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Eisenhorn: Malleus
Roman
AUF BEFEHL SEINER HEILIGSTEN MAJESTÄT DES
GOTT-IMPERATORS VON TERRA
BESCHLAGNAHMTE DOSSIERS DER INQUISITION NUR
FÜR BEFUGTES PERSONAL
AKTE 442:41 F:JL3:Kbu
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Wird verifiziert
Im oberirdischen Teil der Kapelle war alles still und kalt. Der
Feuerschein der Dunkelnacht glimmte durch die Reihen der
Buntglasfenster.
»Du kannst nicht entkommen, Sadia!«, rief ich, aber meine
Stimme klang dünn und heiser.
Ich erblickte sie, als sie zwischen die Säulen links von mir
huschte. Ein Schatten im Schatten.
»Sadia! Sadia, alte Vettel, du hast mich getötet! Aber du wirst
durch meine Hand sterben!«
Jetzt zu meiner Rechten, noch ein huschender Schatten, halb
sichtbar. Ich bewegte mich in die Richtung.
Von hinten traf mich ein Stich zwischen die Schulterblätter. Im
Fallen drehte ich mich um und sah das irre Gesicht von Beldames
Erz-Vergifter Pye. Er gackerte und kicherte und plusterte sich vor
mir auf, eine leere Injektionsspritze in jeder Hand.
»Tot! Tot, tot, tot, tot, tot!«, trällerte er.
Er hatte mir die zweite Komponente des Gifts gespritzt.
Ich fiel zu Boden, da sich meine Muskeln bereits verkrampften.
»Was ist das für ein Gefühl, Inquisitor?«, gluckste Pye, indem er
sich mir hüpfend näherte.
»Der Imperator verfluche dich«, keuchte ich und schoss ihm ins
Gesicht.
Ich verlor das Bewusstsein.
Als ich wieder zu mir kam, hatte Beidame Sadia mich bei der
Kehle gepackt und schüttelte mich mit ihren augmetischen
Beißzangen.
»Ich will, dass du wach bist!«, zischte sie, während ihr Schleier
zurückfiel und sich die Giftbeutel in ihren runzligen Wangen
wölbten. »Ich will, dass du wach bist, damit du das hier spürst!«
Ihr Kopf explodierte in einem Regen aus Knochensplittern und
Gewebe. Das Spinnenchassis verfiel in Krämpfe und schleuderte
mich durch die Kapelle. Es zuckte und tanzte eine ganze Minute
weiter, während ihr Leichnam schlaff darauf herumruckte, bevor es
schließlich zusammenbrach.
Ich lag bäuchlings auf dem Boden und versuchte mich
umzudrehen, aber die Wirkung des Gifts war schon zu stark und
setzte mir zu.
Setzte mir gewaltig zu.
Massige Füße schritten in mein Blickfeld. Gepanzerte Füße, mit
Keramit gerüstet.
Ich wälzte mich mühsam herum und schaute hoch.
Hexenjäger Tantalid stand vor mir und halfterte das Boltgewehr,
mit dem er Beidame Sadia getötet hatte. Er steckte in einer
vergoldeten Schlachtrüstung, und die Banner des Ministorums
hingen über der Rückenplatte.
»Sie sind ein verfluchter Ketzer, Eisenhorn. Und ich beanspruche
Ihr Leben.«
Nicht Tantalid, dachte ich, während sich mein Bewusstsein erneut
verflüchtigte. Nicht Tantalid. Nicht jetzt.
ZWEI
Etwas so Typisches für Betancore. Meine Gefallenen. Der
Ruf.
»Schick sie zu mir«, sagte ich zu Bequin, während ich halb tot in
meinem Bett lag und mich schrecklich fühlte.
Medea Betancore schaute ein paar Minuten später herein. Wie ihr
Vater Midas trug sie den rot gestreiften schwarzen Anzug eines
glavianischen Piloten und voller Stolz seine alte ebenfalls rote,
bestickte Jacke.
Ihre Haut war wie die aller Glavianer dunkel. Sie grinste mich an.
»Ich bin dir was schuldig«, sagte ich.
Medea schüttelte den Kopf. »Das war nichts, was mein Vater nicht
auch getan hätte.« Sie setzte sich ans Fußende meines Bettes.
»Aber er hätte Tantalid getötet«, entschied sie.
»Er war ein besserer Schütze.«
Wieder dieses Grinsen, perlweiße Zähne, die von
ebenholzfarbener Haut eingerahmt waren. »Ja, das war er.«
»Aber du reichst völlig«, grinste ich. Sie salutierte und ging.
Als ich mich zwei Wochen später einigermaßen erholt hatte, war
die Dunkelnacht vorbei, und ich kannte die allgemeine, wenn auch
nicht die spezielle Antwort.
Ich humpelte an einem Stock durch das private Anwesen, das ich
in Lethe Majeure gemietet hatte, als Aemos mir die Neuigkeiten
überbrachte. Der große Ophidia-Feldzug war vorbei.
»Ein großer Erfolg«, verkündete er. »Das letzte Gefecht hat vor
vier Monaten auf Dolsene stattgefunden, und der Kriegsmeister hat
den Subsektor für gesäubert erklärt. Ein bedeutender Sieg, findest du
nicht?«
»Ja. Würde ich meinen. Sie haben lange genug gebraucht.«
»Gregor, Gregor … selbst mit einer so großen Streitmacht wie der
Schlachtflotte Scarus ist die Unterwerfung eines ganzen Subsektors
eine gewaltige Aufgabe! Dass sie fast ein Jahrhundert gedauert hat,
ist gar nichts! Die Befriedung des Subsektors Extempus hat vierhun-
dert Jahre …«Er hielt inne. »Du willst mich absichtlich reizen,
oder?«
Ich nickte. Er ließ sich leicht auf die Palme bringen.
Aemos schüttelte den Kopf und setzte sich auf einen Ledersessel.
»Ich habe gehört, dass immer noch Kriegsrecht herrscht, und auf den
Schlüsselwelten wurden provisorische Regierungen eingesetzt. Aber
der Kriegsmeister kehrt mit dem Großteil der Flotte im Triumph
zurück und besucht diesen Subsektor zum ersten Mal seit hundert
Jahren.«
Ich stand am offenen Fenster und schaute vom Erdgeschoss des
Anwesens auf die grauen Dächer von Lethe Majeure, welche die
Berge des Tito-Beckens wie die Schuppenhaut eines prähistorischen
Reptils zu überziehen schienen. Der Himmel war ein
Magnoliendunst, und eine leichte Brise wehte. Mittlerweile war es
beinahe unmöglich, sich diesen Ort in den schmuddeligen, perma-
nenten Schatten der Dunkelnacht gehüllt vorzustellen.
Jetzt wusste ich zumindest, warum Tantalid zurückgekehrt war.
Der Ophidische Krieg war vorbei, und seine heilige Mission war
damit abgeschlossen.
»Ich kann mich noch erinnern, wie sie aufgebrochen sind, du
auch?«, fragte ich.
Eine alberne Frage. Mein Gelehrter war ein Daten-Süchtiger, seit
dem Alter von zweiundvierzig Standardjahren dank des Meme-
Virus, den er sich zugezogen hatte, von dem unstillbaren Drang
erfüllt, alle möglichen Informationen zu sammeln und zu behalten.
Die Möglichkeit, etwas zu vergessen, bestand bei ihm nicht. Er
kratzte sich die Seite seiner Hakennase, wo die schwere augmetische
Brille saß.
»Wie könnte das einer von uns jemals vergessen?«, erwiderte er.
»Den Sommer 240. Die Jagd auf den Glaw-Klan auf Gudrun
während der Gründung.«
Tatsächlich hatten wir eine besondere Rolle bei der Verzögerung
des Beginns des ophidischen Feldzugs gespielt. Der Kriegsmeister,
seinerzeit noch Marschall, war praktisch bereit gewesen, seine
Säuberung des ophidischen Subsektors zu beginnen, als meine Unter-
suchung der ketzerischen Glaw-Familie einen Massenaufstand
ausgelöst hatte, der später den Namen Helicanisches Schisma bekam.
Zu seiner großen Überraschung und zu seinem Missvergnügen war
der Kriegsmeister plötzlich gezwungen gewesen, seine
abmarschbereiten Streitkräfte zur Befriedung seines eigenen
Subsektors einzusetzen.
Kriegsmeister Honorius. Honorius Magnus nannten sie ihn. Ich
war ihm nie begegnet, noch verspürte ich den Wunsch dazu. Ein
brutaler Mann wie so viele seiner Art. Es bedarf einer besonderen
Geisteshaltung, einer besonderen Brutalität, um Planeten zu
verwüsten und Bevölkerungen zu dezimieren.
»Auf Thracian Primaris soll eine große Jubelfeier stattfinden«,
sagte Aemos. »Eine Heilige Novene, geweiht durch die Synode der
Hohen Ekklesiarchie. Gerüchteweise kommt sogar der Kriegsherr
Helicanus persönlich, um den Kriegsmeister in den Rang des
Feudalprotektors zu erheben.«
»Ich bin sicher, das wird ihn sehr freuen. Noch ein schwerer
Orden, den er nach seinen Offizieren werfen kann, wenn er zornig
ist.«
»Du bist nicht versucht hinzugehen?«
Ich lachte. Tatsächlich hatte ich erwogen, in Kürze zur
Regierungshauptwelt des helicanischen Subsektors zurückzukehren.
Thracian Primaris, die am meisten industrialisierte und am dichtesten
bevölkerte Welt des Subsektors, hatte nach der Entehrung durch das
Schisma Gudrun als Hauptwelt abgelöst und endlich die Stellung
errungen, die ihm seiner Ansicht nach durch Größe und Macht schon
lange zustand. Es war nun die imperiale Hauptwelt in dieser Region.
Es gab noch reichlich Arbeit, Berichte mussten geschrieben und
verschickt werden, und diese Dinge ließen sich am besten regeln,
wenn ich zu meinem Besitz auf Thracian zurückkehrte, zu meiner
Operationsbasis unweit des Palastes der Inquisition. Aber ich machte
mir nicht viel aus Thracian Primaris. Es war eine hässliche Welt, und
ich hatte mein Hauptquartier nur deshalb dort, weil es praktisch war.
Der Gedanke an Pomp, Feierlichkeiten und Feste erfüllte mich mit
stillem Unbehagen.
Vielleicht würde ich stattdessen nach Messina fliegen oder nach
Gudrun, wo ich ein kleines, gemütliches Anwesen unterhielt.
»Die Inquisition soll in großer Zahl vertreten sein. Lord Rorken
persönlich …«
Ich winkte ab. »Spricht dich die Vorstellung an?«
»Nein.«
»Haben wir nichts Besseres mit unserer Zeit anzufangen?
Dringende Angelegenheiten? Dinge, die sich leichter abseits derart
aufgeblähter Ablenkungen erledigen lassen?«
»Mit Sicherheit«, sagte er.
»Dann weißt du wohl, wie ich darüber denke.«
»Ich glaube schon, Gregor«, sagte er, indem er sich erhob und in
die Tasche seines grünen Gewandes griff. »Und daher bin ich auch
darauf vorbereitet, dass du mich verfluchen wirst, wenn ich dir das
hier gebe.«
Er hielt mir eine kleine Datentafel hin, eine verschlüsselte
Nachrichtentafel, deren Inhalt von den Astropathen empfangen und
gespeichert worden war.
Quer über die Vorderseite war das offizielle Siegel der Inquisition
gestempelt.
DREI
Hauptwelt. Das Haus am Meer. Eindringlinge, vergangen
und gegenwärtig.
Ich badete, schlüpfte in ein Gewand aus grauer Wolle und saß eine
Weile allein in meinen Privatgemächern, wo ich ein Glas Amasec
trank und im weichen Schein der Lampe die Botschaften und
Mitteilungen durchging.
Es gab viele, in erster Linie von alten Bekannten — Beamten und
Kollegen aus der Inquisition -, die mich über ihre Ankunft auf dem
Planeten informierten und mir Grüße ausrichteten. Nur wenige
bedurften mehr als einer Standardantwort seitens meines Sekretärs.
Einigen schrieb ich höfliche, persönliche Antworten, in denen ich die
Hoffnung auf eine Begegnung auf einer der vielen Veranstaltungen
im Rahmen der Novene zum Ausdruck brachte.
Drei Nachrichten erregten meine besondere Aufmerksamkeit. Die
erste war eine private, verschlüsselte Botschaft von Lordinquisitor
Phlebas Alessandro Rorken. Rorken war das Oberhaupt des Ordo
Xenos im helicanischen Subsektor, mein unmittelbarer Vorgesetzter
und Teil des Triumvirats hochrangiger Inquisitoren, die Großmeister
Orsini direkt unterstanden. Rorken wollte mich sofort nach meiner
Ankunft auf Thracian Primaris sprechen. Ich antwortete ihm sofort,
dass ich ihn am folgenden Morgen im Palast der Inquisition
besuchen würde.
Die zweite stammte von meinem alten Freund und Kollegen Titus
Endor. Es war lange her, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte. Seine
unverschlüsselte Nachricht lautete: »Gregor. Ich grüße dich. Bist du
zu Hause?«
Die Kürze war entwaffnend. Ich schickte eine gleichermaßen
kurze Bestätigung. Endor wollte ganz eindeutig nicht schriftlich
kommunizieren. Ich wartete auf seine Antwort.
Die dritte war ebenfalls unverschlüsselt oder hatte jedenfalls keine
elektronische Verschlüsselung. Sie war in Glossia abgefasst und
lautete: »Skalpell schneidet schnell, eifrige Zungen enthüllt. Auf
Cadia, zur Terz. Hund wünscht Dorn. Dorn sollte scharf sein.«
Die Meeresterrasse war vermutlich der Hauptgrund, warum ich
das Ozeanhaus überhaupt gemietet hatte. Sie war ein langes
Keramitgewölbe mit einer durchgängigen Panzerglaswand zum
Meer. Der Industrialisierung von Thracian Primaris war ein großer
Teil der Meereslebewesen zum Opfer gefallen, aber in diesen Tiefen
konnte man immer noch unverwüstliche leuchtende Tiefseeangler
und Schwärme schillernder Quallen im smaragdgrünen nächtlichen
Schein erspähen. Der von Kerzenlicht erleuchtete Raum war in ein
unstetes grünes Dämmerlicht gehüllt.
Jarats Servitoren hatten die lange Tafel für neun Personen gedeckt,
und diese neun hatten bei meinem Eintreffen bereits ihre Plätze
eingenommen und unterhielten sich bei einem Aperitif. Wie die
meisten anderen war ich leger gekleidet und trug einen schlichten
schwarzen Anzug. Die Küche brachte uns gedämpfte Fubiklöße und
gegrillten Ketelfisch und ließ scharf angebratene, blutige
Wildorkunu-Schenkel folgen. Zum Dessert gab es Birnen- und
Beerentorte mit einer Zimtjus. Ein kräftiger gudrunischer Rotwein
und süßer Dessertwein aus den Weinbergen Messinas begleiteten das
Mahl perfekt. Ich hatte vergessen, wie hoch der Standard des
Haushalts war, den Jarat so fern der Entbehrungen meiner Missionen
im Feld für mich führte.
Mit mir am Tisch saßen Aemos, Bequin, Ravenor, von Baigg,
mein Rubrikator und Schreiber Aldemar Psullus, Jubal Kircher,
Leiter der Haus-Sicherheit, ein vertrauter Agent namens Harlon Nayl
sowie Thula Surskova, die Bequins Stellvertreterin im Femininum
war. Medea Betancore hatte sich uns nicht angeschlossen, aber ich
wusste, wie anstrengend der Flug durch den thracianischen Luftraum
gewesen sein musste, der sie zweifellos erschöpft hatte.
Zu meiner Freude sah ich, dass Ravenor anwesend war. Seine
Wunden heilten, zumindest die körperlichen, und obwohl er still und
ein wenig in sich gekehrt war, hatte ich doch das Gefühl, dass er
langsam über den Schock von Arianrhods Tod hinwegkam.
Surskova, eine kleine, üppige Frau Mitte vierzig unterrichtete
Bequin leise über die Fortschritte der neueren Mitglieder des
Femininums. Aemos hielt Psullus und Nayl Vorträge über die
Ereignisse auf Lethe Elf, und sie lauschten gebannt. Psullus, infolge
einer auszehrenden Krankheit schwach und vorzeitig gealtert, verließ
das Ozeanhaus niemals und widmete sein Leben der Pflege und
Erhaltung meiner ausgedehnten privaten Bibliotheken. Wenn Aemos
ihm die Geschichte unserer letzten Mission nicht bereits erzählt
hätte, würde ich es getan haben. Diese Geschichten stellten seine ein-
zige Verbindung zu den aktiven Vorgängen unseres Geschäfts dar,
und er liebte es, sie sich anzuhören. Nayl, ein ehemaliger
Kopfgeldjäger von Loki, war auf einer Mission im Jahr zuvor
verwundet worden und nicht rechtzeitig genesen, um uns nach Lethe
begleiten zu können. Er lauschte Aemos' Schilderung ebenfalls ge-
bannt und stellte gelegentlich Zwischenfragen. Es war offensichtlich,
dass er sich danach sehnte, wieder mit der Arbeit anzufangen.
Von Baigg und Kircher unterhielten sich über die Vorbereitungen
der bald beginnenden Novene und den mit ihr verbundenen
Konsequenzen für die Sicherheit. Kircher war ein fähiger Mann, Ex-
Arbites und zuverlässig, wenn auch ein wenig phantasielos. Beim
Dessert weitete sich das Gespräch auf die ganze Tafel aus.
»Es heißt, die Verleihung macht den Kriegsmeister zu einem
gemachten Mann«, sagte Nayl, dessen gefüllter Löffel vor seinem
Mund in der Luft hing.
»Ich würde sagen, er ist bereits ein gemachter Mann«, erwiderte
ich.
»Nayl hat recht, Gregor. Ich habe das auch gehört«, sagte
Ravenor. »Feudalprotektor. Das bedeutet, der Imperiums-Kriegsherr
Helican gibt öffentlich zu, dass der Kriegsmeister praktisch im
gleichen Rang steht.«
»Es ist ein Titel ohne Bedeutung.«
»Ganz und gar nicht. Er macht Honorius zum Favoriten für das
Amt des Kriegsmeisters an der Arcotara-Front, jetzt, wo
Kriegsmeister Hiju tot ist, und Hiju war eigentlich für einen Platz im
Servitorum Imperialis vorgesehen, vielleicht sogar für einen Sitz im
Hohen Senat zu Terra.«
»Honorius mag ein ›Magnus‹ sein, aber er ist nicht aus dem Stoff,
aus dem die Hohen Servitoren sind«, wagte ich mich vor.
»Nach der Verleihung könnte er es aber sein«, sagte Nayl. »Der
Kriegsherr muss glauben, er hat Potenzial, sonst würde er ihm nicht
so eine große Ehrung zuteil werden lassen.«
Politik ließ mich kalt, und ich konnte mich nur selten in politische
Ambitionen hineinversetzen. Ich studierte das Thema nur, weil
meine Pflichten oft eine detaillierte Sachkenntnis erforderlich
machten. Der Imperiums-Kriegsherr Helican, also Jeromya Faurlitz
IV aus der imperialen Adelsfamilie der Faurlitz, war die höchste
sekulare Autorität im helicanischen Subsektor, weshalb er den
Namen des Subsektors in seinem Titel führte. Auf dem Papier
unterstanden ihm sogar die Kardinäle des Ministoriums, der
Großmeister der Inquisition, die höchsten Koryphäen des
Administratums und die Marschälle, obwohl es wie bei allen Dingen
im Imperium niemals ganz so einfach war. Kirche, Staat und Militär,
miteinander zu einer Einheit verwoben und doch ständige Rivalen.
Indem er Kriegsmeister Honorius mit dieser Verleihung huldigte,
schlug sich der Kriegsherr Helican auf die Seite des Militärs — ein
offenes Signal für die anderen Regierungsorgane — und erwartete
ganz offensichtlich von dem Kriegsmeister, den Gefallen zu er-
widern, falls er in Ränge oberhalb derjenigen eines einzelnen
Subsektors aufstieg. Es war ein gefährliches Spiel, und es kam nur
selten vor, dass ein derart hochrangiger Beamter so offen einen
solchen Vorteil anstrebte, obwohl der Schlachtenruhm, der Honorius
umgab, einen perfekten Vorwand lieferte.
Und das machte es zu einer gefährlichen Zeit. Jemand würde
dieses Gleichgewicht umgestalten wollen. Ich würde auf die
Ekklesiarchie tippen, obwohl ich anständigerweise sagen muss, dass
ich voreingenommen bin. Aber die Geschichte hat gezeigt, dass die
Kirche chronisch intolerant in Bezug auf Machtverluste zugunsten
von Militär oder Staat ist. Das sagte ich auch.
»Es gibt viele andere Elemente«, gluckste Aemos, während er sich
Dessertwein nachschenken ließ. »Die Faurlitz-Linie ist schwach, und
ihr fehlt sowohl die Unterstützung bei den Adeptus Terra als auch
das Gehör beim Servitorum Imperialis und den Höfen des Goldenen
Throns. Zwei mächtige Familien, die De Vensii und die Fulvatorae,
versuchen ihren Einfluss auf Kosten der Faurlitz auszudehnen und
werden dies als offene Gegenwehr betrachten. Dann wäre da noch
das Haus Eirswald, das in seinem eigenen berühmten Sohn Marschall
Strefon den einzig geeigneten Ersatz für Hiju sieht. Und vergessen
wir auch nicht die Augustyn-Dynastie, die ihre Macht verloren hat,
als der Hohe Servitor von Terra Giann Augustyn vor vierzig Jahren
im Amt starb. Die Augustyner versuchen in den letzten Jahren mit
fieberhafter Entschlossenheit, ihre Macht wieder auszuweiten, indem
sie ihren Kandidaten Kriegsherr Cosimo mit beinahe unziemlicher
Unverschämtheit protegieren. Wenn Nayl recht hat und die
Verleihung Honorius' Nachfolge von Hiju zur Gewissheit macht,
würde er dadurch zu einem direkten Konkurrenten Cosimos um den
vakanten Posten des Hohen Servitors.«
Weiter am Tisch gähnte Bequin und machte mich auf sich
aufmerksam.
»Cosimo wird es nie schaffen«, warf Psullus unumwunden ein.
»Sein Haus ist viel zu unbeliebt bei den Adeptus Mechanicus, und
ohne ihre Zustimmung, wie stillschweigend auch immer, wird
niemand Hoher Servitor. Außerdem würde sich das Ministorum
sperren. Giann Augustyn hat sich dort mit seinen Reformen keine
Freunde gemacht. Es heißt, ein Callidus des Officio Assassinorum
habe den alten Giann auf Befehl der Ekklesiarchie erledigt und kein
Schlaganfall.«
»Passen Sie auf, was Sie sagen, alter Freund, sonst hetzen sie
einen auf Sie«, sagte Ravenor.
Psullus hob die knochigen Hände in einer abwehrenden Geste,
während am Tisch Gelächter aufkam.
»Es ist trotzdem äußerst bestürzend«, sagte Aemos. »Diese
Verleihung könnte zu einem Krieg zwischen den Häusern führen.
Abgesehen von allen offensichtlichen Gegnern könnten sich der
Kriegsherr Helican und der Kriegsmeister auch von
Imperiumsfamilien bedrängt sehen, die bisher neutral waren. Es gibt
viele, die durchaus zufrieden mit ihrer Situation sind und mit erstaun-
licher Rücksichtslosigkeit zuschlagen würden, einfach nur, um zu
vermeiden, in eine offene, blutige Auseinandersetzung verwickelt zu
werden.«
Einen Augenblick herrschte Stille.
»Psullus«, sagte Ravenor, indem er mit dem Geschick des
Diplomaten das Thema wechselte, »ich habe eine ganze Reihe von
Werken für Sie, die ich auf Lethe gesammelt habe, darunter auch ein
Palimpsest der Analecta Phaenomena …«
Psullus verwickelte den jungen Interrogator eifrig ins Gespräch.
Aemos, von Baigg und Nayl debattierten weiter über imperiales
Intrigieren. Bequin und Surskova wünschten eine gute Nacht und
zogen sich zurück. Ich ging mit meinem Kristallschwenker voll
Amasec zur Glaswand und schaute in die Tiefen des Ozeans. Nach
einem Moment gesellte sich Kircher zu mir. Er glättete die
Vorderseite seiner marineblauen Jacke und zog sich die schwarzen
Handschuhe an, bevor er das Wort ergriff. »Wir hatten letzten Monat
Eindringlinge«, sagte er leise. Ich drehte mich um. »Wann?«
»Tatsächlich drei Mal«, sagte er, »obwohl es mir erst beim dritten
Mal klar geworden ist. Vor etwa sechs Wochen hatte ich nachts
scheinbar eine beharrliche Reihe von Fehlalarmen an den
meerwärtigen Öffnungen. Sonst wurde nichts registriert, und die
Servitoren ersetzten diesen Teil des Systems. Eine Woche später
dasselbe am Lieferanteneingang zu den Vorratsräumen und den Au-
ßentüren zum Femininum-Anbau, beide in derselben Nacht. Ich
argwöhnte ein Systemversagen und setzte eine Überholung des
gesamten Alarmnetzes an. In der folgenden Woche stellte ich fest,
dass der Sicherheitscode für die Außenschlösser der Haupttür auf
null zurückgesetzt worden war. Jemand war hereingekommen und
wieder gegangen. Ich habe das ganze Haus durchgekämmt und in
den Wänden von sechs Räumen, darunter auch Ihre innersten
Gemächer, Korn-Diebe gefunden. Außerdem waren in drei
Kommunikationsknotenpunkten diskrete Fangschaltungen in Ton-
und Bildleitungen eingespleißt. Und jemand hat erfolglos versucht,
sich Zugang zu ihrem Deflektorschild-Tresor zu verschaffen, aber
anscheinend konnte man die Schildcodes nicht knacken.«
»Und es gab keine Spuren?«
»Keine Abdrücke, keine Mikrospuren, keine Follikel. Ich habe
sogar die Luft durch den Partikelschrubber geleitet und gewaschen.
Die Bildaufzeichner im Haus zeigen nichts an … nur einen
wunderbar getarnten Zeitsprung von vierunddreißig Sekunden. Die
Astropathen haben nichts gespürt. An einer Stelle muss der Ein-
dringling über vier Meter Unterboden-Druckplatten gelaufen sein,
ohne Alarm auszulösen. Im Nachhinein ist mir klar geworden, dass
die beiden Zwischenfälle zuvor keineswegs Systemfehler waren,
sondern Tests, um unser Sicherheitsnetz zu sondieren. Versuchsläufe
vor dem eigentlichen Eindringen. Dafür haben sie einen Zerhacker
am Haupteingang benutzt. Wenn sie ihn tatsächlich geknackt hätten,
hätten sie ihn hinterher neu hochfahren können, dann hätte ich nie
erfahren, dass es einen Einbruch gegeben hat.«
»Sie haben alles überprüft? Und keine Wanzen mehr gefunden?«
Er schüttelte den Kopf. »Herr Inquisitor, ich kann mich nur
entschuldigen für …«
Ich hob eine Hand. »Keine Ursache, Kircher. Sie haben Ihre
Arbeit gemacht. Zeigen Sie mir, was sie hinterlassen haben.«
Kircher entrollte ein rotes Filztuch auf einem Tisch in der Ruhe
der inneren Bibliothek. Er war nervös, und Schweißperlen tropften
von seinem kammartigen Schopf weißer Haare.
Ich hatte niemanden beunruhigen wollen, also hatte ich nur
Ravenor und Aemos zu uns gebeten. Der Raum roch nach dem
Teakholz der Regale, dem Muff der Bücher und dem Ozon der
Suspensorfelder, die besonders brüchige Manuskripte vor dem
endgültigen Zerfall bewahrten.
Das Filztuch wurde ausgebreitet. Darauf lagen neun winzige
Vorrichtungen, sechs Kom-Diebe und drei Fangschaltungen,
allesamt in einer Perle aus solidem Plastek eingeschweißt.
»Nach dem Fund habe ich sie in Trägheitsgel versiegelt, um
sicherzugehen, dass sie tot sind. Keine der Vorrichtungen war mit
einer Selbstvernichtung gesichert.«
Gideon Ravenor trat vor, hob einen der versiegelten Kom-Diebe
auf und hielt ihn ins Licht.
»Imperiale Fertigung«, sagte er. »Unbezeichnet, aber imperial.
Sehr hoch entwickelt, sehr hochwertig.«
»Das sehe ich auch so«, sagte Kircher.
»Militärisch? Sekular?«, fragte ich.
Ravenor zuckte die Achseln. »Wir könnten sie zu wahr-
scheinlichen Herstellern zurückverfolgen, aber die werden
vermutlich alle Arme des Imperiums ausrüsten.«
Aemos' augmetische Sehhilfen klickten und drehten sich, als er die
Gegenstände auf dem Tuch eingehend betrachtete. »Die
Fangschaltungen«, begann er, »sind genauso hochwertig. Es bedarf
eines besonderen Geschicks, sie mit Erfolg in einen Kom-Knoten
einzuspleißen.«
»Es bedarf eines besonderen Geschicks, auf diese Weise irgendwo
einzubrechen«, konterte ich.
»Sie tragen keine Herstellerbezeichnungen, aber es handelt sich
ganz eindeutig um höher entwickelte Modelle der Amplox-Serie.
Viel höher entwickelt als die massiven Einheiten, die das Militär
benutzt. Es ist nur Spekulation, aber ich würde sagen, das übersteigt
auch die Möglichkeiten des Ministorums. Es ist berüchtigt für seine
Rückständigkeit im technologischen Bereich.«
»Wer dann?«, fragte ich.
»Die Adeptus Mechanicus?«, riet er.
Ich verzog das Gesicht.
Er zuckte lächelnd die Achseln. »Oder zumindest eine
Körperschaft mit genug Macht und Einfluss, um sich derart
fortgeschrittene Vorrichtungen von den Adeptus Mechanicus zu
beschaffen.«
»Wie zum Beispiel?«
»Das Officio Assassinorum?«
»Das einbrechen würde, um zu töten, nicht, um zu lauschen.«
»Einverstanden. Dann ein mächtiges Haus mit Einfluss im
Servitorum Imperialis.« »Möglich …«, räumte ich ein. »Oder …«,
sagte er.
»Oder?«
»Oder die eine Institution des Imperiums, die solche
Vorrichtungen regelmäßig einsetzt und das Prestige und die
Entschlossenheit hat, um dafür zu sorgen, dass nur das beste Material
Verwendung findet.«
»Und die wäre?«
Aemos sah mich an, als sei ich begriffsstutzig. »Die Inquisition
natürlich.«
Ich schlief schlecht, unruhig. Drei Stunden vor dem Ende des
Nacht-Zyklus' richtete ich mich plötzlich hellwach im Bett auf.
Nur in das Laken gehüllt, in das ich mich gewickelt hatte, schlich
ich in den Flur, die Hand fest um die mattgraue kurzläufige Pistole
geschlossen, deren Aufbewahrungsort ein Halfter hinter dem
Kopfende meines Bettes war.
Mattes blaues Licht fiel in den Korridor und zeichnete alles weich.
Ich schlich vorwärts.
Ich hatte mich nicht getäuscht. Jemand trieb sich im unteren Foyer
herum.
Ich schlich die Treppe hinunter, die Waffe im Anschlag, und
versuchte meine Augen zu zwingen, sich an die Dunkelheit zu
gewöhnen.
Ich erwog, Alarm zu geben und Kircher und seinen Stab zu
alarmieren, aber wenn jemand im Haus und so geschickt war, an den
Alarmanlagen vorbeizukommen, dann wollte ich ihn fangen und
nicht mit einem Vollalarm verscheuchen. In den wenigen Stunden
seit meiner Ankunft im Ozeanhaus hatte sich ein hässlicher Gestank
nach Verrat in meine Welt geschlichen. Vielleicht war es mehr
Paranoia als alles andere, aber ich wollte dem ein Ende bereiten.
Ein weißer Lichtstrahl fiel durch den Spalt der halb geöffneten
Küchentür auf den Boden des Foyers. Ich hörte wieder eine
Bewegung.
Ich schlich zum Türrahmen, vergewisserte mich, dass die Pistole
entsichert war, und glitt mit der Waffe voran durch den Türspalt.
Die äußere Küche, ein Reich aus marmornen Arbeitsbuchten und
geschrubbten Aluminiumflächen, war leer. Metalltöpfe und andere
Utensilien hingen stumm an Deckenhaken. Ein leichter Geruch nach
Knoblauch und Küchenkräutern lag in der unbewegten Luft. In der
Speisekammer beim Kühlraum brannte Licht, dessen Schein den
Raum erfüllte.
Zwei Schritte, drei, vier. Der Steinfußboden der Küche war eiskalt
unter meinen nackten Füßen. Ich erreichte die Tür zur
Speisekammer. Dahinter war Bewegung. Ich trat die Tür auf und
sprang mit der kompakten Pistole im Anschlag hinein.
Medea Betancore, nur mit einem Ex-Garde-Unterhemd bekleidet,
stieß einen Schrei der Überraschung aus und ließ das Tablett mit
Ketelfisch-Resten fallen, über das sie sich hergemacht hatte. Das
Tablett klirrte auf die Kacheln vor dem geöffneten Kühlraum.
»Ihr Götter, Eisenhorn!«, heulte sie empört, während sie auf der
Stelle hin und her hüpfte. »Mach so etwas nicht!«
Ich war wütend. Ich nahm die Waffe nicht sofort herunter. »Was
machst du hier?«
»Essen? Hallo?« Sie grinste mich höhnisch an. »Ich hatte das
Gefühl, ich hätte eine Woche geschlafen. Ich bin völlig
ausgehungert.«
Ich ließ die Pistole langsam sinken. Ein Gefühl der Verlegenheit
sickerte in meinen aufgedrehten Zustand.
»Entschuldigung. Tut mir leid. Du hättest … vielleicht … etwas
anziehen können, bevor du hierher kommst und die Speisekammer
plünderst.« Es klang schon dumm, als ich es sagte. Wie dumm, ging
mir erst einen Moment später auf. Ich war mir zu schmerzhaft ihrer
langen, dunklen Beine und der Art bewusst, wie sich das Unterhemd
um die stolze Schwellung ihres Busens schmiegte.
»Leute, die im Glashaus sitzen … Gregor«, sagte sie, indem sie
eine Augenbraue hob.
Ich schaute nach unten. Bei dem Tritt gegen die Tür hatte ich mein
Bettlaken verloren. Ich war, was Midas Betancore immer »sehr
nackt« genannt hatte.
Natürlich abgesehen von der geladenen Pistole.
»Verdammt. Ich bitte nochmals um Verzeihung.« Ich drehte mich
um und bückte mich nach dem Laken.
»Mach dir meinetwegen keine Umstände«, kicherte sie.
Ich erstarrte in gebückter Haltung. Die Mündung einer Trosvasse
Parabellum zeigte aus der Dunkelheit hinter mir direkt auf meinen
Kopf.
Sie senkte sich. Harlon Nayl betrachtete mich einen Moment in
offener Bestürzung von oben bis unten und hob dann warnend einen
Finger an die Lippen. Er war vollständig bekleidet.
Ich wickelte mir das Laken um.
»Was ist?«, zischte ich.
»Jemand ist eingedrungen. Ich kann es spüren«, flüsterte er. »Der
Lärm, den ihr beide veranstaltet habt — ich dachte, das sei der
Eindringling. Ich wusste nicht, dass du so scharf auf Medea bist.«
»Ach, halt die Klappe.«
Wir schlichen beide durch die Außenküche zurück. Nayl zog sich
die Kapuze seines vulkanisierten schwarzen Trikotanzugs über den
Kopf, um seine helle, rasierte Kopfhaut zu verbergen. Er war ein
großer Mann, einen Kopf größer als ich, aber er verschmolz mit der
Dunkelheit. Ich achtete aufmerksam auf seine Signale.
Nayl winkte mich nach links durch den Flur. Ich vertraute seinem
Urteil völlig. Er hatte drei Jahrzehnte lang den innovativsten und
fähigsten Abschaum der Galaxis beschlichen. Wenn es Eindringlinge
gab, würde er sie finden.
Ich betrat den Hauptflur des Ozeanhauses und sah, dass die
vordere Eingangstür nur angelehnt war. Auf der Code-Anzeige des
Hauptschlosses blinkte eine Reihe voreingestellte Nullen.
Ich schwang herum, als hinter mir eine Waffe krachte. Ich hörte
Nayl aufschreien und rannte ins innere Foyer zurück. Nayl lag auf
dem Boden und rang mit einem unidentifizierbaren Mann.
»Aufstehen! Aufstehen! Ich bin bewaffnet!«, rief ich.
Zur Antwort schlug der unbekannte Eindringling Nayls Kopf so
hart auf den Fußboden, dass dieser das Bewusstsein verlor, und warf
dann Nayls schwere Pistole nach mir.
Ich schoss, ein Mal, und blies ein Loch in die Wand. Die
wirbelnde Waffe streifte mich an der Schläfe und schleuderte mich
zu Boden.
Ich hörte es mehrfach fleischig klatschten und knallen, dann ein
gutturales Ächzen, und dann Medea Betancore, die rief: »Licht an!«
Ich erhob mich. Sie stand über dem Eindringling, eine Hand
drohend zur Faust geballt, die andere am Saum ihres Unterhemds,
das sie züchtig herunterzog.
»Ich habe ihn«, sagte sie.
Der benommene Eindringling war von Kopf bis Fuß schwarz
gekleidet. Ich riss ihm die Kapuze ab. Es war Titus Endor.
»Gregor«, lispelte er durch blutige Lippen. »Du hast gesagt, du
bist zu Hause.«
VIER
Zwischen Freunden. Eine Unterhaltung mit Lord Rorken.
Der Apotropaische Kongress.
Der Palast der Inquisition auf Thracian Primaris liegt hoch in den
Wolkenbereichen von Makropole Vierundvierzig. Er hat selbst die
Größe einer Kleinstadt und ist die Hauptniederlassung der Inquisition
im helicanischen Subsektor mit einem permanenten Stab von
sechzigtausend Personen. Ich bringe keine Entschuldigungen für
seine schwarzen Specksteinfassaden, die abgedunkelten Fenster und
die schützenden Reihen eiserner Stachel vor. Kritiker der Inquisition
mögen ihre Architektur als beinahe komisch übertrieben betrachten
und vorbringen, ihre absichtliche dunkle Bedrohlichkeit leiste den
Befürchtungen der breiten Öffentlichkeit hinsichtlich des Wesens der
Inquisition Vorschub. Und ich würde sagen, genau das ist der Sinn
der Sache. Furcht hält die Reihen der Bevölkerung geschlossen,
Furcht vor einer Institution, die so schrecklich ist, dass sie nicht
zögern wird, sie für Übertretungen zu bestrafen.
Zu Beginn des nächsten Tageszyklus' fuhr ich in Begleitung von
Aemos, von Baigg und Thula Surskova zum Palast. Ironischerweise
fühlte ich mich mit nur drei Begleitern an meiner Seite verwundbar.
Ich hatte mich im Lauf der letzten Jahrzehnte an ein großes Gefolge
gewöhnt. Ich musste mich daran erinnern, dass es eine Zeit gegeben
hatte, in der mein ganzes Gefolge aus drei Personen bestand.
Der Palast der Inquisition ist kein Ort für beiläufige oder zufällige
Besprechungen. Von innen ist er ein düsteres Labyrinth aus
schattigen Fluren, Deflektorschilden und Undurchsichtigkeitsfeldern.
Stab und Besucher bewegen sich im Schutz maskierender
Energiefelder, um ihre Geschäfte vertraulich erledigen zu können.
Nach dem Betreten der hallenden Eingangshalle wurde uns eine
Drohne zugewiesen, die in Schulterhöhe schwebte und einen
isolierenden Kegel der Stille um uns projizierte. Man bot uns einen
astropathischen Adepten an, um unsere Privatsphäre zu garantieren,
aber ich lehnte ab. Surskova mit ihrer Unberührbarkeit war alles, was
ich brauchte.
Die Kapuzen tragenden Wachen der Inquisition in ihren
burgunderfarbenen, mit Blattgold durchsetzten Rüstungen, auf denen
unser Amtssiegel prangte, führten uns über den schwarzen
Marmorboden und hielten dabei ihre beidhändig zu führenden
Energieklingen aufrecht vor sich. Glitzernde
Undurchsichtigkeitsfelder rechts und links bildeten einen soliden,
summenden Energiekorridor, der uns von unserer Umgebung trennte.
Alain von Baigg spielte unterwegs geistesabwesend mit seinem
hohen Kragen. Er war nervös. Die bedrückend bedrohliche
Atmosphäre des Palasts verfehlte ihre Wirkung sogar auf seine
eigenen Diener nicht.
Ich traf früh ein, um meinen Platz einzunehmen, da ich den großen
Verkehrszufluss in die Makropole fürchtete. Ich nahm Ravenor mit.
Wir trugen unsere beste Kleidung, zeigten stolz unsere Embleme und
hatten Parade-Waffen angelegt.
Medea Betancore flog uns und landete auf einer reservierten
Flottenbasis im Süden des Imperialen Panzerdepots. Nach unserer
Landung waren die Luftkorridore so verstopft, dass ihr nichts
anderes übrig blieb, als dort den ganzen Tag zu warten. Ein Rückflug
war unmöglich. Sie wünschte uns einen guten Tag und schlenderte
über die Basis, um mit den Mechanikern zu plauschen, die mit der
Wartung eines Marodeurs beschäftigt waren.
Ein Privatwagen, von der Nuntiatur arrangiert, brachte Ravenor
und mich zu den alten Gründungsfeldern der Makropole an der
Lempenor-Allee, wo sich die Inquisition sammeln und in den Zug
eingliedern sollte. Durch die Fenster der dahinrasenden
Schweberlimousine sahen wir Dampf von den leeren, regennassen
Straßen aufsteigen. Trotz seiner Bemühungen würde der Kriegsherr
Helican noch vor dem Mittag Wolken bekommen.
Ich beugte mich im Passagierabteil des Fahrzeugs vor und rückte
Ravenors Interrogator-Rosette zurecht. Er sah nervös aus, ein
Ausdruck, den ich normalerweise nicht mit ihm in Verbindung
brachte. Er sah außerdem wie das Ebenbild eines Inquisitors aus. Mir
ging auf, dass er eigentlich gar nicht nervös wirkte, sondern nur jung.
Wie ein Mann, der es eilig hatte, sich seinen trinkenden Freunden im
Durstigen Adler auf der Zansiplestraße anzuschließen.
»Was ist denn?«, fragte er lächelnd.
Ich schüttelte den Kopf. »Das wird ein wichtiger Tag, Gideon.
Sind Sie bereit dafür?«
»Absolut«, sagte er.
Mir fiel auf, dass er seinem Uniformschmuck das
Stammesabzeichen des Klans Esw Sweydyr hinzugefügt hatte.
»Eine passende Note«, bemerkte ich mit einer Geste darauf.
»Das finde ich auch«, sagte er.
Der größte Teil der Makropole Primaris blieb fünf Tage lang
gesetzlos und außer Kontrolle. Panik, Aufruhr, Plünderungen und
zivile Unruhen brodelten in den Straßen und Hab-Ebenen der
verwundeten Megapolis, da sich die Arbites und die anderen Organe
des Imperiums mühten, dem Kriegsrecht Geltung zu verschaffen und
die Ordnung wiederherzustellen.
Es war eine undankbare Aufgabe. Die einheimische Bevölkerung
an sich war enorm, aber ihre Zahl hatte in der Novene durch Pilger
und Touristen in einem unvorstellbaren Ausmaß zugenommen. In
den anderen Makropolen kam es zu Solidaritäts-Panikunruhen. Ein
oder zwei Tage sah es so aus, als werde der ganze Planet in Blut und
Feuer versinken.
Kleine Bereiche der Makropole Primaris hatten sich mit Erfolg
abgeschottet: die Elite-Ebenen ganz oben, die Adelshäuser, die wie
Festungen angelegt waren, die uneinnehmbaren Niederlassungen der
Inquisition, die Imperiale Garde, die Astropathicus, die
verschiedenen Bastionen des Munitoriums und der Königspalast des
Kriegsherrn. Anderswo, vor allem in den unteren und allgemeinen
Hab-Ebenen, war es wie in einem Kriegsgebiet.
Die Ekklesiarchie litt besonders stark. Nachdem das Denkmal des
Ekklesiarchen in Flammen stand, betrachtete die Öffentlichkeit den
Albtraum als einen heiligen Fluch und wandte sich in ihrer Raserei
gegen alle Kirchen, Tempel und priesterlichen Orden, die sie finden
konnte. In den ersten Stunden erfuhren wir, dass Kardinal
Anderucias bei der Zerstörung des Denkmals ums Leben gekommen
war. Er war keineswegs der einzige große Hierarch, der in der
anschließenden Orgie des Gemetzels starb.
Wir drangen über die Mauer in den Besitz der Langes ein. Nach
dem Zusammenbruch des Schildes stank es durchdringend nach
Ozon, und die gestutzten Obstbäume und Laraebur-Hecken des
Gartens waren versengt und schwelten.
Mit Roban und Inshabel im Gefolge rannte ich einen Kiesweg
zwischen dem Dienstbotenflügel und dem Säulengang auf der
Ostseite entlang. Lichtstrahlen von Taschenlampen und Ziellasern
huschten hinter uns durch den Garten, während Heidane die
Hauptstreitmacht unseres Trupps durch den Garteneingang führte.
Das Haus war tot und dunkel, weil der Impuls einen gewaltigen
Kurzschluss erzeugt hatte. Die Haupttüren am Ende des Säulengangs
lagen zerschmettert auf dem Mosaikboden, da die den Schildkollaps
begleitende Druckwelle sie eingeschlagen hatte. Die Fenster waren
ebenfalls sämtlich zerstört.
Fotorezeptoren und Klimaanlagen in den polierten
Blauholzpaneelen waren durchgebrannt und verkohlt. Aus den
Tiefen des Palasts drangen Rauch und Flammenschein nach draußen.
Wir eilten weiter und fanden totes Hauspersonal und untätige
Servitoren. Eine ganze Reihe Prachtgemächer im Erdgeschoss stand
in Flammen, da kunstvoll gestaltete Prometheumlampen umgestoßen
worden waren.
Wir überprüften auf unserem Vormarsch die Räume auf beiden
Seiten. Roban ging voran und schwenkte seine Laserpistole hin und
her.
»Wie lange?«, fragte mich Inshabel.
»Bis?«
»Bis er sich von dem Impuls erholt?«
Ich wusste es nicht. Es ließ sich kaum sagen, wie schwer wir
Esarhaddon damit getroffen hatten und wie widerstandsfähig sein
Geist war. Jedenfalls würde es nicht lange dauern.
Im ersten Stock führte uns eine Ätherzittreppe in einen großen
Bankettsaal. Das Dach, eine Kuppel aus Panzerglas, war eingestürzt,
und das Psi-Gewitter knisterte und wogte hoch oben am Himmel. Bei
jedem Schritt knirschten Glassplitter oder Trümmerstücke.
Auch hier lagen Leichen, die Leichen der Adligen und
Bediensteten, wahllos durcheinander.
Ich hörte Bewegung und Schluchzen in einem angrenzenden
Vorzimmer.
Die kläglichen Insassen des Raums ächzten vor Entsetzen, als das
Licht unserer Taschenlampen sie fand. Eine Handvoll Überlebende
aus dem Haushalt, die sich im Dunkeln voller Furcht
zusammenkauerten. Viele wiesen Spuren psionischer Verbrennungen
oder telekinetische Quaddeln auf.
»Imperiale Inquisition«, sagte ich mit fester, aber ruhiger Stimme.
»Bleiben Sie ruhig. Wo ist Esarhaddon?«
Einige zuckten bei der Erwähnung des Namens zusammen oder
stöhnten. Eine Matrone in einem zerrissenen, irisierenden Kleid
krümmte sich in der Ecke zusammen und fing an zu weinen.
»Schnell … wir haben wenig Zeit! Wo ist er?« Ich erwog, meine
Geisteskraft einzusetzen, um sie zu einer Antwort anzuspornen, aber
ihr Verstand war in dieser Nacht bereits genug gefoltert worden.
Schon eine milde mentale Sondierung mochte den einen oder
anderen von ihnen töten.
»A… als das Licht ausging, ist er … ist er zum Westausgang
gerannt«, sagte ein blutverschmierter Mann, der etwas trug, das ich
für die Uniform der Langeschen Leibgarde hielt.
»Können Sie uns den Weg zeigen?«
»Mein Bein ist gebrochen …«
»Dann jemand anders! Bitte!«
»Frewa … geh du, Frewa!« Der Leibwächter zeigte auf einen
verängstigten Pagen, der hinter einer Säule kauerte.
»Komm, mein Junge, zeig uns den Weg«, sagte Roban
aufmunternd.
Der Junge erhob sich, die Augen vor Furcht weit aufgerissen. Ich
war nicht sicher, vor wem er mehr Angst hatte — vor Esarhaddon
oder den Inquisitoren, die vor ihm standen.
Inshabel und sich senkten die Waffen und näherten uns dem Ring
der Gestalten um den weißglühenden Brandherd. Während seine
berobten und Kapuze tragenden Akoluthen Gebete des Dankes und
der Erlösung murmelten, legte Inquisitor Lyko die Plasmakanone
nieder.
»Der Imperator wird es Ihnen danken, Lyko«, sagte ich.
Er drehte sich um und sah mich zum ersten Mal. »Eisenhorn.« Er
nickte. Sein schmales Gesicht wies Linien der Erschöpfung auf und
wirkte abgespannt, und seine blauen Augen waren
zusammengekniffen. Er war erst fünfzig Standardjahre alt und nach
den Maßstäben der Inquisition noch ein Jüngling. So jung, dass seine
vielversprechende Laufbahn den Makel überstehen konnte, mit dem
die Gräuel dieses Tages seine Leistung auf Dolsene beflecken
würden.
»Ich diene dem Imperator nicht wegen seiner Dankbarkeit. Ich tue
es zum Ruhm des Imperiums.«
»Genau«, sagte ich. Ich warf einen Blick auf das geschmolzene
Herz, das unser Jagdwild gewesen war. Für mich spielte es keine
Rolle, dass ich Lyko diese Gelegenheit verschafft hatte. Er konnte
den Ruhm haben. Mir war das egal. Die Flucht der Psioniker hatte
ihm einen Großteil des Ruhms geraubt, den er kürzlich erworben
hatte. Sie zu jagen, war seine einzige Möglichkeit der
Wiedergutmachung.
Ich blieb mit Aemos, Bequin, Medea und Nayl zurück. »Die
Mühsal des Umzugs bleibt uns erspart«, sagte ich. »Ich hatte so eine
Ahnung«, grinste Medea.
»Auf uns warten zwei Missionen.« »Auf uns?«, fragte Bequin.
»Ja, Alizebeth. Es sei denn, du glaubst, dass wir zu alt dafür
sind?«
»Nein, ich … ich …«
»Ich war zu lange im Hintergrund tätig. Habe mich zu lange auf
meinen fähigen Stab verlassen. Ich sehne mich nach der Arbeit im
Feld zurück.«
»Bei unserer letzten Feldarbeit wärst du beinahe getötet worden«,
schalt Bequin finster.
»Was, glaube ich, beweist, dass ich nachlasse.«
»Schäm dich!«, murmelte Nayl grinsend.
»Also werden wir uns in ein Abenteuer stürzen. Nur wir. Weißt du
noch, wie die waren, Aemos?«
»Offen gestanden bin ich noch nicht über sie hinweg, Gregor,
aber, ja.«
»Alizebeth?«
Bequin verschränkte übellaunig die Arme. »Oh, nichts wäre mir
lieber, als mitzukommen und mit anzusehen, wie du getötet wirst…«
»Dann sind wir uns also einig?«, sagte ich. Ich kann nichts dafür,
dass ich keine Miene verziehe. Locke hat dafür gesorgt. Aber die
Wirkung war doch so, dass Nayl und Medea lauthals lachten und
Aemos vor sich hingackerte.
Alizebeth Bequin musste selbst unwillkürlich grinsen.
»Zwei Missionen, wie ich schon sagte. Nach dieser Besprechung
könnt ihr alle ein paar Personen aus unserem Stab rekrutieren. Nayl
— ein, zwei Kämpfer, auf die du dich verlassen kannst, Aemos —
einen Astropathen, den wir unbesorgt einsetzen können. Alizebeth —
ein oder zwei Angehörige des Femininums. Alles in allem maximal
zehn Personen. Nicht mehr, verstanden? Macht es unter euch aus,
und haltet mich da raus. Wir brechen in zwei Tagen auf, und ich will
nicht aus zweiter Hand von irgendwelchen Streitereien erfahren.«
»Was sind das denn nun für Missionen?«, fragte Medea, die sich
auf ihrem Polstersessel räkelte und die langen Beine über eine
Armlehne baumeln ließ. Sie trank einen Schluck Wein und fügte
dann hinzu: »Du hast doch zwei gesagt, richtig?«
»Zwei.«
Ich drückte einen Knopf auf dem Datenstab in meiner Hand, und
ein hololithischer Schirm erwachte über dem Tisch zum Leben. Die
Worte der Botschaft, die ich vor dem Beginn der Tumulte auf
Thracian erhalten hatte, wurden in großen Leuchtbuchstaben
angezeigt: »Skalpell schneidet schnell, eifrige Zungen enthüllt. Auf
Cadia, zur Terz. Hund wünscht Dorn. Dorn sollte scharf sein.«
»Scheiße!«, rief Nayl.
»Ist das authentisch?«, fragte Medea, indem sie mich musterte.
»Das ist es.«
»Gott-Imperator, er ist in Schwierigkeiten, er braucht uns …«,
murmelte Bequin.
»Sehr wahrscheinlich. Medea, du musst alles für unsere Fahrt nach
Cadia vorbereiten. »Das ist unser erstes Ziel.«
»Und das zweite?«, fragte Aemos.
»Das zweite?«
»Die zweite Mission?«
Ich sah sie alle an. »Wir wissen alle, wie ernst die Angelegenheit
auf Cadia ist. Aber ich habe Gideon einen Eid geschworen. Ich will
herausfinden, was hinter dieser Gräueltat hier steckt. Ich will es
finden, jagen und bestrafen.«
Wissen Sie, es ist schon komisch, wie sich die Dinge manchmal
entwickeln.
Die Audienz war vorbei. Wir setzten uns an einen Tisch unweit
der Bühne und blieben noch ein paar Runden lang, wobei wir darauf
achteten, den Eindruck zu erwecken, als wüssten wir die
unanständigen Drehungen und Windungen des Mädchens mit dem
Bauchmund sehr zu schätzen.
Nach gut einer Stunde sahen wir Phant mit seinem Gefolge durch
einen Seiteneingang verschwinden. »Gehen wir«, sagte ich. Wir
tranken aus und standen auf. Nayl gab dem Stachelschweinmädchen
eine Handvoll Münzen und tätschelte ihren Hintern. Ihre Stacheln
sträubten sich, aber sie lächelte.
Der Wächter gönnte uns mit keinem seiner Köpfe noch einen
Blick, als wir gingen. Hinter der nächsten Ecke und außer Sicht der
trostlosen Spelunke gab ich Nayl eine von zwei Stimulanz-Spritzen
aus Messing, und wir entgifteten uns rasch, um den Alkohol zu neut-
ralisieren, der uns betäubte.
Es war mitten in der Nacht, aber es gab wenig Dunkelheit. Die
große Rundung von Eechans Ringsystemen erstrahlte in reflektiertem
Sonnenlicht und leuchtete wie Bänder aus diamantbesetztem Platin.
Die Hauptstraße der Barackenstadt war ein zerfurchter, mit Wasser
vollgesogener Morast, und die Reihen baufälliger, schmutziger
Häuser wurden von abblätternden Holzpromenaden flankiert.
Leuchtende Schilder und einige wenige Straßenlaternen spiegelten
sich in den Pfützen.
Jenseits der Barackenstadt im Westen erhoben sich die
gebirgsartigen Hänge der Hauptmakropole vor den Sternen wie ein
dunkler, mit Millionen winziger Lichter geschmückter Müllberg. Im
Osten waren die schmutzigen Schlote der Fabrikhöfe und
Destillerien zu sehen, aus denen brauner Dampf und gelbe Abgase in
den Himmel quollen.
Im Süden, auf dem grünen Ackerland — Ebenen aus dicken,
gummiartigen Gewächsen — konnten wir die Positionslichter
mehrerer großer Erntemaschinen sehen. Das waren segmentierte
käferartige Maschinen von der Größe eines kleinen Raumschiffs, die
den Grüngürtel mit massiven Ernte-Beißzangen aufkauten und im In-
nern in riesigen Bottichen und Verarbeitungsmaschinen verdauten.
Auf dem Rücken sprossen Schlote wie Rückenstacheln und spien
Flüssigabfälle und atomisierte Säfte hoch in die Atmosphäre, wo sie
eine Weile dahintrieben und dann wie Regen zur Erde fielen. Alles in
der Barackenstadt war klebrig vom Saft-Niederschlag. Der Regen
war zähflüssig wie Sirup. Die Pfützen auf der Straße ebenso. In
Ablaufrohren gluggerte und blubberte es, anstatt zu strömen. Überall
roch es nach sich zersetzenden Pflanzenfasern und verflüssigter
Zellulose.
»Glaubst du, er hat den Köder geschluckt?«, fragte ich.
Nayl nickte. »Man konnte sehen, dass er interessiert war. Gold ist
selten auf Eechan. Seine Augen haben geleuchtet, als ich ihm den
Barren gezeigt habe.«
»Aber er wird uns überprüfen wollen.«
»Natürlich. Er ist Geschäftsmann.«
Zum Schutz vor dem klebrigen Regen hatten wir die Kapuzen
hochgeschlagen. Ein paar Mutanten waren in der Nähe, sämtlich in
stinkende Lumpen gehüllt. Sie schlurften dahin, lungerten in
Hauseingängen um abgedeckte Brenner herum oder rauchten
gemeinsam Obscura-Wasserpfeifen in düsteren Durchgängen, wo sie
vor dem Regen geschützt waren.
Sirenen jaulten plötzlich die Hauptstraße entlang, und Nayl zog
mich in eine Gasse. Ein schwarz gepanzerter Schweber mit grellen,
vergitterten Scheinwerfern kroch vorbei.
Ich sah das Wappen der Arbites der Hauptmakropole auf der Seite,
und ein gerüsteter Offizier saß im Dachluk und bediente einen
Suchscheinwerfer.
Der Strahl traf uns und wanderte weiter. Noch einmal heulte kurz
eine Sirene auf, dann hörten wir eine verstärkte Stimme fordern:
»Ausweise und Papiere, ihr fünf. Vorwärts!«
Ächzend und murrend trat eine Gruppe von Twists auf die Straße
und ins Scheinwerferlicht, während die Beamten ausstiegen, um sie
zu filzen und ihre genetischen Abdrücke durch die Systeme zu jagen.
Was uns nicht passieren durfte. Nicht, wenn wir unseren Status als
anonyme Mutanten erhalten wollten. Ein einziges Vorzeigen meiner
Papiere würde uns an allen Kontrollen der Arbites vorbeibringen.
Aber es mochte auch Lyko alarmieren.
Ich hatte auf vollständige Tarnung für diese Mission bestanden.
Niemand wusste offiziell, dass wir hier waren. Aemos hatte
vorsichtig recherchiert, und es gab auch keine offizielle Spur von
Lyko. Aber das war auch zu erwarten gewesen, und es ließ sich
unmöglich sagen, wie viele Beamte der Hauptmakropole er darauf
angesetzt hatte, ihn über die Anwesenheit von Inquisitoren in
Kenntnis zu setzen.
Nayl und ich wandten uns an der nächsten Kreuzung nach Westen
und folgten dem Labyrinth der Gassen und Durchgänge zwischen
den Mietskasernen und Fabrikhabs, um auf einem Umweg zum
Twist-und-Schlaf zu gelangen, der uns abseits der Hauptstraßen und
der Arbites-Kontrollen halten würde.
Und, wie sich herausstellte, in Schwierigkeiten brachte.
»Ich hielt euch für tot!«, fluchte Bequin, als Nayl und ich in das
Zimmer im Twist-und-Schlaf platzten.
»Wir hatten noch Spaß auf dem Heimweg«, sagte Nayl. »Keine
Sorge, Lizzie. Ich habe den Boss heil zurückgebracht.«
Ich lächelte und goss mir einen kleinen Amasec ein. Bequin hasste
es, »Lizzie« genannt zu werden. Nur Nayl hatte den Mut dazu.
Aemos war am Fenster. Irgendwie passten die Lumpen seiner
Twist-Verkleidung gut zu ihm.
»Äußerst bestürzend - die Arbites kommen hierher.«
»Was?«
Nayl ging zum Fenster.
»Aemos hat recht. Drei Streifenwagen halten draußen. Beamte
betreten das Haus.«
»Versteckt euch, sofort!«, befahl ich.
Aemos eilte durch die Verbindungstür ins andere Schlafzimmer
und legte sich ins Bett. Nayl stolperte in das angrenzende
Badezimmer und täuschte mit einem Zahnbecher und lautem Ächzen
und Stöhnen vor, er sei damit beschäftigt, sich zu übergeben.
Alizebeth sah mich gehetzt an.
»Ins Bett! Schnell!«, befahl ich.
Die Arbites traten die Tür auf und hielten ihre Taschenlampen auf
das Bett. »Makropol-Arbites! Wer ist hier drin?«
»Was soll das?«, fragte ich, indem ich das Laken zurückschlug.
»Ein Straßenkampf mit Toten … Zeugen sagen, die Täter wären
hier untergetaucht«, sagte der Arbites-Sergeant, indem er sich dem
Bett näherte.
»Ich war die ganze Nacht hier. Mit meinen Freunden.«
»Bürgen die für sich, Twist?«, fragte der Sergeant und hob seine
Waffe.
»Was ist denn? Warum ist es so hell?«, sagte Bequin, während sie
aus dem dreckigen Bettzeug auftauchte. Irgendwie hatte sie ihr Kleid
unter dem Laken ausgezogen. Nur mit knapper Unterwäsche
bekleidet, glitt sie auf mich.
»Was wollt ihr? 'n Mädchen dran hindern, voranzukommen?
Schämt euch!«
Der Sergeant ließ den Strahl seiner Taschenlampe über ihren
Körper wandern, während sie sich an mich klammerte. Ich setzte das
alberne Lächeln des Glücklichen oder Betrunkenen auf.
Er schaltete das Licht aus. »Entschuldigen Sie die Störung,
Fräulein.« Die Tür schloss sich, und die Arbites polterten weiter.
Ich zwinkerte Bequin zu. »Gut improvisiert«, sagte ich.
Sie löste sich abrupt von mir und schnappte sich ihre Kleider.
»Komm bloß nicht auf komische Ideen, Gregor!«
Lyko war dumm gewesen und hatte sich selbst verdammt. Die
schädliche Enthüllung, dass es nicht Esarhaddon war, der auf dem
Rasen des Lange-Palasts verbrannt war, hätte umgangen werden
können, wenn Lyko klaren Kopf behalten hätte. Er hätte behaupten
können, es sei ein Fehler und ein weiteres Beispiel für die Heimtücke
und Hinterlist des Ketzer-Psionikers gewesen.
Aber Lyko war geflohen. Ob aus Furcht oder zwecks Einhaltung
eines Zeitplans, wusste ich nicht. Aber er war geflohen und hatte sich
damit selbst belastet.
Ich war zu seinem Haus gegangen, einem gemieteten Hab hoch in
den Türmen von Makropole Zehn, kaum dass Inshabel mich auf die
Täuschung aufmerksam gemacht hatte. Aber Lyko war ausgezogen
und hatte seine Leute mitgenommen. Sein Hab war leer und
verlassen, und in den ausgeräumten Zimmern fanden sich nur noch
ein paar spärliche Abfallreste.
Ich hatte meinen Stab darauf angesetzt, seine Spur aufzunehmen,
ein sehr hochgestecktes Ziel angesichts der planetenweiten
Datenzugriffsprobleme nach den Unruhen. Ich hatte praktisch sofort
beschlossen, ihn allein zu verfolgen, ohne die Inquisition zu
informieren. Sie mögen das sonderbar finden, vielleicht sogar wag-
halsig. In gewisser Weise war es das. Aber Lyko war ein Inquisitor
mit einem guten Ruf, angesehen und mit vielen Freunden. Wenn ich
dem Ordos berichtete, ich wolle ihm nachspüren, weil er einen
berüchtigten Ketzer-Psioniker verstecke, würden seine Freunde ihm
dies ganz sicher zutragen oder mir Ärger machen.
Diese Freunde schlossen natürlich Heidane und Commodus Voke
ein: jenes unentwegte Trio, das die dreiunddreißig Psioniker auf
Dolsene überhaupt erst gefangen hatte. Wie hohl mir diese
»Heldentat« jetzt vorkam. Ich war so beeindruckt gewesen, als Lord
Rorken mir den Bericht vorgelegt hatte. Vielleicht war die »Gefan-
gennahme« leicht gewesen oder sogar inszeniert, wenn Lyko
insgeheim mit Esarhaddon im Bunde war. Vielleicht war all das Teil
einer komplizierten Verschwörung gewesen, um die Gräueltat in der
Makropole Primaris zu begehen.
Die grimmigen, fruchtlosen Spekulationen wollten mir nicht mehr
aus dem Kopf gehen. Ich konnte nicht beweisen, dass Lyko
verdorben war, nicht einmal jetzt, obwohl ich gewiss den Verdacht
hatte. Er mochte eine unwissende Marionette auf Dolsene oder im
Lange-Palast gewesen sein, aber vielleicht war er auch von Anfang
an eine treibende Kraft. Ebenso möglich, dass seine Abreise von
Thracian ein Zufall war, den ich falsch interpretiert hatte. Es wäre
nicht das erste Mal, dass ein Inquisitor ohne vorherige Ankündigung
untertauchte, um verdeckt zu ermitteln.
Es war sogar möglich, dass er die Täuschung ebenfalls
durchschaut, extrem schnell darauf reagiert hatte und einer Spur
folgte, um seinen Fehler wiedergutzumachen. Oder dass er nach der
Schande einfach geflohen war … oder …
So viele Möglichkeiten. Ich musste möglichst viele
berücksichtigen und abdecken, und ich war sicher, dass Lyko mehr
oder weniger schuldig war, also würde ich ihm folgen. Selbst wenn
er auch nur Esarhaddon jagte, würde er mich in die richtige Richtung
führen.
Und ich konnte die Inquisition nicht informieren oder mit Voke
oder Heidane reden. So groß war meine Unsicherheit, dass ich nicht
einmal mit Sicherheit davon ausgehen konnte, dass sie keinen Anteil
daran hatten.
Mittag. Das hatte sie mit Schicht zwei gemeint. Den zweiten
Schichtwechsel des Tages. Wir gaben uns zwei Stunden, um
hinzukommen.
Husmaan hielt den Spürer in die Höhe, den uns das Sta-
chelschweinmädchen gegeben hatte, und schüttelte ihn. Dann
versetzte er ihm obendrein ein paar leichte Hiebe.
Wir wateten durch die Pflanzenfasern und erreichten ihn.
»Probleme?«, fragte ich.
»Das verdammte Ding … zu alt.«
»Zeig mal her.«
Husmaan gab es mir. Der Spürer war ein Haufen Schrott.
Ramponiert durch ein Leben harter Schläge und verbraucht, da die
Energiezelle praktisch leer war. Eine nette Note, anerkannte ich
Lykos sorgfältige Planung. Ein unzuverlässiger Spürer ließ alles sehr
viel echter aussehen. Eine nagelneue oder tadellos erhaltene Einheit
wäre so gut gewesen wie eine handschriftliche Einladung mit den
einleitenden Worten: »Liebe Verfolger, kommt bitte hierher und lasst
euch töten …«
Ich schüttelte das Gerät selbst und bekam noch ein Signal. Gerade
noch genug Saft, um uns in den Tod zu führen.
»Da entlang«, sagte ich.
Es war kurz vor Mittag. Die Sonne stand am Himmel, aber der
Saftnebel hatte sich nicht aufgelöst. Wir wurden in einen warmen,
gelben, klebrigen Schein getaucht. Dem Spürer zufolge waren wir
noch etwa einen halben Kilometer vom Auktionsort entfernt.
»Sie erwarten mich und Nayl, also gehen wir mit Bequin.« Ich
wollte einen Unberührbaren in meiner Nähe haben. »Inshabel, gehen
Sie mit Aemos nach Osten. Husmaan, nach Westen. In Deckung
bleiben. Niemand kommt, bevor ich nicht den direkten Befehl über
Kom gebe. Verstanden?«
Die drei nickten.
»Falls ihr etwas findet, sprecht Glossia und fasst euch kurz. Los.«
Nathun Inshabel entsicherte sein Lasergewehr und folgte mit
Aemos einer Kettenspur nach links. Die beiden hinterließen klebrige
Fußabdrücke in den glasigen zerquetschten Rückständen auf dem
Boden der riesigen Furche. Husmaans in Hanftuch gewickeltes
Präzisionslasergewehr war bereits entsichert. Er huschte nach rechts
und war rasch im Nebel untergetaucht.
»Sollen wir?«, fragte ich Bequin und Nayl.
»Nach dir«, grinste Nayl.
Ich gab einen letzten Befehl über Kom, in Glossia, und wir
marschierten ins zerfetzte Dickicht des Abgekäuten.
Er war das letzte Gesicht, das zu sehen ich erwartet hatte, obwohl
es seit fast hundert Jahren durch meine Albträume spukte.
»Es ist eine Weile her, Gregor, nicht wahr?«, fragte der
Dämonenwirt leise, beinahe freundlich. »Ich habe oft an dich
gedacht, liebevoll. Du hast mich auf 56-Izar besiegt. Ich … habe eine
Weile Groll gehegt, das muss ich zugeben. Aber als ich erfuhr, dass
du doch überlebt hattest, war ich entzückt. Es bedeutete, es würde
eine Gelegenheit für ein Wiedersehen geben.«
Der orange Kühlanzug fing an zu brennen und fiel in
geschmolzenen Flatschen von ihm ab, bis er nackt war. Er erhob sich
langsam, die Arme an der Seite wie ein Tänzer, und schwebte ein
paar Meter über der verkohlten Erde im Wind. Er war immer noch
hochgewachsen und von kräftiger Statur, aber die Aura, die von ihm
ausging, war eher giftgrün als golden, wie ich sie in Erinnerung
hatte.
Ungesund aussehende, dick hervortretende Adern überzogen
seinen Leib, und die Hörner-Ansätze auf der Stirn hatten sich zu
kurzen, gebogenen Haken entwickelt.
»Und so treffen wir uns wieder. Willst du denn gar nichts sagen?«
Ich spürte, dass Bequin neben mir vor Entsetzen zitterte.
»Bleib ruhig und rühr dich nicht«, sagte ich zu ihr.
Der Dämonenwirt sah sie an, und sein Lächeln wurde breiter. »Die
Unberührbare! Wie wunderbar! Eine beinahe exakte Wiederholung
unserer ersten Begegnung. Wie geht es dir, meine Liebe?«
»Was willst du?«, fragte ich.
»Was ich will?«
»Du willst immer etwas. Auf 56-Izar war es das Nekroteuch. Ach,
richtig, das hatte ich vergessen. Du willst nie irgendwas, oder? Du
bist ja nur ein Sklave und tust, was jemand anders dir befiehlt.«
Cherubaels Miene verfinsterte sich ein wenig. »Sei nicht
unhöflich, Gregor. Du solltest die Tatsache wertschätzen, dass ich
ein persönliches Interesse an dir entwickelt habe. Die meisten Dinge,
die mir in die Quere kommen, werden sehr schnell zerstört. Ich hätte
dich schon vor Jahren aufspüren können. Aber ich wusste … es gibt
ein Band.«
»Noch mehr von deinen Rätseln. Mehr Bedeutungsloses. Erzähl
mir etwas Wahrhaftiges. Erzähl mir etwas über Vogel Passionata.«
Er lachte, ein hässlicher Laut. »Ach, du hast also davon gehört,
ja?«
»Berichte über diesen Vorfall haben mich in den Augen vieler
verdächtig gemacht.«
»Ich weiß. Aber das lag nicht in meiner Absicht. Es war nur ein
winziger Irrtum meinerseits. Es tut mir leid, wenn dir dadurch
Unannehmlichkeiten entstanden sind.«
»Ich habe nicht den Wunsch, als Mann betrachtet zu werden, der
einen Pakt mit Dämonen eingeht.«
»Davon bin ich überzeugt. Aber genau das geschieht, ob es dir
gefällt oder nicht. Schicksal, Gregor. Unser beider Schicksal ist in
einer Weise miteinander verbunden, die du nicht einmal in Ansätzen
sehen kannst. Warum würdest du wohl sonst von mir träumen?«
»Weil es ein zentrales Ziel meines Lebens geworden ist, dich
aufzuspüren und zu bannen.«
»Oh, dahinter steckt sehr viel mehr als simple professionelle
Besessenheit. Denk nach — warum träumst du wirklich von mir?
Warum suchst du mich so emsig und verbirgst das wahre Ausmaß
deiner Suche sogar vor deinen Vorgesetzten?«
»Ich …« Meine Gedanken überschlugen sich. Dieses Ding wusste
so viel.
»Und warum ich dich verschont habe? Wenn du es auf Vogel
Passionata tatsächlich gewesen wärst, hätte ich dich leben lassen. Ich
habe dich auch auf Thracian leben lassen.«
»Was?«
»Du bist stehen geblieben, um Spatian an seinem Grabmal die
Ehre zu erweisen, und das Tor hat dich vor der Katastrophe bewahrt.
Warum bist du dort stehen geblieben? Du weißt es nicht. Du kannst
es nicht erklären, oder? Ich war es. Ich habe über dich gewacht. Ich
habe dir den Gedanken eingegeben. Dich eigentlich grundlos
innehalten lassen. Wir haben die ganze Zeit zusammengearbeitet.«
»Nein!«
»Du weißt es, Gregor. Du weißt nur nicht, dass du es weißt.«
Cherubael schwebte ein kurzes Stück weg und schaute sich um.
Auf dem Auktionsplatz waren alle erstarrt und gafften ihn an.
Niemand wagte, sich zu rühren, nicht einmal der willensschwächste
Twist-Wächter. Selbst jene Anwesenden, die nicht wussten, was er
war, erkannten das außergewöhnliche Böse und die Macht in ihm.
»Worauf wartest du noch?«, brüllte eine Stimme aus der Nähe.
Mehrere Bewaffnete traten aus ihrer Deckung im Gewirr des
Abgekäuten und näherten sich. Es war Lyko mit sechs knorpeligen
Beispielen für angeworbene Schläger.
»Sieh mal, wen ich gefunden habe, Lyko. Ich habe die Falle
gestellt, wie du angeregt hast, um herauszufinden, ob dir jemand auf
der Spur war, und sieh mal, wer es ist.«
»Eisenhorn …«, murmelte Lyko, und für einen Moment huschte
ein Schatten der Furcht über sein Gesicht. Er schaute zu Cherubael.
»Ich sagte, worauf wartest du noch? Töte sie, damit wir
verschwinden können.«
Plötzlich war mir klar, dass Lyko nicht der Herr und Meister des
Dämonenwirts war. Wie Konrad Molitor vor all diesen Jahren war
auch Lyko nur eine Marionette, der korrumpierte Agent von jemand
… etwas … anderem.
»Muss ich?«, fragte die schwebende Gestalt. »Tu es! Keine
Zeugen!«
»Bitte!«, rief der ältliche Merdok. »Wir wollten doch nur …«
Lyko fuhr herum und äscherte den alten Mann mit seiner
Plasmakanone ein.
Das brach den Bann. Phants Leute und die anderen Käufer brachen
in Panik aus, zogen Waffen und schrien wild durcheinander. Eine
wilde, wahllose Schießerei begann. Lykos Männer, allesamt Ex-
Militärs mit Autokanonen, nahmen den Podiumsbereich unter Feuer
und mähten die fliehenden Twists nieder. Ich sah, wie Phant Mastik
von einer Salve getroffen wurde und in mehreren Einzelteilen
rückwärts vom Podium fiel.
Sein gehörnter Wächter stürmte auf Cherubael los und schoss mit
einer verdreckten alten Laserpistole auf ihn.
Cherubael hatte sich nicht gerührt. Er beobachtete lediglich das
Morden ringsumher. Die Laserstrahlen prallten knisternd von seiner
Haut ab, und er starrte zu dem Twist herab, als sei er aus tiefen
Grübeleien gerissen worden.
Der Dämonenwirt rührte nicht einmal einen Finger. Ein
unmerkliches Nicken in die Richtung des gehörnten Wächters, und
der jämmerliche Twist wurde auf der Stelle filettiert, als
Energiewellen ihm die Haut abzogen und sein Skelett herauslösten,
das teilweise noch durch Gelenke verbunden war.
Ich spürte, wie der Warpraum um diesen trostlosen Ort in Wallung
geriet, als sich Cherubael an die Arbeit machte. Nachdem er einmal
begonnen hatte, war seine Wut grenzenlos. Merdoks Krieger-
Sklavinnen verschwanden in einem jähen Strudel und starben mitei-
nander verschmolzen. Der Schlamm unter Vassiks Füßen brodelte,
und sie und ihre Leibwächter versanken schreiend und um sich
schlagend darin.
Ich war wie erstarrt. Ich spürte, wie Bequin an mir zerrte.
Schüsse zischten an meinem Gesicht vorbei. Ich fuhr herum und
sah zwei von Lykos Männern auf uns zustürmen. Einer ging plötzlich
mit einem Kopfschuss zu Boden, den nur Husmaan aus der Deckung
des zerfetzten Unterholzes abgegeben haben konnte.
Nayl flog an mir vorbei und schoss den anderen mit seinem
Tronsvasse Parabellum nieder.
»Los! Wir müssen hier weg!«, rief er mir zu.
Blut, Dreck und Pflanzenfasern wirbelten durch die Luft. Ein
Warpgewitter knisterte rings um uns, so dicht und so finster, dass wir
kaum sehen und uns in seiner brodelnden Gewalt kaum auf den
Beinen halten konnten. Aber durch all das hindurch konnte ich die
leuchtende Gestalt Cherubaels erkennen.
Ich zog mein Energieschwert und rannte auf ihn zu.
»Gregor! Nicht!«, schrie Bequin.
Ich hatte keine Wahl. Ich hatte hundert Jahre auf diese Gelegenheit
gewartet. Ich würde ihn nicht wieder entkommen lassen.
Er schwebte zu mir herum und lächelte auf mich herab.
»Tu das weg, Gregor. Keine Sorge. Ich töte dich nicht. Lyko hat
keine Macht über mich. Um seine Klagen kümmere ich mich später,
und …«
»Wer hat Macht über dich? Wer ist dein Herr und Meister? Sag es
mir! Du steckst hinter dieser Gräueltat auf Thracian! Warum? Auf
wessen Anordnung?«
»Geh einfach, Gregor. Das ist jetzt nicht mehr deine Sorge. Geh
weg.«
Ich glaube, er war ehrlich überrascht, als ich ihm das
Energieschwert in die Brust hieb.
Ich weiß nicht, ob ich mir tatsächlich eingebildet hatte, ihm damit
Schaden zufügen zu können.
Die gesegnete Klinge schlitzte ihm fast den Bauch auf, bevor sie
explodierte und ich rückwärts davongeschleudert wurde.
Er schaute bestürzt auf die Wunde in seinem Rumpf. Warpenergie,
leuchtend und giftig, sprudelte daraus hervor. Einen Moment später
hatte sich die Wunde geschlossen, als habe sie nie existiert.
»Du kleiner Schwachkopf«, sagte Cherubael.
Ich flog plötzlich durch die Luft und schmeckte Blut im Mund.
Der Aufprall der Landung erschütterte meine Knochen und raubte
mir den Atem. Mir schwirrte der Kopf. Der Dämonenwirt hatte mich
gut dreißig Meter über die Lichtung und ins Unterholz geschleudert.
Überall gab es heftige psionische Detonationen. Schreiende, semi-
empfindungsfähige Winde aus den tiefsten Abgründen des
Warpraums schlängelten sich über das Feld und zerstörten die letzten
Twists und die fliehenden Käufer.
Ich versuchte aufzustehen, aber ich verlor das Bewusstsein.
Als ich wieder zu mir kam, stand das Abgekäute in Flammen. Von
Cherubael war nichts zu sehen. Inshabel und Aemos zogen mich
hoch.
»Bequin! Nayl!«, hustete ich.
»Ich finde sie«, sagte Inshabel.
»Wo ist Lyko?«, fragte ich Aemos, als Inshabel mit gezogener
Waffe loslief.
»Mit seinen Männern in zwei Schwebern geflohen.« »Und der
Dämonenwirt?«
»Das weiß ich nicht. Er scheint einfach verschwunden zu sein.
Vielleicht hatte er ein Warpsprungfeld.«
Ich lief auf den Platz zurück, obwohl mein ganzer Körper vor
Schmerzen brannte. Aemos rief mir hinterher.
Beim Aufprall auf den Rücken der Erntemaschine brach ich mir
das linke Handgelenk und vier Rippen. Im Nachhinein muss ich
sagen, dass ich Glück hatte, dabei nicht getötet zu werden, ja sogar
überhaupt auf der Erntemaschine gelandet zu sein. Es war ein weiter
Weg nach unten. Ich konnte mich an einem Stützkabel festhalten, als
ich langsam abwärts rutschte, und wickelte meinen rechten Arm
darum.
Mein Schweber schlug auf die kurze Landepiste, prallte ab und
brach langsam auseinander. Während Trümmer in alle Richtungen
flogen, raste er sich überschlagend in den Hangar, tötete den
Schützen, traf Lykos abgestellten Schweber und schob ihn gänzlich
in den Hangar, der einen Augenblick später in einem Meer aus
Flammen und Metall explodierte.
Ich humpelte die Landebahn entlang, wobei ich brennenden
Trümmerstücken auswich, und kletterte über die zerschmetterten,
rauchenden Schweber in den Hangar. Unfallsirenen heulten und
automatische Feuerlöschanlagen versprühten Löschschaum.
Hinten im Hangar war neben den Käfigen der Dienstund Fracht-
Aufzüge eine Luke halb geöffnet.
Ich ging durch die Luke. Eine Metalltreppe führte abwärts in die
Fabrik. An ihrem Fuß öffnete sie sich zu einem Niedergang, der sich
durch die gesamte Länge der Erntemaschine zog. Verdutzte
Arbeitsmannschaften, überwiegend Twists in saftfleckigen
Arbeitsanzügen, starrten mich an.
Ich zückte meine Rosette.
»Imperiale Inquisition. Wohin sind sie gegangen?« »Wer?«
»Wohin sind sie gegangen?«, fauchte ich und setzte meine
Willenskraft ohne Zurückhaltung ein.
Die Wirkung war so stark, dass keiner von ihnen reden konnte und
mehrere das Bewusstsein verloren. Alle anderen zeigten auf den
Niedergang in Richtung Bug der Erntemaschine.
Noch eine Luke, noch eine Treppe. Der Lärm der inneren
Dreschflegel war jetzt markerschütternd laut. Ich erreichte das riesige
innere Arbeitsband, einen Raum beinahe so lang wie die Maschine,
riesig und ohrenbetäubend, die Luft schwer vom Saftnebel. Ein
gewaltiges Förderband transportierte die Ernte von den Sensen-
klingen im Maul der Maschine in einer Größenordnung von
mehreren Tonnen pro Sekunde weiter. Twists mit Atemmasken und
Schürzen arbeiteten mit Kettenwerkzeugen und Schneidelanzen im
vorderen Teil, die über dick mit Gummi isolierten Kabeln mit den
Energiesystemen in der Decke verbunden waren. Sie sortierten und
schnitten die dickeren Wurzeln und Stängel heraus, bevor die Ernte
durch große Walzen und Pressen und dann zu den Quellbottichen
weiter hinten in der Maschine geleitet wurde.
Alarmsirenen jaulten und Warnlampen blinkten, und das Band
hatte angehalten. Arbeiter schauten sich um, während flüssige
Zellulose und Saft von ihren Handschuhen, Arbeitsanzügen und
Werkzeugen tropfte.
Ich bahnte mir einen Weg durch sie. Vorarbeiter schrien mich von
Gerüstbrücken weit über mir an. Ich konnte Lyko dreißig Meter
weiter vor mir am Fließband sehen. Er war in Begleitung eines
letzten Söldners und einer gefesselten Gestalt mit einem Visier um
den Kopf, bei der es sich nur um Esarhaddon handeln konnte.
Der Söldner drehte sich um und schoss auf mich. Drei Arbeiter
brachen zusammen, und einer fiel auf das Förderband. Die Schüsse
ließen Funken an den metallenen Laufgängen und Maschinenteilen
stieben.
Während die anderen Arbeiter Deckung suchten und sich zu
Boden warfen, ging ich in die Knie und griff nach meiner
Boltpistole. Sie war nicht da. Tatsächlich war das gesamte Halfter
aufgerissen. Ich wusste nicht, wann ich die Waffe verloren hatte, bei
Cherubaels Angriff oder bei der Landung auf der Erntemaschine,
aber sie war lange weg. Und mein geliebtes Energieschwert hatte
sich bei der Berührung mit dem Dämonenwirt aufgelöst.
Mehr Schüsse pfiffen das Fließband entlang und verbeulten die
Abdeckungen des Riemenantriebs. Ich kroch hinter eine Trommel
mit hydrobakterieller Reinigungslösung für die Werkzeuge.
Ich holte meine Ersatzwaffe aus dem Knöchelhalfter in der Seite
meines Stiefels. Es handelte sich um eine kompakte Automatik mit
einem so kurzen Lauf, dass er den Abzügsbügel kaum überragte.
Tatsächlich war der Griff länger als der Lauf und enthielt ein
Magazin mit zwanzig Schuss Kleinkalibermunition.
Ich wählte Einzelfeuer und gab ein paar Schüsse ab. Die
Abweichung war gewaltig und die Durchschlagskraft lausig.
Eigentlich war sie nur ein letzter Notbehelf auf kürzeste Entfernung.
Der Söldner am Band ließ sich durch mein erbärmliches
Gegenfeuer nicht stören, schaltete auf Dauerfeuer und beharkte das
Deck und den Arbeitsraum neben dem stehenden Band. Arbeiter, die
sich alle in eine Deckung schmiegten, fingen an zu schreien.
Das Schießen hörte auf. Ich riskierte einen Blick. Es klackte und
surrte, und das Band setzte sich wieder in Bewegung.
Der Söldner folgte seinem bereits davongeeilten Herrn. Lyko war
fast außer Sicht und stieß seinen Gefangenen vor sich her.
Warum ist Esarhaddon ein Gefangener?, fragte ich mich. Ich
verstand die Beziehung zwischen Lyko, dem Psioniker und
Cherubael immer noch nicht.
Ich rannte weiter. Der Söldner, Lyko und sein gefangener
Psioniker waren alle durch ein Schott gegangen. Wenn ich ihnen
folgen wollte, musste ich es praktisch blind tun. Und ich an Lykos
Stelle würde hinter dem Schott warten.
Bis jetzt hatte mein Gefühl mich bei dieser Affäre noch nicht
getäuscht.
Ich sprang auf das breite Förderband und rutschte durch die
verfilzte, klebrige grüne Pflanzenmasse quer darüber, wobei ich die
Rufe der immer noch in Deckung kauernden Arbeiter ignorierte. Der
Saft und die Bewegung des Bandes machten es praktisch unmöglich,
sich auf den Beinen zu halten. Einen Moment lang glaubte ich, ich
würde ausrutschen und unter die nächste Walze befördert.
Ich sprang auf der anderen Seite von grünem Brei und
Pflanzensaft tropfend auf das feste Deck. Jetzt folgte ich dem Band,
das die Maschine der Länge nach teilte, auf der anderen Seite.
Auch auf dieser Seite gab es ein Schott.
Ich ging geduckt hindurch.
Der Söldner wartete hinter dem anderen Schott auf der anderen
Seite. Er sah mich, fluchte und wandte sich mit seiner Autokanone
mir zu. Ich schoss bereits. Selbst auf diese kurze Entfernung wurde
die jämmerliche Durchschlagskraft meiner Waffe offensichtlich.
Seine trommelläufige Autokanone würde mich jeden Moment in
Stücke reißen.
Ich hechtete vorwärts, stellte meine Waffe mit dem Daumen auf
Dauerfeuer um und verschoss das gesamte Magazin kleiner Kugeln
mit einem schrillen Knattern.
Was mir an Durchschlagskraft fehlte, machte ich durch die
Trefferzahl wett. Ich traf ihn sechs oder sieben Mal in den linken
Arm und am Schlüsselbein, und die Treffer ließen ihn rückwärts
taumeln, während seine gebundene Rüstung aufriss. Die schwere
Autokanone flog ihm aus den Händen und landete auf dem
Förderband zwischen uns, das sie rasch davontrug.
Er war jedoch noch lange nicht tot, obwohl er stark aus mehreren
Kratzern und Löchern blutete. Wahrscheinlich schütteten seine
Drüsen irgendwelche Stimulanzen aus, die ihn aufputschten.
Mit einem wüsten necromundanischen Fluch zog er eine
militärische Laserpistole aus seinem Koppel und stieg auf das
Schutzgeländer auf seiner Seite des Förderbandes, um einen besseren
Schusswinkel zu bekommen. Ich warf die leere Pistole nach ihm, so
dass er sich duckte, und packte dann eine der neben dem Band an
Kabeln hängenden Arbeitslanzen.
Er gab einen Schuss ab, der meine Schulter knapp verfehlte. Ich
schwang die Lanze nach ihm, und die Spitze der surrenden
Kettenklinge reichte über das Band nach ihm. Aber mit einem
gebrochenen Handgelenk ließ sich das Werkzeug nur schwer
bewegen.
Also verwandelte ich den Schwung in einen Wurf und schleuderte
das lange Werkzeug wie eine Harpune.
Die Kettenspitze spießte ihn auf, und er starb schreiend und
während er versuchte, sich das industrielle Schneidewerkzeug aus
der Brust zu ziehen. Als er erschlaffte, zog die Spannung in dem
isolierten Kabel die Lanze zum Ruhehaken auf meiner Seite des
Bandes zurück und mit ihr den Leichnam auf das Förderband. Das
Band trug ihn so weit, wie das Kabel es zuließ, dann hielt ihn das
Kabel fest, während sich das Band unter ihm bewegte.
Haufen nasser Pflanzenfasern stauten sich davor und quollen an
der Seite über den Rand, so dass sie auf den Boden fielen.
Eisenhorn, sagte eine Stimme in meinem Bewusstsein.
Ich fuhr herum und sah Lyko auf einer Brücke mit Gitterboden
über dem Band stehen. Die Plasmakanone, mit der er den falschen
Esarhaddon verbrannt hatte, war auf mich gerichtet. Ich konnte den
ramponierten Psioniker sehen, dessen Kopf immer noch maskiert
war: Lyko hatte ihn auf der anderen Seite des Bandes an eine
Rohrleitung gekettet.
Sie hätten die Sache auf sich beruhen lassen sollen, Eisenhorn. Sie
hätten mir niemals folgen sollen.
Ich tue meine Arbeit, Sie verdammter Hund. Was haben Sie getan?
Was getan werden musste. Was getan werden muss.
Er kam von der Brücke herunter und ging mir entgegen. Auf
seinem Gesicht lag ein gehetzter, entsetzter Ausdruck.
Und was muss getan werden?
Stille.
Warum, Lyko? Die Gräueltat auf Thracian … wie konnten
Sie das zulassen? Sich daran beteiligen?
Ich … habe es nicht gewusst! Ich wusste nicht, was sie vorhatten.
Wer?
Er quetschte mir die Wange mit der Mündung seiner mächtigen
Waffe.
»Das reicht jetzt«, sagte er laut.
»Wenn Sie mich töten wollen, tun Sie's einfach. Ich bin
überrascht, dass Sie es nicht schon längst getan haben.«
»Zuerst muss ich noch etwas wissen. Wer weiß es? Wer weiß, was
Sie wissen?«
»Über Sie und Ihren kleinen Pakt mit dem Dämonenabschaum?
Über Ihren Diebstahl eines Psionikers der Alpha-plus-Stufe? Dass
Sie zugeschaut haben, während auf Thracian Millionen gestorben
sind? Ha!« Alle. Ich gab diese letzte Antwort um des Nachdrucks
willen auch mental. Alle. Ich habe Rorken und Orsini informiert,
bevor ich Ihrer Spur gefolgt bin.
»Nein! In diesem Fall wären mehr als nur Sie hinter mir her…«
»Es sind mehr hinter Ihnen her.«
»Sie lügen! Sie sind allein.
Sie sind erledigt.
Er stürmte mit seinem Geist in meinen, hektisch bemüht, mir die
Wahrheit zu entreißen. Ich glaube, ihm ging wahrhaftig auf, wie weit
er sich selbst in die Verdammnis geworfen hatte.
Ich wehrte seinen fieberhaften mentalen Angriff ab und konterte,
indem ich einen Pfeil aus psionischer Wut in seine Hirnrinde bohrte.
Er war dort. Das konnte ich spüren. Sein wahrer Herr. Das Gesicht,
der Name …
Ihm ging auf, was ich tat, ging auf, dass ich ihm psionisch
überlegen war. Er versuchte mich mit seiner Plasmakanone zu
erschießen, aber mittlerweile hatte ich sein Nervensystem gelähmt
und alle autonomen Funktionen blockiert. Ich durchforstete seinen
Geist. Er war erstarrt, hilflos, unfähig mich daran zu hindern, sein
Gedächtnis trotz der Blockaden und Sicherungen zu plündern, die er
dort angebracht hatte. Er oder jemand anders. Da. Da. Die Antwort.
Er stieß einen gequälten, seltsam modulierten Schrei aus.
Lyko löste sich von mir.
Cherubael schwebte über uns, hoch oben im Deckenbereich der
Fabrikhalle, und warf einen Schein aus schmutzigem Warplicht.
Würgend, zuckend und mit schlaffen Gliedern stieg Lyko ihm
entgegen. Aus Mund und Nasenlöchern strömte Rauch.
»Nun, nun, Gregor«, sagte Cherubael. »Netter Versuch, aber es
gibt Geheimnisse, die solche bleiben müssen.«
Mit einem Kopfnicken schleuderte er Lyko beiseite. Der Verräter-
Inquisitor flog durch die Halle nach vorn, prallte hart gegen die
Innenwand und fiel dann in die wirbelnden Sensenklingen im Maul
der Erntemaschine.
Sein Leib wurde vollständig aufgelöst.
Cherubael schwebte tiefer und packte die komatöse, gefesselte
Gestalt Esarhaddons, als hebe ein Kind eine Puppe auf.
»Ich werde nicht vergessen, was du getan hast«, sagte der
Dämonenwirt, indem er sich noch ein letztes Mal zu mir umdrehte.
»Das wirst du mir wiedergutmachen müssen.«
Dann war er verschwunden, und Esarhaddon mit ihm.
ZWÖLF
Auf Cadia, zur Terz.
Die Pylonen. Gespräch mit Neve.
Ein bitterkalter Herbstwind wehte von den Mooren herein, und die
Bandblätter fielen von den Axelbäumen. Sie flatterten an mir vorbei
wie trockener schwarzer Tang und sammelten sich in sich langsam
zersetzenden Wehen auf der dem Wind zugewandten Seite der Grä-
ber und der niedrigen Steinmauern.
Über mir war der bedeckte Himmel voller dahinrasender brauner
Wolken.
Ich folgte dem alten zugewachsenen Weg den bewaldeten Hang
empor und unter den zischelnden Axelbäumen durch und stand eine
Weile allein da, während ich den ausgedehnten Friedhof und den
kleinen Schreinturm betrachtete, der darüber wachte. Es gab keine
Spur von Leben und abgesehen vom Wind auch keine Bewegung.
Sogar das Lufttaxi, das mich vom Landeplatz in Kasr Tyrok
hergebracht hatte, war wieder abgeflogen. Ich vermisste beinahe die
Beschwerden des Fahrers, der Ort liege so weit außerhalb der Stadt.
Weit entfernt, jenseits der düsteren Moore und fast außer Sicht,
stand der nächste der berühmten, mysteriösen Pylonen, eine eckige
Silhouette. Sogar aus dieser Entfernung konnte ich den
absonderlichen klagenden Laut hören, den der Wind erzeugte, wenn
er durch die Geometrie der Pylonen wehte, eine Geometrie, die zu
erklären tausende von Jahren menschlicher Gelehrtenschaft nicht
vermocht hatte.
Dies war mein erster Besuch auf der Welt, die auch das Wachhaus
des Imperiums genannt wurde. Bisher hatte sie sich noch nicht bei
mir einschmeicheln können.
»Also, Dorn … du hast dir Zeit gelassen mit dem Zustechen,
oder?«
Ich drehte mich langsam um. Er war hinter mir eingetroffen, so
lautlos wie die Leere selbst.
»Nun?«, fragte er. »Was würdest du sagen, was wir für eine Zeit
haben?«
»Ich betrachte mich als angemessen gescholten«, sagte ich.
Er blieb ungerührt, dann zuckte die Narbe unter seinem milchigen
Auge, und er lächelte.
»Willkommen auf Cadia, Eisenhorn«, sagte Fischig.
Wir setzten uns auf eine Bank und ehrten beide kurz den Altar mit
dem Zeichen des Adlers, indem wir die zusammengelegten Hände
gegen unser Herz drückten.
»Es ist sonderbar«, sagte Fischig nach einer langen Pause. »Vor
über einem Jahr hast du mich wieder einmal losgeschickt, um Spuren
dieser Dämonenbrut Cherubael zu finden. Und kaum finde ich eine
Spur, triffst du ihn wieder, und zwar auf der anderen Seite des ver-
dammten Sektors.«
»Sonderbar ist wahrscheinlich nicht das Wort, das ich benutzen
würde.«
»Aber dieser Zufall. Ist es ein Zufall?«
»Ich weiß es nicht. Es sieht wie einer aus. Aber … dieses Ding …
Cherubael… entwaffnet mich so.«
»Natürlich, alter Freund.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht wegen seiner Macht. Das meine
ich nicht.« »Was dann?«
»Wie er mit mir redet. Wie er sagt, er benutzt mich.« »Dämonen-
Arglist!«
»Vielleicht. Aber er weiß so viel. Er weiß … ach verdammt! Er
redet so, als wäre unser Schicksal unweigerlich miteinander
verknüpft. Als wäre er mir wichtig und umgekehrt.«
»Er ist dir wichtig.«
»Ich weiß, ich weiß. Als Ziel. Als Beute. Als meine Nemesis.
Aber er redet, als würde noch mehr dahinter stecken. Als könnte er
die Zukunft sehen oder lesen oder als wäre er sogar schon dort
gewesen. Er redet mit mir … als wüsste er, was ich tun werde.«
Fischig runzelte die Stirn. »Und … was könnte das deiner
Meinung nach sein?«
Ich erhob mich und ging zum Altar. »Ich habe keine Ahnung! Ich
kann mir nicht vorstellen, je irgendwas zu tun, das dem Dämon
gefallen oder nützen würde! Ich kann mir nicht vorstellen, jemals so
wahnsinnig zu sein!«
»Glaub mir, Eisenhorn, wenn ich das jemals glaubte, würde ich
dich persönlich erschießen.« Ich sah ihn an. »Tu das bitte.«
Ich blieb stehen und schaute in die flackernden Kerzenflammen.
Ich sah all die Schatten und auch möglichen Schatten, die ich warf
und die sich auf dem Steinboden überlappten. Wie die unzähligen
Möglichkeiten in der Zukunft. Ich versuchte, nicht in die dickeren,
schwärzeren Schatten zu schauen.
»Dieser Warp-Bastard spielt nur mit dir«, sagte Fischig. »Das ist
alles. Spiele, um dich von seiner Spur abzubringen und dich auf
Distanz zu halten.«
»Wenn das so ist, warum rettet er mir dann ständig das Leben?«
Wir flogen dicht über das Moorland in die beißenden Winde. Das
Licht wurde schwächer. Die grimmige Pracht von Cadia war unter
uns ausgebreitet. Dies war die gnadenlose windgepeitschte Wildnis,
die eine der robustesten Kriegergattungen des Imperiums
hervorbrachte. Hier gab es die versprengten Inselchen im Caduca-
desmeer, auf denen sie als Prä-Pubertierende nackt ausgesetzt
wurden, um den rituellen Monat des Werdens zu überleben. Hier gab
es die Bergfestungen, in denen die Armeen der Cadianischen Jugend
überwinterten und sich abhärteten und spielerische Manöverkriege
gegen die benachbarten Festungen führten. Hier gab es die Klippen,
Eisseen und Axelwälder, wo sie die Kunst der Tarnung lernten.
Hier gab es die ausgedehnten Prärien, in denen ihre
Schießübungen mit scharfer Munition stattfanden.
Es gibt ein Sprichwort: »Wenn die Munition nicht scharf ist, kann
es keine cadianische Übung sein.« Von dem Zeitpunkt an, wenn sie
ihr erstes eigenes Lasergewehr bekommen, also ungefähr zu der Zeit,
wenn sie ihre ersten Fibeln lesen, wird scharfe Munition an die junge
Kriegerkaste Cadias ausgehändigt. Die meisten können schießen,
töten und die meisten Infanterie-Feldmanöver, bevor sie zehn
Standardjahre alt sind.
Der Pylon ragte jetzt schon eine ganze Weile vor uns auf, und als
wir ihn erreichten, schwenkte Fischig den Schweber herum und
umflog ihn so nah, dass wir den schwarzen Stein fast berührten.
Das Klagelied des Windes bei seinem Weg durch die Geometrien
des Pylonen war jetzt so laut, dass es das Dröhnen der Turbinen des
Schwebers übertönte.
Der Pylon war riesig: beinahe einen halben Kilometer hoch und
einen viertel Kilometer lang und breit. Die obere Wand des glatten
schwarzen Steins war so gestaltet, dass sie Löcher und andere runde
Öffnungen bildete, die nicht größer als ein menschlicher Kopf waren.
Diese schlanken, zweihundertfünfzig Meter langen Röhren waren es,
durch die der Wind ächzte und heulte.
Und die Röhren verliefen nicht gerade. Sie wanden sich wie
Wurmtunnel durch den Pylon. Techmagi hatten versucht, winzige
Servitor-Sonden hindurchzuschicken, um ihre Windungen und
Biegungen zu vermessen, aber im Allgemeinen kehrten die Sonden
nicht zurück.
Als wir für den nächsten Rundumflug höher stiegen, konnte ich
die entfernte Gestalt des benachbarten Pylonen jenseits der Moore
sechzig Kilometer entfernt sehen. Fünftausendachthundertundzehn
bekannte Pylonen finden sich auf der Oberfläche Cadias, die zwei-
tausend anderen nicht gezählt, die nur noch Ruinen oder versunkene
Relikte sind.
Keine zwei sind identisch. Jeder Pylon erhebt sich genau
fünfhundert Meter hoch und reicht einen viertel Kilometer in den
Boden. Sie waren vor der Ankunft des Menschen in diesem System
da, und die Art ihrer Herstellung ist unbekannt. Für alle unserer
Rasse bekannten Auspex-Messungen sind sie absolut inaktiv, aber
viele glauben, ihre Anwesenheit erkläre die relative Ruhe der
heftigen Warpströmungen, die das Tor von Cadia zur einzig ruhigen,
befahrbaren Route durch das Ocularis Terribus macht.
»Sie haben versucht, dieses Ding zu vermessen?«
»Genau«, erwiderte Fischig über das Dröhnen der
Schweberturbinen hinweg, während wir uns in die nächste scharfe
Kurve legten. »Diesen und noch ein paar andere. Sie hatten Abtaster-
Systeme und Geo-Lokalisatoren und magnetische Lote. Die exakten
Abmessungen zu ermitteln … und ich meine ›exakt‹ … war das
einzige Ziel der Söhne Baels.«
»Haben sie mit Cherubael zu tun … abgesehen von diesem ›Bael‹-
Teil, meine ich?«
»Die Verhörprotokolle, die ich gelesen habe, zeigen, dass sie
›Bael‹ vollständig als Gott namens Cherub von Bael bezeichnen, der
zu ihnen gekommen ist und verlangt hat, dass sie im Tausch gegen
viel Wissen und große Macht die Pylonen vermessen.«
»Und der Inquisitor-General … dieser Gorfal? Er hat das
unterdrückt?«
»Nicht absichtlich. Ich glaube, er war einfach nur nachlässig.«
»Ich will mit dem aktuellen Inquisitor-General reden … Neve ist
ihr Name, sagtest du?« »Ja. Das dachte ich mir.«
»Es ist spät. Ich hatte die Geschäfte für den heutigen Tag
beendet«, sagte Inquisitor-General Neve, während sie ihre Holofeder
wieder in das Energiefass aus Messing auf ihrem Tisch tunkte.
»Ich bitte um Verzeihung, Inquisitor-General.«
»Sparen Sie sich die Mühe. Ich habe nicht die Absicht, meine Tür
vor dem berühmten Inquisitor Eisenhorn zu verschließen. Wir sind
weit vom helicanischen Subsektor entfernt, aber Ihr Ruf eilt Ihnen
voraus.«
»Auf eine gute Art, hoffe ich.«
Der Inquisitor-General erhob sich von ihrem Schreibtisch und
strich die Vorderseite ihrer grünen Flanellrobe glatt. Sie war eine
kleine, stämmige Frau am Ende des ersten Jahrzehnts ihres zweiten
Lebensjahrhunderts, wenn ich mich auf mein Auge verlassen konnte,
mit pfeffer-und-salz-farbenen Haaren, die streng zurückgekämmt und
zu einem Knoten gebunden waren. Sie hatte die typische blasse,
straffe Haut und die violetten Augen der Cadianer.
»Wie auch immer«, schnauzte sie.
Wir standen in ihrem Allerheiligsten, einem achteckigen Raum mit
einem schwarz-weißen Cosmati-Boden und Ätherzitwänden mit
einem eingearbeiteten Wasserblatt-Muster. Für die Beleuchtung
sorgten Binsenlichter, und der Flammenschein betonte das Lotusblü-
ten-Motiv.
Inquisitor-General Neve kam hinter ihrem Schreibtisch hervor und
stützte sich dabei auf einen verzierten silbernen Krückstock.
»Sie wollen sich wahrscheinlich die Bael-Aufzeichnungen
ansehen, nehme ich an?«
»Wie sind Sie darauf gekommen?«, fragte ich.
Sie verlagerte ihr Gewicht auf ihren gesunden Fuß und zeigte mit
der gummiüberzogenen Spitze des Stocks auf Fischig.
»Den kenne ich. Der war schon mal hier. Einer von Ihren Leuten,
nehme ich an.« »Einer meiner besten.«
Sie zog eine ihrer dünnen, gezupften Augenbrauen hoch. »Ha! Das
verrät eine Menge über Sie. Kommen Sie. Ins Archiv.«
Wir arbeiteten bis Mitternacht weiter. In dieser Zeit lasen wir die
Akten mehrerer hundert Fälle und stellten Querverbindungen
zwischen ihnen her.
Mittlerweile war das Kanonenboot vom Landeplatz in Kasr Tyrok
als Reaktion auf meinen Kom-Ruf eingetroffen. Fischig fand einen
von Neves Rubrikatoren und erteilte ihm den Auftrag, bis zu unserer
Rückkehr am nächsten Morgen Datentafel-Kopien der viel-
versprechendsten Fälle anzufertigen. Dann setzten wir uns wieder in
den Schweber und flogen durch die Zickzack-Straßen des Kastells
zum Landefeld der Stadt.
Die Sterne waren herausgekommen, und es war kalt. Nachtfalter
umflatterten die Landelichter des wartenden Kanonenboots.
Am Nachthimmel war ein malvenfarbener Schmier tief am
Osthorizont zu sehen. Der aufsteigende Nebel des Auge des
Schreckens. Trotz der großen Entfernung und obwohl er nur ein
Fleck am Himmel war, überlief mich bei seinem Anblick doch ein
Frösteln. Wenn der zweiköpfige Adler all das symbolisiert, was gut,
edel und richtig am Imperium der Menschheit ist, dann steht dieser
widerliche Schmier für alles, was an unserem ewigen Feind
verdammenswert ist.
Gelächter und warme Stimmen begrüßten Fischig, als wir an Bord
gingen. Aemos schüttelte ihm wiederholt die Hand, und Bequin
drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange, der ihn erröten
ließ. Er wechselte ein paar spielerische Sticheleien mit Nayl und
Medea und fragte Husmaan, ob er hungrig sei.
»Warum?«, fragte der Späher-Jäger, während sich seine Augen
voller Vorfreude weiteten.
»Weil Abendbrotzeit ist«, sagte Fischig. »Betancore, bring diese
Kiste in die Luft.«
Wir flogen an den sicheren Ort, den er erwähnt hatte.
Ich war gut fünf Jahre nicht an Bord des Eilfrachters Essene
gewesen. Als Klipper der Isolde-Klasse glich der Frachter einer
raumtüchtigen Kathedrale. Er war drei Kilometer lang und sah vor
Anker im Orbit um Cadia ebenso erhaben aus wie bei meinem ersten
Blick auf das Schiff beinahe hundert Jahre zuvor in der kalten Um-
laufbahn um Hubris.
Medea bugsierte uns zur Frachtluke des gigantischen Schiffes vor
uns.
»Ein Freihändler?«, fragte Inshabel vorsichtig nach einem Blick
über meine Schulter auf das Schiff voraus.
»Ein alter Freund«, versicherte ich ihm.
Ich erklomm die Stufen des Ministeriums der inneren Abwehr und
unterwarf mich der Sicherheitsüberprüfung im hinteren Wachhaus.
Sie hätte eine Formalität sein müssen. Ich traf seit fünfundsiebzig
Tagen praktisch jeden Tag zur selben Zeit ein. Ich kannte sogar ei-
nige der Wachposten dem Gesicht nach.
Aber es war immer noch so wie bei meinem ersten Besuch. Die
Papiere wurden nicht nur abgestempelt, sondern gründlich gelesen
und mit einem Anti-Fäl-schungs-Auspex abgetastet. Meine Rosette
wurde begutachtet und geprüft. Der Offizier vom Dienst gab meine
Daten über Kom ans Hauptgebäude durch, um die Genehmigung zu
bekommen.
»Langweilt Sie das nicht?«, fragte ich einen der diensthabenden
Offiziere, während ich wartete und meine Papiere wieder in der
Brieftasche verstaute.
»Was langweilt mich nicht, Herr Inquisitor?«, fragte er.
Seit der ersten Woche hatte ich lbbet nicht wiedergesehen. Ich war
zwischen einigen Aufsehern hin und her gewechselt. Einer hatte mir
gesagt, das liege an Schichtwechseln, aber ich wusste, es lag mehr
daran, dass keiner von ihnen gern mit einem Inquisitor zu tun hatte.
Insbesondere einem beharrlichen.
An diesem Morgen war es Major Revll, der mich hineinbegleitete.
Revll, ein bärbeißiger junger Mann, war mir neu.
»Wie kann ich Ihnen helfen, Inquisitor?«, fragte er knapp. Ich
seufzte.
Offene Logbücher und Datentafeln lagen an dem Arbeitsplatz
herum, wie ich sie am Abend zuvor verlassen hatte. Revll rief bereits
einen Archivdiener, um sie wegräumen zu lassen und Platz für mich
zu schaffen, bevor ich erklären konnte, dass ich für dieses
Durcheinander überhaupt erst verantwortlich war.
Er sah mich wachsam an. »Sie waren schon mal hier?«
Ich seufzte wieder.
Ich hatte zwei Stunden. Um elf Uhr sollte ich mich mit Inshabel
und Bequin treffen und zu einem Dorf auf einer der Inseln im
Caducadesmeer fliegen, um ein Gerücht zu untersuchen, ein Mann
dort wisse etwas über Schmuggel. Meiner Überzeugung nach eine
weitere Zeitverschwendung.
Ich fing mit dem Protokollbuch des Luftverkehrs an und ging die
Listen der Transfers aus der Umlaufbahn für einen Sommertag vor
zwei Jahren durch. Irgendwann stieß ich auf den Eintrag eines
Fährfluges von einem Schiff in der Umlaufbahn zu einem Landefeld
bei Kasr Gesh. Gesh lag in der Nähe eines der von den Söhnen Baels
frequentierten Pylonen. Außerdem ergab ein Vergleich, dass dieser
Transfer drei Tage vor den letzten bekannten Kult-Aktivitäten an
diesem Pylon stattgefunden hatte.
Ich heizte die Datenmaschine an und forderte weitere
Informationen über den Eintrag an. Die Anforderung wurde sofort
abgewiesen. Ich benutzte einen höheren Entschlüsselungscode und
bekam einen Bericht zu Gesicht, der weder den Namen des Schiffs
noch die Herkunft der Transfererlaubnis nannte. Ich verspürte so et-
was wie Aufregung und ging den Bericht durch. Sogar der Zweck
des Besuchs war geheim.
Jetzt gab ich meinen höchsten Entschlüsselungscode ein. Das
Terminal surrte und summte, während es Dateien und Befugnisse
durchging.
Der Name tauchte auf. Meine Erregung erreichte ihren Höhepunkt
und fiel dann ins Bodenlose.
Neve. Der mysteriöse Eintrag gehörte zu einer Geheimmission des
Inquisitor-Generals. Zurück zum Start.
Die Insel war kalt und kahl. Ein kleines Fischerdorf klammerte
sich an den Rand der westlichen Bucht. In-shabel landete den
Schweber auf dem gepflasterten Tideweg, wo ausgebreitete Netze
steif vom Eis waren.
»Wie lange noch, Gregor?«, fragte Bequin mich, indem sie sich
ihren Schal um den Hals wickelte.
»Wie lange noch was?«
»Bis wir aufgeben und gehen? Ich habe diese schicksalsverlassene
Welt so satt.«
Ich zuckte die Achseln. »Noch eine Woche. Bis zur Kerzennacht.
Wenn wir bis dahin nichts gefunden haben, verabschieden wir uns
von Cadia, das verspreche ich.«
Wir trotteten den vereisten Weg entlang zu einer grimmigen
Taverne mit Blick auf den Meerwall. Ankerfische so groß wie
Menschen hingen draußen gesalzen und getrocknet in der Winterluft.
Der Barmann wollte uns nicht kennenlernen, aber sein Gehilfe
brachte uns etwas zu trinken und führte uns in ein Hinterzimmer. Er
gab zu, die Nachricht über den Schmuggler geschickt zu haben. Der
Schmuggler sei hier, um sich mit uns zu treffen, sagte er.
Wir betraten das Hinterzimmer. Ein Mann saß am tosenden Kamin
und wärmte sich die juwelenbesetzten Finger am Feuer. Ich roch
Duftwasser.
»Guten Morgen, Gregor«, sagte Tobius Maxiila.
Trotz des aus dem Hinterzimmer dringenden Geschreis brachte
uns der Gehilfe Kräuteromelettes, Schalen mit dampfender
Zarfischflossensuppe und eine Flasche starken Wein.
»Wollen Sie das nicht erklären?«, fragte Inshabel harsch.
»Natürlich, mein lieber Nathum, natürlich«, erwiderte Maxilla,
indem er jedem eine sorgfältig abgemessene Menge von dem Wein
einschenkte.
»Haben Sie Geduld.«
»Jetzt, Tobius«, schnauzte ich.
»Oh«, sagte er, als er meinen Blick sah. Er lehnte sich zurück.
»Ich gestehe, dass ich in diesen letzten Wochen ein wenig verzagt
war. Sie waren alle so beschäftigt, und ich habe auf der Essene
immer nur gewartet … jedenfalls haben Sie oft genug gesagt, die
Antwort, die Sie suchten, hinge von einer Sache ab, nämlich davon,
einen Weg durch das obsessiv engmaschige Sicherheitsnetz dieser
trostlosen Welt zu finden. Anonym. Und ich sagte mir: ›Tobius,
genau das tust du, obwohl Gregor nicht gerne darüber nachdenkt.
Schmuggeln, Tobius, ist deine starke Seite. ‹ Also habe ich mir
vorgenommen festzustellen, ob ich mich auf den Planeten
schmuggeln kann. Und wissen Sie was?«
Er lehnte sich zurück, nippte an seinem Glas und sah abscheulich
zufrieden mit sich aus.
»Sie haben sich auf diesen Planet geschmuggelt, um zu beweisen,
dass es möglich ist?«, fragte Bequin zögerlich.
Er nickte. »Meine Fähre ist im Dickicht hinter dem Dorf
verborgen. Es ist erstaunlich, wie viele verschlossene Münder und
blinde Augen man sich hier mit einer Börse voller harter Währung
kaufen kann.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, sagte ich.
Er breitete die Arme aus. »Sie haben mir vor Wochen erzählt, dass
die Innere Garde keine Kenntnis von illegalen oder verdächtigen
Einwanderungen hätte. Tja, ich bin heute hier - buchstäblich, um zu
beweisen, dass diese Behauptung falsch ist. Cadia ist eine harte Nuss,
das gebe ich zu. Eine der härtesten, mit denen ich es in meiner
langen, ungehörigen Laufbahn zu tun hatte. Aber man kann sie
knacken, wie Sie sehen.«
Ich leerte mein Glas in einem Zug. »Dafür müsste ich meine
Bande zu Ihnen durchschneiden, Tobius. Das wissen Sie.«
»Ach, was, Gregor! Weil ich gezeigt habe, dass die ca-dianische
Innere Garde ein Haufen Trottel ist?«
»Weil Sie das Gesetz gebrochen haben!«
»Ah ah ah! Nein, habe ich nicht. Vielleicht gebeugt, aber nicht
gebrochen. Meine Anwesenheit hier ist vollkommen legal, und zwar
sowohl nach cadianischem als auch nach imperialem Recht.«
»Was?«
»Ach, kommen Sie, alter Freund! Was glauben Sie, warum meine
Fähre heute Morgen nicht von eifrigen cadianischen Kanonieren vom
Himmel geholt wurde? Das war übrigens eine rhetorische Frage.
Antwort … weil ich, als die Abfangjäger kamen, den richtigen Si-
cherheitscode gesendet habe und sie das zufriedengestellt hat.«
»Aber die täglichen Codes sind geheim! Alles wird dreifach
gegengeprüft! Die Codes werden nur an entsprechend hohe Ränge
ausgegeben. In wessen Namen könnten Sie sich die Codes besorgt
haben?«
»Na, Gregor … in Ihrem natürlich.«
Es hatte mich die ganze Zeit angestarrt, und es hatte der auf
Effekthascherei bedachten Extravaganz Maxillas in ihrer
prahlerischsten Ausprägung bedurft, um es aufzudecken. Der Grund,
warum die Innere Garde keine Akten über illegale oder verdächtige
Einwanderungen hatte, war der, dass es keine derartigen Fälle gab.
Jene, die sich in den Maschen des Sicherheitsnetzes von Cadia
verstrickten und scheiterten, starben. Jene, die durchkamen, taten
dies unbemerkt.
Weil sie höchstranginge Sicherheitsfreigaben benutzten und sich
als offizielle Besucher ausgaben, die nicht angehalten wurden.
Leute wie mich. Leute wie Neve.
»Diese Reise habe ich nie gemacht«, sagte Neve, während sie die
Datentafel betrachtete, die ich ihr zeigte. »Die auch nicht.«
»Natürlich nicht. Aber jemand hat sich Ihren Berechtigungscode
ausgeborgt. Um sich Zutritt zum Planeten zu verschaffen. So sind sie
hereingekommen. Sehen Sie hier, Ihr Code, immer wieder. Und
davor der Ihres Vorgängers Gonfal. Es reicht vierzig Jahre zurück.
Jeder Ausbruch von Aktivität der Söhne Baels … und anderer Kulte
… findet seine Entsprechung in Transfers aus dem Raum, die als
Flüge der Inquisition deklariert sind.«
»Der Imperator beschütze mich!« Neve blickte auf. Sie legte die
Datentafel beiseite und befahl einem Servitor mit heiserer Stimme,
mehr Licht in ihrem achteckigen Allerheiligsten zu machen.
»Aber mein Berechtigungscode ist geschützt. Wie wurde er
gestohlen? Eisenhorn, Ihrer wurde benutzt, um es zu beweisen. Wie
wurde der gestohlen?«
Ich hielt kurz inne. »Er wurde nicht gestohlen, nicht wirklich.
Einer meiner Leute hat ihn sich geborgt, um den Beweis zu führen.«
»Warum überrascht mich das nicht? Aber egal! Eisenhorn,
zwischen uns gibt es einen großen Unterschied. Sie haben vielleicht
schurkische Elemente in Ihrer Gruppe, die hinter Ihrem Rücken
unorthodoxe, unilaterale Methoden anwenden. Ich habe das nicht.
Mein Code hätte nicht so missbraucht werden können.«
»Ich akzeptiere das Argument, aber missbraucht worden ist er.
Wer hat Zugang zu Ihrem Code?«
»Niemand! Niemand unter mir!«
»Aber über Ihnen?« »Was?«
»Ich sagte doch, es könnte einer von uns sein. Ein hochrangiger
Inquisitor, vielleicht sogar ein Großmeister. Ganz sicher ein
gerissener Veteran mit genug Einfluss, um an den richtigen Drähten
zu ziehen.«
»Das würde eine direkte Vollmacht auf den höchsten Ebenen
voraussetzen.«
»Genau. Sehen wir uns die Sache an.«
Kurz nach Mitternacht brachte uns ein Schreiber aus dem Officio
Astropathicus die Datentafel mit der Nachricht. Die Winterwinde
ließen die Fensterflügel im Allerheiligsten erbeben.
Ich war mit Neve allein. Wir stimmten überein, dass Gesellschaft
unangemessen gewesen wäre. Dies war eine Angelegenheit von
größter Bedeutung. Wir hatten über dies und das geredet, um uns die
Zeit zu vertreiben, obwohl wir beide unruhig und gereizt waren. Sie
goss uns großzügig bemessene Mengen von cadianischem Glavya
ein, der der Kälte die Schärfe nahm.
Ihr Adjutant meldete den Schreiber an, der eintrat und sich tief
verbeugte, so dass sein augmetisches Chassis unter seinen
Gewändern knirschte. Seine Mechandriten, die ihm als Hand dienten,
hielten ihr eine Datentafel hin. Neve nahm sie und ließ ihn wegtreten.
Ich erhob mich und stellte mein kaum angerührtes Glas beiseite.
Neve humpelte zu mir, stützte sich auf ihren silbernen Stock und
hielt die Tafel in die Höhe. »Wollen wir?«, fragte sie.
Wir gingen in den Anbau und luden den Inhalt der Tafel in den
alten Codifizierer. Über die grüne Anzeige huschten fieberhaft
Runen. Sie öffnete die Datei, um die es ging, und setzte den
Entschlüssler darauf an. Es dauerte einen Moment.
Dann wurde die Identität des Veteranen auf einem kleinen Schirm
mit grünem Hintergrund enthüllt, der seine Macht benutzt hatte, um
Neves Code zu manipulieren. Endlich hatte der Verdammte einen
Namen.
Er schockierte sogar mich.
»Imperator im Himmel«, hauchte Inquisitor-General Neve.
»Quixos.«
Die Carnificina ragte aus dem wogenden Meer wie der Mahlzahn
eines gewaltigen Pflanzenfressers, an dem das Zahnfleisch
weggefressen worden war.
Sie war weniger gebaut, sondern vielmehr in die hoch aufragende
Klippe gehauen worden. Auf der ganzen Gefängnisinsel gab es keine
Mauer, die dünner als fünf Meter war.
Heftige Brecher klatschten in weißer Gischt gegen ihr Granit-
Fundament, und der westliche Teil der Insel war weit offen für den
schlimmsten pelagischen Missbrauch durch die Meere dahinter.
Eisberge, von den Gletschern im Cadu-Sund und dem entfernten
Isthmus von Caducades abgespalten, barsten im offenen Meer
zwischen der Gefängnisinsel und den kahlen Atollen ihr gegenüber.
Seetang und zählebige Axelbäume zierten die unteren Hänge.
Der Leichter flog über den östlichen Festungswall und landete auf
einem aus dem Fels gehauenen Platz. Unter strenger Bewachung
wurde ich ins kalte Sonnenlicht geführt und dann in die feuchtkalten
Gänge im Fels. Die gekälkten Mauern schwitzten und stanken nach
Meerwasser. Verrostete Ketten verliefen von der Decke zu den
Luken vergessener Kerker.
Ich konnte das Gebrüll und Geschrei von Häftlingen hören. Hier
lebten die Verrückten und Infizierten von Cadia, hauptsächlich Ex-
Soldaten, die in den Kriegen des Auges wahnsinnig geworden waren.
Die cadianischen Soldaten übergaben mich einem Trupp rot
uniformierter Gefängniswächter, die nach ungewaschener Haut
stanken und Schmerzflegel und Lederpeitschen trugen.
Sie öffneten eine fünfzig Zentimeter dicke, mit Nägeln
beschlagene Luke und stießen mich in eine Zelle.
Sie maß vier mal vier Schritte, war in den Stein gehauen und hatte
keine Fenster. Sie stank nach Pisse. Der letzte Insasse war hier
gestorben … und nicht entfernt worden.
Ich schob seine trockenen Knochen beiseite und setzte mich auf
die Holzpritsche. Ich wusste nichts. Ich hatte keine Ahnung, ob die
Innere Garde das unbekannte Raumschiff erwischt oder ob es jemand
geschafft hatte, das Ding zu verfolgen, das früher der arme Husmaan
gewesen war.
Die Spur zu Quixos, die Spur, die wir schließlich mit so viel Glück
aufgenommen hatten, verblasste mit jedem verstreichenden
Augenblick, in dem wir diese Spiele veranstalteten. Und ich konnte
nichts dagegen tun.
Sie brachten mich auf einer Trage zu dem in den Fels gehauenen
Landeplatz. Stimmen brüllten und stritten in dem beißenden Wind
und der von wirbelnden Schneeflocken erfüllten Dunkelheit. Der
Arzt hatte einen intravenösen Tropf angeschlossen und versuchte
meine Symptome mit einigen Mitteln aus seinem Koffer zu lindern.
Die Landelichter gingen flackernd an, kalt und weiß und machten
aus den Schneeflocken schwarze Punkte.
Eine cadianische Fähre kam tief herein, und ihre Schubdüsen
ließen den Landeplatz erbeben und wirbelten den Schneefall
durcheinander.
Sie trugen mich in das grün beleuchtete Innere, und die
schlimmsten Auswirkungen der Kälte und des Wetters blieben
zurück, als die Luke geschlossen wurde. Ich spürte das jähe Rucken
des Schiffs, als wir abhoben und zum Festland herumschwenkten.
Fischig stand vor mir und justierte die Halteriemen, die mich auf der
Pritsche der Fähre hielten. Über das Tosen der Triebwerke hinweg
hörte ich, wie Riggre den Pilot anschrie.
Verstohlen holte Fischig eine Ampulle aus seiner Manteltasche
und tauschte sie gegen die Ampulle des Arztes aus, die am Tropf
befestigt war.
Beinahe sofort fühlte ich mich besser.
»Still liegen bleiben und ruhig atmen«, flüsterte Fischig. »Und halt
dich fest. Es wird gleich etwas … holprig.«
»Kontakt! Drei Kilometer und schnell näher kommend!«, hörte ich
den Copilot rufen.
»Was ist das?«, wollte Riggre wissen.
Der Transponder der Fähre gab plötzlich ein Ping von sich.
»Thron der Erde! Sie haben uns in der Zielerfassung!«, rief der
Pilot.
»Achtung, Fähre«, knisterte eine Stimme im offenen Kom.
»Landen Sie auf der Insel West fünf-zwo bei dreisechs. Sofort. Sonst
schieße ich Sie ab!«
Mein Blickfeld klärte sich langsam. Ich schaute durch die grün
erleuchtete Kabine und sah, wie Riggre eine Laserpistole zog.
»Was ist das für eine Heimtücke?«, fragte er mit Blick auf Fischig.
»Ich finde, Sie sollten tun, was man von Ihnen verlangt, und sofort
landen«, sagte Fischig gelassen.
Riggre entsicherte seine Waffe, aber bevor er schießen konnte,
zuckte ein sengender Lichtblitz durch die Kabine. Fischig verbrannte
Riggre mit einem Schuss aus der Digitalwaffe, die in einem von den
Jokaero gefertigten Ring auf dem rechten Zeigefinger eingebaut war.
Ein Schmuckstück aus Maxillas Sammlung, ging mir auf.
Fischig gab noch einen Schuss ab, der das Kom-System
verdampfte.
»Runter!«, befahl er dem Piloten, indem er den Ring auf ihn
richtete.
Die Fähre machte eine Notlandung auf dem felsigen Strand der
unbewohnten Insel.
»Hände auf den Kopf!«, befahl Fischig der Besatzung, während er
mir aus der Luke und in den Schneesturm half.
Ich konnte kaum laufen, und er musste mich stützen. »Du hast
mich vergiftet«, keuchte ich.
»Ich musste es überzeugend machen. Aemos hat eine Dosis
präpariert, die das Binärgift in deinem Körper wieder aktiviert hat.
Pyes Gift.«
»Ihr Schweine!«
»Ha! Jemand, der fluchen kann, ist weit davon entfernt, tot zu sein.
Komm!«
Er trug mich halb über das Geröll und durch den vom Meer
hereinwehenden Sturm, während Schneeflocken unsere Gesichter
stachen. Lichter stießen vor uns herab, als das Kanonenboot
hereinkam und auf dem vereisten Geröll eine perfekte Landung im
Betancore-Stil hinlegte.
Fischig schob mich die Rampe empor in die Arme von Bequin und
Inshabel.
»Lieber Imperator, habt ihr euch das alles auch gut überlegt?«,
japste ich.
»Natürlich haben wir das!«, schnauzte Bequin. »Nathun! Zieh eine
Spritze mit Antivenin auf!«
Ich war tot, zum zweiten Mal in weniger als zwei Jahren. Zuerst
am Binärgift gestorben, das mir von Beidame Sadias Handlangern
auf Lethe verabreicht worden war, und jetzt beim Absturz einer
Fähre ums Leben gekommen, die in einem Wintersturm über dem
Caducadesmeer auf Cadia zerschellt war.
Das Kanonenboot hob ab, flog den Strand entlang, wendete und
flog zur Fähre zurück.
Möge der Imperator mir und meinem Stab für den Tod Riggres
und der beiden Piloten vergeben. Ihr Tod war die einzige
Möglichkeit, meine Sicherheit zu gewährleisten.
»Feuer«, hörte ich Nayl zu Medea sagen.
Die Waffen des Kanonenboots beharkten die cadianische Fähre
und sprengten sie auseinander. Im Morgengrauen würden die
Trümmer am Ufer der abgelegenen Insel auf nichts anderes als einen
tragischen Absturz infolge der höllischen Stürme hinweisen.
Wir stiegen durch die Wolkendecke und erreichten den
Orbitalraum. Zwar hatte es mir niemand gesagt, aber ich wusste, dass
unser Flugplan durch den Berechtigungscode einer anderen Person
abgedeckt wurde.
Ich tippte auf Neve. Wahrscheinlich mit ihrer Erlaubnis.
Die Essene erwartete uns.
»Was nun?«, fragte ich Fischig heiser.
»Verdammt, ich habe alles riskiert, was mir lieb und teuer ist, um
dich hierher zu bringen«, erwiderte er. »Ich hatte irgendwie gehofft,
du wüsstest, wie wir jetzt weitermachen.«
»Cinchare«, sagte ich. »Sag Maxiila, er soll uns nach Cinchare
bringen.«
Tasaera Ungish war eine halb gelähmte Frau Mitte fünfzig. Die
anstrengenden Rituale des Warpraums hatten sie gebrochen,
praktisch ausgebrannt und zu einem Leben als Hilfstelepathin in den
Gildenräumen von Anemae Gulfward verurteilt. Ihr geröteter Leib
wurde von einem augmetischen Exoskelett gestützt. Ich glaube, sie
mochte einmal schön gewesen sein, aber jetzt war ihr Gesicht hohl
und das Haar dünn, wo die implantierten Stecker ihrer Berufung
angebracht waren.
»Ist es wieder so weit, Ketzer?«, fragte sie, als ich in ihr Quartier
trat. Dies ereignete sich ungefähr in der zwanzigsten Woche der
Fahrt.
»Ich wünschte, Sie würden mich nicht so nennen«, sagte ich.
»Bewältigungsstrategie«, gurrte sie. »Diese Bequin hat mich aus
einem sicheren Leben auf Anemae Gulfward gelockt und mich in
den privaten Kreuzzug eines Ketzers eingegliedert.«
»Aus einem sicheren Leben, Ungish? Einem bösen Ende. In sechs
Monaten wären sie unter der Belastung des Verkehrs gestorben, den
Sie dort zu bewältigen hatten.«
Sie schnalzte mit der Zunge, und ihr augmetisches Chassis surrte,
als sie zwei Gläser Amasec einschenkte.
Ihres war zusätzlich mit Schmerzmitteln versetzt, und ihr Raum
stank nach Lho-Blättern. Ich wusste, dass sie infolge der Härten ihres
Lebens ständig Schmerzen verspürte und sie diese mit allem
bekämpfte, was sie in die Finger bekam.
»Tot und begraben auf Anemae Gulfward in sechs Monaten …
oder ein qualvoller Tod in Ihren Diensten.«
»So ist es nicht«, sagte ich nickend, da ich das angebotene Glas
nahm.
»Nicht?«
»Nein. Ich habe Sie in meinen Geist schauen lassen. Sie wissen
von der Reinheit meiner Sache.«
Sie runzelte die Stirn. »Vielleicht.« Sie hatte Schwierigkeiten, ihr
Glas zu halten. Die Mechandriten, die ihre rechte Hand führten,
waren alt und langsam.
Sie winkte ab, als ich ihr helfen wollte.
»Vielleicht?«, fragte ich.
Sie trank einen ordentlichen Schluck und steckte sich dann ein
Lho-Stäbchen zwischen die runzligen Lippen.
»Ich habe Ihren Geist gesehen, Ketzer. Sie sind nicht so rein, wie
Sie glauben.«
Ich setzte mich auf das Sofa. »Bin ich das nicht?«
Sie zündete das Lho-Stäbchen an und atmete den narkotisierenden
Rauch mit einem Seufzer aus.
»Ach, beachten Sie mich gar nicht. Ich bin nur eine ausgebrannte
Psionikerin, die zu viel redet.«
»Es interessiert mich. Was sehen Sie?«
Ihr Exoskelett gab leise Surr-Geräusche von sich, als es sie zum
anderen Sofa brachte, und die Hydraulik zischte, als sie darauf Platz
nahm. Sie nahm noch einen tiefen Zug. »Verzeihung«, sagte sie.
»Wollen Sie auch eins?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Mein Leben lang habe ich den Astropathicus gedient, wie es
aussieht zuerst als Angestellte der Gilde und jetzt als Selbständige.
Als Ihre Agentin mit einem Arbeitsangebot und richtigem Geld zu
mir kam, habe ich angenommen. Aber, herrje, herrje …«
»Astropathen sollen neutral sein«, konterte ich.
»Astropathen sollen dem Imperator dienen, Ketzer«, sagte sie.
»Was haben Sie in meinem Geist gesehen?«, fragte ich
unverblümt.
»Viel zu viel«, erwiderte sie und blies einen wunderbaren
Rauchring.
»Erzählen Sie es mir.«
Sie schüttelte den Kopf oder jedenfalls nahm ich an, dass die
zischende Bewegung ihres Kopfkäfigs das vermitteln sollte.
»Ich sollte wohl dankbar sein. Sie haben mich aus einem toten
Leben geholt und in das hier verwickelt. In … ein Abenteuer.«
»Ich brauche Ihre Dankbarkeit nicht«, sagte ich.
»Tot und begraben auf Anemae Gulfward in sechs Monaten …
oder ein qualvoller Tod in Ihren Diensten«, wiederholte sie.
»So wird es nicht sein.«
Sie blies noch einen Rauchring. »Doch, so wird es. Ich habe es
gesehen. So klar wie der Tag.« »Das haben Sie?«
»Oft. Ich werde Ihretwegen sterben, Ketzer.«
Ungish war stur und defätistisch. Ich wusste, dass sie Dinge
gesehen hatte, über die sie nicht reden wollte. Schließlich fragte ich
sie nicht mehr danach. Wir trafen uns alle paar Tage. Und sie fing
psychometrisch Bilder aus meinem Verstand ein. Die cadianischen
Pylonen. Cherubael. Prophaniti und die Ornamente, die er trug.
Als wir Cinchare schließlich erreichten, hatte ich einen Stapel
psychometrischer Bilder und dank der verkrüppelten Astropathin ein
grimmiges Gefühl für die Zukunft.
Die Station befand sich in der ersten Etage eines runden Gebäudes
an der Ecke eines verlassenen Platzes. Ein Schutzgeländer zog sich
in Hüfthöhe darum, und dahinter gestatteten nach innen geneigte
Fenster einen ausgedehnten Blick auf den Platz. Kaleil bediente eine
Armatur in der Wand, woraufhin sich die Tönung der Scheiben
aufhellte, so dass es etwas heller in dem Raum wurde.
Die Stühle waren um einen zentralen runden Arbeitsplatz
angeordnet, über dem eine Holo-Anzeige leuchtete. Leere
Proviantbeutel und Bierflaschen lagen überall auf der Arbeitsfläche
verstreut, und handschriftliche Notizen und Memos waren auf die
Ränder der Konsole geklebt. Im Raum gab es außerdem Sofas mit
aufgeplatzter Polsterung und Abfallhaufen. Eine rückwärtige Tür
führte zur Waffenkammer und einem Bereitschaftsraum. Die Luft
war feucht und roch nach Schweiß und ungewaschener Kleidung.
Kaleil zog seine gepanzerte Jacke aus und warf sie auf ein Sofa. Er
trug ein schmuddeliges Unterhemd, das seinen Körperbau und die
Tätowierungen der Imperialen Garde auf den Oberarmen gut zur
Geltung brachte.
Sein Amtsabzeichen hing ihm auf der Brust wie die Medaille eines
Athleten.
»Hol Erfrischungen für Sie«, sagte er zu Bandelbi. Der
Superintendent begann, jede Bierflasche auf der Abdeckung des
Arbeitsplatzes zu schütteln, um welche mit Inhalt zu finden.
»Frische«, schalt Kaleil. »Und ich bin sicher, der Doktor würde
etwas Weicheres vorziehen … oder Härteres.«
»Amasec, wenn Sie welchen haben«, sagte Aemos.
»Bier ist prima«, lächelte Medea, die sich auf ein Sofa setzte und
die Beine unter sich zusammenfaltete.
Ich schüttelte den Kopf. »Nichts.« Bandelbi verschwand.
Kaleil setzte sich verkehrt herum auf einen der Stühle vor dem
Arbeitsplatz, so dass er die Arme auf der Rückenlehne verschränken
konnte. »Schön, Doktor. Dann erzählen Sie mal.«
»Ich bin der Leiter der Abteilung Metallurgie in der Schola
Geologica. Kennen Sie Mendalin?«
Kaleil schüttelte den Kopf. »Da war ich noch nie.«
»Eine schöne Welt, eine noble Welt. Berühmt für ihre Akademie.«
Aemos ließ sich behutsam neben Medea nieder.
Ich stand etwas zurückgezogen am Fenster. Es war offensichtlich,
dass Kaleil ein Auge auf mich hatte.
»Wir folgen einem Zwanzigjahresprogramm, von Erzherzog
Frederik persönlich in Auftrag gegeben, die inneren
Transitionsqualitäten der seltensten Metalle zu untersuchen für … äh,
die Anwendungen sind eigentlich geheim. Die Ergebnisse könnten
die industrielle Gesundheit von Mendalins Maschinenhallen
verbessern. Der Erzherzog ist ein begeisterter Amateur-Metallurg.
Tatsächlich ist er der Förderer der Schola Geologica.«
»Was Sie nicht sagen«, murmelte Kaleil.
»Phorydnum ist eines der Metalle, das unser Programm behandelt.
Und auf diesem Planetoiden gibt es eines der am nächsten gelegenen
Vorkommen davon. Das Administratum hat mich freundlicherweise
mit den nötigen Mitteln ausgerüstet, um Cinchare zu besuchen und
Proben zu erwerben, und ich habe Briefe vom Lorddirektor von
Imperiale Minerale, um die Phorydnumgruben zu inspizieren.
Wollen Sie sie sehen?«
Kaleil winkte dankend ab.
»Außerdem hatte ich gehofft, mich mit den hier stationierten
Techpriestern treffen zu können, um mit ihnen über ihr Verständnis
der Eigenschaften dieser kostbaren Substanz zu diskutieren.«
»Sie sind auf einer Forschungsreise?«
»So könnte man sagen«, erwiderte Aemos.
Bandelbi kehrte mit drei Bierflaschen und einer emaillierten Tasse
zurück. Er trug alles auf einer verbeulten Spindtür, die er als Tablett
benutzte.
»Das ist kein guter Stoff«, sagte er zu Aemos, als er ihm die Tasse
gab. »Nur Proviant-Qualität.«
Aemos nippte ohne auch nur den Anflug eines Schauders. »Hart,
aber herzhaft«, verkündete er.
Kaleil nahm seine Flasche und trank einen Schluck.
»Die Reise hierher war völlig unnütz, fürchte ich«, sagte er. »Der
Imperator weiß, was Imperiale Minerale gedacht hat, als man Ihnen
diese Briefe gegeben hat. Sie müssen doch gewusst haben, dass ihre
Leute nicht mehr da waren.«
»Erklären Sie das«, sagte ich. Kaleil warf mir einen Seitenblick zu.
»Dieser Felsbrocken ist in den letzten neun Jahrhunderten
beständig bearbeitet worden. Die Arbeit ist gefährlich, aber es lohnt
sich. Wie Sie schon sagten, Cinchare birgt reiche Vorkommen vieler
Metalle, die ansonsten sehr selten sind.«
Er trank noch einen Schluck. »In den letzten zwanzig Jahren haben
sich die Behörden hier zunehmend mehr Sorgen wegen der
Verhältnisse gemacht. Wegen der gravitationeilen Verzerrungen.
Cinchare kommt den Gravitationsfeldern von Pymbyle immer näher.
Die allgemeinen Schätzungen liefen darauf hinaus, dass die
Niederlassung hier in achtzig, neunzig Jahren nicht mehr lebensfähig
sein würde. Imperiale Minerale und Ortog haben die Arbeit
beschleunigt und versucht, so viel wie möglich abzubauen, bevor die
gravitationellen Verhältnisse in Cinchares Umgebung den Brocken
für die nächsten paar tausend Jahre unberührbar machen würden. Die
unabhängigen Schürfer auch … die sind in Scharen gekommen. In
den letzten Jahren hat es hier einen richtigen altmodischen Ansturm
auf das Erz gegeben.«
»Was ist dann aber passiert?«, fragte Medea.
»Die Gravs«, sagte Bandelbi. Er räumte sich einen Platz auf einem
der mit Papier überladenen Sofas frei. Er blickte auf und sah Medeas
fragend gehobene Augenbraue.
»Gravitationskrankheit«, beantwortete er ihre unausgesprochene
Frage sofort. Er kratzte sich nervös an seinem Geburtsmal. Er hatte
sie nicht aus den Augen gelassen. Sie war vermutlich die erste Frau,
die er seit einer ganzen Weile sah. Kaleil war gefasster.
»Die Gravitationskrankheit«, fuhr Bandelbi fort. »Ge-
wichtsstörungen, Bleischädel, die Gravs … Sie wissen schon.«
»Chronische Gravitisthesie, auch bekannt als Mazburs Syndrom.
Eine fortschreitende Funktionsstörung, die durch exotische
gravitationelle Einflüsse hervorgerufen wird. Die Symptome
schließen unter anderem Paranoia, Verlust der
Koordinationsfähigkeit, einen Wechsel von panischen und
euphorischen Zuständen, Gedächtnisverlust, Halluzinationen und
manchmal, in Extremfällen, Mordgelüste ein. Der Zustand wird nor-
malerweise von Myasthenie, Osteochondritis, Osteoporose, Skoliose
und Leukämie begleitet«, beendete Aemos seine Ausführungen.
Kaleils Augen weiteten sich. »Ich dachte, Sie wären Doktor der
Metallurgie, Doktor, nicht der Medizin.«
»Das bin ich auch. Aber die Gravitation, jene unsichtbare Kraft, ist
ein fundamentaler Bestandteil des Lebens aller Elemente. Also
interessiere ich mich dafür.«
»Wie auch immer … in den Vorhersagen hieß es, Cinchare könnte
wegen der Gravitation in neunzig Jahren unbewohnbar werden. Aber
der menschliche Körper ist weicher als ein Klumpen Mineralerz. Die
Gravs traten zum ersten Mal vor ungefähr zwei Jahren auf. Arbeiter
wurden krank. Ein paar Fälle von Gewalt und Wahnsinn. Dann ging
uns auf, was los war. Imperiale Minerale hat sich vor neun Monaten
verabschiedet. Ortog vor sieben.«
»Eine ziemliche Ironie«, sagte Aemos. »Cinchare ist mineralreich
eben wegen der exotischen Gravitationsverhältnisse, denen er in
seinen Milliarden Jahren des Lebens unterworfen war. Elemente
wurden hier auf eine Weise transmutiert und neu angeordnet, die
vielleicht einzigartig ist. Cinchare ist der Traum jedes Alchimisten!
Und jetzt kann die Menschheit aus denselben Gründen, die für seine
Existenz verantwortlich sind, nicht mehr von seinen Gaben
profitieren!«
»Ja, Doktor, das ist wirklich eine Ironie«, sagte Bandelbi und trank
sein Bier aus.
»Das erklärt aber nicht, warum Sie noch hier sind«, sagte ich.
»Notbesatzung«, sagte Kaleil in einem Tonfall, der besagte, dass
es mich nichts anging. »Die Adeptus Mechanicus sind ebenfalls
abgezogen, vor ungefähr drei Monaten. Aber einer von ihnen ist
zurückgeblieben. Irgendeine wichtige Forschungsarbeit, die
unbedingt beendet werden musste. Und uns hat man befohlen, zu-
rückzubleiben und Cinchare Grubenzentrum zu halten, bis er fertig
ist.«
Ich drehte mich um und schaute durch das Stationsfenster nach
draußen. Der Platz war bis auf den Abfall vollkommen leer. »Und
wie viele sind ›wir‹, Vollstrecker?«
»Eine Wartungsmannschaft von zwanzig Personen. Ich habe das
Kommando. Alles Freiwillige.«
»Die Techpriester haben uns dreifache Bezahlung versprochen!«,
sagte Bandelbi zu Medea, ein eindeutiger Versuch, sie zu
beeindrucken.
»Herrje«, lächelte sie.
»Wo sind die anderen? Die anderen achtzehn?«, hakte ich nach.
Kaleil stand auf und warf seine leere Flasche in einen
überquellenden Papierkorb in der Ecke. Sie prallte vom Rand ab und
zerschellte auf dem Boden. »Uberall verteilt. Hier ist es ziemlich
weitläufig. Sie sehen hier nur die Spitze. Wie bei … wie nennt man
diese gefrorenen Wasserklumpen, die es auf manchen Planeten im
Meer gibt?«
»Eisberg?«, schlug Medea vor.
»Ja, wie bei einem Eisberg. Neunzig Prozent von Cinchare
Grubenzentrum liegt unter der Erde. Das ist ziemlich viel Raum, den
es zu patrouillieren, zu warten und in Gang zu halten gilt.«
»Sie stehen in Kom-Kontakt zum Rest der Belegschaft?«
»Wir bleiben in Verbindung. Manche kriege ich wochenlang nicht
zu Gesicht.«
»Dieser Techpriester, der noch geblieben ist«, sagte Aemos. »Wo
ist der?«
Kaleil zuckte die Achseln. »Irgendwo unten. Im Karst und in den
Gruben. Ich habe ihn seit zwei Monaten nicht gesehen.«
»Wann erwarten Sie ihn zurück?«, sagte Aemos. »Wo ist er?«
Kaleil zuckte die Achseln. »Gar nicht.«
»Wie heißt er?«, fragte ich, indem ich mich umdrehte und dem
Vollstrecker direkt in die dunklen Augen schaute.
»Bure«, sagte er. »Warum?«
»Tja, das ist alles äußerst bestürzend!«, mischte sich Aemos ein,
indem er sich von seinem Platz erhob. »Das wird dem Erzherzog
ganz und gar nicht gefallen. Diese Mission hat bereits sehr viel Zeit
und Geld verschlungen. Herr Kaleil … da wir nun schon einmal hier
sind, würde ich gern das Wenige tun, was mir noch zu tun bleibt.«
»Und das wäre, Doktor?«
»Ein paar Proben sammeln, die Phorydnum-Gruben inspizieren
und die mineralogischen Protokolle studieren?«
»Ich weiß nicht … Cinchare Grubenzentrum sollte mittlerweile
eigentlich geschlossen sein. Offiziell.«
»Wäre es wirklich zu viel verlangt? Ich bin sicher, der
Lorddirektor von Imperiale Minerale wäre erfreut, wenn Sie mit mir
zusammenarbeiteten. Erfreut genug, um eine Sonderprämie
draufzulegen, wenn ich einen entsprechenden Bericht aufsetze.«
Kaleil runzelte die Stirn. »Aha. Worüber reden wir hier?«
»Ich brauche einen Tag, um mir die Protokolle und die Datenbank
der Mineralogie anzusehen, vielleicht noch einen Tag, um die
Proben-Archive aus den Gruben zu begutachten. Und … tja, wie
lange würde es dauern, die Phorydnum-Grube zu besichtigen? Die
letzte?«
»Ich rufe meinen Stab zusammen, dann wäre es in einer Rundreise
von zwei Tagen zu machen.«
»Das ist … ausgezeichnet! Also insgesamt vier Tage, dann fliegen
wir wieder ab.«
»Ich weiß nicht…«, sagte Bandelbi.
»Wollen Sie mich nicht ein paar Tage hier haben?«, fragte Medea,
die Bandeibis Körpersprache genauso scharfsinnig interpretierte wie
jeder ausgebildete Inquisitor und dabei ebenso latente
schauspielerische Fähigkeiten offenbarte wie Aemos.
»Ich dürfte es an sich nicht erlauben«, sagte Kaleil. »Hier ist jetzt
eigentlich betreten verboten. Konzern-Anordnungen. Sie sollten
nicht hier bleiben.«
»Sie bleiben auch hier«, stellte ich fest.
»Ich kriege Gefahrenzulage«, sagte er.
»Und Sie könnten noch mehr bekommen«, sagte Aemos. »Ich
verspreche Ihnen, ich werde dem Lorddirektor von Imperale
Minerale gegenüber Ihre Kooperation lobend erwähnen … und
meinen alten Freunden bei den Adeptus. Sie würden jeden belohnen,
der einem Diener des Erzherzogs hilft.«
»Hol mir noch ein Bier«, sagte Kaleil zu Bandelbi. Er schaute uns
an und rieb sich das Kinn. »Ich rede mit meinen Leuten und sehe,
wie die darüber denken.«
»Gut, gut«, sagte Aemos. »Ich hoffe doch, dass wir uns einigen
können. In der Zwischenzeit brauchen wir ein Quartier. Gibt es hier
überzählige Betten?«
»Cinchare ist voller überzähliger Betten, seitdem die Arbeiter
abgerückt sind«, sagte Bandelbi mit anzüglichem Grinsen zu Medea.
»Zeig ihnen ein Hab«, sagte Kaleil zu Bandelbi. »Ich rede mit den
Männern.«
»Irgendwas stimmt hier nicht«, sagte ich, während ich die Maske
absetzte und sie dann auf den Boden warf.
»Diese Betten sind ziemlich bequem«, erwiderte Aemos, indem er
die Spannung seines Exoskeletts neu einstellte und sich auf die
Matratze legte.
Wir befanden uns in einem trockenen, verstaubten Ruheraum über
der Arbeiter-Wohlfahrt. Das künstliche Licht vom Platz draußen fiel
durch die halb geschlossenen Rollos. Bandelbi hatte drei
Metallbetten mit ausgeleierten Matratzen und Schlafsäcke zur
Verfügung gestellt, die rochen, als seien sie zum Seien von
Motorenöl und Kohl benutzt worden.
»Du machst dir immer Sorgen«, sagte Medea, die ungehemmt
ihren Fluganzug herunterzog und in eine Ecke trat. Darunter trug sie
nur ihre Unterwäsche und das Schulterhalfter, das sie jetzt abnahm.
Aemos drehte sich um und schaute in die andere Richtung.
»Es ist meine Aufgabe, mir Sorgen zu machen. Und hör endlich
auf, dich auszuziehen. Wir sind noch nicht fertig.«
Medea sah mich an und schnallte sich das Halfter mit finsterem
Stirnrunzeln wieder um. »Na gut, mein Herr und Meister … was?
Was stimmt nicht?«
»Ich kann es nicht richtig greifen …«, begann ich.
Medea wandte sich ab und warf sich auf ihr Bett.
»Doch, das kannst du, Gregor«, sagte Aemos.
»Vielleicht.«
»Versuch's einfach.«
»Die Sache mit den Gravs. Auch wenn die Konzerne überrascht
worden sein können, den Adeptus Mechanicus sieht es ganz und gar
nicht ähnlich, bei einer Vorhersage so falsch zu liegen. Jeder
Kosmologe würde wissen, wenn Cinchare in eine Zone
unberechenbarer Gravitationseinflüsse gerät, die schädlich für den
Menschen wären. Sie wüssten es Jahre im Voraus. Der Imperator
beschütze mich, aber Himmelskörper bewegen sich viel langsamer
und vorhersehbarer als der menschliche Geist!«
»Ein gutes Argument«, sagte Aemos.
»Und eins, auf das du bestimmt auch schon gekommen bist,
könnte ich mir denken«, sagte ich.
»Ja«, bestätigte er. »Kaleil lügt ganz eindeutig in irgendeinem
Punkt.«
»Und du glaubst nicht, dass irgendwas nicht stimmt?«
»Natürlich glaube ich das«, murmelte Aemos. »Aber ich bin
müde.«
»Steh auf«, sagte ich brüsk.
Er richtete sich auf.
»Wenigstens wissen wir, dass Bure noch hier ist«, sagte ich.
»Ist das der Bursche, zu dem wir hier wollten?«, fragte Medea. Ich
nickte. »Magos Bure.«
»Woher kennt ihr ihn? Einen Magos der Techpriesterschaft?«
»Das ist eine alte Geschichte, meine Liebe«, sagte Aemos.
»Ich habe Zeit.«
»Er war ein treuer Verbündeter meines und Aemos' alten Meisters,
Inquisitor Hapshant«, kam ich zur Sache, bevor Aemos loslegen
konnte.
»Also alte Beziehungen, was?«, grinste sie.
»So etwas in der Art.«
»Es ist trotzdem ein ziemlich langer Weg, nur um einen alten
Freund wiederzusehen«, fügte sie hinzu.
»Das reicht, Medea!«, sagte ich. »Die Einzelheiten brauchst du
noch nicht zu wissen. Ist vielleicht sogar besser, wenn du sie nicht
erfährst.«
Sie streckte mir die Zunge heraus und zog ihren Fluganzug wieder
an.
»Hast du kürzlich versucht, die Essene zu erreichen?«, fragte ich.
»Mein Kom hat nicht genügend Reichweite«, antwortete sie
mürrisch, während sie an ihrem Reißverschluss herumfummelte.
»Die gravitationeilen Verzerrungen sind zu stark. Damit haben wir
gerechnet. Ich könnte zum Boot zurückkehren und den Hauptsender
benutzen.«
»Ich brauche dich hier. Wir müssen schnell ein paar Antworten
finden. Ich will, dass du dich mit Aemos zum Archiv des
Administratums schleichst und zusiehst, was sich aus den
Datenbanken herausholen lässt, wenn sie noch funktionieren.«
»Während du …«
»Ich bin im Annex der Adeptus Mechanicus. Wir treffen uns hier
wieder in drei Stunden. Wir suchen nach Hinweisen, aber vor allem
nach Spuren von Bures Verbleib.«
Aemos nickte. »Und wenn wir entdeckt werden?« »Konntet ihr
nicht schlafen, seid noch spazieren gegangen und habt euch
verlaufen.« »Und wenn sie mir nicht glauben?« »Deswegen begleitet
dich Medea«, sagte ich.
Der Annex der Techpriesterschaft befand sich im Westsektor von
Cinchare Grubenzentrums chaotischem Irrgarten aus Druckhabs und
Verarbeitungsschuppen, etwa zwei Kilometer von dem Platz entfernt.
Zuerst hatte ich nicht gewusst, wohin ich ging, aber die Tunnel und
Korridore waren mit nummerierten Schildern und Symbolen
gekennzeichnet, und nach einer Weile fand ich einen großen Plan an
einer Säule neben einer Reihe verstaubter öffentlicher Trinkbrunnen.
Eine Drehung am Hahn eines der Brunnen förderte nur ein
trockenes Ächzen zutage.
Als ich mich dem Annex näherte, registrierte ich, dass die an und
für sich weiß gekälkten Tunnelwände mit dunkelroten Streifen
übermalt waren. Außerdem gab es zahlreiche Warnschilder, die bei
Androhung der Todesstrafe korrekte Papiere und Ausweise
verlangten.
Dennoch war alles kahl und leer und voller Staub und Abfall.
Am Ende des rotgestreiften Zugangstunnels standen die großen
Schleusenschotte aus Adamantium weit offen. Es herrschte eine
unheimliche Stille.
Der Annex war ein kolossaler Turm aus mit rotem Stahl
verkleidetem behauenem Fels, der einen Seitenkamin des Kraters
ausfüllte, in dem Cinchare Grubenzentrum untergebracht war. Eine
versiegelte Glaskuppel überdeckte den gepflasterten Hof zwischen
der Schleuse und dem Annex. Und das eigentliche Gebäude erhob
sich jenseits der Kuppel bis zum Kraterrand. Hoch oben konnte ich
den blauen Fels und die vom Sternenlicht erfüllte Leere dahinter
sehen. Meteore zogen über den Himmel.
Der Eingang zum Annex war ein riesiges Portal größer als drei
Menschen, das von dicken dorischen Säulen aus schwarzem Lukullit
eingerahmt wurde. Darüber hing das geprägte Gesicht des
Maschinengottes, dessen Augen so gearbeitet waren, dass sie im
Licht der aus den Gruben abgeleiteten und abgefackelten Gase omi-
nös flackern würden. Jetzt waren sie kalt und tot.
Und die polierten Metalltüren des Portals standen offen.
Ich trat ein. Feiner Sand bedeckte den Boden des Prothyrons.
Staubpartikel glitzerten in den Lichtstrahlen, die durch Oberlichter
im gerippten Dach in den hohen Korridor fielen. Beide Wände waren
vollständig mit Reihen von Codifizierern und Matriculatoren verklei-
det, alle untätig und heruntergefahren. Jeder Schalter und jede
Anzeige war mit Staub bedeckt.
Ich wusste sofort, dass dies ein schlechtes Zeichen war. Die
Techpriester schätzten Maschinen mehr als alles andere. Wenn sie,
wie von Kaleil beschrieben, evakuiert worden wären, hätten sie so
eine Unmenge von Technologie nicht einfach zurückgelassen … vor
allem deshalb nicht, weil jede Einheit so konzipiert war, dass sie
mühelos aus ihrem Alkoven in den schwarzen Marmorwänden
herausgezogen werden konnte.
Die Kammer hinter dem Prothyron war eine richtige Kapelle, eine
dem Maschinengott, dem Über-Titan, dem Meister des Mars
gewidmete Kathedrale. Der Boden bestand aus cremeweißen
Travertinplatten, die so eng verlegt waren, dass nicht einmal ein Blatt
Papier zwischen die Platten gepasst hätte. Die Kapelle selbst hatte
drei Apsiden und Wände aus glattem, kaltem Lukullit und ein Dach
dreißig Meter über meinem Kopf. Hier war noch mehr kostbare
Technologie angeordnet, und zwar Konsolen aus Messing in sechs
konzentrischen Kreisen um einen zentralen Sockel. Alle waren tot
und ohne Energie.
Ich ging durch den Raum zum Sockel, wobei ich mir sehr bewusst
war, wie laut meine Schritte in der Leere hallten. Kaltes Sternenlicht
fiel durch ein Opaion mitten im Dach direkt über dem massiven
Grandiorit-Sockel. Der riesige abgetrennte Kopf eines uralten Titans
hing über dem Sockel, wo das Sternenlicht einfiel. Ich sah, dass der
Kopf nicht gestützt wurde — es gab keine Kabel, kein Gerüst, keine
Plattform. Er hing einfach in der Luft.
Als ich mich dem Sockel näherte und zum Gesicht des Titans
emporstarrte, stellten sich meine Haare auf. Statik oder etwas
Vergleichbares lud die Luft auf. Eine unsichtbare, nutzbar gemachte
Kraft — vielleicht Gravitation oder Magnetismus, jedenfalls etwas,
das mein Verständnis überstieg — war hier im Spiel und sorgte da-
für, dass der viele Tonnen wiegende Maschinenschädel in der Luft
hängen blieb, ein stilles Wunder und charakteristisch für die
Techpriesterschaft. Trotz abgeschaltetem Strom dauerten ihre
Wunder an.
Auf einer Konsole - einem Messingrahmen voller verschachtelter
eiserner Zahnräder, Silberdrähte und Glasröhren — sah ich ein Stück
von einem in Leinwand gehüllten Schlauch liegen, dessen eines Ende
in die Anzeige gestöpselt und dessen anderes Ende zerfasert und
abgeschnitten war. Das war mehr als nur ein Fall von eiligem
Aufbruch.
Ich habe im Laufe der Jahre nur wenig mit den Adeptus
Mechanicus zu tun gehabt. Sie waren eine Welt für sich wie die
Astartes und hatten ihre eigenen Gesetze, und nur ein Narr würde
sich mit ihnen anlegen. Bure -Magos Geard Bure — war mein
engster Kontakt zu ihnen. Ohne die Priesterschaft des Mars würden
die Technologien des Imperiums dahinwelken und verschwinden,
und ohne ihre unablässigen Bemühungen würden sich der
Menschheit keine neuen technologischen Wunder mehr erschließen.
Und doch stand ich hier vollkommen unbehelligt und ungeladen
mitten in einem ihrer Allerheiligsten.
Mein Kom summte. Eine Stimme, Medeas, stark verzerrt durch
die Gravitationsschwankungen, sagte: »Aegis wünscht Dorn. Bei
Halbleben …«
Die Verbindung brach ab.
»Dorn bedient Aegis«, sagte ich. Nichts.
»Dorn bedient Aegis, die flüsterlose Leere.«
Immer noch nichts. Was ich von Medea gehört hatte, beunruhigte
mich — »Halbleben« war ein Glossia-Codewort, das dazu benutzt
werden konnte, eine wichtige Entdeckung zu enthüllen oder auf eine
ernste Notlage hinzuweisen. Doch was mich noch viel mehr beunru-
higte, war die Tatsache, dass sie plötzlich verstummt war. Meine
Antwort, wenn sie sie gehört hatte, besagte, dass ihre Sendung
unvollständig oder verstümmelt empfangen worden war.
Ich wartete eine ganze Minute, dann noch eine.
Ohne Vorwarnung summte mein Kom rasch drei Mal
hintereinander. Damit teilte Medea mir auf eine nonverbale Art mit,
dass sie nicht reden konnte und ich abwarten sollte.
Ich wischte die dünne Staubsicht von einer der toten Konsolen und
betrachtete die abgenutzte Runentastatur und die kleinen
Anzeigeschirme aus dickem, konvexem Glas, wobei ich mich fragte,
welche Geheimnisse ich ihnen wohl entringen konnte.
Wenige, entschied ich. Aemos, der offen gestanden mehr wusste,
als gut für ihn war, hätte vielleicht die Möglichkeit gehabt. Er hatte
viele Jahre zuvor eng mit Bure zusammengearbeitet, und ich stellte
mir vor, dass er mehr Erfahrung mit den mysteriösen Techpriestern
und ihren Methoden hatte, als er zuzugeben bereit war.
Mein Bewegungsmelder fing plötzlich an zu ticken, und ich
spannte mich und zog meine stummelläufige Laserpistole. Die
Anzeige auf der rechten Linse meiner Maske meldete eine Bewegung
siebzehn Schritte links von mir, aber als ich mich umdrehte, meldete
er weitere. Viele Kontakte, überall, die so schnell kamen, dass sie
einander überlappten und den Melder einen Moment verwirrten. Die
Anzeige auf der Linse zeigte eine Sekunde lang das voreingestellte
»00:00:00«, während sich das Gerät mühte, die Vektoren zu
berechnen, dann rollte eine Reihe von Koordinaten vor meinem
Auge ab.
Doch mittlerweile wusste ich, was er spürte.
Das Allerheiligste erwachte zum Leben.
In rascher Folge wurde jede Konsole aktiv, Zahnräder surrten,
Röhren leuchteten, Bildschirme erhellten sich und Kolben zischten.
Pneumatische Gaspumpen atmeten, und Nachrichtenbehälter sausten
durch das Netz eleganter Glas-und-Messing-Röhren, die zwischen
den Konsolen und an den Wänden verliefen. Mehrere Pulte
projizierten kleine Hologrammbilder über ihren hololithischen
Naben: dreidimensionale Karten, Spektroskopie-Graphen,
Sonarbilder und oszillierende Wellen. Starke Lichtquellen schalteten
sich auf dem Sockel unter dem schwebenden Titanenkopf ein und
verwandelten das Gesicht in ein Reliefbild aus Licht und Schatten.
Ich ließ mich hinter einer der Konsolen auf den Boden sinken, die
in meinem Rücken vibrierte und ratterte. Das jähe, unerklärliche
Leben war einschüchternd und alarmierend. Irgendwo in der Nähe
knatterte eine der Maschinen wie ein altes Maschinengewehr auf
Dauerfeuer.
So plötzlich, wie es begonnen hatte, erstarb das Leben auch
wieder. Konsolen verstummten, und ihre Lichter erloschen. Das
Pulsieren der Energie verlor sich in der Dunkelheit. Die
Scheinwerfer unter dem Titanenkopf trübten sich und erloschen. Ein
Hologramm nach dem anderen fiel in sich zusammen, und die Pulte
wurden wieder untätig. Das Surren der Zahnräder und Servos und
das Pulsieren der Röhren verebbte zu Stille.
Das letzte Geräusch, das verstummte, war das Autogewehr-
Knattern. Es dauerte noch ein paar Sekunden an, nachdem alles
andere längst verstummt war, und hörte dann ebenfalls abrupt auf.
Dann war die Kapelle wieder so dunkel und still wie bei meinem
Eintreten.
Ich kam auf die Beine. Es hatte keine Energie an diesem Ort
gegeben, keine Energiequelle. Was hatte die Maschinen aufgeweckt?
Es musste ein Signal von außen gewesen sein.
Unter Einsatz von gesundem Menschenverstand und Spekulation
umkreiste ich die Konsolen in meiner Nähe auf der Suche nach
derjenigen, die wie ein Maschinengewehr geknattert hatte. Der
wahrscheinlichste Kandidat war ein klobiges Pult, das externe und
allgemeine Kom-Funktionen zu haben schien. Doch das Gerät rea-
gierte nicht, als ich auf die Tasten drückte.
Einer Eingebung folgend, ging ich in die Knie und lugte hinter das
Pult. Es gab Halterungen, wo sich ein Auffangkorb für die
Ausdrucke hätte befinden müssen. Der Korb fehlte. Der Ausdruck
war in den Staub unter dem Pult gefallen.
Ich holte ihn mir. Er war ungefähr neun Meter lang und durch die
Krallen am Drucker in kleinere Portionen geteilt worden. Dieses Pult
hatte ganz offenbar schon seit einiger Zeit Ausdrucke ausgespien,
ohne dass jemand da gewesen war, um sie einzusammeln. Die
Abschnitte ganz unten auf dem Boden vergilbten bereits.
Ich warf einen Blick darauf, aber sie ergaben keinen Sinn.
Tabulierte Kolonnen in Maschinencode in regelmäßigen Reihen. Ich
legte sie sorgfältig auf den Travertinboden und rollte sie eng
zusammen.
Ich war fast fertig, als mein Kom summte.
»Aegis wünscht Dorn. Im Halblicht missbraucht, im
Administratum, im Herzen. Schuppen fallen von Augen. Vielfältig,
der Zugriff von Wechselbälgern. Schema Fingerhut geraten.«
»Schema Fingerhut bestätigt. Dorn geht im Herzen auf.«
Medeas Worte hatten mir alles verraten, was ich wissen musste.
Sie hatten etwas im Administratum gefunden und brauchten mich
schnell dort. Überall drohe Gefahr vom Chaos. Ich solle niemandem
trauen.
Ich halfterte meine Laserpistole und schob mir die Papierrolle in
den Hosenbund.
Als ich aus dem Annex und durch den rot gestreiften Tunnel
rannte, zog ich die Schrotflinte aus dem Rückenhalfter und lud sie
durch.
ACHTZEHN
Schema Fingerhut. Im Gestein. Geard Bures
Translithopäde.
Auf dem Platz waren noch mehr Buggies, die alle vor der
Sicherheitsstation geparkt hatten. Ich sah ein paar Arbeiter-Typen im
Gebäudeeingang stehen und Lho-Stäbchen rauchen.
Durch den Hintereingang glitt ich in die Arbeiterwohlfahrt. Medea
und Aemos erwarteten mich in dem schäbigen Ruheraum-Quartier.
»Und?«
»Wir haben im Administratun herumgeschnüffelt«, sagte Aemos.
»Es war nicht einmal abgeschlossen.«
»Dann wimmelte es da auf einmal von Kaleils Leuten, und wir
sind getürmt«, sagte Medea. Beide wirkten angespannt und
nachdenklich.
»Haben sie euch gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Aber es sind verdammt viel mehr als
zwanzig. Ich habe mindestens dreißig, fünfunddreißig gezählt.«
»Was habt ihr herausgefunden?«
»Archive jüngeren Datums existieren nicht oder wurden gelöscht«,
sagte Aemos. »Nichts mehr in den letzten zweieinhalb Monaten,
nicht einmal ein Wartungsprotokoll, die Dinge, von denen man
annehmen würde, dass Kaleil den Auftrag hätte, sie weiterzuführen.«
»Er würde sie in seiner Station führen.«
»Wenn er die offiziellen Vorschriften befolgte, würden sie
automatisch in das Zentralarchiv kopiert. Du weißt ja, wie pedantisch
das Administratum ist, wenn es darum geht, vollständige Protokolle
zu führen.«
»Was noch?«
»Tja, es war eine oberflächliche Untersuchung — wir hatten nicht
viel Zeit. Aber Kaleil hat uns erzählt, Imperiale Minerale wäre vor
neun Monaten abgezogen und Ortog Prometheum dann zwei Monate
später. Dem Archiv zufolge waren beide Konzerne noch vor drei
Monaten aktiv und in voller Mannschaftsstärke bei der Arbeit. Es
gibt keine Einträge über irgendwelche ›Grav‹-Fälle und auch keine
Berichte oder Memos in den Akten über die Möglichkeit solch eines
Problems.«
»Kaleil hat gelogen?«
»In jeder Beziehung.«
»Wo sind dann aber alle?«
Aemos zuckte die Achseln.
»Gehen wir jetzt?«, fragte Medea.
»Ich bin entschlossen, Bure zu finden«, erwiderte ich, »und hier ist
etwas im Gange, das wirklich …«
»Gregor«, murmelte Aemos. »Ich hasse es, derjenige zu sein, der
dich darauf hinweist, aber das ist nicht dein Problem. Ich weiß zwar
sehr wohl, dass du dem Goldenen Thron jetzt noch so treu ergeben
bist wie eh und je, jedenfalls in jeder Weise, die zählt, aber du bist
kein Inquisitor mehr. Das Imperium erkennt deine Autorität nicht
mehr an. Du bist ein Geächteter … ein Geächteter mit mehr als
genug eigenen Problemen, die es zu klären gilt, auch ohne dich in
diese Sache zu verwickeln.«
Ich glaube, er rechnete damit, dass ich wütend würde. Aber ich
wurde es nicht.
»Du hast recht, aber ich kann nicht einfach aufhören, ein Diener
des Imperators zu sein, was der Rest der Menschheit auch von mir
halten mag. Wenn ich hier etwas bewirken kann, werde ich das tun.
Ob ich erkannt werde, ist mir egal, und die offizielle Sanktion auch.«
»Ich habe doch gesagt, dass er das sagt«, grinste Medea Aemos an.
»Ja, das hast du. Das hat sie«, sagte er wieder zu mir.
»Tut mir leid, dass ich so berechenbar bin.«
»Moralische Konstanz ist nichts, wofür man sich entschuldigen
muss«, sagte Aemos.
Ich nahm die Papierrolle aus dem Annex und zeigte sie meinem
alten Gelehrten.
»Was hältst du davon?« Ich erzählte ihm, was im Allerheiligsten
des Maschinengottes passiert war.
Er studierte das wellige Papier ein paar Minuten und blätterte
dabei hin und her.
»Dieser Maschinencode enthält Elemente, die ich nicht entziffern
kann. Sie enthalten eine Verschlüsselung der Adeptus. Aber … nun
ja, sieh dir die Leerstellen an. Das hier sind die Aufzeichnungen von
regulären Sendungen außerhalb des Grubenzentrums. Alle … sechs
Stunden, auf die Sekunde.«
»Und die untätigen Systeme erwachen in dem Moment zum
Leben, wenn eine Sendung ankommt?«
»Um sie aufzuzeichnen, ja. Wie lange waren die Maschinen
aktiv?«
Ich schüttelte den Kopf. »Zwei, vielleicht zweieinhalb Minuten.«
»Zwei Minuten und achtundvierzig Sekunden?«, fragte er.
»Könnte sein.«
Er fuhr mit dem Finger eine Überschriftszeile über der letzten
Sendung entlang. »Genau so lange hat die letzte Sendung gedauert.«
»Also ist jemand da draußen? Irgendwo auf Cinchare und schickt
den Adeptus alle sechs Stunden eine Nachricht?«
»Nicht jemand … es ist Bure. Das ist die Adeptus-Codeform für
seinen Namen.« Aemos blätterte zurück und studierte die ältesten,
vergilbten Blätter. »Er sendet seit… elf Wochen.«
»Was sagt er?«
»Ich habe keine Ahnung. Der Haupttext ist zu stark verschlüsselt.
Mechanilingus-A oder C oder vielleicht eine moderne Revision einer
der hexadezimalen Servitor-Sprachen. Möglicherweise Impuls-
Analog Version neun. Ich kann …«
»Du kannst es nicht lesen. Das reicht mir.«
»Schön. Aber ich weiß, wo er ist.«
Ich stutzte. »Tatsächlich?«
Aemos lächelte und richtete seine schwere augmetische Sehhilfe.
»Nicht direkt. Ich weiß nicht genau, wo er ist. Aber ich kann ihn
finden.«
»Wie?«
Er zeigte auf einen vertikalen Abschnitt mit bunten Streifen, der
bei jeder Sendung an der Seite entlanglief. »Jede Sendung wird
routinemäßig von einem spektrografischen Bericht über den Standort
des Senders begleitet. Diese Farben sind eine verdichtete Darstellung
von Art, Mischung und Dichte des ihn umgebenden Gesteins, wie ein
Fingerabdruck. Mit guten geologischen Karten von Cinchare und
einem geologischen Auspex kann ich ihn aufspüren.«
Ich lächelte. »Ich wusste doch, dass es einen guten Grund gibt,
dich bei mir zu haben.«
»Also suchen wir ihn?«, fragte Medea.
»Ja, wir suchen ihn. Wir brauchen ein Gefährt. Vielleicht eine
Schürfkapsel. Kommst du damit zurecht?«
»Kinderspiel. Woher nehmen wir die?«
»Imperale Minerale hat einen ganzen Exkursionspark voll davon«,
sagte Aemos. »Ich habe einen schematischen Plan der gesamten
Anlage an einer Wand gesehen.« Ich hatte genau denselben Plan
gesehen, mir aber solche Einzelheiten nicht eingeprägt. Es erinnerte
mich an Aemos' außergewöhnliches fotografisches Gedächtnis.
»Was ist mit den Karten und dem Auspex. Brauchst du die
nicht?«, fragte Medea.
»Jedes Schürfgefährt hat geologische oder mineralogische
Abtaster an Bord«, sagte Aemos. »Das reicht. Aber eine detaillierte
Karte vielleicht nicht. Wir sollten besser dafür sorgen, dass wir eine
haben, bevor wir aufbrechen.«
Er setzte sich auf sein Bett und machte sich an den Einstellungen
seiner am Handgelenk befestigten Datentafel zu schaffen.
»Was machst du?«, fragte ich, während ich mich zu ihm setzte.
»Ich lade eine Karte vom Cogitorum der Sicherheitsstation auf
meine Datentafel.«
»Das kannst du?«, fragte Medea.
»Es ist ganz einfach. Trotz der Gravitationsschwankungen hat der
Kom meiner Tafel genügend Reichweite, um mit dem Codifizierer
der Sicherheitsstation zu kommunizieren. Ich kann eine Textbrücke
herstellen und ihn bitten, mir die Karten zu senden.«
»Ja, ja, aber kannst du das auch, ohne den Benutzercode des
Systems zu kennen?«, fragte Medea.
»Nein«, sagte Aemos. »Aber glücklicherweise kenne ich ihn.«
»Wie das?«
»Er stand auf einem Zettel, der an das zentrale Kontrollpult
geklebt war. Habt ihr ihn nicht gesehen?«
Medea und ich schüttelten den Kopf und lächelten. Während er bei
Kaleil gesessen und fünftklassigen Amasec geschlürft hatte, war es
Aemos gelungen, sich jede Einzelheit des Raums einzuprägen.
»Eine Frage«, sagte Medea. »Wir wissen nicht, was hier vorgeht,
aber wahrscheinlich können wir davon ausgehen, dass euer Freund
kein Freund von Kaleil und dessen Kumpane ist. Wenn wir ihn damit
finden können, warum dann nicht auch sie?«
»Ich glaube, nicht einmal ein erfahrener Grubenarbeiter würde aus
diesen spektroskopischen Analysen schlau. Sie sind in einem Code
der Adeptus abgefasst«, sagte Aemos stolz.
»Es ist viel einfacher. Sie haben die Ausdrucke nicht gefunden«,
sagte ich. »Der Annex war vollkommen eingestaubt und unberührt.
Ich glaube nicht, dass Kaleil und seine Leute im Annex waren. Die
Furcht vor den Adeptus ist ein starker Hinderungsgrund. Sie wissen
nicht, was wir wissen.«
In der Nacht kamen sie, um uns zu töten.
Nachdem Aemos sich die Karten — und noch ein paar andere
Dateien — auf seine Tafel kopiert hatte, beschlossen wir, vor
unserem Aufbruch noch ein paar Stunden zu schlafen.
Ich hatte etwa eine Stunde geschlummert, als ich im Dunkeln
erwachte und feststellte, dass mir Medeas Finger über die Wange
strichen.
Kaum rührte ich mich, drückte sie mir die Lippen fest zu.
»Gespenster, invasiv, Spiralranke«, flüsterte sie.
Meine Augen gewöhnten sich an das Dämmerlicht. Aemos
schnarchte.
Ich stand auf und hörte, was Medea gehört hatte: das Knarren der
Treppe draußen vor dem Ruheraum. Medea schlüpfte in ihren
Fluganzug, hielt ihren Nadler dabei aber auf die Tür gerichtet.
Ich zog meine Laserpistole aus dem Halfter am Boden, dann
beugte ich mich über Aemos und hielt ihm eine Hand auf den Mund.
Er schlug die Augen auf.
»Schnarch weiter, aber mach dich dabei fertig«, flüsterte ich ihm
ins Ohr.
Aemos kam mühsam hoch und sammelte sein Gewand und seinen
Stock ein, wobei er weiter Schnarchlaute von sich gab.
Ich hatte mich bis auf das Unterhemd entkleidet. Jacke und
Bewegungsmelder lagen auf dem Boden am Fußende des Bettes. Es
blieb keine Zeit mehr, danach zu greifen.
Jemand trat die Tür ein. Die leuchtend blauen Strahlen zweier
Laserzielgeräte stachen in den Ruheraum, und ein kurzer Feuerstoß
aus einem Karabiner pustete Löcher in mein leeres Bett und wirbelte
Füllstoff aus den Wunden in der Matratze auf.
Medea und ich erwiderten das Feuer und gaben gemeinsam
vielleicht ein Dutzend Schüsse auf die Tür ab.
Zwei dunkle Gestalten wurden zurückgeschleudert. Jemand schrie
vor Schmerzen.
Aus Höhe der Promenade krachten Schüsse durch die Fenster und
sprengten eines in einem Regen von Glassplittern aus der Halterung.
Zerfetzte Rollo-Stäbe klirrten und bebten unter den Einschlägen.
»Zurück!«, rief ich, während ich zwei Schüsse auf eine Gestalt in
der Tür abgab. Als Antwort zischten drei Laserstrahlen an meinem
Kopf vorbei.
Doch hinter uns flutete plötzlich Licht in den Raum, als eine
Hintertür aufflog. Medea fuhr herum, geschmeidig und langgliedrig,
und zerschmetterte das Gesicht des ersten Eindringlings mit einem
hoch angesetzten Tritt, der diesen zurücktaumeln ließ.
Gestalten stürmten durch die Türen vor und hinter uns. Ich
erschoss zwei, wurde dann aber von zwei weiteren auf den Rücken
geworfen, die sich alle Mühe gaben, mir die Laserpistole aus der
Hand zu reißen. Ich rammte einem das Knie zwischen die Beine und
schoss ihm dann in den Hals, als er zurücktaumelte.
Der andere hatte die Hände um meine Kehle gelegt.
Ich stieß mit meinem Geist direkt in seinen und löste eine massive
Hirnblutung aus, die seine Augäpfel platzen und ihn erschlaffen ließ.
Der Gestank nach Blut, Kordit und den ungewaschenen Leibern
der Grubenarbeiter war durchdringend. Medea tänzelte zurück und
knallte einem anderen Angreifer den Unterarm ins Gesicht, worauf
der Mann ächzend zurückstolperte.
Sie spannte sich und landete einen Sprungtritt mit solcher Wucht,
dass er durch das Fenster geschleudert wurde.
Ein anderer griff sie von hinten an. Ich sah eine Messerklinge in
der Dunkelheit aufblitzen.
Aemos, langsam, aber stetig, fuhr herum und brach dem Mann mit
einem einzigen Schlag das Genick. Eine andere Sache, die man bei
meinem alten Gelehrten leicht unterschätzte, war die unmenschliche
Kraft, die ihm das augmetische Exoskelett verlieh.
Ein paar Schüsse ertönten, und dann das speiende Geräusch von
Medeas Nadler.
Ich krümmte den Rücken und sprang gerade rechtzeitig auf, um
einen Mann mit einer Schrotflinte zu erschießen, der durch die Tür
stürmte.
Stille. Wallender Rauch.
Unten auf dem Platz schrien Stimmen durcheinander.
»Nehmt Eure Sachen!«, befahl ich. »Wir verschwinden sofort!«
Halb angezogen und mit dem Rest unserer Ausrüstung auf der
Schulter eilten wir zur Hintertreppe. Der Leichnam eines von Medea
erschossenen Grubenarbeiters lag zusammengekrümmt auf den
Stufen unterhalb des ersten Absatzes. Die Vorderseite seines Ortog-
Prometheum-Arbeitsanzugs war mit Blut getränkt.
An der Seite seines extrem verdrehten Halses war ein leuchtend
rotes Geburtsmal.
»Ein Bekannter?«, fragte Aemos.
In der Tat.
»Hatte dieser Widerling Bandelbi nicht auch so ein Geburtsmal?«,
fragte Medea. »Auf jeden Fall«, erwiderte ich.
Unser Weg führte durch eine Reihe von Lagerräumen, in die wir
einbrachen, und endete in einer Gasse hinter den an die Wohlfahrt
angrenzenden Geschäften. Ein blondhaariger Grubenarbeiter, der als
Wachposten für den Hinterhalt zurückgelassen worden war, drehte
sich bei unserem Auftauchen überrascht um und tastete nach der
Schrotflinte, die er an einem Lederriemen über der Schulter trug.
Fallen lassen und herkommen!, setzte ich meine Kraft gegen ihn
ein.
Er ließ die Waffe fallen und trottete zu uns. Seine Augen waren
glasig und schauten verwirrt drein.
Zeig mir deinen Hals!, fuhr ich fort.
Er schob mit einer Hand die zerzausten Haare in die Höhe und mit
der anderen den Kragen seines Arbeitsanzugs herunter. Das
Geburtsmal war da, mitten im Nacken.
»Wir haben keine Zeit dafür!«, sagte Aemos.
Schnelle Schritte hallten durch das Gebäude hinter uns, und wir
hörten Schreie und Flüche.
»Woher hast du dieses Mal?«, drängte ich den Blondhaarigen.
»Kaleil hat es mir verpasst«, sagte er schlaff. Was bedeutet es?
Durch meine unbestreitbare Willenskraft getrieben, versuchte er
etwas zu sagen, das ihm der Rest seines Verstandes und seiner Seele
einfach verbat. Es klang wie »Lith«, aber es ließ sich unmöglich mit
Sicherheit sagen, da ihn die Anstrengung tötete.
»Verdammt, Gregor! Wir müssen gehen!«, tobte Aemos.
Wie um ihn zu bestätigen, platzten zwei Grubenarbeiter mit
Autogewehren durch die Tür, durch die wir gekommen waren.
Medea und ich fuhren gleichzeitig herum und erledigten beide mit
jeweils einem Schuss.
Wir stießen darauf, fast bevor wir bereit waren. Eine gewaltige
Röhre aus Maschinenmetall mit einem Durchmesser von dreißig und
einer Länge von siebzig Metern, einer riesigen Plasma-
Schneideschraube am vorderen Ende und Reihen krallenartiger
Antriebsräder, die sich an den Flanken entlangbewegten wie die
aktiven Zähne eines gigantischen Kettenschwerts. Es hatte den
Tunnel verlassen und bewegte sich über den klastischen Silt des
Höhlebodens weg von uns, während es dicke Wolken aus
verdampftem Gestein und Dampf hinter sich ausspie.
»Imperator beschütze mich! Ist das riesig!«, rief Aemos. »Was im
Namen des Goldenen Throns ist das?«, ächzte Medea.
»Langsamer! Langsamer!«, rief ich, aber sie bremste uns bereits
wieder hinter den Leviathan.
»Ach, Scheiße!«, sagte Medea. Gepanzerte Klappen in der Flanke
des Giganten hatten sich gedreht und geöffnet, und Multi-Laser-
Batterien waren dahinter zum Vorschein gekommen, die uns aufs
Korn nahmen.
Ich nahm das Handsprechgerät des Korns. »Vade elquum
alatoratha semptus!«, brüllte ich hinein. »Vade elquum alatoratha
semptus!«
Die Waffen — die uns mit einer einzigen Salve auslöschen
konnten — feuerten nicht. Sie blieben jedoch auf uns gerichtet. Dann
öffneten sich langsam massive Schleusentore im hinteren Ende der
riesigen Maschine und gaben den Blick auf einen kleinen, hell
erleuchteten Hangar frei.
»Eine zweite Einladung wird es nicht geben!«, sagte ich zu
Medea.
Mit einem besorgten Achselzucken flog sie uns hinein.
»Das ist Medea Betancore«, sagte ich, als Geard Bures starker
mechanischer Griff meine Hand schließlich losließ.
»Fräulein Betancore.« Bure verbeugte sich leicht. »Die Adeptus
Mechanicus des Mars, die heiligen Diener des Maschinengottes,
bieten Ihnen Zuflucht in dieser ihrer würdigen Vorrichtung an.«
Ich wollte Medea etwas zuzischen und ihr erklären, dass sie
soeben formell begrüßt worden war, aber typischerweise war das
völlig unnötig.
Sie antwortete mit dem Maschinenfaust-Gruß der Mechanicus und
verbeugte sich zur Erwiderung. »Mögen Ihre Vorrichtungen und
Verlangen dem Gott-Imperator dienen, bis die Zeit abgelaufen ist,
Magos.«
Bure gluckste — ein unheimlicher Laut, wenn er aus einem
künstlichen Kehlkopf kam — und richtete seine grünen Augenlichter
auf mich. »Sie haben sie gut ausgebildet, Eisenhorn.«
»Ich…«
»Das hat er, Magos«, sagte Medea rasch. »Aber die Antwort habe
ich dem Studium der Göttlichen Fibel entnommen.«
»Sie haben die Fibel gelesen?«, fragte Bure.
»Sie war Grundlagenlektüre in der Flugschule auf meiner
Heimatwelt«, erwiderte sie.
»Medea hat … ein Händchen für Maschinen«, sagte Aemos. »Sie
ist unsere Pilotin.«
»Tatsächlich …« Bure ging um sie herum und streichelte
ungehindert ihren Körper mit seinen Metallfingern. Medea ließ ihm
vorübergehend seinen Willen.
»Sie ist maschinen-weise, hat aber keine augmetischen
Ergänzungen?«, fragte mich Bure.
Medea streifte ihre Handschuhe ab und zeigte ihm die
komplizierten Schaltkreise in ihren Handflächen.
»Keineswegs, Magos.«
Er nahm ihre Hände in seine und betrachtete sie in hungrigem
Staunen. Geiferartige Fäden klaren Schmieröls tröpfelten wie
Speichel durch seine Chromzähne.
»Eine Glavianerin! Ihre Verbesserungen sind … so … schön …«
»Vielen Dank, Magos.«
»Sie haben nie in Erwägung gezogen, andere Verstärkungen
zuzulassen? Gliedmaßen? Organe? Das ist sehr befreiend.«
»Ich … komme zurecht mit dem, was ich habe«, lächelte Medea.
»Davon bin ich überzeugt«, sagte Bure, um sich dann mir
zuzuwenden. »Willkommen in meinem Translithopäden, Eisenhorn.
Sie auch, Aemos, alter Freund. Ich muss zugeben, ich kann mir nicht
vorstellen, was Sie hergeführt hat. Ist es der Lith? Hat Sie die
Inquisition geschickt, um sich um den Lith zu kümmern?«
Die Nachricht von meiner Schande hatte ihn offenbar noch nicht
erreicht, und dafür war ich dankbar.
»Nein, Magos«, sagte ich. »Eine seltsamere Wendung hat uns
hergeführt.«
»Tatsächlich? Wie eigenartig. Als ich Ihr Signal zuerst empfing —
in Hapshants altem Privatcode -, konnte ich es gar nicht glauben. Ich
hätte Sie beinahe abgeschossen.«
»Ich habe es darauf ankommen lassen«, sagte ich.
»Und es hat Sie zu mir geführt, und ich bin froh darüber. Kommen
Sie, hier entlang.«
Seine silbernen Skeletthände führten uns zur Schleuse.
Bure hatte keine unteren Gliedmaßen. Er schwebte auf Antigrav-
Suspensoren, so dass der Saum seiner orangen Robe ein paar
Zentimeter über dem Plattendeck endete. Wir folgten ihm einen
langen, ovalen Niedergang entlang, der von Messing-Bullaugen und
weiteren Gasfaserlampen gesäumt wurde.
»Diese Grabmaschine ist ein Wunder«, sagte Aemos.
»Alle Maschinen sind Wunder«, erwiderte Bure. »Diese hier ist
eine Notwendigkeit, das Primärwerkzeug für meine Arbeit hier auf
Cinchare. Natürlich hat es eine Reihe nicht ganz so perfekter
Prototypen gegeben, bevor ich die notwendigen Verbesserungen
vorgenommen habe. Dieser Translithopäde wurde nach meinen
Entwürfen von den Adeptus auf Rysa angefertigt und vor drei
Standardjahren an mich ausgeliefert. Damit kann ich hier in diesem
Fels gehen, wohin ich will, und Cinchares Metallen ihre Geheimnisse
entlocken.«
Magos Bure war seit zweihundert Jahren Spezialist für
Metallurgie, und wegen seines Wissens und seiner Entdeckungen
wurde er von seinen Brüdern in der Techpriesterschaft beinahe
angebetet. Davor war er Fabrikator-Architekt in den
Titanenschmieden von Triplex Phall gewesen. Meines Wissens war
er knapp siebenhundert Jahre alt. Hapshant hatte gelegentlich
durchblicken lassen, dass Bure noch sehr viel älter war.
Kein Fetzen Fleisch des Magos war noch übrig. Die letzten
organischen Teile von Geard Bure, dem menschlichen Wesen — sein
Gehirn und seine Nervensysteme -, waren in seinem glänzenden
mechanischen Körper versiegelt. Ich hatte nie erfahren, ob dies eine
Frage der Absicht oder der Notwendigkeit war. Vielleicht hatte ihm,
wie es bei vielen der Fall ist, eine schwere Krankheit oder
Verwundung diese extreme Augmetik aufgezwungen. Oder wie
Tobius Maxilla mochte er auch absichtlich die Schwäche des
Fleisches zugunsten der maschinellen Perfektion abgelegt haben. Da
ich die technophile Disposition der Mechanicus-Priesterschaft
kannte, kam Letzteres mir wahrscheinlicher vor.
Mein verstorbener Mentor, Inquisitor Hapshant, war Magos Bure
früh in seiner Laufbahn begegnet, und zwar während der gefeierten
Mission, das STK-Lektionarium vor den Ashrams von Ullidor dem
Techschmied zu retten. Wie ich schon angemerkt habe, findet die In-
quisition — und tatsächlich praktisch jede erhabene Körperschaft des
Imperiums — den Umgang mit dem Kult Mechanicus bestenfalls
problematisch. Seine Macht ist legendär, seine Abgeschiedenheit und
Engstirnigkeit berüchtigt. Der Kult ist ein geschlossener Orden, der
die Geheimnisse seiner Technologien eifersüchtig hütet. Doch Bure
und Hapshant hatten eine zuträgliche Arbeitsbeziehung entwickelt,
die auf gegenseitiger Wertschätzung beruhte. Bei mehreren
Gelegenheiten hatte Bures spezielles Wissen meinem Mentor bei der
Lösung wichtiger Fälle geholfen, und bei mehreren anderen hatte er
sich dafür revanchiert.
Aus diesem Grund hatte ich vor einem Jahrhundert ein Objekt von
besonderer Bedeutung seinem fachkundigen Gewahrsam anvertraut.
Ich schleppte mich mit meiner Kapsel zum Aschestrand und setzte
etwa zwanzig Meter vor dem Lith auf. Medea stöhnte im Schlaf. Ich
wollte mir gar nicht erst die Träume ausmalen, die durch ihr
Unterbewusstsein geistern mochten.
»Verschwinde aus meinem Kopf!«, fauchte ich laut, als der Lith
sein beharrliches Wispern fortsetzte.
Es dauerte einen Moment, die Aufzeichnung zurückzuspulen und
auf beständige Wiederholung zu schalten. Dann leitete ich das Signal
in das Sonarsystem um, das die Kapsel zur Unterstützung des
Auspex bei Abtast- und Lokalisierungsarbeiten einsetzte. Ich drehte
an den Kontrollen, bis das starke Sonar direkt auf den Dekaeder
zielte.
In starke Ultraschallimpulse umgewandelt, bestrahlte meine
Aufzeichnung den Lith. Mit dem Imperatorgebet der
Außerkraftsetzung des Warp, das von jedem guten Schulkind des
Imperiums auswendig gelernt wurde. Ein unschuldiger Segen gegen
die Finsternis, eine Bannung des Chaos. Ich bezweifelte, dass es
jemals so aktiv eingesetzt worden war. Ich bezweifelte, dass sich
meine Lehrer für dieses einfache Gebet je einen solchen Anlass
ausgemalt hatten.
»Worte«, murmelte ich. »Dein verdorbenes Flüstern gegen meine
Worte der Macht. Wie gefällt dir das?«
Ich stellte das Sonar auf maximale Leistung. Was allein den
Ultraschall betraf, hätten die Impulse gereicht, um einen Menschen
bewusstlos zu machen und ihm die Knochen zu brechen.
Eine Minute oder länger befürchtete ich, keine Wirkung zu
erzielen.
Dann hörte das Flüstern auf. Es ging in ein unterschwelliges
Ächzen der Wut und der Pein und schließlich der Qual über.
Die Oberfläche des Lith wurde farblos, als breite sich Schimmel
darauf aus. Das ganze Gebilde erbebte und ließ den Obsidian
ringsherum bersten.
Dann flackerte das innere Leuchten und erlosch, und dann war er
von dem ihn umgebenden schwarzen vulkanischen Glas nicht mehr
zu unterscheiden.
Als der Lith starb, folgten ihm seine Diener und auch die
Blasphemie. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass Medea nun
einfach nur noch tief schlief, steuerte ich die beschädigte Kapsel
vorsichtig in die Kaverne zurück und sah gerade noch, wie die
letzten sehnigen Überreste des widerlichen Wurms verbrannten und
vom verbeulten Rumpf des Translithopäden herabglitten. Es roch
nach verbranntem Fett, und schmutzige Ascheflocken flogen umher.
Die brennenden Leichen der Kultisten lagen überall auf dem
Boden. Reglose Kampfläufer standen in ihrer Mitte und warteten auf
den nächsten Befehl.
»Hier ist das Heft«, sagte er, während er mich zu der Arbeitsbank
führte, wo die beiden Servitoren, die Verzierungen in die lange
Stange frästen.
»Stahl?«
»Oberflächlich. Der Kern ist aus Titan und von einer
Adamantiummanschette unter der stählernen Hülle umgeben. In das
Titan sind Kanäle gebohrt, in denen sich die leitenden
Lapidorontiumdrähte befinden.«
»Sieht perfekt aus«, sagte ich.
»Es ist perfekt. Buchstäblich perfekt. Mit einer Toleranz von
einem Nanometer nach Ihren Maßen gefertigt. Ich zeige Ihnen das
Schwert.«
Ich folgte ihm zu einer Werkbank am anderen Ende der Schmiede,
wo das Schwert unter einem Staubtuch ruhte.
»Was meinen Sie?«, fragte er, indem er das Tuch zurückschlug.
Barbarisater war so schön, wie ich es in Erinnerung hatte. Ich
bewunderte die frischen Pentagramm-Schutzvorrichtungen, die in die
Klinge geätzt worden waren, seit ich sie zuletzt gesehen hatte, zehn
auf jeder Seite.
»Das ist ein bemerkenswertes Artefakt. Ich war beinahe unwillig,
die von Ihnen verlangten Veränderungen vorzunehmen. Ich habe
acht Adamantium-Bohrspitzen allein an dieser Seite ruiniert. Die
gehärtete Stahlhaut der Klinge um den festen Kern ist neunhundert
Mal gefaltet und gehämmert worden. Sie übersteigt alles, was wir
heutzutage fertigen können.«
Für diese Waffe stand ich in Klan Esw Sweydyrs Schuld, wie ich
bereits für Arianrhods Leben in seiner Schuld stand. Ich hätte sie in
seine Obhut zurückbringen müssen, denn sie war Teil des Klan-
Vermächtnisses und usuril, der »lebendigen Geschichte«. Das
Schwert war mir anvertraut, und es stand mir nicht zu, es zu nehmen
und auf diese Art zu verunstalten. Aber in Kasr Gesh, von Angesicht
zu Angesicht mit Prophaniti, hatte ich zwei Dinge gelernt.
Tatsächlich hatte dieses Monstrum sie mir selbst verraten.
Pentagramm-Schutzvorrichtungen funktionierten gegen
Dämonenwirte, aber sie waren nicht stärker als die Waffe, die sie
trug.
Meines Wissens gab es kaum bessere, stärkere Klingen im von
Menschen besiedelten All. Ich würde irgendwann meinen Frieden
mit den Klans von Carthae machen und mich bei ihnen
entschuldigen, wenn das Schicksal es zuließ.
Ich trat vor, um die Klinge zu berühren, doch Bure hielt mich
zurück. »Sie ruht noch. Wir müssen ihre Anima respektieren. In ein
paar Tagen können Sie die Klinge nehmen. Machen Sie sich gut mit
ihr vertraut. Sie müssen intime Kenntnis von ihr haben, bevor Sie sie
im Kampf einsetzen.«
Er begleitete mich zur Tür der Schmiede. »Beide Waffen müssen
vor der Benutzung gesegnet und geweiht werden. Ich kann das nicht
tun, obwohl ich ihre Fertigung zeremoniell dem Maschinengott
widmen kann.«
»Für die Weihe habe ich bereits Pläne«, sagte ich. »Aber ich
würde Ihre Zeremonie begrüßen. Wenn ich gegen Quixos vorgehe,
kann ich mir keinen mächtigeren Schutzpatron als Ihren
Maschinengott für mich vorstellen.«
Die anderen verbrachten die nächsten beiden Tage mit Packen und
Reisevorbereitungen, doch Aemos und ich besuchten die
Weihezeremonie im Annex der Adeptus Mechanicus im dortigen
Allerheiligsten.
Servitoren des Maschinenkults skandierten in moduliertem
Maschinencode, während sie auf Kesselpauken schlugen. Magos
Bure war in seine orangen Gewänder gehüllt und trug eine weiße
Stola um die Schultern.
Er segnete die von ihm angefertigten Waffen eine nach der
anderen, indem er erst die eine und dann die andere von den beiden
Techadepten in Empfang nahm, die dort wartend standen.
Barbarisater, das Pentagrammschwert, wurde ins Licht gehoben,
das aus den Augen des Maschinengottes herabfiel. Dann folgte der
Runenstab, Bures Meisterstück.
Er hatte eine Kappe aus Elektrum für die mit Runen besetzte
Stahlstange geschmiedet, und zwar in der Form einer flammenden
Sonnenkorona. In deren Mitte befand sich ein menschlicher Schädel,
der mit dem dreizehnten Mal der Geißelung markiert war. Der
Schädel war der Leitstein, von Bure persönlich zu einem perfekten
Abbild meines eigenen Schädels geformt, nachdem er mit Hilfe
zahlloser Abtastungen genau vermessen worden war. Er hatte über
zwanzig verschiedene tele-empathische Kristalle ausprobiert und
verworfen, bevor er einen gefunden hatte, von dem er glaubte, er
werde der Aufgabe gewachsen sein.
»Wunderschön«, sagte ich, indem ich es ihm abnahm. »Für
welchen Kristall haben Sie sich am Ende entschieden?«
»Was glauben Sie?«, sagte er. »Ich habe diese Kopie Ihres
Schädels aus dem Lith gemeißelt.«
Von Cinchare flog die Essene schnell und ungeduldig in die Weite
des Segmentum Obscurus zurück, eine dreimonatige Reise, die wir
zwei Mal unterbrachen.
Bei Ymshalus hielten wir an, um die vorbereiteten Botschaften zu
senden, alle zwanzig. Inshabel und Fischig verließen uns an dieser
Stelle ebenfalls. Inshabel, um sich nach Elvira Cardinal einzuschiffen
und mit seiner Arbeit dort zu beginnen, und Fischig, um sich auf den
langen Rückweg nach Cadia zu machen. Es würde Monate, wenn
nicht Jahre dauern, bis wir sie wiedersahen. Es war ein betrübter und
sorgenvoller Abschied.
Bei Palobara, jenem Verkehrsknotenpunkt an der Grenze, wo es
von Handelsschiffen und Obscura-Karawanen wimmelte, die von
angeworbenen Kanonenbooten eskortiert wurden, machten wir Halt
und sendeten die Deklaration der Carta. Jetzt gab es kein Zurück
mehr. Hier trennte ich mich auch von Bequin, Nayl und Aemos, die
alle auf unterschiedlichen Wegen in den helicanischen Subsektor
zurückkehrten. Bequins Ziel war Messina, Aemos war mit Nayl als
Leibwächter nach Gudrun unterwegs. Noch eine schwere Trennung.
Die Essene flog nach Orbul Infanta weiter. Die Fahrt war eine
einsame Warterei. Jeden Abend versammelten sich die Reste meiner
Truppe in Maxillas Speisesaal und aßen gemeinsam: ich selbst,
Medea, Maxilla und Ungish. Ungish war keine Gesellschaft, und
selbst Medea und Maxilla hatten ihre Munterkeit eingebüßt. Sie ver-
missten die anderen, und ich glaube, sie wussten, wie dunkel und
hart die vor uns liegende Zeit sein würde.
Ich verbrachte meine Tage in der Bibliothek des Kanonenboots
und las oder spielte Königsmord mit Medea. Mit Barbarisater übte
ich in den Laderäumen, wo ich die Kniffe im Umgang mit seinem
Gewicht und seiner Balance meisterte. Ich würde niemals das
Geschick einer auf Carthae geborenen Schwertmeisterin haben, aber
ich war schon immer gut mit dem Schwert gewesen. Barbarisater war
ein ganz außergewöhnliches Stück. Ich lernte es kennen, und es
lernte mich kennen. Binnen einer Woche reagierte es auf meinen
psionischen Willen und kanalisierte ihn so hart, dass die Runenmale
bei jeder Manifestation von psionischer Kraft grell aufleuchteten. Es
hatte einen eigenen Willen, und wenn ich es einmal in den Händen
hielt, war es schwierig, es daran zu hindern, dorthin zu zucken und
zu stoßen, wohin es wollte. Es hungerte nach Blut … oder wenn
nicht nach Blut, so doch wenigstens nach den Freuden der Schlacht.
Bei zwei separaten Gelegenheiten kam Medea in den Laderaum, um
festzustellen, ob ich gelangweilt genug für eine weitere Runde
Königsmord war, und ich musste den Stahl daran hindern, ihr entge-
genzustoßen.
Seine schiere Länge war ein Problem. Ich hatte noch nie eine
derart lange Klinge benutzt. Ich machte mir Sorgen, ich könnte
meinen eigenen Extremitäten Schaden zufügen. Aber meine
Übungen erschlossen mir auch die Vorteile: lange, fließende
Bewegungen, weit reichende Streiche, ein langes Schnittfeld. Nach
zwei Wochen hatte ich den Trick gemeistert, es in der Hand zu
drehen, und meine offene Handfläche und der Knauf umkreisten
einander wie die Scheiben eines Gyroskops. Ich war stolz auf diese
Bewegung. Ich glaube, Barbarisater lehrte sie mich.
Ich arbeitete auch mit dem Runenstab, um mich auch an ihn und
seine Balance zu gewöhnen. Obwohl ich vor allem auf Entfernungen
von über drei oder vier Metern ganz schlecht zielte, lernte ich,
meinen Willen durch meine Hände in den Schaft einfließen zu lassen
und ihn dann durch den Kristallschädel in Form von elektrischen
Strahlen zu projizieren, die Deckenplatten verbeulten.
Natürlich konnte ich ihn unmöglich für seinen primären Zweck
testen.
Wir begaben uns zur Kathedrale der Aussichten von St. Ezra,
einem bedeutsamen Tempel im Westen der Stadt. Auf jeder Mauer
und Dachkante auf unserem Weg hockten Saftfinken und
zwitscherten, wie es mir vorkam, empört.
Die eigentliche Kathedrale war zugegebenermaßen prächtig, ein
niedergotisches Münster, in den letzten dreißig Jahren erbaut und mit
Geldern bezahlt, die von den Stadtvätern und der Priesterschaft
aufgebracht worden waren. Jeder Besucher, der durch die
Stadtmauern trat, war verpflichtet, je eine Münze von hohem Wert in
die Opferstöcke beiderseits der Zugangstreppe zu werfen. Ein gelb
berobter Adept der Priesterschaft war dort, um sich zu vergewissern,
dass dies auch geschah. Der Opferstock zur Linken war die Kollekte
für die Instandhaltung und den Bau der städtischen Tempel. Der zur
Rechten finanzierte die Saftfinken.
Wir betraten die Kathedrale und die Kühle ihres marmornen
Hauptschiffs, wo die Gläubigen im Gebet niederknieten und das
durch die großen, hohen Buntglasfenster einfallende Sonnenlicht
bunte Muster auf allem zeichnete. Die kühle Luft wurde versüßt
durch den Rauch von Süßholzbrennern und belebt durch den
munteren Gesang der Cantoria.
Ich ließ Medea und Ungish im gewölbten Torbogen des Eingangs
neben einem Grabmal zurück, auf dem das geprägte Abbild eines
Space Marine vom Orden der Raven Guard zu sehen war, dessen
Hände so angeordnet waren, dass sie anzeigten, auf welchem
heiligen Kreuzzug er gefallen war.
Ich fand den Profos der Kathedrale und erklärte ihm, was ich von
ihm wollte. Er sah mich mit leerem Blick an und zupfte an seinen
gelben Gewändern herum, aber er verstand mich rasch, als ich sechs
Münzen von hohem Wert in seine Almosentruhe warf und ihm zwei
weitere in die Hand drückte.
Er führte mich zu einer Taufkanzel, und ich bedeutete meinen
Kollegen, mir zu folgen. Als wir alle dort versammelt waren, zog er
die Vorhänge zu und öffnete sein Brevier. Als er mit dem Ritual
begann, wickelte Medea die Gegenstände aus und legte sie auf den
Rand des Weihwasserbeckens. Der Profos murmelte weiter und hob
dann, den Blick weiterhin starr auf das offene Buch gerichtet, um
nicht ins Stocken zu geraten, ein Fläschchen mit Chrisam, öffnete es
und salbte sowohl den Stab als auch das Schwert mit dem Öl.
»Mit der Segnung und Weihe dieser Gegenstände ehre ich den
Imperator, der mein Gott ist, und fordere jene, die diese Gegenstände
vorbringen, auf, dies ohne den Makel der Begehrlichkeit zu tun.
Geloben Sie das?«
Mir ging auf, dass er mich ansah. Ich hob den Kopf aus der
Haltung kniender Demut. Begehrlichkeit. Ein Verlangen nach dem
Verbotenen. Wagte ich, diesen Schwur mit meinem Wissen zu
leisten?
»Nun?«
»Ich bin ohne Makel, puritus«, erwiderte ich. Er nickte und fuhr
mit der Weihe fort.
Der erste Teil meines Anliegens war erledigt. Wir gingen nach
draußen auf den Platz vor der Kathedrale.
»Bring sie zur Fähre zurück und verstau sie sicher«, sagte ich zu
Medea, indem ich auf die eingewickelten Waffen auf dem Karren
wies.
»Was bedeutete das mit der Begehrlichkeit?«, fragte sie.
»Mach dir deswegen keine Gedanken«, sagte ich. »Hast du gerade
gelogen, Gregor?« »Halt den Mund und mach dich auf den Weg.«
Medea fuhr mit dem Karren durch die Massen der Pilger.
»Sie ist ein schlaues Mädchen, Ketzer«, flüsterte Ungish.
Wie gingen in die Kathedrale der Aussichten von St. Ezra zurück
und nahmen in der vordersten Bankreihe Platz. Die Abendsonne fiel
seitlich durch die Fenster. Die Statue des Heiligen, die sich hinter der
Chorschranke erhob, sah erhaben aus.
»Jetzt besser?«, fragte ich.
»Ja«, schniefte sie.
Ich sah mich beständig um, in der Hoffnung, Gladus werde
auftauchen. Pilger trafen zur Abendandacht ein.
Vielleicht kam er nicht, vielleicht hatte Ungish recht. Vielleicht
war ich mehr Ausgestoßener, als ich mir vorgestellt hatte, sogar für
alte Freunde und Kollegen.
Vielleicht hatte Gladus meine demütige Botschaft gelesen und mit
einem Fluch weggeworfen. Vielleicht hatte er sie zu den Arbites
geschickt… oder zur Ekklesiarchie … oder zum Officio für Interne
Ermittlungen der Inquisition.
»Noch zwei Minuten«, versicherte ich ihr. »Dann gehen wir.« Der
verabredete Zeitpunkt war lange vorbei.
Ich sah mich wieder um. Mittlerweile fluteten die Pilger durch den
Haupteingang in die Kathedrale.
Eine Lücke war im Strom, ein Raum, wo sich jemand hätte
aufhalten müssen. Er war ziemlich offensichtlich, da die Pilger sich
zwar darum herum bewegten, ihn aber niemals ausfüllten
Meine Augen weiteten sich. In der Lücke war ein Flimmern von
Energie, wie ein Seitenblitz von einem Spiegelschirm.
»Ungish«, zischte ich, indem ich nach meiner Waffe griff.
Aus der Lücke jagten mir kreischend durch das Kirchenschiff
Boltgeschosse entgegen. Pilger kreischten voller Panik und flohen in
alle Richtungen.
»Der Jäger!«, jammerte Ungish. »Unkenntlich und unsichtbar!«
Das war er. Mit aktiviertem Spiegelschirm war er nicht mehr als
ein Hitzeflimmern, kenntlich nur durch den Mündungsblitz seiner
Waffe.
Eine Massenpanik hatte die Kathedrale erfasst. Pilger trampelten
andere Pilger nieder, hastig fliehend.
Die Rückenlehnen der Bänke explodierten, als sie von den
Boltgeschossen getroffen wurden. Ich erwiderte das Feuer mit
ordentlichen Lasersalven.
»Dorn wünscht Aegis, feige Hunde im Genick!«
Mehr konnte ich nicht senden, bevor mich ein Boltgeschoss
seitlich am Hals streifte, rückwärts schleuderte und mein Kom
zerstörte.
Ich wälzte mich über den Marmorboden und blutete ihn voll.
»Eisenhorn! Eisenhorn!«, brüllte Ungish und schrie dann vor
Schmerzen.
Ich sah, wie sie durch die Holzleisten der Bankeinfassungen
geschleudert wurde und sie demolierte. Ein Boltgeschoss hatte sie
mitten in den Bauch getroffen. Verblutend wand sie sich inmitten der
Holzsplitter jammernd und schreiend auf dem Boden.
Ich versuchte zu ihr zu kriechen, während weitere unnütze Schüsse
die restlichen vorderen Bankreihen zerfetzten.
Ich schaute auf. Hexenjäger Arnaut Tantalid schaltete seinen
Spiegelschirm aus und starrte auf mich nieder.
»Sie sind ein verfluchter Ketzer, Eisenhorn, und diese Tatsache ist
jetzt durch die für Sie herausgegebene Carta unzweifelhaft erwiesen.
Im Namen des Ministorums der Menschheit fordere ich Ihr Leben.«
EINUNDZWANZIG
Tod in St. Ezra. Die lange Jagd. Die Zelle der Fünf.
Wie er mich gefunden hatte, war mir ein Rätsel, aber ich glaube, er
war schon lange hinter mir her gewesen, schon lange vor Cinchare.
Die Tatsache, dass er zu dieser Stunde und an diesem Tag in die
Kathedrale zur Aussicht von St. Ezra gekommen war, überzeugte
mich, dass er meine Botschaft an Gladus abgefangen hatte. Und er
hätte an dieser Stelle auch über mich triumphiert, hätte er seinen
Vorteil genutzt und die Sache einfach mit seiner Boltpistole zu Ende
gebracht.
Stattdessen halfterte Tantalid seine Boltpistole und zog sein altes
Kettenschwert Theophantus, in der Absicht, mit der heiligen Waffe
eine förmliche Hinrichtung vorzunehmen.
Ich schoss mit meiner Laserpistole auf ihn, gab Schuss um Schuss
auf ihn ab und trieb ihn so zurück. Seine mit goldenen Zisellierungen
verzierte Schlachtrüstung, die seiner verschrumpelten Gestalt Fülle
und Proportionen eines Space Marine verlieh, absorbierte die Energie
oder lenkte die Strahlen ab, aber die schiere Trefferwucht schleuderte
ihn mehrere Schritte zurück.
Ich sprang auf und zog mich weiterschießend längs der
Epistelseite der Kathedrale in Richtung Reliquienschrein zurück.
Zuschauer und Kirchendiener flohen immer noch. Mit surrenden
Sägezähnen schwang Theophantus nach mir. Tantalid blaffte dabei
die Anklage der Ketzerei, Vers um Vers.
Sei still!, brüllte ich unter Einsatz meiner Willenskraft.
Der psionische Stich schockierte ihn so sehr, dass er verstummte,
aber er war allgemein durch Psi-Dämpfer geschützt und ignorierte
meinen nächsten psionischen Befehl »aufzuhören« vollkommen.
Das Kettenschwert surrte heran, und ich warf mich zur Seite, da es
eine Bank entzweihieb. Der Rückschwung hätte mich beinahe
erwischt, aber ich wich hinter einen Stützpfeiler aus, der dem Schlag
in einem Regen aus Funken und Gesteinssplittern die Wucht nahm.
Ungish schrie und jammerte immer noch vor Schmerzen. Das
Geräusch ließ mich frösteln und erzürnte mich gleichzeitig. Ich
schoss wieder mit meiner Laserpistole, aber die letzten Schüsse
knisterten nur noch mit minimaler Energie aus dem Lauf. Die
Energiezelle war erschöpft. Ich hechtete wieder beiseite, fintierte an
seiner sich langsam bewegenden Körperfülle vorbei und packte ihn
von hinten. Es war ein verzweifelter Plan. Ungerüstet, wie ich war,
hatte ich kaum Aussichten, seiner brutalen Kraft Herr zu werden oder
ihm weh zu tun. Er griff mit einer im stählernen Panzerhandschuh
steckenden Faust nach hinten, packte mich bei der Jacke und zerrte
mich weg.
Meine Jacke riss. Ich schlug schwer gegen einen Pfeiler und
krachte durch das zierliche Flechtwerk eines Beichtstuhls. Ich hatte
mich kaum aus den dünnen Holzsplittern aufgerappelt, als das
Kettenschwert wieder heransauste und einen tiefen Spalt in den
Kathedralenboden schlug.
Da rannte ich vor ihm davon, durch das Südschiff zum
Reliquienschrein. Zwei Männer der Frateris Militia der Kathedrale,
die eindeutig auf der Jagd nach Beförderung waren und gedachten,
sie dadurch zu bekommen, dass sie dem furchterregenden
Hexenjäger des Ministorums zu Hilfe kamen, schlossen ihn, um mir
den Fluchtweg zu versperren. Beide trugen Ezras Gelb und einen
kurzen Kampfstab in einer sowie eine Tempellaterne in der anderen
Hand.
Ich glaube, sie bedauerten beide sehr rasch ihre enthusiastische
Einmischung.
Ich hielt mich gar nicht erst mit dem Einsatz meiner Willenskraft
auf. Ich glaube, meine Wut war ohnehin zu groß, um sie noch sauber
einsetzen zu können. Ich wich dem ersten Stab seitlich aus, fing und
brach das Handgelenk, das ihn schwang, und trat den Mann zu
Boden. Der Stab drehte sich in der Luft, als er sich aus der nutzlosen
Hand des Trottels löste, und ich fing ihn und drehte ihn kreuzweise,
um den abwärts geführten Schlag des zweiten Mannes zu parieren.
Als er unter Einwirkung des Rückschlags seines eigenen
abgewehrten Hiebs zurückprallte, schlug ich ihm mit meiner
erbeuteten Waffe seitlich vors Knie. Er fiel mit einem
durchdringenden Aufschrei zu Boden, wobei er seinen eigenen Stab
losließ und mich stattdessen mit der Tempellaterne zu schlagen
versuchte. Ich entriss ihm die Lampe und trat ihm in den Bauch, so
dass er sich auf der Seite liegend schluchzend zusammenkrümmte
und sich zu erinnern versuchte, wie man atmete.
Der erste Mann war wieder auf den Beinen und rannte auf mich
los. Ich fuhr herum und schlug ihm die Tempellaterne seitlich ins
Gesicht. Sowohl ihr als auch sein Licht erloschen.
Der Boden bebte, als Tantalid mich erreichte und auf mich
einschlug. Ich benutzte den eroberten Stab wie ein Schwert,
beidhändig, um seine Schläge abzulenken. Der Stab bestand aus
eisenbeschlagenem Hartholz und war stabil, aber einem
Kettenschwert nicht gewachsen. Nach drei Paraden war der Stab
verstümmelt und unbrauchbar. Ich warf ihn beiseite und riss eine
Kirchenstandarte von der Wand neben der Tür des Reliquienschreins.
Theophantus zerfetzte sofort das alte bestickte Tuch mit dem Titulus
am Ende, aber das ließ mir eine drei Meter lange Stange aus
Gusseisen.
Ich hielt sie wie einen Kampfstab und schlug Tantalid mit dem
einen Ende zunächst seitlich vor den Kopf und dann mit dem anderen
auf die Hüfte auf der anderen Seite. Dann stach ich mit dem Ende
nach ihm wie mit einem Speer und schlug eine Beule in den
Brustharnisch seiner Rüstung.
Als Antwort — und mittlerweile seinerseits vor Wut schäumend
— riss er Teophantus hoch und kürzte meine Stange um einen halben
Meter. Ich schwenkte das verbliebene Stück einhändig herum und
traf ihn auf der anderen Seite des Kopfes. Blut quoll ihm aus den
Ohren. Er heulte und warf sich zu einem Angriff nach vorn, der mir
beinahe den Arm abgetrennt hätte.
Mein dritter Versuch, ihm seinen erbärmlichen Schädel
einzuschlagen, traf nicht. Er war jetzt gewarnt und parierte mit
seinem Kettenschwert. Die Sägezähne bissen sich an der Stange fest,
rissen sie mir aus den Händen und schleuderten sie zehn Meter hoch
in die Luft. Sie landete mit einem lauten, hallenden Klirren hinter
einigen Bankreihen.
Ich sprang vor dem brutalen Folgehieb zurück, aber die
mörderische Klinge erwischte mich an der Schulter und versetzte mir
einen tiefen Schnitt. Mit auf die Wunde gepresster Hand duckte ich
mich wieder, und Theophantus enthauptete eine Statue von St. Ezras
Ablassprediger.
Was immer ich tat, die Waagschale neigte sich zu seinen Gunsten.
Er hatte die Waffen und die Rüstung auf seiner Seite. Und jetzt
blutete ich stark, was bedeutete, dass ich allmählich immer
langsamer und schwächer würde und er nur immer weiter angreifen
musste, um schließlich zu triumphieren.
Ich registrierte vage einen weiteren Aufruhr an den Haupttüren der
großen Kathedrale. Viele verschreckte Pilger und Hierarchen hatten
sich zurückgezogen und dort versammelt, um den heiligen Kampf zu
beobachten. Jetzt spritzten sie förmlich auseinander. Eine Gestalt
stürmte durch sie und hinein.
Medea.
Sie lief durch das Hauptschiff, rief mir etwas zu und gab einen
Schuss mit ihrem Nadler auf Tantalid ab. Die tödlichen Geschosse
prallten mit hellem Ping von seiner Rüstung ab, und er drehte sich
verärgert um.
Tantalid zog seine Boltpistole und schoss auf diesen neuen
Angreifer. Medea warf den Gegenstand, den sie in der anderen Hand
trug, und hechtete dann beiseite, um den Hammerschlägen der
Boltgeschosse auszuweichen. Hoffentlich war es ein absichtlicher
Hechtsprung, betete ich. Wenn er sie getroffen hatte …
Der von ihr geworfene Gegenstand prallte von der Bankreihe
neben mir ab, landete auf dem Boden und glitt aus seiner gelben
Hülle.
Barbarisater.
Ich riskierte es, von dem Kettenschwert aufgeschlitzt zu werden,
als ich mich auf die Klinge von Carthae warf. Meine Hände fanden
den langen Griff, und ich wälzte mich zwei Mal herum, um
Theophantus' nächstem Hieb auszuweichen.
Barbarisater schnurrte in meinen Händen, als ich hochkam. Die
Runen erstrahlten in rachsüchtigem Licht.
Tantalid ging auf, dass sich das Wesen des Kampfes jäh geändert
hatte. Ich sah es in seinen Augen.
Mein erster Schwung fuhr durch sein Handgelenk und schnitt
sauber durch die Manschette der Servorüstung, so dass seine Hand
mit der noch rauchenden Boltpistole zu Boden fiel.
Mein zweiter traf Theophantus und zerstörte das Schwert, so dass
sich auflösende Sägezähne und Maschinenteile durch die Luft flogen.
Mein dritter schnitt Hexenjäger Tantalid von der linken Schulter
bis zum Schritt entzwei. Keine Hälfte von ihm gab ein Geräusch von
sich, als beide auseinanderklafften und auf den Kathedralenboden
fielen.
Barbarisater brodelte immer noch vor Kraft und zuckte, als Medea
unverletzt hinter einem Chorstuhl hervortrat. Ich zwang die hungrige
Klinge nach unten.
»Beeil dich!«, sagte sie.
Ungish war tot. Ich konnte nichts für sie tun. Und dabei hätte ich
so viel für sie tun können. Sie hatte recht gehabt. Recht in Bezug auf
das hier. Recht in Bezug auf ihr Schicksal. Ich wagte nicht, mir
vorzustellen, wie viele ihrer Bemerkungen sich noch als wahr
erweisen mochten.
Als Medea meinen Glossia-Ruf bei Tantalids erstem Angriff
gehört hatte, war sie trotz aller Warnungen, sofort abzubrechen, vom
Raumhafen vor der Stadt gestartet, direkt hergeflogen und draußen
auf dem Platz vor der Kathedrale gelandet.
Während wir jetzt durch Massen benommener Zuschauer, die uns
aus dem Weg sprangen, nach draußen rannten, waren bereits die
Arbites der Stadt und die Frateria Militia alarmiert und unterwegs. Es
hatte keinen Sinn, auf sie zu warten.
Die Fähre brachte uns rasch zurück zur Essene, und wir verließen
Orbul Infanta, so schnell wir konnten.
Es war ein Chaos, und ich war furchtbar entmutigt. Die
Zuversicht, mit der wir alle von Cinchare aufgebrochen waren,
schien sich verflüchtigt zu haben. Orbul Infanta war nur der erste
Teil eines groß angelegten Plans gewesen, und dank Tantalid hatte er
ein schlechtes Ende genommen. Ich hatte keine Verbindung zu
Gladus aufgenommen und herausgefunden, dass meine Botschaften
nicht sicher waren, so vorsichtig ich auch gewesen war. Die dritte
Aufgabe, die ich auf Orbul Infanta hatte erledigen wollen, eine
Durchsuchung der imperialen Archive nach gewissen Informationen
in Bezug auf Quixos, hatte ich nicht einmal beginnen können.
Zumindest waren die Waffen geweiht. Und Barbari-sater hatte sich
im Kampf mehr als bewiesen.
Drei Monate, nachdem wir den Orbit von Orbul Infanta in aller
Eile verlassen hatten, riskierten wir eine Fahrt nach Gloricent, einer
abgelegenen, aber blühenden Handelswelt im Subsektor Antimar,
einem anderen Teil des Scarus-Sektors, der nur zwei Subsektoren
vom helicanischen entfernt war. Zwar waren Welten wie Gudrun und
Thracian Primaris gut vier Monate mit dem Raumschiff entfernt,
aber es war dennoch ein wenig wie Heimat. Verkleidet besuchten
Medea und ich die vom Meer gepeitschten Steinhaufen einer der
Hauptmakropolen und mieteten bei der dortigen kommerziellen
Gilde zwei Astropathen auf unbestimmte Zeit.
Ihre Namen lauteten Adgur und Ueli, beides junge Männer, beide
psionisch sehr fähig, aber auch stumpfsinnig und emotionslos. Ihre
jungen Köpfe waren rasiert, die Stöpsel darin glänzend und neu, und
sie redeten mich übermäßig förmlich an, was nach der papageienhaft
auswendig gelernten Etikette klang, die es traurigerweise auch war.
Aber ihre Augen wiesen dunkle Ringe auf, und die Haut verlor
bereits ihren jugendlichen Glanz. Die Härten des astropathischen Le-
bens forderten bereits ihren Tribut.
Durch sie versendete ich neue Botschaften, welche die alten außer
Kraft setzten, und änderte gewisse Aspekte meines Plans. Keine
meiner Botschaften schlug jetzt noch die Art Treffen vor, die ich mit
Gladus versucht hatte. Ich wollte mich jetzt nicht mehr so weit aus
dem Fenster lehnen.
Nach einer Woche ohne Antworten verließen wir Gloricent und
flogen über Mimonon nach Sarum, der Hauptwelt des antimarischen
Subsektors. Ich konnte einige nützliche Dinge in den dortigen
Bibliotheken erledigen, zog mich aber zurück, als ich feststellte, dass
mir ein mürrischer kleiner Confessor auf Forschungsurlaub folgte,
als habe er mich erkannt.
Während wir über Sarum vor Anker lagen, bekam ich meine ersten
Antworten, alle verschlüsselt. Von Bequin auf Messina und Aemos
auf Gudrun. Beide meldeten, ihr Teil des Plans sei sehr viel glatter
verlaufen als meiner. Zwei Tage später traf eine teilweise
verstümmelte Botschaft von Inshabel auf Elvara Cardinal ein. Was
ich ihr entnehmen konnte, schien auf einigen Erfolg hinzudeuten. Ich
konnte es kaum erwarten, mehr zu erfahren.
In der Woche, bevor wir Sarum verließen, empfing ich zwei
weitere, beide anonym, eine von Thracian Primaris, die andere aus
einem Haufen von Sklavenwelten, die der Provinz Salies im
ophidianischen Subsektor Gefolgschaft schuldeten. An der
sorgfältigen Verschlüsselung und Sprache der beiden erkannte ich
den jeweiligen Absender.
Meine Zuversicht stieg.
Ich verbrachte die ersten vier Monate des Jahres 342 mit einer
fruchtlosen Suche nach dem gefeierten Präkog-Eremiten Lukas
Cassina in den stinkenden Sümpfen von Drewlia Zwo, um dann zu
erfahren, dass er vor vier Jahren von einem Kult der
Monodominatoren ermordet worden war. Bei dieser Suche bereitete
ich den Aktivitäten einer Seuchendämon-Sekte ein Ende, die das
Marschland heimsuchte. Die Angelegenheit wuchs sich zu einem
eigenständigen Unternehmen aus, aber mein voller Bericht ist in den
Archiven der Inquisition separat abgespeichert, und sie ist ohne
Bedeutung für diese Aufzeichnung. Außerdem betrachte ich sie
immer noch mit einiger Verbitterung als Unterbrechung und Zeit-
verschwendung. Auch werde ich hier nicht die ganze Geschichte von
Nathan Inshabels Erlebnissen auf Elvara Cardinal oder Harlon Nayls
einfach außergewöhnliche Erlebnisse auf Bimus Tertius schildern,
obwohl beide mit den hier berichteten Vorgängen zu tun haben.
Inshabel hat seine eigene, erfrischend witzige Darstellung seiner
Erlebnisse geschrieben, die sich jene mit der entsprechenden
Freigabe gern ansehen können, was ich an dieser Stelle nur als sehr
erhellend und lohnenswert empfehlen kann. Nayl hat mich gebeten,
seine Geschichte nicht aufzuschreiben, und hat sie nie aufgezeichnet.
Sie kann wohl nur von jenen in Erfahrung gebracht werden, welche
die Kühnheit besitzen, ihn danach zu fragen, und das Geld, um die
Zeche für eine lange Trinknacht zu bezahlen.
In dieser ganzen Zeit blieb ich ein Gesetzloser, der von der
Inquisition für seine Ketzereien gesucht wurde. Es ist interessant
festzuhalten, dass die Inquisition zu keinem Zeitpunkt in dieser
Phase die von mir gegen Quixos verkündete Carta aufhob oder als
ungültig erklärte.
Das Jahr 343.M41 war bereits zur Hälfte vorbei, als die Essene
mich nach Thessalon brachte, einer Feudalwelt in der Nähe von
Hesperus im helicanischen Subsektor. Nayl hatte sie als Treffpunkt
für unsere geheime Zusammenkunft ausgewählt. Mit einem Trupp
von zwanzig aus meinem Stab auf Gudrun ausgewählten Männern
traf er eine Woche vor uns dort ein, um die Umgebung zu sichern
und dafür zu sorgen, dass wir nicht kompromittiert würden. Seine
Vorbereitungen waren gründlich und ausgeklügelt. Niemand kam
ohne sein Wissen in die Sperrzone, noch hätte es jemand bewältigen
können. Beim geringsten Anzeichen für eine Störung von außen oder
eine offizielle Einmischung würden wir reichlich Zeit für den
Rückzug und die Flucht haben.
Als abschließende Vorsichtsmaßnahme war ich der Letzte, der
eintraf.
Thessalon ist eine harte kleine Welt, deren Bevölkerung in einem
finsteren Zeitalter lebt und nichts vom Imperium und der Galaxis
jenseits ihres Himmels weiß.
Der Treffpunkt war eine Festungsruine im Norden des zweiten
Kontinents, zweitausend Kilometer von der nächsten eingeborenen
Gemeinde entfernt. Ein paar einsame Tierherden und für sich
lebende Bauern sahen zweifellos die Lichter unserer Schiffe am
Himmel, aber für sie waren wir nur die Omen der Götter und die glü-
henden Augen sagenhafter Bestien.
Wir setzten uns wieder um den Tisch und debattierten noch eine
Weile. Ich fand die meisten Fragen — vor allem die von Voke und
Ricci — mutwillig kleingeistig.
Schließlich formulierte Grumman nach einer weiteren Stunde eine
sachdienliche Frage. »Angenommen, wir akzeptieren das hier.
Akzeptieren, dass Eisenhorn fälschlich beschuldigt wurde und
Quixos unseres strengsten Verweises bedarf … wie sollen wir das
anstellen? Wissen wir, wo Quixos ist?«
»Ja«, sagte ich, obwohl ich die Antwort selbst noch nicht kannte.
Meine Leute hatten fast zwei Jahre Arbeit in die Beantwortung dieser
Frage gesteckt, und viele Dutzend Mittelsmänner hatten Daten von
Hunderten Welten gesiebt.
Unaufgefordert trat Bequin vor und nahm bei uns am Tisch Platz.
»Vor etwa drei Monaten haben unsere Nachforschungen endlich ein
Muster in den Daten ausmachen können, die das beinahe mythische
Leben von Quixos umgibt. Und dieses Muster weist auf Maginor.«
»Hauptwelt des Subsektors Niaides, Sektor Viezekönig, Ultima
Segmentum«, verkündete Voke.
»Ihre astronomischen Kenntnisse sind verblüffend, Herr
Inquisitor«, sagte Bequin glatt. Sie verteilte Datentafeln.
»Wie Sie der Datei namens ›Alpha‹ entnehmen können, hat
Quixos Maginor vor beinahe zweihundert Jahren mit Sicherheit
besucht und sich dort mit einem Kartell von Handelsinteressen und
Adelsfamilien eingelassen, das den Namen Mystischer Pfad trug. Der
Pfad war ein Netz, das bereits damals verbotenes Wissen und
untersagte Technologien nutzbar machte. Quixos hätte das Kartell
schließen und seine Angehörigen verbrennen müssen. Es ist klar,
dass er es nicht getan hat. Vielmehr hat er es gefüttert und
unterstützt. Er hat es gestärkt, bis es zu einer Machtbasis für sein
unsichtbares Reich eines finsteren Glaubens geworden war. Und kein
Kartell mehr war, sondern ein Kult. Quixos' Kult.«
»Warum glauben wir, dass er noch da ist?«, fragte Ricci. »Wir
glauben, dass er dort seine verborgene Festung hat, Herr Inquisitor«,
sagte Bequin. »Der Mystische Pfad hat sich über das gesamte
Segmentum ausgebreitet und sogar darüber hinaus. Maginor ist sein
Herz. Im Jahre 239.M41 sind Inquisitor Lugenbrau und ein gut
sechzig Mann starker Kriegertrupp auf Maginor verschwunden.
Keine Spur wurde jemals von ihnen gefunden, obwohl es
Interrogator Inshabel gelungen ist, die unvollständige verbale
Niederschrift einer Bildaufzeichnung … äh … an sich zu bringen, die
anscheinend im Verlauf von Lugenbraus Einsatz entstanden ist.«
Ich überflog die Niederschrift. Sie war erschütternd. »Haben Sie
das von Elvara Cardinal, Inshabel?«, fragte ich.
Inshabel befand sich weiter hinten im Raum. Er trat errötend vor.
»Nicht direkt, Herr Inquisitor. Tatsächlich stammt es aus der
inquisitorischen Daten-Bibliothek auf Fibos Secundus. Das Wie ist
eine verdammt gute Geschichte, aber wahrscheinlich würde ich mit
ihrer Erzählung im Augenblick nur wertvolle Zeit verschwenden.«
Inshabel hatte recht, wie ich bereits erwähnt habe. Es war eine
verdammt gute Geschichte, und ich habe sie sehr genossen, als er sie
mir später erzählt hat. Ich empfehle Ihnen, sich Zugang dazu zu
verschaffen.
»Wir glauben, dass Lugenbrau Quixos gejagt hat, allerdings
wahrscheinlich, ohne es zu wissen«, fuhr Bequin fort. »Er und sein
gesamter Trupp wurden durch Quixos' Streitkräfte ausgelöscht.«
»Lugenbrau«, murmelte Voke, während er seine Datentafel auf
den Tisch legte und ins Leere starrte. »Ich bin ihm nie begegnet, aber
er war ein geschätzter Schüler meines verstorbenen Genossen
Inquisitor Pavel Uet. Als Lugenbrau vermisst wurde, hat Uet das
schwer getroffen. Der Verlust hat sein Leben verkürzt.«
Voke sah mich mit seinen trüben Augen an. »Hätte ich mich an
dieser Stelle noch nicht entschieden, Eisenhorn, dann spätestens jetzt.
Quixos muss büßen.«
»Ich stimme zu«, sagte Endor, der seine Tafel mit grimmiger
Miene ebenfalls auf den Tisch legte. »Zumindest verlangt die
Inquisition Vergeltung für diese Gräueltat.«
»Dann also nach Maginor?«, fragte Grumman.
»Maginor ist immer noch seine Operationsbasis, Herr Inquisitor,
davon sind wir überzeugt«, sagte Bequin. »Und bis vor einer Woche
hatten wir auch alles für einen Schlag gegen Maginor vorbereitet.
Dann haben wir das hier empfangen.« Sie hielt eine astropathische
Niederschrift in die Höhe. »Ich lese vor, wenn ich darf.« Sie setzte
bedächtig ihre Halbmondbrille auf. Sie stand ihr, aber ich wusste,
dass sie sie aus Eitelkeit hasste. Es verriet eine Menge über die
Situation, dass sie bereit war, sie vor diesen Männern zu tragen.
»Die Botschaft beginnt … ›Gregor, mein Freund. Ich bin auf dem
neusten Stand, was die Daten über Ihr Jagdwild betrifft. Das gibt mir
etwas zu tun an diesen Winternachmittagen. Ich stimme zu, dass
Maginor vermutlich der Sitz des Übels ist und ganz sicher die Auf-
merksamkeit der Inquisition erfordert. Aber Sie mögen mir
verzeihen, wenn ich vorschlage, Maginor dem Ordo Niaides zu
überlassen. Mit Hilfe der Fingerzeige, die Aemos mir gebracht hat,
habe ich Folgendes herausgefunden. Meine vollständigen
Schlussfolgerungen finden sich in den angehängten Dateien, aber
kurz gesagt sollten Sie meiner Ansicht nach auf Farness Beta suchen.
Quixos' überwältigendes Interesse für die Pylonen von Cadia hat
mich nämlich ins Grübeln gebracht.
Weiter unten können Sie sehen, dass ich massive
Steinmetzaufträge zur Grenzwelt Serebos verfolgt habe, die im
galaktischen Süden von Terra liegt. Die Steinmetzgilden von Serebos
sind berühmt für ihre Verschwiegenheit in Bezug auf ihre
Auftraggeber. Sie arbeiten mit einem untätigen obsidianartigen
schwarzen Glasstein namens Serebit, einer wunderbaren Substanz,
nach der im gesamten Imperium eine große Nachfrage besteht.
Serebit gilt allgemein als das Material, das demjenigen, das für die
Pylonen Cadias verwendet wurde, noch am nächsten kommt. Wie ich
schon sagte, sind die Steinmetzgilden sehr verschwiegen, was ihre
Aufträge angeht, aber der Transport einer genauen Kopie eines jener
Pylonen lässt sich schwer verheimlichen. Drei Viertel Kilometer lang
und einen Viertel Kilometer im Durchmesser! Quixos hat die
Herstellung einer perfekten Kopie der cadianischen Pylonen in
Auftrag gegeben und nach Farness Beta verschiffen lassen.‹«
Bequin hielt inne und sah uns an.
»›Wenn Sie jemals meinem Rat vertraut haben, dann vertrauen Sie
diesem‹«, fuhr sie fort. »›Quixos ist auf Farness. Und wenn Sie ihn
aufhalten wollen, muss es jetzt sein. Ihr ergebener Freund und
Schüler. Gideon.‹«
Gideon. Gideon Ravenor. Trotz seiner Verkrüppelung hatte er dies
herausgefunden, was unseren Angriffsplan vollständig änderte. Ich
war sprachlos. Ich fühlte mich beinahe zu Tränen gerührt.
»Es gibt ein Postscriptum«, sagte Bequin. »Er schreibt, ›Die
Dämonenwirte werden Ihr schlimmstes Problem sein. Ich weiß, dass
Sie vorbereitet sind, aber ich schicke Ihnen das hier. Eins für jeden
der zwanzig, die Sie berufen haben.‹«
Bequin setzte ihre Halbmondbrille ab und erhob sich. Nayl brachte
eine Kiste und stellte sie auf den Tisch. Darin befanden sich zwanzig
Schriftrollen mit Dämonenschutz, jede in einer gesegneten Röhre aus
grünem Marmor versiegelt, sowie zwanzig geweihte Goldamulette
des Gott-Imperators in der Form einer Skelett-Reliquie. Es war so
typisch für Ravenor, an solche Einzelheiten zu denken. Nayl verteilte
sie, eine schwere Marmorröhre mit Schriftrolle und ein Amulett für
jeden von uns.
»Ich bin überzeugt«, sagte Ricci, indem er sich erhob und sich das
Amulett um den Hals legte, so dass es zwischen den Reinheitssiegeln
seiner Rüstung baumelte.
»Darüber bin ich sehr froh. Grumman?«
»Ich bin dabei«, sagte der Cadianer.
»Ein Trinkspruch«, sagte ich, indem ich mein Glas hob. »Auf
diese Zelle der Fünf. Und auf die anderen, die uns dabei geholfen
haben, so weit zu kommen.«
Bequin, Aemos, Nayl, Fischig und Inshabel hoben ihr Glas
ebenfalls zum Salut.
»Auf Farness Beta. Auf das Ende von Quixos.«
Die fünf Inquisitoren in der zugigen Burg stießen an.
»Farness Beta«, sagte Ricci. »Frischen Sie mein Gedächtnis auf.
Wo ist das?«
»Im Hals des Cadianischen Tores«, sagte Grumman. »Direkt am
Rande des Auge des Schreckens.«
ZWEIUNDZWANZIG
Farness Beta. Cherubael und Prophaniti. Quixos.
Die Essene brachte mich eilig nach Farness. Zwei andere Schiffe
begleiteten uns durch das Immaterium: Riccis stattlicher Kirchturm
von einem Kreuzer und Vokes altes Stachelschwein von einem
Kriegsschiff. Endor und Grumman machten die Reise mit ihrem
jeweiligen Gefolge mit mir an Bord der Essene. Es war lange her,
seit die Essene zuletzt so viele Personen transportiert hatte.
Die Einsatzstreitmacht der Imperialen Flotte, ein Geschwader von
zehn Schiffen der Schlachtflotte Scarus, abgestellt für besondere
Operationen unter Führung der Disziplinarabteilung der
Schlachtflotte, erwartete uns.
Das Geschwader war bereits seit vierzehn Tagen an Ort und Stelle,
und seine Aufklärung und nachrichtendienstlichen Unternehmungen
hatten bereits umfassend den Boden für uns bereitet.
»Wir haben einen bestätigten Aufenthaltsort für Paria«, meldete
mir Lordprokurator Olm Madorthene über eine Kom-Bild-
Verbindung von seinem Flaggschiff.
Paria war das Codewort, das wir für Quixos festgelegt hatten.
»Oder jedenfalls für den Sitz seiner Aktivitäten. Ich übertrage jetzt
die Daten. Der als Standort A gekennzeichnete Ort ist der gesuchte.«
Ich drehte mich auf meinem Sitz auf der eleganten Brücke der
Essene, und Maxiila nickte einem seiner wunderschönen Servitoren
zu. Die Anzeige leuchtete auf dem Sekundärschirm meiner Konsole
auf.
»Empfangen«, meldete ich, indem ich mich wieder dem leicht
verschwommenen Bild Madorthenes auf dem Hauptbrückenschirm
zuwandte.
»Es handelt sich um einen Tafelberg namens Ferell Sidor, was
buchstäblich Sonnenaltar bedeutet. Er liegt in einer der abgelegenen
nördlichen Schutzgebiete der Provinz Hengav. Die Provinzregierung
hat das ganze Gebiet zu Heiligem Territorium erklärt, weil es dort
von Tholosgräbern der Zweiten Dynastie wimmelt. Zugang ist
angeblich nur der Ekklesiarchie gestattet, den königlichen Familien
der Farnessi sowie ausgewählten Archäologen. Wir glauben, Paria
hat vor ungefähr sechs Jahren Lizenzen erworben, um auf dem Ferell
Sidor Ausgrabungen vornehmen zu dürfen, und zwar in der Maske
einer archäologischen Mission des Universitariats von Avellorn. Die
örtlichen Behörden überwachen solche Missionen angeblich, aber sie
haben keine Ahnung, was er da oben treibt. Wenn Sie einen Blick
auf die detaillierte Karte werfen …« »Ja, ich habe sie vor mir.«
»Da können Sie das Ausmaß der Arbeiten sehen. Paria hat da oben
eine kleine Stadt neben der Grube angelegt.«
»Die Ausgrabungen sind enorm …«
»Wir glauben, dass er dort den nachgebauten Pylon vergraben
oder untergebracht hat. Es ist schwierig, ein klares Bild zu
bekommen. Wir wollten nicht zu nah herangehen und ihn warnen.«
Ich erhob mich von meinem Sitz und stellte mich vor das riesige
Gesicht des Lordprokurators auf dem Bildschirm. »Sind Sie bereit?«
»Absolut. Sie haben auch eine Kopie meiner Angriffsstrategie
erhalten. Sie können gerne Ergänzungen machen, wenn Sie wollen.«
Das war nicht nötig. Madorthenes Plan war ökonomisch und
effizient. Offiziell war dies ein Einsatz der Disziplinarabteilung der
Schlachtflotte, die Spuren verfolgte, welche während der
Untersuchung der Gräueltat von Thracian aufgenommen worden
waren. Lordprokurator Madorthene war einen kooperativen Pakt mit
Commodus Voke eingegangen, um ihn ausführen zu können. In
Wirklichkeit bestand der Pakt insgeheim mit mir. Olm war der
einzige Nicht-Inquisitor, dem ich geschrieben hatte.
Wir verschlüsselten die Rufzeichen und Befehlsgewalten für das
Unternehmen, vereinbarten die Stunde Null und wünschten einander
Glück.
»Der Imperator beschützt, Gregor«, sagte er.
»Das hoffe ich, Olm«, erwiderte ich.
Zwei Stunden vor Sonnenaufgang des nächsten Tages rückten
fünfhundert Imperiale Gardisten vom Einundfünfzigsten Thracian
aus getarnten vorgezogenen Aufmarsch-Stellungen in den
umliegenden Hügeln gegen Ferell Sidor vor — Standort A -, wo sie
am Tag zuvor von Truppenschiffen abgesetzt worden waren. Sie
stießen lautlos in drei Abteilungen vor. Die erste sicherte die einzige
Straße, die Landfahrzeugen Zugang zum Tafelberg gewährte. Als
alle drei in Stellung waren, weckten wir Ferell Sidor auf.
Die Fregatten Zhikov und Spatians Wut bombardierten sechs
Minuten lang den Berg und erzeugten einen Feuerball, der die
Landschaft erleuchtete, als sei die Sonne früher aufgegangen. In
seinem Nachglühen überflogen dreißig Marodeure Standort A in
geringer Höhe und warfen dreißigtausend Kilo Sprengstoff ab.
Ein weiteres falsches Morgengrauen.
Trotz dieser heftigen Ouvertüre war der Widerstand heftig, als die
Bodentruppen acht Minuten nach dem Fall der letzten Bombe
vorrückten. Madorthene hatte befürchtet, dass sich der größte Teil
von Quixos' Kräften unter der Erde befinde, im Berg und vor
Luftangriffen geschützt.
In den flammenden Ruinen der Ausgrabungsstadt sahen sich die
thracianischen Truppen mit fanatischen und gut bewaffneten
Kultisten konfrontiert. Die meisten trugen die Farben und Insignien
des Mystischen Pfades. Viele waren Mutanten. Erste Berichte
sprachen von über achthundert feindlichen Kriegern. Madorthene
setzte die Reserve ein, weitere siebenhundert thracianische
Sturmtruppen.
Der Angriff auf Ferell Sidor war drei Stunden alt, als Grumman,
Ricci und ich in das Gewölbe unter der Ausgrabungsgrube
eindrangen. Madorthenes Truppen waren in dem gesamten Irrgarten
aus Tunneln und Kavernen innerhalb des Tafelbergs immer noch in
schwere Kämpfe mit den abtrünnigen Kriegern verwickelt.
Ricci war durch eine Klingenwunde geschwächt, und alle seine
Leibwächter waren tot. Grumman hatte noch zwei Kasrkin bei sich,
beide mit einem Lasergewehr bewaffnet.
Das riesige Gewölbe war eine ausgehobene Grube, beinahe einen
Kilometer tief und nach oben offen. Die Serebit-Kopie des
Cadianischen Pylonen stand unten auf dem Boden, von einem
Adamantiumgerüst umgeben. Auslegerkäfige, viele hunderte, hingen
an Ketten an dem Gerüst. In jedem befand sich, gefangen und hilflos,
ein Mensch.
Das waren Quixos' sorgsam gesammelte abtrünnige Psioniker, die
er sich insgeheim im gesamten Imperium beschafft hatte. Er musste
Jahrzehnte gebraucht haben, so viele zu sammeln. Einer von ihnen,
daran hatte ich keinen Zweifel, war Esarhaddon.
»Was hat er vor?«, fragte Ricci mit einem Anflug von Ehrfurcht.
»Etwas, das wir verhindern müssen«, sagte Grumman mit einer
direkten Schlichtheit, die ich sehr schätzte. Es war die einzige
Antwort, die wir brauchten.
Wir lebten seit Beginn des Angriffs auf Adrenalin und waren bis
in die Haarspitzen mit Aufmerksamkeit geladen. Trotzdem, trotz
unserer gemeinsamen Erfahrung und unserer Fähigkeiten, wurden
wir von dem, was als nächstes geschah, vollkommen überrascht.
Gerade war noch nichts da. Und im nächsten Augenblick war eine
berobte, gerüstete Gestalt zwischen uns, die sich so schnell bewegte,
dass sie nur schemenhaft zu erkennen war.
So schnell. So verdammt schnell.
Ricci wurde augenblicklich der Länge nach aufgeschlitzt.
Während er noch dabei war, an seinem eigenen Blut zu ersticken und
aufs Gesicht zu fallen, wurde ein Kasrkin in Hüfthöhe durchschlagen
und brach förmlich auseinander, wobei sich sein Finger um den
Abzug seiner Waffe krampfte, die noch ein paar Schüsse abgab. Der
andere Kasrkin krümmte sich um den Stoß einer langen, dunklen
Klinge zusammen, die ihn aufspießte und spontan vom Bauch
auswärts verbrannte.
Grumman stieß mich aus dem Weg, als das verheerende Schemen
herumfuhr, und gab drei Schüsse mit seiner Laserpistole ab.
Schneller, als meine Augen es verfolgen konnten, lenkte die lange
dunkle Klinge des Schemens jeden knisternden Laserstrahl ab.
Grummans Kopf verließ seine Schultern.
Quixos, der Erzketzer, der Abtrünnige, der unverzeihliche
Radikale, ging bereits auf mich los, noch bevor Grummans
dahingeschlachteter Leichnam überhaupt mit dem Kollaps begann.
Mir blieb ein flüchtiger Blick auf das lange Dämonenschwert,
Kharnagar. Es war knorrig und verknotet und wimmelte von
abscheulichen Runen und unregelmäßigen Einkerbungen wie von
Krallen.
Mehr sah ich nicht, als es auf mein Gesicht zupfiff.
DREIUNDZWANZIG
Der Ketzer. Danach.