »als eines von vielen Pferden in den Sielen«, die
»gemäß dem Willen und den Befehlen der Kutscher weder nach links noch
nach rechts ausbrechen konnten«. Seine Neigung zur metaphorisch
vielgestaltigen Umschreibung des Rädchens in dem Uhrwerk, das andere
stets von neuem aufzogen, sind aus den publizierten Vernehmungs- und
Prozessaufzeichnungen gut bekannt, neuerdings auch aus dem Film Ein
Spezialist. Solche scheinauthentischen Dokumentenfetzen, die der erklärten
Verteidigungslinie eines Schreibtischmörders folgen, werden gern ins
Erinnerungsangebot gerückt, weil sie ein handliches Bild vom autoritären,
absolut uncoolen und daher fernen Zwangscharakter bieten.
Wo kämen wir hin, wenn einer beispielsweise so anfinge: »Meine
gefühlsmäßigen politischen Empfindungen«, so äußert sich Eichmann in
seinen Götzen mehr als einmal, »lagen links, das Sozialistische mindestens
ebenso betonend wie das Nationalistische.« Er und seine Freunde hätten
während der Kampfzeit »den Nationalsozialismus und den Kommunismus
der sozialistischen Sowjetrepubliken« als »eine Art Geschwisterkinder«
angesehen. Igitt! Am Ende behält Willy Brandt wo möglich Recht, der in
einem seiner letzten, nachdenklich-befreiten Interviews zu Protokoll gab, im
Grunde seien sich am Ende der Weimarer Republik die jüngeren Anhänger

118
rechts- oder linksradikaler Parteien sehr ähnlich gewesen. Genug. Die
biographische Dis position mag für die größere Einordnung des nationalen
Sozialismus von Interesse sein, dafür wird Eichmann allenfalls als Fußnote
gebraucht. Die historischen Fragen richten sich an den Fachmann für
Judendeportation und -Vernichtung.
Da viele einschlägige Entscheidungen ausdrücklich nur mündlich
verhandelt, die meisten Schriftstücke vorsätzlich 1944/45 verbrannt wurden
und die überlebenden Tatbeteiligten sich anschließend zur wahrheitsgemäßen
Auskunft nicht bereit fanden, stützt sich die Holocaust-Forschung allein auf
die Fülle dokumentarischer Bruchstücke und - Stückchen. Die Kunst besteht
in der Verifizierung und in der plausiblen Zuordnung. Niemand hat das
zentrale, für sich selbst sprechende Dokument je gefunden. Es existiert nicht.
Auf dem Weg gewissenhafter Detailkunde ist es in den vergangenen
Jahrzehnten jedoch gelungen, die Kenntnisse über die Vorgeschichte und den
Ablauf des Mordes an den europäischen Juden stark zu verdichten. Viele
Fragen konnten so geklärt und außer Streit gestellt werden.
In engen Grenzen kann Eichmanns Manuskript dieser Forschung weiter-
helfen. Nehmen wir zum Beispiel den 1940, nach der Niederlage
Frankreichs, entwickelten Plan, alle Juden aus dem deutschen Machtbereich
nach Madagaskar zu verschleppen. Eichmann behauptet im Sinne seiner
Verteidigungsstrategie, er habe dieses Umsiedlungsprojekt erfunden. Unsinn,
das zeigen die Dokumente eindeutig. Dann heißt es aber: »Ich persönlich
gedachte die Dinge der Insel an Ort und Stelle zu steuern. Dazu hatte ich
bereits die Genehmigung meiner Vorgesetzten erwirkt. Es wäre bestimmt
kein Konzentrationslager geworden. Und sieben Millionen Rinder auf der
Insel waren ein beruhigender Schatz. Bis hoch in das Jahr 1941 arbeitete ich
an der Realisierung.«
Der letzte Satz ist frei erfunden, weil ein von Eichmann unterzeichneter
Vermerk für Himmler beweist, dass er den Madagaskarplan spätestens am 4.
Dezember 1940 aufgab und wenige Wochen danach auf die
»Ostraumlösung« setzte: also auf die Deportation der europäischen Juden in
die noch zu erobernden, extrem unwirtlichen nordöstlichen Zonen der
Sowjetunion. Unbekannt, aber durchaus wahrscheinlich ist seine Bewerbung
um die Leitung des geplanten afrikanischen »Reservats«. Immerhin wurden
im Sommer 1940 - der Achsenpartner Italien stand bereits in Somalia - in der
Kanzlei Hitlers schon Namen für den Gouverneursposten in einem
wiedereroberten Deutsch-Ostafrika gehandelt.
Mehr noch: Obwohl es in den einschlägigen Studien (etwa bei Magnus
Brechtgen) übersehen wird, so unterzogen sich einige Mitarbeiter Eichmanns
just im Sommer 1940 Tropentauglichkeitsprüfungen, ja sogar entsprechenden

119
Impfungen. Die Herren bereiteten sich also ganz persönlich auf die »insulare
Lösung der Judenfrage« vor. Warum nicht auch Eichmann? Ähnliches gilt
auch für Friedrich Schumacher, Professor für Kolonialgeologie an der
Bergakademie Freiberg in Sachsen. Er begutachtete im Sommer 1940 im
Auftrag des Auswärtigen Amts die Frage, ob die Insel Madagaskar
hinsichtlich möglicher Bodenschätze wertlos genug sei, um sie den Juden zu
überlassen. Er kam zu einem positiven Ergebnis und stellte gleichzeitig bei
der DFG einen Antrag auf Forschungsförderung, um die Erschließungs-
möglichkeiten von Bodenschätzen im einstigen Deutsch-Ostafrka möglichst
rasch zu ergründen.
Der Madagaskar-Plan schloss den Tod von Hunderttausenden Deportierten
unausgesprochen ein, nicht jedoch Massenvergasungen. Als Vorhaben
bewegte er sich im Vernichtungshorizont früherer und späterer Massenver-
treibungen in der Türkei, im deutsch besiedelten Ostmitteleuropa oder in
Indien. Daher ist Eichmanns Hinweis auf die sieben Millionen Rinder von
Interesse. Warum diese Zahl? Drei der Gutachten, die professorale
Hilfsverbrecher im Rahmen des Madagaskarprojekts während der
Sommermonate 1940 erstellten, sind bekannt - wir würden heute von
Machbarkeitsstudien sprechen. Sie handeln - unterkühlt gesagt - von den
räumlichen Verhältnissen der Insel, von der tatsächlichen sowie der
angeblich möglichen Besiedlungsdichte und von der montanwirtschaftlichen
Bedeutungslosigkeit.
Aus historiographischer Erfahrung - und nach Eichmanns Hinweis erst
recht - spricht alles dafür, dass auch ein Agrarwissenschaftler an der
Vorbereitung dieses geplanten Deportationsverbrechens mitwirkte. Vielleicht
lässt sich ein solches Gutachten noch finden im Nachlass eines berühmten
und verdienten Großvaters. Wenn ja, dann würden die Kenntnisse über die
Geschichte der »Endlösung« um ein Faktum ergänzt, an das sich
möglicherweise neue Fragen anschlössen.
Groteske Spekulationen haben sich in der Fachliteratur um eine Reise
Eichmanns gerankt, die dieser nach einer Aussage von Rudolf Höß, des
Kommandanten von Auschwitz, Anfang September 1941 unternommen
haben soll. Der Termin deckte sich mit der inzwischen widerlegten, vor zehn,
zwanzig Jahren herrschenden Meinung, in den Tagen vor dem 31. Juli 1941,
»auf dem Höhepunkt der Siegeserwartung im Krieg gegen die Sowjetunion«
(Wolfgang Scheffler), sei der Mord an den europäischen Juden endgültig
beschlossen worden, und ebendeshalb - logisch! - sei Eichmann Anfang
September nach Auschwitz gereist.
Erst nach langer Zeit schoben jüngere Wissenschaftler diesen »Beweis« als
unter quellenkritischen Kriterien höchst fragwürdige Aussage beiseite und

120
datierten die Entscheidung immer weiter in Richtung Winter, auf die
Niederlage vor Moskau und den Eintritt der USA in den Krieg. Dem standen
die zu Anfang eher unbestimmten, schwankenden Angaben Eichmanns
während seiner ersten polizeilichen Vernehmungen entgegen. Sie wurden im
begrenzten Manuskriptdruck rasch publiziert und standen daher als die
Eichmann-Quelle an vielen Orten zur Verfügung.
Wie im Film. Ein Spezialist, der die Hauptverhandlung in Auszügen
dokumentiert, gab Eichmann hinsichtlich seiner Reisen auch in den Götzen
die wahrscheinlich richtigen Daten an: Im Herbst 1941 besuchte er eine
Massenerschießung in Minsk, später - vermutlich im November - das noch
im Bau befindliche Vernichtungslager Belzec; die Gaswagenstation Chelmno
(Kulm) nördlich von Lodz inspizierte er während des Vernichtungsbetriebs
im Januar 1942. Erst am Schluss, »im Frühjahr 1942«, sprach er im
Vernichtungszentrum Auschwitz vor:
»Höß, der Kommandant, sagte mir, daß er mit Blausäure töte. Runde
Pappfilze waren mit diesem Giftstoff getränkt und wurden in die Räume
geworfen, worin die Juden versammelt wurden. Dieses Gift wirkte sofort
tödlich.«
Aus den Länderkapiteln im Abschnitt II der Götzen soll der späte und
extreme Fall Ungarn herausgegriffen werden. Es erscheint durchaus
glaubhaft, wenn Eichmann berichtet: Sein Vorgesetzter Heinrich Müller habe
ihm um den 10. März 1944 herum mündlich mitgeteilt, Himmler habe »die
Evakuierung sämtlicher Juden aus Ungarn, aus strategischen Gründen von
Ost nach West durchkämmend, befohlen«. Deshalb begab sich Eichmann
umgehend nach Mauthausen, wo sein Kommando sich sammelte, und bald
darauf nach Budapest. Eichmann deportierte mit Hilfe seines Kommandos
und einer äußerst kooperativen ungarischen Gendarmerie binnen knapp acht
Wochen 437402 jüdische Männer, Frauen und Kinder nach Auschwitz - so
lange, bis der keineswegs völlig entmachtete adelige Reaktionär Horthy die
Deportation der Budapester Juden bis zu seiner Verhaftung am 15. Oktober
unterband. Danach befahl Eichmann die Fuß- und Todesmärsche eines Teils
der bis dahin entronnenen Juden in Richtung Wien und Mauthausen. Trotz
oder wegen des schnellen Vorstoßes der Roten Armee blieb es sein erklärtes
»Endziel«, noch die völlige »Ausräumung des ungarischen Raumes zu
erreichen«.
An diesem ungeheuren letzten Massenverbrechen beteiligten sich
beachtliche Teile der ungarischen Verwaltung und Bevölkerung, das
deutsche Auswärtige Amt, der Militärbefehlshaber Ungarn, der
Reichsbevollmächtigte und Himmlers Wirtschaftsbeauftragter wirkten
ebenfalls mit. Diese Verantwortlichen hatten nach dem Krieg möglichst viel

121
von ihrer Schuld auf den totgeglaubten, jedenfalls verschwundenen
Eichmann abgewälzt und mit dem Täterkreis auch die sehr verschiedenen,
einander verstärkenden Deportationsmotive und -interessen eingeschränkt.
Schon deshalb sind die 80 von Eichmann dazu verfassten Seiten als Quelle
lesenswert. Um ein annähernd realistisches Bild zu gewinnen, müssen die
unterschiedlichen Schutzbehauptungen der einstigen Komplizen miteinander
konfrontiert werden. Es ist nicht Eichmann zuzurechnen, was das Auswärtige
Amt seinerzeit an den Chef der deutschen Besatzungsverwaltung in Budapest
telegraphierte: »Ich bitte Sie, den Ungarn bei der Durchführung aller Maß-
nahmen, die sie in den Augen unserer Feinde kompromittieren, nicht
hinderlich in die Arme zu fallen. Es liegt sehr in unserem Interesse, wenn die
Ungarn jetzt auf das allerschärfste gegen die Juden vorgehen.«
Eichmann sah in Ungarn Hunderte erschlagene, erschossene, zusammen-
gebrochene Juden, er schickte Hunderttausende in den Tod. In seinem
Bericht über die letzten Monate des Götzenreiches finden sich jedoch allein
von »Tieffliegern zerhackte Deutsche«. Um die Jahreswende 1944/45 kehrte
er nach Berlin zurück. Wegen der »anglo-amerikanischen Bomber stank es
dort nach verbranntem Fleisch und verwesenden Leichen«, das war für den
einfachen Befehlsempfänger E. doch unangenehm, weswegen für ihn - eine
Rose auf das Grab von Bomber-Harris* - »an eine geregelte Behördenarbeit
nicht mehr zu denken war«.
In Jerusalem fühlte sich Eichmann gut 15 Jahre später als Opfer einer
Siegerjustiz - »zweierlei Maß, zweierlei Recht!«. Einsicht und Reue zeigte er
an keiner Stelle. Wenige Tage nachdem er die Arbeit an dem Manuskript
abgeschlossen hatte, bot ihm, der nach seiner Geburt in Solingen evangelisch
getauft worden war, der Pfarrer i. R. Paul Achenbach seelsorgerischen
Beistand an. Er riet ihm brieflich, sich im Lichte der Ewigkeit und der
möglichen Gnade Gottes der »ganzen Schuldfrage an der Vernichtung der
Juden« zu stellen. Er solle vor dem irdischen und damit dem himmlischen
Gericht bekennen, wie er zum »willfährigen Werkzeug« geworden war.
»Frechheit!!« vermerkte Adolf Eichmann in wohlgerundeter Schrift am Rand
und legte den Brief als letztes Blatt zu dem Manuskript Götzen.

* Luftmarschall Sir Arthur Harris (1892-1984), seit Februar 1942 Chef des britischen
Bomber-Command.

122
Tadellose Luftschutzgemeinschaft
Walter Kempowskis Panoptikum vom Januar 1945

Menschen sind, wie sie sind; sie teilen sich nicht in Gute und Böse. Aus einer
solchen Grundhaltung verbindet, drapiert und schichtet Walter Kempowski
seine zeitgeschichtlichen Collagen. Nach den ersten vier Bänden Echolot (16.
bis 28. Februar 1943), die 1993 erschienen und von der Schlacht um
Stalingrad handelten, wurde sechs Jahre später die zweite Folge
abgeschlossen. Wie im Untertitel Fuga furiosa angekündigt, handelt sie vom
großdeutschen »Endkampf« und vom Sieg der alliierten Streitkräfte.* Klar
und auf paradoxe Weise entspannend ist nur eines: So oder so, das Ende ist
nah. »Abends sitzen wir gemütlich beisammen«, schreibt Hans Graf von
Lehndorff am 22. Januar im schon umzingelten Königsberg, »ohne Sorge um
das, was bevorsteht. Es ist nicht mehr so wichtig, was aus uns wird, nachdem
sie einer nach dem anderen gefallen sind, die Söhne dieses Hauses, die
Brüder, die Hoffnung des Landes, an dem wir hängen.« Im Kino läuft einer
der ersten Farbfilme - Die Frau meiner Träume.
Kempowski dokumentiert genau fünf Wochen, sie reichen vom 12. Januar
bis zum 14. Februar 1945 - de m Tag, an dem Dresden in Trümmern liegt.
Am ersten Tag des Zeitfensters setzen die Sowjetarmeen zwischen Ostsee
und Karpaten zum Sturm auf das deutsche Reichsgebiet an. Sieben
sowjetische Infanteristen stehen einem deutschen gegenüber, zehn schwere
Sowjetgeschütze einem der Wehrmacht. Binnen Stunden erreicht die 3.
Weißrussische Front ostpreußischen Boden, am 17. Januar räumen die
Deutschen Warschau, am 22. nimmt die 1. Weißrussische Front Bromberg,
fünf Tage später schließt sie die Reichsfestung Posen ein. Am 23. werden in
Aachen bereits die Straßen rückbenannt, am 30. Januar hält Hitler seine letzte
Rundfunkansprache, am selben Tag erreicht die von Nikolai E. Bersarin
geführte 5. Stoß-Armee die Oder nördlich von Frankfurt und bildet den
Brückenkopf Lebus. Binnen Tagen bürgerte sich im alten Ostdeutschland ein
neues Verb ein: trecken.

* Walter Kempowski, Das Echolot. Fuga furiosa . Ein kollektives Tagebuch,


4 Bde., 3200 S., München 1999.

123
»Die Jerries [die Deutschen] sind in großer Aufregung. Joe [Stalin] nimmt
eine Stadt nach der anderen«, schreibt ein britischer Kriegsgefangener in der
Marienburg. Die 1. Kanadische Armee stößt auf Xanten vor. »Sie singen die
›Wacht am Rhein ‹, so weit sind wir wieder«, notiert Gerhart Hauptmann im
riesengebirgischen Agnetendorf am 14. Januar 1945. Vier Wochen später
wird Dresden vernichtet. Hier bricht Walter Kempowski ab. Am Abend des
13. Februar, es war der Dienstag vor Aschermittwoch, notierte Victor
Klemperer um 21.30 Uhr im Dresdner Judenhaus: »›Wenn sie doch alles
zerschmissen‹, sagte erbittert Frau Stühler, die den ganzen Tag herumgejagt
war, und offenbar vergeblich, um ihren Jungen freizubekommen.« Um 22
Uhr wurde Alarm gegeben, um 22.15 konnte die Luftschutzleitung Dresden
ihren letzten Aufruf übertragen: »Volksgenossen, haltet Sand und Wasser
bereit!« In derselben Minute funkt der britische Masterbomber: »Die
Bombenwürfe liegen ausgezeichnet.« Unten protokollierte die
Hauswirtschaftslehrerin Herta Daecke: »Es sind grauenhafte Todesminuten.
Aber unsere Luftschutzgemeinschaft benimmt sich vorbildlich.« Tadellos,
diese Deutschen (»1939 waren wir noch Kinder, jetzt sind wir im
Bombenterror gehärtet.«), zumal sie für den Fall der Fälle Schillers »Glocke«
im geistigen Marschgepäck bereithielten: »Einen Blick nach dem Grabe
seiner Habe sendet noch der Mensch zurück, greift fröhlich dann zum
Wanderstabe...«
Am 12. Januar hatte der Baupionier Karl Schippmann einen seiner letzten
Briefe nach Hause geschrieben: »Heute morgen 7 Uhr greift der Russe an mit
Trommelfeuer. Hier zittert alles, ich auch.« Auf der anderen Seite schrieb
Wladimir Alexandrow am selben Tag: »Mir geht's bis jetzt nicht schlecht.
Wir jagen die verfluchten Deutschen weiter und weiter und werden diese
Banditen schließlich in Berlin vernichten.« Am selben Abend feierte
Hermann Göring in der Schorfheide Geburtstag: »100 Flaschen Champagner,
180 Flaschen besten Rot- und Weißwein, 85 Flaschen Kognak, 500
Zigarren...« Am folgenden Morgen reisten Emmy und Edda Göring nach
Berchtesgaden ins Alpenreduit. In Auschwitz schien äußerlich alles beim
Alten, aber die sowjetische Offensive hatte sich schon nach Stunden
herumgesprochen, »ein Raunen und Flüstern geht durch das ganze Lager«.
Nach der Befreiung berichtete der sowjetische Frontkorrespondent Boris
Polewoi: »Neben einem langgestreckten Betongebäude sah man eine Reihe
rauchgeschwärzter Schornsteine. Das Ganze umgab ein durch Stacheldraht
und Hochspannungsleitungen gesicherter massiver Zaun. Auf den
Lagerstraßen wimmelte es von Menschen, die sich seltsam ziellos, wie
Herbstlaub im Wind, bewegten.« Im. Aufbau, der New Yorker Zeitung
exilierter deutscher Juden, erschienen ununterbrochen Suchmeldungen wie

124
diese: »Wer kann Auskunft geben über Frau Friedel Nattenheimer, früher
Fürth i. B., Theresienstadt, wahrscheinlich seit September 1944 Birkenau?«
Unterdessen mampfte die englische Krankenschwester Maud Cole
(Jahrgang 1888) unaufhörlich Hammelbraten in sich hinein, sorgte sich um
Bombenopfer und bekämpfte die landeseigene ›»Seid gut zu den Deut-
schen‹-Clique«, schließlich gebe es »Informationen über weitere Scheußlich-
keiten, die bei der Rückeroberung russischen Gebietes entdeckt wurden«.
Das kampflos geräumte Allenstein zünden die Rotarmisten wie so viele
ostdeutsche Städte, Dörfer und Kirchen erst nach der Besetzung an: »Ein
Trupp drang auch in unser Haus und verwüstete die Wohnung. Dann geschah
etwas Unfaßbares. Die Häuser wurden angesteckt, und die sich vor dem
Flammentod auf die Straße rettenden Menschen - meist Frauen und Kinder -
wurden einfach mit Maschinenpistolen zusammengeschossen.« Was die
Überlebenden von den Massenvergewaltigungen und den damit
einhergehenden zehntausendfachen Frauen- und Mädchenmorden zu
berichten hatten, lässt sich bei Kempowski nachlesen und in jeder anderen
wahrheitsgetreuen Dokumentation der Vertreibung. Die Grausamkeiten
sprachen sich im Handumdrehen herum. In Königsberg beherrscht schon eine
Woche später das Wort Zyankali das öffentliche Gespräch: »Nur über die
notwendige Menge wird verhandelt, und das in einer leichten und
nachlässigen Art, wie man sonst über das Essen spricht.« Im Pflegeheim
Somerset besann sich mittlerweile Maud Cole: »Ich halte es für sehr
schwierig, die jetzt vor dem russischen Ansturm fliehenden Deutschen als
etwas anderes anzusehen als in Angst versetzte menschliche Wesen. Bisher
gehöre ich nicht zu der ›Seid freundlich zu den Deutschen‹-Gruppe.«
Aus den Flüchtlingstrecks, aus den Kellern von Königsberg holen die
Herren des Durchhaltens am 31. Januar 20000 desertierte Landser heraus.
Sechzigjährige werden wegen Feigheit exemplarisch exekutiert, umsonst.
Das klassenlose Kraft-durch-Freude-Schiff Wilhelm Gustloff, mit dem das
Dritte Reich für Deutschland und die industrialisierte Welt den Begriff
»Urlaub« und spätere Formen des Massentourismus vorprägte, eben-dieses
Schiff wurde auf der Fahrt von Gdingen nach Swinemünde vor Kolberg von
einem sowjetischen U-Boot torpediert und war mit mehr als 5000
Flüchtlingen gesunken. Wenige Überlebende (»aschgrau die Blicke, leblos
die Gesichter«) landen im Hafen von Kolberg.
Einen Tag später wird der Film Kolberg in der längst eingeschlossenen
deutschen Atlantik-Festung La Rochelle uraufgeführt, dann in den
abgeschnürten Städten Danzig und Breslau gezeigt: durchhalten, wie
1806/07, als »die Morgenröte der deutschen Freiheit aufdämmerte«. In den
Hauptrollen: Heinrich George und Kristina Söderbaum; als Statisten waren
sage und schreibe 187 000 Soldaten eingesetzt worden, 6000 Pferde, mehrere

125
Güterzüge Salz verwandelten Dächer und Wiesen in eine Schneelandschaft.
Auf Anordnung Goebbels' musste die Szene gestrichen werden, die die Frage
nach der Befehlsgewalt mit der nach der Verantwortung verband.

126
In reinen Arbeitergegenden
MPA, Zwergdackel Bübchen
und der Ernst der Lage

Die Lage der deutschen Armeen war aussichtslos. Daher setzten die
Meinungsmacher, Politiker und Militärs des NS-Staates im Herbst 1944 auf
das Mittel »Kraft durch Furcht«. Sie behaupteten, der Feind wolle die
Deutschen ausrotten, und gaben die Parole aus »Sieg oder Untergang«.
Erstmals richtete sich der Terror des Regimes in voller Breite gegen das
Staatsvolk. In dieser Lage entwickelte die Wehrmacht im Herbst 1944 eine
»Mundpropaganda-Aktion« (MPA) - zum Zweck der Verbreitung von
ausdrücklich so bezeichneten Lügengerüchten. Besonders gut erhalten sind
die Berichte vom Sondereinsatz Berlin. Sie umfassen den Zeitraum vom 10.
Oktober 1944 bis zum 7. April 1945.
Die für diese Spezialaufgabe in Berlin eingesetzten 30 Soldaten und
Unteroffiziere hatten jeweils zu zweit - der eine in Uniform, der andere in
Zivil - Orte aufzusuchen, wo »sich die Bevölkerung als besonders
aufgelockert und gesprächig erweist« - in Markthallen, Luftschutzbunkern,
Bierlokalen oder Menschenschlangen. Ihre Aufgabe bestand darin, ȟber
Mißstände jeder Art, die beobachtet werden oder von denen gesprochen wird,
wahrheitsgemäß und ungeschminkt zu berichten«.
Gleichzeitig sollten die MPA-Soldaten die Gespräche lenken und ihre
unwahren Propaganda-Erzählungen mit der Überzeugungskraft des
Frontsoldaten (»Er muß es ja wissen«) unter diejenigen Leute bringen, die
der offiziellen Staatspropaganda jetzt misstrauten. Beispielsweise sprach
Joseph Goebbels in der Anfang April 1945 gezeigten Wochenschau im
niederschlesis chen Lauban davon, dass in den nächsten Tagen und Wochen
die feindlich besetzten Gebiete befreit werden würden. »Stets bricht ein
großes Hohngelächter aus«, vermerkten die Wehrmachtsspitzel über die
Reaktionen in den Kinos. Über den Kulturfilm Junges Volk, der die Tätigkeit
von HJ und BdM »in schöner Form« zeigte, berichteten sie, er löse
regelmäßig Fußscharren aus, Hüsteln und anzügliche Bemerkungen.
In Berlin wurde die hochgeheime Spitzeltruppe von einem Oberstleutnant
Wasserfall angeführt. Sie sollte die Bevölkerung aushorchen, in ihrer
Meinungsbildung beeinflussen und zugleich polizeilich-exekutiv zugreifen.

127
»Kleinmütige oder geschwätzige Menschen« waren von diesen Kommandos
in »geeigneter Form zu belehren«, aber »dort, wo Böswilligkeit erkennbar
ist«, so hieß es in der entsprechenden Weisung, »muß brutal zugepackt
werden«.
Nachdem die Preise bis in den September 1944 weitgehend stabil gehalten
werden konnten, entwickelte sich infolge des Verfalls der Staatsautorität ein
schwunghafter Schwarzhandel. Im Ca fe Landsberger Platz kosteten vier
Schnäpse satte 35 Reichsmark, abgegeben wurden sie nur an Stammgäste,
und zwar in Coca-Cola -Flaschen. Eine Zigarette wurde auf dem
Schwarzmarkt am Alexanderplatz für ein Pfund Brot oder 30 Gramm Fleisch
getauscht. Die Ordner im Hochbunker Friedrichshain ließen sich gegen
kleine Gaben gern dazu bewegen, günstige Plätze zuzuweisen. Wie immer in
Zeiten der Mangelwirtschaft wurde das Personal im Distributionssektor
frech: «... zwei Verkäuferinnen lasen kichernd Privatbriefe, obwohl eine
längere Schlange von Hausfrauen dort nach Gemüse anstand.« In der
Schönhauser Allee benutzten »kochfaule Frauen« unberechtigterweise die
Volksküchen; der einfache Berliner sorgte sich im De zember 1944 um den
Weihnachtsbaum; das Cafe Alois am Wittenbergplatz bevölkerten am
helllichten Vormittag »angemalte, mit rot lackierten Fingernägeln versehene
Dämchen«, die dort »ständig kritische Bemerkungen« von sich gaben.
Die NS-Führung hatte ihre traumwandlerische Sicherheit im Umgang mit
den Massen eingebüßt. Zu den unmöglichsten Zeiten bedröhnte der
Großdeutsche Rundfunk seine Hörer mit Bach, Bruckner und Wagner,
während man »besonders nach Fliegerangriffen heitere und beschwingte
Musik hören« wollte. Die einen fürchteten, dass Hitler tot sei, die anderen,
dass es demnächst überhaupt keine Zigaretten mehr geben würde. Unter den
Halbwüchsigen wurden Wehrmachtshosen modern, Jugendliche liefen zum
Spaß mit Gasmasken herum und nähten Offiziersschulterstücke auf ihre
Jacken. Eine »sogen. deutsche Frau war eindeutig mit den Ausländern sehr
intim« - »artvergessen« nannte der tüchtige Mehrheitsdeutsche solche
Mitbürgerinnen. Immer wieder, bis in die letzten Tage des Krieges beklagten
sich die Berliner hundertfach, »daß in Berlin viel zu viele Ausländer« lebten,
»sie hätten noch immer zuviel Freiheit und man müsste sie endlich in Lagern
unterbringen«.
Am 1. März 1945 belauschten die Horcher von Oberstleutnant Wasserfall
zwei Arbeiterinnen im Wedding: »Ich halte von dem ganzen Kram nichts
mehr«, sagte die eine und fuhr fort, »der Adolf soll doch aufhören, dann
haben wir wenigstens noch ein paar Männekens aufgespart!« Die Kollegin
dachte weniger praktisch, meinte »Unsinn« und appellierte an das
Gemeinschaftsgefühl. Die Fabriken legten Feierschichten ein, weil es an
Energie, Rohstoffen und zugelieferten Produkten fehlte. Die alliierten

128
Bomber veranstalteten ungestört eine regelrechte Bornbenabwurfschau, die
Schüsse der Flak ließen sich an einer Hand abzählen.
Die Flüchtlinge aus den deutschen Ostprovinzen, die in diesen Tagen zu
Hunderttausenden die Stadt passierten, berichteten zum Teil freundlich über
die Russen. So seien in Landsberg/Warthe die russischen Panzerspitzen an
ihnen vorbeigefahren, »hätten dann gehalten und Flüchtlinge auf Panzern
mitgenommen«. Ähnlich Günstiges erzählten die Einwohner aus dem
kurzzeitig von der Wehrmacht zurückeroberten Jarotschin. In Tilsit waren die
verängstigten Einwohnerinnen, die sich mit ihren Kindern in einer Kirche
versammelt hatten, von russischen Lastautos in die Nähe der deutschen
Linien gebracht worden (»So schlecht sind die Russen gar nicht«).
Seit 2001 liegen die Berichte gedruckt vor. Im Zusammenhang gelesen
bilden sie ein sozialgeschichtliches Heimatkundebuch im besten Sinn des
Wortes.* Allerdings läse sich der Band noch besser, hätten die Herausgeber
auf die geschwätzig-politisierende Bevormundung in den kommentierenden
Anmerkungen verzichtet. Zum Beispiel klagte da ein Wehrmachtsspitzel, in
der Gegend am Kurfürstendamm herrsche »Intellektualismus« und fuhr fort:
»Weitaus dankbarer und befriedigender ist der Einsatz in reinen
Arbeitergegenden.« Wer durch einen solchen Satz vom geraden Weg
antifaschistischer Korrektheit (Merke: Monopolkapital + braves, allenfalls
verführtes Volk = Naziregime!) abzugleiten droht, kriegt am weltanschaulich
geladenen Weidezaun der Fußnoten sofort einen Schlag verpasst: »Vgl. dazu
Werner, Bleib übrig!, der die These der zunehmenden Akzeptanz
nationalsozialistischer Werte durch die Arbeiterschaft widerlegt.« Ein Beleg,
der nichts taugt. Wenn aber auf mehr als 200 Seiten einmal eine Deutsche zur
Verteidigung eines Ausländers öffentlich bemerkt, man habe »durch die
Polen- und Judenbehandlung« schon genug Schuld auf sich geladen, erfolgt
umgehend die als nationalpädagogisch wertvoll angesehene, aber historisch
unsinnige Anmerkung: »Signifikanter Hinweis darauf, daß die Verbrechen an
Juden und Angehörigen anderer Länder der deutschen Bevölkerung bereits
während des Krieges durchaus bekannt gewesen sind. Vgl. dazu Goldhagen,
Hitlers willige Vollstrecker...« Entgegengesetzt fällt der Kommentar aus,
wenn an anderer Stelle ein Wehrmachtsspitzel einen Reservepolizisten
denunziert, der sowjetische Kriegsgefangene bei der Enttrümmerung
freundlich und nachsichtig bewachte und sie dabei mit »Kamerad« anredete.
Man hüte sich, darin ein signifikantes Ereignis zu sehen, sofort belehren die

* Wolfram Wette, Ricarda Bremer, Detlef Vogel (Hg.), Das letzte halbe Jahr.
Stimmungsberichte der Wehrmachtspropaganda 1944/45, Essen 2001.

129
Herausgeber: »Besonders die sowjetischen Kriegsgefangenen wurden von
der Wehrmacht, aber auch von Zivilisten im allgemeinen schlecht
behandelt.«
Trotz solcher politpädagogischen Zudringlichkeit der Herausgeber bleiben
die Dokumente interessant. Sie handeln von der für Deutschland blutigsten
Phase des Zweiten Weltkriegs. In der Zeit vom Juli 1944 bis zum folgenden
Mai starben insgesamt 2,3 Millionen Wehrmachtssoldaten, ebenso viele wie
in den knapp fünf Kriegsjahren zuvor. Die größten Zerstörungen deutscher
Städte wurden in diesen Monaten verursacht - von Königsberg bis Würzburg,
von Hildesheim über Potsdam bis Dresden. Hunderttausende Menschen
fanden in den Trümmern den Tod, acht Millionen wurden im Gebiet der
heutigen Bundesrepublik obdachlos, von den vielen Millionen Flüchtlingen
nicht zu reden. Schon zu Beginn des so genannten Endkampfes hatte die
Reichsregierung die bis dahin fast ungebrochene Massenunterstützung Ende
August 1944 verloren. Der Indikator dafür ist eindeutig: Exakt von diesem
Zeitpunkt an trugen die Deutschen ihr überschüssiges Geld nicht mehr wie
bis dahin treu und regimeergeben zur Sparkasse. Stattdessen horteten sie ihr
Bargeld fast von einem Tag auf den anderen und zu Millionen gleichzeitig
unter der Matratze. Ökonomisch trocken sprachen Hitlers willige Wirt-
schaftsweisen davon, die »Zuspitzung der politisch-militärischen Lage« lasse
ein »allgemeines Liquiditätsbedürfnis« entstehen.
Die neue Skepsis gegenüber der eigenen, so lange unterstützten Führung
bedeutete nicht, dass sich das Volk von nun an dem Krieg verweigert hätte
oder umstürzlerischen Ideen gefolgt wäre. Die meisten sahen keine
Alternative, hatten aus guten Gründen Angst vor der Niederlage und der
feindlichen Besetzung. So sollten, mussten und wollten die Leute bis weit in
den Februar 1945 hinein durchhalten, um die Katastrophe wenigstens nicht
als Objekte über sich hereinbrechen zu lassen, sondern um sie kämpfend,
aktiv herbeizuführen. Die Option »selbstbestimmter Untergang« wurde
populär. Noch in der Rückschau sprachen die meisten Beteiligten nicht von
der Niederlage, sondern vom »Zusammenbruch«.
Doch im Februar fehlte es plötzlich - für die Berliner erstmals in diesem
Krieg - an Vollmilch. Und exakt zu diesem Zeitpunkt begannen sie, ihre
Führerbilder und »Mein Kampf «-Ausgaben in aller Stille zu entsorgen.
Gleichzeitig erließ der Berliner Oberbürgermeister Ludwig Steeg die
Anordnung, »sämtliche Akten betr. Arisierung jüdischer Geschäfte« zu
vernichten, »um diese nicht in die Hände der Russen fallen zu lassen«. Die
Soldaten zeigten sich niedergeschlagen und stumpf - »ja, wenn wir genügend
Flieger und Sprit hätten, dann würden wir den Iwan schon zusammenhauen«.
Den Bestattungsinstituten gingen die Särge aus, sie behalfen sich mit
Papiersäcken.

130
Im Wedding entlief während eines Bombenangriffs der schwarze
Zwergdackel »Bübchen«. »Gebe Klavier, Akkordeon, Wäsche oder Geld«
für den Finder, plakatierte die traurige Besitzerin Anfang April 1945 am S-
Bahnhof Gesundbrunnen. »Der Herausgeber dieses Plakates dürfte wohl
noch nicht gemerkt haben«, so protokollierten die Wehrmachtsspitzel streng,
»daß es heute Dinge gibt, die wichtiger sind als das ›Bübchen‹.« Die
Überwachungsschergen der Wehrmacht hatten verspielt. In ihrem letzten
Bericht vom 10. April hieß es endlich: »Die Lage wird durchweg als
aussichtslos bezeichnet. Und so hört man immer öfter, besser ein Ende mit
Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.« Die wenigen Menschen, die noch
zum Guten redeten, würden mitleidig oder spöttisch belächelt, heftig
angegriffen oder ›»wie Wundertiere‹ angestarrt«.

131
Ehrenbürger Bersarin
An Fritz II. vorbei,
auf dem langen Weg nach Westen

Der 8. Mai erinnert die Deutschen an ihre Niederlage im Zweiten Weltkrieg.


Erst sprachen sie vom Zusammenbruch, später von der Stunde Null,
schließlich vom Neuanfang. Heute sehen sie den Mai 1945 ganz überwiegend
- ohne dass darüber weiter nachgedacht werden müsste - als Monat der
menschlichen und politischen Wiedergeburt. Aber umstandslos als Tag der
Befreiung und des alleinigen Erinnerns an die Millionen NS-Opfer lässt sich
der 8. Mai in Berlin nicht begehen. Ein solches, in der DDR popularisiertes
Konzept verdrängt, wie sehr die große Mehrheit der Deutschen den
beispiellosen Rassenkrieg zu ihrer Sache machte. Nach eigenem Bekunden
zog zum Beispiel der Infanterist Heinrich Böll gerne, voller Abenteuerlust in
die Sowjetunion. Sein späterer Pazifismus verdankte sich der Katastrophe.
Der Mut, die Massen-Begeisterung und schließlich der verrückte, heute
unbegreifliche Durchhaltewille im »Endkampf« galten einer erkennbar
verbrecherischen, aber als national gerechtfertigt empfundenen Sache.
Wer heute über den seit einigen Jahren wieder gepflegten und teilweise
schon restaurierten Alten Garnisonsfriedhof in Berlin Mitte geht (Ecke
Linien-/Kleine-Rosenthaler-Straße), findet dort viel von den Tugenden, die
wir heute kaum mehr verstehen, die noch vor dem Zweiten Weltkrieg zum
geistigen Gemeingut gehörten. Am Grab von Adolph von Lützow (1782-
1834) ließen seine Freikorpskameraden von 1813/14 einmeißeln und mit
Blattgold haltbar belegen: »Dem deutschen Manne / stark treu fest / tapfer
und unerschütterlich im Sturm der Zeit.« Gut 50 Meter weiter in einer
verwinkelten Ecke des einstigen, in der Zeit vor 1989 vorsätzlich zerstörten
Friedhofs preußischer Offiziere finden sich die in Berlin wohl auf jedem
Friedhof vorhandenen, oft nur für den Eingeweihten erkennbaren Massen-
gräber. Hier sind es drei. Sie wurden in den vergangenen Jahren restauriert,
mit Efeu und Maiglöckchen bepflanzt und durch Bronzetafeln ins
Bewusstsein zurückgerufen. Neben vielleicht 200 namentlich genannten
Opfern der Schlacht um Berlin »ruhen in einem gemeinsamen Grabe« einmal
198, dann 161 und 429 unbekannte Tote. Wieder aufgestellt wurden auch

132
kleinere Gedenksteine, mit denen Angehörige bald nach dem Krieg an
einzelne Tote erinnerten: An Wilh. Moldenhauer etwa, geboren am 6. 8. 1902
in Moskau, umgekommen am 1.5.1945 in Berlin; für Sonja Hörn steht ein
Ave Maria und eine polnische Inschrift, sie war aus Ravensbrück gekommen,
vielleicht zum Barrikadenbau nach Berlin verschleppt, sie starb am 29.4.1945
im Alter von 21 Jahren; daneben liegt der 19-jährige Unteroffizier Franz
Koch, der am 26.4. fiel, seine Lieben verweisen auf Römer 6, Vers 8, den zu
nennen das Kleinformat des Steins nicht zulässt: »Sind wir aber mit Christus
gestorben, so glauben wir, daß wir auch mit ihm leben werden.« Mit
Sicherheit liegen in den Gräbern auch gefallene Angehörige der Waffen-SS.
Aber ob ein Siebzehnjähriger 1944 in einer SS-Einheit landete, wie zum
Beispiel der Maler Bernhard Heisig, oder in der Wehrmacht, muss weithin
dem Zufall zugeschrieben werden.
Der 8. Mai wird in Deutschland erst dann mit einer gewissen
Selbstverständlichkeit begangen werden können, wenn die moralisierende
Überheblichkeit der Nachgeborenen gemäßigt ist. Er gehört für immer auch
den deutschen Opfern, die im falschen Glauben, verhetzt, halb oder ganz
gezwungen, gleichgültig oder aus Abenteuerlust den Tod fanden.
Doch zumal in Berlin muss eine zweite Bedingung erfüllt und die
traditionelle Missachtung der sowjetischen Soldaten überwunden werden. Sie
müssen nicht mit Johannes R. Becher als »Sterne unendlichen Glühens«
heroisiert werden, aber unbestreitbar bleibt, dass sie sich gegen einen
Vernichtungskrieg zur Wehr setzten und unter unsäglichen Opfern wesentlich
dazu beitrugen, die Deutschen von außen, gewissermaßen von sich selbst zu
befreien. Das Fehlen jedes Gefühls für geschichtliche Legitimität führte 1991
dazu, den ersten, schon nach acht Wochen Amtszeit - mit einem erbeuteten
Motorrad der Marke Zündapp - tödlich verunglückten Stadtkommandanten
von Berlin, Generaloberst Nikolai Bersarin, aus der Ehrenbürgerliste der
wiedervereinigten Stadt zu streichen. Mit verwaltungsjuristischer Spitzfindig-
keit gesagt: ihn nicht aus der Ostberliner Liste zu übernehmen. Das geschah
damals mit Hilfe der aus CDU-Kreisen lancierten Unwahrheit, Bersarin sei
im Herbst 1939 Militärbefehlshaber im Westen gewesen, als die Sowjetunion
in Absprache mit Hitler die baltischen Staaten überfallen, annektiert und
allein aus Lettland 47 000 Menschen deportiert habe. Die Behauptung erwies
sich nach einem Blick in die Militärpersonalakte als haltlos. In Wirklichkeit
wurde Bersarin erst Ende Mai 1941 von Irkutsk nach Riga versetzt - knapp
vier Wochen vor dem deutschen Überfall. Schließlich reichten die Bersarin-
Liguidatoren ein geradewegs abenteuerliches Argument nach: Man könne ja
nicht wissen, wie Bersarin, der bereits am 16. Juni 1945 starb, sich »in den
folgenden Jahren in Berlin verhalten hätte«. Eine grandiose Begründung, die
uns zu dem Vorschlag verleitet, sofort eine Historikerkommission zu

133
bestellen, die sämtliche Berliner Straßen-, Schul- und Kirchennamensgeber,
einschließlich Heinrich von Kleist und der hl. Hedwig, unter der Maßgabe
»was wäre bei längerem Leben geschehen« evaluiert.
Andererseits lässt sich die Streichung als günstige Fügung ansehen. Gehört
Bersarin auf eine Ehrenbürgerliste, auf der zum Beispiel Paul von Hinden-
burg seinen Platz behauptet? Schließlich hatte der sowjetische Generaloberst
mit seinen Soldaten die Stadt 1945 von Hitler befreit, während sie
Hindenburg 1933 an ihn auslieferte. Die Repräsentanten Berlins mussten sich
also entscheiden, und sie taten es. Daher empfiehlt sich für die Erinnerung an
Bersarin etwas anderes. Wie wäre es mit einem alljährlichen Bersarin-
Motorradrennen rund um das Regierungsviertel, vielleicht am 30. April, dem
Tag des Selbstmords von Adolf und Eva Hitler? Auch könnte man gut eine
Diskothek nach dem Sowjetrocker benennen. Und nicht zuletzt erwog das
Bersarin-Aktiv der Berliner Zeitung schon im Jahr 2000 die Schaffung einer
bronzenen Motorradskulptur (mit rotem Stern) - aufgestellt am Lustgarten, in
Fahrtrichtung über die Schlossbrücke weisend, an Fritz II. vorbei - stürzend,
aber auf dem langen Weg nach Westen.
Die Ehrungen, die Bersarin in der DDR - im Übrigen spät und gegen den
Willen Ulbrichts - zuteil wurden, stützten sich auf Gründe, die in seinem
Engagement für die Stadt Berlin wurzeln, deren Einwohner sich in eine Orgie
hemmungsloser Selbstzerstörung geflüchtet hatten. Nicht umsonst berichtet
der CDU-Politiker Ernst Lemmer in seinen Memoiren (Manches war doch
anders): »Bersarin stellte keine politischen Fragen, sondern wollte von uns
hören, was jetzt geschehen solle, um die schweren Schäden zu beseitigen.«
Demnach bemühte sich die sowjetische Militärverwaltung in erstaunlicher
Weise »um das Wohl der Berliner Bürger«. Lemmers Eindruck bestätigen
viele Zeitgenossen aus ganz unterschiedlichen politischen Sichtweisen.
Die Erinnerung an den 8. Mai 1945 gehört in das Selbstverständnis der
Republik, die mit der Trauer für ihre Gefallenen und für die Opfer der
deutschen Aggression den Respekt und die Dankbarkeit für Männer wie
Bersarin verbinden kann. Sein Name steht auch für die sowjetischen
Soldaten, die, wenn auch von ganz wenigen Berlinern, sofort als Befreier
begrüßt wurden: »Als es 15 Uhr war«, so berichtet der in Berlin-Weißensee
untergetauchte Rabbiner Martin Riesenburger, »durchschritt das Tor unseres
Friedhofs der erste sowjetische Soldat! Aufrecht und gerade war sein Gang.
Wir umarmten diesen Boten der Freiheit - und wir weinten!«

134
Was, bitte, ist ein Sudetendeutscher?
Liebeserklärung an die Randlböhmen

Die jährlichen Treffen der Vertriebenenverbände ähneln den sommerlichen


Ritterspektakeln zur Hebung des lokalen Tourismus. Der mündliche
Ausdruck der Helden wirkt ungehobelt, ihr Gebaren derb. Aber in aller Regel
verbirgt sich hinter der eisernen Rüstung ein weiches, heimatliebendes
Inneres, das sich eher an Lindenduft und Nachtigallenschlag berauscht als am
Trachtlerradau. Wie die Regisseure der Freiluftaufführungen pflegen die
Verbandsfunktionäre eine symbolgesättigte, stark stilisierte Ausstattung. So
hat es zum Beispiel die so gern gezeigte Ostpreußentracht nie gegeben. Sie
wurde in den dreißiger Jahren von einer Traditionsausstatterin des Dritten
Reiches zurechtgeschneidert, um die Differenzen zwischen kurländischem
(evangelischem), ermländischem (katholischem) und masurischem
(evangelischpolnischem) Brauchtum einzuebnen: frei erfunden zum Wohlge-
fallen des Herrn Gauleiters.
Und was, bitte, soll ein Sudetendeutscher sein? Tatsächlich hatten die
deutschsprachigen Landeskinder, die einst in den böhmisch-mährischen
Randregionen lebten, die an Schlesien angrenzten, wenig mit denen gemein,
die in Eger die selbstverständliche Nähe zu Nürnberg pflegten oder in der
Gegend von Budweis dem oberösterreichischen Waldviertel benachbart
waren. Auch wenn dieser Umstand den seinerzeit besonders unausstehlichen
tschechischen Nationalismus nicht sympathischer werden lässt, so entstand
das Wort »sudetendeutsch« doch erst als nationalistischer Kampfbegriff. Er
wurde exakt 1912 erfunden und tendierte vom ersten Tag an zum völkischen
Streit, zum Sezessionismus. Dem entgegengesetzt und auf Prag, das Zentrum
des alten habs-burgischen Kronlandes, gerichtet, bleibt die großartige, heute
nur mehr älteren Österreichern geläufige Umschreibung: Randlböhme.
So gesehen nützte es der deuts ch-tschechischen Nachbarschaft, würde sich
die Sudetendeutsche Landsmannschaft freiwillig um-, genauer gesagt:
rückbenennen. Die Bezeichnung »Freundeskreis der Randlböhmen e.V.« böte
sich dafür aus mindestens zwei Gründen an. Erstens wäre sie kulturhistorisch
richtig und trüge zweitens dazu bei, ein anderes, langsam schon grotesk

135
werdendes Problem zu überwinden: Auf eigenartige Weise hat die Zahl der
Heimatvertriebenen nach 1945 ständig zugenommen, weil dieser Status als
erblich gilt. In absehbarer Zeit werden also fast alle Deutschen ein
Vertriebenen-Gen in sich tragen und praktischerweise zur Gruppe der
vergessenen Opfer, der Anspruchsberechtigten, der Missachteten und
Beleidigten gehören. Die Freunde der Randlböhmen möchten diesem
offenkundigen Blödsinn ein Ende bereiten, eben weil sie die geschichtliche
Wahrheit der Vertreibung bewahren und an sie erinnern wollen.
Der 51. Sudetendeutsche Tag fand im Juni 2000 in Nürnberg statt und
stand unter dem Motto »Vertreibung weltweit ächten«. So realitätsfremd
dieser Wunsch sein mag, so wenig ist dagegen einzuwenden. Die
Erfahrungen der Heimatvertriebenen gewannen mit den Kriegen im
ehemaligen Jugoslawien an Bedeutung. Die deutschen Vertriebenenverbände
wurden so zu politischen Kriegsgewinnlern. Bei jeder nur entfernt passenden
Gelegenheit sprechen sie heutzutage von den Bosniern und Albanern. Dass
sich ein nicht ganz geringer Teil ihrer Vorfahren einmal mindestens so
benommen hat wie der vernageltste serbische Nationalist, bleibt unerwähnt.
Mit 98 Prozent votierten die Sudetendeutschen 1938 für Hitler-
Deutschland. Schon 1933 hatten ihre Vertreter im Europäischen
Minderheitenkongress, gemeinsam mit allen anderen Vertretern der
deutschen Minderheiten, eine Protestresolution der jüdischen Delegierten
zurückgewiesen, die sich gegen die »Beraubung, Vergewaltigung und
Diffamierung« der deutschen Juden wandte. Die Begründung lautete knapp:
Das nationalsozialistische Deutschland betreibe die »gerechtfertigte
Ausgliederung eines Volkes durch das andere«. Später, 1941, vertrat der auf
der Prager Burg residierende randlböhmische SS-General Karl Hermann
Frank - Egon Erwin Kisch hat seine Hinrichtung 1946 beschrieben - im
Hinblick auf die Tschechen dieses Programm: »Umvolkung der rassisch
Unverdaulichen, Sonderbehandlung destruktiver Elemente, Neubesiedlung
dadurch frei gewordenen Raumes mit frischem deutschen Blut.« Ein heutiger
Vertriebenenfunktionär hat mit diesen vorgesehenen und tatsächlichen
Verbrechen so wenig zu tun wie ein heutiger Jugendweihling mit Erich
Honecker. Aber vom historischen Kontext mit penetranter Ausdauer nicht zu
sprechen, erscheint unredlich, auch wenn er sich nicht in einfache Ursache-
Wirkungs-Abfolgen auflösen lässt.
Unredlich ist es auch gegenüber denjenigen, die sich selbst noch an die
Vertreibung erinnern und auf diese Weise in die Ausweglosigkeit einer
unerwünschten Parteinahme getrieben werden - und deshalb das Schweigen
bevorzugen. Sie aber sollten frei reden können über eine Situation zum
Beispiel, von der der britische Reporter Sefton Delmer 1945 so berichtete:
»Ich war in Marianske Lazne, dem ehemaligen Marienbad, gewesen und

136
hatte die Deportation der Sudetendeutschen mit angesehen - Männer, Frauen
und Kinder, die alle auf ihrer Kleidung ein großes aufgeheftetes ›N‹ trugen.
Das N bedeutete nemec, das tschechische Wort für ›deutsch‹. Man zwang die
Deutschen, diese Kennmarke zu tragen.« Ein Bündel von 50 Pfund
Höchstgewicht durfte mitgenommen, das »N« erst nach der Grenze abge-
streift werden.
Ein Bericht aus Ostpommern dokumentiert einen einzelnen Tod, der für
das Schicksal und die Traumatisierung vieler Fliehender steht, die in dieser
Region von der Roten Armee überrollt wurden: »Gleich darauf kam ein
großer Russe rein. Er sagte kein Wort, guckte sich im Zimmer um und ging
bis nach hinten durch, wo die jungen Mädchen und Frauen saßen. Er winkte
nur einmal mit dem kleinen Finger nach meiner Schwester. Als diese nicht
gleich aufstand, trat er dicht vor sie hin und hielt seine Maschinenpistole
gegen ihr Kinn. Alle schrien laut auf, nur meine Schwester saß stumm da und
vermochte sich nicht zu rühren. Da krachte auch schon der Schuss. Ihr Kopf
fiel zur Seite. Der Russe guckte uns alle an und verließ, ohne ein Wort zu
sagen, das Zimmer.«
Wann eigentlich lässt sich über solche Flüchtlingserinnerungen sprechen,
ohne dass einem Herr Stoiber ins Wort fällt oder ein geistig verlederter
Verbandsfunktionär jeden Ansatz eines Gedankens niedertextet?

137
Einmal für alle Zeiten Schluß machen
Der Völkermord an den Jugoslawiendeutschen

Im Jahr 1941 lebte eine halbe Million Deutschstämmiger in Jugoslawien.


Viele flohen Ende 1944 im letzten Moment nach Ungarn, Österreich und
Deutschland. Von den rund 200000, die von der rasch durchziehenden Roten
Armee überrollt wurden und dann unter die Herrschaft der Tito-Partisanen
gerieten, wurden Tausende Männer im wehrfähigen Alter erschossen,
Zehntausende Frauen, Kinder und Alte starben in serbischen Lagern.
Insgesamt wurden 65 000 Menschen Opfer dieser Verbrechen, etwa ebenso
viele schob man von 1946 an über die grüne Grenze ab. Die anderen, die teils
gemischtnationalen Familien angehörten, blieben zunächst.
Unter den Landsmannschaften der Vertriebenen gehören die Jugos-
lawiendeutschen - die Donauschwaben - zu den leisen, obwohl viele von
ihnen die mit Abstand härteste Verfolgungszeit durchgemacht haben. Das
ließ die Überlebenden über viele Jahre verstummen. Ihnen fehlten die
Sprecher, Historiographen und Funktionäre, weil die Partisanen
vorzugsweise die Pfarrer und Lehrer unter ihnen ermordet hatten, die
Bürgermeister, die wohlhabenden Gewerbetreibenden und Bauern.
Schon vor der Befreiung der deutsch besetzten und teilweise auch deutsch
besiedelten Gebiete an der Donau, Dräu und Save hatte Tito die Parole
ausgegeben, es sei »einmal und für alle Zeiten Schluß zu machen«. Wie das
geschah, berichtete ein Überlebender aus dem Westbanat: »Am 20. Oktober
1944 gingen die Partisanen von Haus zu Haus und fingen alle Männer vom
vierzehnjährigen Jungen bis zum Siebzigjährigen zusammen, fesselten und
folterten sie. Dann kamen andere mit dem Wagen angefahren, mit
aufgerollten Ärmeln - Hände, Gesicht und Kleider mit Blut beschmiert - und
führten diese Männer in den Wald, wo sie nochmals verprügelt und dann
erschossen wurden.«
Das Verfahren wiederholte sich in Hunderten von deutschen Dörfern, wenn
auch nicht immer gleichförmig. In einigen Ortschaften erfragten die offenbar
kommunistisch besser vorgebildeten Kommandoführer bei den einhei-

138
mischen Serben diejenigen deutschen »Bauern mit mehr als 20 Joch Feld, die
Gewerbetreibenden, Kaufleute und Weitergeschulten« oder gingen einfach
nach dem Aussehen der Kleidung vor. Kleinbauern und Tagelöhner ließen sie
frei, die anderen mussten sich ihr Grab schaufeln. Zum Beispiel ein 13 Jahre
alter Bub, der sich nicht von seinem Vater losreißen ließ. »Schießt diesen
Fratz nieder«, befahl die Kommandoführerin, »das Böse muß mit Stumpf und
Stiel ausgerottet werden!« Der Blutrausch der Befreiung brachte auch hier
jenen Überlebenden hervor, der sich tot stellte, in der nächsten Nacht nackt
aus dem Massengrab kroch, (serbische) Hilfe fand und floh.
Den Tagen des Schreckens folgte die völlige Enteignung der
deutschstämmigen Minderheit Jugoslawiens. Die 637 000 Hektar Land der
Deutschen waren von der jugoslawischen Führung noch während des
Kampfes als hauptsächliche Verfügungsmasse für die kommunistische
Landreform eingeplant worden, die dann serbischen Neusiedlern aus den
Armutsregionen der Berge zugute kam. Für die Deutschen bedeutete das
Zwangsarbeit, Haft und Hunger. Beispielsweise starben im Lager
Rudolfsgnad (Knicanin) im Winter 1945/46 täglich bis zu 90 Menschen,
insgesamt 11000 der 33000 Insassen.
Nicht nur aus einem Zwangsarbeitslager wird berichtet, dass nach der
Logik »es gibt nur Gesunde oder Tote« verfahren wurde: »Alle paar Tage
wurden Kranke vom ›Doktor‹, so nannte man einen Partisanen von 22
Jahren, nachts etwa 100 Meter vom Lagereingang weggeführt, erschossen
und verscharrt.«
Raubgier stand neben selbstverständlicher Hilfsbereitschaft. »Hatte jemand
Goldzähne und Goldplomben, dann wurden sie«, bei lebendigem Leib
allerdings, »brutal herausgeschlagen«, so beschreibt ein Zeuge, der 1931
geboren wurde, die Eroberung seiner Heimatstadt Kovin im Herbst 1944. Als
sich dieser Jugendliche 1946 aus einem Hungerlager zum Betteln durch den
Stacheldraht schlich, klopfte er »wie von einer magischen Hand geführt« an
einer Türe: »Die Serben waren so gut zu mir, sie trösteten mich und sagten:
›Iß nur! Du bekommst auch noch etwas mit für ins Lagen.«
Über die Vernichtung der Donauschwaben nach dem Ende der deutschen
Besatzung Jugoslawiens sind keine Urkunden aus jugoslawischen Archiven
greifbar. Aber es gibt die Berichte der Entronnenen. Sie sind in der
Außenstelle Bayreuth des Bundesarchivs zu Tausenden gesammelt,
auszugsweise in zwei sorgfältigen Editionen veröffentlicht. Aufgenommen
wurden nur solche Berichte, die mit anderen, unabhängig erstellten
Zeugnissen von Überlebenden aus unterschiedlichen sozialen Schichten
übereinstimmten und die sichere Vermutung zuließen, dass sich der
Berichterstatter der Wahrheit verpflichtet fühlte. Jeder Leser wird nach

139
wenigen Seiten feststellen, wie eindrucksvoll das historiographische Ziel
erreicht wurde. *
Zu den düstersten Abschnitten, die sich in den Erinnerungsberichten der
überlebenden Donauschwaben finden, gehören die Berichte über die
Zwangsslawisierung und Indoktrinierung einiger tausend elternlos gemachter
deutscher Kinder in jugoslawischen Heimen. Das Erziehungsmotto stand auf
der Stirnseite des Speisesaals: »Tito ist euer Vater, der Staat eure Mutter!«
Die meisten dieser Kinder wurden auf internationalen Druck bis 1959 in die
Bundesrepublik und die DDR entlassen. Eine dieser Umvolkungs- und
Umerziehungsstätten befand sich in Gorazde, wo das folgende »Spiel«
gepflegt wurde: »Die Kinder mußten im Kreis, in dessen Mitte eine
ausgestopfte menschliche Figur stand, laufen, und jedesmal, wenn der Name
eines Kindes aufgerufen wurde, mußte dieses mit einem Messer der in der
Kreismitte stehenden Figur (Feind!) einen Stich versetzen.«
Die Massenverbrechen stehen in einem unbestreitbaren, allerdings nicht
zwingenden Zusammenhang mit den vorangegangenen Massenverbrechen
der Deutschen. Daran hatten sich, freiwillig oder rekrutiert, auch
Zehntausende donauschwäbische Männer als Soldaten der Wehrmacht oder
Angehörige der SS-Division »Prinz Eugen« beteiligt. Auch hatte sich die
Mehrzahl der Donauschwaben 1941/42 rücksichtslos am Eigentum ihrer
jüdischen Nachbarn vergriffen. Die Führung der deutschen Volksgruppe
brüstete sich damals mit dem Hinweis: »Seit der Erwerb wirtschaftlicher
Unternehmen aus undeutscher Hand möglich ist, wurde auf eine breite
Heranführung von Volksdeutschen Kaufinteressenten Wert gelegt...«
Die Vorgeschichte erklärt vieles, sie rechtfertigt wenig. Auch bedeutet die
rückschauende Einordnung kaum etwas fü r den Einzelnen, der allein
aufgrund des kollektiven Merkmals »Muttersprache« zu den »Hitlerovci«
gezählt wurde, der über Nacht verlor, was Generationen geschaffen hatten,
der Todesangst und Verzweiflung durchlitt und sah, wie seine engsten
Angehörigen, Freunde und Nachbarn gequält und erschlagen wurden.
Seit jenen Geschehnissen ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen,
und doch zwingt die Lektüre der donauschwäbischen Erinnerungsliteratur
den Blick auf die Bilder und Ahnungen der Gegenwart: gesprengte
Moscheen, Trecks und ausgezehrte Gefangene, beutebepackte Marodeure,
vergewaltigte Frauen und frische Massengräber. In keinem anderen Land, aus

* Die Vertreibung der Donauschwaben dokumentieren zwei Werke: Das Schicksal


der Deutschen in Jugoslawien (= Dokumentation der Vertreibung, Bd. V), Düsseldorf
1961; Weißbuch der Deutschen aus Jugoslawien. Erschießungen, Vernichtungslager,
Kinderschicksale, München 1995.

140
dem die Deutschen in den Jahren 1945 bis 1947 vertrieben wurden, hat es
vergleichbare Vernichtungsexzesse gegeben.
Während die polnischen Bischöfe die Vertreibungen schon in den
sechziger Jahren als Unrecht qualifizierten, tschechische Dissidenten und
Historiker die Diskussion über den »Odsun« früh begannen, gab es in
Jugoslawien nach dem Zweiten Weltkrieg keinerlei selbstkritische
Besinnung. Ohne jede Einschränkung werden die damals jungen
Partisaninnen und Partisanen bis heute als Vorbilder geehrt. Sie hatten unter
der Parole gekämpft »Tod dem Faschismus, Freiheit dem Volke!« und dabei
ein Verbrechen begangen, das sich nicht aus der Notwendigkeit des Krieges
gegen die deutsche Fremdherrschaft rechtfertigen ließ und uneingeschränkt
als vorsätzlicher Völkermord gewertet werden muss. Niemand in
Jugoslawien konfrontierte die Täter später mit ihrer Schuld oder wenigstens
mit der öffentlichen Frage nach einem Fehlverhalten. Die Staatsdoktrin
besagte, dass es im Kampf gegen den Feind keine Verbrechen gebe, und
schuf so eine der geistigen Voraussetzungen für die Massenverbrechen, die
ein halbes Jahrhundert später, in der Gestalt eines ethnisierten Bürgerkrieges,
auf die jugoslawische Gesellschaft zurückfielen.

141
Wohin mit der Beute?
»Identität«, ein verschwiemelter Kampfbegriff

Im Dezember 2000 trat ein binationaler Zusammenschluss engagierter


Publizisten, Historiker und Archivare an die Öffentlichkeit, der sich
»Kopernikus-Gruppe« nannte und die deutsch-polnische Aussöhnung
voranbringen wollte. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (vom 11.12.
2000) legte die linksliberale Gruppierung ein Manifest vor »Für die Lösung
der Probleme um kriegsbedingt verbrachte Kulturgüter in Deutschland und
Polen«. Das geschah im Zeichen des guten Willens jedoch mit beispielloser
Leichtfertigkeit.
So schlug die Arbeitsgruppe die Errichtung eines Deutschordensarchivs in
der alten Ordensstadt Thorn an der Weichsel vor, um das krasseste Beispiel
vorwegzunehmen. Keine Frage, die Kolonisations- und Christianisierungs-
geschichte gehört zu den alten Klammern der deutsch-polnischen Geschichte.
Etwas bürokratisch heißt es dazu in dem Manifest: »Zu diesem Zweck erhält
das zu errichtende Ordensarchiv die 73 Urkunden des Deutschen Ordens, die
im geheimen Preußischen Staatsarchiv lagern, zurück. Die darüber hinaus
archivierten Bestände des Ordensarchivs werden mit den erwähnten
Urkunden in Thorn zusammengeführt.«
Dabei geht es einerseits um 73 Originale, die bis 1941 im Warschauer
Archiv für Alte Akten lagen. Sie waren 1525 von Königsberg rechtmäßig ins
polnische Kronarchiv nach Krakau gelangt, und zwar zu dem Zeitpunkt, als
der letzte Hochmeister das dem Deutschen Orden 1466 verbliebene Gebiet in
ein weltliches erbliches Fürstentum umwandelte und die Lehenshoheit der
Krone Polens anerkannte. Im Zweiten Weltkrieg stahl der Königsberger
Archivrat Erich Weise die Urkunden im Auftrag des Reiches, um den
Deutschen Orden nachträglich nationaler zu machen, als er es gewesen ist.
Die Kriegsbeute wurde noch Ende 2002 widerrechtlich im Geheimen
Staatsarchiv in Berlin-Dahlem verwahrt - mittlerweile allerdings verbunden
mit der ostentativen Bereitschaft, die Urkunden bei einer passenden
Gelegenheit an Polen zurückzugeben. Aber was verbirgt sich hinter den
»darüber hinaus archivierten Beständen des Ordensarchivs«, die die
Kopernikus-Gruppe gerne in Thorn »zusammenführen« möchte?

142
Sie alle - 29 000 Verzeichnungseinheiten und die wertvollen
Ordensfolianten - gehören zu den Beständen des vollständig erhaltenen
Staatsarchivs Königsberg. Die in diesem Fundus verwahrten Urkunden sind
nach den Auslagerungsumwegen Goslar und Göttingen heute im Geheimen
Staatsarchiv Berlin-Dahlem deponiert. Zu Recht regte die Kopernikus-
Gruppe in schönster deutschpolnischer Eintracht an, die archivalische
Überlieferung der einstigen preußischen Provinzen, die heute zu Polen
gehören, soweit sie lokaler und regionaler Herkunft sind, an die Orte ihrer
Entstehung zurückzugeben. Aber im selben Atemzug versuchte die
wohlmeinende Versöhnungsinitiative etwas Ungeheuerliches, nämlich die
Zerstörung des einzigartigen Schriftdenkmals Staatsarchiv Königsberg. Im
Namen eines angeblich guten Zwecks leistet die Kopernikus-Gruppe einer
regelrechten Urkundenfledderei Vorschub.
So unbeschadet, wie die bedeutenden Stadtarchive von Danzig und
Breslau, wie die hinterpommerschen, schlesischen und westpreußischen
Regionalakten an ihre Entstehungsorte zurückgegeben und von den
zuständigen polnischen Archivaren bewahrt werden sollten, sollte auch das
Staatsarchiv der Stadt Königsberg dereinst - entsprechend dem in
Deutschland gepflegten Provenienzprinzip - nach Kaliningrad zurückkehren.
Schließlich ist die deutsche Geschichte in den einstigen ostdeutschen
Provinzen, die dann zu Vertreibungsgebieten wurden, nach wie vor lebendig.
Sie wird sogar immer lebendiger. Überall an den Häusern und Domen, selbst
auf den Friedhöfen wird sie wieder sichtbar gemacht: Inschriften an den
Stadttoren von Danzig, Denkmäler für die Gefallenen des Ersten
Weltkrieges, deutsch-russischpolnische Soldatengräber, eine Gedenktafel am
Geburtshaus des Architekten Erich Mendelssohn in Allenstein, das Kant-
Denkmal in Königsberg. Man geht nicht zu weit, wenn man den jüdischen
Friedhof in Breslau, auf dem Ferdinand Lassalle begraben liegt, als
Monument deutsch-jüdischer Kultur begreift, das heute von Polen gepflegt
wird, die es der Geschichte ihrer Stadt Wroclaw zurechnen.
Man mag einwenden, in Kaliningrad herrschten korrupte Verhältnisse.
Politische Zustände also, die eine solche Rückgabe zur Mitschuld an einer
baldigen Zerstörung werden lassen könnten. Mag sein, dass die Zeit in
Kaliningrad - anders als in Olsztyn, Poznan oder Opole - noch nicht reif ist.
Aber Archivare denken in Jahrhunderten. Sie können warten. Allerdings
wandte ich mich 1999 an die Universitätsbibliothek Kaliningrad, weil ich
nach einer verschollenen Nazi-Habilitationsschrift suchte. Als Antwort kam
nicht einfach eine Fehlanzeige auf dem Auslandsleihschein, sondern ein auf
Deutsch geschriebener Brief der Direktorin Alexandra Schkitzkaja: »Leider
verfügt unsere wissenschaftliche Universitätsbibliothek über keine Bestände
der ehemaligen Königlichen und Universitäts-Bibliothek zu Königsberg. Es

143
sind leider nur belanglose Reste vorhanden, die von keinem Interesse sind.
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Bestände in verschiedene Regionen
der Ex-UdSSR ausgeführt worden, und über ihr weiteres Schicksal verfügen
wir leider über keine näheren Informationen.« Wo es solche
Bibliotheksdirektorinnen gibt, wird es auch Archivare oder Archivarinnen
geben, die sich für die deutsche Vergangenheit ihrer Stadt interessieren.
Irgendwann werden nicht nur die 6400 Verzeichnungseinheiten mit den
Urkunden Ostpreußens seit 1198 ihren Weg jenseits aller politischen
Tragödien dorthin zurückfinden müssen, sondern auch die Urkunden des
Deutschen Ordens. Dazu gehören selbstverständlich alle anderen regionalen
Überlieferungen einer gut tausendjährigen Geschichte: Die Akten des
Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen, der Kriegs- und Domänenkammer
Gumbinnen oder des Staatlichen Waisenhauses zu Königsberg, ebenso die
Dokumente des Hauptgestüts zu Trakehnen oder die Aufzeichnungen des
Oberfischmeisters für das Frische Haff zu Pillau. Bis dahin hat niemand das
Recht, den geistig-historischen Besitz der Stadt Königsberg-Kaliningrad so
zu behandeln, als würde er auf dem Trödelmarkt feilgeboten, und in
ausgesuchten Einzelstücken nach Thorn zu verschleppen. Der Bestand
Staatsarchiv Königsberg ist geschlossen zu erhalten, auch wenn es bis zur
Rückgabe noch 100 Jahre dauern sollte.
Nach diesem Prinzip ist auch im Fall der deutsch-polnischen
Auseinandersetzung zu verfahren. Für die deutsche Seite geht es dabei vor
allem um 300000 Bände der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin, darunter
Autographen von Beethoven und Bach, Manuskripte von Luther, Goethe und
Schiller, die in der Universitätsbibliothek Krakau als »Berlinka«-Sammlung
aufbewahrt werden und lange vor der Öffentlichkeit verborgen wurden.
Es ist - nebenbei gesagt - unwürdig, wenn die polnischen Regierungschefs
aus diesen Beständen, die weder kulturell noch rechtlich nach Krakau
gehören, sowohl an Erich Honecker wie an Gerhard Schröder einzelne
Exemplare verschenken. Einem solchen Schenken wie Beschenktwerden
haftet etwas Anrüchiges an.
Demgegenüber hält der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz,
Klaus Dieter Lehmann, einen stark nationalen Kulturbegriff hoch. »Akten
und Archivalien aus den früheren preußischen Ostprovinzen«, so schrieb er
in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, »gelangten als Teil der Identität der
Menschen, um derentwillen sie entstanden waren, mit der Vertreibung der
Deutschen nach Westen.« Was heißt hier Identität? Sollen wir künftig
römische Bodenfunde aus Trier nach Rom schicken, weil unsere
germanischen Vorfahren den Kulturfortschritt zunächst nicht zu würdigen
wussten? Gehören die mittelalterlichen Urkunden aus den schlesischen

144
Klöstern den Deutschen, die es historisch gesehen damals nicht gab, oder
nicht einfach an den Ort ihrer Entstehung, ganz egal, wie sie sich im Sturm
der Zeiten verändert haben? Der Begriff »Identität« führt ins National-
Verschwiemelte, er verwandelt Geschichte in Ideologie - nur der örtliche
Bezug bleibt eindeutig.
Zu dieser Unklarheit passt Lehmanns Haltung, den Streit um die
regionalgeschichtlichen Originale des alten Preußen »durch gemeinsame
Anstrengungen zur Verfilmung und Digitalisierung von Archivbeständen« zu
»entschärfen«, sprich: die Polen mit Kopien abzuspeisen. Lehmann
argumentiert in einer Weise, die als gönnerhaft verstanden werden muss,
zumal er ein paar Absätze weiter sehr direkt und ohne jede
Kompromissbereitschaft erklärt: »Natürlich besteht umgekehrt die Erwartung
nach Rückkehr der ›Berlinka‹ - der wertvollen Musikhandschriften und
Frühdrucke der Berliner Staatsbibliothek, die sich zurzeit in Krakau befinden
und zu den aus Berlin ausgelagerten Sammlungen gehören.« Warum tut es im
Falle der Beethoven-Partituren oder der Goethe-Handschriften nicht auch die
Digitalisierung, wird Lehmann sich fragen lassen müssen. Warum wird im
einen Fall der Wunsch nach Originalen als vormoderne Albernheit abgetan,
wenn er dort, wo es um berechtigte deutsche Interessen geht, als über jede
Diskussion erhabene Selbstverständlichkeit gilt?
Polen hat im Zweiten Weltkrieg viele seiner nationalen Kulturgüter
verloren. Die Deutschen zerstörten die Bibliotheken, Archive und Museen
des Landes vorsätzlich, staatliche und private Beutemacher plünderten sie.
Exemplarisch für die Mehrzahl der deutschen Besatzungsbeamten steht der
einstige Generalgouverneur Hans Frank. Als er im Mai 1945 in Bayern
verhaftet und der irdischen Gerechtigkeit zugeführt wurde, trug er das aus
dem Rahmen gerissene Ölgemälde von Leonardo da Vinci »Dame mit dem
Hermelin« (54,4 x 39,3 cm) bei sich - geraubt aus den Czartoryski-
Sammlungen des Krakauer Nationalmuseums.
Nach allem steht es Deutschland gut an, die einstigen deutschen Ostgebiete
wieder mit den Kulturgütern auszustatten, die für die Geschichte der alten
Grenz- und Übergangslandschaft stehen. Die Kulturgeographie wird dann,
wenn auch dezent, die alten Grenzen Preußens wieder deutlicher sichtbar
werden lassen. Preußen lebt in den einstigen Ostprovinzen fort. Nicht in den
grauen Radierungen des militärisch verhärmten »Alten Fritz«, eher schon in
der Vielfalt seiner Krisen und reformerischen Anstrengungen, in seinen
Bauten und eben in seinen Urkunden. Sie gehören dorthin, wo sie entstanden
sind.

145
Kritisch, optimistisch und verlogen
Vom Nazi zur Stasi,
ein Fachmann für Volksaufklärung

Langjährige Abonnenten der Berliner Zeitung, einst die SED -Bezirkszeitung


der Hauptstadt, erinnern sich an ihn als herausragenden Journalisten, der
Karl-Heinz Gerstner von 1948 bis 1990 gewesen ist. Seine Sonntägliche
Wirtschaftsbetrachtung im Radio endete mit der in der DDR berühmten
Formel »Sachlich, kritisch und optimistisch wie immer«. Die Sendung
erreichte traumhafte Einschaltquoten und machte den Kommentator, der
später noch die Fernsehsendung Prisma moderierte, bald zum frei gewählten
Medienliebling Ost. Gerstners Taktik bestand nach eigenen Worten darin,
hier und da Missstände einzuräumen, um dadurch seinen zur Schau
getragenen Optimismus eingängiger zu machen. Seine Themen galten zum
erheblichen Teil dem alltäglichen, vorparadiesischen Jammertal: den
Warteschlangen vor den Kaufhallen-Kassen der DDR (»blind tippen!«) oder
dem Fehlen von Taxis (»auch nebenberuflich!«), den vielen Schließtagen der
wenigen Gaststätten (»unbefriedigend!«), dem mäßigen Schick der VEB-
Goldpunkt-Schuhe (»bedarfsgerechtere Produktion!«) oder den in ungenü-
gender Zahl gelieferten Zusatzgeräten für das Handrührgerät RG 25
(»umfangreiche Wunschliste!«).
Auch unter seinen Kollegen der Berliner Zeitung, zumal den Kolleginnen,
hinterließ Gerstner einen angenehmen Eindruck: als fast exotisches
Überbleibsel jener Elite, die noch wusste, wie ein Handkuss geht, wie und
wann der Hut zum Gruß zu heben ist, als Kavalier, der trotz seines Alters und
einer Gehbehinderung jeder Dame die Türe aufhielt. Er zeigte sich
interessiert, offen und galant.
Im Jahr 1945 wurde Gerstner vorübergehend stellvertretender
Bezirksbürgermeister von Berlin-Wilmersdorf und dann nach einer kurzen,
jedoch lebensbedrohlichen Internierung durch den NKWD Wirtschafts -
redakteur der neu gegründeten Berliner Zeitung. Doch der von ihm immer
wieder beantragte Eintritt in die SED gelang erst 1959 nach vielen
Bewährungsjahren. Seine journalistischen Erfahrungen hatte der promovierte
Jurist 1940 als Mitarbeiter der Abteilung Rundfunkpropaganda des

146
Auswärtigen Amts gesammelt, den wirtschaftlichen Sachverstand 1937/39
als Assessor bei der Deutschen Handelskammer in Paris, dann von 1941 bis
1944 als faktischer Leiter der Wirtschaftsabteilung an der Deutschen
Botschaft im besetzten Paris. Seine Vorgesetzten dort zeigten sich mit dem
»tüchtigen« jungen Mann hochzufrieden, beurteilten ihn als den »weitaus
fähigsten« unter den Nachwuchskräften der Botschaft. Sie schätzten
Gerstners gute »persönliche Verbindungen zu den maßgebenden
französischen Wirtschafts - und politischen Kreisen« und die Zuverlässigkeit
seiner Berichterstattung. Schon nach wenigen Monaten gelang es Gerstner,
seinen in jeder Weise laschen Abteilungschef Hans Kuntze »praktisch zu
ersetzen«.
Im letzten Kriegsjahr arbeitete Gerstner im Sonderreferat für
Nachrichtenbeschaffung des Auswärtigen Amts. Spätestens hier erhielt eine
seiner weniger bekannten Qualifikationen ihren vorletzten Schliff: das
diskrete geheimdienstliche Auftreten, die Herstellung einer vertrauensvollen
Atmosphäre zum alleinigen Zweck, das Gehörte rasch und gründlich an
Dritte zu rapportieren. Nach den in den Archiven der Gauck-Behörde noch
erhaltenen Spitzelberichten - es sind mehr als 2500 Blatt - verdingte sich
Gerstner spätestens seit 1975 als IMB, Informeller Mitarbeiter mit
Feindberührung, und bezog dafür zuletzt ein monatliches Zusatzgehalt von
2000 Mark.
Im Herbst 1999 legte er seine Memoiren vor.* Darin stellt sich der
langjährige Spitzel als Opfer der Stasi dar. Aber IMB »Ritter«, als der
Gerstner im Anklang an seinen biologischen Vater, den Diplomaten und
Ribbentrop-Vertrauten Karl Ritter, geführt wurde, berichtete, was das Zeug
hielt. Hundertfach diktierte er seine Protokolle für das Mielke-Ministerium
auf Tonband, gleichgültig ob es sich um die Gespräche auf seinen vorgeblich
privaten »Rhododendron«-Festen in Kleinmachnow handelte, um auf
Diplomaten-Empfängen Gehörtes und Erfragtes, um interne Probleme der
Berliner Zeitung oder um die regelmäßigen, vertrauensseligen
Unterhaltungen mit Günter Gaus. Dem zum Trotz schmückt Gerstner in
seinen Erinnerungen aus, wie er frühmorgens und nicht ganz nüchtern von
zwei MfSlern festgenommen wurde, über den »Polizeistaat DDR«
geschimpft habe und anschließend von Hermann Axen »herausgehauen«
worden sei.
Kurz und sinnfällig lässt sich die höchst intensive Stasi-Tätigkeit am Fall
von Manfred Krug zeigen. Laut Gerstner besuchte er den zur Ausreise

* Karl-Heinz Gerstner, Sachlich, kritisch, optimistisch. Sonntägliche


Lebensbetrachtung, Berlin 1999.

147
entschlossenen Krug im April 1977 auf Wunsch seiner Frau, um den »in
Bedrängnis Geratenen zu fragen, ob man irgendwie helfen könne«. Der
Besuch verlief negativ: »Die Kleingeister hatten ihm zu sehr zugesetzt, da
war nichts mehr zu machen«, heißt es in den Gerstner-Erinnerungen. Krug
berichtet in seinen Lebensbetrachtungen (»Abgehauen«) über dieselbe
Geschichte: »Abends ruft mich Genosse Gerstner an. Seit Jahren fehlt er auf
keiner Diplomatenfete, er ist dabei, wenn gedinnert, gejahrestagt und
eingeweiht wird, er fehlt nicht beim Kostümfest und nicht beim Maskenball.«
Daher glaubten alle, er sei ein Stasi-Spitzel und »kein echter Lebens-
künstler«. Auf die Vorhaltungen Krugs reagierte Gerstner mit gespielter
Empörung. Tatsächlich berichtete er dem MfS anschließend umfassend, teilte
mit, dass Krug ein Tagebuch führe, ihn zwar für einen Stasi-Agenten
gehalten habe, es ihm jedoch gelungen sei, eine vertrauensvolle Situation
herbeizuführen.
Ähnlich schreibt Gerstner in seinem Buch über die Jahre 1933 bis 1945.
Seinen Eintritt in die NSDAP am 1. Mai 1933 will er aus »Hass gegen
Hitler« vollzogen haben, »um etwas gegen die Nazis« zu tun. Wie er das
machte, geht zum Beispiel aus einem Brief hervor, den Gerstner am 9.
August 1941 an die Wirtschaftsabteilung des Militärbefehlshabers in
Frankreich schrieb, das war jener bereits erwähnte Elmar Michel, der das
Rabattgesetz formuliert und kommentiert hatte: »Ich wäre dankbar, wenn
[der französische Staatsbürger Lucien Leonard] bei Gelegenheit als
Kommissar für ein jüdisches Unternehmen eingesetzt werden könnte.« 1942
meldete Gerstner seinem Chef: »Eine sehr erfreuliche Erscheinung ist der
junge rumänische Wirtschaftsjournalist Matresco, der von den nationalso-
zialistischen Wirtschaftsauffassungen und der deutschen Mission in Europa
überzeugt ist. Im übrigen ziehen wir Matresco näher an die Botschaft heran.«
Im Spätsommer 1944, als Frankreich schon halb befreit war, regte Gerstner
an: »Die Widerstandsbewegung ist gegen die alten politischen Routiniers
aufzuhetzen. Die radikalen wirtschaftlichen und politischen Erwartungen der
Widerstandsbewegung sind gegen die von den Engländern und Amerikanern
unterstützte kapitalistische Reaktion auszuspielen und umgekehrt.«
Nach 1945 behauptete Gerstner stets, er habe in Paris aktiv mit der
Resistance zusammengearbeitet und kein Risiko gescheut, der deutschen
Besatzungsherrschaft zu schaden. In seinen Lebenserinnerungen mokiert er
sich DDR-konform über die enge Zusammenarbeit deutscher und
französischer Generaldirektoren während der Okkupation und wirft den
»emsigen Geschäftemachern« aus Paris vor, sie hätten während ihrer
profitablen Reisen nach Deutschland völlig übersehen, dass dort »hinter
Stacheldraht eine Million ihrer kriegsgefangenen Landsleute schmachteten«.
Gerstner wusste, wovon er sprach: Schließlich gehörte die Organisation des

148
»französischen Arbeitereinsatzes« zu seinen Aufgaben. Zusammen mit
Abgesandten der französischen Industrie hielt er 1942 Propagandareden vor
französischen Kriegsgefangenen, beispielsweise in den Lagern Elstahorst und
Lübben.
Ebenso wenig widerstandsfreundlich verhielt sich der »Autokenner«
(Gerstner über Gerstner) am 27. November 1941 in Paris: Auf einem
markierten Fußgängerübergang herrschte lebhafter Passantenverkehr.
Gerstner hielt mit seinem Dienstwagen angeblich vorschriftsmäßig an, um,
»als die Fußgänger nicht zur Seite gingen, mehrmals zu hupen«. Weiter heißt
es in dem von Gerstner gegebenen Bericht: »Ein Franzose, der sich hierüber
offenbar ärgerte, trat daraufhin mit seinem Stiefel heftig an den Kühlerschutz
des haltenden Wagens« und versuchte dann, in der Menge zu verschwinden.
Aber Gerstner setzte ihm nach, nahm ihn fest und ließ den »Täter« (Herrn
Aubrie, Carte d'Identite No 129 6219, Serie B) durch die Deutsche Botschaft
dem Wehrmachtskommandanten von Groß-Paris melden, mit der »Bitte um
entsprechende Veranlassung« zwecks Ahndung dieser »eindeutig deutsch-
feindlichen Kundgebung«. (In Gerstners Memoiren liest man ergänzend: »Ich
halte das Auto für das wichtigste und schönste Konsumgut des 20.
Jahrhunderts.«)
So werden sich damals viele Mitarbeiter der deutschen
Besatzungsverwaltung aufgeführt haben. Am Verhalten dieses Deutschen
überrascht nur die Schamlosigkeit seiner Verdrehungen. »In Zeiten
anhaltender Entwertung gelebter Orientierungen und Ideale scheint es mir
nicht vergeblich, unwiederbringliche Erfahrungen festzuhalten«, mit solchem
Schwulst begründet Gerstner die Notwendigkeit seiner Autobiographie.
Dahinter aber zeigt sich der schwärmerisch-jugendbewegte Deutsche des
Jahrgangs 1912, der sich im jeweiligen politischen System zur Avantgarde
rechnete und seinen Hang zur Weltbeglückung stets mit persönlicher
Vorteilsnahme zu verbinden wusste. Im hohen Ton des unentwegten
Fortschritts stellt sich einer dar, der das Stadium politischdraufgängerischer
Unerwachsenheit niemals überwunden hat. Ein paar zehntausend weniger
Idealisten vom Schlage des Karl-Heinz Gerstner, und das 20. Jahrhundert
wäre günstiger verlaufen.

149
Von den tragenden Volkskräften isoliert
Rudolf Schottlaender oder die Verbreitung von Licht

Rudolf Schottlaender haftete eine gewisse Volksferne an, die gern als
mangelhafte Angepasstheit angesehen wird. Sie führte in seinem Lebenslauf,
der am 5. August 1900 in Berlin begann, zu derart seltsam-seltenen
Windungen zwischen West, Ost, wieder West und wieder Ost, dass sich ein
Rückblick schon deshalb lohnt. Er starb am 4. Januar 1988 in vollständiger
Harmonie mit sich selbst. Mit der deutschen Gesellschaft war er, so hatte er
zwei Jahre zuvor seine Autobiographie beendet, »nur einmal ausgesöhnt -
von 1945 bis Mitte 1948«, in der Zeit also, als es weder einen noch zwei,
sondern keinen deutschen Staat gab.
Die Kapitelüberschriften seiner knappen Erinnerungen* lauten:
»Deutschjüdische Anfänge im Kaiserreich«, »Privatperson in der Republik«,
»Unperson im ›Dritten Reich‹«, »Westberlin-Dresden-Westberlin«, »In der
DDR nur halb willkommen«. Im posthumen Abschlussbericht vermerkten die
Stasi-Überwacher über Schottlaender, den sie seit 1979 unter dem Codewort
»Schreiber« intensiv »bearbeiteten«, 1988 ziemlich frustriert: »An Honoraren
war er kaum interessiert. Materielle Probleme hatte er nicht und kümmerte
sich auch nicht um solche. ›Schreiber‹, der bis zu seinem Tod physisch und
psychisch belastbar war und nicht kränkelte, arbeitete täglich bis zu zwölf
Stunden schriftstellerisch bzw. beschäftigte sich mit Studien. Zur
Aufrechterhaltung seiner Verbindungen unterhielt er einen enormen
Postverkehr, verfasste täglich zahlreiche Briefe und hatte riesige
Telefonrechnungen. «
Dank dieser Überwachung ist auch unser erstes Telefongespräch
dokumentiert. Wir führten es am 5. August 1981 und beendeten es exakt um
12.26 Uhr. Die Abteilung 26/7 der Staatssicherheit schnitt es auf dem Band
92846 mit und dokumentierte es zusammenfassend als Information
A5/79/440 (Streng vertraulich): »Herr Götz Aly von der ›tageszeitung‹ aus
WB erkundigt sich bei Rudolf Schottlaender, ob sie mit Rudolf Seh. ein
Interview zu Fragen Pazifismus, Abrüstung, Aufrüstung, Friedensbewegung

* Rudolf Schottlaender, Trotz allem ein Deutscher, Freiburg i.Br. 1986.

150
usw. machen können.« Schottlaender lehnte das ab, weil »im April 1979 ein
Verbot herausgekommen« sei, das ungenehmigte Interviews für DDR-Bürger
unter Strafe stelle. »Daraufhin« wurde gefragt, »wie es denn aussieht, wenn
Rudolf Seh. Artikel schreibt«. Das gehe »schon eher«, erwiderte der
Gefragte, auch kenne er die tages zeitung aus der Radio-Presseschau, wo sie
oft zitiert werde. »So oft auch wieder nicht«, entgegnete der Anrufer, um
schließlich einzulenken: »G. A. bestätigt«, dass die »taz« ein »relativ stabiles
Blättchen geworden« sei.
Nur nebenbei: Die etwa 50 Mitschriften unserer Telefonate bilden eine
wunderbare Gedächtnisstütze. Auch muss zur Ehre von Gen. Schulze, dem
Tonband-Nacherzähler vom MfS, gesagt werden, dass seine stets stark
verkürzenden Zusammenfassungen sinn- und wahrheitsgemäß sind, gewürzt
mit wörtlichen Zitaten. Sie bilden - namentlich in der Verbindung mit
unserem Briefwechsel und den tatsächlich erschienenen Texten
Schottlaenders - eine ausgezeichnete, authentische Quelle. Zu Schottlaenders
nie ganz vorhersehbaren, durch seine stets höchst eigene Grundhaltung
motivierten Einwänden notiert der MfS-Protokollant irritiert und einfühlsam:
»Er nennt dies ›Verbreitung von Licht‹.«
Nach dem Studium der Philosophie und der Altphilologie in Berlin,
Freiburg und Heidelberg überdauerte Rudolf Schottlaender die Jahre 1933 bis
1945 in einer nach den Nürnberger Gesetzen »privilegierten Mischehe«. Das
heißt, er war als so genannter Volljude mit einer so genannten arischen Frau
verheiratet, und die beiden Kinder wurden nicht-jüdisch erzogen. Am Ende
arbeitete er als Zwangsarbeiter in einer Munitionsfabrik, bis er am 22. April
in Berlin-Heiligensee »mit einem Glücksgefühl sondergleichen dem ersten
russischen Motorradfahrer zuwinkte«. »Für mich war eben Befreiung, was
ringsherum nur Niederlage und Schrecken bedeutete.«
Im Juni 1945 wurde Schottlaender Lehrer in Berlin - Reinickendorf. Als er
sich 1947 erfolgreich um den Lehrstuhl für Philosophie an der Technischen
Hochschule in Dresden bewarb, u mschrieb er in einer »Kurzen
Selbstcharakteristik« das Verhältnis zu seinem Lehrer und Fürsprecher Karl
Jaspers: Er erblicke in dessen Existenzphilosophie zwar keine »Krankheitser-
scheinung«, aber auch nichts besonders Bedeutendes, allenfalls eine
»notwendige Vorschule« zur Neubegründung einer gleichsam
naturwissenschaftlich fundierten Ethik. Es fehlte Schottlaender nicht an
Selbstbewusstsein und trockenem Witz. »In politischer Hinsicht«, so
bemerkte er in demselben Text, »bin ich ein abgesagter Feind jeder Art und
jedes Restes von Nationalismus. Es mag sein, daß der soziologische Ort, an
dem ich mich als konfessionsloser Jude befinde, mir diese Haltung nahelegt
und erleichtert. Ein aktiver Revolutionär war und bin ich nicht, ebensowenig
ein unpolitischer Akademiker, benutze vielmehr jede Gelegenheit, um den

151
Segen streng wissenschaftlicher Geisteshaltung für das gesellschaftliche
Leben wirksam zu machen.« Dieser Segen konnte für die Beteiligten rasch
ungemütlich werden. Für die Gattin, Edith Schottlaender, beinhaltete er die
regelmäßige Belehrung darüber, wie gleichgültig es sei, ob es in der
Kaufhalle in Berlin-Hirschgarten Butter oder nur Margarine gebe; für ihn
selbst entstanden aus dem scheinbar harmlosen Prinzip »streng
wissenschaftlicher Geisteshaltung« allerhand Komplikationen. Aber die
staatlichen Zwangsmaßnahmen, die er immer wieder auf sich zog,
entsprangen keinem fundamentaloppositionellen Hang, den Schottlaender als
wirklichkeitsfremd zeitlebens ablehnte.
So sprach er der DDR nicht das Recht ab, Nico Hübner wegen
Wehrdienstverweigerung einzusperren, er kritisierte die Höhe der Strafe, weil
sie jede Verhältnismäßigkeit vermissen lasse. Schottlaender verteidigte die
ökonomischen Gründe für den Bau der Mauer, er lehnte den utopisch
überdrehten Kommunismus, die selbstgefälliglüsterne Hofhaltung des
Oppositionellen Robert Havemann ab und begrüßte die Militärherrschaft
Wojciech Jaruzelskis in Polen, weil sie die Gefahren des polnischen
»Edelanarchismus« banne und die Stabilität in Europa sichere. Aus Anlass
des israelischen Libanonkrieges fragte er 1982: »Soll es etwa dahin kommen,
daß die Juden den Namen Begin dereinst ebenso verfluchen wie die
Deutschen den Namen Hitler?«
Schottlaender richtete seine Einwände auf das Detail, auf Vorgänge, die der
Revolutionär wie der Pragmatiker gern als Nebensächlichkeiten übergeht.
Bereits anlässlich seiner Bewerbung hatte er dem zuständigen Dekan im
März 1947 mitgeteilt, worauf es ihm ankommen würde: »Ich stehe der
russischen Besatzungsmacht, die für mich als Juden als Befreierin kam, von
innen heraus freundlich gegenüber. Was ich aber unter keinen Umständen
ertragen würde, wäre eine indirekte Kontrolle durch Parteileute innerhalb der
Studentenschaft. Wenn irgend etwas dergleichen im Bereich des Möglichen
liegt, wäre es besser, von vorneherein zu verzichten.«
In Dresden begann der Ärger bereits nach wenigen Wochen. Anlass war
ein Ukas des Sächsischen Wissenschaftsministers, der im Herbst 1947
plötzlich vorschrieb, dass jeder Hochschullehrer den Inhalt der
angekündigten Vorlesung dem Ministerium ausführlich mitzuteilen habe.
Schottlaender wurde sofort grundsätzlich und entgegnete schriftlich:
»Obwohl ich meine Vorlesungen sehr genau ausarbeite, will ich doch
gegenüber meiner eigenen Ausarbeitung frei sein.« Wenn er jetzt einen
bindenden Prospekt einreichen müsse, dann geschähe das »entweder auf
Kosten der Wahrheit, indem ich etwas hinschriebe, worauf ich mich innerlich
doch nicht festlege, oder auf Kosten der schönen Freiheit, die in jeder

152
Wissenschaft, ganz besonders aber in der Philosophie Bedingung allen
Fortschritts ist«.
Dann folgte ein Satz, mit dessen Varianten Schottlaender die Machthaber
und Machthaberchen immer wieder zur Weißglut brachte, im Osten wie
später im Westen: »Sollte man mich durch den Hinweis auf disziplinarische
Maßnahmen nötigen, den neuen Usus mitzumachen, so würde ich mich zwar
fügen, zugleich aber jedesmal eine Kopie dieses Schreibens, gleichsam als
stereotypen Protest, mit einreichen.« Zwei Jahre später verjagten die Eiferer
der SED Schottlaender aus Dresden. Knapp zwei Jahre später kam es in den
Wochen nach dem 1. Mai 1949 zum Eklat. Schon wegen des Vokabulars
hatte sich Schottlaender geweigert, einen »Mai-Aufruf« zu unterschreiben.
Schlagwörter wie »imperialistische Kriegshetze«, westdeutsches »Auf-
marschgebiet des anglo-amerikanischen Monopolkapitalismus« oder
»koloniale Versklavung Westdeutschlands« widerten ihn an. Er wies sie als
Aufforderung zum organisierten Hass zurück und zitierte das Motto aus der
Antigone: »Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da.« Er forderte ein
gerechtes und im Übrigen realitätstaugliches Urteil. Während die SED
damals öffentlich noch unentwegt vom »Kampf um die deutsche Einheit«
schwadronierte, bemerkte Schottlaender, so steht es in der Mitschrift
irgendeines ebenso kommunistischen wie gewissenlosen studentischen
Denunzianten: »Man gibt jetzt den Gedanken der deutschen Einheit auf. Wir
müssen uns vorläufig auf Teilung einrichten.«
Damit aber brach er ein SED-Tabu und machte sich aus Sicht der
Sächsischen Zeitung zum »anglo-amerikanischen Kriegstreiber und Spalter
Deutschlands«: »Niemals«, so heißt es in dem Verdikt vom 25. Mai 1949
weiter, »dürfen wir uns als Deutsche auf die Teilung einrichten, wie das der
Herr Professor empfiehlt.« Am 1. Juni verfügte der Sächsische Minister für
Volksbildung die Entlassung zum 31. Juli 1949 und die Beurlaubung mit
sofortiger Wirkung, weil sich Schottlaender »von den tragenden Volkskräften
isoliert« habe. Und tatsächlich vermeldete in der Sächsischen Zeitung ein
»Volkskorrespondent« namens F. Löschke am 11. Juni aus der volkseigenen
Dresdner Kleider- und Schürzenfabrik: »Unsere Werktätigen vertreten die
Ansicht, daß Menschen wie Professor Schottlaender ein Hindernis für die
fortschrittliche Entwicklung sind. Daher sprechen wir ihnen das Recht ab,
weiter als Lehrkräfte an unserer Hochschule zu wirken.« Der Rektor der TH
Dresden hängte eine lapidare Bekanntmachung aus: »Die Vorlesungen und
Übungen von Herrn Professor Dr. Schottlaender fallen aus.«
Als Vertriebener kehrte er nun dorthin zurück, woher er gekommen war -
nach Westberlin. Dort ließ er sich vom RIAS weder als Propagandist
gebrauchen noch als Märtyrer beweihräuchern und gleichzeitig als in der NS-
Zeit politisch und rassisch Verfolgter anerkennen. Einen

153
Ruf an die neu gegründete Freie Universität erhielt er nicht und arbeitete
deshalb wieder als Latein- und Griechischlehrer. Wie schon im Dritten Reich
und in der embryonalen DDR ließ er auch in Westberlin schon bald die
gewünschte Volksnähe vermissen. Seit 1951 engagierte er sich unter anderem
gemeinsam mit Harald Juhnke, Gustav Heinemann, Helene Wessel und Bubi
Scholz für Abrüstung und für einen Ausgleich zwischen den beiden
deutschen Staaten. Er wurde Mitbegründer der winzigen Wochenzeitung
SOS - Zeitschrift für weltweite Verständigung. Mit seinem ersten Editorial
und anderen Dokumenten wollte ihm der Berliner Innensenator 1959 eine
verfassungsfeindliche Gesinnung nachweisen. Darin hieß es 1951: »Wir sind
in der Lage des Dürerschen Ritters, der zwischen Tod und Teufel seinen Weg
suchen muß. Ausgeklügelte Teufelei der östlichen Machthaber, todbringende
Rücksichtslosigkeit der westlichen treiben mit uns ihr Spiel; und wenn wir,
angewidert von beiden Seiten der verderblichen Unfreiheit, zurücklenken in
gebahnte Denkgeleise, so begegnen uns gar Tod und Teufel vereint in Gestalt
einer wiederauflebenden nationalsozialistischen Bestialität.« Sofort nach dem
Erscheinen hetzte der Tagesspiegel damals: Die Zeitung sei »eine einzige
Deklamation für die kommunistische Volksbefragung gegen
Remilitarisierung«, kurz: ein Propagandablatt. »Hoffentlich weiß die Militär-
regierung auch, wer es bezahlt.«
Im Oktober 1951 schlug Schottlaender in der Zeitschrift SOS Dinge vor,
die uns heute nahe liegend erscheinen, aber damals blankes Unverständnis
auslösten, und zwar in beiden Stadthälften: »Die Stadt Berlin sollte einen
würdigen Platz bereitstellen, auf dem ein Mahnmal an die unter dem
Nationalsozialismus ermordeten jüdischen Kinder zu errichten wäre.« Dafür
sei ein internationales und interkonfessionelles Preisausschreiben zu
veranstalten, das zu einem ebenso schönen wie schlichten und ergreifenden
Monument führen sollte: »Aber wirksam ist das Mahnmal nur, wenn es nicht
ins Uferlose eines Gedenkens an sämtliche Opfer irgendeiner Tyrannei
verschwimmt, sondern sich an den Höhepunkt der Unmenschlichkeit heftet,
den man, so Schlimmes auch sonst geschehen mag und noch geschieht, in
jenem Mord an schätzungsweise einer Million jüdischer Kinder erblicken
muß.« In der Zeitung SOS wandte sich Schottlaender gegen »Marschier-
zwang im Osten« wie gegen die Forderungen von H.-J. Schoeps (1951) zur
»territorialen Wiederherstellung Preußens«. Im März 1952 schrieb er: »So
widerwärtig uns die in unserer frischen Erinnerung lebenden Methoden des
bolschewistischen Polizeistaates sind, so haben wir doch nicht vergessen, daß
der Nationalsozialismus für alle Nichtnutznießer das weit schlimmere Übel
war.« Ohne jede persönliche Aggression stritt und argumentierte Schott-
laender gegen die wechselseitige kollektivistische Verhetzung, in seinen

154
Worten: gegen Großgruppenhass, Gedankenunterschlagung und urteils -
trübeden Gegenhass.
Nicht ohne Selbstironie bezeichnete Schottlaender seine Haltung später als
»friedenssüchtigen Patriotismus« -eine Stimmung, aus der heraus er Anfang
1952 das »Lied der Wiedervereinigung« dichtete und vertonte. Ja, er studierte
es mit seinen Schülern ein: Uns trennt nicht die Elbe, die Werra, der Main, /
Ein Wunsch nur verbindet uns alle: / Wir wollen wieder Ein Deutschland
sein, / Und was uns noch scheidet, das falle! / Eine Flamme der Sehnsucht,
ein brennender Ruf, / An dem sich die Herzen entzünden: / Was Natur und
Geschichte zusammenschuf, / Das lasset uns wieder sich finden!
Es gibt bessere Gedichte, aber wie Schottlaender in Dresden die öffentliche
Erwähnung der faktischen Teilungspolitik zum Kündigungsgrund geworden
war, so wurden ihm solche Texte im Westberlin des Kalten Krieges bald als
prokommunistische Agitation ausgelegt. Seit 1952 wurde er mit
disziplinarischen Verfahren überzogen, zuerst an die Bertha-von-Suttner-
Schule strafversetzt und dann - wieder aus disziplinarischen Gründen - an die
vom Wohnort weit entfernte Goethe-Oberschule in Lichterfelde. Mitten in
diesen Unbilden veröffentlichte Schottlaender 1957 in Westberlin bei de
Gruyter sein bedeutendstes philosophisches Werk Theorie des Vertrauens.
Darin analysiert er den ewigen Streit zwischen den Vorstellungen von
Freiheit und Sicherheit, »die man in der Tat wie zwei streitende Gottheiten
sehen kann«. Der auf Sicherheit Bedachte möchte die in der Freiheit liegende
Unsicherheit möglichst beseitigen, und er gerät deshalb in einen
Sicherheitsfanatismus, »der alle eigene und fremde Spontaneität tötet«. Aus
diesem Grund müsse sich der weise Kalkulator »damit begnügen, den
menschenmöglich besten Einsatz des Vorauswissens zu gewinnen durch das
zu gewährende oder zu versagende Vertrauen«.
Gewiss unrealistisch, aber für ihn kennzeichnend, forderte Schottlaender
eine Form der doppelstaatlichen Vereinigung, die zuerst - als Modell -
zwischen Ost- und Westberlin erprobt werden sollte: »Die Doppelrepublik
Deutschland wird mit der Buchstabenbezeichnung DRD abgekürzt, die an
Stelle der BRD und der DDR träte bzw. diese beiden in sich aufnähme. Eine
in sich verbundene Doppelrepublik Deutschland erscheint mir durchaus nicht
unmöglich. Das ist ein Zwischending zwischen einem Staatenbund und
einem Bundesstaat.« Der Westberliner Beamte sprach solche Sätze 1958 in
Ostberlin aus, als Teilnehmer einer Tagung des Nationalrates der Nationalen
Front - mit im Saal: Walter Ulbricht.
Im Dezember 1956 hatte Schottlaender in einem seiner eigensinnigen
Briefe dem damaligen Westberliner Innensenator Joachim Lipschitz
Bedenken gegen eine Verfügung vorgetragen, die er, wie jeder andere

155
Landesbeamte, hatte unterschreiben müssen. Sie war ein Produkt der
Frontstadt-Hysterie und gebot eine »Anzeigepflicht im Fall versuchter
Verleitung zum Landesverrat«. Anzuzeigen waren auch solche Personen, die
Interesse »an den Lebensumständen und -gewohnheiten« eines
Landesbeamten zeigten, »auch ohne, daß bereits der Versuch einer
Aufnahme von Beziehungen unternommen wurde«. Der Landesbeamte
Schottlaender wandte dagegen ein: »Eine Mittelsperson, die so ungeschickt
auftritt, daß sie auch für einen kriminalistisch ungeschulten Landesbeamten
(z.B. einen Lehrer) als Mittelsperson kenntlich ist, dürfte von östlicher Seite
kaum zum Ausspionieren irgendwelcher drüben wichtiger Informationen
vorgeschickt werden.« Schottlaender sah die Gefahr einer Überflutung des
Verfassungsschutzamtes mit Bagatelldaten und befürchtete »etwas noch viel
Ärgeres«: die Denunziation.
Er wusste, wovon er sprach. Er hatte das Denunziantentum der eifrigen
Mehrheit vielfach erlebt. In seinen Lebenserinnerungen findet sich eine
Szene aus dem Jahr 1944, als er als »Rüstungsjude« in der Pulverfabrik
Gebrüder Bock in Berlin -Buchholz arbeitete: »Einmal erschrak ich. Ein mir
vorgesetzter Arbeiter, Typ des alten Gewerkschaftlers, immer sachlich, nie
judenfeindlich, ging neben mir, während am Horizont die Flammen eines
Bombenangriffs auf Berlin zu sehen waren. Da platzte es aus ihm heraus:
›Das sind Ihre Freunde!‹« An der TH Dresden hatten kommunistische
Studenten Schottlaenders Entlassung mit Hilfe von mitgeschriebenen Zitaten
aus der Vorlesung befördert, mit den Altnazis - Fachleute! Technische
Intelligenz! - arrangierte man sich dort besser. Und auch Lipschitz selbst, ein
geachteter Mann, der als »Halbjude« einiges durchgemacht hatte, verfuhr mit
dem Brief Schottlaenders denunziatorisch: Er beantwortete ihn mit einigen
gestanzten Sätzen und eröffnete gleichzeitig die Verfassungsschutzakte »
Schottlaender«, in der im Januar 1957 auf Blatt 4 ältere Informationen
eingingen: »Prof. Seh. ist als Anhänger der Notgemeinschaft für den Frieden
Europas in Erscheinung getreten. Nach einem weiteren Bericht ist Prof. Sch.
als Teilnehmer an einem Ost-West-Gespräch mit dem sowjetzonalen
Kulturminister Becher dem in der Diskussion gegen Becher auftretenden
Journalisten Salter seinerseits entgegengetreten.«
Das also war der Anfangsverdacht im Januar 1957. Wie es genau
weiterging, ergibt sich aus den Akten nicht. Fest steht eines: Am 29. April
1959 ordnete der Westberliner Innensenator Lipschitz höchstpersönlich,
offensichtlich schäumend an: »Unverzüglich ein PrV-Aberkennungsver-
fahren* gegen den Schottlaender einzuleiten, da es als erwiesen angesehen

* PrV steht für »Politisch und rassisch Verfolgter«.

156
werden kann, daß es sich bei Sch. um einen aktiv gegen die freiheitlich-
demokratische Grundordnung wirkenden Mann handelt.« Nun, am 6. Mai
1959, listete der Innensenator auf, dass Schottlaender in Dresden dem
Kulturbund angehört hatte, der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische
Freundschaft, dem FDGB und selbst, man höre und staune, dem
»Staatsapparat der Sowjetischen Besatzungszone«. Am 14. Mai 1959 hatte
ein gewisser Senatsrat Magen, zu dessen Aufgaben es bis in die achtziger
Jahre gehörte, den Zugang von Westberlinern zu den Nazi-Akten im Do-
cument Center zu unterbinden, ein höchst engagiertes Verfassungsschutz-
Dossier über Schottlaender zusammengestellt, dem auch das Protokoll einer
Rede von Gustav Heinemann beigefügt war, die dieser unter Mitwirkung des
Überwachten gehalten hatte. Vierzehn Tage nachdem dieses Dossier von
Magen zusammengestellt worden war, wurde Schottlaender wegen der
»Verbreitung kommunistischer Propagandaparolen« aus dem Schuldienst
entfernt. Genauer gesagt wurde der Neunundfünfzigjährige am 28. Mai 1959
»wie ein Sexualverbrecher«, so empfand er es, aus seiner Lateinunterrichts-
stunde an der Lichterfelder Goethe-Oberschule herausgeholt und (zum
zweiten Mal in seinem Leben) mit sofortiger Wirkung vom Dienst
suspendiert. Ein Geschäft, das der damalige Steglitzer Bezirksbürgermeister
Peter Bloch (CDU) mit der Rückendeckung des gesamten Brandt-Senats
erledigte.
Unter der Überschrift »Endlich abberufen!« jubelte die Springer-BZ am 30.
Mai 1959: »Professor Schottlaender darf vorläufig seinen Beruf nicht mehr
ausüben. Er hat wiederholt kommunistische Propagandaparolen verbreitet.
Im Dezember 1958 hatte er an einer Tagung des kommunistischen
Nationalrates in Ostberlin teilgenommen.« Auf diesen Text antwortete tags
darauf die Berliner Zeitung mit einer von jedem späteren Kredit- und
Devisenwinseln freien agitatorischen Frische: »Unter dem Gebimmel der
Freiheitsglocke haben die Frontstadtpolitiker Ende der Woche wieder einmal
demonstriert, daß in Westberlin nur für den das Recht der freien
Meinungsäußerung gilt, der die Politik des Kalten Krieges gutheißt. Jüngstes
Opfer der Hexenjagdmethoden des Brandt-Senats ist der Reinickendorfer
Studienrat Prof. Schottlaender. Weil er im Interesse des Friedens vor dem
Nationalrat der Nationalen Front seine Gedankengänge zur Lösung der
Westberlin-Frage entwickelte, hat Brandts Kulturfeldwebel Tiburtius gegen
den aufrechten bürgerlichen Humanisten ein Kesseltreiben eingeleitet.«
Wie sehr die Entlassung des überaus gelehrten deutsch-jüdischen Lehrers
auch von seinen Lehrerkollegen gebilligt wurde, zeigt jene Episode, die eine
ehemalige Schülerin dem Autor aus Anlass eines Gedenkartikels zum 100.
Geburtstag mitteilte. Als Schottlaender 1982 der Einladung ehemaliger

157
Schülerinnen zu einer Jubiläumsfeier des Abiturs in Westberlin folgte, geriet
der Empfang des beliebten »Herrn Professors« besonders herzlich. Aber noch
damals, 23 Jahre nach der Vertreibung, waren einige Lehrer deshalb der
Einladung nicht gefolgt, weil der Vertriebene sein Kommen zugesagt hatte.
Als angeblicher Verfassungsfeind verlor der fast sechzigjährige
Schottlaender in Willy Brandts Westberlin nicht nur seinen Beamtenstatus
und seine Pensionsberechtigung. Der Innensenator erkannte ihm auch den
Status des rassisch Verfolgten »wegen Unwürdigkeit« ab, eine exekutive
Anmaßung, die das Landgericht Berlin am 26. Oktober 1962 zurückwies. In
dieser Lage berief die Ostberliner Humboldt-Universität Rudolf
Schottlaender 1960 auf den Lehrstuhl für Römische Literatur, den er bis zu
seiner Emeritierung 1965 innehatte. Der Mauerbau zwang ihn erst später zum
Umzug nach Berlin-Hirschgarten. Auch dort geriet er mit der Herrschaft bald
wieder aneinander. Die Stasi-Akten »OV-Schreiber« umfassen mehrere
tausend Seiten. Aber während die politische Drangsalierung im Osten sich
heute leicht dokumentieren lässt, erfordert es unendliche Geduld, im Westen
wenigstens einige einschlägige Aktenblätter aufzuspüren.
An der Humboldt-Universität widmete sich Schottlaender sofort dem
Gedenkwerk Verfolgte Berliner Wissenschaft. Das Vorhaben fand zunächst
die Unterstützung der akademischen Gremien. Die Schrift, die Dokument an
Dokument reihte, wurde dann aber 1964 nicht gedruckt, weil aufgrund der
Faktenlage die rassische, nicht die politische Verfolgung von Berliner
Wissenschaftlern durch den NS-Staat im Vordergrund stehen musste. Die
mündliche Begründung lautete damals: »Die Zionisten könnten zu viel
Kapital daraus schlagen.« Drei maschinenschriftliche Exemplare gelangten in
die Bibliotheken der DDR. Aber selbst noch 1987 verschwieg der
repräsentative Band Wissenschaft in Berlin, den ein gedankenfaules und
wohl auch feiges Autorenkollektiv unter Leitung von Hubert Leitko
arrangiert hatte, die Existenz dieses Werkes. Wäre es 1964 erschienen, hätte
sich die HU als erste deutsche Universität zu einer solchen kritischen
Selbstrevision durchgerungen.
Ein späterer Versuch Schottlaenders, das Buch im Westen zu
veröffentlichen, scheiterte: Reinhard Rürup hielt es wegen des Umfangs für
»undruckbar«. Erst nach 27 Jahren erschien es in einer gekürzten Fassung
und mit Unterstützung der Stiftung Preußische Seehandlung im Westberliner
Hentrich-Verlag - im Februar 1988, wenige Wochen nach dem Tod
Schottlaenders. Das Buch wurde im Zentrum für Antisemitismusforschung
der Technischen Universität vorgestellt, die Berliner Abendschau drehte.
Gesendet wurde der Beitrag nie. Als ich die SFB-Redakteurin nach dem
Warum fragte, antwortete sie: Der für das Fernsehprogramm zuständige
Chefredakteur habe den Beitrag mit der Bemerkung abgesetzt:

158
»Schottlaender?! Da war doch irgendwas!« Was da war, fasste IM Klee für
die Stasi 1979 so zusammen: »Sein Verhalten wird von einer mit logischen
Argumenten nicht mehr zu beseitigenden illusionären Grundposition
bestimmt: ›Nur durch ein Zwischen-den-Fronten-Segeln kann man die
Entspannung voranbringen.‹« Rudolf Schottlaender war kein Linker, kein
Liberaler oder Konservativer, sondern ein Mann, der sich einer radikalen
Ethik verpflichtet sah. Er wandte sich der Welt zu und erschien deshalb als
weltfremd.

159
Hitlers Volksstaat
Notiz zum Klassencharakter des Nationalsozialismus

Heute wird die Rassenideologie des Nationalsozialismus oft als pure


Anleitung zu Hass und Vernichtung verstanden. Doch für Millionen
Deutsche lag das Attraktive des neuen politischen Programms in dem nach
innen gerichteten völkischen Gleichheitsversprechen. Für viele schien die
Einebnung der Klassenunterschiede in der Staatsjugend, im Reichsarbeits-
dienst, in den Großorganisationen der Partei und langsam selbst in der
Wehrmacht fühlbar zu werden. Programmatisch verband die Nazibewegung
die soziale mit der nationalen Homogenisierung (ein nicht nur in Deutschland
erfolgreiches politisches Konzept). Demnach durfte ein so genannter Arier
bald nach 1933 keine Beziehung mehr mit einer so genannten Jüdin
eingehen, aber erstmals in der deutschen Geschichte konnte ein Offizier ein
Mädchen aus einer Arbeiterfamilie heiraten - vorausgesetzt: Beide Partner
erwiesen sich nach erbhygienischen Kriterien als ehetauglich. In Anlehnung
an die berühmte Köchin Lenins malte Hitler 1938 aus: »Es muß in diesem
neuen Deutschland jedes Arbeiter- und Bauernkind bis zur höchsten Führung
aufsteigen können.«
In der Tendenz brach der Begriff Rasse den Begriff Klasse. Das - so meine
These - machte den Nationalsozialismus immer wieder mehrheitsfähig. Hitler
sprach von Volksgemeinschaft, Mussolini von democrazia totalitaria. Die
Mehrheit der Deutschen empfand die Zeit als Epoche besonders schneller
Veränderung, sozialer Umschichtung, breiter Aufwärtsmobilisierung, oft
auch hoher individueller Verantwortung. In einer Orgie von Krieg und
Expansion, Zerstörung und Selbstzerstörung erfüllten sich die gegen die
Klassenschranken gerichteten Ziele der Volksgemeinschaft. Und das selbst
noch in der Niederlage. Die Zeitgenossen bezeichneten sie treffend als
»Stunde Null«. Eine Stunde eben, in der viele Unterschiede verschwanden
und die Chancen nach den Prinzipien des Zufalls, der Bildung und der
sozialdarwinistischen Selektion neu verteilt wurden.
Mein Großvater beschreibt in seinen Lebenserinnerungen ausführlich seine
Jahre im Ersten Weltkrieg. Er diente als Batteriechef an der Westfront und
stützte sich dort 1917 auf einen »prächtigen Vicewachtmeister«: »Furcht
kannte er nicht. Ich wollte ihn zum Offizier machen und forderte ihn auf, sich
zu melden. Er antwortete mir: ›Mein Vater ist Schneidermeister. Ich möchte
Unteroffizier bleiben. Ich passe nicht in diese Gesellschaft.‹ Aber das EK I
hat er bekommen.« Das ist die soziale Dynamik, die im Ersten Weltkrieg
aufbrach und die die NSDAP mit großem Effekt aufnahm. Sie zog Tausende
Gebildete an, die ihren Klassendünkel im Dreck des Stellungskriegs

160
zurückgelassen hatten. Sie integrierte den sozialistisch geprägten Arbeiter,
den Handwerker, den kleinen Angestellten, die sich alle zusammen soziale
Anerkennung und bessere Lebenschancen für ihre Kinder erhofften. Dazu
stießen jene, die bereits von der Bildungsreform der Weimarer Republik
profitiert hatten und den sozialen Aufstieg fortsetzen wollten. Sie verband
nicht der Wunsch nach einer neuen Klassenherrschaft, sondern - neutral
gesprochen und heute fast selbstverständlich - nach einem politisch-sozialen
Zustand, in dem die Klassenposition zum Zeitpunkt der Geburt möglichst
wenig den Lebensweg und die spätere gesellschaftliche Anerkennung eines
Menschen festlegen sollte. Ein wesentliches Bindemittel bezog der neue
nationale Binnensozialismus aus einem doppelten Antisemitismus: Er
richtete sich gegen das »jüdische Spekulantentum« wie gegen den »jüdischen
Bolschewismus«, die bei aller Gegensätzlichkeit angeblich gemeinsam das
Projekt der völkischen Einheit untergruben.
Theodor Schieder erklärte 1946 vor der Entnazifizierungskammer in
Kempten: »Als Historiker und sozial empfindender Deutscher mußte es mich
vor allem mit Genugtuung erfüllen, daß die verhängnisvolle Zurücksetzung
des deutschen Arbeiterstandes im Volksganzen beseitigt zu werden und einer
Einheit aller Stände Platz zu machen schien.« Das war keine faule Ausrede,
die dem besserungswilligen, von der Jugendbewegung geprägten Ex-Nazi
erst jetzt eingefallen wäre. In seinem bevölkerungsgeschichtlichen Geheim-
gutachten zur Vertreibung von Polen und Juden hieß es Ende September
1939: »Auch wäre zu erwägen, wie weit das Projekt der
Wiedereindeutschung der Nordostprovinzen mit dem Gedanken einer
Flurbereinigung in den Gebieten des südwestdeutschen Zwergbesitzes
verbunden werden könnte.« Er forderte in den neu annektierten Provinzen
»Landzuweisungen an deutsche Landarbeiter« und bezeichnete 1941 »die
Gewinnung von Siedlungsland als Beitrag zur Lösung der sozialen Frage« (in
Deutschland).
Auch der Vorschlag, den Schieders Königsberger Fachkollege Werner
Conze 1939 zur »Entjudung« der polnischen Städte entwickelt hatte, sah die
soziale Mobilisierung der verarmten polnischen und weißrussischen Bauern
in die damit frei werdenden Arbeitsplätze und Erwerbszweige vor. Und
genau in diesem Sinn forderte Hitler den ungarischen Regenten Mikl s
Horthy 1943 auf: »Ungarn könne«, so wurde die Bemerkung Hitlers
protokolliert, »genauso wie die Slowakei die Juden in Konzentrationslagern
unterbringen. Es würde damit seinen eigenen Landeskindern viele
Möglichkeiten durch Freimachung der von den Juden gehaltenen Positionen
eröffnen und den talentvollen Kindern des Volkes Laufbahnen verschaffen,
die ihnen bisher von den Juden verschlossen worden seien.« Übernommen
hatte Conze den Gedanken übrigens von zeitgenössischen polnischen

161
Bevölkerungsökonomen. Sie hatten in den 1930er Jahren den »Transfer« der
jüdischen Minderheit zum Beispiel nach Madagaskar gefordert, um so die
soziale Aufwärtsmobilisierung der bäuerlichen Massen in die städtische
Berufs- und Arbeitswelt zu erleichtern. *
Das Konzept galt für den gesamten, zwischen 1939 und 1942 immer
ausgreifender gedachten Generalsiedlungsplan Ost. In seiner entwickeltsten
Form sah der Plan die Vertreibung von 50 Millionen Slawen in Richtung
Sibirien vor. Er implizierte also den Tod von Abermillionen Menschen - ein
technokratisch durchdachtes, DFG-gefördertes Großverbrechen. Nach innen
muss derselbe Generalplan Ost jedoch als Projekt zur Beförderung einer
aufsteigenden Klassenbewegung in Deutschland verstanden werden. Hitler
schwärmte: »Aus Thüringen und aus dem Erzgebirge zum Beispiel können
wir unsere armen Arbeiterfamilien herausnehmen, um ihnen große Räume zu
geben.« Die Deutsche Arbeitsfront wollte auf diese Weise »mindestens
700000 landwirtschaftliche Klein- und Kümmerbetriebe beseitigt« sehen.
Sämtliche wissenschaftlichen Untersuchungen über die so genannten
Siedlerreserven des deutschen Volkes wiesen auf die Marx'sche
Reservearmee, auf die Modernisierungsbedrohten und -Verlierer, wie man
heute sagen würde. Himmler sprach vom »Sozialismus des guten Blutes«.

* In entgegengesetzter Richtung formuliert findet sich der Gedanke bereits bei


Theodor Herzl. In dessen sozialpolitischem Beglückungs-Manifest Der Judenstaat.
Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage hieß es 1896: »Die Wanderung [der
Juden in den Judenstaat] ist zugleich eine aufsteigende Klassenbewegung. Und hinter
den abziehenden Juden entstehen keine wirtschaftlichen Störungen, keine Krisen und
Verfolgungen, sondern es beginnt eine Periode der Wohlfahrt für die verlassenen
Länder. Es tritt eine innere Wanderung der christlichen Staatsbürger in die
aufgegebenen Positionen der Juden ein.« Diesem Gedanken entspricht, was Herzl
über die konkrete Utopie, über die Errichtung des Judenstaats in Palästina und über
die Behandlung der einheimischen arabischen Bevölkerung zwar nicht öffentlich,
jedoch in seinem zweifellos für die Nachwelt gedachten Tagebuch schrieb: »Die arme
Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihr in
den Durchzugsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem eigenen Land jederlei
Arbeit verweigern. Die besitzende Bevölkerung wird zu uns übergehen. Das
Expropriationswerk muß ebenso wie die Fortschaffung der Armen, mit Zartheit und
Behutsamke it erfolgen.« (Theodor Herzl, Briete und Tagebücher, hg. von Alex Bein
u.a., Bd. 2. Zionistisches Tagebuch 1895-1899, Berlin u. a. 1983, S. 117 f.,
Eintragung v. 12.6. 1895.)

162
Das alles wurde nicht zum Vorteil von Junkern und Monopolisten geplant,
sondern als konkrete Utopie für einfache Deutsche. Ihre Kinder spielten 1942
»Wehrbauer im Schwarzerdegebiet«, deutsche Soldatenbräute träumten zu
Hunderttausenden von Rittergütern in der Ukraine, und der brave Soldat
Heinrich Böll, der gewiss kein williger Volls trecker gewesen ist, schrieb
noch am 31. Dezember 1943 aus dem Lazarett an seine Eltern: »Ich sehne
mich sehr nach dem Rhein, nach Deutschland, und doch denke ich oft an die
Möglichkeit eines kolonialen Daseins hier im Osten nach einem gewonnenen
Krieg.«
Die Anti-Hitler-Koalition verhinderte die Realisierung solcher Träume.
Daher lässt sich der kurz angedeutete Generalsiedlungsplan Ost heute noch
immer leicht als propagandistischer Schein, als wirklichkeitsfremde
Phantasterei beiseite schieben. Um das Proje kt einer massenhaften sozialen
Aufwärtsmobilisierung, das die zentrale Triebkraft des Nationalsozialismus
bildete, auch empirisch greifbar zu machen, empfiehlt sich ein Blick auf die
reale Kriegsfinanzierung zwischen 1939 und 1945. Sie zeigt unwiderleglich,
wie intensiv und in den Methoden rücksichtslos sich der NS-Staat um das
materielle Wohl der schlecht und mäßig verdienenden Deutschen kümmerte.
Bereits am 4. September 1939 erging neben der Verordnung zur
Lebensmittelrationierung die ebenfalls längst vorbereitete Kriegswirtschafts -
verordnung. Sie sollte »dem durch die Kriegsverhältnisse bedingten
Finanzbedarf des Reiches Rechnung tragen«. Während im Ersten Weltkrieg
nur 13 Prozent der Staatsausgaben aus regulären Staatseinnahmen gedeckt
werden konnten, der Rest über Anleihen, konnte im Zweiten Weltkrieg bis in
den Herbst 1944 hinein eine von Finanzfachleuten so bezeichnete »goldene
Deckungsguote« von 50 Prozent erzielt werden. Die Finanzierung gestaltete
sich rein äußerlich sehr viel solider. Zu diesem Zweck wurde neben einer
drastischen Gewinnabführung für Unternehmer ein Kriegszuschlag von 50
Prozent auf Lohn- und Einkommensteuer erhoben. Allerdings nur für
Jahreseinkommen von mehr als 3000 RM - eine extrem hohe Freigrenze.
Nach den Zahlen für das Jahr 1937 blieben sämtliche 15,5 Millionen Arbeiter
im Deutschen Reich unter dieser Grenze, von den 3,7 Millionen Angestellten
immerhin 53 Prozent. Überstunden-, Nacht- und Feiertagszuschläge mussten
seit dem Sieg über Frankreich nicht mehr versteuert werden. Hin zuzuzählen
wären die kleinen Beamten, damals bei Post und Bahn in großem Umfang
beschäftigt, und die Bauern: Sie lebten in einer »besonderen Steuer-Oase«,
wie einer der führenden Finanzfachleute des Dritten Reichs 1943 klagte.
Obwohl sich das deutsche Steueraufkommen im Zweiten Weltkrieg bis 1942
ungefähr verdoppelte und dann stagnierte, erhöhte sich das Steueraufkommen
der Landwirtschaft zwischen 1938 und 1945 um nicht einen Pfennig

163
(wohingegen die staatlich subventionierten Erzeugerpreise um bis zu 30
Prozent stiegen).
Wessen Steuern aber erhöhten sich dann? In den ersten 30 Monaten lenkten
die Kriegssteuern knapp zwölf Milliarden Reichsmark zusätzlich in die
Reichskasse. Betrachtet man die Verteilung zwischen den sozialen Schichten,
dann belastete allein die Zusatzsteuer auf Tabak und Alkohol die große
Mehrheit der Einkommensbezieher mit etwa 2,5 Milliarden Mark, während
die restlichen mehr als 9 Milliarden Mark auf Unternehmen und Bezieher
hoher Einkommen entfielen. Noch deutlicher wurde diese Tendenz im
Haushaltsjahr 1942/43, als sich auch die deutsche Finanzpolitik auf einen
langwierigen Krieg umstellte: »Eine überschlägige Schätzung dürfte
ergeben«, so schrieb Bernhard Benning, der die Volkswirtschaftliche
Abteilung der Reichskreditgesellschaft leitete, »daß die im Jahre 1942
eingeführten zusätzlichen Abschöpfungsmaßnahmen bei den unterneh-
merischen Einkommen eine Höhe von 15-17 Milliarden RM erreichten
gegenüber nur l Milliarde RM zusätzlicher Stillegung bei den sonstigen
privaten Einkommen.« Die geringfügige Erhöhung der Einnahmen aus der
Masse der deutschen Werktätigen hatte eine zweite und letzte Erhöhung der
Tabak- und Alkoholsteuer bewirkt. Gleichzeitig war die Körperschaftsteuer
auf 50 Prozent gestiegen und die Einkommensteuer auf ausgeschüttete
Gewinne auf 65 Prozent. Die Hausbesitzer waren Ende 1942, bei absolutem
Mietstopp, zu einer einmaligen Abgabe von 7,75 Milliarden Reichsmark
herangezogen worden - zur »Hauszinssteuerablösung«. Damals erbrachten 13
Prozent der Steuerzahler 80 Prozent des gesamten Steueraufkommens.
Die Funktionäre der NSDAP, und allen voran Hitler, sorgten dafür, dass
die niedrigen und durchschnittlichen Einkommen bis zum 8. Mai 1945 von
jeder direkten Kriegssteuer verschont blieben und die indirekten Steuern
höchst moderat ausfielen. Natürlich plädierten die Fachleute für
breitenwirksame Steuererhöhungen, um die Staatsfinanzen zu konsolidieren
und den extremen Kaufkraftüberhang abzubauen - sie versuchten, seit dem
Frühjahr 1940 die Jahreseinkommen von 1800 Reichsmark aufwärts für die
Kriegssteuer zu erfassen. Aber schon im Juni 1940 bestand unter den
Experten »Übereinstimmung darüber, daß zur Zeit überhaupt keine Aussicht
sei, irgendwelche steuerlichen Dinge beim Generalfeldmarschall [Göring]
und dem Führer durchzubringen«. Im Frühjahr 1943 schlug der letzte
Versuch des Reichsfinanzministeriums fehl, die unteren Einkommens-
schichten mit einem generellen Lohnsteuerzuschlag von 25 Prozent zu
belasten. Göring lehnte das prinzipiell ab, Hitler wich der Entscheidung unter
Hinweis auf seine »Inanspruchnahme mit vordringlichen militärischen
Angelegenheiten« aus. Die für die Reichsfinanzen Verantwortlichen stellten
resigniert fest, offenbar könne man sich »hinsichtlich der unteren

164
Einkommensschichten, die gerade vom Abschöpfungsgesichtspunkt aus
besonders interessant wären, zu keinen energischen Maßnahmen
entschließen«.
Gedanklich war in diesem politischen Verhaltensmuster auch für die
spätere Rückzahlung der Kriegsschulden gesorgt. Der Finanzwissenschaftler
Hero Moeller wies auf den »Verkauf von hinzugewonnenen freigewordenen
Böden und sonstigem unentgeltlich anfallendem neuen Staatseigentum« hin,
der eine »beträchtliche Entlastung schaffen« könne. Sein Kollege Benning
sprach vom »Rückgriff auf ausländische Volkswirtschaften« und bezeichnete
die »bedeutenden Sachwertkomplexe, die durch die Besetzung feindlicher
Länder – insbesondere im ehemaligen Polen und in Rußland - in das
Eigentum des Reiches übergegangen« seien, als »zusätzliche
Tilgungsquellen«. Fritz Reinhardt, langjähriger NS-Staatssekretär im Reichs-
finanzministerium, dachte bereits an entsprechende Volksaktien. Die
Rüstungsausgaben seien nicht unproduktiv, ihnen sei vielmehr »das
gewaltige Sachvermögen gegenüberzustellen, das durch das deutsche
Schwert gewonnen« werde. Deshalb, so gab er 1942 zu Protokoll, sollte »ein
Teil des neuen Reichsbesitzes den Sparern zur Verfügung gestellt werden -
Beispiel: Anteile an Industriewerken oder Gruben im besetzten Ostraum.«
Auch das blieb pures Wunschdenken. Real jedoch wurden die laufenden
Einnahmen des Reiches schon im Zweiten Weltkrieg in erheblichem Umfang
mit dem Griff in fremde Kassen stabilisiert. Nur so nämlich ließ sich die
Deckungsquote von 50 Prozent im Kriegshaushalt erzielen. Diese Einkünfte
firmierten im Reichshaushalt unter »Sonstige Einnahmen« und erwiesen sich
als der »eigentlich dynamische Faktor« (Reinhardt) der deutschen
Kriegsfinanzierung. In dieser Position wurden (neben einigen anderen
Einnahmen) die Besatzungskosten versteckt, die das Deutsche Reich den
unterworfenen Ländern auferlegte. Prinzipiell hatte jedes Land 50 Prozent
seines letzten Friedenshaushaltes als so genannte Besatzungskosten
zusätzlich zu entrichten - eine ungeheure, von keinem wirklichen
Besatzungsaufwand gedeckte Quote. Der schon mehrfach erwähnte Benning,
der nach dem Krieg zum Bundesbankdirektorium gehörte, jubelte 1944: »Zu
den Steuereingängen kommen als in ihrer Bedeutung ständig erhöhter Posten
die sog. sonstigen Einnahmem. Sensationell war die kürzlich von Reinhardt
mitgeteilte neueste Ziffer von 26 Mrd. RM!« Tatsächlich beliefen sich die
Einnahmen aus der massiven geldwirtschaftlichen Ausplünderung fremder
Länder 1943 und 1944 nach den Berechnungen der Bank für Internationalen
Zahlungsausgleich in Basel auf 28,1 bzw. 39,6 Milliarden Reichsmark, damit
überstiegen sie in der zweiten Kriegshälfte die regulären inländischen
Steuereinnahmen des Reiches.

165
Nun muss nach aller finanzpolitischen Erfahrung jedes Land
währungspolitisch zusammenbrechen, dem zugemutet wird, seinen Haushalt
innerhalb kürzester Frist um fünfzig Prozent zu erhöhen, um damit die
angeblichen Besatzungskosten für eine fremde Macht zu bezahlen. Die
Deutschen hatten daran kein Interesse, weil eine unkontrollierte Inflation, wie
sie nur im besetzten Griechenland auftrat, die systematische Ausbeutung und
eine möglichst kooperative Besatzungsverwaltung sofort erschwert, wenn
nicht verunmöglicht. Die Besatzungsmacht sah sich also von Anfang an
gezwungen, die Währungen in den besetzten Ländern gleichzeitig zu
stabilisieren. Und diese Stabilisierung geschah überall, in höchst geheimer
und möglichst spurloser Weise nach demselben Prinzip: Sie bestand in der
Verstaatlichung und anschließenden Reprivatisierung des den Juden
genommenen Vermögens zugunsten der besetzten Länder Europas.
Zufällig sind die einschlägigen Akten für das kleine Gebiet des
Militärbefehlshabers Serbien erhalten. Zunächst sollten danach die Erträge
aus der Arisierung als Anzahlung auf eine spätere »Kriegsentschädigung«
Serbiens an den Aggressor Deutschland konfisziert werden. Das jedoch
korrigierte ein Erlass Görings vom 25. Juni 1942: Von nun an war »das
jüdische Vermögen in Serbien zu Gunsten Serbiens einzuziehen«. Die
Deutschen beabsichtigten mit dieser Maßnahme - und das war das
Entscheidende - »eine finanzielle Hilfe für den durch die Last der
Besatzungskosten ohnehin stark beanspruchten serbischen Staatshaushalt«.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Besatzungskosten monatlich etwa 500000
Dinar betragen. Das Gesamtvermögen der serbischen Juden belief sich auf
drei bis vier Millia rden Dinar. Zum Zeitpunkt der Berliner Entscheidung
reichte es also, um die Besatzungskosten für ein gutes halbes Jahr zu decken
oder dafür, über einen längeren Zeitraum den Inflationsdruck auf die
serbische Währung zu mindern.
Die griechischen Juden wurden während der Hochinflation in Griechenland
deportiert. Die deutschen Besatzungsgewaltigen versuchten damals, die
Drachme zu stabilisieren, und zwar mit gut zwölf Tonnen Gold, das sie den
deportierten Juden von Saloniki abpressten und raubten. Dafür wurden an der
Börse Drachmennoten gekauft, um so einerseits den Geldumlauf nicht zu
erhöhen, aber um gleichzeitig Bargeld in großen Mengen zu bekommen.
Damit wurden Sold und Verpflegung für die deutschen Soldaten bezahlt. Der
im Auswärtigen Amt für die »Judenfrage« zuständige Legationsrat Eberhard
von Thadden gab für seine mehrwöchigen Dienstreisen zur Vorbereitung der
Deportation nach Auschwitz den folgenden Reisezweck an: »Sonderauftrag
des Führers betr. Stabilisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse in
Griechenland«.

166
Ein Jahr später wandten die Deutschen in Ungarn, das sie am 19. März
1944 besetzt hatten, das gleiche Verfahren an. Wieder wurden die
Besatzungskosten mechanisch auf 50 Prozent des durch den Krieg ohnehin
schon aufgeblähten ungarischen Staatshaushaltes festgelegt. Demnach
wurden erst 200 Millionen, bald jedoch 300 Millionen Pengö monatlich auf
den Normaletat aufgeschlagen. Am 31. Mai vermerkte der für Ungarn
zuständige Beamte im Reichswirtschaftsministerium, Oberregierungsrat
Schomaker: »Die ungarische Judengesetzgebung ist inzwischen weiter
vervollständigt worden. Die ungarische Regierung rechnet damit, daß die
großen finanziellen Anstrengungen, die im Rahmen der gemeinsamen
Kriegsführung notwendig werden, weitgehend aus dem Judenvermögen
bestritten werden können. Die Vermögen sollen mindestens ein Drittel des
Nationalvermögens betragen.« Der für die Enteignung zuständige ungarische
Beamte teilte mit, »daß die beschlagnahmten Judenvermögen zur Deckung
der Kriegskosten und zur Wiedergutmachung der durch Bombenangriffe
verursachten Schäden verwendet werden«. Die Neue Zürcher Zeitung
beobachtete am 3. August 1944 in Budapest: »Bei der Arisierung jüdischer
Unternehmen ist der behördlich festgesetzte Kaufpreis sofort in bar zu
bezahlen, was zeigt, daß die Aktion wie seinerzeit in Deutschland eine
gewisse fiskalische Bedeutung (Erleichterung der Kriegsfinanzierung)
besitzt.«
Genauso funktionierte die Arisierung überall in Europa. Vordergründig
wurde sie als Hungarisierung, Hellenisierung, Tschechisierung, Polo-
nisierung oder Romanisierung betrieben. Die nationalen Administratoren und
die Millionen europäischer Käufer wurden zu Miträubern und Hehlern.
Jedoch flössen die Erträge aus dem Verkauften den nationalen
Finanzministerien zu und von dort - ganz bewusst und sehr verdeckt
organisiert - an die jeweiligen Wehrmachtsintendanten. Diese verwalteten die
Konten, auf denen die Besatzungskosten eingingen. Sie standen am Ende
eines perfekten Systems der Geldwäsche.
Wenn man sich klarmacht, dass deutsche Soldaten den Hauptteil ihres
Soldes in der Währung des Landes erhielten, in dem sie stationiert waren, um
den Inflationsdruck auf die Reichsmark zu mindern, wenn man sich zudem
vor Augen führt, dass Lazarettaufenthalte deutscher Verwundeter in Ungarn,
Polen oder in Böhmen in der jeweiligen Landeswährung bezahlt wurden,
ebenso die Lieferung von Abermillionen Tonnen Lebensmitteln, von
Dienstleistungen, Industrieprodukten und Rohstoffen an das Reich und an die
Wehrmacht, dann wird sichtbar, wo das Vermögen der ermordeten Juden
Europas letztlich geblieben ist. Es wurde zugunsten und zum Vorteil von
Millionen Deutschen verwertet. Ihnen mutete das Regime geringe
Kriegslasten zu und zahlte ihren Sold indirekt aus dem Verkauf des

167
Eigentums von Millionen enteigneter und zum großen Teil ermordeter
europäischer Juden. Diese Soldaten deckten sich mit dem Geld auf den
Schwarzmärkten Europas ein, kauften sich Zigaretten und schickten
Millionen Feldpostpäckchen in die Heimat. Der Päckchen- und Paketverkehr
in diese Richtung ist auf ausdrücklichen Wunsch Hitlers niemals beschränkt
worden.
Damit ist die Frage nach dem Klassencharakter des Nationalsozialismus
beantwortet. Wer die klassenbewusste Verteilung der Kriegslasten im
Deutschland des Zweiten Weltkriegs betrachtet, kommt zwingend zu dem
Ergebnis: Die NSDAP verstand sich als Sachwalterin der kleinen Leute, sah
sich dem Egalitarismus der Volksgemeinschaft verpflichtet, und vor jeder
Zwangsmaßnahme, etwa dem Zwangssparen, und vor jeder breiten-
wirksamen Steuererhöhung wich sie zurück. Hitler-Deutschland wurde im
Krieg zum Umverteilungsstaat par excellence. So erklärt sich die hohe innere
Stabilität, eine Stabilität allerdings, die - wie in jedem Umverteilungsstaat -
immer wieder neu erkauft werden musste. So entwickelte sich eine
volkstümliche Einheit von Wirtschafts-, Sozial- und Rassenpolitik. Nicht
wenige NS-Funktionäre sahen im Kriegskommunismus bereits einen Vorgriff
auf die Gesellschaftsordnung nach einem deutschen Siegfrieden. Daraus
bezog die Sozialutopie des Nationalen Sozialismus ihre politische
Schubkraft.
Dieser Einsicht zum Trotz wird in der Publizistik immer wieder die
grundverkehrte, weil in die verkehrte Richtung weisende Generalisierung
Max Horkheimers bemüht: »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will,
sollte vom Faschismus schweigen.« So hat sich die öffentliche Diskussion in
den vergangenen zehn Jahren anhand der Themen »Raubgold« und
»Zwangsarbeit« auf die noch existierenden deutschen (auch österreichischen
und schweizerischen) Banken und Industrieunternehmen regelrecht
eingeschossen.
Die Zielrichtung bleibt jedoch selbst dann falsch, wenn sie von den
betroffenen Unternehmen zur Vermeidung größerer Imageschäden schnell
akzeptiert wurde. Mit den Firmennamen Dresdner Bank, Allianz, Generali,
Daimler-Benz, Deutsche Bank, Krupp, LG.-Farben oder Thyssen lässt sich
der geschichtliche Hintergrund der so genannten Entjudung antikapitalistisch
verschleiern, aber nicht auch nur entfernt erklären. In den Fängen der am
kollektiven Raub nicht unbeteiligten Firmen blieb der weitaus kleinere Teil
des Erbeuteten. In der Masse wurde die Beute so breit wie nur möglich
umverteilt. Anders gesagt: Die Arisierung jüdischen Vermögens gehört in die
Kette der Eigentumsrevolutionen des 20. Jahrhunderts; der National-
sozialismus, einschließlich seiner ungeheuerlichen Verbrechen, steht im

168
größeren Zusammenhang der egalitären Bewegungen und Utopien im 20.
Jahrhundert.
Nur so lässt sich die explosive politische Dynamik der zwölf kurzen Jahre
zwischen 1933 und 1945 angemessen analysieren. Wenn man das tut, dann
ist das Ende einer Geschichtsschreibung erreicht, die das Jahrhundert be-
guem nach Gut und Böse sortiert.
Wer sich entschließt, die Ermordung der europäischen Juden als Teil einer
Politik zu begreifen, die ihre Kraft aus der Gleichheitsidee bezog, der wird
unweigerlich feststellen müssen, dass wir demselben Gleichheitsgedanken
viele Selbstverständlichkeiten unseres Lebens verdanken. Er bedeutete und
bedeutet für Millionen Europäer einen entscheidenden lebensgeschichtlichen
Fortschritt - einen Fortschritt, der eben auch mit den Mitteln des Krieges, des
Hasses und des Massenraubmords erreicht worden ist.
Wer von den vielen Vorteilen für die Millionen einfacher Deutscher nicht
reden will, der sollte vom Nationalsozialismus und vom Holocaust
schweigen.

169
Biobibliographische Anmerkung

Die meisten Artikel des Bandes entstanden aus tagesaktuellen Anlässen für
die Berliner Zeitung, der ich knapp fünf Jahre als Redakteur angehörte. Die
direkten oder auch indirekten Anregungen gingen vielfach von meinen
Kolleginnen und Kollegen aus. Ihnen gilt mein wehmütiger Dank. Nicht
minder wirkten die Abonnenten der einstigen SED-Bezirkszeitung auf den
Charakter und die Zielrichtung der Text e ein, speziell derjenigen Leser, die
sich am Telefon nicht erst als »langjährige« vorzustellen brauchten.
Sie gingen (und gehen in ihrer Mehrheit wohl immer noch) davon aus, dass
die Begriffe Rasse und Klasse in einem geradewegs natürlichen Gegensatz
stünden. Man muss, um das zu bestreiten, nicht die Karrieren eines Benito
Mussolini oder Horst Mahler bemühen, die sich von Linkssozialisten zu
Rechtsradikalen wandelten und - aufs 20. Jahrhundert gesehen - keinesfalls
exzeptionell sind. Vielmehr genügt der Blick auf die Erfolge, die
rechtspopulistische Parteien überall in Europa in jenen Regionen und
Quartieren erzielen, in denen zuvor Sozialisten über breite Mehrheiten
verfügten. Seit 1989 durchleben die Menschen im gesamten ehemaligen
Ostblock eine mehr oder weniger scharfe Transformationskrise. Von
Brandenburg bis Serbien wird dabei deutlich, wie unkompliziert sich der
bösartigste Nationalismus mit den Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit
verbindet, wie leicht die Vorstellungen von völkischer und sozialer
Homogenität ineinander fließen.
Diese Mixtur bewirkte 1933, verbunden mit einer intakten Bürokratie und
mit einer hochmotivierten Intelligenz, den Erfolg der in einer Krisenepoche
entwickelten politischen Strategie des Nationals ozialismus. Die spezielle
Mischung aus Revolution und Beharrung, aus Volk, Mob und Elite erhebt
den Nationalsozialismus über jede gleichsetzende Reduktion von Rot und
Braun. Es waren die ungeheure geschichtliche Beschleunigung und das
Gefühl, während eines revolutionären Umbruchs auf der Seite der Sieger zu
stehen, die den Befürwortern, Mitläufern und denen, die es vorziehen,
möglichst günstig durchs Leben zu kommen, buchstäblich die Sinne raubten.
Im Gegensatz zu den kommunistischen Regimen blieb Hitler-Deutschland
eine jederzeit mehrheitsfähige Zustimmungsdiktatur. Sie bot der übergroßen
Mehrheit der Deutschen Zukunft und sozialen Aufstieg und überbot den
Sowjetkommunismus in seinem mörderischen Schrecken eindeutig. Hitler
stand für die Einheit von Wirtschafts -, Sozial- und Rassenpolitik, für die
nationalsoziale Marktwirtschaft. Sie begründete das Geheimnis seines
Erfolges.

170
Gegen solche Einsichten wehrten sich meine Leser vehement; so spornten
sie mich an. Den Typus des linkskonform in sich ruhenden Rechthabers
kannte ich schon in seiner westlich verweichtlichten Variante aus meinen
Jahren bei der taz. Die Berliner Zeitung indes ließ mich auf den vom
Wohlstand weniger verformten Phänotypus des treudeutschen Linkshabers
treffen. Er weiß Bescheid; weiß, was er als gut oder böse, faschistisch oder
antifaschistisch wertet; er steht regelmäßig auf der richtigen, weil besseren
Seite der Politik; er interessiert sich für Geschichte, weil er sie als Spiegelsaal
seiner Überzeugungen versteht. Wer sich jedoch den Einze lheiten, den
angeblichen Randerscheinungen des Vergangenen aussetzt, gerät in einen
menschlichen Irrgarten, der die eigenen Gewissheiten ständig gefährdet.
Geschichte erfordert Demut und hält nur die eine Lehre bereit: Niemand steht
auf der sicheren Seite.

Verdrängte Geschichte : Die Quellen der deutschen Rumänienpolitik finden


sich im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts. Von den älteren
Gesamtdarstellungen sind zu nennen: Simon Bernstein, Die Judenpolitik der
rumänischen Regierung, Kopenhagen 1918; Binjamin Segel, Rumänien und
seine Juden, Berlin 1918.

Wohltaten europäischer Gesittung: Der Text entstand zufällig, weil ich im


Bildarchiv des Berliner Verlags auf drei zeitgenössische Postkarten stieß, die
Prinz Wilhelm zu Wied als designierten Fürsten von Albanien zeigen. Sie
bedurften der Erklärung, die sich in der kompakten Überlieferung im
Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes fand. (Erschienen in der Berliner
Zeitung vom 7.4.2001)

Dafür wird die Welt büßen: Zusammenfassung eines leider immer wieder
unterbrochenen Projekts, die Geschichte der nationalen Homogenisierung,
der Entdifferenzierung und Selbstzerstörung Europas zu erzählen.
(Habilitationsvortrag; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. 5.1995)

Den Tod nicht fürchten: Der Artikel entstand aus dem zufälligen
Zusammentreffen des 11. September 2001 und der anschließenden Jagd auf
Osama Bin Laden mit Vorlesungsvorbereitungen an der Universität Wien
über jene politischen Konstellationen in Deutschland und Europa, die von
1918 an den Mord an den europäischen Juden begünstigten. Dazu gehörte die
Ausarbeitung einer Doppelstunde zur Überhöhung des Fronterlebnisses, des
kriegerischen Opfers und zum gefühlskalten, blutgesättigten »heroischen

171
Realismus« anhand der Schriften von Ernst Jünger. (Berliner Zeitung vom
20.11. 2001)

Für ein modernes Afghanistan: Die wichtigsten Quellen für den Text
finden sich im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes. Besonderer Dank
gilt Herrn Dr. Peter Balke, der mir den Nachlass seines Vaters zugänglich
machte. (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. 3. 2002)

Handfeste Brauchbarkeit: Leitartikel, geschrieben aus Anlass der Abschaf-


fung des Rabattgesetzes. Es wäre schön, wenn sich unter den jungen
Historikerinnen und Historikern jemand fände, der das Wirken von Elmar
Michel in Frankreich genauer untersuchen würde. Die Arbeiten von Ulrich
Herbert und Eberhard Jäckel berücksichtigen die wirtschaftspolitische Seite
der deutschen Besatzungsverwaltung in Frankreich so gut wie nicht. (Berliner
Zeitung vom 25. 7. 2001)

Sehr verdünnt: Eilrezension, die wenige Tage nach der Auslieferung des
geheimnisvollen Buches erschien - auf besonderen Wunsch von Stephan
Speicher, dem Feuilleton-Leiter der Berliner Zeitung, und zur Ermahnung
des schnell aufgestiegenen, verantwortlichen Verlegers Alexander Fest.
(Berliner Zeitung vom 9.10. 2001)

Nationaler Sozialismus: Der Text basiert auf einer Rezension des zweiten
Bandes von lan Kershaws Hitler, auf der Lektüre der Erinnerungen der
Hitler-Sekretärin Traudel Junge (Im toten Winkel) und auf den gelegentlich
einer Radtour im einstigen Ostpreußen gewonnenen Eindrücken von Hitlers
Feldquartier »Wolfsschanze« in der Nähe von Rastenburg. (Berliner Zeitung
vom 5. 9. 2000)

Merke er sich das, Fähnleinführer! Beitrag anlässlich der endgültigen und


kompromisslosen Zurückweisung der Restitutionsansprüche von Franz zu
Putbus. Dem Gericht wurde die Ablehnung sehr erleichtert durch ein
quellenschwaches Gutachten der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in
Berlin, verfasst von Dr. Johannes Tuchel, das nur besagt: Malte zu Putbus
wird kein Widerständler gewesen sein, weil die Gedenkstätte ihn nicht als
solchen kanonisiert hat. Abgesehen von dieser windigen Argumentation
kommt es juristisch allerdings nicht auf den Begriff »Widerstand« an,
sondern auf den Begriff »Opfer«. Um die Opfereigenschaft zu bejahen,
würden allein die Tatsachen der Verhaftung, der Nichtentlassung bei der

172
Räumung der pommerschen Gefängnisse, die Überstellung und der Tod im
KZ Sachsenhausen genügen. (Wochenendmagazin der Be rliner Zeitung vom
6. 6.1998)

Unsere gesellschaftlichen Verhältnisse: Der Text verbindet zwei Berichte


in der Berliner Zeitung vom 27.1. und 4.5. 2000 zu den heftigen Auseinan-
dersetzungen in Jena um Jussuf Ibrahim. Eine der Überschriften lautete:
»Menschenfreund und Mordgehilfe. Das Schäferhundemilieu der PDS hält an
ihm fest, aber Jena verabschiedet sich von Jussuf Ibrahim«.

Die Fahrt ins Blaue: Erstveröffentlichung in Totgeschwiegen 1933-1945.


Zur Geschichte der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik (Berlin 1989). In Berlin
werden seit einigen Jahren kleine Stolpersteine ins Straßenpflaster
eingelassen, die an die einzelnen NS-Opfer erinnern. Wie wäre es, wenn man
auch an die in die Gaskammern deportierten Patienten erinnerte? Die
Todeslisten sind erhalten.

Zur Schonung des Steuerzahlers: Betrachtung zum 60. Jahrestag des


Krieges gegen die Sowjetunion, die allerdings nicht erst zu diesem Zeitpunkt
in den Zweiten Weltkrieg gerissen wurde, sondern bereits am 17. September
1939 auf deutscher Seite und aus freien Stücken in diesen Krieg eingetreten
war, als die Rote Armee in Ostpolen einmarschierte. (Berliner Zeitung vom
22. 6. 2001)

Insbesondere Leningrad muß verhungern: Rezensionsauftrag der


Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Januar 2002, erteilt von Thomas
Schmidt und Volker Zastrow. Der schnell gelieferte Text wurde nicht
gedruckt, da er, so Zastrow drei Wochen später, »ein Kotau vor Reemts-ma«
sei und »nicht dem Profil der Zeitung« entspreche. Ich vermute, dass die
vielen, in dem Artikel genannten Wehrmachtsverbrechen nicht »ins Profil der
Zeitung« passten, zum Beispiel dieses: »Wegen Nichtbefolgens des
Evakuierungsbefehls wurden 105 Zivilisten erschossen. An Vieh, das nicht
mitgeführt werden konnte, wurden 320 Kühe, 4 Pferde, 20 Schafe, 5 Ziegen
und 12 Schweine abgeschossen.«

Im Dienste des Volkes: Besprechung einer Ausstellung. Es wäre schön,


wenn Berlin eine eigene Ausstellung zum Thema »Arisierungen« zustande
brächte. In dieser Stadt lebte ein Drittel der deutschen Juden. (Berliner
Zeitung vom 27. 6. 2000)

173
Klassenversöhnung unterm Galgen: Beitrag für das Buch Tod eines
Pianisten. Karlrobert Kreiten und der Fall Werner Höfer, hg. von Friedrich
Lambart, Berlin 1988.

Ein Arbeitsunfall: Der Fall Hirschheydt war mir seit der Edition des
Tagebuchs von Hermann Voss bekannt. Mein Text basiert auf einer Akte um
die Rentenbewilligung für die Witwe Pauline von Hirschheydt. Ich habe sie
1995 zufällig bei den Recherchen zu Werner Conzes Tätigkeit an der
Reichsuniversität Posen gefunden. Hinzu kamen die Briefe Hirschheydts,
seiner Witwe und seines Chefs Voss an die Anthropologische Abteilung des
Naturhistorischen Museums in Wien. Die Kustodinnen Margit Berner und
Maria Teschler-Nicola, die mir dort die Dokumente zeigten, führten
jahrelang eine stille, schließlich erfolgreiche Auseinandersetzung um die
Rückführung und Bestattung der Skelettreste von Opfern der NS-Herrschaft,
die ein halbes Jahrhundert und mit aller Selbstverständlichkeit in der
Sammlung des Museums ihren Platz hatten.

Planungssicherheit für den Holocaust: Rezension des Aufsatzes von


Christian Gerlach für die Berliner Zeitung vom 12.12. 1997. Gerlachs Arbeit
und meine Rezension sind noch stark von der Vorstellung geleitet, es habe
eine endgültige Entscheidung zur Ermordung der europäischen Juden
gegeben. Erst mit der Untersuchung über die Deportation und Ermordung der
ungarischen Juden 1944 ist es uns beiden gelungen, diese Sichtweise zu
relativieren. Tatsächlich mussten die Deutschen das Programm zur
Vernichtung der Juden in jedem besetzten oder verbündeten Land bis zum
Kriegsende politisch neu implementieren - das gelang ihnen längst nicht
überall. (Christian Gerlach/Götz Aly, Das letzte Kapitel. Realpolitik,
Ideologie und der Mord an den ungarischen Juden. Stuttgart, München 2002)

Eichmanns geregelte Behördenarbeit: Rezension der so genannten Eich-


mann-Memoiren, die das israelische Staatsarchiv nach einigem Hin und Her
freigegeben hatte. (Berliner Zeitung vom 6. 3. 2000)

Tadellose Luftschutzgemeinschaft: Die historischen Collagen von Walter


Kempowski werden von Geschichtswissenschaftlern zu Unrecht missachtet.
Sie widmen sich der schwierigen, in der methodischen Durchführung immer
riskanten Frage nach der Mentalität: Wie haben die Leute damals gefühlt?
Was dachten sie? Welche Geschehnisse standen für sie im Vordergrund?

174
Was konnten sie wissen? Was wollten sie wissen? Was verdrängten sie?
Warum? Kempowski synchronisiert unterschiedliche Betrachtungsweisen,
und er macht deutlich, wie sehr eine urteilsgerechte Annäherung an die
geistige Verfassung einer Zeit nach einer multiperspektivischen Methode
verlangt, die frei genug bleibt, Richtung und Ausschnitt der Betrachtung
ständig zu wechseln. (Berliner Zeitung vom 23.10. 1999)

In reinen Arbeitergegenden: Rezension für die mittlerweile eingestellten


Berliner Seiten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6.4. 2002.

Ehrenbürger Bersarin: Artikel zu Ehren des ersten alliierten Stadtkom-


mandanten von (Gesamt -)Berlin in der Berliner Zeitung vom 8. 5. 2000. Der
Text gehört neben den einschlägigen Arbeiten von Jens Bisky und Peter Jahn
zu den Grundlagenschriften des Bersarin -Aktivs, dessen Mitglieder - darunter
der Autor - sich für die Errichtung eines Denkmals einsetzen. (Allerdings
nicht mit jenem linken Hang zum Dauerkampf, der vergisst, dass die gute
Sache angesichts begrenzter Lebenszeit nur so gut ist, wie sie gut gelaunt
durchgesetzt werden kann.)

Was, bitte, ist ein Sudetendeutscher? Anmerkungen zu den regelmäßigen


Pfingsttreffen der Vertriebenenlandsmannschaften. (Berliner Zeitung vom
10.6. 2000)

Einmal für alle Zeiten Schluß machen: Erinnerung aus gegebenem Anlass
während des Bombenkrieges der Nato gegen Serbien. Am Erscheinungstag
sagte mir eine stille, in der DDR aufgewachsene Sekretärin: »Genauso muss
das gewesen sein, genauso haben es mir meine Eltern erzählt.« In einer
Studie, an der ich derzeit arbeite, wird eine andere Seite der donauschwä-
bischen Lebenswirklichkeit gezeigt werden: der besondere Ehrgeiz dieser
Volksgruppe, sich 1941/42 am Vermögen ihrer jüdischen Nachbarn zu
bereichern. (Berliner Zeitung vom 6.5.1999)

Wohin mit der Beute? Der Text reagiert auf den in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung vom 11.12. 2000 lancierten Versuch, die wie durch ein
Wunder vollständige Überlieferung des Staatsarchivs Königsberg zu
zerstückeln. Die Bestände des Geheimen Preußischen Staatsarchivs in Berlin-
Dahlem sind erst seit kurzer Zeit für die Freunde preußischer Geschichte
öffentlich zugänglich verzeichnet: Jürgen Klosterhuis (Hg.), Archivarbeit für

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Preußen, Berlin (Selbstverlag des Geheimen Staatsarchivs) 2000. (Berliner
Zeitung vom 19.12. 2000)

Kritisch, optimistisch und verlogen: Nach dem Erscheinen des Artikels in


der Berliner Zeitung vom 26. 2. 2000 belagerte Karl-Heinz Gerstner tagelang
die Chefredaktion und setzte einen »besonderen Leserbrief« durch. Er findet
sich in der Ausgabe vom 11.3. 2000. Die wichtigste Stütze meiner Recherche
bildete übrigens die »Braunbuchkartei«. Sie wurde zu Beginn der 1960er
Jahre von 300 antifaschistischen DDR-Rentnern als Na menskartei für die
greifbaren originalen und die verfilmten NS-Archivalien geschaffen, um die
Altnazis in Führungspositionen der Bundesrepublik ausfindig zu machen und
- als Nebeneffekt - um DDR-Funktionäre mit ähnlicher Vergangenheit
anpassungswütiger zu stimmen.

Von den tragenden Volkskräften isoliert: Vortrag in der Humboldt Univer-


sität Berlin aus Anlass der Gedenkfeier zum 100. Geburtstag von Rudolf
Schottlaender. (Jahrbuch für Universitätsgeschichte 6/2003, Berlin)

Hitlers Volksstaat: Vortrag in der Akademie der Künste zu Berlin am 3.


Mai 2002. (Süddeutsche Zeitung vom 10.5.2000)

S & L Zentaur 03· 08· 12

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