Sie sind auf Seite 1von 379

DAN ABNETT

Eisenhorn: Malleus
Roman
AUF BEFEHL SEINER HEILIGSTEN MAJESTÄT DES
GOTT-IMPERATORS VON TERRA
BESCHLAGNAHMTE DOSSIERS DER INQUISITION NUR
FÜR BEFUGTES PERSONAL
AKTE 442:41 F:JL3:Kbu
Bitte Zugangsberechtigung eingeben › •••••••••••••
Wird verifiziert

Vielen Dank, Inquisitor. Sie dürfen fortfahren.


KLASSIFIZIERUNG: Nachrichtendienst, Primärstufe
FREIGABE: Obsidian
VERSCHLÜSSELUNG: Cryptox 2.6
DATUM: 337.M41
AUTOR: Inquisitor Javes Thysser, Ordo Xenos
BETREFF: Eine Angelegenheit zur dringenden Kenntnisnahme
EMPFÄNGER: Lordinquisitor Phlebas Alessandro Rorken,
Officio des Hohen Inquisitionsrats, Scarus-Sektor, Scarus Major

Seien Sie gegrüßt, Lord!


Im Namen des Gott-Imperators, geheiligt sei seine ewige Wacht,
und des Hohen Senats zu Terra empfehle ich mich Ihrer Hoheit und
hoffe, in einer delikaten Angelegenheit auf ein klares Wort im
Vertrauen.
Um mit einem allgemeinen Überblick zu beginnen, meine Arbeit
auf Vogel Passionata ist jetzt beendet, und meine noble Pflicht
gegenüber der Großen Inquisition der Menschheit wurde erfolgreich
erfüllt. Mein vollständiger, dokumentierter Bericht folgt in ein paar
Tagen, sobald meine Gelehrten ihn vollends zusammengestellt
haben, und ich gehe davon aus, dass Ihre Hoheit darin
zufriedenstellende Lektüre finden wird. Zusammenfassend kann ich
in dieser kurzen Botschaft mit Stolz verkünden, dass der bösartige
Einfluss der sogenannten Wyrd Kin aus den Makropolen von Vogel
Passionata getilgt und der innere Kreis jenes obszönen xenophilen
Ordens ein für allemal gebrochen und dem reinigenden Teuer
übergeben wurde. Ihr selbsternannter Messias, Gaethon Richter, ist
ebenfalls tot, von meiner Hand erschlagen.
Damit ist jedoch eine andere Angelegenheit verknüpft, die mir
Sorgen bereitet, und ich bin nicht sicher, wie am besten weiter
verfahren werden soll. Aus diesem Grund schreibe ich Ihnen, Hoheit,
in der Hoffnung, Rat und Anweisung zu bekommen.
Richter hat sich nicht kampflos seinem Schicksal ergeben, wie zu
erwarten war. In der letzten blutigen Phase der Schlacht, als meine
vereinigten Streitkräfte seine Festung unter der Hauptmakropole
stürmten, rief er ein Wesen von furchtbarer Macht zu seiner
Unterstützung. Es schlachtete neunzehn meinem Säuberungstrupp
zugeteilte Gardisten ab, dazu Inquisitor Bluchas, die Interrogatoren
Faruline und Seetmol sowie Hauptmann Ellen Ossel, meine Pilotin.
Es hätte auch mich getötet, wäre mir nicht eine eigenartige
Verwechslung zu Hilfe gekommen.
Das Wesen war ein unheiliges Ding mit der Gestalt eines Mannes,
aber in einem inneren Licht leuchtend. Seine Stimme war weich,
seine Berührung Feuer. Ich glaube, es war ein Dämonenwirt von
unergründlicher Macht mit dem boshaftesten Hang zu Gehässigkeit
und Grausamkeit. Mein Bericht schildert die besonderen
Ungeheuerlichkeiten im Detail, die dieses Wesen Seetmol und Ossel
vor ihrer Vernichtung unterzog. An dieser Stelle will ich Ihnen diese
furchtbaren Tatsachen ersparen.
Nachdem es Bluchas erledigt hatte, trieb es mich auf einem
Treppenabsatz in der Testung in die Enge, da ich ins Aller-heiligste
des »Messias« der Wyrd Kin eindrang. Meine Waffen fügten ihm
keinen Schaden zu, und es lachte hämisch, als es mich mit einem
beiläufigen Wedeln seiner Hand die Treppe hinunterwarf
Benommen schaute ich zu ihm hoch, als es mir gemessenen
Schrittes folgte, ohne eine Verteidigung ersinnen zu können. Ich
glaube, ich könnte nach meinen verlorenen Waffen getastet haben.
Diese Geste veranlasste es zum Reden. Ich gebe den Wortlaut
exakt wieder. Es sagte: »Keine Sorge, Gregor. Du bist viel zu
wertvoll, um dich zu vergeuden. Sei nachsichtig mit mir, nur eine
kleine Narbe, damit es authentisch aussieht.«
Seine Krallen fuhren mir über Brust und Hals und rissen mir die
Atemmaske ab. Die Wunden werden heilen, sagt man mir, aber sie
waren tief und äußerst schmerzhaft. Dann stutzte das Wesen, als es
zum ersten Mal mein Gesicht ohne die Maske sah. Schreckliche,
finstere Wut loderte in seinen Augen. Es sagte — verzeihen Sie,
Hoheit, aber das ist die nackte Wahrheit — es sagte: »Du bist nicht
Eisenhorn! Ich bin betrogen worden!«
Ich glaube, an dieser Stelle hätte es mich wohl getötet, wäre nicht
der Frontalangriff des Aurora-Ordens der Adeptus Astartes gewesen,
die genau in diesem Augenblick das Treppenhaus stürmten. In dem
anschließenden Tumult floh das Wesen, obwohl ich nicht einmal jetzt
sagen kann, wie und warum. Nichts gegen die furchtbare Kraft der
Astartes, aber dieses Ding war hundertfach mächtiger.
Später, auf den Knien und mit meiner Waffe am Kopf, flehte
Gaethon Richter noch Sekunden vor seiner Hinrichtung »Cherubael«
um dessen Rückkehr an. Er heulte, er könne nicht begreifen, warum
»Cherubael« ihn verlassen habe. Ich glaube, er sprach von dem
Dämonenwirt.
Ich gehe davon aus, dass Ihre Hoheit mein Problem sehen kann.
Weil dieses Ding mich mit einem anderen Exemplar unserer Gattung
verwechselte — und eines unanfechtbar würdigen Exemplars,
möchte ich hinzufügen -, verschonte es mein Leben. Tatsächlich kam
es mir so vor, als habe es dies in einer zuvor vereinbarten
Übereinkunft getan.
Inquisitor Gregor Eisenhorn ist hoch geachtet und vielfach
ausgezeichnet und wird zu Recht als Beispiel für alles gelobt, was an
unserer Bruderschaft gut, stark und dogmatisch ist. Aber dieses
Ereignis hat mich ins Grübeln gebracht, und ich fürchte …
Ich habe das Gefühl, nicht sagen zu können, was ich fürchte und
worüber ich grüble. Aber ich dachte mir, Sie sollten davon erfahren,
und dies so rasch wie möglich. Ich bin der Überzeugung, dass der
Ordo Malleus informiert werden sollte, und sei es nur als
Vorsichtsmaßnahme.
Ich hoffe und bete, dass diese Angelegenheit rasch aufgeklärt wird
und ohne Folgen bleibt, aber wie Sie mich gelehrt haben, Hoheit, ist
es immer besser sicherzugehen.
Besiegelt als die Wahrheit durch meine Hand an diesem 276. Tag
des Jahres 337.M41.
Der Imperator Beschützt!
Ihr ergebener Diener,
Thysser

[Ende der Botschaft]


EINS
Ich stelle fest, ich bin tot. Unter dunklem Feuer, Sadias
Versteck. Tantalid, unwillkommen.

Je älter ich werde, möge der Imperator mich beschützen, desto


mehr stelle ich fest, dass ich meine Geschichte in Meilensteinen
messe, Ereignissen von solcher Intensität, dass sie einem für immer
im Gedächtnis haften bleiben: meine Einführung in den gesegneten
Ordos der Inquisition, mein erster Tag als Novize unter dem großen
Hapshant; mein erster erfolgreicher Fall, der Ketzer Lemete Syre,
meine Ernennung zum vollwertigen Inquisitor im Alter von
vierundzwanzig Standardjahren, der langwierige Nassar-Fall, die
Affäre um das Nekroteuch, die P'glao-Verschwörung.
Meilensteine, allesamt. Unauslöschlich in mein Gedächtnis
eingeprägt. Und daneben erinnere ich mich an die Dunkelnacht am
Ende des Umbris-Monats im Imperiumsjahr 338.M41 mit besonderer
Klarheit. Denn deren blutiges Ende war der Anfang des größten
Meilensteins in meinem Leben.
Ich befand mich im Auftrag des Ordo Xenos auf Lethe Elf, mitten
bei der Arbeit, da die verwünschte Xenophile Beidame Sadia beinahe
in Reichweite war. Zehn Wochen, um sie zu finden, zehn Stunden,
um die Falle zu stellen. Ich hatte seit drei Tagen nicht geschlafen,
seit zwei Tagen nichts mehr gegessen und getrunken. Psionische
Phantome, hervorgerufen durch die totale Finsternis der
Dunkelnacht, rasten durch meinen Verstand. Ich starb an den Folgen
einer Zweikomponentenvergiftung. Und schließlich tauchte Tantalid
auf.
Um Sie ins Bild zu setzen, Lethe Elf ist eine dicht bevölkerte Welt
am vorderen Rand des Helicanischen Subsektors, und seine
Hauptindustrien sind Metallbearbeitung und Schild-Technologien.
Am Ende eines jeden Umbris entspricht Lethes größter Mond durch
irgendeinen kosmologischen Zufall in Weg, Umlaufbahn und
relativer Größe der hiesigen Sonne, und die Welt wird für einen
Zeitraum von zwei Wochen namens Dunkelnacht in eine
Sonnenfinsternis getaucht.
Die Wirkung ist frappierend. Für einen Zeitraum von vierzehn
Tagen nimmt der Himmel eine kalte dunkelrote Farbe wie
getrocknetes Blut an, und der Mond Kux beherrscht den Himmel,
eine durchgängig schwarze Scheibe, umgeben von einer knisternden
Korona sich windender bernsteinfarbener Flammen. Schüler impe-
rialer Rituale wird es nicht überraschen zu erfahren, dass dieses
Ereignis für alle Lether die wichtigste jahreszeitliche Urlaubsperiode
ist. Wenn die Dunkelnacht beginnt, werden Feuer aller Form, Größe
und Art angezündet, und die Bevölkerung steht Wache, um zu ge-
währleisten, dass bis zum Ende der Sonnenfinsternis keines erlischt.
Die Industrie steht still. Alle haben Urlaub. In den Städten finden
tumultartige Feste und Fackelschein-Paraden statt. Zügellosigkeiten
und Gesetzesübertretungen sind an der Tagesordnung.
Über allem verleiht das dunkle Feuer der verfinsterten Sonne dem
schwarzen Mond einen Halo. Es gibt sogar die Tradition der
Weissagung, die sich um die Interpretation der Form der Korona
rankt.
Ich hatte gehofft, die Beidame vor dem Beginn der Dunkelnacht
zu erwischen, aber sie war mir einen Schritt voraus. Ihrem obersten
Vergifter, Pye, der seine Fertigkeiten früh im Leben als Gefangener
der abtrünnigen Dark Eldar gelernt hatte, so erzählte man sich, war
es gelungen, mein Trinkwasser mit einem Gift zu versetzen, das
untätig blieb, bis ich den zweiten Bestandteil des
Zweikomponentengifts zu mir nahm.
Ich war ein toter Mann. Die Beidame hatte mich getötet.
Mein Gelehrter, Aemos, hatte das Gift zufällig in meinem Körper
entdeckt und mich daran hindern können, noch etwas zu essen oder
zu trinken. Doch ein ungnädiger Tod rückte unausweichlich näher.
Meine einzige Überlebensaussicht bestand darin, der Beidame und
ihres Vasallen Pye habhaft zu werden und ihnen die Lösung für mein
Verhängnis zu entreißen.
Draußen in den dunklen Straßen der Stadt verrichteten meine
Leute ihre Arbeit. Achtzig loyale Diener durchkämmten die Straßen.
In meinen Gemächern im Hippodrom wartete ich, ausgedörrt,
schwankend, distanziert.
Ravenor hatte Glück. Natürlich Ravenor. Bei seinem Talent würde
es nicht mehr lange dauern, bis er den Rang des Interrogators hinter
sich lassen und selbst Inquisitor werden würde.
Er machte Beidame Sadias Versteck in den Katakomben unter der
verfallenen Kirche von St. Kiodrus aus. Ich beeilte mich, seinem Ruf
zu folgen.
»Du solltest hier bleiben«, sagte Bequin zu mir, aber ich schüttelte
sie ab.
»Ich muss es tun, Alizebeth.«
Alizebeth Bequin war zu diesem Zeitpunkt hundert-
fünfundzwanzig Jahre alt. Dank diskreter augmetischer Chirurgie
und einer Vielzahl Verjüngungsdrogen war sie immer noch so schön
und aktiv wie mit Mitte dreißig. Vom Schleier ihres gestärkten
Seidenkleids eingerahmt, funkelten mich ihr hübsches Gesicht und
die dunklen Augen darin an.
»Es wird dich umbringen, Gregor«, sagte sie.
»Wenn es das tut, ist es für Gregor Eisenhorn an der Zeit zu
sterben.«
Bequin warf einen Blick durch den düsteren, kerzenbeschienenen
Raum auf Aemos, doch der schüttelte nur traurig den alten Kopf. Es
gab Zeiten, wie er wusste, da ließ ich einfach nicht mit mir reden.
Ich ging auf die Straße, wo Feuer in Tonnen brannten und
maskierte Feiernde herumtollten und sich vergnügten. Ich war
vollkommen schwarz gekleidet und trug einen bodenlangen Mantel
aus schwerem Leder.
Trotz allem, trotz der Feuer ringsumher, war mir kalt. Erschöpfung
und Nahrungsmangel fraßen sich in meine Knochen.
Ich schaute zum Mond. Feurige Fäden rings um ein kaltes,
schwarzes Herz. Wie ich, dachte ich, wie ich.
Eine Kutsche war gerufen worden. Sechs bemalte, schnaubende
pferdeartige Zugtiere waren zu einem prächtigen Gespann
aufgezäumt. Mehrere Mitglieder meines Stabs warteten in der Nähe
und eilten herbei, als sie mich auf die Straße treten sahen.
Ich begutachtete sie rasch. Allesamt gute Leute, sonst wären sie
gar nicht hier gewesen. Mit einigen wortlosen Gesten wählte ich vier
als Begleiter aus und schickte die Übrigen zurück zu anderen
Pflichten.
Die vier Auserwählten stiegen mit mir in die Kutsche. Mescher
Qus, ein ehemaliger Gardist von Vladislav, Arianrhod Esw Sweydyr,
die Schwertkämpferin von Carthae sowie Beronice und Zu Zeng,
zwei Frauen aus Bequins Femininum.
Im letzten Augenblick wurde Beronice aus der Kutsche befohlen,
und Alizebeth Bequin nahm ihren Platz ein. Bequin hatte bereits vor
sechsundachtzig Standardjahren den aktiven Dienst bei mir quittiert,
um ihr Femininum aufzubauen und zu leiten, aber es gab immer noch
Zeiten, wenn sie ihren Leuten nicht traute und darauf bestand, mich
persönlich zu begleiten.
Mir ging auf, dass dies so eine Zeit war, weil Bequin nicht mit
meinem Weiterleben rechnete und bis zum Ende bei mir sein wollte.
In Wahrheit rechnete ich ebenfalls nicht damit zu überleben.
Die Kutsche setzte sich mit einem Peitschenknall in Bewegung,
und wir rollten durch die Straßen und umfuhren zeremonielle Feuer
und Fackellicht-Prozessionen.
Keiner von uns sprach. Qus prüfte und lud seine Autokanone und
richtete seine Rüstung. Arianrhod zog ihren Säbel und prüfte die
Schneide mit einem ihrer Haupthaare. Zu Zeng, auf Vitria geboren,
saß mit geneigtem Kopf da, und ihre langen Glasgewänder klirrten
mit den Bewegungen der Kutsche.
Bequin starrte mich an.
»Was ist?«, fragte ich schließlich.
Sie schüttelte den Kopf und schaute weg.
Die Kirche von St. Kiodrus lag im Vogler-Bezirk nicht weit vom
Stadtrand und den ausgedehnten, von Echsen verseuchten Salzlecken
entfernt. Die Finsternis pochte in Insekten-Rhythmen.
Die Kutsche hielt in einer Straße voller schwarz verrottender
Steinhaufen zweihundert Meter vor der Silhouette der Kirchenruine.
Der Himmel war bernsteinfarbene Dunkelheit. Hinter uns sprühte die
Stadt im hellen Feuerschein. Die Gegend ringsumher war eine tote
Ruine, die sich langsam dem salzigen Hunger der Marschen ergab.
»Klaue wünscht Dorn, gefräßige Bestien drinnen«, sagte Ravenor
über Kom.
»Dorn vielfältiges Eindringen, die Klingen der Verborgenheit«,
antwortete ich. Meine Kehle war ausgedörrt und heiser.
»Klaue beobachtet Moment. Weg Torus erbeten, Schema
Ebenholz.«
»Schema abgelehnt. Schema Feuerprobe. Rosendorn wünscht
Kluft.«
»Bestätigt.«
Wir sprachen Glossia, eine inoffizielle Geheimsprache, die nur
mein Stab kannte. Trotz der Benutzung eines offenen Kanals würden
unsere Kom-Gespräche dem Feind keinen Aufschluss über unsere
Absichten geben.
Ich änderte die Frequenz meiner Kom-Einheit.
»Dorn wünscht Aegis, zu mir, Schema Feuerprobe.«
»Aegis im Aufstieg«, antwortete mein Pilot Betancore aus weiter
Ferne. »Schema bestätigt.«
Mein Kanonenboot mit seiner fabelhaften Feuerkraft war jetzt im
Anflug. Ich wandte mich an die anderen im Schatten, als ich meine
Waffe zog. »Es geht los«, sagte ich.

Wir schlichen uns in die düsteren, schleimbedeckten Ruinen der


Kirche. Ein schwerer Geruch nach nasser Fäulnis lag in der Luft, und
alles war mit Salz überzogen. Scharen madenartiger Würmer fraßen
sich in das Gestein und zuckten zurück, wenn die grellen Strahlen
unserer Taschenlampen auf sie fielen.
Qus hatte die Spitze und schwang seine Autokanone auf der Suche
nach Zielen hin und her, wobei er von dem roten Ziellaser unterstützt
wurde, der aus dem Winkel seines bionisch verstärkten linken Auges
strahlte. Er war ein untersetzter Mann, der unter dem Harnisch seiner
Keramitrüstung mit starken Muskeln bepackt war. Sein stumpfes
Gesicht hatte er mit den Farben seines alten Regiments, des 90.
Vlasislav, bemalt.
Arianrhod und ich folgten ihm. Sie hatte die Klinge ihres Säbels
mit Ziegelstaub mattiert, aber er krümmte das Licht immer noch,
wenn sie ihn in den Händen drehte. Arianrhod Esw Sweydyr war
über zwei Meter groß, bei weitem die größte menschliche Frau, der
ich je begegnet bin, obwohl diese Statur bei den Bewohnern des weit
entfernten Carthae normal ist. Ihre langknochige Gestalt war in einen
hautengen Ganzkörperanzug aus Leder mit bronzenen
Beschlagknöpfen gehüllt, über den sie einen langen, mit Quasten
besetzten Patchwork-Fellumhang trug. Ihr silbernes Haar war mit
Perlen durchflochten. Der Säbel wurde Barbarisater genannt und seit
neunzehn Generationen von Frauen des Stammes Esw Sweydyr
getragen. Vom geflochtenen Griff bis zur Spitze der krummen, mit
Gravuren verzierten Klinge maß er fast eineinhalb Meter. Lang,
schlank und hager wie die Frau, die ihn führte. Ich konnte bereits die
Vibrationen der psionischen Energien spüren, mit denen sie ihn
fütterte. Frau und Klinge waren zu einem Lebewesen verschmolzen.
Arianrhod diente mir und meinem Stab seit fünf Jahren, und ich
lernte immer noch die Feinheiten ihrer martialischen Kunst.
Normalerweise hätte ich jede Einzelheit ihrer Kampftrance-
Methoden registriert, aber ich war zu erschöpft und von Hunger und
Durst zermürbt.
Bequin und Zu Zeng bildeten den Abschluss, Seite an Seite,
Bequin in einem langen schwarzen Kleid mit einem Besatz aus
schwarzen Federn um die Schultern und Zu Zeng in ihrem nicht
reflektierenden Gewand aus vitrianischem Glas. Sie blieben so weit
zurück, dass ihre Aura psionischer Leere meine und Arianrhods Fä-
higkeiten nicht störte, waren aber doch so nah, dass sie zu unserer
Verteidigung bereitstehen würden, wenn die Zeit gekommen war.
Die Inquisition — und viele andere Institutionen, erhabene und
andere — ist sich schon lange der Nützlichkeit von Unberührbaren
bewusst, jener seltenen Menschen, die ganz einfach keine psionische
Signatur haben und daher auch den stärksten psionischen Angriff
negieren oder stören. Bei unserer ersten Begegnung vor einem
Jahrhundert auf Hubris war Bequin die erste Unberührbare, die mir je
untergekommen war. Trotz ihrer enervierenden Ausstrahlung —
sogar Nicht-Psioniker haben Schwierigkeiten mit Unberührbaren —
hatte ich sie in meinen Stab aufgenommen, und sie hatte sich als un-
bezahlbar erwiesen. Nach vielen Dienstjahren hatte sie sich
zurückgezogen, um das Femininum zu bilden, einen Kader aus
Unberührbaren, die im ganzen Imperium angeworben wurden. Das
Femininum war meine eigene private Hilfsquelle, obwohl ich ihre
Dienste oft an andere Mitglieder meines Ordens auslieh. Mittlerweile
zählten sie um die vierzig Personen, die von Bequin persönlich
ausgebildet und geführt wurden. Ich bin der festen Überzeugung,
dass das Femininum kollektiv betrachtet eine der mächtigsten Anti-
Psioniker-Waffen in der Domäne des Imperators ist.

Die Ruinen quollen über von Schatten und feuchtem Salz.


Faulkäfer huschten über die abblätternden Mosaikbilder lange toter
Würdenträger, die aus Alkoven starrten. Überall krochen Würmer.
Das stete Zirpen von Insekten aus den Salzablagerungen war so, als
schüttle jemand eine Klapper. Als wir tiefer vordrangen, stießen wir
auf Innenhöfe und Grabfelder, wo durch Vernachlässigung die
Platzsteine verschoben und die verschmierten Knochen der lange
Verschiedenen in der lehmigen Erde darunter freigelegt worden
waren. Stellenweise waren fäulnisbraune Schädel ausgegraben und
zu losen Pyramiden aufgestapelt worden.
Es machte mich traurig, diesen heiligen Ort so besudelt und
trostlos zu sehen. Kiodrus war ein großer Mann gewesen, hatte im
gewaltigen Kreuzzug der heiligen Beati Sabbat zu ihrer Rechten
gekämpft. Aber das war vor langer Zeit und sehr weit weg
geschehen, und sein Kult war in Vergessenheit geraten. Ein neuer
Kreuzzug in die entfernten Sabbatwelten würde nötig sein, um das
Interesse an ihm und seinen vergessenen Taten neu zu entfachen.
Qus gebot uns anzuhalten und zeigte auf die Treppe in ein
unterirdisches Gewölbe. Ich winkte ihn zurück und wies meinerseits
auf einen winzigen Streifen roten Bandes unter einem Stein der
obersten Stufe. Eine Markierung, die Ravenor hinterlassen hatte und
bedeutete, dass dies kein geeigneter Eintrittspunkt war. Als ich in die
Düsternis der Treppe lugte, sah ich, was er ebenfalls gesehen hatte:
die halb vergrabenen Kabel eines Bewegungsmelders und etwas, das
wie ein Bündel Granaten aussah.
Wir fanden drei ähnliche Zugänge, die alle von Ravenor markiert
waren. Die Beidame hatte ihre Festung gut gesichert.
»Da hindurch, was meinen Sie, Inquisitor?«, flüsterte Qus, indem
er auf die Säulen eines dachlosen Kreuzganges wies.
Ich wollte gerade zustimmen, als Arianrhod zischte: »Barbarisater
dürstet…«
Ich sah sie an. Sie schlich nach links zu einem Torbogen im
Hauptglockenturm. Sie bewegte sich lautlos, den Säbel aufrecht in
einem beidhändigen Griff, während der Umhang wie Engelsflügel
hinter ihr herflatterte.
Ich deutete auf Qus und die Frauen, und wir folgten ihr. Ich zog
meine geschätzte Boltpistole, die mir Scriptor Brytnoth vom Orden
der Todeswacht der Adeptus Astartes am Vorabend der Säuberung
Izars vor beinahe einem Jahrhundert geschenkt hatte. Sie hatte mich
noch nie im Stich gelassen.
Die Lakaien der Beidame kamen aus der Nacht. Insgesamt acht,
nur Schatten, die sich aus der umliegenden Dunkelheit lösten. Qus
fing an zu schießen und schleuderte einen Schatten zurück, der ihn
anspringen wollte. Ich schoss ebenfalls und beharkte die geisterhafte
Opposition mit Boltgeschossen.
Beidame Sadia war eine Ketzerhexe und verkehrte mit Xenos-
Brut. Insbesondere war sie fasziniert vom Glauben und von den
Todeszaubereien der Dark Eldar und hatte es sich zur Lebensaufgabe
gemacht, deren Wissen und Überlieferungen anzuzapfen, um Macht
zu erringen. Sie gehörte zu den ganz wenigen Menschen, die
tatsächlich einen Pakt der Zusammenarbeit mit ihren elenden
Kabalen geschlossen hatten. Gerüchteweise war sie kürzlich in den
Kult Kaela Mensha Khaines eingeführt worden, der in seinem
Aspekt als Mördergott von den Abtrünnigen der Eldar verehrt wurde.
Wie es sich für eine derartige Zugehörigkeit geziemte, warb sie
ausschließlich verurteilte Mörder als Lakaien an. Die Männer,
welche uns auf diesem verkommenen Hof angriffen, waren
niederträchtige Mörder, in Schattenfelder gehüllt, die sie von ihren
unmenschlichen Verbündeten gekauft, geliehen oder gestohlen hatte.
Einer schwang eine Hellebarde mit langer Klinge nach mir, und
ich schoss ihm den Kopf weg. Knapp. Meine Glieder waren müde,
meine Reaktionen verlangsamt.
Ich sah Arianrhod. Sie tanzte ein schemenhaftes Ballett, und ihre
perlengeschmückten Zöpfe flogen über ihrem wirbelnden Umhang.
Barbarisater schnurrte in ihren Händen.
Sie trennte einem Schatten mit einem Rückhandschlag den Kopf
ab, vollführte eine Pirouette und hieb einen anderen vom Hals bis zur
Hüfte entzwei. Der Säbel bewegte sich so schnell, dass ich ihn kaum
sehen konnte. Sie stampfte auf und kehrte ihre Bewegungsrichtung
um, was einen dritten Schatten zu Boden gehen ließ, da sein Angriff
an ihr vorbei ins Leere ging. Sein Kopf flog davon, und der Säbel
fegte weiter und spießte einen vierten Schatten auf, ohne seine flüs-
sige Bewegung zu unterbrechen. Dann wirbelte Arianrhod herum,
das Schwert horizontal über der rechten Schulter haltend. Der
Stahlschaft der Hellebarde des fünften Schattens wurde
durchgeschlagen, und er taumelte rückwärts. Barbarisater beschrieb
eine Acht in der Luft, und ein weiterer Schatten fiel zerstückelt zu
Boden.
Der letzte Lakai wandte sich ab und floh. Ein Schuss aus Bequins
Laserpistole streckte ihn nieder.
Mein Puls hämmerte mir in der Schläfe, und mir ging auf, dass ich
mich setzen musste, wenn ich nicht ohnmächtig werden wollte. Qus
stützte mich und half mir, mich auf einem Steinblock aus einer
eingestürzten Mauerruine niederzulassen.
»Gregor?«
»Es geht schon, Alizebeth … lass mir einen Moment Zeit…«
»Du hättest nicht mitkommen sollen, du alter Narr! Du hättest das
hier deinen Jüngern überlassen sollen!« »Halt die Klappe,
Alizebeth.«
»Das tue ich nicht, Gregor. Es wird höchste Zeit, dass du deine
Grenzen erkennst.« Ich sah sie an. »Ich habe keine Grenzen«, sagte
ich. Qus lachte unwillkürlich.
»Ich glaube ihm, Madam Bequin«, sagte Ravenor, der aus dem
Schatten vortrat. Der Imperator verdamme seine Verstohlenheit,
nicht einmal Arianrhod hatte ihn kommen sehen. Sie musste ihren
Säbel krampfhaft nach unten drücken, um zu verhindern, dass er
nach ihm stach.
Gideon Ravenor war ein wenig kleiner als ich, aber stark und gut
gebaut. Er war erst vierunddreißig Jahre alt. Seine langen schwarzen
Haare waren aus dem gemeißelten Gesicht mit den hohen
Wangenknochen nach hinten gekämmt und zusammengebunden. Er
trug einen grauen hautengen Trikotanzug und einen langen ledernen
Sturmmantel. Der auf seiner linken Schulter montierte Psibolter
surrte und klickte und zielte auf Arianrhod.
»Vorsichtig, Schwertfrau«, sagte er. »Meine Waffe hat dich im
Visier.«
»Und sie wird mich auch noch im Visier haben, wenn dein Kopf
längst im Staub liegt«, erwiderte sie.
Sie lachten beide. Ich wusste, dass sie seit über einem Jahr ein
Liebespaar waren, aber in der Öffentlichkeit rieben sie sich immer
noch aneinander.
Ravenor schnippte mit den Fingern, und sein Begleiter, der
schwärende Mutant Gonvax, schlurfte aus seinem Versteck, während
Sabber von seinen dicken, verunstalteten Lippen tropfte. Er trug
einen Flammenwerfer, dessen Brennstofftanks auf den Buckel seines
verdrehten Rückens geschnallt waren.
Ich erhob mich. »Was haben Sie gefunden?«, fragte ich.
»Die Beidame — und einen Weg hinein«, sagte er.
Beidame Sadias Versteck befand sich im Sakrarium unter der
Hauptkapelle der Ruine. Ravenor hatte es gründlich auskundschaftet
und einen Eingang in einer der geborstenen Krypten gefunden, von
dessen Existenz vielleicht nicht einmal die Hexe wusste.
Meine Hochachtung vor Ravenor wuchs mit jedem Tag. Ich hatte
noch nie einen Schüler wie ihn gehabt. Er hatte überragende
Qualitäten in praktisch jeder Fähigkeit, über die ein Inquisitor
verfügen sollte. Ich freute mich schon auf den Tag, wenn ich seinen
Antrag auf Beförderung zum Inquisitor unterstützen würde. Er hatte
sie verdient. Die Inquisition brauchte Männer wie ihn.

In Einerreihe betraten wir hinter Ravenor die Krypta. Er lenkte


unsere Aufmerksamkeit mit großem Bedacht auf jede Unebenheit
und lockere Bodenplatte. Der Gestank nach Salz und alten Knochen
war unerträglich, und in der heißen, unbewegten Luft hatte ich das
Gefühl, immer schwächer zu werden.
Wir landeten in einer Steingalerie mit Blick auf eine ausgedehnte
unterirdische Kammer. Pechlampen sprühten in der Finsternis, und
ein starker Geruch nach getrockneten Kräutern und unheilvolleren
Stoffen lag in der Luft.
Wesen wurden in dieser Kammer angebetet. Anbeten ist das
einzige Wort, das ich benutzen kann. Nackt und blutverschmiert
führten zwanzig entartete Menschen ein Dark-Eldar-Ritual rings um
eine Foltergrube aus, in der ein angeketteter, stark ramponierter
Mann lag.
Der Gestank nach Blut und Exkrementen drang mir in die Nase.
Ich gab mir alle Mühe, mich nicht zu übergeben, denn ich wusste,
dass die Anstrengung mich in Ohnmacht fallen lassen würde.
»Da, sehen Sie ihn?«, flüsterte Ravenor mir ins Ohr, während wir
zum Rand der Galerie krochen.
Ich konnte einen blasshäutigen Ghul in den entfernten Schatten
ausmachen.
»Ein Haemonculus, den die Kabale der Grausamen Hexe geschickt
hat, um Zeuge der Praktiken der Beidame zu werden.«
Ich versuchte, Einzelheiten zu erkennen, aber die Gestalt war zu
tief im Schatten.
Ich registrierte grinsende Zähne und irgendeine Klin-
genvorrichtung um die rechte Hand.
»Wo ist Pye?«, fragte Bequin, ebenfalls im Flüsterton.
Ravenor schüttelte den Kopf. Dann packte er meinen Arm und
drückte. Nicht einmal Flüstern war jetzt noch möglich.
Die Beidame persönlich hatte die Kammer betreten.
Sie ging auf acht Spinnenbeinen, einem großen augmetischen
Gestell aus gekrümmten Spinnengliedern, das über die Steine
huschte. Inquisitor Atelath, der Imperator gewähre ihm ewige Ruhe,
hatte ihre natürlichen Beine hundertfünfzig Jahre vor meiner Geburt
zerstört.
Sie war in schwarze Spitze gehüllt, die wie Spinnweben aussahen.
Tatsächlich konnte ich ihre Schlechtigkeit spüren wie Fieberschweiß.
Sie verharrte am Rande der Foltergrube, hob mit verwitterten
Händen den Schleier und spie auf das Opfer darin. Es war Gift, das
aus den hinter augmetischen Fängen eingebauten Drüsen im Mund
spritzte. Die zähe Flüssigkeit traf das Opfer mitten ins Gesicht, und
der Mann gurgelte vor Schmerzen, als sein Gesicht weggefressen
wurde.
Sadia fing mit leiser, zischelnder Stimme an zu sprechen. Sie
redete in der Sprache der Dark Eldar, und ihre nackten Brüder
wanden sich und stöhnten.
»Ich habe genug gesehen«, flüsterte ich. »Sie gehört mir. Ravenor,
schaffen Sie den Haemonculus?«
Er nickte.
Auf mein Zeichen starteten wir unseren Angriff und sprangen mit
blitzenden Waffen von der Galerie. Mehrere Anbeter wurden von
Qus' schwerem Beschuss zerrissen.
Mit dem Schlachtruf Carthaes auf den Lippen flog Arianrhod weit
vor Ravenor dem Haemonculus entgegen.
Mir ging auf, dass ich es übertrieben hatte. Bei der Landung
überfiel mich Schwindel, und ich stolperte.
Die Metallspinnenbeine schlugen Funken auf den Steinplatten, als
Beidame Sadia heulend auf mich zukam. Sie hob den Schleier, um
mich anzuspucken.
Abrupt taumelte sie rückwärts, von den vereinten Kräften Bequins
und Zu Zengs getroffen, die sie flankierten.
Ich riss mich zusammen, schoss auf sie und trennte eines der
augmetischen Spinnenbeine vom Rahmen.
Sie spie dennoch, verfehlte mich aber. Das Gift fraß sich zischend
in die kalten Steinplatten vor meinen Füßen.
»Imperiale Inquisition!«, bellte ich. »Im Namen des heiligen Gott-
Imperators werden Sie und Ihre Sippschaft des Hochverrats und
manifesten Unglaubens angeklagt!«
Ich hob meine Waffe. Sie flog mir entgegen.
Ihre schiere Körperfülle riss mich um.
Ein Spinnenglied stach vollständig durch den Muskel meines
linken Oberschenkels, und sie fletschte mir ihre stählernen Fänge, die
wie gekrümmte Nadeln waren, ins Gesicht. Für einen Moment sah
ich ihre Augen, schwarz und ohne Boden, aber voller Wahnsinn.
Sie spie.
Ich riss meinen Kopf herum, um dem zersetzenden Speichel
auszuweichen, und schoss mit meiner Boltpistole auf sie.
Die Wucht des Treffers schleuderte sie zurück, die gesamten
vierhundert Kilo alte Hexe und bionisches Gestell.
Ich wälzte mich herum.
Der Haemonculus war Arianrhods Angriff frontal begegnet, und
die Gleve um seine rechte Hand kreischte, als die xenos-gefertigten
Klingen wirbelten. Er war dünn wie ein Stock und trug glänzendes
schwarzes Leder, und sein beständiges Grinsen war eine Konsequenz
der Art, wie seine farblose Gesichtshaut, um den Schädel nach hinten
gestrafft war. Er trug aus den Waffen der von ihm erschlagenen
Krieger gefertigten Metallschmuck.
Ich hörte, wie Ravenor Arianrhods Namen rief.
Barbarisater hieb nach dem huschenden Eldar-Ungeheuer, aber der
Haemonculus wich mit unglaublicher körperlicher Behändigkeit aus.
Sie schlug wieder zu und setzte zwei perfekte und absolut tödliche
Hiebe, die ihn jedoch irgendwie völlig verfehlten. Er ließ sie in
einem Nebel von Blut rückwärts taumeln. Zum ersten Mal, seit ich
sie kannte, hörte ich Arianrhod vor Schmerzen schreien.
Flammen tosten durch die Kammer. Gonvax schlurfte vorwärts,
seinem Herrn auf ewig treu ergeben … und der Geliebten seines
Herrn. Er versuchte den Haemonculus in Flammen zu hüllen, aber
der war plötzlich hinter ihm. Gonvax kreischte, als ihn die Gleve auf-
schlitzte.
Mit einem Heulen warf sich Arianrhod auf den Dark Eldar. Ich sah
sie einen Moment in der Luft erstarrt, wie ihr Säbel herabsauste.
Dann stießen die beiden Leiber zusammen und flogen auseinander.
Der Säbel hatte dem Eldar den linken Arm an der Schulter
abgetrennt. Aber die Gleve …
Ich wusste, dass sie tot war. Niemand konnte das überleben, nicht
einmal eine adelige Schwertfrau vom fernen Carthae.
Bequin zog mich hoch. »Gregor! Gregor!«
Beidame Sadia floh mit hinkendem Spinnenchassis zur Treppe.
Etwas explodierte hinter mir. Ich hörte Ravenor vor Wut und
Schmerzen aufschreien. Ich rannte hinter Beidame her.

Im oberirdischen Teil der Kapelle war alles still und kalt. Der
Feuerschein der Dunkelnacht glimmte durch die Reihen der
Buntglasfenster.
»Du kannst nicht entkommen, Sadia!«, rief ich, aber meine
Stimme klang dünn und heiser.
Ich erblickte sie, als sie zwischen die Säulen links von mir
huschte. Ein Schatten im Schatten.
»Sadia! Sadia, alte Vettel, du hast mich getötet! Aber du wirst
durch meine Hand sterben!«
Jetzt zu meiner Rechten, noch ein huschender Schatten, halb
sichtbar. Ich bewegte mich in die Richtung.
Von hinten traf mich ein Stich zwischen die Schulterblätter. Im
Fallen drehte ich mich um und sah das irre Gesicht von Beldames
Erz-Vergifter Pye. Er gackerte und kicherte und plusterte sich vor
mir auf, eine leere Injektionsspritze in jeder Hand.
»Tot! Tot, tot, tot, tot, tot!«, trällerte er.
Er hatte mir die zweite Komponente des Gifts gespritzt.
Ich fiel zu Boden, da sich meine Muskeln bereits verkrampften.
»Was ist das für ein Gefühl, Inquisitor?«, gluckste Pye, indem er
sich mir hüpfend näherte.
»Der Imperator verfluche dich«, keuchte ich und schoss ihm ins
Gesicht.
Ich verlor das Bewusstsein.

Als ich wieder zu mir kam, hatte Beidame Sadia mich bei der
Kehle gepackt und schüttelte mich mit ihren augmetischen
Beißzangen.
»Ich will, dass du wach bist!«, zischte sie, während ihr Schleier
zurückfiel und sich die Giftbeutel in ihren runzligen Wangen
wölbten. »Ich will, dass du wach bist, damit du das hier spürst!«
Ihr Kopf explodierte in einem Regen aus Knochensplittern und
Gewebe. Das Spinnenchassis verfiel in Krämpfe und schleuderte
mich durch die Kapelle. Es zuckte und tanzte eine ganze Minute
weiter, während ihr Leichnam schlaff darauf herumruckte, bevor es
schließlich zusammenbrach.
Ich lag bäuchlings auf dem Boden und versuchte mich
umzudrehen, aber die Wirkung des Gifts war schon zu stark und
setzte mir zu.
Setzte mir gewaltig zu.
Massige Füße schritten in mein Blickfeld. Gepanzerte Füße, mit
Keramit gerüstet.
Ich wälzte mich mühsam herum und schaute hoch.
Hexenjäger Tantalid stand vor mir und halfterte das Boltgewehr,
mit dem er Beidame Sadia getötet hatte. Er steckte in einer
vergoldeten Schlachtrüstung, und die Banner des Ministorums
hingen über der Rückenplatte.
»Sie sind ein verfluchter Ketzer, Eisenhorn. Und ich beanspruche
Ihr Leben.«
Nicht Tantalid, dachte ich, während sich mein Bewusstsein erneut
verflüchtigte. Nicht Tantalid. Nicht jetzt.
ZWEI
Etwas so Typisches für Betancore. Meine Gefallenen. Der
Ruf.

Von dem Augenblick, als ich zu Füßen des bösartigen


Hexenjägers Tantalid das Bewusstsein verlor, bis zu meinem
Erwachen neunundzwanzig Stunden später an Bord meines
Kanonenboots weiß ich nichts. Ich erinnerte mich an keinen der
sieben Versuche, mich wieder ins Leben zu schocken, nicht an die
Herzmassagen und an die Gegengifte, die mir direkt in den
Herzmuskel gespritzt wurden, an kein einziges Detail des Kampfes,
mich wieder ins Leben zurückzuholen. Das alles erfuhr ich später,
während ich mich langsam erholte. Noch Tage später war ich so
schwach wie eine neugeborene Katze.
Vor allem hatte ich keine Ahnung, wie Tantalid neutralisiert
worden war. Bequin erzählte es mir ein oder zwei Tage nach meinem
ersten Erwachen. Es war so typisch für Betancore.
Alizebeth war mir die Treppe aus dem Sakrarium nach oben
gefolgt und hatte gerade noch Tantalids Ankunft beobachtet. Sie
hatte ihn sofort erkannt. Der Hexenjäger ist im gesamten Subsektor
berüchtigt.
Er hatte mich töten wollen, und ich lag bewusstlos zu seinen
Füßen, im allergischen Schock, da sich das Gift verband und durch
meine Adern jagte.
Sie hatte geschrien und nach ihrer Waffe gegriffen.
Dann war hartes, grelles Licht durch die Buntglasfenster gefallen,
und ein Tosen war zu vernehmen. Mein Kanonenboot, alle
Scheinwerfer eingeschaltet, schwebte über der Kirchenruine und
erleuchtete die Nacht. Da sie sich denken konnte, was folgen würde,
hatte sich Bequin zu Boden geworfen.
Betancores Stimme dröhnte aus dem Rumpflautsprecher des
Kanonenboots. »Imperiale Inquisition! Sofort vom Inquisitor
zurücktreten!«
Tantalid blinzelte in das Licht und drehte seinen strähnigen
Schildkrötenkopf in der massiven Rüstung. »Ministorum-Vertreter!«,
schrie er, verstärkt durch die Kom-Einheit seiner Rüstung. »Zurück!
Ziehen Sie sich sofort zurück! Dieser Ketzer gehört mir!«
Bequin grinste, als sie Betancorts Antwort wiedergab. »Streite nie
mit einem Kanonenboot, du Arschloch.«
Die Servitoren in den stumpfen Flügelspitzen des Kanonenboots
eröffneten das Feuer und beschossen die Kirche mit Autokanonen.
Alle Buntglasfenster waren zerschmettert, sämtliche Statuen
enthauptet und Steinplatten aufgelöst worden. Mindestens ein Mal
getroffen, fiel Tantalid rückwärts in den Staub und die Trümmer.
Sein Leichnam war nicht aufgefunden worden, also ging ich davon
aus, dass der Dreckskerl überlebt hatte. Aber er war klug genug
gewesen zu fliehen.
Ich selbst war nicht getroffen worden, obwohl die Kirche rings um
mich verwüstet wurde.
Betancores typisches Draufgängertum. Betancores typische
Raffinesse.
Sie war genau wie ihr verdammter Vater.

»Schick sie zu mir«, sagte ich zu Bequin, während ich halb tot in
meinem Bett lag und mich schrecklich fühlte.
Medea Betancore schaute ein paar Minuten später herein. Wie ihr
Vater Midas trug sie den rot gestreiften schwarzen Anzug eines
glavianischen Piloten und voller Stolz seine alte ebenfalls rote,
bestickte Jacke.
Ihre Haut war wie die aller Glavianer dunkel. Sie grinste mich an.
»Ich bin dir was schuldig«, sagte ich.
Medea schüttelte den Kopf. »Das war nichts, was mein Vater nicht
auch getan hätte.« Sie setzte sich ans Fußende meines Bettes.
»Aber er hätte Tantalid getötet«, entschied sie.
»Er war ein besserer Schütze.«
Wieder dieses Grinsen, perlweiße Zähne, die von
ebenholzfarbener Haut eingerahmt waren. »Ja, das war er.«
»Aber du reichst völlig«, grinste ich. Sie salutierte und ging.

Midas Betancore war seit sechsundzwanzig Jahren tot. Ich


vermisste ihn immer noch. Wenn ich überhaupt je so etwas wie einen
Freund gehabt hatte, dann ihn. Bequin und Aemos waren
Verbündete, und ich vertraute ihnen mein Leben an. Aber Midas …
Möge der Gott-Imperator Fayde Thuring verfaulen lassen, weil er
ihn getötet hat. Möge der Gott-Imperator mich eines Tages zu Fayde
Thuring führen, damit Medea und ich Midas rächen können.
Medea hatte ihren Vater nie kennengelernt. Sie war einen Monat
nach seinem Tod geboren, von ihrer Mutter auf Glavia aufgezogen
worden und durch einen Zufall in meine Dienste getreten. Ich war ihr
Pate, ein Versprechen, das ich Midas gegeben hatte. Pflichtbewusst
hatte ich Glavia zur Feier ihrer Volljährigkeit besucht und sie dabei
beobachtet, wie sie im Zuge des Mündigkeitsrituals einen
glavianischen Langbug durch die Strudelschnellen der Pfahlberge ge-
steuert hatte. Ein Blick auf ihre Fähigkeiten hatte mir gereicht.
Arianrhod Esw Sweydyr war tot. Gonvax und Qus ebenfalls. Der
Kampf im Sakrarium war heftig gewesen. Ravenor hatte den
rasenden Haemonculus getötet, aber erst, nachdem dieser ihm den
Bauch aufgeschlitzt und Zu Zeng das linke Ohr abrasiert hatte.
Gideon Ravenor befand sich auf der Intensivstation der größten
Klinik von Lethe. Wir würden ihn abholen, sobald er außer
Lebensgefahr war.
Ich fragte mich, wie lange es dauern würde. Und ich fragte mich,
wie es ihm danach gehen würde. Er hatte Arianrhod geliebt, und
zwar sehr. Ich betete, dass der Verlust ihn nicht zu tief treffen würde.
Ich trauerte um Qus und die Schwertfrau. Qus war seit neunzehn
Jahren bei mir. Diese Dunkelnacht in der Kapelle hatte mir vieles
geraubt.
Qus wurde mit vollen Ehren auf dem Kenotaph der Imperialen
Garde in Lethe Majeure beigesetzt. Arianrhod wurde auf einem
kahlen Hügel westlich der Salzlecken verbrannt. Ich war zu schwach,
um den Trauerfeierlichkeiten beizuwohnen.

Nach der Feuerbestattung brachte mir Aemos den Säbel


Barbarisater. Ich wickelte ihn in ein Baumwolltuch und hüllte ihn
dann in Seide. Ich wusste, dass ich verpflichtet war, den Säbel in
Kürze zu den Stammesältesten der Esw Sweydyr auf Carthae zu
bringen. Diese Reise würde mindestens ein Jahr dauern. Ich hatte
keine Zeit dafür. Ich verstaute das Schwert in meinem privaten
Tresor. Es passte kaum hinein.

Während ich langsam wieder gesund wurde, dachte ich über


Tantalid nach. Arnaut Tantalid war vom Rang des Konfessors in der
Missionaria Galaxia vor siebzig Jahren befördert und zu einem der
gefürchtetsten und rücksichtslosesten Hexenjäger des Ministorums
geworden. Wie viele seiner Art folgte er den Doktrinen Sebastian
Thors mit solch unerschütterlicher Präzision, dass es an Besessenheit
grenzte.
Die meisten gewöhnlichen Bürger des Imperiums würden kaum
einen Unterschied sehen zwischen einem Inquisitor des Ordo Xenos
wie mir und einem Hexen-töter der Ekklesiarchie wie Tantalid. Wir
jagen beide die Finsternis, welche die Menschheit umschleicht, wir
sind beide gefürchtet und wir sind beide, so scheint es, Gesetze an
und für sich.
Doch so viel wir auch gemeinsam haben, wir könnten nicht
verschiedener sein. Ich bin der Überzeugung, dass sich das Adeptus
Ministorum, das riesige Organ des Glaubens und der religiösen
Verehrung im Imperium, vollkommen auf die Verkündigung der
wahren Kirche des Gott-Imperators konzentrieren und die
Verfolgung von Ketzern der Inquisition überlassen sollte. Unsere
Zuständigkeiten überschneiden sich oft. Im letzten Jahrhundert hat es
meines Wissens nach zwei Glaubenskriege gegeben, die durch diese
Rivalität provoziert und genährt wurden.
Tantalid und ich waren zwei Mal zuvor aneinandergeraten. Auf
Bradells Welt vor fünf Dekaden hatten wir einander auf dem
Marmorboden eines Synodengerichts gegenübergestanden und um
die Auslieferung des Psionikers Elbone Parsuval gestritten. Bei
dieser Gelegenheit hatte er triumphiert, was in erster Linie auf die
thorianische Geisteshaltung der Ministorums-Ältesten auf Bradells
Welt zurückzuführen war.
Dann hatten sich unsere Wege vor acht Jahren auf Kuuma erneut
gekreuzt.
Tantalids fanatischer Hass — tatsächlich würde ich Furcht
vermuten — auf die Psioniker war mittlerweile übermächtig
geworden. Ich machte kein Geheimnis daraus, dass ich bei meiner
Arbeit auch psionische Methoden anwendete. In meinem Stab
befanden sich psionische Adepten, und ich selbst hatte daran
gearbeitet, meine eigenen bescheidenen Fähigkeiten im Laufe der
Jahre zu verbessern. Das ist mein Recht als autorisierter Träger des
Inquisitionssiegels.
In meinen Augen war er ein engstirniger Eiferer mit einer
psychotischen Ader. In seinen war ich ein Abkömmling von Hexen
und ein Ketzer.
Auf Kuuma hatten wir nicht vor Gericht gestritten, sondern
vielmehr einen kleinen Krieg ausgetragen. Er hatte einen Nachmittag
gedauert und in den abgestuften Straßen der Oasenstadt Unat Akim
getobt.
Achtundzwanzig latente Psioniker, keiner älter als vierzehn, waren
im Zuge einer Säuberung aus der Bevölkerung von Kuumas riesiger
Hauptstadt zur Abholung durch die Schwarzen Schiffe ausgesondert
worden. Sie waren Rekruten, ein kostbares Gut, von jeglichem
Makel frei und bereit, von den Adeptus Astropathicus zu würdigen
Dienern des Gott-Imperators geformt zu werden. Manchen würde
vielleicht sogar die ultimative Ehre zuteil werden, sich dem Chor des
Astronomicans anzuschließen. Sie waren verängstigt und verwirrt,
aber dies war ihre Erlösung.
Es war besser, früh entdeckt und in gute Dienste genommen zu
werden, als unentdeckt zu bleiben und später verdorben eine Gefahr
für die ganze Gesellschaft zu sein.
Doch vor dem Eintreffen der Schwarzen Schiffe wurden sie von
abtrünnigen Sklavenjägern entführt, die Hand in Hand mit korrupten
Beamten des Administratums arbeiteten. Auf dem Schwarzmarkt
konnten riesige Summen mit nicht registrierten jungfräulichen
Psioniker-Sklaven verdient werden.
Ich folgte der Spur der Sklavenjäger durch die Seif-Dünen nach
Unat Akim in der Absicht, die Jugendlichen zu befreien. Tantalid
kam dorthin, um sie alle als Hexen auszulöschen.
Am Ende des Kampfes hatte ich den Hexenjäger und seine
Kohorten, hauptsächlich Fußsoldaten der Frateris Militia, aus der
Oasenstadt getrieben. Zwei der jungen Psioniker waren im
Kreuzfeuer getötet worden, aber die anderen hatte ich den
Astropathicus übergeben können.
Tantalid war von Kuuma geflohen, um seine Wunden zu lecken,
und hatte anschließend versucht, mich als Ketzer brandmarken zu
lassen, aber der Antrag war rasch abgewiesen worden. Das
Ministorum hatte zu diesem Zeitpunkt nicht den Wunsch verspürt,
einen Konflikt mit den Verbündeten der Inquisition
heraufzubeschwören.
Ich hatte damit gerechnet, sogar gewusst, dass Tantalis
irgendwann zurückkehren würde, um mir zuzusetzen. Die Sache war
jetzt persönlich, und ein so fanatischer Mensch wie er würde sich
darauf fixieren und sie zu einer heiligen Berufung machen.
Aber zuletzt hatte ich gehört, er habe eine Mission der
Ekklesiarchie in den ophidianischen Subsektor geführt, um den
dortigen jahrhundertlangen Säuberungsfeldzug zu unterstützen.
Ich fragte mich, was ihn zu einem für mich derart ungünstigen
Zeitpunkt nach Lethe Elf geführt hatte.

Als ich mich zwei Wochen später einigermaßen erholt hatte, war
die Dunkelnacht vorbei, und ich kannte die allgemeine, wenn auch
nicht die spezielle Antwort.
Ich humpelte an einem Stock durch das private Anwesen, das ich
in Lethe Majeure gemietet hatte, als Aemos mir die Neuigkeiten
überbrachte. Der große Ophidia-Feldzug war vorbei.
»Ein großer Erfolg«, verkündete er. »Das letzte Gefecht hat vor
vier Monaten auf Dolsene stattgefunden, und der Kriegsmeister hat
den Subsektor für gesäubert erklärt. Ein bedeutender Sieg, findest du
nicht?«
»Ja. Würde ich meinen. Sie haben lange genug gebraucht.«
»Gregor, Gregor … selbst mit einer so großen Streitmacht wie der
Schlachtflotte Scarus ist die Unterwerfung eines ganzen Subsektors
eine gewaltige Aufgabe! Dass sie fast ein Jahrhundert gedauert hat,
ist gar nichts! Die Befriedung des Subsektors Extempus hat vierhun-
dert Jahre …«Er hielt inne. »Du willst mich absichtlich reizen,
oder?«
Ich nickte. Er ließ sich leicht auf die Palme bringen.
Aemos schüttelte den Kopf und setzte sich auf einen Ledersessel.
»Ich habe gehört, dass immer noch Kriegsrecht herrscht, und auf den
Schlüsselwelten wurden provisorische Regierungen eingesetzt. Aber
der Kriegsmeister kehrt mit dem Großteil der Flotte im Triumph
zurück und besucht diesen Subsektor zum ersten Mal seit hundert
Jahren.«
Ich stand am offenen Fenster und schaute vom Erdgeschoss des
Anwesens auf die grauen Dächer von Lethe Majeure, welche die
Berge des Tito-Beckens wie die Schuppenhaut eines prähistorischen
Reptils zu überziehen schienen. Der Himmel war ein
Magnoliendunst, und eine leichte Brise wehte. Mittlerweile war es
beinahe unmöglich, sich diesen Ort in den schmuddeligen, perma-
nenten Schatten der Dunkelnacht gehüllt vorzustellen.
Jetzt wusste ich zumindest, warum Tantalid zurückgekehrt war.
Der Ophidische Krieg war vorbei, und seine heilige Mission war
damit abgeschlossen.
»Ich kann mich noch erinnern, wie sie aufgebrochen sind, du
auch?«, fragte ich.
Eine alberne Frage. Mein Gelehrter war ein Daten-Süchtiger, seit
dem Alter von zweiundvierzig Standardjahren dank des Meme-
Virus, den er sich zugezogen hatte, von dem unstillbaren Drang
erfüllt, alle möglichen Informationen zu sammeln und zu behalten.
Die Möglichkeit, etwas zu vergessen, bestand bei ihm nicht. Er
kratzte sich die Seite seiner Hakennase, wo die schwere augmetische
Brille saß.
»Wie könnte das einer von uns jemals vergessen?«, erwiderte er.
»Den Sommer 240. Die Jagd auf den Glaw-Klan auf Gudrun
während der Gründung.«
Tatsächlich hatten wir eine besondere Rolle bei der Verzögerung
des Beginns des ophidischen Feldzugs gespielt. Der Kriegsmeister,
seinerzeit noch Marschall, war praktisch bereit gewesen, seine
Säuberung des ophidischen Subsektors zu beginnen, als meine Unter-
suchung der ketzerischen Glaw-Familie einen Massenaufstand
ausgelöst hatte, der später den Namen Helicanisches Schisma bekam.
Zu seiner großen Überraschung und zu seinem Missvergnügen war
der Kriegsmeister plötzlich gezwungen gewesen, seine
abmarschbereiten Streitkräfte zur Befriedung seines eigenen
Subsektors einzusetzen.
Kriegsmeister Honorius. Honorius Magnus nannten sie ihn. Ich
war ihm nie begegnet, noch verspürte ich den Wunsch dazu. Ein
brutaler Mann wie so viele seiner Art. Es bedarf einer besonderen
Geisteshaltung, einer besonderen Brutalität, um Planeten zu
verwüsten und Bevölkerungen zu dezimieren.
»Auf Thracian Primaris soll eine große Jubelfeier stattfinden«,
sagte Aemos. »Eine Heilige Novene, geweiht durch die Synode der
Hohen Ekklesiarchie. Gerüchteweise kommt sogar der Kriegsherr
Helicanus persönlich, um den Kriegsmeister in den Rang des
Feudalprotektors zu erheben.«
»Ich bin sicher, das wird ihn sehr freuen. Noch ein schwerer
Orden, den er nach seinen Offizieren werfen kann, wenn er zornig
ist.«
»Du bist nicht versucht hinzugehen?«
Ich lachte. Tatsächlich hatte ich erwogen, in Kürze zur
Regierungshauptwelt des helicanischen Subsektors zurückzukehren.
Thracian Primaris, die am meisten industrialisierte und am dichtesten
bevölkerte Welt des Subsektors, hatte nach der Entehrung durch das
Schisma Gudrun als Hauptwelt abgelöst und endlich die Stellung
errungen, die ihm seiner Ansicht nach durch Größe und Macht schon
lange zustand. Es war nun die imperiale Hauptwelt in dieser Region.
Es gab noch reichlich Arbeit, Berichte mussten geschrieben und
verschickt werden, und diese Dinge ließen sich am besten regeln,
wenn ich zu meinem Besitz auf Thracian zurückkehrte, zu meiner
Operationsbasis unweit des Palastes der Inquisition. Aber ich machte
mir nicht viel aus Thracian Primaris. Es war eine hässliche Welt, und
ich hatte mein Hauptquartier nur deshalb dort, weil es praktisch war.
Der Gedanke an Pomp, Feierlichkeiten und Feste erfüllte mich mit
stillem Unbehagen.
Vielleicht würde ich stattdessen nach Messina fliegen oder nach
Gudrun, wo ich ein kleines, gemütliches Anwesen unterhielt.
»Die Inquisition soll in großer Zahl vertreten sein. Lord Rorken
persönlich …«
Ich winkte ab. »Spricht dich die Vorstellung an?«
»Nein.«
»Haben wir nichts Besseres mit unserer Zeit anzufangen?
Dringende Angelegenheiten? Dinge, die sich leichter abseits derart
aufgeblähter Ablenkungen erledigen lassen?«
»Mit Sicherheit«, sagte er.
»Dann weißt du wohl, wie ich darüber denke.«
»Ich glaube schon, Gregor«, sagte er, indem er sich erhob und in
die Tasche seines grünen Gewandes griff. »Und daher bin ich auch
darauf vorbereitet, dass du mich verfluchen wirst, wenn ich dir das
hier gebe.«
Er hielt mir eine kleine Datentafel hin, eine verschlüsselte
Nachrichtentafel, deren Inhalt von den Astropathen empfangen und
gespeichert worden war.
Quer über die Vorderseite war das offizielle Siegel der Inquisition
gestempelt.
DREI
Hauptwelt. Das Haus am Meer. Eindringlinge, vergangen
und gegenwärtig.

Thracian Primaris, die Hauptwelt des helicanischen Subsektors


und Regierungssitz, helicanischer Subsektor, Sektor Scarus,
Segmentum Obscurus. Diese Beschreibung kann man in jedem von
hunderttausend verschiedenen Reiseführern, erdkundlichen
Beschreibungen, Imperiumsgeschichten, Pilgerfibeln, industriellen
Statistiken, Handelslisten und Sternkarten lesen. Es klingt beeindru-
ckend, autoritär, mächtig.
Die Beschreibung wird dem Ungeheuer nicht gerecht.
Ich habe Höllenlöcher und Todesplaneten erlebt, die aus dem
Raum pittoresk und wundersam aussehen: die Wasserfarben der
Atmosphäre, die funkelnden Monde und Gürtel, die sie wie Schmuck
tragen, die Naturwunder, welche die auf ihnen lauernden Gefahren
Lügen strafen.
Thracian Primaris ist kein solcher Heuchler. Aus dem Raum
funkelt der Planet einen an wie ein Triefauge mit grauem Star. Er ist
korpulent und geschwollen und in graue Schleier aus
atmosphärischem Ruß gehüllt, durch den die Milliarden Lichter der
Stadtmakropolen wie verfaulende Sterne funkeln. Er starrt alle sich
nähernden Schiffe missgünstig an.
Und wie sie sich nähern! Scharen von Schiffen, Unmengen,
unzählige Raumfahrzeuge werden vom industriellen Reichtum und
der merkantilen Wucht zu dieser aufgeblähten Jauchegrube gelockt.
Der Planet hat keine Monde, jedenfalls keine natürlichen. Fünf
Raumfestungen der Ramilies-Klasse hängen über seiner Atmosphäre,
deren krennellierte Türme und Geschützplattformen die An- und
Abflugrouten der Hauptwelt bewachen. Eine Gilde mit
vierzigtausend fest angestellten Piloten existiert einfach nur, um den
Verkehr in und um die überfüllten Ankerbereiche in der Umlaufbahn
hin und her zu lotsen. Er unterhält eigene planetare
Abwehrstreitkräfte, ein stehendes Heer mit einer Stärke von acht
Millionen Mann. Die Bevölkerung beträgt knapp zweiundzwanzig
Milliarden plus eine weitere Milliarde zeitweilige Bewohner und
Besucher. Sieben Zehntel der Oberfläche sind mittlerweile mit
Makropolstrukturen bedeckt, darunter auch weite Teil der
ursprünglichen Ozeane. Stadgebiete bedecken die Meere, und das
Wasser schlägt in der Dunkelheit tief unter ihnen seine Wellen.
Ich hasse diesen Ort. Ich hasse die lichtlosen Straßen, den Lärm,
den Druck der Leiber. Ich hasse den Gestank der aufbereiteten Luft.
Ich hasse den Fettfilm in der Luft, der sich auf meiner Kleidung und
Haut absetzt.
Aber das Schicksal und die Pflicht führen mich immer wieder
dorthin.
Die verschlüsselte Botschaft der Inquisition war sehr klar
gewesen: Ich und eine große Zahl meiner Kollegen wurden nach
Thracian Primaris gerufen, um der Heiligen Novene beizuwohnen
und Lordinquisitor Großmeister Ubertino Orsini die Aufwartung zu
machen. Orsini war der höchstrangige Vertreter der Inquisition im
gesamten helicanischen Subsektor, was ihn in Rang und Macht
einem Kardinal ebenbürtig machte.
Ich hatte nicht die Absicht abzulehnen.
Die Reise von Lethe Elf dauerte einen Monat, und ich brachte
meinen gesamten Stab mit zurück. Wir trafen vier Tage vor dem
Beginn der Novene ein. Während ein winziges Lotsenschiff mein
Kanonenboot durch die Reihen der Raumschiffe im Orbit zu einem
Ankerplatz geleitete, sah ich die dunkle Formation der Schlachtflotte
Scarus, die an einer Raumfestung angelegt hatte und daran hing, als
seien die Schiffe ihre säugenden Jungen. Dies war ihre heroische
Heimkehr. Ein Hauch von Sieg lag in der Luft. Ein imperialer
Triumph dieser Größenordnung war etwas, das man genießen musste
und vom Ministorum benutzt werden konnte, um die Moral der
normalen Bürgerschaft zu stärken.
»Ihr Terminplan ist erstellt worden«, sagte Alain von Baigg, ein
rangniedriger Interrogator, der als mein Sekretär diente. Wir waren
an Bord des Kanonenboots und sanken dem Planeten entgegen.
»Ach, von wem denn?«
Er stutzte. Von Baigg war ein zurückhaltender, glanzloser junger
Mann, von dem ich nicht glaubte, dass er es je zum Inquisitor
bringen würde. Ich hatte ihn in der Hoffnung meinem Stab
eingegliedert, der Dienst an der Seite von Ravenor könne ihn
inspirieren. Dem war nicht so.
»Ich würde meinen, dass mein Terminplan auch meine eigenen
Wünsche berücksichtigen sollte.«
Von Baigg stammelte etwas. Ich nahm ihm die Datentafel ab. Die
Liste der Termine war nicht sein Werk, sah ich. Sie war ein
offizielles Dokument, von der Nuntiatur des Ministorums in
Zusammenarbeit mit dem Büro der Inquisition erstellt. Sämtliche
neun Tage der Heiligen Novene waren mit Audienzen, Andachten,
Festen, Präsentationen, Zeremonien, Enthüllungen und Ministorums-
Ritualen angefüllt. Alle neun Tage sowie jeweils der Tag davor und
danach.
Ich war hier, verdammt! Ich war dem Ruf gefolgt. Ich würde nicht
zulassen, dass man mich auf diese Ochsentour schickte. Ich nahm
einen Griffel und markierte rasch die Veranstaltungen, die zu
besuchen ich bereit war: die offiziellen Feiern, die inquisitorische
Audienz, die Große Verleihung.
»Das ist alles«, sagte ich und warf ihm die Tafel wieder zu. »Den
Rest lasse ich aus.«
Von Baigg schaute unbehaglich drein. »Sie werden gleich nach
Ihrer Ankunft auf dem post-apostolischen Konklave erwartet.«
»Gleich nach meiner Ankunft«, erwiderte ich ernst, »fahre ich
nach Hause.«

Mein Zuhause war das Ozeanhaus, eine Privatresidenz, die ich im


erlesensten Viertel von Makropole Siebzig gemietet hatte. Auf vielen
Makropolwelten wohnen die Reichen und Privilegierten in Bezirken
hoch oben in den höchsten Türmen der Stadt, so weit weg wie
möglich vom Dreck und von der Überfüllung der mittleren und tiefen
Ebenen. Doch wie hoch man auf Thracian Primaris auch stieg, man
fand nichts außer Smog und Verschmutzung.
Vielmehr befanden sich die exklusiven Habitate an der Unterseite
jener Makropolbereiche, die sich über und in die verborgenen Meere
erstreckten. Hier herrschte zumindest Ruhe und Beschaulichkeit.

Medea Betancore flog das Kanonenboot durch die verkehrsreiche


Atmosphäre zwischen kitschigen Kuppeln, schmuddeligen Türmen,
verrosteten Masten und bröckelnden Zinnen durch und ordnete sich
dann in die Reihe der Luftfahrzeuge ein, die in den riesigen Zubrin-
gertunnel einflogen, der Zugang zu den Arterien des Transitnetzes
zwischen den Makropolen bot.
An den Ausfahrten blinkten in die Wände des gewaltigen Tunnels
eingelassene Balken aus blau-weißem Licht. In weniger als einer
Stunde hatten wir einen großen Transit-Knotenpunkt drei Kilometer
tief in der Stadtkruste erreicht, wo sie das Boot auf einer riesigen
Aufzugsplattform abstellte, die uns und ein Dutzend andere Schiffe
in die untersten Ebenen von Makropole Siebzig hinunterließ. Danach
gingen wir mit dem Kutter auf einem privaten Liegeplatz vor Anker
und stiegen für das letzte Stück Weg zu den maritimen Habitaten in
die Röhrenbahn um.
Als wir schließlich im Ozeanhaus ankamen, hatte ich Thracian
Primaris bereits gründlich satt.

Aus plasma-versiegeltem Grandiorit auf einem Adamit-Fundament


errichtet, war das Ozeanhaus eine von tausend Besitzungen, die
entlang der unterirdischen Mauer von Makropole Siebzig erbaut
waren. Es lag neun Kilometer unter der Stadtkruste und weitere zwei
unter dem Meeresspiegel. Nach den Maßstäben der meisten nor-
malen Imperiumsbürger ein Palast, war es groß genug, um mein
gesamtes Gefolge, meine Büchereien, Waffenkammern und
Übungseinrichtungen unterzubringen, von einer Privatkapelle, einem
Audienzsaal und einem eigenen Flügel für Bequins Femininum ganz
zu schweigen. Es war außerdem sicher, privat und ruhig.
Jarat, meine Haushälterin, erwartete uns in der Eingangshalle. Sie
war wie immer mit einem hellgrauen Kleid und einer schwarzen
Spitzenhaube mit einem weißen Schleier bekleidet. Als sich die
großen eisernen Luken öffneten und ich die kühle gereinigte Luft des
Hauses atmete, klatschte sie in ihre plumpen Hände und schickte uns
Servitoren entgegen, die uns die Mäntel abnahmen und uns mit dem
Gepäck halfen.
Ich stand einen Moment auf dem Nashemeek-Teppich und
betrachtete die strengen Steinmauern und die hohe gewölbte Decke.
Es gab keine Gemälde, keine Büsten oder Statuen, keine gekreuzten
Waffen oder bestickten Wandteppiche, nur ein Inquisitionswappen
an der Wand gegenüber über der Treppe. Ich habe nichts für
Schmuck oder Opulenz übrig. Ich verlange schlichte Behaglichkeit
und Funktionalität.
Um mich herum herrschte geschäftiges Treiben. Bequin und
Aemos gingen durch zur Bibliothek. Ravenor und von Baigg gaben
den Servitoren ausführliche Anweisungen hinsichtlich einiger
Gepäckstücke. Medea verschwand in ihr Zimmer. Die anderen
Mitglieder meines Gefolges verloren sich im Haus.
Jarat begrüßte alle und kam dann zu mir. »Willkommen, Herr
Inquisitor«, sagte sie. »Sie waren lange fort.«
»Sechzehn Monate, Jarat.«
»Das Haus ist belüftet und bereit. Wir haben alle Vorbereitungen
getroffen, sobald Sie uns Ihre Absichten mitgeteilt hatten. Wir waren
betrübt über die Verlustmeldungen.«
»Gibt es etwas zu berichten?«
»Die Sicherheit wurde vor Ihrer Ankunft natürlich doppelt und
dreifach überprüft. Sie haben eine ganze Reihe Nachrichten
bekommen.«
»Ich sehe sie mir gleich an.«
»Sie sind zweifellos hungrig?«
Sie hatte recht, obwohl es mir gar nicht bewusst gewesen war.
»Die Küche bereitet das Abendessen vor. Ich habe mir die Freiheit
genommen, ein Menü zusammenzustellen, von dem ich glaube, dass
es Ihren Beifall findet.«
»Wie immer habe ich vollstes Vertrauen in Ihre Wahl, Jarat. Ich
würde gern auf der Meeresterrasse essen, und zwar mit allen, die sich
zu mir gesellen möchten.«
»Ich richte es ein, Herr Inquisitor. Willkommen daheim.«

Ich badete, schlüpfte in ein Gewand aus grauer Wolle und saß eine
Weile allein in meinen Privatgemächern, wo ich ein Glas Amasec
trank und im weichen Schein der Lampe die Botschaften und
Mitteilungen durchging.
Es gab viele, in erster Linie von alten Bekannten — Beamten und
Kollegen aus der Inquisition -, die mich über ihre Ankunft auf dem
Planeten informierten und mir Grüße ausrichteten. Nur wenige
bedurften mehr als einer Standardantwort seitens meines Sekretärs.
Einigen schrieb ich höfliche, persönliche Antworten, in denen ich die
Hoffnung auf eine Begegnung auf einer der vielen Veranstaltungen
im Rahmen der Novene zum Ausdruck brachte.
Drei Nachrichten erregten meine besondere Aufmerksamkeit. Die
erste war eine private, verschlüsselte Botschaft von Lordinquisitor
Phlebas Alessandro Rorken. Rorken war das Oberhaupt des Ordo
Xenos im helicanischen Subsektor, mein unmittelbarer Vorgesetzter
und Teil des Triumvirats hochrangiger Inquisitoren, die Großmeister
Orsini direkt unterstanden. Rorken wollte mich sofort nach meiner
Ankunft auf Thracian Primaris sprechen. Ich antwortete ihm sofort,
dass ich ihn am folgenden Morgen im Palast der Inquisition
besuchen würde.
Die zweite stammte von meinem alten Freund und Kollegen Titus
Endor. Es war lange her, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte. Seine
unverschlüsselte Nachricht lautete: »Gregor. Ich grüße dich. Bist du
zu Hause?«
Die Kürze war entwaffnend. Ich schickte eine gleichermaßen
kurze Bestätigung. Endor wollte ganz eindeutig nicht schriftlich
kommunizieren. Ich wartete auf seine Antwort.
Die dritte war ebenfalls unverschlüsselt oder hatte jedenfalls keine
elektronische Verschlüsselung. Sie war in Glossia abgefasst und
lautete: »Skalpell schneidet schnell, eifrige Zungen enthüllt. Auf
Cadia, zur Terz. Hund wünscht Dorn. Dorn sollte scharf sein.«
Die Meeresterrasse war vermutlich der Hauptgrund, warum ich
das Ozeanhaus überhaupt gemietet hatte. Sie war ein langes
Keramitgewölbe mit einer durchgängigen Panzerglaswand zum
Meer. Der Industrialisierung von Thracian Primaris war ein großer
Teil der Meereslebewesen zum Opfer gefallen, aber in diesen Tiefen
konnte man immer noch unverwüstliche leuchtende Tiefseeangler
und Schwärme schillernder Quallen im smaragdgrünen nächtlichen
Schein erspähen. Der von Kerzenlicht erleuchtete Raum war in ein
unstetes grünes Dämmerlicht gehüllt.
Jarats Servitoren hatten die lange Tafel für neun Personen gedeckt,
und diese neun hatten bei meinem Eintreffen bereits ihre Plätze
eingenommen und unterhielten sich bei einem Aperitif. Wie die
meisten anderen war ich leger gekleidet und trug einen schlichten
schwarzen Anzug. Die Küche brachte uns gedämpfte Fubiklöße und
gegrillten Ketelfisch und ließ scharf angebratene, blutige
Wildorkunu-Schenkel folgen. Zum Dessert gab es Birnen- und
Beerentorte mit einer Zimtjus. Ein kräftiger gudrunischer Rotwein
und süßer Dessertwein aus den Weinbergen Messinas begleiteten das
Mahl perfekt. Ich hatte vergessen, wie hoch der Standard des
Haushalts war, den Jarat so fern der Entbehrungen meiner Missionen
im Feld für mich führte.
Mit mir am Tisch saßen Aemos, Bequin, Ravenor, von Baigg,
mein Rubrikator und Schreiber Aldemar Psullus, Jubal Kircher,
Leiter der Haus-Sicherheit, ein vertrauter Agent namens Harlon Nayl
sowie Thula Surskova, die Bequins Stellvertreterin im Femininum
war. Medea Betancore hatte sich uns nicht angeschlossen, aber ich
wusste, wie anstrengend der Flug durch den thracianischen Luftraum
gewesen sein musste, der sie zweifellos erschöpft hatte.
Zu meiner Freude sah ich, dass Ravenor anwesend war. Seine
Wunden heilten, zumindest die körperlichen, und obwohl er still und
ein wenig in sich gekehrt war, hatte ich doch das Gefühl, dass er
langsam über den Schock von Arianrhods Tod hinwegkam.
Surskova, eine kleine, üppige Frau Mitte vierzig unterrichtete
Bequin leise über die Fortschritte der neueren Mitglieder des
Femininums. Aemos hielt Psullus und Nayl Vorträge über die
Ereignisse auf Lethe Elf, und sie lauschten gebannt. Psullus, infolge
einer auszehrenden Krankheit schwach und vorzeitig gealtert, verließ
das Ozeanhaus niemals und widmete sein Leben der Pflege und
Erhaltung meiner ausgedehnten privaten Bibliotheken. Wenn Aemos
ihm die Geschichte unserer letzten Mission nicht bereits erzählt
hätte, würde ich es getan haben. Diese Geschichten stellten seine ein-
zige Verbindung zu den aktiven Vorgängen unseres Geschäfts dar,
und er liebte es, sie sich anzuhören. Nayl, ein ehemaliger
Kopfgeldjäger von Loki, war auf einer Mission im Jahr zuvor
verwundet worden und nicht rechtzeitig genesen, um uns nach Lethe
begleiten zu können. Er lauschte Aemos' Schilderung ebenfalls ge-
bannt und stellte gelegentlich Zwischenfragen. Es war offensichtlich,
dass er sich danach sehnte, wieder mit der Arbeit anzufangen.
Von Baigg und Kircher unterhielten sich über die Vorbereitungen
der bald beginnenden Novene und den mit ihr verbundenen
Konsequenzen für die Sicherheit. Kircher war ein fähiger Mann, Ex-
Arbites und zuverlässig, wenn auch ein wenig phantasielos. Beim
Dessert weitete sich das Gespräch auf die ganze Tafel aus.
»Es heißt, die Verleihung macht den Kriegsmeister zu einem
gemachten Mann«, sagte Nayl, dessen gefüllter Löffel vor seinem
Mund in der Luft hing.
»Ich würde sagen, er ist bereits ein gemachter Mann«, erwiderte
ich.
»Nayl hat recht, Gregor. Ich habe das auch gehört«, sagte
Ravenor. »Feudalprotektor. Das bedeutet, der Imperiums-Kriegsherr
Helican gibt öffentlich zu, dass der Kriegsmeister praktisch im
gleichen Rang steht.«
»Es ist ein Titel ohne Bedeutung.«
»Ganz und gar nicht. Er macht Honorius zum Favoriten für das
Amt des Kriegsmeisters an der Arcotara-Front, jetzt, wo
Kriegsmeister Hiju tot ist, und Hiju war eigentlich für einen Platz im
Servitorum Imperialis vorgesehen, vielleicht sogar für einen Sitz im
Hohen Senat zu Terra.«
»Honorius mag ein ›Magnus‹ sein, aber er ist nicht aus dem Stoff,
aus dem die Hohen Servitoren sind«, wagte ich mich vor.
»Nach der Verleihung könnte er es aber sein«, sagte Nayl. »Der
Kriegsherr muss glauben, er hat Potenzial, sonst würde er ihm nicht
so eine große Ehrung zuteil werden lassen.«
Politik ließ mich kalt, und ich konnte mich nur selten in politische
Ambitionen hineinversetzen. Ich studierte das Thema nur, weil
meine Pflichten oft eine detaillierte Sachkenntnis erforderlich
machten. Der Imperiums-Kriegsherr Helican, also Jeromya Faurlitz
IV aus der imperialen Adelsfamilie der Faurlitz, war die höchste
sekulare Autorität im helicanischen Subsektor, weshalb er den
Namen des Subsektors in seinem Titel führte. Auf dem Papier
unterstanden ihm sogar die Kardinäle des Ministoriums, der
Großmeister der Inquisition, die höchsten Koryphäen des
Administratums und die Marschälle, obwohl es wie bei allen Dingen
im Imperium niemals ganz so einfach war. Kirche, Staat und Militär,
miteinander zu einer Einheit verwoben und doch ständige Rivalen.
Indem er Kriegsmeister Honorius mit dieser Verleihung huldigte,
schlug sich der Kriegsherr Helican auf die Seite des Militärs — ein
offenes Signal für die anderen Regierungsorgane — und erwartete
ganz offensichtlich von dem Kriegsmeister, den Gefallen zu er-
widern, falls er in Ränge oberhalb derjenigen eines einzelnen
Subsektors aufstieg. Es war ein gefährliches Spiel, und es kam nur
selten vor, dass ein derart hochrangiger Beamter so offen einen
solchen Vorteil anstrebte, obwohl der Schlachtenruhm, der Honorius
umgab, einen perfekten Vorwand lieferte.
Und das machte es zu einer gefährlichen Zeit. Jemand würde
dieses Gleichgewicht umgestalten wollen. Ich würde auf die
Ekklesiarchie tippen, obwohl ich anständigerweise sagen muss, dass
ich voreingenommen bin. Aber die Geschichte hat gezeigt, dass die
Kirche chronisch intolerant in Bezug auf Machtverluste zugunsten
von Militär oder Staat ist. Das sagte ich auch.
»Es gibt viele andere Elemente«, gluckste Aemos, während er sich
Dessertwein nachschenken ließ. »Die Faurlitz-Linie ist schwach, und
ihr fehlt sowohl die Unterstützung bei den Adeptus Terra als auch
das Gehör beim Servitorum Imperialis und den Höfen des Goldenen
Throns. Zwei mächtige Familien, die De Vensii und die Fulvatorae,
versuchen ihren Einfluss auf Kosten der Faurlitz auszudehnen und
werden dies als offene Gegenwehr betrachten. Dann wäre da noch
das Haus Eirswald, das in seinem eigenen berühmten Sohn Marschall
Strefon den einzig geeigneten Ersatz für Hiju sieht. Und vergessen
wir auch nicht die Augustyn-Dynastie, die ihre Macht verloren hat,
als der Hohe Servitor von Terra Giann Augustyn vor vierzig Jahren
im Amt starb. Die Augustyner versuchen in den letzten Jahren mit
fieberhafter Entschlossenheit, ihre Macht wieder auszuweiten, indem
sie ihren Kandidaten Kriegsherr Cosimo mit beinahe unziemlicher
Unverschämtheit protegieren. Wenn Nayl recht hat und die
Verleihung Honorius' Nachfolge von Hiju zur Gewissheit macht,
würde er dadurch zu einem direkten Konkurrenten Cosimos um den
vakanten Posten des Hohen Servitors.«
Weiter am Tisch gähnte Bequin und machte mich auf sich
aufmerksam.
»Cosimo wird es nie schaffen«, warf Psullus unumwunden ein.
»Sein Haus ist viel zu unbeliebt bei den Adeptus Mechanicus, und
ohne ihre Zustimmung, wie stillschweigend auch immer, wird
niemand Hoher Servitor. Außerdem würde sich das Ministorum
sperren. Giann Augustyn hat sich dort mit seinen Reformen keine
Freunde gemacht. Es heißt, ein Callidus des Officio Assassinorum
habe den alten Giann auf Befehl der Ekklesiarchie erledigt und kein
Schlaganfall.«
»Passen Sie auf, was Sie sagen, alter Freund, sonst hetzen sie
einen auf Sie«, sagte Ravenor.
Psullus hob die knochigen Hände in einer abwehrenden Geste,
während am Tisch Gelächter aufkam.
»Es ist trotzdem äußerst bestürzend«, sagte Aemos. »Diese
Verleihung könnte zu einem Krieg zwischen den Häusern führen.
Abgesehen von allen offensichtlichen Gegnern könnten sich der
Kriegsherr Helican und der Kriegsmeister auch von
Imperiumsfamilien bedrängt sehen, die bisher neutral waren. Es gibt
viele, die durchaus zufrieden mit ihrer Situation sind und mit erstaun-
licher Rücksichtslosigkeit zuschlagen würden, einfach nur, um zu
vermeiden, in eine offene, blutige Auseinandersetzung verwickelt zu
werden.«
Einen Augenblick herrschte Stille.
»Psullus«, sagte Ravenor, indem er mit dem Geschick des
Diplomaten das Thema wechselte, »ich habe eine ganze Reihe von
Werken für Sie, die ich auf Lethe gesammelt habe, darunter auch ein
Palimpsest der Analecta Phaenomena …«
Psullus verwickelte den jungen Interrogator eifrig ins Gespräch.
Aemos, von Baigg und Nayl debattierten weiter über imperiales
Intrigieren. Bequin und Surskova wünschten eine gute Nacht und
zogen sich zurück. Ich ging mit meinem Kristallschwenker voll
Amasec zur Glaswand und schaute in die Tiefen des Ozeans. Nach
einem Moment gesellte sich Kircher zu mir. Er glättete die
Vorderseite seiner marineblauen Jacke und zog sich die schwarzen
Handschuhe an, bevor er das Wort ergriff. »Wir hatten letzten Monat
Eindringlinge«, sagte er leise. Ich drehte mich um. »Wann?«
»Tatsächlich drei Mal«, sagte er, »obwohl es mir erst beim dritten
Mal klar geworden ist. Vor etwa sechs Wochen hatte ich nachts
scheinbar eine beharrliche Reihe von Fehlalarmen an den
meerwärtigen Öffnungen. Sonst wurde nichts registriert, und die
Servitoren ersetzten diesen Teil des Systems. Eine Woche später
dasselbe am Lieferanteneingang zu den Vorratsräumen und den Au-
ßentüren zum Femininum-Anbau, beide in derselben Nacht. Ich
argwöhnte ein Systemversagen und setzte eine Überholung des
gesamten Alarmnetzes an. In der folgenden Woche stellte ich fest,
dass der Sicherheitscode für die Außenschlösser der Haupttür auf
null zurückgesetzt worden war. Jemand war hereingekommen und
wieder gegangen. Ich habe das ganze Haus durchgekämmt und in
den Wänden von sechs Räumen, darunter auch Ihre innersten
Gemächer, Korn-Diebe gefunden. Außerdem waren in drei
Kommunikationsknotenpunkten diskrete Fangschaltungen in Ton-
und Bildleitungen eingespleißt. Und jemand hat erfolglos versucht,
sich Zugang zu ihrem Deflektorschild-Tresor zu verschaffen, aber
anscheinend konnte man die Schildcodes nicht knacken.«
»Und es gab keine Spuren?«
»Keine Abdrücke, keine Mikrospuren, keine Follikel. Ich habe
sogar die Luft durch den Partikelschrubber geleitet und gewaschen.
Die Bildaufzeichner im Haus zeigen nichts an … nur einen
wunderbar getarnten Zeitsprung von vierunddreißig Sekunden. Die
Astropathen haben nichts gespürt. An einer Stelle muss der Ein-
dringling über vier Meter Unterboden-Druckplatten gelaufen sein,
ohne Alarm auszulösen. Im Nachhinein ist mir klar geworden, dass
die beiden Zwischenfälle zuvor keineswegs Systemfehler waren,
sondern Tests, um unser Sicherheitsnetz zu sondieren. Versuchsläufe
vor dem eigentlichen Eindringen. Dafür haben sie einen Zerhacker
am Haupteingang benutzt. Wenn sie ihn tatsächlich geknackt hätten,
hätten sie ihn hinterher neu hochfahren können, dann hätte ich nie
erfahren, dass es einen Einbruch gegeben hat.«
»Sie haben alles überprüft? Und keine Wanzen mehr gefunden?«
Er schüttelte den Kopf. »Herr Inquisitor, ich kann mich nur
entschuldigen für …«
Ich hob eine Hand. »Keine Ursache, Kircher. Sie haben Ihre
Arbeit gemacht. Zeigen Sie mir, was sie hinterlassen haben.«

Kircher entrollte ein rotes Filztuch auf einem Tisch in der Ruhe
der inneren Bibliothek. Er war nervös, und Schweißperlen tropften
von seinem kammartigen Schopf weißer Haare.
Ich hatte niemanden beunruhigen wollen, also hatte ich nur
Ravenor und Aemos zu uns gebeten. Der Raum roch nach dem
Teakholz der Regale, dem Muff der Bücher und dem Ozon der
Suspensorfelder, die besonders brüchige Manuskripte vor dem
endgültigen Zerfall bewahrten.
Das Filztuch wurde ausgebreitet. Darauf lagen neun winzige
Vorrichtungen, sechs Kom-Diebe und drei Fangschaltungen,
allesamt in einer Perle aus solidem Plastek eingeschweißt.
»Nach dem Fund habe ich sie in Trägheitsgel versiegelt, um
sicherzugehen, dass sie tot sind. Keine der Vorrichtungen war mit
einer Selbstvernichtung gesichert.«
Gideon Ravenor trat vor, hob einen der versiegelten Kom-Diebe
auf und hielt ihn ins Licht.
»Imperiale Fertigung«, sagte er. »Unbezeichnet, aber imperial.
Sehr hoch entwickelt, sehr hochwertig.«
»Das sehe ich auch so«, sagte Kircher.
»Militärisch? Sekular?«, fragte ich.
Ravenor zuckte die Achseln. »Wir könnten sie zu wahr-
scheinlichen Herstellern zurückverfolgen, aber die werden
vermutlich alle Arme des Imperiums ausrüsten.«
Aemos' augmetische Sehhilfen klickten und drehten sich, als er die
Gegenstände auf dem Tuch eingehend betrachtete. »Die
Fangschaltungen«, begann er, »sind genauso hochwertig. Es bedarf
eines besonderen Geschicks, sie mit Erfolg in einen Kom-Knoten
einzuspleißen.«
»Es bedarf eines besonderen Geschicks, auf diese Weise irgendwo
einzubrechen«, konterte ich.
»Sie tragen keine Herstellerbezeichnungen, aber es handelt sich
ganz eindeutig um höher entwickelte Modelle der Amplox-Serie.
Viel höher entwickelt als die massiven Einheiten, die das Militär
benutzt. Es ist nur Spekulation, aber ich würde sagen, das übersteigt
auch die Möglichkeiten des Ministorums. Es ist berüchtigt für seine
Rückständigkeit im technologischen Bereich.«
»Wer dann?«, fragte ich.
»Die Adeptus Mechanicus?«, riet er.
Ich verzog das Gesicht.
Er zuckte lächelnd die Achseln. »Oder zumindest eine
Körperschaft mit genug Macht und Einfluss, um sich derart
fortgeschrittene Vorrichtungen von den Adeptus Mechanicus zu
beschaffen.«
»Wie zum Beispiel?«
»Das Officio Assassinorum?«
»Das einbrechen würde, um zu töten, nicht, um zu lauschen.«
»Einverstanden. Dann ein mächtiges Haus mit Einfluss im
Servitorum Imperialis.« »Möglich …«, räumte ich ein. »Oder …«,
sagte er.
»Oder?«
»Oder die eine Institution des Imperiums, die solche
Vorrichtungen regelmäßig einsetzt und das Prestige und die
Entschlossenheit hat, um dafür zu sorgen, dass nur das beste Material
Verwendung findet.«
»Und die wäre?«
Aemos sah mich an, als sei ich begriffsstutzig. »Die Inquisition
natürlich.«

Ich schlief schlecht, unruhig. Drei Stunden vor dem Ende des
Nacht-Zyklus' richtete ich mich plötzlich hellwach im Bett auf.
Nur in das Laken gehüllt, in das ich mich gewickelt hatte, schlich
ich in den Flur, die Hand fest um die mattgraue kurzläufige Pistole
geschlossen, deren Aufbewahrungsort ein Halfter hinter dem
Kopfende meines Bettes war.
Mattes blaues Licht fiel in den Korridor und zeichnete alles weich.
Ich schlich vorwärts.
Ich hatte mich nicht getäuscht. Jemand trieb sich im unteren Foyer
herum.
Ich schlich die Treppe hinunter, die Waffe im Anschlag, und
versuchte meine Augen zu zwingen, sich an die Dunkelheit zu
gewöhnen.
Ich erwog, Alarm zu geben und Kircher und seinen Stab zu
alarmieren, aber wenn jemand im Haus und so geschickt war, an den
Alarmanlagen vorbeizukommen, dann wollte ich ihn fangen und
nicht mit einem Vollalarm verscheuchen. In den wenigen Stunden
seit meiner Ankunft im Ozeanhaus hatte sich ein hässlicher Gestank
nach Verrat in meine Welt geschlichen. Vielleicht war es mehr
Paranoia als alles andere, aber ich wollte dem ein Ende bereiten.
Ein weißer Lichtstrahl fiel durch den Spalt der halb geöffneten
Küchentür auf den Boden des Foyers. Ich hörte wieder eine
Bewegung.
Ich schlich zum Türrahmen, vergewisserte mich, dass die Pistole
entsichert war, und glitt mit der Waffe voran durch den Türspalt.
Die äußere Küche, ein Reich aus marmornen Arbeitsbuchten und
geschrubbten Aluminiumflächen, war leer. Metalltöpfe und andere
Utensilien hingen stumm an Deckenhaken. Ein leichter Geruch nach
Knoblauch und Küchenkräutern lag in der unbewegten Luft. In der
Speisekammer beim Kühlraum brannte Licht, dessen Schein den
Raum erfüllte.
Zwei Schritte, drei, vier. Der Steinfußboden der Küche war eiskalt
unter meinen nackten Füßen. Ich erreichte die Tür zur
Speisekammer. Dahinter war Bewegung. Ich trat die Tür auf und
sprang mit der kompakten Pistole im Anschlag hinein.
Medea Betancore, nur mit einem Ex-Garde-Unterhemd bekleidet,
stieß einen Schrei der Überraschung aus und ließ das Tablett mit
Ketelfisch-Resten fallen, über das sie sich hergemacht hatte. Das
Tablett klirrte auf die Kacheln vor dem geöffneten Kühlraum.
»Ihr Götter, Eisenhorn!«, heulte sie empört, während sie auf der
Stelle hin und her hüpfte. »Mach so etwas nicht!«
Ich war wütend. Ich nahm die Waffe nicht sofort herunter. »Was
machst du hier?«
»Essen? Hallo?« Sie grinste mich höhnisch an. »Ich hatte das
Gefühl, ich hätte eine Woche geschlafen. Ich bin völlig
ausgehungert.«
Ich ließ die Pistole langsam sinken. Ein Gefühl der Verlegenheit
sickerte in meinen aufgedrehten Zustand.
»Entschuldigung. Tut mir leid. Du hättest … vielleicht … etwas
anziehen können, bevor du hierher kommst und die Speisekammer
plünderst.« Es klang schon dumm, als ich es sagte. Wie dumm, ging
mir erst einen Moment später auf. Ich war mir zu schmerzhaft ihrer
langen, dunklen Beine und der Art bewusst, wie sich das Unterhemd
um die stolze Schwellung ihres Busens schmiegte.
»Leute, die im Glashaus sitzen … Gregor«, sagte sie, indem sie
eine Augenbraue hob.
Ich schaute nach unten. Bei dem Tritt gegen die Tür hatte ich mein
Bettlaken verloren. Ich war, was Midas Betancore immer »sehr
nackt« genannt hatte.
Natürlich abgesehen von der geladenen Pistole.
»Verdammt. Ich bitte nochmals um Verzeihung.« Ich drehte mich
um und bückte mich nach dem Laken.
»Mach dir meinetwegen keine Umstände«, kicherte sie.
Ich erstarrte in gebückter Haltung. Die Mündung einer Trosvasse
Parabellum zeigte aus der Dunkelheit hinter mir direkt auf meinen
Kopf.
Sie senkte sich. Harlon Nayl betrachtete mich einen Moment in
offener Bestürzung von oben bis unten und hob dann warnend einen
Finger an die Lippen. Er war vollständig bekleidet.
Ich wickelte mir das Laken um.
»Was ist?«, zischte ich.
»Jemand ist eingedrungen. Ich kann es spüren«, flüsterte er. »Der
Lärm, den ihr beide veranstaltet habt — ich dachte, das sei der
Eindringling. Ich wusste nicht, dass du so scharf auf Medea bist.«
»Ach, halt die Klappe.«
Wir schlichen beide durch die Außenküche zurück. Nayl zog sich
die Kapuze seines vulkanisierten schwarzen Trikotanzugs über den
Kopf, um seine helle, rasierte Kopfhaut zu verbergen. Er war ein
großer Mann, einen Kopf größer als ich, aber er verschmolz mit der
Dunkelheit. Ich achtete aufmerksam auf seine Signale.
Nayl winkte mich nach links durch den Flur. Ich vertraute seinem
Urteil völlig. Er hatte drei Jahrzehnte lang den innovativsten und
fähigsten Abschaum der Galaxis beschlichen. Wenn es Eindringlinge
gab, würde er sie finden.
Ich betrat den Hauptflur des Ozeanhauses und sah, dass die
vordere Eingangstür nur angelehnt war. Auf der Code-Anzeige des
Hauptschlosses blinkte eine Reihe voreingestellte Nullen.
Ich schwang herum, als hinter mir eine Waffe krachte. Ich hörte
Nayl aufschreien und rannte ins innere Foyer zurück. Nayl lag auf
dem Boden und rang mit einem unidentifizierbaren Mann.
»Aufstehen! Aufstehen! Ich bin bewaffnet!«, rief ich.
Zur Antwort schlug der unbekannte Eindringling Nayls Kopf so
hart auf den Fußboden, dass dieser das Bewusstsein verlor, und warf
dann Nayls schwere Pistole nach mir.
Ich schoss, ein Mal, und blies ein Loch in die Wand. Die
wirbelnde Waffe streifte mich an der Schläfe und schleuderte mich
zu Boden.
Ich hörte es mehrfach fleischig klatschten und knallen, dann ein
gutturales Ächzen, und dann Medea Betancore, die rief: »Licht an!«
Ich erhob mich. Sie stand über dem Eindringling, eine Hand
drohend zur Faust geballt, die andere am Saum ihres Unterhemds,
das sie züchtig herunterzog.
»Ich habe ihn«, sagte sie.
Der benommene Eindringling war von Kopf bis Fuß schwarz
gekleidet. Ich riss ihm die Kapuze ab. Es war Titus Endor.
»Gregor«, lispelte er durch blutige Lippen. »Du hast gesagt, du
bist zu Hause.«
VIER
Zwischen Freunden. Eine Unterhaltung mit Lord Rorken.
Der Apotropaische Kongress.

»Korn-Joiliq mit zerstoßenem Eis und einem Zitronenschnitz.«


Der in meinem Privatgemach sitzende Endor nahm das angebotene
Glas und grinste mich an. »Du erinnerst dich noch.«
»Wie viele Nächte haben wir in den guten alten Zeiten zusammen
verbracht, Titus, in denen ich dir dein Lieblingsgetränk öfter gemixt
habe, als ich zählen kann.«
»Ha! Ich weiß. Wie hieß der Laden noch, der in der
Zansiplestraße? Wo der Wirt den Gewinn versoffen hat?«
»Zum Durstigen Adler«, erwiderte ich. Er wusste es ganz genau.
Es war beinahe so, als prüfe er mich.
»Zum Durstigen Adler, genau! Wie viele Nächte, wie du schon
sagtest.«
Er hielt sein Glas mit der Mischung aus klarem Schnaps und Eis in
die Höhe.
»Hoch damit, runter damit und auf ein Neues!«
Ich wiederholte den alten Trinkspruch und stieß mein
Bleikristallglas voll altem Amasec gegen seins.
Für einen Moment war es tatsächlich wie in den guten alten
Zeiten. Wir waren beide neunzehn Jahre alt, voller Flausen und
Energie, gerade zu Interrogatoren befördert worden und bereit, es mit
der ganzen verdammten Galaxis aufzunehmen, Schüler des alten In-
quisitors Hapshant. Fünf Jahre später waren wir dann fast
gleichzeitig zu vollen Inquisitoren ernannt worden, und da hatte
unsere Laufbahn dann richtig begonnen.
Neunzehn Jahre alt, sturzbetrunken, nach Feierabend in einem
Loch in der Zansiplestraße zechend, hatten wir uns über unseren
illustren Mentor lustig gemacht und uns in jenem zweifelsfreien
Überschwang Freundschaft fürs Leben geschworen, der mir jetzt nur
in der Jugend möglich erscheint.
Es war fast wie die Betrachtung eines anderen Lebens, so weit
weg, beinahe unwiederbringlich. Ich war nicht mehr dieser Gregor
Eisenhorn. Und dieser Mann mit seinen langen, zu einem Zopf
geflochtenen grauen Haaren und dem vernarbten Gesicht, der in
einem die Körperwärme verbergenden Tarnanzug in meinem Pri-
vatgemach saß, war nicht dieser Titus Endor.
»Du hättest durchrufen können«, begann ich.
»Das habe ich.«
Ich zuckte die Achseln. »Du hättest uns heute Abend zum Essen
besuchen können. Jarat hat sich wieder mal selbst übertroffen.«
»Ich weiß. Aber andererseits …« Er hielt inne und schwenkte
nachdenklich das Eis in seinem Glas herum, so dass es leise klirrte.
»Aber andererseits wäre dann vielleicht bekannt geworden, dass
Inquisitor Endor Inquisitor Eisenhorn besucht.«
»Es ist allgemein bekannt, dass die beiden alte Freunde sind.
Warum wäre das ein Problem gewesen?«
Endor stellte sein Glas ab, öffnete die Reißverschlüsse an der
Hüfte und zog sich die obere Hälfte des Anzugs über den Kopf. Er
legte das Bekleidungsstück beiseite.
»Zu heiß«, bemerkte er. Sein Unterhemd war dunkel vom
Schweiß. Der Sauraptzahn hing immer noch an der schwarzen
Kordel um seinen Hals. Dieser Zahn. Vor Jahren hatte ich ihn aus
seinem Bein geholt, nachdem er die Bestie vertrieben hatte.
Brontotaph, vor zwölf Dekaden und noch mehr. Wir zwei neben
Hapshant in den Nebelmarschen.
»Ich bin wegen der Novene hier«, sagte er. »Ich wurde
herbefohlen, um in Orsinis Stab zu dienen, wie du, kann ich mir
vorstellen. Ich wollte mit dir reden, und zwar so inoffiziell wie
möglich.«
»Also bist du in mein Haus eingebrochen?«
Er seufzte tief, trank aus und ging zur Bar in der anderen
Zimmerecke, um sich noch ein Glas einzuschenken. »Du bist in
Schwierigkeiten«, sagte er.
»Tatsächlich? Wie das?«
Er drehte sich zu mir um, während er mit einem Schälmesser
Schalenstreifen von einer Zitrusfrucht schnitt. »Ich weiß nicht. Aber
es gibt Gerüchte.«
»Es gibt immer Gerüchte.«
Er drehte sich vollständig zu mir um. Seine Augen waren plötzlich
sehr hart und sehr glänzend. »Nimm das ernst.«
»Gut, das werde ich.«
»Du weißt, wie die Gerüchteküche ist. Irgendjemand muss immer
irgendwas beweisen oder eine Rechnung begleichen. Es gab
Geschichten. Zuerst habe ich sie abgetan.«
»Geschichten?«
Er seufzte wieder und kehrte mit dem aufgefüllten Glas auf seinen
Platz zurück. »Es gibt Gerede, du wärst… verdorben.«
»Was für Gerede?«
»Verdammt, Gregor! Ich bin kein Verdächtiger, den du verhörst!
Ich bin als Freund hergekommen.«
»Ein Freund, der in einem Tarnanzug einbricht und …«
»Würdest du wohl eine Minute den Mund halten?«
Ich hielt inne. »Mit Freuden. Wenn du zur Sache kommst.«
»Zuerst habe ich gehört, wie jemand schlecht über dich sprach.«
»Wer?«
»Das spielt keine Rolle. Ich habe mich eingemischt und ihnen
gesagt, wie ich darüber denke. Dann habe ich die Geschichte wieder
gehört. Eisenhorn ist verdorben. Er hat das Ziel aus den Augen
verloren.«
»Wirklich?«
»Dann änderten sich die Geschichten. Es hieß nicht mehr,
›Eisenhorn ist verdorbene es hieß, ›Die Leute, auf die es ankommt,
halten Eisenhorn für verdorben‹. Als sei der Verdacht gegen dich
plötzlich offiziell geworden.«
»Ich habe nichts gehört«, sagte ich, indem ich mich zurücklehnte.
»Natürlich nicht. Wer außer einem Freund würde es dir ins
Gesicht sagen … oder ein Richter von den Internen Ermittlungen?«
Ich hob die Augenbrauen. »Du machst dir wirklich Sorgen, Titus,
nicht wahr?«
»Ganz recht. Jemand hat es auf dich abgesehen. Jemand, der ganz
weit oben Gehör findet. Deine Karriere und deine Aktivitäten werden
unter die Lupe genommen.«
»Und das hast du alles ein paar Gerüchten entnommen? Hör auf,
Titus. Es gibt reichlich Inquisitoren, die ich mir dabei vorstellen
kann, wie sie versuchen, gegen mich zu punkten. Orsini ist ein
heimlicher Monodominator, und die puritanischen Idealisten bilden
einen Machtblock um ihn. Auf ihre Art sind sie Radikale. Das weißt
du. Wir Amalathianer sind zu zwielichtig für ihren Geschmack.«
Ich habe bereits erwähnt, wie sehr ich Politik hasse. Nichts ist
fruchtloser und ermüdender als die interne Politik der Inquisition
selbst. Meinesgleichen ist innerlich durch Glaubensfraktionen und
intellektuelles Sektierertum gespalten. Endor und ich, wir betrachten
uns als amalathianische Inquisitoren, was bedeutet, wir haben eine
optimistische Grundhaltung, arbeiten, um die Integrität des
Imperiums zu erhalten, und glauben, dass es dem Plan des göttlichen
Imperators gemäß funktioniert. Wir erhalten den Status quo. Wir
jagen schädliche Elemente: Ketzer, Nichtmenschen, Psioniker, die
drei wesentlichen Feinde der Menschheit — diese sind natürlich
unsere Primärziele -, aber wir stemmen uns gegen alles, von dem wir
glauben, dass es die imperiale Gesellschaft destabilisiert, bis hin zu
den Fraktionskämpfen der illustren Organe unserer Kultur und diese
eingeschlossen. Ich fand es schon immer sehr ironisch, dass wir eine
Fraktion werden mussten, um den Fraktionismus zu bekämpfen.
Wir bekennen uns dazu, Puritaner zu sein, und sind es gewiss
auch, verglichen mit den extrem radikalen Fraktionen der Inquisition
wie den Istvaanianern und den Rekongregatoren.
Doch gleichermaßen fremd ist uns der extreme rechte Flügel der
Inquisition, die Monodominatoren und die Thorianer, von denen
einige sogar den Einsatz ausgebildeter Psioniker für Ketzerei halten.
Wenn ich in Schwierigkeiten steckte, war es nicht das erste Mal,
dass ein Inquisitor von gemäßigter, moderater Gesinnung mit einer
extremen Seite seiner eigenen Organisation in Konflikt geriet.
»Das geht über bloße Fraktionsintrigen hinaus«, sagte Titus leise.
»Hier ist kein Hardliner am Werk, der beschlossen hat, den
Moderaten eins auszuwischen. Das geht speziell gegen dich. Sie
haben irgendwas in der Hand.«
»Was?«
»Etwas Konkretes gegen dich.« »Woher weißt du das?«
»Weil ich vor zwanzig Tagen auf Messina von Inquisitor Osma
vom Ordo Malleus festgenommen und verhört worden bin.«
Mir ging plötzlich auf, dass ich aufgesprungen war. »Du bist
was?«
Er winkte ab. »Ich hatte gerade eine Sache erledigt, die sich als
Zeitverschwendung erwiesen hatte, und packte meine Sachen für den
Flug nach Thracian. Osma kontaktierte mich, höflich und freundlich,
und fragte mich, ob wir uns treffen könnten. Ich bin zu ihm gegan-
gen. Alles ist sehr zivil abgelaufen. Er hat keinen Versuch
unternommen, mich festzuhalten … aber ich glaube nicht, dass ich
mich hätte verabschieden können, bevor er fertig war. Er war
vorsichtig, aber er hat keinen Zweifel daran gelassen, dass … seine
Leute mich aufgehalten hätten, falls ich beschlossen hätte, zu früh zu
gehen.«
»Das ist empörend!«
»Nein, das ist Osma. Du bist ihm doch sicher schon begegnet?
Einer von Orsinis Männern. Beziers rechte Hand. Ein Thorianer
durch und durch. Er legt es darauf an, auch zu bekommen, was er
haben will.«
»Und was hat er bekommen?«
»Von mir?« Endor lachte. »Nicht das Geringste, nur ein
erstklassiges Charakterzeugnis! Nach einer Stunde hat er mich gehen
lassen. Der Dreckskerl hat sogar vorgeschlagen, dass wir uns im
Laufe der Novene zu einem gemeinsamen Abendessen treffen.«
»Osma ist geschickt. Aalglatt. Also … damit stellt sich die Frage,
was er gewollt hat.«
»Er wollte dich. Er war an unserer Freundschaft und unserer
Geschichte interessiert. Er hat mich nach dir gefragt, als wollte er mir
etwas Persönliches und Verdammendes entlocken. Er hat selbst nicht
viel verraten, aber es war klar, dass er irgendwelchen Schmutz hatte.
Er muss einen Bericht gehabt haben, der dich kompromittiert hat,
direkt oder indirekt. Am Ende wusste ich, dass die Gerüchte, die ich
gehört hatte, nur die Wellen waren, die eine geheime Untersuchung
geschlagen hat. Da wusste ich, dass ich dich warnen muss … ohne
dass jemand von unserem Gespräch erfuhr.«
»Das sind alles Lügen«, sagte ich zu ihm.
»Was sind alles Lügen?«
»Das weiß ich nicht. Was immer sie glauben. Was immer sie
befürchten. Ich habe nichts getan, was der Aufmerksamkeit des Ordo
Malleus bedürfte.«
»Ich glaube dir, Gregor«, sagte Endor auf eine Art, die mir verriet,
dass er es zweifellos nicht tat.

Wir gingen mit unseren Getränken auf die Meeresterrasse. Er


betrachtete die kaleidoskopischen Wirbel des Leuchtplanktons und
sagte: »Sie haben gerade erst angefangen.«
Ich nickte und schaute in das Glas in meinen Händen. »Auf Lethe
… war Tantalid hinter mir her. Da habe ich noch angenommen, er
wollte eine alte Rechnung begleichen, aber nach allem, was du heute
erzählt hast, zweifle ich jetzt daran.«
»Sei vorsichtig«, murmelte er. »Hör mal, Gregor, ich sollte jetzt
gehen. Das hätte ein schöneres Wiedersehen alter Freunde werden
müssen.«
»Ich danke dir für das Risiko, das du eingegangen bist. Für die
Mühe, die es gekostet hat, mir das mitzuteilen.«
»Du würdest dasselbe tun.«
»Das würde ich. Noch eine letzte Frage. Wie bist du
reingekommen?« Er fuhr herum und sah mich scharf an. »Was?«
»Hier. Heute Nacht.«
»Ich habe einen Zerhacker für den Eingang benutzt.«
»Du hast den Alarm umgeleitet.«
»Ich bin kein Neuling, Gregor. Mein Zerhacker war darauf
programmiert, das ganze System auf null zurückzusetzen.«
»Nette Ausrüstung. Darf ich mal sehen?«
Er zog einen kleinen Gegenstand aus der Hüfttasche und gab ihn
mir.
»Ein Amplox-Modell«, stellte ich fest. »Ziemlich hoch-
entwickelt.«
»Ich benutze nur das Beste.«
»Ich auch. Die habe ich auch schon benutzt. Meiner Erfahrung
nach funktionieren sie am besten nach ein paar Tests.«
»Inwiefern?«
»Nach ein, zwei Probeläufen. Um sich Zugang zu dem System zu
verschaffen, in das man eindringen will. Ein paar harmlose
Versuche, um die Sicherheit abzuschätzen und dem Zerhacker die
Möglichkeit zu geben, sich anzupassen und zu lernen, womit er es zu
tun hat.«
»Ja, das habe ich gemacht, wenn ich genug Zeit hatte. Diese
Dinger lernen schnell. Aber sie erledigen ihre Arbeit auch auf der
Stelle, wenn die Zeit knapp ist.«
»Wie heute Nacht?« Ich gab ihm den Gegenstand zurück.
»Ja … worauf willst du eigentlich hinaus?«
»Du bist heute direkt reingekommen? Ohne vorherige
Probeläufe?«
»Sicher. Mit diesem Besuch bin ich einer spontanen Eingebung
gefolgt. Und bis mir dieses hübsche Miststück von dir ins Gesicht
getreten hat, konnte ich mich glücklich schätzen, so weit gekommen
zu sein.«
»Also warst du nicht schon mal hier? Du bist nicht vorher schon
mal eingedrungen?«
»Nein«, sagte er scharf. Entweder ich hatte ihn beleidigt oder…
»Geh, wenn du musst«, sagte ich.
»Gute Nacht, Gregor.«
»Gute Nacht, Titus. Ich würde ja anbieten, dich hinauszubegleiten,
aber ich glaube du kennst den Weg gut genug.«
Er grinste, hob sein Glas und trank es in einem Zug leer.
»Hoch damit, runter damit und auf ein neues!« »Das hoffe ich«,
erwiderte ich.

Der Palast der Inquisition auf Thracian Primaris liegt hoch in den
Wolkenbereichen von Makropole Vierundvierzig. Er hat selbst die
Größe einer Kleinstadt und ist die Hauptniederlassung der Inquisition
im helicanischen Subsektor mit einem permanenten Stab von
sechzigtausend Personen. Ich bringe keine Entschuldigungen für
seine schwarzen Specksteinfassaden, die abgedunkelten Fenster und
die schützenden Reihen eiserner Stachel vor. Kritiker der Inquisition
mögen ihre Architektur als beinahe komisch übertrieben betrachten
und vorbringen, ihre absichtliche dunkle Bedrohlichkeit leiste den
Befürchtungen der breiten Öffentlichkeit hinsichtlich des Wesens der
Inquisition Vorschub. Und ich würde sagen, genau das ist der Sinn
der Sache. Furcht hält die Reihen der Bevölkerung geschlossen,
Furcht vor einer Institution, die so schrecklich ist, dass sie nicht
zögern wird, sie für Übertretungen zu bestrafen.
Zu Beginn des nächsten Tageszyklus' fuhr ich in Begleitung von
Aemos, von Baigg und Thula Surskova zum Palast. Ironischerweise
fühlte ich mich mit nur drei Begleitern an meiner Seite verwundbar.
Ich hatte mich im Lauf der letzten Jahrzehnte an ein großes Gefolge
gewöhnt. Ich musste mich daran erinnern, dass es eine Zeit gegeben
hatte, in der mein ganzes Gefolge aus drei Personen bestand.
Der Palast der Inquisition ist kein Ort für beiläufige oder zufällige
Besprechungen. Von innen ist er ein düsteres Labyrinth aus
schattigen Fluren, Deflektorschilden und Undurchsichtigkeitsfeldern.
Stab und Besucher bewegen sich im Schutz maskierender
Energiefelder, um ihre Geschäfte vertraulich erledigen zu können.
Nach dem Betreten der hallenden Eingangshalle wurde uns eine
Drohne zugewiesen, die in Schulterhöhe schwebte und einen
isolierenden Kegel der Stille um uns projizierte. Man bot uns einen
astropathischen Adepten an, um unsere Privatsphäre zu garantieren,
aber ich lehnte ab. Surskova mit ihrer Unberührbarkeit war alles, was
ich brauchte.
Die Kapuzen tragenden Wachen der Inquisition in ihren
burgunderfarbenen, mit Blattgold durchsetzten Rüstungen, auf denen
unser Amtssiegel prangte, führten uns über den schwarzen
Marmorboden und hielten dabei ihre beidhändig zu führenden
Energieklingen aufrecht vor sich. Glitzernde
Undurchsichtigkeitsfelder rechts und links bildeten einen soliden,
summenden Energiekorridor, der uns von unserer Umgebung trennte.
Alain von Baigg spielte unterwegs geistesabwesend mit seinem
hohen Kragen. Er war nervös. Die bedrückend bedrohliche
Atmosphäre des Palasts verfehlte ihre Wirkung sogar auf seine
eigenen Diener nicht.

Lord Rorken erwartete uns in seinen Privatgemächern. Ein


Deflektorschild löste sich auf, um uns durch einen runden Durchgang
zu lassen, und flackerte sofort wieder auf, als wir auf der anderen
Seite waren. Die Wachen begleiteten uns nicht. Ich sagte meinen
Begleitern, sie sollten in dem strengen Vestibül auf mich warten, wo
zwei gusseiserne Bänke mit einem Haufen weißer Satinkissen
standen. Ich schritt durch die Innentür.
Ich trug schwarze Kleidung und darüber einen dunkelbraunen,
dreiviertellangen Ledermantel. Mein Inquisitionswappen prangte am
Hals. Auch meine Begleiter waren förmlich gekleidet. Man ging
nicht in Freizeitkleidung zum Oberhaupt des Ordo Xenos.
Im Empfangszimmer war es blendend hell. Die Wände waren
Spiegel in Goldbronzerahmen, und der Boden bestand aus poliertem
cremefarbenen Marmor. Tausende Kerzen brannten, überall, in
Ständern, in gegabelten Leuchtern oder auch direkt auf dem Boden.
Die Spiegel reflektierten ihr Licht. Es war so, als stehe man in einem
Prisma, das goldenes Sonnenlicht einfing.
Ich blinzelte und hob die Hand, um meine Augen abzuschirmen.
Ich sah hunderte anderer Männer in dunkelbraunem Mantel dasselbe
tun. Meine Spiegelbilder. Viele Gregor Eisenhorns, von glitzernden
Kerzen eingerahmt. Ich sah, dass ich nervös aussah.
Das ging nicht an.
»Niemand kann dem durchdringenden Schein des Lichts der
Inquisition entkommen«, sagte eine Stimme.
»Denn dies zu tun, bedeutet zwangsläufig, sie umarmen die
äußerste Finsternis«, beendete ich das Zitat.
Rorken kam auf mich zu. »Sie kennen Ihren Catuldynas gut,
Eisenhorn.«
»Seine Sinnsprüche gefallen mir. Seine späten Allegorien habe ich
nie gemocht.«
»Zu trocken?«
»Zu spitzfindig. Zu manieriert. Für meinen Geschmack war
Sathescine die überlegene Stimme. Weniger … bombastisch.«
Rorken lächelte und nahm meine Hand. »Also schätzen Sie
poetische Schönheit höher ein als Inhalt?«
»Schönheit ist Wahrheit und Wahrheit Schönheit.«
Er hob eine Augenbraue. »Was ist das?«
»Ein prä-imperiales Fragment, das ich einmal gelesen habe.
Anonym. Was Ihre erste Frage betrifft, würde ich Sathescine
Catuldynas zum Vergnügen vorziehen und darauf bestehen, dass
meine Novizen Catuldynas wiederholt lesen, bis sie ihn so gut
zitieren können wie ich.«
Rorken nickte. Er war ein kompakter Mann, dessen Kopf bis auf
einen kurzen Kinnbart völlig kahl war, und er trug eine rote Robe
über schwarzen Kleidern und Handschuhen. Es war unmöglich, sein
Alter zu schätzen, aber er musste mindestens dreihundert Jahre alt
sein, denn er bekleidete sein hohes Amt bereits eineinhalb
Jahrhunderte. Dank augmetischer Chirurgie und
Verjüngungstechniken sah er wie Ende vierzig aus.
»Kann ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?«, fragte er.
»Danke, nein. Die Nuntiatur hat mir während der Novene einen
vollen Terminplan beschert, also wäre ich dankbar, wenn wir gleich
zur Sache kommen könnten.«
»Die Nuntien des Ministorums haben uns allen volle Terminpläne
beschert. Der Kriegsherr hat ihnen den Auftrag erteilt, diese Feier so
pompös wie möglich zu gestalten. Und der Gregor Eisenhorn, den
ich kenne, wird sich nicht an ihre Termine halten, wenn er es ein-
richten kann.«
Ich gab keine Antwort. Das war eine vielsagende Bemerkung.
Ich wurde wachsam. Rorken und ich hatten eine gute
Arbeitsbeziehung, und ich hatte das Gefühl, dass er mir seit der
Affäre mit dem Nekroteuch vor achtundneunzig Jahren vertraute.
Seitdem war es ihm ein Vergnügen gewesen, mich anzuleiten, zu
führen und meine Fälle persönlich zu begutachten. Aber man
freundete sich nicht mit dem Oberhaupt des Ordo Xenos Helican an.
»Nehmen Sie Platz. Sie können ein wenig Zeit für mich erübrigen,
glaube ich.«
Wir saßen auf hochlehnigen Stühlen beiderseits eines niedrigen
Tisches, und er reichte mir gekühltes Wasser, das aus den
Eisenquellen von Gidmos importiert war.
»Ein stärkendes Getränk. Mir ist zu Ohren gekommen, dass die
Beidame sie auf Lethe Elf einer schweren Prüfung unterzogen hat.«
Ich holte eine Datentafel aus meiner Manteltasche. »Ein erster
Entwurf meines vollständigen Berichts«, sagte ich, indem ich sie ihm
gab.
Er nahm sie und legte sie ungelesen auf den Tisch. »Wissen Sie,
warum ich Sie um diese Unterredung gebeten habe?«
Ich stutzte und ging dann ein kalkuliertes Risiko ein. »Wegen der
Gerüchte, ich wäre verdorben.« Er neigte interessiert den Kopf. »Sie
haben sie gehört?«
»Sie sind mir zugetragen worden. Kürzlich.« »Ihre Reaktion?«
»In aller Offenheit? Verwirrung. Ich weiß nicht, worum es in den
Geschichten eigentlich geht. Ich habe das Gefühl, jemand muss Groll
hegen.«
»Gegen Sie?«
»Gegen mich ganz persönlich.«
Er trank einen Schluck Wasser. »Bevor wir fortfahren, muss ich
Sie fragen … Gibt es einen Grund, irgendeinen noch so kleinen
Grund, warum diese Geschichte aufgekommen ist?«
»Wie ich schon sagte, ein Groll ist…«
»Nein«, sagte er eindringlich. »Sie wissen genau, wonach ich Sie
frage.«
»Ich habe nichts getan«, sagte ich.
»Ich nehme Sie beim Wort. Sollte ich zu einem späteren Zeitpunkt
herausfinden, dass Sie lügen oder mir auch nur etwas vorenthalten
haben, werde ich … ungehalten sein.«
»Ich habe nichts getan«, wiederholte ich.
Er legte die Hände zusammen, so dass sich die Fingerspitzen
berührten, und betrachtete das Kerzenmeer. »Es geht um Folgendes:
Ein Inquisitor — wer, spielt keine Rolle - hat mir im Vertrauen von
einer bestürzenden Begegnung berichtet. Ein Dämonenwirt hat sein
Leben verschont, weil er ihn für Sie gehalten hat.«
Die Vorstellung entsetzte und faszinierte mich gleichermaßen.
»Ich kann es nicht bestätigen, aber der Dämonenwirt wurde als
Cherubael identifiziert.«
Jetzt wurde mir kalt ums Herz. Cherubael.
»Sie hatten seit 56-Izar keinen Kontakt mit diesem Wesen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Lordinquisitor. Und das war vor
beinahe einem Jahrhundert.«
»Aber seitdem sind Sie auf der Suche nach ihm?«
»Daraus habe ich kein Geheimnis gemacht. Cherubael ist das
Werkzeug eines unsichtbaren Feindes, dessen Machenschaften sogar
ein Mitglied unseres Ordens einschloss.«
»Molitor.«
»Ja, Konrad Molitor. Ich habe sehr viel Zeit und Mühe darauf
verwendet, die Wahrheit über Cherubael und seinen unsichtbaren
Meister herauszufinden, aber alles war fruchtlos. Zehn Dekaden, und
nur ganz spärliche Hinweise.«
»Wie Sie wissen, ist die Tatsache von Cherubaels Beteiligung an
der Nekroteuch-Affäre dem Ordo Malleus mitgeteilt worden. Ihm ist
es ebenfalls nicht gelungen, eine Spur von ihm zu finden.«
»Wo soll diese Begegnung stattgefunden haben?«
Er zögerte kurz. »Vogel Passionata.«
»Und der Dämon glaubte, mich zu verschonen?«
»Die Implikation war, dass diesem Wesen eine bessere
Verwendung für Sie vorschwebte. Es deutete stark auf … einen Pakt
zwischen ihm und Ihnen hin.«
»Unsinn!«
»Das hoffe ich …«
»Das ist wirklich Unsinn, Lordinquisitor!«
»Das hoffe ich, Eisenhorn. Großmeister Orsini hat nichts für
radikale Elemente in der Inquisition übrig. Selbst wenn er nicht so
hart wäre, könnte ich das nicht gutheißen. Im Ordo Xenos Helican ist
kein Platz für jene, die mit dem Chaos paktieren.« »Ich verstehe.«
»Das würde ich Ihnen raten.« Rorkens Miene war jetzt streng und
finster. »Ihre Suche nach diesem Wesen dauert an?«
»In diesem Augenblick habe ich Agenten im Feld, die es jagen.«
»Mit Anzeichen für Erfolg?«
Ich dachte an die Glossia-Nachricht, die ich in der Nacht zuvor
empfangen hatte. »Nein«, sagte ich, meine erste und einzige Lüge in
dieser Unterhaltung.
»Der fragliche Inquisitor hat mich gedrängt, die Angelegenheit
dem Ordo Malleus vorzutragen. Ich werde nicht einen meiner besten
Männer der Gnade von Beziers Hunden ausliefern. Die
Angelegenheit bleibt ordensintern.«
»Warum dann aber die Geschichten?«
»Das hat mich auch verblüfft. Irgendwie ist etwas durchgesickert.
Ich hielt es für angeraten, Ihnen mitzuteilen, dass der Ordo Malleus
Sie unter die Lupe nehmen könnte.«
Die zweite Warnung binnen zwölf Stunden.
»Ich schlage vor, Sie verlassen Thracian und setzen andere
Arbeiten fort, bis sich die Angelegenheit in Wohlgefallen auflöst«,
sagte er. »Aber auf dem Apotropaischen Kongress ist Ihre
Anwesenheit erforderlich.«

Mosaiksteine fügten sich zusammen. Das schiere Ausmaß der


Triumphfeier, die Größenordnung der Novene, all das war durchaus
angemessen, aber die Zahl der berufenen Inquisitoren war gelinde
gesagt ein plumper Schachzug. Würdenträgern des Militärs und der
Ekklesiarchie mag man befehlen können, solchen Veranstaltungen
beizuwohnen, aber Inquisitoren sind eine andere Gattung, unnahbarer
… unabhängiger. Für uns ist es ungewöhnlich, in großer Menge
zusammengerufen zu werden, vor allem durch solche unanfechtbaren
Befehle. Ich hatte angenommen, Orsini werfe sein Gewicht in die
Waagschale, um den Kriegsherrn Helican zu beeindrucken.
Doch das war nicht der Fall. Es sollte einen Apotropaischen
Kongress geben. Deswegen waren wir herbestellt worden.
Apotropaische Studien werden ständig von der Inquisition
durchgeführt und beinhalten gewöhnlich ein bis drei Inquisitoren. Im
größeren Maßstab werden sie Konzile genannt und erfordern ein
Minimum von elf Inquisitoren. Noch größere Veranstaltungen sind
ein Kongress. Solche Versammlungen sind extrem selten. Ich wusste
mit Sicherheit, dass mein verstorbener Meister Hapshant den letzten
in diesem Subsektor abgehaltenen Kongress besucht hatte. Das war
zweihundertneunundsiebzig Jahre her.
Der Zweck dieser Studien, auch auf niedrigster Ebene, besteht in
der akuten Untersuchung und Beurteilung ungewöhnlich wertvoller
Gefangener. Einmal in Gewahrsam der Inquisition, wird ein
verdorbener Psioniker, ein charismatischer Ketzer, ein
nichtmenschlicher Kriegsmeister … was auch immer … einer
manchmal langwierigen offiziellen Untersuchung unterzogen, die
sich sehr von der Untersuchung seiner tatsächlichen Verbrechen
unterscheidet. Oft sind sie bereits verurteilt und warten nur noch auf
die Vollstreckung. In diesem Stadium will die Inquisition ihr Wissen
erweitern, um das Wesen der Feinde der Menschheit besser verste-
hen zu können. Die Gefangenen werden seziert, gewöhnlich
intellektuell, manchmal psionisch und gelegentlich buchstäblich, um
ihre Stärken, Schwächen, Antriebe und Überzeugungen zu
ergründen. Auf diese Weise haben Apotropaische Konzile schon
bedeutende Wahrheiten entdeckt, welche den Dienern des Imperiums
bei späteren Zusammenstößen sehr dienlich waren. Als Beispiel sei
der berühmte Sieg der Imperialen Garde über die Metabrut der Ezzel
genannt, der nur möglich war, weil bei der Untersuchung einer
Späherform der Ezzel durch das Apotropaische Konzil von Adiemus
Ultima im Jahre 883.M40 eine Methode gefunden worden war, wie
man ihre Anwesenheit entdecken kann.
Das Ausmaß der Befragung hängt von Anzahl oder Umfang der
Subjekte ab.
»Im Zuge des letzten größeren Gefechts der Ophidischen
Unterdrückung bei Dolsene hat der Kriegsmeister dreiunddreißig
Ketzer-Psioniker der Alphastufe und darüber gefangen genommen«,
sagte Rorken zu mir, indem er mir eine Datentafel zeigte. Die Sicher-
heitsfreigabe war so hoch, dass sogar ich beeindruckt war.
»Irgendwie waren sie dazu ausgebildet, den warpgeborenen Schmutz
herbeizuholen und in sich zu beherbergen, und sie bildeten das
Rückgrat der Verteidigung des feindlichen Oberkommandos, das
schlagende Herz des Gegners.«
»Wie wurden sie gefangen? Lebendig, meine ich?« Es war
erstaunlich. Nicht ausgebildete Psioniker sind schon erschreckend
genug, da ihr Verstand immer das grässliche Potenzial hat, ein Tor
ins Immaterium zu öffnen und die Dämonen in unser Universum
fluten zu lassen. Aber diese … diese Unholde hatten irgendwie
gelernt -oder waren dazu ausgebildet worden -, ihre warpgeborenen
Fähigkeiten zu benutzen, um die Dämonen in sich zu beherbergen
und deren verdammenswerte Kraft zu benutzen. Ich schrak in
Gedanken vor der Gefahr zurück, die sie dargestellt hatten und
immer noch darstellten, obwohl sie unsere Gefangenen waren.
Rorken zeigte auf die Tafel in meinen Händen. »Sie finden eine
Zusammenfassung des Vorfalls dort als Anhang der Hauptliste. Kurz
gesagt, es war Glück, Glück und die erstaunliche Courage der
Adeptus Astartes in Zusammenarbeit mit den Inquisitoren Heidane,
Lyko und Voke.«
»Voke… Commodus Voke.«
»Ich vergaß, dass Sie alte Freunde sind — nicht wahr? Er war in
die Glaw-Affäre auf Gudrun verwickelt, kurz vor dem Schisma.«
»Alte Freunde ist wahrscheinlich übertrieben. Wir haben
zusammen gearbeitet. Wir haben uns gegenseitig Respekt
abgerungen. Seitdem habe ich ihn hin und wieder getroffen. Ich bin
erstaunt, dass der alte Spürhund noch lebt.«
»Noch lebt trotz der Prognosen mehrerer Generationen
medizinischer Experten. Und er ist immer noch stark. Das zu
erreichen, in der Dämmerung seiner Tage …«
Ich nickte. Auch ein rasches Überfliegen des Vorfalls ließ einen
Akt von geradezu mythischer Tapferkeit ahnen. Vokes Dienst am
Imperator übertraf wie immer jegliche vernünftige Maßgabe bloßer
Pflichterfüllung.
»Heidane kenne ich auch. Er war Vokes Schüler. Also ist er
endlich zum Inquisitor befördert worden?«
»Vor sechzig Jahren … Eisenhorn, Sie führen ein einsames Leben,
nicht wahr?«
»Wenn Sie damit meinen, dass ich nicht auf dem Laufenden bin,
was Wahlen und das Treiben anderer Inquisitoren angeht, dann
haben Sie sicher recht. Ich konzentriere mich auf meine Arbeit und
die Erfordernisse meines Stabs.«
Er lächelte, als zeige er sich nachsichtig. Tatsächlich war meine
Einstellung nicht so ungewöhnlich. Wie ich schon sagte, wir von der
Inquisition sind ein unnahbarer, unabhängiger Schlag und haben
wenig Interesse an den Angelegenheiten unserer Kollegen. Ich sah
noch einen weiteren Unterschied zwischen mir und Rorken. Welchen
Rang und welches Dienstalter ich auch besaß, ich arbeitete im Feld,
war ein Macher, der Monate oder sogar Jahre in den entfernten
Regionen der Halozone unterwegs war. Sein Rang fesselte ihn an den
Palast und verwickelte ihn in die Intrigen und Mechanismen der
herrschenden Klassen des Imperiums im Allgemeinen und der
Inquisition im Besonderen.
Commodus Voke war mir als giftige alte Natter im Gedächtnis
haften geblieben, aber auch als entschlossener Verbündeter. In der
Nekroteuch-Affäre, in der er sich auf dem Totenbett wähnte, hatte er
mich angefleht, seinen Schüler Heidane zu übernehmen. Das hatte
ich ihm versprochen, doch als Voke dann genas, war das
Versprechen nie erfüllt worden. Er hatte dafür gesorgt, dass Heidane
seine Rosette bekam.
Heidane … ich hatte ihn nie auch nur im Geringsten gemocht.
Lyko, dem dritten Mitglied des ruhmreichen Trios, war ich noch
nie begegnet, aber ich kannte ihn seinem Ruf nach als Inquisitor,
dessen Stern sehr stark im Aufgehen begriffen war. Ihre spektakuläre
Leistung auf Dolsene würde ihrer aller Karriere extrem förderlich
sein.
Ich ging die Liste der Inquisitoren durch, die gerufen worden
waren, um den Kongress zu bilden, und sie enthielt auch meinen
Namen. Alles in allem waren es sechzig. Titus Endor gehörte
ebenfalls dazu. Ebenso wie Osma und Bezier. Manche Namen wie
Schongard, Hand und Reiker gehörten zu Männern, mit denen im
selben Raum zu sein ich wenig Neigung verspürte. Andere —
natürlich Endor sowie Shilo, Defay und Cuvier waren Leute, die
wiederzusehen mir ein Vergnügen sein würde.
Manche Namen kannte ich kaum oder hatte ich noch nie gehört.
Andere waren berühmte oder berüchtigte Inquisitoren, die ich nur
ihrer Reputation nach kannte. Es war schon eine illustre
Versammlung, die aus dem gesamten Sektor zusammengerufen
worden war.
»Meine Zugehörigkeit zur Liste?«, begann ich.
»Ist keine Überraschung. Sie sind ein langjähriger und geachteter
Vertreter unseres Amts.«
»Ich danke Ihnen, Lordinquisitor. Aber ich frage mich, ob Voke
mich persönlich angefordert hat.«
»Das wollte er«, antwortete mir Rorken, »aber da waren Sie längst
nominiert worden.«
»Von wem?«
»Inquisitor Osma«, erwiderte er.
FÜNF
Der Triumphzug. Am Spatiantor. Die Reihe bricht.

Trotz meiner Verurteilung des übertriebenen Prunks der Novene


will ich gern zugeben, dass mich der Große Triumphzug des ersten
Tages mit einem Gefühl des Stolzes und Überschwangs erfüllte.
In der Makropole Primaris, der größten und mächtigsten
Makropole auf Thracian, graute der Morgen mit einem Chor von
Sirenen und einer Kakophonie aus Glockengeläut. Ministorum-
Messen wurden auf allen knisternden Bildkanälen und öffentlichen
Kom-Diensten direkt vom Denkmal der Ekklesiarchie übertragen.
Die belegten Gesänge von Kardinal Anderucias tönten durch die
riesige Makropole und überlappten sich infolge der Echos und
Doppler-Verzerrungen wie ein gigantischer Kanon.
Zivilisten und Pilger fluteten zu Millionen auf die Straßen der
Makropole Primaris, verstopften die Verkehrsadern und
Zubringertunnel und schwärzten den Himmel mit ihren Schwebern.
Viele wurden zu den umliegenden Makropolen umgeleitet, um die
Feierlichkeiten auf riesigen hololithischen Schirmen zu beobachten,
die in Stadien und Amphitheatern extra für dieses Ereignis errichtet
worden waren.
Die Arbites mühten sich, die Flut der Menschen zu kontrollieren
und die Strecke des Triumphzuges freizuhalten.
Der Tagzyklus begann strahlend. In der Nacht hatten Scharen von
Lenkballons des Officium Meteorologicus die Smogfelder und
oberen Wolkenschichten mit Ruß und anderen chemischen
Fällungsmitteln behandelt. Noch vor Morgengrauen war ein
Wolkenbruch mit einer Ausdehnung von sechzehnhundert
Kilometern niedergegangen, hatte die Wolken aufgelöst und in den
wichtigsten Makropolen Schmutz und Dreck weggespült. Zum ersten
Mal seit Jahrzehnten war der Himmel klar. Nicht wirklich blau, aber
frei von gelben Smogwolken. Das Sonnenlicht drang durch die
Atmosphäre, und die Kämme und Türme der Makropolen strahlten.
Aus inoffiziellen Quellen hatte ich gehört, dass dieser radikale Akt
der Wetterkontrolle auf Jahrzehnte hinaus eklatante Konsequenzen
negativer Art für das ohnehin arg strapazierte Klima des Planeten
haben würde. Man rechnete noch vor Ende der Woche mit
Wirbelstürmen in den südlichen Regionen, und die Kanalisation der
primären Makropolen war durch den extremen Regen angeblich
überlastet und kurz vor dem Überlaufen.
Außerdem hieß es, dass die Meere dank der Überdosis von
Umweltgiften, die ihnen durch den Regen so plötzlich verabreicht
worden war, schneller sterben würden.
Doch der Kriegsherr Helican hatte darauf bestanden, dass die
Sonne auf seine Siegesparade herabschien.

Ich traf früh ein, um meinen Platz einzunehmen, da ich den großen
Verkehrszufluss in die Makropole fürchtete. Ich nahm Ravenor mit.
Wir trugen unsere beste Kleidung, zeigten stolz unsere Embleme und
hatten Parade-Waffen angelegt.
Medea Betancore flog uns und landete auf einer reservierten
Flottenbasis im Süden des Imperialen Panzerdepots. Nach unserer
Landung waren die Luftkorridore so verstopft, dass ihr nichts
anderes übrig blieb, als dort den ganzen Tag zu warten. Ein Rückflug
war unmöglich. Sie wünschte uns einen guten Tag und schlenderte
über die Basis, um mit den Mechanikern zu plauschen, die mit der
Wartung eines Marodeurs beschäftigt waren.
Ein Privatwagen, von der Nuntiatur arrangiert, brachte Ravenor
und mich zu den alten Gründungsfeldern der Makropole an der
Lempenor-Allee, wo sich die Inquisition sammeln und in den Zug
eingliedern sollte. Durch die Fenster der dahinrasenden
Schweberlimousine sahen wir Dampf von den leeren, regennassen
Straßen aufsteigen. Trotz seiner Bemühungen würde der Kriegsherr
Helican noch vor dem Mittag Wolken bekommen.
Ich beugte mich im Passagierabteil des Fahrzeugs vor und rückte
Ravenors Interrogator-Rosette zurecht. Er sah nervös aus, ein
Ausdruck, den ich normalerweise nicht mit ihm in Verbindung
brachte. Er sah außerdem wie das Ebenbild eines Inquisitors aus. Mir
ging auf, dass er eigentlich gar nicht nervös wirkte, sondern nur jung.
Wie ein Mann, der es eilig hatte, sich seinen trinkenden Freunden im
Durstigen Adler auf der Zansiplestraße anzuschließen.
»Was ist denn?«, fragte er lächelnd.
Ich schüttelte den Kopf. »Das wird ein wichtiger Tag, Gideon.
Sind Sie bereit dafür?«
»Absolut«, sagte er.
Mir fiel auf, dass er seinem Uniformschmuck das
Stammesabzeichen des Klans Esw Sweydyr hinzugefügt hatte.
»Eine passende Note«, bemerkte ich mit einer Geste darauf.
»Das finde ich auch«, sagte er.

Der Triumphzug begann um zehn Uhr. Ein ohrenbetäubender


Lärm von Hupen und Sirenen scholl durch die Makropole, gefolgt
von einem Massenjubel, der mir den Atem raubte. Mittlerweile
waren die Straßen gerammelt voll mit zwei Milliarden jubelnden
Einwohnern.
Zwei Milliarden Stimmen, die sich zu einer erhoben. Das kann
man sich nicht vorstellen.

Bei Sonnenschein und von kolossalem Jubel begleitet setzte sich


der Triumphzug vom Panzerdepot in Bewegung. Er sollte auf einer
achtzehn Kilometer langen Route der einen Kilometer breiten Victor-
Bellum-Allee entlang direkt ins Herz der Makropole bis zum Denk-
mal des Ekklesiarchen folgen. Millionen säumten den Weg, jubelten,
applaudierten und schwenkten Banner und Imperiumsflaggen.
Vorneweg rollten achtzig Panzer des Fünften Thracian, an deren
Antennenmasten Wimpel flatterten. Hinter ihnen schmetterte die
Regimentskapelle der Fünfzigsten Gudruner Infanterie den
herrschaftlichen Marsch der Primarchen.
Dann die Standartenträger: fünfhundert Mann mit den zahlreichen
Wappen und Bannern, welche die Einheiten und Regimente
repräsentierten, die an der Ophidischen Unterdrückung
teilgenommen hatten. Es dauerte allein eine Stunde, bis diese alle
vorbei waren.
Ihnen folgte die Große Standarte des Imperators, ein riesiges
Adler-Symbol wie das Hauptsegel eines Klippers und so groß, dass
es eines klobigen, ungeschlachten und unglaublich alten Cybots von
den White Consuls bedurfte, sie zu heben und daran zu hindern, vom
Wind davongetragen zu werden. Der Cybot wurde von fünf
Superschweren Panzern des Typs Baneblade begleitet.
Dahinter rollten die Toten. Jeder Leichnam eines imperialen
Soldaten, der in der Endphase des Krieges hatte geborgen werden
können, befand sich in einem von fünfzehnhundert für diese Aufgabe
schwarz lackierten Rhinos. Hundert mächtige Space Marines des
Aurora-Ordens marschierten neben den tuckernden Maschinen und
hielten mit schwarzen Girlanden geschmückte Plakate mit den in
Goldbuchstaben aufgedruckten Namen der Toten in die Höhe.
Es war Mittag, als der marschierende Rest des Aurora-Ordens,
allesamt in vollständiger, polierter Imperator-Rüstung,
vorbeimarschiert war. Der gewaltige Jubel hatte noch nicht
nachgelassen. Den Space Marines folgten sechzigtausend
Thracianische Truppen, dreißigtausend von Gudrun, achttausend von
Messina und viertausend von Samater. Brustharnische und Lanzen
funkelten in der Sonne. Dann die Flottenoffiziere der Schlachtflotte
Scarus in ordentlichen Reihen. Dann die White Consuls, glitzernd
und furchterregend.
Dann die endlosen Reihen des Munitoriums und des
Administratums, gefolgt von den langsamen Kolonnen des
Astropathicus. Eine matte psionische Entladung wie Elmsfeuer
knisterte und wand sich um ihre offenen Transporter und ihre Köpfe
und hinterließ einen metallischen Geruch in der Luft.
Die Titanen der Adeptus Mechanicus folgten ihnen. Vier
Warlords, acht Warhounds und ein gewaltiger Supertitan namens
Imperius Volcanus verdeckten die Sonne. Es war, als hätten sich
signifikante Teile der Makropole selbst von ihren Fundamenten
gelöst und in Bewegung gesetzt. Der Boden bebte. Vollkommen
ungerührt paradierten sechshundert Techpriester und Magos der
Adeptus beiläufig zwischen ihren Füßen.
Die Panzerbrigaden der Narmenianer und Scuteraner folgten den
Gott-Maschinen. Fünftausend Panzerfahrzeuge rollten unter einer
Dunstglocke aus Abgasen vorwärts, die Geschützläufe zum Salut
erhoben. Zugmaschinen zogen Tremorkanonen in Dreierreihe
hinterher, gefolgt von einem scheinbar endlosen Strom Hydra-
Batterien, deren Mehrfachläufe von rechts nach links und zurück
schwenkten wie Blumen auf der Suche nach der Sonne.
Die Ekklesiarchie folgte, geführt von Kardinal Rouchefor, der
seinen zweitausend Hierarchen barfuß voranging. Kardinal
Anderucias erwartete uns alle für seinen Segen am Denkmal.
Von ihrem Sammelpunkt an den alten Gründungsfeldern setzte
sich das sechshundert Mann starke Kontingent der Inquisition hinter
die Priesterschaft.
Wir waren der einzige Teil des Triumphzuges, der nicht in
geordneten Reihen marschierte. Wir marschierten einfach in einem
düsteren Keil hinter der Ekklesiarchie her. Wir waren nicht uniform
in unserem Erscheinungsbild. Männer und Frauen aller Art füllten
unsere Reihen, und es waren alle möglichen Aufmachungen
vertreten. Personen marschierten in dunklen Gewändern oder
Lederumhängen, einige mit großem Gefolge, das die Schleppen
farbenprächtiger Roben hielt, einige auf Antigravstühlen, andere
allein und würdevoll, manche sogar hinter persönlichen
Deflektorschilden verborgen. Ravenor und ich marschierten
gemeinsam im Gedränge hinter dem extravaganten Ensemble von In-
quisitorin Eudora.
Lord Orsini, der Großmeister, führte uns an. Seine lange violette
Robe bildete hinter ihm eine Schleppe, die von dreißig Servitoren
getragen wurde. Neben ihm schritten Lord Rorken vom Ordo Xenos,
Lord Bezier vom Ordo Malleus und Lord Sakarof vom Ordo Hereti-
cus, Orsinis Triumvirat.
Überschallknalle ertönten über den Makropolen, als
Thunderhawks zur Ehreneskorte über uns hinwegrasten. Feuerwerk
krachte und explodierte und überzog den Himmel mit einem
Spektakel aus Licht und Farben.
Uns folgte die triumphale Prozession des Kriegsmeisters selbst.
Honorius stand mit dem Kriegsherrn Helican in einer Sänfte, die vom
krummen Rücken der größten und altehrwürdigsten Aurochothere
getragen wurde. Zehntausend Männer aus ihrem persönlichen
Gefolge marschierten hinterdrein. Zweihundert grunzende,
schnaufende Ungeheuer aus der Aurochothere-Kavallerie.
Achthundert Conqueror-Panzer. Schweber-Kräder flankierten sie.
Die jubelnde Menge streute unzählige Blumen auf ihren Weg.
Und hinter allem kamen die Gefangenen.
Wie die geehrten Toten in den Leichen-Rhinos waren die
Gefangenen eine offene Zurschaustellung imperialen Heldentums im
Allgemeinen und dem Heldentum des Kriegsmeisters im
Besonderen. Honorius erfreute sich daran, der bewundernden
Bevölkerung ihre Qualen zu präsentieren. Der Anblick dieser
gewaltigen, mächtigen Kreaturen, die ihm unterwürfig und besiegt
folgten, war Ausdruck seiner eigenen Macht und Stärke.
Mehrere hundert Fußsoldaten, die an Händen und Füßen
zusammengekettet waren, schlurften in zwei jämmerlichen Reihen
einher. Veteranen der Thracianischen Garde eskortierten sie und
trieben sie mit Elektrostäben und Neuraipeitschen vorwärts. Die
Menge buhte und heulte und bewarf die unterworfenen Feinde mit
Flaschen und Steinen.
Sechs Trojan-Zugmaschinen in den Farben des Kriegsmeisters, die
wie ein Pferdegespann vor einer Staatskarosse angeschirrt waren,
zogen einen riesigen Tieflader für Superschwere Panzer. Auf der
Ladefläche befanden sich die dreiunddreißig Psioniker, mit Adamit
angekettet und in individuelle Deflektorschildblasen gehüllt, die
größte Trophäe von allen. Es waren matte, verzerrte Gestalten, kaum
menschlich, die in den milchig grünen Kokons der Blasen
schwammen. Die White Consuls, welche die Besatzungen der
Zugmaschinen bewachten, wurden von zweihundert Astrotelepathen
begleitet, welche die Deflektorschildblasen zur Dämpfung der
psionischen Wut der Gefangenen mental verstärkten. Reif bedeckte
das Metall des Tiefladers. Psionische Kugelblitze zuckten über dem
Gefährt.
Zwanzigtausend Männer und fünfhundert gepanzerte Maschinen
der Thracianischen Inneren Garde bildeten den Abschluss des
Großen Triumphzugs und marschierten unter der Doppelstandarte
von Thracia und dem Kriegsmeister.
Nach nur fünfzehn Minuten Marsch in der immensen Prozession
war ich vollkommen taub. Allein der Lärm der jubelnden Menge ließ
mich bis tief ins Innerste vibrieren. Meine Trommelfelle bebten bei
jedem Überflug der Thunderhawks oder wenn die riesigen Bela-
gerungssirenen der Titanen losjaulten. Das Ausmaß der
Veranstaltung war überwältigend, der Sturm auf die Sinne
verblüffend. Selten habe ich solche Ehrfurcht vor der Macht meiner
Gattung empfunden.
Selten bin ich mit solcher Gewalt an meine Rolle als winziges
Rädchen in der Maschinerie des heiligen Imperiums der Menschheit
erinnert worden.

Der Triumphzug folgte der gewaltigen Victor-Bellum-Allee und


passierte das Spatiantor, ein monolithisches Bauwerk aus glänzend
weißem Ätherzit. Das Gedenktor war so riesenhaft, dass sogar die
Titanen ohne Schwierigkeiten hindurchpassten.
Es war zum Gedenken an Admiral Lorpal Spatian errichtet
worden, der in den ersten Jahren der Ophidischen Unterdrückung im
Zuge des wunderbaren Flottenmanövers gefallen war, bei dem
Uritule IV genommen worden war.
Der Innenteil des Bogens war mit majestätischen Malereien
bedeckt, die dieses Ereignis darstellten, und erhob sich zu einer so
hohen Kuppel, dass sich unter dem Apex ständig ein Mikroklima aus
eigenen Wolken bildete. Ich hatte Spatian persönlich gekannt und
blieb wie auch viele andere in der Prozession unter dem gigantischen
Torbogen stehen, um der ewigen Flamme meinen Respekt zu zollen.
Nein, das ist nicht wahr. Ich hatte Spatian im Zuge des
Helicanischen Schismas kennengelernt, aber nicht allzu gut. Aus
Gründen, die ich nicht erklären kann, fühlte ich mich genötigt, stehen
zu bleiben. Ich hatte gewiss nicht den Drang, ihn zu ehren.
»Inquisitor?«, fragte Ravenor, als ich aus der Reihe trat.
»Gehen Sie weiter, ich hole Sie wieder ein«, sagte ich.
Ravenor blieb in der Prozession, während ich eine Votivkerze
anzündete und sie zwischen die tausend anderen rings um Spatians
Grabmal stellte. Die riesige Flut des Triumphzugs zog hinter mir
langsam vorbei. Andere Gestalten hatten sich aus der Prozession
gelöst, standen in der Nähe und erwiesen dem Admiral still die Ehre.
»Eisenhorn?«
Ich drehte mich um, als die Stimme mich aus meiner
Versunkenheit riss. Ein älterer, aber kraftvoller Flottenoffizier stand
in seiner prächtigen strengen weißen Galauniformjacke vor mir.
»Madorthene«, erkannte ich ihn sofort.
Wir schüttelten uns die Hände. Meine letzte Begegnung mit Olm
Madorthene — mittlerweile Lordprokurator Madorthene — lag
schon ein paar Jahre zurück. Wir hatten uns im Zuge der
Nekroteuch-Affäre auf Gudrun kennengelernt, als er ein mittlerer
Offizier in der Disziplinarabteilung der Schlachtflotte gewesen war,
also bei der Militärpolizei der Flotte. Jetzt leitete er diese Abteilung.
Er war im Laufe der Jahre ein äußerst nützlicher und zuverlässiger
Verbündeter gewesen.
»Welch ein Ereignis«, sagte er mit einem reservierten Lächeln.
Draußen jaulten wieder die Sirenen der riesigen Titanen, und der
Lärm der Menge schwoll an.
»Ich fühle mich ausreichend gedemütigt«, sagte ich, »dem
Kriegsmeister muss es gefallen.«
Er nickte. »Erhebend und gut für die öffentliche Moral.«
Ich stimmte zu, war aber in Wahrheit mit dem Herzen nicht dabei.
Es lag nicht nur an der überwältigenden Kakophonie oder meinem
tiefsitzenden Widerwillen, überhaupt hier zu sein. Seit Ravenor und
ich unseren Platz im Triumphzug eingenommen hatten, wurde mit
jeder verstreichenden Minute das Gefühl drohenden Unheils in mir
stärker. War das der Grund, warum ich hier unter dem großen Bogen
innegehalten hatte?
»Ihr Gesichtsausdruck«, sagte Madorthene. »Das hier ist nicht
wirklich Ihr Ding, oder?«
»Wohl nicht.«
»Was ist los, alter Freund?«
Ich stutzte. Etwas …
Ich ging zum Südbogen des Spatiantors zurück und schaute nach
hinten, den großen Strom des Triumphzugs entlang. Madorthene
begleitete mich. Das Gefolge des Kriegsmeisters hatte soeben das
Tor erreicht. Becken und Hörner schepperten und tönten. Der Lärm
der Menge brach wie eine Flutwelle über allem zusammen.
Blütenblätter waren in der Luft. Daran erinnere ich mich deutlich.
Eine Unmenge loser Blüten wurden von den Blumen aufgewirbelt,
welche die Menge streute.
Eine Formation von zwölf Blitzstrahlen kamen im Tiefflug von
Süden heran, um der Länge nach über den Zug und die Victor-
Bellum-Allee hinwegzufliegen. Näherte sich dem Tor. Sie flogen in
einer Reihe so dicht nebeneinander, dass sich die Spitzen ihrer nach
vorn geneigten Tragflächen beinahe berührten. Eine Zurschau-
stellung perfekten Formationsflugs der besten Piloten der
Schlachtflotte. Sonnenlicht funkelte auf ihren Kanzeldächern und
den Doppelflügeln des Leitwerks.
Mein Gefühl drohenden Unheils wurde jetzt bedrückend wirklich.
Es war so, als hätten sich dunkle Wolken vor die Sonne geschoben.
»Olm, ich …«
»Imperator! Er hat Probleme, sehen Sie doch!«, rief Madorthene.
Die Jäger waren einen halben Kilometer vor dem Tor und näherten
sich mit hoher Reisegeschwindigkeit. Der äußerste linke Jäger
wedelte plötzlich mit den Tragflächen, bockte …
… und schwenkte zur Seite.
Der Pilot direkt neben ihm zog hart zur Seite, um eine Kollision zu
vermeiden, und seine Steuerbord-Tragfläche streifte die Flügelspitze
des nächsten Blitzstrahls in der Reihe. Eine grelle Wolke aus
Trümmerstücken hing plötzlich in der Luft.
Wie Perlen an einer Kette wurden die Flugzeuge eines nach dem
anderen aus der Formation gestoßen. Die zuvor makellose Linie löste
sich in völlige Unordnung auf.
Madorthene riss mich zu Boden, als die Jäger über uns
hinwegrasten und die Welt mit ihren Nachbrennern erschütterten.
Die beiden, die in der Luft kollidiert waren, überschlugen sich wie
weggeworfene Spielzeuge und zogen jeweils einen Trümmerschweif
hinter sich her. Ich hatte den Eindruck, als seien in der allgemeinen
Verwirrung noch mehrere andere kollidiert.
Ein Blitzstrahl, mehr als zehn Tonnen beinahe schallschnellen
Metalls, raste steil in die Tiefe und in die Menge auf der Westseite
der Allee. Er prallte mindestens ein Mal ab und schleuderte
menschliche Trümmer in die Luft. Bei seinem letzten Aufprall
verwandelte er sich in einen gewaltigen Feuerball, der eine
flammende Pilzwolke hundert Meter hoch schleuderte. Schock und
Panik erfüllte die Menge. Der Gestank nach Feuer, Hitze und
Prometheum schlug über mir zusammen.
Es gab einen Blitz, und die Erde bebte, als sich ein zweiter
beschädigter Blitzstrahl in den Schatten unter dem Tor bohrte. Fast
gleichzeitig gab es einen lauten Knall, als sich ein drittes Flugzeug
außer Kontrolle geraten an der obersten Ecke des Spatiantors direkt
über uns eine Tragfläche abrasierte und sich überschlagend abwärts
trudelte.
Angesichts dieses katastrophalen Unfalls rannten die Soldaten aus
dem Triumphzug in alle Richtungen. Ich zog Madorthene unter den
Torbogen zurück, als eine Lawine aus Flugzeugtrümmern
ringsumher niederging.
Eine Katastrophe. Eine furchtbare, schreckliche Katastrophe.
Und sie war erst der Anfang.
SECHS
Das Verhängnis kommt nach Thracian. Chaos entschlüpft.
Kopfschuss.

Schon in diesem Stadium, von Grauen und Empörung erfüllt,


wusste ich, dass ein großer hohler Teil von mir tief in meiner Seele
nicht glauben konnte, nicht glauben wollte, dass dies einfach nur ein
tragischer Unfall gewesen war.
Überall waren Flammen und Explosionen, Massenpanik, Geschrei.
Und noch ein Geräusch. Ein außerordentlich tiefes Ächzen, ein
anschwellendes wogendes Flüstern, das, wie mir aufging, das
Geräusch war, das zwei Milliarden Leute erzeugten, wenn sie Panik
hatten und um ihr Leben fürchteten.
Die Menge war auf die Allee gestürmt, von den Arbites nicht
aufzuhalten, und floh sowohl von den schrecklichen Absturzstellen
als auch vor den Flammen sowie vor der eingebildeten Furcht,
Stillstehen werde irgendwie noch mehr Imperiumsflugzeuge
einladen, ihnen auf den Kopf zu fallen.
Die Menge bewegte sich wie ein flüssiges Lebewesen, wie
Wasser. Es gab keinen Prozess der Entscheidungsfindung, keine
Anführer. Masseninstinkte überwältigten die Leute ganz einfach, die
in furchtbaren, trampelnden Fluten auf die breite Allee strömten und
die Reihen des Triumphzugs überwältigten, der sich zum großen Teil
unter Einwirkung von Schock und Bestürzung bereits in Auflösung
befand. Man hörte keine Musik mehr, kein Jubeln, keine Trommeln
und keine Sirenen. Nur noch heulenden Wahnsinn, eine Welt, die auf
den Kopf gestellt war.
Ich sah Leute zu Hunderten sterben, zu Tode getrampelt oder unter
dem schieren Druck der Leiber zerquetscht. In manchen Fällen
waren die Toten so zwischen ihren Nachbarn eingezwängt, dass sie
noch viele Meter weit mitgeschleift wurden, bevor sie irgendwann zu
Boden glitten.
Ich sah Soldaten aus dem Zug und Arbites voller Entsetzen in die
Menge schießen, bevor sie über den Haufen gerannt wurden.
Barrikaden stürzten ein. Standarten schwankten und kippten.
Laufgänge über den Abwässerkanälen rechts und links der Allee
brachen und stürzten ein, so dass Tausende in die Betongräben
fielen.
In dem Pandämonium hatte ich Madorthene aus den Augen
verloren. Ich versuchte aus dem Torbogen heraus ins Sonnenlicht zu
gelangen, aber die allgemeine Massenflucht machte dies unmöglich.
Die gesamte Allee vor dem Spatiantor war eine Masse aus
verbogenen Trümmern und Flammen von der Kollision hoch oben in
der Luft. Mehrere Dutzend Gardisten lagen tot und verdreht
zwischen den Wrackteilen, von herabfallenden Metallstücken und
Steinbrocken erschlagen, die Galauniformen mit pulverisiertem
Ätherzit bestäubt oder von Flammen versengt.
In dem Meer schreiender Menschen sah ich mehrere gewaltige
Aurochotheren durchgehen, die sich aufbäumten, ihre Reiter
abschüttelten und in die Masse der Leiber stürmten. Ihre schlagenden
Schweife schleuderten leblose Gestalten hoch in die Luft.
Es gelang mir, mich an der Außenseite des Tors ent-
langzuschieben, bis ich nach Norden zum weit entfernten Denkmal
des Ekklesiarchen blicken konnte. Auch auf diesem Teil der breiten
Allee wiederholte sich das Geschehen. Die Prozession des
Triumphzugs wurde von der Masse der panischen Öffentlichkeit
überrannt.
Auch dort loderten an drei Stellen Flammensäulen aus den
Publikumsbereichen beiderseits der Straße und etwa siebenhundert
Meter hinter dem Tor auf der Victor-Bellum-Allee selbst in die
Höhe. Ich hatte außerdem den Eindruck, dass es auch in anderen
offenen Bereichen hinter dem nächsten Turm abseits der Straße im
Handwerker-Viertel brannte. Meiner Schätzung nach waren noch
mindestens fünf weitere Blitzstrahlen vom Himmel und in die Masse
der Bürgerschaft gefallen, die voller Panik auf die Allee wogte.
Ruß und Asche nebelten die Luft ein. In der Ferne konnte ich die
riesigen Gestalten der Titanen sehen, die den wogenden Albtraum
aus Leibern überragten. Sie drehten sich in ihren Metallhüften um,
zögerlich, als seien sie völlig verwirrt.
Ich bezweifle, dass ich die anderen Blitzstrahlen vor allen anderen
sah. Aber ich war wie erstarrt. Sie waren alles, was ich sah. Es waren
noch vier, vermutlich die einzigen Überlebenden des desaströsen
Überflugs. Sie hatten gewendet und flogen über die Allee zurück.
Ihre Formation war nicht annähernd so präzise oder hübsch wie vor
dem Unfall.
Aber sie flogen viel tiefer. Und viel schneller.
Und ich wusste, was das bedeutete, denn ich hatte es schon erlebt.
Ein Angriffsflug.
Imperator verschone mich, aber mir blieb fast das Herz stehen, als
ich ihre wahnsinnige Absicht vor mir Gestalt annehmen sah.
Ich schrie etwas, aber es war sinnlos. Eine Stimme gegen zwei
Milliarden.
Ströme von Leuchtspurgeschossen rasten aus den schweren
Kanonen unter der Nase. Die unter den Tragflächen montierten
Laserkanonen zischten.
Zwei flogen tief über die Menge hinweg und schlachteten
Tausende. Die anderen beiden folgten der Allee und beharkten den
Großen Triumphzug.
Die Zerstörung war außergewöhnlich, als seien unsichtbare
weißglühende Pflüge in dem Meer der Leiber losgelassen worden,
um lange, gerade explosive Furchen durch die imperiale
Bürgerschaft zu schneiden. Oder als ob sich eine dahinrasende Kraft
durch den Boden wühlte und sie von unten versprengte. Reihen von
Explosionen sägten sich durch die Bevölkerung und schleuderten
menschliche und mechanische Trümmerstücke in die Höhe. Ein
Nebel aus verflüssigtem Gewebe bildete sich in der Luft. Ich sah, wie
Panzer auf der Allee getroffen wurden und mitten in der Menge
explodierten. Hunderte Gardisten und Space Marines in der
Kavalkade eröffneten das Feuer auf die Flugzeuge und erzeugten ein
Netz aus leuchtenden Zickzacklinien in der Luft.
Ein Blitzstrahl raste praktisch direkt auf mich zu, um dann im
letzten Augenblick links am Tor vorbeizufliegen. Seine Feuerkraft
verstümmelte Hunderte Menschen in gefährlicher Nähe von mir, und
die weiße Steinmauer der Seitenfassade des Tors und ich wurden mit
heißem Blut bespritzt.
Hunderte Hydra-Batterien in der Prozession schossen jetzt in die
Luft. Sogar Panzer feuerten — aus Wut, nahm ich an, denn ihre
Aussichten, die dahinrasenden Flugzeuge zu treffen, waren gleich
null.
Doch irgendwas musste getroffen haben. Ein weiterer Blitzstrahl
flog am Tor vorbei und legte sich dabei auf die Seite, da winzige
Explosionen die linke Tragfläche und das Ruder zerfetzten. Er
stürzte direkt auf die Allee und traf, was für mich nach dem
Kernstück des zum Kriegsmeister gehörenden Teils des Triumphzugs
aussah. Die Druckwelle der Explosion fegte durch die breite Straße
und tötete ebenso viele Menschen wie der eigentliche Feuerball des
Einschlags.
Die drei restlichen Blitzstrahlen legten sich am Ende der Allee in
eine Kurve, um einen dritten Überflug zu starten. Mir fiel auf, dass
sie nicht als Gruppe wendeten. Sie flogen allein, jeder für sich, wie
von der Welt abgeschnitten. Waren die Piloten besessen,
wahnsinnig? Meine Gedanken überschlugen sich. Zwei von ihnen
wären bei ihrem Wendemanöver fast kollidiert. Ein Blitzstrahl setzte
sein Manöver unbeirrt fort und flog über der Allee zurück, offenbar
auf mehr Gemetzel versessen. Der andere war zu einem
Ausweichmanöver gezwungen, korrigierte, und schwenkte über der
heulenden Menge zum Westteil der Allee.
Der dritte flog zu weit und verschwand beinahe. Ich sah ihn weit
entfernt über dem vom Fluss aufsteigenden Dunst mit einem Looping
wenden, während die Tragflächen in der Sonne glitzerten. Dann kam
er ebenfalls zurück. Wie die anderen in gerader Linie mitten in den
Feuersturm hinein, den Panzer, Hydras und Infanterie ihnen
entgegenwarfen.
Beim letzten Anflug starben noch mehrere hundert mehr. Loyale
Bürger, deren aufregendster Tag sich in ein Grauen verwandelt hatte;
stolze Gardisten, die aus dem Krieg heimgekehrt waren und nur
daran gedacht hatten, diese besondere Stunde der Ehrung zu genie-
ßen; mysteriöse Space Marines, die nur anwesend waren, weil man
sie dazu eingeladen hatte, als Ausdruck der Ehre, die diesen Tod
vielleicht nur als Alternative ihres zu erwartenden Schicksals
begrüßten. Edelmänner und Würdenträger des Imperiums starben zu
Hunderten. Mehrere Adelshäuser erholten sich nie mehr von den
beim Triumphzug von Thracian erlittenen Verlusten.
Die letzten drei Blitzstrahlen fielen.
Einer wurde beim Überflug über das Spatiantor von einer Salve
mehrerer Hydras in der Luft gesprengt.
Der zweite flog unbeschadet durch das Sperrfeuer der
Luftabwehrbatterien, ohne die Höhe zu ändern, und wurde praktisch
im letzten Moment von einem der Geschütze getroffen. Der
Blitzstrahl drehte sich in einer trägen Rolle auf den Rücken, kippte
rauchend nach unten weg, zerschellte aber nicht auf dem Boden,
sondern prallte vor das Denkmal des Ekklesiarchen.
Der dritte Blitzstrahl kam mit blitzenden Kanonen herein und flog
tatsächlich unter dem Bogen des Spatiantors durch. Mittlerweile
hatten sich die Titanen umgedreht, um in das Gefecht einzugreifen,
und meine Eingeweide zuckten im Rhythmus des Wummerns ihrer
Waffen. Ich konnte sie sehen, drei Kilometer entfernt, wo ihre
Geschützläufe hoch über der Menge blitzten.
Excelsis Gaude, einer der Warlord-Titanen, traf ihn frontal und
schoss ihn in der Luft ab, aber nicht sauber genug. Der trudelnde
Blitzstrahl, von vorne bis hinten ein Flammenmeer, traf den
gewaltigen Titan direkt und enthauptete den Koloss mit seiner
Explosion.
Ich war außer mir. Ich war wie vom Donner gerührt. Ich war
sprachlos.
Mir war danach, mich mitten in dem Tumult auf die Knie sinken
zu lassen und den Gott-Imperator der Menschheit um Erlösung zu
bitten.
Aber meine Rolle in dem Schauspiel begann gerade erst.
Durchsichtige blaue Flammen loderten plötzlich wie eine
sengende Säurewand durch die wogende Menge hinter dem Tor.
Männer, Frauen, Soldaten und Zivilisten wurden erfasst, schauderten,
schmolzen und lösten sich in Skelette auf, die zu Staub zerfielen und
weggeweht wurden.
Ich spürte den Schmerz in den Nebenhöhlen und das Pochen in der
Wirbelsäule. Ich wusste, was es war.
Psioniker-Böses. Rohes Chaos, das auf diese Welt losgelassen
wurde.
Die Gefangenen waren frei.
Die Krieger spielten keine Rolle. Auf der Allee hinter Spatians
halb zerstörtem Tor tobte bereits eine offene Schlacht. Die
Thracianische Garde, die Aurora-Marines und die Arbites mühten
sich, den Ausbruch der feindlichen Gefangenen einzudämmen, von
denen viele die Gelegenheit ergriffen hatten, sich zu befreien und
sich Waffen zu besorgen. Auf der breiten Allee fand ein heftiges
Handgemenge statt.
Aber was mich beunruhigte, waren die Psioniker. Die gefangenen
Ketzer. Die dreiunddreißig. Sie hatten sich befreit.
Ich zog mein Energieschwert und meine Boltpistole, stürzte mich
in das Meer der wogenden Leiber und trat knirschend auf die
verkalkten Knochen jener, die der psionischen Welle zum Opfer
gefallen waren.
Ein unmenschliches Ding, ein Chaos-Gefangener, sprang mich an,
und ich schlug ihm mit meiner Klinge den Kopf ab. Ich sprang über
einen toten Marine, aus dessen Rüstung Blut durch Risse auf den
Asphalt sickerte, und drängte mich durch die heulenden Zivilisten.
Vier thracianische Gardisten waren direkt vor mir und benutzten
den verkohlten Kadaver eines gefallenen Aurochothere als Deckung,
während sie in die Menge feuerten.
Ich war nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt, als das
riesige tote Tier plötzlich als psionische Marionette wiederbelebt
wurde und sie alle tötete.
Meine Waffen waren nutzlos. Ich konzentrierte mich und sprengte
das Tier mit einer geistigen Schockwelle.
Ein Aurora-Marine ohne Beine flog zehn Meter über mir durch die
Luft.
Ich rannte weiter und hieb mit meiner Energieklinge nach
entflohenen Gefangenen, die mich bedrohten.
Die Straße war mit Toten bedeckt. Menschen, die von Kopf bis
Fuß in Flammen gehüllt waren, stolperten an mir vorbei und fielen
dann aufs Gesicht.
Das Gespann der Trojan-Zugmaschinen brannte ebenfalls. Der
gewaltige Tieflader war herumgeschleudert. Drei der feindlichen
Psioniker lagen tot auf der Ladefläche, und vier
Deflektorschildblasen waren noch intakt. Ich sah die hektischen
Insassen darin.
Aber die anderen …
Neunundzwanzig feindliche Psioniker mindestens der Alphastufe
waren entkommen.
Ich sah den ersten, einen stolpernden, ausgemergelten Wicht von
einem Mann, nah beim hinteren Ende des Tiefladers. Elmsfeuer
umspielte seinen Kopf, und er versuchte einen schreienden
astropathischen Novizen zu essen.
Meine Boltpistole bereitete seinem dämonischen Werk ein Ende.
Ich sank ächzend und weinend in die Knie, als der zweite mich
fand, eine magere Frau in einem gazeartigen weißen Schleier mit
Fingernägeln wie Krallen.
Sie kauerte schluchzend hinter dem Ende des Tiefladers und griff
mit ihrer üblen Macht nach mir. Sie hatte keine Augen.
Ich bin nicht Alphastufe. Mein Gehirn brodelte und blubberte.
Ein thracianischer Gardist rannte von links auf sie zu, und sie
richtete ihre Aufmerksamkeit instinktiv auf ihn. Sein Kopf platzte
wie eine Blase.
Ich schoss ihr eine Ladung ins Herz, die sie flach auf den Rücken
schleuderte. Ihre Glieder zuckten und strampelten noch über eine
Minute.
Aus der Menge in der Nähe sprang mir eine elektrische Entladung
entgegen. Leute flohen brennend und schreiend vor einem
männlichen Psioniker, der mit gesenktem Kopf in Richtung der
Makropolen schritt. Er war ein Zwerg mit verkrüppelten Gliedmaßen
und vergrößertem Schädel. Kugelblitze knisterten um seine dicken,
plumpen Finger.
Ich versetzte ihm einen geistigen Stich, um seine Aufmerksamkeit
zu erregen, und sprengte dann sein Gesicht mit einem gut gezielten
Boltgeschoss.
Imperator rette mich, aber er ging weiter. Ich hatte die Vorderseite
seines Schädels gesprengt, aber er ging weiter. Blind, seine Züge ein
blutiger Brei. Er stolperte mir entgegen, und sein noch aktiver Geist
bohrte sich in meinen.
Ich schoss wieder, mittlerweile selbst ein wenig panisch, und
sprengte einen seiner Arme ab. Er ging trotzdem noch weiter. Meine
Jacke, Haare und Augenbrauen fingen Feuer. Mein Hirn würde jeden
Augenblick aus meinem Schädel explodieren.
Ein Space Marine in den Farben des Aurora-Ordens griff ihn von
hinten an und zerfetzte ihn mit seinem Boltgewehr zu Brei.
»Inquisitor?«, fragte der Marine mich mit durch das Helmmikro
verzerrter Stimme. »Alles in Ordnung?«
Er half mir auf.
»Was für ein Wahnsinn ist das?«, krächzte er. »Sie haben ein
Kom, Marine? Verständigen Sie Lord Orsini!«
»Ist bereits geschehen, Inquisitor«, knisterte es.
Hinter uns explodierten die Zugmaschinen und schleuderten
Feuerlohen und Trümmer hoch in die Luft.
Ein verbranntes Kind lief schreiend an uns vorbei.
Der Marine nahm das Kind in seine massigen Arme.
»Da entlang, da ist es sicher …«
»Nicht«, sagte ich langsam. »Lassen … Sie …«
Sein Gesicht unter dem Helmvisier schwang verwirrt zu mir
herum, das Kind noch in den Armen.
»Lassen? Was soll ich lassen?«, fragte er.
»Sehen Sie sich das Zeichen an! Das Mal da!«, rief ich, indem ich
auf die Malleus-Rune zeigte, die in den Knöchel des Kindes gebrannt
war. Der Hexenhammer. Das Brandmal des Psionikers.
Das Chaoskind sah mich an und grinste.
»Welches Mal?«, fragte der Marine. »Was für ein Mal meinen
Sie?«
»Ich … ich …«
Ich versuchte dagegen anzukämpfen, das versichere ich Ihnen. Ich
versuchte die unheilige geistige Macht des Kindes abzuwehren, als
sie sich in meinen Kopf zwängte. Aber dieses Ding, dieses »Kind«,
überstieg meine mentalen Möglichkeiten bei weitem.
Töte ihn, sagte es.
Meine Hand zitterte und wehrte sich, als ich die Boltpistole
herumschwang und dem Marine durch den Kopf schoss. Ein sengend
weißer Schmerz durchflutete mein entsetztes Innerstes.
Jetzt töte dich selbst, schlug es mir glucksend vor.
Ich setzte mir die rauchende Mündung der Boltpistole an die
Schläfe. Mein Blickfeld wurde vollkommen vom kichernden Gesicht
des Kindes ausgefüllt, das auf dem Knie des zusammengebrochenen,
kopflosen Marine hockte.
Genau so … mach schon …
Mein Finger krampfte sich um den Abzug.
»Nein… n-nein…«
Ja, du blöder Schwachkopf… ja …
Blut spritzte aus meiner Nase. Ich wollte auf die Knie fallen, aber
das Ungeheuer ließ mich nicht. Es wollte, dass ich eine Sache, und
nur eine Sache tat. Es drängte mich, riss mein Bewusstsein
auseinander.
Es war durchdringend und unwiderstehlich.
Ich drückte ab.
SIEBEN
Voke und Spekulationen. Esarhaddon. Durch die Leere.

Aber ich starb nicht.


Die Boltpistole, das Geschenk von Scriptor Brytnoth, die in zehn
Dekaden der Benutzung noch nie versagt hatte, schoss nicht.
Das Kindwesen kreischte und sprang auf und in den Rauch und die
Flammen und die taumelnden Gestalten rings um mich. Der tote
Marine kippte um. Psionische Entladungen ließen die Luft gerinnen,
und drei Gestalten rannten auf der Verfolgung der winzigen
Abscheulichkeit an mir vorbei. Alle drei waren Inquisitoren oder
zumindest Interrogatoren. Einer von ihnen war, dessen war ich mir
sicher, Inquisitor Lyko.
Ich ließ meine zitternde Hand sinken. Sowohl die Hand als auch
die Boltpistole darin waren mit psionischem Eis überzogen, so dass
der Mechanismus verklemmt und gesperrt war.
Ich drehte mich um und stellte fest, dass Commodus Voke ein paar
Schritte hinter mir stand. Sein altes Gesicht war verzerrt von innerer
Anspannung. Krusten aus psipathetischem Reif glitzerten auf seinem
langen schwarzen Gewand.
»Zur. Seite. Richten.« Seine Worte kamen als zögernde
Stoßseufzer. »Kann. Nicht. Mehr. Lange. Halten.«
Rasch richtete ich die Boltpistole in die Luft. Mit einem bellenden
Seufzer entspannte er sich krampfhaft, und die Waffe bockte und
feuerte. Das tödliche Geschoss jaulte harmlos in die Luft.
Voke sackte förmlich in sich zusammen, während die Kreisel in
dem augmetischen Exoskelett, das seinen zerbrechlichen Körper
umschloss, sich alle Mühe gaben, das Gleichgewicht zu wahren. Ich
reichte ihm eine stützende Hand. »Danke, Commodus.«
»Keine Ursache«, sagte er im Flüsterton. Seine Kräfte kehrten
langsam zurück, und er sah mich mit seinen strahlenden Vogelaugen
an. »Nur ein sehr tapferer oder sehr dummer Mann legt sich mit
einem Plus-alpha-Psioniker an.«
»Dann bin ich beides oder keines. Ich war in der Nähe. Ich konnte
nicht einfach daneben stehen und zusehen.«

Vom Schlachtfeld hinter uns drangen außergewöhnliche


Geräusche zu uns. Schüsse, Granatexplosionen, Schreie und das
Knacken und Tosen von Hirnen, welche die Wirklichkeit entstellten,
Materie komprimierten und die Atmosphäre zum Sieden brachten.
Ich sah einen berobten Mann, einen Inquisitor oder Astropathen, wie
er sich auf einer Säule aus grünem Feuer brennend in die Luft erhob
und ihm das Innerste nach außen gekehrt wurde. Ich sah
Blutfontänen wie Wasserfälle. Hagelstürme und saure Regengüsse,
die auf diesen kleinen Teil der Allee beschränkt waren, tobten um
uns, von der Wildheit dieses psionischen Krieges hervorgerufen.
Gestalten eilten herbei, um an der Schlacht teilzunehmen. Viele
aus den Ordos mit ihren erfahrenen Leibwächtern und viele Dutzend
Adeptus Astartes. Der Boden bebte unter meinen Füßen, und ich sah,
dass einer der riesigen Warhound-Titanen am Spatiantor vorbei-
schritt und mit seinen Laserkanonen auf Ziele am Boden feuerte.
Eine Reihe verheerender Explosionen, hauptsächlich psionisch
erzeugt, fegte durch die Habitate und Makropol-Strukturen auf der
Ostseite der breiten - und nun berüchtigten — Allee.
Marodeure flogen tief über uns hinweg. Der Himmel war schwarz
vom Rauch, von der Sonne war nichts mehr zu sehen. Ascheflocken
rieselten auf uns herab wie grauer Schnee.
»Das ist… ein Kapitalverbrechen«, sagte Voke zu mir. »Ein
schwarzer Tag in den Annalen des Imperiums.«
Ich hatte vergessen, wie sehr Commodus Voke die Untertreibung
liebte.

Der größte Teil der Makropole Primaris blieb fünf Tage lang
gesetzlos und außer Kontrolle. Panik, Aufruhr, Plünderungen und
zivile Unruhen brodelten in den Straßen und Hab-Ebenen der
verwundeten Megapolis, da sich die Arbites und die anderen Organe
des Imperiums mühten, dem Kriegsrecht Geltung zu verschaffen und
die Ordnung wiederherzustellen.
Es war eine undankbare Aufgabe. Die einheimische Bevölkerung
an sich war enorm, aber ihre Zahl hatte in der Novene durch Pilger
und Touristen in einem unvorstellbaren Ausmaß zugenommen. In
den anderen Makropolen kam es zu Solidaritäts-Panikunruhen. Ein
oder zwei Tage sah es so aus, als werde der ganze Planet in Blut und
Feuer versinken.
Kleine Bereiche der Makropole Primaris hatten sich mit Erfolg
abgeschottet: die Elite-Ebenen ganz oben, die Adelshäuser, die wie
Festungen angelegt waren, die uneinnehmbaren Niederlassungen der
Inquisition, die Imperiale Garde, die Astropathicus, die
verschiedenen Bastionen des Munitoriums und der Königspalast des
Kriegsherrn. Anderswo, vor allem in den unteren und allgemeinen
Hab-Ebenen, war es wie in einem Kriegsgebiet.
Die Ekklesiarchie litt besonders stark. Nachdem das Denkmal des
Ekklesiarchen in Flammen stand, betrachtete die Öffentlichkeit den
Albtraum als einen heiligen Fluch und wandte sich in ihrer Raserei
gegen alle Kirchen, Tempel und priesterlichen Orden, die sie finden
konnte. In den ersten Stunden erfuhren wir, dass Kardinal
Anderucias bei der Zerstörung des Denkmals ums Leben gekommen
war. Er war keineswegs der einzige große Hierarch, der in der
anschließenden Orgie des Gemetzels starb.

Das Wiedereinfangen oder Auslöschen der restlichen geflohenen


Psioniker war die erste und wichtigste Aufgabe für die Behörden.
Man wusste, dass zehn der ursprünglich dreiundreißig im Zuge der
Schlacht auf der Victor-Bellum-Allee entkommen waren, und diese
zehn waren in die Makropole geflohen und hatten dabei, gejagt von
den Kräften der Inquisition und der ganzen Macht des Imperiums,
die zu ihrer Unterstützung mobilisiert werden konnte, unterwegs ein
Gemetzel angerichtet.
Zwei von ihnen kamen nur ein oder zwei Kilometer weit, da ihnen
die imperialen Streitkräfte dicht auf den Fersen waren, und waren bis
zum Abend jenes furchtbaren ersten Tages neutralisiert. Ein anderer
verschanzte sich in einer Gemüsekonservenfabrik in einem Vor-Hab
im Ostbezirk und wurde belagert. Es kostete drei Tage und das
Leben von achthundert Gardisten, zweiundsechzig Astropathen und
zwei Space Marines sowie sechs Inquisitoren, ihn ausfindig zu
machen und zu verbrennen. Die Konservenfabrik und drei Quadrat-
kilometer Vor-Hab ringsherum wurden dabei in Schutt und Asche
gelegt.

Es gab wenig oder gar keine zentrale Lenkung unserer Streitkräfte.


Admiral Oetron, der als wachhabender Kommandant bei der Flotte in
der Umlaufbahn geblieben war, ließ vier Postenschiffe in eine geo-
synchrone Umlaufbahn über Makropole Primaris einschwenken und
konnte den Streitkräften am Boden dadurch für eine Weile
umfassende Kom-Verbindungen und astropathische Kommunikation
zur Verfügung stellen. Doch bei Einbruch der Nacht des ersten Tages
tobten überall in der Makropole psionische Gewitter und störten
sämtliche Verbindungen und Übertragungen.

Es war eine finstere und beängstigende Periode. In den


brennenden Straßen teilten wir uns so gut wie möglich in kleine
Einheiten auf, die autonom operierten. Einfach dadurch, dass ich bei
Voke war, wurde ich Teil einer Gruppe, die ihr Hauptquartier in
einem Arbites-Revier auf der Blammerstraße im merkantilen Viertel
aufschlug. Verzweifelte Bürgergruppen bedrängten uns auf der
Suche nach Hilfe, Gnade und Zuflucht, und viel größere Banden
griffen das Revier immer wieder an, von Furcht und Zorn auf die
Imperiumsmaschinerie getrieben oder einfach nur, weil wir sie nicht
hereinließen.
Wir konnten nicht. Wir quollen über vor Verwundeten und Toten,
und die Ärzte und Leichenbeschauer der Arbites waren vollkommen
überfordert. Es gab wenig zu essen, medizinische Hilfsgüter und
Munition, und wir rationierten außerdem das Wasser, da die Zufuhr
gesperrt worden war.
Der Strom war ebenfalls ausgefallen, aber das Revier hatte seinen
eigenen Generator.
Die ganze Nacht hindurch flogen Flaschen, Wurfgeschosse und
Prometheumbomben vor die abgeschirmten Fenster, hämmerten
Fäuste an die Türen.

Als Ältester hatte Voke das Kommando. Abgesehen von mir


gehörten die Inquisitoren Roban, Yelena und Essidari, zwanzig
Interrogatoren und untergeordnete Angehörige der Inquisition,
sechzig Soldaten der Inneren Garde, mehrere Dutzend Astropathen
und vier White Consuls zu der Gruppe. Die Arbites selbst zählten
etwa einhundertfünfzig Personen, und das Revier bot außerdem etwa
dreihundert Adeligen, Ekklesiarchen und Würdenträgern aus dem
Großen Triumphzug sowie einigen hundert gewöhnlichen Bürgern
Schutz.
Ich weiß noch, dass ich kurz nach Mitternacht allein in einem
verwüsteten Büro des Kommandanten der Arbites stand und durch
das abgeschirmte Fenster nach draußen auf die brennenden Straßen
und die aufblühenden psionischen Gewitter schaute, die den Himmel
auseinanderrissen. Seit Beginn der Katastrophe hatte ich noch nichts
von Ravenor gehört. Ich weiß noch, dass meine Hände selbst da noch
zitterten.
Tatsächlich glaube ich, dass ich mich in einem Schockzustand
befand. Einerseits natürlich infolge der Katastrophe selbst, aber auch
durch die psionischen Angriffe, denen ich ausgesetzt war. Ich rühme
mich eines scharfen Verstandes, aber zu diesem Zeitpunkt war mir
jegliche Schärfe abhanden gekommen.
Benommen wie er war, kehrte mein Verstand immer wieder zu
dem Gedanken zurück, dass dieser Frevel vorsätzlich herbeigeführt
worden war.
»Das ist keine Frage«, sagte Voke hinter mir, der eindeutig
zumindest meine oberflächlichen Gedanken las, ohne die Erlaubnis
dazu zu haben. Er nahm sich einen stählernen Stuhl und setzte sich.
»Unfälle kommen vor, Kampfflugzeuge stürzen ab!«, rief er.
»Aber diese haben gewendet und angegriffen. Die Angriffe waren
vorsätzlich.«
Ich nickte. Mindestens einer der Blitzstrahlen war in das Gefolge
des Kriegsmeisters gerast, und ein anderer war in den Reihen der
Inquisition niedergegangen. Noch wusste niemand, wie viele meiner
Kollegen umgekommen waren, aber Voke hatte genug gesehen, um
abschätzen zu können, dass etwa zweihundert Inquisitoren
ausgelöscht worden waren.
Ich erinnerte mich an das Gespräch beim Abendessen, an die
Spekulationen über die mächtigen Kräfte, die sich gegen Honorius'
Verleihung wehren würden.
»War das der erste Akt in einem Hauskrieg?«, fragte ich. »Hat die
Ekklesiarchie oder vielleicht eine große Dynastie versucht, die
Ehrung und Beförderung des Kriegsmeisters durch den Kriegsherrn
Helican zu verhindern? Seine Ernennung zum Feudalprotektor wäre
bei vielen mächtigen Fraktionen auf keine große Gegenliebe
gestoßen.«
»Nein«, sagte er. »Obwohl ich sicher bin, dass viele das denken
werden. Was viele denken sollen.«
Voke sah mich durchdringend an. »Der Sinn bestand darin, die
Psioniker zu befreien«, sagte er. »Eine andere Erklärung gibt es
nicht. Der Erzfeind hat zugeschlagen, um Chaos und Zerstörung
anzurichten, den Gefangenen die Flucht zu ermöglichen und den Teil
der Parade zu verwunden, der am ehesten fähig war, ihre Flucht zu
verhindern.«
»Im Prinzip stimme ich Ihnen zu. Aber war die Befreiung der
Psioniker an sich der Sinn oder nur ein Mittel zum Zweck?«
»Wie meinen Sie das?«
»War es ein Versuch, die Psioniker zu befreien … oder war es nur
ein Akt extremer Gewalt gegen das Imperium, der durch die
Befreiung der gefährlichen Psioniker noch verschlimmert werden
sollte?«
»Die Frage können wir erst beantworten, wenn wir wissen, was
dahinter steckt.«
»Könnten die Psioniker selbst dafür verantwortlich gewesen sein?
Den Geist der Piloten manipuliert haben?«
Er zuckte die Achseln. »Auch das können wir nicht wissen. Noch
nicht. Der Kriegsmeister mag des Draufgängertums schuldig sein,
indem er die Gefangenen zur Schau stellte, aber wir müssten dafür
gesorgt haben, dass die Sicherheit um sie makellos war. Ich muss
einen Eingriff von außen argwöhnen.«
Wir schwiegen einen Moment. Honorius Magnus hatte den
Absturz des Blitzstrahls selbst nur hauchdünn überlebt und wurde
gerade an Bord einer Sanitätsfregatte auf dem Flottengelände einer
Notoperation unterzogen. Noch wusste niemand, ob der Kriegsherr
Helican überlebt hatte. Wenn er tot war oder der Kriegsmeister sei-
nen Verletzungen erlag, würde das Chaos einen historischen Sieg
errungen haben.
»Ich argwöhne ebenfalls einen Eingriff von außen«, sagte ich zu
Voke. »Vielleicht von einem oder mehreren anderen Psionikern, die
ihren Kollegen hierher gefolgt sind, um die Flucht zu inszenieren.«
Er spitzte seinen lippenlosen Mund. »Der größte Triumph meines
Lebens, Gregor, diese Ungeheuer im Namen des Imperators zu
fangen … und sehen Sie nur, was daraus entstanden ist.«
»Sie können sich nicht die Schuld dafür geben, Commodus.«
»Kann ich das nicht?« Er blinzelte mich an. »Wie würden Sie sich
an meiner Stelle fühlen?« Ich zuckte die Achseln.
»Ich werde Wiedergutmachung leisten. Nicht ruhen, bis jedes
dieser Ungeheuer vernichtet und die Ordnung wiederhergestellt ist.
Und dann werde ich nicht ruhen, bis ich herausgefunden habe, wer
und was dahinter steckt.«
Er starrte mich lange an.
»Was ist?«, fragte ich, obwohl ich zu wissen glaubte, was kommen
musste.
»Sie … Sie waren in der Nähe, wie Sie mir gesagt haben. Viel
näher als die meisten und vor den schlimmsten Verwüstungen durch
das Spatiantor geschützt.«
»Und?«
»Sie wissen, was ich Sie fragen will.«
»Sie dachten, Sie fangen bei mir an. Ich bin zu müde, Voke. Ich
bin stehen geblieben, um dem Grabmal des Admirals die Ehre zu
erweisen.«
Er hob eine Augenbraue, als spüre er, dass ich mir eigentlich selbst
nicht glaubte. Aber wenigstens erwies er mir die Höflichkeit, mit
seinen sehr viel stärkeren psionischen Fähigkeiten nicht meinen
Geist zu sezieren, um die Wahrheit zu finden, die sich dort verbergen
mochte. Im Laufe der Jahre waren wir im Zuge unserer Begegnungen
zu einem grundlegenden Verständnis gelangt und waren jetzt quitt,
was das gegenseitige Verdanken des Lebens anging.
Er kannte mich gut genug, um mich nicht unter Druck zu setzen.
Wenigstens nicht jetzt.
Eine Interrogatorin eilte in den Raum.
»Meine Herren«, sagte sie. »Inquisitor Roban möchte Sie wissen
lassen, dass wir Kontakt zu einem der Ketzer hergestellt haben.«

Soweit sich ermitteln ließ, handelte es sich um einen Alpha-plus-


Psioniker namens Esarhaddon, einem der Anführer der ganzen
Bande. Von einer Gruppe unter Führung von Lyko und Heidane
verfolgt, war er in die Makropole geflohen und hatte dabei eine Spur
des Tumults und der Zerstörung zurückgelassen. Heidane war es
gelungen, einen von Vokes Astropathen mit einem verstümmelten
Hilfe-Ersuch zu erreichen.
Voke, Roban und ich machten uns mit einem Vernichtungstrupp
von sechzig Mann auf den Weg, dem auch die vier White Consuls
angehörten. Ihr Truppführer war ein besonders großer Sergeant
namens Kurvel. Wir gingen zu Fuß durch den Rauch und die
Trümmer. Bürgerbanden buhten und warfen mit Steinen nach uns,
aber der Anblick der vier furchtbaren Space Marines hielt sie auf
Distanz.
Esarhaddon, warnte mich Voke, sei ein Wesen mit einem
furchtbaren Intellekt und dürfe nicht unterschätzt werden. Als ich
sah, welches Schlupfloch sich das Ungeheuer ausgesucht hatte,
verstand ich, was Voke meinte.

Die Adelsfamilie Lange war in der Aristokratie von Thracian


Primaris prominent und unterhielt einen großzügigen Sommerpalast
im Ostsektor der Makropole Primaris unweit des merkantilen
Viertels, wo sie ihr Vermögen verdient hatte.
Der Palast erhob sich stolz über die Straßen mit den niedrigen
Habs ringsumher und war in sein eigenes Kraftfeld gehüllt.
Dies war einer der Bereiche der Stadt, die wir für sicher gehalten
hatten. Mit ihrer Macht und den ihnen zur Verfügung stehenden
Hilfsmitteln hätten Adelshäuser eigentlich in der Lage sein müssen,
sich für die Dauer dieser Unruhen zu schützen.
Aber nicht vor Esarhaddon. Er war drinnen und gebot über alle
Ressourcen des Palastes, um sich vor uns zu schützen.
Wir trafen Heidane auf der westlichen Zugangsstraße zum Palast.
Er hatte einen vielleicht zwanzig Mann starken Trupp bei sich. Die
Straße selbst war mit Leichen übersät, die meisten davon
gewöhnliche Bürger.
»Er beherrscht die Leute wie Marionetten«, sagte Heidane kurz
angebunden und ohne Begrüßung. »Er schickt sie in Wellen aus und
hindert uns daran, zur Gartenmauer und zum daran angrenzenden
Dienstbotenhaus zu gelangen.«
Wie ich schon gesagt haben mag, hatte ich wenig für Inquisitor
Heidane übrig. Er war ein hochgewachsener, grimmiger Mann mit
einer unansehnlichen Masse von Narbengewebe im Gesicht, die
Folge einer Begegnung mit einem hungrigen Carnodon auf Gudrun.
Er war Vokes Schüler gewesen, als ich ihn kennengelernt hatte.
Mittlerweile war er Inquisitor, und seine mentalen Kräfte, so sagte
man, überstiegen noch die seines alten Meisters. Als ich ihn sah,
überlief mich ein Schauder. Er hatte sich ausgedehnter chirurgischer
Behandlung unterzogen, nicht um den Schaden in seinem Gesicht zu
kaschieren, sondern um ihn noch zu betonen. Sein Schädel schien
sich zu einer beinahe pferdeartigen Form verlängert zu haben, mit
einem schnauzenartigen Mund voller stumpfer Zähne und dunklen,
düsteren Augen. Faserdrähte und Flüssigkeitsröhren bedeckten
seinen Schädel anstelle von Haaren wie Zöpfe. Er trug eine
Plaststahl-Rüstung in der Farbe von Blut und eine segmentierte
Energiegleve.
»Eisenhorn«, nickte er mir zu. Es war, als schüttle ein Streitross
seinen Kopf in meine Richtung.
»Sie kommen wieder!« Der Schrei kam aus den Reihen von
Heldanes Männern. Ein Stück weit entfernt rannten Gestalten durch
die vereinzelt lodernden Flammen auf der Straße und auf uns zu.
Waffen bereitmachen! Achtung! Heidane hatte gesprochen, aber
nicht mit seiner Stimme. Sein psionischer Befehl hallte durch unsere
Köpfe, und einige unserer Soldaten machten einen bestürzten
Eindruck.
Wurfgeschosse regneten auf uns nieder, und die Männer der
Inneren Garde spannten einen Schirm aus Aufruhrunterdrückungs-
Schilden. Vereinzelt wurde auch mit Handwaffen auf uns
geschossen, und ein Arbites neben mir fiel, als sich sein Knie in die
falsche Richtung durchbog und nachgab.
Die Angreifer, über hundert oder noch mehr, waren Bürger der
Makropole. Ihre Gesichter waren leer, und sie bewegten sich wie
Puppen. Wie von Heidane gemeldet, machte eine monumentale
psionische Kraft Marionetten aus ihnen. Die verräucherte Nachtluft
ionisierte unter Einwirkung der psionischen Rückstände.
Aktionen wie die anschließende bereiten mir keine Freude. Die
Bestie Esarhaddon zwang uns, gegen unschuldige Zivilisten zu
kämpfen, nur um uns zu schützen.
Vielleicht glaubte er, wir würden vor der Aufgabe zu-
rückschrecken und ihn in Ruhe lassen.
Wir waren jedoch die Inquisition.
Kurvel führte seine White Consuls an die Front, die sich mit den
Waffen auf den Brustharnisch schlugen und dazu durch ihre
Helmlautsprecher trotzig heulten. Ich sah, wie eine
Prometheumbombe einen traf, zerbrach und ihn in Flammen hüllte.
Er ging einfach weiter.
Wir schossen über die Köpfe der Meute in dem Versuch, sie in die
Flucht zu schlagen, aber sie hatten keinen eigenen Willen mehr.
Unser Feuer wurde tödlich. Nach zehn Minuten hatten wir der
wachsenden Zahl der Opfer dieses Planeten voller Widerstreben eine
erkleckliche Menge hinzugefügt.
Das brachte uns zur Straßenecke, den hohen Gartenmauern und
dem schillernden Kraftfeld um den Palast.
Ich hörte ein leises Kichern in meinem Kopf.
Esarhaddon.
Wo ist Lyko?, hörte ich Voke Heidane mental fragen.
Er ist mit einer Gruppe auf der Vorderseite und versucht das
Kraftfeld auszuschalten.
»Sie Idiot!«, sagte ich laut mit Blick auf Heidane. »Dieses
Ungeheuer kann eine so große Menge beherrschen, und sie
unterhalten sich geistig, wo Sie ihm so nah sind?«
»Dieses Ungeheuer«, erwiderte Heidane, »kann die Gedanken
jeder Person in dieser Stadt und noch weiter lesen. Er weiß, was wir
tun. Geheimhaltung nutzt nichts. Nur Anstrengung. Ist das zu hoch
für Sie?«
»Wie lange bis zum nächsten Angriff?«, fragte Kurvel, während er
seine Waffe nachlud.
»Sie kommen jetzt weniger häufig als bei unserer Ankunft hier«,
erwiderte Heidane. »So lange, wie Esarhaddon braucht, die
umliegenden Habs gedanklich abzusuchen und den nächsten
Marionettentrupp zu rekrutieren. Er muss sein Netz jedes Mal weiter
auswerfen.«
»Wie ist er hier reingekommen?«, fragte Roban.
Heidane schüttelte nur den Kopf und zuckte die Achseln. Roban,
ein robuster Inquisitor mittleren Alters in braun-gelben Gewändern,
war ein guter Mann, obwohl ich ihn nicht sehr gut kannte. Aber er
war ein unverblümter Xanthit, und der ultra-puritanische Heidane
hatte wenig für ihn übrig.
Voke und Heidane diskutierten mögliche Angriffspläne, während
Kurvel und die Soldaten einen schützenden Kordon um uns bildeten.
»Das ist eine verdammt undankbare Aufgabe«, sagte Roban zu
mir. »Ich weiß nicht einmal, warum wir überhaupt hier sind!«
»Als Kanonenfutter«, sagte sein jugendlicher Interrogator Inshabel
freimütig, und wir mussten beide lachen.
»Es muss etwas geben …«, sagte ich. Ich zückte meinen
Taschenabtaster und versuchte die Energiemuster und -spektren zu
lesen.
»Sie!«, rief ich einem der Arbites aus unserer Gruppe zu, einem
grauhaarigen Reviervorsteher in voller Aufruhrunterdrückungs-
Montur.
»Inquisitor?«
»Wie heißen Sie?«
»Gluclus, Herr Inquisitor.«
»Du lieber Gott-Imperator!«, seufzte ich, und Roban lachte
wieder.
»Nun gut, Glücklos - dieser Palast muss im Streifenbereich Ihres
Reviers liegen.«
»Ja, Herr Inquisitor.«
»Also fällt die Sicherheit der Straßen hier in Ihre Ver-
antwortlichkeit.«
»Wiederum ja, Herr Inquisitor.«
»Also … hat Ihr Revier den Feldtyp und alle weiteren Daten für
den Palast für den Notfall gespeichert.« Meiner Erfahrung nach
gehörte es zur normalen Verfahrensweise eines Arbites-Reviers,
solche Dinge über Schlüsselbauwerke in ihrer Zuständigkeit in
Erfahrung zu bringen.
»Die Daten unterliegen der Geheimhaltung, Herr Inquisitor.«
»Natürlich tun sie das«, seufzte ich erneut. »Aber jetzt wäre ein
guter Zeitpunkt…«
Er schaltete sein Kom ein und konnte schließlich nach viel Mühe
und Probieren Verbindung mit seinem Revier aufnehmen.
»Sie haben eine Idee, oder?«, fragte mich Roban.
»Vielleicht.«
»Der gerissene Inquisitor Eisenhorn …« »Der was?«
»Ich will Ihnen nicht zu nahe treten. Ihr Ruf eilt Ihnen voran.«
»Tatsächlich? Auf eine gute Weise?«
Roban grinste und schüttelte den Kopf wie ein Mann, der etwas
gehört haben mochte, aber beschlossen hatte, sich sein eigenes Urteil
zu bilden.

»Es ist ein altes konisches Typ-zehn-Feld«, berichtete Arbites-


Vorsteher Gluclus schließlich. »Tangente acht-sieben-acht,
harmonische Welle. Wir haben keine Möglichkeit, ihn vom Revier
aus zu schalten. Das hat Lady Lange nicht gestattet.«
»Ich wette, jetzt wünscht sie sich, sie hätte«, sagte Interrogator
Inshabel beißend und wiederum auf den Punkt. Ich begann ihn zu
mögen.
»Vielen Dank, Glücklos«, sagte ich. »Ich heiße Gluclus, Herr
Inquisitor.« »Ich weiß.«
Ich versuchte mich an alles zu erinnern, was Aemos mir im Laufe
der Jahre über Schilde und Kraftfelder erzählt hatte. Ich wünschte,
ich hätte sein Gedächtnis gehabt. Noch besser, ich wünschte, ich
hätte ihn bei mir gehabt.
»Wir können ihn neutralisieren«, sagte ich einigermaßen
zuversichtlich.
»Einen Deflektorschild neutralisieren?«, fragte Roban.
»Er ist konisch … nur eine Superoberfläche. Und er ist alt.
Deflektorschilde lenken praktisch alles ab, aber sie können das Feld
nicht mehr aufrechterhalten, wenn man einen oder mehrere
Projektoren lahm legt.
Der Strebepfeiler dort, um den die Gartenmauer gebaut ist, das
muss einer der Projektoren sein, wahrscheinlich im Boden
verankert.«
Roban nickte, anscheinend beeindruckt. »Ich verstehe die Logik,
aber nicht die Praxis.«
Ich ging zu Bruder Sergeant Kurvel, unterbrach sein Gespräch mit
Heidane ohne Entschuldigung und erklärte, was ich tun wollte.
Heidane erhob sofort Einwände. »Das versucht Lyko bereits!«
»Wie?«
Er hat die Außenkontrollen am Vordertor ausfindig gemacht und
versucht die Verschlüsselung zu knacken …«
»Verschlüsselung und Steuerung werden dank Esarhaddon tot und
unbrauchbar sein. Lyko verschwendet seine Zeit. Wir können das
Feld nicht abschalten. Wir können Esarhaddon die Herrschaft über
das System nicht streitig machen. Aber wir können das System selbst
unterminieren.«
Heidane wollte antworten, doch Voke kam ihm zuvor.
»Ich glaube, Gregor könnte recht haben.« »Warum?«
Voke zeigte auf die Umgebung. Annähernd fünfhundert Bürger
rückten aus Straßen auf allen Seiten gegen uns vor.
»Weil das Ungeheuer, wie Sie festgestellt haben, Heidane, uns
hören kann, und ihm dieser Plan ganz offensichtlich nicht gefällt.«

Kurvel brauchte etwa zehn Minuten, um das Pflaster und einen


Abschnitt der Gartenmauer mit seiner Energiefaust zu untergraben,
in denen wir von der wachsenden Meute der Marionetten beständig
angegriffen wurden.
»Kanalisation!«, verkündete Kurvel.
Ich wandte mich an die anderen, während es Wurfgeschosse und
Schüsse regnete. »Commodus … Sie müssen sie noch etwas länger
aufhalten.«
»Verlassen Sie sich darauf«, sagte er.
»Roban, nehmen Sie einen kleinen Trupp und folgen Sie mir.«
Heidane war nicht zufrieden. Aber mittlerweile hatte Heidane
längst nicht mehr das Kommando. Ich glaube, er ließ seine Wut an
den versklavten Bürgern aus.

Ich ließ mich in das Einstiegloch hinab. Zu meinem Trupp


gehörten Kurvel, Roban, Inshabel und drei Soldaten der Inneren
Garde. Die Verteidiger auf der Straße konnten kaum jemanden
entbehren.
Das schmutzige Kanalisationsrohr führte unter der Mauer durch,
bevor es scharf abfiel. Alter geflickter Stein bildete das Fundament
des Pfeilers. Der Stein war warm, und schwammige Pilzgewächse
wuchsen darauf.
Inshabel richtete einen Punktstrahler darauf, damit ich etwas sehen
konnte.
Kurvel konnte auch im Dunkeln sehen. Er holte seine letzten
beiden Sprenggranaten heraus und befestigte sie mit einer klebrigen
Paste aus einer Tube, die er aus seinem Rucksack holte, am Gestein.
»Ich wünschte, wir hätten mehr. Dann könnten wir die ganze
Mauer sprengen.«
»Das könnten wir, Bruder Sergeant, aber so ist es vielleicht noch
besser.«
»Warum?«
»Wenn wir diesen Projektor ausschalten, schließen sich die
Energien des Schildes vor dem Zusammenbruch kurz. Anstatt nach
außen zu explodieren, erzeugen sie einen elektromagnetischen
Impuls innerhalb des eigentlichen Schildes. Und ich glaube, ein
elektromagnetischer Impuls ist das Letzte, was Esarhaddon im
Moment will.«
Wie um meine Vermutungen sofort zu beweisen, peitschte ein
Wall aus psionischer Energie nach uns. Esarhaddon hatte seine
Achillesferse erkannt und richtete seine gewaltigen Kräfte jetzt
gegen uns. Die Marionetten waren ein reines Vergnügen gewesen,
doch nun war es an der Zeit, den Verstand der Jäger zu übernehmen
oder zu zerstören, bevor sie aufhörten, Spielzeuge zu sein und
gefährlich wurden.
Der Angriff des Psionikers war verheerend. Zwei der Inneren
Gardisten starben einfach. Der dritte fing an zu schießen, traf Kurvel
zwei Mal und verwundete Inshabel. Bedauerlicherweise schoss
Roban den Mann mit seiner Laserpistole nieder.
Der Verstand von uns anderen war schwerer anzugreifen, vor
allem wegen der Abschirmung, die das Gestein über uns bot, und
wegen unserer Nähe zum Energiefeld des Schildes.
Aber Roban, Inshabel, Kurvel und ich würden in wenigen
Sekunden ebenfalls tot oder in der Gewalt des Psionikers sein.
Wie ich mir in diesem Augenblick Alizebeth oder ein Mitglied des
Femininums an meiner Seite wünschte.
»Sprengen Sie! Sprengen Sie«, keuchte ich, während sich die
Blutgefäße in meiner Nase und im Hals zum zweiten Mal an diesem
Tag öffneten.
»Wir sind zu nah …«
»Tun Sie's einfach, Bruder Sergeant! Im Namen des Gott-
Imperators!«

Die Explosion zerstörte den Projektor. Sie erfüllte das


Kanalisationsrohr mit flackernder Zerstörung. Sie hätte uns alle
getötet, hätte Bruder Sergeant Kurvel uns nicht mit seinem massigen
gerüsteten Leib abgeschirmt. Es kostete ihn das Leben.
Ich habe dafür gesorgt, dass sein Name und sein Andenken vom
Primarch der White Consuls gebührend gewürdigt wird.

Sofort nach der Zerstörung des Projektors kollabierte der


Deflektorschild und neutralisierte die Palastsysteme mit einem
Donnerschlag elektromagnetischer Wut.
Und neutralisierte auch Esarhaddons brodelnde Geisteskräfte.
Meine Forschungen im Bereich der Unberührbaren durch
Alizebeth und später durch das Femininum, das sie gegründet hatte
und leitete, hatten mir verraten, dass psionische Kräfte, wie stark sie
auch sein mochten, sich letzten Endes auf die elektrischen Prozesse
im menschlichen Geist stützten, auf das Feuern der Impulse
zwischen den Synapsen. Unberührbare verhinderten dies irgendwie,
indem sie eine bestürzende und entwaffnende Leere rings um die
natürlichen und fundamentalen Vorgänge im menschlichen Gehirn
schufen. Das, hatte ich anfänglich geschlossen, war der Grund,
warum Psioniker in Gegenwart von Unberührbaren nicht
funktionieren … und weil in ihrer Nähe Vergesslichkeit und
Unbehagen vorherrschen. Und letzten Endes auch, warum sie
Menschen so stören und aufregen und Psioniker noch sehr viel mehr.
Ich hatte den alten Deflektorschild in ein kurzes, strahlendes
Unberührbar-Ereignis verwandelt.
Und jetzt, wo der ketzerische Psioniker Esarhaddon, der Imperator
verdamme ihn, vorübergehend taub, blind und stumm war, gehörte er
mir.
ACHT
Esarhaddons Bau. Lyko der Sieger. Ein Überbleibsel.

Wir drangen über die Mauer in den Besitz der Langes ein. Nach
dem Zusammenbruch des Schildes stank es durchdringend nach
Ozon, und die gestutzten Obstbäume und Laraebur-Hecken des
Gartens waren versengt und schwelten.
Mit Roban und Inshabel im Gefolge rannte ich einen Kiesweg
zwischen dem Dienstbotenflügel und dem Säulengang auf der
Ostseite entlang. Lichtstrahlen von Taschenlampen und Ziellasern
huschten hinter uns durch den Garten, während Heidane die
Hauptstreitmacht unseres Trupps durch den Garteneingang führte.
Das Haus war tot und dunkel, weil der Impuls einen gewaltigen
Kurzschluss erzeugt hatte. Die Haupttüren am Ende des Säulengangs
lagen zerschmettert auf dem Mosaikboden, da die den Schildkollaps
begleitende Druckwelle sie eingeschlagen hatte. Die Fenster waren
ebenfalls sämtlich zerstört.
Fotorezeptoren und Klimaanlagen in den polierten
Blauholzpaneelen waren durchgebrannt und verkohlt. Aus den
Tiefen des Palasts drangen Rauch und Flammenschein nach draußen.
Wir eilten weiter und fanden totes Hauspersonal und untätige
Servitoren. Eine ganze Reihe Prachtgemächer im Erdgeschoss stand
in Flammen, da kunstvoll gestaltete Prometheumlampen umgestoßen
worden waren.
Wir überprüften auf unserem Vormarsch die Räume auf beiden
Seiten. Roban ging voran und schwenkte seine Laserpistole hin und
her.
»Wie lange?«, fragte mich Inshabel.
»Bis?«
»Bis er sich von dem Impuls erholt?«
Ich wusste es nicht. Es ließ sich kaum sagen, wie schwer wir
Esarhaddon damit getroffen hatten und wie widerstandsfähig sein
Geist war. Jedenfalls würde es nicht lange dauern.
Im ersten Stock führte uns eine Ätherzittreppe in einen großen
Bankettsaal. Das Dach, eine Kuppel aus Panzerglas, war eingestürzt,
und das Psi-Gewitter knisterte und wogte hoch oben am Himmel. Bei
jedem Schritt knirschten Glassplitter oder Trümmerstücke.
Auch hier lagen Leichen, die Leichen der Adligen und
Bediensteten, wahllos durcheinander.
Ich hörte Bewegung und Schluchzen in einem angrenzenden
Vorzimmer.
Die kläglichen Insassen des Raums ächzten vor Entsetzen, als das
Licht unserer Taschenlampen sie fand. Eine Handvoll Überlebende
aus dem Haushalt, die sich im Dunkeln voller Furcht
zusammenkauerten. Viele wiesen Spuren psionischer Verbrennungen
oder telekinetische Quaddeln auf.
»Imperiale Inquisition«, sagte ich mit fester, aber ruhiger Stimme.
»Bleiben Sie ruhig. Wo ist Esarhaddon?«
Einige zuckten bei der Erwähnung des Namens zusammen oder
stöhnten. Eine Matrone in einem zerrissenen, irisierenden Kleid
krümmte sich in der Ecke zusammen und fing an zu weinen.
»Schnell … wir haben wenig Zeit! Wo ist er?« Ich erwog, meine
Geisteskraft einzusetzen, um sie zu einer Antwort anzuspornen, aber
ihr Verstand war in dieser Nacht bereits genug gefoltert worden.
Schon eine milde mentale Sondierung mochte den einen oder
anderen von ihnen töten.
»A… als das Licht ausging, ist er … ist er zum Westausgang
gerannt«, sagte ein blutverschmierter Mann, der etwas trug, das ich
für die Uniform der Langeschen Leibgarde hielt.
»Können Sie uns den Weg zeigen?«
»Mein Bein ist gebrochen …«
»Dann jemand anders! Bitte!«
»Frewa … geh du, Frewa!« Der Leibwächter zeigte auf einen
verängstigten Pagen, der hinter einer Säule kauerte.
»Komm, mein Junge, zeig uns den Weg«, sagte Roban
aufmunternd.
Der Junge erhob sich, die Augen vor Furcht weit aufgerissen. Ich
war nicht sicher, vor wem er mehr Angst hatte — vor Esarhaddon
oder den Inquisitoren, die vor ihm standen.

Ein Verbindungskorridor führte von der Rückseite des


Bankettsaals nach Westen zur privaten Landeplattform des Hauses.
Blutflecken und Glassplitter funkelten auf dem gefliesten Boden.
Ich spürte etwas auf der Haut, das mir wie ein Windhauch vorkam.
Vielleicht von einem Ausgang?
Schwere Brandschutztüren standen im Eingang zur im Dunkeln
liegenden Ladebucht offen. Jenseits der schattenhaften Gestalten
mehrerer zusammengesunkener untätiger Fracht-Servitoren stand
eine Hauptschleuse offen, durch die von außen Lichtschein flackerte.
Mit erhobener Waffe winkte ich Roban und Inshabel nach rechts.
Der Page duckte sich im Eingang. Die Beschaffenheit der Luft
veränderte sich, als versteife und spanne sich die Atmosphäre. Als
hole eine gewaltige Kraft tief Luft.
Esarhaddon erholte sich, ich war ganz sicher.
Blendendes grünes Licht erfüllte plötzlich die Ladebucht, ein
psychometrischer Schein, der einen brutalen Ausbruch psionischer
Energie begleitete. Roban und ich schwankten, da unsere Lungen
zusammengequetscht wurden und telekinetische Finger nach uns
griffen. Inshabel schrie auf, als er von hinten von dem Pagen Frewa
umgestoßen wurde. Mattäugig und mit Schaum vor dem Mund, war
der Junge in einem einzigen Augenblick in eine willenlose
Marionette verwandelt worden. Inshabel wehrte sich, aber der Junge
war völlig außer sich, und trotz seiner geringeren Körperfülle nagelte
er den Interrogator am Boden fest.
Ich hatte starke Kopfschmerzen, aber mir war klar, dass
Esarhaddon immer noch weit weg von seiner vollen Kraft sein
musste. Ich errichtete den stärksten Gedankenschild, den ich
erzeugen konnte, und eilte vorwärts.
Plötzlich ertönte das Knirschen von Servokupplungen. Eine große
Stahlpranke schwang nach meinem Kopf, und ich hechtete zurück.
Ein Frachtservitor, dessen Metallpanzer mit Grünspan bedeckt
war, erhob sich zu seiner vollen Größe von drei Metern und
schepperte auf hydraulischen Säulenbeinen auf mich zu.
Dampfwolken quollen aus seinen breiten Schultergelenken, als er
wieder die Arme nach mir schwang. Heiße gelbe Lichtpunkte
brannten in den Augenhöhlen des verbeulten Visiers.
Trotz seiner mechanischen Erscheinung war die Frachtdrohne wie
alle Servitoren um eine organische menschliche Komponente gebaut:
Hirn, Hirnstamm, Neuralnetz und Drüsen, so dass Esarhaddon ihn
kontrollieren konnte wie einen normalen Menschen.
Er schlug wieder nach mir und verfehlte. Das Glied sauste mit
einem lauten Pfeifen vor mir durch die Luft.
Der Servitor war wie ein großer Affe gebaut: stämmige kurze
Beine, tonnenförmige Brust, breite Schultern und lange dicke Arme.
Ideal für das Heben schwerer Lasten in den Laderaum eines
Transportschwebers.
Ideal für das Verwandeln eines menschlichen Körpers in blutigen
Brei.
Roban schrie eine Warnung. Ein zweiter, noch größerer Fracht-
Servitor mit einem langen, vierbeinigen Körper hatte sich ebenfalls
in Bewegung gesetzt. Seine Körperummantelung bestand aus
angefressenem braunem Metall, und wo sich normalerweise der Kopf
befunden hätte, war eine Gabelstapler-Vorrichtung, die ihm das
Aussehen eines Stiers verlieh. Die fettigen schwarzen Gabeln des
Staplers ruckten Roban entgegen, der sechs oder sieben Schüsse
abgab, die das Chassis der Maschine verbeulten oder von ihm
abprallten.
Ich wich zwei weiteren langsamen, schweren Schlägen des
Affenservitors aus. Wir verloren kostbare Zeit. Mit jedem Ticken der
Uhr erholte sich Esarhaddon und wurde stärker.
Ich jagte ein Boltgeschoss in den dicksten Teil des Leibes meines
Servitors, der daraufhin zurückruckte, während die Servos und
Kolben in seinen Beinen aufheulten, um die Aufprallwucht zu
kompensieren.
Ich hatte mein Energieschwert gezogen, dessen Klinge leuchtete.
Vom Profos von Inx für mich gesegnet, war es die Waffe meiner
Wahl. Meine Fechtkunst war schon immer gut gewesen, aber
Arianrhod hatte mich vor ihrem Tod im carthaeischen Ewl Wyla
Scryi unterrichtet. Wörtlich übersetzt bedeutet Ewl Wyla Scryi »das
Genie der Schärfe«, die carthaeische Fechtkunst.
Ich beschrieb eine Bewegung in Form einer Acht, den ghan fasl,
und dann einen Rückhand-Diagonalhieb, den uin oder die
umgekehrte Form des tahn wyla.
Der Hieb war gut. Die Energieklinge durchtrennte sauber den
linken Unterarm des Servitors, so dass die massige Greifklaue
scheppernd auf das Deck fiel.
Als sei es erbost, stürzte sich das Ding auf mich, krallte mit der
verbliebenen Hand nach mir und schlug mit dem rauchenden Ende
seines soeben verkürzten Gliedes um sich.
Ich begegnete ihm mit einer horizontalen Parade in Kopfhöhe
namens uwe sar und dann mit Paradehieben nach links und rechts,
dem ulsar und dem uin ulsar. Bei jeder Berührung der Energieklinge
mit dem Metallkörper sprühten die Funken. Ich duckte den nächsten
gewaltigen Hieb ab, wirbelte aus der Hocke herum und kam wieder
hoch, um einen ura wyla bei folgen zu lassen, den verheerenden
diagonal geführten Abwärtshieb von links nach rechts. Schneide und
Spitze meiner Energieklinge sägten das Rumpfgehäuse des Servitors
in einem elektrischen Blitz weit auf.
Der Schlagwechsel hatte mir genug Zeit gegeben, den Sitz der
Hirnstamm-Komponente des Servitors zu identifizieren, der infolge
der psionischen Kräfte, die ihn jetzt antrieben, vor meinem geistigen
Auge strahlend hell leuchtete. Er befand sich tief unter dem Panzer
zwischen den Schlüsselbeinen.
Ein weiterer uwe sar, dann der ewl caer, der Todesstoß. Mit der
Spitze voran bohrte sich die Klinge durch den Rumpf und spießte das
organische Hirn auf. Ich ließ die knisternde Klinge einen Moment
stecken, bis die gelben Augenpunkte erloschen, dann riss ich das
Schwert wieder heraus und trat zur Seite, da der Servitor zu Boden
fiel.
»Roban!«, rief ich, indem ich über meinen erledigten Gegner
sprang.
Doch Roban war tot. Die Gabelzinken des Servitors hatten seinen
schlaffen Körper in Höhe des Bauches aufgespießt, und der Servitor
zitterte, als wolle er ihn abschütteln.
Inshabel war auf den Beinen, und Tränen liefen ihm über das
Gesicht, während er den Servitor mit seiner Autopistole beschoss.
Fluchend rannte ich vor, hob das Energieschwert mit beiden
Händen und ließ es auf den Rücken des Servitors niedersausen. Ich
bezweifle, dass die Carthaener in ihrer Weisheit im geheiligten Ewl
Wyla Scryi einen Namen für einen wütenden Abwärtshieb haben, der
einem Servitor Rückgrat und Rumpf durchtrennt.
Inshabel rannte zu seinem toten Meister, als der Servitor
zusammenbrach, und versuchte den Leichnam zu befreien.
»Später! Machen Sie das später!«, sagte ich, indem ich diesen
Befehl mit meiner Willenskraft unterstützte. Inshabel war kurz
davor, sich von Wut und Trauer übermannen zu lassen, und ich
brauchte ihn.
Er hob seine Waffe auf und folgte mir.
»Der Page?«, fragte ich.
»Ich musste ihn schlagen. Ich hoffe, er ist nur bewusstlos.«

Wir rannten in die gewittergepeitschte Nacht auf dem Landeplatz


des Palastes. Psionische Blitze spalteten den Himmel, und der Wind
zerrte an uns. Auf dem Landeplatz selbst war niemand, aber auf dem
Rasen dahinter tobte ein Kampf. Ich konnte acht Gestalten
ausmachen, einige berobt, andere in der Rüstung der Inneren Garde,
die eine einsame, in gespenstisches Licht getauchte humanoide
Gestalt umzingelten. Dornige Flammenzungen loderten aus der
knisternden, leuchtenden Gestalt und fällten einen der Gardisten.
Esarhaddon. Sie hatten Esarhaddon in die Enge getrieben.
Inshabel und ich sprangen vom Landeplatz drei Meter tief auf das
nasse Gras und liefen dem Getümmel entgegen.
Trotz des Regens konnte ich Esarhaddon jetzt deutlich erkennen.
Ein hochgewachsener, beinahe nackter Mann mit wirren schwarzen
Haaren und einem hageren, sehnigen Körper, dessen zuckende,
tanzende Gliedmaßen von Elmsfeuer bedeckt waren.
Wir waren nur noch zehn Meter vom Rande der Kampfzone
entfernt, als eine der berobten Gestalten eine klobige Waffe hob und
damit auf den Psioniker schoss.
Eine Plasmakanone.
Der violette Strahl, fast zu hell, um hineinzusehen, traf
Esarhaddon. In seinem geschwächten Zustand konnte er sich nicht
dagegen wehren.
Er ging in Flammen auf, wie von Brandmunition getroffen, und
verglühte von Kopf bis Fuß lodernd mitten auf dem Rasen.

Inshabel und sich senkten die Waffen und näherten uns dem Ring
der Gestalten um den weißglühenden Brandherd. Während seine
berobten und Kapuze tragenden Akoluthen Gebete des Dankes und
der Erlösung murmelten, legte Inquisitor Lyko die Plasmakanone
nieder.
»Der Imperator wird es Ihnen danken, Lyko«, sagte ich.
Er drehte sich um und sah mich zum ersten Mal. »Eisenhorn.« Er
nickte. Sein schmales Gesicht wies Linien der Erschöpfung auf und
wirkte abgespannt, und seine blauen Augen waren
zusammengekniffen. Er war erst fünfzig Standardjahre alt und nach
den Maßstäben der Inquisition noch ein Jüngling. So jung, dass seine
vielversprechende Laufbahn den Makel überstehen konnte, mit dem
die Gräuel dieses Tages seine Leistung auf Dolsene beflecken
würden.
»Ich diene dem Imperator nicht wegen seiner Dankbarkeit. Ich tue
es zum Ruhm des Imperiums.«
»Genau«, sagte ich. Ich warf einen Blick auf das geschmolzene
Herz, das unser Jagdwild gewesen war. Für mich spielte es keine
Rolle, dass ich Lyko diese Gelegenheit verschafft hatte. Er konnte
den Ruhm haben. Mir war das egal. Die Flucht der Psioniker hatte
ihm einen Großteil des Ruhms geraubt, den er kürzlich erworben
hatte. Sie zu jagen, war seine einzige Möglichkeit der
Wiedergutmachung.

Die planetenweite Ankündigung, der Kriegsherr Helican habe das


Gemetzel unbeschadet überstanden und Kriegsmeister Honorius
werde es überleben, sorgte für einige Erleichterung. Die
Ankündigung erfolgte am sechsten Tag der Unruhen, nachdem die
imperialen Behörden langsam begonnen hatten, die Ordnung unter
den schwer getroffenen Bürgern von Thracian Primaris
wiederherzustellen. Aber sie half. Gewöhnliche Bürger, die davon
überzeugt waren, verloren zu sein, wurden so weit beruhigt, dass sie
glauben konnten, die Großen und Guten hätten das Gesetz wieder in
die Hand genommen. Die Panik ließ nach. Arbites-Einheiten began-
nen ihre letzten Einsätze gegen die unverbesserlichen Plünderer in
den Unterhabs.
Ich selbst zog keine große Aufmunterung daraus, denn ich
verfügte über die vertrauliche und streng geheime Information, dass
der Kriegsherr Helican tatsächlich schreiend und sich selbst
besudelnd unter dem einschlagenden Blitzstrahl der Imperiumsflotte
auf der Victor-Bellum-Allee gestorben war. Die Ekklesiarchie und
der Servitorum Helican hatten für einen Doppelgänger gesorgt, und
dieser Doppelgänger führte die Amtsgeschäfte an seiner Stelle fort,
bis er mehrere Jahre später eines natürlichen Todes an
Altersschwäche starb und ein Nachfolger unter sehr viel weniger
turbulenten Umständen vereidigt wurde.
In dieser privaten Niederschrift kann ich jetzt offen über diese
Täuschung der Öffentlichkeit sprechen, aber zu dem entsprechenden
Zeitpunkt wäre der Geheimnisverrat auch für den höchsten Servitor
des Imperiums mit dem Tode bestraft worden. Ich hatte nicht die Ab-
sicht, solch einen Verrat zu begehen. Ich bin Inquisitor und weiß, wie
wichtig es ist, die öffentliche Ordnung zu bewahren.
Was meine Laune zusätzlich zur Erschöpfung und zu den
Schmerzen meiner Wunden trübte, waren die Nachrichten zu Gideon
Ravenor. Mittlerweile wissen wir selbstverständlich alle, welchen
unschätzbaren und brillanten Beitrag er zur imperialen Bildung
leisten sollte und dass es dazu nie gekommen wäre, wenn ihn die
Geschehnisse nicht auf ein Leben der rein geistigen Beschäftigung
beschränkt hätten.
Damals hingegen, in jenem stinkenden Hospizzimmer an der
Straße des Vorauswissens, sah ich nur einen verbrannten,
verkrüppelten und physisch gelähmten Mann, einen brillanten
Inquisitor, dessen Laufbahn ruiniert war, bevor er sein Potenzial auch
nur annähernd hatte ausschöpfen können.
In den Augen mancher hatte Ravenor Glück gehabt. Er gehörte
nicht zu den hundertachtundneunzig Angehörigen der Inquisition, die
der Jäger, der hinter dem Spatiantor in den Großen Triumphzug
gerast war, auf der Stelle getötet hatte.
Er hatte sich wie fünfzig andere am Rand der Explosionszone
befunden und überlebt.
Mein Schüler war kaum wiederzuerkennen. Ein blutiges Bündel
aus verkohltem Fleisch. Hundert Prozent verbrannt. Blind, taub und
stumm, das Gesicht so verbrannt und geschmolzen, dass ein
Einschnitt an der Stelle gemacht werden musste, wo sich der Mund
hätte befinden müssen, um ihm das Atmen zu ermöglichen.
Der Verlust berührte mich ungemein. Die Verschwendung noch
mehr. Gideon Ravenor war der beste, vielversprechendste Schüler,
den ich je hatte. Ich stand neben seinem plasteküberzogenen
Feldbett, lauschte dem Saugen und Blubbern des Beatmungsgeräts
und des Flüssigkeitsabsaugers und erinnerte mich daran, was
Commodus Voke im Arbites Revier auf der Blammerstraße gesagt
hatte.
»Ich werde Wiedergutmachung leisten. Nicht ruhen, bis jedes
dieser Ungeheuer vernichtet und die Ordnung wiederhergestellt ist.
Und dann werde ich nicht ruhen, bis ich herausgefunden habe, wer
und was dahinter steckt.«
Um Ravenors willen gab ich mir in diesem Augenblick selbst
dieses Versprechen.
Damals hatte ich keine Ahnung, was damit verbunden sein und
wohin es mich führen würde.

Schließlich kehrte ich an dem Tag zum Ozeanhaus zurück, der


eigentlich der letzte der Heiligen Novene gewesen wäre. Niemand
begrüßte mich, und das Haus wirkte leer und verlassen.
Ich ging in mein Arbeitszimmer, goss mir einen viel zu großen
sehr alten Amasec ein und ließ mich auf einen Armsessel sinken. Ich
hatte das Gefühl, dass eine Ewigkeit verstrichen war, seit ich hier mit
Titus Endor gesessen und mir wegen Spekulationen Sorgen gemacht
hatte, die mir jetzt sehr unbedeutend und weit weg erschienen.
Eine Tür öffnete sich. Durch die sofort in der Luft liegenden
Kühle wusste ich, dass es Bequin war.
»Wir wussten nicht, dass du zurückgekehrt bist, Gregor.«
»Nun, das bin ich, Alizebeth.«
»Das sehe ich. Alles in Ordnung?«
Ich zuckte die Achseln. »Wo sind alle anderen?«
Sie hielt kurz inne und wählte ihre Worte mit Bedacht. »Zum
Zeitpunkt der Tragödie gab es öffentliche Unruhen. Jarat und Kircher
haben den Stab aus Sicherheitsgründen in die Bunker gebracht, und
ich habe mich mit dem Femininum im Westflügel eingesperrt und
sehnsüchtig auf deinen Anruf gewartet.«
»Die Frequenzen waren tot.« »Ja. Acht Tage lang.« »Aber alle
sind in Sicherheit?« »Ja.«
Ich beugte mich auf meinem Sessel vor und sah sie an. Ihr Gesicht
war von zu vielen Nächten der Angst blass und ausgemergelt. »Wo
ist Aemos?«
»Draußen, mit Betancore, Kircher und Nayl. Von Baigg ist auch in
der Nähe. Ist … es wahr, was wir über Gideon gehört haben?«
»Alizebeth… es…«
Sie ging in die Hocke und legte die Arme um mich. Es ist
schwierig für einen Psioniker, sich von einem Unberührbaren
umarmen zu lassen, wie lang und eng ihre persönliche Historie auch
sein mag. Aber ihre Absichten waren gut, und ich duldete den
Kontakt so lange, wie es die Höflichkeit gebot. Als ich sie sanft
wegschob, sagte ich: »Schick sie herein. Schick alle herein.«
»Sie passen nicht alle in dieses Zimmer, Gregor.«
»Dann auf die Meeresterrasse. Ein letztes Mal.«

Die zahlreichen Mitglieder meines ergebenen Stabs saßen oder


standen im grünen Schein der Meeresterrasse und schauten mich
erwartungsvoll an. Die Terrasse war gerammelt voll. Jarat hatte sich
ins Zeug gelegt und Getränke und Süßigkeiten nach draußen
gebracht, bis ich ihr ein Glas Amasec in die knorrigen Hände
gedrückt und sie gezwungen hatte, sich auf einen Stuhl zu setzen.
»Ich schließe das Ozeanhaus«, sagte ich. Es gab Gemurmel.
»Ich lasse den Mietvertrag weiterlaufen, aber ich habe nicht mehr
den Wunsch, hier zu leben. Tatsächlich habe ich nicht mehr den
Wunsch, auf Thracian zu leben. Nicht nach … dieser Heiligen
Novene. Es hat keinen Sinn, hier noch länger einen Stab zu
unterhalten.«
»Aber, Inquisitor, die Bibliothek?«, sagte Psullus von weiter
hinten.
Ich hob einen Finger. »Ich werde eine Vereinbarung mit einer der
hiesigen Wohnungsvermittlungen treffen, um das Haus weiter mit
Servitoren zu unterhalten. Wer weiß, vielleicht brauche ich hier
irgendwann wieder eine Unterkunft.« Ich füllte mein Glas nach,
bevor ich fortfuhr. »Aber ich will meine Operationsbasis verlagern.
Dieses Haus ist zumindest kompromittiert.«
Bei diesen Worten schaute Jubal Kircher unbehaglich in seinen
Saft.
»Ich will den Haushalt zum Anwesen auf Gudrun umsiedeln. Die
Umgebung dort gefällt mir besser als diese … Makropol-Hölle. Jarat,
Sie und Kircher werden sich um das Zusammenpacken und die
Organisation des Umzugs kümmern. Ich hätte gern, dass Sie die Lei-
tung des Haushalts auf Gudrun übernehmen, wenn Sie dazu bereit
sind. Mir ist bewusst, dass Sie Thracian noch nie verlassen haben.«
Sie beugte sich mit hochgezogenen Augenbrauen vor und ließ sich
diese jähe Veränderung in ihrem Leben durch den Kopf gehen. »Ich
… es wäre mir eine Ehre, Herr Inquisitor«, sagte sie.
»Das freut mich. Die Landluft wird Ihnen guttun. Das Anwesen
wird von einem Hausmeisterstab verwaltet, also brauche ich einen
guten Verwalter und einen guten Leiter der Haus-Sicherheit. Jubal…
ich möchte, dass Sie diese Aufgabe in Erwägung ziehen.«
»Ich danke Ihnen, Herr Inquisitor«, sagte Kircher.
»Psullus … wir werden die Bibliothek dauerhaft nach Gudrun
verlegen. Als mein Bibliothekar wäre es Ihre Aufgabe, sich darum zu
kümmern. Kann ich Ihnen das anvertrauen?«
»O ja … natürlich wird es Probleme geben, was die Handhabung
und Sorgfalt mit gewissen abgeschirmten Texten betrifft, und …«
»Aber ich kann Ihnen das anvertrauen?«
Psullus wedelte aufgeregt mit den dürren Händen, und alle
mussten lachen.
»Ich weiß, dass sich dieser Umzug über Monate hinziehen wird.
Alain … ich möchte, dass Sie die ganze Sache leiten und
beaufsichtigen.«
Von Baigg wirkte plötzlich sehr verlegen. »Ja, natürlich,
Inquisitor.«
»Das ist eine schwierige Aufgabe, Interrogator. Sind Sie ihr
gewachsen?«
»Ja, Herr Inquisitor.«
»Gut. Ich kehre spätestens heute in zehn Monaten zum Anwesen
auf Gudrun zurück. Ich gehe davon aus, dass es bis dahin das Heim
ist, das ich erwarte.«
Es war ein Versprechen, bei dessen Einhaltung ich kläglich
scheitern sollte.
»Was ist mit dem Femininum, Herr Inquisitor?«, fragte Surskova.
»Ich will es teilen«, sagte ich. »Ich will, dass sechs der besten
Mitglieder des Femininums nach Gudrun geschickt werden, um mir
dort zur Verfügung zu stehen. Die Zukunft des Femininums an sich
sehe ich außerhalb meiner Operationsbasis. Auf Messina habe ich ein
Domizil gemietet. Das wird die neue offizielle Heimat des
Femininums. Surskova, Sie werden den Umzug und die Einrichtung
der Unberührbaren-Schule dort beaufsichtigen.«
Sie nickte schockiert. Bequin wirkte vollkommen verblüfft.
Ich wandte mich den über hundert Bediensteten, Kriegern und
Helfern auf der Terrasse zu. »Das ist alles. Bis ich Sie wiedersehe,
möge der Gott-Imperator Sie schützen.«

Ich blieb mit Aemos, Bequin, Medea und Nayl zurück. »Die
Mühsal des Umzugs bleibt uns erspart«, sagte ich. »Ich hatte so eine
Ahnung«, grinste Medea.
»Auf uns warten zwei Missionen.« »Auf uns?«, fragte Bequin.
»Ja, Alizebeth. Es sei denn, du glaubst, dass wir zu alt dafür
sind?«
»Nein, ich … ich …«
»Ich war zu lange im Hintergrund tätig. Habe mich zu lange auf
meinen fähigen Stab verlassen. Ich sehne mich nach der Arbeit im
Feld zurück.«
»Bei unserer letzten Feldarbeit wärst du beinahe getötet worden«,
schalt Bequin finster.
»Was, glaube ich, beweist, dass ich nachlasse.«
»Schäm dich!«, murmelte Nayl grinsend.
»Also werden wir uns in ein Abenteuer stürzen. Nur wir. Weißt du
noch, wie die waren, Aemos?«
»Offen gestanden bin ich noch nicht über sie hinweg, Gregor,
aber, ja.«
»Alizebeth?«
Bequin verschränkte übellaunig die Arme. »Oh, nichts wäre mir
lieber, als mitzukommen und mit anzusehen, wie du getötet wirst…«
»Dann sind wir uns also einig?«, sagte ich. Ich kann nichts dafür,
dass ich keine Miene verziehe. Locke hat dafür gesorgt. Aber die
Wirkung war doch so, dass Nayl und Medea lauthals lachten und
Aemos vor sich hingackerte.
Alizebeth Bequin musste selbst unwillkürlich grinsen.
»Zwei Missionen, wie ich schon sagte. Nach dieser Besprechung
könnt ihr alle ein paar Personen aus unserem Stab rekrutieren. Nayl
— ein, zwei Kämpfer, auf die du dich verlassen kannst, Aemos —
einen Astropathen, den wir unbesorgt einsetzen können. Alizebeth —
ein oder zwei Angehörige des Femininums. Alles in allem maximal
zehn Personen. Nicht mehr, verstanden? Macht es unter euch aus,
und haltet mich da raus. Wir brechen in zwei Tagen auf, und ich will
nicht aus zweiter Hand von irgendwelchen Streitereien erfahren.«
»Was sind das denn nun für Missionen?«, fragte Medea, die sich
auf ihrem Polstersessel räkelte und die langen Beine über eine
Armlehne baumeln ließ. Sie trank einen Schluck Wein und fügte
dann hinzu: »Du hast doch zwei gesagt, richtig?«
»Zwei.«
Ich drückte einen Knopf auf dem Datenstab in meiner Hand, und
ein hololithischer Schirm erwachte über dem Tisch zum Leben. Die
Worte der Botschaft, die ich vor dem Beginn der Tumulte auf
Thracian erhalten hatte, wurden in großen Leuchtbuchstaben
angezeigt: »Skalpell schneidet schnell, eifrige Zungen enthüllt. Auf
Cadia, zur Terz. Hund wünscht Dorn. Dorn sollte scharf sein.«
»Scheiße!«, rief Nayl.
»Ist das authentisch?«, fragte Medea, indem sie mich musterte.
»Das ist es.«
»Gott-Imperator, er ist in Schwierigkeiten, er braucht uns …«,
murmelte Bequin.
»Sehr wahrscheinlich. Medea, du musst alles für unsere Fahrt nach
Cadia vorbereiten. »Das ist unser erstes Ziel.«
»Und das zweite?«, fragte Aemos.
»Das zweite?«
»Die zweite Mission?«
Ich sah sie alle an. »Wir wissen alle, wie ernst die Angelegenheit
auf Cadia ist. Aber ich habe Gideon einen Eid geschworen. Ich will
herausfinden, was hinter dieser Gräueltat hier steckt. Ich will es
finden, jagen und bestrafen.«
Wissen Sie, es ist schon komisch, wie sich die Dinge manchmal
entwickeln.

Es war schon spät, und wir nahmen eine hervorragende Mahlzeit


zu uns, die Jarat für uns zubereitet hatte. Naryl erzählte Aemos einen
verheerend kruden Witz, Medea, Bequin und ich unterhielten uns
über die Neuorganisation des Femininums und die vor uns liegenden
Missionen.
Ich glaube, sie war aufgeregt. Wie ich saß sie schon zu lange in
den hinteren Reihen.
Kircher kam auf die Terrasse und trat in das zarte grüne Licht.
»Herr Inquisitor, Sie haben einen Besucher.«
»Zu dieser Stunde? Wer ist es?«
»Er sagt, er heißt Inshabel, Inquisitor. Interrogator Nathun
Inshabel.«
Inshabel wartete in der Bibliothek auf mich. »Interrogator. Hat
mein Stab Ihnen eine Erfrischung angeboten?«
»Ich brauche keine, Inquisitor.«
»Nun gut… was führt Sie also zu mir?«
Inshabel, der nicht älter als fünfundzwanzig sein konnte, wischte
sich die dichten blonden Haare aus den Augen und sah mich
eindringlich an. »Ich … habe keinen Meister mehr. Roban ist tot.«
»Der Gott-Imperator gewähre ihm die ewige Ruhe. Man wird ihn
vermissen.«
»Herr Inquisitor, überlegen Sie manchmal, wie es wohl sein wird,
wenn Sie einmal sterben?«
Die Frage ließ mich stutzen. Tatsächlich hatte ich darüber noch nie
nachgedacht. »Nein, Inshabel, das tue ich nicht.«
»Es ist furchtbar, Herr Inquisitor. Als Robans ältester Akoluth fällt
mir die Aufgabe zu, seinen Stab, sein Vermögen und sein Wissen
aufzuteilen. Wie die Dinge liegen, fällt es mir zu, aufzuräumen. Ich
muss mir ein Bild über Robans Besitz machen.«
»Sie werden Ihren Verpflichtungen gewachsen sein, Interrogator,
da bin ich ganz sicher.«
Er lächelte schwach. »Vielen Dank, Inquisitor. Ich dachte mir, ich
… ich gehe einfach zu Ihnen und bitte Sie, mich aufzunehmen. Ich
will so gern ein Inquisitor sein. Mein Meister ist tot, und ich weiß,
dass Ihr … Ihr Interrogator …«
»Ja, richtig. Natürlich suche ich mir meine Mitarbeiter selbst aus.
Ich …«
»Inquisitor Eisenhorn. Ich bin nicht hergekommen, um sie
anzubetteln, einen entwurzelten Schüler aufzunehmen. Wie ich schon
sagte, muss ich Robans Nachlass regeln. Das heißt auch, dass ich den
offiziellen Autopsiebericht abzeichnen muss. Inquisitor Roban wurde
von einem Frachtservitor getötet, der von einem entlaufenen
Psioniker des Feindes kontrolliert wurde.«
»Und?«
»Um also den Papierkrieg zu beenden, musste ich Esarhaddons
Autopsiebericht durchgehen, um den Kausalzusammenhang zu
dokumentieren.«
»Das ist das übliche Verfahren«, bestätigte ich.
»Der Autopsiebericht war sehr kurz. Esarhaddons Leichnam war
von den Waden aufwärts verbrannt und vollständig verglüht. Wie bei
allen Fällen spontaner menschlicher Verbrennung hat die
Plasmawaffe kaum mehr übrig gelassen als Fleisch und Knochen von
Füßen und Knöcheln. Nur ein paar spärliche Überbleibsel.«
»Und?«
»Am Knöchel war kein Malleus-Brandmal.« »Ich … Was?«
»Ich weiß nicht, wen Inquisitor Lyko auf dem Rasen vor dem
Lange-Haus verbrannt hat … aber der Ketzer Esarhaddon war es
jedenfalls nicht.«
NEUN
Eechan, sechs Wochen später. Ein Wort mit dem Phant.
Messer in der Nacht.

Der zweiköpfige Wächter im schmuddeligen Eingang der Twistbar


betrachtete uns mit einem seiner verlausten Köpfe, während der
andere weggetreten eine Obscurapfeife rauchte.
»Nicht eure Bar, nicht euresgleichen. Geht weiter.«
Der Saftregen fiel durch die verrottete Markise schwer auf unsere
Köpfe, und ich verspürte wenig Lust, noch länger darin zu stehen.
Ich nickte meinem Begleiter zu, der seine Kapuze zurückschlug und
dem Wächter seinen Haufen verformter, zwinkernder Augen zeigte,
die seine Wange verunstalteten und sich am blassen Hals hinabzo-
gen. Ich hob meinen eigenen durchnässten Umhang und zeigte die
verkümmerten Tentakel, die aus einem zusätzlichen Ärmel unter der
rechten Achselhöhle sprossen.
Der Wächter erhob sich von seinem Hocker, und ein Kopf nickte
verschlafen. Er war so groß, massig und breit wie ein Ogryn, und
seine fettige Haut war voller Tätowierungen.
»Hnh …«, murmelte er, während er um uns herumhumpelte und
uns begutachtete. »Dann vielleicht doch. Ihr habt nicht wie Twists
ausgesehen. Na gut…«
Wir gingen hinein, ein paar dunkle Treppenstufen nach unten in
einen nächtlichen Clubraum voller Obscurarauch, in dem eine raue,
misstönende Musik namens »Stampf« lief. Tote Glasscheiben hingen
vor den Lichtquellen, und die Spelunke war ein Höllensumpf wie aus
den Verdammnisbildern des wahnsinnigen Genies Omarmettia.
Missgebildete, Deformierte, Zwergenwüchsige und Abschaum
saßen herum, spielten, tranken oder tanzten. Auf einer erhöhten
Bühne tanzte eine nackte, vollbrüstige augenlose Frau mit einem
grinsenden Mund anstelle eines Nabels und verrenkte sich zu den
stampfenden Rhythmen.
Wir erreichten den Tresen, einen verdreckten Halbmond aus Holz
unter einer Reihe harter weißer Lampen. Der Barmann war ein
aufgequollenes Ding mit blutunterlaufenen Augen und einer
schwarzen Schlangenzunge, die zwischen seinen feuchten, dünnen
Lippen und den verfaulten Zähnen hin und her fuhr.
»Hey, Twist, was darf's denn sein?«
»Zwei von denen«, sagte ich, indem ich auf die Pinnchen mit
klarem Kornschnaps zeigte, die eine Kellnerin auf einem Tablett
vorbeitrug. Sie wäre sehr schön gewesen ohne die gelben Stacheln
auf ihrer Haut.
Twists. Hier waren wir alle Twists. »Mutant« ist ein schmutziges
Wort, wenn man ein Mutant ist. Sie erfreuen sich daran, sich mit den
abträglichsten und gemeinsten Ausdrücken der Umgangssprache zu
belegen und tragen sie dann wie eine Ehrenmedaille. Es hat mit Stolz
zu tun, was in der Unterschicht ganz normal ist. Nicht-Telepathen
tun es, wenn sie sich »Stumpfe« nennen. Die hochgewachsenen,
schlanken Bewohner von Sylvan, einer Welt mit niedriger
Schwerkraft, tun es, wenn sie sich »Stangen« nennen. Eine
Verunglimpfung ist keine Verunglimpfung mehr, wenn man sie
selbst benutzt.
Das Arbeitsrecht auf Eechan macht es möglich, dass Twists als
Arbeitsverpflichtete in den industriellen Fabrik-Höfen und Saft-
Destillerien beschäftigt werden können, wenn sie sich an die Gesetze
halten und in den Barackensiedlungen in den Ausläufern der
Hauptmakropole von Eechan bleiben.
Der Barmann knallte zwei dicke Schnapsgläser auf den Tresen und
füllte sie bis zum Rand mit Kornschnaps aus einer mit einem
Ausguss versehenen Flasche.
Ich warf ein paar Münzen auf den Tresen und griff nach meinem
Glas.
Die blutunterlaufenen Augen starrten mich an.
»Was soll das? Imperiumsgeld? Komm schon, Twist, du weißt,
dass wir das nich' benutzen dürfen.«
Ich stutzte. Ein Blick den Tresen entlang zeigte mir, dass die
übrige Kundschaft mit Geld zahlte, das von den Fabriken ausgegeben
wurde, oder mit kleinen Brocken aus reinem Metall. Und dass wir
von allen angegafft wurden. Ein grundlegender Fehler, gleich am
Anfang.
Mein Begleiter beugte sich vor und trank einen Schluck. »Mach
nich' zwei durstigen Twists kein' Ärger, die mal Glück hatten und
schwarz gepunktet haben, hm?«
Der Barmann grinste, und seine schwarze Zunge züngelte. Er
strich die Münzen ein. »Gibt keinen Ärger, Twist. Du verdienst es,
ich nehm's. Ich sag ja nur, dass du's nicht rumzeigen sollst, mehr
nicht.«
Wir nahmen unsere Gläser und suchten uns einen Tisch. Wir
hatten sechs Wochen gebraucht, um nach Eechan zu gelangen, und
ich brauchte eine Spur.
Der Rhythmus änderte sich. Noch eine Stampf-Nummer dröhnte
durch die Bodenlautsprecher, bei der es sich für mein ungeschultes
Ohr nur um die Variation eines Anschlags auf den Gehörsinn
handelte. Aber die Menge klatschte und brüllte begeistert. Die nackte
Frau mit dem grinsenden Bauch ließ die Hüften in die andere
Richtung kreisen.
»Ich glaube, ich sollte dir die Sache überlassen«, flüsterte ich
meinem Begleiter zu.
»Du machst deine Sache prima.«
»›Mach nich' zwei durstigen Twists kein' Ärger …‹, um
Imperators willen … wo hast du so reden gelernt?«
»Warst du nie mit Twists zusammen?«
»Nicht so wie hier …«
»Dann nehm' ich mal an, dass du nich' so auf diese stampfende
Dröhnung stehst, Twist?«
»Hör auf damit, oder ich erschieße dich.«
Harlon Nayl grinste und blinzelte in gespielter Empörung mit all
seinen sechzehn Augen.«
»Trink aus, Twist. Wenn das nich' Phant Mastik ist, stech' ich mir
die Augen aus.«
»Ach, lass mich in Ruhe«, zischte ich und kippte meinen Schnaps.
»Hoch damit, runter damit und auf ein Neues!« Ich verzog das
Gesicht, als sich der Schnaps durch meine Speiseröhre brannte, und
nahm dann noch zwei von dem Tablett, das die Stachelschwein-
Kellnerin gerade vorbeitrug.
Phant Mastik saß mit seinen Kumpanen in einer Nische.
Generationen durch radioaktive Stürme hervorgerufener Mutationen
hatten ein fettleibiges Ding mit runzliger Haut und vergrößerten
Zügen aus ihm gemacht. Seine Ohren waren ausgefranste
fächerförmige Lagen aus geäderter Haut, und seine Nase war ein
hängender Rüssel. Ein unpassender Schopf dicker roter Haare zierte
seine niedrige Stirn.
Seine Augen waren schwarz und lagen tief in den Höhlen.
Und wirkten traurig. Ungeheuer traurig.
Er trank aus einem großen Krug, indem er den Alkohol durch
seine herabbaumelnde Nase sog. Sein Mund, durch hauerartige
Zähne verunstaltet, war nutzlos. Eine Twisthure mit einer unnötigen
Zahl von Armen trank etwas, rauchte ein Obscurastäbchen, erneuerte
ihre Gesichtsbemalung und stellte unter dem Tisch etwas mit Phant
an, das dieser eindeutig genoss. Wir näherten uns der Nische.
Phants Kumpane standen sofort auf, um uns den Weg zu
versperren. Ein gehörnter Schläger und ein Twist, dessen gesamter
Kopf eine runzlige Hautkapuze für ein übergroßes Auge war. Sie
griffen beide in ihre Gewänder.
»Wie geht's denn so, Twists?«, prustete der Gehörnte.
»Bestens. Wir wollen nich' keinen Ärger, nur mit Phant reden«,
sagte Nayl.
»Is' nich'«, sagte Großauge, dessen Stimme durch seine Kleidung
gedämpft wurde. Der Gott-Imperator wusste, wo sein Mund war.
»Glaub ich doch, wo wir doch so'n Haufen schwarz abgesahnt
haben, zu seinem Vergnügen.« Nayl wich nicht zurück.
++Lasst sie durch++, sagte Phant, dessen Stimme durch eine
augmetische Sprach-Einheit übertragen wurde. Ein Stimmen-
Implantat. Das konnten sich nur wenige Twists leisten. Phant war mit
Sicherheit gut im Geschäft.
Die Wächter traten beiseite und ließen uns in die Nische. Wir
setzten uns. ++Also?++
»Twist, ich sag dir, wir sind auf dem Markt für Bereich-Alpha
Hirnarbeiten. Wie wir hören, hast du eine übrig.«
++Wie ihr hört? Wo?++
»Hier und da«, sagte Nayl.
++Ach so. Und ihr seid?++
»Nur zwei Twists, die 'n Geschäft machen wollen«, sagte ich.
++Tatsache?++
Wir saßen einen Moment stumm da, während Phant neue Getränke
bestellte. Das Mädchen richtete sich jetzt die Frisur und schminkte
sich nach. Eine ihrer vielen Hände lag unter dem Tisch auf meinem
Knie. Sie zwinkerte mir zu.
Mit einem Auge, das aus dem Ende ihrer Zunge wuchs.
++Was ich habe, ist kein Bereich-Alpha, Twists. Es ist Bereich-
Alpha-plus.++
»Deswegen sind wir ja zu dir gekommen, Phant! Genau
deswegen! Gibt nich' keine Obergrenze für den Handel!«
++Wie wollt ihr bezahlen?++
Nayl legte einen der Barren auf den Tisch. »Reines Weichgelb.
Und wir haben die Barren. So viele wie nötig. Also …? Wann?
Wo?«
++Ich muss erst mit Leuten reden.++
»Kein Problem.«
++Wo kann ich euch erreichen?++ »Im Twist-und-Schlaf.«
++Dann schlaft gut. Vielleicht rufe ich euch an.++

Die Audienz war vorbei. Wir setzten uns an einen Tisch unweit
der Bühne und blieben noch ein paar Runden lang, wobei wir darauf
achteten, den Eindruck zu erwecken, als wüssten wir die
unanständigen Drehungen und Windungen des Mädchens mit dem
Bauchmund sehr zu schätzen.
Nach gut einer Stunde sahen wir Phant mit seinem Gefolge durch
einen Seiteneingang verschwinden. »Gehen wir«, sagte ich. Wir
tranken aus und standen auf. Nayl gab dem Stachelschweinmädchen
eine Handvoll Münzen und tätschelte ihren Hintern. Ihre Stacheln
sträubten sich, aber sie lächelte.
Der Wächter gönnte uns mit keinem seiner Köpfe noch einen
Blick, als wir gingen. Hinter der nächsten Ecke und außer Sicht der
trostlosen Spelunke gab ich Nayl eine von zwei Stimulanz-Spritzen
aus Messing, und wir entgifteten uns rasch, um den Alkohol zu neut-
ralisieren, der uns betäubte.
Es war mitten in der Nacht, aber es gab wenig Dunkelheit. Die
große Rundung von Eechans Ringsystemen erstrahlte in reflektiertem
Sonnenlicht und leuchtete wie Bänder aus diamantbesetztem Platin.
Die Hauptstraße der Barackenstadt war ein zerfurchter, mit Wasser
vollgesogener Morast, und die Reihen baufälliger, schmutziger
Häuser wurden von abblätternden Holzpromenaden flankiert.
Leuchtende Schilder und einige wenige Straßenlaternen spiegelten
sich in den Pfützen.
Jenseits der Barackenstadt im Westen erhoben sich die
gebirgsartigen Hänge der Hauptmakropole vor den Sternen wie ein
dunkler, mit Millionen winziger Lichter geschmückter Müllberg. Im
Osten waren die schmutzigen Schlote der Fabrikhöfe und
Destillerien zu sehen, aus denen brauner Dampf und gelbe Abgase in
den Himmel quollen.
Im Süden, auf dem grünen Ackerland — Ebenen aus dicken,
gummiartigen Gewächsen — konnten wir die Positionslichter
mehrerer großer Erntemaschinen sehen. Das waren segmentierte
käferartige Maschinen von der Größe eines kleinen Raumschiffs, die
den Grüngürtel mit massiven Ernte-Beißzangen aufkauten und im In-
nern in riesigen Bottichen und Verarbeitungsmaschinen verdauten.
Auf dem Rücken sprossen Schlote wie Rückenstacheln und spien
Flüssigabfälle und atomisierte Säfte hoch in die Atmosphäre, wo sie
eine Weile dahintrieben und dann wie Regen zur Erde fielen. Alles in
der Barackenstadt war klebrig vom Saft-Niederschlag. Der Regen
war zähflüssig wie Sirup. Die Pfützen auf der Straße ebenso. In
Ablaufrohren gluggerte und blubberte es, anstatt zu strömen. Überall
roch es nach sich zersetzenden Pflanzenfasern und verflüssigter
Zellulose.
»Glaubst du, er hat den Köder geschluckt?«, fragte ich.
Nayl nickte. »Man konnte sehen, dass er interessiert war. Gold ist
selten auf Eechan. Seine Augen haben geleuchtet, als ich ihm den
Barren gezeigt habe.«
»Aber er wird uns überprüfen wollen.«
»Natürlich. Er ist Geschäftsmann.«
Zum Schutz vor dem klebrigen Regen hatten wir die Kapuzen
hochgeschlagen. Ein paar Mutanten waren in der Nähe, sämtlich in
stinkende Lumpen gehüllt. Sie schlurften dahin, lungerten in
Hauseingängen um abgedeckte Brenner herum oder rauchten
gemeinsam Obscura-Wasserpfeifen in düsteren Durchgängen, wo sie
vor dem Regen geschützt waren.
Sirenen jaulten plötzlich die Hauptstraße entlang, und Nayl zog
mich in eine Gasse. Ein schwarz gepanzerter Schweber mit grellen,
vergitterten Scheinwerfern kroch vorbei.
Ich sah das Wappen der Arbites der Hauptmakropole auf der Seite,
und ein gerüsteter Offizier saß im Dachluk und bediente einen
Suchscheinwerfer.
Der Strahl traf uns und wanderte weiter. Noch einmal heulte kurz
eine Sirene auf, dann hörten wir eine verstärkte Stimme fordern:
»Ausweise und Papiere, ihr fünf. Vorwärts!«
Ächzend und murrend trat eine Gruppe von Twists auf die Straße
und ins Scheinwerferlicht, während die Beamten ausstiegen, um sie
zu filzen und ihre genetischen Abdrücke durch die Systeme zu jagen.
Was uns nicht passieren durfte. Nicht, wenn wir unseren Status als
anonyme Mutanten erhalten wollten. Ein einziges Vorzeigen meiner
Papiere würde uns an allen Kontrollen der Arbites vorbeibringen.
Aber es mochte auch Lyko alarmieren.
Ich hatte auf vollständige Tarnung für diese Mission bestanden.
Niemand wusste offiziell, dass wir hier waren. Aemos hatte
vorsichtig recherchiert, und es gab auch keine offizielle Spur von
Lyko. Aber das war auch zu erwarten gewesen, und es ließ sich
unmöglich sagen, wie viele Beamte der Hauptmakropole er darauf
angesetzt hatte, ihn über die Anwesenheit von Inquisitoren in
Kenntnis zu setzen.
Nayl und ich wandten uns an der nächsten Kreuzung nach Westen
und folgten dem Labyrinth der Gassen und Durchgänge zwischen
den Mietskasernen und Fabrikhabs, um auf einem Umweg zum
Twist-und-Schlaf zu gelangen, der uns abseits der Hauptstraßen und
der Arbites-Kontrollen halten würde.
Und, wie sich herausstellte, in Schwierigkeiten brachte.

Zuerst sah es gar nicht danach aus. Ein kleiner, in Lumpen


gehüllter Zwerg mit buschigen Augenbrauen trat uns wie ein
Verkäufer grinsend in den Weg. Er hielt die Hände offen
ausgestreckt, als wolle er knicksen.
»Twists, meine lieben Freunde … ein paar Imperiale für einen
armen Verwachsenen, den das Glück verlassen hat.«
Ich hörte Nayl sagen: »Nich' heute, Twist. Aus dem Weg.«
Aber ich hatte mich bereits gespannt. Warum fragte dieser
Abschaum gezielt nach imperialen Münzen? Das konnte nur
bedeuten, dass er uns in der Bar gesehen hatte und uns absichtlich
gefolgt war.
Seine Komplizen kamen aus der Dunkelheit des Saftregens hinter
uns.
Ich rammte Nayl mit einer mentalen Stoßwelle das Wort
Ausweichen ins Bewusstsein und warf mich zu Boden.
Eine massive stachelige Waffe segelte über unsere Köpfe hinweg
und traf nur noch leere Luft.
Der Zwerg, der uns aufgelauert hatte, stieß eine Reihe der
obszönsten Flüche aus, die ich je gehört hatte, und stürzte sich auf
mich. Er hatte einen zweischneidigen Dolch mit einem gerändelten
Handschutz.
Ich packte sein Handgelenk, als er ihn nach mir stoßen wollte,
brach ihm den Ellbogen und trat ihn durch einen Zaun in der Nähe,
während er vor Schmerzen schrie.
»Boss! Bewegung!«, hörte ich Nayls Warnung und wälzte mich
sofort zur Seite. Einen Sekundenbruchteil später klatschte die
Stachelwaffe in den Matsch.
Es handelte sich um ein dickes Stück Holz, in das Nägel und
Messerklingen gehämmert waren.
Das stumpfe Ende wurde von zwei erstaunlich großen Pranken
gehalten. Die Pranken gehörten einem Koloss, einem zweihundert
Kilo schweren Ungeheuer, das mit knochigen Fischschuppen bedeckt
war. Es trug nur eine zerlumpte blaue Hose, die um den Bauch auf
beinahe komische Weise von roten Hosenträgern gehalten wurden.
Das Ungeheuer schwang die Stachelkeule wieder nach mir, und
ich musste zur Seite hechten und mich über die Schulter abrollen, um
ihr zu entgehen.
Nayl kämpfte mit zwei anderen, einer Frau in schwarzer
Lederkleidung, deren Mund und Nase auf scheußliche Art zu einem
einzigen, sabbernden, knurrenden Organ verwachsen waren, und
einem hochgewachsenen, dünnen Mann mit einem Gesicht, das auf
eigentümliche Weise durch Auswüchse aus Knochen und Knorpeln
entstellt war.
Die Frau hatte eine Sichel in jeder Hand, und der Mann war mit
einem Streitkolben bewaffnet, der aus einer verstärkten Strebe
bestand und in den verrosteten Blättern zweier Holzsägen auslief.
Nayl hatte sein gezahntes Kurzschwert und sein Duellmesser
gezogen und wehrte Stöße und Hiebe der beiden ab.
Ein Energieschwert, eine Boltpistole, ein Lasergewehr … all diese
Waffen hätten dieser unnötigen Begegnung sehr schnell ein Ende
bereitet. Aber wir hatten uns darauf geeinigt, nichts zu tragen,
wodurch wir uns von der Bevölkerung der Twists abgehoben hätten.
In der Barackenstadt war das technische Niveau sehr niedrig. Eine
Plasmawaffe hätte den Kampf rasch beendet, aber die Geschichten
darüber würden noch rascher die Runde gemacht haben.
Der schuppige Riese ging wieder auf mich los, und ich fiel durch
die verrotteten Flakbretter eines Zauns bei meinen Bemühungen,
seinem Hieb auszuweichen. Plötzlich lag ich zwischen den
Trümmern im Hinterhof einer der widerlichen Mietskasernen. In
einem der oberen Fenster ging ein Licht an, und Beleidigungen,
Steine und der Inhalt eines Nachttopfs wurden nach mir geworfen.
Der Riese griff weiter an und schwang seine Keule hin und her.
Die Nägel und Klingen wiesen dunkle Flecken von getrocknetem
Blut auf.
Er drängte mich bis an die Mauer des Mietshauses zurück und
holte wieder aus.
Nein!, befahl ich ihm mental. Er blieb wie angewurzelt stehen. Der
Regen aus Beleidigungen und Exkrementen von oben versiegte
ebenfalls.
Er würde einen Moment brauchen, um sich und seine Wut
wiederzufinden. Ich ging auf ihn los und schlug ihm die Faust auf die
Stelle, wo sich seine Nase hätte befinden müssen. Knochen knackten,
Blut spritzte.
Der Riese fiel schwer auf den Rücken, als sich die Knochen seiner
Nase in sein Hirn bohrten.
Nayl schien sein ungleiches Duell Spaß zu machen. Er verspottete
seine Angreifer, während er die Sicheln mit dem Schwert abwehrte
und die anstrengenden Angriffe des Streitkolbens mit dem Messer
parierte. Ich sah, wie er herumwirbelte und dem Mann einen Tritt in
den Bauch verpasste, der ihn wegschleuderte, um dann der grässlich
schnaubenden Frau seine volle Aufmerksamkeit zu widmen.
Doch aus der Nacht lösten sich noch mehr Gestalten.
Hässlicher untermenschlicher Abschaum in Lumpen. Drei oder
vier.
Ich rief Nayl eine Warnung zu und zog meine Schwarz-
pulverpistole. Es handelte sich um eine klobige Antiquität, die ich
auf dem Schwarzmarkt auf Fronts Planet erstanden hatte, aber ich
hatte sie dennoch auf das technische Niveau Eechans
heruntergeschraubt, indem ich die Beschläge mit den Gravuren durch
entsprechend geformte Stücke aus Packkistenholz ersetzt hatte.
Der Steinschloss-Mechanismus war jedoch in gutem Zustand. Er
knallte laut mit einem Blitz, der Rückschlag fuhr durch meine Hand,
und die Kugel traf den nächsten Twist in die Stirn und sprengte
dessen Hinterkopf in einer erstaunlich blutigen Fontäne.
Aber es war eine einschüssige Waffe, und zum Nachladen blieb
keine Zeit.
Zwei der verbliebenen Gesetzlosen gingen direkt auf mich los,
während der dritte Nayl von der Seite angriff.
Ich schlug dem ersten, der mich erreichte, mit dem abgerundeten
Kolben der Pistole die Zähne aus und wich dem schlecht gezielten
Rapierhieb des zweiten aus.
Ich taumelte zurück und zog meine eigene Klinge. Ebenfalls ein
Rapier. Gute zehn Zentimeter kürzer als die Waffe meines Gegners,
aber ausbalanciert und mit einem Handschutz aus gegliederten
Metallstreben versehen.
Unsere Klingen trafen aufeinander. Er war gut, durch die Schule
der Kämpfe und des Metzeins in der Barackenstadt gegangen. Aber
ich … hatte mich auf meiner Seite.
Ich verblüffte ihn mit dem ulsar und dem uin ulsar und drängte
ihn dann mit einer Vier-Schlag-Kombination aus pel ighan und uin
pel ihnarr zurück, bevor ich ihm die Klinge mit einem raschen tahn
asaf wyla aus den Händen fegte.
Dann der ewl caer. Meine Klinge durchbohrte seinen Rumpf.
Einen Moment schaute er verwirrt drein, dann glitt er von meiner
Klinge und fiel tot zu Boden.
Sein Komplize mit dem zerschlagenen Gesicht, der nach meinem
Pistolenhieb heftig blutete, warf sich auf mich, und ich fuhr herum
und enthauptete ihn mit der Schneide meiner Klinge. Die Carthaener
glauben, dass Schneidearbeit ein Ausdruck von Faulheit ist, und
legen Wert auf die Benutzung der Spitze.
Aber wen störte es?
Nayl hatte den dritten Angreifer mit einem Körpertreffer erledigt,
und als ich mich umdrehte, blockierte er gerade beide Sicheln der
Frau mit seinem Messer und durchbohrte sie mit dem Schwert.
Er wandte sich mir zu und hob sein blutiges Kurzschwert in einem
Salut vor die Nase. Ich erwiderte die Geste mit dem Rapier.
Die Sirenen eines Streifenwagens der Arbites jaulten nicht weit
entfernt.
»Zeit zu verschwinden«, sagte ich zu Nayl.

»Ich hielt euch für tot!«, fluchte Bequin, als Nayl und ich in das
Zimmer im Twist-und-Schlaf platzten.
»Wir hatten noch Spaß auf dem Heimweg«, sagte Nayl. »Keine
Sorge, Lizzie. Ich habe den Boss heil zurückgebracht.«
Ich lächelte und goss mir einen kleinen Amasec ein. Bequin hasste
es, »Lizzie« genannt zu werden. Nur Nayl hatte den Mut dazu.
Aemos war am Fenster. Irgendwie passten die Lumpen seiner
Twist-Verkleidung gut zu ihm.
»Äußerst bestürzend - die Arbites kommen hierher.«
»Was?«
Nayl ging zum Fenster.
»Aemos hat recht. Drei Streifenwagen halten draußen. Beamte
betreten das Haus.«
»Versteckt euch, sofort!«, befahl ich.
Aemos eilte durch die Verbindungstür ins andere Schlafzimmer
und legte sich ins Bett. Nayl stolperte in das angrenzende
Badezimmer und täuschte mit einem Zahnbecher und lautem Ächzen
und Stöhnen vor, er sei damit beschäftigt, sich zu übergeben.
Alizebeth sah mich gehetzt an.
»Ins Bett! Schnell!«, befahl ich.
Die Arbites traten die Tür auf und hielten ihre Taschenlampen auf
das Bett. »Makropol-Arbites! Wer ist hier drin?«
»Was soll das?«, fragte ich, indem ich das Laken zurückschlug.
»Ein Straßenkampf mit Toten … Zeugen sagen, die Täter wären
hier untergetaucht«, sagte der Arbites-Sergeant, indem er sich dem
Bett näherte.
»Ich war die ganze Nacht hier. Mit meinen Freunden.«
»Bürgen die für sich, Twist?«, fragte der Sergeant und hob seine
Waffe.
»Was ist denn? Warum ist es so hell?«, sagte Bequin, während sie
aus dem dreckigen Bettzeug auftauchte. Irgendwie hatte sie ihr Kleid
unter dem Laken ausgezogen. Nur mit knapper Unterwäsche
bekleidet, glitt sie auf mich.
»Was wollt ihr? 'n Mädchen dran hindern, voranzukommen?
Schämt euch!«
Der Sergeant ließ den Strahl seiner Taschenlampe über ihren
Körper wandern, während sie sich an mich klammerte. Ich setzte das
alberne Lächeln des Glücklichen oder Betrunkenen auf.
Er schaltete das Licht aus. »Entschuldigen Sie die Störung,
Fräulein.« Die Tür schloss sich, und die Arbites polterten weiter.
Ich zwinkerte Bequin zu. »Gut improvisiert«, sagte ich.
Sie löste sich abrupt von mir und schnappte sich ihre Kleider.
»Komm bloß nicht auf komische Ideen, Gregor!«

Um die Wahrheit zu sagen, hatte ich schon seit vielen Jahren


komische Ideen in Bezug auf sie. Sie war wunderschön und auf eine
erhabene Art sexy. Aber sie war auch eine Unberührbare. Es
bereitete mir Schmerzen, ihr nah zu sein. Körperliche Schmerzen.
Ich hasse diese Tatsache. Ich empfinde sehr viel für Bequin und
sehne mich danach, mit ihr zusammen zu sein, aber es wird nicht
geschehen. Nie, niemals.
Das ist eins der wahrhaft großen Betrübnisse in meinem Leben.
Und in ihrem auch, hoffe ich in meinen selbstbeweihräuchernden
Momenten.
Ich lag im Bett und sah ihr dabei zu, wie sie ihr Kleid wieder
anzog, und ich spürte den Stich des Verlangens.
Aber es gab keinen Weg. In der ganzen Galaxis nicht.
Sie war unberührbar. Ich war Psioniker.
Es war der Weg, auf dem Schmerzen und Wahnsinn lagen.
ZEHN
Sinnieren über Lyko.
Das Abgekäute. Der höchste Bieter.

Tumultartige Saft-Unwetter suchten die Twiststadt im


Morgengrauen heim, überzogen den Himmel mit wirbelnden
Dünsten und ließen Ziegel und Läden unter dem schieren Gewicht
der niederprasselnden Pampe erbeben. Donner grollte. Danach war
die Landschaft in Nebelschleier gehüllt und die allgemeine Stille
vom Gurgeln und Tropfen und schwärmenden Gekrabbel der
Saftläuse und Gewitterinsekten erfüllt.
Nayl ging früh mit Aemos aus dem Haus und kaufte ein Stück
weiter die Straße entlang Pappeimer mit warmem Essen beim
Twiststadt-Beauftragten, der bereits die Arbeitsschlangen versorgte,
die sich zum Schichtwechsel in den Fabriken bildeten. Bei ihrer
Rückkehr hatten sich Inshabel und Husmaan ebenfalls zu uns gesellt,
die unsere nächtliche Auseinandersetzung mit den Arbites in einem
kleinen Zimmer am anderen Ende des Flurs verschlafen hatten.
Ich musste den Orden noch offiziell davon in Kenntnis setzen,
dass sich Inshabel meiner Truppe angeschlossen hatte, aber er
gehörte jetzt dazu. Ich hatte das Gefühl, dass er ein Recht darauf
hatte, um Robans und um seinetwillen hier auf dieser Mission zu
sein. Er war mit der Information über Esarhaddon zu mir gekommen,
direkt und selbstlos. Wenige aus meiner Gruppe sprachen ihn mit
seinem Titel an — es würde noch lange dauern, bis sich jemand
neben dem Gedenken an Interrogator Ravenor behaupten konnte -,
aber er hatte sich mit seinem scharfen Verstand und seinem
gesunden, beißenden Witz sehr gut eingefügt. Er leistete mir bereits
bessere Dienste, als es Alain von Baigg jemals gelungen war.
Duj Husmaan war Felljäger auf seiner Heimatwelt Windhover
gewesen, als Harlon Nayl ihm zum ersten Mal begegnet war. Das
war noch zu Nayls Zeiten als Kopfgeldjäger geschehen, bevor er sich
mir angeschlossen hatte. Ich hatte Husmaan vor acht Jahren auf
Nayls Empfehlung angeworben, und er hatte sich als einfallsreicher,
wenn auch abergläubischer Krieger mit einem überragenden
Orientierungssinn und Gefühl für die Landschaft erwiesen. Nayl
hatte ihn persönlich aus den Leuten meines Gefolges für dieses
Unternehmen ausgesucht, und ich hatte kein Problem mit seiner
Wahl.
Husmaan war ein schlanker Mann mittlerer Größe mit
kupferfarbener Haut und weißen, sonnengebleichten Haaren sowie
einem ebensolchen Kinnbart. Hier auf Eechan beschränkte er seine
Kleidung wie alle anderen auf zerlumpte schwarze Twist-Gewänder.
Er ignorierte das Bündel hölzerner Einmal-Gabeln, die Aemos mit-
gebracht hatte, und schaufelte das heiße Essen mit den Fingern aus
dem Pappeimer.
Ich selbst stocherte müßig in meinem Essen herum und fragte
mich, wie nah wir Lyko wohl waren.

Lyko war dumm gewesen und hatte sich selbst verdammt. Die
schädliche Enthüllung, dass es nicht Esarhaddon war, der auf dem
Rasen des Lange-Palasts verbrannt war, hätte umgangen werden
können, wenn Lyko klaren Kopf behalten hätte. Er hätte behaupten
können, es sei ein Fehler und ein weiteres Beispiel für die Heimtücke
und Hinterlist des Ketzer-Psionikers gewesen.
Aber Lyko war geflohen. Ob aus Furcht oder zwecks Einhaltung
eines Zeitplans, wusste ich nicht. Aber er war geflohen und hatte sich
damit selbst belastet.
Ich war zu seinem Haus gegangen, einem gemieteten Hab hoch in
den Türmen von Makropole Zehn, kaum dass Inshabel mich auf die
Täuschung aufmerksam gemacht hatte. Aber Lyko war ausgezogen
und hatte seine Leute mitgenommen. Sein Hab war leer und
verlassen, und in den ausgeräumten Zimmern fanden sich nur noch
ein paar spärliche Abfallreste.
Ich hatte meinen Stab darauf angesetzt, seine Spur aufzunehmen,
ein sehr hochgestecktes Ziel angesichts der planetenweiten
Datenzugriffsprobleme nach den Unruhen. Ich hatte praktisch sofort
beschlossen, ihn allein zu verfolgen, ohne die Inquisition zu
informieren. Sie mögen das sonderbar finden, vielleicht sogar wag-
halsig. In gewisser Weise war es das. Aber Lyko war ein Inquisitor
mit einem guten Ruf, angesehen und mit vielen Freunden. Wenn ich
dem Ordos berichtete, ich wolle ihm nachspüren, weil er einen
berüchtigten Ketzer-Psioniker verstecke, würden seine Freunde ihm
dies ganz sicher zutragen oder mir Ärger machen.
Diese Freunde schlossen natürlich Heidane und Commodus Voke
ein: jenes unentwegte Trio, das die dreiunddreißig Psioniker auf
Dolsene überhaupt erst gefangen hatte. Wie hohl mir diese
»Heldentat« jetzt vorkam. Ich war so beeindruckt gewesen, als Lord
Rorken mir den Bericht vorgelegt hatte. Vielleicht war die »Gefan-
gennahme« leicht gewesen oder sogar inszeniert, wenn Lyko
insgeheim mit Esarhaddon im Bunde war. Vielleicht war all das Teil
einer komplizierten Verschwörung gewesen, um die Gräueltat in der
Makropole Primaris zu begehen.
Die grimmigen, fruchtlosen Spekulationen wollten mir nicht mehr
aus dem Kopf gehen. Ich konnte nicht beweisen, dass Lyko
verdorben war, nicht einmal jetzt, obwohl ich gewiss den Verdacht
hatte. Er mochte eine unwissende Marionette auf Dolsene oder im
Lange-Palast gewesen sein, aber vielleicht war er auch von Anfang
an eine treibende Kraft. Ebenso möglich, dass seine Abreise von
Thracian ein Zufall war, den ich falsch interpretiert hatte. Es wäre
nicht das erste Mal, dass ein Inquisitor ohne vorherige Ankündigung
untertauchte, um verdeckt zu ermitteln.
Es war sogar möglich, dass er die Täuschung ebenfalls
durchschaut, extrem schnell darauf reagiert hatte und einer Spur
folgte, um seinen Fehler wiedergutzumachen. Oder dass er nach der
Schande einfach geflohen war … oder …
So viele Möglichkeiten. Ich musste möglichst viele
berücksichtigen und abdecken, und ich war sicher, dass Lyko mehr
oder weniger schuldig war, also würde ich ihm folgen. Selbst wenn
er auch nur Esarhaddon jagte, würde er mich in die richtige Richtung
führen.
Und ich konnte die Inquisition nicht informieren oder mit Voke
oder Heidane reden. So groß war meine Unsicherheit, dass ich nicht
einmal mit Sicherheit davon ausgehen konnte, dass sie keinen Anteil
daran hatten.

Eine komplexe Serie unterschwelligster Hinweise hatte mich auf


seine Spur gebracht. Ich erspare Ihnen die Einzelheiten, weil sie
lediglich die pedantische Mühsal dokumentieren würden, die oft den
größten Teil der Arbeit eines Inquisitors ausmacht. Ich begnüge mich
damit festzuhalten, dass wir Kom-Protokolle und die Kom-Archive
der planetaren astropathischen Gilden auf Thracian durchgingen. Wir
beobachteten Schiffstransfers, Abfluglisten, den Verkehr in der
Umlaufbahn und Frachtbewegungen. Ich hatte Personal auf der
Straße, das zentrale Örtlichkeiten überwachte, in Kauffahrerbars
inoffizielle Fragen stellte und von den Freunden von Freunden und
den Bekannten von Bekannten, sogar von alten Gegenspielern
Gefälligkeiten einfordete. Ich warb Spurensucher und Bluthunde an
und nahm jede Witterung in Lykos Hab auf, die dort zu finden war.
Ich hatte Pheromon-Codes in Servitorschädel einprogrammiert, die
ich Raumhäfen und Orbitalstationen abklappern ließ.
Meinem Stab gehörten über hundert Personen an, und viele davon
waren ausgebildete Jäger, Schnüffler und Überwacher, aber ich
schwöre, dass die bloße Datenfülle uns beinahe das Hirn ausgebrannt
hätte.
Ohne Aemos hätten wir versagt. Mein alter Gelehrter hatte sich
einfach der Herausforderung gestellt, unermüdlich, nie missgelaunt,
und sein Verstand hatte immer mehr Informationen aufgesogen und
so viele mentale Quervergleiche pro Stunde vorgenommen, dass ich
für deren Bewältigung selbst mit einer Codiermaschine und einem
Datenskop länger als einen Tag gebraucht hätte.
Es schien ihm Spaß zu machen.
Die Hinweise kamen, einer nach dem anderen. Eine langfristig in
einem Lagerhaus in Makropole Acht eingelagerte Fracht, die von
einem von Lykos offiziellen Partnern bezahlt worden war. Eine
zweisekündige Pheromonspur in den Abflughallen eines
kommerziellen Raumhafens weiter die Küste entlang, in Fernmakro-
pole Beta. Ein verschwommenes Bild, das ein Bildbeobachter des
Munitoriums auf den Straßen von Makropole Primaris aufgenommen
hatte.
Ein Passagier, der eine ganze Reihe unnötiger Flüge von einem
Raumhafen zum anderen unternommen hatte, bevor er schließlich
den Planeten verließ, als versuche er, Verfolger abzuschütteln.
Dann die entscheidenden Hinweise: die oberflächliche Inspektion
der Zollfahndung einer für eine Fremdwelt bestimmten Fracht, bei
der die Anwesenheit psi-dämpfender Ausrüstung registriert worden
war. Eine Serie schlecht getarnter und vermutlich in aller Hast ge-
zahlter Schmiergelder an entscheidende Schauermänner im
Raumhafen von Primaris. Ein Freihändlerschiff — die Princeps
Amalgum -, das einen Tag länger im Orbit vor Anker geblieben war,
als ursprünglich gebucht, und dann überraschend die Kurspläne
geändert hatte.
Anstelle einer langen Fahrt zum Ursoridae-Riff war der
Freihändler über Fronts Welt zu den Twist-Fabriken von Eechan
geflogen.

Kurz nach Morgengrauen klopfte es an der Tür, und ich schickte


alle außer Nayl ins Nebenzimmer. Bequin und Inshabel besaßen die
Geistesgegenwart, alle Essenseimer und Gabeln bis auf zwei
mitzunehmen. Ich ging zum Fenster, und Nayl setzte sich auf einen
Stuhl, einen Arm lässig über der Rückenlehne, so dass die Autopis-
tole in seiner Hand nicht zu sehen war.
Ich konzentrierte mich einen Moment, um mich zu vergewissern,
dass unsere Twist-Verkleidungen aktiv waren, dann sagte ich:
»Herein.«
Die Tür öffnete sich, und das Stachelschweinmädchen aus der
Twistbar trat ein. Sie trug einen gleißenden Saftschutz-Umhang und
betrachtete uns neugierig, als sie die Kapuze zurückschlug.
»Ihr lasst euch Zeit, Twists«, sagte sie.
»Hast du irgendwas, Süße, oder musstest du einfach nach den
guten Sachen sehen, die du letzte Nacht nicht wolltest?«, fragte Nayl
mit einem lasziven Lächeln.
Sie verzog das Gesicht, und ein Kamm aus Stacheln auf ihrem
Kopf hob sich in einer Drohgebärde.
»Ich hab 'ne Nachricht. Ihr wisst, von wem.«
»Dem Phant?«
»Ich sag nichts, Genschmier. Ich bring sie nur.« »Dann bring sie.«
Sie griff in ihren Umhang und holte ein veraltetes primitives
Spürgerät heraus, das ziemlich ramponiert aussah. Sie hielt es kurz in
die Höhe und schaltete es so lange ein, dass wir das grüne Blinken
sehen konnten, dann schaltete sie es wieder aus und ließ es auf die
abgestoßene Tischplatte fallen.
»Es gibt eine Auktion. Der Artikel ist gefragt, also bringt reichlich
Gelb mit, sagt er. Reichlich.«
»Wo? Wann?«
»Heute, in Schicht zwei im Abgekäuten. Das Ding verrät euch,
wo.«
»Das ist alles?«, fragte ich.
»Alles, was ich habe. Ich bring's nur.« An der Tür zögerte sie.
»Vielleicht wollt ihr mir was für meine Mühe geben.«
Ich griff in meine Jackentasche und holte eine einzelne
Imperiumsmünze von hohem Wert heraus. »Nimmst du die?«
Ihre Augen blitzten. »Ich nehme alles.«
Ich warf sie ihr zu, und sie fing sie mit einer Hand.
»Danke«, sagte sie. Sie ging durch die Tür und drehte sich dann
noch einmal zu uns um, als habe mein großzügiger Beitrag zu ihrem
unmittelbaren Glück ihre Meinung über uns geändert.
Was er traurigerweise angesichts dieses jämmerlichen Orts
wahrscheinlich tatsächlich hatte.
»Traut ihm nich'«, riet sie uns, dann schloss sie die Tür und ging.
Das Abgekäute war der hiesige Name für das von den
Erntemaschinen verwüstete Ackerland. Wüstenlandschaften voller
zerfetzter Vegetation, die schon wenige Tage nach der Ernte wieder
nachwuchs, so schnell und üppig war das Wachstum der Flora auf
Eechan. Im Ackerland rings um die Hauptmakropole gab es zu jedem
Zeitpunkt mehrere tausend Quadratkilometer Abgekäutes.
Wir folgten dem Signal des Spürers nach Süden in das jüngst
gedroschene Gebiet.

Mittag. Das hatte sie mit Schicht zwei gemeint. Den zweiten
Schichtwechsel des Tages. Wir gaben uns zwei Stunden, um
hinzukommen.

Zu meinen Spekulationen über Lyko kam noch die Tatsache, dass


die Dinge noch keinen Sinn ergaben. Nayl hatte keine Mühe gehabt,
Phant Mastik als den hiesigen Sklavenhändler zu identifizieren,
dessen Spezialität Psioniker waren, aber warum benutzte Lyko ihn
überhaupt? Warum verkaufte Lyko Esarhaddon?
Aemos hatte gemutmaßt, es sei der letzte Teil der Abmachung,
nachdem Esarhaddon seinen Teil des Pakts erfüllt habe. Das setzte
voraus, dass Lyko das Kommando hatte, was ich bezweifelte. Und
wenn er den Ketzer nach getaner Arbeit einfach loswerden wollte,
warum ihn dann verkaufen? Warum dafür überhaupt erst den weiten
Weg hierher machen? Inshabel vermutete, Lyko könne mittlerweile
sehr erpicht darauf sein, den Psioniker loszuwerden, weil er Angst
vor ihm habe.
Ich hatte meine eigene Theorie. Lyko hatte Esarhaddon aus
irgendeinem anderen Grund nach Eechan gebracht, und über Phant
einen Scheinverkauf zu arrangieren, war einfach nur ein Köder, um
einen Verfolger herauszulocken, falls es einen gab.
Wie sich herausstellte, hatte ich recht. Ich war nicht überrascht.
Schließlich wäre ich genauso vorgegangen.
Das Abgekäute war eine miasmatische Brache. So weit das Auge
reichte, was angesichts der Saftnebel aus der letzten Nacht nicht
besonders weit war, war die Landschaft eine zerfurchte Ruine aus
abgerissenen Schösslingen, zerfledderten Pflanzenfasern,
ausgerissenen Wurzelknollen und planierter Erde. Die gewaltigen
Kettenspuren der Erntemaschinen hatten breite Furchen hinterlassen,
in denen ein Mensch bis zur Hüfte verschwinden konnte und auf
deren Boden Pflanzenmaterial und Erde zu einer glasigen Schicht
plattgewalzt worden waren, als sei alles in Aspik eingelegt worden.
Die dunstige Luft war feucht von Saft, und alles wimmelte von
Läusen und Gewitterfliegen. Sie schwirrten durch die Luft und
landeten auf uns, und wir konnten sie in unserer Kleidung spüren.
Mittlerweile waren wir alle vollständig bewaffnet und gerüstet,
obwohl wir unsere Twist-Verkleidungen aufrechterhielten. Man läuft
nicht nur mit einer Schwarzpulverpistole und einem spitzen Stock
bewaffnet in eine mutmaßliche Falle. Ich trug eine Vollrüstung und
dazu Energieschwert und Boltpistole. Die anderen waren ähnlich
massiv ausgerüstet. Wenn man uns jetzt erwischte, würde die
Aufrechterhaltung unserer Tarnung als Twists unsere geringste Sorge
sein.

Zehn Kilometer weiter südlich konnten wir die tuckernden,


reißenden Geräusche der Erntemaschinen durch den wirbelnden,
klebrigen Dunst hören. Alle paar Meter stießen wir auf einen
blutigen Schmier oder pelzigen Brei, die Überreste von Nagetieren,
die zwischen die Klingen der Erntemaschinen geraten waren.
»Man sollte meinen«, sagte Inshabel, indem er stehen blieb und
sich den klebrigen Schweiß vom Gesicht wischte, »dass sich die
hiesige Fauna mittlerweile an die Erntefabriken gewöhnt hat. Gelernt
hat, ihnen aus dem Weg zu gehen.«
»Manche Dinge werden nie gelernt«, murmelte Husmaan.
»Manche Dinge kommen immer zur Quelle zurück.«
»Er meint Nahrung. Er meint immer Nahrung«, sagte Nayl
grinsend zu mir. »Für Duj reduziert sich alles auf Nahrung.«
»Den Fabrikstatistiken zufolge«, sagte Aemos, »gibt es vier
Milliarden Feldratten auf jedem Demitar Feldfläche. Scharen von
ihnen fliehen vor den Erntemaschinen. Wir haben einen
Rattenkadaver alle zwanzig Meter gesehen, was bedeutet, dass nur
ein extrem geringer Prozentsatz von ihnen das Pech hatte, von den
Klingen erwischt zu werden. Das bedeutet, dass tatsächlich die
überwältigende Mehrheit geflohen ist. Sie sind schlauer, als man
meint.«
Er hielt inne. Alle waren stehen geblieben und starrten ihn an.
»Was denn?«, fragte er. »Was? Ich habe doch nur gesagt …«
»Dieser alte Kauz fantasiert mehr über Mathematik und Statistiken
als ich über die Frauen«, sagte Nayl zu Bequin, als wir uns wieder in
Bewegung gesetzt hatten.
»Ich weiß nicht, wen von euch ich mehr bedauern soll«, erwiderte
sie.

Husmaan hielt den Spürer in die Höhe, den uns das Sta-
chelschweinmädchen gegeben hatte, und schüttelte ihn. Dann
versetzte er ihm obendrein ein paar leichte Hiebe.
Wir wateten durch die Pflanzenfasern und erreichten ihn.
»Probleme?«, fragte ich.
»Das verdammte Ding … zu alt.«
»Zeig mal her.«
Husmaan gab es mir. Der Spürer war ein Haufen Schrott.
Ramponiert durch ein Leben harter Schläge und verbraucht, da die
Energiezelle praktisch leer war. Eine nette Note, anerkannte ich
Lykos sorgfältige Planung. Ein unzuverlässiger Spürer ließ alles sehr
viel echter aussehen. Eine nagelneue oder tadellos erhaltene Einheit
wäre so gut gewesen wie eine handschriftliche Einladung mit den
einleitenden Worten: »Liebe Verfolger, kommt bitte hierher und lasst
euch töten …«
Ich schüttelte das Gerät selbst und bekam noch ein Signal. Gerade
noch genug Saft, um uns in den Tod zu führen.
»Da entlang«, sagte ich.
Es war kurz vor Mittag. Die Sonne stand am Himmel, aber der
Saftnebel hatte sich nicht aufgelöst. Wir wurden in einen warmen,
gelben, klebrigen Schein getaucht. Dem Spürer zufolge waren wir
noch etwa einen halben Kilometer vom Auktionsort entfernt.
»Sie erwarten mich und Nayl, also gehen wir mit Bequin.« Ich
wollte einen Unberührbaren in meiner Nähe haben. »Inshabel, gehen
Sie mit Aemos nach Osten. Husmaan, nach Westen. In Deckung
bleiben. Niemand kommt, bevor ich nicht den direkten Befehl über
Kom gebe. Verstanden?«
Die drei nickten.
»Falls ihr etwas findet, sprecht Glossia und fasst euch kurz. Los.«
Nathun Inshabel entsicherte sein Lasergewehr und folgte mit
Aemos einer Kettenspur nach links. Die beiden hinterließen klebrige
Fußabdrücke in den glasigen zerquetschten Rückständen auf dem
Boden der riesigen Furche. Husmaans in Hanftuch gewickeltes
Präzisionslasergewehr war bereits entsichert. Er huschte nach rechts
und war rasch im Nebel untergetaucht.
»Sollen wir?«, fragte ich Bequin und Nayl.
»Nach dir«, grinste Nayl.
Ich gab einen letzten Befehl über Kom, in Glossia, und wir
marschierten ins zerfetzte Dickicht des Abgekäuten.

Phants Leute hatten mit Flammenwerfern eine freie Fläche in den


Morast des Abgekäuten gebrannt. Wir rochen den verbrannten
Faserbrei schon aus einigen Dutzend Metern Entfernung.
Der Nebel war immer noch dicht, aber ich konnte mehrere
Feldlaster, Schweber und Bodenfahrzeuge erkennen, die auf der
schwarzen Lichtung parkten. Leute machten sich darum herum zu
schaffen.

»Was siehst du?«, fragte ich Nayl.


Er ließ noch einmal seinen Feldstecher umherwandern. »Phant …
und seine Twist-Kumpane. Den Gehörnten und das Auge. Vielleicht
ein Dutzend, von denen einige meinen, sie hätten sich in der
Landschaft versteckt. Plus die angehenden Käufer. Ich sehe … drei
… nein, vier, allesamt Makropoltypen mit Wächtern. Alles in allem
sechzehn weitere Personen.«
Ich zog mir die Kapuze über den Kopf. »Vorwärts.«
»Der Platz ist rundum mit einem Stolperdraht gesichert.«
»Dann stolpern wir darüber. Dafür ist er schließlich da.«

Der Stolperdraht war eine knöchelhoch angebrachte Schnur, die


zwischen ausgerissenen Wurzelklumpen gespannt war. In Abständen
von vielleicht einem Meter hingen die in der Luft getrockneten
Panzer eines Gewitterkäfers, die kleine, hohl klingende Glocken
bildeten. Sie bimmelten und klirrten, als wir absichtlich an dem
Draht zupften.
Einen Moment später tauchten in Lumpen gehüllte Twist-Schläger
aus dem gemordeten Unterholz auf und richteten Klingen und
Luntenschlossgewehre auf uns.
»Wir wollen zur Auktion«, sagte ich zu ihnen, indem ich Phants
Spürer in die Höhe hielt. »Wir sind eingeladen.«
»Name?«, krächzte ein froschköpfiger Twist mit einer Armbrust
und einem Speichelproblem.
»Au-gor, Fremdwelt. Mit seinen Twists.«
Froschkopf winkte uns hinein. Die anderen versammelten sich vor
dem niedrigen Flakbrett-Podium, auf dem Phant Mastik stand und
uns betrachtete.
»Au-gor! Fremdwelt-Twist mit zwei weiteren«, verkündete
Froschkopf.
Phant nickte gewichtig, und Froschkopf und seine Männer wichen
zurück und schulterten ihre Waffen.
++Freut mich, dass du's einrichten konntest, Twist.++
»Du bist Phant. Du bist der Twist mit der Ware. Aber … meinen
Namen hab ich laut gehört, den der anderen nich'.«
++Machen wir uns miteinander bekannt, dann kann der Verkauf
beginnen.++
Phant betrachtete die anderen Käufer. Einer, eine umwerfende
Frau aus der Makropol-Oberschicht in einem engen Trikotanzug,
nickte. »Frovys Vassik«, sagte sie durch eine pan-linguale Servitor-
Schädeldrohne, die über ihrer Schulter schwebte.
Sie sprach eindeutig im Dialekt einer höheren Kaste, den die
Drohne übersetzte. Ich begutachtete sie und ihre beiden männlichen
Leibwächter rasch: dilettantische Vermögende, Möchtegern-
Kultisten, mit dem besten Material bewaffnet und gerüstet, das
Oberschichtgeld kaufen konnte.
»Merdok«, sagte der nächste, ein gebrechlicher, ältlicher Mann in
einem weißen Anzug, der sich auf einen Stock stützte und sich mit
einem Jajanagar-Spitzentaschentuch den Schweiß von der Stirn
wischte, das mehr gekostet hatte als Phants gesamte Kleidung. Er
hatte vier Wächter bei sich, untersetzte Frauen in gummierten
Kampfarena-Monturen, alle mit einem elektronischen Sklavenkragen
um den Hals.
»Tanselman Fybes«, sagte der dutzendgesichtige Mann links von
Merdok, indem er vortrat und höflich nickte. Er trug einen leuchtend
orangen Kühlanzug mit großen gegliederten Tauscher-Schaufeln auf
den Schultern. Sein Atem bildete Wölkchen in seinem persönlichen
Schleier aus kalter Luft, den der Anzug rings um ihn erzeugte.
Er war außerdem allein, was ihn augenblicklich gefährlicher
machte als die Makropol-Idioten, die ihre Leibwächter mitgebracht
hatten.
»Sie können mich Erotik nennen«, sagte der letzte Käufer, eine
alte Vettel mit verlebtem Gesicht, die ihren uralten Körper
unvorteilhafterweise in einen hautengen, stachelbewehrten
schwarzen Trikotanzug gezwängt hatte, das Markenzeichen des
Todeskultisten.
Oder Möchtegern-Todeskultisten, überlegte ich. Sie hatte fünf
maskierte und angeschirrte Sklaven bei sich, die alle in der nebligen
Schwüle schwitzten. Ich sah sofort, dass sie hier vollkommen fehl
am Platz waren. Sie spielten Todeskult, hoch oben in den luftigen
Höhen der Hauptmakropole, brachten sich vielleicht ab und zu ein
paar kleine Schnitte bei und tranken Blut. Ihre größte Nähe zu einem
echten Todeskult erreichten sie wahrscheinlich, wenn sie sich die
verschwommene Bildaufzeichnung eines gestellten, nicht
authentischen Mordes ansahen, um ihre Freunde nach einem Bankett
zu beeindrucken.
»Ich grüße euch alle. Ich bin Au-gor. So fremd hier und kaputt,
wie's nur geht.«
Ich verbeugte mich. Fybes und Vassik erwiderten die Bewegung.
Merdok wischte sich die Stirn ab, und Erotik machte mit sehr großer
Faust das Zeichen des Wahren Todes, eine Geste, bei der Nayl
beinahe laut gelacht hätte.
»Können wir anfangen, Freund Phant?«, fragte Merdok, während
er sich mit dem Taschentuch die Schweißrinnsale im Gesicht
abtupfte. »Es ist Mittag und verflucht heiß hier draußen.«
»Und auf mich warten Morde und Blut, das getrunken werden
will!«, rief Erotik.
Ihre plumpen Wächter ächzten und seufzten dazu und versuchten
sich die Dornen in den Brustwarzen und die Riemen ihres
Fesselgeschirrs bequemer zu machen.
»Du lieber Gott-Imperator … die schaffen es hier nie lebend raus
…«, flüsterte Bequin.
»Selbst schuld …«, flüsterte ich zurück.
Phants Männer benutzten Schockstäbe und Energiepeitschen, um
das Verkaufsobjekt von der Ladefläche eines Feldlasters auf die
Bühne zu treiben. Es handelte sich um einen langgliedrigen
Menschen in einer Zwangsjacke mit einer Augenbinde und einem um
den Kopf geschnallten schweren Psi-Dämpfer-Korb.
++Alpha-plus-Qualität. Nur einer. Gibt es Gebote?++
»Zehn Barren!«, rief Erotik sofort.
»Zwanzig«, sagte Vassik.
»Fünfundzwanzig!«, rief Merdok.
Fybes räusperte sich. Sein Husten blies kalte Dampfwölkchen aus
der in seinem Anzug erzeugten privaten Atmosphäre. »Ich glaube,
damit steht das allgemeine Niveau hier fest. Ich hasse es, unter
Proleten zu sein. Tausend Barren.«
Erotik und ihre Wächter ächzten.
Merdok sah blass aus.
Vassik warf einen kurzen Blick auf Fybes.
»Ah. Wenigstens einer, der den wahren Wert der Ware sieht. Gut.
Dann können wir ja mit dem ernsthaften Bieten anfangen.« Vassik
räusperte sich, und ihr Cyberschädel gab pflichtbewusst weißes
Rauschen von sich. »Zwölfhundert Barren«, sagte sie.
»Dreizehnhundert!«, rief Erotik verzweifelt.
»Fünfzehn«, sagte Merdok. »Mein letztes Angebot. Ich hatte keine
Ahnung, dass diese Versammlung so hungrig sein würde … oder so
reich.«
»Zweitausend«, sagte Vassiks schwebender Schädel.
»Drei«, sagte Fybes.
Merdok schüttelte den Kopf. Erotik ging bereits zum Rand des
Platzes, während sie sich lauthals bei ihren feisten Sexspielzeugen
beklagte, die um sie herumscharwenzelten.
»Dreifünf«, sagte Vassik.
»Vier«, sagte Fybes.
»Irgendwas?«, flüsterte ich Bequin zu.
»Nicht das geringste latente Tasten. Aber die Dämpfer könnten
einfach nur ihre Arbeit tun.«
»Also könnte es Esarhaddon sein?«
»Ja. Ich bezweifle es. Aber er könnte es sein.«
»Nayl?«
Harlon Nayl sah mich an.
»Nichts. Phants Wächter werden nervös, weil die alte Hexe und
ihre traurigen Fleischklopse vor dem Ende der Auktion gehen
wollen. Aber sonst nichts …«
»Fünffünf«, krächzte Vassiks Servitor-Schädel.
»Sechs«, sagte Fybes.
Merdok hatte sich mit seinen Wächtern auf eine Seite des Platzes
zurückgezogen und nahm einen belebenden Zug Obscura aus einer
tragbaren Wasserpfeife, die eine seiner Arena-Sklavinnen für ihn
hielt. Erotik und ihre fülligen Konkubinen stritten mit dem
Gehörnten und zwei weiteren Twists auf der anderen Seite der ver-
brannten Fläche.
»Achtfünf!«, verkündete Vassik.
»Neun!«, konterte Fybes.
»Fünfzig!«, sagte ich gelassen, indem ich einen großen Haufen
Barren auf die verbrannte Erde warf. Es gab eine Pause. Eine lange,
verdammte Pause. ++Fünfzig geboten.++ Phant schaute zu uns
herab.
Merdok, Erotik und alle ihre Begleiter waren schlicht wie vom
Donner gerührt. Vassik wandte sich schreiend ab, und ihre Wächter
mussten sie festhalten, da sie einen Wutanfall bekam.
Fybes sah mich nur an, während sein Atem langsam und in kleinen
Wolken kam. »Fünfzig?«, sagte er.
»Das sind fünfzig, zähl nach. Hast du was mehr?«
»Und wenn, Au-gor? Und bitte … hör mit diesem albernen Twist-
Gerede auf. Es geht mir auf die Nerven.«
Fybes kam auf mich zu. Er griff sich an die Stirn und zog sein
Gesicht ab. Die Haut löste sich wie Gaze, als er es abzog, und
darunter kamen seine leeren, durchdringenden Augen zum
Vorschein.
»Ach, Gregor. Du stehst wirklich sehr auf solche Auftritte, nicht
wahr?«, sagte Cherubael.
ELF
Von Angesicht zu Angesicht. Keine Zeugen. Tod auf der
ganzen Linie.

Er war das letzte Gesicht, das zu sehen ich erwartet hatte, obwohl
es seit fast hundert Jahren durch meine Albträume spukte.
»Es ist eine Weile her, Gregor, nicht wahr?«, fragte der
Dämonenwirt leise, beinahe freundlich. »Ich habe oft an dich
gedacht, liebevoll. Du hast mich auf 56-Izar besiegt. Ich … habe eine
Weile Groll gehegt, das muss ich zugeben. Aber als ich erfuhr, dass
du doch überlebt hattest, war ich entzückt. Es bedeutete, es würde
eine Gelegenheit für ein Wiedersehen geben.«
Der orange Kühlanzug fing an zu brennen und fiel in
geschmolzenen Flatschen von ihm ab, bis er nackt war. Er erhob sich
langsam, die Arme an der Seite wie ein Tänzer, und schwebte ein
paar Meter über der verkohlten Erde im Wind. Er war immer noch
hochgewachsen und von kräftiger Statur, aber die Aura, die von ihm
ausging, war eher giftgrün als golden, wie ich sie in Erinnerung
hatte.
Ungesund aussehende, dick hervortretende Adern überzogen
seinen Leib, und die Hörner-Ansätze auf der Stirn hatten sich zu
kurzen, gebogenen Haken entwickelt.
»Und so treffen wir uns wieder. Willst du denn gar nichts sagen?«
Ich spürte, dass Bequin neben mir vor Entsetzen zitterte.
»Bleib ruhig und rühr dich nicht«, sagte ich zu ihr.
Der Dämonenwirt sah sie an, und sein Lächeln wurde breiter. »Die
Unberührbare! Wie wunderbar! Eine beinahe exakte Wiederholung
unserer ersten Begegnung. Wie geht es dir, meine Liebe?«
»Was willst du?«, fragte ich.
»Was ich will?«
»Du willst immer etwas. Auf 56-Izar war es das Nekroteuch. Ach,
richtig, das hatte ich vergessen. Du willst nie irgendwas, oder? Du
bist ja nur ein Sklave und tust, was jemand anders dir befiehlt.«
Cherubaels Miene verfinsterte sich ein wenig. »Sei nicht
unhöflich, Gregor. Du solltest die Tatsache wertschätzen, dass ich
ein persönliches Interesse an dir entwickelt habe. Die meisten Dinge,
die mir in die Quere kommen, werden sehr schnell zerstört. Ich hätte
dich schon vor Jahren aufspüren können. Aber ich wusste … es gibt
ein Band.«
»Noch mehr von deinen Rätseln. Mehr Bedeutungsloses. Erzähl
mir etwas Wahrhaftiges. Erzähl mir etwas über Vogel Passionata.«
Er lachte, ein hässlicher Laut. »Ach, du hast also davon gehört,
ja?«
»Berichte über diesen Vorfall haben mich in den Augen vieler
verdächtig gemacht.«
»Ich weiß. Aber das lag nicht in meiner Absicht. Es war nur ein
winziger Irrtum meinerseits. Es tut mir leid, wenn dir dadurch
Unannehmlichkeiten entstanden sind.«
»Ich habe nicht den Wunsch, als Mann betrachtet zu werden, der
einen Pakt mit Dämonen eingeht.«
»Davon bin ich überzeugt. Aber genau das geschieht, ob es dir
gefällt oder nicht. Schicksal, Gregor. Unser beider Schicksal ist in
einer Weise miteinander verbunden, die du nicht einmal in Ansätzen
sehen kannst. Warum würdest du wohl sonst von mir träumen?«
»Weil es ein zentrales Ziel meines Lebens geworden ist, dich
aufzuspüren und zu bannen.«
»Oh, dahinter steckt sehr viel mehr als simple professionelle
Besessenheit. Denk nach — warum träumst du wirklich von mir?
Warum suchst du mich so emsig und verbirgst das wahre Ausmaß
deiner Suche sogar vor deinen Vorgesetzten?«
»Ich …« Meine Gedanken überschlugen sich. Dieses Ding wusste
so viel.
»Und warum ich dich verschont habe? Wenn du es auf Vogel
Passionata tatsächlich gewesen wärst, hätte ich dich leben lassen. Ich
habe dich auch auf Thracian leben lassen.«
»Was?«
»Du bist stehen geblieben, um Spatian an seinem Grabmal die
Ehre zu erweisen, und das Tor hat dich vor der Katastrophe bewahrt.
Warum bist du dort stehen geblieben? Du weißt es nicht. Du kannst
es nicht erklären, oder? Ich war es. Ich habe über dich gewacht. Ich
habe dir den Gedanken eingegeben. Dich eigentlich grundlos
innehalten lassen. Wir haben die ganze Zeit zusammengearbeitet.«
»Nein!«
»Du weißt es, Gregor. Du weißt nur nicht, dass du es weißt.«

Cherubael schwebte ein kurzes Stück weg und schaute sich um.
Auf dem Auktionsplatz waren alle erstarrt und gafften ihn an.
Niemand wagte, sich zu rühren, nicht einmal der willensschwächste
Twist-Wächter. Selbst jene Anwesenden, die nicht wussten, was er
war, erkannten das außergewöhnliche Böse und die Macht in ihm.
»Worauf wartest du noch?«, brüllte eine Stimme aus der Nähe.
Mehrere Bewaffnete traten aus ihrer Deckung im Gewirr des
Abgekäuten und näherten sich. Es war Lyko mit sechs knorpeligen
Beispielen für angeworbene Schläger.
»Sieh mal, wen ich gefunden habe, Lyko. Ich habe die Falle
gestellt, wie du angeregt hast, um herauszufinden, ob dir jemand auf
der Spur war, und sieh mal, wer es ist.«
»Eisenhorn …«, murmelte Lyko, und für einen Moment huschte
ein Schatten der Furcht über sein Gesicht. Er schaute zu Cherubael.
»Ich sagte, worauf wartest du noch? Töte sie, damit wir
verschwinden können.«
Plötzlich war mir klar, dass Lyko nicht der Herr und Meister des
Dämonenwirts war. Wie Konrad Molitor vor all diesen Jahren war
auch Lyko nur eine Marionette, der korrumpierte Agent von jemand
… etwas … anderem.
»Muss ich?«, fragte die schwebende Gestalt. »Tu es! Keine
Zeugen!«
»Bitte!«, rief der ältliche Merdok. »Wir wollten doch nur …«
Lyko fuhr herum und äscherte den alten Mann mit seiner
Plasmakanone ein.
Das brach den Bann. Phants Leute und die anderen Käufer brachen
in Panik aus, zogen Waffen und schrien wild durcheinander. Eine
wilde, wahllose Schießerei begann. Lykos Männer, allesamt Ex-
Militärs mit Autokanonen, nahmen den Podiumsbereich unter Feuer
und mähten die fliehenden Twists nieder. Ich sah, wie Phant Mastik
von einer Salve getroffen wurde und in mehreren Einzelteilen
rückwärts vom Podium fiel.
Sein gehörnter Wächter stürmte auf Cherubael los und schoss mit
einer verdreckten alten Laserpistole auf ihn.
Cherubael hatte sich nicht gerührt. Er beobachtete lediglich das
Morden ringsumher. Die Laserstrahlen prallten knisternd von seiner
Haut ab, und er starrte zu dem Twist herab, als sei er aus tiefen
Grübeleien gerissen worden.
Der Dämonenwirt rührte nicht einmal einen Finger. Ein
unmerkliches Nicken in die Richtung des gehörnten Wächters, und
der jämmerliche Twist wurde auf der Stelle filettiert, als
Energiewellen ihm die Haut abzogen und sein Skelett herauslösten,
das teilweise noch durch Gelenke verbunden war.
Ich spürte, wie der Warpraum um diesen trostlosen Ort in Wallung
geriet, als sich Cherubael an die Arbeit machte. Nachdem er einmal
begonnen hatte, war seine Wut grenzenlos. Merdoks Krieger-
Sklavinnen verschwanden in einem jähen Strudel und starben mitei-
nander verschmolzen. Der Schlamm unter Vassiks Füßen brodelte,
und sie und ihre Leibwächter versanken schreiend und um sich
schlagend darin.
Ich war wie erstarrt. Ich spürte, wie Bequin an mir zerrte.
Schüsse zischten an meinem Gesicht vorbei. Ich fuhr herum und
sah zwei von Lykos Männern auf uns zustürmen. Einer ging plötzlich
mit einem Kopfschuss zu Boden, den nur Husmaan aus der Deckung
des zerfetzten Unterholzes abgegeben haben konnte.
Nayl flog an mir vorbei und schoss den anderen mit seinem
Tronsvasse Parabellum nieder.
»Los! Wir müssen hier weg!«, rief er mir zu.
Blut, Dreck und Pflanzenfasern wirbelten durch die Luft. Ein
Warpgewitter knisterte rings um uns, so dicht und so finster, dass wir
kaum sehen und uns in seiner brodelnden Gewalt kaum auf den
Beinen halten konnten. Aber durch all das hindurch konnte ich die
leuchtende Gestalt Cherubaels erkennen.
Ich zog mein Energieschwert und rannte auf ihn zu.
»Gregor! Nicht!«, schrie Bequin.
Ich hatte keine Wahl. Ich hatte hundert Jahre auf diese Gelegenheit
gewartet. Ich würde ihn nicht wieder entkommen lassen.
Er schwebte zu mir herum und lächelte auf mich herab.
»Tu das weg, Gregor. Keine Sorge. Ich töte dich nicht. Lyko hat
keine Macht über mich. Um seine Klagen kümmere ich mich später,
und …«
»Wer hat Macht über dich? Wer ist dein Herr und Meister? Sag es
mir! Du steckst hinter dieser Gräueltat auf Thracian! Warum? Auf
wessen Anordnung?«
»Geh einfach, Gregor. Das ist jetzt nicht mehr deine Sorge. Geh
weg.«
Ich glaube, er war ehrlich überrascht, als ich ihm das
Energieschwert in die Brust hieb.
Ich weiß nicht, ob ich mir tatsächlich eingebildet hatte, ihm damit
Schaden zufügen zu können.
Die gesegnete Klinge schlitzte ihm fast den Bauch auf, bevor sie
explodierte und ich rückwärts davongeschleudert wurde.
Er schaute bestürzt auf die Wunde in seinem Rumpf. Warpenergie,
leuchtend und giftig, sprudelte daraus hervor. Einen Moment später
hatte sich die Wunde geschlossen, als habe sie nie existiert.
»Du kleiner Schwachkopf«, sagte Cherubael.
Ich flog plötzlich durch die Luft und schmeckte Blut im Mund.
Der Aufprall der Landung erschütterte meine Knochen und raubte
mir den Atem. Mir schwirrte der Kopf. Der Dämonenwirt hatte mich
gut dreißig Meter über die Lichtung und ins Unterholz geschleudert.
Überall gab es heftige psionische Detonationen. Schreiende, semi-
empfindungsfähige Winde aus den tiefsten Abgründen des
Warpraums schlängelten sich über das Feld und zerstörten die letzten
Twists und die fliehenden Käufer.
Ich versuchte aufzustehen, aber ich verlor das Bewusstsein.
Als ich wieder zu mir kam, stand das Abgekäute in Flammen. Von
Cherubael war nichts zu sehen. Inshabel und Aemos zogen mich
hoch.
»Bequin! Nayl!«, hustete ich.
»Ich finde sie«, sagte Inshabel.
»Wo ist Lyko?«, fragte ich Aemos, als Inshabel mit gezogener
Waffe loslief.
»Mit seinen Männern in zwei Schwebern geflohen.« »Und der
Dämonenwirt?«
»Das weiß ich nicht. Er scheint einfach verschwunden zu sein.
Vielleicht hatte er ein Warpsprungfeld.«
Ich lief auf den Platz zurück, obwohl mein ganzer Körper vor
Schmerzen brannte. Aemos rief mir hinterher.

Die meisten Fahrzeuge waren zerstört oder umgestürzt, aber ein


paar waren noch intakt.
Ich kletterte in einen kleinen schwarzen Schweber, ein schnittiges
Oberschicht-Sportmodell, das vermutlich Vassik gehört hatte. Ich
schaltete die Schubdüsen ein und war bereits in der Luft, bevor ich
mich angeschnallt hatte.
Der Schweber war schnell, die Steuerung extrem direkt. Es dauerte
einen Moment, die Leichtigkeit der Berührung zu meistern, die nötig
war, um gleichmäßig und ohne jähes Rucken zu beschleunigen. Ich
drehte ihn ein wenig unsicher in der Luft, da ich zu schnell stieg.
Unter mir konnte ich Nayl erkennen, zerlumpt und blutig, der zu mir
hochschrie, ich solle umkehren und zurückkommen.
In hundert Metern Höhe verließ ich den Rauchkegel über dem
Auktionsplatz und orientierte mich. Auf allen Seiten breitete sich die
Landschaft des Abgekäuten aus, bis sie allmählich wieder in ein
üppiges Pflanzendickicht überging. In der Ferne erhob sich die
Hauptmakropole. Wo waren sie? Wo waren sie?
Ich sah zwei Punkte in der Luft, drei Kilometer weiter westlich,
und jagte den Schweber hinterher. Schwere Maschinen, die zur
nächsten Erntemaschine flogen.
Ich holte alles aus den Turbinen heraus und folgte den
langsameren Schwebern tief und schnell. Ich wusste, dass sie mich
entdeckt hatten, als mir automatisches Feuer entgegenschlug, das
jedoch weit danebenging.
Ich flog einen unregelmäßigen Zickzackkurs, wie Midas es mich
gelehrt hatte, bevor sie sich auf mich einschießen konnten. Ich
erwog, das Feuer zu erwidern, aber ich musste den Steuerknüppel
mit beiden Händen fest umklammern, nur um den Schweber auf Kurs
und in der Luft zu halten.
Wir flogen mittlerweile über bewachsene Felder, ein
smaragdgrünes Meer, das in alarmierender Verschwommenheit unter
mir dahinraste. Mehr Leuchtspurgeschosse verfehlten mich.
Ein großer Schatten zog über die Sonne.
»Soll ich sie abknallen?«, knisterte es im Kom.
Mit flammenden Schubdüsen setzte sich der stromlinienförmige
Rumpf meines Kanonenboots neben mich und passte seine
Geschwindigkeit meiner an. Verglichen mit meinem winzigen
Schweber war es riesig. Hundertfünfzig Tonnen, achtzig Meter von
der Nase bis zur Schwanzflosse, die Landestützen ausgefahren wie
Insektenbeine. Ich sah Medea in der Pilotenkanzel grinsen.
Ich wagte es nicht, die Hände vom ruckelnden, vibrierenden
Steuerknüppel zu nehmen, um mein Kom zu akitivieren.
Stattdessen sprach ich direkt in ihr Bewusstsein.
Nur, wenn du musst. Versuch sie zur Landung zu zwingen.
»Au!«, antwortete der Kom. »Sag mir das nächste Mal vorher
Bescheid, wenn du das tust.«
Das Kanonenboot preschte plötzlich mit gleißenden Nachbrennern
vor, während die Landestützen eingefahren wurden, und zog nach
rechts weg. Ihr Schubstrahl schüttelte mich ziemlich durch. Ich sah
zu, wie sie einen lang gezogenen Halbkreis tief über den Feldern
flog, die vom Abwind zerfurcht wurden. Es sah aus wie ein riesiger
Raubvogel, der zum Sturzflug auf seine Beute ansetzte.
Mit seinen interplanetaren Triebwerken überholte es die
dahinrasenden Schweber mühelos, wendete und flog ihnen frontal
entgegen.
Ich spürte eine Welle psionischer Kraft. Meine Feinde konnten das
Kanonenboot nur mit der Kraft ihres Verstandes bekämpfen.
Das Kanonenboot brach plötzlich nach links aus, kippte weg und
fing sich dann wieder. Sie waren zu Medea durchgedrungen, wenn
auch nur für einen Moment.
Sie war jetzt wütend. Das entnahm ich einfach der Art, wie sie
flog. Mit dem Geheul stark beanspruchter Bremsdüsen kam das
Kanonenboot in der Luft zum Stillstand, da die Schweber an ihm
vorbeirasten, und sie nutzte den Anflug des Trudelns, um es zu
wenden. Der Geschützturm unter dem Bug knatterte, und groß-
kalibrige Munition zerfetzte den zweiten der beiden Schweber in
einem Flammenregen in der Luft.
Ich raste ebenfalls an dem Kanonenboot vorbei und folgte dem
anderen Schweber.
Nicht mehr!, sendete ich Medea. Wenn möglich, will ich sie
lebend!
Der Schweber war jetzt nicht mehr weit vor mir. Ich spürte Lykos
Bewusstsein an Bord.
Er näherte sich der gepanzerten Erntemaschine, die jetzt die
Landschaft voraus beherrschte. Sie war ein Riese, sechshundert
Meter lang und an der höchsten Stelle ihres gewölbten Käferrückens
neunzig Meter hoch. Sie wirbelte ein gewaltiges Kielwasser aus
Saftgischt und Rauch hinter sich auf. Das Klirren ihrer wirbelnden
Sensenblätter übertönte das Kreischen der Turbinen meines
Schwebers.
Mein Jagdwild kippte ab und flog am Rückgrat der riesigen
Fabrikmaschine entlang zu einem nach hinten ausgerichteten
Andockhangar, der wie eine Warze auf dem Rücken des Rumpfes
klebte. Warnsignale kamen über die Kom-Anlage meines Schwebers
herein, die besorgten Anrufe der Erntemaschine.
Der schwere Schweber machte eine Vollbremsung und landete
schlecht in der Einmündung des Andockhangars. Während ich ihm
folgte, sah ich Gestalten herausklettern. Sie verschwanden alle in den
Hangar, bis auf einen Mann, der sich auf die Knie sinken ließ und
mit seiner Autokanone das Feuer auf mich eröffnete.
Ströme von Schnellfeuergeschossen peitschten links und rechts an
mir vorbei. Dann traf ein Feuerstoß die Ansaugöffnung auf der
Backbordseite mit einem scheppernden Krachen, das den Schweber
erbeben ließ und in einem Funkenregen Gehäusefetzen absprengte.
Auf dem Armaturenbrett vor mir leuchteten Warnlampen auf.
Ich fiel zehn Meter, richtete die Nase aus.
Und sprang ab.

Beim Aufprall auf den Rücken der Erntemaschine brach ich mir
das linke Handgelenk und vier Rippen. Im Nachhinein muss ich
sagen, dass ich Glück hatte, dabei nicht getötet zu werden, ja sogar
überhaupt auf der Erntemaschine gelandet zu sein. Es war ein weiter
Weg nach unten. Ich konnte mich an einem Stützkabel festhalten, als
ich langsam abwärts rutschte, und wickelte meinen rechten Arm
darum.
Mein Schweber schlug auf die kurze Landepiste, prallte ab und
brach langsam auseinander. Während Trümmer in alle Richtungen
flogen, raste er sich überschlagend in den Hangar, tötete den
Schützen, traf Lykos abgestellten Schweber und schob ihn gänzlich
in den Hangar, der einen Augenblick später in einem Meer aus
Flammen und Metall explodierte.
Ich humpelte die Landebahn entlang, wobei ich brennenden
Trümmerstücken auswich, und kletterte über die zerschmetterten,
rauchenden Schweber in den Hangar. Unfallsirenen heulten und
automatische Feuerlöschanlagen versprühten Löschschaum.
Hinten im Hangar war neben den Käfigen der Dienstund Fracht-
Aufzüge eine Luke halb geöffnet.
Ich ging durch die Luke. Eine Metalltreppe führte abwärts in die
Fabrik. An ihrem Fuß öffnete sie sich zu einem Niedergang, der sich
durch die gesamte Länge der Erntemaschine zog. Verdutzte
Arbeitsmannschaften, überwiegend Twists in saftfleckigen
Arbeitsanzügen, starrten mich an.
Ich zückte meine Rosette.
»Imperiale Inquisition. Wohin sind sie gegangen?« »Wer?«
»Wohin sind sie gegangen?«, fauchte ich und setzte meine
Willenskraft ohne Zurückhaltung ein.
Die Wirkung war so stark, dass keiner von ihnen reden konnte und
mehrere das Bewusstsein verloren. Alle anderen zeigten auf den
Niedergang in Richtung Bug der Erntemaschine.
Noch eine Luke, noch eine Treppe. Der Lärm der inneren
Dreschflegel war jetzt markerschütternd laut. Ich erreichte das riesige
innere Arbeitsband, einen Raum beinahe so lang wie die Maschine,
riesig und ohrenbetäubend, die Luft schwer vom Saftnebel. Ein
gewaltiges Förderband transportierte die Ernte von den Sensen-
klingen im Maul der Maschine in einer Größenordnung von
mehreren Tonnen pro Sekunde weiter. Twists mit Atemmasken und
Schürzen arbeiteten mit Kettenwerkzeugen und Schneidelanzen im
vorderen Teil, die über dick mit Gummi isolierten Kabeln mit den
Energiesystemen in der Decke verbunden waren. Sie sortierten und
schnitten die dickeren Wurzeln und Stängel heraus, bevor die Ernte
durch große Walzen und Pressen und dann zu den Quellbottichen
weiter hinten in der Maschine geleitet wurde.
Alarmsirenen jaulten und Warnlampen blinkten, und das Band
hatte angehalten. Arbeiter schauten sich um, während flüssige
Zellulose und Saft von ihren Handschuhen, Arbeitsanzügen und
Werkzeugen tropfte.
Ich bahnte mir einen Weg durch sie. Vorarbeiter schrien mich von
Gerüstbrücken weit über mir an. Ich konnte Lyko dreißig Meter
weiter vor mir am Fließband sehen. Er war in Begleitung eines
letzten Söldners und einer gefesselten Gestalt mit einem Visier um
den Kopf, bei der es sich nur um Esarhaddon handeln konnte.
Der Söldner drehte sich um und schoss auf mich. Drei Arbeiter
brachen zusammen, und einer fiel auf das Förderband. Die Schüsse
ließen Funken an den metallenen Laufgängen und Maschinenteilen
stieben.
Während die anderen Arbeiter Deckung suchten und sich zu
Boden warfen, ging ich in die Knie und griff nach meiner
Boltpistole. Sie war nicht da. Tatsächlich war das gesamte Halfter
aufgerissen. Ich wusste nicht, wann ich die Waffe verloren hatte, bei
Cherubaels Angriff oder bei der Landung auf der Erntemaschine,
aber sie war lange weg. Und mein geliebtes Energieschwert hatte
sich bei der Berührung mit dem Dämonenwirt aufgelöst.
Mehr Schüsse pfiffen das Fließband entlang und verbeulten die
Abdeckungen des Riemenantriebs. Ich kroch hinter eine Trommel
mit hydrobakterieller Reinigungslösung für die Werkzeuge.
Ich holte meine Ersatzwaffe aus dem Knöchelhalfter in der Seite
meines Stiefels. Es handelte sich um eine kompakte Automatik mit
einem so kurzen Lauf, dass er den Abzügsbügel kaum überragte.
Tatsächlich war der Griff länger als der Lauf und enthielt ein
Magazin mit zwanzig Schuss Kleinkalibermunition.
Ich wählte Einzelfeuer und gab ein paar Schüsse ab. Die
Abweichung war gewaltig und die Durchschlagskraft lausig.
Eigentlich war sie nur ein letzter Notbehelf auf kürzeste Entfernung.
Der Söldner am Band ließ sich durch mein erbärmliches
Gegenfeuer nicht stören, schaltete auf Dauerfeuer und beharkte das
Deck und den Arbeitsraum neben dem stehenden Band. Arbeiter, die
sich alle in eine Deckung schmiegten, fingen an zu schreien.
Das Schießen hörte auf. Ich riskierte einen Blick. Es klackte und
surrte, und das Band setzte sich wieder in Bewegung.
Der Söldner folgte seinem bereits davongeeilten Herrn. Lyko war
fast außer Sicht und stieß seinen Gefangenen vor sich her.
Warum ist Esarhaddon ein Gefangener?, fragte ich mich. Ich
verstand die Beziehung zwischen Lyko, dem Psioniker und
Cherubael immer noch nicht.
Ich rannte weiter. Der Söldner, Lyko und sein gefangener
Psioniker waren alle durch ein Schott gegangen. Wenn ich ihnen
folgen wollte, musste ich es praktisch blind tun. Und ich an Lykos
Stelle würde hinter dem Schott warten.
Bis jetzt hatte mein Gefühl mich bei dieser Affäre noch nicht
getäuscht.
Ich sprang auf das breite Förderband und rutschte durch die
verfilzte, klebrige grüne Pflanzenmasse quer darüber, wobei ich die
Rufe der immer noch in Deckung kauernden Arbeiter ignorierte. Der
Saft und die Bewegung des Bandes machten es praktisch unmöglich,
sich auf den Beinen zu halten. Einen Moment lang glaubte ich, ich
würde ausrutschen und unter die nächste Walze befördert.
Ich sprang auf der anderen Seite von grünem Brei und
Pflanzensaft tropfend auf das feste Deck. Jetzt folgte ich dem Band,
das die Maschine der Länge nach teilte, auf der anderen Seite.
Auch auf dieser Seite gab es ein Schott.
Ich ging geduckt hindurch.
Der Söldner wartete hinter dem anderen Schott auf der anderen
Seite. Er sah mich, fluchte und wandte sich mit seiner Autokanone
mir zu. Ich schoss bereits. Selbst auf diese kurze Entfernung wurde
die jämmerliche Durchschlagskraft meiner Waffe offensichtlich.
Seine trommelläufige Autokanone würde mich jeden Moment in
Stücke reißen.
Ich hechtete vorwärts, stellte meine Waffe mit dem Daumen auf
Dauerfeuer um und verschoss das gesamte Magazin kleiner Kugeln
mit einem schrillen Knattern.
Was mir an Durchschlagskraft fehlte, machte ich durch die
Trefferzahl wett. Ich traf ihn sechs oder sieben Mal in den linken
Arm und am Schlüsselbein, und die Treffer ließen ihn rückwärts
taumeln, während seine gebundene Rüstung aufriss. Die schwere
Autokanone flog ihm aus den Händen und landete auf dem
Förderband zwischen uns, das sie rasch davontrug.
Er war jedoch noch lange nicht tot, obwohl er stark aus mehreren
Kratzern und Löchern blutete. Wahrscheinlich schütteten seine
Drüsen irgendwelche Stimulanzen aus, die ihn aufputschten.
Mit einem wüsten necromundanischen Fluch zog er eine
militärische Laserpistole aus seinem Koppel und stieg auf das
Schutzgeländer auf seiner Seite des Förderbandes, um einen besseren
Schusswinkel zu bekommen. Ich warf die leere Pistole nach ihm, so
dass er sich duckte, und packte dann eine der neben dem Band an
Kabeln hängenden Arbeitslanzen.
Er gab einen Schuss ab, der meine Schulter knapp verfehlte. Ich
schwang die Lanze nach ihm, und die Spitze der surrenden
Kettenklinge reichte über das Band nach ihm. Aber mit einem
gebrochenen Handgelenk ließ sich das Werkzeug nur schwer
bewegen.
Also verwandelte ich den Schwung in einen Wurf und schleuderte
das lange Werkzeug wie eine Harpune.
Die Kettenspitze spießte ihn auf, und er starb schreiend und
während er versuchte, sich das industrielle Schneidewerkzeug aus
der Brust zu ziehen. Als er erschlaffte, zog die Spannung in dem
isolierten Kabel die Lanze zum Ruhehaken auf meiner Seite des
Bandes zurück und mit ihr den Leichnam auf das Förderband. Das
Band trug ihn so weit, wie das Kabel es zuließ, dann hielt ihn das
Kabel fest, während sich das Band unter ihm bewegte.
Haufen nasser Pflanzenfasern stauten sich davor und quollen an
der Seite über den Rand, so dass sie auf den Boden fielen.
Eisenhorn, sagte eine Stimme in meinem Bewusstsein.
Ich fuhr herum und sah Lyko auf einer Brücke mit Gitterboden
über dem Band stehen. Die Plasmakanone, mit der er den falschen
Esarhaddon verbrannt hatte, war auf mich gerichtet. Ich konnte den
ramponierten Psioniker sehen, dessen Kopf immer noch maskiert
war: Lyko hatte ihn auf der anderen Seite des Bandes an eine
Rohrleitung gekettet.
Sie hätten die Sache auf sich beruhen lassen sollen, Eisenhorn. Sie
hätten mir niemals folgen sollen.
Ich tue meine Arbeit, Sie verdammter Hund. Was haben Sie getan?
Was getan werden musste. Was getan werden muss.
Er kam von der Brücke herunter und ging mir entgegen. Auf
seinem Gesicht lag ein gehetzter, entsetzter Ausdruck.
Und was muss getan werden?
Stille.
Warum, Lyko? Die Gräueltat auf Thracian … wie konnten
Sie das zulassen? Sich daran beteiligen?
Ich … habe es nicht gewusst! Ich wusste nicht, was sie vorhatten.
Wer?
Er quetschte mir die Wange mit der Mündung seiner mächtigen
Waffe.
»Das reicht jetzt«, sagte er laut.
»Wenn Sie mich töten wollen, tun Sie's einfach. Ich bin
überrascht, dass Sie es nicht schon längst getan haben.«
»Zuerst muss ich noch etwas wissen. Wer weiß es? Wer weiß, was
Sie wissen?«
»Über Sie und Ihren kleinen Pakt mit dem Dämonenabschaum?
Über Ihren Diebstahl eines Psionikers der Alpha-plus-Stufe? Dass
Sie zugeschaut haben, während auf Thracian Millionen gestorben
sind? Ha!« Alle. Ich gab diese letzte Antwort um des Nachdrucks
willen auch mental. Alle. Ich habe Rorken und Orsini informiert,
bevor ich Ihrer Spur gefolgt bin.
»Nein! In diesem Fall wären mehr als nur Sie hinter mir her…«
»Es sind mehr hinter Ihnen her.«
»Sie lügen! Sie sind allein.
Sie sind erledigt.
Er stürmte mit seinem Geist in meinen, hektisch bemüht, mir die
Wahrheit zu entreißen. Ich glaube, ihm ging wahrhaftig auf, wie weit
er sich selbst in die Verdammnis geworfen hatte.
Ich wehrte seinen fieberhaften mentalen Angriff ab und konterte,
indem ich einen Pfeil aus psionischer Wut in seine Hirnrinde bohrte.
Er war dort. Das konnte ich spüren. Sein wahrer Herr. Das Gesicht,
der Name …
Ihm ging auf, was ich tat, ging auf, dass ich ihm psionisch
überlegen war. Er versuchte mich mit seiner Plasmakanone zu
erschießen, aber mittlerweile hatte ich sein Nervensystem gelähmt
und alle autonomen Funktionen blockiert. Ich durchforstete seinen
Geist. Er war erstarrt, hilflos, unfähig mich daran zu hindern, sein
Gedächtnis trotz der Blockaden und Sicherungen zu plündern, die er
dort angebracht hatte. Er oder jemand anders. Da. Da. Die Antwort.
Er stieß einen gequälten, seltsam modulierten Schrei aus.
Lyko löste sich von mir.
Cherubael schwebte über uns, hoch oben im Deckenbereich der
Fabrikhalle, und warf einen Schein aus schmutzigem Warplicht.
Würgend, zuckend und mit schlaffen Gliedern stieg Lyko ihm
entgegen. Aus Mund und Nasenlöchern strömte Rauch.
»Nun, nun, Gregor«, sagte Cherubael. »Netter Versuch, aber es
gibt Geheimnisse, die solche bleiben müssen.«
Mit einem Kopfnicken schleuderte er Lyko beiseite. Der Verräter-
Inquisitor flog durch die Halle nach vorn, prallte hart gegen die
Innenwand und fiel dann in die wirbelnden Sensenklingen im Maul
der Erntemaschine.
Sein Leib wurde vollständig aufgelöst.
Cherubael schwebte tiefer und packte die komatöse, gefesselte
Gestalt Esarhaddons, als hebe ein Kind eine Puppe auf.
»Ich werde nicht vergessen, was du getan hast«, sagte der
Dämonenwirt, indem er sich noch ein letztes Mal zu mir umdrehte.
»Das wirst du mir wiedergutmachen müssen.«
Dann war er verschwunden, und Esarhaddon mit ihm.
ZWÖLF
Auf Cadia, zur Terz.
Die Pylonen. Gespräch mit Neve.

Ein bitterkalter Herbstwind wehte von den Mooren herein, und die
Bandblätter fielen von den Axelbäumen. Sie flatterten an mir vorbei
wie trockener schwarzer Tang und sammelten sich in sich langsam
zersetzenden Wehen auf der dem Wind zugewandten Seite der Grä-
ber und der niedrigen Steinmauern.
Über mir war der bedeckte Himmel voller dahinrasender brauner
Wolken.
Ich folgte dem alten zugewachsenen Weg den bewaldeten Hang
empor und unter den zischelnden Axelbäumen durch und stand eine
Weile allein da, während ich den ausgedehnten Friedhof und den
kleinen Schreinturm betrachtete, der darüber wachte. Es gab keine
Spur von Leben und abgesehen vom Wind auch keine Bewegung.
Sogar das Lufttaxi, das mich vom Landeplatz in Kasr Tyrok
hergebracht hatte, war wieder abgeflogen. Ich vermisste beinahe die
Beschwerden des Fahrers, der Ort liege so weit außerhalb der Stadt.
Weit entfernt, jenseits der düsteren Moore und fast außer Sicht,
stand der nächste der berühmten, mysteriösen Pylonen, eine eckige
Silhouette. Sogar aus dieser Entfernung konnte ich den
absonderlichen klagenden Laut hören, den der Wind erzeugte, wenn
er durch die Geometrie der Pylonen wehte, eine Geometrie, die zu
erklären tausende von Jahren menschlicher Gelehrtenschaft nicht
vermocht hatte.
Dies war mein erster Besuch auf der Welt, die auch das Wachhaus
des Imperiums genannt wurde. Bisher hatte sie sich noch nicht bei
mir einschmeicheln können.
»Also, Dorn … du hast dir Zeit gelassen mit dem Zustechen,
oder?«
Ich drehte mich langsam um. Er war hinter mir eingetroffen, so
lautlos wie die Leere selbst.
»Nun?«, fragte er. »Was würdest du sagen, was wir für eine Zeit
haben?«
»Ich betrachte mich als angemessen gescholten«, sagte ich.
Er blieb ungerührt, dann zuckte die Narbe unter seinem milchigen
Auge, und er lächelte.
»Willkommen auf Cadia, Eisenhorn«, sagte Fischig.

Abgesehen von Aemos stand Godwyn Fischig am längsten in


meinen Diensten, obwohl er und Bequin sich deswegen manchmal
stritten. Ich hatte sie beide auf Hubris kennengelernt, und zwar bei
meiner Jagd auf den Chaos-Makler Eyclone, die wiederum direkt zu
der verfluchten Affäre um das Nekroteuch geführt hatte.
Tatsächlich hatte ich Fischig zuerst kennengelernt. Er war
Züchtiger bei den dortigen Arbites gewesen und hatte den Befehl
gehabt, mich im Auge zu behalten. Die Umstände hatten ihn zu
meinem Verbündeten gemacht. Bequin war mir, wenn mein
Gedächtnis mich nicht trügt, einen Tag später über den Weg
gelaufen, aber ich hatte sie praktisch sofort in meine Dienste aufge-
nommen, während Fischig technisch gesehen noch eine ganze Weile
ein Arbites-Beamter geblieben war, bevor er seine Entlassung
eingereicht hatte, um sich mir anzuschließen.
Weshalb Bequin diese Ehre für sich in Anspruch nahm und sie
manchmal darüber stritten, wenn es spät geworden war und der
Amasec floss.
Er war ein massiger Mann in meinem Alter, und seine kurzen
blonden Haare wurden langsam grau. Aber er war so robust wie eh
und je, und er trug einen schwarzen Fellmantel, einen gepanzerten
Wappenrock und Stiefel mit Stahlkappen.
Er schüttelte mir die Hand. »Ich dachte schon, du würdest es nicht
schaffen.«
»Ich auch.«
Er legte den Kopf auf die Seite. »Ärger?« »Wie du ihn dir nicht
vorstellen kannst. Lass uns ein Stück gehen, dann erzähle ich dir
alles.«

Wir gingen gemeinsam den von Bäumen gesäumten Weg zurück.


Er wusste etwas über die Vorfälle auf Thracian, die mittlerweile gut
sieben Monate zurücklagen, aber er hatte keine Ahnung, dass ich
darin verwickelt gewesen war.
Als ich ihm die Einzelheiten erzählte, vor allem über Ravenor,
verdüsterte sich seine Miene.
Er hatte Gideon bewundert — offen gesagt war es schwierig
gewesen, Gideon nicht zu bewundern -, und manchmal hatte ich das
Gefühl, dass Gideon der Mann war, der Fischig gerne gewesen wäre.
Fischigs große Stärke war die Selbsterkenntnis. Er kannte seine
Grenzen. Seine Stärken waren Loyalität, körperliche Kraft,
hervorragende Kampffähigkeiten, Beobachtungsgabe und eine Nase
für Details. Er hatte keine rasche Auffassungsgabe, und seine Scheu
vor Buchwissen und dem Studium desselben bedeutete, dass ihm
sogar der Rang des Interrogators verwehrt blieb. Zwar hätte es ihm
sehr gefallen, offiziell innerhalb der Inquisition aufzusteigen, aber er
hatte nie selbst den Versuch unternommen, sondern sich damit
begnügt, einer der fundamentalen Bestandteile meines Stabs zu sein.
Ein Versuch, das wusste er, wäre zum Scheitern verurteilt
gewesen. Und Godwyn Fischig hasste es zu scheitern.

Wir überquerten den schmalen Zufahrtsweg und gingen durch das


alte Tor in der niedrigen Mauer auf den Friedhof. Ich erzählte ihm
von Lyko und Esarhaddon. Ich erzählte ihm von den Warnungen
Endors und Lord Rorkens. Ich erzählte ihm von dem blutigen,
ergebnislosen Gemetzel auf Eechan. Ich erzählte ihm von Cherubael.
»Ich wäre gekommen, sobald ich deine Botschaft erhalten habe.
Aber Rorken hat es mir praktisch verboten. Und wie du gehört hast,
sind die Dinge dann aus dem Ruder gelaufen.«
Er nickte. »Keine Sorge. Ich bin ein geduldiger Mann.«
Wir blieben einen Moment mitten in dem riesigen Gräberfeld
stehen. Mehrere zitternde Priester in zerlumpten schwarzen
Gewändern wanderten die Reihen bröckelnder Grabsteine entlang
und blieben vor jedem stehen, um ihn zu betrachten.
»Was machen sie da?«
»Sie lesen die Namen«, sagte er.
»Wozu?«
»Um festzustellen, ob sie lesbar sind.« »Aha … warum?«
»Man kann sich vorstellen, dass es auf einer so martialischen Welt
wie dieser viele Tote gibt. Vor langer Zeit hat die planetare
Regierung ein Edikt erlassen, dass nur ganz spezielle Landstriche als
Friedhöfe benutzt werden dürfen. Also muss der verfügbare Platz
optimal genutzt werden. Daher gibt es das Gesetz der Lesbarkeit.«
»Das da lautet?«
»Das Gesetz legt fest, wenn die zersetzenden Hände der Zeit und
der Elemente die letzten Namen auf den Grabsteinen eines Friedhofs
unleserlich gemacht haben, können die dann anonymen Toten
exhumiert und die Knochen in einer Grube verscharrt werden, damit
der Friedhof neu belegt werden kann.«
»Also werden die Gräber so lange gepflegt, bis man die Namen
nicht mehr lesen kann?«
Er zuckte die Achseln. »So machen sie es. Mit dem Namen
verschwindet auch das Andenken, also gibt es keinen Grund mehr, es
zu ehren. Für diesen Friedhof ist die Zeit langsam gekommen. Noch
ein, zwei Jahre, hat man mir gesagt.«
Das hatte für mich etwas unendlich Melancholisches. Cadia war
eine Kriegerwelt, die im einzig schiffbaren Anflugkanal zum Warp-
Tumult des berüchtigten Auge des Schreckens Wache stand. Die
Region, auch als Tor von Cadia bekannt, ist der Weg, durch den
Invasionen des Chaos führen, und viele betrachten Cadia als die erste
Verteidigungslinie des Imperiums. Seit ihrer ersten Kolonisierung
bringt die Welt Elitetruppen hervor, und Milliarden ihrer Söhne und
Töchter sind für den Schutz unserer Kultur tapfer gestorben.
Tapfer gestorben … um dann auf den trostlosen Grabfeldern ihrer
Heimatwelt langsam dahinzuschwinden.
Es war bedrückend, aber vermutlich vollkommen im Einklang mit
der stoischen Geisteshaltung der Cadianer.

Fischig stieß die massive Axelholztür des Schreinturms auf, und


wir gingen hinein und aus dem Wind heraus.
Der Turm bestand aus einer einzigen Kammer, einem
Steinzylinder mit Fensterschlitzen hoch oben nahe der Spitze. Ein
Kreis aus rohen Holzbänken war um den Mittelaltar gruppiert, über
dem ein massiver eiserner Kandelaber in der Form eines
zweiköpfigen Adlers an einer Kette vom zweiholmigen Dach hing.
Nur die zwischen den Metallfedern der entfalteten Schwingen
befestigten Votivkerzen des Adlers beleuchteten diesen finsteren
Herbsttag. Sie erzeugten ein spärliches, dünnes goldenes Licht, eine
Atmosphäre der Frugalität und der göttlichen Gnade.
Und einen muffigen Gestank verrottender Axelblätter.

Wir setzten uns auf eine Bank und ehrten beide kurz den Altar mit
dem Zeichen des Adlers, indem wir die zusammengelegten Hände
gegen unser Herz drückten.
»Es ist sonderbar«, sagte Fischig nach einer langen Pause. »Vor
über einem Jahr hast du mich wieder einmal losgeschickt, um Spuren
dieser Dämonenbrut Cherubael zu finden. Und kaum finde ich eine
Spur, triffst du ihn wieder, und zwar auf der anderen Seite des ver-
dammten Sektors.«
»Sonderbar ist wahrscheinlich nicht das Wort, das ich benutzen
würde.«
»Aber dieser Zufall. Ist es ein Zufall?«
»Ich weiß es nicht. Es sieht wie einer aus. Aber … dieses Ding …
Cherubael… entwaffnet mich so.«
»Natürlich, alter Freund.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht wegen seiner Macht. Das meine
ich nicht.« »Was dann?«
»Wie er mit mir redet. Wie er sagt, er benutzt mich.« »Dämonen-
Arglist!«
»Vielleicht. Aber er weiß so viel. Er weiß … ach verdammt! Er
redet so, als wäre unser Schicksal unweigerlich miteinander
verknüpft. Als wäre er mir wichtig und umgekehrt.«
»Er ist dir wichtig.«
»Ich weiß, ich weiß. Als Ziel. Als Beute. Als meine Nemesis.
Aber er redet, als würde noch mehr dahinter stecken. Als könnte er
die Zukunft sehen oder lesen oder als wäre er sogar schon dort
gewesen. Er redet mit mir … als wüsste er, was ich tun werde.«
Fischig runzelte die Stirn. »Und … was könnte das deiner
Meinung nach sein?«
Ich erhob mich und ging zum Altar. »Ich habe keine Ahnung! Ich
kann mir nicht vorstellen, je irgendwas zu tun, das dem Dämon
gefallen oder nützen würde! Ich kann mir nicht vorstellen, jemals so
wahnsinnig zu sein!«
»Glaub mir, Eisenhorn, wenn ich das jemals glaubte, würde ich
dich persönlich erschießen.« Ich sah ihn an. »Tu das bitte.«
Ich blieb stehen und schaute in die flackernden Kerzenflammen.
Ich sah all die Schatten und auch möglichen Schatten, die ich warf
und die sich auf dem Steinboden überlappten. Wie die unzähligen
Möglichkeiten in der Zukunft. Ich versuchte, nicht in die dickeren,
schwärzeren Schatten zu schauen.
»Dieser Warp-Bastard spielt nur mit dir«, sagte Fischig. »Das ist
alles. Spiele, um dich von seiner Spur abzubringen und dich auf
Distanz zu halten.«
»Wenn das so ist, warum rettet er mir dann ständig das Leben?«

Wir gingen zurück in den Moorwind. Das Ächzen der Pylonen


kam mir jetzt lauter vor.
»Wer ist bei dir?«, fragte Fischig.
»Aemos, Bequin, Nayl, Medea, Husmaan … und ein Junge, den
du noch nicht kennst, Inshabel. Wir sind direkt von Eechan hierher
geflogen.«
»Langer Flug?«
»Beinahe sechs Monate. Bis Mordia sind wir mit einem
Freihändler namens Bester der Adler geflogen, den Rest des Weges
als Gäste der Adeptus Mechanicus. Die Superschwere Barke Mons
Olympus, nichts Geringeres, transportierte jungfräuliche Titanen zu
den Garnisonen des Tors von Cadia.« »Eine ziemliche Ehre.«
»Die Rosette des Inquisitors bringt Vorteile mit. Aber ich sage dir,
die Techpriester vom Mars sind eine verdammt mürrische
Gesellschaft auf einer zweimonatigen Fahrt. Ohne Bequins
Königsmord-Turniere wäre ich verrückt geworden.«
»Hat Nayl sich verbessert?«
»Kaum. Ich glaube, mittlerweile schuldet er mir … was war es
noch? Hmm. Seinen Erstgeborenen und seine Seele.«
Fischig lachte.
»Ach, es war nicht ganz so schlimm. Da war auch ein Princeps
von der Titanenlegion an Bord, ein Veteran. Uralt, Jahrhunderte.
Kurz vor dem Abschied, als würden solche Männer je ihren
Abschied nehmen. Er hat den Transfer der neuen Kriegsmaschinen
überwacht. Heskate, so hieß er. Ein paar Nächte haben mir mitei-
nander getrunken. Erinnere mich daran, dass ich dir ein paar von
seinen Kriegsgeschichten erzähle.«
»Mache ich. Komm weiter …«
Er hatte einen Schweber an der Zufahrt unter den schwankenden
Axelbäumen geparkt. Wir wischten abgefallene Bandblätter von der
Haube und stiegen ein.
»Lass mich dir zeigen, was ich gefunden habe. Danach können wir
alle an einem sicheren Ort unser Wiedersehen feiern.«
»Wie sicher?«
»Der sicherste.«

Wir flogen dicht über das Moorland in die beißenden Winde. Das
Licht wurde schwächer. Die grimmige Pracht von Cadia war unter
uns ausgebreitet. Dies war die gnadenlose windgepeitschte Wildnis,
die eine der robustesten Kriegergattungen des Imperiums
hervorbrachte. Hier gab es die versprengten Inselchen im Caduca-
desmeer, auf denen sie als Prä-Pubertierende nackt ausgesetzt
wurden, um den rituellen Monat des Werdens zu überleben. Hier gab
es die Bergfestungen, in denen die Armeen der Cadianischen Jugend
überwinterten und sich abhärteten und spielerische Manöverkriege
gegen die benachbarten Festungen führten. Hier gab es die Klippen,
Eisseen und Axelwälder, wo sie die Kunst der Tarnung lernten.
Hier gab es die ausgedehnten Prärien, in denen ihre
Schießübungen mit scharfer Munition stattfanden.
Es gibt ein Sprichwort: »Wenn die Munition nicht scharf ist, kann
es keine cadianische Übung sein.« Von dem Zeitpunkt an, wenn sie
ihr erstes eigenes Lasergewehr bekommen, also ungefähr zu der Zeit,
wenn sie ihre ersten Fibeln lesen, wird scharfe Munition an die junge
Kriegerkaste Cadias ausgehändigt. Die meisten können schießen,
töten und die meisten Infanterie-Feldmanöver, bevor sie zehn
Standardjahre alt sind.

Da ist es kein Wunder, dass die Stoßtruppen von Cadia zu den


besten des Imperiums gehören.
Doch wir waren nicht hier, um den zerklüfteten Schmelztiegel der
Landschaft zu bewundern, der die Cadianer geformt hatte.
Wir waren hier, um uns die Pylonen anzusehen.

»Cherubael war hier«, sagte Fischig, der den Schweber steuerte


und den Windgeschwindigkeitsmesser im Auge behielt. »Soviel ich
weiß, neun Mal in den letzten vierzig Jahren.«
»Bist du sicher?«
»Dafür bezahlst du mich. Dein Dämonenwirt — und sein Herr und
Meister — ist von Cadia fasziniert.«
»Warum weiß die Inquisition nichts davon?«
»Ach, hör auf, Gregor. Die Galaxis ist groß. Aemos hat mir einmal
erzählt, die vom Imperium erzeugten Daten würden alle Cogitatoren,
Metriculatoren und Codifizierer auf Terra auf einen Schlag
durchbrennen lassen, wenn sie alle gleichzeitig eingegeben würden.
Es geht darum, dass Zusammenhänge hergestellt werden müssen.
Daten müssen gesichtet und gesiebt werden. Die Inquisition hat nach
Spuren von Cherubael Ausschau gehalten. Aber die Spuren finden
sich nicht von selbst. Ich hatte einfach nur Glück.« »Wie?«
»Ich habe meine Arbeit gemacht. Ein alter Freund von mir, Isak
Actte, aus alten Arbites-Zeiten. War früher sogar mal mein
Vorgesetzter. Er wurde befördert, als Arbites-General nach
Hydraphur versetzt und dann hier stationiert als Aufpasser für die
Cadianische Innere Garde. Ich habe vor Jahren Verbindung mit ihm
aufgenommen und eine Nachricht erhalten, der ich nachgehen
musste.«
»Du machst mich neugierig.«
Er flog tief über eine Landzunge hinweg, und unser Schweber
warf einen kleinen, scharf umrissenen Schatten auf dem glitzernden
Eissee unter uns.
»Actte sagte, die Arbites hätten vor ungefähr zehn Jahren eine
Ketzerzelle hier auf Cadia ausgemerzt. Sie nannte sich die Söhne
Baels. Allen Berichten nach ein ziemlich wertloser Haufen. Harmlos.
Aber beim Verhör gaben sie zu, einem Dämon zu folgen, den sie
Bael oder den Bael nannten. Der hiesige Inquisitor-General
verbrachte einige Zeit mit ihnen und ließ sie alle verbrennen.«
»Wie heißt er?«
»Gorfal. Aber er ist tot, seit drei Jahren. Der gegenwärtige
Amtsinhaber ist eine Frau. Inquisitor-General Neve. Jedenfalls ist die
Zelle seitdem ein paarmal wieder aufgelebt. Nichts, womit ein guter
Trupp Arbites nicht fertig geworden wäre. Wie ich schon sagte, an
sich waren die Söhne Baels ziemlich harmlos. Sie interessierten sich
nur für eine einzige Sache.«
»Und die wäre?«
»Die Pylonen zu vermessen.«

Der Pylon ragte jetzt schon eine ganze Weile vor uns auf, und als
wir ihn erreichten, schwenkte Fischig den Schweber herum und
umflog ihn so nah, dass wir den schwarzen Stein fast berührten.
Das Klagelied des Windes bei seinem Weg durch die Geometrien
des Pylonen war jetzt so laut, dass es das Dröhnen der Turbinen des
Schwebers übertönte.
Der Pylon war riesig: beinahe einen halben Kilometer hoch und
einen viertel Kilometer lang und breit. Die obere Wand des glatten
schwarzen Steins war so gestaltet, dass sie Löcher und andere runde
Öffnungen bildete, die nicht größer als ein menschlicher Kopf waren.
Diese schlanken, zweihundertfünfzig Meter langen Röhren waren es,
durch die der Wind ächzte und heulte.
Und die Röhren verliefen nicht gerade. Sie wanden sich wie
Wurmtunnel durch den Pylon. Techmagi hatten versucht, winzige
Servitor-Sonden hindurchzuschicken, um ihre Windungen und
Biegungen zu vermessen, aber im Allgemeinen kehrten die Sonden
nicht zurück.
Als wir für den nächsten Rundumflug höher stiegen, konnte ich
die entfernte Gestalt des benachbarten Pylonen jenseits der Moore
sechzig Kilometer entfernt sehen. Fünftausendachthundertundzehn
bekannte Pylonen finden sich auf der Oberfläche Cadias, die zwei-
tausend anderen nicht gezählt, die nur noch Ruinen oder versunkene
Relikte sind.
Keine zwei sind identisch. Jeder Pylon erhebt sich genau
fünfhundert Meter hoch und reicht einen viertel Kilometer in den
Boden. Sie waren vor der Ankunft des Menschen in diesem System
da, und die Art ihrer Herstellung ist unbekannt. Für alle unserer
Rasse bekannten Auspex-Messungen sind sie absolut inaktiv, aber
viele glauben, ihre Anwesenheit erkläre die relative Ruhe der
heftigen Warpströmungen, die das Tor von Cadia zur einzig ruhigen,
befahrbaren Route durch das Ocularis Terribus macht.
»Sie haben versucht, dieses Ding zu vermessen?«
»Genau«, erwiderte Fischig über das Dröhnen der
Schweberturbinen hinweg, während wir uns in die nächste scharfe
Kurve legten. »Diesen und noch ein paar andere. Sie hatten Abtaster-
Systeme und Geo-Lokalisatoren und magnetische Lote. Die exakten
Abmessungen zu ermitteln … und ich meine ›exakt‹ … war das
einzige Ziel der Söhne Baels.«
»Haben sie mit Cherubael zu tun … abgesehen von diesem ›Bael‹-
Teil, meine ich?«
»Die Verhörprotokolle, die ich gelesen habe, zeigen, dass sie
›Bael‹ vollständig als Gott namens Cherub von Bael bezeichnen, der
zu ihnen gekommen ist und verlangt hat, dass sie im Tausch gegen
viel Wissen und große Macht die Pylonen vermessen.«
»Und der Inquisitor-General … dieser Gorfal? Er hat das
unterdrückt?«
»Nicht absichtlich. Ich glaube, er war einfach nur nachlässig.«
»Ich will mit dem aktuellen Inquisitor-General reden … Neve ist
ihr Name, sagtest du?« »Ja. Das dachte ich mir.«

Im restlichen Tageslicht flogen wir nach Westen nach Kasr Derth,


dem größten Kastell in der Region und dem Sitz der
Provinzregierung von Caducades. Fischig schaltete den Kom-
Transponder des Schwebers ein und sendete die Zugangscodes dieses
Tages an die Wachtürme, als wir den Außenring-Graben passierten.
Trotzdem drehten sich Mantikor- und Hydra-Batterien und folgten
uns mit ihren Geschützläufen.
»Keine Sorge«, sagte Fischig, als er meinen Blick sah. »Wir sind
sicher. Ich glaube, den Cadianern macht es Spaß, jede mögliche
Gelegenheit zum Üben wahrzunehmen.«
Wir flogen die Reihe einer langsam fahrenden Kolonne entlang —
graubraune, gepanzerte zwölfrädrige Transporter, die von
ungeschlacht wirkenden Kampfläufern eskortiert wurden - und
folgten der Straße bis zum Kamm der Schanzwerke. Dahinter und
hinter zwei weiteren dieser Art schmollten die massiven Befesti-
gungen von Kasr Derth im Dämmerlicht.
Beobachtungsscheinwerfer auf Skelett-Türmen standen auf dem
oberen Hang der Schanze. Mehr Geschützstellungen und Bunker
pflasterten die Abwehrwälle wie Knöchel. Wieder gab der
Transponder seine Signale ab.
Fischig verlor an Höhe und Geschwindigkeit und flog zum
östlichen Wachturm, selbst eine mit Tremorkanonen gespickte kleine
Festung.
Ein Bas-Relief, das einen Imperiumsadler darstellte, schmückte
den oberen Teil des mit Quadersteinen verkleideten Bauwerks.
Wir flogen durch das Tor des Wachturms und über die
hydraulische Klappbrücke über den inneren Graben in die absichtlich
schmalen und gewundenen Straßen des Kastells.
Cadias frühste Kasrs waren im hochterranischen Stil erbaut
worden, mit einem Gitternetz aus breiten Straßen. Im frühen M.32
hatte eine Chaos-Invasion jämmerlich kurzen Prozess mit dreien von
ihnen gemacht. Die breiten, ordentlichen Alleen waren unmöglich zu
verteidigen oder zu halten gewesen.
Seitdem waren die Kasrs in komplizierten geometrischen Mustern
angelegt worden, und die Straßen knickten beständig ab wie der Bart
eines Schlüssels. Aus der Luft sah Kasr Derth wie ein kompliziertes
eckiges Puzzle aus. Angesichts der Veranlagung der Cadianer und
ihrer Fähigkeiten im Stadtkrieg konnte ein Kasr Straße für Straße,
Meter für Meter, Monate, wenn nicht Jahre gehalten werden.
Wir schlichen durch die geschäftigen labyrinthartigen Straßen,
während die vergitterten Laternen eingeschaltet wurden und die
Geschäfte schlossen. Ich wollte gerade zu Fischig sagen, dass es wie
in einem Militärlager aussah, als mir aufging, dass sogar die Mode
der Zivilisten Tarnfarben beinhaltete. Bald war es leicht,
Einheimische von Besuchern zu unterscheiden. Die grau-weiße
Tundrakleidung und das Grün-Beige der Drillich-Monturen für die
Moorlandschaft kennzeichnete Neuankömmlinge und Soldaten auf
Urlaub. Die Bevölkerung von Kasr Derth trug grau-braun karierte
Kleidung, die Tarnfarben für urbane Landschaften.
Wir passierten die gestelzten Vorratshäuser der Imperialen
Cadianischen Kornkammer und die Außenhöfe der Reichen und
Erfolgreichen. Sogar die Stadthäuser der Wohlhabenden verfügten
über Panzerungen an den Mansardendächern.
Links lag das hell erleuchtete Aleatorium, zu dem bereits die
nächtlichen Scharen strömten, um ihren Sold zu verspielen. Rechts
befand sich das Senaculum der Kasr mit seiner funkelnden,
keramitverkleideten Shatrovy-Pyramide. Voraus lag das Münster der
Inquisition. Der Transponder strahlte wieder sein Signal ab, während
uns die Geschütze in den Mauern entlang der tiefen Zufahrt mit den
Läufen verfolgten.
Fischig landete den Schweber auf dem fischgrätengemusterten
Pflaster des Innenhofs des Münsters, wo im Boden eingelassene
Leitlichter ein blinkendes Kreuz bildeten. Inquisitionswachen in
golden abgesetzten burgunderroten Rüstungen näherten sich uns,
während wir das Kanzeldach des Schwebers zurückschoben und
ausstiegen.
Ich zeigte dem nächsten meine Rosette.
Er knallte die Hacken zusammen und salutierte. »Milord.«

»Ich möchte den Inquisitor-General sprechen.«


»Ich informiere ihren Stab«, sagte er gehorsam und eilte über das
Pflaster davon, wobei er sein Bandelier hochhielt, um nicht über sein
Energieschwert zu stolpern.
»Du wirst sie nicht mögen«, sagte Fischig, als er um den
abgestellten Schweber herumging und sich neben mich stellte.
»Warum?«
»Ach, vertrau mir. Du wirst sie einfach nicht mögen.«

»Es ist spät. Ich hatte die Geschäfte für den heutigen Tag
beendet«, sagte Inquisitor-General Neve, während sie ihre Holofeder
wieder in das Energiefass aus Messing auf ihrem Tisch tunkte.
»Ich bitte um Verzeihung, Inquisitor-General.«
»Sparen Sie sich die Mühe. Ich habe nicht die Absicht, meine Tür
vor dem berühmten Inquisitor Eisenhorn zu verschließen. Wir sind
weit vom helicanischen Subsektor entfernt, aber Ihr Ruf eilt Ihnen
voraus.«
»Auf eine gute Art, hoffe ich.«
Der Inquisitor-General erhob sich von ihrem Schreibtisch und
strich die Vorderseite ihrer grünen Flanellrobe glatt. Sie war eine
kleine, stämmige Frau am Ende des ersten Jahrzehnts ihres zweiten
Lebensjahrhunderts, wenn ich mich auf mein Auge verlassen konnte,
mit pfeffer-und-salz-farbenen Haaren, die streng zurückgekämmt und
zu einem Knoten gebunden waren. Sie hatte die typische blasse,
straffe Haut und die violetten Augen der Cadianer.
»Wie auch immer«, schnauzte sie.
Wir standen in ihrem Allerheiligsten, einem achteckigen Raum mit
einem schwarz-weißen Cosmati-Boden und Ätherzitwänden mit
einem eingearbeiteten Wasserblatt-Muster. Für die Beleuchtung
sorgten Binsenlichter, und der Flammenschein betonte das Lotusblü-
ten-Motiv.
Inquisitor-General Neve kam hinter ihrem Schreibtisch hervor und
stützte sich dabei auf einen verzierten silbernen Krückstock.
»Sie wollen sich wahrscheinlich die Bael-Aufzeichnungen
ansehen, nehme ich an?«
»Wie sind Sie darauf gekommen?«, fragte ich.
Sie verlagerte ihr Gewicht auf ihren gesunden Fuß und zeigte mit
der gummiüberzogenen Spitze des Stocks auf Fischig.
»Den kenne ich. Der war schon mal hier. Einer von Ihren Leuten,
nehme ich an.« »Einer meiner besten.«
Sie zog eine ihrer dünnen, gezupften Augenbrauen hoch. »Ha! Das
verrät eine Menge über Sie. Kommen Sie. Ins Archiv.«

Eine spärlich beleuchtete Wendeltreppe führte nach unten ins


Kellerarchiv. Sie hatte Schwierigkeiten, die Rundung der Treppe zu
bewältigen, aber als ich ihr meine Hilfe anbot, scheuchte sie mich
schroff weg.
»Ich wollte Sie nicht beleidigen, Inquisitor-General«, sagte ich.
»Das will Ihresgleichen nie«, schnauzte sie. Ich hatte das Gefühl,
dass dies nicht der richtige Augenblick war, sie zu fragen, wie das
gemeint sei.
Das Archiv war ein langer, wandverkleideter Raum, der nur durch
die Lampen auf der Doppelreihe der Schreibtische in der Mitte
erleuchtet wurde.
»Lichtboje!«, fauchte Neve, und ein Servitorschädel schwebte von
der Kassettendecke herab zu ihrer Schulter und schaltete die
Halogen-Augenlampen ein.
»Bael, Söhne von. Finden«, sagte sie zu ihm, und er schwebte
davon und bestrahlte die Katalogregale mit seinen Zwillingsspeeren
aus Licht.
Er blieb acht Reihen weiter stehen und umschwirrte ein Regal, das
unter der Last von Datentafeln, staubigen Büchern und Aktenordnern
ächzte.
Fischig und ich folgten Neve, als sie zu ihm humpelte.
»Söhne von … Söhne von … Söhne von Teuth, Söhne von
Macharius, Söhne von Huren …« Sie drehte sich zu mir um. »Das
geht hier als Humor durch, Eisenhorn.«
»Das tut es gewiss, Madam.«
Ihre Finger kehrten zu den Stapeln zurück und folgten den
Lichtstrahlen der Schädelboje über die ausgefransten Rücken und
gekennzeichneten Tafeln. »Söhne von Barabus … Söhne von Balkar
… Hier! Hier ist es. Söhne von Bael.«
Sie zog einen Aktenordner aus dem Regal, blies den Staub vom
Deckel und in mein Gesicht und reichte ihn mir. »Stellen Sie ihn
wieder dahin zurück, wo Sie ihn gefunden haben, wenn Sie fertig
sind«, sagte sie. Sie wandte sich zum Gehen.
»Pardon, warten Sie bitte«, sagte ich.
Zwei nachdrückliche Stöße mit ihrer Krücke ließen sie wieder zu
mir herumfahren. »Was?«
»Ihr Vorgänger … äh …«
»Gorfal«, flüsterte Fischig.
»Gorfal. Er hat die Mitglieder dieses Kults ohne Untersuchung
verbrennen lassen. Haben Sie sich den Fall nie angesehen?«
Sie lächelte mich an. Es war kein ermutigendes Lächeln.
»Wissen Sie, Eisenhorn … ich habe mir immer eingebildet, dass
fahrende Inquisitoren wie Sie ein abenteuerliches, aufregendes Leben
führen. Alles so erhebend, und dann Berühmtheit, Heldentum und
eine Reputation. Wenn ich mir vorstelle, immer davon geträumt zu
haben, wie Sie zu sein. Sie haben keine Ahnung, oder?«
»Mit Verlaub, Inquisitor-General… wovon?«
Sie zeigte auf den Aktenordner in meinen Händen. »Von dem
Müll. Dem Unsinn. Dem Schnickschnack. Die Söhne von Bael?
Warum sollte ich mir den Fall ansehen? Er ist tot, tot und sonst
nichts. Ein Haufen Narren, die mitten in der Nacht vom Pylon in
Westmoorland geholt wurden, weil sie mit Geo-Lo-katoren
herumgespielt haben. Du liebe Güte! Ich bin ja so erschrocken!
Stellen Sie sich das mal vor, sie vermessen uns! Haben Sie eine
Ahnung, wie es hier zugeht?«
»Inquisitor-General, ich …«
»Haben Sie? Das hier ist Cadia, Sie alberner Trottel! Cadia! Direkt
an der Schwelle zum Chaos! Direkt im Herzen von allem! Hier
sickert so viel Böses ein, dass ich jeden Monat hundert aktive Kulte
zerschlagen muss! Hundert! Dieser Planet bringt Übeltäter hervor
wie ein Teich Schlamm. Ich schlafe jede Nacht drei oder vier
Stunden, wenn ich Glück habe. Mein Kom summt, und dann stehe
ich auf und sehe mir das nächste Giftloch an, das die Arbites
entdeckt haben. Feuergefechte auf offener Straße, Eisenhorn! Regel-
rechte Schlachten mit den Fußsoldaten des Erzfeindes! Ich komme
kaum mit dem Tagesgeschäft mit, von den erledigten Fällen meines
schwachsinnigen Vorgängers ganz zu schweigen. Das hier ist Cadia!
Das Tor zum Auge! Hier verrichtet die Inquisition ihr blutiges Werk!
Lenken Sie mich nicht mit Geschichten über irgendeinen
Vermessungsverein ab, der zum Feind übergelaufen ist.«
»Ich bitte um Verzeihung.«
»Gewährt. Sie finden den Rückweg sicher allein.« Sie hinkte
davon. »Neve?«
Sie drehte sich um. Ich legte den Ordner auf einen der Lesetische.
»Sie waren vielleicht Idioten«, sagte ich, »aber sie sind meine
einzige solide Verbindung zu einem Dämonenwirt, der uns alle
vernichten könnte.«
»Zu einem Dämonenwirt?«, sagte sie.
»Genau. Und zu der Bestie, die ihn kontrolliert. Eine Bestie, die,
wenn ich recht habe, zu uns gehört.«
Sie humpelte zu uns zurück. »Überzeugen Sie mich«, sagte sie.
DREIZEHN
Eine Wiedervereinigung. Kriegsglocken. Die lange, zähe
Aufgabe beginnt.

Ich weiß nicht, ob ich den Inquisitor-General überzeugte. Ich weiß


nicht, ob ich es konnte. Aber sie hörte mich an und blieb weitere
zwei Stunden, in denen sie half, die Akten verbundener Fälle und
anderes Material ausfindig zu machen. Nach neun Uhr wurde sie zu
einem Zwischenfall in einer Inselgemeinde, im Caducadesmeer
abberufen. Bevor sie ging, bot sie an, mich und meinen Stab im
Münster unterzubringen, was ich höflich ablehnte, und machte
deutlich, dass ich ihre Erlaubnis hatte, meine Untersuchung in Kasr
Derth fortzusetzen, vorausgesetzt ich hielt sie auf dem Laufenden.
»Ich habe Geschichten über Ihre … Abenteuer gehört, Eisenhorn.
Ich will nicht, dass so etwas in meiner Zuständigkeit passiert.
Verstehen wir uns?«
»Das tun wir.«
»Dann wünsche ich eine gute Nacht. Und gute Jagd.« Fischig und
ich blieben allein im Archiv zurück. »Du hattest Unrecht«, sagte ich
zu ihm. »Womit?« »Ich mag sie.«
»Ha! Dieses abgebrühte Miststück?« »Tatsächlich mag ich sie,
weil sie ein abgebrühtes Miststück ist.«
Es bereitete mir immer Freude, Kollegen zu treffen, die ihre Arbeit
gerecht und ernsthaft verrichteten, auch wenn sich ihre Methoden
von meinen unterschieden. Neve war eine Puritanerin durch und
durch, und es mangelte ihr an Geduld. Ihre Schroffheit grenzte an
Unhöflichkeit. Sie war überarbeitet. Aber sie beurteilte die Dinge
nach bestem Wissen und Gewissen, hasste Schlampigkeit und nahm
die Bedrohungen für unsere Gesellschaft und Lebensart vollkommen
ernst.
Meiner Ansicht nach konnte ein Inquisitor sich gar nicht anders
verhalten.

Wir arbeiteten bis Mitternacht weiter. In dieser Zeit lasen wir die
Akten mehrerer hundert Fälle und stellten Querverbindungen
zwischen ihnen her.
Mittlerweile war das Kanonenboot vom Landeplatz in Kasr Tyrok
als Reaktion auf meinen Kom-Ruf eingetroffen. Fischig fand einen
von Neves Rubrikatoren und erteilte ihm den Auftrag, bis zu unserer
Rückkehr am nächsten Morgen Datentafel-Kopien der viel-
versprechendsten Fälle anzufertigen. Dann setzten wir uns wieder in
den Schweber und flogen durch die Zickzack-Straßen des Kastells
zum Landefeld der Stadt.
Die Sterne waren herausgekommen, und es war kalt. Nachtfalter
umflatterten die Landelichter des wartenden Kanonenboots.
Am Nachthimmel war ein malvenfarbener Schmier tief am
Osthorizont zu sehen. Der aufsteigende Nebel des Auge des
Schreckens. Trotz der großen Entfernung und obwohl er nur ein
Fleck am Himmel war, überlief mich bei seinem Anblick doch ein
Frösteln. Wenn der zweiköpfige Adler all das symbolisiert, was gut,
edel und richtig am Imperium der Menschheit ist, dann steht dieser
widerliche Schmier für alles, was an unserem ewigen Feind
verdammenswert ist.
Gelächter und warme Stimmen begrüßten Fischig, als wir an Bord
gingen. Aemos schüttelte ihm wiederholt die Hand, und Bequin
drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange, der ihn erröten
ließ. Er wechselte ein paar spielerische Sticheleien mit Nayl und
Medea und fragte Husmaan, ob er hungrig sei.
»Warum?«, fragte der Späher-Jäger, während sich seine Augen
voller Vorfreude weiteten.
»Weil Abendbrotzeit ist«, sagte Fischig. »Betancore, bring diese
Kiste in die Luft.«
Wir flogen an den sicheren Ort, den er erwähnt hatte.
Ich war gut fünf Jahre nicht an Bord des Eilfrachters Essene
gewesen. Als Klipper der Isolde-Klasse glich der Frachter einer
raumtüchtigen Kathedrale. Er war drei Kilometer lang und sah vor
Anker im Orbit um Cadia ebenso erhaben aus wie bei meinem ersten
Blick auf das Schiff beinahe hundert Jahre zuvor in der kalten Um-
laufbahn um Hubris.
Medea bugsierte uns zur Frachtluke des gigantischen Schiffes vor
uns.
»Ein Freihändler?«, fragte Inshabel vorsichtig nach einem Blick
über meine Schulter auf das Schiff voraus.
»Ein alter Freund«, versicherte ich ihm.

Kapitän Tobius Maxilla war wohl mein ungewöhnlichster


Verbündeter. Er hatte seinen Lebensunterhalt damit verdient, im
gesamten helicanischen Subsektor Luxusgüter offiziell und
inoffiziell zu transportieren. Das tat er immer noch. Er war ein
Kauffahrer, pflegte er jedem zu sagen, der danach fragte.
Aber er hatte die Vorliebe eines Piraten für Abenteuer, eine
Sehnsucht nach der glücklichen Zeit der frühen Raumfahrt. Ich hatte
sein Schiff im Zuge der Affäre um das Nekroteuch gemietet,
eigentlich nur, um ein Transportmittel für meine Truppe zu
bekommen, docher war mit zunehmender Freude seinerseits immer
tiefer in die Sache verwickelt worden und später verwickelt
geblieben. Alle paar Jahre im Laufe des letzten Jahrhunderts hatte ich
ihn als Transportschiff für Teile meines Stabs gemietet oder er hatte
mich kontaktiert, um zu fragen, ob seine Dienste benötigt würden.
Nur weil er sich langweilte. Nur weil er »gerade in der Gegend« war.
Maxilla war ein gebildeter, belesener Mann mit einem subtilen
Humor und einer Vorliebe für die besten Dinge im Leben. Er war
außerdem ein charmanter Gastgeber und ein guter Kamerad, und ich
mochte ihn sehr. Er war in keiner Weise ein offizieller Bestandteil
meines Stabs. Aber nach all der Zeit und all diesen gemeinsam erleb-
ten Abenteuern war er wohl ein wichtiger Bestandteil.
Im Jahr zuvor, als beschlossen worden war, dass Fischig die lange
Reise nach Cadia machen würde, um dieser Spur nachzugehen, hatte
ich Maxilla gebeten, ihm so lange wie nötig seine Dienste zur
Verfügung zu stellen. Er war sofort einverstanden gewesen, und
nicht wegen des großzügigen Honorars, das ich anbot. Für ihn klang
es nach einem neuen Abenteuer. Außerdem versprach es eine
Gelegenheit, der Essene wieder einmal abseits ihrer normalen Routen
durch den helicanischen Subsektor freien Lauf auf einer langen Fahrt
zu lassen.
Auf einer richtigen Fahrt. Einer Odyssee. Und genau dafür lebte
Tobius Maxilla.

Er erwartete uns im Laderaum, um uns zu begrüßen, noch bevor


die Absaugrohre die von den Schubdüsen des Kanonenboots
erzeugten Dämpfe beseitigt hatten. Er hatte sich für den Anlass
gekleidet, wie es seine Art war: mit einem blauen Samt-Balmacaan
mit weiten Ärmeln und einem Jabot-Kragen, einem Doublet aus Ja-
panagar-Seide, Sabatons mit Goldschnallen und einem gewaltigen
Fächerschwanzhut auf seiner gepuderten Perücke. Sein Gesicht war
weiß geschminkt und wies einen smaragdfarbenen Schönheitsfleck
auf. Sein Duftwasser war stärker als der Geruch der Abdämpfe des
Kanonenboots.
»Mein lieber, lieber Gregor!«, rief er, indem er vortrat und meine
angebotene Hand mit seinen beiden nahm. »Eine außergewöhnliche
Freude, Sie wieder an Bord unseres bescheidenen Schiffes zu
haben.«
»Tobius. Es ist mir wie immer ein Vergnügen.«
»Und meine liebe Alizebeth! Sie sehen jünger und bezaubernder
aus denn je!« Er nahm ihre Hand und küsste sie auf die Wange.
»Vorsicht, Sie verschmieren noch … Ihre Schminke.«
»Und der weise Aemos! Willkommen, Gelehrter!«
Aemos gluckste nur vor sich hin, als seine Hand geschüttelt
wurde. Ich glaube, er wusste immer noch nicht so recht, was er von
Maxilla halten sollte.
»Herr Nayl!«
»Maxilla.«
»Und Medea! Hinreißend! Ganz hinreißend!«
»Das sind Sie gewiss«, sagte Medea neckisch, während sie
gestattete, dass eine ihrer schaltkreis-implantierten Hände geküsst
wurde.
»Sie wussten, dass wir kommen, Maxilla. Sie hätten sich ruhig
etwas herausputzen können«, sagte Fischig. Unter Gelächter
schüttelten sie sich die Hände. Mir ging auf, dass sich ihre Beziehung
verändert hatte. Auf dieser Mission hatten sie über ein Jahr
miteinander verbracht. Fischig und Maxilla hatten sich bisher nicht
richtig füreinander erwärmt. Ihre Herkunft und ihr Leben waren zu
unterschiedlich. Aber ein Jahr gemeinsamer Gesellschaft hatte
endlich eine wahre Freundschaft herbeigeführt.
Das freute mich ebenfalls sehr. Die Truppe eines Inquisitors
funktioniert besser, wenn sie miteinander verschweißt ist.
Maxilla wandte sich an Husmaan und Inshabel. »Sie beide kenne
ich noch nicht. Aber ich werde Sie gewiss kennen lernen, denn dafür
sind Abendessen da. Willkommen auf der Essene.«

Maxillas goldene Servitoren, jeder einzelne ein Kunstwerk, hatten


ein spätes Abendessen für uns im großen Dinnersaal zubereitet. Eine
federleichte Pastete aus Krebsen, am Morgen frisch aus dem
Caducadesmeer gefangen, Ontolblumensoße in deren Schale, Filet
von cadianischem Wildschwein Hongroise, gefolgt von Eben-frucht-
Talmouse mit Sahne und Intiansirup. Der vergoldete Sommelier
servierte prickelnden samatischen Rose, einen schweren
cadianischen Rotwein, einen süßen und klebrigen Tokajer von einem
Weingut im Tiefland von Hydraphur und starken mordianischen
Schnaps.
Unsere Laune war gut, und das improvisierte Dinner gab uns die
Zeit, uns von der vor uns liegenden Arbeit zu distanzieren und zu
entspannen. Keiner von uns sprach über den Fall oder die
Anforderungen, die er sehr wahrscheinlich an uns stellen würde. Mit
der Ruhe des Geistes kommt oft auch die Klarheit.
Und Klarheit würde ich jetzt brauchen.
Wir kehrten am nächsten Morgen mit dem Kanonenboot nach
Kasr Derth zurück. Das stahlgraue Morgengrauen über der weit
verstreuten Inselgruppe der Caducades wurde vom aufgehenden
Rand einer brennenden roten Sonne durchbrochen. Als wir über das
zerklüftete Festland flogen, lag ein rosiges Alpenglühen auf den
Gipfeln und den Hochmooren.
Trotz der Tatsache, dass wir die korrekten Codes sendeten, wurden
wir im Laufe unseres halbstündigen Landeanflugs sechs Mal
aufgefordert, uns zu identifizieren. Irgendwann kamen zwei
cadianische Marodeure angebraust, nahmen uns in die Zange und
überprüften uns.
Die militärische Sicherheit beherrschte den cadiani-schen
Lebensstil. Jedes nichtmilitärische Transportflugzeug oder
Raumschiff und jede Fähre wurden unter scharfe Beobachtung
gestellt, vor allem solche, die sich verdächtig benahmen oder von
den genehmigten Flugrouten abwichen. Aemos erzählte mir, dass vor
sechs Monaten eine Pinasse mit dem Diakon von Arnush an Bord,
der wegen eines Verkündigungsseminars nach Cadia gekommen war,
über dem Kanskmeer abgeschossen worden sei, weil das Schiff nicht
die richtigen Codes gesendet habe. Das warf die Frage auf, wie unser
unbekannter Feind seine Lakaien nach Cadia gebracht und geholt
hatte.
Wenn er nicht wie wir eine Identität und einen Rang hatte, die es
gestatteten, Routine-Überprüfungen mühelos zu überstehen.

Wir wurden zu einem Ort sechzig Kilometer westlich von Kasr


Derth umgeleitet, weil ein Krieg im Gange war. Das
frühmorgendliche Licht war voll von den Blitzen und
Kondensstreifen eines ausgedehnten Raketenangriffs.
Acht Regimeter cadianischer Stoßtruppen, die in wenigen Tagen
zum Dienstantritt auf einer der inneren Festungswelten des
Cadianischen Tors verschifft werden wollten, unternahmen eine
Feuerübung mit scharfer Munition.
Wir landeten schließlich über eine Stunde später auf dem
Landefeld des Münsters. Die Kriegsglocken in jedem Turm und
Shatrovy im Kastell läuteten, um anzuzeigen, dass es sich bei dem
Schlachtengetöse, das aus der nahen Prärie und den Mooren drang,
nur um eine Übung handelte.
Wir teilten die Arbeit auf. Fischig brachte Aemos ins Archiv des
Münsters, um die in der Nacht zuvor angeforderten kopierten
Unterlagen zu studieren und weitere Nachforschungen anzustellen.
Bequin ging in Begleitung von Husmaan ins Apostolaeum, um die
Aufzeichnungen der Ekklesiarchie durchzugehen. Inshabel und Nayl
besuchten das Archiv des Administratums.
Ich ging mit Medea zum Ministerium für Innere Abwehr.

Auf Cadia gibt es keine Arbites. Die Welt steht unter


permanentem Kriegsrecht, und infolgedessen werden alle zivilen
Polizeidienste von der Inneren Garde wahrgenommen, einer
Unterabteilung der Imperialen Garde Cadias. In Kasr Derth, der
Verwaltungshauptstadt der Region, befand sich ihr Hauptquartier im
Ministerium für Innere Abwehr, einem grauen Steinbergfried neben
der Festung des Kriegsgouverneurs im Herzen des Kastells.
Kandidaten für die Innere Garde werden willkürlich ausgewählt.
Weltweit wird einer von zehn rekrutierten Soldaten der cadianischen
Streitkräfte am Ende der Grundausbildung zur Inneren Garde
überstellt, und zwar unabhängig von den Leistungen und Aussichten.
Infolgedessen leisten einige der fähigsten Soldaten, die diese
Kriegerwelt je hervorgebracht hat, ihren Dienst auf ihrer Heimatwelt
selbst ab, und Cadia rühmt sich, eine der wirkungsvollsten und
stärksten planetaren Streitkräfte aller Imperiumswelten zu haben.
Wir wurden von einem Oberst Ibbet empfangen, einem kräftigen,
hageren Mann Mitte vierzig, der aussah, als hätte er einen
Sturmangriff ins Auge des Schreckens anführen sollen. Er war
höflich, aber argwöhnisch.
»Wir haben keine Akten über illegale oder verdächtige
Einwanderung.«
»Wie kommt das, Oberst?«
»Weil so etwas nicht vorkommt. Das System lässt es nicht zu.«
»Gewiss gibt es bedauerliche Ausnahmen?«
Ibbet, dessen grau-weiße Tarnuniform so scharf gestärkt und
gebügelt war, dass man sich an den Falten hätte schneiden können,
legte die Fingerspitzen zusammen.
»Also gut«, versuchte ich es anders. »Was ist, wenn jemand
anonym auf den Planeten gelangen wollte? Wie könnte man das
anstellen?«
»Gar nicht«, sagte er. Er gab keinen Millimeter nach. »Jede
Identität und jeder Besuchszweck wird gespeichert, und alle
Übertretungen werden rasch geahndet.«
»Dann fange ich mit den Akten an, die sich mit den Übertretungen
befassen.«

Resigniert führte Ibbet uns in einen Leseraum und stellte einen


Mann ab, der uns bei der Auswahl der Unterlagen half. Wir sortierten
und prüften die beinahe drei Stunden, nach denen uns die
unendlichen Auflistungen von Entermanövern im Orbit, Luft-Raum-
Abfangmanövern und Razzien am Boden gründlich langweilten. Mir
war klar, dass eine gründliche Durchsicht allein dieser
Aufzeichnungen Wochen dauern würde.

Also taten wir genau das. Wir verbrachten zehneinhalb Wochen


mit der Durchsicht der Archive und Aktenverzeichnisse von Kasr
Derth, in denen wir in Schichten arbeiteten und in den Kabinen des
Kanonenboots wohnten. Alle paar Tage kehrten wir auf die Essene
zurück, um uns auszuruhen und das Gelesene zu reflektieren.
Es war mitten im Winter, als wir schließlich fertig waren.
VIERZEHN
Der Winter bringt eine Gelegenheit. Der Verdammte hat
einen Namen. Der Pylon von Kasr Gesh.

Winter auf Cadia.


An diesem Morgen trieben Eisschollen auf dem ge-
schützmetallgrauen Wasser des Caducadesmeers, und in den
Hochmooren war leichter Schnee gefallen. In dieser Jahreszeit war
die widerliche Korona des Auges des Schreckens auch in den
wenigen Stunden mit Tageslicht zu sehen. Der unheilige
malvenfarbene Schein der Nächte wurde zu einem violetten Schmier
im kalten Tageslicht, wie ein Tintenklecks auf weißem Papier.
Dadurch fühlten wir uns, als würden wir ständig beobachtet. Das
Auge, blutunterlaufen und zornig, starrte auf uns nieder.
Am schlimmsten waren die Moorwinde, die aus den arktischen
Breiten hereinwehten und so kalt und scharf waren wie das Bajonett
eines Cadianers. Die Bergseen waren mittlerweile alle zugefroren,
und tödliche Eisnebel suchten die Heiden und das Hochland heim.
Im Kastell selbst hatte es den Anschein, als hätten die Einheimischen
eine morbide Furcht vor Heizungen und dem Abdichten von
Fenstern.
Kalte Zugluft wehte durch die Flure des Münsters und des
Administratum-Gebäudes. Wasser gefror in den Leitungen.
Trotz alledem läuteten die Kriegsglocken alle paar Tage, und die
Moore hallten von den Klängen der Wintermanöver wider. Ich stellte
mir allmählich vor, dass die Cadianer einfach deshalb aufeinander
schössen, um sich warm zu halten.
Zehneinhalb zunehmend kältere Wochen, nachdem wir mit
unserer systematischen Durchsuchung der Unterlagen des Kastells
begonnen hatten, machte ich meinen mittlerweile
gewohnheitsmäßigen Morgenspaziergang vom Münster der
Inquisition zum Hauptquartier der Inneren Garde. Ich trug einen
dicken Fellmantel zum Schutz vor der Kälte und Stiefel mit Spikes
unter den Sohlen, um mich auf den vereisten Straßen auf den Beinen
halten zu können. Ich war unglücklich. Die Nachforschungen hatten
uns alle blass und gereizt werden lassen, nach zu vielen fruchtlosen,
in dunklen Räumen verbrachten Stunden.
Es hatte viele vielversprechende Spuren gegeben. Quer-
verbindungen zu den Söhnen Baels, unbefugten Raumschiffsverkehr,
verdächtige Zoll- und Steuer-Erklärungen.
Alle hatten sich in Rauch aufgelöst. Soweit wir feststellen
konnten, war kein Mitglied der Söhne Baels oder einer ihrer
Anverwandten noch am Leben. Es gab keine auf Pylonen bezogene
Kult-Aktivitäten mehr, nicht einmal registrierte xeno-archäologische
Arbeiten. Ich hatte Professoren der Universität befragt und gewisse
Techpriester der Mechanicus, die ausgewiesene Pylonen-Experten
waren.
Nichts.
Mit Inshabel, Nayl oder Fischig war ich durch die Region gereist,
bis Kasr Tyrok und Kasr Bellan. Ein Arbeiter in den Waffenfabriken
von Kasr Bellan, der als Mitglied des Bael-Kults identifiziert worden
war, hatte lediglich denselben Namen und war in den Archiven
falsch abgelegt worden. Ein vergeudeter Zehnstundenflug mit dem
Schweber.
Aemos hatte ein Codifizierer-Modell entwickelt, nach dem wir
Anomalien in den Akten mit den Zeittafeln vergangener Kult-
Aktivitäten abglichen.
Es schien überhaupt keinen Zusammenhang zu geben.

Ich erklomm die Stufen des Ministeriums der inneren Abwehr und
unterwarf mich der Sicherheitsüberprüfung im hinteren Wachhaus.
Sie hätte eine Formalität sein müssen. Ich traf seit fünfundsiebzig
Tagen praktisch jeden Tag zur selben Zeit ein. Ich kannte sogar ei-
nige der Wachposten dem Gesicht nach.
Aber es war immer noch so wie bei meinem ersten Besuch. Die
Papiere wurden nicht nur abgestempelt, sondern gründlich gelesen
und mit einem Anti-Fäl-schungs-Auspex abgetastet. Meine Rosette
wurde begutachtet und geprüft. Der Offizier vom Dienst gab meine
Daten über Kom ans Hauptgebäude durch, um die Genehmigung zu
bekommen.
»Langweilt Sie das nicht?«, fragte ich einen der diensthabenden
Offiziere, während ich wartete und meine Papiere wieder in der
Brieftasche verstaute.
»Was langweilt mich nicht, Herr Inquisitor?«, fragte er.

Seit der ersten Woche hatte ich lbbet nicht wiedergesehen. Ich war
zwischen einigen Aufsehern hin und her gewechselt. Einer hatte mir
gesagt, das liege an Schichtwechseln, aber ich wusste, es lag mehr
daran, dass keiner von ihnen gern mit einem Inquisitor zu tun hatte.
Insbesondere einem beharrlichen.
An diesem Morgen war es Major Revll, der mich hineinbegleitete.
Revll, ein bärbeißiger junger Mann, war mir neu.
»Wie kann ich Ihnen helfen, Inquisitor?«, fragte er knapp. Ich
seufzte.
Offene Logbücher und Datentafeln lagen an dem Arbeitsplatz
herum, wie ich sie am Abend zuvor verlassen hatte. Revll rief bereits
einen Archivdiener, um sie wegräumen zu lassen und Platz für mich
zu schaffen, bevor ich erklären konnte, dass ich für dieses
Durcheinander überhaupt erst verantwortlich war.
Er sah mich wachsam an. »Sie waren schon mal hier?«
Ich seufzte wieder.

Ich hatte zwei Stunden. Um elf Uhr sollte ich mich mit Inshabel
und Bequin treffen und zu einem Dorf auf einer der Inseln im
Caducadesmeer fliegen, um ein Gerücht zu untersuchen, ein Mann
dort wisse etwas über Schmuggel. Meiner Überzeugung nach eine
weitere Zeitverschwendung.
Ich fing mit dem Protokollbuch des Luftverkehrs an und ging die
Listen der Transfers aus der Umlaufbahn für einen Sommertag vor
zwei Jahren durch. Irgendwann stieß ich auf den Eintrag eines
Fährfluges von einem Schiff in der Umlaufbahn zu einem Landefeld
bei Kasr Gesh. Gesh lag in der Nähe eines der von den Söhnen Baels
frequentierten Pylonen. Außerdem ergab ein Vergleich, dass dieser
Transfer drei Tage vor den letzten bekannten Kult-Aktivitäten an
diesem Pylon stattgefunden hatte.
Ich heizte die Datenmaschine an und forderte weitere
Informationen über den Eintrag an. Die Anforderung wurde sofort
abgewiesen. Ich benutzte einen höheren Entschlüsselungscode und
bekam einen Bericht zu Gesicht, der weder den Namen des Schiffs
noch die Herkunft der Transfererlaubnis nannte. Ich verspürte so et-
was wie Aufregung und ging den Bericht durch. Sogar der Zweck
des Besuchs war geheim.
Jetzt gab ich meinen höchsten Entschlüsselungscode ein. Das
Terminal surrte und summte, während es Dateien und Befugnisse
durchging.
Der Name tauchte auf. Meine Erregung erreichte ihren Höhepunkt
und fiel dann ins Bodenlose.
Neve. Der mysteriöse Eintrag gehörte zu einer Geheimmission des
Inquisitor-Generals. Zurück zum Start.

Die Insel war kalt und kahl. Ein kleines Fischerdorf klammerte
sich an den Rand der westlichen Bucht. In-shabel landete den
Schweber auf dem gepflasterten Tideweg, wo ausgebreitete Netze
steif vom Eis waren.
»Wie lange noch, Gregor?«, fragte Bequin mich, indem sie sich
ihren Schal um den Hals wickelte.
»Wie lange noch was?«
»Bis wir aufgeben und gehen? Ich habe diese schicksalsverlassene
Welt so satt.«
Ich zuckte die Achseln. »Noch eine Woche. Bis zur Kerzennacht.
Wenn wir bis dahin nichts gefunden haben, verabschieden wir uns
von Cadia, das verspreche ich.«
Wir trotteten den vereisten Weg entlang zu einer grimmigen
Taverne mit Blick auf den Meerwall. Ankerfische so groß wie
Menschen hingen draußen gesalzen und getrocknet in der Winterluft.
Der Barmann wollte uns nicht kennenlernen, aber sein Gehilfe
brachte uns etwas zu trinken und führte uns in ein Hinterzimmer. Er
gab zu, die Nachricht über den Schmuggler geschickt zu haben. Der
Schmuggler sei hier, um sich mit uns zu treffen, sagte er.
Wir betraten das Hinterzimmer. Ein Mann saß am tosenden Kamin
und wärmte sich die juwelenbesetzten Finger am Feuer. Ich roch
Duftwasser.
»Guten Morgen, Gregor«, sagte Tobius Maxiila.
Trotz des aus dem Hinterzimmer dringenden Geschreis brachte
uns der Gehilfe Kräuteromelettes, Schalen mit dampfender
Zarfischflossensuppe und eine Flasche starken Wein.
»Wollen Sie das nicht erklären?«, fragte Inshabel harsch.
»Natürlich, mein lieber Nathum, natürlich«, erwiderte Maxilla,
indem er jedem eine sorgfältig abgemessene Menge von dem Wein
einschenkte.
»Haben Sie Geduld.«
»Jetzt, Tobius«, schnauzte ich.
»Oh«, sagte er, als er meinen Blick sah. Er lehnte sich zurück.
»Ich gestehe, dass ich in diesen letzten Wochen ein wenig verzagt
war. Sie waren alle so beschäftigt, und ich habe auf der Essene
immer nur gewartet … jedenfalls haben Sie oft genug gesagt, die
Antwort, die Sie suchten, hinge von einer Sache ab, nämlich davon,
einen Weg durch das obsessiv engmaschige Sicherheitsnetz dieser
trostlosen Welt zu finden. Anonym. Und ich sagte mir: ›Tobius,
genau das tust du, obwohl Gregor nicht gerne darüber nachdenkt.
Schmuggeln, Tobius, ist deine starke Seite. ‹ Also habe ich mir
vorgenommen festzustellen, ob ich mich auf den Planeten
schmuggeln kann. Und wissen Sie was?«
Er lehnte sich zurück, nippte an seinem Glas und sah abscheulich
zufrieden mit sich aus.
»Sie haben sich auf diesen Planet geschmuggelt, um zu beweisen,
dass es möglich ist?«, fragte Bequin zögerlich.
Er nickte. »Meine Fähre ist im Dickicht hinter dem Dorf
verborgen. Es ist erstaunlich, wie viele verschlossene Münder und
blinde Augen man sich hier mit einer Börse voller harter Währung
kaufen kann.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, sagte ich.
Er breitete die Arme aus. »Sie haben mir vor Wochen erzählt, dass
die Innere Garde keine Kenntnis von illegalen oder verdächtigen
Einwanderungen hätte. Tja, ich bin heute hier - buchstäblich, um zu
beweisen, dass diese Behauptung falsch ist. Cadia ist eine harte Nuss,
das gebe ich zu. Eine der härtesten, mit denen ich es in meiner
langen, ungehörigen Laufbahn zu tun hatte. Aber man kann sie
knacken, wie Sie sehen.«
Ich leerte mein Glas in einem Zug. »Dafür müsste ich meine
Bande zu Ihnen durchschneiden, Tobius. Das wissen Sie.«
»Ach, was, Gregor! Weil ich gezeigt habe, dass die ca-dianische
Innere Garde ein Haufen Trottel ist?«
»Weil Sie das Gesetz gebrochen haben!«
»Ah ah ah! Nein, habe ich nicht. Vielleicht gebeugt, aber nicht
gebrochen. Meine Anwesenheit hier ist vollkommen legal, und zwar
sowohl nach cadianischem als auch nach imperialem Recht.«
»Was?«
»Ach, kommen Sie, alter Freund! Was glauben Sie, warum meine
Fähre heute Morgen nicht von eifrigen cadianischen Kanonieren vom
Himmel geholt wurde? Das war übrigens eine rhetorische Frage.
Antwort … weil ich, als die Abfangjäger kamen, den richtigen Si-
cherheitscode gesendet habe und sie das zufriedengestellt hat.«
»Aber die täglichen Codes sind geheim! Alles wird dreifach
gegengeprüft! Die Codes werden nur an entsprechend hohe Ränge
ausgegeben. In wessen Namen könnten Sie sich die Codes besorgt
haben?«
»Na, Gregor … in Ihrem natürlich.«
Es hatte mich die ganze Zeit angestarrt, und es hatte der auf
Effekthascherei bedachten Extravaganz Maxillas in ihrer
prahlerischsten Ausprägung bedurft, um es aufzudecken. Der Grund,
warum die Innere Garde keine Akten über illegale oder verdächtige
Einwanderungen hatte, war der, dass es keine derartigen Fälle gab.
Jene, die sich in den Maschen des Sicherheitsnetzes von Cadia
verstrickten und scheiterten, starben. Jene, die durchkamen, taten
dies unbemerkt.
Weil sie höchstranginge Sicherheitsfreigaben benutzten und sich
als offizielle Besucher ausgaben, die nicht angehalten wurden.
Leute wie mich. Leute wie Neve.

»Diese Reise habe ich nie gemacht«, sagte Neve, während sie die
Datentafel betrachtete, die ich ihr zeigte. »Die auch nicht.«
»Natürlich nicht. Aber jemand hat sich Ihren Berechtigungscode
ausgeborgt. Um sich Zutritt zum Planeten zu verschaffen. So sind sie
hereingekommen. Sehen Sie hier, Ihr Code, immer wieder. Und
davor der Ihres Vorgängers Gonfal. Es reicht vierzig Jahre zurück.
Jeder Ausbruch von Aktivität der Söhne Baels … und anderer Kulte
… findet seine Entsprechung in Transfers aus dem Raum, die als
Flüge der Inquisition deklariert sind.«
»Der Imperator beschütze mich!« Neve blickte auf. Sie legte die
Datentafel beiseite und befahl einem Servitor mit heiserer Stimme,
mehr Licht in ihrem achteckigen Allerheiligsten zu machen.
»Aber mein Berechtigungscode ist geschützt. Wie wurde er
gestohlen? Eisenhorn, Ihrer wurde benutzt, um es zu beweisen. Wie
wurde der gestohlen?«
Ich hielt kurz inne. »Er wurde nicht gestohlen, nicht wirklich.
Einer meiner Leute hat ihn sich geborgt, um den Beweis zu führen.«
»Warum überrascht mich das nicht? Aber egal! Eisenhorn,
zwischen uns gibt es einen großen Unterschied. Sie haben vielleicht
schurkische Elemente in Ihrer Gruppe, die hinter Ihrem Rücken
unorthodoxe, unilaterale Methoden anwenden. Ich habe das nicht.
Mein Code hätte nicht so missbraucht werden können.«
»Ich akzeptiere das Argument, aber missbraucht worden ist er.
Wer hat Zugang zu Ihrem Code?«
»Niemand! Niemand unter mir!«
»Aber über Ihnen?« »Was?«
»Ich sagte doch, es könnte einer von uns sein. Ein hochrangiger
Inquisitor, vielleicht sogar ein Großmeister. Ganz sicher ein
gerissener Veteran mit genug Einfluss, um an den richtigen Drähten
zu ziehen.«
»Das würde eine direkte Vollmacht auf den höchsten Ebenen
voraussetzen.«
»Genau. Sehen wir uns die Sache an.«

Am Ende war das der Untergang meines Gegenspielers. Alles


Blut, das wir vergossen, und alle Kämpfe, die wir ausgetragen hatten,
waren nichts verglichen mit diesem prosaischen Hinweis, der seine
Identität verriet. Um Neves Berechtigungscode und den ihrer
Vorgänger zu stehlen war mein Gegenspieler gezwungen gewesen,
den Einfluss seiner eigenen Identität zu benutzen, und daher
aktenkundig.
Natürlich war die Akte dieses Unternehmens verschlüsselt. Neve
und ich saßen nebeneinander vor dem Codifizierer im Anbau ihres
Allerheiligsten, und es dauerte nicht lange, bis wir ihn gefunden
hatten. Der Name war nicht einmal verborgen. Er hatte wohl nicht
geglaubt, dass jemals jemand nachsehen könnte.
Aber er war immer noch verschlüsselt.
Die Verschlüsselung überstieg Neves und meine Fähigkeiten.
Aber zusammen, unter Vereinigung unserer Ränge, konnten wir über
Astropathicus die stärksten Entschlüsselungswerkzeuge anfordern.
Es dauerte fünf Stunden, bis unser gemeinschaftlicher Rang
anerkannt wurde.

Kurz nach Mitternacht brachte uns ein Schreiber aus dem Officio
Astropathicus die Datentafel mit der Nachricht. Die Winterwinde
ließen die Fensterflügel im Allerheiligsten erbeben.
Ich war mit Neve allein. Wir stimmten überein, dass Gesellschaft
unangemessen gewesen wäre. Dies war eine Angelegenheit von
größter Bedeutung. Wir hatten über dies und das geredet, um uns die
Zeit zu vertreiben, obwohl wir beide unruhig und gereizt waren. Sie
goss uns großzügig bemessene Mengen von cadianischem Glavya
ein, der der Kälte die Schärfe nahm.
Ihr Adjutant meldete den Schreiber an, der eintrat und sich tief
verbeugte, so dass sein augmetisches Chassis unter seinen
Gewändern knirschte. Seine Mechandriten, die ihm als Hand dienten,
hielten ihr eine Datentafel hin. Neve nahm sie und ließ ihn wegtreten.
Ich erhob mich und stellte mein kaum angerührtes Glas beiseite.
Neve humpelte zu mir, stützte sich auf ihren silbernen Stock und
hielt die Tafel in die Höhe. »Wollen wir?«, fragte sie.

Wir gingen in den Anbau und luden den Inhalt der Tafel in den
alten Codifizierer. Über die grüne Anzeige huschten fieberhaft
Runen. Sie öffnete die Datei, um die es ging, und setzte den
Entschlüssler darauf an. Es dauerte einen Moment.
Dann wurde die Identität des Veteranen auf einem kleinen Schirm
mit grünem Hintergrund enthüllt, der seine Macht benutzt hatte, um
Neves Code zu manipulieren. Endlich hatte der Verdammte einen
Namen.
Er schockierte sogar mich.
»Imperator im Himmel«, hauchte Inquisitor-General Neve.
»Quixos.«

Aemos stritt sich mit Neves oberstem Gelehrtem Cutch.


»Quixos ist tot, lange tot!«, behauptete Cutch ständig. »Hier hat
ganz eindeutig jemand anders seine Befugnisse genutzt…«
»In den Annalen der Inquisition wird Quixos als noch lebend
geführt.«
»Infolge einer Unterlassung! Man hat keinen Leichnam gefunden
und keinen Beweis für seinen Tod …«
»Genau …«
»Aber trotzdem! Seit über hundert Jahren fehlt jede Spur oder
Nachricht von Quixos.«
»Wir haben nur keine gesehen«, sagte ich.
»Eisenhorn hat recht«, sagte Neve. »Inquisitor Utlen wurde über
siebzig Jahre für tot gehalten. Dann tauchte er plötzlich auf und
stürzte die Tyrannen von Esquestor II.«
»Das ist äußerst bestürzend«, murmelte Aemos.
Quixos. Quixos der Große. Quixos der Strahlende. Einer der
meistverehrten Inquisitoren, die es je im Imperium gegeben hat.
Seine frühen Texte waren Pflichtlektüre für uns alle. Er war eine
Legende. Im Alter von nur einundzwanzig Jahren hatte er die
Dämonen von Arnim verbannt. Dann hatte er den endorianischen
Subsektor von seinen falschen Ziegengöttern gesäubert. Er hatte das
Buch von Eibon übersetzt. Er hatte den elenden Nurgle-Kult
zerschlagen, der sich in einem der Paläste Terras eingenistet hatte. Er
hatte den Chaos Marine Baneglos aufgespürt und getötet. Er hatte die
Flüsterer von Domactoni zum Schweigen gebracht. Er hatte den
Hexenkönig von Sarpeth auf den Zinnen über seiner verbrannten
Makropole gekreuzigt.
Aber Quixos hatte immer ein besonderer Geruch angehaftet. Eine
Andeutung, dass er dem Bösen, das er verfolgte, zu nah war. Er war
ein Radikaler, gewiss. Einige im Ordos sagten, er sei ein Schurke.
Andere sagten in privaten Unterhaltungen sehr viel Schlimmeres.
Für mich war er ein großer Mann, der vielleicht zu weit gegangen
war. Ich ehrte einfach sein Andenken und seine Leistungen.
Denn so weit es mich betroffen hatte, war er schon lange tot.

»Könnte er noch leben?«, fragte Neve.


»Madam, absolut nicht…«, begann Cutch.
»Ich weiß nicht, warum Sie ihn beschäftigen«, sagte ich mit einer
verächtlichen Geste in Richtung des cadianischen Gelehrten. »Sein
Rat ist nicht solide.«
»Also wirklich!«, fuhr Cutch auf.
»Halten Sie den Mund und gehen Sie«, sagte Neve zu ihm.
Sie kam zu mir und nahm mir das leere Glas ab. »Dann also
weiter. Ihre Meinung?«
»Sie wollen sie hören? Die Meinung eines Abenteurers wie mir?
Sind Sie sicher, Inquisitor-General?«
Sie drückte mir ein bis zum Rand mit Glavya gefülltes Glas so fest
in die Hand, dass der Schnaps überschwappte. »Lassen Sie mich
einfach Ihre verdammte Meinung hören!«
Ich trank. Von seinem Platz auf der Bank an der Tür starrte Aemos
mich nervös an.
»Quixos könnte sehr wohl noch am Leben sein. Er wäre jetzt…
wie alt, Aemos?«
»Dreihundertzweiundvierzig, Herr Inquisitor.«
»Richtig. Tja, das ist kein Alter, oder? Nicht mit Augmetik,
Verjüngungsmedizin … und Zauberei.«
»Verdammt!«, fluchte Neve.
»Er ist eine unglaublich begabte Person, wie seine ganze Laufbahn
dokumentiert. Er steht in dem Ruf, berechtigt oder nicht, zu weit auf
der radikalen Seite zu stehen. Er hat… sich mit dem Warp befasst.
So viel können wir sagen. Nur weil wir in diesen letzten hundert oder
mehr Jahren nichts von ihm gehört haben, heißt das nicht, dass er
nicht mehr aktiv ist.«
»Und seine Aktivitäten?« Neve stieß zwei Mal mit der Spitze ihrer
Krücke auf den gefliesten Boden. »Was? Was tut er? Dämonenwirte
einsetzen? Inquisitoren pervertieren? Geächteten Texten wie Ihrem
Nekroteuch hinterherjagen? Die furchtbare Gräueltat von Thracian
inszenieren?«
»Vielleicht. Warum nicht?«
»Weil ihn das zu einem Ungeheuer machen würde! Zum genauen
Gegenteil von allem, wofür unser Orden steht!«
»Ja, das würde es. Es wäre nicht das erste Mal. Ein mächtiger
Mann, der dem Bösen zu nah kommt, das zu bekämpfen er
geschworen hat, und hineingezogen wird. Inquisitor Ruberu zum
Beispiel.«
»Ja, richtig! Ruberu, ich weiß …«
»Großmeister Derkon?«
»Zugegeben. Ich kann mich erinnern …«
»Kardinal Palfro von Mimiga? Sankt Bonifazius, auch genannt der
Totenkopf der Tausend Tränen?«, meldete sich Aemos zu Wort.
»Um des Imperators willen!«
»Servitor Vandire?«, schlug ich vor.
»Schon gut, schon gut…«
»Horus?«, wagte Aemos zu flüstern.
Danach herrschte längere Zeit Schweigen.
»Der Große Quixos«, murmelte Neve, indem sie sich mir langsam
zuwendete. »Wird er dieser unheiligen Liste hinzugefügt? Werden
wir einen unserer Größten so verdammen müssen?«
»Wenn es sein muss«, erwiderte ich.
»Was machen wir jetzt?«, fragte sie.
»Wir suchen ihn. Wir finden heraus, ob die vergangenen
Jahrhunderte ihn wahrhaftig so verändert haben, dass er zu dem
geworden ist, was wir befürchten. Und wenn sie das haben, der
Imperator möge mir verzeihen, erklären wir ihn zum Ketzer und Ex-
tremis Diabolus und vernichten ihn für seine Verbrechen.«
Neve ließ sich auf ihren Stuhl fallen und starrte in ihr Glas. Es
klopfte an die Tür, und Aemos öffnete. Es war Fischig.
»Herr Inquisitor … Madam …«, begrüßte er uns. »Nun, Fischig?«
»Im Zuge Ihrer heutigen Entdeckungen haben wir den Verkehr
zwischen dem Orbit und der Oberfläche überwacht. Vor zwei
Stunden ist ein Schiff bei Kasr Gesh gelandet. Es hat den
Berechtigungscode des Inquisitor-Generals benutzt, um die Freigabe
für den cadianischen Luftraum zu erhalten.«
Gesh war die Stätte der letzten bekannten Kult-Aktivität.
Ich nahm meinen Mantel. »Mit Ihrer Erlaubnis, Inquisitor-
General?«
Neve erhob sich mit mir. Ihre Miene hatte sich verhärtet. »Mit
Ihrer Erlaubnis, Inquisitor Eisenhorn, würde ich Sie gern begleiten.«
Kasr Gesh war drei Flugstunden von Kasr Derth entfernt. Der
grausame Winter kam von der Hochlandheide herein, und das
Kanonenboot vibrierte sich durch die starken Eisstürme.
Meine Leute waren vollzählig an Bord und machten ihre Waffen
bereit. Dasselbe galt für Inquisitor-General Neve und sechs
cadianische Elite-Sturmtruppen, gleichmütige Soldaten in Winter-
Tarnrüstungen mit mattweißen Lasergewehren, die in der
Mannschaftskabine saßen.
»Gott-Thron, das sind zähe Hunde«, murmelte Nayl mir zu, als ich
an ihm vorbeiging.
»Beeindruckt?«
»Verängstigt trifft es eher. Der normale Cadianer ist mir Soldat
genug. Das hier ist die Elite. Die Elite der Elite. Die Kasrkin.«
»Die was?« Es sah einem erfahrenen Kämpfer gar nicht ähnlich,
so ehrerbietig über andere Kämpfer zu reden.
»Die Kasrkin. Die besten Cadianer, und Sie können sich
vorstellen, was das heißt. Heiliges Terra, die Burschen sind eiskalte
Henker!«
»Woher wissen Sie das?«
»Ach, bitte … sehen Sie sich die Hälse an. Das Mal der
Caducades-Seeadler. Obwohl — sehen Sie sich einfach nur die Hälse
an. Ich habe schon schlankere Baumstämme gesehen!«
»Ein Glück, dass sie auf unserer Seite sind«, sagte ich.
»Das hoffe ich doch sehr«, erwiderte Nayl und ging weiter nach
vorne.
Das Deck ruckelte wieder. Ich ging zurück in die
Mannschaftskabine, hielt mich an den Halteschlaufen an der Decke
fest und hangelte mich so zu Neve.
Sie trug eine cadianische Flechtwerkrüstung und richtete ihre
Winterkapuze. Ich sah, dass sie ihren silbernen Stab gegen einen
Stock mit Antigravunterstützung und einem eingebauten, kompakten,
zylindrischen Granatwerfer eingetauscht hatte.
In meinem Fellmental mit der Trikotrüstung kam ich mir zu
schlicht gekleidet vor.
»Ihre normale Kleidung?«, fragte ich.
»Notwendige Kleidung. Sie sollten mich irgendwann mal bei der
Kultjagd auf den Inseln nach Einbruch der Dunkelheit begleiten.«
»Mein Stab ist … besorgt. Diese Männer sind Kasrkin?«
»Ja.«
»Ihr Ruf eilt ihnen voran.« »So wie Ihrer.«
»Gutes Argument. Trotzdem …«
Neve betrachtete die Reihe der cadianischen Elite. »Hauptmann
Echbar!«, überschrie sie das Dröhnen der Triebwerke und das Tosen
des Fahrtwinds.
»Inquisitor-General!«, sagte der Krieger am Ende.
»Inquisitor Eisenhorn will eine Versicherung, dass Sie die Besten
der Besten sind und auf die Allerwertesten von ihm und seiner
Truppe Acht geben werden.«
Sechs unter Schneevisieren versteckte Gesichter wandten sich mir
zu.
»Wir haben die Biosporen von Ihnen und Ihren Leuten in unsere
Ziel-Auspexe eingegeben, Herr Inquisitor«, eröffnete mir Echbar.
»Wir könnten jetzt nicht mehr auf Sie schießen, selbst wenn wir es
wollten.«
»Sorgen Sie dafür. Meine Leute und ich gehen voran. Die
Situation schreit vielleicht nicht nach Feuerkraft. Wenn doch, lautet
der Kom- oder Psi-Befehl ›Rosendorn‹. Die Kom-Frequenz ist
Gamma-neun-acht. Sind Sie auf einen psionischen Befehl
vorbereitet?«
»Wir sind auf alles vorbereitet«, erklärte mir Echbar.
Das Kanonenboot hörte auf zu beben.
»Wir haben den Sturm hinter uns«, sendete Medea per Kom.
Einen Moment später knisterte es: »Ich sehe Landelichter.
Landung in Kasr Geth in zwo.«

Der Pylon stand drei Kilometer außerhalb der Schanzwerke von


Kasr Geth. Die Nacht war klar und spiegelglatt, der Himmel voller
Sterne. Das Auge des Schreckens pulsierte matt im Zenith des
Himmels. Es kam mir bunter und heller denn je vor.
Irgendwo da oben, wusste ich, waren Abteilungen der Inneren
Garde mit der Jagd auf das verborgene Raumschiff beschäftigt, von
dem die Besucher von Kasr Gesh gekommen waren. Neve hatte
ihnen vor unserem Aufbruch den strikten Befehl erteilt, nichts zu
unternehmen, bevor wir unser Ziel am Boden gefunden hatten.
Wir wollten unsere Besucher nicht vorwarnen. Meine Leute
arbeiteten sich den reifbedeckten Hang des Moordlands entlang. Der
Pylon war schlicht eine schwarze, rechteckige Abwesenheit von
Sternen. Ich hörte ihn klagen.
Ich holte meine Hauptwaffe heraus, ein Boltgewehr, das ich zum
Andenken an meine geschätzte Handwaffe, die ich irgendwo auf
Eechan verloren hatte, Scriptor Brytnoth möge mir verzeihen, grün
gespritzt hatte. Dieses Sturmgewehr war größer und stärker, aber
nicht so elegant und gut konstruiert wie die Boltpistole, an der mir so
viel gelegen war.
An der Hüfte trug ich ein cadianisches Entermesser, einen kurzen,
krummen zweischneidigen Säbel, der mein geliebtes Energieschwert
ersetzt hatte. Der Säbel war nur eine schlichte Waffe aus simplem
Stahl, aber ich hatte von den Hierarchen im Ministorum von Kasr
Derth einige Veränderungen vornehmen lassen.
Dennoch, in Wahrheit fühlte ich mich sehr verwundbar, als ich
den Hang erklomm.
Nayl ging links neben mir, mit einer Autokanone bewaffnet.
Husmaan hielt sich mit seinem Präzisionsgewehr rechts von mir.
Rechts neben ihm ging Inshabel, mit einem Vorrat antiker
Laserpistolen bewaffnet, die Inquisitor Roban gehört hatten. Ganz
links war Fischig mit seinem alten, vertrauten Arbites-Gewehr.
Bequin war direkt neben mir. Sie hielt eine langläufige
Autopistole in der Hand.
Hinter uns lauerten Neve und ihre Kasrkin und warteten auf mein
Signal.
Aemos war bei Medea an Bord des Kanonenboots, das mit
gelöschten Positionslichtern über dem Landeplatz schwebte. Nicht
Neve und ihre Elite, sondern sie waren meine Versicherung.

»Was seht ihr?«, sendete ich über Kom.


»Nichts«, erwiderten Husmaan und Nayl.
»Ich kann das Fundament des Pylonen bis zum Boden einsehen«,
sagte Inshabel. »Ich sehe Lichter.«
»Bestätigt«, kam es knisternd von Fischig, ganz weit links. »Da
unten sind Männer. Ich zähle acht, nein, zehn. Zwölf. Tragbare
Lampen. Sie haben Maschinen.«
»Maschinen?«
»Handgeräte. Auspexe.«
»Sie messen wieder«, flüsterte Neve.
»Davon bin ich überzeugt«, sagte ich. Dann, in Glossia: »Dorn
beäugt Fleisch, furchtbare Bestien voraus. Aegis zu den Waffen,
Feuerprobe. Alle Spitzen verschleiert. Weg Torusklinge, Schema
Ebenholz.«

Mein Sturmgewehr klickte laut, als ich durchlud.


Die berobten Männer, die im Scheinwerferlicht am Fuß des
Pylonen arbeiteten, erstarrten und drehten sich langsam zu mir um.
Ich ging durch das vom Eis steife Farnkraut und hielt das Gewehr
dabei so, dass ich jeden von ihnen damit erschießen konnte.
Bequin war ein paar Schritte hinter mir, die Pistole locker in der
Hand und bereit, sie jeden Moment auf ein Ziel zu richten.
Ich wusste, dass Husmaan, Inshabel, Nayl und Fischig uns
Deckung gaben.
»Wer ist hier der Anführer?«, fragte ich mit einem leichten
Schwenken meiner Waffe.
»Das bin ich«, sagte eine der berobten Gestalten.
»Treten Sie vor und weisen Sie sich aus«, sagte ich.
»Wer verlangt das?«
Ich hob meine Rosette, die ich offen sichtbar in der linken Hand
hielt. »Imperiale Inquisition.« Einige der Berobten ächzten vor
Bestürzung.
Nicht so der Anführer. Er trat vor. Plötzlich roch ich eine kalte,
metallische Ausdünstung, die mir nicht neu war.
Eine Warnung, die zu spät kam.
Der Anführer schlug langsam die Kapuze zurück. Sein eckiger,
grausamer Kopf war haarlos, und ein kaltes blaues Licht schien
durch seine Haut. Zugespitzte, in Stahlspitzen auslaufende Hörner
sprossen aus seiner Stirn. Seine Augen waren weiße Schlitze. Ein
Dämonenwirt!
»Cherubael?«, sagte ich albernerweise, dummerweise.
»Dein schwachsinniger Verbündeter ist nicht hier, Ei-
senhorn«, sagte das Wesen, indem es die Zähne bleckte und
förmlich aufleuchtete. »Ich heiße Prophaniti.«
FÜNFZEHN
Rosendorn. Wofür Cadianer geboren sind. Womit ich am
wenigsten gerechnet hätte.

An dieser Stelle hatte ich zwei Möglichkeiten. Die erste bestand


darin, weiterzureden und immer noch zu reden, wenn der
Dämonenwirt mich tötete und meinen rauchenden Leichnam auf den
Leichenhaufen meiner Kameraden warf. Die zweite war,
»Rosendorn« zu sagen und auf meine Leute und den immer
wachsamen Blick des heiligen Gott-Imperators zu vertrauen. Ich
sagte »Rosendorn«.
Das Ding, Prophaniti, ging auf mich zu. Ich schoss mit meinem
Sturmgewehr darauf und musste voll entsetzter Faszination mit
ansehen, wie es die weißglühenden Boltgeschosse mit ausgestreckten
Händen aus der Luft fing wie langsam geworfene Schlagbälle.
Die Geschosse verdunkelten sich in seinen Händen zu einem
glühenden Rot, und er warf sie beiseite.
Aber seine gesamte Aufmerksamkeit war auf mich gerichtet.
Sein Fehler.
Husmaans erster Schuss aus dem Präzisionslaser traf ihn seitlich in
den Kopf, und riss seinen Schädel herum. Während das Ding
taumelte, zerfetzte Inshabel mit seinen beiden Laserpistolen seine
Gewänder. Dann krachte Fischigs Schrotflinte und schleuderte es in
die Farnkräuter. Fischig verbrachte seine freie Zeit gern damit,
seinen Schrot für die Patronen selbst herzustellen. Jede Kugel war
aus Silber und mit einer heiligen Schutzsigille gestempelt, die ich ihn
vor langer Zeit gelehrt hatte.
Prophaniti krümmte sich vor Schmerzen, als sich die gesegneten
Schrotkugeln in sein Fleisch brannten. Vor Wut rasend, machte der
Dämonenwirt Anstalten, sich zu erheben, aber links von mir ertönte
plötzlich ein knirschendes Surren, als sei gerade eine Kreissäge ange-
laufen.
Nayls rotierende Autokanonenläufe beharkten den Dämonenwirt
und die Erde ringsumher und richteten furchtbaren Schaden an. Die
Kugeln schleuderten ihn hin und her und rissen ihm ein Bein am
Knie und die Finger der linken Hand ab.
Unheimliche Energie, weiß und kalt wie Reif, sprudelte wie Lava
aus den Wunden und verbrannte den Boden.
Die anderen Kultisten bewegten sich jetzt, zogen Waffen und
feuerten wild in die Nacht. Die Mündungsblitze und Laserstrahlen
erleuchteten die Nacht.
Hinter uns wurde das Feuer erwidert, und Laserstrahlen zuckten
erschreckend nah an unseren Ellbogen und Schultern vorbei. Zwei
der Kultisten brachen zusammen, und einer von ihnen riss dabei ein
paar der aufgestellten Scheinwerfer um.
Echbar und seine Kasrkin stürmten an uns vorbei ins Getümmel.
Tatsächlich kann ich jetzt sagen, dass sie irgendwie noch
beängstigender waren als der Dämonenwirt. Denn Prophaniti war ein
übernatürliches Wesen, und man erwartete von ihm, beängstigend zu
sein.
Die Kasrkin waren nur Menschen. Das machte ihre Taten
erstaunlicher. Sechs weiße Schemen fielen über die Kultisten her,
und ihre Lasergewehre zischten aus nächster Nähe. Sie vergeudeten
keine Schüsse. Jeder Schuss tötete einen Gegner. Ein Kultist floh an
mir vorbei, und ein Kasrkin fuhr herum, um ihn zu erlegen. Seine
Waffe feuerte nicht, als ihr Ziel-Auspex meine Biosporen im
Zielbereich registrierte. Einen Moment später blockierte ich den
Schuss nicht mehr, und die Waffe spie ihren Strahl aus.
Der Kultist stürzte kopfüber ins Farnkraut.
Von der anderen Seite des Pylonen waren weitere Kultisten
aufgetaucht, und aus dieser Richtung drangen die Geräusche rascher
Schusswechsel. Nayls Autokanone erzeugte ihr unverkennbares
Surren zwischen den Feuerstößen. Das knackende Zischen von
Inshabels beiden Laserpistolen überlagerte einander.
»Fischig!«, rief ich. »Sieh dir die Rückseite des Pylonen an.
Vielleicht findest du was. Vielleicht kannst du einen Gefangenen
machen, bevor die Kasrkin alle getötet haben!«
Ich wandte mich wieder dem ramponierten Dämonenwirt zu. Wir
hatten ihm massiv zugesetzt, aber ich gab mich keinen Illusionen
über seine Widerstandsfähigkeit hin.
Oder vielmehr … hatte ich das geglaubt.
Prophaniti war bereits verschwunden. Wo er gelegen hatte, rauchte
immer noch der Boden und verfestigte sich langsam wieder.
»Verdammt! Verdammt!«
Neve humpelte den Hang zu mir herunter. »Eisenhorn?«
»Der Dämonenwirt! Haben Sie ihn gesehen?« Sie schüttelte den
Kopf. Der Donner einer Explosion rollte von der anderen Seite des
Pylonen heran. »Sie haben ihn doch getötet, oder nicht?« »Nicht
einmal annähernd«, erwiderte ich. »Gregor!«, schrie Bequin.
Prophaniti hing hinter mir in der Luft und glühte förmlich vor
Energie. Der Dämonenwirt war nackt und trug die furchtbaren
Wunden, die wir ihm zugefügt hatten, wie Orden. Aus dem am Knie
abgetrennten rechten Bein tropfte leuchtend weißer Seim.
Eintrittswunden und Verbrennungen blubberten und rauchten in
seiner Brust. Der Kopf hing schlaff auf einem Hals, den Husmaans
Hochenergie-Laserschuss gebrochen hatte. Er breitete die Arme aus,
und eine Hand, die nur noch aus einem Daumen und einer
verstümmelten Innenseite bestand, versprühte Blitze in das
mitternächtliche Gras.
»Netter … Versuch …«, gurgelte der schlaffe Kopf.
Ohne die Gewänder sah ich jetzt, dass sein Körper mit Ketten,
Vorhängeschlössern und Schnüren behangen war. Nähnadeln und
andere eiserne Ahlen waren in seine durchscheinende Haut gebohrt.
Diverse Amulette hingen an den Ketten und an dem um seinen Hals
gewickelten Stacheldraht.
»Lauft!«, sagte ich zu Neve und Bequin. »Lauft!«
Neve hob ihren Stock und feuerte den Werfer ab.
Die Granate traf Prophaniti in den Unterleib und sprengte ihn in
einem Blitz aus Fyzelen ein Stück nach hinten.
Er schwebte wieder zu uns zurück, ächzend und in einer warp-
verfluchten Sprache schnatternd.
Bequin packte mich und Neve. Ihre Unberührbarkeit war jetzt
unsere einzige Verteidigung, und sie wusste es.
Prophaniti hielt einen Meter von uns entfernt in der Luft inne. Er
leuchtete wie eine Sonne. Ich konnte den widerlichen Gestank
ewigen Mordens an ihm wahrnehmen.
Sein gebrochener Hals knackte wie brechende Zweige, als er sich
langsam und hin und her schaukelnd drehte, um uns anzusehen. Das
Licht toter Sonnen quoll aus Mund und Augen.
Bequins Finger bohrten sich in meinen Arm. Wir drei schauten zu
ihm hoch, während unsere Haare von den Warpwinden zerzaust
wurden, die er erzeugte.
»Beharrlich«, sagte er. »Kein Wunder, dass Cherubael dich mag.
Er sagte, du hättest Unberührbare in deinen Diensten. Eine kluge
Maßnahme. Ihr könnt mir mit euren Waffen nichts anhaben, aber
solange sie bei dir ist, kann ich dich mit meinem Geist nicht
erreichen.
Zum Glück brauche ich das auch nicht«, fügte er hinzu.
Plötzlich schlug er mit seiner verstümmelten Hand zu. Neve schrie
auf, als sie davongeschleudert wurde. An Prophanitis Daumenkralle
klebte Blut.
Alizebeths psychische Leere wehrte seine psionische Wut ab.
Nicht aber seine physischen Angriffe.
Er schlug wieder zu, und ich sprang zurück und zog Bequin mit
mir.
Prophaniti gackerte.
»Alizebeth!«, brüllte ich und nahm sie bei der Hand. »Bleib bei
mir!«
Ich zog den Säbel. Die kurze krumme Klinge leuchtete in
Prophanitis Schein. Die vom Ministorum in die Klinge geritzten
Runen glitzerten.
Ich schlug zu, hart, ohne Finesse und hektisch, und die Klinge des
Jagdsäbels schnitt in seine Rippen. Er heulte und flog zurück, und
aus dem Schnitt quoll Rauch.
Ich umkreiste ihn, den Säbel in der rechten Hand, Bequin an der
linken.
»Du hast deine Hausaufgaben gemacht. Pentagramm-Runen auf
der Klinge. Ein netter Zug. Sie tun weh!«
Er sprang nach mir.
»Aber nicht so weh, wie ich dir tun werde!«
Alizebeth schrie. Sie fiel, und ich mühte mich, ihre Hand
festzuhalten. Wenn unsere Verbindung brach, würde ich die ganze
Kraft des Dämonenwirts zu spüren bekommen.
Ich parierte mit meiner krummen Klinge und zerfetzte die linke
Seite seiner Brust, so dass die Rippen entblößt wurden.
Seine Krallen bohrten sich in meine linke Schulter, fuhren meine
Flanke entlang und rissen meine Rüstung in Fetzen.
Blut quoll von innen in meine Kleider.
Ich versuchte einen uin ulsar und schlug noch einmal zu. Er hielt
die Klinge mit seiner guten Hand fest. Rauch stieg von der
zusammengekrampften Faust um meine Klinge auf.
Er biss vor Schmerzen auf die Zähne. »Die Schutzrunen … tun
weh … aber sie sind nicht… stärker … als die Waffe … Du musst
lernen … deine Waffen … nächstes Mal stärker … zu machen …
Nicht, dass es ein … nächstes Mal geben wird …«, fügte er hinzu.
Der Säbel war so heiß geworden, dass ich ihn mit einem Aufschrei
losließ. Prophaniti warf den verbogenen, geschmolzenen Stahl
beiseite. Er hatte seine Hand furchtbar verbrannt, doch er schien es
nicht zur Kenntnis zu nehmen.
»Jetzt kommt der Tod«, sagte er und griff nach mir.

Die nächsten Sekunden haben sich in mein Gedächtnis


eingebrannt. Solches Heldentum werde ich nie wieder sehen, davon
bin ich überzeugt. Hauptmann Echbar und zwei seiner Kasrkin
griffen Prophaniti von hinten an. Ihre Lasergewehre schossen nicht,
weil Bequin und ich in ihrem Schussfeld waren.
Echbar warf sich auf den Dämonenwirt und riss ihn von uns weg.
Prophaniti schleuderte ihn beiseite und äscherte dann den zweiten
Kasrkin mitten im Sprung mit Energiestrahlen aus den Augen ein.
Der dritte rammte Prophaniti sein cadianisches Bajonett bis zum Heft
in das Brustbein. Feuer explodierte aus der Wunde den Arm des
Soldaten entlang und hüllte ihn ein.
Er fiel schreiend auf den Rücken, während Echbar trotz eines
ausgefransten Loches in Wange und Hals wieder auf den
Dämonenwirt losging. Sein Messer, beidhändig gehalten, spaltete
Prophaniti den Rücken. Die ausströmenden Warpenergien sprengten
Echbar auseinander.
Schreiend wand sich Prophaniti in der Luft davon.
Ich wusste, der Dämonenwirt war nicht tot. Ich wusste, dass er
eigentlich nicht sterben konnte.
Aber die cadianischen Elitesoldaten hatten mir durch die Opferung
ihres Lebens Zeit verschafft. Sie waren in Diensten des Gott-
Imperators gefallen, wozu jeder Cadianer geboren ist.
»Aegis! Scharlachinferno. Dorn wiederbelebt!«
Ich schrie die Worte in mein Kom, während ich Bequins Hand
eisern festhielt.
Prophaniti flog wieder auf uns zu.
Lichter flammten auf, als das Kanonenboot heranrauschte. Der
Abwind presste die eisigen Farne flach auf den Boden und warf uns
um. Medea flog tief, so tief…
Die Geschütz-Servitoren richteten Tragflächen- und Buggeschütze
auf den anstürmenden Dämonenwirt.
Als sie das Feuer eröffneten, war ihre Feuerkraft so monumental,
dass sie ihn verdampften.
Die Lichter erloschen.
Ich zog Bequin an mich, als der Nieselregen verflüssigter
Wirtsgestalt aus der kalten Nacht auf uns niederregnete.
Ich hörte Fischig meinen Namen rufen.
»Hilf ihr«, sagte ich, während ich aufstand, und er hob Bequin auf.
Ich sah mich um. Überall lagen Tote, die meisten davon Kultisten.
Inshabel war bei Neve, die eine Schnittwunde davongetragen hatte,
aber am Leben war und zwanzig Meter weiter den Hang empor lag.
Er rief nach Sanitätern.
Die Heckdüsen des Kanonenboots leuchteten glühendweiß am
Nachthimmel, als Medea das Boot wendete.
Nayl, der eine Fleischwunde im Arm abbekommen hatte, lehnte
sich an den Pylon und schaltete seine surrende Autokanone aus.
»Wir … wir müssen uns neu formieren«, sagte ich.
»Einverstanden«, sagte Fischig.
»Ihr habt keine Ahnung, womit ihr es zu tun habt, oder?«, fragte
Husmaan.
Wir drehten uns alle um. Der alte Felljäger von Windhover kam
über den Hang auf uns zu, das Lasergewehr in der Armbeuge.
Mittlerweile ging ein heftiger Graupelschauer aus dem sich
zuziehenden Himmel auf uns nieder.
»Oder?«, zischte er. Ich spürte, wie Bequin erstarrte. Es war nicht
Husmaan.
Husmaan sah mich an. Weißes Licht glühte in seinen Augen.
Seine Stimme war die von Prophaniti.
»Nicht die leiseste Ahnung«, sagte er. »Ihr könnt meinen Wirt
zerstören, aber ihr könnt die Verbindung zum Meister nicht
brechen.«
»Husmaan!«, rief Inshabel.
»Ist nicht mehr da. Er war der offenste Geist, also habe ich ihn
übernommen. Er wird eine Weile dienen.«
Ich trat einen Schritt vor. Husmann hob eine Hand. »Spar dir die
Mühe, Eisenhorn«, sagte Prophaniti. Ich könnte euch alle hier und
jetzt töten … aber was gleich passiert, ist viel interessanter.«
Husmaan breitete die Arme aus, legte den Kopf in den Nacken und
erhob sich plötzlich in die Luft, wobei er sein geschätztes
Präzisionsgewehr fallen ließ. Er schwebte stetig höher in den
Himmel, bis er über den Mooren im Gegenleuchten des
Morgengrauens verschwunden war.
»Was hat er gemeint?«, fragte Bequin.
»Ich weiß es nicht…«
Scheinwerfer tauchten auf der Anhöhe auf, und plötzlich hörten
wir das Klirren gepanzerter Ketten.
Zwanzig cadianische gepanzerte Truppentransporter tauchten auf
dem Kamm der Anhöhe auf und tauchten uns in das Licht ihrer
Scheinwerfer. Cadianische Stoßtruppen eilten den Hang hinunter und
richteten ihre Gewehre auf uns.
»Was soll das denn?«, rief Nayl.
Ich war wie benommen. Damit hatte ich am wenigsten gerechnet.
»Inquisitor Eisenhorn«, dröhnte eine verstärkte Stimme aus dem
führenden Transporter. »Für Verbrechen am Imperium, für die
Gräueltat auf Thracian und für den Umgang mit Dämonenwirten
werden Sie hiermit festgenommen und zum Tode verurteilt.«
Ich erkannte die Stimme.
Sie gehörte Osma.
SECHZEHN
Der Hexenhammer. Drei Monate in der Carnificina. Flucht
von Cadia.

Von sechs berobten Interrogatoren flankiert und laut aus den


Büchern der Pein und den Kapiteln der Bestrafung vorlesend, kam
Inquisitor Leonid Osma den Hang hinunter auf mich zu. Rosa
Dämmerlicht fiel längs in die trostlose Heide, und Ginster und Farne
regten sich in der Morgenbrise. In der Ferne trällerten Moorhühner
und Ptarcern und begrüßten die Wintersonne.
Osma war ein gut gebauter breitschultriger Mann in der Mitte
seines zweiten Lebensjahrhunderts. Er trug eine Servorüstung aus
Messing, die in der rötlichen Morgendämmerung beinahe orange
leuchtete. Verzierte Malleus-Wappen zierten die Achsel- und
Knieschützer, und um den Kragen waren sechs Reinheitssiegel
geflochten wie ein Blumenkranz. Ein langer Umhang aus weißem
Fell wehte hinter ihm her und berührte die Spitzen von Heidekraut
und Ginster.
Sein Gesicht war plump und kampfeslustig. Seine Augen waren
glitzernde Punkte unter aufgequollenen Lidern und schweren grauen
Brauen. Sein rundgeschnittenes Haar hatte die Farbe von
Schwertmetall. Vor einigen Jahren hatte er in einem Kampf gegen
einen Berserker Khornes den Unterkiefer verloren. Der augmetische
Ersatz war ein vorspringendes Kinn aus Chrom, das über
Mikroservos und Führungsrohre mit dem Schädel verbunden war.
Das Emblem der Inquisition überragte auf einer Standarte seinen
Kopf, die zwischen den Schulterblättern befestigt war. In einer Hand
hielt er einen Energiehammer, das Markenzeichen seines Ordo.
In der anderen war eine versiegelte Röhre für Schriftrollen aus
Ebenholz. Ich erkannte sie sofort. Eine Carta Extremis.
»Das ist Wahnsinn!«, fauchte Fischig. Die Cadianer rings um uns
versteiften sich und legten die Waffen an.
»Genug!«, warnte ich Fischig. Ich wandte mich an meine
Gefährten. Sie sahen so verloren aus, so jämmerlich, so bestürzt.
»Wir kämpfen nicht gegen unsere eigenen Leute«, sagte ich zu
ihnen. »Gebt die Waffen ab. Ich werde diesen lächerlichen Fehler
schnell korrigieren.«
Bequin und Inshabel reichten den Cadianern ihre Waffen. Fischig
ließ widerwillig zu, dass die Sturmtruppen ihn von seiner
Schrotflinte trennten. Nayl löste den Munitionsgurt aus der
Zuführung, nahm die Magazin-Kassette aus der Waffe und gab sie
den wartenden Soldaten. Die entladene schwere Waffe blieb
weiterhin in ihrem Geschirr, das um seine Brust geschnallt war.
Ich nickte zufrieden. »Dorn grüßt Aegis, am kühlen Wasser,
weich«, flüsterte ich in mein Kom und wandte mich dann Osma zu.
Er hob seinen Energiehammer in einer knappen Geste, und die
murmelnden Interrogatoren verstummten und schlossen ihre Bücher.
»Gregor Eisenhorn«, sagte er in präzis formuliertem formellen
Hochgotisch. »In treuer Gefolgschaft zum Gott-Imperator, unseres
unsterblichen Herrn, und durch die Gnade des Goldenen Throns, im
Namen des Ordo Malleus und der Inquisition nenne ich Euch
Diabolus, und als Zeugnis Eurer Verbrechen überreiche ich diese
Carta. Möge die Imperiale Gerechtigkeit obsiegen. Der Imperator
beschützt.«
Ich nahm meine Boltpistole aus dem Halfter, warf das Magazin
aus und reichte sie ihm mit dem Kolben voran. »Ich habe Eure
Anklage und Eure Worte vernommen und verstanden und unterwerfe
mich«, antwortete ich in der alten Form. »Möge die Imperiale
Gerechtigkeit obsiegen. Der Imperator beschützt.«
»Nehmt Ihr diese Carta aus meiner Hand entgegen?«
»Ich nehme sie entgegen, auf dass ich sie als dreifach falsch
entlarven möge.«
»Erklärt Ihr Euch hier und jetzt für unschuldig?«
»Ich erkläre es laut und wahrheitsgemäß. Möge es
niedergeschrieben werden.«
Kom-Drohnen, die in Schulterhöhe der Interrogatoren schwebten,
hatten all dies aufgezeichnet, aber der jüngste Interrogator übertrug
alles mit einer Holofeder auf eine vor ihm auf einer Antigravplatte
schwebende Verfügungstafel. Ich nahm diese Einzelheit mit einiger
Befriedigung zur Kenntnis.
So lächerlich die Anschuldigungen auch waren, Osma brachte sie
mit vollendeter und präziser Förmlichkeit vor.
»Ich verlange von Euch Euer Amtsabzeichen«, sagte Osma.
»Ich lehne Euer Ansinnen ab. Dem Kodex der Vorverurteilung
entsprechend, nehme ich hiermit mein Recht wahr, meinen Rang zu
behalten, bis es zu einem angemessenen Verfahren kommt.«
Osma nickte und wechselte von Hochgotisch auf Niedergotisch.
»Nichts anderes habe ich erwartet. Danke, dass Sie
Unannehmlichkeiten vermieden haben.«
»Ich glaube nicht, dass ich Unannehmlichkeiten vermieden habe,
Osma. Was ich vielmehr vermieden habe, ist Blutvergießen. Das hier
ist lächerlich.«
»Das sagen sie alle«, murmelte er abfällig und wandte sich ab.
»Nein«, sagte ich gemessen, was ihn innehalten ließ. »Die
Schuldigen und Vergifteten kämpfen. Sie trotzen.
Sie wehren sich. In meinem Leben hatte ich bisher mit neun
Personen zu tun, die als Diabolus gebrandmarkt wurden. Keine hat
sich still gefügt. Vermerken Sie das in Ihren Aufzeichnungen«, sagte
ich zu dem schreibenden Interrogator. »Wenn ich schuldig wäre,
würde ich mich nicht so höflich in den Vorgang fügen.«
»Vermerken Sie es!«, sagte Osma zu seinem zögernden Schreiber.
Er wandte sich wieder an mich. »Lesen Sie die Carta, Eisenhorn. Sie
sind schuldig wie die Sünde. Diese Schau des Verständnisses und der
Zusammenarbeit ist genau das, was ich von jemandem erwartet habe,
der so gerissen und clever ist wie Sie.«
»Ein Kompliment, Osma?«
Er spie in die Farne. »Sie waren einer der Besten, Eisenhorn. Lord
Rorken hat sich tatsächlich für Sie verwendet. Ich erkenne Ihre
vergangenen Triumphe an. Aber Sie wurden umgekrempelt. Sie sind
Malleus. Sie sind eine Scheußlichkeit. Und Sie werden büßen.«
»Das ist doch Wahnsinn …«, murmelte Neve, die zu uns
humpelte.
»Und geht Sie nichts an, Inquisitor-General«, erwiderte Osma.
Neve baute sich vor ihm auf, die zerrissene Rüstung nass von
ihrem eigenen Blut. »Das hier ist meine Provinz, Inquisitor.
Eisenhorn hat sich mir gegenüber bewährt. Diese Scharade stört
wichtige Inquisitions-Angelegenheiten.«
»Lesen Sie die Carta, Inquisitor-General«, sagte Osma zu ihr.
»Und halten Sie den Mund. Eisenhorn ist schlau und überzeugend.
Er hat Sie getäuscht, Madam. Seien Sie dankbar, dass Sie nicht
hineingezogen werden.«

Meine Gefährten wurden in Kasr Derth mit Anerkenntnis Neves


zur Anklage vernommen. Kein solcher Luxus für mich. Ich flog an
Bord eines Leichters des cadianischen Militärs im Morgengrauen
nach Süden zur am weitesten entfernten Insel der Caducades-Gruppe
zum berüchtigten Zuchthaus von Cadia, der Carnificina.
Sie hatten mir Hände und Füße gefesselt. Ich saß auf einer Bank,
die aus der Wand im gepanzerten Laderaum des Leichters
heruntergeklappt worden war, umringt von cadianischen Wächtern,
und las im durch die Fensterschlitze einfallenden unsteten Licht die
Carta.
Ich konnte kaum glauben, was ich las.
»Und?«, grunzte Fischig von seinem Platz in der Ecke. Man hatte
mir einen Sprecher gestattet, und wegen seiner Arbites-
Vergangenheit und seiner Kenntnis in Rechtsdingen hatte ich Fischig
gewählt.
»Lies es«, sagte ich zu ihm und reichte ihm die Carta.
Einer der gleichmütigen Cadianer nahm sie mir ab und reichte sie
dem finster dreinschauenden Hubriser.
Nachdem er sich ein paar Augenblicke in die Schrift vertieft hatte,
murmelte Fischig einen ungläubigen Fluch.
»Das dachte ich mir«, sagte ich.

Die Carnificina ragte aus dem wogenden Meer wie der Mahlzahn
eines gewaltigen Pflanzenfressers, an dem das Zahnfleisch
weggefressen worden war.
Sie war weniger gebaut, sondern vielmehr in die hoch aufragende
Klippe gehauen worden. Auf der ganzen Gefängnisinsel gab es keine
Mauer, die dünner als fünf Meter war.
Heftige Brecher klatschten in weißer Gischt gegen ihr Granit-
Fundament, und der westliche Teil der Insel war weit offen für den
schlimmsten pelagischen Missbrauch durch die Meere dahinter.
Eisberge, von den Gletschern im Cadu-Sund und dem entfernten
Isthmus von Caducades abgespalten, barsten im offenen Meer
zwischen der Gefängnisinsel und den kahlen Atollen ihr gegenüber.
Seetang und zählebige Axelbäume zierten die unteren Hänge.
Der Leichter flog über den östlichen Festungswall und landete auf
einem aus dem Fels gehauenen Platz. Unter strenger Bewachung
wurde ich ins kalte Sonnenlicht geführt und dann in die feuchtkalten
Gänge im Fels. Die gekälkten Mauern schwitzten und stanken nach
Meerwasser. Verrostete Ketten verliefen von der Decke zu den
Luken vergessener Kerker.
Ich konnte das Gebrüll und Geschrei von Häftlingen hören. Hier
lebten die Verrückten und Infizierten von Cadia, hauptsächlich Ex-
Soldaten, die in den Kriegen des Auges wahnsinnig geworden waren.
Die cadianischen Soldaten übergaben mich einem Trupp rot
uniformierter Gefängniswächter, die nach ungewaschener Haut
stanken und Schmerzflegel und Lederpeitschen trugen.
Sie öffneten eine fünfzig Zentimeter dicke, mit Nägeln
beschlagene Luke und stießen mich in eine Zelle.
Sie maß vier mal vier Schritte, war in den Stein gehauen und hatte
keine Fenster. Sie stank nach Pisse. Der letzte Insasse war hier
gestorben … und nicht entfernt worden.
Ich schob seine trockenen Knochen beiseite und setzte mich auf
die Holzpritsche. Ich wusste nichts. Ich hatte keine Ahnung, ob die
Innere Garde das unbekannte Raumschiff erwischt oder ob es jemand
geschafft hatte, das Ding zu verfolgen, das früher der arme Husmaan
gewesen war.
Die Spur zu Quixos, die Spur, die wir schließlich mit so viel Glück
aufgenommen hatten, verblasste mit jedem verstreichenden
Augenblick, in dem wir diese Spiele veranstalteten. Und ich konnte
nichts dagegen tun.

»Wann haben Sie sich entschlossen, mit Dämonen zu verkehren?«,


fragte Interrogator Riggre.
»Ich habe nichts dergleichen getan oder entschieden.«
»Aber der Dämonenwirt Cherubael kennt Sie namentlich«, sagte
Interrogator Palfir. »Ist das eine Frage?« »Es …«, stammelte Palfir.
»Welcher Art ist Ihre Beziehung zum Dämonenwirt Cherubael?«,
warf Interrogator Moyag streng ein.
»Ich habe keine Beziehung zu irgendeinem Dämonenwirt«,
erwiderte ich.
Ich war an einen hölzernen Stuhl im großen Saal der Carnificina
gekettet, und durch die hohen Fenster fiel winterliches Licht ein.
Osmas drei Interrogatoren umschlichen mich wie drei eingesperrte
Raubtiere mit in der Zugluft wehenden Gewändern.
»Er kennt Ihren Namen«, sagte Moyag gereizt.
»Ich kenne Ihren auch, Moyag. Gibt mir das Macht über Sie?«
»Wie haben Sie auf Thracian die Gräueltat in der Makropole
Primaris inszeniert?«, fragte Palfir.
»Das habe ich nicht. Nächste Frage.«
»Wissen Sie, wer es getan hat?«, fragte Riggre.
»Nicht genau. Aber ich glaube, dass es das Wesen war, von dem
Sie gesprochen haben. Cherubael.«
»Er war schon früher in Ihrem Leben.«
»Ich habe ein Mal seine Pläne durchkreuzt. Vor hundert Jahren,
auf 56-Izar. Sie müssen die Akten haben.«
Riggre sah seine Kollegen an, bevor er antwortete. »Die haben
wir. Aber seitdem suchen Sie ihn.«
»Ja. Das ist meine Pflicht. Cherubael ist eine abstoßende
Abscheulichkeit. Wundern Sie sich da, dass ich ihn suchen lasse?«
»Nicht alle Ihre Kontakte mit ihm wurden aktenkundig gemacht.«
»Was?«
»Wir wissen, dass einige Kontakte geheim blieben«, formulierte
Moyag neu. »Woher?«
»Durch die beeidete Aussage von Alain von Baigg. Er hat zu
Protokoll gegeben, dass Sie einen Agenten mit dem Codenamen
Hund ausgesendet haben, um Kontakt mit Cherubael herzustellen,
und zwar vor einem Jahr, und dass Sie Ihrem Ordensmeister nichts
davon erzählt haben.«
»Ich wollte Lord Rorken mit dieser Angelegenheit nicht
behelligen.«
»Also streiten Sie es nicht ab?«
»Was streite ich nicht ab? Dass ich das Chaos jage? Nein.«
»Im Geheimen?«
»Welcher Inquisitor arbeitet nicht im Geheimen?« »Wer ist
Hund?«, fragte Palfir.
An dieser Stelle hatte ich nicht den Wunsch, Fischig das Leben
schwerer zu machen. Ich sagte. »Ich kenne seinen wirklichen Namen
nicht. Er arbeitet im Verborgenen.«
Ich dachte, sie würden nachsetzen, aber stattdessen sagte Moyag:
»Warum haben Sie das Grauen auf Thracian überlebt?«
»Ich hatte Glück.«
Palfir schritt einen Kreis um mich, und seine polierten Stiefel
quietschten auf dem abgenutzten Boden. »Lassen Sie mich etwas
klarstellen. Wir fangen gerade erst an. Mit Rücksicht auf Ihren Rang
und Ihre Laufbahn führen wir ein Verhör des Ersten Grades aus. Der
Erste Grad …«
Ich fiel ihm ins Wort. »Ich bin seit vielen Jahren Inquisitor, Palfir.
Ich weiß, was der Erste Grad ist. Verbale Befragung ohne Zwang.«
»Dann kennen Sie auch den Dritten und Fünften Grad?«, fragte
Riggre höhnisch.
»Leichte körperliche Folter und psionische Befragung. Und im
Übrigen haben Sie gerade den Zweiten Grad angewendet — verbale
Drohungen mit und/oder Beschreibung von Graden, die folgen
könnten.«
»Sind Sie jemals gefoltert worden, Eisenhorn?«, fragte Moyag.
»Ja, von weniger zimperlichen Männern als Ihnen. Und ich habe
selbst auch verhört. Methoden des Zweiten Grades funktionieren bei
mir nicht.«
»Inquisitor Osma hat uns befugt, alle Methoden bis zum und
einschließlich des Neunten Grades anzuwenden«, fauchte Palfir.
»Wieder eine Drohung. Zweiter Grad. Der funktioniert bei mir
nicht. Das sagte ich bereits. Ich versuche, kooperativ zu sein.«
»Wer ist Hund?«, fragte Riggre. Aha, da war sie, die Folgefrage,
die es darauf anlegte, einen auf dem falschen Fuß zu erwischen, weil
sie außer der Reihe kam. Einen Moment zollte ich ihren
Verhörmethoden stillen Respekt.
»Ich kenne seinen wirklichen Namen nicht. Er arbeitet im
Verborgenen.«
»Ist Hund nicht Godwyn Fischig? Der Mann, den Sie als Ihren
Vertreter bestellt haben? Der Mann, der draußen vor diesem Raum
sitzt?«
Es gibt Zeiten, wenn die Verletzungen, die Gorgone Locke
meinem Gesicht auf Gudrun zugefügt hat, ihr Gutes haben. Mein
Gesicht konnte die Reaktion ganz einfach nicht zeigen, die sie zu
sehen hofften. Aber innerlich fuhr ich zusammen. Ihr
Nachrichtendienst war gut, gut genug, um Glossia geknackt zu
haben, und sei es auch nur teilweise. Ich war sicher, die Quelle zu
kennen. Sie hatten das Wiesel von Baigg bereits erwähnt. Schon vor
Monaten, auf Thracian, direkt vor der Gräueltat, hatte ich von Baigg
bereits verdächtigt. Damals hatte ich lediglich angenommen, er sei
Lord Rorkens Mann, um mich zu bespitzeln. Jetzt wurde mir klar,
dass er keine Probleme hatte, mit jedem zu reden. Ich hatte von
Baiggs Schwäche erkannt und seine Laufbahn zum Stillstand
gebracht. Ganz offensichtlich hatte er beschlossen, sich von anderen
Inquisitoren fördern zu lassen, indem er mich verkaufte.
»Wenn Sie mir sagen, dass Fischig der Agent ist, den ich als Hund
kenne, bin ich wahrhaftig überrascht«, erwiderte ich gemessen,
indem ich meine Worte mit extremer Sorgfalt wählte.
»Wir werden später mit ihm reden«, sagte Palfir.
»Nicht, solange er mein gewählter Sprecher ist. Das wäre ein
Verstoß gegen den Codex der Vorverurteilung. Wenn Sie ihn
befragen wollen, muss mir ein neuer Sprecher genehmigt werden.
Ein Sprecher meiner Wahl.«
»Dazu kommen wir noch«, sagte Riggre.
»Warum haben Sie das Grauen von Thracian überlebt?«, fragte
Moyag.
»Ich hatte Glück.«
»Erklären Sie Ihr Glück näher.«
»Ich war stehen geblieben, um das Grabmal des Admirals zu
ehren. Das Spatiantor hat mich vor den Luftangriffen geschützt.«
Nach den Lügen, die Cherubael mir auf Eechan erzählt hatte,
fürchtete ich, dass diese Frage später bei psionischer Befragung noch
einmal gestellt würde. Die Lügen, oder wenigstens meine Versuche,
sie abzuschirmen, würden nicht unbemerkt bleiben.
»Die Gräueltat an sich war einfach nur ein Deckmantel, der Ihnen
gestattete, den Ketzer und Psioniker Esarhaddon zu befreien und von
Thracian wegzubringen.«
»Normalerweise würde ich dieser Idee mit Spott begegnen. Wenn
das ganze Ereignis nur inszeniert worden wäre, um den Psioniker
›auszuwechseln‹, wäre es eine unmenschliche Verschwendung
gewesen. Aber ich glaube, dass Sie in einiger Hinsicht recht haben.
Das sollte mit der Gräueltat erreicht werden. Aber nicht von mir.«
Moyag leckte sich eifrig die gelblichen Zähne. »Sie behaupten
weiterhin, dass es tatsächlich Interrogator Lyko war, der das Ereignis
herbeigeführt hat?«
»In Zusammenarbeit mit dem Dämonenwirt.«
»Aber Lyko kann sich gegen diese Vorwürfe nicht mehr wehren,
oder? Weil Sie ihn auf Eechan getötet haben.«
»Ich habe Lyko auf Eechan als Verräter am Imperium
hingerichtet.«
»Ich unterstelle Ihnen, dass Sie ihn getötet haben, weil er Ihnen
auf der Spur war. Sie haben ihn getötet, um ihn zum Schweigen zu
bringen.«
»Muss ich wirklich hier sein? Sie sind sehr gut darin, die
Antworten selbst zu erfinden.«
»Wo ist Esarhaddon?«
»Wo Cherubael ihn hingebracht hat.«
»Und wo ist das?«, fragte Palfir.
Ich zuckte die Achseln. »Zu seinem Meister. Quixos.«
Alle drei lachten. »Quixos ist tot. Vor langer Zeit gestorben!«,
gluckste Moyag.
»Warum haben der Inquisitor-General und ich dann
herausgefunden, dass er ihre Codes manipuliert hat, um sich Zugang
zum cadianischen Luftraum zu verschaffen?«
»Weil Sie es so aussehen ließen. Sie sagen, Quixos hat seine
Macht benutzt, um ihren Berechtigungscode zu stehlen. Wenn das
stimmt, ist das ein Verbrechen, das jeder abweichlerische berühmte
Inquisitor hätte begehen können. Sie hätten es begehen können. Und
den Code eines Toten zu benutzen, heißt, dass niemand Einwände
erheben wird.«
»Quixos ist nicht tot.« Ich räusperte mich. »Quixos ist ein Ketzer
und Extremis Diabolus. Er hat Inquisitoren wie Lyko und Molitor
pervertiert und in seine Dienste genommen. Er benutzt
Dämonenwirte. Er verursacht Katastrophen als Deckmantel für den
Diebstahl von Alpha-plus-Psionikern.«
Die drei Interrogatoren verstummten einen Moment.
»Wir verschwenden hier Zeit«, sagte ich. »Ich bin nicht der Mann,
den Sie eigentlich suchen.«
Aber die Zeitverschwendung ging weiter. Eine Woche verstrich,
dann noch eine. Jeden Tag wurde ich in den großen Saal geführt und
einer zwei bis sechs Stunden langen Befragung des ersten Grades
unterzogen. Die Fragen wurden so oft wiederholt, dass es mir zum
Hals heraushing, sie zu hören. Keiner der Interrogatoren schien
wirklich auf meine Antworten zu hören. Soweit ich wusste, wurde
kein einziger Bestandteil meiner Geschichte überprüft.
Sie waren eindeutig sehr vorsichtig, was die Eskalation zu
körperlichen oder psionischen Mitteln der Befragung anging. Weil
ich Psioniker war, konnte ich ihnen die Dinge zumindest so
erschweren, dass sie nie wissen würden, wie viel von dem, was sie
aus mir herausbekamen, tatsächlich der Wahrheit entsprach. Osma
hatte augenscheinlich beschlossen, mich mit endlosen Wieder-
holungen verbaler Kreuzverhöre mürbe zu machen.
Jeden Abend, wenn das Licht verblasste, gestattete man mir eine
Viertelstunde der Unterhaltung mit Fischig. Diese Gespräche waren
witzlos. Die Zellenbereiche waren zweifellos mit Kom-Dieben und
Lauschvorrichtungen gespickt, und soweit wir wussten, war Glossia
kompromittiert.
Fischig konnte mir wenig sagen, obwohl ich erfuhr, dass sich
Medea, Aemos und das Kanonenboot ebenso wenig in Osmas
Händen befanden wie die Essene.
Prophaniti-Husmaan war nicht mehr gesehen worden, und Fischig
war sicher, dass das mysteriöse Raumschiff, das Prophaniti auf Cadia
abgesetzt hatte, in jener verhängnisvollen Nacht nicht abgefangen
worden war.
Über Fischig sandte ich Eingaben zu Osma, Rorken und Neve, in
denen ich gegen meine Verhaftung protestierte und sie drängte,
etwas gegen Quixos zu unternehmen. Ich erhielt auf keine eine
Antwort.
Kerzennacht war lange vorbei. Drei weitere Wochen verstrichen.
Mir wurde klar, dass ein neues Jahr angebrochen war. Außerhalb der
dicken, freudlosen Mauern der Carnificina war es 340.M41.
Am Ende des dritten Monats der Haft und der Verhöre wurde ich
zu meiner täglichen Befragung in den großen Saal geführt und stellte
fest, dass Osma mich anstelle der üblichen Interrogatoren erwartete.
»Nehmen Sie Platz«, sagte er, indem er auf den Stuhl in der Mitte
des kahlen Raums zeigte.
Es war dunkel und kalt. Eisige spätwinterliche Stürme zogen von
Osten herein, und obwohl es Tag war, fiel kein Licht durch die hohen
Fenster. Sie waren mit Schnee bedeckt. Mein Atem gefror in der
Luft, und ich zitterte. Osma hatte sechs Lampen an den Wanden des
Saals verteilt aufstellen lassen.
Ich setzte mich und schob die Hände zum Schutz vor der Kälte in
die Taschen meines Mantels. Ich wollte nicht, dass Osma meine Nöte
sah. Er stand in einer polierten Servorüstung warm und von der Kälte
isoliert da und ging den Inhalt einer Datentafel durch.
Ich konnte mich in der polierten Rückenplatte seiner Rüstung
sehen. Meine Kleidung war zerlumpt und schmutzig, meine Haut
blass. Ich hatte sicher sieben Kilo verloren und trug jetzt einen
dichten Bart, der ebenso struppig war wie mein Haar. Der einzige
Gegenstand in meinem Besitz war die Inquisitionsrosette in meiner
Manteltasche. Sie tröstete mich.
Osma drehte sich zu mir um. »In drei Monaten hat sich Ihre
Geschichte nicht verändert.«
»Das müsste Ihnen einiges verraten.«
»Es verrät mir, dass Sie über große Kraftreserven und einen
umsichtigen Verstand verfügen.«
»Oder dass ich nicht lüge.«
Er legte die Tafel auf einen der Lampentische. »Lassen Sie mich
Ihnen erklären, was passieren wird. Lord Rorken hat Großmeister
Orsini überredet, Sie nach Thracian Primaris überstellen zu lassen.
Dort werden Sie der Verbrechen angeklagt, die Ihnen in der Carta
Extremis vorgeworfen werden, und vor ein Tribunal des Ordo
Malleus und des Officio der Dienstaufsicht gestellt. Rorken ist nicht
zufrieden, aber mehr gesteht Orsini nicht zu. Rorken, habe ich
gehört, ist der Ansicht, dass Ihre Unschuld — oder Schuld — ein für
allemal in einer offiziellen Verhandlung geklärt werden kann.«
»Das Resultat dieser Verhandlung könnte Sie und Ihren Herrn
Lord Bezier in Verlegenheit bringen.«
Er lachte. »Tatsächlich würden wir solch eine Verlegenheit
begrüßen, wenn sie gleichbedeutend mit der Reinwaschung eines
wertvollen Inquisitors wie Ihnen wäre, Eisenhorn. Aber ich glaube
nicht, dass es dazu kommen wird. Sie werden für Ihre Verbrechen
auf Thracian verbrannt, Eisenhorn, so sicher wie Sie hier verbrannt
worden wären.«
»Ich lasse es darauf ankommen, Osma.«
Er nickte. »Ich auch. Die Schwarzen Schiffe treffen in drei Tagen
ein, um Sie nach Thracian Primaris zu bringen. Damit bleiben mir
noch drei Tage, um Sie zu brechen, bevor mir die Angelegenheit aus
den Händen genommen wird.«
»Seien Sie vorsichtig, Osma.«
»Ich bin immer vorsichtig. Morgen beginnt mein Stab mit der
Befragung des Neunten Grades. Es wird keine Pause geben,
entweder bis zum Eintreffen der Schwarzen Schiffe oder bis Sie mir
sagen, was ich hören will.«
»Zwei Tage unter dem Neunten Grad garantieren vermutlich, dass
ich nicht mehr am Leben bin, wenn die Schwarzen Schiffe
eintreffen.«
»Wahrscheinlich. Eine Schande, und man wird Fragen stellen.
Aber das ist hier ein einsames Gefängnis, und ich habe das
Kommando. Aus diesem Grund rede ich heute mit Ihnen. Nur Sie
und ich. Eine letzte Gelegenheit. Erzählen Sie mir jetzt die ganze
Wahrheit, Eisenhorn, von Mann zu Mann. Machen Sie es uns beiden
leicht. Gestehen Sie Ihre Verbrechen, bevor morgen die Schmerzen
beginnen, ersparen Sie uns die Verhandlung auf Thracian, dann
werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um dafür zu sorgen,
dass Ihre Hinrichtung rasch und schmerzlos ist.«
»Ich erzähle Ihnen mit Freuden die Wahrheit.«
Seine Augen strahlten.
»Sie steht schon da, auf der Tafel, die Sie gelesen haben. Alles ist
genauso, wie ich es in den letzten drei Monaten immer und immer
wieder gesagt habe.«

Als die Wächter mich wieder in meine kalte Zelle brachten, am


Ende von steinernen Fluren, durch die Meeresbrisen pfiffen,
erwartete Fischig mich bereits. Unsere täglichen fünfzehn Minuten.
Er hatte eine Lampe und ein Tablett mit meinem Abendessen
mitgebracht: dünne, lauwarme Fischsuppe und Zwieback mit einem
Glas verwässertem Rum.
Ich setzte mich auf die krude Holzpritsche. »Ich soll zur
Verhandlung nach Thracian überstellt werden«, sagte ich.
Er nickte. »Aber ich habe gehört, dass morgen die
Folterwerkzeuge zum Einsatz kommen sollen. Ich habe Protest
eingereicht, aber ich bin sicher, er wird ganz zufällig in dem
Durcheinander verloren gehen.«
»Davon bin ich überzeugt.«
»Du solltest etwas essen«, sagte er.
»Ich bin nicht hungrig.«
»Iss einfach. Du wirst deine Kräfte brauchen, und so wie du
aussiehst, hast du herzlich wenig davon.« Ich schüttelte den Kopf.
»Gregor«, sagte er, indem er die Stimme senkte. »Ich muss dir
eine Frage stellen. Sie wird dir nicht gefallen, aber sie ist wichtig.«
»Wichtig?«
»Für mich. Und für deine Freunde.« »Dann frag.«
»Erinnerst du dich noch — Gott-Imperator, aber es scheint schon
so lange her zu sein! — letztes Jahr, als wir uns wiedergesehen
haben, auf diesem Friedhof bei Kasr Tyrok?«
»Natürlich.«
»Im Schreinturm hast du zu mir gesagt, du könntest dir nicht
vorstellen, irgendwas zu tun, das einem Dämon nützen oder gefallen
würde. Du hast gesagt, ›Ich kann mir nicht vorstellen, jemals so
wahnsinnig zu sein‹.«
»Ich kann mich noch gut daran erinnern. Und du hast gesagt, wenn
du je glauben würdest, ich wäre es, würdest du mich persönlich
erschießen.«
Er nickte mit einem säuerlichen Lächeln. Einen Moment herrschte
Stille, die nur vom Knistern der Lampe und dem Donnern des
Meeres draußen vor den Festungsmauern unterbrochen wurde.
»Du willst wohl ganz sichergehen, Godwyn?«, fragte ich.
Er sah mich tadelnd an.
»Ich kann das verstehen. Ich erwarte absolute Loyalität von dir
und meinem ganzen Stab. Ihr habt das Recht, das auch von mir zu
erwarten.«
»Dann weißt du, was ich fragen will.«
Ich fixierte ihn. »Du willst fragen, ob ich lüge. Ob etwas Wahres
an den Vorwürfen ist. Ob du für einen Mann gearbeitet hast, der mit
Dämonen verkehrt.«
»Es ist eine dumme Frage, ich weiß. Wenn es so wäre, würdest du
jetzt nicht zögern, mich zu belügen.«
»Ich bin viel zu müde für etwas anderes als die Wahrheit,
Godwyn. Ich schwöre beim Goldenen Thron, ich bin nicht, was
Osma von mir behauptet. Ich bin ein wahrer Diener des Imperators
und der Inquisition.
Bring mir einen Adler, dann schwöre ich auch auf den. Ich weiß
nicht, was ich sonst tun kann, um dich zu überzeugen.«
Er stand auf. »Das reicht mir. Ich wollte nur sichergehen. Dein
Wort hat mir immer genügt, und nach all den Jahren, die wir
zusammen waren, war ich sicher, dass du mir sagen würdest, wenn
… selbst wenn es …«
»Ich sage dir eins, alter Freund. Ich würde. Selbst wenn ich der
Abschaum wäre, für den Osma mich hält, und selbst wenn ich es vor
ihm verbergen könnte … auf eine direkte Frage von dir könnte ich
nicht lügen. Nicht vor dir, Züchtiger Fischig.«
Der Wächter klopfte an die Zellentür.
»Noch eine Minute!«, rief Fischig. »Iss deine Suppe«, sagte er zu
mir.
»Hat Osma dich damit beauftragt?«, fragte ich.
»Verdammt, nein!«, fauchte er beleidigt.
»Schon gut. Ich hab's auch nicht geglaubt.«
Der Wächter klopfte noch einmal.
»Ist ja gut, verflucht seien deine Augen!«, knurrte Fischig.
»Wir sehen uns morgen«, sagte ich.
»Ja«, erwiderte er. »Tu mir einen Gefallen.«
»Jeden.«
»Iss deine Suppe.«

Die Krämpfe begannen meiner Schätzung nach kurz nach


Mitternacht. Sie rissen mich aus einem leichten Schlaf. Schmerzen
fluteten durch meinen Körper, und mein Geist war wie betäubt. So
schlecht hatte ich mich nicht mehr seit Pyes Arbeit auf Lethe Elf in
der Dunkelnacht vor beinahe zwei Jahren gefühlt.
Ich versuchte aufzustehen und fiel von der Pritsche. Ich wurde von
Krämpfen geschüttelt, und ich schrie laut. Ich erbrach die Überreste
des kargen Essens. Fieberschübe wechselten sich mit Schüttelfrost
ab.
Ich weiß nicht, wie lange ich brauchte, um zur Zellentür zu
kriechen, und wie lange ich dalag und mit den Fäusten
dagegenschlug, bis sie sich öffnete. Wahrscheinlich Stunden.
Das Bewusstsein kam und ging mit den Krämpfen und den
Schmerzwellen.
»Heiliger Imperator!«, rief der Wächter, als er die Tür öffnete und
mich im Licht seiner Sturmlaterne sah.
Er rief etwas, und Schritte eilten den Zellenkorridor entlang.
»Er ist krank«, hörte ich den Wächter sagen. »Lass ihn bis zum
Morgen in Ruhe«, sagte ein anderer.
»Dann ist er vielleicht tot«, antwortete der erste Wächter nervös.
»Bitte …«, stammelte ich, indem ich die Hand ausstreckte. Sie war
zu einer Klaue erstarrt, gelähmt und hässlich.
Andere kamen. Ich hörte Fischigs Stimme.
»Er braucht einen Arzt. Die Hilfe eines ausgebildeten
Mediziners«, sagte Fischig.
»Das ist nicht gestattet«, wandte ein Wächter ein.
»Sehen Sie ihn sich doch an, Mann! Er stirbt! Irgendein Anfall.«
»Lassen Sie mich durch«, sagte eine andere Stimme.
Es war der Gefängnisarzt in Begleitung von Interrogator Riggre,
der aussah, als habe man ihn aus dem Bett geholt.
»Er simuliert, lassen Sie ihn!«, sagte Riggre verächtlich.
»Halten Sie den Mund!«, fauchte Fischig. »Sehen Sie ihn sich
doch an! Das ist nicht simuliert!«
»Er ist ein Meister der Täuschung«, erwiderte Riggre. »Vielleicht
hat er die Bleifarbe von der Tür geleckt, um seine Scharade zu
unterstützen. Selbst schuld. Das ist ein Schwindel. Lassen Sie ihn.«
»Er stirbt«, sagte Fischig.
»Er sieht verdammt krank aus«, sagte ein Wächter unbehaglich.
Ich wand mich in weiteren Krampfanfällen.
Der Arzt hatte sich über mich gebeugt. Ich hörte das Summen
seines medizinischen Abtasters, den er seiner Pharmakopöe
entnommen hatte.
»Er simuliert nicht«, murmelte er. »Er hat Krämpfe. Sein Körper
ist starr. Derartige Muskelkrämpfe kann man nicht simulieren. Der
Sauerstoffgehalt des Blutes beträgt nur dreißig Prozent des
Normalwerts. Er hat Herzflattern. In weniger als einer Stunde ist er
tot.«
»Geben Sie ihm eine Spritze. Kurieren Sie ihn!«, brüllte Riggre.
»Das kann ich nicht, Interrogator. Nicht hier. Wir verfügen nicht
über die nötigen Einrichtungen. Ahh! Imperator, sehen Sie doch!
Jetzt blutet er aus Augen und Nase.«
»Unternehmen Sie was!«, schrie Riggre.
»Wir müssen ihn in ein Lazarett bringen. Das nächste ist in Kasr
Derth. Wir müssen ihn schnell hinbringen, sonst ist er tot!«
»Das ist lächerlich, Doktor!«, sagte Riggre. »Sie müssen doch
irgendwas …«
»Nicht hier.«
»Bestellen Sie ein Transportschiff, Riggre!«, sagte Fischig.
»Er ist ein bedeutender Häftling der Inquisition! Wir können ihn
nicht einfach von hier wegbringen!« »Dann holen Sie Osma …«
»Der ist für die Nacht wieder aufs Festland geflogen.«
Fischigs Tonfall wurde leiser. »Wollen Sie derjenige sein, der
Osma sagt, dass Sie seinen wertvollsten Gefangenen auf dem
Fußboden seiner Zelle haben verrecken lassen?«
»N… nein …«
»Dann sage ich es ihm. Ich sage Osma, dass sein Interrogator
Riggre ihn um den größten Fall seiner ganzen Karriere gebracht hat,
weil er sich nicht dazu durchringen konnte, einen Schweber zu rufen
und Eisenhorn lieber in diesem Loch hat verrecken lassen!«
»Rufen Sie einen Transporter!«, schrie Riggre die Wächter an.
»Sofort!«

Sie brachten mich auf einer Trage zu dem in den Fels gehauenen
Landeplatz. Stimmen brüllten und stritten in dem beißenden Wind
und der von wirbelnden Schneeflocken erfüllten Dunkelheit. Der
Arzt hatte einen intravenösen Tropf angeschlossen und versuchte
meine Symptome mit einigen Mitteln aus seinem Koffer zu lindern.
Die Landelichter gingen flackernd an, kalt und weiß und machten
aus den Schneeflocken schwarze Punkte.
Eine cadianische Fähre kam tief herein, und ihre Schubdüsen
ließen den Landeplatz erbeben und wirbelten den Schneefall
durcheinander.
Sie trugen mich in das grün beleuchtete Innere, und die
schlimmsten Auswirkungen der Kälte und des Wetters blieben
zurück, als die Luke geschlossen wurde. Ich spürte das jähe Rucken
des Schiffs, als wir abhoben und zum Festland herumschwenkten.
Fischig stand vor mir und justierte die Halteriemen, die mich auf der
Pritsche der Fähre hielten. Über das Tosen der Triebwerke hinweg
hörte ich, wie Riggre den Pilot anschrie.
Verstohlen holte Fischig eine Ampulle aus seiner Manteltasche
und tauschte sie gegen die Ampulle des Arztes aus, die am Tropf
befestigt war.
Beinahe sofort fühlte ich mich besser.
»Still liegen bleiben und ruhig atmen«, flüsterte Fischig. »Und halt
dich fest. Es wird gleich etwas … holprig.«
»Kontakt! Drei Kilometer und schnell näher kommend!«, hörte ich
den Copilot rufen.
»Was ist das?«, wollte Riggre wissen.
Der Transponder der Fähre gab plötzlich ein Ping von sich.
»Thron der Erde! Sie haben uns in der Zielerfassung!«, rief der
Pilot.
»Achtung, Fähre«, knisterte eine Stimme im offenen Kom.
»Landen Sie auf der Insel West fünf-zwo bei dreisechs. Sofort. Sonst
schieße ich Sie ab!«
Mein Blickfeld klärte sich langsam. Ich schaute durch die grün
erleuchtete Kabine und sah, wie Riggre eine Laserpistole zog.
»Was ist das für eine Heimtücke?«, fragte er mit Blick auf Fischig.
»Ich finde, Sie sollten tun, was man von Ihnen verlangt, und sofort
landen«, sagte Fischig gelassen.
Riggre entsicherte seine Waffe, aber bevor er schießen konnte,
zuckte ein sengender Lichtblitz durch die Kabine. Fischig verbrannte
Riggre mit einem Schuss aus der Digitalwaffe, die in einem von den
Jokaero gefertigten Ring auf dem rechten Zeigefinger eingebaut war.
Ein Schmuckstück aus Maxillas Sammlung, ging mir auf.
Fischig gab noch einen Schuss ab, der das Kom-System
verdampfte.
»Runter!«, befahl er dem Piloten, indem er den Ring auf ihn
richtete.

Die Fähre machte eine Notlandung auf dem felsigen Strand der
unbewohnten Insel.
»Hände auf den Kopf!«, befahl Fischig der Besatzung, während er
mir aus der Luke und in den Schneesturm half.
Ich konnte kaum laufen, und er musste mich stützen. »Du hast
mich vergiftet«, keuchte ich.
»Ich musste es überzeugend machen. Aemos hat eine Dosis
präpariert, die das Binärgift in deinem Körper wieder aktiviert hat.
Pyes Gift.«
»Ihr Schweine!«
»Ha! Jemand, der fluchen kann, ist weit davon entfernt, tot zu sein.
Komm!«
Er trug mich halb über das Geröll und durch den vom Meer
hereinwehenden Sturm, während Schneeflocken unsere Gesichter
stachen. Lichter stießen vor uns herab, als das Kanonenboot
hereinkam und auf dem vereisten Geröll eine perfekte Landung im
Betancore-Stil hinlegte.
Fischig schob mich die Rampe empor in die Arme von Bequin und
Inshabel.
»Lieber Imperator, habt ihr euch das alles auch gut überlegt?«,
japste ich.
»Natürlich haben wir das!«, schnauzte Bequin. »Nathun! Zieh eine
Spritze mit Antivenin auf!«

Ich war tot, zum zweiten Mal in weniger als zwei Jahren. Zuerst
am Binärgift gestorben, das mir von Beidame Sadias Handlangern
auf Lethe verabreicht worden war, und jetzt beim Absturz einer
Fähre ums Leben gekommen, die in einem Wintersturm über dem
Caducadesmeer auf Cadia zerschellt war.
Das Kanonenboot hob ab, flog den Strand entlang, wendete und
flog zur Fähre zurück.
Möge der Imperator mir und meinem Stab für den Tod Riggres
und der beiden Piloten vergeben. Ihr Tod war die einzige
Möglichkeit, meine Sicherheit zu gewährleisten.
»Feuer«, hörte ich Nayl zu Medea sagen.
Die Waffen des Kanonenboots beharkten die cadianische Fähre
und sprengten sie auseinander. Im Morgengrauen würden die
Trümmer am Ufer der abgelegenen Insel auf nichts anderes als einen
tragischen Absturz infolge der höllischen Stürme hinweisen.
Wir stiegen durch die Wolkendecke und erreichten den
Orbitalraum. Zwar hatte es mir niemand gesagt, aber ich wusste, dass
unser Flugplan durch den Berechtigungscode einer anderen Person
abgedeckt wurde.
Ich tippte auf Neve. Wahrscheinlich mit ihrer Erlaubnis.
Die Essene erwartete uns.
»Was nun?«, fragte ich Fischig heiser.
»Verdammt, ich habe alles riskiert, was mir lieb und teuer ist, um
dich hierher zu bringen«, erwiderte er. »Ich hatte irgendwie gehofft,
du wüsstest, wie wir jetzt weitermachen.«
»Cinchare«, sagte ich. »Sag Maxiila, er soll uns nach Cinchare
bringen.«

Es gibt Geheimnisse, die es wert sind, welche zu bleiben.


»Was ist denn auf Cinchare?«, fragte Bequin.
»Ein alter Freund«, sagte ich.
»Eigentlich kein Freund«, fügte Aemos hinzu.
»Nein. Aemos hat recht. Ein alter Bekannter.«
»Zwei alte Bekannte, wenn man es genau nimmt«, fügte Aemos
hinzu.
Bequin schnitt ein besonders wütendes Gesicht. »Ihr zwei und
eure alten Intimitäten. Warum könnt ihr nie eine direkte Antwort
geben?«
»Weil die Inquisition dir umso weniger schaden kann, falls wir
erwischt werden, je weniger du weißt«, sagte ich.

»Das neue schlanke Selbst«, begrüßte Maxilla mich süßlich, als


ich die Brücke betrat.
Ich hatte mich rasiert und mir die zotteligen Haare kurz
geschnitten und trug nach einer ausgiebigen Dusche einen schwarzen
Leinenanzug. Ich war immer noch furchtbar schwach auf den Beinen
und nicht in der Stimmung für Maxillas Albereien.
»Wir haben Kurs auf Cinchare genommen«, sagte Maxiila steif, da
er meine Stimmung anscheinend erahnte. Seine golden maskierten
Servitoren summten bestätigend. Sein Kapuze tragender Navigator,
der sich mit allen Sinnen auf einen ganz anderen Ort konzentrierte,
sagte gar nichts.
»Ich habe eine Frage«, sagte Inshabel. Er saß auf dem Platz des
zweiten Navigators und betrachtete Raumkarten. »Warum Cinchare?
Eine Rohstoffwelt am Rande des Segmentums, beinahe ein
Haiostern. Ich dachte, wir wollten versuchen Quixos zu finden.«
»Das hat keinen Sinn.«
»Was?«, fragten Maxilla und Inshabel fast wie aus einem Munde.
Ich setzte mich auf einen gepolsterten Ledersessel. »Warum sich
die Mühe machen, Quixos zu suchen, wenn er uns mit Sicherheit
problemlos töten kann? Wir haben mit viel Glück
Einzelbegegnungen mit zwei von seinen Dämonenwirten überlebt.
Wir haben nicht die Kraft, ihn zu bekämpfen.«
»Also?«, fragte Inshabel.
»Also müssen wir diese Kraft zuerst finden. Uns vorbereiten. Uns
bewaffnen. Uns in die Lage versetzen, eines der mächtigsten Übel im
Imperium auszuschalten.«
»Und dafür müssen wir nach Cinshare?«, flüsterte Inshabel.
»Cinchare ist der Anfang, Nathum«, sagte ich. »Vertrauen
Sie mir.«
SIEBZEHN
Wanderstern. Doktor Savine, Cora und Herr Horn. Im
Annex.

Selbst mit Höchstgeschwindigkeit brauchte die Essene dreißig


Wochen, um Cinchare zu erreichen.
Gewiss, wir nahmen nicht den direkten Weg, um möglichst alle
Begegnungen mit Einheiten des Imperiums zu vermeiden. Ich hasste
das. Zur Abwechslung hasste ich einmal die Täuschungen.
Indirekt erfuhren wir nach ein paar Reisewochen, dass meine
Flucht von Cadia aufgeflogen war. Die Inquisition — und andere
Organisationen — machten Jagd auf mich. Ich war offiziell zum
Ketzer und Extremis Diabolus erklärt worden. Lord Rorken hatte
Osmas Carta schließlich gegengezeichnet.
Ich war jetzt etwas, was ich noch nie zuvor gewesen war.
Ein Flüchtling. Ein Abtrünniger. Und indem sie mir geholfen
hatten, waren auch meine Kameraden Flüchtlinge geworden.
Wir hatten ein paar Kratzer davongetragen. Beim Auftanken auf
Mallid wurden wir von einem nicht identifizierten Kriegsschiff
entdeckt und verfolgt, bis wir es schließlich im Immaterium
abhängten. Bei Avignor versuchte uns ein Geschwader von
Kampfschiffen der Ekklesiarchie abzuschießen, das an den Grenzen
der Diözese Patrouille flog. Wir entkamen nur aufgrund einer
Kombination aus Maxillas Steuerkünsten und Medeas Gefechts-
Intelligenz.
Auf Trexia Beta stießen Nayl und Fischig auf einen Jagdtrupp
Arbites, während sie versuchten, einen As-tropathen anzuwerben. Sie
erzählten mir nie, wie viele sie zu töten gezwungen gewesen waren,
aber es bedrückte sie wochenlang.
Auf Anemae Gulfward gelang es Bequin, eine Astropathin
anzuwerben, eine kränkliche Frau namens Tasaera Ungish. Als
Ungish herausfand, wer ich war, bat sie darum, wieder zu ihrer
abgelegenen Welt zurückgebracht zu werden. Es dauerte lange, sie
davon zu überzeugen, dass sie von mir nichts zu befürchten hatte.
Am Ende musste ich ihr meinen Geist öffnen.
Auf Oets Stern wurden wir bei einem Verproviantierungs-
Aufenthalt von einem gewissen Inquisitor Frontalle entdeckt. Wie
schon bei Riggre und den beiden cadianischen Piloten wird mich sein
unnötiger Tod ewig verfolgen. Ich versuchte mit Frontalle zu
argumentieren. Ich gab mir große Mühe. Er war ein junger Mann und
glaubte, mich zur Strecke zu bringen sei der Schlüssel für eine
hochfliegende Karriere. Eisenhorn der Ketzer nannte er mich ständig.
Das waren auch seine letzten Worte, als ich ihn in den geothermalen
Wärmetauscher warf.
Von Trexia Beta an hörten wir praktisch ständig das Gerücht, ein
Purgatortrupp der Grey Knights vom Ordo Malleus jage uns. Und
auch der Orden der Todeswacht vom Ordo Xenos.
Ich betete zu meinem Gott-Imperator, dass ich diese Aufgabe
würde erfüllen können, bevor mich die Kräfte der Rechtschaffenheit
überwanden. Und ich betete zu ihm, dass meine Freunde verschont
bleiben mochten.

Zwischen diesen Eskapaden gab es nur die langen, zähen Wochen


des Flugs durch den Warpraum. Ich füllte die Zeit mit Studien aus,
und mit Waffenübungen mit Nayl, Fischig oder Medea. Ich gab mir
alle Mühe, wieder gesund zu werden. Die Carnificina hatte mich zer-
mürbt, sowohl körperlich als auch seelisch. Das verlorene Gewicht
schien einfach nicht zurückkehren zu wollen, trotz Maxillas
großzügiger Bankette.
Und ich kam mir langsam vor. Langsam mit einer Klinge, langsam
auf den Beinen. Langsam und unbeholfen mit einer Schusswaffe.
Sogar mein Geist war langsam. Ich begann zu fürchten, dass Osma
mich gebrochen hatte.

Tasaera Ungish war eine halb gelähmte Frau Mitte fünfzig. Die
anstrengenden Rituale des Warpraums hatten sie gebrochen,
praktisch ausgebrannt und zu einem Leben als Hilfstelepathin in den
Gildenräumen von Anemae Gulfward verurteilt. Ihr geröteter Leib
wurde von einem augmetischen Exoskelett gestützt. Ich glaube, sie
mochte einmal schön gewesen sein, aber jetzt war ihr Gesicht hohl
und das Haar dünn, wo die implantierten Stecker ihrer Berufung
angebracht waren.
»Ist es wieder so weit, Ketzer?«, fragte sie, als ich in ihr Quartier
trat. Dies ereignete sich ungefähr in der zwanzigsten Woche der
Fahrt.
»Ich wünschte, Sie würden mich nicht so nennen«, sagte ich.
»Bewältigungsstrategie«, gurrte sie. »Diese Bequin hat mich aus
einem sicheren Leben auf Anemae Gulfward gelockt und mich in
den privaten Kreuzzug eines Ketzers eingegliedert.«
»Aus einem sicheren Leben, Ungish? Einem bösen Ende. In sechs
Monaten wären sie unter der Belastung des Verkehrs gestorben, den
Sie dort zu bewältigen hatten.«
Sie schnalzte mit der Zunge, und ihr augmetisches Chassis surrte,
als sie zwei Gläser Amasec einschenkte.
Ihres war zusätzlich mit Schmerzmitteln versetzt, und ihr Raum
stank nach Lho-Blättern. Ich wusste, dass sie infolge der Härten ihres
Lebens ständig Schmerzen verspürte und sie diese mit allem
bekämpfte, was sie in die Finger bekam.
»Tot und begraben auf Anemae Gulfward in sechs Monaten …
oder ein qualvoller Tod in Ihren Diensten.«
»So ist es nicht«, sagte ich nickend, da ich das angebotene Glas
nahm.
»Nicht?«
»Nein. Ich habe Sie in meinen Geist schauen lassen. Sie wissen
von der Reinheit meiner Sache.«
Sie runzelte die Stirn. »Vielleicht.« Sie hatte Schwierigkeiten, ihr
Glas zu halten. Die Mechandriten, die ihre rechte Hand führten,
waren alt und langsam.
Sie winkte ab, als ich ihr helfen wollte.
»Vielleicht?«, fragte ich.
Sie trank einen ordentlichen Schluck und steckte sich dann ein
Lho-Stäbchen zwischen die runzligen Lippen.
»Ich habe Ihren Geist gesehen, Ketzer. Sie sind nicht so rein, wie
Sie glauben.«
Ich setzte mich auf das Sofa. »Bin ich das nicht?«
Sie zündete das Lho-Stäbchen an und atmete den narkotisierenden
Rauch mit einem Seufzer aus.
»Ach, beachten Sie mich gar nicht. Ich bin nur eine ausgebrannte
Psionikerin, die zu viel redet.«
»Es interessiert mich. Was sehen Sie?«
Ihr Exoskelett gab leise Surr-Geräusche von sich, als es sie zum
anderen Sofa brachte, und die Hydraulik zischte, als sie darauf Platz
nahm. Sie nahm noch einen tiefen Zug. »Verzeihung«, sagte sie.
»Wollen Sie auch eins?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Mein Leben lang habe ich den Astropathicus gedient, wie es
aussieht zuerst als Angestellte der Gilde und jetzt als Selbständige.
Als Ihre Agentin mit einem Arbeitsangebot und richtigem Geld zu
mir kam, habe ich angenommen. Aber, herrje, herrje …«
»Astropathen sollen neutral sein«, konterte ich.
»Astropathen sollen dem Imperator dienen, Ketzer«, sagte sie.
»Was haben Sie in meinem Geist gesehen?«, fragte ich
unverblümt.
»Viel zu viel«, erwiderte sie und blies einen wunderbaren
Rauchring.
»Erzählen Sie es mir.«
Sie schüttelte den Kopf oder jedenfalls nahm ich an, dass die
zischende Bewegung ihres Kopfkäfigs das vermitteln sollte.
»Ich sollte wohl dankbar sein. Sie haben mich aus einem toten
Leben geholt und in das hier verwickelt. In … ein Abenteuer.«
»Ich brauche Ihre Dankbarkeit nicht«, sagte ich.
»Tot und begraben auf Anemae Gulfward in sechs Monaten …
oder ein qualvoller Tod in Ihren Diensten«, wiederholte sie.
»So wird es nicht sein.«
Sie blies noch einen Rauchring. »Doch, so wird es. Ich habe es
gesehen. So klar wie der Tag.« »Das haben Sie?«
»Oft. Ich werde Ihretwegen sterben, Ketzer.«

Ungish war stur und defätistisch. Ich wusste, dass sie Dinge
gesehen hatte, über die sie nicht reden wollte. Schließlich fragte ich
sie nicht mehr danach. Wir trafen uns alle paar Tage. Und sie fing
psychometrisch Bilder aus meinem Verstand ein. Die cadianischen
Pylonen. Cherubael. Prophaniti und die Ornamente, die er trug.
Als wir Cinchare schließlich erreichten, hatte ich einen Stapel
psychometrischer Bilder und dank der verkrüppelten Astropathin ein
grimmiges Gefühl für die Zukunft.

Cinchare. Ein Mineralbrocken, der einen Wanderstern umkreiste.


Von Gravitationsstürmen geplagt, wanderte das Cin-chare-System
salopp durch die Randbezirke der Halozone am Rande des
Imperialen Raums. Vor zehntausend Jahren war es ein Nachbar von
3458 Dornal gewesen und hatte neun Planeten und einen Asteroi-
dengürtel gehabt. Als wir es schließlich entdeckten, zog es durch die
Pymbyle-Systeme, Major und Minor, und hatte zwei ernsthafte
kosmische Kollisionen hinter sich. Jetzt hatte es noch sechs Planeten
und ganze Lagen sich ausbreitender Asteroidengürtel. Cinchares
Wanderstern befand sich in einem trunkenen Tanz mit Pymbyle
Minor, einem Flirt der Gravitationen, der erst in einer Million Jahren
ein Ende finden würde.
Cinchare selbst, oder genauer Cinchare Wandersystem/Planet vier
X181B, war ein blauer Felsbrocken, dessen Umlaufbahn den
Unwägbarkeiten der aufeinander einwirkenden Gravitationsfelder
folgte und ihn in einer weiten Acht um beide Sterne führte.
Reich an extrem seltenen Metallen, darunter Ancylitum und
Phorydnum, war er seit seiner Entdeckung das Paradies für jeden
Grubenarbeiter.
»Keine Wachschiffe. Herzlich wenig in punkto Führungsbojen«,
sagte Maxiila, als er die Essene in das System steuerte. »Ich habe
eine Habitation auf dem Schirm. Die Bergbaukolonie, möchte ich
wetten.«
»Parken Sie uns in der Umlaufbahn«, sagte ich zu ihm. »Medea,
mach das Boot für den Landeanflug klar. Aemos, du begleitest
mich.«

»Puh!«, flüsterte Medea, während sie die Hände mit ihren


Schaltkreis-Implantaten fester um die Bio-Sensoren des
Steuerknüppels schloss. Ein weiterer harter Ruck hatte das Boot
erschüttert.
»Die Gravitationstiden sind überall. Ich treffe ständig auf Wirbel
und antitrojanische Punkte.«
»Kein Wunder«, murmelte Aemos, während er sich auf einen Sitz
hockte und das Sicherheitsgeschirr in seinem Schoß schloss. »Der
Wanderstern und seine Planetenherde haben aus diesem System ein
Katastrophengebiet gemacht.«
»Hmmm …«, sagte Medea ohne Besorgnis, während sie das Boot
eine halbe Rolle fliegen ließ, um einem zerklüfteten schwarzen
Asteroiden auszuweichen, der schräg an uns vorbeitaumelte. Die
nähere Umgebung von Cinchare war ein Trümmerfeld voller
Gesteinsbrocken und Kollisionsschlacke, die den Planeten in allen
möglichen exotischen und komplexen Bahnen umliefen. Ein Teil des
Feldes hatte ein dünnes Ringsystem um Cinchare gebildet, aber
selbst die Ringe wurden durch Gravitationszusammenstöße verformt
und verzerrt. Der Raum um uns erstrahlte in einem dunstigen Gold,
wo das Sternenlicht auf die Bänke aus Staub und Mikromaterie traf.
Die Schilde des Kanonenboots wurden mit den meisten größeren
Brocken im Feld fertig, aber einige waren Riesen und erforderten
Ausweichmanöver.
Durch das goldene Staublicht sahen wir Cinchare langsam
deutlicher: ein unregelmäßiges, funkelndes blaues Objekt, das sich
schnell um eine angeschlagene Achse drehte. Der Planet lag halb im
Schatten, und die Gipfel seiner Mineralberge verursachten
frühmorgendliche Blitze, da sie das erste Licht einfingen, das über
die Tag-und-Nacht-Grenze fiel.
»Je näher wir dem Planeten kommen, desto schlimmer werden
natürlich die Gravitationsstörungen«, überlegte Aemos laut. Medea
brauchte seinen Rat nicht. Sogar ich wusste, dass es in der
unmittelbaren Umgebung eines unregelmäßigen Körpers — und vor
allem eines unregelmäßigen Körpers mit Regionen unterschiedlicher
Dichte — von abnormalen Gravitationseffekten nur so wimmeln
würde. Ich glaube, Aemos redete nur, um sich abzulenken.
Medea wich den sengenden Schweifen dreier Boliden aus und flog
in etwas hinein, das wie eine Röhre aus hoher Gravitation wirkte.
Cinchares Oberfläche, eine sich drehende, vernarbte, löchrige kalte
Ausdehnung, rauschte uns entgegen und füllte die Hauptschirme aus.
Der Kollisionsalarm fing an zu jaulen, und Medea schaltete ihn mit
einer ungehaltenen Seitwärtsbewegung der Hand aus. Wir wurden
ein wenig langsamer, und unsere Flugkurve flachte ab.
»Die Baken der Bergwerksanlage sind gerade aufgewacht.«
Medea räusperte sich. »Ich habe ein telemetrisches Händeschütteln
bekommen. Sie verlangen, dass wir uns identifizieren.«
»Nur zu.«
Medea aktivierte den Transponder des Kanonenboots und sendete
den Identifikationsimpuls unseres Schiffs. Es war einer der
Tarncodes, den wir für verdeckte Ermittlungen im Codifizierer
gespeichert hatten, eine saubere Fälschung, von Medea und Maxiila
hergestellt. Seiner Signatur zufolge waren wir eine
Forschungsgruppe von der Schola Geologica auf Mendalin.
»Sie haben uns die Landefreigabe erteilt«, meldete Medea,
während sie uns durch eine weitere Gravitationsturbulenz flog. »Sie
haben den Leitstrahl aktiviert.«
»Gibt es Kom-Kontakt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es könnte alles mechanisch sein.«
»Bring uns runter.«
Cinchare Grubenzentrum war ein Haufen alter Industriegebilde im
Kegel einer Einschlagstelle. Der Leitstrahl führte uns durch eine
Rille im Kraterrand. Die Bauten wirkten auf den ersten Blick
primitiv und unfertig, wie roh aus dem blauen Fels gehauen, aber ich
erkannte schnell, dass es sich um reguläre Modularbauwerke des
Imperiums handelte, die mit Ablagerungen aus blauem Staub und
Gypnat verkrustet waren. Laut Archiv gab es Cinchare
Grubenzentrum hier seit neunhundert Jahren.
Wir landeten auf einer geräumten und gehärteten Fläche, die von
blinkenden Markierungslampen umgeben war. Die Bremsdüsen
erzeugten einen wirbelnden Halo aus Alluviam im luftlosen Himmel.
Nach kurzer Wartezeit fuhren zwei schwere Servitoren auf Ketten
aus dem Schatten eines Andockhangars in das harte Sternenlicht,
brachten Klammern an unserem Bug an und zogen uns in den
Hangar.
Es war ein grimmiger Ort aus schmutzigem nackten Metall und
Hebe-Maschinen. Zwei ramponierte Schürfkapseln standen in
Ankerbuchten, und in der Düsternis am anderen Ende befand sich
eine Frachtfähre, die schon bessere Tage gesehen hatte.
Die Hangarschleuse schloss sich hinter uns, und die blinkenden
Gefahrenlampen im Hangar wechselten von gelb auf grün, als wieder
Atmosphäre hineingepumpt wurde. Abgesehen von den Servitoren
gab es keine Spur von Leben.
»Unsere Systeme geben grünes Licht für die Verhältnisse
draußen«, sagte Medea und schwang sich aus ihrem Sitz.
»Sind wir bereit?«, fragte ich.
»Sicher«, sagte Medea. Sie hatte ihre normale glavianische
Pilotenausrüstung mit ihrer unverwechselbaren roten Jacke gegen
einen sehr viel anonymeren schmuddeligen Fluganzug eingetauscht.
Er war schwer, lohfarben und weit und tatsächlich das Innenfutter
eines gerüsteten Raumanzugs. Die Oberfläche war mit Ösen,
Laschen und Druckknöpfen bedeckt, wo die Rüstungsteile befestigt
wurden, und in der Brust gab es Anschlüsse für Schläuche. Medea
hatte den Helmring entfernt und ließ den schweren Kragen offen. Sie
trug Arbeitshandschuhe und Militärstiefel mit Stahlkappen, und ihr
Haar steckte unter einer Mütze mit dem Imperiumsadler auf dem
Schirm.
Aemos hatte die Hydraulik seines augmetischen Exoskeletts so
eingestellt, dass es ihn in der steifsten, aufrechtesten Stellung hielt,
die möglich war. Mit seinem langen Umhang aus schwarzem
Raubkatzenfell, der weißen Haube auf dem Kopf und einem mit
Gravuren geschmückten Daten-Gehstock sah er von Kopf bis Fuß
wie ein distinguierter Akademiker aus.
Ich hatte kein Stück meiner üblichen inquisitorischen Kleidung am
Leib. Ich trug eine Lederhose und hohe Schnallenstiefel, eine alte
Flakweste mit schmutziger Keramitpanzerung und eine Vollvisier-
Filtermaske mit getönten Augenschlitzen, die vor allem Ähnlichkeit
mit einem fauchenden Schädel hatte. Nayl hatte mir einen
Bewegungsdetektor aus seiner persönlichen Ausrüstung geliehen,
den ich mir um die rechte Schulter geschnallt hatte, und dazu eine
schwere stummelläufige Laserpistole, die in einem Achselhalfter
unter meiner Weste steckte. In einer Scheide zwischen meinen
Schulterblättern ruhte eine Schrotflinte, und um die Brust hatte ich
einen Gürtel mit Patronen dafür geschlungen. Ich sah aus wie
angeworbene Muskeln und fühlte mich auch so … was auch Sinn der
Sache war.
Medea öffnete die Luke, und wir betraten den Hangar.
Es war kalt und die Luft von zu vielen automatischen
Umwälzungen ausgedörrt. Seltsame mechanische Geräusche
erklangen sporadisch in der Ferne. Untersetzte Servitoren
beschäftigten sich emsig mit dem freigelegten Antrieb der alten
Fähre.
Wir polterten die Gittertreppe zur Innenschleuse empor. Sie war
mit einem Bas-Relief markiert, dem Symbol der Adeptus
Mechanicus, und ein emailliertes Schild darunter verkündete, die
Techpriesterschaft sei die höchste Autorität in Cinchare
Grubenzentrum.
Die schwere Schleusentür surrte in die Wand und gab den Blick
auf einen düsteren Verbindungstunnel frei, in dem leere Raumanzüge
hingen, die infolge des Luftzugs an ihren Haken hin und her
schwangen. Dahinter befand sich ein klammer Duschraum, ein
dunkles Büro mit einem Vorhängeschloss an der Tür und ein unbe-
setztes Überwachungspult mit deaktiviertem Kartentisch.
»Wo sind alle?«, fragte Medea.
Wir folgten den hallenden Gängen durch den Komplex.
Verdreckte Grubenausrüstung lag verstreut oder gestapelt in Ecken.
Eine kleine Erste-Hilfe-Station war aller chirurgischen Gerätschaften
entkleidet und mit Kisten vollgepackt worden, die eingelegten Fisch
enthielten. Ein Nebenraum war leer bis auf mehrere hundert
zerbrochene Weinflaschen. Ein unbenutzter, begehbarer Kühlraum
verströmte den Gestank von verdorbenem Fleisch durch seine
geöffnete Tür. In einigen Gewölben tropfte Wasser von den düsteren
hohen Decken. Ketten von dort befestigten Flaschenzügen baumelten
herab. Kalte, trockene Windböen wehten durch die Korridore.
Als die Wandlautsprecher dröhnten, fuhren wir alle zusammen.
»Vereinigte Imperiale Minerale! Schichtwechsel in fünfzehn
Minuten!«
Die Stimme gehörte zu einer automatischen Aufzeichnung. Nichts
rührte sich daraufhin.
»Das ist äußerst bestürzend«, murmelte Aemos. »Den imperialen
Aufzeichnungen zufolge ist Cinchare Grubenzentrum eine aktive
Niederlassung. Vereinigte Imperiale Minerale hat hier
neunzehnhundert Arbeiter in den Gruben und Ortog Prometheum
weitere siebenhundert in ihren Gypnatbrüchen. Ganz zu schweigen
von unabhängigen Schürfern, Hilfskräften und Technikern,
Sicherheitsleuten und dem Personal der Adeptus. Grubenzentrum
müsste eine Bevölkerung von fast dreitausend Personen haben.«
Wir hatten eine Art zentrale Promenade erreicht, breit und mit
Deckenlampen, von denen viele zerschlagen waren. Eine Seite wurde
von leeren Geschäften und Bars gesäumt.
»Sehen wir uns um«, sagte ich. Wir schwärmten aus. Ich ging zum
Nordende der mit Abfall übersäten Promenade und fand eine Treppe,
die zu einem ausgedehnten Platz voller weiterer leerer Geschäfte
führte.
Ich hörte das Surren eines Elektromotors von links unten und
folgte ihm. Um die Ecke einer verrammelten Kantine stand ein
offener Buggy mit Ballonreifen vor dem ungepflegten Eingang einer
Registratur für Schürfansprüche. Ich ging hinein. Der Fußboden war
mit verstreuten und vergilbenden Papieren und verbeulten
Datentafeln bedeckt. Eine Wehe aus benutzten und verschimmelten
Proviantkartons füllte eine Seitentür zum Archiv.
Nayls Bewegungsmelder klickte und surrte. Er projizierte seine
Anzeige auf die Innenseite der rechten Linse meiner Maske.
Bewegung, im Archiv, acht Meter entfernt.
Ich schlich zur Tür und lugte hinein, die Hand am Kolben der
gehalfterten Laserpistole.
Ein langgliedriger Mann in einem schmutzigen Overall kauerte
mit dem Rücken zu mir und durchwühlte einen Spind.
»Hallo?«, sagte ich.
Er erschrak zu Tode, fuhr herum und erhob sich in ein und
derselben hektischen Bewegung, um dann rückwärts gegen eine
Reihe von Aktenschränken aus Metall zu stolpern. Sein langes,
schlaksiges Gesicht war bleich vor Angst. Seine Hände waren
erhoben.
»Ach du Scheiße! Ach du lieber Gott-Imperator! Ach, bitte …
bitte …«
»Beruhigen Sie sich«, sagte ich.
»Wer sind Sie? Ach du Scheiße, tun Sie mir nichts!«
»Das habe ich nicht vor. Ich heiße Horn. Wer sind Sie?«
»Bandelbi … Fyn Bandelbi … Gruben-Superintendent zweiter
Klasse. Ortog Prometheum … Scheiße, tun Sie mir nichts!«
»Das habe ich nicht vor«, wiederholte ich fest. Das zerfranste
Namensschild an seiner Kleidung stimmte jedenfalls mit ihm
überein: »BANDELBI, F. SUPER 2.0.P.«
»Nehmen Sie die Hände herunter«, sagte ich. »Warum glaubten
Sie, ich wollte Ihnen was tun?«
Er senkte die Hände und zuckte die Achseln. »Habe ich gar nicht
… irgendwie … ich weiß nicht …« Er gewann ein wenig Fassung
zurück und blinzelte mich an. »Wo kommen Sie eigentlich her?«,
fragte er. Er war ein hässlicher Bursche mit ungekämmten, fettigen
Haaren und einem Stoppelbart. An der Seite des Halses war die
Andeutung eines rosa Geburtsmals zu erkennen.
»Von außerhalb. Gerade angekommen. Ich habe mich gefragt,
warum keiner da ist.« »Alle sind weg.« »Weg?«
»Weg. Ausgeflogen. Gegangen. Wegen der Gravs.« »Der Gravs?«
Ich weiß nicht, ob er geantwortet hätte. Mein Bewegungsmelder
gab mir plötzlich einen Alarm auf die Linse, und als ich herumfuhr,
sah ich einen Mann im Eingang der Registratur stehen. Er war groß
und hatte dunkle Haut sowie weiße Haare und Bartstoppeln. Die
Autopistole in seiner rechten Hand war auf mein Gesicht gerichtet.
»Schön langsam«, sagte er. »Weg mit den Kanonen. Und der
Maske.«
»Was geht hier vor? Wer hat hier das Kommando?«, wollte eine
Stimme von draußen wissen. Es war Aemos.
Der Mann mit der Autopistole warf einen Blick nach draußen und
bedeutete mir dann mit einem Wink der Waffe voranzugehen.
Aemos, der sehr würdevoll und hochmütig wirkte, stand auf der
Straße hinter dem abgestellten Buggy.
»Nun? Ich bin Doktor Savine von der Schola Geologica auf
Mendalin. Begrüßt Cinchare Grubenzentrum so seine Gäste?« Ich
war beeindruckt. Er redete mit dem nörgelnden Unterton gereizter
Autorität. Mir war nicht klar gewesen, über wie viel
schauspielerisches Talent Aemos verfügte.
»Haben Sie Papiere?«, fragte der Mann mit der Waffe, die er
immer noch auf mich gerichtet hielt. Bandelbi war nach draußen
gekommen und beobachtete die Vorgänge.
»Natürlich!«, schnauzte Aemos. »Und ich zeige sie auch
jemandem mit Autorität.«
Der Mann mit der Waffe griff sich mit der freien Hand an den
Hals seiner leicht gepanzerten Jacke und holte ein poliertes silbernes
Abzeichen an einer Kette hervor. »Vollstrecker Kaieil,
Sicherheitsdienst Cinchare Grubenzentrum. Ich bin die einzige
Autorität, die Sie hier finden werden.«
Aemos schnalzte mit der Zunge und klopfte mit der Spitze seines
Stocks auf den Boden. Die Spitze klappte weg und warf ein kleines
Hologramm in die Luft darüber: Einzelheiten seiner Identität sowie
das Siegel der Schola Geographica, dazu ein sich langsam aufbauen-
des 3D-Bild von Aemos' Kopf.
»In Ordnung, Doktor«, nickte Kaleil. Er deutete mit der Waffe auf
mich. »Was ist mit diesem Schläger?«
»Glauben Sie, ich würde ohne Leibwächter zu diesem
scheußlichen Felsbrocken reisen? Dieser Schläger ist Herr Horn.«
»Dieser Schläger hat meinem Freund Bandelbi die
Daumenschrauben angelegt.«
Aemos sah mich streng an. »Ich habe Sie davor gewarnt, Horn!
Verdammt, Sie kämpfen jetzt nicht mehr in den mordianischen
Bandenkriegen!« Er wandte sich wieder an Kaleil. »Er ist ziemlich
eifrig. Ein Testosteron-pflaster zu viel, irgendwann. Aber ich
brauchte Muskeln, kein Hirn, und er war billiger als ein Cyber-Mas-
tiff.«
Sei dankbar, dass du mein Gesicht hinter dieser Maske nicht sehen
kannst, alter Freund, dachte ich.
»In Ordnung. Aber halten Sie ihn an der Leine«, sagte Kaleil,
indem er seine Waffe halfterte. »Gehen wir zur Sicherheitsstation, da
können Sie mir dann erzählen, was Sie hier eigentlich wollen.«
»Und Sie können mir erzählen, wo alle geblieben sind«, erwiderte
Aemos.
Kaleil nickte und bedeutete uns, die Straße entlang voranzugehen.
»Also brauchen Sie mich nicht, um jemandem den Schädel
wegzusprengen, Doktor Savine«, sagte eine Stimme.
Kaleil und Bandelbi erstarrten. Medea glitt aus ihrer Deckung in
einem Hauseingang auf der Straßenseite gegenüber, einen
glavianischen Nadler in zwei nicht zitternden Händen und auf Kaleils
Kopf gerichtet.
»Scheiße!«, keuchte Bandelbi.
»Meine Pilotin«, sagte Aemos ungerührt. Er wedelte Medea zu.
»Nein, Cora. Wir sind jetzt hier alle Freunde.«
Medea grinste, zwinkerte Kaleil zu und verstaute die Waffe in
ihrem Fluganzug.
»Ich hatte Sie im Visier, Vollstrecker Kaleil.«
Kaleil bedachte sie mit einem mörderischen Blick und führte uns
dann zur Sicherheitsstation.

Die Station befand sich in der ersten Etage eines runden Gebäudes
an der Ecke eines verlassenen Platzes. Ein Schutzgeländer zog sich
in Hüfthöhe darum, und dahinter gestatteten nach innen geneigte
Fenster einen ausgedehnten Blick auf den Platz. Kaleil bediente eine
Armatur in der Wand, woraufhin sich die Tönung der Scheiben
aufhellte, so dass es etwas heller in dem Raum wurde.
Die Stühle waren um einen zentralen runden Arbeitsplatz
angeordnet, über dem eine Holo-Anzeige leuchtete. Leere
Proviantbeutel und Bierflaschen lagen überall auf der Arbeitsfläche
verstreut, und handschriftliche Notizen und Memos waren auf die
Ränder der Konsole geklebt. Im Raum gab es außerdem Sofas mit
aufgeplatzter Polsterung und Abfallhaufen. Eine rückwärtige Tür
führte zur Waffenkammer und einem Bereitschaftsraum. Die Luft
war feucht und roch nach Schweiß und ungewaschener Kleidung.
Kaleil zog seine gepanzerte Jacke aus und warf sie auf ein Sofa. Er
trug ein schmuddeliges Unterhemd, das seinen Körperbau und die
Tätowierungen der Imperialen Garde auf den Oberarmen gut zur
Geltung brachte.
Sein Amtsabzeichen hing ihm auf der Brust wie die Medaille eines
Athleten.
»Hol Erfrischungen für Sie«, sagte er zu Bandelbi. Der
Superintendent begann, jede Bierflasche auf der Abdeckung des
Arbeitsplatzes zu schütteln, um welche mit Inhalt zu finden.
»Frische«, schalt Kaleil. »Und ich bin sicher, der Doktor würde
etwas Weicheres vorziehen … oder Härteres.«
»Amasec, wenn Sie welchen haben«, sagte Aemos.
»Bier ist prima«, lächelte Medea, die sich auf ein Sofa setzte und
die Beine unter sich zusammenfaltete.
Ich schüttelte den Kopf. »Nichts.« Bandelbi verschwand.
Kaleil setzte sich verkehrt herum auf einen der Stühle vor dem
Arbeitsplatz, so dass er die Arme auf der Rückenlehne verschränken
konnte. »Schön, Doktor. Dann erzählen Sie mal.«
»Ich bin der Leiter der Abteilung Metallurgie in der Schola
Geologica. Kennen Sie Mendalin?«
Kaleil schüttelte den Kopf. »Da war ich noch nie.«
»Eine schöne Welt, eine noble Welt. Berühmt für ihre Akademie.«
Aemos ließ sich behutsam neben Medea nieder.
Ich stand etwas zurückgezogen am Fenster. Es war offensichtlich,
dass Kaleil ein Auge auf mich hatte.
»Wir folgen einem Zwanzigjahresprogramm, von Erzherzog
Frederik persönlich in Auftrag gegeben, die inneren
Transitionsqualitäten der seltensten Metalle zu untersuchen für … äh,
die Anwendungen sind eigentlich geheim. Die Ergebnisse könnten
die industrielle Gesundheit von Mendalins Maschinenhallen
verbessern. Der Erzherzog ist ein begeisterter Amateur-Metallurg.
Tatsächlich ist er der Förderer der Schola Geologica.«
»Was Sie nicht sagen«, murmelte Kaleil.
»Phorydnum ist eines der Metalle, das unser Programm behandelt.
Und auf diesem Planetoiden gibt es eines der am nächsten gelegenen
Vorkommen davon. Das Administratum hat mich freundlicherweise
mit den nötigen Mitteln ausgerüstet, um Cinchare zu besuchen und
Proben zu erwerben, und ich habe Briefe vom Lorddirektor von
Imperiale Minerale, um die Phorydnumgruben zu inspizieren.
Wollen Sie sie sehen?«
Kaleil winkte dankend ab.
»Außerdem hatte ich gehofft, mich mit den hier stationierten
Techpriestern treffen zu können, um mit ihnen über ihr Verständnis
der Eigenschaften dieser kostbaren Substanz zu diskutieren.«
»Sie sind auf einer Forschungsreise?«
»So könnte man sagen«, erwiderte Aemos.
Bandelbi kehrte mit drei Bierflaschen und einer emaillierten Tasse
zurück. Er trug alles auf einer verbeulten Spindtür, die er als Tablett
benutzte.
»Das ist kein guter Stoff«, sagte er zu Aemos, als er ihm die Tasse
gab. »Nur Proviant-Qualität.«
Aemos nippte ohne auch nur den Anflug eines Schauders. »Hart,
aber herzhaft«, verkündete er.
Kaleil nahm seine Flasche und trank einen Schluck.
»Die Reise hierher war völlig unnütz, fürchte ich«, sagte er. »Der
Imperator weiß, was Imperiale Minerale gedacht hat, als man Ihnen
diese Briefe gegeben hat. Sie müssen doch gewusst haben, dass ihre
Leute nicht mehr da waren.«
»Erklären Sie das«, sagte ich. Kaleil warf mir einen Seitenblick zu.
»Dieser Felsbrocken ist in den letzten neun Jahrhunderten
beständig bearbeitet worden. Die Arbeit ist gefährlich, aber es lohnt
sich. Wie Sie schon sagten, Cinchare birgt reiche Vorkommen vieler
Metalle, die ansonsten sehr selten sind.«
Er trank noch einen Schluck. »In den letzten zwanzig Jahren haben
sich die Behörden hier zunehmend mehr Sorgen wegen der
Verhältnisse gemacht. Wegen der gravitationeilen Verzerrungen.
Cinchare kommt den Gravitationsfeldern von Pymbyle immer näher.
Die allgemeinen Schätzungen liefen darauf hinaus, dass die
Niederlassung hier in achtzig, neunzig Jahren nicht mehr lebensfähig
sein würde. Imperiale Minerale und Ortog haben die Arbeit
beschleunigt und versucht, so viel wie möglich abzubauen, bevor die
gravitationellen Verhältnisse in Cinchares Umgebung den Brocken
für die nächsten paar tausend Jahre unberührbar machen würden. Die
unabhängigen Schürfer auch … die sind in Scharen gekommen. In
den letzten Jahren hat es hier einen richtigen altmodischen Ansturm
auf das Erz gegeben.«
»Was ist dann aber passiert?«, fragte Medea.
»Die Gravs«, sagte Bandelbi. Er räumte sich einen Platz auf einem
der mit Papier überladenen Sofas frei. Er blickte auf und sah Medeas
fragend gehobene Augenbraue.
»Gravitationskrankheit«, beantwortete er ihre unausgesprochene
Frage sofort. Er kratzte sich nervös an seinem Geburtsmal. Er hatte
sie nicht aus den Augen gelassen. Sie war vermutlich die erste Frau,
die er seit einer ganzen Weile sah. Kaleil war gefasster.
»Die Gravitationskrankheit«, fuhr Bandelbi fort. »Ge-
wichtsstörungen, Bleischädel, die Gravs … Sie wissen schon.«
»Chronische Gravitisthesie, auch bekannt als Mazburs Syndrom.
Eine fortschreitende Funktionsstörung, die durch exotische
gravitationelle Einflüsse hervorgerufen wird. Die Symptome
schließen unter anderem Paranoia, Verlust der
Koordinationsfähigkeit, einen Wechsel von panischen und
euphorischen Zuständen, Gedächtnisverlust, Halluzinationen und
manchmal, in Extremfällen, Mordgelüste ein. Der Zustand wird nor-
malerweise von Myasthenie, Osteochondritis, Osteoporose, Skoliose
und Leukämie begleitet«, beendete Aemos seine Ausführungen.
Kaleils Augen weiteten sich. »Ich dachte, Sie wären Doktor der
Metallurgie, Doktor, nicht der Medizin.«
»Das bin ich auch. Aber die Gravitation, jene unsichtbare Kraft, ist
ein fundamentaler Bestandteil des Lebens aller Elemente. Also
interessiere ich mich dafür.«
»Wie auch immer … in den Vorhersagen hieß es, Cinchare könnte
wegen der Gravitation in neunzig Jahren unbewohnbar werden. Aber
der menschliche Körper ist weicher als ein Klumpen Mineralerz. Die
Gravs traten zum ersten Mal vor ungefähr zwei Jahren auf. Arbeiter
wurden krank. Ein paar Fälle von Gewalt und Wahnsinn. Dann ging
uns auf, was los war. Imperiale Minerale hat sich vor neun Monaten
verabschiedet. Ortog vor sieben.«
»Eine ziemliche Ironie«, sagte Aemos. »Cinchare ist mineralreich
eben wegen der exotischen Gravitationsverhältnisse, denen er in
seinen Milliarden Jahren des Lebens unterworfen war. Elemente
wurden hier auf eine Weise transmutiert und neu angeordnet, die
vielleicht einzigartig ist. Cinchare ist der Traum jedes Alchimisten!
Und jetzt kann die Menschheit aus denselben Gründen, die für seine
Existenz verantwortlich sind, nicht mehr von seinen Gaben
profitieren!«
»Ja, Doktor, das ist wirklich eine Ironie«, sagte Bandelbi und trank
sein Bier aus.
»Das erklärt aber nicht, warum Sie noch hier sind«, sagte ich.
»Notbesatzung«, sagte Kaleil in einem Tonfall, der besagte, dass
es mich nichts anging. »Die Adeptus Mechanicus sind ebenfalls
abgezogen, vor ungefähr drei Monaten. Aber einer von ihnen ist
zurückgeblieben. Irgendeine wichtige Forschungsarbeit, die
unbedingt beendet werden musste. Und uns hat man befohlen, zu-
rückzubleiben und Cinchare Grubenzentrum zu halten, bis er fertig
ist.«
Ich drehte mich um und schaute durch das Stationsfenster nach
draußen. Der Platz war bis auf den Abfall vollkommen leer. »Und
wie viele sind ›wir‹, Vollstrecker?«
»Eine Wartungsmannschaft von zwanzig Personen. Ich habe das
Kommando. Alles Freiwillige.«
»Die Techpriester haben uns dreifache Bezahlung versprochen!«,
sagte Bandelbi zu Medea, ein eindeutiger Versuch, sie zu
beeindrucken.
»Herrje«, lächelte sie.
»Wo sind die anderen? Die anderen achtzehn?«, hakte ich nach.
Kaleil stand auf und warf seine leere Flasche in einen
überquellenden Papierkorb in der Ecke. Sie prallte vom Rand ab und
zerschellte auf dem Boden. »Uberall verteilt. Hier ist es ziemlich
weitläufig. Sie sehen hier nur die Spitze. Wie bei … wie nennt man
diese gefrorenen Wasserklumpen, die es auf manchen Planeten im
Meer gibt?«
»Eisberg?«, schlug Medea vor.
»Ja, wie bei einem Eisberg. Neunzig Prozent von Cinchare
Grubenzentrum liegt unter der Erde. Das ist ziemlich viel Raum, den
es zu patrouillieren, zu warten und in Gang zu halten gilt.«
»Sie stehen in Kom-Kontakt zum Rest der Belegschaft?«
»Wir bleiben in Verbindung. Manche kriege ich wochenlang nicht
zu Gesicht.«
»Dieser Techpriester, der noch geblieben ist«, sagte Aemos. »Wo
ist der?«
Kaleil zuckte die Achseln. »Irgendwo unten. Im Karst und in den
Gruben. Ich habe ihn seit zwei Monaten nicht gesehen.«
»Wann erwarten Sie ihn zurück?«, sagte Aemos. »Wo ist er?«
Kaleil zuckte die Achseln. »Gar nicht.«
»Wie heißt er?«, fragte ich, indem ich mich umdrehte und dem
Vollstrecker direkt in die dunklen Augen schaute.
»Bure«, sagte er. »Warum?«
»Tja, das ist alles äußerst bestürzend!«, mischte sich Aemos ein,
indem er sich von seinem Platz erhob. »Das wird dem Erzherzog
ganz und gar nicht gefallen. Diese Mission hat bereits sehr viel Zeit
und Geld verschlungen. Herr Kaleil … da wir nun schon einmal hier
sind, würde ich gern das Wenige tun, was mir noch zu tun bleibt.«
»Und das wäre, Doktor?«
»Ein paar Proben sammeln, die Phorydnum-Gruben inspizieren
und die mineralogischen Protokolle studieren?«
»Ich weiß nicht … Cinchare Grubenzentrum sollte mittlerweile
eigentlich geschlossen sein. Offiziell.«
»Wäre es wirklich zu viel verlangt? Ich bin sicher, der
Lorddirektor von Imperiale Minerale wäre erfreut, wenn Sie mit mir
zusammenarbeiteten. Erfreut genug, um eine Sonderprämie
draufzulegen, wenn ich einen entsprechenden Bericht aufsetze.«
Kaleil runzelte die Stirn. »Aha. Worüber reden wir hier?«
»Ich brauche einen Tag, um mir die Protokolle und die Datenbank
der Mineralogie anzusehen, vielleicht noch einen Tag, um die
Proben-Archive aus den Gruben zu begutachten. Und … tja, wie
lange würde es dauern, die Phorydnum-Grube zu besichtigen? Die
letzte?«
»Ich rufe meinen Stab zusammen, dann wäre es in einer Rundreise
von zwei Tagen zu machen.«
»Das ist … ausgezeichnet! Also insgesamt vier Tage, dann fliegen
wir wieder ab.«
»Ich weiß nicht…«, sagte Bandelbi.
»Wollen Sie mich nicht ein paar Tage hier haben?«, fragte Medea,
die Bandeibis Körpersprache genauso scharfsinnig interpretierte wie
jeder ausgebildete Inquisitor und dabei ebenso latente
schauspielerische Fähigkeiten offenbarte wie Aemos.
»Ich dürfte es an sich nicht erlauben«, sagte Kaleil. »Hier ist jetzt
eigentlich betreten verboten. Konzern-Anordnungen. Sie sollten
nicht hier bleiben.«
»Sie bleiben auch hier«, stellte ich fest.
»Ich kriege Gefahrenzulage«, sagte er.
»Und Sie könnten noch mehr bekommen«, sagte Aemos. »Ich
verspreche Ihnen, ich werde dem Lorddirektor von Imperale
Minerale gegenüber Ihre Kooperation lobend erwähnen … und
meinen alten Freunden bei den Adeptus. Sie würden jeden belohnen,
der einem Diener des Erzherzogs hilft.«
»Hol mir noch ein Bier«, sagte Kaleil zu Bandelbi. Er schaute uns
an und rieb sich das Kinn. »Ich rede mit meinen Leuten und sehe,
wie die darüber denken.«
»Gut, gut«, sagte Aemos. »Ich hoffe doch, dass wir uns einigen
können. In der Zwischenzeit brauchen wir ein Quartier. Gibt es hier
überzählige Betten?«
»Cinchare ist voller überzähliger Betten, seitdem die Arbeiter
abgerückt sind«, sagte Bandelbi mit anzüglichem Grinsen zu Medea.
»Zeig ihnen ein Hab«, sagte Kaleil zu Bandelbi. »Ich rede mit den
Männern.«

»Irgendwas stimmt hier nicht«, sagte ich, während ich die Maske
absetzte und sie dann auf den Boden warf.
»Diese Betten sind ziemlich bequem«, erwiderte Aemos, indem er
die Spannung seines Exoskeletts neu einstellte und sich auf die
Matratze legte.
Wir befanden uns in einem trockenen, verstaubten Ruheraum über
der Arbeiter-Wohlfahrt. Das künstliche Licht vom Platz draußen fiel
durch die halb geschlossenen Rollos. Bandelbi hatte drei
Metallbetten mit ausgeleierten Matratzen und Schlafsäcke zur
Verfügung gestellt, die rochen, als seien sie zum Seien von
Motorenöl und Kohl benutzt worden.
»Du machst dir immer Sorgen«, sagte Medea, die ungehemmt
ihren Fluganzug herunterzog und in eine Ecke trat. Darunter trug sie
nur ihre Unterwäsche und das Schulterhalfter, das sie jetzt abnahm.
Aemos drehte sich um und schaute in die andere Richtung.
»Es ist meine Aufgabe, mir Sorgen zu machen. Und hör endlich
auf, dich auszuziehen. Wir sind noch nicht fertig.«
Medea sah mich an und schnallte sich das Halfter mit finsterem
Stirnrunzeln wieder um. »Na gut, mein Herr und Meister … was?
Was stimmt nicht?«
»Ich kann es nicht richtig greifen …«, begann ich.
Medea wandte sich ab und warf sich auf ihr Bett.
»Doch, das kannst du, Gregor«, sagte Aemos.
»Vielleicht.«
»Versuch's einfach.«
»Die Sache mit den Gravs. Auch wenn die Konzerne überrascht
worden sein können, den Adeptus Mechanicus sieht es ganz und gar
nicht ähnlich, bei einer Vorhersage so falsch zu liegen. Jeder
Kosmologe würde wissen, wenn Cinchare in eine Zone
unberechenbarer Gravitationseinflüsse gerät, die schädlich für den
Menschen wären. Sie wüssten es Jahre im Voraus. Der Imperator
beschütze mich, aber Himmelskörper bewegen sich viel langsamer
und vorhersehbarer als der menschliche Geist!«
»Ein gutes Argument«, sagte Aemos.
»Und eins, auf das du bestimmt auch schon gekommen bist,
könnte ich mir denken«, sagte ich.
»Ja«, bestätigte er. »Kaleil lügt ganz eindeutig in irgendeinem
Punkt.«
»Und du glaubst nicht, dass irgendwas nicht stimmt?«
»Natürlich glaube ich das«, murmelte Aemos. »Aber ich bin
müde.«
»Steh auf«, sagte ich brüsk.
Er richtete sich auf.
»Wenigstens wissen wir, dass Bure noch hier ist«, sagte ich.
»Ist das der Bursche, zu dem wir hier wollten?«, fragte Medea. Ich
nickte. »Magos Bure.«
»Woher kennt ihr ihn? Einen Magos der Techpriesterschaft?«
»Das ist eine alte Geschichte, meine Liebe«, sagte Aemos.
»Ich habe Zeit.«
»Er war ein treuer Verbündeter meines und Aemos' alten Meisters,
Inquisitor Hapshant«, kam ich zur Sache, bevor Aemos loslegen
konnte.
»Also alte Beziehungen, was?«, grinste sie.
»So etwas in der Art.«
»Es ist trotzdem ein ziemlich langer Weg, nur um einen alten
Freund wiederzusehen«, fügte sie hinzu.
»Das reicht, Medea!«, sagte ich. »Die Einzelheiten brauchst du
noch nicht zu wissen. Ist vielleicht sogar besser, wenn du sie nicht
erfährst.«
Sie streckte mir die Zunge heraus und zog ihren Fluganzug wieder
an.
»Hast du kürzlich versucht, die Essene zu erreichen?«, fragte ich.
»Mein Kom hat nicht genügend Reichweite«, antwortete sie
mürrisch, während sie an ihrem Reißverschluss herumfummelte.
»Die gravitationeilen Verzerrungen sind zu stark. Damit haben wir
gerechnet. Ich könnte zum Boot zurückkehren und den Hauptsender
benutzen.«
»Ich brauche dich hier. Wir müssen schnell ein paar Antworten
finden. Ich will, dass du dich mit Aemos zum Archiv des
Administratums schleichst und zusiehst, was sich aus den
Datenbanken herausholen lässt, wenn sie noch funktionieren.«
»Während du …«
»Ich bin im Annex der Adeptus Mechanicus. Wir treffen uns hier
wieder in drei Stunden. Wir suchen nach Hinweisen, aber vor allem
nach Spuren von Bures Verbleib.«
Aemos nickte. »Und wenn wir entdeckt werden?« »Konntet ihr
nicht schlafen, seid noch spazieren gegangen und habt euch
verlaufen.« »Und wenn sie mir nicht glauben?« »Deswegen begleitet
dich Medea«, sagte ich.
Der Annex der Techpriesterschaft befand sich im Westsektor von
Cinchare Grubenzentrums chaotischem Irrgarten aus Druckhabs und
Verarbeitungsschuppen, etwa zwei Kilometer von dem Platz entfernt.
Zuerst hatte ich nicht gewusst, wohin ich ging, aber die Tunnel und
Korridore waren mit nummerierten Schildern und Symbolen
gekennzeichnet, und nach einer Weile fand ich einen großen Plan an
einer Säule neben einer Reihe verstaubter öffentlicher Trinkbrunnen.
Eine Drehung am Hahn eines der Brunnen förderte nur ein
trockenes Ächzen zutage.
Als ich mich dem Annex näherte, registrierte ich, dass die an und
für sich weiß gekälkten Tunnelwände mit dunkelroten Streifen
übermalt waren. Außerdem gab es zahlreiche Warnschilder, die bei
Androhung der Todesstrafe korrekte Papiere und Ausweise
verlangten.
Dennoch war alles kahl und leer und voller Staub und Abfall.
Am Ende des rotgestreiften Zugangstunnels standen die großen
Schleusenschotte aus Adamantium weit offen. Es herrschte eine
unheimliche Stille.
Der Annex war ein kolossaler Turm aus mit rotem Stahl
verkleidetem behauenem Fels, der einen Seitenkamin des Kraters
ausfüllte, in dem Cinchare Grubenzentrum untergebracht war. Eine
versiegelte Glaskuppel überdeckte den gepflasterten Hof zwischen
der Schleuse und dem Annex. Und das eigentliche Gebäude erhob
sich jenseits der Kuppel bis zum Kraterrand. Hoch oben konnte ich
den blauen Fels und die vom Sternenlicht erfüllte Leere dahinter
sehen. Meteore zogen über den Himmel.
Der Eingang zum Annex war ein riesiges Portal größer als drei
Menschen, das von dicken dorischen Säulen aus schwarzem Lukullit
eingerahmt wurde. Darüber hing das geprägte Gesicht des
Maschinengottes, dessen Augen so gearbeitet waren, dass sie im
Licht der aus den Gruben abgeleiteten und abgefackelten Gase omi-
nös flackern würden. Jetzt waren sie kalt und tot.
Und die polierten Metalltüren des Portals standen offen.
Ich trat ein. Feiner Sand bedeckte den Boden des Prothyrons.
Staubpartikel glitzerten in den Lichtstrahlen, die durch Oberlichter
im gerippten Dach in den hohen Korridor fielen. Beide Wände waren
vollständig mit Reihen von Codifizierern und Matriculatoren verklei-
det, alle untätig und heruntergefahren. Jeder Schalter und jede
Anzeige war mit Staub bedeckt.
Ich wusste sofort, dass dies ein schlechtes Zeichen war. Die
Techpriester schätzten Maschinen mehr als alles andere. Wenn sie,
wie von Kaleil beschrieben, evakuiert worden wären, hätten sie so
eine Unmenge von Technologie nicht einfach zurückgelassen … vor
allem deshalb nicht, weil jede Einheit so konzipiert war, dass sie
mühelos aus ihrem Alkoven in den schwarzen Marmorwänden
herausgezogen werden konnte.
Die Kammer hinter dem Prothyron war eine richtige Kapelle, eine
dem Maschinengott, dem Über-Titan, dem Meister des Mars
gewidmete Kathedrale. Der Boden bestand aus cremeweißen
Travertinplatten, die so eng verlegt waren, dass nicht einmal ein Blatt
Papier zwischen die Platten gepasst hätte. Die Kapelle selbst hatte
drei Apsiden und Wände aus glattem, kaltem Lukullit und ein Dach
dreißig Meter über meinem Kopf. Hier war noch mehr kostbare
Technologie angeordnet, und zwar Konsolen aus Messing in sechs
konzentrischen Kreisen um einen zentralen Sockel. Alle waren tot
und ohne Energie.
Ich ging durch den Raum zum Sockel, wobei ich mir sehr bewusst
war, wie laut meine Schritte in der Leere hallten. Kaltes Sternenlicht
fiel durch ein Opaion mitten im Dach direkt über dem massiven
Grandiorit-Sockel. Der riesige abgetrennte Kopf eines uralten Titans
hing über dem Sockel, wo das Sternenlicht einfiel. Ich sah, dass der
Kopf nicht gestützt wurde — es gab keine Kabel, kein Gerüst, keine
Plattform. Er hing einfach in der Luft.
Als ich mich dem Sockel näherte und zum Gesicht des Titans
emporstarrte, stellten sich meine Haare auf. Statik oder etwas
Vergleichbares lud die Luft auf. Eine unsichtbare, nutzbar gemachte
Kraft — vielleicht Gravitation oder Magnetismus, jedenfalls etwas,
das mein Verständnis überstieg — war hier im Spiel und sorgte da-
für, dass der viele Tonnen wiegende Maschinenschädel in der Luft
hängen blieb, ein stilles Wunder und charakteristisch für die
Techpriesterschaft. Trotz abgeschaltetem Strom dauerten ihre
Wunder an.
Auf einer Konsole - einem Messingrahmen voller verschachtelter
eiserner Zahnräder, Silberdrähte und Glasröhren — sah ich ein Stück
von einem in Leinwand gehüllten Schlauch liegen, dessen eines Ende
in die Anzeige gestöpselt und dessen anderes Ende zerfasert und
abgeschnitten war. Das war mehr als nur ein Fall von eiligem
Aufbruch.
Ich habe im Laufe der Jahre nur wenig mit den Adeptus
Mechanicus zu tun gehabt. Sie waren eine Welt für sich wie die
Astartes und hatten ihre eigenen Gesetze, und nur ein Narr würde
sich mit ihnen anlegen. Bure -Magos Geard Bure — war mein
engster Kontakt zu ihnen. Ohne die Priesterschaft des Mars würden
die Technologien des Imperiums dahinwelken und verschwinden,
und ohne ihre unablässigen Bemühungen würden sich der
Menschheit keine neuen technologischen Wunder mehr erschließen.
Und doch stand ich hier vollkommen unbehelligt und ungeladen
mitten in einem ihrer Allerheiligsten.
Mein Kom summte. Eine Stimme, Medeas, stark verzerrt durch
die Gravitationsschwankungen, sagte: »Aegis wünscht Dorn. Bei
Halbleben …«
Die Verbindung brach ab.
»Dorn bedient Aegis«, sagte ich. Nichts.
»Dorn bedient Aegis, die flüsterlose Leere.«
Immer noch nichts. Was ich von Medea gehört hatte, beunruhigte
mich — »Halbleben« war ein Glossia-Codewort, das dazu benutzt
werden konnte, eine wichtige Entdeckung zu enthüllen oder auf eine
ernste Notlage hinzuweisen. Doch was mich noch viel mehr beunru-
higte, war die Tatsache, dass sie plötzlich verstummt war. Meine
Antwort, wenn sie sie gehört hatte, besagte, dass ihre Sendung
unvollständig oder verstümmelt empfangen worden war.
Ich wartete eine ganze Minute, dann noch eine.
Ohne Vorwarnung summte mein Kom rasch drei Mal
hintereinander. Damit teilte Medea mir auf eine nonverbale Art mit,
dass sie nicht reden konnte und ich abwarten sollte.
Ich wischte die dünne Staubsicht von einer der toten Konsolen und
betrachtete die abgenutzte Runentastatur und die kleinen
Anzeigeschirme aus dickem, konvexem Glas, wobei ich mich fragte,
welche Geheimnisse ich ihnen wohl entringen konnte.
Wenige, entschied ich. Aemos, der offen gestanden mehr wusste,
als gut für ihn war, hätte vielleicht die Möglichkeit gehabt. Er hatte
viele Jahre zuvor eng mit Bure zusammengearbeitet, und ich stellte
mir vor, dass er mehr Erfahrung mit den mysteriösen Techpriestern
und ihren Methoden hatte, als er zuzugeben bereit war.
Mein Bewegungsmelder fing plötzlich an zu ticken, und ich
spannte mich und zog meine stummelläufige Laserpistole. Die
Anzeige auf der rechten Linse meiner Maske meldete eine Bewegung
siebzehn Schritte links von mir, aber als ich mich umdrehte, meldete
er weitere. Viele Kontakte, überall, die so schnell kamen, dass sie
einander überlappten und den Melder einen Moment verwirrten. Die
Anzeige auf der Linse zeigte eine Sekunde lang das voreingestellte
»00:00:00«, während sich das Gerät mühte, die Vektoren zu
berechnen, dann rollte eine Reihe von Koordinaten vor meinem
Auge ab.
Doch mittlerweile wusste ich, was er spürte.
Das Allerheiligste erwachte zum Leben.
In rascher Folge wurde jede Konsole aktiv, Zahnräder surrten,
Röhren leuchteten, Bildschirme erhellten sich und Kolben zischten.
Pneumatische Gaspumpen atmeten, und Nachrichtenbehälter sausten
durch das Netz eleganter Glas-und-Messing-Röhren, die zwischen
den Konsolen und an den Wänden verliefen. Mehrere Pulte
projizierten kleine Hologrammbilder über ihren hololithischen
Naben: dreidimensionale Karten, Spektroskopie-Graphen,
Sonarbilder und oszillierende Wellen. Starke Lichtquellen schalteten
sich auf dem Sockel unter dem schwebenden Titanenkopf ein und
verwandelten das Gesicht in ein Reliefbild aus Licht und Schatten.
Ich ließ mich hinter einer der Konsolen auf den Boden sinken, die
in meinem Rücken vibrierte und ratterte. Das jähe, unerklärliche
Leben war einschüchternd und alarmierend. Irgendwo in der Nähe
knatterte eine der Maschinen wie ein altes Maschinengewehr auf
Dauerfeuer.
So plötzlich, wie es begonnen hatte, erstarb das Leben auch
wieder. Konsolen verstummten, und ihre Lichter erloschen. Das
Pulsieren der Energie verlor sich in der Dunkelheit. Die
Scheinwerfer unter dem Titanenkopf trübten sich und erloschen. Ein
Hologramm nach dem anderen fiel in sich zusammen, und die Pulte
wurden wieder untätig. Das Surren der Zahnräder und Servos und
das Pulsieren der Röhren verebbte zu Stille.
Das letzte Geräusch, das verstummte, war das Autogewehr-
Knattern. Es dauerte noch ein paar Sekunden an, nachdem alles
andere längst verstummt war, und hörte dann ebenfalls abrupt auf.
Dann war die Kapelle wieder so dunkel und still wie bei meinem
Eintreten.
Ich kam auf die Beine. Es hatte keine Energie an diesem Ort
gegeben, keine Energiequelle. Was hatte die Maschinen aufgeweckt?
Es musste ein Signal von außen gewesen sein.
Unter Einsatz von gesundem Menschenverstand und Spekulation
umkreiste ich die Konsolen in meiner Nähe auf der Suche nach
derjenigen, die wie ein Maschinengewehr geknattert hatte. Der
wahrscheinlichste Kandidat war ein klobiges Pult, das externe und
allgemeine Kom-Funktionen zu haben schien. Doch das Gerät rea-
gierte nicht, als ich auf die Tasten drückte.
Einer Eingebung folgend, ging ich in die Knie und lugte hinter das
Pult. Es gab Halterungen, wo sich ein Auffangkorb für die
Ausdrucke hätte befinden müssen. Der Korb fehlte. Der Ausdruck
war in den Staub unter dem Pult gefallen.
Ich holte ihn mir. Er war ungefähr neun Meter lang und durch die
Krallen am Drucker in kleinere Portionen geteilt worden. Dieses Pult
hatte ganz offenbar schon seit einiger Zeit Ausdrucke ausgespien,
ohne dass jemand da gewesen war, um sie einzusammeln. Die
Abschnitte ganz unten auf dem Boden vergilbten bereits.
Ich warf einen Blick darauf, aber sie ergaben keinen Sinn.
Tabulierte Kolonnen in Maschinencode in regelmäßigen Reihen. Ich
legte sie sorgfältig auf den Travertinboden und rollte sie eng
zusammen.
Ich war fast fertig, als mein Kom summte.
»Aegis wünscht Dorn. Im Halblicht missbraucht, im
Administratum, im Herzen. Schuppen fallen von Augen. Vielfältig,
der Zugriff von Wechselbälgern. Schema Fingerhut geraten.«
»Schema Fingerhut bestätigt. Dorn geht im Herzen auf.«
Medeas Worte hatten mir alles verraten, was ich wissen musste.
Sie hatten etwas im Administratum gefunden und brauchten mich
schnell dort. Überall drohe Gefahr vom Chaos. Ich solle niemandem
trauen.
Ich halfterte meine Laserpistole und schob mir die Papierrolle in
den Hosenbund.
Als ich aus dem Annex und durch den rot gestreiften Tunnel
rannte, zog ich die Schrotflinte aus dem Rückenhalfter und lud sie
durch.
ACHTZEHN
Schema Fingerhut. Im Gestein. Geard Bures
Translithopäde.

Glossia ist nicht so schwer zu verstehen. Es benutzt eine


unterschwellige Symbolik und Schlüsselwörter. Suchen Sie darin
nicht nach einem Geheimnis, es gibt keins. Deswegen funktioniert es
so gut als privater Code. Es gibt keine Verschlüsselung —
wenigstens keine mathematische Verschlüsselung -, die berechnet
und geknackt werden kann. Es ist idiomatisch und auf das Gefühl
gerichtet. Es ist verbaler Impressionismus. Es benutzt die
unberechenbaren und unregulierten Mechanismen der Poesie und
Intimität, um seine Funktion zu erfüllen. Es hat Zeiten gegeben in
den letzten — nun, sagen wir in den zunehmenden Jahren meiner
Laufbahn -, es hat Zeiten gegeben, wenn ein Verbündeter oder
Gefolgsmann mir eine Glossia-Nachricht mit Worten geschickt hat,
die noch nie zuvor benutzt worden waren. Und ich habe sie dennoch
verstanden.
Es ist ein Kniff. Es geht um das Wissen, wie man einen
gemeinschaftlichen Jargon nutzen und improvisieren kann. Natürlich
gibt es grundsätzliche Regeln der Konstruktion und
Metaphernbildung, aber Blossins Stärke liegt in seiner nebulösen
Verschwommenheit. Seinen Idiomen. Seiner Resonanz. Es entspricht
dem Bauch-Dialekt der Ermenoes, die Sprache durch subtile
Veränderungen der Hautfarbe ersetzt haben.
Zum Beispiel Schema Fingerhut.
»Schema« bedeutet eine Vorgehensweise. »Fingerhut« ist die
Erklärung und beschreibt die Art des Vorgehens näher. Ein Fingerhut
ist eine kleine Metallkappe, die man benutzen mag, um seinen Finger
vor dem kurzen, scharfen Stich einer Nadel beim Nähen zu schützen.
Er würde keinen Atomschlag abwehren und auch keine Horde
Symbionten. Aber im Idiom von Glossia würde er einen vor
unerwarteten Angriffen mit Speeren schützen. Außerdem ist er leise
und unauffällig.
Und so glitt ich leise und unauffällig durch die Korridore von
Cinchare Grubenzentrum zum Officium des Administratums. Ich war
verstohlen und vorsichtig, und der Bewegungsmelder und die
Schrotflinte waren mein Fingerhut.
Schema Fingerhut. Gideon Ravenor hatte diesen speziellen
Ausdruck geprägt und dem Vokabular meines Glossia hinzugefügt.
Ich dachte an Ravenor, der allein auf Thracian in seinem
plasteküberzogenen Bett lag. Meine Wut, die sich in den letzten
Monaten etwas abgeschwächt hatte, flackerte wieder auf.

Mein Bewegungsmelder warnte mich vor einer Tunnelkreuzung


einen halben Kilometer vor dem Platz, und ich ging in Deckung.
Hinter einem Stapel leerer Prometheumfässer verborgen beobachtete
ich, wie zwei elektrische Buggys in Richtung Promenadenbereich
vorbeifuhren. Bandelbi fuhr den vorderen. Zwei Grubenarbeiter
waren bei ihm, drei weitere folgten in dem zweiten Buggy. Alle
sahen schmierig und verschlampt aus.

Auf dem Platz waren noch mehr Buggies, die alle vor der
Sicherheitsstation geparkt hatten. Ich sah ein paar Arbeiter-Typen im
Gebäudeeingang stehen und Lho-Stäbchen rauchen.
Durch den Hintereingang glitt ich in die Arbeiterwohlfahrt. Medea
und Aemos erwarteten mich in dem schäbigen Ruheraum-Quartier.
»Und?«
»Wir haben im Administratun herumgeschnüffelt«, sagte Aemos.
»Es war nicht einmal abgeschlossen.«
»Dann wimmelte es da auf einmal von Kaleils Leuten, und wir
sind getürmt«, sagte Medea. Beide wirkten angespannt und
nachdenklich.
»Haben sie euch gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Aber es sind verdammt viel mehr als
zwanzig. Ich habe mindestens dreißig, fünfunddreißig gezählt.«
»Was habt ihr herausgefunden?«
»Archive jüngeren Datums existieren nicht oder wurden gelöscht«,
sagte Aemos. »Nichts mehr in den letzten zweieinhalb Monaten,
nicht einmal ein Wartungsprotokoll, die Dinge, von denen man
annehmen würde, dass Kaleil den Auftrag hätte, sie weiterzuführen.«
»Er würde sie in seiner Station führen.«
»Wenn er die offiziellen Vorschriften befolgte, würden sie
automatisch in das Zentralarchiv kopiert. Du weißt ja, wie pedantisch
das Administratum ist, wenn es darum geht, vollständige Protokolle
zu führen.«
»Was noch?«
»Tja, es war eine oberflächliche Untersuchung — wir hatten nicht
viel Zeit. Aber Kaleil hat uns erzählt, Imperiale Minerale wäre vor
neun Monaten abgezogen und Ortog Prometheum dann zwei Monate
später. Dem Archiv zufolge waren beide Konzerne noch vor drei
Monaten aktiv und in voller Mannschaftsstärke bei der Arbeit. Es
gibt keine Einträge über irgendwelche ›Grav‹-Fälle und auch keine
Berichte oder Memos in den Akten über die Möglichkeit solch eines
Problems.«
»Kaleil hat gelogen?«
»In jeder Beziehung.«
»Wo sind dann aber alle?«
Aemos zuckte die Achseln.
»Gehen wir jetzt?«, fragte Medea.
»Ich bin entschlossen, Bure zu finden«, erwiderte ich, »und hier ist
etwas im Gange, das wirklich …«
»Gregor«, murmelte Aemos. »Ich hasse es, derjenige zu sein, der
dich darauf hinweist, aber das ist nicht dein Problem. Ich weiß zwar
sehr wohl, dass du dem Goldenen Thron jetzt noch so treu ergeben
bist wie eh und je, jedenfalls in jeder Weise, die zählt, aber du bist
kein Inquisitor mehr. Das Imperium erkennt deine Autorität nicht
mehr an. Du bist ein Geächteter … ein Geächteter mit mehr als
genug eigenen Problemen, die es zu klären gilt, auch ohne dich in
diese Sache zu verwickeln.«
Ich glaube, er rechnete damit, dass ich wütend würde. Aber ich
wurde es nicht.
»Du hast recht, aber ich kann nicht einfach aufhören, ein Diener
des Imperators zu sein, was der Rest der Menschheit auch von mir
halten mag. Wenn ich hier etwas bewirken kann, werde ich das tun.
Ob ich erkannt werde, ist mir egal, und die offizielle Sanktion auch.«
»Ich habe doch gesagt, dass er das sagt«, grinste Medea Aemos an.
»Ja, das hast du. Das hat sie«, sagte er wieder zu mir.
»Tut mir leid, dass ich so berechenbar bin.«
»Moralische Konstanz ist nichts, wofür man sich entschuldigen
muss«, sagte Aemos.
Ich nahm die Papierrolle aus dem Annex und zeigte sie meinem
alten Gelehrten.
»Was hältst du davon?« Ich erzählte ihm, was im Allerheiligsten
des Maschinengottes passiert war.
Er studierte das wellige Papier ein paar Minuten und blätterte
dabei hin und her.
»Dieser Maschinencode enthält Elemente, die ich nicht entziffern
kann. Sie enthalten eine Verschlüsselung der Adeptus. Aber … nun
ja, sieh dir die Leerstellen an. Das hier sind die Aufzeichnungen von
regulären Sendungen außerhalb des Grubenzentrums. Alle … sechs
Stunden, auf die Sekunde.«
»Und die untätigen Systeme erwachen in dem Moment zum
Leben, wenn eine Sendung ankommt?«
»Um sie aufzuzeichnen, ja. Wie lange waren die Maschinen
aktiv?«
Ich schüttelte den Kopf. »Zwei, vielleicht zweieinhalb Minuten.«
»Zwei Minuten und achtundvierzig Sekunden?«, fragte er.
»Könnte sein.«
Er fuhr mit dem Finger eine Überschriftszeile über der letzten
Sendung entlang. »Genau so lange hat die letzte Sendung gedauert.«
»Also ist jemand da draußen? Irgendwo auf Cinchare und schickt
den Adeptus alle sechs Stunden eine Nachricht?«
»Nicht jemand … es ist Bure. Das ist die Adeptus-Codeform für
seinen Namen.« Aemos blätterte zurück und studierte die ältesten,
vergilbten Blätter. »Er sendet seit… elf Wochen.«
»Was sagt er?«
»Ich habe keine Ahnung. Der Haupttext ist zu stark verschlüsselt.
Mechanilingus-A oder C oder vielleicht eine moderne Revision einer
der hexadezimalen Servitor-Sprachen. Möglicherweise Impuls-
Analog Version neun. Ich kann …«
»Du kannst es nicht lesen. Das reicht mir.«
»Schön. Aber ich weiß, wo er ist.«
Ich stutzte. »Tatsächlich?«
Aemos lächelte und richtete seine schwere augmetische Sehhilfe.
»Nicht direkt. Ich weiß nicht genau, wo er ist. Aber ich kann ihn
finden.«
»Wie?«
Er zeigte auf einen vertikalen Abschnitt mit bunten Streifen, der
bei jeder Sendung an der Seite entlanglief. »Jede Sendung wird
routinemäßig von einem spektrografischen Bericht über den Standort
des Senders begleitet. Diese Farben sind eine verdichtete Darstellung
von Art, Mischung und Dichte des ihn umgebenden Gesteins, wie ein
Fingerabdruck. Mit guten geologischen Karten von Cinchare und
einem geologischen Auspex kann ich ihn aufspüren.«
Ich lächelte. »Ich wusste doch, dass es einen guten Grund gibt,
dich bei mir zu haben.«
»Also suchen wir ihn?«, fragte Medea.
»Ja, wir suchen ihn. Wir brauchen ein Gefährt. Vielleicht eine
Schürfkapsel. Kommst du damit zurecht?«
»Kinderspiel. Woher nehmen wir die?«
»Imperale Minerale hat einen ganzen Exkursionspark voll davon«,
sagte Aemos. »Ich habe einen schematischen Plan der gesamten
Anlage an einer Wand gesehen.« Ich hatte genau denselben Plan
gesehen, mir aber solche Einzelheiten nicht eingeprägt. Es erinnerte
mich an Aemos' außergewöhnliches fotografisches Gedächtnis.
»Was ist mit den Karten und dem Auspex. Brauchst du die
nicht?«, fragte Medea.
»Jedes Schürfgefährt hat geologische oder mineralogische
Abtaster an Bord«, sagte Aemos. »Das reicht. Aber eine detaillierte
Karte vielleicht nicht. Wir sollten besser dafür sorgen, dass wir eine
haben, bevor wir aufbrechen.«
Er setzte sich auf sein Bett und machte sich an den Einstellungen
seiner am Handgelenk befestigten Datentafel zu schaffen.
»Was machst du?«, fragte ich, während ich mich zu ihm setzte.
»Ich lade eine Karte vom Cogitorum der Sicherheitsstation auf
meine Datentafel.«
»Das kannst du?«, fragte Medea.
»Es ist ganz einfach. Trotz der Gravitationsschwankungen hat der
Kom meiner Tafel genügend Reichweite, um mit dem Codifizierer
der Sicherheitsstation zu kommunizieren. Ich kann eine Textbrücke
herstellen und ihn bitten, mir die Karten zu senden.«
»Ja, ja, aber kannst du das auch, ohne den Benutzercode des
Systems zu kennen?«, fragte Medea.
»Nein«, sagte Aemos. »Aber glücklicherweise kenne ich ihn.«
»Wie das?«
»Er stand auf einem Zettel, der an das zentrale Kontrollpult
geklebt war. Habt ihr ihn nicht gesehen?«
Medea und ich schüttelten den Kopf und lächelten. Während er bei
Kaleil gesessen und fünftklassigen Amasec geschlürft hatte, war es
Aemos gelungen, sich jede Einzelheit des Raums einzuprägen.
»Eine Frage«, sagte Medea. »Wir wissen nicht, was hier vorgeht,
aber wahrscheinlich können wir davon ausgehen, dass euer Freund
kein Freund von Kaleil und dessen Kumpane ist. Wenn wir ihn damit
finden können, warum dann nicht auch sie?«
»Ich glaube, nicht einmal ein erfahrener Grubenarbeiter würde aus
diesen spektroskopischen Analysen schlau. Sie sind in einem Code
der Adeptus abgefasst«, sagte Aemos stolz.
»Es ist viel einfacher. Sie haben die Ausdrucke nicht gefunden«,
sagte ich. »Der Annex war vollkommen eingestaubt und unberührt.
Ich glaube nicht, dass Kaleil und seine Leute im Annex waren. Die
Furcht vor den Adeptus ist ein starker Hinderungsgrund. Sie wissen
nicht, was wir wissen.«
In der Nacht kamen sie, um uns zu töten.
Nachdem Aemos sich die Karten — und noch ein paar andere
Dateien — auf seine Tafel kopiert hatte, beschlossen wir, vor
unserem Aufbruch noch ein paar Stunden zu schlafen.
Ich hatte etwa eine Stunde geschlummert, als ich im Dunkeln
erwachte und feststellte, dass mir Medeas Finger über die Wange
strichen.
Kaum rührte ich mich, drückte sie mir die Lippen fest zu.
»Gespenster, invasiv, Spiralranke«, flüsterte sie.
Meine Augen gewöhnten sich an das Dämmerlicht. Aemos
schnarchte.
Ich stand auf und hörte, was Medea gehört hatte: das Knarren der
Treppe draußen vor dem Ruheraum. Medea schlüpfte in ihren
Fluganzug, hielt ihren Nadler dabei aber auf die Tür gerichtet.
Ich zog meine Laserpistole aus dem Halfter am Boden, dann
beugte ich mich über Aemos und hielt ihm eine Hand auf den Mund.
Er schlug die Augen auf.
»Schnarch weiter, aber mach dich dabei fertig«, flüsterte ich ihm
ins Ohr.
Aemos kam mühsam hoch und sammelte sein Gewand und seinen
Stock ein, wobei er weiter Schnarchlaute von sich gab.
Ich hatte mich bis auf das Unterhemd entkleidet. Jacke und
Bewegungsmelder lagen auf dem Boden am Fußende des Bettes. Es
blieb keine Zeit mehr, danach zu greifen.
Jemand trat die Tür ein. Die leuchtend blauen Strahlen zweier
Laserzielgeräte stachen in den Ruheraum, und ein kurzer Feuerstoß
aus einem Karabiner pustete Löcher in mein leeres Bett und wirbelte
Füllstoff aus den Wunden in der Matratze auf.
Medea und ich erwiderten das Feuer und gaben gemeinsam
vielleicht ein Dutzend Schüsse auf die Tür ab.
Zwei dunkle Gestalten wurden zurückgeschleudert. Jemand schrie
vor Schmerzen.
Aus Höhe der Promenade krachten Schüsse durch die Fenster und
sprengten eines in einem Regen von Glassplittern aus der Halterung.
Zerfetzte Rollo-Stäbe klirrten und bebten unter den Einschlägen.
»Zurück!«, rief ich, während ich zwei Schüsse auf eine Gestalt in
der Tür abgab. Als Antwort zischten drei Laserstrahlen an meinem
Kopf vorbei.
Doch hinter uns flutete plötzlich Licht in den Raum, als eine
Hintertür aufflog. Medea fuhr herum, geschmeidig und langgliedrig,
und zerschmetterte das Gesicht des ersten Eindringlings mit einem
hoch angesetzten Tritt, der diesen zurücktaumeln ließ.
Gestalten stürmten durch die Türen vor und hinter uns. Ich
erschoss zwei, wurde dann aber von zwei weiteren auf den Rücken
geworfen, die sich alle Mühe gaben, mir die Laserpistole aus der
Hand zu reißen. Ich rammte einem das Knie zwischen die Beine und
schoss ihm dann in den Hals, als er zurücktaumelte.
Der andere hatte die Hände um meine Kehle gelegt.
Ich stieß mit meinem Geist direkt in seinen und löste eine massive
Hirnblutung aus, die seine Augäpfel platzen und ihn erschlaffen ließ.
Der Gestank nach Blut, Kordit und den ungewaschenen Leibern
der Grubenarbeiter war durchdringend. Medea tänzelte zurück und
knallte einem anderen Angreifer den Unterarm ins Gesicht, worauf
der Mann ächzend zurückstolperte.
Sie spannte sich und landete einen Sprungtritt mit solcher Wucht,
dass er durch das Fenster geschleudert wurde.
Ein anderer griff sie von hinten an. Ich sah eine Messerklinge in
der Dunkelheit aufblitzen.
Aemos, langsam, aber stetig, fuhr herum und brach dem Mann mit
einem einzigen Schlag das Genick. Eine andere Sache, die man bei
meinem alten Gelehrten leicht unterschätzte, war die unmenschliche
Kraft, die ihm das augmetische Exoskelett verlieh.
Ein paar Schüsse ertönten, und dann das speiende Geräusch von
Medeas Nadler.
Ich krümmte den Rücken und sprang gerade rechtzeitig auf, um
einen Mann mit einer Schrotflinte zu erschießen, der durch die Tür
stürmte.
Stille. Wallender Rauch.
Unten auf dem Platz schrien Stimmen durcheinander.
»Nehmt Eure Sachen!«, befahl ich. »Wir verschwinden sofort!«

Halb angezogen und mit dem Rest unserer Ausrüstung auf der
Schulter eilten wir zur Hintertreppe. Der Leichnam eines von Medea
erschossenen Grubenarbeiters lag zusammengekrümmt auf den
Stufen unterhalb des ersten Absatzes. Die Vorderseite seines Ortog-
Prometheum-Arbeitsanzugs war mit Blut getränkt.
An der Seite seines extrem verdrehten Halses war ein leuchtend
rotes Geburtsmal.
»Ein Bekannter?«, fragte Aemos.
In der Tat.
»Hatte dieser Widerling Bandelbi nicht auch so ein Geburtsmal?«,
fragte Medea. »Auf jeden Fall«, erwiderte ich.

Unser Weg führte durch eine Reihe von Lagerräumen, in die wir
einbrachen, und endete in einer Gasse hinter den an die Wohlfahrt
angrenzenden Geschäften. Ein blondhaariger Grubenarbeiter, der als
Wachposten für den Hinterhalt zurückgelassen worden war, drehte
sich bei unserem Auftauchen überrascht um und tastete nach der
Schrotflinte, die er an einem Lederriemen über der Schulter trug.
Fallen lassen und herkommen!, setzte ich meine Kraft gegen ihn
ein.
Er ließ die Waffe fallen und trottete zu uns. Seine Augen waren
glasig und schauten verwirrt drein.
Zeig mir deinen Hals!, fuhr ich fort.
Er schob mit einer Hand die zerzausten Haare in die Höhe und mit
der anderen den Kragen seines Arbeitsanzugs herunter. Das
Geburtsmal war da, mitten im Nacken.
»Wir haben keine Zeit dafür!«, sagte Aemos.
Schnelle Schritte hallten durch das Gebäude hinter uns, und wir
hörten Schreie und Flüche.
»Woher hast du dieses Mal?«, drängte ich den Blondhaarigen.
»Kaleil hat es mir verpasst«, sagte er schlaff. Was bedeutet es?
Durch meine unbestreitbare Willenskraft getrieben, versuchte er
etwas zu sagen, das ihm der Rest seines Verstandes und seiner Seele
einfach verbat. Es klang wie »Lith«, aber es ließ sich unmöglich mit
Sicherheit sagen, da ihn die Anstrengung tötete.
»Verdammt, Gregor! Wir müssen gehen!«, tobte Aemos.
Wie um ihn zu bestätigen, platzten zwei Grubenarbeiter mit
Autogewehren durch die Tür, durch die wir gekommen waren.
Medea und ich fuhren gleichzeitig herum und erledigten beide mit
jeweils einem Schuss.

Aemos' unfehlbares Gedächtnis führte uns durch die gewundenen


Substraßen von Cinchare Grubenzentrum zum massiven dunklen
Klotz von Imperale Minerale. Hinter uns ertönte Geschrei und
Getöse, in das sich das Jaulen elektrischer Buggies mischte.
Wir liefen über die breite metallene Zugbrücke der Fabrik, durch
ein Wachhaus aus Beton, das mit Stacheldraht behangen war, und
weiter durch die hallende Eingangshalle.
Schritte folgten uns.
Das Exkursionsterminal war ein halbkreisförmiger Hangar aus
Wellblech mit Blick auf die Einmündung der Hauptgrube. Sechs
Schürfkapseln befanden sich auf öligen Rampen unter dem
Hangardach. Es handelte sich um tropfenförmige Maschinen, die in
den Farben von Imperiale Minerale silbern und khaki lackiert waren.
Unter der Kanzel war bei jeder eine Reihe von Flutlichtern und
Scheinwerfern angebracht, und unter dem Kinn befanden sich
mehrere große Servo-Arme und Kom-Schüsseln.
»Die da!«, rief Medea, während sie zur dritten in der Reihe
einschwenkte. Sie versuchte immer noch, den Reißverschluss ihres
Fluganzugs richtig zu schließen. Ich trug meine Jacke und den
Bewegungsmelder unter dem Arm. Es war keine Zeit geblieben,
stehen zu bleiben und sich anzuziehen.
»Warum diese?«, rief ich, als ich ihr folgte.
»Die Versorgungsschläuche sind noch befestigt, und die Lampen
darüber zeigen alle grün! Mach sie los!«
Ich warf Aemos meine Sachen zu, der hinter Medea durch das
kleine Seitenluk einstieg, und lief zu der Stelle, wo drei dicke
Schläuche in der Multidose in der Flanke der Kapsel steckten. Wie
Medea bereits bemerkt hatte, zeigten alle Anzeigelichter über der
Dose grün.
Ich drehte an den Muffen und zog einen nach dem anderen heraus.
Der letzte wollte nicht so recht, und es bedurfte eines Augenblicks
roher Gewalt.
Laserstrahlen trafen den Rumpf neben mir.
Ich riss den Schlauch heraus, fuhr herum und schoss durch das
Hangarterminal. Die Schubdüsen der Kapsel fingen an zu husten und
zu pfeifen, als Medea die Kapsel startete.
Kugeln und Laserstrahlen schlugen mir entgegen. Ich rannte zum
Luk und stieg ein. Medea saß in der engen Kanzel hinter dem
Steuerknüppel.
»Los!«, rief ich, während ich das Luk zuschlug.
»Mach schon! Mach schon!«, verfluchte Medea die Steuerung der
Kapsel. Die überlasteten Triebwerke jaulten schmerzhaft.
»Rampenklammern!«, ächzte Aemos verzweifelt.
Als sie ihren Fehler erkannte, fluchte Medea lautstark, nahm ein
wenig Schub weg und legte einen fettigen gelben Hebel am rechten
Bullauge um. Ein lautes Scheppern ertönte, als sich die
Sicherungsklammer löste, welche die Kapsel festgehalten hatte.
»Verzeihung«, grinste sie.
Befreit hob die Kapsel ab, schwenkte von Laserstrahlen verfolgt
nach rechts und beschleunigte dann in die lichtlose Einmündung der
Grube hinein.

Der obere Teil des Grubennetzes von Imperiale Minerale bestand


aus riesigen Höhlungen, die durch Beton verstärkt und mit
verlassenen Ausschachtungsmaschinen gefüllt waren. Medea
schaltete die Scheinwerfer der Kapsel ein und beleuchtete unseren
Weg mit harten Strahlen aus weißem Licht. Am Ende des verstärkten
Abschnitts erfassten die Scheinwerfer eine jähe, breite Böschung, wo
die beinahe horizontalen Einschnitte in die Tiefe absackten. Eine
verfallene Seilbahn mit verdreckten Erzloren führte ebenso in die
Tiefe wie eine Zahnradbahn für den Transport der
Arbeitsmannschaften in die tieferen Bereiche.
Aemos saß hinter uns in der kleinen Kabine der Kapsel und
betrachtete die Karten, die er sich aus der Sicherheitsstation beschafft
hatte. »Weiter nach unten«, sagte er nur.
Der steile Zugangsschacht führte etwa eineinhalb Kilometer
abwärts, wobei er gelegentlich abflachte und sich zu Arbeitssohlen
verbreiterte, von denen Seitenstollen abzweigten. Der Blick durch
die Frontscheibe schien ein Schwarzweißbild zu zeigen: Das grelle
weiße Licht durchbohrte die Schwärze und enthüllte nur blassen
grauen Staub und Fels sowie das gelegentliche Funkeln von Drusen.
Medea wurde langsamer, als wir ausgedehntere Abraumhalden
passierten, und manövrierte dann Aemos' Anweisungen gemäß über
einen fast vertikal verlaufenden Schacht. Dabei handelte es sich um
eine natürliche Ausbildung, vermutlich eine alte Lavaröhre. Wir
sanken langsam hinein. Die Wände waren mit Sinter verkrustet wie
mit kalkweißen Teppichen, und vulkanisches Glas bildete darauf
Auswüchse wie Federbüschel. Der Platz war knapp, auch für eine so
kompakte Kapsel wie die, welche wir geborgt hatten. Ab und zu
berührte Medea einen der gläsernen Auswüchse, und dann fielen die
Bruchstücke lautlos und glitzernd in die Tiefe unter uns.
In ungefähr zwei Kilometern Tiefe verbreiterte sich der Schacht zu
einer komplexen Reihe abgerundeter Röhren, Sub-Kavernen und
Senkgruben. Es war, als gleite man aus einer Speiseröhre in die
komplizierteren Kammern eines Verdauungstrakts. Der Sinter wies
hier mehr Farbe auf: stählerne Blautöne mit milchigen
Kalkspatverwirbelungen, scheckige Rottöne, in denen Oolithen
glitzerten. Harte schwarze Druse und anderes Trümmergestein
bedeckte die geglätteten Falten des uralten Bodens.
Medea lenkte meine Aufmerksamkeit auf den kleinen Auspex
unter der petrografischen Hauptsonde. Der Schirm zeigte eine
praktisch nicht entzifferbare schematische Darstellung geisterhafter
Gesteinsschichten und ihrer Dichten. Im oberen Quadranten waren
deutlich drei leuchtend gelbe Punkte zu sehen.
»Sie verfolgen uns«, sagte sie.
»Sie scheinen zu wissen, wo wir uns befinden. Wie orten sie uns?«
»So wie wir sie. Schließlich haben wir sie auch auf dem Schirm.«
»Sind die Ortungsgeräte in diesen Kisten so gut?«
Medea schüttelte den Kopf. »Sie reichen für die unmittelbare
Umgebung, aber ihre Empfindlichkeit reicht nicht annähernd aus, um
das Gestein zu durchdringen.«
»Also?«
»Ich glaube, dass diese Schürfkapseln alle ein starkes Peilsignal
aussenden. Der Sender ist vermutlich in dem Flugaufzeichner
eingebaut. So etwas würde man für Routinesuchen und
Bergungsarbeiten brauchen.«
»Ich sehe mal nach.«
Ich schwang mich aus meinem Sitz und ging gebeugt durch die
Kapsel nach hinten, indem ich mich an den Deckengriffen festhielt,
um das Gleichgewicht zu halten. Aemos war noch bei der Arbeit. Er
hatte das mineralogische Auspex der Kapsel eingeschaltet und suchte
die spektografischen Fingerabdrücke, die auf den Sendungen der
Adeptus Mechanicus auftauchten. Er brauchte nicht einmal mehr auf
die Ausdrucke zu schauen, sondern hatte sich die komplexen
Feinheiten der farbigen Streifen längst eingeprägt.
Alle paar Minuten konsultierte er die Hauptkarte und forderte
Medea zu einer Kurskorrektur auf. Im Heck der Kapsel, zwischen
Gestellen mit alten Atemmasken mit porösen Gummidichtungen,
fand ich einen kleinen Kriechgang in den Maschinenraum.
Ich schob Kopf und Schultern hinein und leuchtete mit einer
Grubenlampe hinein, die ich von einer der Atemmasken entfernt
hatte. Ein einfacher Eliminierungsprozess führte mich zu einer
dicken Metalltrommel, die an der Unterseite des
Gravitationsaggregats und dem Gehäuse für die kinästhetischen
Gyroskope angebracht war. Der Deckel war mit Reinheitssiegeln des
Adeptus Mechanicus verklebt.
Ich glitt zurück in die Kabine, holte mir einen mittleren
Plasmaschneider aus dem Bordwerkzeug der Kapsel und kroch
wieder hinein. Die heiße blaue Lanze des Schneiders löste den
Deckel schnell und verschmorte die pulsierenden Eingeweide der
Trommel.
Wieder in der Kanzel, sah ich, dass wir durch eine ausgedehnte
Kaverne sanken, die mit öligen Tropfsteinen wie mit Haken gespickt
und mit einem Firnis aus leuchtendem Engelshaar und Mondmilch
überzogen war.
»Sie machen den Eindruck, als hätten sie uns verloren«, stellte
Medea mit einem Nicken zum Auspex-Schirm fest. Sie hatte recht.
Die gelben Punkte bewegten sich nicht mehr mit der ursprünglichen
Zielstrebigkeit. Sie kreisten in dem Versuch, unser Signal
wiederzufinden.

Wir flogen noch zwei weitere Stunden durch kleine glitzernde


Höhlen, über riesige flache Meere aus Kieselsäure und Lapilli und
zwischen gewaltigen Stalaktiten durch, die Tunnel zerbissen wie die
Reißzähne urtümlicher Ungeheuer. Sickergruben mit brackigen
Laugen und der aus Fumarolen quellende Rauch verrieten, dass es
jetzt eine rudimentäre Atmosphäre gab: Methan, Schwefel, Radon
und hier und da Blasen aus Kohlenmonoxid. Hier, tief unter der
Erde, sammelten sich die Abluft aus Cinchares aktivem Herzen und
die gasförmigen Produkte chemischer und gravo-chemischer Re-
aktionen, von wo sie nur langsam an die luftlose Oberfläche stiegen.
Die Rumpftemperatur stieg. Wir waren jetzt fünfzehn Kilometer tief
und spürten langsam die Auswirkungen der Astenosphäre.
»Was ist das?«, sagte Medea plötzlich.
Sie bremste die Kapsel ab, schwang sie herum und ließ den
Scheinwerferkegel wandern. Wir befanden uns in einer Gypnat-
Kammer, wo der mit Kieselerde bedeckte Boden von mehreren
Rinnen durchzogen war, die Äonen zuvor Wasser gebildet hatte.
Mehrere Seitenkanäle führten in enge Stollen oder waren auf der
Karte als kaum zwanzig Meter weit reichende Sackgassen
verzeichnet.
»Was hast du gesehen?«, fragte ich.
»Da!«
Das Scheinwerferlicht rahmte ein schwarzes Objekt ein, das ich im
ersten Moment für einen unregelmäßigen Haufen aus Felsbrocken
und Stalagmitenbuckeln hielt. Doch Medea brachte uns näher heran.
Es war eine Schürfkapsel wie unsere, aber mit dem Wappen von
Ortog Prometheum. Sie war verbeult und geborsten wie eine alte
Dose, und die Streben der Kabine ragten wie Rippen aus dem
Metallrumpf.
»Imperator…«, murmelte Medea.
»Bergbau ist gefährlich«, sagte ich.
»Das ist erst kürzlich passiert«, sagte Aemos, der neben uns
auftauchte. »Seht euch die Tephra an.«
»Die was?«, fragte Medea.
»Das ist eine generische Bezeichnung für pyroklastisches
Material. Der Staub und der Schiefer, auf dem das Wrack liegt. Lass
das Licht wandern. Da. Die Tephra ist überall gelblich-weiß vom
Gypnat, aber unter dem Wrack verbrannt und geschmolzen. Minera-
lischer Rauch von den Fumarolen, die wir gerade passiert haben,
kommt gerade erst wieder hierher und bedeckt alles mit oxidiertem
Staub. Ich wette, wenn es schon länger als ein Monat hier läge,
würde der Staub die Brandspuren längst verdecken … und das
Wrack überziehen.
»Öffne das Luk«, sagte ich.
Die unterirdische Atmosphäre schien glühend heiß zu sein, und ich
fing in dem Moment an zu schwitzen, als ich durch die Luke stieg.
Ich konnte nichts hören außer meinem in der Maske rasselnden
Atem. Ich ging herum zum Bug der schwebenden Kapsel, trat ins
Scheinwerferlicht und sah Aemos und Medea in der beleuchteten
Kanzel, selbst beide hinter Atemmasken verborgen.
Ich winkte einmal und ging dann weiter, wobei meine
Stiefelspitzen ab und zu gegen Geoden stießen, die glitzernd
davonrollten.
Die Einschusslöcher in der Kapsel waren unverkennbar. Längeres
Feuer aus mehreren Lasern hatte die Kapsel förmlich aufgeschnitten.
Ich leuchtete mit meiner Handlampe durch die Risse und sah eine
geschwärzte, ausgebrannte Kabine.
Die drei Besatzungsmitglieder waren noch darin, auf ihrem
Posten, durch die saure Luft zu Mumien mit grimmig verzerrten
Mienen gemacht und durch hunderte gleißender weißer Würmer, die
sich wanden und eingruben, als mein Lichtstrahl sie traf. Es war klar,
dass Cinchare mit seinem heißen, feuchten, von Gasen erfüllten
Inneren weit davon entfernt war, eine tote Welt zu sein.
Mehr Troglodytenwesen huschten und wanden sich um meine
Füße. Langbeinige metallische Käfer und aufgeblähte, gelee-artige
Mollusken wurden alle von dieser unerwarteten Quelle reichhaltiger
Nährstoffe angelockt.
Etwas bewegte sich neben mir und prallte gegen meine linke
Hüfte. Ich schlug schwer gegen den geborstenen Rumpf und
verfluchte mich im Stillen dafür, dass ich meinen Bewegungsmelder
nicht mitgenommen hatte. Ich verspürte einen stechenden Schmerz
im linken Oberschenkel. Mit einem durch die Maske gedämpften
Fluch trat ich heftig zu.
Es war ungefähr so groß wie ein großer Hund, aber länger und
niedriger, und bewegte sich auf schlanken Hinterbeinen. Die Haut
war beinahe silbern, und der augenlose Kopf bestand nur aus zwei
riesigen Kiefern voller transparenter Reißzähne. Rings um das Maul
zuckten und kräuselten sich lange sensorische Borsten und Ranken.
Es sprang noch einmal, den dünnen steifen Schwanz wie zur
Balance hoch aufgerichtet. Dieses Ding, nahm ich an, stand in
Cinchares lichtlosen Höhlen an der Spitze der Nahrungskette. Zu
groß, um sich in das Wrack zu zwängen und an die Leichen zu
kommen, hatte es hier draußen gelauert und sich von den Aas-
würmern und Mollusken genährt, die sich um die Absturzstelle
versammelt hatten.
Mit einer Drehung seines Kopfes schloss es die Kiefer um meinen
linken Knöchel. Ich spürte, wie die spitzen Zähne durch das dicke
Stiefelleder bissen.
Es gelang mir, die Schrotflinte aus der Scheide auf meinem
Rücken zu ziehen, und ich feuerte aus nächster Nähe auf den Rumpf.
Zähes Gewebe und klebriges Fleisch spritzte in alle Richtungen, und
das Ding fiel um. Bis ich die Kiefer mit dem Messer von meinem
Stiefel entfernt hatte, waren die Aasfresser bereits über ihn
hergefallen und fraßen.

Wir flogen weiter und folgten einem zerfurchten Stollen in eine


Kaverne, die auf atemberaubende Weise mit Glasseide und
Milliarden Höhlenperlen gefüllt war.
»Hier unten haben Kämpfe stattgefunden«, sagte ich mit erhobener
Stimme zu Aemos und Medea, um die Geräusche des Abpumpens
von Cinchares Gasresten und des Einströmens frisch aufbereiteter
Luft zu übertönen.
»Wer kämpft gegen wen?«
Ich zuckte die Achseln und lehnte mich zurück, um mir einen der
abgebrochenen Reißzähne des Raubtiers aus dem Stiefel zu ziehen.
»Nun«, sagte Aemos, »es wird dich interessieren zu erfahren, dass
die Kaverne mit dem Wrack darin einer der spektroskopischen
Spuren der Mechanicus-Sendungen entsprach.«
»Wie lange liegt diese Sendung zurück?« »Ungefähr zwei
Wochen.«
»Also … könnte Bure der Schütze gewesen sein.«
»Bure … oder wer sonst etwas zum Annex sendet.«
»Aber warum würde er eine Schürfkapsel abschießen?«, fragte ich
mich laut.
»Das hängt davon ab, was die Schürfkapsel mit ihm anstellen
wollte«, sagte Medea.
Aemos hob seine buschigen Augenbrauen. »Äußerst bestürzend.«

Weitere drei Stunden, weitere zwei Kilometer tiefer. Es war


verdammt heiß, und draußen wirbelten Dämpfe und Gase.
Fumarolen, manche groß, manche in schäbigen Haufen, bliesen
schwarzen Rauch in die Höhlen. In manchen Gegenden bildeten sie
regelrechte Honigwaben. Mehrere Kavernen und Gruben
beheimateten leuchtende saure Seen, wo die Geothermalen das Was-
ser beständig am Kochen hielten. In Spalten und gelegentlichen
Gruben war das rote Licht von Lavaströmen und asthenosphärischen
Kesseln aus geschmolzenem Gestein zu sehen.
Wir brauchten die Lampen nicht mehr. Die Höhlensysteme
wurden von Strömen glühenden Magmas, brennenden Seen aus Pech
und Prometheum sowie dichten, klebrigen Vorhängen und Bänken
aus selbstleuchtenden Pilzen erhellt, die in der feuchten Hitze
gediehen. Die Luftreiniger der Kapsel konnten den Schwefelgeruch
nicht mehr draußen halten, und das Kühlsystem war unzureichend.
Wir schwitzten alle ebenso wie die Innenwände der Kabine.
Kondenswasser tropfte am blanken Metall der Innenhaut des Rump-
fes herunter.
»Anhalten, bitte«, sagte Aemos.
Medea nahm den Schub weg und ließ uns langsam über einem
brodelnden Lavasee treiben, der unter seiner schwarzen Kruste einen
fast neonhellen Schein ausstrahlte.
Aemos verglich die Karte mit der spektroskopischen Anzeige, die
vom mineralogischen Abtaster auf den kleinen Anzeigeschirm in der
Kabinenbucht projiziert wurde.
»Hier ist es. Von hier aus wurde die letzte Sendung abgeschickt.«
»Bist du sicher?«, fragte ich.
Er bedachte mich mit einem vernichtenden Blick. »Natürlich.«
»Dreh uns langsam im Kreis«, sagte ich zu Medea. Wir reckten
den Hals in dem Versuch, durch die Fontscheibe der Kapsel zu
schauen, und ließen die Scheinwerfer rauf und runter wandern, um
aus den klar umrissenen Schatten auf den Kavernenwänden schlau
werden.
»Was sind das da für Tunnel?«
»Das Auspex sagt, dass sie in einigen hundert Metern enden. Gott-
Imperator, da draußen sieht es ziemlich urtümlich aus!« Medea
wischte sich den Schweiß aus den Augen.
»Was ist das da im Schweinwerferlicht?«
Aemos schaute auf die Stelle, auf die ich zeigte. »Amygdulen«,
sagte er. »Höhlungen, die mit Quarzen oder anderen Sekundär-
Mineralien gefüllt sind.«
»Schön«, sagte Medea, während sie ihre Wasserflasche öffnete.
»Da du ja alles weißt… was ist das?«
»Tja, ich … äußerst bestürzend.«
Es war ein Loch in der Felswand, perfekt gerundet, dreißig Meter
im Durchmesser.
»Geh näher heran«, sagte ich. »Das ist nicht natürlich entstanden.
Es ist zu … präzise.«
»Was bohrt so ein Loch?«, murmelte Medea, die uns langsam
hinbrachte.
»Ein industrieller Gesteinsbohrer könnte …«
»So tief unten? So weit von jeder Infrastruktur entfernt?«, fiel ich
Aemos ins Wort. »Sieh dich doch um. In dieser Tiefe können nur
versiegelte Einheiten wie diese Kapsel funktionieren und operieren.«
»Gerade noch«, fügte Medea unheilvoll hinzu. Sie behielt die
Statusanzeigen beständig im Auge. Gelbe Runen schalteten sich ein
und aus.
»Es ist tief«, sagte ich. Ich betrachtete die Anzeige für das vordere
Auspex. »Reicht so weit wie unsere Geräte und behält Form und
Größe bei.«
»Aber der Tunnel führt durch glühendheißes Gestein … durch die
Seite eines vierzig Kilometer durchmessenden Batholithen! Das ist
solides Anthragat!« In Aemos' spröder alter Stimme lag ein Unterton
der Verwirrung.
»Ich habe Beben«, sagte Medea plötzlich. Die Nadeln auf dem
abrollenden Papier des Seismografen kratzten seit einer guten Stunde
hin und her, so stark war die Hintergrund-Instabilität in dieser Tiefe.
Doch jetzt sprangen sie wild vor und zurück.
»Es gibt kein Muster«, sagte Aemos. »Das ist nicht tektonisch. Es
ist zu regelmäßig … beinahe mechanisch.«
Ich hielt kurz inne und überdachte unsere Möglichkeiten. »Bring
uns in den Schacht«, sagte ich.
Medea sah mich an, als hoffe sie, sich verhört zu haben.
»Mach schon.«

Der Schacht war so perfekt kreisrund, dass es beängstigend war.


Während wir abwärts rasten, konnten wir sehen, dass die Innenseite
des Tunnels verschmolzen war wie Sinter und Strahlenmuster aus
Furchen hineingefräst waren.
»Das stammt von einem Plasmaschneider«, sagte Aemos. »Und
was ihn bewegt, hat diese Eindrücke im Fels hinterlassen, bevor er
sich wieder abgekühlt und verhärtet hat.«
Der Tunnel veränderte gelegentlich die Richtung, behielt aber
seine Form bei. Die Kurven waren langgezogen, aber Medea nahm
sie sehr vorsichtig. Der Seismograf überschlug sich immer noch.
Ich nahm eine Holofeder und schrieb etwas auf die Rückseite einer
Karte.
»Kannst du das in einfachen Maschinencode übersetzen?«, fragte
ich Aemos.
Er warf einen Blick darauf. »Hmmm … ›Vade elquum alatoratha
semptus‹ … du hast ein gutes Gedächtnis.«
»Kannst du es?«
»Natürlich.«
»Was ist das?«, fragte Medea. »Irgendeine Zauberei?«
»Nein«, lächelte ich, während sich Aemos an die Arbeit machte.
»Es ist wie Glossia. Eine private Sprache, die seit langer Zeit nicht
mehr benutzt wurde.«
»Fertig«, sagte Aemos.
»Füttere das Kom damit und schalte ihn auf ständige
Wiederholung«, sagte ich.
»Ich hoffe, das funktioniert«, sagte Aemos. »Ich hoffe, du hast
recht.«
»Ich auch«, sagte ich.
Instrumente meldeten sich mit akustischem Ping. »Wir nähern uns
dem Ende des Bohrlochs!«, rief Medea. »Noch ein Kilometer, dann
erreichen wir eine riesige Höhlung!«
»Schick das Signal los!«, drängte ich meinen ältlichen Gelehrten.

Wir stießen darauf, fast bevor wir bereit waren. Eine gewaltige
Röhre aus Maschinenmetall mit einem Durchmesser von dreißig und
einer Länge von siebzig Metern, einer riesigen Plasma-
Schneideschraube am vorderen Ende und Reihen krallenartiger
Antriebsräder, die sich an den Flanken entlangbewegten wie die
aktiven Zähne eines gigantischen Kettenschwerts. Es hatte den
Tunnel verlassen und bewegte sich über den klastischen Silt des
Höhlebodens weg von uns, während es dicke Wolken aus
verdampftem Gestein und Dampf hinter sich ausspie.
»Imperator beschütze mich! Ist das riesig!«, rief Aemos. »Was im
Namen des Goldenen Throns ist das?«, ächzte Medea.
»Langsamer! Langsamer!«, rief ich, aber sie bremste uns bereits
wieder hinter den Leviathan.
»Ach, Scheiße!«, sagte Medea. Gepanzerte Klappen in der Flanke
des Giganten hatten sich gedreht und geöffnet, und Multi-Laser-
Batterien waren dahinter zum Vorschein gekommen, die uns aufs
Korn nahmen.
Ich nahm das Handsprechgerät des Korns. »Vade elquum
alatoratha semptus!«, brüllte ich hinein. »Vade elquum alatoratha
semptus!«
Die Waffen — die uns mit einer einzigen Salve auslöschen
konnten — feuerten nicht. Sie blieben jedoch auf uns gerichtet. Dann
öffneten sich langsam massive Schleusentore im hinteren Ende der
riesigen Maschine und gaben den Blick auf einen kleinen, hell
erleuchteten Hangar frei.
»Eine zweite Einladung wird es nicht geben!«, sagte ich zu
Medea.
Mit einem besorgten Achselzucken flog sie uns hinein.

Ich führte die beiden aus der Kapsel in die kuppeiförmige


Hangarbucht. Die Schleuse hatte sich hinter uns geschlossen, und
stechende Schwefeldämpfe sammelten sich um unsere Füße, als sie
von tuckernden Luftumwälzern aus dem Hangar gesogen wurden.
Der Hangar war ein großartiges Gebilde, spitz zulaufend, mit
Messingbeschlägen und gebürstetem Stahl.
Eine oxidrot lackierte neue Schürfkapsel stand auf der Andock-
Rampe neben derjenigen, die unser versengtes Exemplar
aufgenommen hatte. Drei andere Rampen, neu und schwarz vom
Schmieröl, waren leer. Das Licht, ein flackernder, züngelnder Schein
wurde von phosphoreszierenden Gasfasern in vergitterten
Glashauben erzeugt, die überall im Hangar verteilt waren. Eine ei-
serne Wendeltreppe mit ledergepolstertem Handlauf führte zu einer
Plattform hoch über uns.
»Das ist ein gutes Zeichen«, sagte ich. Das Bas-Relief-Rondell der
Adeptus Mechanicus war über der Innenschleuse auf der Plattform
zu sehen.
Wir fuhren alle zusammen, als lange Servitorarme aus Fächern in
den Wänden surrten. Einen Moment später waren sechs davon auf
uns gerichtet: zwei mit Auspex-Sensoren, die uns abtasteten, und vier
mit Waffen.
»Ich schlage vor, wir bewegen uns nicht«, flüsterte ich.
Die Innenschleuse schepperte und öffnete sich. Eine Gestalt mit
einer Kapuze in langen orangen Gewändern schien auf die Plattform
zu schweben. Sie hielt sich mit beiden Händen am Geländer fest und
schaute zu uns herab.
»Vade smeritus valsara esm«, grollte sie.
»Vade elquum alatoratha semptus«, erwiderte ich. »Valsarum
esoque quonda tasabae.«
Die Gestalt schlug die Kapuze zurück und enthüllte einen
mechanischen Schädel in einem ölverschmierten Chromton. Seine
linsenartigen Augen leuchteten grün. Dicke schwarze Kabel unter
dem Kinn pulsierten und das in den Hals geschraubte Sprachrohr
verkündete: »Gregor … Uber … Es ist lange her.«
NEUNZEHN
Durch Gestein gehen. Lith. Der Insasse.

»Das ist Medea Betancore«, sagte ich, als Geard Bures starker
mechanischer Griff meine Hand schließlich losließ.
»Fräulein Betancore.« Bure verbeugte sich leicht. »Die Adeptus
Mechanicus des Mars, die heiligen Diener des Maschinengottes,
bieten Ihnen Zuflucht in dieser ihrer würdigen Vorrichtung an.«
Ich wollte Medea etwas zuzischen und ihr erklären, dass sie
soeben formell begrüßt worden war, aber typischerweise war das
völlig unnötig.
Sie antwortete mit dem Maschinenfaust-Gruß der Mechanicus und
verbeugte sich zur Erwiderung. »Mögen Ihre Vorrichtungen und
Verlangen dem Gott-Imperator dienen, bis die Zeit abgelaufen ist,
Magos.«
Bure gluckste — ein unheimlicher Laut, wenn er aus einem
künstlichen Kehlkopf kam — und richtete seine grünen Augenlichter
auf mich. »Sie haben sie gut ausgebildet, Eisenhorn.«
»Ich…«
»Das hat er, Magos«, sagte Medea rasch. »Aber die Antwort habe
ich dem Studium der Göttlichen Fibel entnommen.«
»Sie haben die Fibel gelesen?«, fragte Bure.
»Sie war Grundlagenlektüre in der Flugschule auf meiner
Heimatwelt«, erwiderte sie.
»Medea hat … ein Händchen für Maschinen«, sagte Aemos. »Sie
ist unsere Pilotin.«
»Tatsächlich …« Bure ging um sie herum und streichelte
ungehindert ihren Körper mit seinen Metallfingern. Medea ließ ihm
vorübergehend seinen Willen.
»Sie ist maschinen-weise, hat aber keine augmetischen
Ergänzungen?«, fragte mich Bure.
Medea streifte ihre Handschuhe ab und zeigte ihm die
komplizierten Schaltkreise in ihren Handflächen.
»Keineswegs, Magos.«
Er nahm ihre Hände in seine und betrachtete sie in hungrigem
Staunen. Geiferartige Fäden klaren Schmieröls tröpfelten wie
Speichel durch seine Chromzähne.
»Eine Glavianerin! Ihre Verbesserungen sind … so … schön …«
»Vielen Dank, Magos.«
»Sie haben nie in Erwägung gezogen, andere Verstärkungen
zuzulassen? Gliedmaßen? Organe? Das ist sehr befreiend.«
»Ich … komme zurecht mit dem, was ich habe«, lächelte Medea.
»Davon bin ich überzeugt«, sagte Bure, um sich dann mir
zuzuwenden. »Willkommen in meinem Translithopäden, Eisenhorn.
Sie auch, Aemos, alter Freund. Ich muss zugeben, ich kann mir nicht
vorstellen, was Sie hergeführt hat. Ist es der Lith? Hat Sie die
Inquisition geschickt, um sich um den Lith zu kümmern?«
Die Nachricht von meiner Schande hatte ihn offenbar noch nicht
erreicht, und dafür war ich dankbar.
»Nein, Magos«, sagte ich. »Eine seltsamere Wendung hat uns
hergeführt.«
»Tatsächlich? Wie eigenartig. Als ich Ihr Signal zuerst empfing —
in Hapshants altem Privatcode -, konnte ich es gar nicht glauben. Ich
hätte Sie beinahe abgeschossen.«
»Ich habe es darauf ankommen lassen«, sagte ich.
»Und es hat Sie zu mir geführt, und ich bin froh darüber. Kommen
Sie, hier entlang.«
Seine silbernen Skeletthände führten uns zur Schleuse.
Bure hatte keine unteren Gliedmaßen. Er schwebte auf Antigrav-
Suspensoren, so dass der Saum seiner orangen Robe ein paar
Zentimeter über dem Plattendeck endete. Wir folgten ihm einen
langen, ovalen Niedergang entlang, der von Messing-Bullaugen und
weiteren Gasfaserlampen gesäumt wurde.
»Diese Grabmaschine ist ein Wunder«, sagte Aemos.
»Alle Maschinen sind Wunder«, erwiderte Bure. »Diese hier ist
eine Notwendigkeit, das Primärwerkzeug für meine Arbeit hier auf
Cinchare. Natürlich hat es eine Reihe nicht ganz so perfekter
Prototypen gegeben, bevor ich die notwendigen Verbesserungen
vorgenommen habe. Dieser Translithopäde wurde nach meinen
Entwürfen von den Adeptus auf Rysa angefertigt und vor drei
Standardjahren an mich ausgeliefert. Damit kann ich hier in diesem
Fels gehen, wohin ich will, und Cinchares Metallen ihre Geheimnisse
entlocken.«
Magos Bure war seit zweihundert Jahren Spezialist für
Metallurgie, und wegen seines Wissens und seiner Entdeckungen
wurde er von seinen Brüdern in der Techpriesterschaft beinahe
angebetet. Davor war er Fabrikator-Architekt in den
Titanenschmieden von Triplex Phall gewesen. Meines Wissens war
er knapp siebenhundert Jahre alt. Hapshant hatte gelegentlich
durchblicken lassen, dass Bure noch sehr viel älter war.
Kein Fetzen Fleisch des Magos war noch übrig. Die letzten
organischen Teile von Geard Bure, dem menschlichen Wesen — sein
Gehirn und seine Nervensysteme -, waren in seinem glänzenden
mechanischen Körper versiegelt. Ich hatte nie erfahren, ob dies eine
Frage der Absicht oder der Notwendigkeit war. Vielleicht hatte ihm,
wie es bei vielen der Fall ist, eine schwere Krankheit oder
Verwundung diese extreme Augmetik aufgezwungen. Oder wie
Tobius Maxilla mochte er auch absichtlich die Schwäche des
Fleisches zugunsten der maschinellen Perfektion abgelegt haben. Da
ich die technophile Disposition der Mechanicus-Priesterschaft
kannte, kam Letzteres mir wahrscheinlicher vor.
Mein verstorbener Mentor, Inquisitor Hapshant, war Magos Bure
früh in seiner Laufbahn begegnet, und zwar während der gefeierten
Mission, das STK-Lektionarium vor den Ashrams von Ullidor dem
Techschmied zu retten. Wie ich schon angemerkt habe, findet die In-
quisition — und tatsächlich praktisch jede erhabene Körperschaft des
Imperiums — den Umgang mit dem Kult Mechanicus bestenfalls
problematisch. Seine Macht ist legendär, seine Abgeschiedenheit und
Engstirnigkeit berüchtigt. Der Kult ist ein geschlossener Orden, der
die Geheimnisse seiner Technologien eifersüchtig hütet. Doch Bure
und Hapshant hatten eine zuträgliche Arbeitsbeziehung entwickelt,
die auf gegenseitiger Wertschätzung beruhte. Bei mehreren
Gelegenheiten hatte Bures spezielles Wissen meinem Mentor bei der
Lösung wichtiger Fälle geholfen, und bei mehreren anderen hatte er
sich dafür revanchiert.
Aus diesem Grund hatte ich vor einem Jahrhundert ein Objekt von
besonderer Bedeutung seinem fachkundigen Gewahrsam anvertraut.

Der Kontrollraum des keuchenden Translithopäden war eine


doppelgeschossige Kapelle, wo eine erhöhte Kommandoempore wie
eine riesige Messingkanzel zwei halbkreisförmige Reihen
geschäftiger Kontrollstationen überschaute. Die genieteten
Eisenwände waren dunkelrot lackiert und mit den verschiedenen
Aspekten und Runen des Maschinengottes graviert. Die vordere
Wand war mit langen Bahnen aus rotem Samt behangen.
Sechs ölverschmierte Servitoren arbeiteten an den ratternden
Kontrollstationen, die Hände und Gesichter über dicke Metallkabel
oder gestreifte Leitungen mit Reinheitssiegeln und
Pergamentbeschilderung direkt in die Systeme eingestöpselt.
Glasrohre und Anzeigen flackerten und leuchteten, und es roch stark
nach Ölen und geweihten Schmiermitteln.
Zwei relativ menschliche Techadepten in orangen Gewändern
beaufsichtigten die Aktivitäten. Einer war durch drei Neuraistecker
direkt mit der Verstandeseinheit des Vehikels verbunden und
murmelte laut die Riten und Schriften der Adeptus. Der andere
drehte sich um und verbeugte sich, als wir die Empore betraten.
Wo sich sein Mund hätte befinden sollen, hatte er eine
Lautsprechereinheit aus Drahtgeflecht. Als er redete, tat er dies in
binärem Maschinencode.
Bure antwortete ebenso, und ein paar Sekunden tauschten sie
komprimierte Datensätze. Dann schwebte Bure zu einem
Messingpult im Geländer der Empore und öffnete sein Gewand.
Zwei sondierende Neuralkabel ragten aus seinem metallenen
Brustbein wie Saugwürmer auf der Suche nach Beute und verbanden
sich rasch mit den polierten Dosen im Pult.
Bure war jetzt ebenfalls mit der Verstandeseinheit des
Translithopäden verbunden.
»Wir kommen gut voran«, sagte er zu uns. Er zuckte, und die
Samtvorhänge am anderen Ende des Raums zogen sich automatisch
beiseite und gaben den Blick auf eine große holografische Anzeige
frei. Sekundärbilder überlagerten das primäre und zeigten
dreidimensionale Karten und Korrelationstabellen für Energie und
Geschwindigkeit. Das Primärbild war nur ein dunkles ver-
schwommenes Dahinrauschen, durch das blaue Energie knisterte.
Ich sah nach vorn. Der Fels löste sich förmlich auf; die
Zerstörungskraft der Plasmaschraube war ehrfurchtgebietend. Wir
bewegten uns geradewegs durch solides Felsgestein.
»Vielleicht ist es an der Zeit zu besprechen, was hier eigentlich
vorgeht«, sagte ich. »Wir jagen«, sagte Bure.
»Sie jagen seit langer Zeit, Magos«, sagte Aemos. »Seit elf
Wochen. Was jagen Sie?«
»Und warum ist Cinchare Grubenzentrum verfallen?«, fügte ich
hinzu.
Bure hielt inne, da er die korrekte elektrotransplantierte
Erinnerung auswählte. Er verlor sich beinahe in der Euphorie der
Gedankenimpuls-Vereinigung.
»Vor zweiundneunzig Tagen, soweit ich es zurückverfolgen
konnte, kehrte ein unabhängiger Schürfer namens Farluke, der unter
Lizenz für Ortog Prometheum arbeitete, von einem langen
Sondierungs- und Erkundungsausflug zurück und meldete seinen
Vorgesetzten eine einzigartige Entdeckung. Die versuchten sie eine
Weile geheim zu halten, wie ich glaube, in der Hoffnung, sie für ihre
eigenen Zwecke auszubeuten. Diese fehlerhafte Einschätzung der
Lage kam Cinchare teuer zu stehen. Bis ihnen das Ausmaß ihres
Fehlers aufging und sie den Adeptus ihre Informationen zugänglich
machten, war es bereits zu spät.«
»Was hatte Farluke entdeckt?«, fragte Aemos.
»Es wird der Lith genannt. Ich habe ihn nicht gesehen, aber ich
habe Extrakte studiert, die aus den Leichen befallener Männer
geborgen wurden.«
»Geborgen?«, hauchte Medea entnervt.
»Posthum. Der Lith ist eine hyperdichte Geode mit einem Gewicht
von ungefähr siebenhundert Tonnen. Er ist, wenn ich es richtig
verstehe, ein perfekter Dekaeder mit einem Durchmesser von vier
Metern. Die mineralische Zusammensetzung ist exotisch und
unerklärlich. Und er lebt.«
»Was? Magos! Er lebt?«
»Zumindest ist er empfindungsfähig. Er ist vom elenden Schmutz
des Chaos durchdrungen. Wie lange er unentdeckt in den Tiefen
dieser Welt geschlummert hat, weiß ich nicht. Vielleicht war er
schon immer da, vielleicht ist er in vor-imperialen Zeiten von
unbekannten Händen versteckt worden, um ihn zu schützen … oder
ihn loszuwerden. Vielleicht ist er sogar der Grund, warum sich
Cinchare aus der Ordnung seines stellaren Tanzes gelöst hat und wild
und unberechenbar durch die Sterne segelt. Anfänglich hatte ich
gehofft, ihn zu finden und zu bergen. Allein seine Zusammensetzung
versprach eine Fülle kostbaren Wissens. Doch nun jage ich ihn …
einfach, um ihn zu zerstören.«
»Er hat diese Welt verdorben, nicht wahr?«, sagte ich.
»Vollkommen. Sobald er mit Menschen in Kontakt kam, verdrehte
er ihnen mit seinen bösartigen Kräften den Verstand. Er hat sie
unterworfen. Die Arbeitsmannschaften von Ortog, die nach unten
geschickt wurden, um ihn zu untersuchen, waren die Ersten. Spontan
entstand etwas, das sich nur als Kult bezeichnen lässt. Jedem
Initiaten wurde ein vom Lith abrasierter Gesteinssplitter in einem
ebenso einfachen wie brutalen Ritual unter die Haut gepflanzt.
»Wir haben die Male gesehen.«
»Als der Kult größer wurde, gab es Unruhen. Der Lith konnte
nicht bewegt werden, aber Splitter wurden nach oben gebracht und
benutzt, um immer mehr Arbeiter zu infizieren. Einmal korrumpiert,
verschwanden die Arbeiter, da sie sich auf eine Pilgerreise in die
Gruben begaben, um dem Lith ihre Verehrung zu bekunden. Viele
sind nie angekommen. Die meisten sind einfach verschwunden. Ich
habe versucht, ihren Spuren zu folgen, und bin dabei einige Male auf
feindselige Elemente des Kults gestoßen, die entschlossen waren,
ihre Gottheit zu beschützen. Aber Farlukes Originaldaten sind
unzuverlässig. Ich kann den Standort des Lith nicht finden. Ich
fürchte, es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Kult seinen Einfluss auf
andere Planeten ausdehnt. Oder …« »Oder?«
»Oder sie vollenden irgendeine geheimnisvolle Aufgabe, die ihnen
der Lith aufgetragen hat, und mobilisieren seine ganze Kraft… oder
ermöglichen ihm, sich mit seinesgleichen zu verbinden.«
Wir ließen uns diese grimmige Möglichkeit einen Moment durch
den Kopf gehen. Aemos rief etwas auf seiner Datentafel auf, löste
das Gerät von seinem Handgelenk und reichte es Bure.
»Hilft das hier?«, fragte er.
Bure starrte auf die Tafel. Seine grünen Augenlichter zogen sich
zu harten grellen Punkten zusammen. »Woher, im Namen der
Warpschmiede, haben Sie …«
»Was ist das?«, fragte ich, indem ich vortrat.
»Der Standort des Lith«, sagte Aemos stolz.
»Wie sind Sie an diese Daten gekommen?«, rief Bure, dessen
Stimme mit aufgeregtem binärem Geschnatter unterlegt war.
»Der Kult muss wissen, wo der Lith ist. Der Standort war in den
Karten vermerkt, die ich aus der Sicherheitsstation kopiert habe. Bis
jetzt war mir nur die Bedeutung nicht klar.«
»Sie haben das einfach kopiert?«, sagte Bure.
»Ich glaube, sie dachten, sie hätten keinen Grund, es zu verbergen.
Es war nicht verschlüsselt.«
Bure warf seinen Chromschädel in den Nacken und lachte, ein
kreischendes, hämisches Gackern. »Elf Wochen! Elf Wochen habe
ich gesucht und geforscht und mich durch die Eingeweide dieses
Gesteins gekämpft auf der Jagd nach Hinweisen, und die Antwort
war die ganze Zeit oben! Offen sichtbar!« Er wandte sich an Aemos
und legte dem Gelehrten eine Stahlhand auf die gebeugten Schultern.
»Ich habe Ihre Weisheit schon immer bewundert, Uber, und
verstanden, warum Hapshant Sie so geschätzt hat … doch nun wird
mir klar, dass große Weisheit ihren Ursprung in der Einfachheit hat.«
»Es war Glück, mehr nicht.«
»Es war kühne Einfachheit, Gelehrter! Ein Augenblick direkten,
klaren Nachdenkens, neben dem meine Arbeit hier unten verblasst.«
»Sie sind zu freundlich …«, murmelte Aemos.
»Freundlich? Nein, ich bin nicht freundlich.« Bures Augenlichter
schwollen an und blitzten. »Ich werde mich zum Herzen des Lith
durchbohren, und dann werden seine Abkömmlinge sehen, wie
unfreundlich ich sein kann.«

Zwei Stunden später, nachdem Bures Servitoren uns in eine


spärlich möblierte Kabine gebracht und mit einer geschmacklosen,
geruchlosen Nährbrühe und harten Plätzchen aus Faserbrot versorgt
hatten, wurden wir wieder in den Kontrollraum gerufen.
Draußen war ein kleiner Krieg im Gange.
Ich hatte bereits dem langsameren Klopfgeräusch der
Antriebsräder entnommen, dass wir langsamer geworden waren, und
jetzt sah ich auch, warum. Wir waren durch den Fels in ein hoch
aufragendes Gewölbe gebrochen, das von sprudelnden
Magmafontänen und brennenden Gaslohen erleuchtet wurde. Auf
dem Holoschirm konnte ich verzerrte, ruckelige Bilder von der
Kaverne draußen erkennen. Stumme Laserfinger tasteten nach uns.
Bure war mit dem Pult auf der Empore verbunden.
»Wir haben ihr Nest gefunden«, sagte er. »Sie wehren sich.«
Ich sah, wie zwei verrußte Schürfkapseln auf uns zurasten, deren
Insassen aus den offenen Luken mit Handfeuerwaffen auf uns
schossen.
Bure nickte einem seiner Techadepten zu, und das Kreischen von
Multi-Laser-Feuer pflanzte sich durch den Rumpf fort. Eine Kapsel
explodierte in einem Feuerball, die andere stürzte brennend und
zerfetzt ab.
Mir ging auf, dass auch Männer zu Fuß unterwegs waren:
Grubenarbeiter in gepanzerten Arbeitsanzügen rannten vorwärts und
schossen auf den Translithopäden.
Bure erhöhte den Vergrößerungsfaktor, und wir sahen, dass einige
Paletten mit Sprengladungen trugen, in der Hoffnung, nah genug
heranzukommen, um ein Loch in unseren Rumpf zu sprengen.
»Kampfläufer«, sagte Bure. Es war offenbar ein Befehl. Ein
Poltern ertönte, es gab einen Schlag, als sich irgendwo unter uns eine
Luke öffnete, und dann tauchten neue Gestalten auf dem Schirm auf.
Es waren Gefechts-Servitoren. Schwergewichtig und
silberglänzend schritten sie auf starken Beinen mit nach hinten
weisenden Kniegelenken aus, während schwarze Abgase aus ihren
nach oben ragenden Auspuffrohren quollen. Kanonen in ihren oberen
Gliedmaßen ruckten unter den pneumatischen Rückschlägen, als sie
die Kultisten systematisch aufs Korn nahmen und niedermähten.
»Läufer 453, nach links und zielen«, murmelte Bure. Sie
unterstanden alle seiner direkten Kontrolle.
Einer der Läufer justierte seine Waffen neu und schoss vier
weitere Kultisten nieder. Die Sprengladungen, die sie trugen,
explodierten in einem grellen Blitz, der die Anzeige einen Moment
überlud und schwarz werden ließ. Als sich das Holobild neu
aufbaute, war der Läufer bereits auf der Suche nach neuen Zielen.
»Läufer 130 und Läufer 252, nach rechts schwenken. Gegner
lauern in Deckung hinter der Stalaktitenmasse.«
»Ach du großer Imperator«, sagte Aemos plötzlich. »Einige von
ihnen sind ungeschützt.«
Es stimmte. Ziemlich viele der uns angreifenden Männer trugen
keine schützende Rüstung. Ihre Kleidung war zu schwarzen Lumpen
verkohlt, ihre Haut warf Blasen, und an vielen Stellen war das rohe
Fleisch zu sehen. Irgendeine Kraft hielt sie auf den Beinen in dieser
großen infernalischen Tiefe, wo eigentlich kein Lebewesen
ungeschützt hätte existieren dürfen. Weder der Druck oder die
extreme Hitze, noch nicht einmal die giftige, zersetzende
Atmosphäre hielt sie auf. Der Makel des Lith hatte sie in Bewohner
dieser Unterwelt verwandelt.
Die Welle der Läufer rückte unaufhaltsam vor, und der
Translithopäde folgte ihnen langsam, da seine Antriebsreihen aus
Adamantium-Zilien ihn über den Kavernenboden zogen. Die Multi-
Laser schossen wieder und zerstörten ein weiteres Vehikel — einen
großen Erztransporter, der versucht hatte, sich in unsere Maschine zu
stürzen.
Die mächtige Plasmaschraube drehte sich wieder und sprengte
einen Vorhang aus massivem Sinter. Staubwolken verhüllten
sekundenlang unser Bild.
Als es wieder klar wurde, sahen wir das wahre Grauen und
durchschauten das letztendliche und blasphemische Schicksal der
Bevölkerung von Cinchare Grubenzentrum.
Die Blasphemie war ein riesiger, sich windender Berg aus rohem,
gebackenem Fleisch und gekochten Knochen. Einer nach dem
anderen waren die verdorbenen Arbeiter von Cinchare und sogar
Bures Brüder von den Adeptus hier heruntergekommen, um ihre
organische Materie bereitwillig dieser Masse beizusteuern.
Als der Translithopäde in Sicht kam, erhob sie sich und bildete
einen gigantischen, sich aufbäumenden Wurm aus rotem Brei und
geschwärztem Fleisch, der fünfzig Meter hoch war. Ein grässliches
Maul, groß genug, um eine Schürfkapsel zu verschlingen, klaffte in
seinem Kopf und blies uns einen riesigen Ball aus brennenden Gasen
entgegen.
Der Translithopäde erbebte, Warnsirenen jaulten, und das Bild
erlosch. Eine Kontrollstation explodierte und schleuderte ihren
Servitor auf das Deck. Rauch wallte durch den Kontrollraum.
»Welche Macht«, staunte Bure emotionslos.
Die ganze Maschine ruckte wieder, heftiger, und wir stolperten
trotz der internen Gravitationssysteme und Trägheitsdämpfer.
Das Bild baute sich neu auf und sprang für einen kurzen Moment
hin und her, doch der reichte uns, um zu erkennen, dass sich die
Blasphemie um uns zu wickeln schien. Der Rumpf ächzte und
protestierte. Kleinere Explosionen hallten aus tieferen Decks empor.
Schweißnähte zwischen Platten wölbten sich, und mehrere Nieten
flogen wie Kugeln umher.
»Bure!«
»Ich breche dieses Ding! Ich treibe es aus!«
»Bure! Im Namen des Imperators!«
Er hörte nicht zu, sondern war vollkommen auf die gedankliche
Impulsverbindung konzentriert, die den Translithopäden antrieb, und
auf das Dirigieren seiner Kampfläufer, die sich sammelten, um einen
Gegenangriff auf die Monstrosität zu unternehmen. Sein Glaube an
die Überlegenheit der Maschinen über alle Wesen machte ihn blind
für die sehr reale Möglichkeit, dass der formidable Magos der
Adeptus Mechanicus auf seinen Meister gestoßen war.
Ich wandte mich an Medea und Aemos. »Kommt mit!«, rief ich.

Wir waren auf halbem Weg den Niedergang des Translithopäden


entlang ins Heck der riesigen Maschine, als sie ein noch heftigerer
Aufprall erbeben ließ. Ohne Vorwarnung setzten die
Trägheitsdämpfer aus, und wir kollerten umher, als der Maulwurf auf
die Seite gewälzt wurde. Die Glasummantelungen der Gaslampen
splitterten, und schwache Flammen züngelten die Wände entlang.
Eine Reihe furchtbarer Schläge folgte.
Wir rappelten uns auf und mussten nun die gerundete Wand als
Boden benutzen. Das pulsierende Kreischen der Multi-Laser bildete
mittlerweile eine beständige Geräuschkulisse draußen.
Rote Warnlampen blinkten in der kuppeiförmigen Hangarbucht.
Durch die letzten Schläge hatte sich unsere Kapsel von ihrer Rampe
losgerissen, und sie lag jetzt verbeult auf der Seite, an einen Teil der
Deckenwölbung gelehnt. Aber die oxidrote Kapsel wurde noch von
ihrer Rampe gehalten und war unbeschädigt.
Medea und ich sprangen vom Innenluk des Hangars auf die Decke,
doch Aemos rief uns hinterher.
»Ich schaffe den Sprung nicht«, protestierte er. Ich wusste, dass er
recht hatte.
»Dann schließ das Luk und geh zu Bure zurück, um ihm zu
helfen!«
»Der Imperator beschütze euch beide!«, rief er, als sich das Luk
schloss.
Stromkabel, die zuvor auf dem Boden gelegen hatten, hingen jetzt
wie Seile in der Luft. Wir schnappten uns jeder eines und kletterten
zur Kapsel in ihrem Gerüst. Wir waren auf halbem Weg, als die Welt
wieder ins Rollen kam und sich der Translithopäde aufrichtete.
Medea und ich flogen durch den Hangar, von losen Trümmern
begleitet. Mir blieb gerade noch genug Zeit, Medea zu packen und
mit mir beiseite zu ziehen, bevor unsere beschädigte Kapsel die
Wand hinunterglitt und seitlich auf den Boden prallte.
Ein weiterer Ruck, und das Deck kippte in die andere Richtung
und stabilisierte sich bei etwa zwanzig Grad Schräglage. Die nicht
verankerte Kapsel rutschte langsam über das Deck auf uns zu.
»Steig ein!«, rief Medea. »Steig ein!« Sie hatte das Seitenluk der
roten Kapsel geöffnet und zog mich halb hinein. Einen Moment
später schaukelte der Translithopäde dreißig Grad in die andere
Richtung.
Die lose Kapsel rutschte kreischend zurück und schlug gegen die
Wandbullaugen. Ich klammerte mich mit bloßen Händen an das
offene Außenluk.
»Scheiße! Steig ein! Steig endlich ein!«, brüllte Medea, die mich
festhielt und aus Leibeskräften an mir zerrte. Ich grunzte und
schwang die Beine hoch, so dass die Fußspitzen Halt in der Luke
fanden. Mit einer neuerlichen Anstrengung gelang es mir, mich in
die Kapsel zu ziehen, und Medea schlug das Luk zu.
Das Schaukeln und Rucken setzte sich fort. Wir erreichten die
Pilotensitze in der unteren Kanzel und schnallten uns an. Medea
schaltete den Antrieb der Kapsel ein, als sich der Translithopäde auf
den Rücken drehte und wir mit dem Kopf nach unten und nur noch
von den Gurten gehalten in den Sitzen hingen. Die Kapsel hing jetzt
praktisch unter dem Dach an der Rampe.
»Das wird ein Spaß«, lachte Medea aggressiv. Sie hatte ein Kom-
Signal gegeben, die Hangarschleuse zu öffnen. Dann fuhr sie den
Schub hoch und löste die Verankerung mit der Rampe.
Einen Schwindel erregenden Moment fielen wir verkehrt herum
wie ein Stein. Dann setzte der Schub ein, und wir drehten uns. Wir
verfehlten das Hangardach um eine Handbreit und flogen durch die
geöffnete Schleuse, während sich der Translithopäde erneut he-
rumwälzte.

Die Blasphemie hatte sich in Würgeschlingen um Bures großen


Maulwurf gewickelt. Sie peitschte und schüttelte die Maschine, und
ich konnte deutlich erkennen, dass der gepanzerte Rumpf an einigen
Stellen nachgab und sich nach innen wölbte. Rauchende Löcher
gähnten, wo einige der Multi-Laser-Batterien abgerissen worden
waren. Die Kampfläufer näherten sich den ringenden Giganten und
nahmen den Chaoswurm unter Beschuss. Die Überreste von
mehreren lagen dort, wo sie der sich herumwälzende Translithopäde
zermalmt hatte.
Medea legte die Kapsel in eine Kurve und versuchte sich in aller
Eile mit der Anordnung der Steuerungs-Elemente und der
Instrumente vertraut zu machen.
»Was machen wir jetzt? Ich nehme an, du hast einen Plan?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich arbeite daran.« Bures Kapsel war
unbewaffnet — das wusste ich, weil ich vom Augenblick unseres
Starts an fieberhaft nach Waffen gesucht hatte -, und es gab auch
nichts, was sich als Angriffswaffe benutzen ließ, bis auf einen
Schürflaser unter dem Kinn der Kanzel. Einen Schürflaser mit großer
Schneidekraft und einer Reichweite von etwa fünf Metern.
»Flieg tiefer in die Kaverne«, sagte ich, indem ich die Anzeige auf
dem geologischen Auspex der Kapsel zu Rate zog.
»Weg vom Kampfgeschehen?«
»Wir können nicht gegen dieses Ding kämpfen — also suchen wir
stattdessen den Lith. Und dieses Echo muss er sein.«
Auf dem Schirm war ein pulsierender Punkt zu sehen: groß und
unverkennbar.
Kultisten unten am Boden schossen auf uns, als wir über sie
hinweg und durch die längliche vulkanische Kaverne flogen.
Fontänen aus pyroklastischer Wut schossen aus den Lavaseen in die
Höhe und drohten uns einzuhüllen.
Dann sahen wir den Lith.
Er war in einem Obsidian-Auswuchs begraben, der aus der
Kavernenwand ragte, aber anscheinend hatten Ausgrabungen
stattgefunden, um ihn freizulegen.
Schwere Schürfkapseln und Antigrav-Bohrplattformen standen auf
den aschebedeckten Hängen darunter, und der Boden war mit
Obsidianbrocken bedeckt.
Er war so, wie Bure ihn beschrieben hatte, ein perfekter Dekaeder
mit einem Durchmesser von vier Metern, dunkelgrün und glasig wie
Wassereis. Er leuchtete von innen. Schon aus der Entfernung
vermittelte er ein Gefühl der Bösartigkeit. Ich spürte ein
entnervendes Kribbeln am Rande meiner psionischen Reichweite.
Medea sah aus, als sei ihr schlecht.
»Ich will da nicht näher herangehen«, sagte sie plötzlich.
»Wir müssen!«
»Um was zu tun?«
Ich fragte mich, ob wir das Ding mit dem Schürflaser zerschneiden
konnten. Tatsächlich fragte ich mich, ob uns das überhaupt etwas
nützen würde. Ich bezweifelte, dass wir ihm auch nur einen Kratzer
zufügen konnten, selbst wenn wir uns mit der Kapsel darauf stürzen
würden.
Aber die Kultisten hatten Splitter abrasiert, um ihr Böses zu
verbreiten. Der Lith war verwundbar … es sei denn, er hatte
irgendwie zugelassen, dass die Splitter entfernt wurden.
Wir konnten jedenfalls nicht daran rütteln.
Ich spürte ihn jetzt in meinem Kopf flüstern. Keine Worte, nur ein
Murmeln, das mich frösteln ließ. Heimtückisch, träge … träge wie
Äonen geologischer Zeit, wie ein Gletscher oder eine tektonische
Platte. Er sprach leise und ohne Hast und entfaltete behutsam seine
verführerische Botschaft. Er hatte keinen Grund zur Eile. Er hatte
alle Zeit der Galaxis …
Die Kapsel kippte seitlich weg. Ich schrak zusammen und sah
mich um. Medea hatte kurzfristig die Herrschaft verloren, weil sie
sich abgewendet und seitlich über den Sitz übergeben hatte. Ihre
Haut war bleich, und sie keuchte und schwitzte.
»Ich … ich kann nicht…«, japste sie. »Lass mich nicht noch näher
herangehen …«
Sie hatte ihre Grenze erreicht. Ich beugte mich vor und legte ihr
die Hand an den Kopf. »Schlaf«, sagte ich sanft unter Einsatz meiner
Willenskraft.
Sie versank in gnädige Bewusstlosigkeit.
Ich übernahm das Ruder.
Ich war kein Flieger wie Medea Betancore, und einen Moment
lang glaubte ich, ich werde mit der Nase voran in den See aus
blubberndem Magma stürzen, während ich an den Bedienelementen
herumfummelte.
Aber Medeas verstorbener Vater hatte mich gut genug unterrichtet.
Ich jagte tief über den See aus geschmolzenem Gestein weg, wobei
ich einen Druckwellenstrudel erzeugte, und umrundete eine massive
Anthragatsäule, die sich bis zur zerklüfteten Kavernendecke erhob.
Zwischen mir und dem Aschestrand, wo der Lith nackt und bloß
wartete, lag nur noch ein letzter breiter Feuersee.
Er flüsterte wieder, doch ich schüttelte es ab. Ich hatte meinen
Geist eisern geschult, um der Zuwendung des Chaos und seiner
psionischen Listen widerstehen zu können. So bog es die
Willensschwachen um. So hatte es die Bevölkerung von Cinchare
Grubenzentrum vergiftet und verdorben. Durch das Flüstern … durch
formlose, gestaltlose Worte der Macht, die Menschen in die Arme
des Warpraums zerrten …
Mir kam eine Idee. Ich möchte glauben, dass es eine Idee war,
welche aus derselben puren Einfachheit geboren wurde, die Bure in
Aemos so gefeiert hatte. Eine perfekte, simple Möglichkeit.
Ich schüttelte meine Furcht um das Leben von Aemos und dem
Magos ab. Die Blasphemie in der Kaverne weit hinter mir mochte
den Translithopäden bereits auseinandergerissen haben. Wenn für sie
noch Hoffnung bestand, war dies das Beste, was ich für sie tun
konnte.
Ich ging das Risiko ein, eine Hand von der Steuerung zu nehmen,
und griff zur Seite, um das Kom-Gerät der Kapsel einzuschalten und
auf Aufnahme zu stellen. Dann, während ich mich wieder auf die
Steuerung konzentrierte, begann ich zu sprechen, laut und deutlich,
wie ich mich an die Worte erinnerte. Vor langer Zeit auf DeKeres
Welt, meinem Geburtsplaneten, hatte ich als Kind im langen Saal der
Schola Prima gestanden und sie mit den anderen Schülern rezitiert …
Eine Kollisionswarnung jaulte, und ich schwenkte gerade noch
rechtzeitig nach links, bevor ich eine Schürfkapsel sah, die einen
Moment lang mein Kanzelfenster ausfüllte, bevor sie an mir
vorbeiraste.
Zwei leuchtend gelbe Punkte waren auf meiner Auspex-Anzeige
aufgetaucht. Die Peilsender-Signale anderer Schürfkapseln wie
derjenigen, welche uns in das Stollensystem verfolgt hatten.
Die Kapsel, die mich hatte rammen wollen, wendete in weitem
Bogen über dem Lavasee. Die andere flog einen Abfangkurs. Ich
schwang zu ihr herum und wich dann im letzten Moment aus. Wir
flogen dicht aneinander vorbei, so dicht, dass ich die Symbole von
Ortog Prometheum auf der Flanke erkennen konnte. So dicht, dass
ich Vollstrecker Kaleils Gesicht durch das Kanzelfenster sah.
Die erste Kapsel, auf der durch die in der Hitze abblätternde Farbe
gerade noch die Symbole von Imperiale Minerale zu erkennen
waren, kam heran und versperrte mir den Weg zur Küste und zum
Lith. Ihr nicht zu identifizierender Pilot hatte die Fenster zerschmet-
tert und schoss mit einem Laserkarabiner aus der Kanzel. Unsere
Geschwindigkeit war relativ zueinander hoch, dennoch spürte ich
den Einschlag einiger Strahlen in den Rumpf der Kapsel. Ich wich
aus und versuchte dabei verzweifelt, meine Rezitation nicht zu
unterbrechen, während ich mich auf das Luftduell konzentrierte.
Ich skandierte die Worte jetzt wie ein Mantra.
Als ich vor der Kapsel abdrehte, kam mir Kaleils Kapsel frontal
entgegen. Ich rollte sofort, um auszuweichen, aber wir streiften
einander, und die ganze Kapsel bebte. Warnlampen leuchteten auf
der Kontrollkonsole auf. Ich hatte einen Schaden an den Schubdüsen
und verringerte Manövrierfähigkeit. Der Lavasee blitzte unter mir
auf, um mich zu verschlingen, aber ich stieg steil in die Höhe, weg
von dem Aschestrand.
Meine Rezitation setzte ich dabei beständig fort.
Die Kapsel von Imperiale Minerale war hinter mir, und der Pilot
beschoss mich. Wir jagten um die Anthragatsäule herum, aber ich
konnte ihn nicht abschütteln. Ich versuchte mir vorzustellen, was
Medea wohl tun würde. Was Midas getan hätte. Einen Moment
gerieten meine Worte ins Stocken, als ich meine hektische Er-
widerung plante und in die Tat umsetzte.
Die andere Kapsel war direkt hinter mir. Ich bremste hart und
schaffte es, die Antigravmaschine mit den Richtungsdüsen auf der
Stelle zu drehen, wobei meine Nase nach unten sank, als wolle ich
vor meinem Angreifer knicksen. Und ich feuerte mit meinem Schürf-
laser.
Die andere Kapsel war viel zu dicht hinter mir, um auf mein
Manöver noch reagieren zu können. Ich glaube, der Pilot versuchte
noch eine Kollision herbeizuführen, aber ich war zu hoch für ihn. Er
raste mit Vollschub unter mir durch, so nah, dass er mir die
Scheinwerfer und die Auspex-Antenne an der Unterseite meiner
Kapsel abrasierte.
Er flog außerdem direkt durch den gleißenden Strahl meines
Schürflasers. Er schlitzte die Kapsel der Länge nach auf, und die sich
auflösenden Hälften trudelten abwärts in das weißglühende Magma.
Meine Kapsel war nach den beiden Beinahe-Kollisionen stark
angeschlagen. Ich setzte meine Rezitation in der Hoffnung fort, die
kurze Pause werde keine Rolle spielen.
Ohne Antenne war das Auspex blind, aber ich konnte Kaleil
trotzdem sehen. Er raste über den See und direkt auf mich zu.
Ich schwebte auf der Stelle. Es gab eine Zeit für Taten und, wie
ich mich bereits festgelegt hatte, eine Zeit für Worte. Ich schaltete
den Aufzeichner aus und wählte den offenen Kanal.
»Kaleil?«
»Horn!«
»Nicht Horn … Inquisitor Eisenhorn.«
Stille. Er war noch zweihundert Meter entfernt und kam mit einer
Geschwindigkeit näher, die uns beide auslöschen würde.
Ich hielt mir das Sprechgerät dicht vor den Mund und setzte jedes
Körnchen meiner Willenskraft ein. »Nicht«, sagte ich.
Die Kapsel von Ortog Prometheum schwankte und raste dann steil
nach unten in den Lavasee. Ein Halo aus Feuer stieg aus dem trägen,
wellenförmigen Platscher auf, den sie im flüssigen Gestein
hinterließ.

Ich schleppte mich mit meiner Kapsel zum Aschestrand und setzte
etwa zwanzig Meter vor dem Lith auf. Medea stöhnte im Schlaf. Ich
wollte mir gar nicht erst die Träume ausmalen, die durch ihr
Unterbewusstsein geistern mochten.
»Verschwinde aus meinem Kopf!«, fauchte ich laut, als der Lith
sein beharrliches Wispern fortsetzte.
Es dauerte einen Moment, die Aufzeichnung zurückzuspulen und
auf beständige Wiederholung zu schalten. Dann leitete ich das Signal
in das Sonarsystem um, das die Kapsel zur Unterstützung des
Auspex bei Abtast- und Lokalisierungsarbeiten einsetzte. Ich drehte
an den Kontrollen, bis das starke Sonar direkt auf den Dekaeder
zielte.
In starke Ultraschallimpulse umgewandelt, bestrahlte meine
Aufzeichnung den Lith. Mit dem Imperatorgebet der
Außerkraftsetzung des Warp, das von jedem guten Schulkind des
Imperiums auswendig gelernt wurde. Ein unschuldiger Segen gegen
die Finsternis, eine Bannung des Chaos. Ich bezweifelte, dass es
jemals so aktiv eingesetzt worden war. Ich bezweifelte, dass sich
meine Lehrer für dieses einfache Gebet je einen solchen Anlass
ausgemalt hatten.
»Worte«, murmelte ich. »Dein verdorbenes Flüstern gegen meine
Worte der Macht. Wie gefällt dir das?«
Ich stellte das Sonar auf maximale Leistung. Was allein den
Ultraschall betraf, hätten die Impulse gereicht, um einen Menschen
bewusstlos zu machen und ihm die Knochen zu brechen.
Eine Minute oder länger befürchtete ich, keine Wirkung zu
erzielen.
Dann hörte das Flüstern auf. Es ging in ein unterschwelliges
Ächzen der Wut und der Pein und schließlich der Qual über.
Die Oberfläche des Lith wurde farblos, als breite sich Schimmel
darauf aus. Das ganze Gebilde erbebte und ließ den Obsidian
ringsherum bersten.
Dann flackerte das innere Leuchten und erlosch, und dann war er
von dem ihn umgebenden schwarzen vulkanischen Glas nicht mehr
zu unterscheiden.

Als der Lith starb, folgten ihm seine Diener und auch die
Blasphemie. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass Medea nun
einfach nur noch tief schlief, steuerte ich die beschädigte Kapsel
vorsichtig in die Kaverne zurück und sah gerade noch, wie die
letzten sehnigen Überreste des widerlichen Wurms verbrannten und
vom verbeulten Rumpf des Translithopäden herabglitten. Es roch
nach verbranntem Fett, und schmutzige Ascheflocken flogen umher.
Die brennenden Leichen der Kultisten lagen überall auf dem
Boden. Reglose Kampfläufer standen in ihrer Mitte und warteten auf
den nächsten Befehl.

Der große Maulwurf war zwar ramponiert und verbeult, aber


wenigstens noch intakt. Als ich die Kapsel in den Hangar flog,
kamen Bures Techadepten persönlich, um sich der bewusstlosen
Medea anzunehmen.
Der Boden des Niedergangs stand schief. Bures Techpriester
versuchten immer noch, die Trägheitsdämpfer zu reparieren.
Die Luft war von stechendem Rauch erfüllt und roch unangenehm
nach den Fettfeuern draußen. Aemos kam mir im Schott des
Kontrollraums entgegen und umarmte mich kurz in einer seltenen
Zurschaustellung von Zuneigung. Bure hatte seine orange Robe
abgelegt. Als finstere, krasse, unmenschliche Silhouette beobachtete
er unseren sehr menschlichen Austausch vom Rande der Empore,
von hinten durch das Feuer der Brände erleuchtet, die weiter unten in
den Konsolen wüteten.
»Jetzt ist alles in Ordnung, alter Freund«, sagte ich zu Aemos.
Er löste die Umarmung, als fühle er sich schuldig. »Das hast du
sehr gut gemacht, Gregor. Wunderbar! Ich … ich wollte nicht
respektlos sein …«
In solchen Zeiten wünschte ich mir, ich könnte noch lächeln. Ich
bin zu sehr an mein Gesicht gewöhnt und daran, dass es die starre
Maske ist, die Gorgone Locke mir verpasst hat.
Unter sanftem Einsatz meiner Willenskraft, damit er die Wahrheit
meiner Worte begriff, sagte ich: »Ich betrachte es auch nicht als
respektlos, alter Freund.«
Aemos lächelte verlegen und wandte sich ab.
Mit zischenden Suspensoren glitt Bure zu mir. Zu meiner
Überraschung umarmte er mich ebenfalls. Die Geste war kurz und
unbeholfen, und seine Servoarme vermittelten keine Wärme. In
diesem Augenblick tat er mir fürchterlich leid. Sein menschlicher
Kern war gerührt von den Ereignissen, und er hatte Aemos impro-
visierte Zurschaustellung von Zuneigung gesehen und kopiert. An
dieser Stelle, glaube ich, wäre er leidenschaftlich gern wieder ganz
menschlich gewesen. Nur für einen Moment. Aber im Schraubstock
seiner Arme steckte nicht mehr Gefühl als in dem festen Hände-
druck, mit dem er mich anfangs begrüßt hatte.
Er schwang zur Seite, die Arme an den Seiten. Seine grünen
Augenlichter huschten über die Reparaturmannschaften, die sich
mühten, den Schaden einzudämmen. »Ich habe das nie erzählt«,
begann er, die künstliche Stimme tonlos und kalt, obwohl sie
versuchte, keines von beidem zu sein. »Hapshant. Er hielt große
Stücke auf Sie, Eisenhorn. Er hat mir einmal erzählt, er glaube, Sie
würden seine Laufbahn mit Ihrer noch übertreffen. Ich glaube, er
hatte recht.«
»Ich danke Ihnen, Magos.«
Er drehte sich zu mir um und sah mich an. In seinen Augen
leuchtete smaragdfarbenes Feuer. »Sie haben noch nicht erwähnt,
was Sie hergeführt hat.«
»Die jüngsten Entwicklungen haben uns irgendwie überholt,
Magos.«
»Ja. Trotzdem, Sie haben es bisher nicht erwähnt…«
»Ich muss die… Umstände erklären, die sich in meinem Leben
geändert haben, Magos. Ich werde sie behutsam erklären, in der
Hoffnung, dass Sie sie verstehen und nicht schlecht von mir denken.
Aber zuerst… vor einem Jahrhundert habe ich Ihnen etwas zur
Aufbewahrung und zum Studium gegeben, das ich gern wiedersehen
würde.«
Es war ironisch, als sei ein karmischer Ausgleich am Werk.
Natürlich glaubte ich nicht an solche Dinge. Bure hatte sich elf
Wochen lang ergebnislos durch das Herz Cinchares gewühlt, und
dann hatte Aemos ihm beiläufig den Standort des Lith verraten. Und
wir waren tief ins Innere des Planeten vorgedrungen, um Bure aufzu-
spüren, um dann zu erfahren, dass sich das von mir Gesuchte die
ganze Zeit sicher verschlossen im Annex der Adeptus Mechanicus
befunden hatte. Ich hätte nur danach suchen müssen.

Der lahmende Translithopäde brauchte dreißig Stunden für den


Rückweg zur Oberfläche. Kaum waren wir durch die blaue Gypnat-
Kruste bei der Grube von Imperiale Minerale gebrochen, als ich
Aemos und Medea zum Kanonenboot schickte, um mit Bequin und
den anderen Verbindung aufzunehmen, die immer noch im Orbit an
Bord der Essene warteten.
Ich hoffte, sie hatten in meiner Abwesenheit keine Dummheiten
gemacht.

Bure brachte mich zum Annex. Seine verschlüsselte Berührung


erweckte das Allerheiligste zum Leben und ließ die Beleuchtung in
den langen Korridoren beiderseits der Mechanicus-Kapelle
anspringen. Er führte mich durch einen davon, dessen Lichtplatten
noch flackerten, da sie sich nach längerer Periode der Nichtbe-
nutzung erst erwärmen mussten.
Der Magos verband die neuralen Brustkabel mit einer
Wandsteckdose und öffnete ein Schloss. Eine schwere gepanzerte
Tür glitt auf. Dann eine weitere in der ersten, schließlich eine dritte,
robustere, wie eine Blende, die sich abschnittweise und mit einem
Geräusch, als würden Schwerter in Scheiden geschoben in die Wand
zurückzog.
»Sie wollen das hier«, sagte Bure. »Er war im Lauf der Jahre sehr
informativ.«
»Ich sehe mir Ihre Berichte später an, Magos«, sagte ich. »Lassen
Sie mich jetzt mit ihm allein.« Bure zog sich zurück.
Ich trat durch die Blendentür und schritt die drei Stufen einer
Gittertreppe in die Zelle hinab, wobei ich das Übelkeit erregende
statische Kribbeln der psionischen Dämpfungsfelder spürte. Jede
Oberfläche war mit Eiskristallen bedeckt. Ein Knistern von
synaptischer Energie war zu spüren.
»Hallo Eisenhorn«, sagte eine hohle, kom-projizierte Stimme. Sie
kam aus einer Truhe, die auf einem Basaltblock in der Mitte der
Zelle stand. Truhe wie Steinblock waren mit Eis verkrustet. Winzige
Lichter huschten hin und her und blinkten im offenen Deckel der
Truhe.
Ich bereitete mich vor. Dann antwortete ich. »Pontius Glaw. So
treffen wir uns wieder.«
ZWANZIG
Gespräch mit dem Verdammten. Bure, Kriegsschmied.
Orbul Infanta.

»Lassen Sie mich kurz rekapitulieren, ob ich Sie richtig verstanden


habe, Eisenhorn«, sagte die körperlose Stimme von Pontius Glaw
bedächtig und verächtlich. »Sie glauben, dass ich Ihnen helfen
werde?« Ich räusperte mich. »Ja.«
Pontius lachte. Synapsenleiter, die mit den goldenen Schaltkreisen
seiner Engramm-Sphäre verbunden waren, feuerten reihenweise.
»Ich hätte nicht gedacht, dass ein Mann von Ihrer geflissentlichen
Langweiligkeit und Nüchternheit die Fähigkeit besitzt, mich zu
überraschen, Eisenhorn. Mein Fehler.«
»Sie werden mir helfen«, sagte ich ruhig, aber mit Nachdruck.
Ich wischte Reif von den Gitterstufen und setzte mich mit dem
Gesicht zu seiner Truhe. Sie hatte Klauenfüße und war rechteckig,
kompakt und mit einer komplexen Technologie ausgefüllt, die nur zu
einem Zweck ersonnen worden war: um die Engramm-Sphäre zu
unterstützen und operationsfähig zu machen, ein grober Klumpen
von der Größe einer geballten Faust, der den Intellekt — und
vielleicht sogar die Seele - eines der berüchtigtsten Ketzer im ganzen
Imperium beherbergte.
Pontius Glaw, körperlich bereits seit fast dreihundert Jahren tot,
war zu seinen körperlichen Lebzeiten eines der unangenehmeren
Produkte der mächtigen Glaw-Dynastie gewesen. Dieser
Familienstamm, Teil des Hochadels von Gudrun, hatte im Laufe der
Zeit viele Ketzer hervorgebracht, von denen die letzten in der Affäre
um das Nekroteuch eine Hauptrolle gespielt hatten. Von den
beträchtlichen Mühen der Imperialen Flottensicherheit unterstützt,
hatte ich ihren giftigen Stammbaum praktisch ausgelöscht und dabei
auch die Engramm-Sphäre von Pontius Glaw erbeutet. Seine Familie
und deren Handlanger hatten versucht, viele tausend Unschuldige zu
opfern, um ihn auch körperlich wieder ins Leben zurückzuholen.
Auch das hatte ich verhindert.
Nach dem Ende der Affäre hatte ich mit dieser Truhe voll
ketzerischem Groll dagestanden. Allein hinsichtlich der Technologie
war sie ein Wunder, und es ließ sich unmöglich sagen, welche
Geheimnisse Pontius in sich barg. Anstatt die Truhe also zu
zerstören, hatte ich sie der Obhut von Magos Geard Bure anvertraut.
Bure, das wusste ich, würde genügend Zeit und auch die Fähigkeiten
haben, der Truhe irgendwann ihre technischen Geheimnisse zu
entlocken. Und er war vertrauenswürdig.
Aber von Zeit zu Zeit in diesen letzten hundert Jahren hatte ich die
Stichhaltigkeit dieser Entscheidung infrage gestellt. In aller
Aufrichtigkeit hätte ich die Truhe dem Ordo Hereticus zur
Untersuchung und letztendlichen Vernichtung übergeben sollen. Die
Tatsache, dass ich das nicht getan hatte, lastete manchmal auf mei-
nem Gewissen, denn sie legte Täuschung und ein ungesundes
Ausmaß von List und Heimlichkeit meinerseits nahe. Im Licht der
Ereignisse des vergangenen Jahres musste ich mich des Gedankens
erwehren, dass meine Ankläger möglicherweise recht hatten. War es
die Tat eines im Kern verdorbenen Mannes gewesen, solch eine
radikale Wesenheit zu verbergen?
Aemos hatte mich getröstet und mich daran erinnert, dass bei der
Konstruktion der Truhe Gedankenimpuls-Technologie verwendet
worden sei, die zweifellos von den Mechanicus gestohlen worden
sei. Es sei, hatte er gesagt, keine Frage, dass sich ein solches Gerät in
der Obhut der Mechanicus befinden solle.
»Dann nur zu«, sagte Pontius. »Begründen Sie Ihre Ansicht.
Warum werde ich Ihnen helfen?«
»Ich brauche spezielle Informationen, von denen ich sicher bin,
dass Sie sie haben. Gewisses Fachwissen.«
»Sie sind Inquisitor, Eisenhorn. Alle Ressourcen des Imperiums
stehen Ihnen zur Verfügung. Wollen Sie damit etwa andeuten, dass
… Ihr Handlungsspielraum in irgendeiner Form eingeschränkt
wurde?«
Ich wollte verdammt sein, wenn ich diesem Ungeheuer von der
Notlage erzählte, in der ich mich befand. Und obwohl er in gewisser
Weise recht hatte, kannte ich kein imperiales Archiv, das meine
Fragen hätte beantworten können. »Was ich brauche, könnte man als
… verbotenes Wissen betrachten.«
»Ahhhhh …«
»Was? Was ›Ahhhhh‹?«
Auch ohne Mienenspiel oder Körpersprache verbreitete Pontius
den Eindruck, unerträglich zufrieden mit sich zu sein. »Also sind Sie
endlich auch an dieser Stelle angelangt. Wie wunderbar.«
»An welcher Stelle?« Ich fühlte mich unbehaglich. Ich hatte dieses
Gespräch seit Monaten geplant, und jetzt schien die Kontrolle
vollständig bei Glaw zu liegen.
»An der Stelle, wo Sie die Grenze überschreiten.« »Ich habe…«
»Alle Inquisitoren überschreiten die Grenze irgendwann.«
»Ich sage Ihnen …«
»Alle. Das ist ein Berufsrisiko.«
»Hören Sie mir zu, Sie wertloses …«
»Ich glaube, Inquisitor Eisenhorn protestiert zu viel. Die Grenze,
Gregor. Die Grenze! Die Grenze zwischen Ordnung und Chaos,
zwischen richtig und falsch, zwischen Menschheit und Nicht-
Menschheit. Ich kenne sie, weil ich sie überschritten habe.
Bereitwillig, natürlich. Mit Freuden. Tänzelnd, hüpfend und voller
Entzücken. Für Ihresgleichen ist es ein schmerzlicherer Prozess.«
Ich erhob mich. »Ich glaube nicht, dass dieses Gespräch
irgendwohin führt, Glaw. Ich gehe.«
»So rasch?«
»Vielleicht komme ich in ein oder zwei Jahrhunderten wieder.«
»Es war auf Quenthus Acht, im Frühling des Jahres 019.M41.«
Ich blieb in der Zellenschleuse stehen. »Was war da?«
»Der Moment, als ich die Grenze überschritten habe. Würden Sie
gerne etwas darüber hören?«
Ich war einigermaßen fassungslos, aber ich kehrte zu meinem
Platz auf der Treppe zurück. Ich wusste, was er tat. Eingesperrt in
seine Truhe, ohne Geruchssinn, Geschmackssinn, Tastsinn,
überhaupt ohne jeden sensorischen Reiz, sehnte sich Pontius Glaw
nach Gesellschaft und Unterhaltung. Das hatte ich im Zuge meiner
langen Unterhaltungen mit ihm zehn Dekaden zuvor an Bord der
Essene auf dem Flug zum abgelegenen System KCX-1288 erfahren.
Jetzt warf er mir einfach ein paar Leckerbissen hin, um mich zum
Bleiben und zu weiteren Gesprächen zu bewegen.
Doch in hundert Jahren der Gefangenschaft war er niemals so kurz
davor gewesen, derart intime Einzelheiten seiner persönlichen
Geschichte preiszugeben.
»019.M41. Ein ereignisreiches Jahr. Die Welten am weit
entfernten Ostrand wehrten sich gegen einen Heiligen Krieg der
Grünhäute, und zwei Hohe Servitoren von Terra waren in ebenso
vielen Monaten Anschlägen von unzufriedenen Imperiumsfamilien
zum Opfer gefallen. Es gab Gerede über einen möglichen Bürger-
krieg. Der Wertpapiermarkt in dem Subsektor war zu-
sammengebrochen. Der Handel lief schlecht. Was für ein Jahr. St.
Drache starb auf Korynth als Märtyrer. Milliarden verhungerten in
der Hungersnot auf Beznos.«
»Ich habe Zugang zu historischen Texten, Pontius«, sagte ich
trocken.
»Ich war auf Quenthus VIII, um Kämpfer für meine Grubenspiele
zu kaufen. Die Quenthi sind ein guter Menschenschlag,
langschenkelig und ziemlich kriegerisch. Ich war vielleicht
fünfundzwanzig. Genau weiß ich es nicht mehr. Jedenfalls war ich in
der Blüte meiner Jahre und wunderschön.«
Eine längere Stille trat ein, in der er über diese Erinnerung
nachdachte. Lichtfunken huschten die Drähte entlang.
»Einer der Grubenaufseher des Amphitheaters, das ich besuchte,
riet mir, mir einen Kämpfer anzusehen, der von einer Randwelt des
Segmentum Ultima kam, einen großen, sonnengebräunten Burschen
von einer wilden Welt namens Borea. Er hieß Aaa, was in seiner
Sprache bedeutete, ›Schwert-schneidet-Fleisch-für-Frauen-
Trophäen‹. Ist das nicht reizend? Hätte ich jemals einen Sohn
gezeugt, einen menschlichen, meine ich, hätte ich ihn Aaa genannt.
Aaa Glaw. Das hat einen guten Klang, nicht?«
»Ich bin immer noch kurz davor, Sie zu verlassen, Glaw.«
Die Stimme aus der Truhe kicherte. »Dieser Aaa war ein harter
Hund. Seine Zähne waren spitz zugefeilt, und seine Fingerspitzen
waren seit seiner Geburt umgebogen und mit traditionellen Salben
behandelt worden, so dass ihm Krallen gewachsen waren. Krallen,
Eisenhorn! Verschmolzene, versteinerte Haken aus Keratin und
Schwielen. Einmal habe ich gesehen, wie er damit einen
Kettenpanzer zerfetzt hat. Jedenfalls war er ein echter Fund. Sie
hatten ihn dauerhaft in Ketten gelegt. Der Grubenaufseher erzählte
mir, er hätte einem anderen Gefangenen auf dem Flug einen Arm
abgerissen und einen achtlosen Stadionwächter skalpiert. Mit den
Zähnen.« »Reizend.«
»Selbstverständlich habe ich ihn gekauft. Ich glaube, er mochte
mich. Natürlich sprach er keine richtige Sprache, und erst seine
Tischmanieren! Er schlief in seinen eigenen Ausscheidungen und
paarte sich wie ein Hund.«
»Kein Wunder, dass er Sie gemocht hat.«
Der Reif rings um die Truhe knisterte. »Grausamer Junge. Ich bin
ein kultivierter Mann. Ha! Ich war ein kultivierter Mann. Jetzt bin ich
eine gelehrte und gefährliche Kiste. Aber vergessen Sie nicht meine
Bildung und Erziehung, Eisenhorn. Sie wären erstaunt, wie leicht es
für einen gut erzogenen und gelehrten Sohn des Imperiums ist, über
diese von mir erwähnte Grenze zu rutschen.«
»Fahren Sie fort. Ich bin sicher, Sie wollen auf etwas hinaus.«
»Aaa hat mir gut gedient. Mit seinen Grubenkämpfen habe ich
einige Vermögen verdient. Ich will nicht so tun, als wären wir je
Freunde geworden … man freundet sich nicht mit seinem Lieblings-
Carnodon an, oder? Und man freundet sich auch ganz gewiss nicht
mit einer Ware an. Aber im Laufe der Jahre hat sich so etwas wie ein
Verständnis zwischen uns entwickelt. Ich pflegte ihn in seiner Zelle
zu besuchen, ohne Bewachung, und er hat mich nie angerührt. Er
erzählte dann immer radebrechend alte Mythen seiner Heimatwelt
Borea. Bösartige Geschichten der Barbarei und des Mordes.
Aber ich greife vor. Der Moment, der Moment war da, auf
Quenthus, in dem Amphitheater, unter der Frühlingssonne. Der
Grubenaufseher zeigte mir Aaa und brachte mich in Versuchung, ihn
zu kaufen. Aaa sah mich an, und ich glaube, er sah eine verwandte
Seele … was wahrscheinlich der Grund war, warum es diese
Verbindung zwischen uns gab, nachdem er einmal mir gehörte. In
seiner einfachen gebrochenen Sprache flehte er mich an, ihn zu
kaufen, indem er mir sehr anschaulich klar machte, welchen Spaß ich
an ihm haben würde. Und um den Handel zu besiegeln, bot er mir
seinen Torques an.«
»Seinen Torques?«
»Genau. Den Sklaven war gestattet, gewisse vertraute
Gegenstände zu behalten, vorausgesetzt es waren keine potenziellen
Waffen. Aaa trug einen goldenen Torques um den Hals, das Zeichen
seines Stammes. Er war der wertvollste Gegenstand in seinem Besitz.
Tatsächlich war dieser Torques der einzige Gegenstand in seinem
Besitz. Aber egal… er hat ihn mir dafür angeboten, dass ich sein
Herr wurde. Ich nahm ihn und, wie ich schon sagte, kaufte ihn.«
»Und das war die Grenze?« Ich lehnte mich zurück, wenig
beeindruckt.
»Warten Sie, warten Sie's ab … später, noch am selben Tag, habe
ich den Torques untersucht. Er war mit Intarsien einer erstaunlichen
Technologie verziert. Zu dieser Zeit mochte Borea eine primitive
Welt sein, aber Millennien zuvor war Borea ganz offensichtlich ein
sehr weit fortgeschrittener Außenposten der Menschheit gewesen. Er
war in ein wildes, finsteres Zeitalter versunken, weil das Chaos ihn
berührt hatte, und dieser Torques war ein Werkzeug dieses Verfalls.
Seine verbotene, vergessene Technologie leitete den Stoff der
Finsternis in den Verstand des Trägers. Kein Wunder, dass Borea,
wo jeder erwachsene Mann einen trug, eine grausame, wilde Wüste
war. Ich war neugierig. Ich legte den Torques um.«

»Sie legten ihn um?«


»Ich war jung und unbesonnen, was soll ich sagen? Ich legte ihn
um. Nach ein paar Stunden hatten die Ranken des Warpraums
meinen aufnahmebereiten Verstand durchdrungen. Und wissen Sie
was?«
»Was?«
»Es war wunderbar! Befreiend! Ich war endlich für das wahre
Universum lebendig! Ich hatte die Grenze überschritten, und es war
die reinste Glückseligkeit. Plötzlich sah ich alles, wie es tatsächlich
war, nicht wie das Ministorum und der verrottende Imperator es
sehen wollte. Umschließende Ewigkeit! Die Zerbrechlichkeit der
menschlichen Rasse! Die Herrlichkeiten des Warpraums! Der
flüchtige Schatz des Fleisches! Die unvergleichliche Süße des Todes!
Alles!«
»Und Sie hörten auf, Pontius Glaw zu sein, der siebte Sohn eines
ehrbaren Imperialen Hauses, und wurden Pontius Glaw, der
sadistische Götzendiener und die Abscheulichkeit in Person?«
»Ein junger Mann braucht ein Steckenpferd.«
»Danke, dass Sie mir das erzählt haben, Pontius. Es war sehr
aufschlussreich.«
»Ich fange gerade erst an …«
»Auf Wiedersehen.«
»Eisenhorn! Eisenhorn, warten Sie! Bitte! Ich …« Die Zellentüren
schlugen hinter mir zu.

Ich wartete zwei Tage, bevor ich zu ihm zurückkehrte. Diesmal


war er mürrisch und übellaunig.
Ich betrat die Zelle und stellte das Tablett an, das ich trug.
»Erwarten Sie nicht, dass ich mit Ihnen rede«, sagte er.
»Warum?«
»Ich habe Ihnen vorgestern meine Seele geöffnet, und Sie … sind
einfach gegangen.« »Jetzt bin ich wieder da.«
»Ja, das sind Sie. Der Grenze schon näher gekommen?«
»Sagen Sie es mir.« Ich beugte mich vor und goss mir ein großes
Glas Amasec aus dem Decanter auf dem Tablett ein. Ich schwenkte
das Glas ein paarmal und trank dann einen anständigen Schluck.
»Amasec.«
»Ja.«
»Alter und Herkunft?«
»Fünfzig Jahre alt, von Gathalamor, in Mahlholzfässern gereift.«
»Ist er … gut?« »Nein.« »Nein?« »Er ist perfekt.« Die Truhe seufzte.
»Was wollten Sie noch sagen? Über diese Grenze?«, fragte ich.
»Ich … ich wollte sagen, dass ich mich sehr über Sie geärgert
habe«, erwiderte Pontius stur.
»Oh.« Ich entnahm der Pappschachtel, die ich aus Tasaera Ungishs
Prunkgemach entwendet hatte, beiläufig ein Lho-Stäbchen. Ich
zündete es an, nahm einen tiefen Zug und atmete den Rauch der
infernalischen Truhe entgegen. Nayl hatte mir eine halbe Stunde
zuvor starke Antitoxine verabreicht, aber ich lehnte mich zurück und
schien das Rauchen offenbar zu genießen.
»Ist das ein Lho-Stäbchen?«
»Ja, Pontius.«
»Hmmm …«
»Was wollten Sie noch sagen?« »Ist es gut?«
»Was wollten Sie noch sagen?«
»Ich … ich habe Ihnen von meinem Ausrutscher erzählt. Von
meiner Überschreitung der Grenze. Was wollen Sie noch von mir?«
»Den Rest. Sie glauben, ich habe die Grenze auch überschritten,
nicht wahr?«
»Ja. Es geht aus Ihrem Gebaren hervor. Sie wirken wie ein Mann,
der die größere Bedeutung des Warpraums verstanden hat.«
»Wie kommt das?«
»Ich sagte doch, das passiert allen Inquisitoren früher oder später.
Ich kann mir vorstellen, wie Sie als junger Mann waren, steif und
puritanisch, in der Schola. Damals muss Ihnen alles ganz einfach
vorgekommen sein. Das Licht und die Finsternis.«
»Dieser Tage ist es nicht mehr so offensichtlich.«
»Natürlich nicht. Weil der Warp in allem steckt. Er ist in den
geordnetsten Dingen, die Sie tun. Ohne ihn wäre das Leben spröde
und fade.«
»Wie Ihr Leben jetzt?«, mutmaßte ich und trank noch einen
Schluck.
»Ich verdamme Sie!«
»Nach allem, was Sie gesagt haben, bin ich schon verdammt.«
»Jeder ist verdammt. Die Menschheit ist verdammt. Die ganze
menschliche Gattung. Chaos und Tod sind die einzigen echten
Wahrheiten der Wirklichkeit. Etwas anderes zu glauben, ist Ignoranz.
Und die Inquisition … so stolz und pflichtbewusst und von ihrer Be-
deutung überzeugt, so sicher, dass sie gegen das Chaos ankämpft …
ist das ignoranteste Ding von allen. Ihre tägliche Arbeit bringt Sie
dem Warp immer näher und mehrt Ihr Begreifen der ungeordneten
Mächte. Allmählich, ohne es wahrzunehmen, werden auch die purita-
nischsten und steifsten Inquisitoren verführt.«
»Ich bin anderer Ansicht.«
Pontius Laune schien sich verbessert zu haben, nun, da wir wieder
in eine Debatte vertieft waren. »Der erste Schritt ist das Wissen. Ein
Inquisitor muss die Grundzüge des Chaos verstehen, um es
bekämpfen zu können. Nach ein paar Jahren weiß er mehr über den
Warp als die meisten ungeschulten Kultisten. Dann der zweite
Schritt: der Moment, in dem er die Regeln bricht und einem Aspekt
des Chaos das Überleben oder Dasein gestattet, so dass er ihn
studieren und von ihm lernen kann. Ich würde mir an Ihrer Stelle gar
nicht erst die Mühe machen und versuchen, das abzustreiten, Ei-
senhorn. Ich bin hier, oder etwa nicht?«
»Das sind Sie. Aber das Verständnis ist unabdingbar. Das wird
Ihnen sogar ein Puritaner sagen! Ohne das Verständnis ist der Kampf
der Inquisition aussichtslos.«
»Dazu sage ich lieber erst gar nichts«, gluckste er. Dann hielt er
kurz inne. »Beschreiben Sie den Geschmack des Amasecs in Ihrem
Mund. Die Eigenschaften, den Duft.«
»Warum?«
»Es ist dreihundert Jahre her, seit ich etwas geschmeckt habe.
Oder gerochen. Oder gefühlt.«
Ich hatte befürchtet, dass meine List mit dem Amasec und dem
Lho-Stäbchen zu offensichtlich sein könnte, aber sie hatte ihn
eingewickelt. »Er liegt wie Öl auf der Zunge, weich,
Körpertemperatur. Das Aroma geht dem Geschmack voran, wie Torf
und Pfeffer, würzig. Der Geschmack ist ein Brennen in der Kehle,
das ein Feuer hinter meinem Herzen entzündet.«
Die Truhe gab einen langen, traurigen Laut gequälten Bedauerns
von sich.
»Der dritte Schritt?«, soufflierte ich.
»Der dritte Schritt … der dritte Schritt ist die Grenze selbst. Wenn
der Inquisitor zum Radikalen wird. Wenn er beschließt, das Chaos
gegen das Chaos einzusetzen.
Wenn er die Kräfte des Warps benutzt. Wenn er den Ketzer um
Hilfe bittet.« »Ich verstehe.«
»Davon bin ich überzeugt. Also … werden Sie mich bitten, Ihnen
zu helfen?«
»Ja. Werden Sie mir diese Hilfe gewähren?«
»Das kommt darauf an«, murmelte die Truhe. »Was springt für
mich dabei heraus?«
Ich drückte das Lho-Stäbchen aus. »Angesichts dessen, was Sie
gerade gesagt haben, nehme ich an, Ihre Belohnung bestünde in der
Befriedigung, mich diese Grenze überschreiten zu sehen und mich
selbst zu verdammen.«
»Ha ha! Sehr schlau! Diesen Teil genieße ich bereits. Was noch?«
Ich drehte das Glas in meiner Hand und schwenkte die
bernsteinfarbene Flüssigkeit darin. »Magos Bure ist ein begabter
Mann. Ein Meister der Maschinen. Ich würde Sie zwar niemals aus
der Gefangenschaft entlassen, aber ich könnte ihn vielleicht um einen
Gefallen bitten.«
»Einen Gefallen?«, wiederholte Pontius in zittriger Erwartung.
»Einen Körper für Sie. Ein Servitor-Chassis. Die Fähigkeit zu
laufen, zu greifen, zu halten. Vielleicht sogar mit raffinierten
Zusätzen wie Wahrnehmungsrezeptoren: ein rudimentärer Tastsinn,
Geruchssinn, Geschmackssinn. Für ihn wäre das ein Kinderspiel.«
»Götter des Warps!«, flüsterte er.
»Nun?«
»Fragen Sie. Fragen Sie mich. Fragen Sie mich, Eisenhorn.«
»Unterhalten wir uns eine Weile … über das Thema
Dämonenwirte.«

»Weißt du eigentlich, was du tust?«, fragte mich Fischig.


»Natürlich«, sagte ich. Wir hatten das Sicherheitsbüro von
Cinchare Grubenzentrum als Operationsbasis übernommen. Bequin
und Aemos hatten aufgeräumt und alles eingerichtet, und Medea,
Inshabel, Nayl und Fischig gingen in der Gegend regelmäßig Streife.
Bure hatte Kampfläufer als zusätzliche Wächter bereitgestellt, und
zur Essene bestand eine ständige Verbindung, um uns vor
eintreffenden Raumschiffen zu warnen.
Es war eines Nachmittags in der dritten Woche unseres Besuchs
auf Cinchare. Ich war gerade von meinem täglichen Besuch von
Glaws Zelle im Annex der Mechanicus zurückgekehrt, als ich mit
Fischig am Fenster des Büros stand und nach draußen auf den Platz
schaute.
»Bist du sicher?«, hakte er nach.
»Ich kann mich erinnern, dass wir ihn bei seiner Befreiung aus der
Carnificina dasselbe gefragt haben«, sagte Bequin, die zu uns kam,
um uns Gesellschaft zu leisten. »Dank Osma und seiner lächerlichen
Hexenjagd sind wir in eine Ecke gedrängt worden. Wenn wir das
erfolgreich durchziehen, können wir uns rehabilitieren.«
Fischig schnaubte. »Es gefällt mir einfach nicht. Ich würde lieber
nichts mit diesem Schlächter zu tun haben. Und ihm nichts
versprechen. Ich habe das Gefühl, als hätten wir die Grenze
überschritten …«
»Was?«, fragte ich scharf. Ich hatte ihnen nur ein paar
Belanglosigkeiten über meine Gespräche erzählt.
»Ich sagte, ich habe das Gefühl, als hätten wir die Grenze
überschritten. Was ist los?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nichts. Wie gehen die anderen
Vorbereitungen voran?«
Ich spürte, dass Fischig das Thema gern weiterverfolgt hätte, aber
dafür war es längst zu spät. Ich lenkte ihn mit dem Themenwechsel
ab.
»Dein Magosfreund arbeitet. Nayl hat ihm gestern die Klinge
gebracht und ihm deine Notizen und Diagramme gezeigt«, sagte er.
»Die Botschaften sind alle geschrieben, verschlüsselt und
versiegelt, bereit, verschickt zu werden«, sagte Bequin. »Ungish
kann sie jederzeit übermitteln. Und die Erklärung habe ich hier.« Sie
reichte mir eine Datentafel.
Es war eine Carta Extremis, die Quixos in aller Form zum Ketzer
und Extremis Diabolus erklärte und seine Verbrechen aufzählte, in
meinem Namen ausgestellt. Sie war datiert auf den zwanzigsten Tag
des zehnten Monats des Jahres 340.M41. Es gab keinen
Ausstellungsort, aber Aemos hatte dafür gesorgt, dass die Carta in
allen anderen Einzelheiten den Imperiumsgesetzen und den Statuten
der Inquisition entsprach.
»Gut. Die schicken wir in ein paar Tagen ab.« Ich wusste, dass
mein Plan im Augenblick der Veröffentlichung der Carta bekannt
sein würde. Das Unternehmen, in das ich mich stürzte, mochte Jahre
dauern, und während dieser ganzen Zeit würde man mich jagen. So
früh wollte ich die schlafenden Hunde noch nicht wecken.
»Wie lange bleiben wir noch hier?«, fragte Bequin.
»Das weiß ich nicht. Noch eine Woche? Einen Monat? Länger? Es
hängt davon ab, wie entgegenkommend Glaw sein wird.«
»Aber du hast schon etwas von ihm bekommen?«, fragte Fischig.
»Ja.« Nicht zu viel, hoffte ich.
An jenem Abend ging ich ein, zwei Stunden in den leeren Straßen
des Grubenzentrums spazieren, um einen klaren Kopf zu bekommen.
Ich wusste verdammt gut, dass ich einen gefährlichen Weg
einschlug. Ich musste weiterhin vollkommen konzentriert bleiben,
sonst ging ich das Risiko ein, die Kontrolle zu verlieren.
Nachdem ich einmal die Oberhand über Glaw gewonnen hatte,
spielte ich mit ihm in den ersten Gesprächen. Sein Gerede von der
Grenze, seine Drei-Stufen-Beschreibung von der Verderbnis, die
einen unbesonnenen Inquisitor erwartete … all das war mir nicht
neu. Ich hatte ihn in dem Glauben gelassen, damit er sich überlegen
und selbstzufrieden fühlen konnte. Jeder Inquisitor, der seine Rosette
wert war, kannte die Gefahren und Versuchungen, die ihn umgaben.
Doch das hinderte seine Worte nicht daran, mich zu treffen. Jeder
puritanische Commodus Voke war ein potenzieller Quixos. Wenn
Glaw sagte, die Grenze werde oft überschritten, ohne es überhaupt zu
bemerken, hatte er recht. Ich hatte genug Radikale kennengelernt, um
das zu wissen.
Ich war immer stolz auf meine puritanische Gesinnung gewesen,
so moderat und amalathianisch sie auch sein mochte. Ich missbilligte
die radikalen Ketzereien. Deswegen wollte ich Quixos haben.
Aber ich war trotzdem besorgt. Ich hielt mein Vorhaben natürlich
für riskant, aber angesichts meiner schwierigen Situation auch für
pragmatisch. Um Quixos zu vernichten, musste ich an seinen
Dämonenwirten vorbei, und das erforderte Macht, Wissen und
Fachkenntnisse. Und ich konnte die Heilige Inquisition nicht mehr
um Unterstützung bitten. Aber hatte ich die Grenze überschritten?
Machte ich mich Sünden schuldig, die ganz leicht zu den radikalen
Entgleisungen eskalieren konnten? War ich so besessen davon,
Quixos zur Strecke zu bringen, dass ich meine eigenen Prinzipien
verriet?
Ich war sicher, dass ich es nicht war. Ich wusste, was ich tat, und
ich ergriff jede mir nur mögliche Vorsichtsmaßnahme, um der von
mir eingesetzten gefährlichen Elemente Herr zu bleiben. Ich war rein
und wahrhaftig, auch jetzt noch.
Und wenn nicht, wie konnte ich es dann erkennen?
Ich kletterte einen Beobachtungsmast empor, der sich hoch über
die Bergbausiedlung erhob, und blieb eine Weile in der vergitterten
Glasblase auf der Spitze, wo ich die Silhouette der Stadt vor der
zerklüfteten Landschaft Cinchares und die funkelnden Sterne
dahinter betrachtete. Schwärme von Meteoren brannten grelle Linien
in den Himmel.
Auf der Treppe hinter mir ertönte ein Geräusch. Es war Nayl.
Er legte seine Pistole weg. »Du bist es«, sagte er, indem er zu mir
in die Blase kam. »Ich war auf Streife und habe gesehen, dass die
Tür offen ist. Alles in Ordnung?«
Ich nickte. »Du kämpfst manchmal mit schmutzigen Tricks,
Harlon, nicht?«
Er sah mich fragend an und kratzte sich den rasierten Schädel.
»Ich weiß nicht genau, ob ich weiß, was du meinst, Boss«, sagte er.
»All die Jahre als Kopfgeldjäger … und ich habe dich kämpfen
sehen, weißt du noch? Manchmal muss man die Regeln brechen, um
zu gewinnen.«
»Ich denke schon. Am Ende setzt man alles ein, was funktioniert.
Ich bin nicht stolz auf einige meiner … rücksichtsloseren Momente.
Aber sie sind nötig. Ich war schon immer der Meinung, dass
Anständigkeit überbewertet wird. Das Schwein, das versucht, einem
die Haut abzuziehen, spielt bestimmt nicht anständig, das ist mal
sicher. Also tut man, was man tun muss.«
»Der Zweck heiligt die Mittel?«
Er hob die Augenbrauen und lachte. »Das ist was anderes. Diese
Denkweise bringt einen in Schwierigkeiten. Es gibt ein paar Mittel,
die kein Zweck jemals heiligen kann. Aber manchmal schmutzig zu
kämpfen, ist keine schlechte Sache. Ebenso wenig wie die Regeln zu
brechen. Vorausgesetzt, man vergisst dabei eines nicht.«
»Und das wäre?«
»Man muss die Regeln überhaupt erst mal verstehen, wenn man
sie brechen will.«
Abgesehen von meinen täglichen Besuchen bei Glaw im Annex
verbrachte ich auch viel Zeit mit Bure. Er arbeitete in seinen
Werkstätten, von Servitoren und Techadepten unterstützt. Er hatte
sich vollkommen in die Aufgaben vertieft, die ich ihm gestellt hatte.
Obwohl er es nie sagte, glaube ich, dass er es als Erwiderung mit
Zins meiner Bemühungen im Kampf mit dem Lith betrachtete.
Er hatte außerdem ohne Beunruhigung zugehört, als Aemos und
ich ihm die Geschichte der jüngeren Vergangenheit geschildert
hatten. Es war wie eine Beichte gewesen. Ich hatte ihm die Carta
gegen mich erklärt und meinen Status als Ketzer. Er hatte meine
Unschuld fraglos akzeptiert. Wie er es ausdrückte: »Hapshant hätte
keinen Radikalen hervorgebracht. Es ist der Rest der Galaxis, der
sich irren muss.«
Das reichte ihm. Ich war seltsam gerührt.
Eines Tages in der sechsten Woche unseres sich immer mehr in
die Länge ziehenden Aufenthalts rief er mich in seine Werkstatt.
Sie lag unter der Hauptkapelle des Annex' und war zwei
Stockwerke tief, eine ausgewachsene Schmiede voller Maschinen
und Apparate, deren Zweck mich vor Rätsel stellte. Dampfpressen
hämmerten und krachten, und Schrauber jaulten. Abgesehen von
meinen eigenen Projekten war mit der Reparatur des Annex und des
Translithopäden reichlich zu tun. Ich ging durch die Dampfschwaden
und fand Bure, der gerade zwei Servitoren Anweisungen gab, die
Symbole in eine zwei Meter lange Stange aus einer Stahllegierung
frästen.
»Eisenhorn«, sagte er, indem er seine leuchtend grünen
Augenlichter hob und mich ansah. »Wie geht die Arbeit voran?«
»Ich fühle mich wie ein Kriegsschmied in den Gießereien der
Schmiedewelten, als ich noch aus Fleisch und Blut war. Die
Spezifikationen, um die Sie gebeten haben, sind schwierig, aber nicht
unmöglich. Eine Herausforderung macht mir Freude.«
Ich holte mehrere Seiten Papier aus meiner Manteltasche und gab
sie ihm. »Noch mehr Notizen, gemacht bei meinem letzten Gespräch
mit Glaw. Ich habe die entscheidenden Bemerkungen unterstrichen.
Hier, er schlägt Elektrum für die Kappe vor.«
»Ich wollte Eisen benutzen oder eine Eisenlegierung. Elektrum.
Das klingt vernünftig.« Er ging mit meinen Aufzeichnungen zu
einem erhöhten Planungstisch, der mit Schriften, Holofedern,
Messwerkzeugen und Datentafeln bedeckt war. Seiten mit Notizen,
die ich ihm bereits gebracht hatte, waren dort zusammen mit psy-
chometrisch gemachten Bildern, die Ungish aus meinen Gedanken
von den cadianischen Pylonen, Cherubael, Prophaniti und den von
ihm getragenen Ornamenten gezeichnet hatte.
»Ich denke außerdem über den Leitstein für die Kappe nach. Ich
habe an Pyralin gedacht oder an eine der anderen tele-empathischen
Kristallarten wie Epidotrichit, aber ich glaube nicht, dass eine davon
die Strapazierfähigkeit für Ihre Zwecke hat. Gewiss nicht für mehr
als ein oder zwei Einsätze. Außerdem habe ich an tafelförmige
Zanthroclase gedacht.«
»Was ist das?«
»Ein Silikat, das wir bei Gedankenimpuls-Vorrichtungen
einsetzen. Aber ich bin nicht überzeugt. Mir schweben noch ein paar
andere Möglichkeiten vor.« Es sprach Bände über das Vertrauen, das
Bure in mich setzte, dass er über solche Geheimnisse der Adeptus
Mechanicus so offen redete. Ich fühlte mich geehrt.

»Hier ist das Heft«, sagte er, während er mich zu der Arbeitsbank
führte, wo die beiden Servitoren, die Verzierungen in die lange
Stange frästen.
»Stahl?«
»Oberflächlich. Der Kern ist aus Titan und von einer
Adamantiummanschette unter der stählernen Hülle umgeben. In das
Titan sind Kanäle gebohrt, in denen sich die leitenden
Lapidorontiumdrähte befinden.«
»Sieht perfekt aus«, sagte ich.
»Es ist perfekt. Buchstäblich perfekt. Mit einer Toleranz von
einem Nanometer nach Ihren Maßen gefertigt. Ich zeige Ihnen das
Schwert.«
Ich folgte ihm zu einer Werkbank am anderen Ende der Schmiede,
wo das Schwert unter einem Staubtuch ruhte.
»Was meinen Sie?«, fragte er, indem er das Tuch zurückschlug.
Barbarisater war so schön, wie ich es in Erinnerung hatte. Ich
bewunderte die frischen Pentagramm-Schutzvorrichtungen, die in die
Klinge geätzt worden waren, seit ich sie zuletzt gesehen hatte, zehn
auf jeder Seite.
»Das ist ein bemerkenswertes Artefakt. Ich war beinahe unwillig,
die von Ihnen verlangten Veränderungen vorzunehmen. Ich habe
acht Adamantium-Bohrspitzen allein an dieser Seite ruiniert. Die
gehärtete Stahlhaut der Klinge um den festen Kern ist neunhundert
Mal gefaltet und gehämmert worden. Sie übersteigt alles, was wir
heutzutage fertigen können.«
Für diese Waffe stand ich in Klan Esw Sweydyrs Schuld, wie ich
bereits für Arianrhods Leben in seiner Schuld stand. Ich hätte sie in
seine Obhut zurückbringen müssen, denn sie war Teil des Klan-
Vermächtnisses und usuril, der »lebendigen Geschichte«. Das
Schwert war mir anvertraut, und es stand mir nicht zu, es zu nehmen
und auf diese Art zu verunstalten. Aber in Kasr Gesh, von Angesicht
zu Angesicht mit Prophaniti, hatte ich zwei Dinge gelernt.
Tatsächlich hatte dieses Monstrum sie mir selbst verraten.
Pentagramm-Schutzvorrichtungen funktionierten gegen
Dämonenwirte, aber sie waren nicht stärker als die Waffe, die sie
trug.
Meines Wissens gab es kaum bessere, stärkere Klingen im von
Menschen besiedelten All. Ich würde irgendwann meinen Frieden
mit den Klans von Carthae machen und mich bei ihnen
entschuldigen, wenn das Schicksal es zuließ.
Ich trat vor, um die Klinge zu berühren, doch Bure hielt mich
zurück. »Sie ruht noch. Wir müssen ihre Anima respektieren. In ein
paar Tagen können Sie die Klinge nehmen. Machen Sie sich gut mit
ihr vertraut. Sie müssen intime Kenntnis von ihr haben, bevor Sie sie
im Kampf einsetzen.«
Er begleitete mich zur Tür der Schmiede. »Beide Waffen müssen
vor der Benutzung gesegnet und geweiht werden. Ich kann das nicht
tun, obwohl ich ihre Fertigung zeremoniell dem Maschinengott
widmen kann.«
»Für die Weihe habe ich bereits Pläne«, sagte ich. »Aber ich
würde Ihre Zeremonie begrüßen. Wenn ich gegen Quixos vorgehe,
kann ich mir keinen mächtigeren Schutzpatron als Ihren
Maschinengott für mich vorstellen.«

»Wir brechen in ein paar Tagen auf«, sagte ich zu ihm.


Die Truhe schwieg eine Weile. »Unsere Gespräche werden mir
fehlen, Eisenhorn.«
»Ich muss trotzdem gehen.«
»Glauben Sie, Sie sind bereit?«
»Ich glaube, dieser Teil meiner Vorbereitung ist abgeschlossen.
Können Sie mir sonst noch etwas sagen?«
»Das habe ich mich auch schon gefragt. Mir fällt nichts mehr ein.
Außer …«
»Außer was?«
Die Lichter rings um die Engramm-Sphäre funkelten. »Außer dem
hier. Abgesehen von allem, was Sie von mir erfahren haben, den
Geheimnissen, dem Wissen, den Mysterien, müssen Sie wissen, dass
dieser Feind … gefährlich ist.«
Ich lachte unwillkürlich. »Ich glaube, das weiß ich bereits,
Pontius!«
»Nein, Sie wissen nicht, was ich meine. Sie haben die
Entschlossenheit, das weiß ich, den Ehrgeiz, das weiß ich auch —
Sie haben das Wissen, nehmen wir an, und auch die Waffen, hoffen
wir -, aber wenn Ihr Geist nicht vorbereitet ist, werden Sie sterben.
Augenblicklich, und keine Schutzvorrichtung, kein Stab, keine
Klinge und keine Rune wird Sie davor bewahren.«
»Das hört sich an … als würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn
ich verlöre.«
»Würde es? Dann denken Sie über Folgendes nach, Gregor
Eisenhorn: Sie mögen mich für ein Ungeheuer halten, das Ihre
Verachtung nicht wert ist, aber wenn es mir etwas ausmachte, was
würde das über mich verraten? Oder über Sie?«
»Auf Wiedersehen, Pontius Glaw«, sagte ich und schloss die
Zellenluken hinter mir zum letzten Mal.

Ich werde diese Überlegungen aufzeichen, weil ich das Gefühl


habe, dass ich muss. Trotz allem, was Pontius Glaw war … und trotz
allem, was später kam, kann ich meine Verbindung zu ihm nicht
abschütteln, obwohl ich es versuche. Dort, in der Zelle von Cinchare,
und ein Jahrhundert zuvor im tristen Laderaum der Essene, hatten
wir uns viele hundert Stunden unterhalten. Ich hatte keinen Zweifel,
dass er ein unverzeihlich böser Mensch war und er mich in diesen
Zeiten sofort getötet hätte, wenn er auch nur die geringste
Gelegenheit dazu bekommen hätte. Aber sein Intellekt war
außerordentlich, und er war gewitzt und gebildet. In vielerlei und
sonderbarer Hinsicht bewundernswert. Wäre dieser Torques nicht
gewesen, Aaas Torques, an jenem Frühlingstag auf Quenthus, wäre
sein Leben vielleicht anders verlaufen.
Und wenn es anders verlaufen wäre und wir uns getroffen hätten,
wären wir die besten Freunde geworden.
Wir waren drei Monate auf Cinchare geblieben. Meiner Ansicht
nach zu lange, aber die Vorbereitungen hatten sich einfach nicht
beschleunigen lassen.
Wir feierten Kerzennacht in der kleinen Kapelle des Ministorums
am Platz, indem wir Kerzen anzündeten, um das neue imperiale Jahr
zu begrüßen, und noch mehr zum Gedenken an die Toten der Stadt.
Aemos und Bequin lasen aus dem Evangelium vor, denn alle
Ekklesiarchen zählten zu den Toten, derer gedacht wurde. Bure und
seine Techadepten feierten mit uns, und er schwebte zum
Chorgeländer unter der großen Statue des Gott-Imperators, um uns
bei unseren Gebeten voranzugehen.
Ich war nervös und unruhig. Teils, weil ich erpicht darauf war,
endlich aufzubrechen, teils wegen des Wissens in meinem Kopf,
wegen der Mysterien, in die Glaw mich eingeweiht hatte. So viele
davon waren finster. Ich wusste, dass mich das Wissen um sie ver-
ändert hatte, und diese Veränderungen waren permanent.
Aber ich dachte auch daran, dass ich noch vor einem Jahr — erst
vor einem Jahr, obwohl es mir sehr, sehr viel länger vorkam — ein
hilfloser Gefangener in der tristen Carnificina gewesen und
Kerzennacht an mir vorbeigerauscht war, bevor ich es überhaupt zur
Kenntnis genommen hatte.
Ich war auch nicht mehr derselbe Mann, und diese Veränderung
hatte nichts mit Pontius Glaws geflüsterten Geheimnissen zu tun.
Trotz all der Finsternis, die in meinem Kopf umherwirbelte, war es
doch besser, hier zu sein, stark und bereit, gefestigt und in
Gesellschaft von Freunden und Verbündeten.
Es gab keinen Chormeister, der Orgel spielen konnte, also hatte
Medea die Leier ihres Vaters mitgebracht und spielte den Heiligen
Triumph des Goldenen Throns, damit wir alle singen konnten.
In jener Nacht feierten wir im Refektorium der Adeptus
Mechanicus den Beginn des Jahres 341.M41 mit einem Festmahl.
Maxilla, der Dienst an Bord der Essene hatte, schickte uns die
Speisen mit einer Fähre herunter, begleitet von Servitoren, die uns
bedienten. Einer von ihnen berichtete, ein riesiger Schwarm
Meteoren sei um Schlag Mitternacht über den Himmel gerast und
habe die Nacht Cinchares mit seinen feurigen Schweifen erleuchtet.
Nayl knurrte, dies sei ein böses Omen, doch Inshabel beharrte darauf,
es sei ein gutes.
Ich nehme an, es hing davon ab, aus welchem Teil des riesigen
Imperiums man kam.

Die anderen verbrachten die nächsten beiden Tage mit Packen und
Reisevorbereitungen, doch Aemos und ich besuchten die
Weihezeremonie im Annex der Adeptus Mechanicus im dortigen
Allerheiligsten.
Servitoren des Maschinenkults skandierten in moduliertem
Maschinencode, während sie auf Kesselpauken schlugen. Magos
Bure war in seine orangen Gewänder gehüllt und trug eine weiße
Stola um die Schultern.
Er segnete die von ihm angefertigten Waffen eine nach der
anderen, indem er erst die eine und dann die andere von den beiden
Techadepten in Empfang nahm, die dort wartend standen.
Barbarisater, das Pentagrammschwert, wurde ins Licht gehoben,
das aus den Augen des Maschinengottes herabfiel. Dann folgte der
Runenstab, Bures Meisterstück.
Er hatte eine Kappe aus Elektrum für die mit Runen besetzte
Stahlstange geschmiedet, und zwar in der Form einer flammenden
Sonnenkorona. In deren Mitte befand sich ein menschlicher Schädel,
der mit dem dreizehnten Mal der Geißelung markiert war. Der
Schädel war der Leitstein, von Bure persönlich zu einem perfekten
Abbild meines eigenen Schädels geformt, nachdem er mit Hilfe
zahlloser Abtastungen genau vermessen worden war. Er hatte über
zwanzig verschiedene tele-empathische Kristalle ausprobiert und
verworfen, bevor er einen gefunden hatte, von dem er glaubte, er
werde der Aufgabe gewachsen sein.
»Wunderschön«, sagte ich, indem ich es ihm abnahm. »Für
welchen Kristall haben Sie sich am Ende entschieden?«
»Was glauben Sie?«, sagte er. »Ich habe diese Kopie Ihres
Schädels aus dem Lith gemeißelt.«

Er kam in den Hangar, wo das Kanonenboot so lange vor Anker


gelegen hatte, um uns persönlich zu verabschieden. Nayl und Fischig
trugen die letzten Dinge an Bord. Wir hatten das astropathische
Schweigen in der Nacht zuvor endlich gebrochen und Imperiale
Minerale, Ortog Prometheum, die Adeptus Mechanicus und die
Imperiumsbehörden über das Schicksal, das über Cinchare
Grubenzentrum hereingebrochen war, in Kenntnis gesetzt. Wir
würden lange verschwunden sein, bevor die ersten Schiffe zur
Wiederaufbauarbeit eintrafen.
Bure verabschiedete sich von Aemos, der zum Kanonenboot
schlurfte.
»Ich kann nichts sagen, was auch nur einigermaßen angemessen
wäre«, sagte ich zu dem Magos.
»Und ich nicht zu Ihnen, Eisenhorn. Was ist mit … dem
Insassen?«
»Ich möchte, dass Sie tun, worum ich Sie gebeten habe. Geben Sie
ihm wenigstens Mobilität. Aber nicht mehr. Er muss ein Gefangener
bleiben, jetzt und immer.«
»Nun gut. Ich gehe davon aus, dass ich alles über Ihren Sieg höre,
Eisenhorn. Ich werde warten.«
»Mögen der Heilige Maschinengott und der Imperator selbst Ihre
Systeme beschützen, Geard.«
»Danke«, sagte er. Dann fügte er etwas hinzu, das mich angesichts
seines absoluten Glaubens an und seines Zutrauens in die
Technologie doch sehr verblüffte.
»Viel Glück.«
Ich ging zum Kanonenboot. Er beobachtete mich einen Moment
und verschwand dann, nachdem er das Innenluk hinter sich
zugezogen hatte.
Ich sollte ihn nie mehr wiedersehen.

Von Cinchare flog die Essene schnell und ungeduldig in die Weite
des Segmentum Obscurus zurück, eine dreimonatige Reise, die wir
zwei Mal unterbrachen.
Bei Ymshalus hielten wir an, um die vorbereiteten Botschaften zu
senden, alle zwanzig. Inshabel und Fischig verließen uns an dieser
Stelle ebenfalls. Inshabel, um sich nach Elvira Cardinal einzuschiffen
und mit seiner Arbeit dort zu beginnen, und Fischig, um sich auf den
langen Rückweg nach Cadia zu machen. Es würde Monate, wenn
nicht Jahre dauern, bis wir sie wiedersahen. Es war ein betrübter und
sorgenvoller Abschied.
Bei Palobara, jenem Verkehrsknotenpunkt an der Grenze, wo es
von Handelsschiffen und Obscura-Karawanen wimmelte, die von
angeworbenen Kanonenbooten eskortiert wurden, machten wir Halt
und sendeten die Deklaration der Carta. Jetzt gab es kein Zurück
mehr. Hier trennte ich mich auch von Bequin, Nayl und Aemos, die
alle auf unterschiedlichen Wegen in den helicanischen Subsektor
zurückkehrten. Bequins Ziel war Messina, Aemos war mit Nayl als
Leibwächter nach Gudrun unterwegs. Noch eine schwere Trennung.

Die Essene flog nach Orbul Infanta weiter. Die Fahrt war eine
einsame Warterei. Jeden Abend versammelten sich die Reste meiner
Truppe in Maxillas Speisesaal und aßen gemeinsam: ich selbst,
Medea, Maxilla und Ungish. Ungish war keine Gesellschaft, und
selbst Medea und Maxilla hatten ihre Munterkeit eingebüßt. Sie ver-
missten die anderen, und ich glaube, sie wussten, wie dunkel und
hart die vor uns liegende Zeit sein würde.
Ich verbrachte meine Tage in der Bibliothek des Kanonenboots
und las oder spielte Königsmord mit Medea. Mit Barbarisater übte
ich in den Laderäumen, wo ich die Kniffe im Umgang mit seinem
Gewicht und seiner Balance meisterte. Ich würde niemals das
Geschick einer auf Carthae geborenen Schwertmeisterin haben, aber
ich war schon immer gut mit dem Schwert gewesen. Barbarisater war
ein ganz außergewöhnliches Stück. Ich lernte es kennen, und es
lernte mich kennen. Binnen einer Woche reagierte es auf meinen
psionischen Willen und kanalisierte ihn so hart, dass die Runenmale
bei jeder Manifestation von psionischer Kraft grell aufleuchteten. Es
hatte einen eigenen Willen, und wenn ich es einmal in den Händen
hielt, war es schwierig, es daran zu hindern, dorthin zu zucken und
zu stoßen, wohin es wollte. Es hungerte nach Blut … oder wenn
nicht nach Blut, so doch wenigstens nach den Freuden der Schlacht.
Bei zwei separaten Gelegenheiten kam Medea in den Laderaum, um
festzustellen, ob ich gelangweilt genug für eine weitere Runde
Königsmord war, und ich musste den Stahl daran hindern, ihr entge-
genzustoßen.
Seine schiere Länge war ein Problem. Ich hatte noch nie eine
derart lange Klinge benutzt. Ich machte mir Sorgen, ich könnte
meinen eigenen Extremitäten Schaden zufügen. Aber meine
Übungen erschlossen mir auch die Vorteile: lange, fließende
Bewegungen, weit reichende Streiche, ein langes Schnittfeld. Nach
zwei Wochen hatte ich den Trick gemeistert, es in der Hand zu
drehen, und meine offene Handfläche und der Knauf umkreisten
einander wie die Scheiben eines Gyroskops. Ich war stolz auf diese
Bewegung. Ich glaube, Barbarisater lehrte sie mich.
Ich arbeitete auch mit dem Runenstab, um mich auch an ihn und
seine Balance zu gewöhnen. Obwohl ich vor allem auf Entfernungen
von über drei oder vier Metern ganz schlecht zielte, lernte ich,
meinen Willen durch meine Hände in den Schaft einfließen zu lassen
und ihn dann durch den Kristallschädel in Form von elektrischen
Strahlen zu projizieren, die Deckenplatten verbeulten.
Natürlich konnte ich ihn unmöglich für seinen primären Zweck
testen.

Wir erreichten die Schreinwelt von Orbul Infanta am Ende der


zwölften Woche. Ich hatte hier drei Dinge zu erledigen, und das erste
war die Weihe des Schwerts und des Stabs.
Mit Ungish und Medea begab ich mich in einer der unauffälligen
kleinen Fähren der Essene anstelle des Kanonenboots auf die
Oberfläche. Wir fuhren nach Ezropolis, einer von Orbul Infantas
zehntausend Schreinstädten im glühend heißen Kernland des
Westkontinents.
Orbul Infanta ist eine von der Ekklesiarchie beherrschte Welt, die
mit einer Unzahl von Schreinen gesegnet ist, von denen jeder einem
anderen Heiligen des Imperiums gewidmet ist und das Herz eines
Stadtstaates bildet. Die Ekklesiarchie hat die Welt als Schreinwelt
ausgewählt, weil sie auf direkter Linie zwischen Terra und Avignor
liegt. Die beliebtesten und geschäftigsten Schreinstädte lagen an der
Küste des Ostkontinents, und jedes Jahr pilgerten Milliarden
Gläubige dorthin. Ezropolis war von derartigem Trubel weit entfernt.
St. Ezra, im Jahre 670.M40 als Märtyrer gestorben, war der
Schutzheilige von Unternehmungen und Vorhaben, was ich für
angemessen hielt. Seine Stadt war ein flimmernder Auswuchs aus
Stahl, Glas und Stein, in einer in der Sonne bratenden Prärie des
Mittelwestens. Den Reiseführern zufolge, wurde sämtliches Wasser
durch eine zweitausend Kilometer lange Leitung von der Westküste
herangepumpt.
Wir landeten in Ezra-Prärie, dem Hauptraumhafen, und schlossen
uns der Schlange der Pilger an, welche die gewundene Treppe zur
Zitadelle erklommen. Die meisten waren gelb gekleidet, in der Farbe
des Heiligen, oder waren mit gelben Stofftüchern geschmückt. Alle
trugen trotz des unbarmherzigen gleißenden Lichts brennende
Kerzen oder Öllampen. Ezra hatte versprochen, eine Flamme in der
Dunkelheit für all jene anzuzünden, die sich auf den Weg machten,
und infolgedessen war seine heilige Farbe flammengelb.
Wir hatten alle nötigen Nachforschungen unternommen. Ich trug
einen Anzug aus schwarzem Leinen mit einer Schärpe aus gelber
Seide und eine brennende Votivkerze in der Hand. Ungish war in ein
blassgelbes Gewand von der Farbe der Sonne im Morgengrauen
gehüllt und hielt eine Gipsfigur des Heiligen vor sich. Medea hatte
einen dunkelroten Trikotanzug unter einem Wappenrock angelegt,
auf den ein gelbes Adlersymbol genäht war. Sie schob den kleinen
Gravkarren, auf dem Barbarisater und der Stab in gelben Samt
gehüllt lagen. Für Pilger war es üblich, dass sie ihre weltliche Habe
zum Schrein Ezras brachten, auf dass er sie segnen möge, bevor ein
Unternehmen angegangen werden konnte. Wir fielen in den
wimmelnden Reihen schwitzender, eifriger Anbeter nicht im Ge-
ringsten auf.
Am Ende der Treppe traten wir in die gesegnete Kühle der
Straßen, wo die Schatten der Gebäude auf uns fielen. Es war beinahe
Mittag, und Chöre der Ekklesiarchie sangen auf den Plattformen, die
den Abschluss der hohen, schlanken Türme bildeten. Glocken
läuteten, und gelbe Saftfinken wurden auf den drei Plätzen der Stadt
zu Tausenden aus Käfigen frei gelassen. Die ockerfarbenen Wolken
aus Vögeln flatterten und schwärmten über uns und um uns und
flöteten und zwitscherten verblüfft. Jeden Tag wurde eine Million
von ihnen aus den Gen-Vogelhäusern in die Stadt gebracht, wo sie in
industriellen Mengen gezüchtet wurden. Sie waren in diesem Teil
von Orbul Infanta nicht heimisch und starben binnen Stunden nach
ihrer Freilassung über der ausgedörrten Wüste. Es wurde berichtet,
dass die Prärie rings um Ezropolis knöcheltief mit den Überresten
ihrer weißen Knochen und gelben Federn bedeckt sei.
Trotzdem waren sie das Symbol für Unternehmen und Aufbruch,
und so wurden jeden Mittag Millionen von ihnen freigelassen und
damit zum sicheren Tod verurteilt. In dieser Tatsache liegt eine
furchtbare Ironie, die ich schon oft der Ekklesiarchie zu Gehör
bringen wollte.

Wir begaben uns zur Kathedrale der Aussichten von St. Ezra,
einem bedeutsamen Tempel im Westen der Stadt. Auf jeder Mauer
und Dachkante auf unserem Weg hockten Saftfinken und
zwitscherten, wie es mir vorkam, empört.
Die eigentliche Kathedrale war zugegebenermaßen prächtig, ein
niedergotisches Münster, in den letzten dreißig Jahren erbaut und mit
Geldern bezahlt, die von den Stadtvätern und der Priesterschaft
aufgebracht worden waren. Jeder Besucher, der durch die
Stadtmauern trat, war verpflichtet, je eine Münze von hohem Wert in
die Opferstöcke beiderseits der Zugangstreppe zu werfen. Ein gelb
berobter Adept der Priesterschaft war dort, um sich zu vergewissern,
dass dies auch geschah. Der Opferstock zur Linken war die Kollekte
für die Instandhaltung und den Bau der städtischen Tempel. Der zur
Rechten finanzierte die Saftfinken.
Wir betraten die Kathedrale und die Kühle ihres marmornen
Hauptschiffs, wo die Gläubigen im Gebet niederknieten und das
durch die großen, hohen Buntglasfenster einfallende Sonnenlicht
bunte Muster auf allem zeichnete. Die kühle Luft wurde versüßt
durch den Rauch von Süßholzbrennern und belebt durch den
munteren Gesang der Cantoria.
Ich ließ Medea und Ungish im gewölbten Torbogen des Eingangs
neben einem Grabmal zurück, auf dem das geprägte Abbild eines
Space Marine vom Orden der Raven Guard zu sehen war, dessen
Hände so angeordnet waren, dass sie anzeigten, auf welchem
heiligen Kreuzzug er gefallen war.
Ich fand den Profos der Kathedrale und erklärte ihm, was ich von
ihm wollte. Er sah mich mit leerem Blick an und zupfte an seinen
gelben Gewändern herum, aber er verstand mich rasch, als ich sechs
Münzen von hohem Wert in seine Almosentruhe warf und ihm zwei
weitere in die Hand drückte.
Er führte mich zu einer Taufkanzel, und ich bedeutete meinen
Kollegen, mir zu folgen. Als wir alle dort versammelt waren, zog er
die Vorhänge zu und öffnete sein Brevier. Als er mit dem Ritual
begann, wickelte Medea die Gegenstände aus und legte sie auf den
Rand des Weihwasserbeckens. Der Profos murmelte weiter und hob
dann, den Blick weiterhin starr auf das offene Buch gerichtet, um
nicht ins Stocken zu geraten, ein Fläschchen mit Chrisam, öffnete es
und salbte sowohl den Stab als auch das Schwert mit dem Öl.
»Mit der Segnung und Weihe dieser Gegenstände ehre ich den
Imperator, der mein Gott ist, und fordere jene, die diese Gegenstände
vorbringen, auf, dies ohne den Makel der Begehrlichkeit zu tun.
Geloben Sie das?«
Mir ging auf, dass er mich ansah. Ich hob den Kopf aus der
Haltung kniender Demut. Begehrlichkeit. Ein Verlangen nach dem
Verbotenen. Wagte ich, diesen Schwur mit meinem Wissen zu
leisten?
»Nun?«
»Ich bin ohne Makel, puritus«, erwiderte ich. Er nickte und fuhr
mit der Weihe fort.

Der erste Teil meines Anliegens war erledigt. Wir gingen nach
draußen auf den Platz vor der Kathedrale.
»Bring sie zur Fähre zurück und verstau sie sicher«, sagte ich zu
Medea, indem ich auf die eingewickelten Waffen auf dem Karren
wies.
»Was bedeutete das mit der Begehrlichkeit?«, fragte sie.
»Mach dir deswegen keine Gedanken«, sagte ich. »Hast du gerade
gelogen, Gregor?« »Halt den Mund und mach dich auf den Weg.«
Medea fuhr mit dem Karren durch die Massen der Pilger.
»Sie ist ein schlaues Mädchen, Ketzer«, flüsterte Ungish.

»Eigentlich können Sie auch den Mund halten«, sagte ich.


»Das werde ich aber nicht«, schnauzte sie. »Das ist es nämlich.«
»Was? ›Es‹?«
»In meinen Träumen habe ich Sie vor einem Imperiumsaltar falsch
schwören sehen. Ich habe es gesehen, und es hatte meinen Tod zur
Folge.«
Ich beobachtete die Saftfinken, die über dem Platz hin und her
flatterten.
»Deja vu.«
»Ich kenne das Déjà-vu aus einem Traum«, sagte Ungish
mürrisch. »Und ich kenne das Déjà-vu in- und auswendig.«
»Der Gott-Imperator wacht über uns«, versicherte ich ihr.
»Ja, ich weiß, dass er das tut«, sagte sie. »Ich glaube nur, dass ihm
nicht gefällt, was er sieht.«
Wir warteten bis zum Abend auf dem Platz, wo wir warmes Brot
mit Salat aßen und gesüßten Kaffein tranken, Dinge, die wir
Straßenhändlern abkauften. Ungish aß nicht viel. Lange Schatten
fielen im Licht des Spätnachmittags auf den Platz. Ich rief Medea
über Kom. Sie war sicher in der Fähe angelangt und wartete auf uns.
Ich wartete darauf, mein zweites Vorhaben zu beenden. Dies war
der vereinbarte Tag, und die vereinbarte Stunde nahte rasch. Dies
würde der erste Test der zwanzig Botschaften sein, die ich
ausgesandt hatte. Eine war an Inquisitor Gladus gegangen, einen
Mann, den ich bewunderte und mit dem ich vor dreißig Jahren bei
der P'glao-Verschwörung zusammengearbeitet hatte. Orbul Infanta
lag in seinem Zuständigkeitsbereich. Ich hatte ihm geschrieben, ihm
meinen Fall geschildert und ihn um Unterstützung gebeten. Ihn
gebeten, sich zu dieser Stunde hier an diesem Ort mit mir zu treffen.
Wie bei allen anderen Botschaften handelte es sich um eine
Vertrauensfrage. Ich hatte nur Männern und Frauen geschrieben, die
meiner Ansicht nach untadelig waren und mir unabhängig davon,
was sie von mir hielten, die Gnade erweisen mochten, sich mit mir
zu treffen und die Angelegenheit Quixos zu erörtern. Wenn sie mich
oder meine Absicht ablehnten, war das in Ordnung. Ich rechnete aber
nicht damit, dass einer von ihnen mich ausliefern oder versuchen
würde, mich festzunehmen.
Wir warteten. Ich war ungeduldig, gereizt … auch noch immer
wegen der dunklen Mysterien, die Pontius Glaw mir in den Kopf
gesetzt hatte. Ich hatte in den letzten vier Monaten nicht gut
geschlafen. Ich war reizbar.
Ich rechnete damit, dass Gladus kommen würde oder zumindest
eine Botschaft von ihm. Er mochte verhindert sein oder sich
verspäten oder zu sehr mit eigenen Angelegenheiten beschäftigt.
Aber ich glaubte nicht, dass er mich ignorieren würde. Ich suchte in
der abendlichen Menge nach einer Spur seiner langhaarigen, bärtigen
Gestalt, seinen grauen Gewändern, seines in einem Haken
auslaufenden Stabs.

»Er kommt nicht«, sagte Ungish.


»Ach, hören Sie schon auf.«
»Bitte, Inquisitor, ich will gehen. Mein Traum …«
»Warum vertrauen Sie mir nicht, Ungish? Ich werde Sie
beschützen«, sagte ich. Ich öffnete meine schwarze Leinenjacke,
damit sie die Laserpistole in dem Halfter unter meinem linken Arm
sehen konnte.
»Warum?«, fuhr sie auf. »Weil Sie mit dem Feuer spielen. Sie
haben die Grenze überschritten.«
Ich zuckte zusammen. »Warum haben Sie das gesagt?«, fragte ich,
während ich Pontius' Worte laut durch meine Gedanken hallen hörte.
»Weil es stimmt, verflucht! Ketzer! Verfluchter Ketzer!«
»Hören Sie auf damit!«
Sie erhob sich unsicher von der Bank auf dem Hof. Pilger drehten
sich bei ihrem Ausbruch zu ihr um. »Ketzer!«
»Hören Sie auf, Tasaera! Setzen Sie sich! Niemand wird Ihnen
etwas tun!«
»Sagt der Ketzer! Sie haben uns mit Ihren Machenschaften alle
verdammt! Und ich bin diejenige, die dafür büßen muss! Ich hab's in
meinem Traum gesehen … dieser Ort, diese Stunde … Ihre Lüge vor
dem Altar, die kreisenden Vögel…«
»Ich habe nicht gelogen«, sagte ich, indem ich sie zurück auf die
Bank zog.
»Er kommt«, flüsterte sie.
»Wer? Gladus?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht Gladus. Der kommt überhaupt
nicht. Keiner von denen kommt. Die haben alle Ihre hübschen
kleinen Bettelbriefe gelesen und gelöscht. Sie sind ein Ketzer, und
sie wollen nichts mit Ihnen zu tun haben.«
»Ich kenne die Leute, denen ich geschrieben habe, Ungish. Keiner
von ihnen würde mich so vollkommen missachten.«
Sie drehte sich zu mir um und schaute mir ins Gesicht, und ihr
Kopfkäfig zischte, als er entsprechend nachjustierte. Ihre Augen
waren voller Tränen. »Ich habe solche Angst, Eisenhorn. Er kommt.«
»Wer?«
»Der Jäger. Mehr hat mein Traum mir nicht gezeigt. Einen Jäger,
unsichtbar und unkenntlich.«
»Sie machen sich zu viele Sorgen. Kommen Sie mit mir.«

Wie gingen in die Kathedrale der Aussichten von St. Ezra zurück
und nahmen in der vordersten Bankreihe Platz. Die Abendsonne fiel
seitlich durch die Fenster. Die Statue des Heiligen, die sich hinter der
Chorschranke erhob, sah erhaben aus.
»Jetzt besser?«, fragte ich.
»Ja«, schniefte sie.
Ich sah mich beständig um, in der Hoffnung, Gladus werde
auftauchen. Pilger trafen zur Abendandacht ein.
Vielleicht kam er nicht, vielleicht hatte Ungish recht. Vielleicht
war ich mehr Ausgestoßener, als ich mir vorgestellt hatte, sogar für
alte Freunde und Kollegen.
Vielleicht hatte Gladus meine demütige Botschaft gelesen und mit
einem Fluch weggeworfen. Vielleicht hatte er sie zu den Arbites
geschickt… oder zur Ekklesiarchie … oder zum Officio für Interne
Ermittlungen der Inquisition.
»Noch zwei Minuten«, versicherte ich ihr. »Dann gehen wir.« Der
verabredete Zeitpunkt war lange vorbei.
Ich sah mich wieder um. Mittlerweile fluteten die Pilger durch den
Haupteingang in die Kathedrale.
Eine Lücke war im Strom, ein Raum, wo sich jemand hätte
aufhalten müssen. Er war ziemlich offensichtlich, da die Pilger sich
zwar darum herum bewegten, ihn aber niemals ausfüllten
Meine Augen weiteten sich. In der Lücke war ein Flimmern von
Energie, wie ein Seitenblitz von einem Spiegelschirm.
»Ungish«, zischte ich, indem ich nach meiner Waffe griff.
Aus der Lücke jagten mir kreischend durch das Kirchenschiff
Boltgeschosse entgegen. Pilger kreischten voller Panik und flohen in
alle Richtungen.
»Der Jäger!«, jammerte Ungish. »Unkenntlich und unsichtbar!«
Das war er. Mit aktiviertem Spiegelschirm war er nicht mehr als
ein Hitzeflimmern, kenntlich nur durch den Mündungsblitz seiner
Waffe.
Eine Massenpanik hatte die Kathedrale erfasst. Pilger trampelten
andere Pilger nieder, hastig fliehend.
Die Rückenlehnen der Bänke explodierten, als sie von den
Boltgeschossen getroffen wurden. Ich erwiderte das Feuer mit
ordentlichen Lasersalven.
»Dorn wünscht Aegis, feige Hunde im Genick!«
Mehr konnte ich nicht senden, bevor mich ein Boltgeschoss
seitlich am Hals streifte, rückwärts schleuderte und mein Kom
zerstörte.
Ich wälzte mich über den Marmorboden und blutete ihn voll.
»Eisenhorn! Eisenhorn!«, brüllte Ungish und schrie dann vor
Schmerzen.
Ich sah, wie sie durch die Holzleisten der Bankeinfassungen
geschleudert wurde und sie demolierte. Ein Boltgeschoss hatte sie
mitten in den Bauch getroffen. Verblutend wand sie sich inmitten der
Holzsplitter jammernd und schreiend auf dem Boden.
Ich versuchte zu ihr zu kriechen, während weitere unnütze Schüsse
die restlichen vorderen Bankreihen zerfetzten.
Ich schaute auf. Hexenjäger Arnaut Tantalid schaltete seinen
Spiegelschirm aus und starrte auf mich nieder.
»Sie sind ein verfluchter Ketzer, Eisenhorn, und diese Tatsache ist
jetzt durch die für Sie herausgegebene Carta unzweifelhaft erwiesen.
Im Namen des Ministorums der Menschheit fordere ich Ihr Leben.«
EINUNDZWANZIG
Tod in St. Ezra. Die lange Jagd. Die Zelle der Fünf.

Wie er mich gefunden hatte, war mir ein Rätsel, aber ich glaube, er
war schon lange hinter mir her gewesen, schon lange vor Cinchare.
Die Tatsache, dass er zu dieser Stunde und an diesem Tag in die
Kathedrale zur Aussicht von St. Ezra gekommen war, überzeugte
mich, dass er meine Botschaft an Gladus abgefangen hatte. Und er
hätte an dieser Stelle auch über mich triumphiert, hätte er seinen
Vorteil genutzt und die Sache einfach mit seiner Boltpistole zu Ende
gebracht.
Stattdessen halfterte Tantalid seine Boltpistole und zog sein altes
Kettenschwert Theophantus, in der Absicht, mit der heiligen Waffe
eine förmliche Hinrichtung vorzunehmen.
Ich schoss mit meiner Laserpistole auf ihn, gab Schuss um Schuss
auf ihn ab und trieb ihn so zurück. Seine mit goldenen Zisellierungen
verzierte Schlachtrüstung, die seiner verschrumpelten Gestalt Fülle
und Proportionen eines Space Marine verlieh, absorbierte die Energie
oder lenkte die Strahlen ab, aber die schiere Trefferwucht schleuderte
ihn mehrere Schritte zurück.
Ich sprang auf und zog mich weiterschießend längs der
Epistelseite der Kathedrale in Richtung Reliquienschrein zurück.
Zuschauer und Kirchendiener flohen immer noch. Mit surrenden
Sägezähnen schwang Theophantus nach mir. Tantalid blaffte dabei
die Anklage der Ketzerei, Vers um Vers.
Sei still!, brüllte ich unter Einsatz meiner Willenskraft.
Der psionische Stich schockierte ihn so sehr, dass er verstummte,
aber er war allgemein durch Psi-Dämpfer geschützt und ignorierte
meinen nächsten psionischen Befehl »aufzuhören« vollkommen.
Das Kettenschwert surrte heran, und ich warf mich zur Seite, da es
eine Bank entzweihieb. Der Rückschwung hätte mich beinahe
erwischt, aber ich wich hinter einen Stützpfeiler aus, der dem Schlag
in einem Regen aus Funken und Gesteinssplittern die Wucht nahm.
Ungish schrie und jammerte immer noch vor Schmerzen. Das
Geräusch ließ mich frösteln und erzürnte mich gleichzeitig. Ich
schoss wieder mit meiner Laserpistole, aber die letzten Schüsse
knisterten nur noch mit minimaler Energie aus dem Lauf. Die
Energiezelle war erschöpft. Ich hechtete wieder beiseite, fintierte an
seiner sich langsam bewegenden Körperfülle vorbei und packte ihn
von hinten. Es war ein verzweifelter Plan. Ungerüstet, wie ich war,
hatte ich kaum Aussichten, seiner brutalen Kraft Herr zu werden oder
ihm weh zu tun. Er griff mit einer im stählernen Panzerhandschuh
steckenden Faust nach hinten, packte mich bei der Jacke und zerrte
mich weg.
Meine Jacke riss. Ich schlug schwer gegen einen Pfeiler und
krachte durch das zierliche Flechtwerk eines Beichtstuhls. Ich hatte
mich kaum aus den dünnen Holzsplittern aufgerappelt, als das
Kettenschwert wieder heransauste und einen tiefen Spalt in den
Kathedralenboden schlug.
Da rannte ich vor ihm davon, durch das Südschiff zum
Reliquienschrein. Zwei Männer der Frateris Militia der Kathedrale,
die eindeutig auf der Jagd nach Beförderung waren und gedachten,
sie dadurch zu bekommen, dass sie dem furchterregenden
Hexenjäger des Ministorums zu Hilfe kamen, schlossen ihn, um mir
den Fluchtweg zu versperren. Beide trugen Ezras Gelb und einen
kurzen Kampfstab in einer sowie eine Tempellaterne in der anderen
Hand.
Ich glaube, sie bedauerten beide sehr rasch ihre enthusiastische
Einmischung.
Ich hielt mich gar nicht erst mit dem Einsatz meiner Willenskraft
auf. Ich glaube, meine Wut war ohnehin zu groß, um sie noch sauber
einsetzen zu können. Ich wich dem ersten Stab seitlich aus, fing und
brach das Handgelenk, das ihn schwang, und trat den Mann zu
Boden. Der Stab drehte sich in der Luft, als er sich aus der nutzlosen
Hand des Trottels löste, und ich fing ihn und drehte ihn kreuzweise,
um den abwärts geführten Schlag des zweiten Mannes zu parieren.
Als er unter Einwirkung des Rückschlags seines eigenen
abgewehrten Hiebs zurückprallte, schlug ich ihm mit meiner
erbeuteten Waffe seitlich vors Knie. Er fiel mit einem
durchdringenden Aufschrei zu Boden, wobei er seinen eigenen Stab
losließ und mich stattdessen mit der Tempellaterne zu schlagen
versuchte. Ich entriss ihm die Lampe und trat ihm in den Bauch, so
dass er sich auf der Seite liegend schluchzend zusammenkrümmte
und sich zu erinnern versuchte, wie man atmete.
Der erste Mann war wieder auf den Beinen und rannte auf mich
los. Ich fuhr herum und schlug ihm die Tempellaterne seitlich ins
Gesicht. Sowohl ihr als auch sein Licht erloschen.
Der Boden bebte, als Tantalid mich erreichte und auf mich
einschlug. Ich benutzte den eroberten Stab wie ein Schwert,
beidhändig, um seine Schläge abzulenken. Der Stab bestand aus
eisenbeschlagenem Hartholz und war stabil, aber einem
Kettenschwert nicht gewachsen. Nach drei Paraden war der Stab
verstümmelt und unbrauchbar. Ich warf ihn beiseite und riss eine
Kirchenstandarte von der Wand neben der Tür des Reliquienschreins.
Theophantus zerfetzte sofort das alte bestickte Tuch mit dem Titulus
am Ende, aber das ließ mir eine drei Meter lange Stange aus
Gusseisen.
Ich hielt sie wie einen Kampfstab und schlug Tantalid mit dem
einen Ende zunächst seitlich vor den Kopf und dann mit dem anderen
auf die Hüfte auf der anderen Seite. Dann stach ich mit dem Ende
nach ihm wie mit einem Speer und schlug eine Beule in den
Brustharnisch seiner Rüstung.
Als Antwort — und mittlerweile seinerseits vor Wut schäumend
— riss er Teophantus hoch und kürzte meine Stange um einen halben
Meter. Ich schwenkte das verbliebene Stück einhändig herum und
traf ihn auf der anderen Seite des Kopfes. Blut quoll ihm aus den
Ohren. Er heulte und warf sich zu einem Angriff nach vorn, der mir
beinahe den Arm abgetrennt hätte.
Mein dritter Versuch, ihm seinen erbärmlichen Schädel
einzuschlagen, traf nicht. Er war jetzt gewarnt und parierte mit
seinem Kettenschwert. Die Sägezähne bissen sich an der Stange fest,
rissen sie mir aus den Händen und schleuderten sie zehn Meter hoch
in die Luft. Sie landete mit einem lauten, hallenden Klirren hinter
einigen Bankreihen.
Ich sprang vor dem brutalen Folgehieb zurück, aber die
mörderische Klinge erwischte mich an der Schulter und versetzte mir
einen tiefen Schnitt. Mit auf die Wunde gepresster Hand duckte ich
mich wieder, und Theophantus enthauptete eine Statue von St. Ezras
Ablassprediger.
Was immer ich tat, die Waagschale neigte sich zu seinen Gunsten.
Er hatte die Waffen und die Rüstung auf seiner Seite. Und jetzt
blutete ich stark, was bedeutete, dass ich allmählich immer
langsamer und schwächer würde und er nur immer weiter angreifen
musste, um schließlich zu triumphieren.
Ich registrierte vage einen weiteren Aufruhr an den Haupttüren der
großen Kathedrale. Viele verschreckte Pilger und Hierarchen hatten
sich zurückgezogen und dort versammelt, um den heiligen Kampf zu
beobachten. Jetzt spritzten sie förmlich auseinander. Eine Gestalt
stürmte durch sie und hinein.
Medea.
Sie lief durch das Hauptschiff, rief mir etwas zu und gab einen
Schuss mit ihrem Nadler auf Tantalid ab. Die tödlichen Geschosse
prallten mit hellem Ping von seiner Rüstung ab, und er drehte sich
verärgert um.
Tantalid zog seine Boltpistole und schoss auf diesen neuen
Angreifer. Medea warf den Gegenstand, den sie in der anderen Hand
trug, und hechtete dann beiseite, um den Hammerschlägen der
Boltgeschosse auszuweichen. Hoffentlich war es ein absichtlicher
Hechtsprung, betete ich. Wenn er sie getroffen hatte …
Der von ihr geworfene Gegenstand prallte von der Bankreihe
neben mir ab, landete auf dem Boden und glitt aus seiner gelben
Hülle.
Barbarisater.
Ich riskierte es, von dem Kettenschwert aufgeschlitzt zu werden,
als ich mich auf die Klinge von Carthae warf. Meine Hände fanden
den langen Griff, und ich wälzte mich zwei Mal herum, um
Theophantus' nächstem Hieb auszuweichen.
Barbarisater schnurrte in meinen Händen, als ich hochkam. Die
Runen erstrahlten in rachsüchtigem Licht.
Tantalid ging auf, dass sich das Wesen des Kampfes jäh geändert
hatte. Ich sah es in seinen Augen.
Mein erster Schwung fuhr durch sein Handgelenk und schnitt
sauber durch die Manschette der Servorüstung, so dass seine Hand
mit der noch rauchenden Boltpistole zu Boden fiel.
Mein zweiter traf Theophantus und zerstörte das Schwert, so dass
sich auflösende Sägezähne und Maschinenteile durch die Luft flogen.
Mein dritter schnitt Hexenjäger Tantalid von der linken Schulter
bis zum Schritt entzwei. Keine Hälfte von ihm gab ein Geräusch von
sich, als beide auseinanderklafften und auf den Kathedralenboden
fielen.
Barbarisater brodelte immer noch vor Kraft und zuckte, als Medea
unverletzt hinter einem Chorstuhl hervortrat. Ich zwang die hungrige
Klinge nach unten.
»Beeil dich!«, sagte sie.
Ungish war tot. Ich konnte nichts für sie tun. Und dabei hätte ich
so viel für sie tun können. Sie hatte recht gehabt. Recht in Bezug auf
das hier. Recht in Bezug auf ihr Schicksal. Ich wagte nicht, mir
vorzustellen, wie viele ihrer Bemerkungen sich noch als wahr
erweisen mochten.
Als Medea meinen Glossia-Ruf bei Tantalids erstem Angriff
gehört hatte, war sie trotz aller Warnungen, sofort abzubrechen, vom
Raumhafen vor der Stadt gestartet, direkt hergeflogen und draußen
auf dem Platz vor der Kathedrale gelandet.
Während wir jetzt durch Massen benommener Zuschauer, die uns
aus dem Weg sprangen, nach draußen rannten, waren bereits die
Arbites der Stadt und die Frateria Militia alarmiert und unterwegs. Es
hatte keinen Sinn, auf sie zu warten.
Die Fähre brachte uns rasch zurück zur Essene, und wir verließen
Orbul Infanta, so schnell wir konnten.
Es war ein Chaos, und ich war furchtbar entmutigt. Die
Zuversicht, mit der wir alle von Cinchare aufgebrochen waren,
schien sich verflüchtigt zu haben. Orbul Infanta war nur der erste
Teil eines groß angelegten Plans gewesen, und dank Tantalid hatte er
ein schlechtes Ende genommen. Ich hatte keine Verbindung zu
Gladus aufgenommen und herausgefunden, dass meine Botschaften
nicht sicher waren, so vorsichtig ich auch gewesen war. Die dritte
Aufgabe, die ich auf Orbul Infanta hatte erledigen wollen, eine
Durchsuchung der imperialen Archive nach gewissen Informationen
in Bezug auf Quixos, hatte ich nicht einmal beginnen können.
Zumindest waren die Waffen geweiht. Und Barbari-sater hatte sich
im Kampf mehr als bewiesen.

Fregatten der Frateris Militia und einige Wachboote der


Imperialen Flotte versuchten die Essene aufzuhalten, aber Maxillas
Navigator brachte uns aus dem System und dem Realraum, bevor sie
in unsere Nähe kamen. Einige Schiffe folgten uns ins Immaterium,
und wir wurden acht Tage verfolgt, bis wir unsere Verfolger durch
eine Reihe von Realraum-Bremsmanövern und Kurswechseln
abschütteln konnten.
Wir tauchten unter. Einen Monat in einem Depot auf einer wenig
technisierten Agrarwelt, weitere zwei in der automatisierten Station
auf Kwyle. Mittlerweile war ich sehr schreckhaft und rechnete
beständig mit Überraschungsangriffen, aber alles blieb ruhig, und wir
wurden nicht belästigt. Maxiila hatte in seinem Freihändlerleben die
Kunst entwickelt, unbemerkt zu fliegen und Aufmerksamkeit zu
vermeiden. Diese Kunst stellte er jetzt in den Dienst unserer Sache,
was mich schließlich wieder etwas zuversichtlicher machte.

Drei Monate, nachdem wir den Orbit von Orbul Infanta in aller
Eile verlassen hatten, riskierten wir eine Fahrt nach Gloricent, einer
abgelegenen, aber blühenden Handelswelt im Subsektor Antimar,
einem anderen Teil des Scarus-Sektors, der nur zwei Subsektoren
vom helicanischen entfernt war. Zwar waren Welten wie Gudrun und
Thracian Primaris gut vier Monate mit dem Raumschiff entfernt,
aber es war dennoch ein wenig wie Heimat. Verkleidet besuchten
Medea und ich die vom Meer gepeitschten Steinhaufen einer der
Hauptmakropolen und mieteten bei der dortigen kommerziellen
Gilde zwei Astropathen auf unbestimmte Zeit.
Ihre Namen lauteten Adgur und Ueli, beides junge Männer, beide
psionisch sehr fähig, aber auch stumpfsinnig und emotionslos. Ihre
jungen Köpfe waren rasiert, die Stöpsel darin glänzend und neu, und
sie redeten mich übermäßig förmlich an, was nach der papageienhaft
auswendig gelernten Etikette klang, die es traurigerweise auch war.
Aber ihre Augen wiesen dunkle Ringe auf, und die Haut verlor
bereits ihren jugendlichen Glanz. Die Härten des astropathischen Le-
bens forderten bereits ihren Tribut.

Durch sie versendete ich neue Botschaften, welche die alten außer
Kraft setzten, und änderte gewisse Aspekte meines Plans. Keine
meiner Botschaften schlug jetzt noch die Art Treffen vor, die ich mit
Gladus versucht hatte. Ich wollte mich jetzt nicht mehr so weit aus
dem Fenster lehnen.
Nach einer Woche ohne Antworten verließen wir Gloricent und
flogen über Mimonon nach Sarum, der Hauptwelt des antimarischen
Subsektors. Ich konnte einige nützliche Dinge in den dortigen
Bibliotheken erledigen, zog mich aber zurück, als ich feststellte, dass
mir ein mürrischer kleiner Confessor auf Forschungsurlaub folgte,
als habe er mich erkannt.
Während wir über Sarum vor Anker lagen, bekam ich meine ersten
Antworten, alle verschlüsselt. Von Bequin auf Messina und Aemos
auf Gudrun. Beide meldeten, ihr Teil des Plans sei sehr viel glatter
verlaufen als meiner. Zwei Tage später traf eine teilweise
verstümmelte Botschaft von Inshabel auf Elvara Cardinal ein. Was
ich ihr entnehmen konnte, schien auf einigen Erfolg hinzudeuten. Ich
konnte es kaum erwarten, mehr zu erfahren.
In der Woche, bevor wir Sarum verließen, empfing ich zwei
weitere, beide anonym, eine von Thracian Primaris, die andere aus
einem Haufen von Sklavenwelten, die der Provinz Salies im
ophidianischen Subsektor Gefolgschaft schuldeten. An der
sorgfältigen Verschlüsselung und Sprache der beiden erkannte ich
den jeweiligen Absender.
Meine Zuversicht stieg.

Nach dieser Verbesserung schienen die Dinge wieder zu


stagnieren. Es gab keine Fortschritte und keine weitere
Kommunikation. Wir waren gezwungen, Lorwen, unseren nächsten
Halt nach Sarum, mit unziemlicher Hast zu verlassen, als eine
Armada von Kriegsschiffen aus der Schlachtflotte Reaver eintraf.
Mittlerweile weiß ich, dass die Flottenmanöver bei Lorwen — und
auch bei Sarum und Femis Major — Teil einer größeren
Vorsichtsmaßnahme zum Schutz vor zwei Space Hulks waren, die
plötzlich im Subsektor aufgetaucht waren. Aber sie verursachten uns
über dreizehn Wochen ängstlichen Verbergens zwischen den braunen
und schwarzen Zwergsternen einer erloschenen stellaren Kinder-
krippe.
Eine weitere Kerzennacht kam und ging, während wir im
Immaterium waren, unterwegs zur Drewlian-Gruppe. Medea,
Maxiila und ich feierten gemeinsam, nur wir drei. Die beiden
Astropathen und der Navigator waren nicht eingeladen. Ich hob ein
Glas, um auf den weiteren Erfolg unserer Mission anzustoßen, aber
ich glaube, ich wäre nicht so lebhaft und munter gewesen, hätte ich
gewusst, dass ein weiteres volles Jahr verstreichen sollte, bevor der
letzte Akt in diesem Schauspiel beginnen würde.

Ich verbrachte die ersten vier Monate des Jahres 342 mit einer
fruchtlosen Suche nach dem gefeierten Präkog-Eremiten Lukas
Cassina in den stinkenden Sümpfen von Drewlia Zwo, um dann zu
erfahren, dass er vor vier Jahren von einem Kult der
Monodominatoren ermordet worden war. Bei dieser Suche bereitete
ich den Aktivitäten einer Seuchendämon-Sekte ein Ende, die das
Marschland heimsuchte. Die Angelegenheit wuchs sich zu einem
eigenständigen Unternehmen aus, aber mein voller Bericht ist in den
Archiven der Inquisition separat abgespeichert, und sie ist ohne
Bedeutung für diese Aufzeichnung. Außerdem betrachte ich sie
immer noch mit einiger Verbitterung als Unterbrechung und Zeit-
verschwendung. Auch werde ich hier nicht die ganze Geschichte von
Nathan Inshabels Erlebnissen auf Elvara Cardinal oder Harlon Nayls
einfach außergewöhnliche Erlebnisse auf Bimus Tertius schildern,
obwohl beide mit den hier berichteten Vorgängen zu tun haben.
Inshabel hat seine eigene, erfrischend witzige Darstellung seiner
Erlebnisse geschrieben, die sich jene mit der entsprechenden
Freigabe gern ansehen können, was ich an dieser Stelle nur als sehr
erhellend und lohnenswert empfehlen kann. Nayl hat mich gebeten,
seine Geschichte nicht aufzuschreiben, und hat sie nie aufgezeichnet.
Sie kann wohl nur von jenen in Erfahrung gebracht werden, welche
die Kühnheit besitzen, ihn danach zu fragen, und das Geld, um die
Zeche für eine lange Trinknacht zu bezahlen.
In dieser ganzen Zeit blieb ich ein Gesetzloser, der von der
Inquisition für seine Ketzereien gesucht wurde. Es ist interessant
festzuhalten, dass die Inquisition zu keinem Zeitpunkt in dieser
Phase die von mir gegen Quixos verkündete Carta aufhob oder als
ungültig erklärte.

Das Jahr 343.M41 war bereits zur Hälfte vorbei, als die Essene
mich nach Thessalon brachte, einer Feudalwelt in der Nähe von
Hesperus im helicanischen Subsektor. Nayl hatte sie als Treffpunkt
für unsere geheime Zusammenkunft ausgewählt. Mit einem Trupp
von zwanzig aus meinem Stab auf Gudrun ausgewählten Männern
traf er eine Woche vor uns dort ein, um die Umgebung zu sichern
und dafür zu sorgen, dass wir nicht kompromittiert würden. Seine
Vorbereitungen waren gründlich und ausgeklügelt. Niemand kam
ohne sein Wissen in die Sperrzone, noch hätte es jemand bewältigen
können. Beim geringsten Anzeichen für eine Störung von außen oder
eine offizielle Einmischung würden wir reichlich Zeit für den
Rückzug und die Flucht haben.
Als abschließende Vorsichtsmaßnahme war ich der Letzte, der
eintraf.
Thessalon ist eine harte kleine Welt, deren Bevölkerung in einem
finsteren Zeitalter lebt und nichts vom Imperium und der Galaxis
jenseits ihres Himmels weiß.
Der Treffpunkt war eine Festungsruine im Norden des zweiten
Kontinents, zweitausend Kilometer von der nächsten eingeborenen
Gemeinde entfernt. Ein paar einsame Tierherden und für sich
lebende Bauern sahen zweifellos die Lichter unserer Schiffe am
Himmel, aber für sie waren wir nur die Omen der Götter und die glü-
henden Augen sagenhafter Bestien.

Medea setzte mich bei Einbruch der Nacht am Rande eines


Koniferenwaldes ab und startete dann wieder mit dem Kanonenboot,
um als Luftüberwachung zu fungieren und jeden Augenblick
zurückkehren und mich abholen zu können. Zum ersten Mal seit über
zwei Jahren war ich wieder wie ein Inquisitor gekleidet: schwarzes
Leder, langer Mantel und stolz getragene Rosette. Außerdem trug ich
meinen Glaubensharnisch mit der Gravur Puritus. Zur Hölle mit
jedem, der glaubte, ich sei seiner nicht würdig.
Nayl, in Schlachtrüstung und mit einem Laserkarabiner in der
Armbeuge ruhend, tauchte zwischen den Bäumen auf und begrüßte
mich. Wir schüttelten uns die Hände. Es war gut, ihn wiederzusehen.
Seine Männer, die er ganz sicher in der Umgebung verteilt hatte, wa-
ren in der zunehmenden Dunkelheit unsichtbar.
Nayl führte mich durch den schwarzen Wald zu einer Lichtung
zwischen den Bäumen, wo die Pinienspitzen ein perfektes
malvenfarbenes Oval aus Sternenhimmel einrahmten. Die Burg, ein
verfallener Trümmerhaufen aus grauem Stein, stand auf der
Lichtung, und durch die untersten Fensterschlitze fiel der spärliche
Schein abgeschirmter Lampen.
Nayl umging mit mir die Alarmsensoren und Stolperdrähte sowie
die Strahlen der Bewegungsmelder, die das Bauwerk wie ein Netz
umgaben. Servitorschädel aus meinem persönlichen Arsenal
schwebten im Schatten, aufmerksam und bewaffnet.
Bequin und Aemos kamen mir im Eingangsbogen entgegen.
Aemos sah blass und besorgt aus, aber sein Gesicht verzog sich zu
einem warmen Lächeln, als er mich sah, Bequin umarmte mich.
»Wie viele?«, fragte ich sie.
»Vier«, sagte sie.
Nicht schlecht. Nicht großartig, aber nicht schlecht. Viel hing
davon ab, wer die vier waren. »Sonst noch etwas?«
»Alle Vorbereitungen sind getroffen. Wir können jederzeit
anfangen«, sagte Aemos. »Wir haben ein Ziel?«
»Das haben wir. Du erfährst alles, wenn wir die anderen
einweihen.«
»Gut.« Ich hielt kurz inne. »Sonst noch etwas, das ich wissen
sollte?«
Alle drei schüttelten den Kopf.
»Dann lasst es uns angehen«, sagte ich.
Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen setzte ich mein Leben aufs Spiel.
Ich präsentierte mich, freiwillig, vier Mitgliedern der Inquisition. Ich
vertraute darauf, dass bisherige Freundschaften und
Zusammengehörigkeitsgefühle mehr wert waren als die
Anschuldigungen, die Osma gegen mich vorgebracht hatte. Nur diese
vier hatten auf die ursprünglich zwanzig Botschaften reagiert. Nayl
hatte jeden überprüft, aber es bestand immer noch eine sehr
realistische Möglichkeit, dass alle oder einige von ihnen nur
gekommen waren, um den erklärten Ketzer Gregor Eisenhorn
hinzurichten. Ich würde es bald wissen.

Als ich in den von Kerzen erleuchteten Hauptraum trat,


verstummten sofort alle Unterhaltungen, und sechs Männer wandten
sich mir zu. Fischig, imposant in seiner schwarzen Rüstung, nickte
mir mit leichtem Lächeln zu. Interrogator Inshabel, in einen
Trikotanzug und einen leichtgewichtigen Umhang gehüllt, neigte den
Kopf und lächelte nervös.
Die anderen vier starrten mich ungerührt an.
Ich trat ernst in ihre Mitte.
Der Erste schlug die Kapuze seines kastanienfarbenen Umhangs
zurück. Es war Titus Endor. »Hallo, Gregor«, sagte er.
»Guten Abend, alter Freund.« Endor gehörte zu den ersten beiden,
die mich im vergangenen Jahr aus den Sklavenwelten von Salies
anonym kontaktiert hatten. Der andere, der sich von Thracian
Primaris gemeldet hatte, stand neben ihm.
»Commodus Voke. Sie ehren mich mit Ihrer Anwesenheit.«
Der runzlige alte Mann grinste mich an. »Um unserer Geschichte
und — verdammt seien seine Augen - Lykos und anderer Dinge
willen bin ich hier, Eisenhorn, obwohl der Imperator weiß, dass ich
sehr misstrauisch bin. Ich werde Sie anhören, und wenn mir nicht
gefällt, was Sie zu sagen haben, ziehe ich mich zurück … ohne die
Vertraulichkeit dieser Zusammenkunft aufzuheben!«, fügte er streng
und mit erhobenem Zeigefinger hinzu. »Ich werde die
Zusammenkunft nicht verraten, aber ich behalte mir das Recht vor,
sie zu verlassen, wenn ich sie wertlos finde.«
»Das ist selbstverständlich Ihr gutes Recht, Commodus.«
Zu seiner Linken stand ein hochgewachsener, selbstsicherer Mann,
den ich nicht kannte. Er trug eine braune Leder-Flakrüstung unter
einem langen blauen Mantel aus Kavalleriestoff, und seine silberne
Rosette war auf der linken Brust befestigt. Sein ovaler Kopf war
rasiert, aber in seinen Augen war ein violettes Funkeln, das mir
verriet, dass er Cadianer war.
»Inquisitor Raum Grumman«, sagte Fischig, der vortrat. Grumman
nahm meine dargebotene Hand mit einem knappen Nicken.
»Inquisitor-General Neve bestätigt den Empfang ihrer Botschaft
an sie und bittet mich, ihr ehrliches Bedauern auszusprechen, dass sie
heute nicht hier sein kann. Sie hat mich persönlich gebeten, ihren
Platz einzunehmen und Ihnen die Dienste zu leisten, die ich ihr
leisten würde.«
»Dafür bin ich sehr dankbar, Grumman. Aber ich will von Anfang
an sicher sein, dass Sie wissen, worum es hier geht. Nur hier zu sein,
weil Ihre Vorgesetzte sie darum gebeten hat, ist nicht genug.«
Der Cadianer lächelte. »Doch, ist es. Aber um Sie zu beruhigen,
ich bin die Sache sehr sorgfältig mit Neve und Ihrem Fischig
durchgegangen. Ich mache mir keine Illusionen, was die Gefahr
angeht, hier zu sein und mich auf Ihre Seite zu schlagen. Angesichts
der Beweislage wäre ich ohnehin hier.«
»Gut. Ausgezeichnet. Willkommen, Grumman.«
Die Identität des vierten und letzten Gasts verblüffte mich. Er war
in eine polierte Rüstung gehüllt, die maßgefertigt und
außerordentlich teuer aussah. Mit seinen Panzerhandschuhen griff er
sich an den Kopf und setzte den knurrenden Hundeschädel-Helm ab.
Inquisitor Massimo Ricci vom helicanischen Ordo Xenos. Er war
kaum ein alter Freund, aber ich kannte ihn gut.
»Ricci?«
Sein hübsches, hochmütiges Gesicht verzog sich zu einem breiten
Lächeln. »Wie Grumman bin auch ich hier, um Ihnen das Bedauern
eines Anderen auszusprechen. Aus zahlreichen Gründen, die ich
gewiss nicht aufzählen muss, kann Lord Rorken Ihrer Bitte nicht per-
sönlich entsprechen. Es wäre für ihn politischer Selbstmord, an
dieser Sache teilzunehmen. Aber der Lordinquisitor glaubt immer
noch an Sie, Eisenhorn. Er hat mich als seinen Bevollmächtigten
geschickt.«
Ricci war einer von Lord Rorkens am meisten geschätzten und
bewunderten Inquisitoren. Viele sagten, er sei der mutmaßliche
Nachfolger für den Posten eines Meisters des Ordo Xenos. Seine
Anwesenheit hier war ein gewaltiges Kompliment, sowohl von Lord
Rorken, der es für richtig gehalten hatte, einen seiner erleuchtetsten
Männer zu schicken, als auch von Ricci selbst, der durch seine bloße
Anwesenheit eine glänzende Karriere aufs Spiel setzte. Beide hatten
ganz eindeutig meinen Vorschlag und mein Anliegen sehr ernst
genommen.
»Meine Herren«, sagte ich. »Es ist mir eine Freude und eine Ehre,
Sie alle hier zu sehen. Lassen Sie uns die Angelegenheit frei und
offen erörtern und anschließend sehen, wo wir stehen.«

Die thessalonianischen Nachtwinde ächzten durch die


Festungsruinen, während ich sie informierte. Inshabel und Nayl
hatten Stühle hereingebracht und einen massiven Tisch auf
Stützböcken errichtet. Bequin und Aemos stellten Datentafeln,
Tabellen, Papiere und andere Beweisstücke zur Verfügung, wenn ich
sie anforderte.
Ich sprach zwei Stunden vor ihnen und ging dabei den gesamten
Fall Quixos durch, wie er mir bekannt war. Ein Großteil dessen, was
ich sagte, hatte ich bereits in den ursprünglichen Botschaften
dargelegt, aber ich fügte sämtliche Einzelheiten hinzu und
beantwortete Fragen, sobald sie auftauchten. Endor schien zufrieden
zu sein und sagte kaum etwas. Es war gut, einen echten Freund hier
zu haben, der ganz einfach meinem Wort und meinen Absichten
traute. Grumman war ebenfalls relativ zurückhaltend. Voke und
Ricci stellten viele Fragen und verlangten Klarstellungen für die
winzigsten Details.
Alle drei Ordos waren am Tisch präsent: Voke gehörte zum Ordo
Malleus — wenn er auch dankbarerweise kein Mitglied von Beziers
innerstem Kreis war -, Ricci und ich zum Ordo Xenos und Grumman
und Endor zum Ordo Hereticus. Abgesehen von Grumman waren wir
alle Diener des Ordos Inquisitorae Helican. Nur Titus Endor, von
dem ich wusste, dass er bekanntermaßen sehr bescheiden war, trug
seine Rosette nicht offen zur Schau.

Ich glaube, ich redete eloquent und gut.


Wir unterbrachen nach zwei Stunden, um uns die Beine zu
vertreten, über das Gehörte nachzudenken und Erfrischungen zu uns
zu nehmen. Ich ging nach draußen, sog die kalte Nachtluft ein und
lauschte dem Rauschen des Windes in den Koniferen. Fischig kam
mit einem Glas Wein zu mir.
»Es steht schlecht um Neve«, kam er direkt zur Sache. Er war von
Cinchare nach Cadia zurückgeflogen, um mehr Daten zu sammeln
und speziell den Inquisitor-General zu rekrutieren.
»Meinetwegen?«
Er nickte. »Wegen allem. Osma hat große Schwierigkeiten
gemacht, nachdem wir dich aus der Carnificina befreit hatten.
Schließlich hat er die vereinte Macht von Bezier und Orsini im
Rücken. Das hat Neves Vorgesetzten, Großmeister Nunthum vom
Ordo Cadia, aufmerken lassen, das kann ich dir sagen. Sie wollten
ihr an den Kragen. Aber sie konnten ihr nichts beweisen. Neve ist
sehr gut darin, schlüpfrig zu sein. Und sie ist auch für dich
eingetreten wie eine Bärenmutter für ihr Junges, das kannst du mir
glauben.«
»Ist sie sicher?«
»Ja. Dank einer massiven Invasion des Erzfeinds vor acht
Monaten. Das Cadianische Tor liegt im Krieg, und es herrscht
völliges Chaos. Im Moment interessiert es niemanden, welche Rolle
Neve wohl bei der Eisenhorn-Verschwörung gespielt haben mag.«
»Ist das die offizielle Bezeichnung?«
»Das ist die offizielle Bezeichnung.«
Ich trank von dem Wein, in der Erwartung, etwas Rustikales,
Einheimisches vor mir zu haben, aber er erwies sich als verdammt
guter roter Samater. Aus meinem eigenen Keller, vermutete ich.
Bequin würde sich um diese Dinge gekümmert und nur das Beste
ausgesucht haben, um unsere Gäste milde zu stimmen.
»Grumman, was hältst du von ihm?«
»Ich habe viel für ihn übrig, Gregor«, sagte Fischig. »Scharfer
Verstand, weiß, was er tut. Angesichts der Beobachtung, unter der
sie steht, wusste Neve, dass sie nicht wegkommen würde, also hat sie
Grumman ausgesucht, und ich glaube, das hätte sie nicht getan, wenn
er es nicht wert wäre.
Die beiden haben eine lange gemeinsame Vergangenheit, und
Grumman macht es aus Respekt vor ihr. Aber wir haben uns auf dem
Flug hierher oft und lange unterhalten, und ich glaube, er ist jetzt
auch aus eigener Überzeugung dabei.« »Gut. Die anderen?«
»Voke steckt voller Überraschungen«, schnaubte er. »Als du
gesagt hast, er stünde auf deiner Kontaktliste, dachte ich, du wärst
verrückt geworden. Natürlich nicht so verrückt, wie Lord Rorken zu
schreiben, aber trotzdem … Ich hätte nie gedacht, dass der alte
Bastard hier auftauchen oder sich auch nur zu einer Antwort
herablassen würde. Er ist so steif, dass sogar der Besenstiel in seinem
Arsch noch einen Besenstiel im Arsch hat. Die Wette hätte ich
verloren. Er muss dich mehr mögen, als er durchblicken lässt.«
»Wir verstehen uns«, sagte ich. Ich hatte Voke auf dem
Flaggschiff Sanctus Scythus das Leben gerettet, aber er hatte mir den
Gefallen auf der Victor-Bellum-Allee erwidert. Vielleicht reichte
das.
»Er muss noch überzeugt werden«, sagte Fischig, »aber ich
glaube, dass er langfristig dabei ist.«
»Tatsächlich?«
»Hast du diesen Widerling Heidane irgendwo gesehen?«
Ich wusste, was Fischig meinte. Heidane hätte fraglos gegen diese
Mission opponiert und große Freude daran gehabt, mich
festzunehmen, tot oder lebendig. Voke war eindeutig ohne Wissen
seines alten Schülers gekommen. Fischig hatte recht. Das war ein
gutes Zeichen.
»Endor, tja, der steht außer Frage, oder?«, sagte Fischig.
»Angesichts eurer gemeinsamen Vergangenheit wäre er ohnehin
gekommen.«
»Es ist gut, ihn hier zu haben. Was ist mit Ricci?«
Fischigs Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Wenn man vom
Teufel spricht.«
Er zog sich zurück. Mit einem Becher Wein in der Hand trat Ricci
hinter uns durch den Torbogen und gesellte sich zu mir. Er
betrachtete das verblüffend helle Sternenfeld.
»Ich hoffe, Ihnen ist klar, wie viel Glück Sie haben«, sagte Ricci.
»Gewiss.«
»Sie sind ein Risiko bei der Kontaktaufnahme mit Lord Rorken
eingegangen. Er hat Sie immer gemocht, aber angesichts des
gegenwärtigen Klimas ist Sie zu mögen eine gefährliche Regung. Er
hat sich mit Bezier und Orsini wegen Ihres Falls ziemlich in den
Haaren gelegen.«
»Und hat Sie trotzdem geschickt?«
»Lassen Sie mich ganz offen sein, Gregor. Ich glaube, das wird
helfen. Lord Rorken, möge sich sein Glück im Angesicht des
Imperators vervielfachen, hat mich geschickt, um Ihnen bei der
Demaskierung und Vernichtung des Ketzers Quixos zu helfen. Sollte
ich dabei aber auf etwas stoßen, das die allgemein geglaubten Unter-
stellungen Ihrer Ketzerei bestätigt…«
»Was dann?«
»Ich glaube, Sie verstehen.«
»Sie sind sein Henker. Sie werden mir helfen … aber wenn ich in
Ihren Augen die Grenze überschreite, hat Rorken Ihnen aufgetragen,
mich hinzurichten.«
Er hob sein Glas. »Ich glaube, wir wissen, wo wir stehen.«
Das taten wir. Jetzt ergab es sehr viel mehr Sinn, dass Rorken mir
einen so hochrangigen Mann zur Seite gestellt hatte.
Ich sagte nichts. Ricci lächelte und ging wieder hinein.

Wir setzten uns wieder um den Tisch und debattierten noch eine
Weile. Ich fand die meisten Fragen — vor allem die von Voke und
Ricci — mutwillig kleingeistig.
Schließlich formulierte Grumman nach einer weiteren Stunde eine
sachdienliche Frage. »Angenommen, wir akzeptieren das hier.
Akzeptieren, dass Eisenhorn fälschlich beschuldigt wurde und
Quixos unseres strengsten Verweises bedarf … wie sollen wir das
anstellen? Wissen wir, wo Quixos ist?«
»Ja«, sagte ich, obwohl ich die Antwort selbst noch nicht kannte.
Meine Leute hatten fast zwei Jahre Arbeit in die Beantwortung dieser
Frage gesteckt, und viele Dutzend Mittelsmänner hatten Daten von
Hunderten Welten gesiebt.
Unaufgefordert trat Bequin vor und nahm bei uns am Tisch Platz.
»Vor etwa drei Monaten haben unsere Nachforschungen endlich ein
Muster in den Daten ausmachen können, die das beinahe mythische
Leben von Quixos umgibt. Und dieses Muster weist auf Maginor.«
»Hauptwelt des Subsektors Niaides, Sektor Viezekönig, Ultima
Segmentum«, verkündete Voke.
»Ihre astronomischen Kenntnisse sind verblüffend, Herr
Inquisitor«, sagte Bequin glatt. Sie verteilte Datentafeln.
»Wie Sie der Datei namens ›Alpha‹ entnehmen können, hat
Quixos Maginor vor beinahe zweihundert Jahren mit Sicherheit
besucht und sich dort mit einem Kartell von Handelsinteressen und
Adelsfamilien eingelassen, das den Namen Mystischer Pfad trug. Der
Pfad war ein Netz, das bereits damals verbotenes Wissen und
untersagte Technologien nutzbar machte. Quixos hätte das Kartell
schließen und seine Angehörigen verbrennen müssen. Es ist klar,
dass er es nicht getan hat. Vielmehr hat er es gefüttert und
unterstützt. Er hat es gestärkt, bis es zu einer Machtbasis für sein
unsichtbares Reich eines finsteren Glaubens geworden war. Und kein
Kartell mehr war, sondern ein Kult. Quixos' Kult.«
»Warum glauben wir, dass er noch da ist?«, fragte Ricci. »Wir
glauben, dass er dort seine verborgene Festung hat, Herr Inquisitor«,
sagte Bequin. »Der Mystische Pfad hat sich über das gesamte
Segmentum ausgebreitet und sogar darüber hinaus. Maginor ist sein
Herz. Im Jahre 239.M41 sind Inquisitor Lugenbrau und ein gut
sechzig Mann starker Kriegertrupp auf Maginor verschwunden.
Keine Spur wurde jemals von ihnen gefunden, obwohl es
Interrogator Inshabel gelungen ist, die unvollständige verbale
Niederschrift einer Bildaufzeichnung … äh … an sich zu bringen, die
anscheinend im Verlauf von Lugenbraus Einsatz entstanden ist.«
Ich überflog die Niederschrift. Sie war erschütternd. »Haben Sie
das von Elvara Cardinal, Inshabel?«, fragte ich.
Inshabel befand sich weiter hinten im Raum. Er trat errötend vor.
»Nicht direkt, Herr Inquisitor. Tatsächlich stammt es aus der
inquisitorischen Daten-Bibliothek auf Fibos Secundus. Das Wie ist
eine verdammt gute Geschichte, aber wahrscheinlich würde ich mit
ihrer Erzählung im Augenblick nur wertvolle Zeit verschwenden.«
Inshabel hatte recht, wie ich bereits erwähnt habe. Es war eine
verdammt gute Geschichte, und ich habe sie sehr genossen, als er sie
mir später erzählt hat. Ich empfehle Ihnen, sich Zugang dazu zu
verschaffen.
»Wir glauben, dass Lugenbrau Quixos gejagt hat, allerdings
wahrscheinlich, ohne es zu wissen«, fuhr Bequin fort. »Er und sein
gesamter Trupp wurden durch Quixos' Streitkräfte ausgelöscht.«
»Lugenbrau«, murmelte Voke, während er seine Datentafel auf
den Tisch legte und ins Leere starrte. »Ich bin ihm nie begegnet, aber
er war ein geschätzter Schüler meines verstorbenen Genossen
Inquisitor Pavel Uet. Als Lugenbrau vermisst wurde, hat Uet das
schwer getroffen. Der Verlust hat sein Leben verkürzt.«
Voke sah mich mit seinen trüben Augen an. »Hätte ich mich an
dieser Stelle noch nicht entschieden, Eisenhorn, dann spätestens jetzt.
Quixos muss büßen.«
»Ich stimme zu«, sagte Endor, der seine Tafel mit grimmiger
Miene ebenfalls auf den Tisch legte. »Zumindest verlangt die
Inquisition Vergeltung für diese Gräueltat.«
»Dann also nach Maginor?«, fragte Grumman.
»Maginor ist immer noch seine Operationsbasis, Herr Inquisitor,
davon sind wir überzeugt«, sagte Bequin. »Und bis vor einer Woche
hatten wir auch alles für einen Schlag gegen Maginor vorbereitet.
Dann haben wir das hier empfangen.« Sie hielt eine astropathische
Niederschrift in die Höhe. »Ich lese vor, wenn ich darf.« Sie setzte
bedächtig ihre Halbmondbrille auf. Sie stand ihr, aber ich wusste,
dass sie sie aus Eitelkeit hasste. Es verriet eine Menge über die
Situation, dass sie bereit war, sie vor diesen Männern zu tragen.
»Die Botschaft beginnt … ›Gregor, mein Freund. Ich bin auf dem
neusten Stand, was die Daten über Ihr Jagdwild betrifft. Das gibt mir
etwas zu tun an diesen Winternachmittagen. Ich stimme zu, dass
Maginor vermutlich der Sitz des Übels ist und ganz sicher die Auf-
merksamkeit der Inquisition erfordert. Aber Sie mögen mir
verzeihen, wenn ich vorschlage, Maginor dem Ordo Niaides zu
überlassen. Mit Hilfe der Fingerzeige, die Aemos mir gebracht hat,
habe ich Folgendes herausgefunden. Meine vollständigen
Schlussfolgerungen finden sich in den angehängten Dateien, aber
kurz gesagt sollten Sie meiner Ansicht nach auf Farness Beta suchen.
Quixos' überwältigendes Interesse für die Pylonen von Cadia hat
mich nämlich ins Grübeln gebracht.
Weiter unten können Sie sehen, dass ich massive
Steinmetzaufträge zur Grenzwelt Serebos verfolgt habe, die im
galaktischen Süden von Terra liegt. Die Steinmetzgilden von Serebos
sind berühmt für ihre Verschwiegenheit in Bezug auf ihre
Auftraggeber. Sie arbeiten mit einem untätigen obsidianartigen
schwarzen Glasstein namens Serebit, einer wunderbaren Substanz,
nach der im gesamten Imperium eine große Nachfrage besteht.
Serebit gilt allgemein als das Material, das demjenigen, das für die
Pylonen Cadias verwendet wurde, noch am nächsten kommt. Wie ich
schon sagte, sind die Steinmetzgilden sehr verschwiegen, was ihre
Aufträge angeht, aber der Transport einer genauen Kopie eines jener
Pylonen lässt sich schwer verheimlichen. Drei Viertel Kilometer lang
und einen Viertel Kilometer im Durchmesser! Quixos hat die
Herstellung einer perfekten Kopie der cadianischen Pylonen in
Auftrag gegeben und nach Farness Beta verschiffen lassen.‹«
Bequin hielt inne und sah uns an.
»›Wenn Sie jemals meinem Rat vertraut haben, dann vertrauen Sie
diesem‹«, fuhr sie fort. »›Quixos ist auf Farness. Und wenn Sie ihn
aufhalten wollen, muss es jetzt sein. Ihr ergebener Freund und
Schüler. Gideon.‹«
Gideon. Gideon Ravenor. Trotz seiner Verkrüppelung hatte er dies
herausgefunden, was unseren Angriffsplan vollständig änderte. Ich
war sprachlos. Ich fühlte mich beinahe zu Tränen gerührt.
»Es gibt ein Postscriptum«, sagte Bequin. »Er schreibt, ›Die
Dämonenwirte werden Ihr schlimmstes Problem sein. Ich weiß, dass
Sie vorbereitet sind, aber ich schicke Ihnen das hier. Eins für jeden
der zwanzig, die Sie berufen haben.‹«
Bequin setzte ihre Halbmondbrille ab und erhob sich. Nayl brachte
eine Kiste und stellte sie auf den Tisch. Darin befanden sich zwanzig
Schriftrollen mit Dämonenschutz, jede in einer gesegneten Röhre aus
grünem Marmor versiegelt, sowie zwanzig geweihte Goldamulette
des Gott-Imperators in der Form einer Skelett-Reliquie. Es war so
typisch für Ravenor, an solche Einzelheiten zu denken. Nayl verteilte
sie, eine schwere Marmorröhre mit Schriftrolle und ein Amulett für
jeden von uns.
»Ich bin überzeugt«, sagte Ricci, indem er sich erhob und sich das
Amulett um den Hals legte, so dass es zwischen den Reinheitssiegeln
seiner Rüstung baumelte.
»Darüber bin ich sehr froh. Grumman?«
»Ich bin dabei«, sagte der Cadianer.
»Ein Trinkspruch«, sagte ich, indem ich mein Glas hob. »Auf
diese Zelle der Fünf. Und auf die anderen, die uns dabei geholfen
haben, so weit zu kommen.«
Bequin, Aemos, Nayl, Fischig und Inshabel hoben ihr Glas
ebenfalls zum Salut.
»Auf Farness Beta. Auf das Ende von Quixos.«
Die fünf Inquisitoren in der zugigen Burg stießen an.
»Farness Beta«, sagte Ricci. »Frischen Sie mein Gedächtnis auf.
Wo ist das?«
»Im Hals des Cadianischen Tores«, sagte Grumman. »Direkt am
Rande des Auge des Schreckens.«
ZWEIUNDZWANZIG
Farness Beta. Cherubael und Prophaniti. Quixos.

Es war Anfang 343.M41, bis wir Farness Beta erreichten.


Mittlerweile teilte der Krieg den cadianischen Subsektor, und das
Auge des Schreckens spie Armeen aus schierem Grauen aus. Wie ein
feuriger Strudel beherrschte das Auge den Himmel der meisten
Torwelten, aufgedunsen und wütend und stärker aufflammend als
jemals zuvor in der bekannten Geschichte. Jeder Blitz und Puls
seines Mahlstroms war gleichbedeutend mit dem Öffnen eines neuen
Warplochs und der Ankunft einer neuen Flotte entfesselten Todes.
Jener Frühling wurde bekannt als Standhaftes Halten des Cadiani-
schen Tores und ging, wie jeder Gelehrte weiß, auch so in die
Geschichtsbücher ein.
In den ersten Monaten des Jahres 343 wehrten die Cadianer die
größte Invasion des Chaos seit dreihundert Jahren ab.
Es war beinahe so, als wisse der Erzfeind irgendetwas.

Die Essene brachte mich eilig nach Farness. Zwei andere Schiffe
begleiteten uns durch das Immaterium: Riccis stattlicher Kirchturm
von einem Kreuzer und Vokes altes Stachelschwein von einem
Kriegsschiff. Endor und Grumman machten die Reise mit ihrem
jeweiligen Gefolge mit mir an Bord der Essene. Es war lange her,
seit die Essene zuletzt so viele Personen transportiert hatte.
Die Einsatzstreitmacht der Imperialen Flotte, ein Geschwader von
zehn Schiffen der Schlachtflotte Scarus, abgestellt für besondere
Operationen unter Führung der Disziplinarabteilung der
Schlachtflotte, erwartete uns.
Das Geschwader war bereits seit vierzehn Tagen an Ort und Stelle,
und seine Aufklärung und nachrichtendienstlichen Unternehmungen
hatten bereits umfassend den Boden für uns bereitet.
»Wir haben einen bestätigten Aufenthaltsort für Paria«, meldete
mir Lordprokurator Olm Madorthene über eine Kom-Bild-
Verbindung von seinem Flaggschiff.
Paria war das Codewort, das wir für Quixos festgelegt hatten.
»Oder jedenfalls für den Sitz seiner Aktivitäten. Ich übertrage jetzt
die Daten. Der als Standort A gekennzeichnete Ort ist der gesuchte.«
Ich drehte mich auf meinem Sitz auf der eleganten Brücke der
Essene, und Maxiila nickte einem seiner wunderschönen Servitoren
zu. Die Anzeige leuchtete auf dem Sekundärschirm meiner Konsole
auf.
»Empfangen«, meldete ich, indem ich mich wieder dem leicht
verschwommenen Bild Madorthenes auf dem Hauptbrückenschirm
zuwandte.
»Es handelt sich um einen Tafelberg namens Ferell Sidor, was
buchstäblich Sonnenaltar bedeutet. Er liegt in einer der abgelegenen
nördlichen Schutzgebiete der Provinz Hengav. Die Provinzregierung
hat das ganze Gebiet zu Heiligem Territorium erklärt, weil es dort
von Tholosgräbern der Zweiten Dynastie wimmelt. Zugang ist
angeblich nur der Ekklesiarchie gestattet, den königlichen Familien
der Farnessi sowie ausgewählten Archäologen. Wir glauben, Paria
hat vor ungefähr sechs Jahren Lizenzen erworben, um auf dem Ferell
Sidor Ausgrabungen vornehmen zu dürfen, und zwar in der Maske
einer archäologischen Mission des Universitariats von Avellorn. Die
örtlichen Behörden überwachen solche Missionen angeblich, aber sie
haben keine Ahnung, was er da oben treibt. Wenn Sie einen Blick
auf die detaillierte Karte werfen …« »Ja, ich habe sie vor mir.«
»Da können Sie das Ausmaß der Arbeiten sehen. Paria hat da oben
eine kleine Stadt neben der Grube angelegt.«
»Die Ausgrabungen sind enorm …«
»Wir glauben, dass er dort den nachgebauten Pylon vergraben
oder untergebracht hat. Es ist schwierig, ein klares Bild zu
bekommen. Wir wollten nicht zu nah herangehen und ihn warnen.«
Ich erhob mich von meinem Sitz und stellte mich vor das riesige
Gesicht des Lordprokurators auf dem Bildschirm. »Sind Sie bereit?«
»Absolut. Sie haben auch eine Kopie meiner Angriffsstrategie
erhalten. Sie können gerne Ergänzungen machen, wenn Sie wollen.«
Das war nicht nötig. Madorthenes Plan war ökonomisch und
effizient. Offiziell war dies ein Einsatz der Disziplinarabteilung der
Schlachtflotte, die Spuren verfolgte, welche während der
Untersuchung der Gräueltat von Thracian aufgenommen worden
waren. Lordprokurator Madorthene war einen kooperativen Pakt mit
Commodus Voke eingegangen, um ihn ausführen zu können. In
Wirklichkeit bestand der Pakt insgeheim mit mir. Olm war der
einzige Nicht-Inquisitor, dem ich geschrieben hatte.
Wir verschlüsselten die Rufzeichen und Befehlsgewalten für das
Unternehmen, vereinbarten die Stunde Null und wünschten einander
Glück.
»Der Imperator beschützt, Gregor«, sagte er.
»Das hoffe ich, Olm«, erwiderte ich.
Zwei Stunden vor Sonnenaufgang des nächsten Tages rückten
fünfhundert Imperiale Gardisten vom Einundfünfzigsten Thracian
aus getarnten vorgezogenen Aufmarsch-Stellungen in den
umliegenden Hügeln gegen Ferell Sidor vor — Standort A -, wo sie
am Tag zuvor von Truppenschiffen abgesetzt worden waren. Sie
stießen lautlos in drei Abteilungen vor. Die erste sicherte die einzige
Straße, die Landfahrzeugen Zugang zum Tafelberg gewährte. Als
alle drei in Stellung waren, weckten wir Ferell Sidor auf.
Die Fregatten Zhikov und Spatians Wut bombardierten sechs
Minuten lang den Berg und erzeugten einen Feuerball, der die
Landschaft erleuchtete, als sei die Sonne früher aufgegangen. In
seinem Nachglühen überflogen dreißig Marodeure Standort A in
geringer Höhe und warfen dreißigtausend Kilo Sprengstoff ab.
Ein weiteres falsches Morgengrauen.
Trotz dieser heftigen Ouvertüre war der Widerstand heftig, als die
Bodentruppen acht Minuten nach dem Fall der letzten Bombe
vorrückten. Madorthene hatte befürchtet, dass sich der größte Teil
von Quixos' Kräften unter der Erde befinde, im Berg und vor
Luftangriffen geschützt.
In den flammenden Ruinen der Ausgrabungsstadt sahen sich die
thracianischen Truppen mit fanatischen und gut bewaffneten
Kultisten konfrontiert. Die meisten trugen die Farben und Insignien
des Mystischen Pfades. Viele waren Mutanten. Erste Berichte
sprachen von über achthundert feindlichen Kriegern. Madorthene
setzte die Reserve ein, weitere siebenhundert thracianische
Sturmtruppen.

Mittlerweile waren wir bereits in der zweiten Welle unterwegs.


Medea landete mit Inshabel und mir selbst sowie Endor und zwei
seiner Waffen-Servitoren am Rande der Abwurfzone. Riccis
abgeschirmte Pinasse landete Staub aufwirbelnd nicht weit entfernt
und setzte ihn und Commodus Voke mit einer Leibwache von zwan-
zig Inquisitionssoldaten ab. Grumman benutzte ein von Madorthene
geliehenes Landungsboot der Flotte und kam als Letzter, war aber
der Erste, der ins Kampfgeschehen eingriff. Grummans Zehn-Mann-
Trupp bestand gänzlich aus ehemaligen Kasrkin-Spezialisten.
Während wir durch den wirbelnden Rauch vorwärts eilten und
unsere Schiffe hinter uns wieder in den frühmorgendlichen Himmel
aufstiegen, gab es ein Beben und ein spürbares Aufwallen
psionischer Kraft. Erschreckend starke psionische Energiewellen
brandeten aus dem Epizentrum von Standort A und töteten über
dreißig der angreifenden Soldaten … um dann plötzlich zu
versanden.
Wir hatten alle damit gerechnet, dass Quixos über eine gewaltige
psionische Abwehr verfügen würde -schließlich hatte er Psioniker
wie Esarhaddon gesammelt -, und wahrscheinlich würden psionische
Angriffe das Schlüsselelement seines Widerstands bilden, vielleicht
in einem noch signifikanteren Maß als seine Dämonenwirte. Ich hatte
es nicht darauf ankommen lassen.
In zwei Gruppen begleitete mein gesamtes Femininum der
Unberührbaren, alles in allem gut fünfzig Personen, den Vorstoß der
ersten Bodentruppen. Bequin, von Nayl und weiteren zwölf von
meinen Kriegern bewacht, führte eine Gruppe und Thula Surskova,
von Fischig und zwölf weiteren Kriegern beschützt, die andere.
Das Femininum war noch nie in einem solchen Maßstab eingesetzt
worden, erwies sich aber als die Waffe, für die ich es immer gehalten
hatte. Die Leere, die sie erzeugten, erstickte und negierte das
psionische Gewitter, schloss es effektiv in Standort A ein und
hinderte es daran, unsere sich nähernden Truppen zu bedrohen.
Mit Inshabel begab ich mich unter die Erde, die in den Fels
gehauene Treppe hinab und in die inneren Sektoren von Standort A.
Beinahe eine Stunde kämpften wir uns Meter um Meter durch die in
Rauch gehüllten Bauten an der Oberfläche. Während die Sonne
aufging, fanden wir unseren ersten Eingang zu den tieferen Ebenen:
ein Treppenhaus, das ein Bombenkrater halb freigelegt hatte.
Alles war mit rauchenden Trümmern und einigen
unidentifizierbaren Leichen übersät. An manchen Stellen baumelten
Funken sprühende Stromkabel vom Betondach herab. Wir trugen
beide Bewegungsmelder und wandten uns nach rechts und links, um
alle Kultisten niederzuschießen, wenn sie auftauchten. Für meine
Boltpistole wurden bereits die Patronen knapp, und Inshabel war bei
seiner vorletzten Energiezelle angelangt. Das Ausmaß des
Widerstands war unglaublich.
An einer Kreuzung in dem scheinbar willkürlichen Tunnelgewirr
begegneten wir Endor. Er hatte ein paar thracianische Soldaten und
einen Gardisten der Inquisition bei sich, aber seine beiden langsamen
Waffen-Servitoren verloren. Ein Blick in seine Augen reichte, um
mir seine Gedanken zu verraten. Wir waren stark und zuversichtlich
eingedrungen, aber vielleicht nicht stark genug. Ich dachte, ich hätte
das Schlimmste vorhergesehen, was Quixos uns entgegenwerfen
konnte. Vielleicht hatte ich ihn doch unterschätzt.
Der Lärm einer wilden Schießerei machte uns auf ein Feuergefecht
in einer großen Kammer zur Linken aufmerksam. Bei unserem
Eintreffen stießen wir auf vier verwundete, entsetzte thracianische
Soldaten, die in unsere Richtung flohen.
»Zurück! Geht zurück!«, schrien sie.
Ich drängte mich an ihnen vorbei.
Die Kammer dahinter war gewaltig und halb von verhüllenden
Rauchschwaden erfüllt. Grüne, unnatürliche Flammen leckten die
Wände empor. Am anderen Ende schien sich die ohnehin schon
große Kammer zu etwas noch sehr viel Größerem zu öffnen.
Doch nicht das nahm meine Aufmerksamkeit in Beschlag.
Von über fünfzig Leichen umgeben, die meisten davon imperiale
Gardisten, behauptete sich Commodus Voke gegen Prophaniti.
Der alte Inquisitor schauderte, und seine Gewänder waren steif
von psionischem Eis. Elmsfeuer schienen ihm aus Mund und Augen.
Der Dämonenwirt, dessen grausame Züge gerade noch als verzerrtes
Gesicht des armen, verlorenen Husmaan kenntlich waren, schwebte
vor Voke und wehrte sich gegen eine unsichtbare Barriere
telekinetischer Wut.
Wir liefen vorwärts und zogen dadurch abrupt das Feuer von
Kultisten auf uns, die von rechts in die Kammer strömten. Der
Thracianer neben mir zuckte und bebte, als er zwei Mal getroffen
wurde, und Inshabel fluchte lauthals, als ein Schuss ihn streifte.
Endor drängte die verbliebenen Männer, auf sein Zeichen
vorzustürmen, und trug den Kampf mit blitzender Laserpistole und
surrendem Kettenschwert zu den Kultisten.
Voke stand kurz vor dem Zusammenbruch. Ich sah ihn unter dem
immensen Druck schwanken.
Ich halfterte meine Boltpistole und stolperte ihm über die
Trümmer und Leichen zu Hilfe, während ich betete, dass mein
Runenstab tun würde, was er tun sollte.
Und ein blendender Blitz aus weißem Licht und sengender Hitze
erfasste mich und wirbelte mich zurück.

Ich versuchte aufzustehen, während ich mir darüber klar wurde,


dass ich aus der Kammer und durch eine Flakbrett-Trennwand in
irgendeine dunkle Rutsche gefegt worden war. Unsichtbare Kräfte
hoben mich auf die Füße. Licht hüllte mich ein.
Cherubael schwebte vor mir. »Gregor«, sagte er. »Du bist so weit
gekommen. Ich wusste, dass es in dir steckt.«
Ich hielt den Runenstab vor mich. Die grüne Marmorrolle des
Dämonenschutzes, die Ravenor geschickt hatte, war durch die
Gewalt von Cherubaels erstem Angriff bereits zerschmettert worden.
»Auf diesen Augenblick habe ich so lange gewartet«, sagte der
Dämonenwirt. »Erinnerst du dich, wie ich auf Eechan gesagt habe,
dass du mir gegenüber einiges wiedergutzumachen hättest? Nun,
jetzt ist es so weit. Genau jetzt. Dies ist der Augenblick, um den es
immer gegangen ist. Den ich gesehen habe, seit sich unsere Wege
das erste Mal gekreuzt haben. Schicksale … unsere Schicksale,
miteinander verwoben, erinnerst du dich?«
»Wie könnte ich es je vergessen?«, fauchte ich. »Du behauptest,
mich die ganze Zeit benutzt zu haben! Mich geführt zu haben! Mich
sogar beschützt zu haben! Ich habe gesehen, wie du auf Eechan Lyko
getötet hast! Damit ich überleben konnte … für diesen Augenblick?
Warum?«
Cherubael lächelte. »Wenn der Warp so in einem ist wie in mir,
sieht man die Zeit aus allen Perspektiven. Man sieht, was sein und
was kommen wird, was jemand hier und jetzt in ein oder zwei
Jahrhunderten tun wird, was jemand tausend Jahre in der
Vergangenheit getan hat. Sicher siehst du die sich daraus ergebenden
Möglichkeiten.«
»Rätsel! Du sprichst immer nur in Rätseln!«
»Keine Rätsel mehr, Eisenhorn. Von dem Augenblick unserer
ersten Begegnung an habe ich gesehen, dass du der Einzige bist, der
Einzige mit der Kühnheit, dem Geschick und der Gelegenheit, mir
das zu geben, was ich will. Was ich am sehnlichsten von allem will.
Ich habe gesehen, wenn ich dich beschützte, würdest du kommen
und mir das Kostbarste geben, hier, auf dieser Welt, in dieser
Stunde.«
»Ich würde einem Dämon wie dir niemals helfen!«
Cherubael grinste mit leerem Blick und vollkommen ernsthaft.
»Dann vernichte mich, wenn du kannst.«
Er sprang mich an. Ich hob den Runenstab und lenkte meinen
Willen durch den psi-leitenden Stab in den Leitstein. Das Bruchstück
des Lith erstrahlte in blauem Licht.
Pontius Glaw wusste das eine oder andere über Dämonenwirte.
Ihre größte Schwäche war die Willenskraft, die sie zu Sklaven
gemacht hatte. Der so sorgfältig vorbereitete, konstruierte und
peinlich genau mit den alten Symbolen der Herrschaft versehene
Runenstab war ein Hebel, um diese bindende Kraft zu brechen,
indem er meinen eigenen Willen so sehr verstärkte, dass er sie
überwinden würde.
Einen kurzen Moment spürte ich, wie es sein musste, ein Alpha-
plus-Psioniker zu sein.
Der schillernde Energiespeer, der aus dem Leitstein schoss, traf
Cherubael in die Brust.
Der Dämonenwirt lächelte einen Moment, dann barst sein
fleischliches Gefäß, und ein Sturm aus Chaosfeuer wallte in alle
Richtungen. Ich hatte ihn aus seiner Bindung gesprengt und in den
Warpraum gebannt.
Und in dem Augenblick, als mein verstärkter Geist den von
Quixos überwand, sah ich die Jahre der Versklavung durch Quixos,
die Qualen des Bindens, den großen verbotenen Text des Malus
Codicium, dessen ar-kanes Wissen Quixos benutzt hatte, um seine
Dämonenwirte zu erschaffen.
Und mir wurde klar, dass ich Cherubael eben doch genau das
gegeben hatte, was er wollte.
Freiheit.
Ich stolperte in die Hauptkammer zurück. Voke, dessen
Widerstand gegen Prophaniti nur als erstaunlich bezeichnet werden
kann, war mittlerweile tot.
Ich erinnerte mich an Vokes Worte nach der Gräueltat auf
Thracian: »Ich werde Wiedergutmachung leisten. Nicht ruhen, bis
jedes dieser Ungeheuer vernichtet und die Ordnung wiederhergestellt
ist. Und dann werde ich nicht ruhen, bis ich herausgefunden habe,
wer und was dahinter steckt.«
Er konnte jetzt ruhen. Diese Arbeit war getan.
Der Dämonenwirt warf die leere Hülse des tapferen alten Mannes
beiseite und glitt zu Endor und Inshabel, die beide bereits vor
Schmerzen in die Knie gegangen waren. Zyanfarbene Flammen
schossen aus Prophanitis Fingerspitzen und hüllten meine zwei
Freunde in enge, brennende psionische Ketten. Sie waren gefesselte
Leckerbissen, an denen er sich nach Belieben laben konnte.
Prophaniti erstarrte, als ich auftauchte, da er instinktiv wusste,
dass ich eine ernsthaftere Bedrohung darstellte. Der Lith-Stein
rauchte noch in blutrotem Licht.
Der Dämonenwirt schoss mir durch die Luft entgegen, die Zähne
gefletscht, die Arme ausgebreitet, weißglühend vor Licht, und brüllte
meinen Namen. Es war so, als sei ich dem Sturzangriff eines
Überschallflugzeugs ausgesetzt, das aus allen Rohren feuerte. Ich
weiß, dass es so ist. Es ist mein Pech, auch so etwas bereits erlebt zu
haben.
Prophaniti johlte in hämischer Freude.
»In Kasr Geth hast du zu mir gesagt, dass ich meine Waffen das
nächste Mal stärker machen soll, Ungeheuer!«, brüllte ich, indem ich
seine anstürmende Gestalt auf der Stahlstange des Runenstabs
aufspießte. »Ist das stark genug?«
Prophaniti schrie auf und explodierte, und ich wurde wiederum
durch die Luft gewirbelt. Ich glaube nicht, dass ich ihn gebannt habe.
Ich glaube, ich habe seine Essenz für immer ausgelöscht.
Der Runenstab war wunderbarerweise völlig unversehrt und lag
zwischen den Trümmern. Aber Prophanitis sich auflösendes Wesen
hatte ihn vom Griff bis zur Kappe so aufgeheizt, dass er weißglühend
war und ich ihn nicht wieder aufheben konnte.
Ich lief zu Titus Endor und Inshabel, die beide vollkommen
entkräftet am Boden lagen.
Inshabel war benommen, aber intakt. Endor hatte Dämonenkratzer
auf Brust und Hals abbekommen. Er schaute mit blutunterlaufenen
Augen zu mir hoch.
»Du hast sie beide erwischt, Gregor …«
»Ich bete, dass das alle waren«, erwiderte ich, während ich
versuchte, seine Blutungen zu stillen. Die Rosette glitt aus seiner
Jackentasche, und ich bückte mich, um sie aufzuheben. Das
inquisitorische Symbol war mit dem kunstvollen Wappen des Ordo
Malleus geschmückt.
»Malleus?«, zischte ich.
»Nein…«
»Wann hast du gewechselt, Endor? Verdammt, wann hast du die
Ordos gewechselt?«
»Sie haben mich gezwungen …«, ächzte er. »Osma hat mich
gezwungen! Als ich auf Messina war … es gab einige Dinge in
einem Fall vor ein paar Jahren. Er hat irgendwie alles darüber
herausgefunden. Er … er hat versprochen, ich würde brennen, wenn
ich ihm nicht dabei helfen würde, dich zu erwischen.«
»Was für Dinge?«
»Nichts! Nichts, Gregor, das schwöre ich! Aber er hatte Beziers
Rückendeckung! Er hätte alles ketzerisch aussehen lassen können!
Ich habe den Orden gewechselt, um ihn daran zu hindern, mich zu
Grunde zu richten. Er sagte, ich würde belohnt, befördert. Er sagte,
Ordo Malleus böte mir bessere Aussichten.«
»Aber du solltest mich im Auge behalten?«
»Ich habe ihm nichts erzählt! Ich habe dich nicht verraten. Ich
habe nur gerade so viel getan, um Osma zufriedenzustellen.«
»Wie mit hierher zu kommen. Kein Wunder, dass du deine Rosette
nicht getragen hast. Er wollte, dass du mich erledigst, richtig?«
Endor schwieg. Inshabel starrte ihn ungläubig an.
»Ich … sollte an diesem Unternehmen teilnehmen in der
Hoffnung, dass es Erfolg haben könne. Orsini gibt sich keinerlei
Illusion in Bezug auf Quixos hin, und dieses Unternehmen war
vielleicht eine gute Gelegenheit, ihn zu eliminieren. Falls du am
Ende des Unternehmens noch … am Leben wärst, hat man mir
befohlen, dich auf Grundlage der Anschuldigungen der Carta
festzunehmen. Oder, falls du dich wehren solltest…«
»Bringen Sie ihn nach oben«, sagte ich zu Inshabel. »Besorgen Sie
ihm einen Sanitäter. Lassen Sie ihn nicht aus den Augen.«
»Zu Befehl, Herr Inquisitor!«
»Gregor!«, ächzte Endor, als Inshabel ihn hochhob. »Beim Gott-
Imperator, ich hatte nie die Absicht…« »Schaffen Sie ihn hier weg!«,
fauchte ich.

Der Angriff auf Ferell Sidor war drei Stunden alt, als Grumman,
Ricci und ich in das Gewölbe unter der Ausgrabungsgrube
eindrangen. Madorthenes Truppen waren in dem gesamten Irrgarten
aus Tunneln und Kavernen innerhalb des Tafelbergs immer noch in
schwere Kämpfe mit den abtrünnigen Kriegern verwickelt.
Ricci war durch eine Klingenwunde geschwächt, und alle seine
Leibwächter waren tot. Grumman hatte noch zwei Kasrkin bei sich,
beide mit einem Lasergewehr bewaffnet.
Das riesige Gewölbe war eine ausgehobene Grube, beinahe einen
Kilometer tief und nach oben offen. Die Serebit-Kopie des
Cadianischen Pylonen stand unten auf dem Boden, von einem
Adamantiumgerüst umgeben. Auslegerkäfige, viele hunderte, hingen
an Ketten an dem Gerüst. In jedem befand sich, gefangen und hilflos,
ein Mensch.
Das waren Quixos' sorgsam gesammelte abtrünnige Psioniker, die
er sich insgeheim im gesamten Imperium beschafft hatte. Er musste
Jahrzehnte gebraucht haben, so viele zu sammeln. Einer von ihnen,
daran hatte ich keinen Zweifel, war Esarhaddon.
»Was hat er vor?«, fragte Ricci mit einem Anflug von Ehrfurcht.
»Etwas, das wir verhindern müssen«, sagte Grumman mit einer
direkten Schlichtheit, die ich sehr schätzte. Es war die einzige
Antwort, die wir brauchten.
Wir lebten seit Beginn des Angriffs auf Adrenalin und waren bis
in die Haarspitzen mit Aufmerksamkeit geladen. Trotzdem, trotz
unserer gemeinsamen Erfahrung und unserer Fähigkeiten, wurden
wir von dem, was als nächstes geschah, vollkommen überrascht.
Gerade war noch nichts da. Und im nächsten Augenblick war eine
berobte, gerüstete Gestalt zwischen uns, die sich so schnell bewegte,
dass sie nur schemenhaft zu erkennen war.
So schnell. So verdammt schnell.
Ricci wurde augenblicklich der Länge nach aufgeschlitzt.
Während er noch dabei war, an seinem eigenen Blut zu ersticken und
aufs Gesicht zu fallen, wurde ein Kasrkin in Hüfthöhe durchschlagen
und brach förmlich auseinander, wobei sich sein Finger um den
Abzug seiner Waffe krampfte, die noch ein paar Schüsse abgab. Der
andere Kasrkin krümmte sich um den Stoß einer langen, dunklen
Klinge zusammen, die ihn aufspießte und spontan vom Bauch
auswärts verbrannte.
Grumman stieß mich aus dem Weg, als das verheerende Schemen
herumfuhr, und gab drei Schüsse mit seiner Laserpistole ab.
Schneller, als meine Augen es verfolgen konnten, lenkte die lange
dunkle Klinge des Schemens jeden knisternden Laserstrahl ab.
Grummans Kopf verließ seine Schultern.
Quixos, der Erzketzer, der Abtrünnige, der unverzeihliche
Radikale, ging bereits auf mich los, noch bevor Grummans
dahingeschlachteter Leichnam überhaupt mit dem Kollaps begann.
Mir blieb ein flüchtiger Blick auf das lange Dämonenschwert,
Kharnagar. Es war knorrig und verknotet und wimmelte von
abscheulichen Runen und unregelmäßigen Einkerbungen wie von
Krallen.
Mehr sah ich nicht, als es auf mein Gesicht zupfiff.
DREIUNDZWANZIG
Der Ketzer. Danach.

Eine Handbreit von meinem Kopf entfernt wurde die blutrote


Klinge aufgehalten, durch den glänzenden Stahl Barbarisaters pariert.
Die Zeit schien für einen Herzschlag stillzustehen. Wir standen
einander gegenüber, die Klingen ineinander verschränkt. Quixos war
ein verschwommenes Schemen gewesen, bis unsere Schwerter
aufeinandergeprallt waren. Jetzt war er erstarrt und funkelte mich
durch die gekreuzten Klingen an.
Die Rüstung des Abtrünnigen war zerlumpt und verdreckt und mit
Warpzeichen geschmückt. Seine inquisitorische Rosette prangte
unpassenderweise auf dem rechten Schulterschützer. Es stieß mich
ab, sie zwischen solcher Verderbnis getragen zu sehen.
Sein uraltes Gesicht war verunstaltet, ein mit Pusteln bedecktes
Grauen. Rudimentäre Hörner wuchsen aus seiner Stirn. Seine Haut
war dunkel wie Granit. Pfeifende augmetische Kabel und Implantate
wölbten sich an seiner Kehle und unter dem schmutzigen Kopftuch,
das er trug. Seine Augen waren leuchtende Blutbälle.
In aller Aufrichtigkeit, er war ein enttäuschendes kleines
Ungeheuer verglichen mit dem Bild von ihm, das ich mir in meiner
Vorstellung gemacht hatte. Aber seine unmenschliche Kraft und
Schnelligkeit ließen sich nicht leugnen.
Eisenhorn, sagte er. Es war psionisch. Sein verzerrter Mund
öffnete sich nicht.
Barbarisater spürte seine Bewegung vor mir. Es bewegte sich in
meinen Händen. In der Zeit eines Atemzuges wechselten wir
zwanzig oder mehr Hiebe. Kharnagars Krallenklinge prallte matt
vom carthaenischen Stahl ab. Barbarisaters Pentagramm-Runen
blitzten und flammten vor sich entladender Energie. Kharnager ächz-
te leise.
Ketzer! Chaos-Sklave!, brüllte mir seine rohe, gebrochene geistige
Stimme in mein Hirn.
Du redest von dir selbst!, erwiderte ich. Unsere Klingen prallten
weiterhin aufeinander, ständig auf der Jagd nach einer Blöße, die
beiden verwehrt wurde.
Warum würdest du mein Werk hier beenden wollen, wenn du kein
Lakai des Warp wärst?
Dein Werk? Dieses Ding?
Wir trennten uns und gingen wieder aufeinander los. Die Klingen
schlugen so schnell zu, dass das Klirren zu einem langen, hallenden
Ton wurde. Ich bekam gerade noch einen ulsar hin, um einen seiner
abwärts gezielten Stiche abzuwehren. Er parierte meine Antwort,
einen tahn wyla, und auch den anschließenden uru arav.
Das ist nur der Test, der Prototyp. Sobald die Proben mit ihm
durchgeführt werden, wird mein Werk blühen!
Du höhlst einen Berg aus … für einen Prototyp? Einen Prototyp
wofür?
Die Pylonen von Cadia befrieden den Warp, fauchte er. Wenn sie
durch Psioniker mit extremen Fähigkeiten unterstützt werden,
können sie zu einer Waffe gemacht werden. Zu einer Waffe, um den
Warp zu zerstören! Zu einer Waffe, um das Auge des Schreckens in
sich selbst kollabieren zu lassen!
Er war außer sich, wahnsinnig. Wie viele Anflüge von Wahrheit
und nicht wahnsinnige Gedanken in seinen Worten lauern mochten,
konnte ich nicht sagen. Sie ließen sich unmöglich von seinen irren
Phantastereien unterscheiden. Ich wusste nur, dass ein psionisch
aufgeladener Pylon alles Mögliche anrichten konnte, aber die
Nebenwirkungen würden katastrophal sein. Sie mochten den
gesamten Kontinent oder sogar den ganzen Planeten verwüsten.
Ich glaube, und darin lag das eigentliche Grauen, dass Quixos das
ganz genau wusste. Ich glaube, er betrachtete dies als annehmbaren
Preis, den es zu zahlen gelte, wie er die Gräueltat auf Thracian als
notwendigen Preis betrachtet hatte, um sich einen Psioniker von der-
art unvergleichlicher Qualität wie Esarhaddon zu holen. Welche
anderen schrecklichen Taten hatte er begangen, um in den Besitz der
anderen zu gelangen?
Wie Grumman kurz vor seinem Tod gesagt hatte, wir mussten dem
Treiben schlicht Einhalt gebieten.
Ich schaute ihm ins Gesicht.
Dorthin führte der Radikalismus. Dies war das wahre Gesicht von
jemandem, der die Stelle erreicht und die Grenze überschritten hatte.
Dies war die obszöne Realität hinter Pontius Glaws unbeschwerter
Verherrlichung des Chaos.
Wir schlugen aufeinander ein, und von den Schneiden sprangen
Funken und kräuselten sich dünne Rauchfäden. Ich versuchte es mit
einem langen Schwung, aber er sprang darüber hinweg und deckte
mich mit einem scherenförmigen Hagel von Hieben ein, der mich
Schritt um Schritt über den staubigen Boden zurückdrängte. Ich
dachte, ich werde jeden Moment ausgleiten. Er war wie ein
Wirbelwind.
Ich sah meine Gelegenheit gekommen. Barbarisater sah es auch.
Ein leichter Unterschwung bei der Rückführung der Klinge, der —
für eine Mikrosekunde – eine Blöße für einen sar aht uht öffnete,
einen Hieb zum Herzen.
Ich stieß zu und legte all meine Willenskraft in die Klinge.
Irgendwie, verblüffenderweise, gelang es ihm dennoch, Kharnager
zu drehen und mich abzuwehren.
Barbarisater traf das Dämonenschwert und brach entzwei.
Und dieses ultimative Versagen der alten carthaenischen Klinge
war es, das mir den Sieg schenkte. Wäre sie intakt geblieben, hätte
die Parade sie aufgehalten, und der Kampf wäre fortgesetzt worden.
Barbarisater brach um Quixos' Schwertschneide, und die verkürzte
Hälfte des Schwerts in meiner Hand setzte den Hieb mit all meiner
psionischen Kraft dahinter fort, bis das abgebrochene Ende ihm
durch Umhang, Rüstung und Implantate in den Leib fuhr.
Der ewl caer.
Es bedurfte beinahe ebenso viel Kraft, die Saugwirkung seines
Fleisches um die Klinge zu überwinden und sie herauszureißen.
Quixos taumelte rückwärts, während verseuchtes Blut aus der
Wunde sprudelte und seine Augmetik kurzschloss, die daraufhin
explodierte.
Dann fiel er auf den staubigen Boden und zerfiel selbst zu Staub,
bis nur noch verrottende augmetische Vorrichtungen und leere,
verbogene Rüstungsteile unter seinem schlaffen Umhang übrig
waren.
Ketzer!, schrie sein Geist, als er starb.
Aus seinem Mund war das Wort wie ein Kompliment.

Standort A wurde von der Einsatzgruppe vollständig demontiert


und zerstört, der nachgebaute Pylon durch Beschuss aus dem Orbit
zerschmettert. Quixos' Psioniker und seine überlebenden Diener
wurden festgenommen und dann den Schwarzen Schiffen der
Inquisition übergeben, die ein paar Tage später zu sechst eintrafen,
nachdem wir die Nachricht über unseren Sieg veröffentlicht hatten.
Die meisten Gefangenen wurden als zu gefährlich oder
makelbehaftet betrachtet, um sie auch unter strengster Bewachung zu
behalten, und hingerichtet. Zu diesen gehörte auch Esarhaddon.
Viele kostbare Texte und Artefakte wurden aus Standort A
geborgen, und noch viele mehr waren diabolisch und
verabscheuungswürdig. Er hatte einen riesigen Berg an esoterischem
Material zusammengetragen, und in seiner Festung auf dem
entfernten Planeten Maginor gab es angeblich noch viel mehr. Eine
spätere Säuberung würde enthüllen, ob dies stimmte.
Den Berichten zufolge wurde niemals eine Spur des Malus
Codicium gefunden, jenes üblen Grimoires, auf dem seine Macht
letzten Endes beruht hatte.

Als ich mit meinen Gefolgsleuten und Verbündeten schließlich


nach Gudrun zurückkehrte, war die gegen mich erlassene Carta
zurückgenommen worden. Keine von Osmas Anschuldigungen
konnte im Angesicht der auf Farness gesammelten Beweise und
zahlreichen, von der Inquisition eingeholten Aussagen
aufrechterhalten werden. Aussagen von Personen wie Lordprokurator
Madorthene, Inquisitor-General Neve, Interrogator Inshabel und,
Gott-Imperator helfe ihm, Titus Endor.
Mir wurde niemals eine offizielle Entschuldigung angeboten, nicht
von Großmeister Orsini, auch nicht von Bezier und gewiss nicht von
Osma. Seine Karriere litt nicht im Geringsten dadurch. Zwanzig
Jahre später wurde er nach Beziers plötzlichem und unerwartetem
Tod zum Meister des Ordo Malleus Helican gewählt.
Grummans Überreste und die seiner Kasrkin wurden auf einem der
einsamen Feldfriedhöfe auf Cadia begraben, um ihrer zu gedenken,
solange es das Gesetz der Lesbarkeit erlaubte. Nach Ricci wurde auf
seiner Heimatwelt Hesperus eine Bibliothek benannt. Voke wurde
mit vollen Ehren in der Thorianischen Sakristei neben der Großen
Kathedrale des Ministorums auf Thracian Primaris beigesetzt. Eine
kleine Messingplakette zum Gedenken an die Leistungen seiner
langen und hingebungsvollen Laufbahn hängt bis zum heutigen Tage
an der Wand der Sakristei.
Er und ich waren nie Freunde, aber ich muss zugeben, dass ich in
den Jahren nach seinem Tod seine sarkastische Art von Zeit zu Zeit
vermisst habe.
EPILOG
Winter, 345.M41.

Die Stimme war wie das Geräusch eines ewigen Gletschers —


träge, alt, kalt, schwer.
Sie fragte schlicht: »Warum?«
»Weil ich es kann.«
Die Stille hielt lange Zeit an. Die tausend Kerzenflammen
flackerten und kräuselten die sorgsam beschriebenen Steinwände mit
Echos ihres unsteten Scheins.
»Warum? Warum … hast du mir dieses … dieses Elend angetan?«
»Weil ich Macht über dich habe, wo du einst Macht über mich
hattest. Du hast mich benutzt. Du hast mein Leben bestimmt. Du hast
mich wie eine Königsmordfigur an die Stelle gezogen, wo ich deinen
Begierden am besten dienen konnte. Jetzt ist es umgekehrt.«
Er wehrte sich gegen seine Ketten und Fesseln, war aber noch zu
schwach nach der Tortur seiner Gefangennahme.
»Sei verflucht…«, flüsterte er, indem er erschlaffte.
»Damit wir uns richtig verstehen. Ich sagte, ich würde niemals
einem Wesen wie dir helfen, aber du hast mich dazu gebracht, es
doch zu tun, und wärst beinahe damit durchgekommen. Deswegen
habe ich es getan. Deswegen habe ich erhebliche Zeit und Mühen
aufgewendet, um dich zu fangen und zu binden. Dies ist eine
Lektion. Ich werde niemals wieder zulassen, dass meine Taten oder
mein Leben dem Erzfeind von Nutzen sind. Du hast gesagt, du
hättest von Anfang an gewusst, dass ich derjenige sei, der dich aus
Quixos' Diensten befreien würde. Ein Jammer für dich, dass du nicht
gesehen hast, was ich dir stattdessen antun würde.«
»Sei verflucht!«, tönte die Stimme jetzt lauter.
»Die Zeit wird kommen, Cherubael, Dämonenwesen, wenn du dir
mit all deiner stinkenden Seele wünschen wirst, wieder Quixos'
Spielzeug zu sein.«
Cherubael warf sich auf mich, so weit es ihm möglich war, bevor
die Ketten sich strafften und ihn zurückrissen. Sein Schrei der Wut
und Boshaftigkeit ließ die Zelle erbeben und blies sämtliche Kerzen
aus.
Ich versiegelte die Vakuumschleuse, schaltete die Warpdämpfer
und den Deflektorschild ein und drehte die dreizehn Schlösser eines
nach dem anderen um.
Weit entfernt im Haus läutete Jarat die Glocke zum Abendessen.
Ich war hundemüde nach all den Strapazen, aber Essen, Wein und
nette Gesellschaft würden mich erfrischen.

Ich erklomm die Wendeltreppe aus der tiefen Kellerfestung,


verriegelte die mit einem Code gesicherte Tür und ging in mein
Arbeitszimmer. Draußen war der Schnee früh nach Gudrun
gekommen. Leichte Flocken wehten in der Dämmerung über Wald
und Weiden und ließen sich auf dem Rasen meines Anwesens nieder.
Im Arbeitszimmer brachte ich die Gegenstände bei mir zu ihren
Plätzen zurück. Die Flaschen mit Chrisam wanderten zurück in das
Regal, die rituelle Athame, der Spiegel und die Lamen in die
Schatulle. Das Imperiumsamulett kam zurück auf sein Samtkissen in
der Schublade, dann schob ich die Schriftrollen wieder an ihren Platz
in dem katalogisierten Gestell.
Ich hängte den Runenstab wieder an den Haken in dem
beleuchteten Alkoven über dem Glaskasten auf, der die zerbrochenen
Einzelteile des stolzen Barbarisater enthielt.
Schließlich öffnete ich den mit einem Deflektorschild gesicherten
Tresor im Boden hinter meinem Schreibpult und legte vorsichtig das
Malus Codicium hinein.
Jarat läutete noch einmal die Glocke.
Ich verschloss den Tresor und ging nach unten zum Essen.

Das könnte Ihnen auch gefallen