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Roman
SchirmerGraf
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Roman
SchirmerGraf Verlag
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SchirmerGraf Verlag
München
Von Olivier Adam liegt bei SchirmerGraf außerdem vor:
Am Ende des Winters. Erzählungen (2004)
Leichtgewicht. Roman (2005)
Keine Sorge, mir geht’s gut. Roman (2007)
ISBN 978-3-86555-051-4
© Éditions de l’Olivier/Le Seuil, 2005
© der deutschsprachigen Ausgabe:
SchirmerGraf Verlag, München 2008
Umschlagmotiv: Elger Esser, La Manne-Porte (2002)
Gesetzt aus der Berthold Caslon
Satz: Uwe Steffen, München
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in Germany
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Für Karine
»Das ist meine Jugend, und ich habe keine
andere.«
Henri Calet
I Im Sand 9
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Von den Jahren vor dem Tod meiner Mutter ist mir
nur eine Flut verschwommener Bilder geblieben,
die größtenteils nach Regen und feuchter Erde rie
chen und mich zu dem Haus zurückführen, in dem
wir vier wohnten, in dieser trostlosen, gesichtslosen,
wenige Kilometer von Paris zwischen der Seine und
dem Wald gelegenen Stadt ohne Mitte noch Rand.
Ein Haus, dicht an dicht mit anderen, gleich aus
sehenden Häusern, die gleichen orangefarbenen
Ziegeldächer, die gleichen Natursteinmauern, die
gleichen Garagen aus unverputzten Hohlblockstei
nen, vor denen identische Autos parkten. Ich lebte
bis zu meinem siebzehnten Lebensjahr dort, und
wenn ich daran zurückdenke, fallen mir immer als
Erstes die regennassen Straßen im November ein
und gleich darauf der Geruch nach Rauch, feuch
tem Gras und matschigem Laub, das Dröhnen der
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dass sie nicht oder kaum atmete, dass sie sich quälte
und man ihr unsanft Oberkörper und Bauch mas
sierte, dass ungeduldige Hände sich auf ihre runz
lige, noch verschmierte Haut drückten, ich weiß
noch, wie ich dachte: »Nein, das dürft ihr nicht, das
dürft ihr ihr nicht antun.« Dieser Gedanke war wie
ein kopfloses Gebet. Ein Gebet für Claire, nicht für
mich oder Chloé. Noch heute frage ich mich, wie
dieses Flehen gemeint war und wem es eigentlich
galt.
Chloé grummelt leise, dreht den Kopf von links
nach rechts und dämmert wieder weg. Ich glaube,
die Tatsache, dass wir sie bei der Geburt fast ver
loren hätten, hat mein Verhältnis zu ihr entschei
dend geprägt, und deshalb ertrage ich es nicht, sie
leiden oder einfach nur traurig oder unzufrieden
zu sehen. Bestimmt spielt meine eigene Lebens
geschichte mit hinein. Bestimmt. Leise schließe ich
das Fenster. Unter dem Balkon küsst sich ein Pär
chen. Der Mann blickt kurz auf, und als er mich
bemerkt, zwinkert er mir belustigt zu. Ich schlüpfe
wieder unter die Decke, und die kalte Luft beißt
mir ins Gesicht. Am Strand schließen die letzten
Restaurants, die Leuchtreklamen erlöschen. Was
bleibt, ist das Meer, das Klatschen der Wellen, der
dunkle Himmel.
Ich war elf, aber wenn ich an die Beerdigung, an
das Wenige, was mir davon im Gedächtnis ge
blieben ist, zurückdenke, kommt es mir vor, als
wäre ich sechs oder sieben gewesen. Ich erinnere
mich an das Fehlen jeglicher Verstörung, jeglichen
Schmerzes, an eine unglaubliche Verständnislosig
keit. Als spielte sich vor meinen Augen ein selt
sames Spektakel, ein absurdes Theater ab, an dem
sich neben meinem Vater auch Onkel und Tan
ten, die ich seitdem nicht wiedergesehen habe,
und mein Bruder, kerzengerade, mit weit aufge
rissenen Augen und stumm, beteiligten. Ich habe
nie daran geglaubt, dass sich in dem länglichen
Sarg aus lackiertem Holz je der verrenkte Körper
meiner Mutter befunden hat. Ich glaube es auch
heute nicht. Wenn ich an die sechs Fuß in die Erde
hinabgesenkte rechteckige Kiste denke, höre ich
klar und deutlich das trockene, dumpfe Geräusch
der Schaufeln voll Sand, unter dem man sie ver
schwinden ließ, aber ich bin nach wie vor davon
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vielleicht auch tot war, dass das Leben aus ihm ge
wichen war und nur die schlaffe Hülle seiner Haut
zurückgelassen hatte. In diesem Moment hatte ich
meine erste Erscheinung. Ich spürte jemanden in
meinem Rücken, eine Hand auf meiner Schulter.
Ich drehte mich um und sah das Gesicht meiner
Mutter, eine tausendstel Sekunde lang sah ich das
Gesicht meiner Mutter, ich schwöre es, und sie
lächelte. Schon war sie wieder verschwunden. Ich
fing an zu weinen. Erst da hat es angefangen, erst
in diesem Moment. Ich weinte lange. Bis mir die
Augen brannten, bis mir schwindlig wurde und ich
erschöpft war. Ich lag auf dem Bauch, meine Zähne
bissen in die Bettdecke und das Kopfkissen. Mein
Mund hinterließ darauf speichelfeuchte Kreise,
Abdrücke eines regelmäßigen Gebisses.
Später am Abend machte ich mich daran, die
Schränke und Schubladen meiner Mutter leerzu
räumen. Ich holte Kleider, Röcke, Blusen heraus.
Wasser lief mir über die Wangen, und ich schluckte
literweise Rotz. Die Kleidungsstücke türmten sich,
eine Pyramide ohne Gruft, lächerlich und ergrei
fend. Mit einer großen Schneiderschere zerschnitt
ich alles. Ich tat es ruhig, mit Hingabe und holte tief
Luft, um wieder zu Atem zu kommen. In den Kof
fern häuften sich bunt gemischte Stofffetzen, Gir
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Als wir Nicolas das letzte Mal sahen, war sein Kopf
kahlgeschoren. Sein Vater hatte ihm mit dem Ge
wehrkolben eins übergezogen. Es war nicht das
erste Mal. Seine Mutter hatte die Wunde versorgt
und genäht. Er trug einen Verband direkt über der
Stirn. Er erzählte uns alles frei heraus, ohne er
kennbare Schmerzen und ganz ruhig, als wäre der
Vorfall nicht weiter von Bedeutung. Wir gingen zu
ihm, und er war noch stiller als sonst. Noch stil
ler und unergründlicher. Antoine warf ihm be
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die Kais sah, auf denen die Ware gelöscht oder auf
geladen werden musste. Er machte dort ein paar
Einkäufe, trank manchmal in einer Bar ein Glas
Wein, und schon musste er wieder los. In der übri
gen Zeit arbeitete oder schlief er, das war alles. Es
war ein körperliches, ein abstumpfendes Leben,
ein Rausch aus Wind und Müdigkeit, aus schlaf
losen Nächten und anderen voll bleiernem Schlaf,
Zigaretten, Kartenspielen und Alkohol, und dem
war nichts hinzuzufügen. »Und du? Wie geht’s dir
so?« Er fragte nicht nach unserem Vater, und das
war auch besser.
Im Grunde hatten mein Bruder und ich uns nie
unterhalten. Wir hatten nie ein Gespräch geführt.
Wir hatten uns nichts zu erzählen, nichts zu be
weisen, wir liebten uns zutiefst, das war alles. Wir
hätten uns damals einfach nur in den Arm neh
men sollen, aber wir trauten uns nicht. Bevor er
ging, sagte er nur mit zusammengepressten Zäh
nen und ins Ungefähre gerichtetem Blick, dass ihn
die Stimme meines Vaters überallhin verfolgte,
egal, wohin er ging, dass sie ihn überall heimsuchte
und ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ, und
selbst wenn er Tausende von Kilometern zurück
legen oder völlig verschwinden würde, würden
ihn die eisige, aufgebrachte Stimme unseres Vaters,
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habe nur sehr wenige Fotos von ihm. Eins beim Mi
litärdienst, eine Zigarette im Mund und die Wange
am Sturmgewehr, ein anderes als Zehnjähriger
im Unterricht, akkurater Linksscheitel, gebügeltes
Karohemd, das kaum unter dem Schulkittel her
vorschaut, den Umständen entsprechendes an
gestrengtes Lächeln, und das ist so ungefähr alles.
Dann gibt es noch Abzüge, auf denen meine Mut
ter zu sehen ist, und zwar vor Antoines Geburt.
Mamans Haarfarbe wechselt darauf ebenso häufig
wie ihre Kleider. Mein Vater ist nur selten zu sehen,
meist posiert er mit dünnem Lächeln, manchmal
macht er Faxen und wirkt dabei entspannt und
sympathisch. Auf mehreren Fotos legt er meiner
Mutter beim Spaziergang den Arm um die Taille
oder küsst sie, oder beide lachen schallend, er nur
mit Shorts bekleidet, sie im Badeanzug, mit einem
Tuch im Haar am Steuer eines Citroen DS oder
im Liegestuhl auf der Terrasse eines Ferienhauses
im Département Lot oder Pyrénées. Diese Fotos
sind Beweise. Ich habe nichts anderes, auf das ich
mich stützen kann. Diese Fotos sind die einzigen
Zeugnisse der möglichen Zärtlichkeit meines Va
ters, seiner Warmherzigkeit, seiner Liebe, ja, seiner
Menschlichkeit.
III
Unter freiem Himmel
Ich bin aus dem Zimmer gegangen und habe Claire
und Chloé ihrem engelhaften Schlaf überlassen.
Die Nacht neigt sich langsam dem Ende zu. Die
Promenade ist menschenleer, von einem eisigen
Wind überfroren. Ich begegne Schatten, wind
gepeitschten Gestalten, unsichtbaren Gesichtern.
Ich komme an Hotels mit dunklen Fenstern, an Bars
mit aufgeräumten Tischen vorbei. Ich höre Kinder-
weinen, und mein Herz zieht sich zusammen.
Am Ende des Zementstreifens fuhrt eine Treppe
in die Nacht, und mit jedem Schritt sehe ich ein
bisschen weniger. Rechts zuckt das Meer wie ein
Muskel, es hat sich meterweit von den Klippen
zurückgezogen und dunklen Sand und graue Kiesel
freigelegt, es erfüllt die Luft und scheint die ganze
Welt auszumachen. Ich folge den Schritten meiner
Mutter, wie sie in tiefer Finsternis, meine Lungen
füllen sich mit Wind und dem rauen Duft des Was
sers. Ich wandle auf ihren Spuren, mein Gedächt
nis ist wie der Himmel, über den anthrazitfarbene
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ist hinter mir, ich drehe mich um, aber da ist nie
mand, nur der Schleier, den eine Abwesenheit, ein
sich zurückziehender Schatten hinterlassen. Wie
das Loch, das meine Mutter in meinem Bauch, wie
das, das meine Kindheit zurückgelassen hat. Ein
Abdruck, ein Spalt, kaum mehr, sodass man nicht
glauben mag, dass da überhaupt etwas ist.
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auf, als der Zug bremste, und wir mussten auf dem
verlassenen Bahnsteig auf einer Bank unter dem
pf laumenblauen Dach warten, während es nie
selte und meine Tochter an Claires Brust nuckelte.
Die beiden versteckten sich hinter der blassblauen
Decke, und aus den Lautsprechern quoll ein Lied
von Joe Dassin, ich glaube Salut les amoureux.
Das Mammouth-Schild war durch den roten
Namenszug der Marke Auchan ersetzt, der Park
platz größer geworden, die Hochhäuser waren
frisch gestrichen, und zu ihren Füßen hatte man
zwischen zwei Reihen mit Tags besprühter Autos
ein Gebäude errichtet, in dem ein Nachbarschafts-
haus untergebracht war, das an ein eingezäuntes
Betonviereck mit Basketballkörben auf beiden Sei
ten grenzte. Chloé fest an den Bauch gepresst, die
Nase in ihrem dünnen Haar, sodass ich ihren Ge
ruch nach Schlaf, Seife und ranziger Milch roch,
ging ich durch Straßen, durch die ich so viele Jahre
nicht mehr gegangen war, sie waren unverändert,
wie eingefroren, und nur die Automarken, die Mo
delle und die Lackfarbe waren mit der Zeit gegan
gen. Die Gegend machte nichts her, aber eigentlich
war das schon immer so gewesen.
Das schmale Haus stand mitten im neu ange
legten Garten. Die Flächen, wo früher hohe Gräser
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tot und begraben sei und sie ihn bis zum Schluss im
Krankenhaus besucht habe. Mit einem Seitenblick
auf mich fügte sie hinzu, sie frage sich, wie Kinder
so beschäftigt sein könnten, dass sie darüber ihren
Vater vergaßen, vor allem, wenn er allein lebe, und
nicht einmal mitkriegten, dass der Krebs ihn auffraß
und schließlich ins Grab brachte. Sie redete weiter
über ihn, wie dünn er zum Ende hin geworden sei,
wie er die Pfleger und Ärzte mit den Vornamen sei
ner beiden Kinder, Antoine und Olivier, angespro
chen habe, wie er eine gertenschlanke, hellblonde
Krankenschwester mein Schatz genannt habe, weil
er sie für seine Frau hielt und sie ihr tatsächlich
ähnlich sah. Sie erzählte vom Essen, das sie in all
der Zeit für ihn gekocht habe, nachdem ihn auch
das zweite Kind verlassen hatte – sie tat so, als sei
ich nicht da, als sei nicht ich das Kind, um das es
ging, sie sprach in der dritten Person über mich,
obwohl wir uns gegenüberstanden –, sie habe ein
mal die Woche bei ihm aufgeräumt und geputzt,
der arme Mann sei ja so allein gewesen, und dabei
sei er so nett, gesprächig und witzig gewesen, er
habe nie die Stimme erhoben, nie ein böses Wort
gesagt, sei immer sehr höflich und kein bisschen
wehleidig gewesen, selbst als der Krebs ihm so zu
gesetzt, ihm die Haare und den Verstand geraubt
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