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Holger Kalweit

Das Totenbuch
der Germanen
Die Edda - Die Wurzeln eines
wilden Volkes

AT Verlag
©2001
AT Verlag, Aarau, Schweiz
Umschlagabbildung: Holger Kaiweit, Lenzkirch-Kappel
Gestaltung und Satz: AT Verlag, Aarau und Irmgard Imstepf, Bern
Druck und Bindearbeiten: Kösel, Kempten
Printed in Germany

ISBN 3-85502-706-4
Inhaltsverzeichnis

9 Teil I: D a s T o t e n e p o s 63 Teil II: D i e Liederedda -


10 D E R K O S M O S : Das germanische Totenreich
Drei Welten: Geist, Seele, Natur 64 1. D E R S E H E R I N G E S I C H T :
10 Einleitung Weltende und letzte Dinge
11 Der Schlüssel zum Totenbuch 65 Heimdall als Menschenschöpfer
19 Hel, Plasma 65 N e u n Welten
19 Wasser, Seele, Totenflüsse 66 Urzeit
21 Drei Daseinszustände 67 Erschaffung der Materie-
22 Dimensionsgrenzen zwischen dimension Midgard
den drei Welten 68 Der Bau Asgards auf dem
23 Die W ä c h t e r Idafeld
23 Brücken und Heiwege 69 Drei Schicksalsweiber
26 Dualität der germanischen 70 G e b u r t der Zwerge
Unterwelt 72 Schöpfung des Urmenschen-
26 Ymir paares
27 Sechs Modelle zur Darstellung 74 Yggdrasil, der Weltenbaum
von Hel 76 Die Zeit: Urd, Werdandi, Skuld
39 Baum der Tiere 77 Dimensionskrieg um Gold
41 Die drei N o r n e n 79 Die Seele als Zauberstätte
80 Odins Vertrag mit den Wanen
43 DIE D E U T U N G : 81 Menschen müssen Riesen opfern
Liebe, Krieg und Philosophie 83 Der wahre Anlass des Krieges
43 Einleitung und die Seelenkunde der
47 Was wissen wir über die Meineide
germanische Weltlehre? 84 Heimdall, H ü t e r der Schwelle
48 Vermischung verschiedener 86 Odins allsehendes Seelenauge
Überlieferungen 87 Dasein als göttliches Spiel
49 Die Aufdeckung von Synonymen 88 Odins Auge ist Mimirs Quelle
50 Was ist eine Emanation? 89 Balders Tod durch Lokis List
51 Stammbäume und Ehen 91 Die Gefühle Hels
51 Das Prinzip der Verdoppelung 93 Fenrirwolf verschlingt die
und Verehelichung Sonne beim Weltende
52 Tod und Krieg als spiritueller Akt 95 Eggdir, der Wächter Hels
53 Liebe und Krieg 95 H ä h n e als Wächter
53 Skaldenpoetik 97 Der Wachhund Garm, Lokis
55 Das Kenning und Fenrirs Entfesselung
57 Freude an dunklen Worten 99 Die Auflösung Midgards
59 Meine Deutungsmethode 99 Untergangsstimmung bei
60 Mein Vorgehen Asen und Alben - Heimdall
61 Die Puzzlemethode der Edda und Mimir
100 Der Weltenbaum erzittert - 156 3. DAS G R I M N I R L I E D :
Surts Feuer bricht aus Das Gefüge der seelischen Hölle
101 Asen, Alben und Zwerge harren 158 Odins Pein
auf ihr Verderben 158 Die Wohnheime der Götter
102 Das Totenschiff Nagelfar 174 Totentiere
104 Schlachtgetümmel und 178 Die Dimensionsgrenze
Zweikämpfe 178 Das Totenheer
105 Fenrir verschlingt Odin 183 T h o r watet durchs Plasma: Eine
105 Widar tötet Fenrir Brücke vom Geist zur Seele
106 T h o r gegen die Midgard- 188 Der Urdbrunnen
schlange 189 Das Leiden des Weltenbaumes
108 Untergang der Erde durch G e b u r t und Verfall
108 H u n d und Wolf entfesseln sich 194 Das Verhältnis zwischen Asen
110 Der Pulsschlag der Welten und Riesen
111 Neugeburt der drei Welten 195 Die Kampfjungfrauen
112 Uberleben auf dem Idafeld 196 Sonne und W ö l f e
113 Die goldenen Tafeln 199 Die G e b u r t der Erde
113 Hödur und Balder 200 Die große Gottheit Uli
116 Gimle, der Samen aller Welten 201 Die trügerische Technik der
116 Nidhögg, der Neiddrache Zwerge
202 Odin in tausend Gestalten
118 2. DAS W A F T H R U D N I R L I E D : 203 Totengott Agir
Weltesche, Weltwinter und das 204 Odin entlarvt sich
neue Menschengeschlecht 205 Odins Geistphilosophie
118 Odin prüft das Riesenland 207 Odin: Alles ist in allem
120 Licht und Dunkelheit
121 Der Totenfluss 209 4. BALDERS T R Ä U M E :
122 Wigrid, das Feld der Fehde Ein Lichtgott in der Hölle
123 D e r U r r i e s e 209 W e r ist Balder?
123 Sonne und Mond 210 Das achtbeinige Ross Sleipnir
126 Tag und Nacht 211 D e r Höllenhund G a r m
128 W n t e r und Sommer 213 Das Tor
129 Drei Geschlechter von Riesen 215 Die Seherin
136 Wo liegt Jötunheim? 217 Das Goldland
137 Der Wind 219 Das Totenschiff
139 N j ö r d aus Noatun 222 Des Lichtgotts Tod
142 Walhall und die Walküren
144 Die Dreizahl 228 5. D I E K Ü R Z E R E
145 Die Verwandlungsfähigkeit Odins SEHERINNENREDE:
146 Runenkunde Weltuntergang und die Listen
147 Weltende des Teufels
148 Tages- und Nachtgestirn 228 Balders Rächer Wali
149 Die Schicksalsgöttinnen 229 Iduns Äpfel der Unsterblichkeit
152 Die neuen Weltenherrscher 231 Seidkunde in Hel
152 Gimle, die letzte Oase 232 Heimdali, der Asgardwächter
154 Das Totenreich löst sich im 234 Loki: Das Gesetz des Teufels
Geist auf 236 Loki und der Überfall auf die Erde
155 Odins letzte Worte 239 Odin und der Weltuntergang
242 6. DAS T H R Y M L I E D : 298 Loki als Seele
Die Seelenkraft von Thors Hammer 300 Sif, die Frau mit dem goldenen
242 W e r ist T h o r ? Haar
246 Loki als Trickster 300 Beyla
247 T h o r s Verwandlung in eine 301 T h o r s Abstammung von Jörd
Braut 301 Thor, Retter der Asen
250 Die Dimensionsreise
251 T h o r holt den H a m m e r zurück 304 10. DAS HARBARDLIED:
Liebe und Krieg in Hel
254 7. DAS H Y M I R L I E D : 304 Das wässrige Niflheim im
Der Kessel als Symbol der Seele Osten
255 Die Runen 307 Odins und T h o r s Tatenvergleich
257 Plasma als Flüssigkeit
258 Bier als Symbol des Plasmas 315 11. DAS ALWISLIED:
259 Tyr Die Herkunft der Zwerge
261 Streit im Totenland 315 Das Rätsel der Zwerge
264 Die Midgardschlange 319 Der Zwerg Alwis
267 Wettstreit T h o r gegen Hymir 321 Die Erde
270 T h o r s Böcke 321 Die Welten
324 Die Flüssigkeiten der drei
272 8. DAS S K I R N I R L I E D : Welten
Sehnsucht nach Hel 324 Der Albenstrahl
272 Hel als das Weibliche
274 Höllenfahrt 326 12. B R U C H S T Ü C K E U N D
277 Brautwerbung mit Unsterblich- EINZELSTROPHEN:
keitsäpfeln und Ewigkeitsring Totenflüsse und Riesenweiber
279 Schimpf- und Schmachrede: 326 Die Flüsse des Totenreichs
Der Hass Hels 329 T h o r s Kampf gegen die
281 Die Bezwingung der Riesin Gerd Riesentöchter
330 Frigg als Botschafterprinzip
284 9. L O K I S Z A N K R E D E N : 331 Widerstreit im Plasma
Die Prinzipien der Seele 332 Nornen
284 Trinkgelage in Hel 333 Wigrid, Schlachtfeld fürs
285 Verwirrung der Asen in Hei Weltende
286 Dichtergott Bragi
287 Idun, Bewahrerin der U n - 334 13. Z A U B E R G E S A N G D E R
sterblichkeitsäpfel GROA: Das mentale Rüstzeug
288 G e f j o n , Schutzgöttin aller des Helden
Jungfrauen 335 Gang zum G r a b
288 Odin, der Zauberer 336 Zaubergesang zur Stärkung des
290 Liebesgöttin Frigg Selbstvertrauens
291 Liebesgöttin Freyja 337 Zaubergesang, um sich dem
292 Meergott N j ö r d Schicksal hinzugeben
293 Rechtsgott Tyr 337 Zaubergesang gegen die mentale
294 Liebesgott Freyr Flut
296 Byggwir 338 Zaubergesang gegen Aggression
296 Götterwächter Heimdali 338 Zaubergesang gegen mentale
297 Skadi, die Folter Lokis Fesselung
339 Zaubergesang zur Umwandlung 388 Götter als Archetypen
der Seelenunruhe 388 M o d e r n e Todesforschung
339 Zaubergesang gegen die Kälte 390 Identität von Plasma, Seele
des Plasmas und Energie
339 Zaubergesang gegen die
Dämmerung 392 Literatur
340 Zaubergesang für die Über-
redungskunst
340 Abschied

343 14. DAS F J Ö L S W I N N L I E D :


Auf der Suche nach Heilung in der
Unterwelt
343 Ein Orpheusmythos
344 Vorgeschichte zum Fjölswinn-
lied
345 Riesenland
346 Muspellheim und Niflheim
348 Windheim der Seelen
349 Menglöd als Verkörperung Hels
350 Das Höllengatter
351 Der Midgardwall
352 Der Weltenbaum Mimameid
353 Der H a h n Widofnir
354 Höllenhunde
355 Das Rätsel der Liebe
361 Die Waberlohe
362 Doppelbezeichnungen für Hel
362 Der Weltenberg als Heilberg
364 Wallfahrt nach Hel als
Universalmedizin
367 Hel als Liebesreich
369 Kleines Lexikon der Wirk-
mechanismen Hels

374 15. DAS W A L K Ü R E N L I E D :


Das gewebte Netzwerk des
Schicksals
374 Die Walküren
375 Die Vorherbestimmung
des Todes
379 Schicksalsbefragung durch Lose:
Ein universales Analogiesystem
380 Die Walstatt
380 Der Gesang des Todes

382 In der Sturmflut der Geschichte


385 Die Edda als Kosmologie
Teil I
DAS TOTENEPOS

9
DER KOSMOS
Drei Welten: Geist, Seele, Natur

Einleitung

Die germanische Weltlehre oder Geisteswissenschaft ist uns insbeson-


dere in der so genannten Edda überliefert. Man unterscheidet die äl-
tere Liederedda und die neuere Prosaedda. Die Liederedda ist eine
Sammlung alten Wissens, das von Dichtern, den Skalden, in Lieder ge-
fasst wurde, als bereits der größte Teil dieser Weltlehre in Vergessen-
heit geraten war. Die Lieder sind daher als Bruchstücke eines einst um-
fassenderen Wissens zu verstehen. Das vorliegende Werk befasst sich
ausschließlich mit der so genannten Liederedda, nicht mit der Prosa-
edda des isländischen Dichters Snorri Sturluson aus dem 12. Jahrhun-
dert, die vermutlich eine Überarbeitung der Liederedda unter Hinzu-
nahme weiterer Stoffe darstellt.
Aus sich selbst heraus sind die Lieder kaum zu begreifen, weshalb
wir über die germanische Philosophie vergleichsweise wenig wissen.
Ich werde die Lieder eines nach dem anderen und Strophe für Strophe
erläutern. Da die Lieder jedoch keine Schritt-für-Schritt-Darlegung
der Weltenlehre und Philosophie anstreben, ihnen also keinerlei fol-
gerichtiger Aufbau zu Grunde liegt, ist es unumgänglich, zunächst ei-
nen geordneten Uberblick über die Weltlehre zu vermitteln, um den
roten Faden zu finden, der sich durch die Lieder zieht. Die Lieder hüp-
fen willkürlich von einem Gegenstand zum anderen, beginnen am
Ende oder in der Mitte, machen Andeutungen, überspringen Teile von
Geschichten, so dass wir selten über ein oder zwei Zeilen hinausgelan-
gen, ohne entmutigt zu werden. Der nun folgende Uberblick ist daher
unbedingte Voraussetzung zum Verständnis und enthält zudem den
goldenen Schlüssel zur Deutung der Edda.

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Der Schlüssel zum Totenbuch

Drei Dimensionen - Geist, Seele, Natur -, Unsterblichkeit, Tod und


Weltuntergang sind in der Edda, dem »Totenbuch« der Germanen,
enthalten. Sie berichtet von unserer stofflichen Welt, genannt Mann-
heim, wo die Menschen wohnen, von unserer Nachbardimension Hei,
»das helle Land«, wo seelische Lebewesen existieren - die Riesen, »die
Erhabenen«, die Zwerge und die Totenseelen der Menschen -, und
von dem jenseits dieser zwei Dimensionen liegenden Asgard, dem
Reich göttlicher Gesetze mit seiner höchsten Zone Gimle, aus der
nach dem regelmäßig wiederkehrenden Untergang der drei Welten je-
des Mal ein neuer Drei-Welten-Kosmos geboren wird.
Menschlicher Mikrokosmos und göttlicher Makrokosmos sind
eins, und so beziehen sich die drei Welten außer auf Körper, Seele und
Geist auf drei unterschiedliche Dimensionen, Midgard, Hei, Asgard:

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Midgard - Natur - Körper
Hei - Seele - Denken und Fühlen
Asgard - Geist - das All-Eine
Mittels Kriegen und Ränkespielen werden die geistigen und seeli-
schen Gesetze der beiden höheren Dimensionen abgehandelt und uns
damit der Weg vorgeführt, den wir als Totenseelen zu gehen haben.
Hinter den Handlungen des höchsten Gottes Odin und seiner Göt-
terschar stehen die Gesetze des reinen Geistes. Hinter den Abenteu-
ern der Riesen und Zwerge stehen die Gesetze der Seele. Die Edda
zeigt, dass unsere seelische Nachbardimension die Grundlage der Ma-
terie ist, ein Reich der Energie, aber nicht irgendeiner Form von
Energie, sondern seelischer Energie. Dorthin gelangen wir als Ver-
storbene, dort begegnen wir den Erhabenen, den Riesigen, und wer
frei von seelischem Ballast ist, darf weiter in Asgards geistiges Gefilde
eindringen.
Bei meiner Erforschung des Todes, insbesondere von Nahtodeser-
lebnissen, untersuchte ich sämtliche Todesüberlieferungen der alten
Völker und Stammeskulturen; dabei kam ich an der Edda, die ich mir
erlaube als »lotenbuch der Germanen« vorzustellen, nicht vorbei.
Von diesem unserem Totenbuch können wir sehr viel lernen über die
Natur der Seele und unser letztes Wesen. Der Inhalt der Edda stimmt
vollkommen überein mit den wissenschaftlich untersuchten Erfahrun-
gen von Reanimierten, die den Tod überlebt haben. Die Nordvölker
scheinen etwas gewusst zu haben, was wir heute erst wiederentdecken.
Aber die Weltlehre der Edda geht über die heutige Todesforschung
weit hinaus; sie beschwört Unsterblichkeit, Weltenuntergang und
Wiedergeburt, andere Lebewesen im Totenreich, die Gesetze des
Schicksals.
Die Edda entwirft eine Weltenlehre, in der man sich zurechtfinden
kann; sie beruht auf der Drei-Welten-Lehre, die unsere Alltagserfah-
rung bestätigt, und sie schenkt uns eine Vision vom Uberleben des To-
des, kurzum von der Möglichkeit der Unsterblichkeit im Geiste. Diese
Weltanschauung gibt uns einen Platz im Kosmos, weil sie die drei
Grundbedingungen unseres Menschseins, Geist, Seele, Körper, ganz
anders als die zeitgenössische Wissenschaft es kann, auch im makro-
kosmischen Maßstab erläutert und ihnen so einen angemessenen,
wenn auch monumentalen Weltrahmen schafft. Die Heilwirkung der
Edda besteht darin, dass sie den Menschen kosmisiert, sie lässt Makro-
kosmos und Mikrokosmos sich in uns begegnen. Das ist die Heilform,
die alle alten Weltlehren ausübten. Um vollkommen zu werden, muss

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der kleine Mensch vom Ganzen wissen. So wächst er über sich hinaus,
deutet seine Alltagshindernisse in größerem Maßstab, wodurch sie re-
lativiert und erträglicher werden. Die Beschäftigung mit der Edda,
dem 'lötenbuch, bewirkt Heilung, sie macht uns heil, »ganz«. Deshalb
bedarf es einer Wiederbelebung des alten Wissens, deshalb meine
Neufassung der Edda.
Die Erkenntnis, dass die Edda eine umfassende, in sich schlüssige
Weltlehre entwickelt, lässt sich mühelos aus sich wiederholenden und
gegenseitig bestätigenden Textstellen beweisen. Drei Welten, richtiger
drei Dimensionen werden erwähnt:

Midgard

(mittlerer Hof, Garten; engl, to guard - schützen)

Hei

(Hei = hell; das helle Land; christlich = Hölle)

Asgard
(Reich der Asen; As, das höchste Gesetz)
Midgard liegt in der Mitte. Um Midgard herum liegt die Unterwelt
Hei (treffender Utgard, »äußerer Hof«, genannt). Um Hei schmiegt
sich ein dritter Gürtel, Asgard, die Dimension, die alle Dimensionen
hervorgebracht hat. Gimle, die höchste Welt innerhalb von Asgard,
überlebt alle periodisch wiederkehrenden Dimensionsuntergänge und
bringt immer wieder ein neues Asgard und dieses in der Folge Hei und
dieses im weiteren Evolutionsverlauf Midgard hervor. Umgekehrt zie-
hen sich bei der regelmäßig wiederkehrenden Auflösung dieses mehr-
dimensionalen Kosmos zuerst Midgard in Hei, dann Hei in Asgard
zurück, bis auch dieses verfällt und allein Gimle, die allerhöchste Zone
in Asgard, übrig bleibt.
Diese Vorstellung eines pulsierenden Kosmos war auch Piaton be-
kannt. Der Wechsel von Evolution und Involution mutet recht modern
an. Auch zeitgenössische Weltlehre geht zunehmend von einem pul-
sierenden Wechsel von Weltengeburt und Weltenuntergang aus. Die
drei Welten lagern sich ringförmig umeinander, und die höhere Welt
durchdringt gleichzeitig immer die niederen, was sich zweidimensio-
nal, besser aber dreidimensional, nämlich als ein Kugelmodell, verste-
hen lässt. Die Welten sind also nicht voneinander getrennt, die höhe-
ren durchdringen allumfassend die niederen beziehungsweise bilden

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deren Grundlage. Midgard, unsere Welt, schwimmt gewissermaßen
wie ein Schiff auf dem Urstoff der Hei, so wie subatomare Strukturen
der Materie zugrunde liegen.
Midgard ist der Materiekosmos, nicht nur der Planet Erde. In Mid-
gard leben die Menschen. Midgard wird in der Edda kaum behandelt.
Hei wird entweder durch allgemeine seelische Gesetze dargestellt,
oder diese werden vermenschlicht und als Personen vorgeführt. Hei-
prinzipien sind zunächst einmal Hei selbst, das Helle, aber auch das
Verhehlende, also Verdeckende (siehe Held, Helm); dann der Wolf
Fenrir, er betont die verschlingende Seite unserer Seele, und die Mid-
gardschlange, sie verweist auf das Midgard Umschlingende. Das heißt,
das Seelische umgibt und durchdringt das Materielle. Die Schlange ist,
weil sie im Feuchten, im Erdinnern wohnt, das Symbol für die Unter-
welt. Bei vielen Völkern dient sie als Sinnbild für die die Materie
durchdringende und ihr zugrunde liegende Dimension. Unterwelt ist
nicht die Welt unter unseren Füßen, sondern die Welt des Feinstoffli-
chen »unter« der Materie, dem Subatomaren vergleichbar. Die Riesen
sind seelische Wesen, derweil sie vor Leidenschaft überquellen - Rie-
sen sind leidenschaftlich zornig und liebestoll. Das Totenreich ist
nichts anderes als das, was nach dem Tod von uns übrig bleibt, eine
Welt aus Seelen, die von ihren Gefühlsregungen, Hochstimmungen
und Depressionen verfolgt werden.
In Asgard dagegen gibt es nichts Körperliches und nichts Seelisches,
es ist eine Dimension des reinen Geistes. Verkörpert wird das Geistige,
das All-Eine, durch Odin, den einen Gott. Zwölf höchste Schöpfungs-
kräfte, die als Asen bezeichnet und zur Veranschaulichung wie Men-
schen dargestellt werden, sind Aspekte Odins. Aus diesen Urformen
gehen alle Folgewelten hervor: aus Geist Seele, aus Seele unser Kör-
per.
N u n könnte man sich Asgard als den Kern vorstellen, aus dem sich
die Welten entfalten, gewissermaßen als Samenkorn oder als das All-
umfassende und Große, wobei die Folgewelten zu (kleineren) Teilchen
innerhalb des All-Einen werden. Doch es spielt keine Rolle, ob wir
Asgard als das Allumfassende oder als das Ursamenkorn betrachten,
beides ist menschlich und falsch gedacht, nämlich räumlich. Asgard ist
keine Raumdimension, es ist Geist, jenseits von Raum, Zeit und Mate-
rie. Es gibt keine Darstellungsform, die Geist erfassen könnte. All un-
sere grafischen Modelle sind unbrauchbar und führen auf den
Holzweg. Reiner Geist, das Alles, bleibt für Menschen undarstellbar,
unnennbar, unerfassbar.

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Das Drei-Dimensionen-Modell. Version 1: Asgard im Mittelpunkt als Urkeim, um
den sich Hei formt und um dieses Midgard. Version 2: Asgard außen als Allumfassendes,
in dem die anderen Welten wachsen.

Entscheidend an dem hier vorgestellten Modell ist, dass sich Mid-


gard nicht, wie von den meisten Forschern hierarchisch zweidimen-
sional in Gestalt eines einfachen raum-zeidichen Übereinanders ge-
dacht, in der Mitte befindet mit der Unterwelt unten und Asgard oben,
sondern in der Mitte einer Kugel. Allein dieses Modell entspricht den

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Eddatexten, die besagen, dass aus Asgard Hei und daraus Midgard her-
vorgeht und die Unterwelt eben keinesfalls als Erdinneres des Planeten Erde
zu betrachten ist, sondern als unsichtbare Dimension, die um das gesamte ma-
terielle Universum herum liegt und es gleichsam »subatomar« durchdringt.
Das Eindringen in die Erde ist lediglich ein Sinnbild für das Erwachen
unseres seelisch Unbewussten, die Unterwelt, sprich Hei. Das naive
Modell, die Unterwelt unter unseren Füßen anzusiedeln und die Ober-
welt über unserem Kopf im Himmel, wie es von Eddainterpreten und
Kosmologen, die die Germanen als bloße Naturverehrer missdeuten,
oft getan wird, ist in keiner Weise ernst zu nehmen.
Bereiten uns Midgard und Asgard keinerlei Schwierigkeiten, tut
dies umso mehr die Zwischendimension Hei. Hei besteht aus einem
Zwitteraggregatzustand von Feuer und Eis, Hitze und Kälte, Muspell-
heim und Niflheim (Muspell = Feuer, Nifl = Nebel) genannt. Beide Zu-
stände berühren sich an einem Punkt namens Ginnungagap (ginnunga
- »doch Gras nirgend«, gap engl. = Schlucht, Abgrund). Hier formte
sich am Uranfang durch die Reibung von Hitze und Kälte ein neuer
Aggregatzustand: Materie, Midgard. Daher liegt Midgard in Hei be-
ziehungsweise Hei um Midgard herum. Dieser Evolutionssprung wird
in der Kosmogenese der Materie (das heißt von Himmel und Erde) ge-
nau dargestellt, nämlich, wie aus dem Urriesenprinzip Ymir (Riesen =
Heiprinzipien) die Menschen entstanden. Ymir ist nur ein weiterer
Name für die Dimension Hei. Man muss sich darüber klar sein: Wenn
von Erde gesprochen wird, ist stets die Materiedimension gemeint,
nicht unser Planet Erde. Dieser folgenschwere Fehler in allen Edda-
deutungen wird auch in Bezug auf andere Weltlehren immer wieder
gemacht. Muspellheim und Nebelheim sind lediglich Geschwister-Er-
scheinungsformen in Hei selbst - die den Spannungszustand heiß-kalt,
Feuer-Eis verkörpern -, deren Vereinigung, wie gesagt, Materie her-
vorbringt.
Hei ist nur ein Name für diese Dimension, wohl der bekannteste,
was aber sehr verfälschend ist. Die vielen Namen Hels geben jeweils
unterschiedliche Aspekte dieser Dimension wieder. Drei wesentliche
Aspekte sind Loki, Fenrir und die Midgardschlange. Loki gilt zwar als
dreizehnter Gott, aber von seiner Abstammung her ist er ebenso wie
seine Kinder ganz Heiwesen. Loki ist das Prinzip der Zwischendimen-
sion Hei, er besitzt nur die Stellung eines Botschafters in Asgard und
ist nicht eigentlich eine Gottheit. Daher gilt er als dreizehnter, sprich
unheilvoller, heiartiger Ase. Um diesen schwer fassbaren Bereich zwi-
schen Asgard und Midgard zu beschreiben, hat die germanische Uber-

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Ginnungagap. Modell der Geburt von Materie. Materie wird geboren durch die Rei-
bung der zwei Erscheinungsformen Muspell und Nifl, Feuer und Nebel, sprich Wasser,
und zwar in Gestalt zweier Arten von Flüssen: der Feuerflüsse und der Eisflüsse. Der aus
der Reibung entstehende Nebel ist die Grundlage der sich formenden Materie; zuerst
formt sich in Ginnungagap der Urriese Ymir und aus diesem die Riesen. Aus seinem
Achselschweiß bilden sich die Menschen. Nach anderen, logischeren Versionen schaffen
erst die Riesen die Menschen.

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lieferung eine ganze Reihe von weiteren Prinzipien entwickelt, die als
Riesen, Zwerge, Wanen, Totenseelen bezeichnet werden. Hier sind
nur kurze Anmerkungen dazu angebracht: Riese (engl, to rise = »sich
erheben«) bezieht sich auf die Berge, die Erhabenen, das, was bergar-
tig herausgewachsen ist aus Asgard (der Urhügel, wie er in allen My-
thologien vorkommt). Es handelt sich aber keineswegs um materielle
Berge, sondern um etwas Erhobenes und Erhabenes im seelischen
Sinne. Die Riesen sind die mental Erhabenen (vergleiche Engel, Uber-
irdische). Der Begriff Zwerge bleibt unableitbar, bezieht sich aber auf
die Kunstfertigkeit und den Erfindungsreichtum jener Dimension.
Alle von den Zwergen erfundenen Technologien besitzen eigenartige,
jenseits von Raumzeit und Materie liegende Eigenschaften, woraus auf
die transmaterielle, seelische Wirkungsweise dieser Zwischendimen-
sion geschlossen werden darf. Diese Dimension lebt nicht von Raum,
Zeit, Kausalität und der Undurchdringlichkeit der Materie, sondern ist
raumzeitlos, transkausal und immateriell. Interpreten der Edda haben
dergleichen geflissentlich übersehen und daher keine angemessene
kosmologische Deutung vornehmen können; aus diesem Grund ist die
Edda leider noch kein Forschungsobjekt von modernen Kosmologen
geworden und ein verwunschenes Märchenschloss im Schöße von
Phantasten geblieben.
N u n zu Asgard. Asgard scheint eine reine Geistdimension zu sein.
Die Gesetze des Geistigen - nicht des Denkens, sondern eben des
Nichtdenkens und Nichtfühlens, eher der prinzipiellen, undenkbaren
Ideenwelt und der holografischen Geistgesetze - reichen über die see-
lischen Gesetze Hels hinaus. Hier geschieht alles gänzlich jenseits von
materieller und subjektiv seelischer Raumzeit: es herrscht Nullzeit,
Nullraum, Nullkausalität. Wir befinden uns im Samenkorn aller Wel-
ten, dem All-Einen, der Nichtexistenz, die alle Welten keimhaft in sich
enthält. Wir befinden uns hier jenseits selbst fortgeschrittenster mo-
derner Physik. Den Prinzipien dieses Zustands zufolge ist den Asen da-
her alles möglich. Schwierig wird es für sie allerdings, sobald sie in Hei
eindringen, wo sie sich Schritt für Schritt in jenen dichteren Zustand
Hels verwandeln. Dort werden sie von den lokalen seelischen Geset-
zen eingeholt und müssen sich diesen entsprechend verhalten, werden
selbst also heiartig - vergleichbar einem Vogel, der ins Wasser ein-
taucht und sich nun nicht mehr fliegend, sondern nur noch schwim-
mend fortbewegen kann.

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Hei, Plasma

Je nach ihrer Eigenart besitzen die Riesen, Zwerge und Tötenseelen


verschiedene Wohnsitze oder Wirkstätten innerhalb der Dimension
Hei. Hei steht für die Urmaterie, für einen vormateriellen, subatomar-
plasmatischen Zustand, weshalb ich auch vom Plasma oder der Plas-
madimension spreche. Plasma ist ein altgriechischer Begriff und be-
deutet »Nachbildung, Gebilde, Erdichtung«. Das passt hervorragend
zu dem, was das germanische Ginnungagap bedeutet, nämlich nach de
Vries (Altgermanische Religionsgeschichte, 1956) »Täuschung durch
Magie, die ihre Erscheinung ändert und so den Augen etwas vorgau-
kelt«. Das Plasma ist unsere Seele, die sich alles vorstellen und einbil-
den kann. Die Seele und Hei sind subjektive Wirklichkeiten.

Wasser, S e e l e , Totenflüsse

Um die nichtstofflichen Eigenarten dieser Dimension einigermaßen in


Worte fassen zu können, bediente man sich volkstümlicher Bilder. Hei
gilt als wässrig, feucht, regnerisch, trüb und wird daher auch als Nifl-
heim (Nebelheim) bezeichnet. Die Totenflüsse in allen Kulturen be-
ziehen sich auf diese superflüssige, nichtflüssige Atmosphäre, mit der
die feinstoffliche Seele in ihrer Zweiheit von Denken und Fühlen ge-
meint ist. Denken ist wässrig, Fühlen ist wie ein Strom. Die Germanen
stehen mit dieser Symbolik keineswegs allein, fast alle alten Kulturen
setzen Wasser und Seele gleich.
Die Seele ist etwas Erhabenes. Die Regungen unserer Seele werden
durch erhabene Prinzipien dargestellt. Das Erhabene ist mental groß,
riesig (engl, to rise = »sich erheben«) und es rieselt eben wie Wasser.
Einerseits verkörpert es unsere Seelenprinzipien, andererseits auch
eigenständige Wesen unabhängig von der erhabenen Seele der Ver-
storbenen. Riesen sind Seelenwesen gestrickt aus Seelenstoff, dem Su-
perwasser, weshalb sie entweder in nebligen, feuchten Gegenden wie
Niflheim, im Meer oder auf erhobenen, erhabenen Bergen (nicht auf
physischen, sondern mentalen Bergen, sprich Höhen) leben.
Das Wasser hat in der Edda drei große Namen, Hier, Agir und Gy-
mir, womit Meerriesen gemeint sind. Agir ist verehelicht mit Ran, der
Meeresgöttin für Ertrinkende. Natürlich ist nicht unser Meer, sondern
das superflüssige Totenreich gemeint. »Zu Ran fahren« heißt daher
»ertrinken«.

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Hei erscheint den in diese Dimension hinübertretenden Verstorbe-
nen wie ein Fluss, daher die Erwähnung des berühmten Totenflusses.
Für den Uneingeweihten mutet die Erfahrung des Totenflusses recht
merkwürdig an. Tatsächlich aber hören wir aus der Nahtodeserfahrung
von Reanimierten häufig vom Totenfluss. Offenbar wussten die alten
Völker etwas von dieser Erfahrung. Natürlich gibt es keinen Fluss;
vielmehr ist das, was von uns übrig bleibt, die Seele, von einer energe-
tischen Struktur, die dem Neuankömmling beim ersten Anblick wie
Wasser oder wie Luft erscheint. Seele leitet sich ab von See, Wasser.
Die Atmosphäre, in die wir eintreten, ist hell, neblig, trüb, daher Hei
genannt, »helles Land«, oder Niflheim, »Nebelheim«. Die Edda er-
wähnt viele Totenflüsse. Die Flüsse werden in allen Überlieferungen
und auch bei den Germanen nach seelischen Eigenschaften wie Hass,
Gier, Neid usw. benannt. Wie das? Unsere Seele stellt sich dar als eine
Art Energie, wie sich bewegendes Wasser oder sich bewegende Luft
(griech. Psyche = »Luft, Atem, Hauch«). Da wir als Seele überleben,
heißt das, es überleben nur unsere Gefühle und unser Denken. Es han-
delt sich um Charaktereigenschaften der Totenseelen, jetzt als energe-
tische Bewegung wahrnehmbar, eben als wässrig, als Nebel (vergleiche
das Aussehen von Gespenstern und Geistern). Der Neidische sieht nun
subjektiv in Hei einen Neidfluss, der Hasserfüllte meint zu baden im
Hassfluss; jeder erfährt genau das, was er fühlt und denkt, denn wir sind
nur noch Gefühl und Denken. Ich betone: Wer körperlich tot ist, be-
steht nur noch aus Gefühlen und Gedanken, sprich seiner Seele. Da-
mit wird gesagt: Als Mensch bin ich in Hei genau das, was ich seelisch
bin. Nach dem Tod überlebt unsere Seele, ein Gemisch aus Gefühlen
und Gedanken.
Wie bereits erwähnt, ist das Wort Seele abgeleitet von See, Wasser,
in das nach alter Uberlieferung die Verstorbenen eintauchen und aus
dem die Neugeborenen auftauchen. Jeder erinnert sich an die Ge-
schichte vom Klapperstorch (oder Schwan), dem Wasser- und Seelen-
vogel schlechthin, der die Neugeborenen aus einem Teich holt und den
Müttern bringt. Hei ist eine halbmaterielle Dimension, ein feinstoffli-
ches Medium, dem Wasser vergleichbar. Hei ist unsere Nachbardi-
mension, der Energiezustand der Materie, in die nach dem Tod unsere
halbmaterielle, energetische Seele eingeht.
Der Brunnen in der Edda ist ein weiteres Synonym für den wässri-
gen Zustand Hels. Es gibt den Brunnen Urd, den Brunnen Hwergel-
mir und den Mimisbrunnen. Am Urdbrunnen versammeln sich die
Asen zu ihren Beratungen, aus Hwergelmir fließen die Eliwagar,

20
»Sturmgewoge«, die Eisflüsse voller giftiger Schlangen wie Nidhögg.
Und am Mimisbrunnen lebt der Riese Mimir.
Das Tötenreich ist nicht nur wässrig, sondern auch heiß, daher ist
ein weiterer Name Muspellheim (Muspell = Feuer). Hier leben die
Feuerriesen. Das Merkmal der Hitze wird jedoch seltener erwähnt als
das feuchte Niflheim. Feuer und Wasser, Hitze und Kälte, das ist der
duale Zustand der plasmatischen Dimension Hei. Das Feuer symboli-
siert ebenfalls einen allen Kulturen bekannten Zustand der Seele, ihre
hitzige Leidenschaft, das Höllen- und Fegefeuer, die verzehrenden
Flammen unserer stärksten Emotionen, Hass und Liebe.

Drei Daseinszustände

Die Weidehre des Nordens kennt drei grundlegende stoffliche Er-


scheinungsformen: materiell, halbmateriell und immateriell. Sie ent-
sprechen Midgard, Hei und Asgard.
Das halbmaterielle Reich Hels entspricht unserer Seele, dem, was
von uns nach dem Tod übrig bleibt, genauer unseren Gefühlen und
Gedanken, die hier als halbstofflich-plasmatisch verstanden werden
müssen. Im Gegensatz dazu steht Asgards vollkommen antiseelisches
Reich des reinen, nie auf ein Individuum zentrierten, sondern ganz-
heitlichen Bewusstseins. Erst in einem zweiten Evolutionsschritt des
Daseins verdichtet sich der allumfassende Geist Odins in Einzelbe-
wusstseine in Gestalt der Riesen, Zwerge und Seelen, den drei in der
Edda erwähnten Lebensformen. Demgemäß stehen die Asen jenseits
der Gefühls- und Gedankenwelt, sind frei von Individualismus, sprich
der Vorstellung, allein und unabhängig im Dasein zu stehen. Ein Gott
oder Ase verkörpert sämtliche Einzelseelen, alle Prinzipien der
Einzelseelen wie Liebe, Krieg, Recht, Licht usw. N u r wenn sie nach
Hei hinunterfallen, verengt sich ihre allumfassende Tendenz zu indivi-
dualistischen Gefühlen, sie werden dann helartig und emotionsver-
wirrt.
Sicherlich ist die Zwischendimension Hei die undurchsichtigste
und für uns Menschen am schwersten begreifbare. Vermutlich deshalb
handelt die gesamte Edda im Wesentlichen von Hei, fast nie von Mid-
gard und nur selten von Asgard. Hei ist die uns benachbarte Dimen-
sion und steht uns daher am nächsten.
Damit möchte ich es bewenden lassen, doch dieser kosmologische
Hintergrund ist notwendig, um meine folgenden Deutungen aufgrei-

21
fen und die außerordentliche Reichweite der Philosophie der Edda an
der eigenen Seele erspüren zu können. Damit lassen wir alle naiven wie
modernistischen Fehldeutungen, die Edda sei ein dichterisches Meis-
terwerk oder phantasievolle Naturbetrachtung von Donner, Regen
und Hagel der naturverbundenen germanischen Seele, weit hinter uns.
Es enthüllt sich uns ein gewaltiges kosmologisches Panorama, wenn
auch nur anhand von Bruchstücken einer weit vor dem Christentum
bestehenden, in älteste Zeiten zurückreichenden Gesamtschau der
Entwicklung des Makrokosmos und seiner Parallelentwicklung im
menschlichen Mikrokosmos. Dimensionsphysik und Seelenwissen-
schaft werden zu einer ungemein raffinierten transmaterialistischen,
transhumanen Philosophie verbunden, in welcher der alles umfassende
Geist Odin die Vorherrschaft über Seele und Materie besitzt.

Dimensionsgrenzen zwischen den drei Welten

Jede Welt ist von der benachbarten Welt abgegrenzt. Asgard grenzt
sich gegen Hei durch den Asgrind (Grind = Wall) und ein Asgatter
(Gatter = Zaun, Tor) ab. Außerdem gibt es zwischen Asgard und Hei
noch den so genannten Dunkelwald. Hei grenzt sich zu Asgard und zu
Midgard hin ab durch einen Heigrind und ein Heigatter. Zwischen Hei
und Midgard gibt es zudem einen Wald namens Erzwald. Midgard
grenzt sich nach Hei hin durch den Midgardwall ab, der einst aus den
Augenbrauen des erschlagenen Urriesen Ymir - er lieferte die Grund-
lage für die Materie - gebaut wurde.

22
Die Wächter

An der Grenze der Dimensionen stehen Wächter. In Asgard wacht


Heimdall in seiner Himmelsburg, um die Asen vor den anstürmenden
Riesen mit seinem Gjallarhorn zu warnen. Gelegenheit dazu hat er
beim Ragnarök, dem Weltenrückzug, wenn die Riesen über die Bi-
fröstbrücke stürmen und nach Asgard einfallen. Die Himmelsburg ist
also ein Burgwall, der Asgard umgibt; Himmel steht für Asgard. Der
Weltuntergang findet dann statt, wenn eine Welt nach der anderen sich
in der umgekehrten Reihenfolge ihres Entstehens in die vorherge-
hende auflöst, also Midgard in Hei und Hei in Asgard hinein. Der All-
gott pulsiert Welten aus sich heraus und nimmt sie auch wieder zurück,
und das in ewigem Rhythmus.
Die Grenze zwischen Niflheim oder Hei und Asgard wird bewacht
von Surt, dem Feuerriesen, der in Muspellheim steht. Vermutlich
ebenfalls in Muspellheim, genauer in Jötunheim (Heim der Riesen
oder Jöten) wacht der Riese Eggdir mit seiner Harfe, deren Töne wohl
auch eine Art Warnsignal darstellen. Ihm zur Seite steht der rote Hahn
Fjalar, der auch das Feuer Muspellheims versinnbildlicht. Des Weite-
ren wachen in Hei der Höllenhund Garm, der nur wirklich Tote nach
Hei einlässt, sowie die Riesenmagd Modgud, die am Totenfluss Gjöll
steht, der Hei nach Midgard hin umgibt. Beide stehen an der Gjaller-
brubrücke, über die die Verstorbenen kommen, wenn sie nicht durch
Gjöll schwimmen müssen. Zu den beiden Brücken ist anzumerken:
Bifröst führt von Asgard nach Hei und Gjallerbru führt von Midgard
nach Hei; über sie führt der Heiweg, von dem es einen von Asgard nach
Hei und einen von Midgard nach Hei gibt. Die Dimensionen sind also
durch diese Brücken und Wege zwar miteinander verbunden, durch die
Wächter aber gleichzeitig voneinander getrennt.

Brücken und Heiwege

Die drei Dimensionen sind untereinander verbunden, denn letztlich


sind sie eins, reiner Geist, dargestellt als verschiedene Emanationen
(Ausfaltungen) des Geistes. Dass die Dimensionen eins und miteinan-
der verbunden sind, wird symbolisch gezeigt durch Brücken und
Wege. Es gibt die Brücke Bifröst, die entweder von Asgard nach Nifl-
heim oder auch weiter nach Midgard führt. Frost deutet auf Kälte hin,
also auf das Plasma. Ich neige dazu, sie nach Niflheim führen zu lassen,

23
Drei Welten. Brücken, Heiwege und Dimensionswächter.

24
weil man vom Geist zuerst durchs Plasma muss und erst dann in die
Materie eintreten kann. Andererseits ließe sich auch eine direkte Ver-
bindung zwischen Geist und Materie denken, so wie ja auch in uns
selbst unser Geist unmittelbar auf den Körper einwirken kann. Das
Beispiel unseres Körpers ist treffend, weil wir ein Lebewesen, beste-
hend aus allen drei Dimensionen, sind. Wir sind ein Abbild des dreifa-
chen Kosmos im Kleinen.
Uber diese Brücke ziehen die Plasmawesen, die Muspellssöhne, ge-
führt vom Grenzwächter Surt, wenn sich beim Ragnarök, dem Wel-
tenuntergang, ein Krieg entwickelt, sich also das Plasma zurückzieht in
den Geist, hier dargestellt als Einbruch der Plasmariesen nach Asgard.
Bei dieser Gelegenheit bricht die Bifröstbrücke natürlich zusammen.
Die Brücke lodert glutrot, es ist eine Feuerbrücke, was auf Muspell-
heim verweist, das plasmatische Flammenmeer. Das Plasma ist wie ge-
sagt polar, Feuer und Eis sind seine Bestandteile. Der Name Bifröst
verweist auf die Frostriesen und darauf, dass sie zum Frost- und Eis-
bereich führt. Von der Erde aus sehen die Menschen Bifröst als Re-
genbogen, über den die Götter ziehen. Damit wird erklärt, dass Bifröst
Himmel und Erde verbindet. Andererseits ist das widersprüchlich,
denn die Götter ziehen täglich darüber, um zum Urdbrunnen zu ge-
langen, also ins Plasma, um dort Gericht zu halten. Die Behauptung,
Bifröst verbinde den Himmel mit der Erde, stellt sich also gewisser-
maßen als optische Täuschung aus dem Blickwinkel der Erde heraus.
Die Menschen sehen die Brücke als Regenbogen, die Riesen als feurig.
Es handelt sich um dieselbe Brücke, aus verschiedenen Blickwinkeln
gesehen. Es gibt natürlich keine Brücke zwischen den Dimensionen,
die Wesen sehen eine solche nur entsprechend ihren Lebensbedin-
gungen.
Es gibt eine Brücke von Midgard nach Hei und eine weitere von As-
gard nach Hei. Beide Brücken sind also Heibrücken, auch Heiweg oder
Niflweg genannt; auf beiden braucht man neun Nächte, um nach Hei
zu gelangen. Nächte, weil die Germanen in Nächten und nicht in
Tagen zählten. N e u n - die drei Dimensionen (drei mal drei) - ist die
heilige Zahl für alles, was heilig und übermenschlich ist. Hei ist ein
wässriges Gebiet, sie ist der Totenfluss. Das Sinnbild der Brücke ist
vielleicht deshalb entstanden, weil Hei eine wässrige Zone mit vielen
Flüssen beziehungsweise einem Fluss ist, der nur über eine Brücke zu
überschreiten ist. Hinzu kommt, dass es heißt, wer die Absperrung an
der Grenze von Hei durchbreche, komme nicht mehr aus Hei zurück,
wer sie aber überspringe oder überfliege - darauf verweisen auch mo-

25
derne Nahtodeserfahrangen -, der könne auch wieder von dort
zurückkehren. Die Brücke ermöglicht eine solche Rückkehr, da man
dann nicht vom Wasser Hels benetzt und damit vom Feuchten einge-
fangen, also selbst feucht wird, was so viel wie »tot« hieße; denn Seele
(= See) heißt Wasser, und wenn wir (zumindest die Menschen von Mid-
gard) Wasser werden, dann sind wir nur noch Seele und somit tot,
gehören also bereits zum Bereich von Hei.

Dualität der germanischen Unterwelt

Wir berühren nun das schwierigste Kapitel germanischer Weltlehre,


die Uberlieferung vom ewigen Kampf zwischen Feuer und Eis.
Die Plasmadimension ist aus Asgard als reiner Geistdimension her-
vorgegangen. Das Plasma ist dichter als Geist, aber feiner als das, was
aus ihm hervorgeht, die Materie. Plasma ist ein halb materieller und
halb seelischer Zustand. Es gilt als polar, so wie die Elektrizität positiv
und negativ ist. Einerseits ist es feucht, nass, wässrig, neblig und daher
Niflheim (Nifl = Nebel) oder Niflhel (Nebelhölle) genannt; die Riesen
dort sind die Reif- und Wasserriesen. Oder es ist eine Flammen- und
Feuerwelt mit Feuerflüssen und Feuerriesen, Muspellheim genannt.
Es herrscht in Hei, im Plasma, ein ewiger Kampf zwischen Feuer und
Eis, zwischen den Feuerflüssen Muspellheims und den Eisflüssen (Eli-
wagar) Niflheims. Dieser Kampf ist tatsächlich eine Reibung zweier
plasmatischer, vormaterieller Elementargewalten. Es heißt, dort, wo
sich Niflheim und Muspellheim berühren, tut sich eine Schlucht, ein
endloser Abgrund, genannt Ginnungagap (engl, gap = »Schlucht«) auf.
Die Reibung erzeugt im Abgrund eine neue stoffliche Erscheinungs-
form: Materie, Midgard. Materie ist ein Schlund, ein Loch im Plasma.

Ymir

Offenbar aus dem Kampf zwischen Feuer und Eis entstand auch der
Urriese Ymir und die Urkuh Audhumla. Diese Kuh ernährt Ymir mit
vier Milchströmen aus ihrem Euter. »Die Saftreiche« verweist erneut
auf das Wässrige dieser Dimension. Aus dem doppeltgeschlechtlichen
Ymir entstehen nicht nur die so genannten Reifriesen, sondern aus
dem Schweiß seiner Achselhöhle auch das erste Menschenpaar und die
Materiedimension. In einer anderen Überlieferung heißt es, die Göt-

26
ter, also die Asen, hätten Ymir erschlagen, aus ihm Erde, Himmel und
Meer und aus seinen Augenbrauen zu guter Letzt den Wall um Mid-
gard erschaffen, der die Erde vor den Riesen schützt. Die Quintessenz
dieser Uberlieferung lautet: Das Plasma ist polar, aus ihm entsteht
durch den Kampf zwischen Feuer und Eis, zwischen Hitze und Kälte
zunächst der plasmatische Übergangszustand Ymir, aus diesem die ver-
schiedenen plasmatischen Riesengeschlechter, welche die Evolution
fortsetzten und die Menschen erschufen. Aus Ymir (»Immer«?) geht
aber auch die Materiedimension hervor.

S e c h s Modelle zur Darstellung von Hei

Loki

Loki ist das Prinzip der zweiten Dimension, der Seele, des Feinstoffli-
chen. Dies wird bestätigt durch seine Geburt, denn er stammt von Rie-
seneltern ab. Gleichzeitig wird er jedoch als dreizehnter Gott erwähnt,
der Gott, der Unglück bringt, also kein wahrer Gott ist. Loki wird von
den Göttern nur um Rat gefragt, wenn es um Probleme der zweiten
Dimension geht. Loki ist unsere Seele. All die Ränkespiele, Lügen und
Trugschlüsse unserer Seele, das ist Loki. Die Geschichten, die sich um
Loki ranken, sind demgemäß Lug- und Truggeschichten. Loki hilft

Loki Lopt Lodur


•Endiger, Beschließer, 'der Luftige' 'der Feuerbringer•
Luzifer« Luft als Plasma! Lodur erschuf mit Odin und
Personifizierung Hönir d a s erste Menschenpaar
d e s Riesenlandes

Utgard-Loki Logi
ein Riese »Lohe'
Utgard, 'äußere Weltgegend• gilt als Feuergott und als
außerhalb Midgards, Bruder d e s Meeresgottes Ägir
ist d a s Plasma, und d e s Windgottes Kari.
Region der Riesen Feuer, Wasser und Wind sind
Synonyme d e s Plasmas

Die N a m e n Lokis.

27
oft, aber nur um noch mehr zu betrügen. Loki verkuppelt Liebende,
schafft Streit und sät Feindschaft. Loki ist die Wurzel allen Übels, al-
ler Leidenschaft und dessen, was Leiden schafft. Wollen die Götter
nach Hei, müssen sie oft Loki um Hilfe bitten, aber er täuscht sie und
führt sie in die Irre - das ist das Prinzip der seelischen Dimension. Loki
ist der Teufel und Trickster (gelegendich wird die Bezeichnung Loki
abgeleitet von Luzifer). Das Plasma ist wie Luft, weshalb Loki auch
Loptr, »der Luftige«, genannt wird, und das Plasma ist gleichzeitig so
fein wie Feuer, daher wird Loki auch Logi, »die Flamme«, genannt.
Loki zeugt mit der Riesin Angrboda drei Aspekte seiner selbst: Hei
(vorgestellt als Frau), den Fenrirwolf und die Midgardschlange. Mit ei-
nem Pferd, dem eines Riesen, der die Burg von Asgard baut, zeugt er
das achtbeinige Ross Odins.

Loki u n d A n g r b o d a
zeugen

Fenrirwolf Hei
d a s Verschlingende die negative Psyche

Hei

Hei, das helle Land, das Totenreich der Germanen, ist hell und strah-
lend. Etymologisch kommt hell von »hell tönend, laut, licht, glän-
zend«. Hei ist also nicht nur optisch, sondern auch akustisch hell, laut,
grell tönend; es ist nämlich eine Halle, ein Hall, ein Lärm. Eine andere
Bezeichnung für Hei lautet daher Thrymheim = Lärmheim. Die uner-
trägliche Lautstärke in Hei rührt von den verwirrten Gedanken und
Gefühlen der Verstorbenen her. Daraus resultiert der Höllenlärm, der
Lärm unserer unruhigen Seele. Hall und Halle gehören zusammen.
Die eigendiche Halle ist Hei selbst. Zur germanischen Wörtgruppe

28
»hell« gehört auch »holen«, von mittelhochdeutsch hellen, althoch-
deutsch hellan, »gleich schallen, ertönen«. Halle verweist aber auch auf
hehlen (von der idg. Wurzel kel, »bergen, verhüllen«; z.B. lat. cella,
»Keller, Kammer«), in der Tat ist Hei ein verhüllter Bereich, jener un-
serer Seele. Daher auch das Wort Helm, der eine Tarnkappe ist, die
verhüllt und verhehlt.
Hei wird als weiblich angesehen. Es ist das Reich der verstorbenen
Menschen, aber auch der Riesen und Zwerge. Zudem gibt es noch an-
dere Prinzipien, die Hei verkörpern, wie die Geschwister der Hei,
Fenrirwolf und Midgardschlange, oder Loki selbst. Je nachdem, von
welcher Warte aus man Hei betrachtet, erhält man ein anderes Bild,
weil ein anderer Aspekt angesprochen wird. Hei wird im Allgemeinen
und am häufigsten als Oberbegriff für das Totenreich verwendet. Als
Hei noch in Asgard ruhte - alle Heiprinzipien lebten einst dort als Po-
tenz und sind daraus hervorgegangen -, soll Odin sie aus seinem Reich
heraus- und hinuntergeworfen haben, wodurch das Reich der Hei ent-
stand. Damit schuf er aus sich heraus eine neue Dimension, einen men-
talen Energieozean.
Hei ist ein anderer Name für Heiheim, oft als Höhle dargestellt. In
Bezug auf die Psychologie der Verstorbenen werden ihre mentalen
Eigenschaften sehr bildlich vorgeführt:

Heiheim

Wohnsitz (Eljudnir): Elend


Tisch (Hungr): Hunger
Messer (Sultr): Verschmachtung
Knecht (Ganglati): Langsamtritt
Magd (Ganglot): Trägtritt
Türschwelle (Fallandaforad): Fallende Gefahr
Bett (Kor): Sarg
Bettvorhang (Blikjandabol): Blinkendes Unheil

Ihre Tiere
Nidhögg: Neiddrachen
Garm: Höllenhund

29
Midgardschlange

Ein weiteres Kind, eine Tochter Lokis und der Riesin Angrboda, ist die
Midgardschlange, die sich um Midgard schlängelt. Die Schlange lebt
im Wasser, ist Wasser. Sie umgibt den Materieozean (identisch mit dem
oceanos der Griechen), ist seine Grundlage, das Plasma schlechthin,
unsere Seele. Jede Seele ist eine Schlange, daher die zahlreichen Dar-
stellungen des Seelischen als Schlange. Spätere volkstümliche Aus-
deutungen der Schlange enden in den Drachenüberlieferungen, die
einen Schatz (den Goldschatz) hüten, Jungfrauen rauben und von
Rittern getötet werden. Fafhir ist der Drache in der Sigurdsaga. Die
Midgardschlange steht aber einfach nur für die Apekte des uns umge-
benden und durchdringenden Plasmas, vergleichbar dem Subatoma-
ren. Andererseits ist die Schlange auch das Symbol für die Riesen und
Zwerge, die ja ebenfalls im Plasma leben.

Der Wolf Fenrir

Fenrir oder der Fenriswolf gilt ebenfalls als Sohn Lokis und der Riesin
Angrboda; er wird aufgezogen in Asgard und wird täglich stärker und
gefährlicher - das Plasma wächst gewissermaßen. Die Götter be-
schließen, den Wolf vorsichtshalber an die Kette Läding zu legen. Dies
gelingt nicht, worauf sie es mit der Kette Dromi versuchen, was eben-
falls misslingt. Das Unterfangen ist erst mit Hilfe der Zwerge erfolg-
reich: Sie schmieden aus allerfeinstem Stoff das Band Gleipnir, das den
Wolf schließlich bannt. Gleipnir heißt »Spaßmacher« - weil es ein Spaß
war, den Wolf getäuscht zu haben? Mit der Kette Gelgja wird er tief in
der Erde angepflockt. »Tief in der Erde« heißt wie immer in solchen
Fällen in der mentalen Unterwelt, also in Niflheim, im Plasma. Der
Wölf Fenrir liegt in der Fessel Gleipnir auf der Insel Lyngwi im See
Amsvartnir. Die Fessel wurde aus den Gedärmen des Riesen Narfi her-
gestellt, der von Lokis Bruder Wali - ein Riese, den die Götter in einen
Wolf verwandelt hatten - zerrissen worden war. Der See verweist auf
das Wasser, die Seele, die Unterwelt, das Unterbewusste. In Wirklich-
keit braucht der Wolf gar nicht angepflockt zu werden, Hei ist in sich
selbst eine Fessel, das Gefesseltsein ans Seelische. Die Seele wird hier
verstanden als eine Fessel, eine Fixierung an Gefühle, daher vielleicht
auch als »Spaßmacher« verstanden. Der Wölf lebt also in der ihm an-
gemessenen Dimension, die er selbst verkörpert. Der Wölf wurde ge-
wählt, weil er das Verschlingende veranschaulicht. Wie die Midgard-

30
schlänge die Materiewelt umgibt, so hält der Wolf diese im Rachen.
Wir sind umgeben vom Wolfsprinzip, verschlungen vom Plasma unse-
rer Nachbardimension, in dem wir schwimmen wie Fische im Wasser.

Riesen

Mit der Edda müssen wir die altgermanischen Vorstellungen der Exis-
tenz von Riesen ernst nehmen und sie - jenseits ihrer Deutung als Mär-
chenfiguren, poetische Naturverklärungen, literarische Ergüsse usw. -
als plasmatische Prinzipien (aber auch als real seelisch-energetisch
existierende Wesen) Hels, der Dimension zwischen Asgard und Mid-
gard, erkennen.
Bevor wir die Lieder der Edda in dieser Hinsicht deuten, möchte
ich eine etymologische Ableitung des Wortes Riese versuchen. Riese
hieß mittelhochdeutsch rise, althochdeutsch riso, altenglisch risan, alt-
nordisch risa, schwedisch rese und hatte ursprünglich wohl ein anlau-
tendes w- wie in altsächsisch wrisilik, »riesenhaft«. To rise im Engli-
schen heißt »aufstehen, hochgehen, sich erheben«, auch »rebellieren«
im Sinne von »sich erheben« gegen etwas, von to increase im Sinne von
»anreichern«, von come into existence, also entstehen und wie bei the ri-
sing of the sun im Sinne von »heraufdämmern, aufgehen«. In diesem
Sinne wären Riesen Prinzipien der Evolution, des sich Erhebens, die
etwas Neues hervorbringen. Möglicherweise besteht eine Verwandt-
schaft mit griechisch rhion, »Bergspitze«. Riesen, insbesondere die
Bergriesen, sollen ja auf Bergen, also »oben« im Plasma, wohnen.
Da die Riesen, also die erhaben Geborenen, in den Bergen leben,
sollte die Etymologie von Berg untersucht werden. Das indogermani-
sche Substantiv Berg gehört zu der Wurzelform bheregh, »hoch, erha-
ben«, was eine Erweiterung der indogermanischen Wurzel von »ge-
bären« ist. Zu dieser Wurzel gehören auch altindisch brhdnt, »hoch,
groß, erhaben, hehr«. Wie wir sehen, sind Riesen und Berge eins.
Berge sind Riesen. Sicherlich geht es nicht um die physischen Berge,
sondern um den in vielen Kulturen bekannten Urhügel, den Welten-
berg, das erste Stück einer zweiten Dimension, die sich aus dem reinen
Geist heraushebt. Vielen Weltlehren zufolge entstand aus dem Geist
ein Berg, oder ein Berg erhob sich aus dem Wasser. Wasser wie Berge
sind keineswegs materiell zu verstehen, sie sind Synonyme für die plas-
matische Dimension, die dem Geist, dem Allerhöchsten entspringt.
Auf dem Urhügel formt sich dann allerdings eine dritte Dimension mit
ihren Lebenwesen, die Materie. In diesem Sinne leben die Riesen, die

31
Erhabenen, in einem Zwischenreich zwischen Asgard, Geist, und Mid-
gard, Materie. Aus ihrer Dimension ging eindeutig die Materie, die
Erde und die von ihnen erschaffene Menschheit hervor.
Neben den Bergriesen gibt es Meerriesen. Dass Wasser sich auf die
Seele bezieht, habe ich gesagt. Erneut verweist es hier auf Seelenrie-
sen. Auch Feuerriesen werden erwähnt, sie leben in Muspellheim, dem
feurigen Bereich des Plasmas. Muspellheim leitet sich vermutlich ab
von mu, althochdeutsch molta oder gotisch mulda, Staub, Erde.
Die Reifsteinriesen dagegen (aus Raureif wird Eis) beziehen sich
auf das kalte, eisige, neblige Niflheim des Plasmas.

Vier Aggregatzustände des Plasmas werden ausgedrückt durch vier Prototypen von
Riesen. Berge beziehen sich auf das Erhabene, Feuer und Wasser auf den polaren Zu-
stand des Plasmas und Reifsteine, also Eis, auf einen verdichteten Wasserzustand.

Ein anderes Riesengeschlecht, das später zum Göttergeschlecht


erhoben wurde, sind die Wanen. Vielleicht ist Wane der bei einem
anderen Volk gebräuchliche Begriff für Riese. Wanen leben in Wa-
nenheim, sie führten einst Krieg mit den Asen, was erneut auf ihre Rie-
sennatur verweist. Einigen Berichten zufolge lebten die Wanen nicht
im Himmel, sondern in der Erde und im Meer. Damit ist Hei gemeint,
aber sie mögen tatsächlich auch, jedoch als Plasmawesen, im Erdin-
nern leben. Ich behandle daher die Wanen einfach als Riesen, was ih-
rer Natur auch vollkommen entspricht.
Bezüglich des Weltuntergangs heißt es: »Yggdrasils Stamm steht
erzitternd, es rauscht der Baumgreis; der Riese kommt los« (Wöluspa,
Strophe 39). »Der Riese kommt los«, soll heißen, die Riesen - sprich
das Plasma - gehen unter; sie sterben und gehen ein in Asgard, so wie

32
die Menschen, wenn sie sterben, ins Totenreich eingehen. Wie der
Menschen Seele überlebt, so der Riesen Geist. Und das stellen die
Germanen als kriegerischen Einfall der Riesen nach Asgard dar.
Die Riesen stehen in enger Verwandtschaft mit den Asen, obwohl
sie verfeindet sind. Das wäre nicht unlogisch, deutet man Riesen als
Plasmabewohner und Asen als Geistwesen. Riesen gingen einst aus As-
gard hervor, sind die Kinder der Asen. Ähnlich in der griechischen
Überlieferung: Die Riesen stammen dort von den höchsten Göttern
ab, wobei klar hervortritt, dass Riesen, die Titanen, der Plasmaschicht
zugehören. Beim Weltuntergang vernichten sich die Asen und die vier
Stämme der Berg-, Feuer-, Reifstein- und Wasserriesen gegenseitig.
In denselben Zusammenhang wie »Riese« gehört wohl auch das
deutsche Wort »rieseln«, also »tröpfeln, sacht regnen«, von mittel-
hochdeutsch risen, althochdeutsch risan, »sich von unten nach oben
oder von oben nach unten bewegen, steigen, fallen«. Wenn tatsächlich
ein Zusammenhang besteht, wäre damit wiederum auf die feuchte
Plasmaatmosphäre verwiesen, was meiner Deutung absolut entgegen-
kommt, leben die Riesen doch in der wässrigen, feuchten Region Nilk-
heims (mit Ausnahme der Feuerriesen, die in Feuerheim leben).

Riesen als Asen

Das Wort Ase wird abgeleitet von altisländisch dss aus ans (vgl. die Na-
men Nans-helm, Ans-ger, »Götterspeer«).
Wer von den Göttern letztlich wirklich ein Ase und wer ein Riese
ist, wird nicht immer klar aus der Edda zu entnehmen sein, denn es
gibt auch Mischungen zwischen Asen und Riesen; so ist zum Beispiel
T h o r halb Ase, halb Riese. Des Weiteren gibt es Riesen, die zu Asen
aufgestiegen sind, und Riesen, die durch gute Beziehungen zu Asen ge-
wissermaßen einen Rang innerhalb Asgards erhalten haben, so wie
Botschafter etwas von der Atmosphäre eines fremden Landes über-
nehmen. Auch die Zahl der Asen bleibt unklar. Ich werde ausführlich
zeigen, welche Asen in Wahrheit Riesen und welche eigentliche Asen
sind. Dass selbst Odin vielerlei Züge eines Riesen trägt, hängt jedoch
damit zusammen, dass er als Allvater, als Alles für alle drei Dimensio-
nen steht und deren Eigenarten verkörpert.
Die Asen oder Geistprinzipien sind die Schöpfer der Riesendimen-
sion mit ihren verschiedenen Wesen. Die Asen sind daher die Eltern
der Riesen und Zwerge. Im Grunde gibt es nur das Göttliche; die ver-
schiedenen Asen stehen für verschiedene Unterprinzipien des reinen

33
Geistes, des Ur-Einen. Das Ur-Eine lässt aus sich eine Evolution her-
vorgehen, genauer gesagt, es spiegelt sich auf einer niedrigeren Stufe
wider, in der Dimension Hels, als Plasmagesetze und als individuelle
Plasmabewohner, Riesen und Seelen. Riesen wie Thjazi, Gymir, H y m -
nir, Wafthrudnir, Fjölswinn, Grimnir, Thrym, Njörd oder die Zwerge
Brokk, Sindri und Alwis stellen immer wieder neue Versuche dar, das
Plasma in seiner unfassbaren Eigenart zu beschreiben. Viele der in As-
gard aufgenommenen Riesen vertreten die Plasmadimension als
Ganzes oder in bestimmten Aspekten. Vom philosophischen Stand-
punkt aus kann man nicht ohne weiteres trennen zwischen diesen bei-
den Dimensionen, da letztere nur eine Emanation, eine Wiederholung
der Ersteren auf einer niederen Stufe ist. In anderen Worten: Riesen
sind Asen in reduzierter Kapazität!

Alben und Zwerge

Sehr verwirrend ist das Thema Alben (auch Elben, Elfen, Alfen, Alpen,
Alben, Feen, Fays). Wir besitzen nur bruchstückhafte und obendrein
widersprüchliche Beschreibungen über sie.
Die Liederedda verbindet »Asen und Alben« stabreimmäßig als
Symbol für »oben und unten«. Damit werden Asen als oben in Asgard
lebend und gut, Alben als darunter wohnend und schlecht bezeichnet.
Zunächst ist klar und eindeutig zu sagen: Alben sind Wesen der Plas-
madimension und wohnen nicht in Asgard. Alb ist ein anderer Name
für Zwerg und Riese. Die Lichtalben (liosalfar) wohnen in Alfheim im
Bereich Widblain, beziehungsweise finden sie nach dem Ragnarök in
diesem Unterbereich Asgards eine neue Heimat. Sie sollen so klein
sein wie Zwerge, leuchtend wie die Sonne, gütig im Wesen. (In Alf-
heim wohnt erstaunlicherweise auch der Gott Freyr.)
Die Dunkel- oder Schwarzalben (döckalfar) wohnen nach Snorri in
Svartalfaheim oder Schwarzalbenheim unter der Erde, sie seien pech-
schwarz, von Natur bösartig und durchtrieben. »Unter der Erde«, in
der Unterwelt usw. bezieht sich nie auf das Erdinnere unseres Plane-
ten, sondern stets und das bei allen Kulturen auf das, was der Materie-
dimension zugrunde liegt: Hei, Riesenland, Zwergenheim, das Land
der Seele, ich nenne es Plasma.
Nach der Wöluspa (Der Seherin Gesicht) entsprechen die Zwerge,
die von Göttern aus dem toten Leib des Urriesen Ymir geschaffen wur-
den, den Schwarz- oder Dunkelalben unter der Erde, also Wesen im
Plasma, von denen es die Erdzwerge, die Steinzwerge und die Zwerge

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vom Swarinshügel gibt. Es liegen Verbindungen zu den Wanen vor,
was darauf verweist, dass Wanen ein weiterer Begriff für Alben, Zwerge
oder Riesen ist. Die Wanen sind Plasmabewohner. Ich hebe das stets
deutlich hervor, sonst kommt es zu Verwechslungen der drei kosmolo-
gischen Ebenen.
N u n zur Etymologie des Wortes Alben, Alpen, Elben, Elfen. Un-
sere heutige Vorstellung ist von der Romantik des 18. Jahrhunderts ge-
prägt. Zu dieser Zeit wurde (bei Shakespeare) das englische Wort elf
entlehnt (aengl. aelf, mhd. alp, mhd. elbe, mnd. und nord. alf). Die alt-
hochdeutsche Bezeichnung alb, alp bezieht sich auf den Nachtmahr,
der die Schlafenden drückt (Alpdrücken, Alptraum). Alben (engl, auch
alveri) erscheinen heimlich nachts, setzen sich auf die Brust des
menschlichen Opfers, vergewaltigen und entführen es dann. Im Eng-
lischen ist elf und dwarf, deutsch »Zwerg«, dasselbe. Sie gelten als bös-
artige Geschöpfe, die als die Unterirdischen aus Innererde kommen.
Elbisch oder alpartig heißt »von Elben sinnverwirrt«. Elben verwirren
die Sinne der Menschen, gaukeln ihnen etwas vor, was nicht da ist, be-
einflussen sie mental, verführen und betrügen sie und beherrschen sie
so. Elf (elfisch) wird gebraucht im Sinne von »geisterhaft, neckisch«.
Der Zwergenkönig heißt Alberich (engl, rieh = reich, also Reichsherr-
scher). Ähnlich zu verstehen ist das französische Wort Oberon (afrz. al-
beron). Die Alben glänzen, es sind lichte Nebelgestalten. Albus (lat.)
heißt »weiß«, albh (idg.) »glänzend«. Alben sind also Lichtwesen.
Jeder kennt den deutschen Namen Elfriede. Wenige aber wissen,
wovon er sich ableitet. Elf kommt von Elfe. Fridu bedeutet »Schutz«.
Elfriede heißt also »schützt« oder »Schutz vor Elfen«.
Alf (schwed.) heißt »Fluss«. Wir wissen, dass Riesenheim ver-
dünnte Materie ist, so dünn wie Wasser. Riesenheim ist der Totenfluss,
weil dort die Verstorbenen hingehen. (In diesem Zusammenhang wäre
vielleicht die Zahl elf bedeutsam. Elf leitet sich ab von got. ainlif und
ahd. ein + lif »übrig sein«.)
Der Begriff Elf wurde im 18. Jahrhundert vom englischen elf, alt-
englisch aelf entliehen. Gemeint sind die Unterirdischen, die in der
Erde, im Wasser und in der Luft leben, und zwar stets in größerer Ge-
sellschaft. Diese sollen Mittelwesen zwischen Mensch und Göttern
sein. Sie sind körperlich den Menschen nicht gewachsen, scheuen sich
daher vor ihnen, obwohl sie ihnen sehr wohl Schaden zufügen können
und deshalb von den Menschen nicht gering geachtet werden. Die nor-
dische Überlieferung teilt die Elfen in zwei Gattungen: Die Lichtelfen
(liosalfar) seien schön und freundlich, die Schwarzelfen (svartalfar)

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hässlich, klein und böse. Die Zwerge gehören vermutlich diesen
Schwarzelfen an. Letztere Elfenart nimmt gelegentlich die Seelen Ver-
storbener auf, verführt und entführt aber auch Menschen; sie spielt da-
bei eine verlockende Musik, die betört. Der thüringische Dichter
Heinrich von Morungen hat viel über den Elfenglauben gesammelt.
Die Alben, Elben oder Elfen sind ein sehr verwirrendes Gebiet. Es
herrscht Unklarheit darüber, welche Arten von Alben es gibt. Man be-
denke, von den Alben leiten sich die Feengeschichten ab. Die Elfen als
Botschafter unserer Nachbardimension wirken auf der Erde. Es heißt,
sie seien die Schöpfer der Menschen. Der Mensch also als Produkt der
Heibewohner, die neben ihrer magisch-trügerischen und feinstoffli-
chen Technologie offenbar auch fähig sind, aus dem Stoff der Seele
physische Körper herzustellen. Es heißt, als Ausgangsmaterial benutz-
ten sie Holz und schufen Ask und Embla, das Urmenschenpaar.
Hier müsste auf die Überlieferungen über Elfen, Feen und Fays
eingegangen werden, was aber zu weit führte. Elfen beglücken und
necken, gehen aber auch noch weiter, quälen und betrügen uns Men-
schen, indem sie sich dauernd verwandeln oder in unsere Geschicke
»schicksalshaft« eingreifen, wenn sie nicht gar unsere heimlichen
Herrscher und Könige sind. Dabei kommt das Negative vermutlich
von den Dunkelalben, während Lichtalben gelegentlich helfend ein-
greifen. Zwischen Licht- und Dunkelalben scheint es deshalb eine
Auseinandersetzung, einen Krieg zu geben. Aber das bleibt ein dunkles
Gebiet.
Im Allgemeinen trennen wir Zwerge und Riesen: Zwerge sind
klein, Riesen groß. Tatsächlich leben sie beide in Hel. Wenn es sich
wirklich um zwei verschiedene Arten handelt, worauf aber nicht viel
hinweist, so sind doch beide Heibewohner. Zwerge zeichnen sich
durch Wissen, technologisches Geschick und sexuelle Lüsternheit aus.
Doch all das kennzeichnet auch die Riesen, denen zusätzlich noch
große Stärke zugeschrieben wird, während Zwerge mehr mit List und
Tücke arbeiten.
Aus den Maden des toten Urriesen Ymir entstanden die Zwerge.
Nach »Der Seherin Gesicht« sind Zwerge ein und dasselbe wie Alben
(Schwarzalben, Dunkelalben; Schwarzalbenheim ist ihr Wohnort).
Das Fjölswinnlied nennt zwölf Zwerge einschließlich Loki. Sie ferti-
gen für die Götter allerhand Kostbarkeiten an, darunter Goldhaar,
Waffen, Skaldenmet und die drei so genannten Kostbarkeiten. Sie ver-
tragen das Sonnenlicht, den Albenstrahl, auch »Verdruss der Zwerge«
genannt, nicht; er lässt sie versteinern, weshalb sie wohl vornehmlich

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im Dunkeln, unter der Erde oder nachts arbeiten. Die Zwerge kennen
wir als klein und als Unterirdische, aber sie leben nicht unter der Erde,
sondern in der Unterwelt der Seelendimension - oder etwa in beiden?

Alben als erste Könige der Menschen

Die ersten Könige der Nordvölker sollen keine Menschen, sondern


Alben gewesen sein. Durch Mischehen zwischen Alben und später ge-
schaffenen Menschenfrauen kam es zur Geburt von Halbmenschen,
das waren die Helden. Damit begann das Heldenzeitalter. Diese Hel-
den - Held leitet sich vermudich ab von Hel - sind halb Heiwesen, halb
menschlich, und sie folgten den Albenherrschern auf dem Thron. So
entstanden die ersten Adelslinien, die ihr Blut auf einen nichtirdischen
König zurückführen. Um die Blutslinie zu den mächtigen Riesen,
Zwergen und Alben aufrechtzuerhalten und nicht zu verwässern,
wurde nur innerhalb der Adelsfamilien geheiratet. Typisch hierfür ist
das »Merkgedicht von Rig«, das ich hier wegen seines Mangels an Au-
thentizität und Inhalt aber nicht aufgenommen habe.
Aufschlussreich ist in diesem Gedicht, dass ein höheres Wesen, Rig,
mit Menschenfrauen Kinder zeugt. Hinter Rig (rig heißt irisch »Kö-
nig«) vermuten manche Heimdall, denn dieser gilt als Menschen-
schöpfer. Diese Kinder sind halb Heiwesen, halb menschlich, also Hel-
den. Rig wäre demnach eine Art Schöpfer der Menschheit oder ein
Kulturbringer, wie es ihn in allen Überlieferungen gibt. Demnach
stammen die Menschen von nichtirdischen Wesen ab. Rig gilt wie alle
Riesen als einer, der alles errät und alles weiss, als ein Rater; weiter ist
er ein Runenkenner, ein »Rater der Runen«; er konnte Krieger schüt-
zen, Stürme stillen, Schwerter stumpf machen und das Feuer löschen;
er verstand die Vögel, besänftigte das Meer, linderte Sorgen und besaß
die Kraft von acht Kriegern. Seinem Sohn Jarl, besser Rigjarl, dem er
die Runenkunde beigebracht hatte, war er in deren Entzifferung den-
noch überlegen. Ob es sich um eine wahre Geschichte handelt (was si-
cherlich nicht der Fall ist) oder um eine Neudeutung alten Wissens-
gutes, ist im Grunde unwesentlich, da nichts wirklich Neues gesagt
wird. Riesen sind wie auch die Asen allgemein als Rater und Runen-
kundige bekannt, und auch dass Heimdall mit der Menschenschöpfung
in Beziehung steht, ist nicht neu.
Die Geschichte beginnt mit Rigs Herkunft, über die wir aber nichts
hören. Er besucht hintereinander drei menschliche Familien, schwän-
gert die Frauen ungeniert, während ihre Männer nebenan im Bett lie-

37
gen. Daraus entstehen zuerst die Knechte, dann die Bauern oder
Freien, schließlich die Jarle als Menschen von Geblüt, sprich Adlige.
Allerdings werden die Stände nicht unmittelbar durch ihn geschaffen,
bereits im Lebensstil und Verhalten der besuchten Familien sind diese
Eigenschaften angelegt.

Bewohner Midgards.

Dem Helden, der aus den Jarlen hervorgeht, rät Rig, Länder zu er-
obern und Recken zu fällen; kurzum er soll Eroberungskriege führen,
sein Land vergrößern. Es ist folglich ein Riese, der die Menschen zum
Krieg verführt! Riesisches Gengut, in die menschliche Rasse gemischt,
verändert diese. Da die Halbgötter natürlich auch Kinder zeugen, flie-
ßen immer weiter riesische Gene in die menschliche Rasse. Der Mensch
als Mutant! Ganze norwegische Königsgeschlechter gründen sich auf
Heirat mit Riesen. Fast alle alten Kulturen leiten sich von Göttern ab
und die Königshäuser versuchen ihre Blutlinie rein zu halten. »König
von Gottes Gnaden« ist hier offenbar ganz physisch zu verstehen.

38
Baum der Tiere

Die drei Seinsebenen wurden von den Germanen als Krone, Stamm
und Wurzeln eines Baumes dargestellt. Die Prinzipien der Seinsebe-

Der Baum der Tiere stellt die drei verschiedenen Welten innerhalb des Gesamtkosmos
dar. Die Baumkrone ist Asgard, der Stamm Hel und die Wurzeln sind Materie/Erde. Die
verzweigte Krone enthält keimhaft alle Dimensionen, die aus ihr hervorgehen. Die
Krone ist die unermessliche Potenz des Geistes. Die Prinzipien der drei Dimensionen
werden durch Tiere dargestellt.

39
nen werden auch als Tiere vorgeführt, daher mein Begriff »Baum der
Tiere«. Beginnen wir mit dem Adler, der auf dem obersten Wipfel der
Krone sitzt. Er überblickt mit seinen scharfen Augen alle drei Welten,
er ist Odin. Daher in unserer Kultur die Bedeutung des Adlers (Staats-
wappen BRD). Ebenfalls in der Krone wohnen vier Hirsche, die das
Laub abfressen. Sie verarbeiten diese Geistnahrung, und dadurch tröp-
felt aus ihrem Geweih - eine Wiederholung der verzweigten Baum-
krone - ein Saft, der herunterfällt und die zweite, die wässrige, feuchte
Dimension Hel (Baumstamm) erzeugt. Hel ist superflüssig, das heißt
seelenflüssig (Seele = See).

Vier Hirsche fressen die Zeit. Die Hirsche sind wegen ihres Geweihs ein Symbol der
Baumkrone, sprich Asgards. Sie fressen die Stunden, Tage und Jahreszeiten in Gestalt
von Knospen, Blüten und Zweigen ab. Dieser Stoffwechsel erzeugt Wasser, der aus
ihrem Geweih tropft, herunter fällt und die zweite Dimension Hel erschafft. Die Hir-
sche erschaffen also erst die Zeit, die in Asgard noch nicht existiert! Hel ist bereits eine
Zeitdimension.

Die Urkuh Audhumla, »die Saftreiche«, repräsentiert die aus As-


gard heruntergetröpfelte Wachstumsflüssigkeit, die zur zweiten Di-
mension, Hel, wird. Sie ist mit ihrem Euter das flüssige Element selbst;
sie säugt den Urriesen Ymir, ein weiteres Synonym für Hel, aus dem
die dritte Dimension, die Materie entsteht. Aus dem Euter der Urkuh
fließen Milchströme, heißt es, die Säfte der wässrigen Dimension Hels
oder Niflheims.
Ebenfalls in Hel lebt Garm, der Höllenhund und Wächter dieser
Dimension. Er passt auf, dass nur wirklich Tote nach Hel gelangen.
Weiter lebt hier die Schlange Nidhögg, »Neiddrache«; sie verkör-
pert den Charakterzustand jener, die in Hel leben, insbesondere den
Neid. Sie frisst dauernd an der Wurzel, sprich der Materie und nagt
wie eine schleichende Krankheit an unserem stofflichen Körper, was
zum Tod führt. Nidhögg, der Neid, sind wir selbst, wir nagen unsere

40
Lebenssessenz ab. Durch negative Gedanken fuhren wir unseren Tod
herbei.
Zwischen Nidhögg und dem Adler verkehrt Ratatosk, ein Eich-
horn, das hin- und herspringend dem einen die Geheimnisse des an-
deren mitteilt. Es besteht also ein Austausch zwischen Asgard und Hei.
Dieses Eichhorn verursacht auf diese Weise eine Spannung zwischen
den beiden Welten, ausgedrückt durch den ewigen Kampf zwischen
Adler und Schlange, zwischen Geist und Seele.
Der Hahn Gullinkambi, »Goldkamm«, lebt in Asgard, er weckt
morgens die Asen. Der gleiche Hahn kräht in Walhall und weckt die
dort lebenden Helden, die Einherjer, zum morgendlichen Kampf. In
Hel gibt es den roten Hahn Fjalar - rot wie das Feuer, das neben Was-
ser die Heidimension kennzeichnet - und zudem noch einen rußbrau-
nen Hahn in Jötunheim (Riesenheim), das auch zu Hel zählt.
Walhall, die Totenstätte der gefallenen Helden, stellt Asgard im
Kleinen dar. Wie den Weltenbaum insgesamt, Yggdrasil, gibt es auch
in Walhall eine kleine Ausgabe des Weltenbaums, genannt Lärad. Auch
in ihm sitzt der Hahn namens Goldkamm, und ein Hirsch Eikthyrnir,
»Eichdorn«, weidet in der Blätterkrone und frisst die Knospen und
Zweige ab. Außerdem knabbert die Ziege Heidrun am Laub und aus
ihrem Euter fließt in unendlicher Fülle Al (Bier) für die Helden Wal-
halls.

Die drei Nornen

Drei Schicksalsprinzipien kennen die Germanen: Urd (Schicksal),


Werdandi (Werden) und Skuld (Schuld). Im Bild des Weltenbaums
sind die drei Prinzipien dargestellt, und zwar oberhalb der drei Wur-
zeln ruhend, die die Materiedimension darstellen. Die Nornen woh-
nen also in Hei und lenken von dieser feinstofflichen Dimension aus
das Schicksal der Materie, deshalb auch als die drei Wurzeln verkör-
pernd dargestellt.
- Schicksal steht für Asgard, die Dimension, die den Ausgangspunkt
aller Dinge darstellt, die Vergangenheit oder den Uranfang.
- Werden steht für das Plasma, Hei, die Seele, aber auch die Gegen-
wart.
- Skuld (Schuld oder »werden sollen«) steht für Midgard, die Mate-
rie, aber auch die Zukunft.
Asgard erzeugt unser Schicksal, legt alles deterministisch fest. Das

41
Plasma erzeugt das Werden, die Zeit, und die dritte Norne ist die
Skuld, denn dass wir in Midgard, dieser tiefsten aller Dimensionen, le-
ben, entstand vielleicht durch eine Schuld, die wir uns aufgeladen ha-
ben, als wir die Evolution von Asgard via Plasma zur Materie ange-
nommen haben. Oder Skuld heißt einfach nur, dass etwas aus dem
Werden entstehen soll und muss.

42
DIE DEUTUNG
Liebe, Krieg und Philosophie

Einleitung

Zu Anfang unserer Zeitrechnung drangen nordgermanische Stämme


von den Ostseeküsten nach Norden vor. Die Goten dagegen verließen
Skandinavien in Richtung Südeuropa. Norweger besiedelten im 9.
Jahrhundert Island, wo sie die Urbevölkerung, die Kelten, besiegten.
Nordische Geschichte ist bis ins Mittelalter hinein norwegische Ge-
schichte. 872 tritt ein König auf, der die lokalen Herrscher entmach-
tet und ein übergeordnetes Königtum schafft. Bereits im Jahre 1000
nahm Island das Christentum an, und man begann erstmals die alten
Sagen (saga = »Rede, Aussage, Erzählung, Gerücht«) niederzuschrei-
ben. Die Eddalieder wurden nicht vor dem 9. Jahrhundert niederge-
schrieben. Die Skaldendichtung entstand. Skalden waren die Schrift-
steller jener Zeit. Einer von ihnen, Snorri Sturluson, schuf aus den
alten Liedern die Edda, das »Buch von Oddi« (Od = Odin?), womit
vielleicht der Ort gemeint ist, an dem Snorri den Stoff fand, der die
Grundlage der Sammlung bildet. Snorris Edda bezeichnet man als jün-
gere Edda im Gegensatz zu der älteren Edda, jenen Götterliedern, auf
die ich mich hier ausschließlich beziehe. Die Eddalieder könnten aber
auch, angeregt durch Snorris Werk, erst nach ihm gesammelt worden
sein. Ich beziehe mich nicht auf die schriftstellerisch veredelte Form
der alten Überlieferungen, sondern auf die vermutlich älteste zugäng-
liche Stoffgrundlage, die allerdings ebenfalls in Liedern, also in bereits
veredelter und vereinfachter Form festgehalten ist. Guido von List be-
hauptete, Edda komme von Eh-da, »schon immer da«, andere vermu-
teten, Edda heiße »Großmutter«.
Nach meiner Auffassung haben die modernen Deuter eine Art Tabu
über die alten Weltlehren verhängt, nämlich dass es keine wahren
Weltlehren oder Kosmologien sind, sondern Mythologien, Erfindun-
gen, Kulturphantasien, dunkles Wirrwarr des vorzeitlichen Menschen.
Auch der Edda wird im Allgemeinen eine Weltlehre abgesprochen.
Natürlich widerspricht die Edda - wie alle alten Weltlehren - moder-
nen Anschauungen. Der Grund dafür ist so einfach, dass er offenbar

43
immer übersehen wurde. Die moderne Weltlehre bezieht sich auf die
Erforschung des materiellen Universums, während die Edda und alle
alten Weltlehren mit ihr sich ausnahmslos auf den seelischen und geis-
tigen Kosmos beziehen und nur in letzter Instanz auf das physische
Universum, und zwar nur als Endprodukt sich verdichtender feinstoff-
licher Welten. Alle alten Weltlehren enden mit der Evolution des ma-
teriellen Kosmos und der Erde. Dann erst setzen die Menschenge-
schichte und Vermutungen über den physischen Kosmos mit Sternen,
Planeten und Naturerscheinungen ein. Weltlehre sei daher hier in
Übereinstimmung mit den alten Weltlehren als eine Erforschung der
dem physischen Universum vorausgehenden seelischen und geistigen
Parallelwelten definiert. Ich wiederhole: Sämtliche traditionellen
Weltlehren enden mit der Geburt des physischen Universums, ohne
aber genaue Vorstellungen darüber zu entwickeln. Die alten Kulturen
beschäftigten sich mit Trans-Weltlehre, die moderne Kultur mit der
Weltlehre des unmittelbar wahrnehmbaren Sternenhimmels.
Erst allmählich befreit sich die derzeitige Physik vom verfänglichen
und naiven Weltbild eines ausschließlich materiell existierenden Uni-
versums. Für den Fortschritt der Physik von heute ist die Beschäfti-
gung mit Hyperräumen, parallelen Welten und anderen Zeitdimen-
sionen bedeutsam. Damit gelangt die Moderne in eine gewisse Nähe
zur alten Weltlehre. Traditionelle Weltlehre spielt sich nicht im mate-
riellen Kosmos ab, sondern in nichtmateriellen Kosmen: Es geht um
Geist und Seele, Begriffe, die jedoch in der modernen Weltlehre nicht
vorkommen. Zwar ist mit der Quantenphysik der Begriff des Bewusst-
seins eingeführt worden, aber nur insofern, als der Beobachter, der
Physiker, mit seinen subjektiven Theorien gemeint ist. Bewusstsein
und Seele als Form und Existenz feinstofflicher und nichtstofflicher
Kosmen, die Materie unmittelbar beeinflussen können, wurden bisher
kaum diskutiert, auch wenn Relativitäts- und Quantentheoretiker all-
mählich gezwungen sind, sich in diese Richtung zu orientieren.
Ich lasse alle moderne Wissenschaft ganz aus dem Spiel und be-
sinne mich allein auf die Eddatexte, versuche nicht von den Zeilen
abzuweichen und textgetreue Schlussfolgerungen, gewissermaßen er-
läuternde Verlängerungen des Gesagten, zu bilden, also keine eigene
Meinung oder Wissen von anderen Forschern einzubringen. Bleibt
man ganz nah am Text, fasst lediglich zusammen, klärt die dunklen
Stellen unseres Verständnisses, indem man Quervergleiche anstellt,
dann ergeben sich immer mehr Lichtblicke. Zieht man des Weiteren
die Etymologie hinzu, übersetzt also die Eigennamen, kommt man

44
ohne jegliche Deutung ein gutes Stück voran, allein durch die allge-
mein verständliche Darstellung des Geschriebenen. Im vorliegenden
Werk werden fast alle Eigennamen ins Deutsche übertragen, um der
Mythisierung durch unverständliche Namen zuvorzukommen. Es hat
keinen Zweck, zum Beispiel dauernd von Loki zu sprechen, wenn uns
nicht eindeutig klar ist, was Loki oder Odin oder Freyr etymologisch
bedeutet. Doch wenn wir alle Beinamen Lokis heranziehen, erhalten
wir ein treffendes Bild dessen, was Loki ist: nämlich eine transphysika-
lische Beschreibung der Eigenschaften und Gesetze des Naturprinzips
Seele. So ergibt eine folgerichtige Umschreibung der Eigennamen ein
ganz anderes als jenes unsägliche Götterbild, welches die Deuter uns
vorgaukeln. Den alten Völkern war Loki vermutlich kein unentziffer-
barer Eigenname, sondern ein Wort wie jedes andere, das bestimmte
Erscheinungsformen beschreibt, also ein Terminus technicus für Ge-
setze und Wirkmechanismen im nichtphysischen seelischen Raum.
Die Edda wurde bisher im Wesentlichen philologisch gedeutet oder
als eine poetische Form der Naturverehrung angesehen. Diese und
ähnliche Auslegungen sind gänzlich abzulehnen. Die Edda beschreibt
exakt die allen Völkern bekannte Lehre von den drei Dimensionen des
Seins: Geist, Seele und Körper oder makrokosmisch betrachtet von As-
gard, Hel und Midgard. Von Poesie ist da nichts zu spüren, auch nicht
von Naturverehrung irgendeiner Axt; die materielle Natur wird in der
Edda selten oder nie erwähnt. Dies sind ethnozentrische, vorwissen-
schaftliche Projektionen des modernen Geistes auf eine als niedrigste-
hend und unzivilisiert abgewertete Weltlehre der Menschheit.
Üblich war es bisher, alte Völker als Naturvölker misszuverstehen.
Ihre so genannte Mythologie versuchte man zu begreifen als primitve
Erforschung der Naturvorgänge. Tatsächlich beschäftigt sich die Edda
in keinem Punkt mit Donner, Regen, Blitz und Himmel. Die physische
Welt wird nur in ein paar Zeilen erwähnt, nie aber behandelt. Bespro-
chen wird ausschließlich das Totenreich und eine Zone oberhalb des
Totenreichs. Es geht also um die Welt jenseits der materiellen Welt;
verschiedene nichtphysische Dimensionen, das Seelische und das letzt-
lich Geistige werden untersucht. Der naturphilosophische Ansatz der
meisten Eddadeuter ist daher ganz und gar zu verwerfen. Wer sich mit
Religionswissenschaft beschäftigt und weltweit die Überlieferungen
der alten Kulturen untersucht, weiß, dass sich die Weltlehre im We-
sentlichen mit nichtphysischen Dimensionen befasst. Die Edda macht
da keine Ausnahme.
An sich erlaubt nur eine vergleichende Weltlehre, also ein Blick über

45
sämtliche Kosmologien der Menscheit, sichere Aussagen. Erst danach
erkennen wir, wie sehr die Eddalieder eingebettet sind ins übergrei-
fende Denken aller Kulturen; eine Unzahl von Ähnlichkeiten und
Übereinstimmungen, also übergeordneter allgemein menschlicher
kosmologischer Motive lässt sich dann erkennen. Offenbar haben die
verschiedensten Kulturen, ob nun durch Kulturaustausch, im Allein-
gang oder durch eine uranfängliche gemeinsame Wurzel, der alle Kul-
turen entsprossen, im Kern gleiche Überlieferungen hervorgebracht,
wohl auch weil alle Menschen im Grunde eine gleiche seelische Struk-
tur haben, weil sie gleiche Vorgänge in unserer seelisch-geistigen N a -
tur und im Weltgeschehen beobachtet haben oder weil sie sich auch
nach der Aufsplitterung von Urstämmen in viele Kulturen auf eine U r -
weltlehre berufen, die im Laufe der Zeit verschiedenste Abwandlungen
erfahren hat. Ich betone, letztlich ist nur ein Vergleich von Weltlehren
wissenschaftlich statthaft, eine Einzelbetrachtung der Edda, wenn
auch aus sich selbst heraus, ist nur als erster Schritt zu sehen. Einen ers-
ten kulturüberschreitenden Vergleich habe ich in meinem Werk »Die
Plasmadimension« unternommen.
Wie ging ich bei der Bearbeitung der Edda vor? Vorgabe war, mir
keine Deutungen zu erlauben, die aus meiner eigenen Überzeugung
kommen. Die Geschichte der Bearbeitung der Edda leidet zuhauf un-
ter irrigen Deutungsversuchen. Ich möchte die Edda aus sich selbst
heraus und nur aus sich selbst heraus wiedergeben, allerdings durch
Systematik und Überschau ihre wesendichen Gedanken verdeutlichen.
Die Edda zu verstehen ist überaus schwer. Allein die vielen Namen
müssen in ihrer Bedeutung übersetzt werden, um überhaupt das Hand-
lungsgeschehen verfolgen zu können. Ich habe Stammbäume aller
handelnden Personen und Prinzipien angelegt mit den Geschlechter-
ketten der Eltern, Kinder, Kindeskinder, durch die erkennbar wird,
welche Gottheit oder welcher Riese mit welchen anderen verwandt ist.
Dadurch wird insbesondere klar, ob eine Gestalt ein Riese oder Ase ist
und welchem Daseinsprinzip - Hel oder Asgard - er somit angehört.
Ich habe auch alle erwähnten Tiere daraufhin untersucht, welchem
Ort, nämlich Asgard oder Hel, sie angehören, ebenso alle Wunder-
waffen und psychotechnischen Gerätschaften. Es geht in erster Linie
immer darum, wo etwas anzusiedeln ist, im reinen Geist Asgard oder
in der seelischen Energiediemension Hel - das ist die zentrale Frage.
Denn die Edda entwirft eine Weidehre mit drei Daseinsebenen, dem
materiellen Universum, der Energiezone der Riesen, Zwerge und To-
ten sowie Asgard, der Zone reinen Geistes.

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Ich bin der Ansicht, dass die Edda der Schlüssel zur nordischen
Überlieferung ist und zuerst diese verstanden werden muss, ehe wir in
jüngere historische Überlieferungen eindringen. Die Edda ist der Aus-
gangspunkt, ihre Geschichten und ihre Terminologie aber veränderten
sich und wurden im Laufe der Zeiten verformt. Wer also die Edda mit
Material aus jüngeren Epochen untersuchen will, gewissermaßen die
Eltern aus Kindern und Kindeskindern ableiten will, begeht einen
Fehler. Daher habe ich lediglich die ursprüngliche Liederedda zum
Gegenstand der Untersuchung genommen und keinerlei anderes Ma-
terial benutzt, denn ich halte nur dies für eine wissenschaftlich zuläs-
sige Methode. Die Edda steht alleine da, sie ist das älteste Überliefe-
rungsgut - wie gebrochen und zersetzt auch immer -, denn sie ist selbst
wieder nur ein überarbeitetes Produkt der Geschichte und keineswegs
das älteste und reine Wissen der Nordgermanen, sondern eher bereits
verfallene und aufgelöste Rest-Weltlehre, durch den Volksmund hun-
dertfach verändert und verballhornt. Die Edda stellt also nur einen
kleinen Teil dessen dar, was dereinst an kosmologisch detailgetreuem
Wissen bestanden haben muss. Alles nachfolgende Gedankengut ist je-
doch noch mehr zersetzt und mit Fremdem vermischt.
Ich betone: Allein das immanente Studium der Edda erlaubt einen
Einblick in das kosmologische Denken der Nordvölker, nur hieraus
kann alles Weitere untersucht werden. N u r eine systematische, durch
Stammbäume dargestellte Edda kann zu ihrem Verständnis beitragen.
Wie man sehen wird, ergibt sich durch diese einfache Methode eine
völlig ungeahnte Öffnung im Verständnis, klare Zusammenhänge tun
sich auf - die Edda enthüllt sich als ein wirklichkeitsgetreues Gemälde
einer dreistufigen Evolution, woraus auch das Sein und Werden des
Menschen enthüllt und eine klare Lebensaufgabe für ihn abgeleitet
wird. Deshalb darf die Edda auch als Handbuch zur Findung des Sinns
des Lebens verstanden werden.

Was w i s s e n wir über die germanische Weltlehre?

Mitteilungen über eine germanische Weltlehre sind äußerst dünn ge-


sät. Folgende Bedingungen sind dafür mitverantwortlich:
1. Wann von einer Weltlehre zu sprechen ist, bleibt unbestimmt, da
diese sich entwickelt, verändert und verfällt. Man müsste dazu ihre
Blüte- oder Hochzeit bestimmen, das aber ist bei der Edda kaum mög-
lich.

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2. Wie alt die ältesten Gedankengänge über den Kosmos sind, ist nicht
bestimmbar. Denn die ersten Aufzeichnungen entstanden mit dem
Aufkommen der Schrift, als die Weltlehre kaum mehr bekannt bezie-
hungsweise zu Volksmärchen herabgesunken war.
3. Zudem befand sich die Weltlehre als Wissenschaft zuvor wohl in
den Händen einiger weniger Eingeweihter. Was aber aufgezeichnet
wurde, sind Lieder, Sagen, Märchen, Fragmente. Darauf verweist das
Stückwerk der Überlieferung. Die Sprunghaftigkeit, die Brüche und
Lücken haben nichts mit Poesie oder gar einer entsprechenden nordi-
schen Eigenart zu tun, sondern sind Ergebnis des Nichtverstehens und
des Verfalls.

Vermischung verschiedener Überlieferungen

Das Schwierigste bei der Deutung so genannter mythologischer Texte,


genauer der Wissenschaft der Frühzeit, ist, den historischen Wandel
zu erkennen, den diese Texte durchgemacht haben mit den daraus re-
sultierenden Veränderungen und Neubestimmungen, Verquickungen
von Unverquickbarem, Weglassungen und Hinzufügungen. Es vermi-
schen sich zudem ganz unterschiedliche Überlieferungen zu einem
undurchdringlichen Neuprodukt; ganze Teile werden aufgrund neuer
geschichtlicher Vorstellungen vergessen oder unterschlagen, so dass
Mythologien immer nur Bruchstücke sind und wir die Leerstellen als
das belassen müssen, was sie sind, um nicht dem Fehler zu verfallen, sie
durch wohlgemeinte Erfindungen und Schlussfolgerungen zu füllen.
Hinzu kommen weitere Grundsätze, die wir bei der Auslegung solcher
Texte und Überlieferungen ständig beachten müssen.
Wie in allen Kulturen vermischten sich durch Kulturkontakt die
Überlieferungen verschiedener nordischer Stämme. Dadurch kam es
zu Brüchen, Unebenheiten und Verkittungen von Unvereinbarem.
Verschiedene Göttergenerationen, verschiedene Geschichten ver-
mischten sich zu neuen. Das bereitet erhebliche Schwierigkeiten bei
der Deutung. Nimmt man solch eine Überlieferungsvermischung als
Einheit, kommt es zu Fehldeutungen. Andere Forscher versuchen, auf
solche Brüche vorsichtig hinzuweisen, ich tue das kaum, weil es nie si-
cher ist. Ich halte mich aus dieser Streitigkeit heraus und verfolge ein-
fach meine Deutungen weiter, in der Hoffnung, dass, wenn ich auf ein-
gestreutes, nicht ursprüngliches Material treffe und es so behandle, als
sei es Eddastoff, dieses die gleichen Prinzipien offenbaren wird wie

48
Ersteres. Dabei kommt es natürlich zu Fehlern, aber weniger häufig,
als wenn unmittelbar Hypothesen aufgestellt werden.

Die Aufdeckung von Synonymen

Wir finden in der Edda eine verwirrende Vielfalt an Namen. Schauen


wir jedoch die Bedeutung jedes Eigennamens genauer an, stellen wir
unmissverständlich fest, dass viele Worte sich auf das Gleiche beziehen.
So gibt es Dutzende von Bezeichnungen für das Totenreich: Hel, Nifl-
heim, Muspellheim, Ginnungagap usw. Doch das Toten reich wird auch
durch Personen dargestellt: Loki, Fenrir, Midgardschlange, die Riesen,
die Zwerge. Die Vermischung von Personifizierungen und gleichzeiti-
ger Abstrahierung wirkt ungemein verwirrend. Die Aufdeckung von
Synonymen, von Namensübereinstimmungen, war daher eine meiner
Hauptaufgaben. Es besteht nämlich die Gefahr, dass man zum Beispiel
Loki und Hel einander entgegensetzt oder als etwas Verschiedenes
deutet, in Wirklichkeit jedoch sind beide Begriffe Synonyme, worauf
uns die Stammtafeln hinweisen; so ist Hel etwa ein Kind Lokis. Die Er-
forscher der Edda haben auf die Auflösung der Synonyme keinen Wert
gelegt, und so kam es zu unverständlichen Erläuterungen. Die vielen
Namen für das Totenreich sind allerdings notwendig und keine Spie-
lerei: Sie verweisen auf verschiedene Seiten und Eigenarten des Jen-
seits. Allein durch die Rückführung vieler scheinbar unterschiedlicher
Begriffe löst sich das Wirrwarr der Edda auf und ein deutlicher, klarer
Aufbau des Jenseitsgefildes zeichnet sich ab. Die Aufdeckung von Sy-
nonymen ist daher die erste Aufgabe jedes Mythenforschers.
Die zweite Aufgabe bei meinem Ordnungsverfahren bestand darin,
den drei Dimensionen die ihnen zugehörigen Personen und Prinzipien
zuzuordnen. Wohin gehören die Riesen, wohin die Zwerge, wohin die
Pferde, wohin die Halbgötter und wohin all die Technologien der
Zwerge, die Flüssigkeiten und Flüsse, wohin die Schmuckstücke und
eigenartigen Waffen? Darüber hinaus war zu klären, wo sich die ver-
schiedenen Wohnheime der höheren Wesen befinden, ob in Asgard
oder Hel, und natürlich auch, ob ein Ase tatsächlich einer ist oder nur
ein getarnter Riese. Ist dieses Problem gelöst, und ich meine, es ist mir
weitgehend gelungen, ersteht vor uns ein ganz anders geartetes Bild
eddischer Weltlehre, als es uns alle bisherigen Forscher vermitteln
konnten, nämlich das eines klar gegliederten, folgerichtigen Kosmos
aus drei Dimensionen.

49
Was ist eine Emanation?

Emanation heißt »Ausströmen, Ausfluss, Ausstrahlen«. Dieser Begriff


gehört zum Vokabular der Religionswissenschaft. Folgendes ist damit
gemeint: Der reine Geist, das Ur-Eine, Gott wird in den alten Kultu-
ren im Allgemeinen als das Alles, als das einzig Existierende verstan-
den. Es gibt keinen Unterschied zwischen Gott und dem, was nicht
göttlich scheint, der Materie oder den Menschen oder den materiellen
Gegenständen. Alle Welten, alle Wesen aller Welten, alle Zustände
und Dinge gelten nur als Ausfaltungen, Spiegelbilder, Träume oder
Verdichtungen Gottes, als Gott in anderem Gewand. Gott ist das Al-
les, aber das Alles - so unterschiedlich es sich für menschliche Augen
ausdrücken mag - ist das Eine, nämlich Gott in tausend Gestalten. Für
den Menschen ist verwirrend, dass sich das Alles in so bunter Mannig-
faltigkeit und Gewöhnlichkeit ausdrücken kann. Daher kommt es in
unserer Anschauung notgedrungen zur Auffassung, Gott sei erhaben,
das Irdische sei sein Gegensatz. Man erfährt sich selbst als unbedeu-
tend, Gott als heilig. Wir erkennen keinen Zusammenhang zwischen
uns als scheinbar gewöhnlichen Wesen und dem, was das Alles sein soll.
Dieser intuitiv erfasste Gegensatz führt zur Spaltung von Gott und
Natur. Im Bereich der Natur lebend, fühlt der Mensch sich von Gott
fern: Dualismus entsteht. Eine Folge des Dualismus ist, dass die Natur
als selbstständig und ungöttlich erfahren und nur noch in ihrem »ro-
hen« Aspekt des Materiellen erfasst wird. Der Materialismus wird zur
Philosophie. Dualismus und Materialismus sind die beiden Klötze am
Bein, die das neuzeitliche Denken im Gefolge des Christentums und
seines Ablegers Wissenschaft mit sich herumschleppt. Dem ganz ent-
gegengesetzt steht die Uranschauung der Religion, die göttliche
Emanationsfolge: Gott entfaltet oder sollte man besser sagen, verengt
sich zu einer Energieform, dem Seelischen, und diese seelische Kraft
verengt sich weiter zum Materiellen. Materie wird hier verstanden als
aus einer Energie hervorgehend, einerseits zu Naturformen, anderer-
seits zu Lebensformen wie Menschen, Tieren und Pflanzen sich ent-
faltend. Die Grundlage der Materie wäre diese allumfassende Energie,
die kurioser- und abenteuerlicherweise gleichzeitig die Energie der
Seele darstellt, was unser Dasein sehr verwirrend macht. Es gilt dann
nämlich der Satz: Ich werde, was ich fühle! Oder: Die Geschichte der
Evolution ist die Geschichte der Seele!

50
Stammbäume und Ehen

Bei der Rückführung von scheinbar unterschiedlichen Eigennamen auf


ein Wort hilft uns besonders das Aufzeichnen von Stammbäumen. Zu-
sätzlich übersetze ich wie gesagt die Eigennamen, um ihre wahre Be-
deutung jederzeit vor Augen zu haben. Dabei enthüllt sich eine recht
genaue Weldehre, ein Universum von Gesetzmäßigkeiten, das nichts
mit Vermenschlichung zu tun hat. Hinter allen bildlichen Verkörpe-
rungen stehen kosmologische Prinzipien: Riesen und Zwerge enthül-
len sich als Eigenschaften und Spezies des Totenreichs. Ehen von Göt-
tern stellen sich als Verdoppelungen eines Prinzips beziehungsweise als
dessen Aufsplitterung in seine männliche und weibliche Natur heraus,
um das umfassende duale Spannungsprinzip zu verkörpern, wozu sich
in der Tat Anleihen aus dem menschlichen Bereich wie Ehe, Zeugung,
Mann und Frau anbieten. Wir sollten also stets auf das Prinzip der dua-
len Natur der Gottheiten achten.

Das Prinzip der Verdoppelung und Verehelichung

Im Grunde gibt es nur reinen Geist: Odin, das All-Eine. Aber damit ist
es dem germanischen Verstand nicht genug, er will Vielfalt, Lebendig-
keit. Also wurde das Göttliche aufgespalten in viele Prinzipien. Odin
zeugt Kinder, die Asen und Asinnen, insgesamt angeblich zwölf. Mit
diesen und mit Riesen zeugt er weitere Kinder, und so setzt ein ver-
wirrendes genealogisches Spiel ein. Es kommt zu Auseinandersetzun-
gen und Scharmützeln, Liebesgeschichten und Kriegen - Weldehre
wird so unendlich bunt und abenteuerlich. Wonach wir, um die Über-
sicht zu behalten, daher dauernd schauen müssen, ist das Verdoppe-
lungsprinzip. Zum einen sind Ehepartner nur Verdopplungen eines
Prinzips, so Odin und Frigg oder Odin und Freyja. Gemahl und Ge-
mahlin sind eines. Desgleichen gehören die gezeugten Kinder zu den
Attributen des Paares. Alle Kinder Odins sind Odins verschiedene
Attribute oder Emanationen auf der gleichen oder auch einer anderen
Daseinsebene. Alle drei Daseinsebenen sind das All-Eine, aber es
nimmt jedes Mal eine andere Gestalt an, die nur mit Aufwand zu er-
kennen ist als Odin; den Lebewesen aber fällt es schwer, in jeder x-be-
liebigen Erscheinung seiner Welt das All-Eine, nämlich den seiner Di-
mension entsprechenden Ausdruck Odins wahrzunehmen. Wenn
Odin mit Riesinnen Kinder zeugt, versetzt und projiziert er sich selbst

51
in eine andere Dimension, wird zu dieser. Mittels des dem Menschen
so erstaunlich erscheinenden sich bewegenden Prinzips der Fortpflan-
zung wird in der Edda geschickt Evolution sowie die Entstehung von
ganzen Dimensionen - nämlich Midgard aus Hel und Hel aus Asgard
- verdeutlicht. Daher müssen wir dauernd die genealogischen Verhält-
nisse untersuchen, das heißt, wer von wem abstammt. Das ist zwar auf-
wendig, aber nur so entsteht ein Zusammenhang.

Tod und Krieg als spiritueller Akt

Wie bei vielen Völkern war auch den Germanen Kriegertum etwas Eh-
renwertes, mehr noch, ein spiritueller Akt; dem Tod jederzeit ins Auge
zu blicken befreite von den Kleinlichkeiten des Alltagsleben; noch bes-
ser war es, im Krieg zu sterben, um einzugehen ins Reich der Hel, ins
helle Land und dort nach Walhall, dem Ort, wo jeder nur noch Seele
ist. Doch Walhall galt nicht als Ende, es war ein Anfang, um von dort
überzuwechseln nach Asgard, ins lichtvolle Geistreich; dies war ei-
gentlich das höchste, doch kaum zu erreichende Ziel.

Krieg als spirituelle Handlung zu verstehen setzte einen Kosmos vor-


aus, in dem der Tod eine zentrale Rolle spielt; der Tod ist dann das Ziel
des Krieges, nicht seine Vermeidung. Krieg wird zum heroischen Akt,
zum spirituellen Bedürfnis, sich seiner wahren Natur auszusetzen, ihr
die Möglichkeit durch Tod im Krieg anzubieten: Todessehnsucht, Le-
ben als Ausrichtung auf seinen stärksten Ausdruck, die reine Existenz
des Seelischen ohne Körperliches, wird hier angestrebt. Die Helden,
die vom Schlachtgott Odin ausgewählt werden zu sterben, empfinden
diese Wahl als Ehre. Im Krieg überlässt man Odin die Entscheidung,
man fällt sie nicht selbst wie beim Selbstmord. Wer stirbt, dem ward
der Schicksalsspruch Odins zuteil, und das muss gut sein, denn Odin
kennt das richtige, gute Schicksal für jeden. Der Krieger öffnet sich
dem Tod und damit einer rein seelischen Existenz in Walhall, »der
Halle der auf der Walstatt (dem Schlachtfeld) Gefallenen«. Krieg be-
sitzt eine spirituelle Dimension. Krieg konnte benutzt werden als evo-
lutive Triebkraft, Krieg war kein sozialer Sonderfall, er wurde einbe-
zogen in den spirituellen Wandel des Menschen. Kurzum: Der Mensch
muss sterben, um leben zu können!

52
Liebe und Krieg

Liebe und Krieg sind die zwei stärksten Lebensmotive des Menschen.
Wir kennen keine stärkeren Reize. Nichts regt uns mehr an und auf,
wir schwanken, kaum verliebt, hinüber zum Krieg und vom Krieg
zurück zur Liebe. Wir lieben diesen hinreißenden Wechsel und leiden
zugleich unter ihm, weil dieses selbstgesuchte sadomasochistische
Wechselbad uns im Taumel der Gefühlsspannnung hält. Die Germa-
nen tauchten die Geschichte des Kosmos und der Erde in diese Pola-
rität, färbten die göttlichen und riesischen Gesetze mal rot mit Liebe,
mal schwarz mit Tod. Die Edda ist ein Buch über Liebe und Tod, wes-
halb die handelnden Gestalten Liebesgöttinnen und todesmutige Hel-
den sind. Entwicklung, seelische wie geistige, wird einerseits als Krieg,
andererseits als Vereinigung, Ehe, Liebestechtelmechtel oder einfach
in ihrer Doppelbedeutung dargestellt. Es ist, als würde jedes kosmolo-
gische Ereignis umgesetzt in ein binäres System von Liebe und Tod,
wozu vermenschlichte Helden und Liebesdienerinnen beigesteuert
werden, die dann zu Göttern, Riesen und Zwergen werden. Dieses po-
lare System von Anziehung und Abstoßung tränkt die Entwicklung der
Welten in einen kriegerischen wie liebestollen Blutrausch, der das
Weltszenario in eine Mischung aus Schlachtgemälde und Sexualorgie
verwandelt, so drastisch, so herrlich menschlich, dass wir ganz verges-
sen können, dass hier ein kosmologisches, nicht ein menschliches
Weltschauspiel vorgeführt wird. Wenn wir diesen ewigen Instinkt des
Menschen, sich an die Wurzeln der Gesetze des Seins zu spiegeln, er-
fühlen, können wir von der germanischen Besessenheit abstrahieren
und statt Krieg Veränderung und Evolution lesen, statt Liebesrausch
Verflechtung und Verdoppelung eines Prinzips. Für das Entziffern der
Edda ist das eine unabdingbare Voraussetzung.

Skaldenpoetik

Die Eddalieder sind, wie man gleich spürt, nicht wirkliche Urzeitdich-
tung, sondern von den Skalden, Dichtern des 12. und späteren Jahr-
hunderten, künstlerisch stark bearbeitet worden. Reim und Poesie er-
setzen und vertreiben das alte Wissen, es geht primär um Kunst und
kaum um Weltlehre. Was würde herauskommen, verwandelte man
heute ein medizinisches Lehrbuch in eine Reihe von Liedern, einge-
zwängt in Reim und Rhythmus? Die Skalden sammelten das alte

53
Wissen und verarbeiteten es unter dem Vorzeichen der Dichtkunst. So
wurde zwar etwas überliefert und erhalten, aber gleichzeitig stark ver-
kürzt und verballhornt. Die Skalden nahmen sich alle Freiheiten, dich-
teten hinzu, ergänzten, wo Lücken waren, rundeten ab oder verbanden
Geschichten zu neuen, vermischten die Figuren und Ereignisse.
Es war sicherlich auch so, dass der Volksmund das Wenige, was er
wusste und was ihm einigermaßen verständlich war, in seiner Weise zu
Liedern und Lagerfeuergeschichten umformte. Kosmologische Wis-
senschaft verkam so im Munde des Volks. Bewegungen der Dimensio-
nen, geistige Gesetze, seelische Vorgänge wurden in anschauliche Bil-
derbuchgeschichten gezwängt, ganz nach menschlichem Maßstab von
Liebe und Hass, Geburt und Tod so umgemünzt, dass die Menschen
ihren Spaß hatten und sich in den Göttergeschichten widerspiegeln
konnten. Diese Mären und Sagas wurden dann von der Skaldendich-
tung in Versmaß und Reim gezwungen. Wenig blieb so übrig von der
Wissenschaft der Vorzeit.
Aber das ist nicht das Hauptproblem. Die wichtigste Frage ist die,
ob in ferner Vergangenheit tatsächlich Wissen vorhanden war über die
Dimensionen, insbesondere über das Totenreich. Ich behaupte ja. So
wie wir heute durch Tausende von Nahtodeserfahrungen darüber auf-
geklärt sind, was uns nach dem Tod erwartet, so wussten die Menschen
der Frühzeit ebenfalls über das Leben nach dem Tod Bescheid. Es geht
hier nicht um technologische Wissenschaft, sondern um Geisteswis-
senschaft, geforscht wird durch Erfahrung, geforscht wird dort, wo
man selbst ist, im eigenen Inneren. Aber Erfahrungswissenschaft kann
nicht das Einzige gewesen sein, was die alten Kulturen kannten, da war
noch etwas anderes, das uns Heutigen zur Gänze entgeht.
Was vom einstigen Wissen über das Jenseits, die drei Welten, be-
kannt war, ist zum allergrößten Teil verloren gegangen, um eine Zahl
zu nennen, wohl zu mehr als 95 Prozent. Wir besitzen nur noch einen
schwachen Abglanz des alten Wissens.
Auch die Kennings (Sprichworte) sind ein Abglanz des Wssens,
das, was im Volksmund von den langen Erzählungen in Kurzform
übrig geblieben ist. Man erinnerte sich schon recht bald nur noch an
Kennworte, leere Redewendungen, Schlag- und Stichworte, eben an
das, was an Floskeln und Formeln im Gedächtnis zurückbleibt, wenn
wir uns nur noch an die allerwesentlichsten Züge einer Geschichte er-
innern. Im Grunde ist das, was uns als Edda vorliegt, eine Sammlung
von Gemeinplätzen und Phrasen, aber keine wirkliche Geschichte.
Der Sinn ist entstellt, verunstaltet durch materialistische Ausdeutung,

54
Deutung im gewohnten Lebensrahmen der Menschen; die Götter sind
zu Menschen verkommen, was Riesen wirklich sind, wird gar nicht
mehr erfasst, dass sie in einer seelischen Dimension leben, ist kaum
mehr bewusst, dass Götter reiner Geist sind, ist völlig vergessen, le-
diglich lustige Geschichten mit rätselhaftem Ausgang sind geblieben.
Die Wahrheit ist völlig zurückgetreten hinter vermenschlichten Rän-
kespielen, Mord, Totschlag und Liebesgeschichten - eben dem, was
der Mensch aus seiner Umwelt zur Genüge kennt.
Bereits zur Zeit der Skalden und des beginnenden Christentums
war alles nur noch hohler Schein, heruntergewirtschaftet zu Redens-
arten. Es ist fraglich, ob es noch Wissende gab, etwa eine geheime
Uberlieferungslinie. Die Lehre der drei Welten ist uralt, älter als wir
je annehmen können und durch die Jahrhunderte und Jahrtausende auf
ein Aschehäufchen heruntergebrannt. Wie bei allen anderen Kulturen
lag meines Erachtens einst eine umfassende Weidehre vom Wirken der
drei Kräfte Geist, Energie, Materie vor, und die Wesen dieser Dimen-
sionen waren genau bekannt, bis dann im Laufe der Zeit Vergessen
einsetzte, Deutungen und Vermischungen mit den Überlieferungen
anderer Stämme hinzukamen. Dadurch entstanden die Doppelbe-
zeichnungen der Götter, und schließlich wurden dem Ganzen zur bes-
seren Erinnerung menschenähnliche Züge übergestülpt. Während das
Wissen der Hüter der Geschichte unterging, überlebte das eddische
Wissen nur im Volksmund, der ohnehin nie wirklich wusste, wie der
Uranfang aussah, so als würden heute Handwerker uns überliefern,
was unsere Wissenschaften einst erarbeitet haben. Da bliebe nichts
vom Wissen erhalten als blasse Märchen, Aberglaube, Schlagwörter.
Dass die germanische Weidehre einst wesentlich differenzierter ge-
wesen sein muss, sehen wir anhand der indischen Veden. Wären die
Veden nur mündlich überliefert worden, wäre auch von ihnen nur ein
spärlicher Rest an Sagengut erhalten geblieben. Wer die unglaublich
raffinierte Wissenschaft der Veden kennt, die sich in vielen Punkten
mit dem Germanischen deckt, erahnt, was uns verloren gegangen ist.

Das Kenning

Was ist ein Kenning? Um diese Methode verstehbar zu machen, müs-


sen wir uns in einen Dichter versetzen. Um einen Tatbestand zu be-
schreiben, verwendet ein Dichter nicht nur alltägliche Begriffe, er
greift auch zu poetischen, phantasievollen, künstlichen Begriffsbildun-

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gen, zu Metaphern, Sinnbildern, Analogien - eben dem, was die Islän-
der Kenning nannten. Ein Kenning ist zum Beispiel, wenn ich, statt
meinen Namen zu sagen, in Andeutungen von »dem Großen«, wenn
ich groß bin, oder von »dem Nördlichen« spreche, etwa, wenn ich im
Norden lebe. In den Eddaliedern besitzt fast jede Gestalt solche Ken-
nings, wodurch man nicht immer weiß, mit wem man es zu tun hat,
wenn man den Lebenslauf der Person nicht hinreichend kennt. Zudem
besitzen alle Gestalten Wohnorte - obwohl es sich meist um geistige
Prinzipien handelt, die gar keinen örtlich bestimmbaren Wohnort ha-
ben dürfen -, die statt des Namens zur näheren Bezeichnung der Per-
son verwendet werden. Die Wohnorte sind nichts anderes als nähere
Beschreibungen der Dimension, in der sie existieren. So wohnt etwa
der Gott Balder in Breidablik, was so viel heißt wie »breiter Glanz«; er
ist ein Lichtwesen und gehört der Lichtdimension Asgard an. So kön-
nen wir aus den Ortsbezeichnungen erschließen, ob wir einem Prinzip
der Seele oder einem des reinen Geistes gegenüberstehen. Und genau
das taten die Generationen von Menschen, die die germanische Welt-
lehre mündlich überlieferten: Sie beschrieben - wie wäre es anders
möglich - geistige und seelische Entwicklungen und Vorgänge mit ir-
disch-materiellen Sinnbildern. Zentrale Geistprinzipien wurden wie
menschliche Wesen dargestellt; dynamische Vorgänge wie die Evolu-
tion des Kosmos bezeichnete man als Kriege. Einzelne Prinzipien der
Seele und des Geistes erläutert die Edda in Form erfassbarer kleiner
Liebes- und Streitgeschichten von Göttern und Riesen.
Vor allem aber musste das oberste Prinzip des Daseins immer wie-
der hervorgehoben und dargestellt werden. Das Odin-Prinzip: Alles ist
in allem! Odin ist alles, das Ur-Eine, Gott. Ohne dies gründlichst ver-
standen zu haben, kann die germanische Weltlehre, die sich in Form
von allerlei verwirrenden Ränkespielen Odins kundtut, nicht gewür-
digt werden. Der oberste Leitsatz heißt Asgard oder vermenschlicht
Odin. Odin ist Ursprung von allem und somit alles. Alle Vorgänge, alle
auftretenden Statisten sind im Grunde nur das Odin-Prinzip in immer
neuen Gestalten! Alles was erschaffen wurde, und im Wesentlichen
sind das die drei Dimensionen mit ihren jeweiligen Funktionen oder
Lebewesen, sind nichts anderes als Ausgeburten, Träume, die die
höchste Gestaltungskraft, Odin, aus sich hervorgebracht hat wie eine
Mutter ihr Kind. Die von Odin entworfenen drei Welten sind im
Grunde genommen ausschließlich Odin, Spiegelungen seiner selbst,
geträumte Gedanken, sein Zauber. Odin träumte aus sich heraus
zunächst eine zweite Welt (Hel, Niflheim, Muspellheim, Ginnungagap

56
usw. genannt), und aus dieser Welt formte sich folgerichtig eine dritte,
Midgard, unser physisches Universum mit den Sternen und unserer
Erde. Verantwortlich dafür allein ist Odin, er steckt in jedem Sandkorn
unserer Meeresstrände, er ist jeder Stern, alles ist Odin; so wie eben ein
Kind Abbild seiner Eltern ist, so steckte Odin für die Germanen in
Hel, in Midgard und er ruht in allen Unterprinzipien und Unter-
unterprinzipien unserer materiellen Welt. Er ist jeder Mensch und je-
des Tier, alles ist der Allvater, der Allwisser. Daher konnte ein Ger-
mane, besonders zum Zeitpunkt des Sterbens, sagen: »Ich bin Odin!«
Das ist ein völlig logischer Gedankengang, der aber innerhalb einer
Erzählung zu recht krassen Äußerungen führt. Damit aber noch nicht
genug. Wir haben gesagt, der oberste Leitfaden heißt: »Alles ist in al-
lem.« Nicht nur Odin ist in allem, alles ist Odin. Deshalb verquickt die
Edda immer wieder unzusammenhängende Vorgänge miteinander, so
dass es zu Doppelbedeutungen kommt. Dies verwirrt uns Heutige
beim Lesen sehr, was jedoch verhindert werden kann, wenn wir stets
die Ausgangsposition, »Odin ist alles!«, im Auge behalten. Dazu
möchte ich ein Beispiel geben. Um die drei aus Odin hervorgezauber-
ten Dimensionen bildlich darzustellen, wählten die Germanen - wie
übrigens alle alten Kulturen - einen Baum. Die Krone versinnbildlicht
die höchste Dimension, die Odins, der Stamm stellt die zweite Di-
mension, genannt Hel oder Niflheim, dar, und die dritte, die Wurzeln,
stehen für das irdische Universum, genannt Midgard, »mittlerer Gar-
ten«.
Nochmals: Dieses Analogieprinzip des Baums als Mittel zur Erin-
nerung an die Existenz dreier Dimensionen verweist auf das höchste
denkbare und gleichzeitig undenkbare Kenning, mit dem auf die große
Einheit von allem und damit auf Gott verwiesen wird: Alles ist in al-
lem!

Freude an dunklen Worten

Unsere Vorfahren scheinen eine große Freude an dunklen Worten,


Anspielungen, Verbrämungen und Sätzen gehabt zu haben, die nicht
wortwörtlich zu nehmen waren. Ein Wort mittels eines anderen aus-
zudrücken, eben in Rätseln zu sprechen, einer Art Geheimsprache der
Eingeweihten, davon waren die Überlieferungskundigen ebenso wie
das Volk angetan. Aber auch wir Heutigen sind davon keineswegs frei,
denken wir an unsere unzähligen Sprüche und Redewendungen, die

57
uns zwar geläufig sind, dem Fremden aber höchst gewollt erscheinen.
Was soll sich ein Nichtgermane etwa unter einem »Riesenzorn« vor-
stellen?
Viele solcher Redewendungen gingen im Laufe der Zeit verloren,
und lesen wir heute die germanische Überlieferung über Tod, Jenseits
und Weltschöpfung, fehlen uns die Worte für so viel unverständliches
Kauderwelsch. Wir haben mit der Christianisierung einfach den
Zusammenhang mit unserer Tradition verloren! Deshalb ist die
Liederedda sehr schwer zu verstehen; ohne deutende Kommentare
wird selbst das Lesen nur weniger Zeilen zur Last. Die Edda beein-
druckt so höchstens als Dichtung ohne tieferen Gehalt, und man ist
schnell geneigt, das Buch beiseite zu legen. Daher beschäftigen sich
nur noch Literaturwissenschaftler und Poeten damit, denen es im We-
sentlichen um den literarischen Wert, kaum aber um ein Verständnis
des Inhalts geht. Germanische Weltlehre, das Leben nach dem Tod
scheint niemandem etwas zu bedeuten, woran die dunklen Worte mit
eine Schuld tragen.
Entschlüsselt man das germanische Totenbuch, so wie es hier ge-
schieht und wie es bisher noch niemand versucht hat, gibt das Verhält-
nis der drei Welten Mikro-, Meso- und Makrokosmos, sprich Körper,
Seele und Geist, einen tiefen Einblick in die Gesetzmäßigkeiten des
Alls und in die Natur unseres Wesens. Der Körper entspricht der Ma-
teriedimension, die Seele dem Mittelkosmos, der so feinstofflich ist wie
Atem, Luft oder Wasser, sie entsprechen auch der Hel oder Hölle, und
unser Geist entspricht der Geistdimension Asgards. Es gibt einen
Übergang vom Materiellen über das Halbmaterielle zum Immateriel-
len. Beim Tod verfällt der materielle Körper, übrig bleibt der halbma-
terielle Seelenkörper, schließlich verfällt auch dieser, und es überlebt
ausschließlich reiner Geist. Gleiches geschieht - nur in größeren
Zeiträumen - mit dem All als Ganzem. Die Dimension der Materie löst
sich auf ins Halbmaterielle und dieses ins Immaterielle, das nach ger-
manischer Weltlehre ebenfalls zerfällt und von dem nur ein Samen-
korn, in dem scheinbar das Prinzip der Evolution in toto gespeichert
ist, übrig bleibt: Gimle; aus Gimle entfaltet sich dann ein neues All mit
drei Dimensionen. Im Totenbuch nimmt der Mittelkosmos, die Welt
der Seele nach dem Tod, den größten Platz ein, während unser mate-
rieller Kosmos so wie der geistige Makrokosmos nur am Rande
gestreift werden. Das Totenbuch ist damit vor allem der Versuch, An-
gaben zu machen über die uns nächstgelegene Dimension, die eine see-
lisch-halbmaterielle ist, ein »Medium« zwischen Geist und Materie.

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Wir haben es daher zu tun mit Psychologie, gleichzeitig aber auch mit
der Erforschung der Urmaterie, aus der unser materielles All mit sei-
nen Planeten und Galaxien hervorging, also physikalischen und sub-
elementaren Strukturen. Wie der moderne Physiker, der auf der Suche
nach den Urbausteinen der Materie, dem Energiefeld, dem Hyper-
raum oder Plasmazustand ist, gibt die Edda in ihren Worten genaue
Auskunft darüber. Für uns Heutige bleibt jedoch die von unseren Vor-
fahren vorgenommene Vereinheitlichung von Seele und Urmaterie
schwer verständlich; Seele als quasistofflich zu definieren ist für uns ein
Absurdum und nur schwer zu begreifen. Doch die moderne Physik ist
dabei, diesen Schritt zu vollziehen, dass nämlich der leere Raum, das
Vakuum, aus dem die Materie hervorspringt, keineswegs leer, sondern
angefüllt ist mit Energiefeldern, mit dem Äther oder Plasma, der für
die Germanen eine seelische Komponente aufwies, genauer gesagt
Seele ist! So unwahrscheinlich es den zeitgenössischen Leser anmuten
mag, dass unsere Vorfahren die moderne Physik bereits überholt hat-
ten, bevor diese entstanden war, ist doch zu bedenken, dass es neben
der Elementarteilchenphysik weitere Möglichkeiten gibt, in den Mit-
telkosmos vorzudringen, nämlich mittels unserer eigenen Seele! Wie
dies zu erreichen ist, darüber gibt die Seelenwissenschaft des »Toten-
buchs« hinreichend Auskunft.

Meine Deutungsmethode

Meine Analyse der Liederedda geht textimmanent vor, das heißt, ich
werde wie gesagt keine Theorien von außen einbringen, sondern allein
aus dem Textmaterial schöpfen. Im Grunde geht es nur darum, den
Text neu zu formulieren, und zwar so, dass er für uns zeitgenössische
Menschen lesbar wird. Welches aber sind die Hindernisse?
Wer zum ersten Mal die Edda liest, wird verzweifeln. Die verwir-
rende Anzahl von Namen und Schauplätzen lässt uns keine klare Linie
erkennen. Es wimmelt nur so von Doppelbedeutungen, jede Gottheit
besitzt mehrere Namen, und eine Bezeichnung eines Gottes kann auf
scheinbar ganz unterschiedliche Tätigkeiten von ihm bezogen sein.
Wir erhalten den Eindruck eines Durcheinanders, mangelnder Logik,
des Märchenhaften und spielerisch Poetischen. Es ist dieser Eindruck,
der bewirkt, dass wir uns gar nicht mehr die Mühe machen, hinter den
Doppelbedeutungen und Überschneidungen die innere Logik der ur-
germanischen Weltauffassung zu suchen. Wir glauben schließlich, dass

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es keine innere Logik in der Frühgeschichte über die Welten- und
Menschenentstehung gegeben haben kann, dies sei erst eine Leistung
der Wssenschaft und der Neuzeit. Die meisten Forscher lesen die
Edda daher als Märchen- und Traum-, bestenfalls als Naturmytholo-
giebuch. Ich kann mich dem in gar keiner Weise anschließen. Mittels
des von mir aus der Edda herausgearbeiteten Drei-Welten-Modells,
des goldenen Schlüssels zu ihrem Verständnis und aller antiken My-
thologien überhaupt, insbesondere meiner Entschlüsselung unserer
kosmologischen Nachbardimension Hel, von der in der Edda so viel
berichtet wird und die ich Plasmadimension nenne, weise ich nach,
dass die Edda und somit die Nordgermanen einen logisch verstehba-
ren, der modernen Weltlehre vergleichbaren gehaltvollen Weltent-
wurf entwickelt haben, von dem der moderne Mensch außerordentlich
viel lernen kann.
Die Deutung der Edda als Poesie, Märchen, Traum- oder Natur-
mythologie wird ihrem Inhalt in keiner Weise gerecht. Vielmehr lässt
sich mit einiger Übung eine in sich geschlossene, mit allen alten My-
thologien der Welt im Kern wesengleiche Weltlehre erkennen. Das
bringt uns zur geheimnisvollen Frage, ob es ein zentrales Ursubstrat
an Erfahrung und Überlieferung der ersten Menschheit gegeben hat.
Aber um das zu würdigen, bedarf es einer bestimmten Methode. Es
geht dabei nicht um eine Methode, die von Wissenschaftlern entwor-
fen wurde, sondern um die Methode, die der Edda selbst zugrunde
liegt und die von allen archaischen und antiken Wissenschaften ver-
wendet wurde: die »Analogiemethode«.

Mein Vorgehen

Ich untersuche Motive, die sich dauernd wiederholen; was sich wie-
derholt, muss einen wahren Kern besitzen. Ich untersuche grundsätz-
liche Aussagen. Wesentlich ist zum Beispiel die Frage, ob und wie viele
Dimensionen in der Edda erwähnt werden - ich gelange zu drei - und
welche Wesen den Dimensionen angehören, zum Beispiel Götter zu
Asgard, Riesen zu Hel. So kommt eine erste Ordnung in die Weltlehre.
Das ist ein durchaus vertretbares Verfahren, da wir verschiedene Wel-
ten und die dazugehörigen Wesen in allen Weltlehren vorfinden.
Wenn die Geschlechter und Wesen derart eine Einordnung in eine der
drei Welten gefunden haben, lassen sich Stammbäume und Verwandt-
schaftsbeziehungen festlegen, was ich mittels Grafiken darstelle. Hier

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wird gezeigt, wer zu wem gehört und wie die Geschlechterfolge aus-
sieht. Das erzeugt eine weitere Ordnung und so erkennen wir bald, ob
ein Wesen ein Riese ist, wenn zum Beispiel beide Eltern Riesen sind,
oder ob ein Kind von Götter- oder Rieseneltern abstammt. Des Wei-
teren analysiere ich sämtliche Namen, leite sie etymologisch her, was
ebenfalls ein Bild ihrer Natur zeichnet; der Name ist immer Ausdruck
des kosmologischen Reiches, in dem die Gestalt existiert.
Es besteht eine Reihe weiterer grundsätzlicher Schwierigkeiten.
1. Es können sich verschiedene Götterüberlieferungen verschiedener
Stämme und Traditionen vermischt haben, wodurch es zu künstlichen
Ubergängen und willkürlichen Verwandtschaftsbeziehungen und Zu-
sammenhängen kommt.
2. Es werden historisch greifbare Daten mit kosmologischen ver-
mengt, beziehungsweise wird Kosmologisches auf Geschichtliches
reduziert und umgekehrt. So werden aus geschichtlichen Königen
Götter und aus Göttern Könige, geschichtliche Bewegungen werden
in Handlungen von Göttern umgemünzt und umgekehrt.
3. Die Weltlehre hat sich mit der Zeit verwandelt, neue Götter traten
hinzu, neue Deutungen, neue Namen für alte Götter kamen auf, es
entstand aus dem Fluss der Geschichte ein gefährliches Gemisch aus
Unwägbarkeiten, was viele Forscher davon absehen ließ, überhaupt
Deutungen anzubringen. Sie zogen es vor, die Lieder allein als Dich-
tung anzusehen, was zwar verständlich, aber nicht zutreffend ist, denn
es handelt sich eindeutig um Weltlehre, wenn auch eine weitgehend
verballhornte.

Die Puzzlemethode der Edda

Wenn wir eine Erzählung lesen, sind wir es gewohnt, dass sie vorne be-
ginnt, mit dem Ende endet und logisch Schritt für Schritt aufeinander
aufbauend ihre Handlung entfaltet. All das ist - seien wir vorbereitet -
bei der Edda unüblich. Sie beginnt irgendwo, endet in der Mitte, er-
zählt mal von hinten nach vorne, mal wie ein Feuerwerk in Bruch-
stücken, dann wieder wirft sie uns Versatzstücke einer oder mehrerer
Handlungen gut gemischt vor die Füße. Der Leser wird zum Spuren-
sucher, zum Ordner von Versatzstücken. Wir erhalten in den Liedern
und Strophen immer nur Teile und Andeutungen einer Geschichte.
Erst ein paar Strophen oder Lieder weiter setzt sich die Geschichte fort
und wird ergänzt. Das erfordert raffiniertes Lesen, höheres Mitden-

61
ken. Deshalb werden in der Einführung die Totendimension und ihre
beiden Nachbarwelten kurz systematisch dargestellt, so dass der Leser
einen gewissen Uberblick gewinnt, ehe er die Spurensuche aufnimmt.

62
T e i l II
DIE LIEDEREDDA

Das germanische Totenreich

63
1. DER SEHERIN GESICHT
Weltende und letzte Dinge

Die Hauptperson dieses ersten Eddaliedes, auch Völuspa genannt, ist


eine Seherin, eine so genannte Wölwa, eine Riesin in Riesenheim, und
da sie ausnahmsweise frei vom üblichen Götterhass der Riesen, dafür
aber mit dem angeborenen Wissen ihrer Rasse ausgestattet ist, näm-
lich der Kraft zur Zukunftsschau, sucht Odin sie auf, um Weisheit zu
erlangen. Das allerdings ist sehr fragwürdig und leicht als Vorwand zu
erkennen, ist doch er der einzig Allwissende. Odin will also wieder ein-
mal eine Riesin prüfen, wobei eine Prüfung eigentlich überflüssig ist,
da alle Riesen im Angesicht Odins versagen müssen. Mit diesem Wis-
senstest, der in der Edda so oft vorgeführt wird und als didaktisches
Mittel dient, den Leser zu belehren, erfährt man allerlei über Geburt
und Untergang der drei Welten.
Odin - oberster Gott, das Alles selbst, zwangsläufig allwissend, all-
weise, allgegenwärtig - unternimmt nach der Liederedda viele Reisen
ins so genannte Riesenland, ins Plasma und Totenreich, um die Wesen
dort zu prüfen, nämlich ob sie seine Natur, also die Natur des Seins an
sich, erkennen. Wenn nicht, vernichtet er sie im Allgemeinen erbar-
mungslos, was heißt: Wer Gott nicht kennt, kann das Sein nicht meis-
tern! Wir müssen uns klar darüber sein: Odin muss nicht ins Riesen-
land reisen, es bedarf keiner Reise dorthin, denn Odin ist überall und
alles: Das sind nur ans Irdische angelehnte Beschreibungen, um dem
naiven Menschen die abstrakten, transmateriellen Bedingungen des
Geistes nahe zu bringen.

64
Heimdali als Menschenschöpfer

1
Gehör heisch ich
heiliger Sippen
hoher und niedrer
Heimdallssöhne:
du willst, Walvater,
dass wohl ich künde,
was alter Mären
der Menschen ich weiß.

Die erste Strophe ruft die Heimdallssöhne - womit die Menschen ge-
meint sind - zum Zuhören auf. Heimdall hat etwas mit der Men-
schenschöpfung zu tun. Doch darüber weiß man wenig, man könnte
sich Heimdall auch als eine lokale Gottheit oder einen Schöpfergott
vor Odin vorstellen. Heimdall soll uns erschaffen haben. Hohe und
niedere Kinder Heimdalls werden wir Menschen entsprechend unse-
ren Ständen und Kasten genannt. Die vornehmsten Stämme, nicht alle,
wurden als Abkömmlinge Heimdalls begriffen. Das um 900 entstan-
dene »Merkgedicht von Rig« setzt an die Stelle Heimdalls Rig, der drei
Stände gründete, indem er mit drei menschlichen Frauen verkehrte.
Dieses Gedicht scheint seinerzeit zur Verherrlichung von Harald
Schönhaar verfasst worden zu sein, ich lasse es hier wegen zu geringen
Tiefgangs beiseite.
Heimdall {heimr = Welt, ags. dallr = stolz, berühmt) scheint ein Gott
viel umfassenderer Art gewesen zu sein, als er hier vorgestellt wird; er
wird »der über die Welt Glänzende«, aber auch der »weiße, glänzende
As« genannt. Vermutlich entstammt er einer parallelen Überlieferung
und erhielt im Asengötterhimmel nur eine untergeordnete Aufgabe.
Dem Walvater Odin, der die Toten auswählt, dem All-Einen, soll
von der Seherin die Geschichte der Menschheit vorgetragen werden.

Neun Welten

2
Weiß von Riesen,
weiland geboren,
die einstmals mich

65
auferzogen;
weiß neun Heime,
neun Weltreiche,
des hehren Weltbaums
Wurzeltiefen.
/

Die Seherin beginnt damit, dass es neun Welten gebe im Weltenbaum


Yggdrasil. Der Weltenbaum steht mit seinen drei Teilen Krone,
Stamm und Wurzeln für die drei Dimensionen Geist, Seele, Materie.
An anderer Stelle wird genauer ausgeführt, Hel selbst gebiete über
neun Welten, also Unterbereiche, innerhalb ihrer selbst. Die neun
Welten beziehen sich daher allein auf Hel und nicht, wie manche
Forscher irrtümlich annehmen, auf die Daseinsebenen insgesamt.
Innerhalb des Totenreichs Hel lassen sich folgende Bereiche un-
terscheiden: Muspellheim (Muspellsöhne), Albenheim (Dunkelalben),
Riesenheim, Jötunheim oder Utgard (Riesen), Wanenheim (Wanen,
Riesen), Windheim (verstorbene Seelen), Myrkheim (Zwerge), Nifl-
heim (Tote), Walhall (tote Krieger) und Folkwang (tote Krieger).
Zudem besitzen alle Asen in Hel Zweitwohnsitze, die sie benutzen,
wenn sie nach Hei hineinreiten. Dazu später mehr.

Urzeit

3
Urzeit war es,
da Ymir hauste:
nicht war Sand noch See
noch Salzwogen,
nicht Erde unten
noch oben Himmel,
Gähnung grundlos,
doch Gras nirgend.

In der Urzeit, als es weder Zeit noch Materie gab, herrschte nur das
urriesische Prinzip Ymir. Aus dem Urriesen Ymir - der sich aus der
Verbindung von Feuer und Eis, von Muspellheim und Niflheim ver-
dichtete, und zwar dort, wo sich beide Kräfte trafen, in Ginnungagap
- entstand später die Stoffwelt. Als Ymir noch nicht da war, gab es also
auch keine stofflichen Bereiche wie Erde und Himmel oder Sand, See

66
und Salzwogen, nur jene »Gähnung grundlos, doch Gras nirgend«, das
Plasma. Gesprochen wird hier von der Zeit vor der Erschaffung der
Materie, als Niflheim längst bestand und ein erster Entwicklungs-
schritt innerhalb des Plasmas einsetzte, der später zur Materiegeburt
führte.

Erschaffung der Materiedimension Midgard

4
Bis Bors Söhne
den Boden hoben,
sie, die Midgard,
den mächtigen, schufen:
von Süden schien Sonne
aufs Saalgestein;
grüne Gräser
im Grund wuchsen.

Bors Söhne schufen Midgard. Bor ist ein Urriese, ein Synonym Ymirs,
das Plasma selbst. Bor bedeutet »geboren«, »geschaffen«. Also ver-
körpert Bor den Midgard gebärenden Vorgang. Das Geheimnis ist:
Die Materie hat ihren Ursprung im Riesenland. 1

5
Von Süden die Sonne,
des Monds Gesell,
schlang die Rechte

1
In der Snorri-Edda wird Ähnliches berichtet, die Urkuh Audhumla leckte aus dem Eis
von Hel eine Gestalt, genannt Buri. Dieser Buri hatte einen Sohn, der mit der Riesin
Bestla, »Ehefrau« oder »Rinde, Bast«, drei Söhne zeugte, nämlich Odin, Wili und We.
Buri und Bor bedeuten das Gleiche, nämlich »geboren« oder »geschaffen«. Nach der
Snorri-Edda sind Odin, Wili und We die Söhne des Riesen Bor. Das verwundert, denn
wie kann Odin, das All-Eine, geboren werden aus dem Plasma, das er selbst hervorge-
bracht hat? Allvater - Vater des Alls - Odin kann nicht Kind seiner Kinder sein.
Tacitus erwähnt, dass die Germanen ihren Ursprung von Tuisto, einem der Erde
entsprungenen Gott, ableiten; dessen Sohn Mannus wurde der Schöpfer ihrer Rasse in
Gestalt seiner Söhne, die die Herrscher der drei Urstämme der Germanen wurden, der
Ingväonen, Erminonen und Istväonen. Es werden demnach Heimdall, Rig und Tuisto
alias Mannus und später noch Freyr verantwortlich gemacht für die Menschenzeu-
gung-

67
um den Rand des Himmels:
die Sonne kannte
ihre Säle nicht;
die Sterne kannten
ihre Stätte nicht;
der Mond kannte
seine Macht noch nicht.

Das stoffliche Weltall mit Sternen, Sonne und Mond war noch nicht
geboren.

6
Zum Richtstuhl gingen
die Rater alle,
heiige Götter,
und hielten Rat:
für Nacht und Neumond
wählten sie Namen,
benannten Morgen
und Mittag auch,
Zwielicht und Abend,
die Zeit zu messen.

Die Asen werden hier Rater genannt, weil sie im Rat alles besprechen
und entscheiden, was das Dasein der drei Welten anbelangt. An ande-
rer Stelle wird erwähnt, dass die Rater zur Wurzel des Weltenbaumes
gehen, um Rat zu halten, das heißt ins Plasma, von wo aus ihre Gesetze
in die Stoffwelt hinüberstrahlen. Diese Strophe bezieht sich aus-
schließlich auf das stoffliche Weltall der Planeten und der Zeit in Ge-
stalt der Tageszeiten.

Der Bau Asgards auf dem Idafeld

7
Die Asen eilten
zum Idafeld,
die Heiligtümer
hoch erbauten;
sie setzten Herde,

68
hämmerten Erz;
sie schlugen Zangen,
schufen Gerät.

Aus sich selbst heraus ist die Strophe unverständlich, weshalb ich die
Snorri-Edda zu Rate ziehe. Odin baute Asgard in der Mitte des Ida-
felds. Zuerst baute man die Burg und die Throne für die Götter, am
höchsten jenen für Odin, von dem aus er die ganze Welt überblicken
kann. Die Burg leuchtet wie brennendes Gold. Man nennt sie Glast-
heim (»Frohheim«); eine zweite Halle heißt Wingolf (»freundlicher
Boden«). Sie bauten nun eine Schmiede und formten einen Hammer,
eine Zange und einen Amboss und mit diesen fertigten sie alle weite-
ren Werkzeuge. Schließlich schufen sie Metall, Stein, Holz und Gold.
Was aber ist das Idafeld? Das letzte Geistfeld! Idafeld kommt viel-
leicht von altnordisch id, »wieder«. Es ruht in der Mitte von Asgard,
dem Geist, dem ewig Unvergänglichen. Es heißt, nach dem Welten-
untergang bleibe allein das Idafeld von Asgard, also wohl dessen Keim
und Samen übrig, und dort werde aus den überlebenden Geistgesetzen
erneut eine Welt aufgebaut. Es wäre also das Feld der ewigen Wieder-
kehr.

Drei Schicksalsweiber

8
Sie pflogen heiter
im Hof des Brettspiels -
nichts aus Golde
den Göttern fehlte
bis drei gewaltge
Weiber kamen,
Töchter der Riesen,
aus Thursenheim.

Als einst die Götter heiter sich dem Brettspiel als reinen Geistgesetzen
hingaben, wird diese Idylle getrübt durch das Kommen dreier Riesen-
weiber aus Thursenheim (thursen = Riesen). Es handelt sich um die
Nornen, die Schicksals- und Zeitgöttinnen aus dem Plasma, deren
Aufgabe es ist, das Leben einzuteilen in Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft - sie führen also die Zeit ein, die es in Asgard nicht und

69
selbst in Hel nur beschränkt geben wird; zuvor wurde in Strophe 6 ge-
sagt, dass die Zeit gemessen werden solle. Midgard ist in der Tat eine
Zeitdimension, ganz anders als ihre zwei Vorgängerwelten, die weit-
gehend raum-zeitlos sind. Bei uns aber herrschen die drei Zeit-Nor-
nen. Damit steht fest: Die Zeit wurde geboren aus dem Plasma Hels.
Vor dem Stoff gab es keine Zeit. Die Nornen als Schöpferinnen der
Zeit sind anzusiedeln im Riesenland des Plasmas, ausgefaltet aber be-
stehen sie nur in Midgard. In Hei ist Zeit nur als eine Axt Halbzeit, als
noch nicht geronnene Materiezeit vorhanden.
Die asischen Gottgesetze schaffen die Nornen und diese die Mate-
rie, das ist die Entwicklungsabfolge in der Edda.

Geburt der Zwerge

9
Zum Richterstuhl gingen
die Rater alle,
heilge Götter,
und hielten Rat,
wer der Zwerge Schar
schaffen sollte
aus Brimirs Blut
aus Blains Knochen.

N u n soll beschlossen werden, wer aus Brimirs Blut und Blains Kno-
chen die Zwerge erschafft. Brimir und Blain sind nur Beinamen des
Urriesen Ymir, der für die Dimension des Plasmas steht. Das erweckt
den falschen Eindruck, als sollten die Zwerge für Midgard geschaffen
werden, tatsächlich aber wohnen sie mit den Riesen in Niflheim be-
ziehungsweise Hel und stellen im Grunde nur eine Untergruppe der
Riesen dar. Brimir und Blain sind beide Riesen (Brimir heißt erstaun-
licherweise auch ein Saal in Gimle, der höchsten Dimension in Asgard,
dort sollen nach dem Ragnarök, dem Weltuntergang, die Helden Wal-
halls leben). »Aus Brimirs Blut und Blains Knochen«, den »Genen«
der Riesen gewissermaßen, seien die Zwerge zu schaffen. Aus Riesen-
blut können aber nur weitere Riesengeschlechter entstehen. In der
Prosaedda heißt es (S. 134), die Zwerge entstünden aus blutigem
Schaum und aus Blains Gebeinen. Dort heißt es auch, in seinem Saal
Nidafjöll, »Finsternisfeld«, wo die Halle Sindri steht, bewahre der

70
Riese Brimir alle toten Riesen auf. Soll das heißen, sein Saal sei eine
Axt Genbank für alles Riesige? Die Zwerge, sofern sie tatsächlich klein
sind, gingen demnach hervor aus Riesen, sind gewissermaßen Riesen,
ebenfalls Erhabene mit riesischen Fähigkeiten (wie die Riesen arbeiten
sie als Goldschmiede und Zauberer), genau wie ihre Ureltern Blain
und Brimir. Mit Sicherheit leben sie nicht in Midgard. Paradoxe
Quintessenz: Zwerge sind Riesen, Erhabene!
Es sind die Götter, die entscheiden, wie Zwerge geschaffen werden:
Also sind die Asen die Schöpfer der Plasmawesen.

10
Motsognir ward
der mächtigste da
aller Zwerge,
der zweite Durin;
die machten manche
menschenähnlich,
wie Durin es hieß,
die Höhlenzwerge.

Der mächtigste Zwerg ist Motsognir, der zweitmächtigste Durin. Die


Geburt der Zwerge bleibt unklar. Einige, die Höhlenzwerge nämlich,
sollen menschenähnlich gemacht worden sein. Soll das heißen, es gibt
Hybride, halb Zwerg, halb Mensch? Die Zwerge bleiben in der Edda
überhaupt im Hintergrund, auch die Etymologie des Wortes »Zwerg«
bleibt unableitbar. Ich betone jedoch ausdrücklich - und das geht auch
aus allem Weiteren hervor - Zwerge sind Riesen, wenn auch eine be-
stimmte Untergruppe davon, und wohnen in Hel.
Dieser kurze Bericht wird in der Snorri-Edda ergänzt. Neben Mot-
sognir und Durin wurden noch viele andere Zwerge geschaffen. Diese
Zwerge formten nun nach den Angaben des Zwerges Durin in der
Erde (im Plasma oder tatsächlich im Erdinneren Midgard?) Men-
schenbilder. Mit »Menschenbildern« sind vielleicht die energetischen
Urformen, die Seelen von Menschen gemeint, die dann im Stoff einen
Körper um sich herum formen. In Stanges Eddaübersetzung heißt es
in Strophe 16: »So lange Menschen leben auf Erden, wird zu Lofar
hinauf ihr Geschlecht geleitet.« Lofar gilt als Stammvater der Zwerge.
Menschen werden hier verstanden als Züchtung der Zwerge, wir wür-
den, solange wir existieren, immer von den Zwergen geleitet werden.
Zwerge als wahre Menschenherrscher? Die Snorri-Edda sagt, all das

71
geschehe im Erdinnern oder Plasma. Ich siedle die Zwerge jedoch ent-
sprechend ihrer Natur im Plasma an; oder sind die Zwerge Wesen des
Plasmas, können sich aber auch in unserer Stoffwelt materialisieren?
Können sie einfach zwischen den Daseinsebenen wechseln?
Bei Snorri entstehen die Zwerge als Maden aus dem Fleisch Ymirs,
womit sie als Plasmawesen gekennzeichnet sind, aber sie erhielten
menschliche Gestalt. Ymir ist das Plasma schlechthin, mit ihm oder aus
ihm entstehen Riesen und Zwerge, die vielleicht unterschiedliche, viel-
leicht gleiche Plasmafamilien sind. Vor allem Zwergen wird ein men-
schenähnlicher Verstand und eine menschenähnliche Gestalt zuge-
sprochen.

Schöpfung des Urmenschenpaares

11
Bis drei Asen
aus dieser Schar,
stark und gnädig,
zum Strand kam:
sie fanden am Land,
ledig der Kraft,
Ask und Embla,
ohne Schicksal.

Sehr schön wird nun geschildert, wie drei Asen am Strand, also am
Meer, das heißt am Plasma, das im Allgemeinen als Wasser vorgestellt
wird, etwas entdecken: Ask und Embla, das erste Menschenpaar; die-
ses ist jedoch noch ohne Lebenskraft und Schicksal. Es handelt sich
hier wohl um den plasmatischen Ausgangsstoff des Menschen. Die
stoffliche Lebenskraft ist einleuchtenderweise noch nicht vorhanden,
ebensowenig wie sie eine Schicksalsbestimmung, ein »Karma«, auf-
weisen. Die drei Asen legen nun im Plasma fest, was sich später stoff-
lich auswirken wird. Diese Strophe ist ebenso wie die folgende außer-
ordendich wichtig für das Verständnis der Menschenschöpfung. Die
vorstofflichen »energetischen« Grundlagen des Menschseins wurden
im Plasmabereich gelegt, und zwar von Göttern, von denen letzdich
ohnehin alles abstammt.
Ask ist der Mann, was altnordisch »Esche« bedeutet und sich auf
die Erschaffung der Menschen aus Bäumen bezieht. Vielleicht klingt

72
hier auch der Weltenbaum an. Aesc heißt auch der Ahnherr des angel-
sächischen Königsgeschlechts der Aescingas. Und als aecmen wurden
die dänischen Wikinger bezeichnet, was sich wiederum von ihrer
Schiffsbezeichnung ask ableitet. Embla ist die Frau, die Ableitung des
Namens von elmla, »Ulme«, ist problematisch; andere Deutungen ver-
suchen ihn von »Rebe«, »Schlingpflanze« vom griechischen dmpelos
herzuleiten. 2

12
Nicht hatten sie Seele,
nicht hatten sie Sinn,
nicht Lebenswärme
noch lichte Farbe;
Seele gab Odin,
Sinn gab Hönir,
Leben gab Lodur
und lichte Farbe.

Die drei asischen Geistgesetze schenken das Leben: Odin gibt die
Seele, also die Plasmaseele, die Sinne gibt Hönir (alias Hödur und
Wili), und Lodur alias Loki gibt Leben und lichte Farbe (Gesundheit,
Aussehen). Hönir ist ein bedeutender Gott, über den wir wenig wissen,
Lodur wird gelegentlich mit Loki gleichgesetzt, was ich nicht abwegig
finde, denn Loki als Plasmaprinzip muss sehr wohl beteiligt sein am
plasmatischen Aufbau der physischen Wesen. Lodur wird auch mit
dem Kenning »Freund Lopts« bezeichnet (in: Einar skdlaglamms Velle-
kla)\ Lopt, »der Luftige«, ist wiederum Loki. In Lodur steckt auch das
Wort »arglistig«, was ja auf Loki sehr wohl zutrifft.

2
Als göttliche Stammväter der Menschen haben wir bereits Heimdall, Rig, Tuisto und
dessen Sohn Mannus erwähnt. Hier nun werden die Menschen zurückgeführt auf die
Natur, auf Bäume und Felsen oder vielleicht eine Mischung aus Natur und einem Gott.
Die Semnonen verstanden sich als aus dem heiligen Hain entsprungen, bei den Sachsen
wuchsen die schönen Mädchen auf den Bäumen. Ask und Embla sind nach der Snorri-
Edda Holzstücke, »ledig ohne Kraft«, aber die drei Asen geben ihnen Leben. Auch die
Zwerge schufen »Menschenbilder«. Sie zeichnen ebenfalls verantwortlich für den Ur-
sprung des ersten Menschenpaares, drei Götter beseelen und vollenden damit das Werk.
Ask bedeutet Esche. (Auch in der griechischen Überlieferung bei Hesiod schafft Zeus
das eherne Geschlecht aus Eschen. Die Nymphen sollen nach den Griechen ebenfalls aus
Bäumen entsprungen sein, und sie werden gelegendich als Urmütter der Menschen er-
wähnt.) Bäume, Zwerge und Götter vereinigen ihre Arbeit, und so entsteht der Mensch.
»Ask und Embla« hat Stabreimcharakter und ähnelt »Adam und Eva«; inwieweit eine
gegenseitige Beeinflussung von Christentum und Germanentum vorliegt, ist unsicher.

73
Die Menschen werden offensichtlich im Plasma vorgebaut, und erst
später durch die körperliche Geburt erhalten sie einen Leib; hier aber
werden ihnen zunächst die plasmatischen Grundlagen Lebenswärme,
das heißt Lebensenergie, und Seele eingepflanzt.

Yggdrasil, der Weltenbaum

13
Eine Esche weiß ich,
sie heißt Yggdrasil,
die hohe, benetzt
mit hellem Nass:
von dort kommt der Tau,
der in Täler fällt;
immergrün steht sie
am Urdbrunnen.

Diese Strophe handelt von der Weltesche Yggdrasil. Der Baum bietet
sich mit den drei Dimensionen (Krone, Stamm, Wurzeln) als Land-
karte für die geistig-imaginäre Kosmologie an. Yggr ist eine Bezeich-
nung für Odin, drasil heißt sein Pferd, also »Pferd des Yggr« oder
Odin. Das Pferd ist oft ein Bild für den Galgen. So wird in der Prosa-
edda berichtet, Odin habe sich geopfert und in den Baum gehängt.
(Den Germanen galt auch das Jesuskreuz als ein Galgen. So wie Jesus
am Kreuz hing, so Odin im Weltenbaum.) Das Hängen am Galgen-
baum wird als Reiten auf dem Ross drasil dargestellt, also könnte
Yggdrasil auch als »Odins Galgen« übersetzt werden.
Mit »opfern« ist hier »erschaffen« gemeint. Mit dem Pferd hängt
sich Odin in den Weltenbaum beziehungsweise in die drei Welten, die
er damit erschafft. Yggdrasil ist benetzt mit hellem Nass, einer Art Tau,
der von den Blättern heruntertropft und »in die Täler fällt«. Nach
meiner Deutung, und wie wir später ausführlicher erkennen werden,
wird damit die zweite Dimension, das feuchte, wässrige Niflheim, er-
schaffen. Wasser, Feuchtigkeit, Regen, Flüsse, Brunnen stehen immer
für das Plasma. Die Esche steht am Urdbrunnen, was aber zu allgemein
formuliert ist, denn der Urdbrunnen, also wiederum Wasser, steht wie
Regen, Tau und Nebel für die zweite Dimension. Der Urdbrunnen be-
findet sich genau genommen am Fuß der Esche, oberhalb der Wurzeln,
und der Stamm drückt eigentlich das Wasser, die Halbstofflichkeit der

74
zweiten Dimension, aus. Anhand der länglichen Baumstruktur wird die
Kosmologie verdeutlicht:
Krone = Geist
Stamm = Plasma
Wurzeln = Materie
Später erfahren wir, dass in der Krone des Baumes Hirsche die Blät-
ter abäsen, wodurch sich an ihrem Geweih Tau bildet, der herabfällt
und die Brunnen, das Plasma, hervorbringt. Die Plasmadimension
wird durch ihren Verdauungsprozess aus Asgard, der Krone, geboren. 3

immergrün, weil e w i g l e b e n d i g

Die Weltesche Yggdrasil.

Die Prosaedda berichtet, dass die Nornen die Weltesche mit dem
Wasser des Urdbrunnens besprenkeln, um ihre Zweige vor dem Ver-
trocknen zu schützen. Der Tau, der von den Zweigen tröpfelt, sei so

3
Einst war es üblich, einen Wächterbaum neben das Haus zu pflanzen, von dessen Ge-
deihen das Wohl der Familie abhing. An Festtagen wurde in Norwegen Bier über die
Wurzeln gegossen. In Uppsala soll neben dem Tempel ein immergrüner Baum gestan-
den haben, niemand wusste, zu welcher Art der Baum gehörte. Man geht aber von einer
Eibe aus.

75
weiß wie die Haut eines Eis. Diese Aussagen sind sehr bedeutsam. Die
Nornen sind das Schicksal, die Zeit. Das Wasser des Urdbrunnens ist
das Plasma. Die Weltesche ist das Leben, und dieses wird immer wie-
der erneuert durch das Lebenswasser, das Plasma. Genau genommen
kennt das Lebenswasser keine Zeit, ebenso wenig wie die Nornen, die
ewig sind, zeitlos und keine Ursache und Wirkung, also keinen Zeit-
ablauf kennen. Der Hinweis auf den weißen Tau verweist ebenfalls auf
das feinstoffliche Plasma.

Die Zeit: Urd, Werdandi, Skuld

14
Von dort kommen Frauen,
vielwissende,
drei, aus dem Born,
der unterm Baume liegt:
Urd heißt man eine,
die andre Werdandi -
sie schnitten ins Scheit -,
Skuld die dritte;
Lose lenken sie,
Leben koren sie
Menschenkindern,
Männergeschick.

Von der Gegend des Urdbrunnens, also aus dem Plasma, kommen drei
Frauen, die Nornen, welche die Zeit und den Lebensablauf mit sich
bringen. Sie kommen »aus dem Born«, dem Wasser, was klar ist, denn
das Plasma ist in Midgard für alles verantwordich: Zeit, Schicksal,
Struktur des Daseins. Norne kommt von altisländisch nomo, »weben«,
aus der indogermanischen Wurzel merk, norhni, »Verknüpferin«, aus
der Wurzel ner, »einfädeln«, oder von norhsn, »Männertöterin«. Die
gemeingermanische Bezeichung ist Urd, »die Spinnerin«, sie webt das
Schicksal. Urd heißt Schicksal, der Brunnen des Plasmas ist das Schick-
sal der Materie. Der Urdbrunnen liegt direkt am Fuße der Esche, un-
mittelbar am Rand von Midgard, aber diese Ortsbeschreibung ist un-
wesentlich, da der ganze Stamm die Plasmadimension symbolisiert.
Diese drei hatten früher wohl keine Namen, erst später wurden sie zu
Verkörperungen der Zeit und dann spielerisch genannt: Urd gleich

76
Schicksal, Ursprung, Werdandi gleich Werden und Skuld, »die werden
Sollende« (skuld kommt von »sollen« wie Schuld), gleich Zukunft,
Ende.
»Schnitten ins Scheit« heißt, sie ritzten Runen in den Weltenbaum
und erzeugten so das Geschick der Stoffwelt Midgard. Sie lenkten die
Lose, also der Welt Geschick, indem sie Runen ins Plasma einritzten,
in anderen Worten dort die Entwicklung für Menschenkinder und
Männergeschick vorgaben. Die Strophe besagt also: In der Plasma-
dimension Niflheims sind die Stoffwelt und ihre Gesetze, insbe-
sondere die Zeit, vorgegeben. Runen sind Wahrsagelose; was sie sagen,
ist bereits im Plasma angelegt, und wenn man das weiß, kennt man
bereits das Geschick der Menschenkinder. Die Runen sind im Grunde
die im Plasma festgelegten Bestimmungen, die im Stoff ausreifen wer-
den.

Dimensionskrieg um Gold

15
Da kam zuerst
Krieg in die Welt,
als Götter Gullweig
mit Geren stießen
und in Heervaters
Halle brannten,
dreimal brannten
die dreimal Geborne.

»Da kam zuerst Krieg in die Welt...« Unvermittelt wie meistens wird
nun über den ersten großen Krieg berichtet. Gemeint ist der Krieg
zwischen Asen und Riesen, der ein Dauerzustand ist, denn die Riesen
möchten nach Asgard, möchten Geist sein, sind aber keineswegs reif
genug dafür. Die Asen wehren sie daher stets erfolgreich ab. Die Seele
kann kein Geist sein, auch wenn sie sich dies in einem Anfall von
Selbstüberschätzung schnell und leichtfertig anmaßt. (Man vergleiche
in den indischen Veden den dauernden Kampf der Asuras, der Riesen,
gegen die göttlichen Devas.) Der Grund des Dauerkriegs ist also die
Unzufriedenheit der Riesen mit sich selbst, sie wollen Geist werden,
aber offenbar auf eine zu plumpe Art und Weise, weshalb sie scheitern.
Krieg kam in die Welt. Dies geschah so - die Geschichte wird an-

77
gedeutet, aber nicht ausgesponnen -: Gullweig, »die Goldreiche«, eine
seidkundige (hellsehende) Wanin oder Riesin (Wanen sind ein Ge-
schlecht oder eine weitere Bezeichnung von Riesen) und Zauberin,
kam nach Asgard und weckte in den Asen Gier nach Gold. Doch wie
es zu gewinnen sei, gab sie nicht preis, wofür die Asen sich rächten, in-
dem sie sie mit Geren (Speeren) stießen und sie, jedoch vergeblich,
dreimal zu verbrennen suchten. Es verwundert, dass die Wanin, von
Odins Speer getroffen, nicht stirbt, denn von diesem heißt es, er töte
alle, »über« die er geworfen werde.
Die Strophe birgt ein tiefes Geheimnis, das aus den wenigen Anga-
ben aber nicht erkennbar ist. Meine Vermutung ist die folgende: Die-
ser erste Krieg, der aus der Auseinandersetzung zwischen Göttern und
Wanen hervorging, drehte sich um Gold, das aber nicht für unser stoff-
liches Gold steht (die Midgarddimension war zu diesem Zeitpunkt
noch gar nicht geschaffen!), sondern für etwas Immaterielles. Es dürfte
klar sein, dass Asen Gold keine Wichtigkeit beimessen, lieber sind ih-
nen geistige Zustände. Da aber das Gold von Hel nicht geistiger, son-
dern halbstofflich-seelischer Natur ist, dürften sie eigentlich auch
daran keinen Gefallen finden. Was ist also der Grund dieses Krieges?
Gullweig ist eine Riesin, ihr Name, »die Goldreiche«, verrät uns,
worum es hier geht. Die Riesen oder Wanen besitzen eine große Vor-
liebe für Gold, so wie auch die Zwerge all ihre Waren aus Gold ferti-
gen. Gold ist Thema Nummer eins unter Riesen. Weshalb aber wollen
auch Asen Gold besitzen? Offen gestanden sehe ich keinen Grund. Es
ließe sich bestenfalls sagen, da aus Asgard Riesenland hervorging,
gehört alles Riesenland den Asen, beziehungsweise Geist beherrscht
die Seele; doch auch das ist irgendwie unbefriedigend.
An dieser Stelle müssen wir innehalten und untersuchen, was mit
Gold gemeint ist. Ich sage es gleich unverblümt: es ist das Plasma
selbst! Gold wird in diesem Sinne auch »Ägirs Feuer« genannt. Agir
gilt als ein Meerriese, sein Name steht für »Meer«, also für die wäss-
rige Dimension des Plasmas schlechthin. Damit wäre »Ägirs Feuer«
enttarnt als das Feuer des Plasmas. Wir wissen, Plasma wird mittels der
Begriffe Wasser und Feuer, aber auch Luft und Erde dargestellt, weil
es aus diesen vier vorstofflichen Elementarzuständen besteht. Viele
Strophen sprechen vom Feuerwasser, Wasser, das wie Feuer lodert,
und Feuer, das wie Wasser wogt.
Jetzt verstehen wir auch das Scheitern des dreimaligen Verbren-
nungsversuchs »der Goldreichen«, der plasmatischen Gullweig: Die
Asen versuchten Gullweig mit dem zu verbrennen, aus dem sie besteht

78
- Plasma (Feuer); das ist so, als würden sie versuchen, uns mit Luft zu
ersticken. Dreimal verbrannten sie sie, und dreimal überlebte sie.4
Die Wanen wollen eine Genugtuung, oder ihre Götter sollen mit
den Asen gleichgestellt werden. Es kommt zum großen Krieg. Die
Wanen schlagen die Asen. Danach kommt es zu einem Götterstaat, in
dem Götter beider Stämme verehrt werden. Doch die Wanen, wissend,
dass die Asen im Grunde stärker sind, schlagen zur Sicherung des Frie-
dens noch einen Geiseltausch vor.

Die S e e l e als Zauberstätte

16
Man hieß sie Heid,
wo ins Haus sie kam,
das weise Weib;
sie wusste Künste:
sie behexte Kluge;
sie behexte Toren;
immer ehrten sie
arge Frauen.

Die Wanin Gullweig wird hier mit ihrem Beinamen Heid genannt.
Heid ist ein Synonym für die Seherin (heidr = »Ruhm«, »hell, strah-
lend«, aber auch »Ehre« oder »Heide, Hochebene«; siehe auch Hei-
den). Riesen sind die Ruhmreichen, die hell Strahlenden, sie leben auf
»Hochebenen«, in »Bergen«, sie sind mental Erhabene. Im Bereich
des Seelischen ist jedes Trugbild möglich, weshalb Riesen oder Wanen
grundsätzlich als seidkundig verstanden werden müssen, sie können he-
xen. Gehext wird mit der Seele, der Energie des Seelischen. Asen hexen
nicht, weil sie, der seelischen Kraft entrückt, rein geistige Wesen sind,
weit über den Niederungen seelischer Kraft stehen und keinen menta-
len Störungen, Einbildungen und Begierden unterliegen. N u r die See-
le, angefüllt mit Wünschen und Erwartungen, richtet ihre Kraft in eine

4
Gullweig ist ein anderer Name für Freyja. Ausfuhrlicher, aber anders erzählt die Snorri-
Edda diese Geschichte: Nach dem Krieg hätten die Wanen beim Friedensvertrag er-
reicht, dass sie gleichberechtigt waren wie die Asen, Opfer von den Menschen zu emp-
fangen. (Plasmawesen leben besonders von Opfern, auch Menschenopfern). Offenbar
kommen hier die Überlieferungen zweier Stämme von ihren Göttern zusammen, und es
entsteht ein Kampf darüber, welcher Tradition die Hauptrolle zusteht.

79
bestimmte Richtung: Es ist nichts anderes als Hexerei, einen Gedanken
als Mittel zur Ausrichtung der Kraft zu benutzen, eine Begierde, ob nun
Liebe oder Hass, dem energetischen Plasma aufzuzwingen und sie so
wie einen Pfeil in die gewünschte Richtung zu schießen. Jeder Gedanke,
jeder Wunsch richtet die seelische Kraft, das Plasma, stromlinienförmig
aufs Ziel aus, und das ist Hexerei. Ebenso die Zauberei, das Hellsehen
und die Zukunftsschau: Im seelischen Reich gibt es keine Zeit, also
kann man immer in die Vergangenheit und in die Zukunft schauen, die
dort nicht als zeitliche Ausdehnung voneinander getrennt sind, son-
dern beide vereint auf einem Punkt ruhen, dem ausdehnungslosen See-
lenpunkt, auf dem aller Raum und alle Zeit versammelt sind - dadurch
aber leicht zu übersehen ist - und so Zauberei zum einfachsten Spaß
der Welt macht. N u r vom raumzeitlich bestimmten Midgard aus er-
scheint diese Fähigkeit unglaublich. Riesen sind also grundsätzlich
zauberkundig, da jenseits von Raum und Zeit stehend.
Im Plasma ist das übliche Dasein durch Seid, das heißt Zauber ge-
kennzeichnet, weil die Wesen dort Seelenwesen sind. Was bei uns
Denken und Fühlen ist, sind dort sofortiges Wissen, Hellfühlen und
Telepathie. Kommen Asen ins Riesenland, werden sie von der Seidat-
mosphäre umfangen, ihr »Geistkörper« wird überlagert vom Plasma,
und sie müssen sich des Seids bedienen, um mit den Riesen zu verkeh-
ren. Die Asen selbst verfügen ebenfalls über einen Zauber in ihrer Di-
mension, eine Art Wortbeschwörung.

Odins Vertrag mit den Wanen

17
Zum Richterstuhl gingen
die Rater alle,
heiige Götter,
und hielten Rat,
ob Zins die Asen
zahlen sollten
oder alle Götter
Opfer haben.

Die Wanen wollen für Gullweigs Misshandlung einen Zins. Die Asen
lehnen ab und entscheiden sich für den Krieg. Schließlich ist der Krieg
zu Ende, und mit dem Frieden wurden Geiseln ausgetauscht. Die Wa-

80
nen gaben Njörd und seinen Sohn Freyr und wohl auch Freyja, die
Asen gaben Hönir (Wili) und Mimir. Doch Hönir war blind, allein
konnte er nichts tun. Aus Rache schlugen die Wanen Mimir den Kopf
ab und sandten ihn Odin, der ihn vor dem Verfaulen bewahrte und ihn
als Wahrsagekopf benutzte (Mimir, urgermanisch Mimiaz oder Mi-
mio, war als Geist der Gewässer bekannt). Mimir ist das Wasser Hels;
Hei ist die Zone der entkörperten Seele, die im freien, unbeschwerten
Zustand dieser Dimension und jenseits von Raum und Zeit die Ereig-
nisse, die im Stoff nacheinander auftauchen, alle auf einmal sieht, also
Vergangenheit und Zukunft auf einen Blick erkennt - daher lässt sich
der Kopf des Mimir auch als Wahrsagekopf benutzen. Überhaupt kön-
nen alle Riesen wahrsagen und zaubern, das ist die natürliche Eigen-
schaft dieser Dimension und ihrer Bewohner. Anschließend gaben die
Wanen noch den weisen Kwasir, den Klügsten, als Geisel.
Den Krieg der Asen gegen die Wanen erwähnt auch die Prosaedda.
Nach dieser Überlieferung einigten sich die beiden Geschlechter nach
dem Krieg, was offenbar zu ihrer Verbündung führte, und zwar merk-
würdigerweise, indem beide Parteien in eine Schale spuckten: Aus dem
Gemisch entstanden später die Menschen. Als erster Mensch aber ent-
stand Kwasir, der schlauste der Schlauen. Kwasir wurde nach der Pro-
saedda von den zwei Zwergen Fjalar (Metberger) und Galar erschla-
gen; sein Blut ließen sie in zwei Krüge und einen Kessel namens
Odrerir rinnen und mischten Honig dazu. Daraus entstand das Met.
In Norwegen war wohl anfangs T h o r der oberste Gott, bevor ihn
Odin verdrängte, während es in Dänemark Freyr war. Die Wanen sind
vermutlich ein Göttergeschlecht aus Dänemark. Mit dem Vordringen
der Dänen nach Norwegen wurden dort die Wanengötter übernom-
men und beide vermischten sich.

Menschen müssen Riesen opfern

Die gesamte Menschheit brachte höheren Mächten Opfer dar. Vom


Menschen- und Tieropfer, vom Pflanzen- und Erdopfer bis zur Opfe-
rung der eigenen Seele, der Gedanken und Wünsche stellt das Weg-
geben von Formen seelischer Kraft, verstofflicht und sichtbar gemacht
durch materielle Opfer, den wichtigsten Angelpunkt religiöser Zere-
monien dar. Der Mensch opfert nicht das Tier, sondern die Tierseele,
das Fleisch des Opfertiers verspeist er selbst; er opfert nicht Getreide,
sondern die Lebenskraft des Getreides; er opfert vor allem die Gedan-

81
ken, die mit dem Opfer an die höheren Mächte einhergehen, nämlich
die Naturkräfte des Riesenreichs, des Plasmas. Er gibt dem Plasma das
zurück, was er von ihm erhält: Lebenskraft und Seelisches. Er gibt von
Maiskolben und Früchten nicht deren stoffliche Formen, sondern ihre
Wachstums- und Gedeihenskraft; von sich gibt er nicht seinen Körper,
sondern seine Seelenkraft, Seelengedanken und Gefühle, indem er
diese ausrichtet auf die höheren Wesen. Die höheren Wesen sind im
Wesentlichen die vorstofflichen energetischen Kräfte der Riesen, erst
in zweiter Linie Gott selbst. Aber Gott opfert man nicht, in seiner
Ganzheit fühlt man sich bestenfalls aufgehoben. Die niederen Götter,
die plasmatischen Naturkräfte, wollen handfestere Gaben, sie wollen
das, woraus sie bestehen: Energie, Seele, Plasma. Dies fordern in der
Liederedda die Riesen, und sie erhalten es offenbar nach diesem ge-
heimnisumwitterten Krieg: Die Menschen werden geschaffen und sie
müssen sich ihren Schöpfern opfern. Wir Menschen als seelische
Schlachtbank der Halbgötter!
Riesen und Zwerge haben auf plasmatischer Ebene die Menschen
geschaffen; um diese plasmatische Urform herum entwickelte sich
dann der stoffliche Körper. Sie haben dem Menschen, wie wir hörten,
Lebenswärme, Seele und Farbe gegeben und wollen diese Gaben nun
immer wieder von neuem zurückhaben in Gestalt des Opfers. Wozu
aber? Wenn die Lebewesen Midgards sterben, kommt ihre luftige
Seele ohnehin nach Hel zurück, nach Windheim, wie es heißt, dann
sind sie doch wieder bei ihren Schöpfern. Wozu also das Opfer? Der
Anspruch der Riesen bleibt undurchsichtig.

18
Den Ger warf Odin
ins Gegnerheer:
der erste Krieg
kam in die Welt;
es brach der Bordwall
der Burg der Asen,
es stampften Wanen
streitkühn die Flur.

Odin warf als erster den Speer, »der erste Krieg kam in die Welt«.
Odins Speer Gungnir (»der Schwankende«) verfehlt nie seinen Stoß.
Er wurde von Iwaldis Söhnen (Zwergen) gefertigt. Alle Feinde, über
die er hinwegfliegt, sind dem Tod geweiht. Die Wanen griffen an: »Es

82
brach der Bordwall der Burg der Asen, es stampften Wanen streitkühn
die Flur.«
Man kann diesen Krieg als ein ins Mythische erhobenes geschicht-
liches Ereignis sehen: Wanengötter Dänemarks bekriegen die Asen-
götter Norwegens. Oder man kann darin einen Krieg der Dimensio-
nen der Riesen (Wanen) gegen jene der Asen sehen. Ich möchte das
nicht entscheiden. Vielleicht hat sich auch Geschichtliches mit Kos-
mologischem gedeckt. Die nächsten Strophen schwenken ganz ab vom
Wanenkrieg und beziehen sich eher auf die Endschlacht Ragnarök.
Hat man hier den wirklichen Wanenkrieg zu einem Ragnarök erhöht?
Das T h e m a Wanenkrieg wird plötzlich abgebrochen, stattdessen
wird von Ragnarök gesprochen. Das geschichdiche Ereignis wird of-
fenbar doch ins Kosmologische erhoben.

Der wahre Anlass d e s Krieges und die Seelenkunde


der Meineide

19 20
Zum Richterstuhl gingen N u r T h o r schlug zu,
die Rater alle, zorngeschwollen:
heiige Götter, selten sitzt er,
und hielten Rat, wenn er solches hört;
wer ganz die Luft da wanken Vertrag,
mit Gift erfüllt, Wort und Treuschwur,
Ods Braut verraten alle Eide,
Riesensöhnen. die sie ausgetauscht.

Die Luft ist ganz von Gift erfüllt, Helgeruch macht sich breit. Hel
riecht nach Gift, dem Gift der Gefühle, welche die Riesen in ihrer Wut
ausströmen. Genährt wird die W u t durch einen Vertragsbruch der
Asen, die einen Baumeister der Riesen, der ihnen ihre Burg erbaut
hatte, nicht entlohnten, sondern geschickt um seinen Gewinn betro-
gen. Die Asen begingen wie üblich einen Vertrauens- und Vertrags-
bruch, daher der Riesen Zorn.
Thor, der, obwohl ein Plasmawesen, zu Unrecht von den meisten
Forschern zu den Göttern gezählt wird, gilt als Rächer, sowohl im Auf-
trag der Götter als auch im Auftrag der Menschen; Letztere rächt er,
wenn die Riesen den Menschen Böses angetan haben. Er zieht also los
und vernichtet Riesen, weil sie entsetzt sind über den Vertragsbruch

83
der Asen. Riesen umzubringen ist seine einzige Beschäftigung. Sein
Werkzeug hierfür ist der Hammer. Manche Deuter sehen im H a m m e r
eine Doppelaxt, die den Blitz symbolisieren soll. Da der H a m m e r im-
mer wieder in die Hand T h o r s zurückkommt, könnte damit wirklich
der Blitz gemeint sein, aber mit Sicherheit kein elektrischer Blitz, son-
dern ein Blitz feinstofflicher Energie. Bei seinen Rachefeldzügen kennt
er weder Eide noch Treueschwüre. Scheinbar gibt es für die Götter
keine Moralvorschriften, wenn sie gegen die Riesen kämpfen. Riesen
zählen nichts in ihren Augen. Riesen sind den Göttern Untertan; es
muss getan werden, was die Götter befehlen. Asgard kennt die W a h r -
heit und Wirklichkeit besser als das Riesenland, daher die dauernden
Vertragsbrüche, Betrug, Meineide. Asen betrügen nicht, sie setzen ein
Gesetz durch, das den unter ihnen stehenden Wesen nur als Vertrags-
bruch erscheint, in Wirklichkeit aber keiner ist. N i c h t anders handeln
wohl Riesen gegen ihre Geschöpfe, die Menschen, die ihnen Opfer
bringen müssen und die sie durch L u g und Trug, sprich seelisches
Blendwerk und Zauberei zu religiösen Handlungen zu ihren eigenen
Gunsten verführen. So wie das Mittel der Asen gegen die Riesen Tot-
schlag und Krieg ist, so ist die Züchtigung der Riesen gegenüber den
Menschen mentales Blendwerk.

Heimdall, Hüter der S c h w e l l e

21
Ich weiß Heimdalls
H o r n verborgen
unterm heiigen
Himmelsbaume;
Flut seh ich fallen
in feuchtem Sturz
aus Walvaters Pfand -
wisst ihr noch mehr?

Obwohl ein Riese (?), ist Heimdall Wächter der Geistregion, steht an
deren Grenze als Schutz und Warner gegen eindringende Riesen. M i t
seinem Gjallarhorn, das er bei Gefahr bläst, bewacht er den Asgardwall
an der Brücke Bifröst. Sein H o r n ist verborgen unter der Weltesche.
Nach meinem Modell wacht er zwischen Baumkrone und Stamm, an
der Ubergangszone von Asgard nach Riesenland.

84
An dieser Stelle sind einige Erläuterungen zu Heimdali angebracht.
Heimdall ist kein Ase, er wacht lediglich für die Asen, er stammt aus
dem Plasma. Seine Zähne sind aus Gold, sein Ross heißt Gulltopp,
»Goldzopf, Goldstirn«. Er wacht an der Brücke Bifröst, an einem Ort
namens Himmelsburg oder Himmelsberg. Ein Bereich, wohl zwischen
Hel und Asgard gelegen, ein Dimensionenübergang. Er sorgt dafür,
dass kein Riese über die Brücke tritt. Er braucht weniger Schlaf als ein
Vogel, sieht nachts wie tags vorzüglich und hört gar das Gras auf der
Erde und die Wolle der Schafe wachsen, womit gesagt wird, dass er al-
les erfährt. Mit seinem Gjallarhorn kann er so laut blasen, dass es in al-
len drei Welten gehört wird, damit verkörpert er eine Art Urton der
Welten.
Um das in der zweitletzten Zeile erwähnte »Walvaters Pfand« zu
verstehen, muss ich einen kleinen Ausflug zu einer anderen Geschichte
unternehmen. Der Walvater, das heißt derjenige, der die sterbenden
Krieger aus wählt, ist Odin. Odin hatte sein Auge verpfändet, und zwar
an den Brunnen des Riesen Mimir (Brunnen = Plasma), und hatte es

Drei Brunnen kennt die Edda. Alle drei stehen für das Plasma schlechthin, jeder betont
jedoch eine andere Betrachtungsweise des Plasmas.

85
darin verborgen. Ein Teil seiner selbst ist also versteckt in der Plasma-
dimension. Wasser steht für das Plasma ebenso wie alle in der Edda er-
wähnten Brunnen. Außerdem wird damit erneut auf die Wesens-
gleichheit von Wasser und Riesen verwiesen. (In ähnlicher Weise
schickte der ägyptische Sonnengott sein Auge in die Plasmadimension
als Hinweis, dass diese Dimension von ihm erschaffen wurde.) So deute
ich auch Odins Pfandauge: ein Teil seiner selbst, sein Auge, wird zur
zweiten Dimension. In Strophe 23 steht, die Seherin Mimir trinke aus
diesem Auge täglich Met, nähre sich also vom Geist. Mit Met ist das
Skaldenmet (Skalde = Dichter) der Weisheit und Dichtkunst gemeint;
das Plasma ist die Dimension der Kunst schlechthin, der Inspiration
und des seelisch Erfinderischen, und Odins allsehendes Auge dient
dazu passend als geistinspirierende Schale.

Odins allsehendes S e e l e n a u g e

N u n heißt es in Strophe 29 der Liederedda und in den Strophen 135


und 173 der Prosaedda, Odin reite allmorgendlich zum Brunnen, um
aus diesem »Quell der Weisheit zu trinken«, was recht widersprüch-
lich ist, denn wenn er aus dem Plasmabrunnen trinkt, der sein eigenes
Auge enthält, dann trinkt er die geistige Weisheit seines eigenen, all-
sehenden Auges. Damit wird darauf hingewiesen, dass der Geist als
Samen auch im Plasma ruht, da nichts ohne Geist leben kann. Eine wei-
tere Deutung ist die: N u r im Plasma können die Götter vielfältig se-
hen, nicht im reinen Geist, denn dort ist alles immer nur gleichzeitig
zu erfahren. Erst wenn das Göttliche, Odin, in die von ihm geschaffene
zweite Dimension hinabgleitet, wird er sehend im Plasmasinne, das
heißt, erst im Plasma kommt es zu einer verstandesmäßig zerlegenden
Wahrnehmung. Wahrnehmung einzelner Tatsachen aber steht natür-
lich entwicklungsmäßig tiefer als die umfassende Ganzheitswahrneh-
mung, wie sie im Geistzustand möglich ist. Das Göttliche erfährt seine
Emanationen oder Ausfaltungen nur, wenn es sich in diese hinablässt,
und dann nur auf der ihnen entsprechenden Wahrnehmungsebene.
Hier begegnen wir einem kosmologischen Grundgesetz. Die Geburt
der zweiten Dimension wird durch das Augenpfand vorgeführt. Odin
sendet aus sich sein Auge, was eine neue Dimension erschafft.
Geheimnisvoll wirkt die ganze Aussage: »Flut seh ich fallen in
feuchtem Sturz aus Walvaters Pfand.« Dieser Satz lässt sich nur wie
folgt deuten. Das Plasma ist Wasser, Flut, Regen, Brunnen. Das Auge

86
Walvaters, also ein Teil Odins, erzeugt die Plasmadimension, was sich
als Geburt einer Superflüssigkeit äußert. Niflheim ist bekanntlich
feucht und neblig und angefüllt mit Totenflüssen, was alles auch als
Flut gesehen werden darf. Die Seele ist feucht, die Seele ist eine Flut,
nicht natürliches Wasser, sondern Superwasser, Energie! Geist erzeugt
aus einem Teil seiner selbst sich selbst in heruntergeschraubter Gestalt,
nämlich als seelische Kraft.

Dasein als göttliches Spiel

Das große Geheimnis des Daseins besteht in der Frage: Wie kann aus
reinem Geist, also einem stoff- und energielosen Zustand, Energie -
sprich Seele - entstehen? Seele ist Energie, versetzt mit Wissen, Ge-
danken und Gefühlen. Energie kann durch fest umrissene Gedanken
ausgerichtet werden und nimmt dann jede gewünschte Form an. Ener-
gie ist formbar. Energie selbst aber ist Gedanke und Gefühl, weshalb
sie immer zur Formgebung neigt. Es stellt sich die Frage, wie es Ener-
gie ohne Wissen geben kann, denn Energie ist im Gegensatz zum Geist
Bewegung. Geist ist Ruhe, energie- und gedankenleer. Oder noch ver-
wickelter: Odin ist alles, auch Energie, auch Stoff, auch Mensch. Das
Geistgesetz äußert sich in verschiedenen Dimensionen in Form ver-
schiedener Gestalten. Man darf vermutlich keine Rangordnung vom
Geist zur Energie zum Stoff zulassen, also keine Stufenfolge, die be-
sagt, Geist sei besser als Energie und diese besser als Stoff. Das ist ein
menschlicher Gesichtspunkt. Wir können nicht anders als werten.
Odin aber ist alles, und da er alles ist, ist alles gut. In Odin gibt es keine
moralische Regel. N u r wenn eine Schöpfung Odins sich seiner nicht
mehr bewusst ist, verfällt sie dem Tod, wie so viele Odinsgeschichten
zeigen werden: Odin tötet sie. Aber Odin tötet nicht bewusst, es stirbt
von selbst, wer Odin nicht in sich selbst erfahren kann.
Eine drängende Frage für den Menschen ist: Warum sterben wir?
Nach letzterer Aussage hieße das, wir sterben, weil wir Odin in uns
selbst nicht verwirklicht haben. Oder anders: Es gibt keinen Tod, wir
bleiben immer Odin, wir verwandeln uns lediglich innerhalb Odins
unendlichem Formenreichtum. Der Tod ist damit ein Ubergang in
eine andere Form.
Diese Fragen sind erlaubt. Die Edda entwickelt eine Geistge-
schichte und zeigt spielerisch die Wechselwirkung des Geistes mit sei-
nen Emanationen und Schöpfungen. Der Geist träumt neue W e d e r -

87
geburten seiner selbst, diese Traumgestalten glauben aber, unabhängig
von Odin zu sein und das ist ihr Trauerspiel. Doch Odin weiß um die
Verblendung seiner Traumdimensionen und spielt damit. Die Edda er-
zählt daher das Leben als göttliches Spiel!

Odins Auge ist Mimirs Quelle

22 23
Saß einsam draußen, Ich weiß Odins
als der Alte kam, Auge verborgen
der furchtbare Ase, in Mimirs Quell,
und ins Auge mir sah: dem märchenreichen;
Was fragst du mich? Met trinkt Mimir
Was forschst du bei mir? allmorgendlich
Ich weiß, Odin, aus Walvaters Pfand -
wo dein Auge du bargst. wisst ihr noch mehr?

Odin, oft als der wandernde Alte mit Schlapphut gedacht, befragt die
Seherin, eine Riesin. Offenbar will Odin wissen, wo sein Auge ist. Was
schlichtweg eine Priiffrage ist, denn er weiß selbst, was er damit getan
hat. Hier wird die Seherin hinterhältig auf die Probe gestellt.
Die Seherin sagt, Odins Auge (»Walvaters Pfand«) sei verborgen in
Mimirs Quell, womit gesagt ist: Odins Auge schuf die Quelle, das wäss-
rige Plasma. Im Plasma wohnt Mimir, hier stellvertretend gedacht für
alle Riesen, er trinkt bildlich gesprochen täglich das Plasma, hier als
Met vorgestellt - davon lebt er. Das Plasma als Met aus Odins Auge zu
trinken, ist ein schönes Bild.
Hier ist noch zu ergänzen, dass die Wanen Mimir köpften, um sich
an den Asen zu rächen; den Kopf schickten sie Odin, und dieser be-
nutzt ihn, nachdem er ihn einbalsamiert hat, als Ratgeber für alle Er-
eignisse in Riesenland. Mimir soll jeden Morgen wie Odin selbst aus
dem Quell der Weisheit getrunken haben, dem Plasmabrunnen und
Odinsauge. Uns muss bei dieser verzwickten Darstellung klar sein:
Brunnen und Mimir und Auge sind Entsprechungen des Plasmas. Si-
cherlich ist der Riese durch das Plasma, also aus sich selbst weise; die
Geschichte mit dem Auge ist nur eine sinnbildliche Umschreibung der
seelischen Weisheit des Plasmas. Wenn also, wie es oft dargestellt wird,
die Asen von den Riesen das Zaubern lernen, dann lernen sie nicht
mehr, sondern verringern ihr Fassungsvermögen, weil sie sich auf eine

88
niedrigere Dimension einlassen. Das Plasma ist die Welt des Zaubers,
aber nur für die Menschen, für die Götter ist es ein blindes Land, wo
die Wesen geschlagen sind von nutzlosen Gefühlen.

24
Halsschmuck und Ringe
gab Heervater,
für Zukunftswissen
und Zauberkunde:
weit sah ich, weit
die Welten alle.

Odin, der Heervater (Vater aller Heere genannt, weil er Vater über Le-
ben und Tod, also Totengott ist), gab der riesischen Seherin Ge-
schmeide als Belohnung für ihren Spruch. Das ist aber keine echte Be-
lohnung, denn das Plasma, in dem die Seherin lebt, ist der Ort, wo die
Riesen ohnehin Kleinode und Geschmeide aus seelischem Gold her-
stellen, gewissermaßen emotionalen Schmuck in Form von Einbildun-
gen, Phantasien, Gefühlen, Begierden. Odin gab der Seherin das, was
sie ohnehin besitzt, er betrügt sie also, so wie er gewohnheitsmäßig alle
Riesen betrügt. Warum aber betrügt Odin? - Vielleicht, weil von der
Warte der Riesen aus die Dimension des Göttlichen nicht angemessen
wahrgenommen werden kann. Man sieht nur das, was man sehen kann,
nämlich Plasmaformen, und vermag die Leere des Göttlichen nicht
wirklich in sich aufzunehmen, weshalb man jemandem nur das schen-
ken kann, was seiner Dimension eigentümlich ist. Odin betrügt also
nicht, er gibt nur, was als Geschenk erkannt werden kann.

Balders Tod durch Lokis List

25 26
Ich sah Balder, Ihm ward der Zweig,
dem blutenden Gott, der zart erschien,
Odins Sohne, zum herben Harmpfeil:
Unheil bestimmt: Hödur schoss ihn;
ob der Ebne und Frigg weinte
stand aufgewachsen in den Fensälen
der Zweig der Mistel, um Walhalls Weh -
zart und schön. wisst ihr noch mehr?

89
Die Seherin sieht aber noch mehr. Balder, eine Art Lichtgott, ein Sohn
Odins, also Odin als Aspekt des Lichts, ist Unheil bestimmt. Balder
wird in der Tat umgebracht, und zwar durch einen in einen Pfeil ver-
wandelten Mistelzweig. Dieser Mistelpfeil wurde abgeschossen von
Hödur, den Loki, das Plasmagesetz, verführt hatte, dies zu tun.
Hier deutet sich der Krieg von Plasma - sprich Hel - gegen die
Götter an. Darüber weinte seine Mutter Frigg, Odins Gemahlin in
ihren Fensälen (altnord.fensalir, Sumpfsäle), das heißt im Umfeld Wal-
halls, jenem besonderen Totenort im Plasma, wohin alle im Krieg Ge-
fallenen kommen. Zu den Sumpfsälen ist anzumerken, dass die Göttin
natürlich nicht im Plasmasumpf lebt (Plasma wird bekanntlich als See,
Sumpf, Quelle usw. beschrieben); lediglich um die Gefallenen einzu-
sammeln, lebt sie dort, ansonsten in Asgard.
Balders Tod hatte Loki, der dreizehnte Gott - besser Antigott und
Prinzip des Plasmas - durch Lug und List eingefädelt. Loki kämpft im-
mer auf der Seite seiner Freunde, der Riesen, gegen die Götter, was
sich beim Ragnarök, dem Weltenuntergang zeigt, wo er, obwohl als
Gott dargestellt, widersprüchlicher- beziehungsweise richtigerweise
auf Seiten der Riesen gegen die Götter zieht. Loki ist in Wahrheit kein
Gott, sondern das Gesetz Hels. Loki ist Plasma. Die Geschichte wird
später ausführlicher erzählt.

27
Geknebelt sah ich
im Quellenwald
den Leib Lokis,
des Listenreichen.
Da sitzt Sigyn,
ihr Gesell bringt ihr
wenig Wonne —
wisst ihr noch mehr?

Nun wird berichtet, dass Loki für seine Tat offenbar bestraft und von
den Göttern geknebelt wurde, und zwar dort, wo er auch hingehört,
nämlich im Quellenwald, also im Wasser, das heißt im Plasma. Lokis
Gemahlin Sigyn (»sickern«, eventuell »gewitterschwangere Regen-
wolke«) erleichtert ihm seine Qualen, indem sie das ätzende Gift, das
der Schlange Skadi aus dem Maul fließt, mit einer Schale auffängt und
dieses so von ihrem Mann fernhält, bis auf die Augenblicke, in denen
sie die Schale ausleeren muss. Hier ist offensichtlich das Gefühlsgift

90
des Plasmas, sprich der Seele, gemeint, mit dem sich Loki selbst durch
seine Tat beschmutzt. Schlange und Gifthauch sind Doppelbedeutun-
gen Hels. Die Schlange, insbesondere die Midgardschlange, verweist
immer auf Hel, die seelische Unterwelt. Loki ist also im Plasma selbst
seinem eigenen Gemütsgifthauch, seinen eigenen unguten Gefühlen
ausgesetzt (Prosaedda 145, 171, 178).

Die Gefühle Hels

Jetzt hebt eine Beschreibung des Totenreichs an. Das Dasein der We-
sen in diesem Bereich ist geprägt von ihrer Seele.

28
Durch Gifttäler
gleitet von Osten
mit Schneiden und Schwertern
der Schreckensstrom.

Ab Strophe 28 wird auf den Höllenschauplatz hingewiesen; dabei han-


delt es sich um Gifttäler, aber das Gift erscheint als wässrig. »Mit
Schneiden und Schwertern der Schreckensstrom« heißt es, des
Schreckens, weil die Gefühle, die wir nach dem Tod haben, so schreck-
lich sein können. Eingebunden in diese liegt Loki.
Totenflüsse, von denen die Edda einige aufzählt, beziehen sich auf
die Gefühle der Toten, denn das ist es, was von Verstorbenen übrig
bleibt, und die Wesen, die nicht als Menschen verkörpert waren, be-
stehen vor allem aus Gefühlen, deren Energie als Superflüssigkeit ver-
standen wird, als Fluss oder Wasser. Die Totenflüsse sind gewisser-
maßen Energieadern; sie bestehen nicht wirklich, der hier genannte
Schreckensstrom Ifing ist eine Umschreibung der Gefühle der dort
Lebenden. 5

29
Im Norden stand
auf dem Nachtfelde
5
Wasser ist ein Hinweis auf das Lebenswasser, also die Seele. Die Leichenwäsche heißt
Lebenserneuerung, das heißt rituelle Vorwegnahme des Eindringens in die See der
Seele. Aus diesem Grund sollte man Tote nicht zu sehr beweinen, denn jede Träne (Was-
ser) fällt ihnen schwer auf die Brust und beschwert ihr Dasein, so die Überlieferung.

91
für Sindris Sippe
ein Saal aus Gold;
ein andrer hob sich
auf heißem Grund,
der Biersaal des Riesen,
der Brimir heißt.

Im Norden von Hel, also im kalten, feuchten Niflheim, steht ein Saal
aus Gold, welcher der Sippe des Zwerges Sindri vorbehalten ist (der
Zwerg Sindri und sein Bruder Brokk verfertigten den Ring Draupnir,
Freyrs Goldeber und Thors Hammer). Ein weiterer Saal, der Biersaal
des Riesen Brimir, steht dagegen auf »heißem Grund«, womit auf
Muspellheim, die südliche Seite Hels, angespielt wird. (Hier bestehen
Namensüberschneidungen: Brimir ist ein Riese in Hel, aber auch ein
Beiname Ymirs ebenso wie ein Saal in Gimle, der höchsten geistigen
Region der germanischen Weltentstehungslehre.) In dieser Strophe
sind jener Riese Brimir und sein Saal (Saal = Lebensumfeld) gemeint,
von dem es heißt, aus seinem Blut seien die Zwerge erschaffen worden.
Damit wird eindeutig klar: Zwerge leben in Hel, nicht unter der Erde
Midgards.
Hier stoßen wir erneut auf die Gegensätzlichkeit des Plasmas, ge-
teilt in den kalten Norden und den heißen Süden, Nifl- und Muspell-
heim.

30
Einen Saal sah ich,
der Sonne fern,
am Totenstrand,
das Tor nach Norden:
tropfendes Gift
träuft durch das Dach;
die Wände sind
aus Wurmleibern.

N u n heißt es, der erwähnte Saal liege am Totenstrand (Naströnd).


»Tropfendes Gift träuft durch das Dach; die Wände sind aus W u r m -
leibern«. Gift steht für ungute Gefühle, Würmer zerfressen den Leich-
nam. Deutlich wird gesagt: Der Saal des Riesen Brimir/Yinir ist das
Totenreich. Der Norden, Niflheim, ist wässrig, daher tropft hier das
Gift, das Gift der Gefühle. Auch an anderen Stellen wird tropfendes

92
Gift erwähnt. Aus Lokis und Fenrirs Mund tropft Gift, außerdem wer-
den die Täler, durch welche die Totenflüsse fließen, als Gifttäler ge-
schildert. Wasser tropft auch von der Weltesche, und daraus entstehen
die Brunnen und Flüsse oder ganz allgemein Niflheim, das Totenreich.
Gefühl wird als superflüssig verstanden, aber auch als feinstofflich. Ich
fasse zusammen: Gefühl ist Energie!

31
Dort sah ich waten
durch Sumpfströme
Meineidige
und Mordtäter;
dort sog Nidhögg
entseelte Leiber,
der Wolf riss Leichen -
wisst ihr noch mehr?

Wir befinden uns mit dieser Beschreibung eindeutig in Hel. Dort sieht
man hängen gebliebene Meineidige und mentale Sumpfströme. Das
Gesetz Nidhögg (nid = Neid, högg - Drache) saugt entseelte Leiber, das
heißt, der Neiddrache ist noch in unserer Seele verwurzelt, weil man
jetzt im Totenreich nur noch Gefühl und Denken ist. Nidhögg lebt am
Fuß der Weltesche, also am untersten Rand des Plasmas zu Midgard
hin zwischen den Wurzeln, die Midgard darstellen, und dem Baum-
stamm, der das Plasma darstellt. Stirbt ein Mensch, landet er als Seele
in Hel, wo es aber, je nach mentaler Einstellung, verschiedene Regio-
nen zu geben scheint.
Eine andere Aufgabe in Hel besitzt der Wolf: er reißt Leiber, wo-
mit auf das Sterben an sich verwiesen wird. Der Wolf ist der Fenrir-
wolf, das verschlingende Gesetz des Plasmas, und das heißt schlicht
und ergreifend Tod. Wenn wir sterben, betritt unsere Seele, die den
Tod überlebt, das Totenreich, wo man nur noch Gefühl und Denken
ist, und wenn man neidisch und voller Hass stirbt, wird man im Plasma
zu reinem Neid und Hass. Hel ist eine rein seelische Dimension.

Fenrirwolf verschlingt die Sonne beim Weltende

Jetzt beginnt die Schilderung des Weltenrückzugs Ragnarök: Eine


Welt löst sich in der nächsten auf: Midgard in Hel, Hel in Asgard, As-

93
gard vermutlich in Gimle, dem Samen für die zukünftige Welt. Ich
spreche von Weltenrückzug, nicht von Weltuntergang.

32
Eine Alte östlich
im Erzwald saß;
die Brut Fenrirs
gebar sie dort.
Von ihnen allen
wird einer dann
des Taglichts Töter,
trollgestaltet.

Hier wird der Erz- oder Eisenwald (deutsch »Iserlohn«) erwähnt, der
eine der Umgrenzungen um Hel, und zwar in Richtung Midgard dar-
stellt. Seine Entsprechung findet er im Dunkelwald zwischen Hel und
Asgard. In diesem Grenzgebiet sitzt eine Alte, die Riesin Angrboda
(»die Kummer Bereitende«), sie zeugt mit Loki die Brut Fenrir (und
nach Snorri auch seine Geschwister, die Midgardschlange Jormungand
und Hel). N u n heißt es, eines dieser trollgestalteten Wesen (Trolle =
Riesen von »trollen, gaukeln, betören«), nämlich der Wolf Fenrir, das
Plasma selbst, hier in seinem Aspekt des Verschlingenden, werde einst
das Tageslicht, die Sonne, töten. Dies geschieht beim Weltende, wenn
sich Midgards Materie ins Plasma auflöst. Wie wir wissen, ist mit
Fenrir, Loki und Hel jeweils unter einem anderen Gesichtspunkt das
Plasma gemeint.

33
Er füllt sich mit Fleisch
gefallner Männer,
rötet mit Blut
der Rater Sitz.
Schwarz wird die Sonne
die Sommer drauf;
Wetter wüten -
wisst ihr noch mehr?

Fenrir ernährt sich von Toten; als Plasmawesen nimmt er notgedrun-


gen das Seelenplasma der Toten in seine Dimension auf; in anderen
Worten: die Verstorbenen überleben als Seele und Energie, und das

94
genau ist Fenrir; also werden die Toten zu Fenrir, hier ganz germanisch
als Verschlungenwerden vom Rachen des Wolfes dargestellt.
Fenrir ist auch am Weltuntergang beteiligt. Wenn sich Midgard
langsam im Rachen Fenrirs auflöst, also die Energie des Stoffes und der
Lebewesen sich ins Plasma zurückzieht und dadurch die stoffliche
Hülle verfällt, wird die Sonne im folgenden Sommer schwarz, Unwet-
ter wüten, die Welt löst sich auf, das heißt Stoff und Energie trennen
sich; die Energie geht in die Fenrirdimension, Stoff verfällt.

Eggdir, der Wächter Hels

34
Dort saß auf dem Hügel
und schlug die Harfe
der Riesin Hüter,
der heitre Eggdir;
es krähte bei ihm
im Kiefernbusch
der feuerrote Hahn,
der Fjalar heißt.

Der Höllenwächter Eggdir hält in Muspellheim an der Grenze zwi-


schen Hel und Asgard Wache. Sein roter Hahn Fjalar (rot für das Feuer
Muspellheims) kräht wie alle Hähne, wenn Gefahr von Asgard droht.
Die verschiedenen in der Edda erwähnten Hähne verweisen immer auf
Eggdir. Er soll auf seiner Harfe spielend die Riesin Angrboda - hier das
Symbol des Plasmas schlechthin -, die Mutter des Fenrir, hüten. Die
Erwähnung des Hahns und des Wächters verweist auf die »Kriegs-
stimmung«, in der sich die Riesen befinden. So wie Heimdall auf der
Seite Asgards wacht, so Eggdir auf der Seite Hels.

Hähne als Wächter

35
Doch Güldenkamm
bei den Göttern kräht:
er weckt die Helden
bei Heervater;

95
unter der Erde
ein anderer kräht,
in Hels Halle,
ein braunroter Hahn.

Jetzt wird klar: Es geht um Ragnarök, den endgültigen Weltenunter-


gang. Eggdir hält offenbar die Mutter Fenrirs im Zaum, aber nur so
lange, wie er auf der Harfe zu spielen versteht. Wenn aber als Warn-
zeichen der Hahn kräht, dann beginnt der Krieg gegen die Asen.
Angrboda und alle Riesen und Riesengesetze wie Fenrir brechen dann
los. Eggdir erfüllt seine Wächterfunktion, er spielt die Harfe zum
Kriegsauftakt, so wie Heimdall auf der anderen Seite in sein Gjallar-
horn bläst: Urtöne des Weltpulsschlags!

96
Im Gleichklang damit kräht auch in Walhall ein Wächterhahn,
Güldenkamm. Er weckt die Helden, die beim Ragnarök auf der Seite
der Asen gegen die Riesen kämpfen. Wie allerdings die Seelen ver-
storbener Menschen, die im Plasma Wallhalls leben, Asgard verteidi-
gen sollen, jene Dimension, die sie ob ihrer Kriegslust nicht erreicht
haben, ist mir ein Rätsel. Vielleicht handelt es sich aber nur um die
ewige germanische Zwangsüberhöhung der Helden, die nachträglich
in die Edda eingestrickt wurde.
Weiter kräht ein dritter Hahn unter der Erde, der braunrote in Hels
Halle, oder ist damit Fjalar gemeint?
Vier Wächterhähne nennt die germanische Weltlehre also: in Wal-
hall Gullinkambi, »Goldkamm«, er weckt die Einherjer; in Muspell-
heim Fjalar, ein feuerroter Hahn; in Hel (im Weltenbaum Mimameid)
der golden leuchtende Widofnir (Fjölswinnlied), er sitzt in der obers-
ten Krone im Baum des Riesen Mimir, und in Hel ein rußbrauner
Hahn(?).
Der Hahn kräht bei Sonnenaufgang und weckt uns. Er ist der
Vogel des Sonnenaufgangs, der die Nacht vertreibt. Zudem ver-
scheucht der Hahn - wie in vielen Volksliedern und Geschichten be-
schrieben - rechtzeitig den verstorbenen Gespenstergatten und Lieb-
haber, der nachts das Bett mit seiner Frau teilte. Der Hahn vertreibt
also auch die Toten aus der Welt der Menschen. Die Redewendung
»jemandem den roten Hahn aufs Dach setzen« bedeutet, eine Feuer-
brunst zu legen.

Der Wachhund Garm, Lokis und Fenrirs Entfesselung

36
Gellend heult Garm
vor Gnipahellir:
es reißt die Fessel,
es rennt der Wolf.
Vieles weiß ich,
Fernes schau ich:
der Rater Schicksal,
der Schlachtgötter Sturz.

Während die Hähne krähen, die Wächter Horn und Harfe erklingen
lassen, heult Garm auf vor Gnipahellir (»überhängende Höhle« = Hel,

97
Hölle); der Höllenhund reißt sich von seiner Fessel los, um mit den an-
deren in Asgard einzufallen. Viele Weltlehren kennen Höllenhunde.
Es sind Hunde, die den Eingang zu Hel bewachen. (Im alten Ägypten
war der schwarze Hund Anubis gar oberster Herrscher des Duat, un-
seres Niflheims.) Ich deute dieses Gesetz Hels an anderer Stelle; hier
sei nur gesagt, dass auch Garm eine Wächterfigur ist. Er passt auf, dass
nur wirklich verstorbene Menschen nach Hel kommen.
Auch Loki und Fenrir, die gefesselt nur auf diesen Tag gewartet ha-
ben, reißen sich los. An dieser Stelle ist es angebracht, etwas über die
Fesselung zu sagen. Das Plasma entstand aus Asgard heraus, musste
aber irgendwie gestützt werden, damit es sich nicht jederzeit wieder in
Asgard hinein auflöste, daher - so meine erste Deutung - die Fesselung
Lokis und Fenrirs, damit sie nicht vor dem festgelegten Weltende in
Asgard »einfallen«. Ich vermute in der Fesselung eine kosmologisch-
physikalische Einrichtung. Garm, Loki und Fenrir stürzen los, das
heißt, sie lösen sich in Richtung Asgard auf. Aber zuvor muss sich Mid-
gard in Hel aufgelöst haben. Die Auflösung Midgards wird nur ange-
deutet: »schwarze Sonne, Wetter wüten«. Mit der Geschichte von der
Fesslung wird also auf die Verdichtung und Festigung des Plasmas
nach seiner Geburt aus dem Geist hingewiesen.
Eine zweite Deutung des Wolfes sieht wie folgt aus: Er wurde in
Asgard aufgezogen und von Odin nach Hel verbannt, was nach der
Weltlehre nichts anderes heißt als: aus der Geistdimension formt sich
die Heidimension. Dass er dort gefesselt wird, verweist auf die Anlage
von Hei, wo wir durch unsere Gefühle und Begierden gefesselt sind.
»Aus Fenrirs Mund tropft nie versiegender Speichel« wird in einer
anderen Geschichte erwähnt - ein entsprechendes Schicksal wie sein
Vater Loki, der im Plasma gefesselt »aus seinem Mund Speichel«
absonderte, woraus sich der Fluss Wan (»Hoffnung« oder »Wahn«?),
ein Höllenfluss bildet. Fenrir und sein Speichel verweisen also darauf,
dass wir uns in Hel befinden, mit Helgesetzen, Wolfsnatur und
Wasser konfrontiert sind. Wan ist ein Eliwagar-Fluss, er ist eiskalt;
deshalb heißt es bezüglich Ragnarök, wenn Fenrir freikommt: »dun-
kle, eiskalte Wolfszeit bricht an«. Speichel, Wasser, Flüsse und Eis sind
Synonyme für negative Emotionen und für die Energie der Seele. Die
Plasmawesen sind gefesselt von ihren eigenen unguten Leidenschaf-
ten.
Die Seherin sieht den Sturz der Schlachtgötter voraus, denn auch
Asgard wird untergehen, das heißt sich beim Weltenrückzug auflösen.

98
Die Auflösung Midgards

37
Brüder kämpfen
und bringen sich Tod,
Brudersöhne
brechen die Sippe;
arg ist die Welt,
Ehebruch furchtbar,
Schwertzeit, Beilzeit,
Schilde bersten,
Windzeit,Wolfszeit,
bis die Welt vergeht -
nicht einer will
des andern schonen.

Diese Strophe schildert die Vewirrung der Menschen vor dem Schick-
salsschlag. Chaos, Krieg, Mord, »Schwertzeit, Beilzeit«. Midgard, die
Stoffwelt und die Menschen sterben, das heißt, sie überleben nur als
Energie, sie werden somit das, was sie ohnehin immer sind, jetzt aber
befreit vom Stofflichen: Plasma. Sie werden Wind (Seelen wohnen in
Hel im Unterbereich Windheim), sie werden zum Wolf (Fenrir,
Plasma), also: »Windzeit, Wolfzeit, bis die Welt vergeht«.

Untergangsstimmung bei Asen und Alben -


Heimdali und Mimir

38
Es gärt bei den Riesen;
des Gjallarhorns,
des alten, Klang
kündet das Ende.
Hell bläst Heimdall,
das H o r n ragt auf;
Odin murmelt
mit Mimirs Haupt.

«Es gärt bei den Riesen«, daher lässt der Wächter an Asgards Grenze
zu Hel, Heimdall, sein Gjallarhorn (»das laut klingende Horn«) er-

99
schallen und warnt die Asen vor dem Angriff. Während dieser Auf-
bruchstimmung befragt Odin das Haupt Mimirs über den Ausgang der
Schlacht und das Weltende. Das Haupt des weisen Riesen Mimir (ein
mit Odin befreundeter Riese) war, wie bereits erwähnt, von den Wa-
nen einst abgehauen und Odin zugeschickt worden; dieser balsamierte
es ein und benutzt es als Wahrsagekopf. Mimir als Riese ist Ausdruck
des Plasmas, über diesen Kopf erhält Odin alles Wissen über diese
seine Unterwelt.

Der Weltenbaum erzittert - Surts Feuer bricht aus

39
Yggdrasils Stamm
steht erzitternd,
es rauscht der Baumgreis;
der Riese kommt los.
Alles erbebt
in der Unterwelt,
bis der Bruder Surts
den Baum verschlingt.

Ragnarök ist die Auflösung der drei Dimensionen, von den Nordger-
manen als Krone, Stamm und Wurzeln des Weltenbaums dargestellt.
Statt von der Weltauflösung spricht man hier viel poetischer vom
Baum, der ins Wanken kommt. Es heißt: »Yggdrasils Stamm steht er-
zitternd, es rauscht der Baumgreis, der Riese kommt los.« Mit dem
Riesen ist der gefesselte Loki, das Plasma, gemeint.
Die Unterwelt Hel erbebt. Der »Bruder« des Feuerriesen Surt, also
das plasmatische Feuer, verschlingt den Baum, das heißt, Hel löst sich
durch Feuer auf; Plasma fällt in Asgard hinein, was hier als kriegeri-
scher Einfall der Riesen nach Asgard dargestellt wird. Doch Krieg ist
hier das Wort für Entwicklung! Surt (»der Schwarze«) ist ein Feuer-
riese aus Ökolnir, einer Feuerregion Muspellheims. Man spricht auch
von Surts Brand, dem Weltenbrand, der alles vernichtet. Er besitzt lo-
gischerweise ein flammendes Schwert. Surt ist es, der die Riesen an-
führt, er zieht als Erster los, und hinter ihm breitet sich sein brennend
heißes Feuermeer aus.
Vermutlich muss aber unterschieden werden zwischen der Feuer-
brunst in Muspellheim und dem Weltbrand, der nur beim Untergang

100
Midgards stattfindet. Die Germanen kannten als Gesetz der Vernich-
tung der Erde den Weltbrand und den Fimbulwinter, den drei Jahre
liegen bleibenden Schnee, der alles unter sich begräbt. Weltbrand und
Fimbulwinter beziehen sich meines Erachtens aber auch auf geschicht-
liche Notlagen, nicht nur auf den für Menschen nicht erfahrbaren
Ragnarök. Man spricht auch von Muspille, großer Hitze.
Nach dem Weltenbrand im Plasma bleibt nichts übrig außer der
höchste Teil Asgards, der Keim aller Welten: Gimle. Nach der Ent-
wicklung, in der aus Asgard die Heidimension und aus dieser Midgard
hervorgegangen ist, findet nun eine Rückwärtsentwicklung statt, eine
Dimension löst sich in der anderen auf. Pulsschlag der Dimension mit
all ihren Weltallen, Geburt und Tod im Großformat!

Asen, Alben und Zwerge harren auf ihr Verderben

40
Was gibt's bei den Asen?
Was gibt's bei den Alben?
Riesenheim rast;
beim Rat sind die Götter.
Vor Steintoren
stöhnen Zwerge,
die Weisen der Felswand -
wisst ihr noch mehr?

Mit Alben sind die Riesen gemeint, das ist eindeutig. Kriegsvorberei-
tung, Weltuntergangsstimmung: »Riesenheim rast«. Der berühmte
Riesenzorn macht sich breit, denn Zorn, sprich Begierden sind eine Ei-
genschaft der Riesen, ein Zustand der Hölle. Ganz im Gegensatz zu
den Riesen heißt es zu den Asen: »beim Rat sind die Götter«; offenbar
besteht ihre Kriegsvorbereitung in einer eher sachlichen Kampfpla-
nung, was ihnen auch angemessen erscheint.
«Vor Steintoren stöhnen Zwerge, die Weisen der Felswand« - was
ist damit gemeint? Zwerge sind Bewohner von Hel. Hel wird oft als
Gebirge dargestellt (vergleiche Bergriesen), weil die Seele, das Riesige,
das Erhabene und über dem Stofflichen Liegende ist. Zwerge sind auch
die Wichte, die »Bösewichte«, weil die Seele viel Böses plant. Die Zwer-
ge sind andererseits weise, was die Seele anbelangt. Sie »stöhnen« viel-
leicht, weil sie vor den Toren Hels (vergleiche die Ableitung »Tor« als

101
»der Tor, Dummkopf, Narr«; Hel als Reich der Gefühlstoren; siehe
Seite 213) auf den Angriff und ihr Ende warten.

41
(Wiederholung von Strophe 36)

Das Totenschiff Nagelfar

42
Hrym fährt von Osten,
er hebt den Schild;
im Riesenzorn
rast die Schlange.
Sie schlägt die Wellen;
es schreit der Aar,
Leichen reißt er;
los kommt Nagelfar.

Hrym, ein Reifriese, hebt nun seinen Schild im Riesenzorn - Riesen


sind immer zornig, voller Leidenschaft, so ist die Stimmung in Hei ins-
gesamt - und gibt damit das Zeichen zum Angriff. Zuvor hat er mit sei-
nen Scharen auf dem Schiff Nagelfar - das, durch den hohen Wogen-
gang flottgemacht, wohl vom Leichenstrand »Naströnd« herkom-
mend über die Plasmadimension oder die Totenflüsse - übergesetzt
und ist dann an den Gestaden Asgards gelandet, vermudich auf dem
Feld Wigrid, dem »Feld des Kampfes«, in der Nähe Walhalls, wo die
letzte Schlacht ausgefochten wird. Das Schiff Nagelfar verursacht
große Wellen, womit vielleicht die Zerstörung der Welt durch Wasser
(Plasma) angedeutet wird. Dieses Schiff ist, wie der Name »Nagel« be-
reits sagt, mit Nägeln gezimmert worden, und zwar - eine furchtbare
Vorstellung - mit den Nägeln der Toten. Es kommt also aus dem To-
tenreich Hel und ist gebaut aus dem, was von den Toten übrig bleibt,
ihren Nägeln; aber es kann auch eine stoffliche Entsprechung für das,
was wirklich nach dem Tod von uns übrig bleibt, nämlich die Seele sein,
und in der Tat ist es so. Der Seelenstoff, aus dem die Riesengesetze be-
stehen, wälzt sich sich auflösend gegen den reinen Geist. Es handelt
sich um einen Dimensionsumbruch, den Zusammensturz einer Di-
mension, gegen den der Zusammensturz eines stofflichen Planeten nur
ein ferner Nachhall ist. Dieses Totenschiff war wie Fenrir und Loki

102
festgebunden, das heißt verankert im Plasma, es ist Plasma, wird aber
nun von der Midgardschlange, also dem Plasma selbst, losgerissen. Der
Steuermann, das überrascht uns nicht mehr, ist Loki, der sich nun end-
lich ganz auf die Seite der Riesen gestellt und sich zu seiner wahren Na-
tur bekannt hat. Er nimmt alle Muspellssöhne, also die Feuerriesen aus
Muspellheim und die Reifriesen aus Niflheim auf, gen Asgard geht's,
genauer gesagt: Das Plasma löst sich wie Salz in Wasser in Asgard auf,
was in der Tat eine Art alchimistischer Krieg ist. Das Totenschiff stellt
hier nichts anderes als das Plasma als Ganzes dar, das sich los- und auf-
löst und in seinen Ursprung, Asgard, hineinfällt und -fährt.
Nach dem Volksglauben wird das Totenschiff verstärkt, wenn man
einem Verstorbenen die Nägel nicht schneidet, bzw. man soll sie nicht
schneiden, um die Ankunft von Nagelfar und damit das Weltende hin-
auszuzögern. Das Totenschiff versinnbildlicht die Reise der Toten
durch die Unterwelt des superflüssigen Plasmas. Manchmal wurden die
Toten in ihrem Schiff verbrannt - das Schiff als Scheiterhaufen. Schiffs-
bestattung entsprach den Germanen nicht nur, weil sie Küstenbewoh-
ner waren, sondern weil das Totenreich jenseits des Meeres als Meer ge-
sehen wurde; dort lebte man als Seele (saiwa-lo = »zum See gehörig«).
Meineidige jedoch gerieten nach dem Tod an den Leichenstrand Na-
strönd, der aus Schlangenleibern besteht und mit Gift berieselt wird.
Auch die Midgardschlange rast, denn ihr Element, das Wasser,
macht offenbar eine Verwandlung durch, es löst sich auf.
Über all dem schreit der Aar, der Adler, Leichen reißt er, heißt es.
Ist damit Odin gemeint?

43
Der Kiel fährt von Osten:
es kommen Muspells
Leute zum Land;
Loki steuert.
Mit dem Wolfe zieht
die wilde Schar;
Byleipts Bruder
bringen sie mit.

Loki, bzw. dieser in der Gestalt des Wolfes Fenrir, und Byleipt, »Don-
nerblitz« (eine Doppelbezeichnung für Loki, beziehungsweise seinen
Bruder), sind die Anführer. Das Schiff Nagelfar kommt von Osten aus
dem wässrigen Niflheim, Muspells Feurerriesen ziehen von Süden

103
heran: Die beiden polaren Zustände des Plasmas vereinigen sich also.
Die Angabe von Himmelsrichtungen im Totenreich ist natürlich rein
sinnbildlich zu verstehen. Unklar ist ja, wie das duale Plasma, Wasser
und Feuer, verteilt ist und ob nun das Feuer oder das Wasser an Asgard
grenzt. Da Feuer ein feinerer Zustand als Wasser ist, wäre anzunehmen,
dass das Feuerreich Hels dem Geist und Wasser dem Stoff näher liegt,
aber es kann sich auch, und das wohl eher, um eine Art »Feuerwasser«
handeln, also einen Zustand, der weder dieses noch jenes ist, einen Zu-
stand jenseits von Feuer und Wasser, was ich Plasma nenne, womit sich
die Standortbestimmung von Muspell und Niflheim erübrigt.

Schlachtgetümmel und Zweikämpfe

44
Surt zieht von Süden
mit sengender Glut;
von der Götter Schwert
gleißt die Sonne.
Riesinnen fallen,
Felsen brechen;
zur Hel ziehn Männer,
der Himmel birst.

Surt, der Feuerriese, die Verkörperung des Plasmafeuers, zieht von Sü-
den (Muspell liegt im Süden, Niflheim im Norden oder Osten) gegen
Asgard los. Bei diesem Krieg, der keiner ist, fallen notgedrungen alle
Riesen, denn gewinnen können sie nicht gegen die höhere Dimension;
sie lösen sich auf in Asgard, aber auch dieses wird dabei zerstört, nur
der höchste Teil Asgards, Gimle, der Keim aller Welten, bleibt erhal-
ten. Oft wurde es so hingestellt, als seien die Riesen stärker als die
Asen, doch davon wird in der Edda nichts berichtet. Alle Riesen fallen;
wie groß auch ihr Riesenzorn sein mag, er bleibt bloße eingebildete
Leidenschaft; der eher kühle Asenzorn ist mächtiger. Nicht nur die
Riesen fallen, ihre ganze Dimension erlischt, »Felsen brechen«, heißt
es. Auch Asgard zerfällt, »der Himmel birst«.
Der Satz »zur Hel ziehn Männer« könnte sich auf die Einherjer, die
gefallenen Helden beziehen. Da auch die Erde untergeht und dabei
Krieg herrscht, sterben Männer; sie ziehen nach Walhall (Val-hall, die
»Halle der auf der Walstatt Gefallenen«).

104
Fenrir verschlingt Odin

45
Dann naht neue
N o t der Göttin,
wenn wider den Wolf
Walvater zieht
und gegen Surt
der sonnige Freyr:
fallen muss da
Friggs Geliebter.

Nun reiben sich in Zweikämpfen die Krieger, die Dimensionsgesetze,


gegeneinander auf. Odin, der Walvater, wird vom Fenrirwolf, dem
Plasma in Person, verschlungen; mit Odins Tod ist der Geist bereits
vernichtet. Surt und Freyr erschlagen sich gegenseitig. Dass Odin
selbst verschlungen wird, kommt überraschend, ist er doch Allvater
und alles und findet die Schlacht und Weltenauflösung letztlich doch
nur in ihm selbst statt — die Weltauflösung ist eigentlich eine
Verwandlung und Häutung in ihm selbst. Übrig bleibt Gimle, ein
unpersönlicher Zustand, woraus sich später ein neuer Drei-Di-
mensionen-Kosmos entfalten wird, und dieser Pulsschlag von Ent-
wicklung und Rückentwicklung atmet bis in alle Ewigkeit. Dennoch
verwirrt uns Odins Tod, eigentlich kann er - per Gesetz unsterblich -
nicht sterben, und dass er in diesem Krieg fällt, widerspricht seinen
sonstigen Eigenschaften. Ist das Odin-Gesetz also doch nicht die letzte
Wirklichkeit?
N o t naht der Göttin Frigg, der Gemahlin Odins, weil ihr Mann
sterben wird.

Widar t ö t e t Fenrir

46
Der starke Sohn
Siegvaters kommt,
Widar, zum Kampf
mit dem Waltiere:
es stößt seine Hand
den Stahl ins Herz

105
dem Riesensohn;
so rächt er Odin.

Odin, der Vater aller Siege, wird von seinem Sohn Widar gerächt, die-
ser tötet das Waltier, den Fenrirwolf. Dieser Sohn Odins überlebt Ra-
gnarök mit dem anderen Sohn Wali in Gimle. Wird Odins Tod vorge-
führt, weil das alte Asgard und mit ihm Odin sich erneuern muss? Die
neue Personifikation des »Alles ist in allem« wird dann vermutlich
Wali oder Widar heißen. Widar wohnt übrigens nicht in Asgard, son-
dern in einem Waldgestrüpp, was auf eine gewisse plasmatische U r -
wüchsigkeit hindeutet und darauf, dass er ein Sohn aus Riesenheim ist,
was dadurch bestätigt wird, dass seine Mutter die Riesin Grid ist. Nach
anderen Quellen gilt er als schweigsam, soll im Dreck am heimischen
Herd oder verblödet im Gehölz der Heide Widi leben; Umgang mit
anderen Asen besitzt er nicht. Nach Snorri soll er noch einen Eisen-
schuh besitzen. Widar, Witheri ist ein Beiwort Wotans; Witheri heißt
»der weithin Heerende«. Dass ein Halbriese Ragnarök überlebt, ist
schwer vorstellbar, denn das Plasma kann in keiner Weise überleben;
oder soll damit ausgedrückt werden, dass mit Widar der Samen des
Plasmas, das Riesige schlechthin, nach dem Ragnarök in Keimform er-
halten bleibt? Wie ein Halbriese Odin rächen kann, verwundert
ebenso. Auf alle Fälle überlebt Odin in seinen Söhnen.

Thor g e g e n die Midgardschlange

47
Der hehre Spross
der Hlodyn naht.
Der Land Gürtel
gähnt zum Himmel:
Gluten sprüht er,
und Gift speit er;
entgegen geht
der Gott dem Wurm.

Thor, »laut tönend«, der hehre Sohn der Riesin Hlodyn (Fjörgyn,
Jarnsaxa oder Jörd), gilt als der Beschützer der Menschen und Mid-
gards. Er zog immer nach Osten, nach Niflheim, um Trolle, also Rie-
sen oder Thursen, zu erschlagen. Darin besteht seine eigentliche

106
Tätigkeit. Er erschlug sie mit seinem gefürchteten Hammer - dieser
Hammer war der am meisten getragene Talisman der Nordländer.
Warum er das tat, wird nie so recht klar; er will damit, wie gelegentlich
anklingt, die Zahl der Riesen, die immer weiter anwächst, verringern
oder sie in ihre Schranken weisen, damit sie nicht nach Midgard ein-
fallen. Aber er bekämpft - obwohl selbst nur Riese, als Abgesandter As-
gards, gar als Gott verehrt - nicht nur einzelne Riesen, das wäre zu
langwierig, er führt in der Endschlacht den Kampf gegen das Plasma-
gesetz an sich in Gestalt der Midgardschlange, einer der vielen Dop-
pelbedeutungen Hels. Die Schlange, hier mit dem Kenning »der
Lande Gürtel« bezeichnet, »sprüht Gluten, speit Gift«, doch unbeirrt
geht T h o r der ungeheuerlichen Dimension entgegen - in Form von
Thor trifft die Plasmadimension jetzt auf sich selbst und vernichtet
sich selbst.

48
Der Erde Schirmer
schlägt voll Zorn -
die Menschen müssen
Midgard räumen -;
weg geht wankend
vom W u r m neun Schritt,
der Gefecht nicht floh,
der Fjörgyn Sohn.

Thor - sein Kenning ist »der Erde Schirmer«, denn er schirmt Mid-
gard vor den Riesen ab - erschlägt den Wurm voll Zorn, ein erneuter
Hinweis, dass er ein Riese ist, denn Riesen leiden unter Riesenzorn.
Die nächste Zeile erstaunt, denn kaum ist die Plasmadimension in Ge-
stalt des Untergangs der Midgardschlange ins Wanken gekommen,
heißt es, »die Menschen müssen Midgard räumen«. Warum müssen
die Menschen Midgard aufgeben, wenn ihre energetische Grundlage,
das Plasma, sich auflöst? Eben weil es ihre Grundlage ist! Thor, Sohn
der Fjörgyn - ein anderer Name für seine Mutter Jörd, die Erde -, tau-
melt neun Schritte zurück von diesem Kampf. Neun ist die heiligste
Zahl der Germanen, weil sie sich aus dreimal drei ergibt, drei die drei
Welten verkörpert und es keine größere Erkenntnis als die der Welt-
triade gibt. Deutet »taumeln« an, dass T h o r im Nachhinein dem
Kampf erliegt? Auf jeden Fall überlebt T h o r den Ragnarök nicht.

107
Untergang der Erde

49
Die Sonne verlischt,
das Land sinkt ins Meer;
vom Himmel stürzen
die heitern Sterne.
Lohe umtost
den Lebensnährer;
hohe Hitze
steigt himmelan.

Die Stoffwelt - dargestellt am Beispiel der Erde - geht unter. Es folgt


der berühmte poetische Satz: »Die Sonne verlischt, das Land sinkt ins
Meer; vom Himmel stürzen die heitern Sterne.«
Das stoffliche Weltall löst sich im Plasma auf, im zweiten Schritt des
Ragnarök stürzt das Plasma mit seinen Bewohnern, den Riesen und
Zwergen, nach Asgard hinein. Odin, der Lebensnährer, wird umtost
von der Feuerlohe und der Hitze Muspellheims. Wichtig ist uns, dass
das Plasma hier als Feuer dargestellt wird, womit sicherlich nicht der in
Midgard züngelnde Weltbrand gemeint ist, auch wenn ein solcher sich
dort entfacht. Es heißt, »hohe Hitze steigt himmelan«, also vom Plasma
nach Asgard oder vielleicht auch von der Erde zum stofflichen Himmel.

Hund und Wolf entfesseln sich

50
Gellend heult Garm
vor Gnipahellir:
es reißt die Fessel,
es rennt der Wolf.
Vieles weiß ich,
Fernes schau ich:
der Rater Schicksal,
der Schlachtgötter Sturz.

Das Plasma löst sich auf: »es reißt die Fessel, es rennt der Wolf« Fenrir.
Auch der Höllenhund Garm heult, entweder weil er untergeht oder
weil er vorwärts nach Asgard jagt. So erfüllt sich das Schicksal, der fest-

108
Asgard Hel
der Schlachtgötter Sturz, der Rater Schicksal der Untergang Riesenheims

Wigrid (Feld der F e h d e )

Einherjer ziehen nach Hel


Odin wird verschlungen von Fenrir
Widar tötet Fenrir
Frey schlagen sich gegenseitig Surt
Thor töten sich gegenseitig Midgardschlange
Heimdall töten sich gegenseitig Eggdir

Garm h e u l t Yggdrasil erzittert, rauscht


Z w e r g e s t ö h n e n vor S t e i n t o r e n Unterwelt erbebt
Aar s c h r e i t Riesenheim rast
D e s Wolfs F e s s e l birst Fesseln von Loki reißen
H e i m d a l l s Gjallarhorn e r s c h a l l t Riesenzorn
Eggdirs H a r f e s p i e l t Himmel birst
H ä h n e krähen: Gullinkambi Nidhögg, der Drache, versinkt
in Asgard, Fjalar in Hel

R i e s e Hrym h e b t Schild Nagelfar kommt los von Osten


D e s W o l f s wilde S c h a r z i e h t l o s Von Süden sengende Glut Surts
M i d g a r d s c h l a n g e s c h l ä g t Wellen Männer ziehen zur Hel
Totenseelen gehen los Menschen räumen Midgard
Aar f r i s s t L e i c h e n Sonne verlischt, Meer versinkt
Riesinnen fallen, Felsen Vom Himmel stürzen die Sterne
brechen Hohe Hitze steigt himmelan

Totenschiff
a u s d e n N ä g e l n d e r Toten g e z i m m e r t ,
k o m m t l o s v o n N a s t r ö n d ( L e i c h e n s t r a n d ) . Loki s t e u e r t .

Asgard Hel Midgard

Garm
Loki Menschen
Asen Wolf räumen
Nagelfar Midgard
Riesen, Zwerge
Totenseelen

R a g n a r ö k . Schlachtgetümmel: Die Zweikämpfe.

109
gelegte Lauf der Ordnung, des Rückzugs der Welten ineinander. Der
Schlachtgötter Sturz (Asen, die die Gefallenen auswählen) ist voraus-
bestimmt.

Der Pulsschlag der Welten

Was uns hier vorgeführt wird, ist eine Weltentstehungslehre. Alle al-
ten Kulturen gingen von einer Pulsation der Welten aus. Platon
glaubte an einen in regelmäßigen Abständen wiederkehrenden Wel-
tenuntergang, Nietzsche sprach von der »Wiederkehr des Immerglei-
chen«. Bei den Germanen entfaltete sich das Dasein aus einem Samen,
Gimle genannt, reines Sein ohne Zutaten und Zustände, das All-Eine,
das alles in sich enthält. Daraus entwickelte sich Bewegung, Energie,
das Plasma, Hel. Bewegung ist immer Energie. Die Bewegung verkör-
pert sich in Riesen und Zwergen. Die Energieverdichtung setzt sich so-
gar über einen toten Punkt hinaus fort und formt Stoff. Damit gab es
drei Dimensionen, die aus Gimle oder dem Idafeld hervorgingen: As-
gard, Hel und Midgard.
Parallelen zur zeitgenössischen Kosmologie sind unübersehbar: aus
dem Nichts formte sich Plasma, aus diesem die Materie.
Die Riesen und Zwerge sind einerseits Gesetze der Plasmadimen-
sion, andererseits wohl auch individuelle Wesen. Sie bestehen allein
aus einem Energieozean, besitzen aber persönlichkeitsgebundene Ei-
genheiten und eine Seele. Die Seele drückt sich als Denken und Fühlen
aus, und wenn diese Seelen ohne Körper sind, scheinen sie zu leben wie
Menschen, nur dass ihre Tätigkeit rein erdachter, rein erfühlter Natur
ist. Was sie denken und sich vorstellen, wird sogleich erdichtete seeli-
sche Wirklichkeit; kaum sind die innerlich erzeugten Bilder gedacht,
stehen sie schon handfest vor ihnen, sind aber wohl auch für andere
Energiewesen sichtbar und erfahrbar. Gehandelt und gearbeitet wird
auf der Energieebene mit Bildern, Ideen, die dann auch eine persönli-
che Wirklichkeit annehmen. Hergestellt werden »seelische Gegen-
stände aus Gold«, also aus Glanz und Licht. Licht ist Energie! Mittels
dieser Energien werden energetische Urformen geschaffen, die später
als Hohlform für die stofflichen Dinge und auch die Menschen dienen.
Die Zwerge sind nicht - wie bisweilen einfältig angenommen - ir-
gendwelche Kräfte hinter der Natur, sondern individuelle Kräfte des
Plasmas. Menschen sind Abkömmlinge von Zwergen. Daher meine
Sequenz: Geist, Energie, Natur!

110
Erst nachdem Midgard geschaffen wurde und wohl schon lange
Zeit bestand, kommt es zur Menschenschöpfung. Der Antrieb dazu
geht offenbar von den Geistgöttern aus, tatsächlich ausführen aber tun
ihn die Zwerge.
Wie aber kommt es einerseits zur Entstehung von Stoff, anderer-
seits zur Entstehung von Lebewesen, die sowohl aus einem Körper als
auch einer energetischen Seele bestehen? Darüber erfahren wir nichts
in der Edda. Bei der Menschenschöpfung wirken zum einen der Geist
in Gestalt von Göttergesetzen mit, zum anderen Riesengesetze und an
dritter Stelle Stoffliches wie Holz. Diese drei Zustände werden ver-
bunden zum Menschen.

Neugeburt der drei Welten

51
Seh aufsteigen
zum andern Male
Land aus Fluten,
frisch ergrünend:
Fälle schäumen;
es schwebt der Aar,
der auf dem Felsen
Fische weidet.

Die Schlacht ist geschlagen, der Krieg hat ein Ende, es gibt kein Mid-
gard, kein Nifl- und Muspellheim mehr. Die Riesen sind tot und auch
die Götter. Wieder einmal hat ein Weltenrückzug stattgefunden. Ra-
gna rök, von rekja, »aufwickeln«, verweist auf das Aufwickeln dessen,
was sich einmal ent-wickelt hatte, nämlich die drei Welten; jetzt zie-
hen sie sich ineinander zurück. Doch etwas überlebt. N u n wird der Zu-
stand nach dem Ragnarök beschrieben. Unvermittelt heißt es: »Seh
aufsteigen zum andern Male Land aus Fluten«. Neues Leben blüht auf
in Midgard, was bedeutet, dass nach dem Ragnarök gleich wieder die
Entwicklung einer neuen Welt beginnt. Ein schwärmerischer Blick in
die Zukunft wird gewagt: Wasserfälle schäumen, der Adler fängt Fi-
sche.

111
Überleben auf dem Idafeld

52
Auf dem Idafeld
die Asen sich finden
und reden dort
vom riesigen Wurm
und denken da
der großen Dinge
und alten Runen
des Raterfürsten.

Alles ist untergegangen, doch überleben im unzerstörbaren Gimle, der


Quelle aller Welten, Wesen. Was überlebt, ist das Idafeld, offenbar
eine Art Keimzelle aller Welten. Hier treffen sich alle überlebenden
Gesetze, und zwar aus jeder der drei Welten einige Vertreter. »Auf dem
Idafeld die Asen sich finden und reden dort vom riesigen W u r m und
denken da der großen Dinge.« Als ob nichts geschehen sei, erinnern
sich die Überlebenden der vergangenen Welten, der Midgardschlange
Qörmungandr) und der großen Taten der Götter und Riesen. Asgard
scheint also noch zu bestehen, jedoch nur in Gestalt des übrig geblie-
benen Idafelds; hier berieten sich einst die Asen, jetzt sitzt dort eine
Handvoll Uberlebende, die die »Samenbank« für die neuen Dimen-
sionen darstellen. Sie gedenken Odins, des Raterfürsten, und der alten
Runen, also der Weisheiten Asgards, des geistigen Wissens, das alle
Welten erzeugt hat. Eine wehmütige Stimmung liegt über dem Idafeld.
Idafeld wird übersetzt als »glänzende Ebene« oder »Feld der Be-
triebsamkeit« oder als »sich fortwährend erneuerndes, verjüngendes
Feld«, auch angelsächsisch id = »wieder« im Sinne von »wieder ver-
sammeln sich die Götter«. N u r Gimle ist vom Ragnarök verschont ge-
blieben, also müsste dort das Idafeld sein; andererseits klingt es so, als
sei das Idafeld eine Plasmaregion. Wie dem auch sei, es sollte nach Ge-
setz ein rein geistiges Feld sein. Aber es werden keine weiterführenden
Angaben gemacht.

Die goldenen Tafeln

53
Wieder werden

112
die wundersamen
goldnen Tafeln
im Gras sich finden,
die vor Urtagen
ihr eigen waren.

Es werden sich die goldenen Tafeln im Gras wiederfinden, die in Ur-


tagen der jetzt zerstörten drei Welten Eigentum der Götter waren. Das
könnte heißen: Das alte Wissen über die Entstehung und Geburt der
zwei Folgewelten wird sich wiederfinden. Oder auch: Mit den golde-
nen Tafeln sind lediglich die Brettspiele der Götter gemeint, die gele-
gentlich erwähnt werden. Welche Art Brettspiele war das aber?

Hödur und Balder

54
Unbesät werden
Acker tragen;
Böses wird besser:
Balder kehrt heim;
Hödur und Balder
hausen im Sieghof,
froh, die Walgötter -
wisst ihr noch mehr?

Der neuen Welt wird mit viel Hoffnung entgegengesehen. »Unbesät


werden Acker tragen; Böses wird besser.« Der Lichtgott Balder, der ja
tot und in der Hölle war, kommt zurück und mit ihm sein blinder
Bruder Hödur oder Hönir, der ihn versehentlich auf Lokis Ränkespiel
hin erschossen hatte. Beide gehören zur illustren Schar der Überle-
benden. Warum ausgerechnet sie? Sie hausen gemeinsam mit Wili
(Wili ist identisch mit Hönir) und Widar im Sieghof, wohl dem Ida-
feld.

55
Den Loszweig heben
wird Hönir dann;
er birgt beider
Brüder Söhne

113
das weite Windheim -
wisst ihr noch mehr?

Über Hönir (alias Hödur und Wli), den blinden Gott, wissen wir wenig
Verständliches. Er hauchte den ersten Menschen Leben ein, wurde von
Loki getäuscht und tötete unbeabsichtigt Balder. Er gehört zu den Asen.
Balder und Hönir sind Söhne Odins. Und deren Söhne - so könnte
die schwierige Stelle versuchsweise gedeutet werden - leiten die neue

114
Welt ein. Der Sohn von Balder ist Forseti, von Hönir sind keine Nach-
kommen bekannt. Wozu der Loszweig? Der Loszweig dient zum
Wahrsagen dessen, was Segen und Glück bringt. Er berge die Nach-
kommen und er berge in sich auch Windheim, die Region der Seelen
in Hel. Wird damit angespielt darauf, dass, wie bereits gehabt, neue
Seelen geschaffen werden müssen aus dem Loszweig, dem Holz, dem
Baumstamm, so wie in der letzten Welt aus Holz die Menschen ge-
zeugt wurden? Diese Strophe widersetzt sich genauerer Enträtselung.

Gimle
Nach dem Untergang von Midgard, Hel und Asgard
bleibt nur Gimle, der Keim aller Welten erhalten

»Seh Land aus Fluten frisch ergrünen


Fälle schäumen
es schwebt der Aar»

Goldene Tafeln aus Urtagen finden sich im Gras


Unbesät tragen die Äcker

Auf dem Idafeld finden sich die Asen wieder und


gedenken der großen Dinge und alten Runen
d e s Raterfürsten

Die Ü b e r l e b e n d e n

Odins Odins Odins Thors Menschen


Geschwister Kinder Kinder mit Söhne
Riesinnen
Alte Welt

Neue Welt Modi Hönir Widar Will Lif


+ + + + +
Magni Balder Wali We Lifthrasir

Die Ü b e r l e b e n d e n des Ragnarök. Es überleben offenbar zehn göttliche Emanationen,


sie erschaffen die neuen Welten.

115
Gimte, der Samen aller Welten

56
Einen Saal seh ich
sonnenglänzend,
mit Gold gedeckt,
zu Gimle stehn:
wohnen werden
dort wackre Scharen,
der Freuden walten
in fernste Zeit.

Allein Gimle, der höchste Bereich, offenbar der Samen, in dem alle
drei Welten als Keime liegen, bleibt nach dem Ragnarök übrig. Der
goldgedeckte Saal kann nach Snorri Brimir oder das Lustschloss Sin-
dri auf dem Nidagebirge sein. Im Biersaal Brimir, der sich auf Okolnir,
»heißer Grund« oder »Unkühlheim«, erhebt, sollen nach dem Wel-
tenrückzug »wackere Scharen der Freude walten«, die Helden Wal-
halls nämlich, denn dort gibt es Met in Hülle und Fülle.
Gimle, »der vor Feuer geschützte Ort« (geschützt vor dem durch
den Untergang Hels erzeugten Weltbrand), ist ein himmlischer Ort.
Er soll im dritten Himmel Widblain, »Weitblau«, liegen, wohin der
Weltenbrand nicht gelangen kann, und soll von Lichtalben (lebend
dort in Lichtalbenheim) bewohnt sein. Dort sollen wackere Scharen le-
ben - damit sind wohl die Überlebenden gemeint.

Nidhögg, der Neiddrache

57
Der düstre Drach
tief drunten fliegt,
die schillernde Schlange,
aus Schluchtendunkel.
Er fliegt übers Feld;
im Fittich trägt
Nidhögg die Toten:
nun versinkt er.

116
Das Lied endet jählings mit einem schwer zu entziffernden Hinweis.
Nidhögg, der Neiddrache, der, wie ich es deutete, im Plasma, am Fuß
der Weltesche wohnt, saugt das stofflich gewordene Plasma (Materie)
im Gegensatz zum seelischen Plasma auf und verleibt es in seine Di-
mension ein. Midgard wird vom Plasma aufgesogen, Stoff wird ganz
subatomar. Dieser Drache versinkt nun selbst. Ich glaube nicht, dass
damit gemeint ist, der Drache habe bis zum Schluss überdauert, son-
dern eher, dass es eine visionäre Erinnerung an bereits Abgeschlosse-
nes, ein Echo aus der alten dreistufigen Welt ist.
Nidhögg, »der schadgierig Hauende«, verkörpert das Plasma-
gesetz; er saugt entweder entseelte Leiber aus oder kümmert sich um
die Totenseelen. Nidhögg ist der personifizierte Neid der Toten, der in
Hel besonders eindringlich zum Tragen kommt, da kein schützender
Körper mehr vorhanden ist. Nidhögg ist der nach dem Sterben übrig
gebliebene mentale Neid der Toten. Nidhögg ist unsere Plasmaseele.
Mit dieser gewaltigen Schau von Ragnarök endet der »Seherin Ge-
sicht«.

117
2. DAS WAFTHRUDNIRLIED
Weltesche, Weltwinter und das neue
Menschengeschlecht

Dieses Lied gehört zur Wissenswette, hier ausgetragen zwischen Odin


und dem Riesen Wafthrudnir. Die Spielregel lautet: Wer weniger weiß,
fällt dem Gutdünken des Gegners anheim. Bei der wechselseitigen Be-
fragung erfahren wir sehr viel über die Struktur des Riesenlandes, des
Plasmas. Odin stellt zwölf Fragen, vermutlich weil es zwölf Asen gibt.
Dann stellt er noch sechs weitere, die ein anderes Gebiet zum Thema
haben. Auch der Riese stellt sechs Fragen, insgesamt sind es also 24 -
aus 24 Zeichen besteht die ältere Runenreihe.

Odin prüft das Riesenland

1 Odin:
»Rate mir nun, Frigg,
da zur Fahrt mich's drängt
nach der Wohnung Wafthrudnirs!
Nach dem Urzeitwissen
des allweisen Riesen
nenn ich groß mein Begehr.«

Odin teilt seiner Gemahlin Frigg mit, er werde sich zur Wohnung des
allweisen Urzeitriesen Wafthrudnir begeben (Wafthrudnir bedeutet
»der im Verwickeln, im Rätseln Starke«), um ihn auszuhorchen. Es
fragt sich jedoch, warum Odin, der ohnehin alles weiß, diesen Riesen
prüfen will. Doch es scheint eine von Odins Lieblingstätigkeiten zu
sein, die Dimension unterhalb von ihm, die ja nichts anderes ist als er
selbst in »dimensional vergröberter« Gestalt, daraufhin zu prüfen, ob
sie sich seiner erinnere. Ist dies nicht der Fall, was zwangsläufig stets
so ist, denn jede neu entstandene Dimension vergisst naturgemäß

118
ihren Ursprungsort, muss sie sterben. Auch die Wesen einer Dimen-
sion vergessen ihren entwicklungsgeschichtlichen Hintergrund, das
heißt, die Riesen vergessen Asgard, das ihr Geburtsland war, bezie-
hungsweise Odin, der ihr Vater war, wodurch sie dem Tod anheim
fallen, was auch heißen könnte, zu Odin zurückkehren.

2 Frigg: 6 Odin:
»Daheim bleiben »Heil dir, Wafthrudnir!
sollte Heervater In die Halle komm ich,
in der Rater Reich, dich selber zu sehn.
da keinen der Riesen Wissen will ich,
an Kräften gleich ob du weise bist
ich dem Wafthrudnir weiß.« und dich allwissend bewährst.«

3 Odin : 7 Wafthrudnir:
»Viel fuhr ich, »Wer ist der Mann,
viel erforschte ich, der in meinem Saal
viel befragt ich Erfahrene; sein Wort auf mich wirft?
wissen will ich, Nimmer kehrst du,
wie Wafthrudnirs bist du der Klügere nicht,
Saalbau wohl sei.« aus meiner Halle heim.«

4 Frigg: 8 Odin:
»Heil zieh hin! »Gagnrad heiß ich,
Heil kehr zurück! gegangen komm ich
Heil wandre den Weg! hungrig zur Halle dein.
Dein Geist bewähre sich, Zutritt, Riese, -
wenn du, Göttervater, bin gezogen weit -
dem Riesen Rede stehst!« und Gastgruß begehre ich.«

5 9 Wafthrudnir:
»Aus zog Odin, »Warum antwortest
des allweisen Riesen du vom Eingang her?
Klugheit zu erkunden. Komm auf den Sitz im Saal!
Zur Halle kam er Dann findet sich's,
und zum Heim des Thursen, ob der Fremdling an Witz
rasch trat Odin ein.« übertrifft den Thursengreis.«

119
10 Odin:
»Der mindre Mann,
der zum mächtigen kommt,
spreche gut oder gar nichts:
Schwatzhaftigkeit,
mein ich, schadet dem viel,
der zum Kaltherzigen kommt.«

Odin betritt den Saal des Riesen, besser gesagt sein seelisches Feld. Er
hat wie immer seinen Namen geändert, diesmal in Gagnrad, damit der
Riese ihn nicht erkennt. Er gibt sich bescheiden und bleibt im Eingang
stehen. Der Riese gibt ihm jedoch klar zu verstehen, dass der Besucher
von der Wissensprüfung nicht heimkehren wird, wenn er nicht der
Klügere ist. »Nimmer kehrst du, bist du der Klügere nicht, aus meiner
Halle heim.« Warum aber verstellt sich Odin? Weil er alles ist und sich
in alles verwandelt. Das ganze Sein ist Odin, und wer ihn nicht in al-
len Dingen und Zuständen wiedererkennt, hat gar nichts erkannt und
muss daher sterben, weil er sich von der Quelle der Weisheit und des
Ursprungs abgeschnitten hat. Doch nicht, weil Odin ihn im mensch-
lichen Sinne tötet, sondern weil wer von Gott abgeschnitten ist, von
selbst stirbt.

Licht und Dunkelheit

11 Wafthrudnir: 12 Odin :
»Sage mir, Gagnrad, »Skinfaxi heißt er,
wenn dein Glück zu erproben der den hellen Tag
auf der Diele du denkst: über die Volkssöhne fährt;
wie heißt der Hengst, kein Ross
der den hellen Tag gilt den Reidgoten mehr,
über die Volkssöhne fährt?« seine Mähne glänzt morgenhell.«

Der Riese beginnt den Wissensstreit, indem er als Erstes fragt, wer der
Hengst ist, der während des Tages über die Welt fährt.
Odin weiß es: Es ist das Ross Skinfaxi, das mit seiner leuchtenden
Mähne die Helligkeit des Tages und der Sonne über die Menschen, die
Volkssöhne, ausbreitet. Skinfaxi bedeutet »Licht- oder Sonnenpferd«,
also ist es das Licht selbst, die Morgendämmerung der Sonne, die von
Dag, dem Tag, geritten wird.

120
13 Wafthrudnir: 14 Odin:
»Sage mir, Gagnrad, »Hrimfaxi heißt es,
wenn dein Glück zu erproben das den Hehren die Nacht
auf der Diele du denkst: aufzieht von Osten her;
wie heißt das Ross, jeden Morgen träuft vom Maul
das den Ratern die Nacht ihm Schaum,
aufzieht von Osten her?« davon sind die Täler betaut.«

Die zweite Frage lautet: Wie heißt das Pferd von Nott, der Nacht.
Hrimfaxi ist die richtige Antwort. Das Pferd, welches die Nacht her-
aufzieht, wird Hrimfaxi, »Reifmähne, Rußpferd«, genannt, wohl weil
es nachts so kalt ist, dass Reif entsteht. Und der Tau der Nacht ist sein
vom Maul tropfender Schaum. Es wird geritten von der Nacht, der
Mutter des Dag. Die Nacht geht mit ihrem Pferd voran, Dag galop-
piert hinterher.

Nacht Tag

Nott Dag
Mutter Sohn

Skinfaxi Hrimfaxi

Der Totenfluss

15 Wafthrudnir: 16 Odin:
»Sage mir, Gagnrad, »Ifing heißt der Fluss,
wenn dein Glück zu erproben der wider das Volk der Riesen
auf der Diele du denkst: das Götterland begrenzt;
wie heißt der Fluss, offen eilen
der wider das Volk der Riesen soll er in Ewigkeit,
das Götterland begrenzt?« kein Eis setzt er an.«

121
Frage ist, wie der Fluss heißt, der das Riesenland, das Plasma, von As-
gard trennt. Das Plasma wird vor allem als Wasser gedacht, jener
halbstoffliche Zustand, der in allen alten Überlieferungen gerne durch
Flüsse dargestellt wird. Da das Plasma aber ein Gefühlszustand ist, sind
die Flüsse seelisch-halbstoffliche Flüsse. Die heißen Flüsse des heißen
Muspellheims liegen offenbar näher an Asgard als die eiskalten Flüsse
Niflheims. Ifing heißt der Fluss an der Grenze zu Asgard: er setzt kein
Eis an, heißt es, weil er der Flammenwelt Muspellheims entspringt.
Das Plasma ist polarisiert in Niflheim, die feuchte Nebel- und Was-
serwelt, und Muspellheim, die trockene, heiße Flammenwelt. Im
Grunde ist das Plasma ein Feuer-Wasser-Zustand, beziehungsweise, es
besitzt schlechte und gute seelische Eigenschaften. Ich wiederhole: Die
Flüsse der Unterwelt sind als Gefühlsflüsse zu verstehen, worauf auch
all ihre Bezeichnungen hinweisen.

Wigrid, das Feld der Fehde

17 Wafthrudnir: 18 Odin.:
»Sage mir, Gagnrad, »Wigrid heißt das Feld,
wenn dein Glück zu erproben wo zur Fehde Surt
auf der Diele du denkst: den Göttern begegnen wird;
wie heißt das Feld, hundert Meilen
wo zur Fehde Surt misst es hin und wieder;
den Göttern begegnen wird?« dies ist als Stätte bestimmt.«

Beim Weltenrückzug Ragnarök, wenn sich Hel, das Plasma, zurück-


zieht in seine Urheimat Asgard, den Geist - bildlich gesprochen die
Riesen in Asgard einfallen -, dann findet die letzte Schlacht statt, und
zwar auf dem Feld Wigrid. Dort landen des Feuerriesen Surts Heer-
scharen mit dem Totenschiff und treffen auf die Götter.

19 Wafthrudnir:
»Ratklug bist du, Gast!
Komm auf des Riesen Bank!
Sprich auf dem Sitz im Saal!
Lass ums Haupt
uns in der Halle wetten,
Fremdling, auf Vielkunde!«

122
Der Urriese

20 Odin: 21 Wafthrudnir:
»Sage mir zum ersten, »Aus Ymirs Fleisch
wenn deine Einsicht taugt ward die Erde geschaffen,
und du, Wafthrudnir, es weißt: aus dem Gebein das Gebirg,
woher kam die Erde der Himmel aus dem Schädel
und oben der Himmel, des schneekalten Riesen,
ratkluger Riese, einst?« die Brandung aus dem Blut.«

Wafthrudnir ehrt den Gast, indem er ihn zum Sitzen einlädt und den
Wissenswettkampf um seinen Kopf weiterführen will. Doch nun
dreht Odin geschickt den Spieß um: Er befragt jetzt den Riesen. Wie
wurde die Materie erschaffen, lautet die erste Frage. Aus der dualen
Kraft von Niflheim und Muspellheim, Eis und Feuer, tat sich eine Art
Schlucht, Ginnungagap auf; hier schmolz das Eis, es bildete sich aus
diesem Mischzustand der Urriese Ymir, aus diesem später in einem
zweiten Schritt die Reifriesen und aus jenen wiederum in einem drit-
ten Schritt die Erde. Aus Ymirs Fleisch soll die Erde, aus seinen Ge-
beinen Berge, aus seinem Schädel der Himmel, aus seinem Blut Was-
ser und Meer und aus seinen Augenbrauen der Wall um Midgard
herum entstanden sein. Die Erde und die Menschen sind also riesi-
scher Abkunft, wir entstammen der Riesendimension. Der Mensch ist
die entwicklungsgeschichtliche Fortsetzung der Riesen auf stofflischer
Ebene.
Ymir pflanzt sich - so die Prosaedda - durch Schwitzen im Schlaf
selbst fort. Das Vervielfältigungs- und natürliche Vermehrungs- und
Reichtumsgesetz des Plasmas klingt hier an.

Sonne und Mond

22 Odin: 23 Wafthrudnir:
»Sage mir zum andern, »Mundilfari heißt er,
wenn deine Einsicht taugt er soll des Mondes Vater
und du, Wafthrudnir, es weißt: und der Sonne sein;
woher mag der Mond, sie ziehen täglich,
der über die Menschen geht, zum Zeitmaß den Menschen,
und die Sonne wohl sein?« über den Himmel hin.«

123
124
Woher Mond und Sonne stammen, will Odin nun wissen. Der Mond,
Mäni, hat als Vater Mundilfari (»der sich nach bestimmten Zeiten be-
wegt«; vielleicht der Mond selbst) und als Schwester Söl, die Sonne.
Der Mond steht mit dem feuchten wässrigen Niflheim in Verbindung,
Söl zieht den aus Muspellheims Funken erstellten Feuerwagen, also die
Sonne, über den Horizont, darf also betrachtet werden als ein Aspekt
Muspellheims. Die Stoffwelt ist überhaupt Kind der zweiten Welt, die
dual geteilt ist, was sich nun in ihr in der Entsprechungslehre wieder-
holt als Mond und Sonne. Mäni und Söl sind die Verkörperungen die-
ser Gegensätzlichkeit. Mäni hat Kinder, Bil und Hjuki, sie sind irdi-
scher Natur, und von Mäni geraubt, um den Mond zu begleiten. Bil
heißt »Ermattung« und Hjuki, ihr Bruder, »Erholung«, was sich auf

125
die zwei Mondphasen bezieht. Hinzu kommen noch zwei »Zwerge«,
Nyi und Nidi, beides Neumond.
Das Mondgefährt von Mani wird ständig vom Wolf Hati verfolgt,
der, wenn er ihm zu nahe kommt, eine Mondfinsternis verursacht. Die-
ser Wolf verschlingt beim Weltenrückzug endgültig den Mond. Hati
heißt »der Hasser«, einer seiner Beinamen ist Managarm, »Mond-
hund«. Sein Gefährte, der die Sonne verschlingen will, heißt Sköll,
»Bosheit, Schatten«. Beide wurden natürlich gezeugt von Fenrir (dem
Plasma selbst) und der Riesin Gyge. Hati verschlingt beim Ragnarök
den Mond, während Fenrir oder Sköll die Sonne verschluckt oder
(nach der Wöluspa) S61 ins Meer stürzt, also ins Wasser, sprich Plasma,
was das Gleiche ist, und sich darin auflöst. Hati und Sköll sind ledig-
lich weitere gestalterische Verfeinerungen von Loki, dem Plasma. Hier
wird am Beispiel des Untergangs von Mond und Sonne erneut auf den
Weltenrückzug angespielt - eine Schöpfungsgeschichte im Kleinen.
Ich verdeutliche: Das Plasma verschlingt die Materie, es bleibt von der
Materie nur noch ihre Plasmaurform übrig. Aus dieser energetischen
Blaupause geht dann später eine neue materielle Welt hervor. Diese ist
bereits in Keimform angelegt, oder, bildlich ausgedrückt, Söl hat vor-
gebeugt und vor ihrem Verschlungenwerden bereits eine neue Sonne
gezeugt. Das Leben wird also eine Wiedergeburt erfahren, so verstan-
den die Germanen das Dasein, nämlich als ein Pulsieren von Geburt
und Tod im Maßstab von Dimensionen.

Tag und Nacht

24 Odin: 25 Wafthrudnir:
»Sage mir zum dritten, »Delling heißt er,
wenn man bedacht dich nennt von diesem stammt der Tag,
und du, Wafthrudnir, es weißt: doch N o r hat die Nacht gezeugt;
woher kam der Tag, Vollmond und Neumond,
der über die Täler geht, den Völkern zum Zeitmaß,
und die Nacht mit dem N e u - schufen gütige Götter einst.«
mond?«

Als Nächstes will Odin wissen, woher Tag und Nacht kommen. Der
Tag der irdischen Welt stammt von Delling, »Morgentau« oder »hel-
ler Tag«, dem Plasma, ab. Die schwarze Nacht, Nott, stammt vom Rie-
sen N o r (oder Nörfi) ab. Die Nacht ist damit ebenfalls aus dem Plasma

126
entstanden; man kann es aber auch so deuten, dass sie diesem noch an-
gehört. Wird hier an vormaterielle Plasmaprinzipien gedacht? Heißt
es doch: Mit drei Ehemännern zeugte die (plasmatische) Nacht drei
weitere plasmatische Prinzipien, nämlich mit Nagelfari den Stoff
»Aud«, mit Onar die Erde »Jörd« und mit Delling den Tag »Dag«,
und zwar genau in dieser Reihenfolge. Wenn mit den Kindern Gesetze
unserer irdischen Welt angesprochen sein sollen, dann hat die Nacht
die drei Grundbedingungen unserer Welt, Stoff, Erde und Tageslicht,
geschaffen. Ich vermute jedoch, dass eher die vormaterielle plasmati-
sche Grundlage dieser materiellen Gesetze angesprochen wird. Hier
liegt erneut eine Schöpfungsfassung in Miniaturform vor, wobei als
Quelle jetzt die Nacht dient, die in vielen Kulturen und Überlieferun-
gen eine Analogie von Hel, dem Plasmazustand, darstellt.

127
Winter und Sommer

26 Odin: 27 Wafthrudnir:
»Sage mir zum vierten, »Windswal heißt er,
wenn man erfahren dich nennt er ist des Winters Vater,
und du, Wafthrudnir, es weißt: doch der Sommer ist Swasuds Sohn;
woher kam der Winter Windswal war
und der warme Sommer dem Wasud entsprossen,
einst ins Asenreich?« frostig ist all das Volk.«

Odin fragt nach dem Ursprung von Winter und Sommer. Der Winter
hat als Vater den Riesen Windswal (Wind und wal = »Windstätte«; das
Plasma wird auch Windheim genannt), der wiederum als Vater Wasud,
»ungestümes Wetter«, sprich Winter, hat. Der Winter leitet sich also
ebenfalls aus dem Riesenreich des ungestümen, windigen Plasmas ab,
und vermutlich auch der Sommer, der zum Vater Swasud, »den Trau-
lichkeit Schenkenden«, hat.

128
Drei Geschlechter von Riesen

28 Odin: 29 Wafthrudnir:
»Sage mir zum fünften, »Vor unzähligen Wintern,
wenn man erfahren dich nennt eh die Erde geschaffen,
und du, Wafthrudnir, es weißt: war geboren Bergelmir;
wer erwuchs in der Vorzeit Thrudgelmir
von Ymirs Stamm war des Thursen Vater,
und den Asen als ältester?« doch Aurgelmir sein Ahn.«

Odin befragt den Riesen weiter: Wer erwuchs aus Ymirs Stamm? Ymir,
der Urriese, entstand aus der Vereinigung von Feuer und Eis, also der
Polarität des Plasmas, einen Zustand, den man Ginnungagap nennt.
Ymir wurde getötet beziehungsweise verwandelte sich in Unterge-
setze, nämlich verschiedene Riesenarten. Das heißt: Das Plasma un-
terteilt sich. Aus Ymir ging Thrudgelmir und aus diesem Bergelmir
hervor. Diese drei werden als Urzeitriesen bezeichnet.

30 Odin: 31 Wafthrudnir:
»Sage mir zum sechsten, »Aus den Eliwagar
wenn man sinnreich dich nennt flogen Eistropfen,
und du, Wafthrudnir, es weißt: aus den Tropfen der Thurse wuchs;
woher kam Aurgelmir, unsre Sippen
der urweise Thurse, stammen dort alle her,
einst zu der Riesen Reich?« drum ist's ein schlimm Geschlecht«

Woher kam Aurgelmir? Das ist die Frage nach dem Ursprung, dem
Elementarzustand, aus dem die Riesen entstanden. Aurgelmir wird
häufiger auch Ymir genannt. N u n müssen wir etwas ausholen.
Die Grundlage des Stoffs ist das plasmatische Elementarreich; aus
dem Plasma entwickelt sich durch zunehmende Aufsplitterung, Ver-
feinerung oder Verdichtung Stoff und damit die Menschen. Aus dem
ganz Feinen Asgards erwächst das Feine Hels und daraus etwas Gro-
bes, das Materielle. Das ganz Feine ist das Asenreich, reiner Geist, aus
dem die halbmaterielle Energie- oder Plasmawelt entstand und aus
dieser wiederum der Stoff. Wir kennen die Zwischenzone zwischen
Geist und Materie als Niflheim, Muspellheim, Hel, Ginnungagap. All
diese Begriffe haben Doppelbedeutungen, die sich auf verschiedene
Eigenarten des Plasmas beziehen. Hel bezieht sich auf die dort an-
kommenden Verstorbenen, Niflheim oder Nebelland auf die Eigen-

129
Schäften des Lebensraums und ebenso Muspellheim, nämlich auf das
Feurige des Plasmas. Das Plasma ist als Niflheim wässrig, eiskalt, nass
und neblig, als Muspellheim feurig, heiß und trocken; doch im Grunde
handelt es sich um einen Zustand, man könnte von Feuerwasser spre-
chen, wie das viele Traditionen (z. B. in Ägypten der Feuersee) tun. Das
germanische Plasma ist dual, und wenn beide sich vereinen, ver-
schmelzen Feuer und Eis und bilden eine »Schlucht«, Ginnungagap,
in der ein energetischer Vorgang stattfindet, der das Plasma auf eine
weitere Verdichtungsmaßnahme vorbereitet, die zur Geburt der Mate-
rie führen wird. Aus dieser Mischung, dem Wässrigen - auch als Flüsse
(Eisflüsse, Eliwagar von el, »Unwetter«, und vagr, »Meer«) vorgestellt
- und dem Feuer Muspellheims, ging als Erstes der Zustand Ymir her-
vor. Aus diesem entstammen in weiteren plasmatischen Zwi-
schenschritten verschiedene Riesengeschlechter, offenbar energeti-
sche Einzelformen, Wesen, die wiederum schöpferisch tätig werden
und das erste Menschenpaar schaffen.
Aus der Verquickung der zwei Pole des Plasmas, Feuer und Eis, ent-
stand Ymir. Daher heißt es: »Aus den Eliwagar flogen Eistropfen, aus
den Tropfen der Thurse wuchs.« Flüsse stehen für Energie, Plasma.
Die Eistropfen stehen für eine Verdichtung der Energie. Ymir ent-
stand aus diesen Eistropfen, sprich aus verdichteter Energie.
In einer anderen Übersetzung (von Simrock) heißt es zusätzlich:
»Dann stoben Funken aus der südlichen Welt, und Lohe gab Leben
dem Eis.« Das Feuer des Plasmas bewirkte einen Verlebendigungs-
prozess. Ymir entstand also aus der Vereinigung des polaren Zustandes
des Plasmas. Polarität entzündete Leben!
Parallel zu Ymir entstand die Urkuh Audhumla. Sie wurde wie
Ymir aus dem durch Muspells Feuer schmelzenden Eis geboren. Auch
Ymir ist ja nichts anderes als geschmolzenes Eis. Audhumla ernährt
Ymir mit dem »Milchsaft«, der in vier Strömen ihren Eutern entquillt.
Also bilden Ymir und Audhumla ein Paar. 6
Der letzte Satz, »drum ist's ein schlimm Geschlecht«, irritiert et-
was. Warum schlimm? Wir müssen uns in Erinnerung rufen, woraus
Ymir hervorkam: aus Hei, jenem Zustand, in dem die Leidenschaften
6
Nach der Prosaedda entstehen aus Audhumla, indem sie Reifsteine beleckt, die Götter
Asgards, aber auch die ersten Menschen. Dass ein Plasmagesetz die Götter erschafft, wo
es doch umgekehrt sein müsste, ist die widersprüchlichste Stelle für meine Eddadeutung.
In der Prosaedda heißt es, drei Götter - Odin, Wili und We - erschufen das erste Men-
schenpaar, Ask und Embla. Allerdings wird es sich dann aber wohl eher um deren Plas-
mastruktur handeln und nicht bereits um körperliche Menschen, denn nur Götter kön-
nen Plasma erzeugen, aus dem in der Folge Materie geboren wird.

130
Riesen der zweiten Generation

(Diese Riesen der neuen Generation,


Frost- oder Reifriesen, Berg-, Feuer-,
Stein- oder Wasserriesen im
Gegensatz zu den vor ihnen lebenden
»Urzeitriesen«, leben in Jötunheim, auch
Riesenheim oder Thursenheim genannt)

Stammbaum der Riesen.

131
und falschen Gedanken bestimmend sind. Hei, die Hölle, ist das To-
tenreich. Als Tote werden wir wieder Energie, aber nicht irgendeine
Energie, sondern die Energie unserer Seele. Die Toten sind Seelenwe-
sen ohne Körper, sind noch nicht Geist, nur unbändiges Leiden und
Leidenschaft, was sich als Hölle darstellt, als Hölle unserer Gefühle; wir
braten in der Tat in unserem eigenen Gefühlssaft. Diese Gefühlswelt ist
nicht reiner Geist, sondern eine Energieform, ein halbstofflicher Zu-
stand, wie Wasser, wie Feuer. Und daraus bildet sich nun Ymir, die Ver-
körperung der Gefühlswelt schlechthin, und das haftet auch all seinen
Nachkommen an, die ebenso leidenschaftlich, nämlich voll Riesenzorn
und Kampfeswut sind, gleichzeitig aber auch weise und zauberkundig,
so wie das Seelische eben Leidenschaft und Weisheit besitzt. Diese Ja-
nusnatur der Seele ist die Natur der Riesen. Dass die Riesen groß sind,
ist unglaubwürdig, sollte nicht eher an seelische Größe gedacht wer-
den? Riese leitet sich, wie schon erwähnt, ab von »der Erhabene«.

32 Odin: 33 Wafthrudnir:
»Sage mir zum siebenten, »Knabe und Mädchen
wenn man sinnreich dich nennt wuchsen dem kühnen Thursen
und du, Wafthrudnir, es weißt: unterm Arm vereint;
wie zeugte Kinder der Fuß mit dem Fuß
der kühne Riese, des Vielweisen zeugte
da er kein Weib gewann?« den sechshäuptigen Sohn.«

Ymir erzeugte durch Reiben seiner Füße den Riesen Thrudgelmir,


»den Kraft-Schreienden«, und dieser in der Folge Bergelmir; beide
gelten als Frostriesen. Im Schweiß der Achselhöhle bildeten sich wei-
tere Lebewesen. In der Prosaedda wird der Tod Ymirs erwähnt. In sei-
nem Blut ertrinken offensichtlich alle Riesen bis auf Bergelmir. Er
konnte sich mit seiner Frau auf ein Boot retten und begründete ein
neues Riesengeschlecht, die Jotnar oder Jöten (aus etunar, »Fresser«),
wovon sich die Bezeichnung für ihr Wohnheim ableitet: Jötunheim.
Riesen werden auch als Thursen (thurs, altind. turd, »stark«) oder
Trolle (von »trollen, gaukeln, betören«) bezeichnet.
Es wird auch berichtet, dass Ymir alias Aurgelmir unter seiner lin-
ken Achselhöhle Menschen hervorschwitzte, doch scheint das eine ab-
gekürzte Version zu sein, denn nach anderen Darstellungen sind noch
einige Zwischenschritte notwendig. Wir haben bereits erwähnt, wie
aus Ymir in Etappen die eigentlichen Riesen und Plasmawesen ent-
standen.

132
Die Menschenschöpfung nach Snorris Prosaedda.

34 Odin: 35 Wafthmdnir:
»Sage mir zum achten, »Vor unzähligen Wintern,
wenn man dich einsichtig nennt eh die Erde geschaffen,
und du, Wafithrudnir, es weißt: war geboren Bergelmir;
was weißt du als Frühestes? als Frühestes weiß ich,
was weißt du als Fernstes? dass den vielklugen Riesen
Allwissend bist du wohl.« auf den Mahlkasten Männer
legten.«

Nachdem der Ursprung der Materie angedeutet und die Aufsplitte


rung der Plasmadimension beleuchtet wurde, will Odin nun das aller

133
letzte, allerfrüheste Geheimnis wissen. Wir haben ja gesehen, wie sich
Odins Fragen, beginnend bei der Materie, immer weiter zum Ur-
sprung hin wenden. Doch wir werden enttäuscht: Der Riese antwor-
tet, er wisse von Bergelmir, der ein Sohn Ymirs ist, dem Begründer des
Riesengeschlechts.
Wichtig ist die Aussage: »eh die Erde geschaffen«. Es wurden also
zuerst die Riesen und später die Erde mit den Menschen geschaffen;
das widerspricht der Prosaedda-Version, die besagt, dass Ymir aus dem
Schweiß seiner Achselhöhle Menschenpaare zeugte. Dies mag zwar zu-
treffen, aber zuvor müssen sich seine Nachkommen entwickelt haben,
die zweite Riesengeneration, über die Ymir auch die Erde und die
Menschen hätte schaffen können. Zum anderen konnte er nicht erst
die Menschen und dann die Erde schaffen. Also ist diese Stelle eine
gekürzte sprungartige Vorwegnahme des Kommenden und entspricht
nicht der an anderer Stelle belegten Entwicklungslinie.
Zu bemerken ist hier auch, dass Aur-, Thrud- und Bergelmir »Flut-,
Kraft- und Felsenlärmer« bedeutet, alle drei also wohl nur Bezeich-
nungen Ymirs sind.
Es gibt einen Bereich innerhalb von Niflheim, Thrymheim,
»Lärmheim«, wo die als Bergriesin bekannte Skadi, »Schatten, Scha-
den«, die zweite Frau Njörds, wohnt. Thrymheim ist ein Gebirge und
dort ist es lärmig. Bedeutet das, die Bergriesen sind Lärmriesen und
wenn, warum sind sie das? Ich habe bereits dargelegt, dass sich Riese
von Berg ableitet. Die klassischen Riesen wären demnach mental er-
habene Bergbewohner. Woher kommt aber der Begriff Berg?
Berg (ahd. berg, engl, barrow, »Hügel, Grabhügel«) beruht mit ver-
wandten Wörtern auf indogermanisch bhergos, »Berg« (z.B. armen.
berj, »Höhe«; russ. bereg, »Hügel, Ufer«). Das indogermanische Sub-
stantiv bberegb, »hoch, erhaben«, ist eine Erweiterung der indogerma-
nischen Wurzel von »gebären«. Es gehört dazu auch altindisch brhdnt,
»hoch, groß, erhaben, hehr«, eigentlich »hochgewachsen«, und alt-
irisch Brigit (ein Frauenname), »die Hohe, Erhabene«. Auch Ortsna-
men wie Bregenz, Burgund oder Bornholm, »die Hochragende«, die
Stamminsel der ostgermanischen Burgunden, leiten sich hiervon ab.
Im Ablaut zu Berg steht das unter Burg behandelte Wort. Auch ber-
gen, »in Sicherheit bringen«, in einem Berg oder auf einer Fluchtburg
verbergen (ahd.firbergan, »verstecken, verheimlichen«) kommt daher.
Tote leben im Grabhügel, heißt es. Der künstliche Begräbnishügel ver-
weist auf den Urhügel, den Urberg, der sich aus den Urwassern erhebt,
womit das Plasma, Hei selbst, gemeint ist.

134
Die Beziehung ist damit recht deutlich: Berg bezieht sich auf
»hoch, erhaben, groß«. Hinzu kommt von der Wurzel »bergen« aus-
gehend die Bedeutung »verstecken, verheimlichen«, und zwar im
Berg, also im Hohen, Erhabenen. Das Erhabene als versteckter Ort.
Bergriese ist also nur eine Verdopplung, Riese und Berg meinen hoch,
erhaben. Die Berge sind die Erhabenen in unzugänglichen, versteck-
ten Gebieten. Das Reich der Riesen ist zugleich versteckt und erhaben.
Daher die Beschreibung der Riesen als hoch gewachsen, hier jedoch im
mentalen Sinne gemeint. »Hoch und erhaben«, insofern das Plasma
der Materie übergeordnet ist. Wenn von Riesengesetzen die Rede ist,
denke man daher stets an eine erhabene Dimension, die die Materie
umfasst, und die versteckt, weil für uns unsichtbar ist.
Damit haben wir das Rätsel der Bergriesen, ebenso der Stein- und
Wasserriesen gelöst. Aber auch das der Reif- oder Frostriesen, denn das
Plasma ist kühl, eisig, frostig, neblig. Es bleiben nur noch die Feuer-
riesen übrig, die wir als Ausdruck der Feuerzone Muspellheims deuten
müssen. Alle Riesengesetze sind Gesetze, um den Aggregatzustand des
vorstofflichen Plasmas zu beschreiben. Mit dieser Erkenntnis, die aus
der Aufdeckung der Wortherkunft schnell zu gewinnen ist, muss nun
geklärt werden, wie sich die Riesen beziehungsweise das Plasma unter-
teilen, denn das muss es in der Tat, wenn daraus Materie werden soll.
Wir wissen bereits, dass es von den Urzeitriesen Ymir bis Bergelmir
zum zweiten Riesengeschlecht einen Qualitätssprung im Plasma gab.7
Die Riesen - so die Edda - gingen durch eine Flut unter. Und aus
Ymirs Blut entstand das irdische Meer. Wenn eine irdische Flut die ir-
7
Ymir hat etwas mit Wasser und Flut zu tun. Es heißt in der Prosaedda, seine Nachfol-
ger, die Reifriesen, seien in seinem Blut ertrunken. Manche Deuter denken hier gleich
an die Sintflut, was vollkommen abwegig ist, da wir uns in einem vorstofflichen Abschnitt
befinden und nicht in der irdischen Welt. Der Satz, »dass den vielklugen Riesen auf den
Mahlkasten Männer legten«, wird von Genzmer gar als eine Art Arche Noah gedeutet,
womit Bergelmir, der Enkel Ymirs, überlebt. Offenbar wurde Ymir von den Göttern er-
schlagen, sein Blut löste eine katastrophale Flut aus, in der alle seine Nachkommen un-
tergingen mit Ausnahme Bergelmirs, der auf den Mahlkasten (was immer das ist) gelegt
wurde. Aber auch eine Riesenfrau wurde gerettet, mit der er das neue Riesengeschlecht
begründete. Die Anlehnung an Noah liegt nahe, aber Riesen sind keine Menschen, son-
dern Elementarzustände. Andererseits kommt hier das stets verwirrende Faktum hinzu,
dass in allen Kosmologien und Menschheitsüberlieferungen Riesen vorkommen, die
Menschen zeugen, mit Menschen verkehren, Menschen bekriegen usw. Ich glaube je-
doch nicht, dass diese Geschichten etwas mit der Eddadarstellung der Plasmadimension
und ihren Gesetzen zu tun haben; dennoch können sich im Laufe der Zeit gewisse
»Querverweise« und Verquickungen eingestellt haben, sich also Plasmariesen und Ge-
schichten von irdischen Riesen vermengt haben. Ebenso vermengen sich in allen Kos-
mologien die Götter mit menschlichen Herrschergestalten, die dann Götternamen be-
kommen, so dass die Taten eines Königs zu Göttertaten werden und umgekehrt.

135
dischen Riesen ertränkte, dann war es also Ymirs Blut, welches dies leis-
tete. Es kann hier in der Tat zu einer Verwirrung von Geschichte und
Kosmogonie gekommen sein. Andererseits stehen Wasser und Flut im-
mer für Niflheim und Plasma, woraus sich die Frage ergibt, ob die Rie-
sengesetze durch plasmatische Verfeinerung untergegangen sind.

Wo liegt Jötunheim?

Wo liegt nun Riesenland oder Jötunheim? Die Quellen verweisen


dafür nach meiner Lesart auf jenes Gebiet Niflheims, das sich unmit-
telbar um Midgard schlingt, also diesem am nächsten liegt, nämlich im
Erzwald (Jarnwid). Vier Belegstellen dafür: 1. »an den Küsten des
Weltmeeres«, was nach meiner Deutung am Rande unserer irdischen
Welt heißt; 2. »am Ende der Himmelswölbung«: da Himmel und Was-
ser zwei Spielarten des Plasmas sind, deute ich dies als »am Ende« der
Materie, wo sich Plasma und Materie berühren; 3. »wo der Riese Hräs-
welg Wind erzeugt«: dieser Elementarzustand Wind muss in der Nähe
zur Materie liegen; 4. Jötunheim hat eine spezielle Unterregion, Erz-
wald genannt: der Erzwald liegt als Umgrenzung um Midgard, was für
sich spricht.
Diese Deutung von Jötunheim als unmittelbar auf die materielle
Dimension folgend und von allen Plasmaregionen der Materie am

136
nächsten gelegen, ist natürlich zweifelhaft. Aber wir müssen versuchen,
Licht in diesen Bereich des Plasmas zu bringen, denn offensichtlich
bemühten sich unsere Vorfahren, das Plasma in fassbare Abschnitte
einzuteilen, und das ist in der Tat zwingend notwendig, denn es besteht
ja nicht nur aus Feuer und Eis, sondern im Sinne einer Entwicklung
aus daraus hervorgegangenen schrittweisen Verdichtungszuständen.
Das Dasein wird in der Edda als eine Entwicklung vom Geistigen zum
feinstofflich Seelischen und schließlich zum Stofflichen verstanden,
und das soll bewiesen werden mittels der Asen- und Riesengesetze und
der Verfeinerung von Letzteren. 8

Der Wind

36 Odin: 37 Wafthrudnir:
»Sage mir zum neunten, »Hräswelg, heißt er,
wenn die Vernunft dir taugt er sitzt am Himmelsrand,
und du,Wafthrudnir, es weißt: der Jöte, in Aargestalt;
woher kommt der Wind, von des Riesen Flügeln
der über die Wogen geht? über die Völker alle
Niemand sieht ihn selbst.« sollen die Winde wehn.«

Die neunte Frage nun betrifft die Herkunft des Windes. Natürlich
wird in der Edda nicht vom Windzug, wie wir ihn kennen, gesprochen.
Luftzug, Sturm, Windsturm kommen in der Edda nicht vor. Wir
haben es hier zu tun mit vorstofflichen Zuständen, mit dem Daseins-
kontinuum von Geist, Seele und Körper. Es ist mir unbegreiflich, wie
Eddaforscher die stofflichen Analogiezustände ernsthaft buchstaben-
getreu nehmen konnten. Wenn von Meer gesprochen wird, ist das
feinstoffliche Urmeer gemeint, wenn von Luft die Rede ist, ist die fein-
stoffliche Urluft gemeint, wird Erde erwähnt, so wird in den meisten
Fällen vom Elementarzustand Erde gesprochen. Erde, Wasser, Feuer,
Luft (Wind) beziehen sich auf Elementarzustände, das wissen wir von
allen anderen Weltlehren. In keiner Überlieferung treten in der Kos-
mologie Menschen auf. Kosmologie endet am Punkt der Menschwer-
dung. Solange aber die Eddaforschung buchstabengetreu vorgeht und
das Analogiegesetz, das am häufigsten verwendete Erklärungsmuster
8
Riesen leben im Wasser. Ebenso die Nixen (nykr = Wassergeist; idg. Wurzel neik, »ba-
den, waschen«). Nixen sind keine Naturgeister des Wassers, wie meistens dargestellt,
sondern Wesen der wässrigen Zwischendimension.

137
der Weltgeschichte, nicht kennt und nicht kennen will, befindet sie
sich auf vorwissenschaftlichem Gebiet, nämlich dort, wo der einfältige
Leser und das Volk diese Geschichten ansiedeln: im irdischen Bereich.
Zurück zu Odins neunter Frage: Woher der Wind? Unser Wind ist
ein Ableger, eine Miniatur- und Grobstoffform des ihm energetisch
zugrunde liegenden »Antimateriewindes«, und das ist nichts anderes
als die Daseinsweise der Plasmadimension schlechthin. Plasma ist
Wind, Hauch, Seele, Urstoff. Alle Traditionen betrachten den W n d
als Analogie des Plasmaozeans, ebenso wie das Wasser oder das Feuer,
einfach weil die Elementarzustände, die der Materie vorausgehen und
diese bestimmen, Plasma sind.
Der Wind wird zum besseren Verständnis als Riese personifiziert,
genannt Hräswelg, »Aasfresser«, der in Adlergestalt durch Bewegung
seiner Schwingen den Wind erzeugt. Der W n d steht für die mentale
Bewegung des Plasmas. Was mich irritiert, ist, dass Hräswelg als Adler
dargestellt wird, ist doch der Adler auch eine Analogie für Asgard. Des
Weiteren frage ich mich, warum der Adler als Aasfresser bezeichnet
wird. Soll damit auf Windheim, das Reich der Toten, angespielt wer-
den?
Der personifizierte W n d wird auch Kari (Wind) genannt und soll
der Sohn des Urzeitriesen Fornjodur sein; seine Brüder sind Wasser

138
(Hier) und Feuer (Logi). Andernorts werden auch vier Zwerge der vier
Himmelsgegenden, insbesondere der Zwerg Windalf, »Alf des Win-
des« (Alf = Elfe, Riese), für den Wind verantwortlich gemacht.

Njörd aus Noatun

38 Odin: 39 Wafthrudnir:
»Sage mir zum zehnten, »In Wanenheim
wenn die Zunkunft der Götter schufen ihn weise Rater
du, Wafthrudnir, weißt: als Geisel fürs Götterreich:
woher kam Njörd beim Weltende
nach Noatun, wird er wiederkehren
da er bei den Asen nicht zu den weisen Wanen einst.«
aufwuchs?«

Wer ist Njörd? Es wird gesagt, er wuchs auf in Wanenheim. Er sei spä-
ter Ase geworden, stamme aber aus dem Geschlecht der Wanen, ein
anderer Name für die Riesen. Asen, die weisen Rater, hätten ihn ge-
schaffen. Mit seiner Schwester zeugte er Freyr und Freyja, die später,
obwohl Wanen, ebenfalls zu den Asen übergingen und dort bedeu-
tende Götter wurden. Njörd gehört als Wane oder Riese zu den Mee-
resprinzipien, er selbst ist das Meer, das Plasma. Da er ein Wane ist und
auch Wanenkinder zeugte, gehört er unzweifelhaft zur Plasmadimen-
sion, ist das Plasma selbst.
Und was bedeutet Noatun? Die Etymologie ist auch hier wieder
aufschlussreich: Noatun heißt »Schiffshof« oder »Schiffsstätte«.
Schiffe und Wasser verweisen ebenfalls aufs Plasma.
Es ist nicht verwunderlich, dass Asen die Riesen erschaffen, also der
Geist die Seele. Erstaunlich ist eher, dass die Njörd-Familie später als
Asen verehrt wird.
N u n antwortet Wafthrudnir überraschend: »In Wanenheim schu-
fen ihn weise Rater als Geisel fürs Götterreich.« Die folgende, in der
Edda nicht ewähnte Geschichte macht die Aussage verständlich. Die
Wanen gehörten offenbar einer anderen Volksgruppe an als die Asen.
Die Asenverehrer gewannen den Krieg gegen die Wanenverehrer.
N u n wurden von den Siegern einige Götter der Wanen - wohl um den
Frieden zu sichern - in ihr Pantheon aufgenommen. Das ist die häu-
figste Erklärung. Njörd wurde als Geisel genommen, heißt es daher
bildlich.

139
Der Riese sagt, beim Weltenrückzug von Midgard und Niflheim
nach Asgard hinein würde Njörd wieder zurückkehren zu den Wanen,
was wohl heißt, er würde sich mit ihnen gegen die Asen verbinden.
Auch Loki, der dreizehnte Gott, in Wahrheit das Plasma selbst, kehrt
vor Ragnarök nach Niflheim zurück und führt seine Riesenscharen
nach Asgard zum Kampf. Es gibt dazu eine Parallele, den Fenrirwolf,
der in Asgard großgezogen wurde, aber ein Plasmawesen war, das
Plasma schlechthin, das am Weltende, wenn es sich wieder in Asgard
zurückzieht, Odin töten würde - so war geweissagt worden und so ver-
wirklichte es sich auch. Wr haben also bereits drei Beispiele für die
Auflösung des Plasmas in Asgard: Loki, Fenrir und offenbar auch
Njörd. Das zeigt, Plasma wurde einst aus dem Geist geboren und kehrt
nach einem Zyklus der Entfaltung wieder in diesen zurück. Njörd wur-
de von Asen als Plasma geschaffen, als »Geisel fürs Götterreich«. Beim
Weltende kehrt er wie alles andere nach Asgard beziehungsweise in den
reinen Geist zurück. Die Geschichte von Njörd behandelt demnach
wohl das Thema des allmählichen Rückzugs der Plasmadimension.
Auf den merkwürdigen Wechsel der drei Wanen Njörd, Freyr und
Freyja von Wanenheim nach Asgard spielt vielleicht die Sprachwurzel
wan an. Das Wort »wandeln« oder »wandern« ist verbunden mit alt-
hochdeutsch wanton, »wenden«, das zu dem Verb »winden« gehört
und zu diesem wiederum »Wand«, denn Wände wurden ursprünglich

140
geflochten, sind das »Gewundene und Geflochtene«. Diesem Wort-
feld zugeordnet sind auch die Bedeutungen »hin und her gehen« und
»sich ändern«. »Wanen« bedeutet eigentlich »wiederholt wenden«.
Daran schließen sich Worte wie »Wandel«, »Verwandlung« usw. an.
Dürfen wir daraus ableiten, dass die Wanen solche waren, die zu den
Asen übergelaufen sind, sich wiederholt gewendet haben, also wieder
zurück nach Wanenheim gegangen sind? Heißt also Wanen so viel wie
unentschlossene Überläufer, sozusagen Doppelspione? Oder bezieht
es sich eher auf die Verwandlungs- und Täuschungskunst der Riesen,
auf die Wandeldimension des Plasmas? Meines Erachtens kommt die-
ser etymologische Versuch ihrem Wesen entgegen. Wanen sind Rie-
sen, Plasmawesen, sie werden aus Asgard heraus geboren und fallen
beim Weltende dorthin wieder zurück, das ist ihr Wandelcharakter.
Njörd ist ein Meerriese, also dem Elementarzustand Wasser ver-
bunden, und er muss naturgegeben in dem ihm heimischen Element
wohnen. Daraus entwickelte sich eine Ehezwistigkeit mit seiner Frau,
der Bergriesin Skadi: Er möchte am Meer, sie in den Bergen wohnen.
Der daraus entstehende Zwiespalt ist jedoch grundsätzlich sinnlos, da
Berge (das Erhabene) das Gleiche sind wie das plasmatische Wasser-

Die vier Elementarzustände des Plasmas. Das Plasma, Hei, weist offenbar vier vor-
materielle Elementarzustände auf: Feuer, Luft, Wasser, Erde. Muspellheim wird im
Süden und Niflheim im Osten angenommen; den Norden mit den Bergriesen und den
Westen mit Windheim gleichzusetzen, ist allerdings meiner freien Schlussfolgerung
entsprungen.

141
element. Es handelt sich lediglich um Qualitätsunterschiede innerhalb
des Plasmas. Wir müssen das Plasma in die vier vormateriellen Ele-
mentarzustände Feuer (Muspellheim), Luft (Windheim), Wasser,
sprich Eis und Nebel (Niflheim), sowie Erde (Berge) unterteilen, wie
es in allen alten Überlieferungen getan wird. Aus den vier vormateri-
ellen plasmatischen Zuständen gehen dann die vier entsprechenden
stofflichen Erscheinungsformen in unserer Materiedimension hervor.

Walhall und die Walküren

40 Odin: 41 Wafthrudnir:
»Sag mit zum elften, »Alle Einherjer
wer in Odins Hof in Odins Hof
kämpft Tag für Tag; kämpfen Tag für Tag;
sie kiesen die Wal, sie kiesen die Wal,
reiten vom Kampfe heim, reiten vom Kampfe heim,
sitzen beisammen versöhnt.« sitzen beisammen versöhnt.«

»Wer sind jene, die in Odins Hof (gemeint ist Walhall) Tag für Tag
kämpfen?«, fragt Odin.
Dazu müssen wir zunächst den Ort Walhall ausfindig machen - der
Name, eine im 18. Jahrhundert aufgekommene Nachbildung des altis-
ländischen valhall (aisl. walr = »Toter auf dem Kampfplatz«, und Halle,
»hallen, lärmen«), bedeutet »die Halle der auf der Walstatt, dem
Kampfplatz, Gefallenen«. Bleibt man eng am Text, ist von allen Orten,
besser gesagt Zuständen Walhall am leichtesten aufzufinden. Walhall
liegt in Hel. Es bildet die erste Zone, welche die Verstorbenen nach
Midgard betreten. Walhall ist ein seelischer Unterbereich innerhalb
Hels. Hierher kommen - unter Umgehung des allgemeinen Toten-
reichs der von Alter oder Krankheit Dahingerafften - die »Hel-den«
(»die nach Hel Gehenden«), die durch Krieg seelisch Verblendeten,
die ihren kriegerischen Leidenschaften erlegen sind. Walhall ist »die
Walstatt der Gefallenen«. Unter Mithilfe der Walküren, der »Toten-
wählerinnen«, die den Todeszeitpunkt festsetzen, bestimmt Odin die
Helden zum Heldentod: Odin erhält die eine, Freyja die andere Hälfte
der Gefallenen. Früher jedoch gehörten alle Toten Hel, später nur
noch jene, die an Alter und Krankheit starben.
Die Walküren, »Kampfjungfrauen«, stellt man sich als große
Frauen vor, deren Aufgabe die Bestimmung des Todeszeitpunkts ist, im

142
Unterschied zu den drei Nornen (den Schicksalsgöttinnen Vergangen-
heit, Gegenwart und Zukunft, sprich Schicksal, Werden und Skuld),
die das gesamte Leben eines Menschen vorherbestimmen. Die Wal-
küren - ihr Name ist eine seit dem 18. Jahrhundert auftretende Nach-
bildung des altisländischen valkyria - wählen und küren (wal = wählen;
küren = auswählen) jene, die sterben müssen, für Wal-hall, die Halle
der Auserwählten; diese ist jenen vorbehalten, die den Heldentod ge-
storben sind. Sie fallen auf der Walstatt (wal gehört zur idg. Wurzel uel,
»reißen, rauben, ritzen, verwunden, töten«, und vielleicht gehören
auch Wolle, »das Gezupfte«, und Wölf, »der Reißer«, zu dieser Wur-
zel; statt = Stätte, Feld). Empfangen werden sie von Walvater Odin (Va-
ter der Auserwählten), der in dieser Rolle immer zwei Wölfe mit aufs
Schlachtfeld führt. Nach dem Kampf stellen sie fest, dass sie im To-
tenreich überlebt haben, und sitzen dort vereint zusammen. In Walhall
sollen alle Träume eines Helden wahr werden, wobei die Helden (die
nach Hel Reisenden) keine allzu großen Ansprüche zu haben scheinen:
sie lieben Al und jene, die sie bedienen, die Walküren, sie lieben den
Kampf, in den sie täglich ziehen, um nach dem Heldentod erneut auf-
zuerstehen und sich dem Trinkgelage und dem Schmaus - dem nie zu
Ende gehenden Eberbraten - zuzuwenden. Und dies jeden Tag, zwar
nicht bis in alle Ewigkeit, doch, wie es scheint, außerordentlich lange,
so lange nämlich, dass es nach einer Qual aussieht, einem W e d e r h o -
lungszwang, der in den Gedanken des Helden begründet ist, der eben
nichts anderes als »Wein, Weib, Gesang und Krieg« kennt; das tägli-
che Kriegspielen ist ein Nachhall ihrer weltlichen Tätigkeiten. Im
Grunde ist Walhall eine Fortsetzung unserer Lebenssüchte - alle To-
ten durchleben ihre seelischen Hindernisse in Gestalt eines Wieder-
holungszwanges, denn sie sind nun körperlos und stellen ausschließlich
ihre Gedanken, Gefühle und Erinnerung dar. Was das bedeutet, kann
jeder für sich nachvollziehen, schaut er einmal kurz in sein Inneres.
Genau dies ist das Höllen- oder Walhall-Szenario. Wir sind in Hel
oder Walhall genau das, was wir jetzt seelisch sind. Hei oder Walhall
sind seelische Reiche, in denen alles real vor uns tritt, was wir in uns
gespeichert haben. Kriegshelden sehen also nichts anderes als Kriege.
Das ist Walhall. Die Versetzung der »Besten« des germanischen
Volkes in einen abgesonderten Bereich Hels ist eine typisch germani-
sche Eigenart, bedingt durch die Verehrung des Helden. Übrigens
dürfen die Helden nicht nur die gewöhnliche Hel überspringen, sie
sollen beim Ragnarök, der Auflösung der drei Welten, nach Gimle,
dem höchsten den Germanen bekannten geistigen Bereich, gelangen,

143
womit sie die anderen Stufen innerhalb Asgards überspringen dürfen -
also erneute Sonderbehandlung für die germanischen Lieblinge.
Odin wurde auch Wuotan (aus Wothanaz) oder Herr der Woth ge-
nannt. Woth, das ist das Heer der Toten, das »wütige Heer«, mit dem
er in der »wilden Jagd« (aasgaardsreia; schwed. aka, »Blitz«, reid,
»Donner«) bei Sturm über den Himmel zieht. Das ist Odins Eigen-
schaft als Totengott, eine Eigenschaft, die genau genommen Hei zu-
steht - aber letzdich gibt es nur Odin und er ist alles.
Die Gefallenen kommen nach Walhall, heißt es. Einer anderen Fas-
sung zufolge kamen keine Menschen nach Walhall, sondern nur die
Söhne der Götter, die Halbgötter, die beim Tod zurückgeführt wurden
nach Walhall. Sie bekamen den Ehrentitel Einherjer oder Ase zuge-
sprochen, weil sie als Söhne Odins galten.
Walhall ist ein Unterbezirk von Gladsheim (engl, glad, »froh«), ein
Froh- und Wonneheim. Gladsheim ist ein Bezirk Hels (nicht Asgards,
wie gelegendich angenommen). In Gladsheim sollen alle zwölf Asen
Paläste besitzen, sie haben hier ihre Zweigstellen, denn da sie alles ver-
körpern, sind sie auch überall.

Die Dreizahl

42 Odin: 43 Wafthrudnir:
»Sage mir zum zwölften, »Der Rater und Riesen
woher die Zukunft der Götter Runenkunde
du, Wafthrudnir, weißt! kann ich weisen fürwahr,
Der Rater und Riesen da ich alle Welten durchwallt;
Runenkunde zog zu neun Heimen
weisest du fürwahr, bis Niflhel nieder,
ratkluger Riesengreis!« wo der Gestorbnen Stätte ist.«

Nun erfragt Odin die Zukunft der Götter. Wie abwegig, einen Riesen
nach dem Schicksal der Götter zu fragen, das dieser ja unmöglich ken-
nen kann. Eine hinterhältige Frage also, um den Riesen endgültig zu
schlagen. Aber der ratkluge Riesengreis weiß auch dies, denn er hat, wie
er prahlt, neun Welten durchreist, die neun Welten allerdings inner-
halb von Hel bis hinunter zum tiefsten Ort, Niflhel, wo die Verstorbe-
nen leben. Er hat sich also nur innerhalb des Plasmas bewegt. Das ist
etwa so, wie wenn ein Deutscher angibt, alle Welt bereist zu haben,
und dann aufzählt, welche Länder innerhalb Deutschlands er gesehen

144
hat. Wafthrudnir besuchte weder Asgard noch Midgard. Neun ist, wie
bereits gesagt, eine heilige Zahl der Germanen, die sich aus drei mal
drei ergibt. Die Drei ist deshalb heilig, weil von drei Welten ausgegan-
gen wird. Und drei mal drei heißt: ganz heilig. In diesem Sinne besitzt
Agir, die Meer- und Wasserseite des Plasmas, neun Töchter, die alle
neun die Mütter Heimdalls sind. Menglöd im Fjölswinnlied ist umge-
ben von neun Heiljungfrauen, Loki besitzt neun kunstreiche Zwerge.
Drei mal neun Walküren ziehen miteinander aus. Neun Nächte
braucht Hermod, um nach Hel zu kommen. Nach neun Nächten will
sich die Riesin Gerd dem Freyr zur Gattin geben, und nur neun Nächte
hält Njörd bei seiner Gemahlin Skadi in den Bergen aus. Es heißt, es
gebe neun Welten (innerhalb des Plasmas), und neun Nächte hängt
Odin als Opfer am Weltenbaum, bis er dadurch die Runen findet.

Die Verwandlungsfähigkeit Odins

Die Zukunft der Götter ist grundsätzlich nur mittels Runenkunde zu


ermitteln, die Riesen ebenso wie Götter ausüben und die Odin angeb-
lich erst von den Riesen gelernt hat. Das klingt jedoch wenig überzeu-
gend, da Odin allwissend ist und Vergangenheit und Zukunft
überblickt wie aus der Vogelschau. Das gerühmte seidkundige Wissen
der Riesen bezieht sich auf das Plasma allein; Götter benötigen keine
Runenkunde, sie selbst sind und wissen alles.
Ich deute die damit in Zusammenhang stehenden Geschichten da-
her folgendermaßen: Die Götter leben in ihrem reinen Geistreich; sie
können sich jedoch sehr wohl nach Riesenheim, ins Plasma und auch
nach Midgard begeben. Wie tun sie das? Ein Geistgesetz ist in der Rie-
sendimension nicht anwendbar, es muss sich gewissermaßen den
halbstofflichen Mantel, die seelischen Eigenarten des Plasmas umle-
gen, um mit den örtlichen Gegebenheiten bei den Riesen umgehen zu
können. So wie wir, wenn wir nach Frankreich gehen und uns dort ver-
ständigen wollen, Französisch sprechen müssen, oder wie ein Astro-
naut, der sich auf einen anderen Planeten begibt, sich der Lufthülle an-
passen muss und zum Beispiel einen Raumfahreranzug braucht. So
auch die Asen: Sie ziehen die Plasmahülle wie einen Mantel über und
werden damit seelisch seidkundig und weise, zukunftswissend, erhal-
ten all das, was die Seele im körperunabhängigen Zustand kann, näm-
lich sämtliche übersinnlichen Fähigkeiten, aber auf eine plasmatische
Weise mit Gemütsbewegung vermischt, wovon sie in Asgard frei sind.

145
Auf dieselbe Weise müssten Götter, reisten sie nach Midgard, erstens
einen Plasma- und zweitens einen Materiemantel anlegen. Odin ist
dazu in der Tat fähig, er ist ein begnadeter Verwandlungskünsder und
nimmt alle Gestalten und Formen jeder Dimensionsebene an, natur-
gegeben, darf man sagen, denn aus ihm sind ja die beiden anderen Di-
mensionen hervorgegangen: Er ist Geist, Seele, Materie in einem,
wenn auch im tiefsten Wesen Geist. Die Verwandlungskünste der Göt-
ter, insbesondere Odins, sind Ausdruck des Durchdringens der zwei
anderen Daseinsebenen.

Runenkunde

Was sind Runen 9 ? Dazu nur kurz: Die Runen, die Schriftzeichen der
Germanen, bestehen aus in Holz und Stein eingeritzten geraden Stri-
chen. Sie sollen von den Göttern stammen. Odin gilt als ihr Schöpfer.
Von ihm wird berichtet, er habe sich mit seinem Pferd Drasil in die
Weltesche Yggdrasil gehängt, also den Baum, der mit Krone, Stamm
und Wurzeln als Verkörperung der drei Welten angesehen wird, und
durch dieses Opfer sei er runenkundig geworden, habe offenbar alles
Wissen der drei Welten damit erworben. Allvater und Allweise und
daher auch Runenmeister ist Odin, denn die Runen, die aus dem Wel-
tenbaum geschnitzt sind, stellen diesen in all seinen Wissenszusam-
menhängen dar.
Runenkunde ist Zauberwissen. Rune leitet sich ab von runo, »Be-
fragung«, »Zauberlied«. Die Rune wurde geraunt, leise geflüstert. Ein
Zaubergemurmel also. Rune ist auch ein Buchstabe. Runenkunde
gehört eigentlich zum Riesenland, Riesen sind die Bewahrer der Zau-
berei. Das Plasma ist ein verwickeltes, mental ersonnenes, daher auch
erfundenes und erlogenes Gebilde; wer sich da hinein begibt, ist
schnell verwirrt. Dass die Asen Runenkunde betreiben, erscheint mir
zweifelhaft, das brauchen sie nur, wenn sie nach Riesenland gehen,
nicht aber in ihrer göttlichen Heimat, wo alles ohne den Umweg über

9
Rune, ahd. runa, »Geheimnis«, geheime Beratung, Geflüster; got. runa, »Geheimnis«,
(geheimer) Ratschluss; aengl. run, »Geheimnis«, »Beratung«; aisl. »Geheimnis«, »Zau-
berzeichen«, »Runenzeichen«; sie alle beruhen auf germ. runo, »Geheimnis«, das wahr-
scheinlich von »heimlich flüstern«, »tuscheln«, »murmeln« kommt und eine Lautnach-
ahmung ist. Hier kommt auch »raunen« ins Spiel (Alraune). Das Wort »Rune«, das
Substantiv von »raunen«, wurde erst im 17. Jahrhundert wiederentdeckt und als
Bezeichnung für die germanischen Schriftzeichen erkannt.

146
Zauberlieder und Zauberhandlungen unmittelbar erfahrbar ist. Der
Runen bedarf es nur im Luftmeer des Seelischen, dem Totenreich.
Meines Erachtens ist in diesem Zusammenhang auch der Begriff
Runge, »Halte«, »Stützstrebe«, »Stange« (am Wagen) bedeutsam,
denn die Runen ähneln Stangen oder Streben (engl, rung, »Leiter-
sprosse am Wagen«). »Rung« gehört auch im Sinne von »Rundholz«
zu der unter »Ring« behandelten Wörtgruppe.
Bekannt ist der Kulturgründer Rig, der als Runenmeister gilt. Er
erscheint unter den Menschen als Gott, der nicht näher einzuordnen
ist und teilweise Heimdall (Menschen werden Heimdalissöhne ge-
nannt) ähnelt; er gründete die drei Stände der Germanen: Knechte,
Bauern und Jarle. Der Kulturgründer oder gar Menschenschöpfer ist
also gleichzeitig der Erfinder der Schrift.

Weltende

44 Odin: 45 Waftbrudnir:
»Viel fuhr ich, »Lif und Lifthrasir,
viel erforschte ich, ihr Leben bergen sie
viel befragte ich Erfahrene: im Holze Hoddmimirs;
wer lebt von den Menschen, Morgentau
wenn der mächtige W n t e r wird ihr Mahl dort sein,
auf Erden enden wird?« sie pflanzen die Völker fort.«

Nachdem Odin alle Fragen zur Entwicklung gestellt hat, geht er über
zu Ragnarök, was ich als Rückwärtsentwicklung der drei Welten ver-
stehe. Aber es wird ein Sprung gemacht. Die beiden Welten Midgard
und Niflheim ebenso wie Teile Asgards haben sich aufgelöst. N u n wird
gefragt, wer nach dem mächtigen Winter, dem Fimbulwinter, der ne-
ben dem Weltfeuer die Welten vernichtet, von den Menschen über-
lebt. Der Riese antwortet, Lif und Lifthrasir, das Urmenschenpaar, und
zwar sind sie entweder neu geboren worden oder haben überlebt in ei-
nem Gehölz namens Hoddmimir.
Zunächst zurück zum Fimbulwinter. Dieser besteht aus drei un-
mittelbar aufeinander folgenden Wintern, also einem verlängerten
Winter ohne die übrigen Jahreszeiten dazwischen; dadurch kann sich
die Natur nicht mehr erholen, was zum Untergang Midgards führt.
Dieser verlängerte Winter gilt als Vorbote des nahenden Ragnarök. In
Gestalt des Riesen Windswal (»Eiswind«) soll sich der Winter auch in

147
Asgard ausbreiten. Dieser Windswal ist ein Sohn des Wasud, »Unge-
stümes Wetter«. Ebenso gibt es den Weltbrand, den der Riese Surt
nach Asgard hineinweht und der dieses vernichtet.
Ragnarök wird oft übersetzt als Götterfinsternis, was sehr einseitig
ist und den Tatsachen nicht entspricht. Denn es ist auch eine Men-
schen- und Riesenfinsternis. Unklar bleibt bei diesem Ragnarök, ob er
sich bereits abgespielt hat, wir also in einer neuen Welt leben, oder ob
er noch zu erwarten ist. Ist er schon vorbei, dann gibt es die alten Göt-
ter und Riesen nicht mehr, dafür aber neue, ihnen ebenbürtige oder
gleiche. Wie aber heißen dann die neuen Götterprinzipien und Rie-
senkräfte?
Was bedeuten die beiden Menschennamen? Lif heißt »Frau«, Lif-
thrasir »Leben« oder »Leben begehrend«. Sie leben bereits im
Plasma, hier als Gehölz (Hodd) des Riesen Mimir vorgestellt. Mimir
ist ein Riese, der am Mimisbrunnen lebt, also im Plasma (Wasser)
selbst. Mit dem Gehölz ist der Weltenbaum gemeint, der Mimameid,
Yggdrasil oder Lärad genannt wird. Die Ebene, auf der sie im Welten-
baum überleben, ist angezeigt durch den Riesen Mimir; sie überleben
also in Riesenland, aber wohl kaum als körperliche Menschen, sondern
als plasmatische Urbilder. Haben diese beiden vielleicht als menschli-
che Keime im Plasma überlebt? Das wird bestätigt durch den Hinweis,
dass sie sich von Morgentau ernähren. Es ist ja Tau, der von den Ge-
weihen Asgrads, also der Baumkrone Yggdrasils, ins Niflreich fällt und
die Flüsse und Brunnen und eben auch den Brunnen Mimirs bildet.
Hoddmimir ist ein Gehölz, genauer der Baum Yggdrasil selbst, der als
Urschablone allen Daseins sicherlich überlebt hat. Midgard ist also
noch nicht entstanden, es sind alle Archetypen des Irdischen im Wel-
tenbaum gespeichert. So jedenfalls erlaube ich mir diese Geschichte zu
deuten.

Tages- und Nachtgestirn

46 Odin: 47 Waftbrudnir:
»Viel führ ich, »Eine Tochter
viel erforschte ich, hat die Tagesleuchte,
viel befragte ich Erfahrene: eh sie Fenrir erfasst;
wie kommt eine Sonne reiten soll sie,
an den klaren Himmel, wenn die Rater sterben,
wenn diese Fenrir erfasst?« der Mutter Bahn, die Maid.«

148
Im Ragnarök ist mit Midgard das ganze stoffliche Weltall unterge-
gangen, auch Sonne und Mond, aber nach dem Ragnarök wird es
wieder eine neue Sonne geben. Wie kann das sein, fragt Odin. Der
Fenrirwolf, das Plasma, hat ganz Midgard verschlungen. Hier wird
gesagt, Fenrir hätte die Sonne verschlungen, an anderer Stelle heißt
es, die beiden Kinder, die Fenrir mit der Riesin Gyge zeugte, hätten
die Gestirne verschlungen, Hati, »der Hasser«, den Mond, Sköll, »die
Bosheit«, die Sonne; aber beide sind nur Ableger Fenrirs. Es muss klar
verstanden werden: Das Plasma (Riesenheim) verschlingt Midgard,
die Materie löst sich auf und nur ihre plasmatische Urform bleibt
zurück.
Der Riese bleibt auch hier keine Antwort schuldig. Sol hat vor
ihrem Untergang noch schnell eine Tochter gezeugt, »reiten soll sie ...
der Mutter Bahn, die Maid«. Wie es zu einem Ableger kommt und wo
dieser sich aufhält, wenn alles untergeht, das bleibt unerwähnt. Die
einzige Möglichkeit wäre, dass von allen Welten in der höchsten, un-
zerstörbaren Dimension von Gimle Keime übrig bleiben. Gimle heißt
Edelsteindach (gim von lat. gemma = Edelstein; hie = Obdach). Dort
müssten alle Samen der letzten Welt in einer Art Genbank gespeichert
sein, wie Samen fürs nächste Frühjahr. Davon klingt hier nichts an,
sehr wohl aber in der Prosaedda. Alles ist in Asgard geistförmig ge-
speichert und kann daher beim Beginn der neuen Weltenentwicklung
wieder zur Ausfaltung kommen. Die neue Sonne ist das ewige Abbild
der alten Sonne. Wenn ich sterbe, werde ich wiedergeboren im neuen
Kreislauf. Das erinnert an Friedrich Nietzsches Philosophie der Wie-
derkehr des Immergleichen.

Die Schicksalsgöttinnen

48 Odin: 49 Wafthrudnir:
»Viel fuhr ich, »Drei starke Ströme
viel erforschte ich, stürzen übern Hof
viel befragte ich Erfahrene: der Mädchen Mögthrasirs;
wer sind die Mädchen, Schutzgeister sind sie
die übers Meer schweben - dem Geschlechte der Menschen
voll Weisheit wandern sie?« wohnend in der Riesen Reich.«

Wer sind die drei Mädchen, die übers Meer schweben und im Besitz
der Weisheit sind?

149
Die drei Nornen. Die dreigeteilte Zeit - Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft - be-
stimmt nach germanischer Vorstellung den Materieozean. Diese Nornen ruhen »an der
Wurzel des Weltbaumes« im Plasma und wirken von hier aus vorstofflich auf das Irdi-
sche ein, sie sind das Energiegesetz des Irdischen. Midgard wird als drei Wurzeln ge-
dacht, eben weil es der dreifachen Zeit unterliegt.

150
Wafthrudnir gibt eine recht zweideutige Antwort: Diese drei
Mädchen sind Schutzgeister der Menschen und wohnen im Riesen-
reich. Auf ihren Wohnsitz im Riesenreich verweist auch die Tatsache,
dass sie »über das Meer schweben« sowie dass drei starke Ströme über
ihren Hof, das heißt ihr Reich stürzen. Meer und Ströme - wir befin-
den uns also im wässrig-feinstofflichen Bereich Niflheims, des Plas-
mas. Die Nornen, die Schicksalsgöttinnen, sind diese drei, sie wohnen
am Fuß der Weltesche Yggdrasil, am Urdbrunnen, am Wasser also; es
sind Plasmagesetze, die auf Midgard wirken, ähnlich wie Planeten
astrologisch auf das menschliche Schicksal wirken sollen. Sie wirken
so, weil sie dreigeteilt in Schicksal, Werden und Schuld (Vergangen-
heit, Gegenwart, Zukunft) im Menschen genetisch gespeichert sind,
als dessen innerstes plasmatisch-feinstoffliches Wesen in Gestalt der
Seele, die den Lebensplan fesdegt. Aber als Plasmagesetze müssen sie
ihren Sitz natürlich im Plasma und dort wiederum an der Nahtstelle
zwischen Niflheim und Midgard haben, also nahe dem Materiegürtel;
und in der Tat sitzen sie »am Fuße des Baumes« nahe den drei Wur-
zeln, die für Midgard stehen und die sie in analoger Weise verkörpern,
nämlich als unsere drei Zeitformen. Wie bereits gesagt, stammt das
Schicksal aus der Baumkrone, sprich Asgard; das Werden entwickelt
sich aus dem Stamm, dem Symbol des Plasmas; und Schuld (»werden
sollen«), sprich Zukunft, wofür die Wurzeln stehen, bezieht sich auf
Midgard, denn eine Schuld, ein »Werden-Sollen« ist es, in der Stoff-
weit zu leben - Midgard ist das Ende der Entwicklungsabfolge. Hier
wird mittels des Entsprechungssystems über unser Leben bestimmt,
nämlich auf den drei Ebenen. Es ist selbstverständlich und schlüssig,
die Lebensausrichtung aus dem Geist, also Asgard, dem Schicksal
(Urd) folgen zu lassen, und das Gesetz des Werdens, der Entwicklung,
aus Niflheim und dass es unsere Schuld ist, uns bis Midgard hinabent-
wickelt zu haben. Die Nornen sind das Fruchtbarkeitsgesetz des Plas-
mas; im Plasma von Hel wird unser Leben energetisch vorgefertigt.
Die Zeit entfaltet sich in Hel in feinster Weise, handfest aber entfaltet
sie sich erst in der Stoffwelt. Später hören wir mehr über die Nornen,
die treffend als Spinnerinnen vorgestellt werden, denn sie spinnen un-
ser Schicksal aus sich heraus.

151
Die neuen Weltenherrscher

50 Odin: 51 Wafthrudnir:
»Viel fuhr ich, »Widar und Wali
viel erforschte ich, wollen im Weihtum hausen,
viel befragte ich Erfahrene: wenn Surts Lohe erlosch;
wer soll herrschen Modi und Magni
in den Heimen der Asen, sollen Mjöllnir fähren
wenn Surts Lohe erlosch?« nach dem Tode Thors.«

Bei den letzten Fragen geht es um das Geheimnis der Zukunft der Welt
nach unserer Welt. Wie sieht es nach Ragnarök aus, nachdem der Feu-
erriese Surt in Asgard »eingefallen« ist? Nachdem der Weltenunter-
gang, wenn auch nur in wenigen Gesichtspunkten, angedeutet wurde,
geht es darum, was übrig bleibt. Die Edda sagt: Eine Art Samenexis-
tenz, die alles in sich enthält und nur ausgesät zu werden braucht, um
eine neue Welt hervorzubringen, bleibt übrig. Odins Frage lautet da-
her: »Wer soll herrschen in den Heimen der Asen, wenn Surts Lohe
erlosch?« Wenn das Plasma erloschen, Asgard untergegangen ist, wer
herrscht dann?
Surt, »der Schwarze«, der Feuerriese, der in Muspellheim, dem
Feuergürtel Hels, lebt, ist der Anführer der Heiwesen, die nach Asgard
einfallen, denn der feurige Teil des Plasmas grenzt unmittelbar an As-
gard. Die Germanen stellten, wie gesagt, die Rückwärtsentwicklung als
Krieg dar. Wenn das Plasma erlischt, also keine neuen Antriebe zur
Ausfaltung mehr gegeben sind, der Trieb, weiter fruchtbar zu sein, aus-
gelebt ist, fällt Hel in sich zusammen, und nur das, worauf es sich grün-
det, Asgard beziehungsweise Gimle, bleibt übrig. Dies als Einfall der
Plasmawesen in Asgard darzustellen ist recht gewagt, vielleicht aber
war das für die Germanen ein verständliches Bild. Damit bricht dann
auch der reine Geist, Asgard und die Götter, in sich zusammen und be-
siegelt endgültig den Weltuntergang. Aber was bleibt übrig?

Gimle, die letzte Oase

Midgard geht unter, »die Menschen müssen Midgard räumen«, heißt


es in der Seherin Gesicht. Hel geht unter, Surts Lohe erlischt. Asgard
wird zerstört, »der Asen Schicksal«. Aber etwas bleibt übrig: Gimle.
Der Makrokosmos stürzt ein, die Wesen der drei Welten - Menschen,

152
Riesen, Asen - werden vernichtet. Spiegelbildlich verläuft die mikro-
kosmische Entwicklung: Wenn ein Mensch stirbt, verfällt sein Körper,
nur seine Seele überlebt in Hel und sein Geist in Asgard. Dann stirbt
seine Seele in Hel - der zweite Tod! -, übrig bleibt allein sein Geist.
Aber schließlich gibt es noch Gimle, die höchste Ebene innerhalb As-
gards. Gimle heißt dementsprechend »der vor Feuer geschützte Ort«,
den das Feuer des Plasmas nicht erreichen kann. Es ist ein mit Gold
gedeckter Saal. Nach der Prosaedda leben dort die guten Menschen
nach dem Tod. Wer Gimle erreicht hat, muss offenbar nicht mehr am
Kreislauf der Weltgeburten und Weltzerstörungen teilnehmen, er ist
ein Enthobener. Wer das dreimal geschafft hat, heißt es in anderen
Quellen, müsse nicht mehr am Geburts- und Werdespiel teilnehmen.
Gimle soll im dritten Himmelsgürtel Asgards, in Wdblain, »Weit-
blau«, liegen, wo nur Lichtalben wohnen.
Neben Gimle bleibt auch das geheimnisvolle Idafeld übrig, das Feld
der großen Schlacht gegen die Riesen. Das Idafeld (»Feld der Betrieb-
samkeit«), wo die Uberlebenden sich lagern, ist gewissermaßen der er-
loschene Raum, wo die vergangenen drei Welten ruhten, ein leeres,
potenziell aber volles Feld aller zukünftigen Möglichkeiten, die Geist-
wurzel, der Samen aller Welten.
Wer wird überleben? Der Riese weiß es natürlich, nämlich die
Söhne der großen Götter. Odins Söhne Widar und Wali, Thors Söhne
Modi und Magni, die der Vater einst mit der Riesin Jarnsaxa gezeugt
hatte; diese beiden werden die Hauptwaffe Thors, den berühmten
Hammer Mjöllnir, erben, jene Waffe, der jeder Riese unterliegt. Auch
Widar stammt aus einer Beziehung Odins mit einer Riesin, Grid. Er
ist es, der seinen Vater, welcher vom Fenrirwolf verschlungen wird,
rächt, indem er diesem den Rachen aufreißt, was dessen Ende bedeu-
tet. Wali ist ebenfalls ein mit einer Riesin, nämlich Rind, gezeugter
Sohn Odins. Wali und Widar werden die Herrscher in der neuen Welt-
dreiheit sein.
Es überleben noch zwei weitere Gestalten, nämlich der Ase Balder
und sein Bruder Höd. Beide kommen aus der Unterwelt des Plasmas,
wo sie nach ihrem Tod überlebten. Sie überstehen den Ragnarök, die
Selbstauflösung Hels nach Asgard hinein, wo sie offenbar als Keime
Hels das Saatgut für die neue Heidimension bilden.
Zuvor hörten wir, dass ein (neues) Urmenschenpaar überlebt, Lif
und Lifthrasir. Also auch für die Neubesiedlung Midgards ist gesorgt.
Von allen drei Welten überleben geistartige Samen, die wieder zur
Entfaltung kommen werden.

153
Die meisten Kosmologien der alten Kulturen kennen dieses pulsie-
rende Weltall; Wiedergeburt, individuell wie kosmisch, ist eine uralte
Philosophie. Und aus Gimle wird alles neu geboren.

Das Totenreich löst sich im Geist auf

52 Odin: 53 Wafthrudnir:
»Viel fuhr ich, »Walvater wird
viel erforschte ich, der Wolf verschlingen;
viel befragte ich Erfahrene; ihn rächt Widar am Wolf:
wer wird Odin den grimmen Rachen
das Ende bringen, soll zerreißen er
wenn die Götter vergehn?« zum Ende dem Ungetüm.«

Die letzte Frage fällt und sie bereitet gleichzeitig das Todesurteil des
Riesen vor: »Wer wird Odin das Ende bringen?« Antwort: Der Fen-
rirwolf, die Inkarnation und Personifikation Niflheims. Das Plasma,
hier als verschlingender Wölf dargestellt, fällt nach Asgard ein. Dabei
verfällt im nächsten Schritt die Asgarddimension und damit Odin, der
Allvater. Das Ganze wird so dargestellt, als ob der Wölf Odins Tod ver-
schulde, was abwegig ist. Denn letztlich bewirkt ein Gesetz innerhalb
des Geistes seine Entfaltung zu drei Welten und ebenso die Rück-
nahme der drei Welten. Diese Bewegung von Geburt und Tod ist ein
Geistgesetz. Odins Söhne, heißt es, rächen ihres Vaters Tod. Sie töten
den Wolf, beziehungsweise er stirbt einfach, wenn er Asgard betritt.
Die Geschichte der Dimensionen wird hier als Krieg vorgeführt, was
die tatsächlichen Ereignisse verschleiert. Der Wölf geht beim Welten-
rückzug zugrunde. Notgedrungen! Die Edda stellt es so dar, dass
Odins Sohn Widar Rache übt. Doch der große Widerspruch des Ra-
gnarök - warum der Untergang der Götter - bleibt bestehen. Der All-
vater kann - denken wir - nicht untergehen. Der Geist, der alles ge-
schaffen hat, wird ersetzt durch seine Söhne, weshalb in der neuen
Welt Odin Widar oder Wali heißen soll. Aber das ist ebenfalls nicht
schlüssig, denn die beiden Söhne stammen von Riesinnen ab, sind also
halb Götter, halb Riesen und deshalb nicht geeignet, das rein Göttli-
che zu verkörpern. Oder sollen sie Asgard und Hel gleichzeitig ver-
körpern? Hat sich hier etwa eine andere Uberlieferungslinie hineinge-
schlichen? Odins Söhne scheinen allerdings geeignet, den Wolf zu
töten. Fenrir steht für das Plasma, die beiden Söhne haben Anteil am

154
Göttlichen und am Plasmatischen und können daher den Plasma-Wolf
vernichten.

Odins letzte Worte

54 Odin: 55 Wafthmdnir:
»Viel fahr ich, »Nicht einer weiß, was in
viel erforschte ich, alten Tagen
viel befragte ich Erfahrene: deinem Sohn du gesagt!
was sagte Odin Verfallen dem Tod,
dem Sohn ins Ohr, erzähle ich Vorzeitkunde
eh man auf den Holzstoß ihn und von der Asen Untergang!
hob?« Mit Odin maß ich
mein Allwissen:
du bleibst der Wesen Weisester!«

Dies war die letzte Prüffrage, die ungewöhnlichste von allen, seitdem
der Riese unzweideutig erkannt hat, dass er sich mit Odin persönlich
gemessen hat und nicht mit irgendeinem Wanderer. Odin fragt: »Was
sagte Odin dem Sohn ins Ohr, eh man auf den Holzstoß ihn hob?« Ge-
meint ist Odins Sohn Balder, der von seinem Bruder Hödur verse-
hentlich - durch Lokis List - umgebracht wurde. Beide landeten in
Hel, daher Balders Beiname »Heibewohner«. Was also sagte Odin
dem Balder ins Ohr, bevor sein Leichnahm auf den Feuerstoß gelegt
wurde? Diese Frage kann keiner außer ihm selbst beantworten, und
daran erkennt der Riese, dass Odin selbst der Fragesteller ist. Da er
nicht antworten kann, hat er den Wissensstreit und damit seinen Kopf
verloren. »Mit Odin maß ich mein Allwissen: du bleibst der Wesen
Weisester«, gesteht er ein. Odins letzte Worte an Balder waren viel-
leicht das Unsagbare, dass alles in allem ist; Odin gab so sein universa-
les Wesen weiter, denn Balder wird Odin beim Ragnarök überleben.
Damit endet der großartig verdichtete Blick über die drei Welten
und ihren Untergang.

155
3. DAS GRIMNIRLIED
Das Gefüge der seelischen Hölle

Auch in diesem Lied wird Odin als Wanderer in der Dimension der
Riesen dargestellt; da er als Allgott alles ist, kann er sich selbstver-
ständlich in alle aus ihm geschaffenen Daseinsebenen versetzen, gleich-
sam sich selbst in seinem eigenen Leib erkunden. Natürlich reist Odin
inkognito - wie sollte man den reinen Geist je erkennen können -, hier
unter dem Decknamen Grimnir, »der Maskierte«, und zwar an den
Hof des Königs Geirröd, um zu prüfen, ob dieser freizügig ist gegen-
über Fremden. Offenbar gilt Freizügigkeit als göttliche Eigenschaft.
Doch der König hält ihn für einen bösen Zauberer, weil er weder
spricht noch auf Fragen antwortet. Er zwingt ihn, zwischen zwei Feu-
ern zu sitzen und ihm acht Tage und Nächte Rede und Antwort zu ste-
hen. Nur des Königs Sohn, der zehnjährige Angar, ist ihm zugetan und
bietet ihm Speise und Trank an.
Es handelt sich um eine sehr lose Rahmengeschichte, die auch weg-
gelassen werden könnte. Nachdem Odin sich zu erkennen gegeben
und der König sich vor Schreck ins eigene Schwert gestürzt hat, hebt
Odin zu einer Ruhmeshymne auf sich selbst an, schildert seinen eige-
nen Glanz, indem er die verschiedenen Unterbereiche innerhalb sei-
nes dreifachen kosmischen Leibes aufzählt. Paradox bleibt, so könnte
man denken, dass der König ihn gar nicht als Odin gequält hat, son-
dern ihn für einen bösen Zauberer hielt, er also gar keine Schuld trägt.
Dem ist nicht so! Da Odin alles ist, ist er auch das, was nicht unmittel-
bar als er selbst zu erkennen ist; da er eben alles ist und es ihn als Ein-
zelnes und Abgesondertes nicht gibt, muss jeder und jedes als Odin
verstanden und verehrt werden. Das ist das Geheimnis der allumfas-
senden Verwandlungsfähigkeit Odins. Unbarmherzig erscheint es uns,
wie der Allgott einen blinden, unwissenden, menschlichen König, der
ja nicht hellsehen kann, so leichtfertig zum Tode verurteilt. Aber so
verhält es sich mit allen Bestrafungen Odins. Wer das Geistige des Da-
seins nicht erkennt und bloß beschränkte menschliche oder riesische
Wertmaßstäbe kennt, hat den Sinn des Daseins verloren und das rächt
sich durch den eigenen Untergang. Die Wesen der Plasma- und Ma-
teriewelt müssen bei all ihrem Tun und Denken ihren Ursprung, ihre

156
geistige Natur bedenken. Ähnlich war es bei der Wissenswette mit dem
Riesen Wafthrudnir, bei der dieser wegen seines begrenzten Wssens
zum Tode verurteilt wird, obwohl er eigentlich fast alles wusste, bis auf
das, was ein erschaffenes Wesen niemals wissen kann. Warum straft
Odin so schnell und so hart? Soll tatsächlich damit ausgedrückt wer-
den: Wer das göttliche Odinsgesetz nicht vollkommen verinnerlicht
hat, geht unter? Soll gesagt werden: Wir alle sollen reine Geistwesen,
das heißt Odin selbst werden? Das ist aber offensichtlich erst möglich
beim Ragnarök, wenn die beiden Welten und damit alle ihre Lebe-
wesen sich in Asgard auflösen, dann kommt es für alle zur großen Be-
freiung ins Geistige. Müssen sich dann nicht alle Wesen bereits so weit
entwickelt haben, dass sie reiner Geist sind? Dies wird in der Edda
jedoch nicht angedeutet. Ob also Ragnarök auf eine kollektive Erlö-
sungsphilosophie hinweist, bleibt unsicher, aber die Logik der stufen-
weisen Weltauflösung, die wohl in evolutiven Zeiträumen zu denken
ist und nicht blitzartig vor sich geht, erzwingt das.
Eine ganz entgegengesetzte Deutung des Wanderers Odin ist fol-
gende: Odin wandert durch die aus ihm hervorgegangenen Zweigwel-
ten Plasma und Materie. Odin ist also überall gleichzeitig anwesend.
Odin ist alles. Es werden in diesen Geschichten Gottbegegnungen vor-
gestellt. Einzelne Riesen oder Menschen erkennen die wahre Stufen-
folge der Daseinsebenen und ihren beschränkten Standort darin. Diese
spirituelle Weisheit lässt sie sterben, das heißt das göttliche Gesetz
werden. Keine Entwicklung ohne Tod! Wer das Glück hat, Odin zu be-
gegnen, muss sterben nach dem Gesetz, »Wer Gott sieht, stirbt«. Aber
es ist kein profaner Tod, sondern ein Tod durch Erleuchtung, denn
zum Schluss erkennen die betroffenen Menschen und Riesen immer,
wem sie gegenüberstehen. Damit erlangen sie Gotteseinsicht, lösen
sich auf in Gott. Tod hier verstanden als Hinüberwechseln zu einer
höheren Seinsstufe durch Erkenntnis des Geistgesetzes. Nach dieser
Darstellung ist eine vorzeitige individuelle Erlösung aus der Welten-
evolution möglich.

157
Odins Pein

Das Lied beginnt sogleich mit Odins Pein zwischen den Feuern.

1 3
Heiß bist du, Feuer, Heil wird dir, Agnar,
und viel zu hoch; da Heil dir beut
weich, Flamme, fort! des Heldenvolks Herr:
Es glimmt mein Pelz, besseren Lohn
heb ich gleich ihn hoch; eines Bechers sollst du
es brennt der Mantel mir. nehmen nimmermehr.

2
Acht Nächte
saß ich nah den Feuern,
da mir niemand Nahrung bot,
als einzig Agnar,
der Erbe Geirröds,
der das Heervolk beherrschen soll.

Der König hört der geschwollenen Rede des vermeintlichen bösen


Zauberers mit halb gezückten Schwert zu. Odin dagegen lobt Agnar,
des Königs Sohn, für seine Gastfreundschaft und verspricht ihm, dass
er herrschen werde über Heerscharen. Doch das erwartet den Nach-
folger des Vaters ohnehin.

Die Wohnheime der Götter:


Thors Thrudheim

4
Das Land ist heilig,
das ich liegen seh
den Asen und Alben nah;
doch in Thrudheim
wird T h o r weilen,
bis die Götter vergehn.

In Strophe 4 bis 17 schildert Odin die verschiedenen Wohnheime der


Bewohner der drei Welten, Asen und Alben, und stellt damit sich selbst

158
in all seiner Herrlichkeit dar. Wir dürfen es so sehen, dass der König
Odin, den Geist des Seins, und damit die Abfolge der kosmologischen
Ebenen, die Odin für ihn darlegt, erkannt hat. In diesem Lied, das wir
als Merkgedicht, als Aufzählung der Eigenschaften Odins zu verstehen
haben, wird uns ein recht umfassender Zugang zu den Emanationen
Odins vermittelt.
Zunächst reist Odin in die zweite von ihm geschaffene Welt, Hel
oder Riesenheim, nach seinen Bewohnen auch Alben- oder Alfheim,
aber auch Zwergenheim genannt. Hier liegt Thrudheim (thrud =
Kraft), der Raum, wo der Gott T h o r lebt.

Thor, der Blitz

Alben, Alfen, Elben, Elfen oder auch Riesen und Zwerge werden die
nichtmenschlichen Lebewesen Hels genannt. Diese Begriffe mögen
verschiedene Gruppen von Plasmabewohnern bezeichnen, oder, was
logischer wäre, sie sind verschiedene Namen für die gleichen Wesen,
aber aus unterschiedlichen Überlieferungen kommend, so wie Elfe die
englische Form vom französischen Alb, Fee oder Fay darstellt.
T h o r gilt als Ase, wirkt aber vor allem in Hei, weshalb ich ihn als
Heiprinzip, als Riese besonderer Art verstehe. T h o r gilt als Zwitter-
wesen, denn seine Mutter ist Jörd, die Erde, sein Vater Odin. Aus die-
sem Grund wurde er wohl auch zum Beschützer seiner Mutter und da-
mit der Menschen vor den Riesen. Seine Lieblingsbeschäftigung ist es,
nach Osten, nach Niflheim zu ziehen, durch die Flüsse des Totenreichs
zu waten (Totenfluss = Hel) und Riesen zu erschlagen, weil diese im-
mer überhand zu nehmen drohen. Ein Wesen, das reiner Geist einer-
seits, Plasma andererseits ist, wäre ein Halbgott und Halbriese. Ich be-
haupte nun, dass T h o r nur deshalb Riesen jagen kann, weil er selbst zur
Hälfte ein solcher ist. Er watet durchs Wasser, heißt es, weil er im Was-
ser Niflheims, des Totenflusses, lebt. T h o r verkörpert das Plasma.
Seine Frau ist die Riesin Sif, mit der er zwei Söhne, Magni und
Modi, zeugte. Er wohnt in Thrudheim (»Kraftheim«) und sein Saal
dort heißt Bilskirnir, der Blitz (»der einen Augenblick Leuchtende«;
bil, leuchtend, skirnir, Blitz). Darin sind 540 Räume zu finden. Das mit-
telhochdeutsche Wort »Saal«, das im Allgemeinen für die Paläste der
Gottheiten benutzt wird, steht für Wohnung, Halle, Tempel und geht
zurück auf das germanische salaz, das aus einem Raum bestehende
Haus der Germanen.
T h o r ist auch der Donnerer. Wenn es donnert, sagt man in Schwe-

159
den, »der alte T h o r fährt«. Sein Hammer Mjöllnir heißt vielleicht
nicht Zermalmer, sondern »weiß Glänzender«, was für Blitz stehen
könnte. T h o r wäre dann Blitz- und Donnergott. Aber damit wird Thor
lediglich für materielle Erscheinungen herangezogen. Mit Blitz ist
eher der Glanz Hels oder Asgards gemeint.
T h o r wacht also als Abgesandter Asgards in Thrudheim, im Rie-
senland, auf dass die Riesen nicht überhand nehmen, Asgard nicht an-
greifen und andererseits Midgard nicht ganz unterjochen. Erst beim
Ragnarök, wenn die Götter vergehn, wird auch er nichts mehr gegen
die anstürmenden Riesen unternehmen können.

Ulis Eibental

5
Eibental heißt es,
wo Uli seinen Saal
sich hingesetzt hat;
Albenheim gaben
die Asen Freyr
vor Zeiten als Zahngeschenk.

Uli gilt als einer der zwölf Asen. Er ist der Sohn von Sif und dem Stief-
sohn Thors und wohnt in Eibental (Ydalir), wohl weil er Bogen aus
Eibe schnitzt. Er ist vor allem bekannt als jagender Ase und Skiläufer.
Daher wurde er auch als Gott des Winters verehrt. Uli wird gelegent-
lich übersetzt als »der Majestätische«, »der Herrliche«; was auf eine
größere Bedeutung schließen lässt; vermutlich wurde er unter dem
Einfluss der Skalden ins Abseits gedrängt.

Freyrs Albenheim

In Albenheim, das dieser als »Zahngeschenk« einst von den Asen er-
hielt, wohnt Freyr. Freyr wie seine Schwester Freyja, die beiden Kin-
der des Riesen Njörd, sind, wenn man ihren Stammbaum betrachtet,
keine Asen, sondern ursprünglich Wanen, ein Riesengeschlecht, das
schwer zu unterscheiden ist von den übrigen Riesen. Freyr ist also kein
Ase, sondern ein zum Asen erhobenes Prinzip. Freyr heißt so viel wie
»Herr« und wurde als Prinzip des Wachstums und Wohlstands bei den
Germanen einst verehrt. Wachstum bezieht sich auf das Plasma und

160
seine Fruchtbarkeitskräfte, die die Grundlage bilden für das Wachstum
und Gedeihen im materiellen Midgard. Freyr ist verheiratet mit der
Riesin Gerd, die er mittels grober Einschüchterungen zur Heirat
zwang. Mit ihr zeugte er den Riesensohn Fjölnir.
Freyr und Freyja verkörpern die Fruchtbarkeit und Freyja zusätz-
lich die Liebe. Während Freyr in Alben- oder Alfheim wohnt, ist seine
Schwester in Folkwang zuhause, der weiblichen Entsprechung Wal-
halls, also eindeutig im Plasma. Wir hatten Walhall als einen Ort oder
Zustand innerhalb Hels entziffert. Offenbar muss auch Albenheim
dort angesiedelt werden, denn Freyja und Freyr sind ja ein Prinzip.
Man muss sich immer klar sein, dass die Plasmawesen nur durch den
Geist leben, also eine geistig-plasmatische Mischung darstellen,
ebenso wie Menschen aus Geist, Plasma und Körper bestehen. Ein
Mensch, dessen Körper stirbt, ist nur noch Plasma und Geist, und ein
Riese, der durch seinen Tod, vermute ich, nach Asgard eingeht, wäre
dort nur noch Geist.
Dass die beiden Geschwister zu Asen erhoben wurden, hat ver-
zweigte geschichtliche Hintergründe.

Odins Hlidskjalf

6
Dieser Hof ist der dritte
wo holde Götter
mit Silber den Saal deckten;
Walaskjalf heißt er,
ihn wirkte sich
der Ase in Urtagen.

Der Wohnsitz Odins, Walaskjalf (wohl ein Synonym Walhalls) ge-


nannt, liegt natürlich in Asgard. Berühmt wurde er, weil sich darin
Odins Hochsitz Hlidskjalf (hlid, »Tür, Tor, Türbank«,und skjalf, engl.
shelf, »Regal«, also »Gerüst über der Türöffnung«, »Aussichtstrum«)
befindet, von dem aus der Weltenherrscher sämtliche drei Welten mit
einem Blick überschauen kann. Damit wird klar gesagt, dass von diesem
Punkt - also von Asgard wohl insgesamt - problemlos in die zwei aus
diesem hervorgegangenen Welten hineingeschaut werden kann, nicht
aber umgekehrt.

161
Die Kleinodbank Odins und Sagas

7
Kleinodbank heißt der vierte,
doch kühle Wellen
rauschen über ihm.
Odin und Saga
trinken dort alle Tage
glücklich aus Goldbechern.

Der nächste Saal trägt den merkwürdigen Namen Sökkvabek, »Klein-


odbank« oder »Wasserfall, Sturzbach«. Er liegt vermutlich in Riesen-
heim, denn hier wohnt Saga, offensichtlich eine Riesin, die eine der
Riesenfrauen Odins ist.10 Odin hat in jeder Dimension eine Geliebte.
Hier im Wässrigen, im Plasma, besucht Odin sie häufig und trinkt mit
ihr aus goldenen Bechern (Gold = Plasma) wohl Skaldenmet, das zur
Dichtkunst anregt, oder Nektar, den Trank der Unsterblichkeit. Ist
dieser Trank der Plasmatrank selbst, der Unsterblichkeit - wohlge-
merkt nur im Plasma - verleiht? Warum dort kühle Wellen rauschen,
wird verständlich, wenn man weiß, dass das Plasma als wässrig be-
schrieben wird. Was aber ist eine Kleinodbank? Kleinod ist Schmuck
(Schmuck ist oft mit Zwergen und Riesen, also dem Plasma verbun-
den), also etwas Feines und Zierliches, was auf das seelisch Raffinierte
des Plasmas verweist. Schmuck leitet sich wortgeschichtlich von
smucken, »in etwas hineindrücken«, ab (mnd. smuk heißt »geschmei-
dig, biegsam«, und mhd. smuc »anschmiegen«, »Umarmung«).
Schmuck versinnbildlicht die anschmiegsame Eigenart des Plasmas,
was keineswegs weit hergeholt ist, denn es handelt sich um mentalen
Schmuck: Einbildungen, Erfindungen, Ränkespiel, Wünsche. Das
Plasma ist nicht einfach feinstofflich, sondern seelisch feinstofflich, und
damit einher gehen all unsere biegsamen seelischen Einbildungen.
Bank heißt eigentlich Erhöhung; eine Erhöhung im Wasser, im Plasma
der Seele. Bank heißt auch Untiefe (Austern-, Korallen-, Sandbank).
Also übersetze ich: Die Kleinodbank ist eine aus dem Materiellen he-
rausragende mentale Erhöhung, bestehend aus kostbaren Gedanken
und goldenen Gefühlen. Mentale Zustände geben dem Plasma eine

10
Odins Frau Frigg wohnt in Fensalir, was »See-Halle« heißt und erneut auf das Meer
und damit Plasma verweist. Das erstaunt, denn an sich wird Frigg so vorgestellt, als lebe
sie in Asgard. Oder ist Fensalir nur Friggs »Ferienhaus« im Plasma?

162
Form, formen eine »Bank« (wie Sitzbank, Geldbank). Eine Kleinod-
bank ist einfach ein starkes Gefühl, und das durchleben Odin und Saga
im Liebesrausch, wenn sie sich im Plasma treffen. Ein Gefühlsraum,
ein H o r t erotischer Kostbarkeit bildet sich, eben eine Kleinodbank.
Unsterblichkeitstrank, Wellen, Kleinodbank und Goldbecher ver-
weisen uns immer auf dasselbe, das Plasma. Ein Unsterblichkeitsgefühl
existiert im Plasma, weil kein Zeitgefühl mehr besteht. Das Gefühl,
von Wellen, Wasser, Flüssen umgeben zu sein, verweist auf die Ener-
giebewegung des Plasmas; die Kleinodbank ist verdichtetes Gefühl.
Ein Liebes-, Weisheits- und Dichtergefühl berauscht uns in der Hei-
zone. Wie das? Die raumzeitlose Stimmung und die Befreiung vom
Körperlichen führen dazu, dass wir uns neu geboren fühlen; befreit von
den Einengungen der Materiewelt wird das Gefühl ausgeweitet zu all-
umfassenden Verbindungs- und Liebesgefühlen, zu allumfassenden
Wissens- und Weisheitsgefühlen, und Letztere bewirken drittens eine
Euphorie in der Einschätzung des Daseins, was wiederum zur gehobe-
nen Sprache, zur Poesie und Dichtung führt - das ist eben das besagte
Skaldenmet, kein wirklicher Trunk, sondern atmosphärische Eigen-
schaft.

Frohheim und Walhall

8 10
Frohheim ist der Fünfte, Kund ist er allen,
wo die funkelnd goldene die zu Odin kommen,
Walhall weit sich dehnt; den Saalbau zu sehen:
Odin aber ein Wolf hängt
kiest alle Tage wesdich vom Tor,
kampftote Krieger dort. ein Aar schwebt über ihm.

9
Kund ist er allen,
die zu Odin kommen,
den Saalbau zu sehen:
Schilde sind die Schindeln,
Schäfte sind die Sparren,
es decken Brünnen die Bank.

Als nächste Region wird der Wonnesitz Gladsheim, »Frohheim«


(engl, glad = froh), vorgestellt. Dort besitzt jeder der zwölf Asen einen

163
Prachtssitz. Es handelt sich sozusagen um einen Feriensitz im Ausland,
jenseits Asgards, wo sich die Asen froh und voller seelischer Wonne
fühlen, etwas das sie in Asgard wohl nicht tun, denn dort steht man
jenseits widersprüchlicher Gefühle von Wonne und Leid. Wir be-
finden uns demnach im Plasma, im Tötenreich, dem Reich mentalen
Auf und Abs. N u n liegt innerhalb Gladsheims das bekannte Gebiet
Walhall, das uns bei seiner Bestimmung helfen kann. Walhall liegt im
Plasma, in Niflheim, das wässrig ist. Frohheim ist also ebenfalls ein
Ort beziehungsweise Zustand Hels. Es heißt, die Kampftoten müssen
als letzten Fluss Thund, »den Angeschwollenen«, überqueren, um
nach Walhall zu gelangen. Hier kommen die Verstorbenen zuerst an,
nachdem sie die reinigenden Wasser Niflheims oder Hels durchlaufen
haben; sie werden in diesem Frohheim voller Wonne sein, froh darü-
ber, sich den eigenen Wünschen und Phantastereien überlassen zu
können. Walhall betreten die gewöhnlich Verstorbenen nicht, das ist
bekanntlich Helden, also im Krieg Gefallenen vorbehalten. Odin
»kiest«, erwählt, die zu Fallenden, und die Walküren geleiten sie nach
Walhall.
Unklar bleibt, warum jeder Ase in Frohheim einen seelischen Won-
nesitz haben muss. Hier treffen wir wieder auf das Gesetz der Emana-
tion. Jedes Asenprinzip hat in den zwei untergeordneten Dimensionen
sein holografisches Spiegelbild. Die Prinzipien Asgards verdichteten
sich zu jenen Hels und diese verdichteten sich weiter zu jenen Mid-
gards. So gibt es eigentlich nur Geistprinzipien, nur Odin in allen Di-
mensionen. Die Paläste oder Hallen der Asen im Plasma bedeuten
nicht, dass Asen dort leben, sondern dass sie auch dort, aber in minia-
turisierter, plasmatisierter Form gegenwärtig sind.
Gedeckt ist der Saal Walhalls mit Schilden und Speeren. Brünnen,
das sind Panzerhemden, liegen auf den Sitzbänken, weil hier die Ge-
fallenen leben. »Ein Wolf hängt westlich vom Tor« bezieht sich ver-
mutlich auf die beiden Wölfe Odins, Geri und Freki. »Ein Aar schwebt
über ihm«, bezieht sich auf Odins Symboltier, den Adler.

Das Totenreich als mentales Lärmheim

11
Thrymheim heißt der sechste,
wo Thjazi wohnte,
der furchtbare Frostriese;
nun haust Skadi,

164
die herrliche Götterbraut,
in dem alten Ahnenhof.

Thrymheim ist ein Gebiet im Plasma, es scheint in den Bergen zu lie-


gen, wo die Bergriesen wohnen. Thrym heißt auch der König der Rie-
sen. Thrymheim ist als Lärmheim zu übersetzen Warum Lärmheim?
Warum werden die Riesen als Lärmer beschrieben? Ähnlich leitet sich
Halle in Walhall ab von Hall, hallen, Lärm, was bei dem dort herr-
schenden Waffengeklirr verständlich ist, aber warum das Plasma ins-
gesamt lärmig sein soll, bleibt zunächst uneinsichtig. Bedeutsam ist
hier die Wortherkunft. Das Substantiv ist aus dem Begriff Alarm her-
vorgegangen (spätmhd. alerm, frühnhd. alarmfaj). Bei Alarm eilt man
zu den Waffen. Obwohl die deutsche Übersetzung nicht hinweis-
trächtig ist, ist Lärm doch mit Geschrei und mit »Gefahrmeldung, Be-
unruhigung« verbunden, und das ist im Plasma in der Tat der Fall.
Vielleicht Lärmheim in dem Sinne, dass nicht akustischer, sondern see-
lischer Lärm gemeint ist. Da nach dem Tod unsere Seele nur in ihrem
Plasmagewand überlebt, bleiben auch nur unsere mentalen »Schreie«,
unser denkerisches Geplapper, unser Gefühlsaufruhr, aber auch unsere
Lust- und Wonnezustände übrig. Lärmheim ist daher eine treffende
Bezeichnung für die von uns überlebende duale Gefühlswelt.
In Thrymheim wohnt der Riese Thjazi. Auf diesen Frostriesen ge-
hen wir ausführlich in einem anderen Zusammenhang ein. Erwähnen
will ich hier allerdings, dass Odin die Augen dieses Riesen an den Him-
mel warf, wo sie zu Sternen wurden. N u n wissen wir, dass die Milch-
straße zum physischen Weltall gehört, der Sternenhimmel also nicht
die Augen (die Plasmaaugen) des Riesen sein kann. Doch der physische
Sternenhimmel wird in allen alten Kulturen benutzt, um auf das
Plasma - das so weit weg und unvorstellbar ist wie die materiellen
Sterne - zu verweisen. Die Sterne sind für die Menschen Symbol des
Plasmas, und das wird hier gesagt, nichts sonst.
Skadi, »die herrliche Götterbraut«, wurde im Zusammenhang mit
Njörd besprochen; sie ist Riesin und damit Ausdruck des Plasmas.

Balders Breitglanz

12
Breitglanz heißt der siebente,
dort hat Balder sich
die Halle hingebaut;

165
auf jener Flur,
der Freveltat
nimmer nahen mag.

Hier wird der Wohnort Balders, des Sohns von Odin und Frigg, er-
wähnt. Balder wohnt mit seiner Frau Nanna und dem Sohn Forseti in
Breitglanz (Breidablik). Breitglanz gilt als Stätte der Reinheit und als
schönster Palast. Freveltat kann diesem Ort nicht nahen, weil Balder
als Licht- und Reinheitsprinzip gilt. Wir wissen nichts Genaueres über
ihn, lediglich sein Tod ist bekannt: Er musste, was eigentlich undenk-
bar ist für ein Asgardprinzip, ins Totenreich gehen. Daher sein
Beiname »Tränengott«, denn alle Welt weinte über sein Schicksal in
der Hölle. In welchem Unterbereich Asgards oder gar Hels Breitglanz
sich befindet, ist nicht zu erschließen, wie ja überhaupt die Rolle
Balders kaum zu bestimmen ist, da über seine sonstigen Eigenschaften
fast nichts bekannt ist. Vielleicht handelt es sich auch um einen aus ei-
ner anderen Überlieferung in den Kreis der Asen übernommenen
Gott. Ich vermute zudem, dass er vielleicht gar kein Ase ist, sondern
ein Heiprinzip, welches das Hel-Licht verkörpert. We sonst kann er
sterben und nach Hel gelangen?

Heimdalls Himmelsburg

13
Himmelsburg heißt der achte,
wo Heimdall lange
des Weihtums walten soll;
im behaglichen Haus
trinkt herrlich Met
dort gerne der Götterwart.

Himinbjörg, das heißt Himmelsburg oder -berg, ist der Wohnort des
Asen Heimdall. Heimdall scheint seine Burg oder seinen Berg an der
Nahtstelle zwischen Asgard und Hel zu haben, dort wacht er mit dem
Gjallarhorn vor dem vorausgesagten Ansturm der Riesen. Dann wird
er sein Horn blasen zum Ragnarök, dem Rückzug des Plasmas in seine
Heimatdimension Asgard. Heimdall ist also der Götterwart, der die
anderen Asen warnt. Sein Wohnheim müsste folglich am äußersten
Rand liegen. Dass es bei der Bifröstbrücke steht, finden wir an anderer
Stelle erwähnt. Uber diese Brücke stürmen die Riesen nach Asgard.

166
Die Brücke stellt demnach alle Berührungspunkte zwischen Hel und
Asgard dar, also müsste Heimdali auch an allen Punkten rings um As-
gard wachen. Er stellt somit ein geistiges Alarmsystem gegen die see-
lische Sturmflut dar. Himmelsburg heißt sein Sitz, ganz einfach weil
Asgard und Himmel identisch sind, wobei natürlich nicht unser physi-
scher Himmel gemeint ist. Dass es sich um eine Burg handelt, ist ein
erneuter Hinweis auf eine Dimensionsgrenze. Die Himmelsburg liegt
demnach genau an der Grenze zwischen Asgard und Hel.

Freyjas Folkwang

14
Folkwang heißt der neunte,
doch Freyja waltet
dort der Sitze im Saal;
Tag für Tag
kiest sie der Toten Hälfte,
doch die andre fällt Odin zu.

Freyja wohnt in Folkwang. Hinweisträchtig ist die Wortbedeutung:


Folk-wang heißt »Feld des Volkes« oder »Feld des Heeres«. Folk
kommt von »Volk«, wang bedeutet bayrisch-österreichisch »Wie-
senabhang«, gotisch waggs, »Paradies«, Wiese, altenglisch wang,
»Feld, Ebene, Land«, altisländisch vangr, »Feld«, »eingefriedeter
Platz«. Allen diesen Substantiven liegt die Bedeutung »Biegung,
Krümmung« zugrunde. Die Etymologie verweist uns auf das Bild
eines sanften Wesenabhangs, wo die Gefallenen ausruhen; in der grie-
chischen Überlieferung ist es die Asphodeloswiese, eine schöne
Blumenwiese, auf welcher sich die ankommenden Toten erholen. Auch
in der Nahtodeserfahrung erleben viele moderne Menschen eben diese
Wiese.
Folkwang ist die weibliche Entsprechung zu Walhall. Odin erhält
für Walhall die eine Hälfte der Gefallenen, Freyja die andere Hälfte für
Folkwang. Freyja heißt auch Walfreyja, also Herrin der auf der Wal-
statt Gefallenen. Diese unterweist sie dann in den Zauberkünsten, ver-
mutlich der seelischen Zauberei, des seelischen Umdenkens, was in
Hei dazugehört, sind wir dort doch reine Seele. Auch in Freyjas Halle,
nicht anders als in Odins Walhall - von Snorri auch Sessrumnir, »viele
Sitze habend«, genannt dürfen sich die Gefallenen erholen, werden
bewirtet und umsorgt von Walküren.

167
Eindeutig klar wird hier, dass Freyja ein Heiprinzip ist, das Toten-
land selbst. Andererseits ist Odin in seiner Gestalt als Herr von Wal-
hall ebenfalls ein Heiprinzip. Wir dürfen das so verstehen: Odin als
Geistprinzip in seinem Aspekt als Heiprinzip versorgt die gefallenen
Krieger, und das Geistprinzip Freyja in ihrem Aspekt als Heiprinzip
versorgt Tote in Folkwang. Sind also die Götter gleichzeitig Riesen?
Kommt aus diesem kosmologischen Verständis heraus die ganze Ver-
wirrung bei der Ortsbestimmung der Götter? Ich meine ja! W i r müs-
sen also fortan streng unterscheiden, in welchem ihrer drei Aspekte As-
gard, Hel oder Midgard die Gottheiten sich äußern. Hier drückt sich
recht auffällig das spirituelle Verständnis der Germanen aus. Da alles
Geist ist, ganz gleich in welchem Verdichtungsgrad, müssen wir ei-
gentlich sämtliche Lebensvorgänge in allen Dimensionen als Odin an-
sprechen. Andererseits muss, um zu wissen in welcher Dimension sie
gerade handeln, angezeigt werden, ob sie als Hel- oder als Asgard-
erscheinung auftreten. Daher die Doppelbödigkeit vieler Götter, mal
werden sie als reiner Geist dargestellt, mal als Plasmawesen.
Allerdings liegt bei den Geschwistern Freyr und Freyja die Beto-
nung eindeutig auf ihrem Heiaspekt. Andererseits ist nicht auszu-
schließen, dass die beiden Gottheiten aus einer anderen Kultur und
Uberlieferungslinie stammen, sich mit den Asen vermischten und in
den Kreis der nordischen Götter aufgenommen wurden, es dabei aber
zu vorhersehbaren Widersprüchen kam.
Freyja heißt Geliebte und ist eigentlich ein zur Bezeichnung aufge-
stiegener Name für die Göttin (urgerm. frijo, idg. prijä-, daraus ent-
wickelte sich im Westgerm. Frija und im Nord. Frigg). Freyja ist wohl
identisch mit Frigg. Freyja bleibt nur im Norden bekannt, Frija ist ge-
meingermanisch. Der Wochentag Freitag erhielt von ihr den Namen.
Freyja gilt als Gattin des Od, womit wohl Odin gemeint ist; damit
würde sie die Rolle der Göttermutter einnehmen. Die Ynglinga-Saga
berichtet in Kapitel 4 davon, wie sie die Asen wanischen Zauber lehrt.
Eine ihrer Töchter heißt Hnoss, »Kleinod«, nach ihr werden die Gem-
men genannt, weil sie so glitzern und so schön sind wie sie; Hnoss ist
Tochter der Freyja und Odins. Die andere Tochter heißt Gersimi, was
»Schatz, Kleinod« bedeutet. Die Töchter sind also ein Ebenbild der
Mutter. Freyja frönt etlichen Liebesbeziehungen - sie ist ja die Göttin
der Liebe und Zärtlichkeit -, nämlich zu ihrem Bruder ebenso wie zu
Asen und zu vier Zwergen, und auch die Riesen T h r y m und Hrungnir
begehren sie. Einer ihrer Machtgegenstände ist der kostbare Schmuck
Brisingamen (brisingr = »Feuer«; Feuerhalsband = Muspellheim). Alt-

168
nordisch Brisingar heißt »die Zusammenflechter« oder »die kunstrei-
chen Verfertiger«, womit die schmiedenden Zwerge gemeint sind. Bri-
sen heißt mittelhochdeutsch »einfassen, schnüren«; im Beowulf (1199)
kommt »brosinga mene« vor, was sich auf einen reichen Hort, wohl
Hel als Quelle allen Reichtums und Goldes bezieht. Mit diesen An-
spielungen wird klar, dass Freyja ein Heiwesen ist.
Eine Frija wird nach einer Erzählung von Saxo von den Göttern des
Zwielichts, den Brisingen, aus dem Dunkel der Nacht geholt. Sie soll
als Braut dem Tiuz übergeben werden. Tatsächlich wollen die Brisin-
gen aber Frija verführen und bieten ihr dafür das Brisingamen, das sie
eigens für sie angefertigt haben. Die Brisingen sind offenbar Zwerge,
sie verfügen über Technologien des Zusammenbindens - ist gemeint,
zwei Dimensionen zusammenzubinden oder eine Verbindung zwi-
schen ihnen zu schaffen? Nach der Erzählung von Saxo besitzt Freyja
auch ein Gemach, das ohne ihre Zusage niemand betreten kann. Die-
ses Zimmer soll Hephäst (Hel!) gebaut haben.
Das Brisingamen kennen wir auch als Kette oder Gürtel der Aphro-
dite. Dieser Gürtel um ihren Busen überwältigt alle Sterblichen und
Götter, heißt es im griechischen Mythos. Sie leiht ihn Here, die mit
ihm Zeus gewinnen will. Der Gürtel wird imas genannt.
Freyja ist auch Besitzerin eines Katzengespanns, das dem Löwen-
oder Tigergespann orientalischer Gottheiten ähnelt. Freyja könnte da-
her auch von eigandi fressa, »Besitzerin der Katzen«, abgeleitet werden.
(Snorri versteht »fress« als Kater oder Katze.) Bei Balders Bestattung
fährt sie mit diesem Katzengespann vor. Außerdem verfügt sie über ein
Feder- oder Falkengewand, mit dem sie nach Hel fliegen kann, und ei-
nen Helm, auf den von den Zwergen ein goldborstiger Eber, Hildes-
win, geschmiedet wurde.
Freyja führt viele Namen (Mardöll, Hörn, Vanadis, Gefh, Syr); sie
reist viel und ist in den verschiedenen Regionen unter verschiedenen
Namen bekannt. Die häufige Abwesenheit Odins macht sie traurig, sie
leidet unter Einsamkeit. Und sie weint um den »verlorenen Gott«,
ihren Sohn Balder.

Forsetis Glastheim

15
Glastheim heißt der zehnte,
von Gold sind die Pforten
und von Silber das Saaldach;

169
doch Forseti
wohnt dort viele Tage
und stillt allen Streit.

Der Wohnort des Richtergottes Forsed heißt Glitnir oder Glastheim,


»der Schimmernde«; daher das Gold seiner Pforten, das Silber des
Saaldachs. Forseti ist einer der zwölf Asen, Sohn Balders und der
Nanna. Er ist der Gott des Friedens und gilt als weiser Richter. Sonst
ist wenig über ihn bekannt. Auf Helgoland stand ein friesisches Hei-
ligtum des Forseti; 785 zerstörten die Christen die heiligen Haine und
Tempel und setzten dort Kirchen hin.

Njörds Noatun

16
Noatun heißt der elfte,
doch Njörd hat dort
sich die Halle hingesetzt,
der Fürst der Menschen,
des Frevels bar,
er waltet hohes Heiligtums.

Njörd gilt als Ase, stammt aber von den Wanen ab. Mit seiner Schwes-
ter zeugte er Freyr und Freyja, die damit gleichfalls Wanen sind, auch
wenn sie zu Asgard gehören. Er heiratet später notgedrungen die Rie-
sin Skadi (diese durfte sich einst unter den »Asen« einen Mann aus-
suchen, allein durch Beschau der nackten Füße, und der Gewählte war
versehentlich er). Allerdings gestaltet sich das Zusammenleben als
schwierig: Sie will, da Bergriesin, in den Bergen, er, da Meerriese, am
Meer, wohnen, woraufhin sich beide einigen, dass sie wechselweise im
Gebirge Thrymheims und am Meeresstrand Noatuns (»Schiffsplatz«,
»Schiffstadt«) wohnen. Es heißt, Njörd gebiete über W n d , Meer und
Feuer, daher wurde er besonders von Seeleuten verehrt. Nach dem
Ragnarök kehrt er angeblich zu den Wanen zurück. Soll das heißen, er
wird in der nächsten Welt wieder ein Riese?
Bemerkenswert ist sein Aspekt als Feuerbringer. Wr kennen bei vie-
len Völkern die Überlieferung eines Gottes, der den Menschen das
Feuer bringt. In diesem Zusammenhang wird er auch Lodur genannt,
was gleichzeitig ein Name von Loki ist. Das kommt nicht unerwartet, ist
in vielen Überlieferungen der Feuerbringer doch eine zwiespältige, so-

170
wohl gute als auch gefährliche Gottheit, da Feuer gut und schlecht sein
kann. Wir müssen natürlich sehen, dass alle Wesen Hels nur Emanatio-
nen Lokis sind, daher auch die Namensgleichheit Loki - Lodur. Außer-
dem - auch das überrascht nicht - war Lodur einer der drei Götter, die
das erste Menschenpaar Ask und Embla erschufen. Auch hierbei half bei
vielen Völkern eine zwiespältige Gottheit mit. So auch bei den Germa-
nen. Die Namen Njörd, Lodur, Loki heißen in diesem Zusammenhang
ein und dasselbe. Ein weiterer Name, Logi, ist bedeutsam. Logi:
»Lohe«, also ein Feuerprinzp, das als Bruder des Meergesetzes Agir und
des Windgesetzes Kari gilt. Logi scheint, wenn auch nicht sehr deutlich,
eine Abspaltung oder Verdopplung Lokis, der Feuerlohe, zu sein.11 Es ist
hier klar festzuhalten, dass Feuer und Meer im Elementarzustand, wie
sie in Hel anzutreffen sind, nur Synonyme sind für die zweite Dimen-
sion, das Plasma; sie sind verschiedene Ansichten des Plasmas. Vielleicht
stellen sie bereits Verfeinerungen des Plasmas hin zur Materie dar.
N u n kommt ein weiterer Name ins Spiel, Lopt, »der Luftige« oder
»die in der Luft fahrende Flamme«, ein Beiname Lokis, der natur-
gemäß zu Luft wie zu Feuer eine Verbindung besitzt. Als »Luft« gilt
gelegentlich auch die Schlucht Ginnungagap, wo sich aus der Polarität
des Plasmas, Feuer und Eis, etwas Neues entwickelt, nämlich Materie.
Wie wir sehen, werden die Zusammenhänge zunehmend dichter, und
wir erhalten hier eine Lehre über die Gliederung des Plasmas. Njörd
ist das Plasma schlechthin, Meer und Feuer, sprich Meerriese und Feu-
erbringer (Nifl- und Muspellheim). Als Erwecker von Ask und Embla
ist er Menschenschöpfer, als Feuerbringer ist er Kulturschöpfer, ja gar
als (erster!) König über die Schweden soll er geherrscht haben. Die
Darstellung lässt seine Geschichte nun nicht mehr bizarr, sondern als
einen folgerichtigen Entwicklungsablauf erscheinen. Dazu ist aber ein
klares Verständnis des Plasmas notwendig. Njörds Geschichte besagt:
Aus dem Plasma wurden Menschen geschaffen, die von den Riesen die
Kultur, zum Beispiel das Feuer, erhielten; und am Anfang unserer Ge-
schichte herrschten Riesen aus dem Plasma als erste Könige. Diese
Überlieferung finden wir bei allen alten Völkern und bei allen Stam-
meskulturen, das ist das geheimnisvolle Erbe der Menschheit.
Njörd hat also eine Beziehung zu Midgard gehabt. Man sagt, er
habe nach dem Ragnarök, also nach Odins Tod, nachdem die Welt aufs

11
Späne zum Feueranzünden werden in Island redensardich »Lokis Späne« genannt.
Der Hundsstern heißt »Lokis Brand«. Und wenn es im Holz knistert, sagt man, »Loki
gibt seinen Kindern Schläge«.

171
Neue erblüht war, als König über die Schweden geherrscht; manche
setzen ihn auch gleich mit der Göttin Nerthus (wie Njörd). Überhaupt
gab es im Norden die alte Überlieferung, Riesen hätten sich mit den
Menschen in Mannheim (Erde) verbunden. Ganze Königsgeschlech-
ter gründen sich auf der Heirat mit Riesen. Snorri schrieb unter dem
Titel »Heimskringla« (Weltkreis) eine Sammlung von Biografien nor-
wegischer Könige, in der er das Königtum bis auf Freyr zurückführt.
Freyr soll ebenfalls unter den Menschen gelebt und ihr erster König
gewesen sein: Die Menschen als von Asen und Riesen geschaffen, von
ihnen angeleitet und regiert? Mehr noch - es fand eine »genetische«
Vermischung von Menschen und Riesen statt; Menschen besitzen da-
her riesische (plasmatische) Eigenschaften. Ebenso besitzen Riesen
asische Eigenschaften, denn sie sind ihnen ursprungsmäßig nahe, und
wir hören von vielen erotischen Verbindungen zwischen Asen und Rie-
sen. Es liegt uns also eine genetische Entwicklungsabfolge der drei
Wesen vor: Asen schaffen Riesen, Riesen schaffen Menschen. Riesen
bestehen aus asischen und riesischen Anteilen. Menschen bestehen aus
asischen, riesischen und menschlichen Anteilen. Der Mensch besitzt
Geist-, Seelen- und Körperanteile.

Widars Waldgestrüpp

17
Gesträuch wächst
und starkes Gras
auf Widars Waldgebiet;
auf Rosses Rücken,
zu rächen den Vater,
verheißt dort der Heldensohn.

W d a r , ein Sohn Odins und der Riesin Grid, der fast so stark wie T h o r
ist, wohnt einsam im Waldgestrüpp Widi; er wird Ragnarök überleben.
Die letzten drei Zeilen verweisen auf seine Rache für den Tod seines
Vaters, der im Ragnarök vom Fenrirwolf, dem Plasma, verschlungen
wurde. W d a r reißt Fenrir den Rachen auf und rächt so Odin. Ebenso
wie das Dickicht oder Gehölz Hoddmimir, in dem das Menschenpaar
Lif und Lifthrasir Ragnarök überlebten, wohnt W d a r in einem Wald-
gestrüpp, was aufs Plasma verweist. Dass Widar halb riesisch ist, darauf
verweist auch die Anspielung »Heldensohn« (Held = Hel).
Widar ist durch seine Riesenmutter Grid halb Riese. Seine Mutter

172
173
besaß den Eisenhandschuh, den er erbte, einen Kraftgürtel und ihren
Stab Gridarwöl, alles Hilfsmittel, um besser durchs Plasma zu gelan-
gen. Grid wohnt eindeutig im Plasma, wo T h o r sie einmal besucht und
sich von ihr die drei Gegenstände ausleiht. Mit dem Stab stemmt er
sich durch den Plasmafluss Wimur, das Plasma schlechthin.
Wer ist Widar wirklich? Im Grimnirlied (in der Übersetzung von
Simrock, Strophe 49) sagt Odin: »Widr den Widersacher«, womit
Widar abgeleitet wird von »wider, gegen«. Odin erweist sich damit in
Gestalt seines Sohnes »Widar« als Widersacher des Fenrirwolfes.
Odin, der niemals untergehen kann, überlebt demnach Ragnarök in
seinem Aspekt des Widersachers. Das Waldgestrüpp Widi, in dem er
lebt, ließe sich dann als »wider, anti, gegen« übersetzen. Widar als »der
weithin Herrschende« zu übersetzen, widerspricht dem nicht.

Totentiere

Nach der Beschreibung der »Paläste« folgt eine Aufzählung der To-
tentiere in einer Reihe von Strophen (18 bis 21 sowie 25 und 26), die
sich mit Walhall beschäftigen. Wissen wir über die anderen Gebiete
sehr wenig, so über Walhall recht viel.

Der Toteneber

18
Rußgesicht
lässt den Rußschwarz sieden
im Kessel Kohlenruß,
das beste Fleisch,
doch nicht viele wissen,
was sie essen, die Einherjer.

Was die Einherjer, die »Einzelkämpfer«, die auf der Walstatt Gefalle-
nen und vom Walvater Odin zum Tod Gekürten und durch die Wal-
küren nach Walhall Geleiteten, trinken, wissen wir: Met. N u n wird auf
ihre Nahrung hingewiesen, allerdings sehr verschnörkelt und ver-
steckt: Sie essen vom Eber Sährimnir (Rußschwarz), den der Koch
Andhrimnir (Rußgesicht) im Kessel Eldhrimnir (Kohlenruß) zuberei-
tet. Ist alles gekocht, wird der Eber wieder lebendig, wie ja in Walhall
nichts sterben kann, weil alles schon tot ist, und auch die gefallenen

174
Einherjer nach jedem Kampf wieder auferstehen. Doch: »nicht viele
wissen, was sie essen, die Einherjer«. Das ist verständlich, denn so wie
es sich beim Met nicht um eine Flüssigkeit handelt, so beim Eber um
keinen fleischlichen Eber; und doch wird gegessen und getrunken. Wie
das? Im Plasma klingt unser körperliches Dasein nach. Wir tun noch
so, als hätten wir einen Körper, wir können uns nicht so schnell mit
dem Gedanken abfinden, körperlos zu sein, wir kleben an überholten
Gewohnheiten. Wir sind Phantasten geworden, ausgeliefert unseren
irdischen Gewohnheitsmustern, die wir jetzt rein mental erfinden. Wr
leiden am W d e r s p r u c h . Der Eber ist kein Eber, der Saal keine Waf-
fenhalle, der Kampf kein Krieg, und deshalb kommt es zur Sucht, es
trotzig immer wieder zu versuchen; aber kaum getötet, erwachen wir
wieder. So setzt sich unser krankhaftes Wiederholungsverhalten fort
bis zum Ragnarök - über einen vorzeitigen Erkenntniswandel schweigt
sich die Edda aus.

Die Totenwölfe

19
Geri und Freki
atzt der vielberühmte,
der kampfstolze Kriegergott;
doch von Wein nur
lebt der waffenstrahlende
Odin immerdar.

Zwei Wölfe, Geri, »der Gierige«, und Freki, »der Heißhungrige«, die
stets in Odins Gefolge sind, bewachen Walhall. Es heißt, sie sitzen zu
seinen Füßen am T h r o n . Sie bekommen die besten Speisen vorgesetzt.
Geri löscht seinen Durst mit Blut, was bei den vielen Kämpfen in
Walhall nicht verwundert, und Freki frisst viel Weizen. Denn wenn
viele Krieger fallen, blüht ebenso viel Weizen, heißt es. Beides sind
Totentiere des Schlachtfelds, sie begleiten Walvater und Totenführer
Odin. Sie bekommen die Speisen Walhalls vorgesetzt, fressen aber
auch die Leichen des Schlachtfelds. Sie sind der tötende Aspekt des All-
gottes.
Die beiden Wölfe sind des Kriegsgottes Begleiter, die er täglich
atzt, das heißt füttert, und zwar mit dem Fleisch, das er selbst nicht isst;
er nährt sich allein vom Wein. Soll das heißen, »plasmatisches Fleisch«
ist dem Geistesgott zu dicht? Andererseits: Odin lebt vom Wein, vom

175
unsterblich machenden Nektar, denn im Plasma gibt es keinen Verfall.
Odin trinkt, hält er sich im Plasma auf, Unsterblichkeitswein wie die
Einherjer. Es wird also ein Plasmawein sein, die Flüssigkeit des Plas-
mas selbst. (In gleicher Weise beziehen sich die Apfel der Unsterb-
lichkeit wohl auf die »Stofflichkeit« des Plasmas; Asen genießen, wenn
sie ins Plasma reisen, die Speisen und Getränke dieser Dimension.)
Dass die Skandinavier den Weltenherrscher zum Kriegsgott ge-
macht haben, ist nicht verwunderlich. Vermutlich war der Krieg etwas
so Bedeutsames für sie, dass nur das oberste Gesetz dafür zuständig
sein konnte; oder aber man erhoffte sich vom Grausamen einen geisti-
gen Hintergrund, um es so besser zu ertragen.
Die Wölfe beziehen sich auf Plasmaeigenschaften, nämlich Tod
und Töten. Sie fressen nicht wirklich Leichen, sondern befördern
Menschen vom Leben zum Tod; nicht anders als die Walküren sind
auch sie Totenwähler, verkörpern das Gesetz des Sterbens, sind das
Symbol der Totendimension: Totenwölfe, Seelenwölfe. Man bedenke,
dass das Todesreich als Ganzes auch durch den Fenrirwolf, das Ver-
schlingende, verkörpert wird. Das Plasma verschlingt die Materie.
Plasma reinigt von Materie. Der Wölf säubert die Skelette von Fleisch-
resten. Der Wolf stellt das geistige Gesetz der Reinigung dar. Odin ist
Wolf.

Die Totenvögel

20
Hugin und Munin
fliegen manchen Tag
den Erdengrund ab;
für Hugin furcht ich,
dass er heim nicht kehre,
doch sorg ich um Munin noch mehr.

Nun werden weitere Eigenschaften beziehungsweise Tiere Odins an-


geführt: zwei sprechende Raben, daher Odins Beiname »Rabengott«
(Hrafnagod): Hugin, »Gedanke«, und Munin, »Gedächtnis«, sitzen
beide auf seinen Schultern und flüstern ihm dauernd zu, was sie in den
drei Welten sehen. Morgens schickt er sie aus, abends kommen sie
zurückgeflogen. Mittels Gedanke und Gedächtnis beherrscht Odin die
Welt. Odins Geist ist überall und er ist alles, das wird mit den Raben
zum Ausdruck gebracht. Hier wird die Besorgnis ausgesprochen, die

176
beiden Raben könnten von ihren Kundschafterflügen nicht zurück-
kehren. Aber das ist wohl nur spielerisch gemeint.

Der Totenfisch

21
Es rauscht Thund,
des Riesenwolfs Fisch
schwimmt froh in der Flut;
zu scharf scheint
der Schar der Waltoten
zu durchstapfen die Strömung.

Hel oder Niflheim ist (neben dem Feuer) eine Dimension des Wassers,
was durch eine Anzahl Flüsse beziehungsweise einen Fluss dargestellt
wird, der je nach Zusammenhang immer wieder andere Namen be-
kommt. Thund ist einer dieser Namen. Walhall wird von Thund, »dem
Angeschwollenen«, umflossen, was erneut auf Walhalls Zugehörigkeit
zu Hel verweist. Natürlich ist das kein Wasser in unserem Sinne, son-
dern feinstoffliches, superflüssiges Plasma. Die Einherjer müssen
Thund mühsam überqueren, heißt es, sie müssen Walhall durchqueren.
Dass T h u n d das Plasma ist und damit auch Walhall, bestätigt der Satz:
»des Riesenwolfs Fisch schwimmt froh in der Flut«. Der Riesenwolf ist
Fenrir, der Fisch ist die Midgardschlange, beides sind Synonyme fürs
Plasma. Alle drei - Midgardschlange, Fenrir und Hel - sind Geschwis-
ter und Kinder Lokis, der wie kein anderer das Plasma darstellt. Wei-
ter heißt es, die Waltoten oder Einherjer finden die Strömung von
Thund, also Hel, zu »scharf«, um dort hindurchzuwaten. »Scharf« ist
ein merkwürdiger Begriff für einen Fluss; vermutlich bezieht sich das
auf den bekannten Schwerter führenden Fluss in Hel. Hel ist eine Di-
mension, in der wir reingewaschen, reingeschabt werden von unseren
seelischen Inhalten, und da bedarf es bisweilen der scharfen Schwerter.
Das Wasser ist kein gewöhnliches Wasser, sondern seelisches Wesen, die
Schärfe von T h u n d ist die Schärfe unserer Emotionen, die uns schnei-
den und stechen. Der Fenrirwolf ist das, womit wir uns selbst verschlin-
gen, die Midgardschlange das, womit wir uns selbst erdrücken und fres-
sen - unsere falschen Gefühle und Lebenshaltungen, Neid, Rachgier,
Begierde, Hass. In allen Überlieferungen wird das Plasma als Fluss oder
Flüsse mit verschiedensten Namen, die auf das Seelische Bezug nehmen,
dargestellt - berühmt ist der griechische Styx, der Fluss des Hasses.

177
Die Dimensionsgrenze

Eingeschoben finden wir hier eine Strophe über die Abgrenzung, die
Walhall von Asgard trennt.

22
Walgitter heißt es,
das vor geweihtem Tor
heilig sich erhebt;
alt ist das Gitter,
es ahnen nicht viele,
wie es der Schlüssel verschließt.

Jede Dimension ist gegen die andere an sie grenzende durch eine
Mauer oder einen Zaun abgeschirmt. Asgard gegen Hel hin durch den
Asgrind und das Asgatter; Hel beziehungsweise Walhall gegen Asgard
durch das Walgitter, aber auch den Heigrind und das Heigatter. Die
Strophe ist sehr geheimnisvoll. »Es ahnen nicht viele, wie es der
Schlüssel verschließt«, das Walgitter. An sich wurde hinreichend ge-
schildert, wie Odin und Freyja die Gefallenen auswählen und dann
nach Walhall bringen. Es öffnet sich das Walgitter, das heilige ge-
weihte Tor, von selbst für die Helden, sofern sie tot sind. Preisfrage:
Wer öffnet das Tor? - Der Tod.

Das Totenheer

Hier wird kurz über die gefallenen Soldaten gesprochen, die in Wal-
hall leben.

23 24
Fünfhundert Vorräume Fünfhundert Tore
und vierzig dazu und vierzig dazu
kenn ich in Bilskirnirs Bau, kenn ich in Walhall wohl;
von diesen Häusern, achthundert Einherjer
die unter Dach ich weiß, gehn auf einmal aus jedem,
hat mein Mage das mächstigste. wenn's mit Fenrir zu fechten gilt.

War eben noch von einem geweihten Tor die Rede, so jetzt von 540
Toren. 800 Einherjer (»die einzeln Kämpfenden«) können auf einmal

178
durch ein Tor Walhalls marschieren, wenn sie beim Ragnarök aufge-
rufen werden, gegen Fenrir zu kämpfen. Allerdings wird in der Folge
nie mehr erwähnt, dass Einherjer im Ragnarök gegen das Plasma, in
dem sie selbst leben, eingesetzt werden können. Mit den vielen Toren
wird die Größe Walhalls angegeben, was aber keine physische Größe
sein kann, sondern eine seelische, und das heißt dann: So viele Krieger
auch fallen mögen, sie alle haben spielend Platz in Walhall.
N u n wird Walhall beschrieben: Schilde sind bekanntlich die Schin-
deln, Speerschäfte die Sparren des Dachs und Brünnen, sprich Pan-
zerhemden oder Brustpanzer, die Bänke dieses Saales. Odin als Walva-
ter ist der Herr dieses Saales, der die gefallenen Helden, die Einherjer,
hierherbringt, ebenso wie Freyja die andere Hälfte der Gefallenen
nach Folkwang führt. Walhall ist ein Helzustand niederer Beschaffen-
heit, denn die Helden kämpfen hier in ihrer Vorstellung immer weiter,
obwohl der Kampf jeder Grundlage entbehrt, aber sie scheinen gar
nicht zu bemerken, wo sie sind, zu schnell fallen sie im Kampf und
fechten weiter, ohne ihren Tod bemerkt zu haben.
Der Saalbau verweist eindeutig auf Krieg; hier geht es um den To-
desraum von Kriegern, der ein anderer ist als jener der gewöhnlich
Verstorbenen, aber warum? N u r weil die Skandinavier die Kämpfer so
verehrten? Oder gibt es einen wirklichen Unterschied zwischen den
verschiedenen Todesarten? Es kann sein, dass der Krieger so schnell
und ohne Vorbereitung stirbt, dass er keine Zeit findet, sich seines To-
des bewusst zu werden, im Gegensatz zum Dahinsiechenden und
Kranken, der langsam stirbt und sich auf sein Ende einstellen kann.
Andererseits weiß jeder Soldat um die Gefahr, in die er sich begibt.
Der Adler umflattert die Walküren. Als König der Vögel ist er
Odins Spiegelbild. Er führt Odins Befehle aus. Odin verwandelt sich
gelegentlich auch in einen Adler, und der Adler als Symbol Odins sitzt
ganz oben auf dem Weltenbaum.

Die Todesziege: Ziegenmilch als Flüssigkeit des Totenreichs

25
Heidrun heißt die Geiß,
die auf der Halle steht
und von Lärads Laube frisst;
mit klarem Met
soll sie die Kannen füllen,
nie vertrocknet der Trank.

179
Jede Dimension hat ihre Eigenarten. Unser Diesseits besteht vor allem
aus Materie, die Beschaffenheit von Hel ist vormateriell, superflüssig,
seelisch und die von Asgard geistig, reines Dasein ohne seelische In-
halte. Das wird auf unterschiedlichste Weise in den Eddaliedern erläu-
tert. Die Todesziege Heidrun stellt eine dieser Nuancen dar. Heidrun
frisst das Laub des Weltenbaums. Der Weltenbaum wird Yggdrasil ge-
nannt; bezieht er sich jedoch auf Walhall, heißt er Lärad, »Schutz-
spender«. Dieser Baum soll auf dem Dach Walhalls stehen. Die Ziege
grast also im Weltenbaum Lärad und äst dort das Laub ab, und zwar in
eigenartiger Weise: Nachdem sie die Blätter zerkaut und verdaut hat,
fließt aus ihrem Euter ungebrochen klares Met, und zwar so viel, dass
alle Einherjer davon für immer trunken werden können. An anderer
Stelle vergleicht der Zwerg Alwis die drei Dimensionen mit einer ih-
nen jeweils entsprechenden Bierart: »Bier (Met) bei den Menschen,
Bräu bei den Wanen (oder Riesen), Al im Asenreich«. Das Met der
Ziege Heidrun dürfte eine Art Nektar sein und ist vielleicht sogar der
Trank der Unsterblichkeit selbst. Handelt es sich beim Plasma also um
seelische Energie-Flüssigkeit? Der Trunk der Plasmadimension wird
oft auch Skaldenmet genannt, ein berauschendes Bier, das einem die
Dichtkunst, also die Eingebung verleiht - und ist das Plasma als seeli-
sche Landschaft nicht in der Tat ein Luftmeer der Inspiration? Das
Skaldenmet wird von den Zwergen oder aus dem Blut des weisen
Zwergs Kwasir hergestellt. Ebenso der Unsterblichkeitstrank, den die
Götter ausschließlich im Plasma zu sich nehmen; es ist ein seelischer
Unsterblichkeitstrank, Plasma selbst, was darauf verweist, dass die
Seele nicht sterben kann. Ebenso Heidruns Met. Nachdem die Ziege
Geist in Gestalt der Blätter der Baumkrone zu sich genommen hat, set-
zen sich diese um in Plasma, und dieses fließt in unerschöpflichen
Mengen als Met. Met, Skaldenmet, Unsterblichkeitstrank sind drei
Hinweise auf die nahrhafte seelische Superflüssigkeit des Plasmas. Die
Einherjer nehmen Seelenkraft zu sich.
Neben Heidrun wird auch ein anderes Tier erwähnt, aus dessen
Euter eine nährende Flüssigkeit fließt, und zwar die Urkuh Audhumla,
»die Saftreiche«, die entstand, als in Ginnungagap das Eis durch die
Hitze Muspellheims schmolz. Sie ernährt den Urriesen Ymir mit ihren
Milchströmen. Aus ihr entstand eigentlich das Plasma. Ihre Säfte sind
daher eindeutig Plasmasäfte. 12 Die Einherjer Walhalls nähren sich von
12
Neben Audhumla, der Urkuh, und Heidrun, der Ziege, tropfen auch die Geweihe der
Hirsche, die in der Krone des Weltbaumes äsen, eine Flüssigkeit ab, aus der Hel her-
vorgeht. Das Flüssige ist das Seelische!

180
der »Flüssigkeit« Hels und nicht von der Asgards, wie man es vielleicht
gerne bei den Germanen gesehen hätte. Wirklich trinken werden sie
kaum müssen, die Säfte sind das Leben der jeweiligen Dimension
selbst. Im Plasma benötigen wir einen plasmatischen Trunk (Bräu der
Wanen), in Asgard einen geistigen Trunk (Al), in Midgard reicht stoff-
liches Met.

Der Totenhirsch und sein Hirschgeweihwasser

26
Eichdorn heißt der Hirsch,
der auf der Halle steht
und von Lärads Laube frisst;
von seinem Geweih
träuft es ins Wallebecken,
davon kommen die Quellen all.

Die Germanen legten ihre Drei-Welten-Lehre über den Weltenbaum.


Die Krone stellt Asgard, der Stamm Hel und die drei Wurzeln das phy-
sische Weltall in seinen drei Zeitarten dar. Hier nun wird Kosmologie
anhand von Walhall vorgeführt. Neben Heidrun steht ein Hirsch na-
mens Eichdorn auf dem Dach, also über der Halle. Heidrun wie Eich-
dorn ist überhaupt die Geburt der Dimension Walhall zu verdanken.
Das Met der Ziege erschafft das Leben, von dem die Töten sich
ernähren; der Tau, der aus dem Geweih des Hirschs tropft, nachdem
er genügend Laub abgeäst hat, bringt die Totendimension hervor, die
- wie wir wissen - wässrig und superflüssig ist. In Yggdrasil leben nach
anderer Version vier Hirsche, die das Laub abäsen. Dadurch sammeln
sie in sich offenbar einen Verdauungssaft an, der durch ihre Geweihe
- vermutlich ein Weltenbaum im Kleinen mit seinen Asten und Zwei-
gen - abtropft und hinunterfällt und eine neue Dimension, den Stamm,
das Plasma schafft, die wässrige, feuchte, neblige Atmosphäre, die aus
Flüssen und Brunnen besteht. Der Hirsch, der Lärads Knospen und
Zweige abfrisst, heißt Eikthyrnir (»Eichdorn«). Durch den besagten
Verdauungsprozess perlen aus seinem Geweih Tropfen und bilden das
Wallebecken, den Brunnen Hwergelmir (das Plasma insgesamt), wor-
aus wiederum die Eisflüsse, die Eliwagar Hels entspringen.
Das ist die eigenartige Entstehungsgeschichte der Plasmadimen-
sion. Aus dem rein Geistigen formt sich durch einen Stoffwechsel -
Hirsche essen Asgardlaub - eine Flüssigkeit (ein Nektar), und diese

181
Erschaffung von Walhall. Eine Ziege und ein Hirsch erschaffen Walhall durch be-
stimmte Flüssigkeiten. Vom Met der Ziege trinken die gefallenen Krieger, vom Geweih
des Hirsches träufelt Tau, die Substanz der Plasmadimension. Im Weltenbaum Yggdra-
sil sind auch vier Hirsche angesiedelt, die ebenfalls Tau von ihrem Geweih absondern.
Ähnlich hatte die Urkuh Audhumla, »die Saftreiche«, den Urriesen Ymir, ein Synonym
des Plasmas, gesäugt. Ziege, Hirsch und die vier Hirsche sowie die Urkuh sind bildliche
Modelle für einen Entwicklungsvorgang in Asgard, der zur Geburt des Plasmas führt.

182
stellt einen anderen, einen halbgeistigen Daseinszustand dar. Es heißt
von Yggdrasil, die Hirsche ästen die Stunden (Blüten), Tage (Blätter)
und Jahre (Zweige) ab, erzeugten mithin Zeit, die in Asgard unbekannt
ist, im Plasma aber eine gewisse, rein seelische Wirklichkeit besitzt
(Zeit ist so lang, wie wir sie subjektiv-seelisch fühlen!). Das, was in As-
gard blüht - blühendes Leben - wird durch den Stoffwechsel der Hir-
sche in Plasma verwandelt und über das Geweih ausgeschwitzt. Wie ist
das zu deuten, wenn es nicht als bloßes Hilfsmittel zur Darstellung ei-
nes undarstellbaren Vorganges dient?
Riesen werden auch »Fresser« (Jöten) genannt. Was fressen sie?
Die Hirsche fressen ebenfalls, und zwar ernähren sie sich von der
Baumkrone, also Asgard. Sie verdauen die Blätter und daraus entsteht
Flüssigkeit (Met, Tautropfen), das Plasma. Die Hirsche bleiben in der
Baumkrone, in Asgard, das heißt, sie sind eigentlich ein Verwand-
lungsprozess des Geistes, sie gehören keineswegs zur Plasmadimen-
sion. Ihr Verdauungsvorgang erst bringt die neue Dimension hervor.
Folglich führt eine Entwicklung innerhalb des Geistes zur Geburt des
riesischen Mittelkosmos Hel.
Die Geburt des Plasmas aus dem Geist (widersprüchlicherweise des
Stammes aus der Baumkrone) entsteht unter anderem dadurch, dass
Zeit geboren wird. Im Geist gibt es keine Zeit, im Plasma nur als sub-
jektives Trugbild, in der Materie jedoch als feste, wirkliche Zeit.
Warum wurde ein Hirsch und eine Ziege genommen, um dieses Ge-
schehen zu versinnbildlichen? Beim Hirsch regte sicher das Gehörn
dazu an, weil es dem Weltenbaum ähnelt, und die Ziege bot sich da-
durch an, dass sie Milch gibt, also in sich einen Stoffwechsel durch-
führt, der Gras in Milch beziehungsweise Geistiges in Seelisches ver-
wandelt.

Thor w a t e t durchs Plasma: Eine Brücke vom Geist


zur S e e l e

27
Körmt und O r m t
und die Kerlauge zwei
durchwatet täglich Thor,
wenn er auszieht,
Urteil zu fällen,
zur Esche Yggdrasil;

183
denn die Brücke der Asen
brennt in Flammen,
und heiß sind die Himmelswasser.

Das Plasma besteht aus etwas Ähnlichem wie Wasser, es ist flüssig, gas-
und nebelartig, seine andere Seite ist feurig. Die Überlieferung kann
sich im Grunde sprachlich nicht festlegen. Wasser, Feuer, Luft werden
als Andeutungen verwendet, und doch ist es all das nicht. Die meisten
Darstellungen beziehen sich auf Wasser und noch anschaulicher auf
Flüsse. Die Zahl der Flüsse ist groß, in Wrklichkeit handelt es sich nur
um einen Fluss, das Plasma selbst, der je nach Zustand mit einem ihm
entsprechenden Namen belegt wird; daher die Vielzahl der Flüsse.
Hier werden nun ein Körmt, ein O r m t und ein Kerlaug erwähnt. Je-
der Fluss steht für Hel als Ganzes. T h o r besitzt - wenn er ins Plasma
zieht, um Riesen zu erschlagen, worin seine Hauptbeschäftigung be-
steht - nicht wie die anderen Asen ein Pferd, das ihn über das Plasma
hinwegbefördert, sondern geht stets zu Fuß durchs Plasma, weil er - wie
ich meine - selbst ein halbes Plasmawesen ist und kein Vollblutase.
Thors Mutter ist Jörd, der Erdaspekt des Plasmas, sein Vater Odin,
weshalb er also halb riesisch, halb asisch ist. Der Grund, weshalb er
durchs Wasser waten muss, ist sicher seine halbriesische Herkunft; die
Möglichkeit, wie die Asen zu »fliegen« oder »zu Pferde« über das
Plasma hinwegzusetzen, hat er nicht. Asen haben stets Pferd oder Wa-
gen, mit denen sie ins Plasma reisen. Heißt das, sie benötigen beson-
dere plasmatische Vorrichtungen, um als reiner Geist durchs Plasma zu
kommen?
Interessant ist auch der Hinweis, dass T h o r immer durchs Wasser
und nie durch die andere polare Welt des Plasmas, das Feuer, geht.
Thor gehört offenbar mehr zu jenem Teil Hels, der wässrig-kühl ist.
Daher wird zum Schluss gesagt, T h o r könne nicht die Brücke der Asen,
die heiß ist und brennt, als Weg ins Plasma benutzen.
Wer wie die Götter über den Totenfluss fliegt oder eine Brücke be-
nutzt, wird davon nicht berührt, er bleibt wie hinter einer Glasscheibe
und hat keine echte Berührung mit der Totendimension. (Beim
Nahtodeserlebnis gehen viele Menschen über eine Brücke oder fliegen
über den Totenfluss; wer aber wirklich stirbt, muss durch den Fluss ge-
hen und leiden.)
T h o r erschlägt die Riesen, damit sie nicht überhand nehmen und
dadurch Midgard, der physischen Ausprägung seiner Mutter Jörd, ge-
fährlich werden können. T h o r fehlt es einfach an Asenblut, an Geisti-

184
gern, so würde ich deuten, um die Riesen rein bewusstseinsmäßig zu
schlagen. Das ist vermutlich auch der Ursprung seiner Berserkernatur,
die nur auf Totschlag aus ist.
Nun wird behauptet, die Brücke der Asen, wohl die Bifröstbrücke,
stehe in Flammen und die Himmelswasser seien heiß. Bifröst oder Bil-
röst heißt »der schwankende Weg«, auch Asbru, »Asenbrücke«,
genannt. Bifröst ist eine Brücke, schwankend wie der Regenbogen, da-
her auch als Regenbogenbrücke bekannt. Wenn die Muspellssöhne
(Riesensöhne des Feuers, der Leidenschaft) beim Ragnarök darüber
reiten, bricht sie hinter ihnen zusammen. Bifröst verbindet Hel und
Asgard, täglich reiten die Götter über sie zum Urdbrunnen, ins
Plasma, um sich dort zu beraten. Andererseits besteht eine weiter-
führende Verbindung von Asgard nach Midgard, Gjallerbru, »Echo-
brücke«, genannt. Die Unterteilung in zwei Abschnitte entspricht den
zwei Welten Hel und Midgard. Es bedarf jedoch nicht wirklich einer
Brücke, denn von Asgard aus kann man überall ins Plasma reisen, Geist
kennt keine Grenzen, Geist »reist« ins Plasma, indem er, sich verdich-
tend, zu Seele wird. Es muss klar sein, dass man von allen Punkten
Asgards aus nach Hel und weiter von allen Punkten Hels aus nach Mid-
gard gelangen kann. Brücken und Wege sind Anleihen aus der stoffli-
chen Welt, die sehr schnell zu Denkrätseln führen und in der Tat die
heutigen Deuter dazu verführt haben anzunehmen, es handle sich
wirklich um Beschreibungen in unserem irdischen Sinne. Das ist das
Problem, vor dem wir in der Edda - wie in allen Mythen überhaupt -
dauernd stehen. Der Leser muss die weltlichen Anspielungen überset-
zen in Seelen- und Geistzustände. In unserem Fall ist mit Brücken und
Wegen lediglich die Möglichkeit gemeint, von einer Dimension in eine
andere überzuwechseln. Da man sich eine andere Dimension nicht
vorstellen kann, bieten sich in der Tat als beste Beschreibung irdische
Brücken an.
»Die Brücke der Asen brennt in Flammen, und heiß sind die Him-
melswasser« bezieht sich entweder auf den feurigen Pol Hels, Mus-
pellheim, oder auf Ragnarök, wenn die Feuerriesen über die Bifröst-
brücke nach Asgard einfallen und die Brücke dabei Feuer fängt, weil
Plasma auch Feuer ist. Muspellheim (mu, ahd. molta oder got. mulda,
»Staub, Erde«), die Flammenwelt des Plasmas, kocht, seine Flüsse lo-
dern, und die Feuerriesen treten daraus hervor und fallen nach Asgard
ein. Hier wird der Rückzug der Plasmawelt nach Asgard im Ton eines
Krieges geschildert, aber tatsächlich ist ein allmählicher, schrittweiser
Rückzug gemeint.

185
Heißes Himmelswasser ist heißes Plasma. Dazu sei angemerkt, dass
es auch in Muspellheim, der Feuerwelt, Flüsse zu geben scheint, was
bei der Hitze gar nicht sein kann; es sind Flammenströme. Ebenso wie
die Eisflüsse Niflheims auch keine Flüsse mit wirklichem Wasser sind,
sondern Plasma, das auch Nebel, Dampf, Rauch oder Luft sein kann
(viele Mythologien kennen, wie bereits gesagt, eine Mischung von
Feuer und Wasser).

28
Gelber und Muntrer,
Glanz und Hufschnell,
Sehnig und Silberstirn;
Gleißner und Fahlhuf,
Goldstirn und Leichtfuß:
auf diesen reiten die Rater
alle Tage,
wenn sie zu urteilen ziehn
zur Esche Yggdrasil.

Zuvor sprachen wir von der Überquerung oder Durchdringung des


Plasmas. T h o r muss zu Fuß hindurchwaten, Asen dagegen reiten auf
Pferden von ihrer Dimension in die angrenzende. Es werden zwölf
Asenpferde genannt. Am bekanntesten ist Odins Ross, Sleipnir, »Huf-
schnell«, genannt, weil es mit seinen acht Beinen außerordentlich flink
dahinstürmt.
Die Rater reiten auf ihren Pferden gen Plasma, genauer zum Urd-
brunnen; innerhalb Asgards bedürfen sie keines Pferdes. Die Pferde
sind Zusatzbedeutungen der Götter, und aus ihnen ist einiges über ihre
Eigenart zu erfahren. Es wird damit klar gesagt, zu Pferd bleibt man
vom Plasma unberührt. »Glanz«, »Muntrer«, »Hufschnell«, »Leicht-
fuss« usw. verweisen auf rein asische Qualitäten, die vom Plasma oder
Hel nicht berührt werden können. Man bedenke, das Plasma ist wei-
testgehend negativ, die Namen der Flüsse beziehen sich auf negative
Gefühlszustände. Thrymheim heißt Klage- oder Lärmheim, Riesen
sind böse, Niflheim kalt, Muspellheim heiß usw. Ein Ase zu Pferd,
kommt damit nicht in Berührung. Es galoppiert hufschnell, leicht-
füßig, sehnig und munter darüber hinweg. Die Pferde verweisen auf
die glücklichen Gemütszustände Asgards und seiner Gesetze; anderer-
seits dürfen die Pferdenamen auch als Eigenschaften des Plasmas be-
trachtet werden, nämlich die mentale Leichtigkeit, die schnelle seeli-

186
Asenpferde. Alle Asen haben als Fortbewegungsmittel innerhalb des Plasmas ein Pferd.
Die wilde Bewegung des Pferdes entspricht der des Plasmas beziehungsweise unserer
Gefühle. Die Pferde drücken die seelische Bewegung aus. Leider ist nicht von allen Asen
bekannt, welches Pferd sie reiten.

187
sche Bewegung dieser Dimension. Wenn Asen Pferde benutzen, hieße
das dann, sie verdichten sich zu Seele, werden gemütsabhängig,
schwankend und rasend.
Heimdalls Pferd ist Gulltopp, »Goldzopf, Goldstirn«. Goldig oder
Goldstirn, Gleißner und Silberstirn verweisen auf Gold und Silber, auf
Strahlung und Glanz. Das Pferd des Lichtgottes Balder, Goldig, das
hier nicht genannt wird, spricht ebenfalls die Lichtkraft Asgards im
Gegensatz zum eher trüb-nebligen Reich des Plasmas an. Zu einigen
Pferden fehlen uns leider die Namen ihrer Besitzer. Es sind auch
Pferde von Riesen bekannt, die hier jedoch ausgelassen seien. Aber es
müssen nicht immer Pferde sein: Freyja fährt mit einem Katzenge-
spann, Freyr reitet auf einem Wildschwein.
Die Pferde verweisen auf die Schnelligkeit des Geistes, auf die
Raum- und Zeidosigkeit Asgards. Durch diese Fähigkeit können sie
ungehindert die andere Dimensionen durchfliegen, so schnell wie ein
Blitz, alles wissen, mehr noch - letztlich alles sein. Die Pferde, das
Fortbewegungsmittel der Germanen, waren am ehesten geeignet, das
Geistig-Raumzeidose auszudrücken. Das ist eine bloße Annahme, der
ich eine andere entgegengestellt habe. Die Asen benutzen die Pferde
anscheinend nur im Plasma, nicht innerhalb Asgards, wo man sie of-
fenbar nicht benötigt, weil es keine Entfernungen gibt. Doch auch im
Plasma gibt es keine wirkliche Entfernung, höchstens mental erzeug-
ten Raum. Die Pferde, so die zweite Annahme, sind nur dienlich im
Plasma und Ausdruck der ausgeprägten plasmatischen Zustände: sie
sind schnell, bewegt wie Gefühle.

Der Urdbrunnen

Es heißt, die Asen, die Rater, ziehen jeden Tag zur Esche Yggdrasil, um
an ihren Wurzeln ihre Urteile zu fällen, und zwar über alles, denn ohne
den geistigen Hintergrund, die geistige Ursache geht nichts. Die We-
sen in Hel und Midgard können nichts unternehmen, wenn es nicht
bereits in Asgard als Ursache und Ursprung angelegt ist. Die beiden
Zusatzdimensionen sind lediglich Ausführungsorgane, die die Ent-
schlüsse der Rater plasmatisch und materiell umsetzen. Es heißt, sie
versammeln sich zum T h i n g an der Wurzel oder am Fuß der Esche
oder auch am Urdbrunnen. »An der Wurzel« heißt oberhalb der W u r -
zeln, also nicht in Midgard, sondern im Plasma.
Mit dem Urdbrunnen ist das wässrige Reich des Plasmas gemeint.

188
Urdbrunnen, »Born der Vergangenheit«, ist auch der Wohnsitz der
Schicksalsgöttinnen, der Nornen, die dort den Weltenbaum mit Was-
ser begießen, das heißt, am Fuß des Stammes wird dauernd Plasma er-
zeugt. Mit den Nornen soll ein Naturgesetz zur Anschauung gebracht
werden. Urd ist das bedeutendste der drei Schicksalsgesetze: Es ist das
Schicksal selbst, der Ursprung, und dieser geht von Asgard aus, wes-
halb er gleichzeitig die Vergangenheit ist, denn aus Asgard ging einst
das Plasma und daraus die Materie hervor; es fand also eine Entwick-
lung statt, die ihren Ursprung in Asgard hat, wo sozusagen die Wei-
chen gestellt und das Schicksal vorbestimmt wird. Eine Stufe tiefer, im
Plasma, steht der Urdbrunnen, das Plasma schlechthin und bestimmt
für Midgard, was ihm widerfahren wird. Wir unterscheiden daher ein
göttliches und ein plasmatisches Schicksalsgesetz. Wenn sich die Rater
- wie die Asen ebenfalls genannt werden, weil sie alles wissend alles er-
raten können - am Urdbrunnen treffen, heißt das, auf der Ebene des
Plasmas wird das Schicksal für Midgard vorbestimmt. Brunnen ver-
weisen auf das Plasma, hier herrscht die Schicksalsgöttin Werdandi,
Werden. Wenn wir die Entsprechungslehre heranziehen, können wir
sagen, die drei Nornen Schicksal, Werden, Skuld, sprich Asgard, Hel
und Midgard, lassen sich auf jede Dimension anwenden; es gibt die drei
Prinzipien also bereits keimhaft angelegt in Asgard, etwas ausgefaltet
in Hel und ganz zur Reife gebracht in Midgard. Und auf Letzteres ver-
weist die bekannteste Darstellung der drei Gesetze: Sie sitzen nämlich
am Fuß der Esche, im Plasma, und bestimmen von dort aus die drei
Wurzeln unseres irdischen Daseins als Schicksal, Werden und Skuld.
Wer sich in unserer Dimension entscheidet zu handeln (Schicksal),
wird werden (Werdandi, Entwicklung), wodurch etwas Wirkliches
geschaffen wird, Skuld, »das werden Sollende«, nämlich irdische Tat-
sachen. Wehret den Anfängen, könnte man sagen, auf dass keine
Entwicklung zustande komme. Hier deutet sich eine großartige Philo-
sophie an: Entwicklung hat ihren Ursprung in Asgard, nimmt ihren
Verlauf durch das Werden im Plasma, gipfelt in unserer bekannten
Welt, der Skuld (Schuld), das Niederste zu sein.

Das Leiden d e s Weltenbaumes durch Geburt und Verfall

In den nächsten Strophen werden anhand von Tierverhaltensweisen


die Gesetze der drei Welten aufgezählt und die Unbill, die der Baum,
das gesamte Dasein in seinen drei Erscheinungsformen, dadurch erlei-

189
den muss. Einerseits tragen die Tierbeispiele und das Symbol des Bau-
mes dazu bei, ein klareres Verständis des Daseins zu erlangen, ande-
rerseits verschleiert die Anschaulichkeit dieses auch.

29
Drei Wurzeln
gehn nach drei Seiten
von der Esche Yggdrasil;
Hel wohnt unter einer,
unter der anderen die Reifthursen,
unter der dritten der Degen Volk.

Hier beginnt die Darstellung des Weltenbaumes Yggdrasil, der drei


Wurzeln hat. We schon mehrfach dargelegt, stellen die Wurzeln Mid-
gard, der Stamm Hel, die Krone Asgard dar. Hier jedoch wird eine
ganz andere Darstellungsweise gewählt. Nach dem Gesetz der Ent-
sprechungen werden die drei Welten auf die Wurzeln übertragen: Die
erste Wurzel stellt Asgard, die zweite Riesenheim, die dritte Midgard
(Menschen, »der Degen Volk«) dar.

30
Nagezahn heißt das Eichhorn,
das immer rennt
auf der Esche Yggdrasil:
von oben her
soll es des Adlers Worte
zu Nidhögg niedertragen.

We verständigen sich die drei Dimensionen untereinander? Im Zu-


sammenhang mit dem Bild der Brücken hielten wir fest, dass eine rei-
bungslose Verbindung zwischen Asgard und den beiden aus ihm her-
vorgegangenen Dimensionen bestehe. Umgekehrt ist das aber nicht so
ohne weiteres der Fall. We weiß das Plasma von Asgard? Sehr an-
schaulich wird dies vorgeführt: Ein Eichhorn gebe es im Baum, Rata-
tosk, »Nagezahn«, genannt, und dieses verkehre zwischen dem Adler,
der oben im W p f e l als Verkörperung Asgards und Odins sitzt, und
Nidhögg, dem mit Neid und Hass gespickten Drachen am Fuß der
Esche, einer Personifikation des Plasmas. Das Eichhorn erzählt Nid-
högg, was der Adler gesagt hat, und dem Adler berichtet es, was Nid-
högg gesagt hat; dadurch entsteht im Baum zwischen Asgard und Hel

190
eine Spannung, unter der der Baum leidet, wie in Strophe 33 ausge-
drückt. Das Eichhorn nagt offenbar am Baum und erzeugt so eine
Spannung, ein Unbehagen; ebenso nagt Nidhögg an ihm und die Hir-
sche äsen die Krone ab. Worauf dies anspielt, ist nicht schwer zu erra-
ten: Das Plasma ist die Dimension der Toten, dorthin gehen wir nach
dem Tod mit all unseren Begierden, in deren Gestalt wir den Tod über-
leben. All die neidischen, hasserfüllten, ichbezogenen Verstorbenen -
personifiziert als der Neiddrache - nagen am Baum, indem sie eine see-
lisch schlechte Stimmung schaffen. Schlicht und ergreifend heißt dies:
Der Baum leidet an der Missstimmung in Hel und Midgard.
Der Adler ist der Geist, Nidhögg das Plasma, und das Bewusstsein
der Toten, das Eichhorn, stellt die Durchlässigkeit der Dimensionen
dar.

31
Hirsche gibt es vier,
die mit erhobenem Kopf
die Knospen kahl fressen:
Dain und Dwalin,
Duneyr und Dyrathror.

Vier Hirsche werden hier erwähnt: Dain, »der Schnelle«, Dwalin, »der
Langsame« oder »der Schlafende«, Duneyr und Durathor, »Tod«,
»Betäubung«. Sie äsen nicht etwa nur Blätter ab, sondern genau ge-
nommen die Knospen (Stunden), die Blüten (Tage) und die Zweige
(Jahreszeiten, Jahre). Sie scheinen die Zeit zu fressen, was auf die
Nichtzeit in Asgard anspielen mag, oder sie erzeugen damit die Zeit,
die dann in Hel zum Tragen kommt. Asgard ist mit Sicherheit eine
zeitlose und ebenso eine raumlose Dimension, worauf unzählige
Motive verweisen. Die Hirsche stünden demnach für die Nullzeit,
gleichzeitig aber auch für das, was aus Asgard hervorgeht, die Plasma-
dimension, denn aus ihren Geweihen tröpfelt eine Flüssigkeit, eine
Zeitsubstanz hinunter ins Plasma. Hirsche wurden vielleicht zur Ver-
anschaulichung dieses Vorgangs gewählt, weil ihr Geweih wie ein
mikrokosmischer Weltenbaum erscheint. Ein Tier, das ständig das
oberste Gesetz - die drei Welten - auf dem Kopf mit sich führt, ist in
der Tat ein heiliges Tier mit großem Symbolauftrag.
Das Wort Hirsch kommt von derselben indogermanischen Wurzel
wie Hirn. Der Hirsch ist ein gehörntes oder Geweih tragendes Tier,
die Bezeichnung bezieht sich auf den Kopf, das Oberste, auf die Spitze.

191
Der Hirsch ist damit Hirn und Kopf, und in der Tat äst er genau dort,
in der Krone des Weltenbaumes, ist also seine Entsprechung und Ver-
doppelung.

32
Mehr Würmer
liegen an den Wurzeln Yggdrasils,
als ein Unweiser ahnt:
Goin und Moin,
Grafwitnirs Söhne,
Grabak und Grafwöllud,
Ofhir und Swafnir
sollen immerdar
zerfressen die Faserwurzeln.

Wir hatten bereits gehört, wie Nidhögg, der Neiddrache, die Wurzeln
des Baumes, sprich das Plasma oder Midgard, mit seiner verneinenden
Einstellung benagt, was den Baum schwächt. Bedeutsamerweise befin-
det sich Nidhögg am Fuß des Baumes, also noch im Plasma, nagt aber
bereits an den Wurzeln, dem irdischen Leben. Das scheint ein Wider-
spruch, der sich jedoch klären lässt: Da das Plasma unsere Leiden-
schaften verkörpert, wirkt sich Nidhögg auch auf die Menschen in
Midgard aus, so wie eine seelische Störung eine körperliche nach sich
zieht. So spitzfindig dies scheinen mag, ist diese Unterscheidung doch
von Bedeutung, soll die Edda nicht als verworrene Phantasiekosmolo-
gie betrachtet werden.
Nidhögg wird andernorts auch als Leichen fressender Dämon be-
schrieben, der sich von den stofflichen Hüllen der Verstorbenen nährt.
Das wirft erneut ein Licht auf Nidhöggs Ort. Er lebt genau dort, wo
die Verstorbenen ins Plasma eintauchen, an der Nahtstelle zwischen
Materie und Plasma. Nidhögg ist das Plasma selbst, er verkörpert vor-
wiegend den Neid und unser Wunschdenken, aber er frisst nicht unse-
ren stofflichen, sondern den feinstofflichen Körper.
Es werden verschiedene Schlangen oder Würmer aufgezählt, die
alle nur Vervielfältigungen Nidhöggs sind: Goin, der im Brunnen
Hwergelmir an den Wurzeln der Esche nagt. Gleiches trifft auf Moin
zu. Ihre Mutter ist Grafwitnir, »die im Graben Erfahrene«. Dann
Grafwöllud, »der die Erde Aufgrabende«, und Grabak, »Raurücken«,
nagt ebenfalls. Auch Ofhir, »der Webende«, und Swafnir, »der Schlä-
fernde« (beides auch Beinamen und Verwandlungsgestalten Odins),

192
graben und nagen am Brunnen Hwergelmir. »Mehr Würmer liegen an
den Wurzeln Yggdrasils, als ein Unweiser ahnt«, verweist auf die Un-
zahl ungünstiger seelischer Verhaltensweisen, die sich alle ihr eigenes
Grab schaufeln; wir zerfressen uns selbst zu Tode, wenn wir am Wel-
tenbaum nagen und ihn plagen. Jeder einzelne Gedanke eines Men-
schen macht den Baum als Ganzes leiden, er erfasst jedes schlechte Ge-
fühl, das heißt, jedes kleinste Lebewesen scheint verantwortlich für die
Gesamtverfassung der drei Welten, der Weltseele. Die Philosophie,
die hier so geschickt unter dem Deckmantel von Tieren und Bäumen
entworfen wird, lautet: Ich bin Mitschöpfer des Weltalls, erhalte und
zerstöre es mit meinen Gedanken und Gefühlen auf allen drei Ebenen,
insbesondere aber auf der Plasmaebene, die nichts anderes ist als eine
Gedanken- und Gefühlslandschaft.

33
Die Esche Yggdrasil
muss Unbill leiden
mehr als man meint:
der Hirsch äst den Wipfel,
die Wurzeln nagt Nidhögg,
an den Flanken Fäulnis frisst.

Die Weltesche muss Unbill leiden. Warum? Der Weltenbaum stellt,


wie bereits andernorts erläutert, auf den drei Ebenen Krone, Stamm
und Wurzeln die drei Welten dar. Manchem mag es unlogisch schei-
nen, dass die Krone Asgard ist und nicht die Wurzeln, aus denen ja al-
les hervorgeht, aber hat man sich daran gewöhnt, scheint diese Dar-
stellung viel angemessener. Die Wurzeln gründen in der Erde, sind
also Erde; der Stamm als Mittlerdimension ist Niflheim, das Wässrige,
die Krone, das wahre Dasein, aus der sich alles entfaltet. Unbill leidet
der Baum, denn es herrscht keine Ruhe, es findet dauernd Entwicklung
und Bewegung statt. Zum einen äst der Hirsch im Wipfel, was den
Baum schmerzt; damit wird, wie wir gesehen haben, die Geburt der
Zeit aus Asgard veranschaulicht, was sicherlich ein »schmerzlicher«
Prozess ist. Aus dem Geweih des Hirsches tröpfelt Saft, der herabfällt
und die Plasmadimension gebiert, was ebenfalls wie eine Geburt ist. Im
Plasma, am Fuß der Esche, nagt der Neiddrache Nidhögg und verur-
sacht damit die seelische Pein des Baumes. Mit Neid ist Hass, Groll,
feindselige Stimmung gemeint. Die heutige alleinige Bedeutung Miss-
gunst entstand später. Der Neiddrache ist daher als Hassdrache zu ver-

193
stehen. Und Hass ist in der Tat eine Zustandsbeschreibung der Plas-
madimension.
»An den Flanken Fäulnis frisst.« Warum an den Flanken? Was das
heißen soll, ist mir unklar. Ich kann mir bestenfalls vorstellen, dass da-
mit der Verfallsprozess gemeint ist, das Älterwerden der Welt. Der
Weltenbaum, die Welten unterliegen einer Wandlung.

Das Verhältnis zwischen Asen und Riesen

Asgard brachte aus sich das Plasma hervor; und wie zwischen Eltern
und Kindern besteht zwischen beiden eine Art Wettkampf und eine
falsche gegenseitige Einschätzung, was sich in ihren dauernden Strei-
tigkeiten kundtut - die Edda ist zu einem großen Teil eine Chronik die-
ses Kampfes. Im Grunde beziehen sich die meisten Strophen der Lie-
deredda auf Auseinandersetzungen zwischen Riesen und Asen. Die
Asen sind den Riesen überlegen, andererseits scheinen die Riesen doch
recht geschickt zu sein, was das mentale Handwerk, die Zauber- und
Runenkunde, anbelangt - ein W s s e n , das den Asen abzugehen scheint.
Die Asen stellen eher rein geistige, vorseelische Gesetze dar, die sich
nicht mit den energetisch-seelischen Riesengesetzen beschäftigen. Ge-
legentlich scheinen sie aber doch von deren Geschicklichkeit abhän-
gig, insbesondere dann, wenn sie selbst im Plasma tätig werden. Dann
brauchen sie eine seelische Ausrüstung, und diese müssen sie sich von
den geschickten Zwergen herstellen lassen. Die Abhängigkeit von den
Riesen entwickelte sich über Verschwisterungen und Verehelichungen
zwischen Asen- und Riesenwelt. Diese Mischung führte zu halb
asischen, halb riesischen Mischwesen, und daraus entsprangen wie-
derum Kinder bis hinunter zu den Menschen, die ihren Stammbaum
auf Götter und Halbgötter zurückführen. Daher waren die Asen ge-
zwungen, Kompromisse einzugehen und Rücksicht walten zu lassen
gegenüber dem Riesengeschlecht (Beispiele sind Thor, Freyr und
Freyja).
Es scheint, als bräuchten die Asen die Riesen. Aber wozu? Vielleicht
um sich durch sie als Mittler weiterhin zur Materie zu entfalten? Über
eines müssen wir uns immer klar sein: Die Plasmagesetze gingen aus
Asgard hervor, sind dessen Verdichtung, sind Asengesetze in verdun-
kelter Gestalt. Es empfiehlt sich daher, eine Geschlechterfolge vom
Asischen zum Riesischen aufzustellen, um die Abhängigkeiten genauer
erforschen zu können. So entstanden die wesentlichen Plasmaprinzi-

194
pien aus Asgard: Loki, dessen Kinder Fenrir, Midgardschlange und
Hel. Die Riesen selbst entstanden aus Ymir. Insgesamt ist es tatsäch-
lich so wie zwischen Eltern und Kindern. Obwohl die Kinder einer an-
deren Generation, sprich Dimension, angehören, muss man mit ihnen
verkehren und fühlt sich zu ihnen hingezogen, andererseits werden sie
bestraft (siehe Thor!). Mit den Enkeln Asgards, den Materiewesen, ist
es genauso, sie scheinen von den Riesen geknechtet zu werden, obwohl
wir davon in der Edda nur andeutungsweise erfahren.
Die Herleitung des Wortes Ase bleibt im Dunkeln. Ass heißt eng-
lisch »Dummkopf, Narr«. »To make an ass of oneself« heißt »sich bla-
mieren« und »to make an ass of a person« heißt »einen zum Narren
halten«. Bekannt ist, dass die Asen die Riesen dauernd betrügen und
ausnutzen, eben zum Narren halten, sich selbst dadurch aber ebenso
bloßstellen. Dass ein Ase ein Dummkopf sein soll, ist zu bezweifeln,
aber vielleicht kam es mit der christlichen Verballhornung der nordi-
schen Kosmologie zu dieser Abwertung. As hieß ursprünglich auch die
Eins auf dem Würfel, heute ist es die Spielkarte mit dem höchsten
Wert. Es ist uns noch ein altffiesisches Rechtsbuch erhalten, das tref-
fenderweise Asegabuch heißt; die Asen galten als Rechtsprecher
schlechthin.
Woher die Asen kommen, ist unklar. Einer Überlieferung zufolge
sind sie ebenso wie die Wanen aus Asien (= Asen) in den Norden ge-
wandert. Byzanz galt als ihr Sitz. Freyr dagegen gilt als Urgott der
Schweden und T h o r als jener der Norweger. Wie dem auch sei, der
Odinsglauben erfasste den ganzen Norden.

Die Kampfjungfrauen

34
Hrist und Mist
sollen das H o r n mir bringen,
Skeggjöld und Skögul,
Hild und Thrud,
Hlökk und Heerfessel,
Göll und Geirahöd,
Randgrid und Radgrid
und Reginleif,
die bringen den Einherjern Al.

195
Walküren reichen den gefallenen Einherjern in Hörnern Al (Met).
Walküren sind Wesen des Plasmas, und wenn sie etwas Flüssiges auf-
tischen, dann die Flüssigkeit des Plasmas selbst, hier als Met gedacht.
Die Gefallenen trinken, das heißt, sie leben von nun an allein von Plas-
maflüssigkeit, von Seelischem, so wie sie im Leben von Luft lebten.
Walküren gleichen den christlichen Engeln; dass es Frauen sind, ist
vielleicht den Begierden eines Kriegerstammes zuzuschreiben.
Die Walküren haben allesamt Namen, die sich auf die plasmatisch-
psychische Sphäre Walhalls beziehen und diese damit erläutern. Hrist
heißt »Sturm, Erschütterung«, Mist bedeutet »Nebel«. Das Plasma ist
neblig, ebenso Walhall. Skeggjöld heißt »Beilvergeltung«, Skögul »die
Wütende«, Hild »Kämpferin, Kriegerin«, T h r u d »Stärke«, was sich
auf die Riesenstärke bezieht. Hlökk heißt »Frohlocken, Schreien«.
Heerfessel bezieht sich auf die Fesselung ganzer Heere. Göll bedeutet
»Ruferin, Kreischende«, Geirahöd »Lanzenkampf«. Randgrid bezieht
sich auf den Grid, einen Wall wie den Helgrid um Hel und den Asgrid
um Asgard herum, heißt aber auch »Schildträgerin«. Radgrid ist die
»Plänezerstörerin«, Reginleif bezieht sich auf ratende Götter (regin
bedeutet mächtig). All diese Namen zeigen uns Erscheinungsformen
unserer aufgewühlten Emotionen bzw. Eigenarten des Plasmas, der
Plasmariesen und -elfen.

Sonne und Wölfe

Als Vater von Sonne und Mond gilt Mundilfari. Man hat den Namen
auch als »Achsenschwinger«, als Pol oder Himmelsachse gedeutet.
Auch der Weltenbaum ist eine Himmelsachse, eine Weltachse, an der
sich die drei Welten auffädeln. Sonne und Mond drehen sich um eine
Achse, und diese wäre demnach ihr Vater.

35
Arwakr und Alswinn,
von der Erde hinauf
sollen sie die Sonne ziehn;
unter der Hengste Bug
bargen holde Rater,
die Asen, Erzkühle.

Die Sonne bewegt sich, und diese Bewegung wird verursacht durch

196
Das Polaritätssystem. Ein Dualismus zieht sich durch die germanische Kosmologie:
Sonne und Mond sind offenbar Fortentwicklungen des Gegensatzes von Heiß und Kalt
im Plasma.

zwei sie ziehende Pferde: Alswinn, »der Allbehende, Allkluge«, und


Arwakr, »Frühwach«. Diese Hengste ziehen die Sonne »von der Erde
hinauf«. Rätselhaft bleibt zunächst der Satz: »unter der Hengste Bug
bargen holde Rater, die Asen, Erzkühle«. Was soll »Erzkühle« sein?
Um die Hitze der Sonne zu mildern, sollen Blasebälge unter ihren
Bauch befestigt worden sein, wird an anderer Stelle berichtet.

36
Sänftiger heißt er,
der Sonne Schild,
der vor der Strahlenden steht;
Berge und Brandung
müssten verbrennen ganz,
wenn er von ihr fällt.

197
Diese Strophe bezieht sich erneut auf die Sonne. Sie besitze einen
Schild, »Sänftiger« (Swalin genannt), der vor der Strahlenden steht
und verhütet, dass Berge und Brandung ganz von ihrer Hitze versengt
werden. Das klingt so, als hätten die Germanen etwas von den ver-
schiedenen atmosphärischen Schichten gewusst, die die Erde umgeben
und uns vor der Sonnenstrahlung schützen. Was wir mit dieser Aus-
sage anfangen sollen, bleibt ein Rätsel.

37
Trug heißt der Wolf,
der bis zu des Waldes Schutz
die funkelnde verfolgt;
der andre, Hasser,
der Erbe Fenrirs,
läuft vor der heitern Himmelsbraut.

Erneut werden die zwei Wölfe Hati (»Hasser«) und Sköll (»Bosheit,
Trug«) erwähnt, die im Grunde beide Abkömmlinge des Fenrirwolfes,

198
seine Erscheinungsformen im Plasma sind. Sköll verfolgt die Sonne
(bis zum Wald, hinter dem sie untergeht - ist damit der Erzwald, die
Grenze zwischen Midgard und Hel, gemeint, wo seine Mutter Gyge
wohnt?). Vom anderen Wolf, ansonsten als Verfolger des Mondes er-
wähnt, heißt es hier, dass er vor der Sonne herlaufe. Beide Wölfe sind
Aspekte Fenrirs, und so wie dieser beim Ragnarök Odin verschlingt, so
sein Sohn Sköll die Sonne und Hati den Mond. Es wird damit nicht nur
auf den tagtäglichen Sonnenuntergang angespielt, sondern gleichzei-
tig auf den Untergang des Materiekosmos beim Ragnarök. Andernorts
wird gesagt, die Sonne stürze ins Meer, was nicht nur bedeutet, dass sie
bei Sonnenuntergang am wesdichen Horizont ins Meer stürzt, son-
dern dass sie sich bei Ragnarök ins Plasma auflöst.
Wenn Sonne und Mond für die materielle Dimension schlechthin
stehen, dann wird diese verschlungen vom Plasma, und genau das soll
beim kosmologischen Rückzug der Welten geschehen: Materie löst
sich in Plasma auf beziehungsweise zerfällt, und übrig bleibt ihre Plas-
magrundlage. Das »Gefressenwerden« ist ein treffender sinnbildlicher
Ausdruck dafür.

Die Geburt der Erde

38 39
Aus Ymirs Fleisch Aus des Riesen Wimpern
ward die Erde geschaffen, schufen die Rater hold
aus dem Blut das Brandungsmeer, Midgard den Menschensöhnen;
das Gebirg aus den Knochen, aus des Riesen Gehirn
die Bäume aus dem Haar, sind die rauh gesinnten
aus der Hirnschale der Himmel. Wolken alle gewirkt.

Strophe 38 bezieht sich auf die Geburt der Materie insgesamt. Die
Erde entstand aus dem Plasma; ihr oberstes Prinzip, der Riese Ymir, ist
das, woraus alle anderen Riesen, sprich Plasmaprinzipien, hervorgin-
gen. Ymir wurde von den Asen getötet, genauer gesagt umgewandelt,
und aus seinem Leib, dem Plasma, wurden im Irdischen das Meer, das
Gebirge, die Bäume, der Himmel usw. erschaffen.
Wichtig ist hier zu verstehen, dass es sich nicht einfach um den Tot-
schlag des Riesen handelt, sondern um eine mühsame Verwandlung, ei-
nen Stoffwechselvorgang kosmischen Ausmaßes, bei dem sich das Plas-
ma zu Materie verdichtet. Der Tod Ymirs wird andernorts behandelt.

199
Aus des Riesen Wimpern entstand der Mid-gard (mid = Mitte, gard
= Zaun, wachen), der Zaun, auch als Midgardwall bekannt, oder der
mittlere Garten. Warum gerade aus dem Gehirn die Wolken entstan-
den sein sollen, ist schwer nachvollziehbar (werden Gehirnwindungen
mit Wolkenwindungen verglichen?).

Die große Gottheit Uli

40
Der hat Ulls Huld
und aller Götter,
der zuvorderst zum Feuer greift;
denn offen sind die Heime,
hebt man ab die Kessel,
allen Asensöhnen.

Ull ist ein Ase und Sohn der Sif. Da diese später T h o r heiratet, ist er
auch ein Stiefsohn Thors. Ull gilt als hervorragender Bogenschütze, er
sei auch sehr schön von Angesicht und einer der besten Krieger im
Zweikampf, weshalb man ihn bei diesem anruft. Ull ist aber auch ein
Beiname Odins. Auf jeden Fall ist er mehr, als er scheint, sicherlich war
er einst eine große Gottheit, die in der Skaldendichtung aber zur Rand-
figur wurde.
»Der zuvorderst zum Feuer greift«, das Feuer des Plasmas (Mus-
pellheims) löscht, ist der Huld Ulls gewiss. Das heißt: Das Plasma ist
einerseits Feuer im Sinne eines äußerst heißen Superfeuers, anderer-
seits Feuer der Leidenschaft, der wilden Seele. Plasma hat einen N a -
turaspekt und einen seelischen Aspekt. Wer die Leidenschaft in sich
zum Erlöschen bringt, wird von Ull gesegnet und kann, so gereinigt,
nach Asgard eingehen. Was im folgenden Satz bestätigt wird: »denn
offen sind die Heime [also Welten], hebt man ab die Kessel, allen
Asensöhnen«, das heißt, löscht man das seelisch lodernde Plasma.
Wie wir im Hymirlied sehen werden, ist der Kessel ein Synonym
für das Plasma schlechthin; in ihm wird das Bier, die Flüssigkeit des
Plasmas, ebenfalls ein Synonym für Plasma, gebraut.
Als Asensöhne gelten alle Wesen, die aus Odin hervorgingen, ob
nun im Plasma oder in der Materie. Wir alle haben die Huld der Göt-
ter, sind direkt mit Odin verbunden, weil wir seine Kinder sind. Gott ist
in uns. Für den Geist gibt es keine Grenzen, er durchdringt jedes Heim.

200
Die trügerische Technik der Zwerge

41
Iwaldis Söhne
gingen in Urtagen
zu schaffen Skidbladnir,
das beste Schiff,
dem schimmernden Freyr,
Njörds gesegnetem Sohn.

Mit dieser Strophe beginnt Odin von sich zu erzählen, indem er über
seine Emanationen berichtet. Odin ist alles, alle Welten, alle Dinge al-
ler Welten. So nur ist verständlich, dass er jetzt von Skidbladnir, dem
geheimnisvollen Schiff des Gottes Freyr, schwärmt. Dieses Schiff ist
groß genug, um alle Asen samt Rüstung zu fassen, muss also in der Tat
recht groß sein, bedenkt man die Fähigkeiten der Asen, ihre geistige
Größe. Dieses Schiff bekommt, wie es heißt, kaum sind die Segel auf-
gezogen, von alleine Fahrtwind und, wird es nicht mehr gebraucht,
lässt es sich zusammenfalten wie ein Tuch und in die Tasche stecken.
Was ist das also für ein Fahrzeug? Die Asen benutzen dieses Wunder-
werk, aber gebaut wurde es natürlich von Zwergen, genauer von Iwal-
dis Söhnen Sindris und Brokk. Die Zwerge sind Plasmawesen aus
Myrkheim, sie erschaffen all die wunderbaren Waffen für die Asen. Be-
trachten wir genauer, wann und wo die Asen diese Waffen anwenden.
Thor benutzt seinen Hammer Mjöllnir, Odin seinen Ring Draupnir
und Freyr sein Gespann Gullinbursti ausschließlich im Plasma des Rie-
senlandes. Diese Waffen oder Fahrzeuge brauchen die Asen also nur
im Plasma, nie in Asgard: Plasmawaffen blieben wirkungslos in Asgard,
ebenso wie irdische Waffen im Plasma wirkungslos blieben. Was also
im Plasma von Plasmawesen hergestellt wird, wirkt auch nur dort. Die
Waffen und Erfindungen der Zwerge, viel gerühmt in der Edda, sind
wie Schäume und Träume, Lug und Trug, unsere Phantasie. Sie sind
wirkungsvolle Einbildungen, geschickte mentale Täuschungskünste;
aber das verwundert nicht, wir befinden uns im Seelenplasma, der
Hölle, dem Totenreich, wo all das Wirklichkeit wird, was wir uns wün-
schen und ersehnen. Hier sind wir reine Seele, und Einbildung ist
oberste Bildung. Diese Waffen sind also die Zaubereien der Riesen und
Zwerge, und die Asen müssen sich ihrer bedienen, wollen sie mit Hei-
wesen kommunizieren; kurzum, sie müssen sich eine Entwicklungs-
stufe herablassen und sich seelisch, »zauberisch« bewegen.

201
Odin in tausend Gestalten

42
Die Esche Yggdrasil
ist der erste der Bäume,
doch Skidbladnir der Schiffe,
der Rater Odin,
der Rosse Sleipnir,
der Brücken Bifröst,
doch Bragi der Skalden,
der Habichte Habrok,
doch der Hunde Garm.

Erneut hebt Odin an, seine vielen Namen und die damit verbundenen
Fähigkeiten anzupreisen, was an sich müßig ist, ist er doch alles und
kann alles. Sein Beiname Ygg - von dem sich Yggdrasil ableitet - heißt
eigentlich »Pferd des Ygg«, also Odins. Odin benutzt den Baum, die
drei Welten, als Pferd, als Ausdruck seiner Bewegung. Odin hängte
sich als Opfer mit seinem Pferd in die Weltesche, beziehungsweise da
er die ganze Welt ist, opferte er sich, indem er diese gebar. Welt-
schöpfung wird hier als Opfer des allerhöchsten Gesetzes verstanden.
Wenn er sagt, »die Esche Yggdrasil ist der erste der Bäume«, meint er
damit sich selbst, denn er ist der Weltenbaum.
Skidbladnir, das erwähnte Schiff des Gottes Freyr, ist das erste
Schiff.
Der größte Rater ist Odin. Rater im Sinne von W s s e n und Rat ge-
ben.
Das beste Ross ist Sleipnir, Odins achtbeiniges Ross, das schneller
als die Zeit ist, denn Odin ist zeitlos.
Als beste Brücke gilt Bifröst, weil sie von Asgard nach Niflheim und
gar weiter nach Midgard führt; sie ist Odin selbst, der ja die Verbin-
dung zu allem ist. Es heißt, sie gerate beim Ragnarök in Brand - wenn
die Feuerriesen darüber ziehen -, sie bricht beim Zusammensturz Hels
zwangsläufig auseinander, weil dann kein Weg mehr in diese nicht
mehr bestehende Dimension führt.
Bragi heißt Fürst, der Erste, er ist ein Sohn Odins und der Frigg,
gilt als Gott der Dichtkunst und ist einer der zwölf Asen; selbstver-
ständlich ist er nichts anderes als ein Aspekt Odins wie all seine Kin-
der. Odin ist also das Dichten, die Inspiration selbst. Dichten ist eine

202
seelische Kraft des Plasmas, und dort gibt es auch das Skaldenmet, das
Inspiration verleiht.
Von den Habichten wird Habrok, »Langbein«, genannt (der an-
dere Habicht ist Wederfölnir »Wettermacher«), der zwischen den Au-
gen des Adlers sitzt, welcher wiederum ganz oben auf der Krone des
Weltenbaumes hockt. Dieser Habicht ist Odin selbst in seinem allse-
henden Aspekt.
Von den Hunden ist Garm der beste, da ohnehin nur ein Hund in
der Edda vorkommt, der Höllenwachhund, der nur wirklich Verstor-
bene einlässt und andere wegbellt.

Totengott Ägir

43
Vor der Sieggötter Söhnen
tat ich Gesichte nun kund;
das weckt heilsame Huld:
allen Asen
soll es eingehen
auf Agirs Bank,
bei Agirs Trank.

Die Sieggötter sind natürlich die Asen, die immer siegen. Ihre Söhne
sind in diesem Fall wohl die Menschen, hier in Gestalt des Königs
Geirröd. Odin offenbart sein wahres Wesen durch sein umfassendes
kosmologisches Wissen, womit er den König in seinem Wahn in die
Schranken weist und ihn demütig werden lässt. Vor dem Geist fällt
jeder aufs Gesicht. Wer Gott sieht, stirbt!
Wer ist Ägir? Ägir (auch Hier oder Gymir genannt) ist das Wasser,
das Meer, das Plasma. Synonyme des Plasmawassers sind auch Wind
und Feuer. Das Plasma ist also der Elementarzustand von Wind, Was-
ser und Feuer und nicht etwa die materielle Erscheinung derselben. Es
handelt sich nicht um drei verschiedene Zustände. Dass alle mit dem
Plasma deckungsgleich sind, darauf verweist bereits die Herkunft der
drei Namen; sie sind nämlich aus dem Urzeitriesen Fornjodur oder
Ymir entstanden (vgl. Abbildung Seite 138). Weiter verweist auch Ran,
der weibliche Aspekt, die Gemahlin des Ägir, auf das Plasma, denn sie
ist die Totengöttin für Ertrinkende. Ran, »Raub«, wird gelegentlich als

203
reine Schöpfung der Skalden angesehen. Eine von Agirs Kennings ist
erstaunlicherweise »Agirs Feuer«, was einfach Gold bedeutet. Gold
und das Plasma sind in geheimnisvoller Weise miteinander verwandt,
dazu später mehr.
Was heißt: »Allen Asen soll es eingehen ...«? Simrock übersetzt ver-
ständlicher: »Alle Asen werden Einzug halten ...«, und zwar, vermute
ich, in den Saal Agirs. Verweist die Stelle vielleicht auf das Lied von
»Lokis Zankreden«, in dem sich alle Asen zu einem Gelage bei Agir
treffen?
Was bedeutet Agirs Bank? Einfach die Sitzbänke? Bank ist eng ver-
wandt mit altisländisch bakki, »Erhöhung, Hügel, Flussufer, Fluss-
bank«. Es ist also eine Erhöhung gemeint. Das Plasma ist in der Tat
eine Erhöhung im Vergleich zur Materie, und die Riesen dürfen als
»Erhöhte, Erhabene« verstanden werden. Agirs Bank ist das Plasma
selbst, ebenso wie der Name Agir aufs Meer und damit das Plasma ver-
weist. Es soll auf dieser »Bank« ein Fest stattfinden, zu dem alle Asen
geladen sind; Asen müssen also ins Plasma hinabsteigen.
Was ist Agirs Trank? Agirs Trank ist Bier, und dieses bewahrt er in
Kesseln auf. Aber der Kessel, hörten wir, ist das Plasma selbst und der
Trank sein Aspekt des Flüssigen, Energetischen. (Zum Kessel und
Trank des Agir vergleiche Hymirlied). Agirs Trank ist seelische Ener-
gie.

Odin entlarvt sich

44
Grim hieß ich,
Gangmatt hieß ich,
Herrscher und Helmträger,
Walvater, Allvater,
Wunschherr und Graubart,
Har und Heerblender.

In dieser Strophe gibt Odin, der ja unter dem Decknamen Grim oder
Grimnir reist, einen Uberblick über all seine Gestalten und Namen; es
heißt, er besitze fünfzig Beinamen. Am bekanntesten ist er als Wal-
vater, der die gefallenen Helden zum Tode auswählt. Dann als Allvater,
als Herrscher und Hervorbringer der zwölf Asen, aber auch als Schöp-
fer von allem.

204
Als weitere Namen gibt er hier preis: Grim, was sich wohl auf
Grimnir bezieht. Gangmatt heißt »matter Gang«. Helmträger bezieht
sich auf das Tragen eines Helms. »Helm« leitet sich meines Erachtens
ab von Hel, die ja verdeckt, verhüllt; Odin ist also in Hei hinabgestie-
gen, und das kann er nur, weil er sich auf die »Schwingungsebene« von
Hei einlässt, sprich den Helm aufsetzt. Har, »Hoch«, nennt sich Odin
als einer der drei Könige in »Gylfis Betörung«. König Gylfi herrschte
über Schweden, so beginnt Snorris Prosaedda; er wurde vor einen
Hochsitz geführt, auf dem übereinander drei Männer saßen; der erste,
jener im untersten Teil, wurde »Hochsitz« genannt, »Hoch« der über
ihm, »Dritt« der in der dritten Ebene. Die drei stellen sinnbildlich die
drei Welten oder Odin in seinen drei Gestalten dar. Vielleicht, weil der
König dem Irdischen zugehört, verkörpert sich Odin ihm gegenüber
als unterste Entwicklungsstufe, als unterster Hochsitz. Die weiteren
Namen »Herrscher«, »Wunschherr«, »Graubart«, »Heerblender«
sind aus sich selbst heraus verständlich.

Odins Geistphilosophie

45
Trunken bist du, Geirröd,
zu gierig trankst du,
verstört ist dein Verstand;
manches verlorst du,
da du meiner Gunst
und Gefolgschaft ferne bleibst.

Odin hat nun all seine Herrlichkeit verkündet. Dem Geirröd dämmert
die Wahrheit, wer wirklich vor ihm steht. Er hatte nicht erkannt, dass
Odin in all den Aufgezählten steckt, so würde ich dieses ganze Lied
deuten. Uns ginge es nicht anders, können wir denn in allen Lebens-
formen Odins Glanz erkennen? Sind für uns nicht die Dinge leblos, die
anderen Wesen bloße Nebenfiguren, und wir spielen die Hauptrolle?
Solche Anmaßung wird Odin bestrafen. Wer Odin nicht in allen Ge-
staltungen erkennt, wird leiden und sterben. Das ist die große Weis-
heit dieses Liedes. Germanische Philosophie ist Geistphilosophie, es
gibt nur Geist in verschiedensten Verdichtungsformen. Dessen gewahr
zu werden ist die Daseinsaufgabe der Wesen aller Dimensionen. Es ist
ihr Auftrag, sich selbst als Odin zu erkennen, doch tun wir es, werden

205
wir sofort sterben, nämlich die beschränkte Hülle, die wir haben, ob
Materie- oder Seelenhülle, ablegen. Geirröd stirbt daher in genau dem
Augenblick, in dem er Odin erkennt. Wer Gott sieht, stirbt!
Geirröds Verstand ist in der Tat verwirrt; er wollte etwas haben,
statt zu erkennen, dass er bereits alles hat, nämlich Odin in sich selbst.
Mit solcher Verblendung hat er die Gunst Odins verspielt und ver-
trocknet nun, stirbt am Nichtwissen über sein wahres geistiges Wesen.
Erkenne dich selbst, heißt germanisch: Verwirkliche Odin in dir selbst.
Wer die Weisheit, »Ich bin Odin!«, nicht erkennt, wird materietrun-
ken, ver-rückt sich vom Geist, wird gierig auf irgendetwas Beschränk-
tes, statt das Alles in sich selbst zu verwirklichen. Wir beschränken
unsere Möglichkeiten, was Gier hervorruft. Das ist die spirituelle
Philsosphie der Edda, das Allvater-Gesetz Odins. Alle geschaffenen
Welten sind Tagträume des obersten Gottes, die er in unserer Gestalt
erforschend durchwandert, sich selbst zu ergründen. Die Wanderun-
gen Odins sind unsere Erkenntniswanderungen. Leben als Traum-
forschung Odins. Wer Odin nicht in allem und sich selbst erkennt,
verweigert sich diesem, und das heißt, er führt das normale verblen-
dete Leben von Geburt und Tod. Daher stürzt der König in sein eige-
nes Schwert, sein blasses, anti-odinisches Leben führt ihn notgedrun-
gen in den Untergang. Das ist das Gesetz des Daseins. Daher sagt
Odin:

46
Ich wies dir vieles,
doch wenig verstandest du:
dich lässt fallen dein Freund;
liegen seh ich,
besudelt mit Blut,
meines Schützlings Schwert.

»Ich wies dir vieles, doch wenig verstandest du«. Der König steht für
jeden Menschen. Hier wird eine geistige Philososphie verkündet: das
Schicksal jedes Menschen, der nicht Odin, das All und alles, zu seinem
ganzen Trachten und Handeln gemacht hat, nämlich in allen Formen
des Daseins, in allen Ereignissen und Zuständen nur Odin selbst zu se-
hen, das heißt in jedem Aspekt verschiedene Ausdrucksformen des
Ganzen, das sich verkleinert, eingeengt, verselbständigt hat. Als der
König Odin schließlich erkennt, will er aufstehen und ihn vom Feuer
wegnehmen, doch zu spät: Sein Schwert entgleitet ihm, er stürzt hin-

206
ein und richtet sich so selbst. Sein Sohn wird König und Odin ver-
schwindet.

47
Schwertmüde Beute
soll der Schlachtgott haben:
dein Leben verlierst du nun;
unhold sind dir die Disen,
jetzt kannst du Odin sehn:
nun komm, wenn du kannst.

Als Walvater, der den Toten holt, tritt Odin nun auf. Geirröd hat er
diesmal ausgewählt, weil ihm die Disen, das sind Asen als Schicksals-
göttinnen, nicht wohlgesinnt waren, da er den Asen Odin nicht aner-
kannte, also kein geistiges Leben führte. Das ist sein Todesurteil. Wer
sein Leben nicht Odin weiht, in seinen Handlungen selbst Odin wird,
verfällt früher oder später dem Gesetz der Rache, dem obersten geisti-
gen Gesetz.

Odin: Alles ist in allem

48
Odin heiß ich jetzt,
hieß einstmals Schrecker,
hieß vor Zeiten der Zürnende,
Einschläferer, Fessler:
mich dünkt, dass alles dies
einzig mich nur meint.

Das anspruchsvolle Lied mündet in eine glänzende universale Phi-


losophie: Es führt als oberstes Gesetz an, dass Gott alles in allem ist.
Die letzten Strophen haben bereits vorgeführt, was es mit Odin auf
sich hat. Odin ist die Verkörperung Asgards, denn die Menschen müs-
sen immer die abstrakten, unmenschlichen Gesetze des Daseins ver-
menschlichen, um ihrer überhaupt habhaft zu werden; dies ist uns ein
pädagogisches Hilfmittel. Odin ist alles, da er alles erschaffen hat. Er
ist alle drei Welten in einem. Wenn dem so ist, deutet sich an, dass
diese drei Welten gar nicht bestehen, gewissermaßen nur Gedanken
Odins sind, eine Art Maya im Sinne der Inder. Bereits die Welt der Rie-

207
sen und Zwerge wird als Trugwelt dargestellt, die nur durch seelische
Einbildung lebt. Wie ist dann erst unser materielles Dasein zu verste-
hen - als zum Festen geronnene Einbildung?
Dass Odin alles ist, ist aus der Warte Odins gesehen. Von uns aus,
die wir in der Weltvielfalt stehen, sind all die zehntausend Dinge, Odin
eingeschlossen, wir selbst. Aber damit nicht genug: Wenn jedes Ding
Odin in Kleinformat ist, dann auch wir selbst, wir sind aber nicht etwa
nur »kleine« Odins, sondern Odin in voller Größe. Jedes Ding enthält
den ganzen Odin, das Alles. Wenn jedes Ding alles enthält, dann gilt:
Alles ist in allem! Jedes Ding ist damit eine mikrokosmische Analogie
von allem, von Odin, und Odin ist das makrokosmische Gesetz von al-
lem. Mikro- und Makrokosmos sind eins, und die Gößen- und Dich-
teunterschiede zwischen den Dimensionen sind zu vernachlässigen als
Täuschungen unserer beschränkten Wahrnehmung. Es gibt nur Odin
und Asgard, sonst nichts, oder wie Odin von sich sagt: »mich dünkt,
dass alles dies einzig mich nur meint.« Erinnert das nicht an das vedi-
sche »Das bist du!« (Tat tvam asi!)? Odin ist räum- und zeitlos, abso-
lute Bewegung, er ist überall und nirgends zugleich. Denn wer überall
ist, muss zwangsläufig nirgends sein. Das ist das große Paradox, über
das sich philosophieren lässt. Die Edda ist offenbar eine Geistphiloso-
phie im Gewand allzumenschlicher, belustigend-unergründlicher Pa-
rabeln.

208
4. BALDERS TRAUME:
Ein Lichtgott in der Hölle

Thema dieses kleinen Liedes ist des Asen Balder zu erwartender Tod
und die Frage, wer ihn rächen wird. Ausgangspunkt waren Balders böse
Träume, welche die Asen zu einem Thing veranlassten, von dem Odin
offenbar ausgesandt wurde, um Balders kommendes Schicksal bei ei-
ner Wölwa, einer Seherin, zu erfragen. Natürlich ist für Odin, den All-
vater und absoluten Seher, eine solche Aufgabe kindisch, und wir
könnten behaupten, die Befragung in der Séance der Wölwa ist nur ein
erzieherischer Kunstgriff, denn im Grunde befragt Odin lediglich sich
selbst. Doch erfahren wir durch diesen literarischen Trick mehr über
das Verhältnis zwischen Riesenheim und Asgard. Die Wölwas residie-
ren im Mittelkosmos Hels, und Odin prüft nun diesen auf sein Ver-
hältnis zu sich selbst hin. Wissen die Riesen noch, dass sie von ihm ab-
stammen, oder haben sie ihren Vater vergessen?

Wer ist Balder?

1
Die Asen eilten
alle zum T h i n g
und die Asinnen
alle zum Rat:
und das berieten
die reichen Götter,
warum Balder
Böses träumte.

Balder, »der Leuchtende, Licht Verbreitende« (idg. bhaltos, »glänzend,


schnell, kühn«) oder »der Tapfere« (engl, bold = kühn), ist ein Sohn
Odins und der Frigg. Balder hat böse Träume, welcher Art, bleibt un-
genannt, aber vermutlich sieht er seinen Tod voraus. Da Asen unsterb-
lich sind (für sie existiert keine Zeit), sind sie durch diese Träume zu
Recht beunruhigt, etwa so, wie wir es im umgekehrten Fall wären,

209
wenn es einen Menschen gäbe, der unsterblich wäre. Da es sich um
eine Unmöglichkeit handelt, muss ein Fehler vorliegen. Dieser Fehler,
dieser gewaltige Widerspruch ist es, der dieses kleine Lied so reizvoll
macht; er regt nämlich an, tiefer über Todes- und Menschenreich
nachzudenken, denn Balder wird sterben, indem er nach Heiheim
geht. Ein Gott aber kann eigentlich niemals von der niederen Dimen-
sion Hel berührt werden.

Das achtbeinige Ross Sleipnir

2
Auf stand Odin,
der alte Held,
und legte Sleipnir
den Sattel auf.
Nieder ritt er
nach Niflheim;
einen Hund traf er,
der aus der Höhle kam.

Offenbar wurde festgestellt, dass Balder in der Tat sterben wird, und
zwar indem er nach Hel geschickt wird; denn Tod gibt es in Asgard
nicht, also bleibt nur Niflheim übrig. Die zweite Strophe erzählt, wie
Odin mit seinem grauen Schimmel, dem achtbeinigen Ross Sleipnir,
nach Hel reitet, um vor Ort Erkundigungen einzuziehen. Er sattelt
sein achtbeiniges Pferd, »den schnellen Läufer«, das schnellste aller
Asenpferde. In unserem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass
der Vater dieses Pferdes der Hengst Swadilfari, »der eine unglückliche
Fahrt Machende«, ist; dieser gehörte dem Baumeister, der den As-
gardwall bauen sollte. Dazu ein kurzer Abstecher in diese Geschichte
der Prosaedda.
Die Asen, immer auf der H u t vor den Riesen, die allzeit gerne in
Asgard einfallen möchten, beauftragten nach dem »weisen« Rat von
Loki einen Baumeister, Asgard (oder den Asgardwall?) für sie als
»Burg« zu bauen. Erst nach der Zusicherung, dass er als Gegenleistung
die Göttin Freyja - die ja ursprünglich eine Wanin, also Riesin, ist - so-
wie Mond und Sonne erhalte, schuf der Baumeister das Werk mit Hilfe
seines Arbeitspferdes Swadilfari, das riesige Steine schleppen konnte.
Als er die Burg oder den Wall fast fertig hatte, bekamen es die Asen mit

210
der Angst zu tun, denn niemand wollte Freyja opfern; so musste man
dem Riesen gegenüber zu einem Betrug greifen. Die Asen gewinnen
immer gegen die Riesen, aber nur mittels List. Die Asen beschlossen
also, den Bau zu stoppen, so dass der Riese nicht in der Lage sein
würde, seine Pflicht zu erfüllen. Drei Tage vor der Fertigstellung ver-
wandelte sich daher Loki in eine Stute, worauf das Arbeitspferd Swa-
dilfari sich nicht mehr halten ließ und die Arbeit sich verzögerte. Der
Baumeister, den man nicht für einen Bergriesen gehalten hatte, geriet
nun in »Riesenzorn« und entlarvte sich dadurch als Riese, was T h o r
sogleich veranlasste, ihn mit seinem Hammer zu erschlagen. Damit be-
saßen die Asen ihren Wall, ohne dass sie Freyja hergeben mussten. Es
liegt schon W t z darin, dass Loki, das Plasma selbst, die Asen überre-
det, eine Burg gegen sich selbst zu bauen, und das mittels eines Riesen.
Der Hengst zeugte mit der Stute, die eigentlich Loki war, ein Foh-
len, und dieses war Sleipnir, den Odin erhielt. Sleipnir ist also durch
den Bergriesen beziehungsweise dessen Hengst von riesischer Abkunft
und von Seiten Lokis her ebenfalls, denn Loki ist ja Hel selbst und nur
der dreizehnte, also ein falscher Ase. Loki ist reines Plasma, womit
auch die mütterliche Herkunftslinie von Sleipnir sich als riesisch he-
rausstellt. Sleipnir ist ein Prinzip Hels. Das ist zu berücksichtigen, wol-
len wir verstehen, warum Odin ausgerechnet dieses Pferd als Fortbe-
wegungsmittel im Plasma benutzt. In Asgard benötigt er das Pferd
nicht, dort würde es ihm nichts helfen. Will er sich aber in Hei fortbe-
wegen, dann auf die dort gängige Art und Weise, daher das Pferd, was
erneut ein Licht auf die Natur von Sleipnir, dem »schnellen Läufer«,
wirft: Er ist reines Plasma, kann sich fast zeitlos, also außerordentlich
schnell fortbewegen, denn Ansätze von subjektiv-seelischer Zeit
scheint es in Hel zu geben — Zeit ist dort also im Gegensatz zu Asgard
so schnell, wie wir subjektiv meinen.

Der Höllenhund Garm

»Nieder ritt er nach Niflheim; einen Hund traf er, der aus der Höhle
kam.« In der Tat liegt Niflheim, Hel oder Riesenheim unterhalb von
Asgard, wenn man von einer dreidimensionalen, hierarchischen Welt-
pyramide ausgeht, was aber, wie wir wissen, reines Sinnbild ist - eine
sinnliche Topografie immaterieller Dimensionen gibt es nicht.
Es verwundert keineswegs, dass Odin hier auf den Höllen- und
Wachhund Garm trifft, dessen Aufgabe es ist, in Richtung Midgard nicht

211
wirklich Verstorbene davon abzuschrecken, Hel zu betreten, und aus
Hel Fliehende zurückzuhalten. Nach Asgard hin hat Garm eigentlich
nichts zu verteidigen. Andererseits darf man sich natürlich nicht vor-
stellen, dass dieses wachende Prinzip tatsächlich an einem bestimmten
Punkt an der Grenze zwischen Midgard und Niflheim steht; vielmehr
ist Niflheim oder Hel insgesamt mit Garm gleichzusetzen, denn diese
Dimension, diese »Höhle«, aus der der Hund tritt, ist Garm selbst.
Hel wird auch durch Fenrir, den großen Wolf, dargestellt. Das Bild
des Wolfs wird wegen seines verschlingenden Rachens benutzt, denn
Hel ist eine die Toten verschlingende Dimension. Fenrir (Fen ist eine
Sumpfwiese) heißt Sumpfbewohner; das Plasma ist in der Tat ein
Sumpf und Morast, nämlich unserer flüssigen, mentalen Zustände,
aber auch ein Grab. Der Wölf tötet und frisst die Wesen, sie gehen ein
in seinen Rachen, in Hel. Garm ist ein Aspekt des Fenrirwolfs, mit der
Aufgabe zu bewachen. Hel beziehungsweise Garm lässt nur wirklich
Tote ein und niemals einen l ö t e n wieder zurück nach Midgard.

3
Blutig war er
an der Brust vorne,
des Zaubers Herrn
umheulte er lange.
Der ritt weiter,
der Weg dröhnte;
zum hohen Haus
der Hel kam er.

Garm hat eine blutige Brust, was nur als Abschreckung zu verstehen
ist, denn es ist kein Fall bekannt, wo er jemals andere getötet hätte. Al-
lerdings tötet er im Grunde alle Menschen, denn sie sterben ja, und
Garm ist die Verkörperung Hels schlechthin. Er ist Hel und ihr Aspekt
der odinschen Wölfe, die die Helden auf dem Schlachtfeld reißen - er
ist das Gesetz des Todes und Sterbens überhaupt. Alle Gestalten Hels
stellen immer wieder nur Spielformen der Eigenarten Hels vor. Dass
in so vielen Kulturen ein Hund verwendet wird, um Hel darzustellen
(Anubis in Ägypten, Cu Sith bei den Iren, bei den Griechen Zerberos),
hat wohl mit ihrem Charakter des Verschlingens zu tun.
Zu erwähnen ist noch Garms Heulen. Begrüßte er damit Odin oder
wollte er ihn abwehren? Es heißt, Garm empfange Tote schwanzwe-
delnd, nicht wirklich Verstorbene jedoch knurrend. Das besagt, dass

212
auch Lebende nach Hel können, aber nur unter großen Schwierigkei-
ten. Garm ist also nichts anderes als ein weiteres lehrhaftes Stilmittel,
um Eigenarten Hels bildlich verstehbar zu machen.
Odin ritt weiter, »der Weg dröhnte«. Hel, auch »Lärmheim«,
Thrymheim genannt, ist eine Welt seelischen Lärms: sie ertönt vom
Geschrei der Toten, ihrer unerlösten Gefühle, Klagen und Leiden. Hel
ist das Reich unserer guten wie unguten Gemütszustände. Jegliches
Fühlen und Denken ist eine Beschränkung und daher ein Leiden; im
Angesicht des reinen Geistes ist Gemüt immer heiartig. Dass daher der
Weg nach Hel - auch Helweg genannt - dröhnt, ist ein treffendes Bild.
Es führt übrigens auch ein Helweg von Asgard nach Hel und ein eben-
solcher von Midgard nach Hel, was nur logisch ist, müssen doch alle Di-
mensionen miteinander in Austausch stehen. Natürlich werden die Di-
mensionen nicht nur durch einen schmalen Weg verbunden, sondern,
wie gezeigt, es gibt so viele Zugänge, wie es Berührungspunkte gibt.
Also: an allen Berührungspunkten befindet sich ein Helweg, da sich die
Dimensionen überall berühren. Odin hätte auch die Brücke Bifröst
wählen können, die von Asgard nach Hel führt. Warum er dies nicht
tat, könnte auf einen feinen Unterschied zwischen den Brücken, die die
Dimensionen verbinden, und den Heiwegen verweisen. Verkehrt man
vielleicht über die Brücken leichter zwischen den Dimensionen?
»Zum hohen Haus der Hel kam er.« Hel wird auch personifiziert
dargestellt als die Tochter Lokis. Und diese wohnt in einem Haus, dem
Haus der Hel.

Das Tor

4
Da ritt Odin
ostwärts vors Tor,
dort wo er wusste
der Wölwa Hügel.
Ein Wecklied sang er
der Weisen da,
bis auf sie tauchte,
Totenworte sprach:

»Da ritt Odin ostwärts vors Tor«, heißt es. »Tor« ist nicht wörtlich zu
nehmen, es bedeutet ganz allgemein Eingang oder »am Rande von«.

213
Etymologisch heißt Tor »große Tür«, bedeutet aber auch »Dumm-
kopf«. Das »r« in Tor war ursprünglich ein »s«, daher gehören Worte
wie »dösen«, »Dusel«, altenglisch dysig, »töricht, unwissend, blödsin-
nig«, altisländisch dos, »Stille«, englisch to doze, »schlummern«, dazu.
Das zugrunde liegende Adjektiv bedeutet »umnebelt, verwirrt« und
gehört zu der unter Dunst behandelten Wortgruppe (siehe unten). Da-
von abgeleitete Worte sind Torheit, töricht, betören. Die Parallele zu
Niflheims Nebel, Dunst und Torheit, seinen uns störenden Gemüts-
zuständen ist unübersehbar. Dummheit und Unwissenheit herrschen
im Plasma, das ja neblig ist, eine emotionale Umnebelung und Ver-
wirrung charakterisiert Hel. Ein Tor wäre dann ein Gestorbener, der
durchs Totentor der Hel gegangen ist und nun im Nebelreich der
Gemütszustände und Betörungen vor sich hindöst. Aber auch das Wort
»tosen« müsste in diesem Zusammenhang geprüft werden: mittel-
hochdeutsch dosen, althochdeutsch doson ist verwandt mit altenglisch
dyssa, »Toser, Tosender«, altisländisch (th = p) pyss, »Getümmel«, nor-
wegisch tosa, »rasseln«. Die Wörter gehören zur selben indogermani-
schen Wurzel wie auch Daumen, nämlich teu, »schwellen, rauschen« -
und ist Niflheim nicht als das rauschende, anschwellende Wasser be-
kannt?
«Dunst« kommt von »Dampf, Sturm«, mittelniederdeutsch und
englisch dust, »Staub«. Wir müssen aber noch weiter gehen. Der
ganzen Gruppe liegt eine s-Erweiterung der indogermanischen W u r -
zel dheu, »stieben, wirbeln, blasen, rauchen, dampfen, in heftiger Be-
wegung sein«, zugrunde. Diese Wurzel wurde überall in den indoger-
manischen Sprachen erweitert (z.B. aind. dhu-md, lat.fumus, »Rauch«,
gr. thymös, »Geist, Mut«, ahd. toum, »Dampf, Rausch«, und tumon,
»sich im Kreise drehen«). Aus dem germanischen Sprachbereich
gehören hierher die unter Daune (»Aufgewirbeltes«) behandelten
Wörter wie »Düne« und »Tau«, weiter die Wortgruppe von »toll«
(»getrübt, geistig schwach«) ebenso wie »tot«. Ähnliche Bedeutung
zeigt die Wortgruppe dheubh, »rauchen, neblig, verdunkelt«, die sich
auch auf Geist und Sinne beziehen kann wie in »taub« (daher auch der
Name des Vogels Taube entsprechend seiner neblig-graubläulichen
Farbe; vergleiche auch »blauen Dunst vormachen« für »etwas vor-
spiegeln«). Die erweiterte Wurzelform dbeudh, »durcheinander wir-
beln, schütteln«, liegt den unter »verdutzt, verwirrt« und »Dotter«
(eigentlich »der Zitternde«) behandelten Wörtern zugrunde.
Ein etymologischer Überblick dieser Art bestätigt die Bedeutung
des Wortes Niflheim als Nebelheim, entstanden aus Tau (dem Geweih

214
der Hirsche, von dem Wasser tröpfelt), aber auch dampfend, rauchig
und von der Farbe her wie die der Taube: grau.

Die Seherin

Odin trifft auf eine Wölwa, die in einem Hügel wohnt. Hügel und
Berge verweisen stets aufs Plasma. Der bekannte Urhügel, der zuerst
aus dem Urwasser (Plasma) auftauchte, ist ein allgemeingültiges Sy-
nonym der zweiten Dimension. Was aber ist eine Wölwa? Eine Sehe-
rin und Prophetin, die seidkundig, das heißt zauberkundig ist. Die
Wöluspa (erstes Lied), in der die Erschaffung der Welt bis zu ihrem
Untergang und zur erneuten Wiedergeburt in einem Zuge behandelt
wird, ist die bekannteste Weissagung einer Wölwa.
Odin singt der Wölwa ein Wecklied, bis sie auftaucht und Toten-
worte spricht. Worauf sich das Lied bezieht, hören wir nicht, vielleicht
einfach darauf, dass sich Tote durch ein Lied aufwecken lassen. Oder
wird auf den Totengesang angespielt? Auf alle Fälle trifft er die Wölwa
ostwärts, und im Osten soll Niflheim liegen.

5
»Wer ist der Mann,
mir unbekannt,
der mir vermehrt
mühevollen Weg?
Regen schlug mich,
befreit war ich
und taubeträuft:
tot war ich lange.«

In der Tat wird die Wölwa als im Totenschlaf befindlich verstanden.


Odin ist ja in die Tötendimenion geritten, wo sich alles im Totenschlaf
(in mentaler Trübheit) befindet, was aber nicht immer stimmt, denn die
Töten, die Riesen und Zwerge sind mental recht rührig. Die Wölwa ist
nicht wirklich tot, nur der Körper ist es, ihre Gefühle sind hellwach (hell
= hel). Erstaunlicherweise sagt nun die Wölwa: »Regen schlug mich,
bereift war ich und taubeträuft«. Wir wissen, dass das Plasma wässrig
ist, dass Tau oder Regen aus dem Geweih der in Asgard äsenden Hir-
sche heruntertropft und die Plasmadimension bildet, die Flüsse, Brun-
nen und Eislandschaft. Odin ist also im Plasma, dem feuchten, eisigen,

215
regnerischen angelangt. Weissagung ist in diesem Reich ohne weiteres
möglich, denn Raum und Zeit sind hier bereits zusammengezogen und
dadurch überblickbar, so wie wir den Anfang und das Ende eines Bil-
des erfassen können - in einem Blick. Zukunftsaussagen stellen folglich
keine Schwierigkeit dar. Das Plasma ist der Bereich, in dem das Ursa-
che-Wirkungs-Gesetz weitgehend erlischt, die Riesengesetze sind al-
lesamt übersinnliche Gesetze. Allerdingst ist und bleibt es widersinnig,
dass Odin, der ohnehin alles weiß, zur Zukunftsschau ins Plasma reist.

6 Odin:
»Wegtam heiß ich,
bin Waltams Sohn.
Sprich von der Tiefe,
vom Tag will ich's!
Wem sind die Sitze
besät mit Ringen
und strahlt die Bank
bestreut mit Gold?«

Wie üblich gibt Odin einen falschen Namen an, um sich nicht als der
Allvater zu erkennen zu geben (Wegtam, »der Weggewohnte«, Wal-
tam, »der Schlachtgewohnte«). Aber warum versteckt er sich? Offen-
bar um die Gesprächspartner zu prüfen. Da er ohnehin alles weiß, kann
ihn niemand über-, nur unterbieten. Da das zwangsläufig so ist und er
es im Voraus weiß, bräuchte er die Riesen gar nicht zu prüfen. Dass er
es dennoch tut, muss also einen Sinn haben. Er führt den Riesen ihre
Bedeutungslosigkeit vor Augen, die sie mit dem Tod bezahlen müssen.
Warum straft sie Odin so hart, wenn sie ihn nicht erkennen? Will er
ihnen zeigen, dass sie selbst nichts sind und nur durch den Allvater be-
stehen? Will er ihnen Gottes Allgewalt vorführen, sie zwingen, ihre
übertriebene Selbsteinschätzung zu dämpfen, will er alle Wesen nöti-
gen zu erkennen, dass sie verglichen mit ihm geistige Zwerge sind?
Odin tritt als göttlicher Rächer auf. Wer nicht im göttlichen Sinne
handelt, hat zu sterben. Doch wer nicht Gott Allvater ist, kann auch
nicht so handeln; ein Mensch kann kein Riese, ein Riese kein Gott sein.
Was soll also das odinsche Strafgericht? Der Drei-Stufen-Kosmos der
Edda erlaubt den Wesen nur, ihrer Daseinsebene entsprechend zu han-
deln, bestenfalls angetrieben zu sein, eine Stufe höher zu springen. Die
Riesen wollen nach Asgard, doch ob auch Menschen nach Riesenland
wollen, darüber schweigt sich die Edda aus.

216
»Sprich von der Tiefe«, fordert Odin die Wölwa auf; gemeint ist
wohl ihr Landstrich Heiheim. Der Satz »vom Tag will ich's« bezieht
sich auf Asgard.
»Wem sind die Sitze besät mit Ringen« meint den Ring Draupnir,
der Odin gehörte, den er aber beim Tod Balders auf dessen Scheiter-
haufen legte. Dieser Ring hat die wunderbare Eigenschaft, dass aus
ihm in jeder neunten Nacht acht neue gleiche Ringe hervorträufeln.
Odin spielt hier also auf den Tod Balders an, den er noch gar nicht wis-
sen kann. Balder hatte lediglich schlechte Träume, was aber zeigt, dass
Odin alles vorausweiß.
Und wem »strahlt die Bank bestreut mit Gold«? Gemeint ist wohl
erneut das Plasma, das Reich des Goldes. Gold und Plasma sind dassel-
be. Dazu müssen wir aber einen Ausflug ins »Goldland« unternehmen.

Das Goldland

Meine These, dass Gold Plasma ist, lässt sich leicht an einer ganzen
Reihe von Kennings und Geschichten um Gold nachweisen. Nur Rie-
sen, Zwerge und Wanen werden mit Gold in Verbindung gebracht.
Das, was sie erschaffen, machen sie häufig aus Gold, das heißt aus dem
Stoff, der ihnen in ihrer Dimension immer zur Verfügung steht, und
das ist nur Plasma, so wie dem Menschen nur Materie und den Göt-
tern reiner Geist zur Verfügung stehen. Fertigen Zwerge oder Riesen
etwas an, wird es aus Plasma, aus Gold gemacht sein.
Ein Kenning für Gold ist »Agirs Feuer«. Agir ist ein Meerriese, er
steht für das Plasma insgesamt. »Freyjas Tränen«: Freyja ist zwar eine
Asin, ursprünglich aber Wanin, also Riesin. Ihre Tränen scheinen wie
Gold zu sein. Sie ist auch im Besitz eines kostbaren goldenen Hals-
schmucks, Brisingamen, der von vier kunstfertigen Zwergen herge-
stellt wurde, wofür jeder zum Dank eine Nacht mit der Göttin ver-
bringen durfte. Dass dieser Halsschmuck Gold, also Plasma, ist, darauf
verweist seine Herstellung durch die Zwerge, die ja Plasmawesen sind,
und die Tatsache, dass Freyja eine Wanin, sprich Riesin ist. Aus Eifer-
sucht wollte ihr Odin den Schmuck, der das Entgelt für die Liebes-
nacht war, entreißen.
»Haar der Sif«. Sif, der Gattin des Thor, schnitt Loki ihre schönen
Haare ab. T h o r zwang Loki, diese durch Goldhaare zu ersetzen, die
von Zwergen angefertigt wurden. Nach dieser Transplantation soll Sifs
Haar wieder auf rätselhafte Weise gewachsen sein. Es klingt so, als ob

217
Gold als Haarwuchsmittel verwendet wurde und das Haar gar nicht ab-
geschnitten wurde, sondern einfach nicht wuchs. Gold ist hier viel-
leicht zu verstehen als Heilmittel. Sif und T h o r zeugten eine Tochter:
Thrud (Thrud ist eine allgemeine Bezeichnung für die Riesen); T h r u d
heißt auch einer der Plasmaflüsse. Die ganze Geschichte spielt sich
notgedrungen im Plasma ab; Sif ist Riesin, ihr Mann T h o r ist zur
Hälfte Riese, Loki die Verkörperung des Plasmas. Die Zwerge sind
ebenso Gesetze des Plasmas und Gold damit auch.
»Stimme« oder »Wort der Riesen« meint ebenfalls Gold. Damit
wird es eindeutig dem Plasma zugeordnet.
Gold wird auch »Feuer sämtlicher Gewässer« genannt, was sehr
hinweisträchtig ist, denn Feuer und Wasser werden synonym für das
Plasma verwendet, ebenso Luft. Mit den Elementen, aus denen das
Plasma besteht, sind aber keinesfalls deren stoffliche Spiegelbilder
gemeint - unsere Luft, unser Feuer oder Wasser. Dies wurde bisher
nicht beachtet, was zu aberwitzigen Deutungen führte. In sämtlichen
Kosmologien der Welt werden die vier Elemente als die vorstofflichen
Urelemente und nicht als materielle Erscheinungsformen verstanden.
Der Name des schnellen Pferds des Riesen Hrungnir, Gullfaxi,
heißt übersetzt so viel wie »Goldmähne«, was darauf verweist, dass es
ein Plasmapferd ist.
Gullinbursti ist »der goldborstige Eber«, auf dem sich der Ase be-
ziehungsweise ursprüngliche Wane Freyr fortbewegt, wenn er ins
Goldland der Riesen reist. Dieser Goldeber wurde ebenfalls von Zwer-
gen geschmiedet. Da sich aber ein Eber nicht schmieden lässt, wird es
sich eher um einen Plasma- oder Goldeber handeln. Was die Zwerge
schmieden, darf nicht mit einem materiellen Ding verglichen werden,
es werden feinstofflich-seelische Plasmastrukturen geformt.
Gullweig, »die Goldreiche«, ist eine Wanin und damit Zauberin.
Die seidkundige Gullweig weckt in den Asen die Gier nach Gold. Sie
will den Asen aber nicht verraten, wie es zu bekommen ist. Die Asen
foltern sie dreimal mit ihren Speeren, können sie aber nicht töten. Die
»Goldreiche« wird zum Anlass des ersten geheimnisumwitterten Krie-
ges zwischen Asen und Wanen, ein Krieg, der für uns ungeklärt bleibt.
Die Wanen beherrschten das Schlachtfeld. Nach dem Krieg wurde
Friede geschlossen, und man tauschte Geiseln aus. Man kam überein,
dass die Asen Hönir und Mimir zu den Wanen schicken und die Wa-
nen Freyr, Freyja und Njörd sowie den weisen Kwasir, der entstanden
war aus der Spucke von Wanen und Asen, zu den Asen. Ob es sich
tatsächlich so zugetragen hat, ist aber unsicher; Snorri hat lediglich

218
Bruchstücke aus verschiedenen Quellen zusammengetragen. Wenn
Gold Plasma ist, bleibt unlogisch, was Asen damit anfangen wollen, wo
sie doch viel besseres Material haben: reinen Geist. Also dürfen wir
diese Streitigkeit nur als einen weiteren lehrhaften Fingerzeig be-
trachten, dem Leser Wissen über die Eigenarten der Dimensionen zu
vermitteln; es mag aber auch wirklich einen geschichtlichen Krieg zwi-
schen Asen- und Wanenanhängern gegeben haben. 13
Da das Plasma sich in Gefühlen wie Gier ausdrückt, wäre Gold eine
weitere Bezeichnung für unsere Gefühle, die als Einziges von uns nach
dem Tod übrig bleiben, da wir plasmatisch unsterblich sind. Meine
Formel lautet also: Plasma = Seele = Gold.
Goldgier heißt heute Geldgier. Gier heißt Seele und Seele ist plas-
matisch gesehen Gold. Es geht nicht um unser materielles Gold, son-
dern um die Gier der Seele. Wollen die Asen wirklich eine Seele haben?
Das erscheint unglaubhaft, aber vielleicht benötigen sie eine im Urstoff.

Das Totenschiff

In der Prosaedda wird Balders Beerdigung geschildert. Auf seinem


Schiff Hringhorni wird der Scheiterhaufen errichtet; Balder wird nach
seinem Tod dort aufgebahrt, ebenso wie seine noch lebende Frau
Nanna. Anwesend sind Odin, der seinen sich selbst vermehrenden
Ring Draupnir ins Feuer wirft, ihn also Balder gibt. Balder schickt je-
doch - nach der Prosaedda - den Ring an Odin zurück. Der Ring ist,
meine ich, ein Symbol Hels, er vermehrt sich von selbst und schafft
Reichtum. Draupnir bezieht sich also auf Hel und auf Balder als To-
tengott, der das helle Licht Hels verkörpert. Ebenso anwesend sind

13
Nach einer anderen Version der Prosaedda war Freyja von Frostriesen aus Asgard ge-
stohlen worden. Irgendwie hing das zusammen mit einer bösen Frau, wohl einer Hexe
und Riesin, die den Raub eingefädelt hatte (es kann sich um Angrboda, Gullweig oder
Heidr - alles Synonyme - gehandelt haben). Diese fingen nun die Asen und quälten und
verbrannten sie, was jedoch selbst beim dritten Versuch nicht gelang, denn das Feuer ist
das Plasma, und bei der letzten Verbrennung fand Loki noch ihr lebendes Herz in der
Asche und verschlang es. Die Hexe wurde letzdich doch umgebracht, überlebte jedoch
als bloßes Herz, und dieses Herz arbeitete nun in Loki; damit kam es zur Geburt des
Fenrirwolfs. Die Hexe überlebte also in der nächsten Generation als das Plasma
schlechthin, das heißt die Hexe symbolisiert das Plasma, und dieses hatte offenbar Freyja
geraubt. Das verwundert nicht, denn Freyja als Liebes- und Fruchtbarkeitsgöttin ist das
Plasma selbst. Wenn man diese Deutung anerkennt, hat also nie ein Raub stattgefunden.
Zudem scheint die Hexe die Schwiegermutter von Freyja gewesen zu sein, Freyja wäre
damit also lediglich in die ihr gemäße Zone zurückgekehrt.

219
Heimdall auf seinem Pferd reitend, Freyr mit seinem Keilergespann
und Frejya mit einem Katzengespann; auch Frost- und Bergriesen sol-
len zugegen sein. Da es den Göttern nicht gelingt, das Totenschiff ins
Wasser zu bekommen, rufen sie die Riesin Hyrokkin, die es mit einem
Ruck schafft, so dass Feuerfunken sprühen und alles erbebt. (Wenig
folgerichtig erschlägt T h o r sie später.) Hier wird auf ihre Riesenkräfte
aufmerksam gemacht, aber auch auf ihre Verbindung zu Wasser und
Tod, denn das Schiff ist ein Totenschiff, und die Beisetzung findet auf
See, sprich im Plasma statt, dort aber als Feuerbestattung, denn Plasma
ist auch Feuer (Muspellheim). Der Lichtgott Balder hat viele Beina-
men, die mit dem Plasma verbunden sind; ist er in Wirklichkeit viel-
leicht ein Heiwesen?
Der letzte Satz, wem »strahlt die Bank bestreut mit Gold?«, bezieht
sich auf Balder. Den sterbenden Gott erwartet in der Halle des Todes
eine Sitzbank aus Gold, aus Plasma. Bank heißt aber eigentlich, wie be-
reits ausgeführt, »Erhöhung«, »Hügel«, »Flussufer« und bezieht sich
immer auf das Plasma. Bekannt ist auch die Kleinodbank, womit eben-
falls auf eine höhere Dimension als die Materie angespielt wird, und
»Kleinod« bezieht sich wohl auch auf Schmuck und Gold, die eben-
falls das Plasma sind, so dass nichts anderes als eben Plasma gemeint
ist. Odins Frage, auf wen die goldstrahlende Bank wartet, bezieht sich
daher auf Balder.

220
7 Die Seherin:
»Für Balder steht hier
gebraut der Met,
schimmernder Trank,
der Schild liegt drauf:
Unheil ahnen
Asensippen.
Genötigt sprach ich;
nun will ich schweigen.«

Die Seherin kann Odins Fragen, der diese so versteckt einkleiden


muss, weil er selbst bereits den Ausgang weiß, beantworten: Balder!
Auf Balder wartet in dieser Dimension Met, das ist die plasmatische
Flüssigkeit selbst, so wie in der Materie das Getränk Bier ist oder Al im
Asenreich. Die Flüssigkeiten sind nur Widerspiegelungen der Eigen-
schaft der jeweiligen Dimension. Met wird als »schimmernder Trank«
bezeichnet, was vielleicht auf die Lichtart des Plasmas anspielt.
»Der Schild liegt drauf: Unheil ahnen Asensippen.« In der Tat
schwant den Asen Schlimmes. Der Tod Balders steht bevor: Balders
Tod mag den Untergang des Lichts, materiell wie seelisch, symbolisie-
ren. Aber welches Licht ist gemeint, das Licht Hels oder das Asgards?
Ist Balder Ase oder Heiprinzip?

8 Odin:
»Schweig nicht, Wölwa!
Ich will dich fragen,
bis alles ich weiß;
weiter sag mir:
wer wird Balders
Blut vergießen,
das Alter enden
Odins Sohne?«

»Schweig nicht, Wölwa! Ich will dich fragen, bis alles ich weiß«, klingt
mehr wie die Mahnung des Prüfers, nicht wie die Aufforderung des be-
scheiden Rat Suchenden. Die riesische Wölwa wird in der Tat verhört,
ihr Wissen abgefragt. Warum? Gelegentlich hat es den Anschein, als
prüfe Odin nur, wie weit die Plasmawesen ihn noch kennen, er muss
aber feststellen, dass sie ihn weitgehend vergessen haben. Das versetzt
ihn in Asenzorn, und die oberste Gottheit aller Universen und Di-

221
mensionen schmettert die Unwissenden nieder. Wenn aber zum
Schluss, an der letzten kniffligen und verschlungenen Frage die Riesen
erkennen, dass nur Odin selbst solche Fragen stellen kann, durch-
schauen sie den Frager; dann aber heißt es immer gleich: »Wer Gott
sieht, stirbt!« Odin ist ein gnadenloser Gott, der mit seinen aus ihm
selbst geschaffenen Wesen ein tödliches Spiel treibt. Er vernichtet sich
gewissermaßen in ihnen selbst.
Die nächste Frage lautet: »Wer wird Balders Blut vergießen, das Al-
ter enden Odins Sohne.« Balder ist ein Sohn Odins und der Frigg und
einer der zwölf Asen. Seine Brüder sind Bragi, Hermod und Höd.
Seine Frau ist Nanna, mit der er den Sohn Forseti zeugte, und beide
wohnen in Breidablik. Balders Frau Nanna stirbt vor Schmerz ange-
sichts der Leiche ihres Mannes und wird ebenfalls auf das Totenschiff
Hringhorni gebracht. Balders Blut wird ein Odinssohn vergießen,
heißt es erschreckender- und überraschenderweise.

Des Lichtgotts Tod

Balder hat schlimme Träume, hören wir, und deshalb sind die Asen
beunruhigt. Sie scheinen jedoch zu wissen, dass die Träume sich um
seinen Tod drehen, was äußerst widersprüchlich ist, denn Asen sind un-
sterblich. Geist stirbt nicht. Eigentlich ist Geburt und Tod eine Abar-
tigkeit, eine Unmöglichkeit im Weltall; normal ist, dass die großen Ge-
setze unzerstörbar, doch veränderlich sind. Zudem: Wohin soll ein Gott
sterben, wenn nichts über ihm steht! N u n also soll Balder, das Licht,
untergehen. Es ist nicht möglich, aber es passiert. Wenn die Menschen
sterben, stirbt nur ihr Körper, ihre Seele (See = Wasser = Plasma) lebt
in Hei weiter. Wenn die Seele stirbt, geht der reine Geist (nicht die
Seele) des Verstorbenen nach Asgard ein, wo er in Gimle ewig lebt,
denn Geist ist das unzerstörbare Alles. In der höchsten Dimension von
Asgard, Gimle oder W d b l a i n , überleben allerdings einige Wesenhei-
ten, die als Samen aller Welten und Wesen nach dem Ragnarök übrig
bleiben. N u n erfahren wir aber erstaunlicherweise, dass Balder zurück
nach Hel fällt. Das ist äußerst verwirrend, und es hilft auch nicht, wenn
wir hören, dass er beim Ragnarök als einer der Wenigen den Unter-
gang aller Welten überlebt, und zwar in Gimle. Balder als Odins Sohn
überlebt den Ragnarök. Warum er?
Balder leitet sich ab von althochdeutsch baldo, »kühn« (engl, bold,
schwed. bald, »stolz, kühn«); im Sinne von »aufgeschwellt, hochfah-

222
rend« gehören die Worte zu der indogermanischen Wurzel ball (siehe
Balduin, Theobald, aber auch Raufbold, Trunkenbold, Witzbold).
Balder wäre demnach ein stolzes, kühnes, aber vielleicht auch ein
hochfahrend aufgeblähtes Wesen. Balder gilt aber als Verkörperung
des Guten und Feind jedes Unrechts; er sei zudem schön und licht und
Glanz gehe von ihm aus, daher auch der Name seiner Wohnung Brei-
dablik, was Breitglanz heißt. Von seinen Taten wissen wir nichts, wie
seine Gestalt auch sonst inhaltsleer bleibt; nur sein eigenartiger Tod
tritt in den Vordergrund.
Ich möchte hier eine Hypothese äußern: Balder ist Lichtgott. Wel-
ches Licht ist gemeint? Das Licht Hels. Hel war das helle Land der
Germanen. Ist Balder Hel selbst?
Loki zeichnet verantwortlich für Balders Tod. Loki ist Hel, also be-
wirkt Hel seinen Tod, was aber hieße, dass Hel untergeht. Wir befin-
den uns aber nicht im Ragnarök, und nur dann geht Hel unter. Balder
ist unsterblich, daher verwenden ihn seine Brüder als lebendige Ziel-
scheibe beim Speerwerfen und verwunden ihn, doch Balder kann nicht
sterben. Sie töten ihn und er steht immer wieder auf. Das deutet auf
das Kommen und Gehen des Tageslichts hin, aber auch auf Tod und
Wiederauferstehung im Licht Hels. Dieses tödliche Spiel nutzt Loki
geschickt aus. Dabei verwendet er eine List. Die Geschichte ist die:
Um den Tod Balders zu vermeiden, nahm Frigg, Odins Weib, allen
Dingen wie Eisen, Steinen, Bäumen, Krankheiten, Tieren, Vögeln,
giftigen Würmern usw. den Eid ab, Balder nicht zu töten. Lediglich
dem noch nicht ausgewachsenen Mistelzweig nahm sie keinen Eid ab,
da er noch zu jung war. Loki, der Balders Unverwundbarkeit beobach-
tet hatte, verwandelte sich in ein Weib, ging zu Frigg und fragte sie aus.
Diese verriet ihm, dass sie allen Dingen mit Ausnahme des kleinen
Mistelzweigs einen Eid abgenommen habe. Loki riss daraufhin die
Pflanze aus, ging damit zum Thingplatz und überredete Balders blin-
den Bruder Hödur, einen Wurfversuch zu machen. Er gab dem Blin-
den den Mistelstab (Zauberstab), den der blinde Hödur warf und da-
mit seinen Bruder tödlich traf. Warum nun ausgerechnet die Mistel
diese tödliche Wirkung erzielt, wird nicht gesagt. Mistel, ein altger-
manisches Wort, leitet sich von mist (engl. Nebel; bezieht sich das auf
Nebelheim?) ab.14

14
Bei den Kelten wurde die Mistel, die als Schmarotzerpflanze auf Eichen wächst (an-
geblich gelangt der Samen der Pflanze durch Vogelkot auf die Bäume), in hohen Ehren
gehalten. Der namenlose Tag am letzten Tag des Jahres beim Übergang vom Dunklen

223
Der Tod durch die Mistel verweist vielleicht auf Balders Eigenart,
Tod und Wiedergeburt zugleich zu sein - hier aber nicht im Sinne des
irdischen Verfalls und Wachstums, sondern Tod in Hel und Wieder-
geburt in Asgard, also Bezug nehmend auf den großen Weltenpuls-
schlag, den Verfall Hels hinein nach Asgard und dessen nachfolgende
Auflösung und das alleinige Uberbleiben Gimles, aus dem eine neue
Folge des Drei-Welten-Kosmos entstehen wird. Erst nach dem Welt-
untergang treffen sich Hödur und Balder in Gimle wieder, wo sie
glücklich vereint sind. Wie dem auch sei, Balder lässt sich nur schwer
in die sonstige Kosmologie einfügen. Er könnte aber auch ein Gott ei-
nes anderen Stammes gewesen sein, der künstlich in den Asengötter-
himmel eingefügt wurde.
Hel versprach, Balder freizulassen, wenn alle Wesen um ihn weinten.
Was auch geschah, mit Ausnahme eines alten Weibes, in das sich Loki
niederträchtigerweise verwandelt hatte. Loki, Plasma oder Hel selbst,
weinte nicht und verhinderte so die Rückkehr Balders nach Asgard. Ich
erlaube mir folgende Annahme: Balder ist das Licht Hels, nicht As-
gards, kann also gar nie aus Hel entkommen. In Gestalt Lokis wird das
verhindert, was kein böser Streich ist, sondern die Natur der Tatsache,
nämlich dass niemand seine Dimension beliebig wechseln kann.
Warum Tränen? Sind das nicht Wassertropfen, ist das nicht die
wässrige Hel selbst? Ist Hel nicht das Reich der Tränen? Also: Wenn
niemand um Balder weint, was in Gestalt Lokis stellvertretend für alle
Heiwesen geschieht, muss Balder in Hel bleiben. Tränen bedeuten
auch Trauer, also Gemüt, und Hel ist das Reich der Leidenschaft
schlechthin. N u r Heiwesen und Midgardwesen können weinen, Asen
nicht. Aber damit besitzen wir noch keine Erklärung dafür, warum
Loki das Weinen verhindert bzw. warum Nicht-Weinen Balder in Hel
gefangen hält. Mir schiene logischer, dass Tränen, also Gefühl, je-
manden an Hel binden.

zum Hellen wurde mit dem Mistelzweig gleichgesetzt, der als Sinnbild des Lebens durch
die Erfahrung des Todes galt. Die Misteln wurden, wie Pliny berichtet, von den Drui-
den mit einer goldenen Sichel abgeschnitten. Getränke aus dem Mistelzweig förderten
die Fruchtbarkeit, es sei ein Allheilmittel gegen alle Gifte, überhaupt »allheilend«, heißt
es. Darüber hinaus galt er als Phallussymbol, sein Abschneiden von der heiligen Eiche
symbolisierte eine Entmannimg, nämlich die Entmannung des Königs des alten Jahres
und gleichzeitig die Geburt eines Königs für das neue Jahr. Die Parallele zu Uranos' Kas-
tration durch seinen Nachfolger Kronos klingt hier an, und Balders Tod könnten wir
ebenso verstehen als Tod des alten Jahres, als Fortschreiten der Zeit.

224
9 Die Seherin: 11 Die Seherin:
»Hödur bringt her »Rinda im Westsaal
den hohen Ruhmspross; Wali gebiert:
er wird Balders nicht wäscht er die Hand,
Blut vergießen, nicht kämmt er das Haar,
das Alter enden bis Balders Feind
Odins Söhne. auf dem Brandstoß liegt.
Genötigt sprach ich: Genötigt sprach ich;
nun will ich schweigen.« nun will ich schweigen.«

10 Odin:
»Schweig nicht, Wölwa!
Ich will dich fragen,
bis alles ich weiß;
weiter sag mir:
wer heischt Rache
für Hödurs Tat,
bringt zum Brandstoß
Balders Mörder?«

N u n beantwortet die Wölwa Odins Frage nach dem Mörder: Es ist


Hödur oder Höd, »Streit, Kämpfer«, Balders Bruder. Balders Halb-
bruder Wali, den Odin mit der Riesin Rinda gezeugt hatte, kaum
einen Tag alt, rächt ihn und tötet Hödur. Damit stirbt ein weiterer
Ase.

12 Odin:
»Schweig nicht, Wölwa!
Ich will dich fragen,
bis alles ich weiß;
weiter sag mir:
welche Mädchen
weinen gerne,
werfen gen Himmel
die Halslinnen?«

Diese Frage, unbeantwortbar für die Seherin, beendet die Prüfung;


daran soll sie nun erkennen, wer ihr Gegenüber wirklich ist. Die Frage
beinhaltet ein Mehrwissen des Fragenden und zeigt gleichzeitig, dass
alle Fragen nur Scheinfragen waren, da der Frager die Antwort immer

225
wusste. Eine Lösung für die letzte Frage gibt es wohl nicht, sie soll nur
beweisen, dass Odin mehr und alles weiß.

13
Die Seherin: Odin:
»Nicht Wegtam bist du, »Keine Wölwa bist du,
wie ich meinte; keine weise Frau;
Odin bist du, drei Thursen sind
der alte Held!« die Töchter dein!«

Die Wölwa erkennt in der Tat im Frager Odin. Und Odin sagt: »Keine
Wölwa bist du, keine weise Frau; drei Thursen sind die Töchter dein!«
Warum soll sie keine Riesin sein oder Thursen als Töchter haben?
Odin verweist auf ihre Riesennatur; offenbar können Riesen nicht
weise sein, beziehungsweise nicht so weise wie Odin. Vielleicht wird
hier auf Angrboda angespielt; ihre Kinder könnten Fenrir, Hei und die
Midgardschlange sein, die sie mit Loki gezeugt hat.

14 Die Seherin:
»Reit nun heimwärts!
Des Ruhmes froh!
So komme künftig
keiner mir nah,
bis Loki den Leib
löst aus Banden
und der Rater Schicksal
zerschmetternd naht!«

Odin macht die Wölwa wütend, und sie gibt ihren Hass auf das Asen-
geschlecht preis. Sie beschwört Loki, der wegen seines Vergehens ge-
gen Balder in Banden gefesselt wurde und erst beim Weltuntergang
freikommt, dann als Plasma in Asgard einfällt beziehungsweise sich
auflöst, was auch den Untergangs Asgards nach sich ziehen wird. Des-
halb heißt es: »denn der Rater Schicksal zerschmetternd naht«. Hier
tritt der Zwiespalt zwischen Asen und Riesen offen zutage. Odin macht
die Riesen lächerlich, und diese hoffen voller W u t auf Ragnarök, was
aber nur eine halbe Rache sein wird, denn sie selbst werden dabei un-
tergehen. Das ganze Lied beweist wieder einmal die Minderwertigkeit
der Riesen und ihrer Seidkunde, mit der es im Vergleich zu Odins Wis-
sen nicht weit her ist. Dabei werden aber entscheidende Inhalte mit-

226
geliefert, die einen tiefen Einblick in die Natur der Riesengesetze ge-
ben, unsere Nachbardimension Hel, mit der sich die Edda im Wesent-
lichen auseinander setzt. 15

15
Eine Anmerkung zur lichten, aber zwielichtigen Gestalt Balders ist notwendig. Wenn
wir annehmen, dass Balder ein fremder Gott ist, auf dunklen, uns nicht nachvollziehba-
ren geschichtlichen Wegen in den germanischen Götterhimmel eingeschleust, ließe sich
die Auseinandersetzung lösen. Dies vermutet Branston (S. 123 f.) ebenso wie ich auch.
Es liegen Entsprechungen zu Adonis wie zu Baal vor. Baals Frau hieß ebenfalls Nanna.
Der Sohn der östlichen Nanna wird gleichfalls durch einen Schuss getötet. Der syrische
Tammuz wurde von den Griechen Adonis genannt; auch Adonis galt als sehr schönes
Kind, Aphrodite versteckte ihn in einem Kasten und gab diesen der Herrin der Unter-
welt, Persephone, zur Verwahrung. Doch diese öffnete den Kasten, sah die Schönheit
des Kindes und wollte es nicht zurückgeben. Zeus vermittelte und entschied, Adonis
solle ein Drittel des Jahres in der Unterwelt, ein Drittel mit ihm selbst, ein Drittel mit
Aphrodite verbringen. Dazu wurde Adonis jedes Jahr von einer Boa (Symbol für die Un-
terwelt) getötet und ging dadurch in die Unterwelt zu Persephone. Tod und Wiederge-
burt sind auch hier das Thema ebenso wie bei Balder. Balder, so die Annahme, stellt das
Gesetz des Plasmas sowie Geburt und Wiedergeburt in Gestalt von Licht dar.

227
5. DIE KÜRZERE SEHERINNENREDE:
Weltuntergang und die Listen des Teufels

Dieses Lied, von dem nur Bruchstücke erhalten sind, schließt an


»Balders Träume« an. Thema sind vor allem Odin und seine Kinder,
Heimdall, neue Ansichten über Loki und wieder der Weltuntergang.

Balders Rächer Wali

1
Es wurden elf
Asen gezählt,
als Balder sich neigte
zum blutigen Hügel.
Da bewährte sich
Wali als Rächer:
bald erschlug er
des Bruders Töter.

Nach Balders Tod gab es statt zwölf nur noch elf Asen. Wali, der Sohn
Odins und der Riesin Rind, tötet Balders Mörder Hödur. Warum er
getötet wurde, obwohl er unschuldig war, ist rätselhaft. Die Rache er-
scheint sehr ungerecht, wird aber nicht weiter besprochen. Zu diesem
Zeitpunkt ist Wali nach der Wöluspa gerade eine Nacht alt. Er wird
nach dem Ragnarök mit Balder und Hödur überleben und im neuen
Weltkreislauf herrschen - eine erstaunliche Verbindung. N u n ist Wali
nicht rein göttlich, sondern halbgöttlich, da seine Mutter eine Riesin
ist. Dass ein Halbgott den Odinssohn Hödur erschlagen kann, er-
scheint ebenfalls unpassend. Es gibt verschiedene Berichte, wie es zu
diesem Sohn kam. Zum einen heißt es, Odin befruchtete in Gestalt der
Sonne abends im Westen, wenn er die Erde berührte, Rind, womit
diese als Erde bezeichnet wäre und Wali dann gar als halbirdisches
Wesen. Andererseits ist Rind Riesin, weshalb die Erde hier als vor-
stofflicher Plasmazustand zu begreifen ist. Nach Saxo Grammaticus

228
gewann Odin die sich verweigernde Rind, indem er sie durch Be-
rührung mit Runen wahnsinnig machte, sie dann heilte und dabei die
Gelegenheit wahrnahm, sie zu schwängern, woraus Wali entstand. Die
Geschichte Walis bleibt zwielichtig und unbefriedigend. Insbesondere
irritiert, dass ein halbgöttliches Prinzip an Stelle Odins im neuen Welt-
kreislauf herrschen wird.

2
Balders Vater
war Burs Erbe

In diesem Fragment klingt eine schwierige Sachlage an, nämlich, dass


Odin (Balders Vater), der Geist, als Erbe von Bur, einem Urriesen gilt.
In der Snorri-Edda finden wir diese Umkehrung der Tatsachen eben-
falls: Die Riesen entstanden vor den Göttern, ja zeugten diese. Dem
widerspricht ansonsten in allen Zeilen die ältere Edda. Was ist hier pas-
siert? Nach unserer Version schuf Asgard Hel und die Riesengesetze,
nicht umgekehrt.

Iduns Äpfel der Unsterblichkeit

3
Freyrs Weib war Gerd,
Gymirs Töchter,
des alten Riesen,
und der Aurboda;
ihnen verwandt
weiß ich Thjazi:
des schlimmen Thursen
Tochter war Skadi.

In welchem Zusammenhang die nächsten Strophen stehen sollen, ist


unklar, es werden einfach genealogische Verhältnisse erwähnt. Freyr,
der zum Asen gewordene Wane, nimmt - wie zu erwarten - eine Rie-
sin, Gerd (»die durch Einzäunung Geschützte«), zur Frau, die vom
Riesen Gymir und der Riesin Aurboda abstammt. Dann wird auf den
Thursen (aus etunar, »Fresser«, altind. turd, »stark«) Thjazi eingegan-
gen, der wohl deshalb »schlimm« ist, weil er Idun entführte.

229
Idun, »die Erneuernde«, ist mit dem Odinssohn Bragi verheiratet,
der als Ase und Urheber der Skaldenkunst, das heißt als Gott der Dich-
ter gilt. Idun zeichnet sich aus durch ihr Amt, die Äpfel der Unsterb-
lichkeit für die Asen zu verwalten. Fangen nämlich die Asen an zu al-
tern, macht der Genuss der Äpfel sie wieder jung. Der Riese Thjazi
wollte in den Besitz der Apfel gelangen, was vielleicht darauf verweist,
dass die Äpfel zur Sphäre Hels gehören — denn Riesen können nur die
Dinge ihrer Welt erkennen, so wie die Menschen nur die Dinge ihrer
Dimension. Die Äpfel sind also nicht in Asgard gelagert. Und das muss
auch so sein, denn in Asgard gibt es keine Zeit und folglich auch kein
Altern. An sich gibt es auch im Riesenland kein Altern, hier altert nur,
wer mental altert. Da die Asen häufig im Riesenland zu tun haben, be-
steht für sie vielleicht die Gefahr, dort zu altern, und die Apfel würden
diesen verhängnisvollen Vorgang aufheben. Der Riese Thjazi will also
in den Besitz der Äpfel gelangen. Dazu geht er gewieft vor. Er fängt
Loki ein und erpresst ihn, ihm Idun zuzuführen. Loki versprach not-
gedrungen, Idun aus Asgard herauszuführen. Unter dem Vorwand, er
wolle ihr Äpfel zeigen, die den ihren vergleichbar seien, willigte sie ein,
und Loki holte sie nach Riesenland. Da kam in Adlergestalt der Riese
Thjazi angeflogen und ergriff sie. Ohne ihre Äpfel wurden die Asen
nun grau und alt. Aber das wurden sie wohl nur im Riesenland. Zwar
heißt es, Idun wohne in Asgard, aber vielleicht lebt sie auch im Plasma.
Doch die Geschichte geht weiter: Die Asen verhörten Loki, und er
musste Idun aus dem Riesenland zurückholen. Er tat das, indem er sie
in eine Nuss verwandelte und mit ihr davonflog, doch der Riese Thjazi
verfolgte ihn. Als er sich in Gestalt eines Adlers dem Asgardgitter
näherte, zündeten die Asen zur Rettung Lokis, der im ausgeliehenen
Falkenhemd der Göttin Freyja flog, Hobelspäne an, in die der Adler
hineinflog, was sein Gefieder verbrannte und ihn tötete.
Wo lebt Idun? Ist sie Göttin oder Riesin? Brauchen die Götter in
Asgard tatsächlich ein Unsterblichkeitsmittel? Drücken die Äpfel le-
diglich das Gesetz der Unsterblichkeit im Geistzustand aus, oder sind
es Helgesetze? Auf der unsicheren Grundlage der vorhandenen Bruch-
stücke ist hier nichts Näheres zu entscheiden. Idun als »die Erneu-
ernde« gilt als Schöpfung der Skalden, vielleicht daher ihre Unwäg-
barkeit.
Die Äpfel, die es in Island nie gab, leiten sich vermutlich aus der an-
tiken Mythologie her, etwa von den Äpfeln der Hesperiden. Isst man
Hels Äpfel, bleibt man in Hel. (Auch die römische Proserpina wurde
durch den Verzehr eines Granatapfels gezwungen, in der Unterwelt zu

230
verharren.) Das Kenning »Die Frau gönnt mir Hels Apfel« heißt: »Hel
will meinen Tod«.

Seidkunde in Hel

4 5
Manches sag ich, Von Widolf stammen
mehr noch will ich; die Wölwen alle,
so dünkt mich's Wahrheit - von Wilmeid alle
willst du noch mehr? die Weissager,
von Swarthöfdi
die Seidkundigen,
von Ymir aber
alle Riesen.

Widolf gilt als Stammvater aller Seher und Zauberinnen, sprich Wöl-
wen. Wilmeid ist die Stammmutter aller Wahrsager. Swarthöfdi,
»Schwarzkopf«, gilt als Stammvater aller Seidkunde, sprich Zauberei.
Zauberei basiert auf seelischen Taten. Mentale Aufmerksamkeit ist hier
alles, und das dürfte in Hel nicht schwer fallen. Von Ymir stammen alle
Riesen ab. Seher, Wahrsager, Zauberer, das ist alles eins. Es bezieht sich
auf die Dimension Hel und ihre übersinnlichen Bedingungen. Damit
wird zu einem kurzen Ausflug in die Seidkunde Hels aufgerufen. In Hel
sind Raum und Zeit weitgehend aufgehoben. Wo keine Zeit ist, kann
man die Zeit Midgards in einem Blick erfassen. So wie wir ein Gemälde
auf einen Blick würdigen können, so die Hellseher Hels das, was uns als
Verlauf der Zeit erscheint. Für sie liegt »links« die Vergangenheit,
»rechts« die Zukunft, und sie schauen so einfach das ganze Gemälde
Midgard an. Zeit ruht in Hel auf einem ausdehnungslosen Punkt. Ohne
Ausdehnung ist Hel, ohne Raum, weshalb man überall zur gleichen
Zeit ist, also mit den Worten Midgards gesprochen, mit enormer Ge-
schwindigkeit reisen kann. Alle Bewohner Hels, also Riesen, Zwerge
(Alben), verstorbene Menschen, Besucher Asgards in Hel unterliegen
in dieser raumzeitlosen Sphäre nicht dem Ursache-Wirkungs-Zusam-
menhang, dafür umso mehr ihren seelischen Begierden. In Hel bleibt
von Verstorbenen nur ihre Seele übrig. Die wirkliche Energie besteht
aber nur so lange, wie Gedanken und Gefühle diese bündeln und in ein
Muster weben. Die plasmatische Energie wird gegliedert durch men-
tale Pläne. Je weniger mentale Pläne eine Person sich erdenkt, desto un-

231
abhängiger ist sie vom Urstoff, und das scheint bei den Asen der Fall zu
sein; dennoch, wer sich im Plasma aufhält, ist immer zu einem gewis-
sen Grad davon beeinträchtigt, worauf alle Asengeschichten verweisen.
Sie werden teilweise zu dem See (Seele), den Totenwassern Hels mit all
ihren darin gespeicherten Gefühlen und Schwierigkeiten. Daher
gleicht Hel in vielem Midgard, weil die Toten dort mental die Land-
schaften wie die Drangsale der Erde nachahmen, weil sie besessen sind
vom Irdischen. Hel sieht also zumindest von Mannheim so aus, wie die
Verstorbenen es sich vorstellen, sehr menschlich. Man kann dort von
einer mentalen Landschaft zur nächsten springen. Alle gerühmten
Fähigkeiten der Riesen und Zwerge sind rein mentaler Natur. Die
Fähigkeit zum Seher besitzt in Hel jeder, jeder ist eine Wölwa. Da
keine Begrenzung besteht zwischen zwei Seelen, kann die eine Seele
ungehindert in die andere hineinschauen, folglich ist jeder seidkundig.
In Hel kann jeder hell-sehen, weil Hel ein helles Land ist. Hellig-
keit ist der normale Zustand der Seele, wenn befreit vom Körperlichen.
Hel ist hell, nicht glänzend hell wie Asgard, aber dämmrig-neblig hell.
Wer hellsehen kann, sieht mit den Augen der Seele, deren Heimatdi-
mension Hel ist. Hel ist die Dimension der Seele, und das Licht der
Seele ist ein heller Schein.

6
Manches sag ich,
mehr noch will ich;
so dünkt mich's Wahrheit -
willst du noch mehr?

Heimdali, der Asgardwächter

7 8
Einer erstand Gjalp gebar ihn,
in Urtagen, Greip gebar ihn,
allgewaltig, Eistla gebar ihn
aus Asenstamm; und Eyrgjafa,
des Speers Gebieter Ulfrun gebar ihn
gebaren neun und Angeyja,
Riesentöchter Imd und Atla
am Rand der Erde. und Jarnsaxa.

232
Manches sag ich,
mehr noch will ich;
so dünkt mich's Wahrheit -
willst du noch mehr?

Heimdali, »des Speers Gebieter«, wurde von neun Riesinnen geboren,


mit denen Odin verkehrt hatte. Offenbar sollen auf diese Weise mög-
lichst viele Plasmagesetze vorgeführt werden. Die neun Riesinnen
stammen ab von Ran, einem riesischen Meerweib, und dem Meergott
Agir. Das Paar stellt den wässrigen Aspekt des Plasmas dar. Ihre neun
Töchter sind womöglich Verkörperungen der Meereswogen, sprich
des Plasmas, und Vervielfältigungen der Meerriesin: Gjalp, »die Brau-
sende«, Greip, »die Umkrallende«, Eistla, »die rasch Dahinstür-
mende«, Eyrgjafa, »die Sandspenderin«, Ulfrun, »die Wölfische«, An-
geyja, »die Bedrängerin«, Imd, »die Dunstige«, Atla, »die Furchtbare«
und Jarnsaxa, »die mit dem eisernen Schwert« (gemeint ist wohl der
schneidende Wind). Das alles sind Beschreibungen des Urstoffs. Die-
ser ist wie Wasser, brausend und rasch dahinströmend; emotional um-
krallt es uns, frisst uns wie der Wolf, bedrängt uns, ruft Furcht in uns
hervor und schneidende Pein und streut uns Sand, also Hindernisse
oder Schwierigkeiten, in die Augen.

Plasma
(Wasseraspekt)
Ägir + Ran

9 Töchter
(Meerwellen)
Angeyja, Atla, Eistla, Eyrgjafa,
Sjalp, Greip, Imd, Jarnsaxa, Ulfrun + Odin

\ Heimdali
/
(Schöpfer der Menschen)
Halbgott, Halbriese

233
Geboren wurde Heimdall als Halbgott und Halbriese. Er wurde
sehr weise eingesetzt, nämlich nicht am Rande der Erde, sondern an
der empfindlichen Grenzscheide zwischen Asgard und Hei zu wachen,
um den Asen zu melden, wann ihnen von den Riesen ein Überfall
droht; das kann nur ein halb asisches, halb riesisches Prinzip leisten.
Als Sohn Odins steht Heimdall den Asen näher als den Riesen. Also
können Asen und Riesen, Geist und Urstoff Ehen, Verbindungen, ein-
gehen, aus denen Zwischenwesen entstehen. Heimdalls Standort liegt
dementsprechend zwischen Asgard und Hel, er ist der Wächter zwi-
schen den Dimensionen. Heimdall, schreibt Snorri in seiner Prosa-
edda, braucht weniger Schlaf als ein Vogel und hört die Wolle auf den
Rücken der Schafe wachsen, so sei er immer bereit, jeglichen Ansturm
der Riesen zu melden. Heimdall gilt auch als Stammvater der Men-
schen; vielleicht heißt es daher, er wurde am Rande der Erde geboren,
also zwischen Materie und Urstoff, wohl in den Wasserwogen des To-
tenflusses. Was wir bei Heimdall als rationalen Kern herausarbeiten
können, ist, dass es Übergänge vom Plasma zum reinen Geist gibt. 16

Loki: Das Gesetz d e s Teufels

10
Den Wolf von Loki
gewann Angrboda,
Sleipnir gebar er
dem Swadilfari;
ein Scheusal schien
das schlimmste von allen,
das was Byleists
Bruder entstammt.

Loki zeugte mit der Riesin Angrboda, »Sorgenbringerin«, drei


Aspekte seiner selbst: den Fenrirwolf, die Midgardschlange und Hel.
Auch Sleipnir, das Pferd Odins, stammt von Loki ab; er hatte sich in
eine Stute verwandelt, um vom Hengst Swadilfari, dem Pferd eines rie-
sischen Baumeisters, bestiegen zu werden, woraus Sleipnir hervorging.

16
Die Menschenschöpfungslehre der Germanen wird durch Tacitus (Germania, Kap. 2)
belegt. Es heißt, der Gott Tuisto und sein Sohn Mannus seien die Schöpfer der Stämme
gewesen. Tuisto, der Zwitter, ging aus der Erde hervor; er zeugte Mannus, eine Art
menschlichen Urtypus, aus dem dann alle Stämme hervorgingen.

234
Sleipnir ist also ein reines Plasmapferd, denn Loki ist das Plasma selbst
und der Hengst des Baumeisters, eines Riesen, ebenfalls. Odin reitet,
wie bereits gesagt, auf diesem Pferd nur, wenn es ins Plasma gehen soll,
in Asgard benützt er es nicht; er kann es logischerweise nur im Plasma
benutzen, weil es ein Plasmapferd ist. Sleipnir heißt »der schnelle Läu-
fer«, und schnell ist es in der Tat wie alles im Plasma, weil es hier kei-
nen Raum gibt. Loki zeugte mit Angrboda also nicht nur den Wolf und
die zwei anderen Ungeheuer, sondern mit Odin auch Sleipnir.
Byleist ist ein Bruder Lokis beziehungsweise nur ein weiterer Name
von ihm selbst. Die letzten Zeilen beziehen sich wohl auf die Mid-
gardschlange, das besagte Scheusal. Die die Materie umfassende
Schlange, die in einem weltumspannenden Meer lebt, ist nichts an-
deres als der Urstoff selbst, der uns umgibt und durchdringt. Hier
herrscht der Aspekt des »Umgebenden«, des »Wässrigen« und »Ver-
schlingenden« vor. Das sind also die Hervorbringungen Lokis und die
Eigenschaften des Plasmas - sie werfen ein Licht auf die Eigenarten
dieser Dimension. Der Wolf verschlingt, die Schlange umgibt Mid-
gard sowie Hel und symbolisiert die negative Seite der Gefühle; das
schnelle Pferd steht für die Raumlosigkeit des Plasmas, mit ihm ist man
sofort überall, wohin man sich fühlt oder denkt.
Loki ist das Plasma schlechthin, in dieser Form aber vor allem dar-
gestellt unter dem Aspekt des Trügerischen, Betrügerischen. Das To-
desreich ist das Reich, in dem unser mentaler Selbstbetrug, unsere ei-
genen Verherrlichungen, unsere Überheblichkeit, unsere List gegen
andere, unser falscher Glauben, unsere Eifersüchte und falschen Wün-

235
sche klar zu Tage treten, denn wir sind nun nichts anderes mehr als
nacktes Gemüt, das nicht mehr hinter einer Körperfassade versteckt
werden kann. Loki steht für die Mentalität der verstorbenen Men-
schen, insbesondere für die verschlagene Geisteshaltung der Riesen.
Riesen, Zwerge, Alben besitzen von Natur aus die List und Tücke der
Plasmazone, denn die Seele ist von Natur aus zwielichtig und schil-
lernd. Alle Wunder, die sie aus Gold oder Glanz erschaffen, sind T ä u -
schungskünste, sie stellen das eine dar, was aber in Wirklichkeit ein an-
deres ist, sie selbst sind so wandelbar wie unsere Seele. Loki trägt starke
Züge Luzifers (von dem manche seinen Namen ableiten). Er ist der ge-
fallene Engel (der Ase, der auch die Hölle ist); als dreizehnter Ase ist
er kein Ase, weil es von diesen nur zwölf gibt, er ist einer, der sich durch
Lug und Trug an die Seite der Asen gemogelt hat. Loki ist der Teufel,
der ewige Verführer, der nur hilft, um selbst einen Vorteil daraus zu
ziehen. Mit seinen Kindern werden weitere Gesetze seiner selbst an-
gesprochen: das Verschlingende ist Fenrir, der ja Midgard gewisser-
maßen immer im Rachen hält; Hel steht für vielerlei Plasmaeigen-
schaften wie das Dunkle, das Höllenspektakel, das uns unsere Gefühle
im Plasma vorgaukeln, sie steht für alle Ängste und all unsere Selbst-
beeinträchtigungen nach dem Tod. Die Schlange, die sich um Midgard
herumschlängelt, also erneut so wie Fenrir Midgard umgibt, bezeich-
net eigentlich nur den Aspekt der uns umgebenden und einbettenden
Unterwelt: der Körper liegt im Bett der Seele, sie ist die energetische
Urform, die den Körper lenkt, erschafft und sterben lässt.

Loki und der Überfall auf die Erde

11
Ein Frauenherz aß,
als er's fand, Loki,
halb geröstet
vom Holze der Linde;
schwanger ward Lopt
vom schlimmen Weib:
auf die Erde kamen
die Unholde so.

Loki soll ein halb geröstetes Frauenherz gegessen haben. Diese unge-
heure Aussage bleibt dunkel. Soll das heißen, Loki habe sich mit einer

236
Menschenfrau gepaart, oder hat er »etwas« vom Menschenherz ge-
nommen, »Gengut« oder die »Emotion« des Herzens, und sich damit
vereinigt, denn »schwanger ward Lopt«, und daraus entstand ein Hy-
bridgeschlecht, halb riesisch, halb menschlich?

Stammbaum Lokis.

Lopt ist ein Beiname Lokis, was »der Luftige« heißt; das Plasma
wird hier verbunden mit dem Wind, und Wind ist ein bekanntes Sy-
nonym für den Urstoff. Luft ist gleichbedeutend mit Ginnungagap,
denn dieses ist nichts als ein »Gähnen«, ein Loch; Luft heißt in der
Skaldenpoetik auch Vogelheim oder Wetterheim. N u n heißt es, Lopt,
die Luft, und ein »schlimmes Weib« hätten Nachkommen gezeugt, die
Unholde, die Riesen, die auf die Erde kamen. Dass Riesen auf die Erde
kamen, ist ein erstaunlicher Hinweis. Wir wissen, dass T h o r immer
auszieht, Riesen zu erschlagen, um die Erde, Midgard, gegen sie zu
schützen. Wollen also die Riesen, die Unholde, nicht nur nach Asgard
einfallen, sondern sich auch durch eine Vermischung mit Menschen-
frauen durch Bastardnachkommen und Züchtung von Mutanten in
verwandelter halbmenschlicher Gestalt nach Midgard einschmuggeln?
Bedeutsam ist dieser Hinweis allemal, weil selten über das Verhältnis
zwischen Urstoff und Materie gesprochen wird. Es sollen Unholde
vom Plasma auf die Erde gelangt sein. Wer waren sie? In den Überlie-
ferungen hört man viel vom Kampf der Menschen gegen die Riesen.
Könnten die Märchen und Mythen von irdischen Riesen gleichbedeu-
tend mit den Plasmariesen sein, oder sind etwa aus Plasmariesen phy-
sische Riesen hervorgegangen?

237
Die Unholde wurden geboren von Loki, weil er ein Frauenherz ge-
gessen hatte, also im Urstoff-Reich selbst und dann auf die Erde ver-
frachtet. Genzmer merkt dazu an, es gebe ein Märchen darüber, dass
ein Mädchen von einem Herz befruchtet wird, das von einem ver-
brannten Menschen übrig geblieben ist. Loki, meint er, habe man nun
in die Rolle des Mädchens gesetzt. Vielleicht verweist auch Strophe 23
in »Lokis Zankreden« darauf. Dort sagt Odin zu Loki: »acht Winter
warst unter der Erde du als Melkerin und Magd, da hast du Buben ge-
boren, das dünkt mich des Argen Art.« Heißt das, dass Loki »unter der
Erde«, also in Hei oder gar im Innern oder auf der Erde Midgards We-
sen geboren hat, die nicht gut waren? Es können natürlich die Riesen
gemeint sein. T h o r bekämpft die Riesen, damit sie sich nicht vermeh-
ren, und schützt so die Erde; das setzt voraus, dass die Riesen ein Hy-
bridgeschlecht, ein Übergangsgeschlecht zwischen Riesen und Men-
schen, schaffen wollen. Nachdem Loki ein Frauenherz verzehrt hatte
(offenbar machte ihn das halbwegs zur Frau), gingen aus ihm Riesen
hervor, und diese schufen nun aus ihren Anlagen und menschlichen
Anlagen ein Hybridgeschlecht, unter dem die Menschen offensichtlich
zu leiden hatten, denn dieses regierte nun die Menschenstämme.

Entwicklung durch bewusste Zeugung. Loki untergliederte sich in verschiedene Rie-


sengeschlechter. Diese schaffen in einem zweiten Schritt Menschen »in der Erde«, ins-
besondere hybride Menschen von »Geblüt«, sprich Adlige und die Urkönige der
Menschheit.

238
Eine andere Version erhalten wir durch Heimdall. Wenn Heimdall
die Menschen erschuf, dann leiten sie sich unter Umständen bluts-
mäßig von ihm ab, das heißt, er muss selbst ihr Erzeuger gewesen sein.
Im »Merkgedicht von Rig« heißt es, Heimdall habe unter dem Namen
Rig die Erde aufgesucht und mit Menschenfrauen Nachfahren ge-
zeugt: die »Heimdallssöhne« oder »Söhne des Tags«, Menschen von
Geblüt, Adlige, Jarle genannt, sowie zwei niedere Stände, woraus die
sozialen Rangunterschiede entstanden; die Adligen und die zwei
anderen Klassen wären die Nachfahren Heimdalls. Wir finden diese
Ableitung des Adels bei allen Völkern, nämlich dass die ersten Könige
vom Himmel abstammten und Himmelssöhne waren beziehungsweise
Gengut von nichthumanen Wesen in sich trugen, weshalb bis heute
die Reinhaltung der Blutslinie so im Vordergrund steht.

Odin und der Weltuntergang

12 13
Manches sag ich, Es steigt zum Himmel
mehr noch will ich; im Sturm das Meer,
so dünkt mich's Wahrheit - es stürzt aufs Land,
willst du noch mehr die Luft verdorrt;
Schneesturm kommt dann
und scharfer Wind:
dann ist das Ende
den Asen gesetzt.

Sprachen wir bisher von Loki, so soll nun nicht, wie die Strophe vor-
dergründig vorgaukelt, von der Vernichtung der Erde, sondern vom
Rückzug des Urstoffs nach Asgard hinein gesprochen werden, dann
nämlich, wenn Ragnarök einsetzt und sich die zwei geschaffenen Wel-
ten ebenso wie Asgard auflösen und nur dessen höchste Region Wid-
blain mit Gimle übrig bleibt. Es wird gesagt, im Sturme steige das
Meer, also der Urstoff, zum Himmel, zu Asgard; aber es stürzt auch
übers Land, was unter Umständen den Untergang Midgards nach Hel
hinein andeuten könnte. Es löst sich wohlgemerkt zuerst Midgard nach
Hel hin auf. Ist Midgard verschwunden, löst sich Hel nach Asgard hin-
ein auf; übrig bleiben nur die zwei allerhöchsten asgardschen Welt-
keime, die Felder der Seligen gewissermaßen, als Samen für die danach
neu entstehenden Dimensionen. Die Auflösung geschieht nicht da-

239
durch, dass die Materie zerstört wird, sie löst sich auf, indem sie sich
zurückverwandelt in Urstoff, und dieser löst sich ebenfalls auf und
wird, was er im Grund ist, Asgard.
»Schneesturm kommt dann und scharfer Wind«: das spielt wohl
auf den gefürchteten Fimbulwinter (Riesenwinter) an, der vor Ra-
gnarök in Midgard einsetzt, genauer drei hintereinander folgende
W n t e r ohne Sommer, wodurch alles vereist und abstirbt. »Dann ist
das Ende der Asen gesetzt.« Auch Asgard wird sterben, obwohl die
Asen als unsterblich gelten. Verwirrend ist in dieser Strophe die un-
deutliche Abgrenzung zwischen Geschehnissen des Ragnarök auf der
Erde, im Plasma und in Asgard. Ragnarök heißt genau genommen Un-
tergang der drei Welten, wobei sich der Untergang in jeder Welt nach
der ihr entsprechenden Gesetzmäßigkeit abspielt und von jeder nur
ihre höhere Urform übrig bleibt: von Midgard die Plasmaform, vom
Plasma die Geistform.

14 15
Einer erstand Dann kommt ein andrer,
vor allen mächtig, der allerhehrste,
den einst stärkte nimmer wag ich
der Erde Kraft, zu nennen ihn;
eiskalte See wenige sehn
und Eberblut; weiter vorwärts,
den hehrsten Herrscher als bis Walvater
heißen sie ihn, dem Wolfe naht.
sippenverwandt
sämdichem Volk.

In Strophe 14 wird auf Odin angespielt; da aus ihm alles hervorging,


»sippenverwandt sämdichem Volk« ist ihm auch jeder Mensch ver-
wandt. Jeder von uns ist Odin, ist Geist. Odin ist der hehrste Herr-
scher, in der Tat »sippenverwandt sämtlichem Volk«. »Einer erstand
vor allen mächtig« verweist ebenfalls auf Odin, »den einst stärkte der
Erde Kraft«, was vielleicht sein Hervorbringen der Erde meint. »Eis-
kalte See« bezöge sich dann aufs Plasma, dessen eiskalte Eliwagar-
Flüsse, und »Eberblut« bezieht sich auf den stets von neuem in Wal-
hall aufgetischten Eber Sährimnir, »der Rußschwarze«, dessen Fleisch
die Einherjer täglich verzehren, denn ist er verzehrt, erwacht er erneut.
In Strophe 15 geht es um Odins Nachfolger nach dem Ragnarök,
sein Name kann nicht genannt werden, weil er das Heiligste ist. Be-

240
deutsamerweise sprechen viele Kulturen den Namen des Allerhöchs-
ten nicht aus, was bei Anthropologen des 19. Jahrhunderts zur Mei-
nung verführte, Primitive hätten kein Verständnis für ein Allerhöchs-
tes, doch genau das Gegenteil war der Fall. »Wenige sehen weiter
vorwärts, als bis Walvater dem Wölfe naht«, das heißt, wenige wissen
um den kommenden Ragnarök, wenn nach der Auflösung des Plasmas
Walvater Odin verschlungen wird vom Fenrirwolf, sprich Asgard, wo-
mit der Götteruntergang (bei Wagner »die Götterdämmerung«) be-
siegelt ist. Darüber hinaus, an den Neuanfang, kann niemand schauen.

241
6. DAS THRYMLIED:
Die Seelenkraft von Thors Hammer

Dieses Lied ist leicht aus sich selbst verständlich. T h o r wurde seines
Hammers beraubt, und zwar durch Thrym, den König der Riesen. Da
Thor als Töter der Riesen das Gleichgewicht zwischen Asgard und
Niflheim durch die Ausmerzung einer Überzahl nachwachsender Rie-
sen aufrechterhält, ist dies, nachdem ihm sein Hammer Mjöllnir ab-
handen gekommen ist, nicht mehr gewährleistet. Die Asen treffen sich
zum Rat und Loki bietet ihnen seine Hilfe an, was allerdings wie im-
mer ein zweifelhaftes Geschäft ist, denn Loki steht eigentlich auf der
Seite der Riesen. Doch er übernimmt eine Mittlerrolle und hilft so ei-
nerseits den Asen, andererseits den Riesen; tatsächlich aber wartet er
auf seine große Stunde, nämlich Ragnarök: Erst dann können die Rie-
sen ganz in Asgard einfallen, alle vorherigen Versuche scheitern, weil
die Zeit einfach noch nicht reif ist für den Rückzug der Welten nach
Asgard.
Wie und warum der Hammer abhanden kam, wird nicht erwähnt;
Riesen müssen ihn heimlich gestohlen haben.

Wer ist Thor?

Im letzten Lied habe ich eine etymologische Ableitung zu T h o r gege-


ben. Thor ist das Tor, aber gleichzeitig auch der TOT, der Dumme. Der
Urstoff ist ein Tor, ein Durchgangsbereich, seine Bewohner sind Toren,
geistig dumm und trüb. Das Plasma ist eine mental getrübte Zone, die
Seele erkennt darin nicht den Geist, ist von ihrer eigenen Dumpfheit,
Taubheit und Dummheit geschwächt und kann ihren wahren Ursprung
nicht wahrnehmen. Das Land der Seele ist Niflheim, Nebelland, ein
mental vernebelter Zustand, aber es ist auch Muspellheim, Feuerland,
ein von der Leidenschaft der Seele entzündetes Feuer der Unruhe und
Erregung. T h o r ist die Verkörperung des Urstoffs. T h o r ist das Tb-
tenreich, sein Charakter entspricht dem unsrigen nach unserem Tod:

242
Betört von Leidenschaften durchwandeln wir das Trugbild einer Land-
schaft, und T h o r in seiner primitiven W u t erschlägt die Riesen.
T h o r lebt in Thrudwang. Thrud heißt Kraft; wang bedeutet Wie-
senabhang, leichter Hügel und steht für das Plasma, das in allen Kul-
turen als ein Hügel oder Berg erwähnt wird. Als Urhügel ragt es aus
dem Geist heraus (vergleiche den Berg Meru der Inder); es ist eine Er-
hebung, etwas Erhabenes, weshalb auch die Bewohner, die Riesen, die
»Erhabenen«, mental riesig groß sind. Das Plasma ist modern gespro-
chen eine sich verdichtende Ausstülpung aus dem Geist, so wie die Ma-
terie eine Ausstülpung aus dem Plasma ist - Verdichtung ist damit das
Gesetz der Entwicklung. (In vielen Kulturen wurde der Urhügel nach-
gebaut. Auf der Isle of Man etwa gibt es solch einen von den Wikin-
gern erbauten Hügel mit vier Stufen. Noch heute tagt auf dem Hügel
das Parlament der Insel.)
Thors Halle heißt Bilskirnir, was - wie bereits erwähnt - Blitz heißt,
womit nicht der materielle Blitz gemeint ist, denn darauf verweist in
seiner Tätigkeit nichts. T h o r reist nie zu den Menschen in die Mate-
rie, er bleibt im Plasma. Es ist daher eher die Energie des Blitzes ge-
meint, der vormaterielle Blitz, und so wie der Blitz arbeitet auch sein
Hammer, der kein Hammer im materiellen Sinne ist.
Seinen Wagen, mit dem er gelegentlich durchs Plasma reist, ziehen
zwei Ziegenböcke, Tanngniost (Zahnknisterer) und Tanngrisnir
(Zahnknirscher). Das Zähneknirschen und -knistern verweist auf
Angst und Wut, Ausdrucksformen der Plasmaseele. Ich gehe davon
aus, dass der Wagen nur im Plasma benutzt wird und daher kein Be-
förderungsmittel zwischen den Dimensionen Asgard und Hei ist. Es ist
rein rhetorisch gemeint, wenn es in diesem Lied so aussieht, als würde
der Wagen von Asgard aus losfahren.
T h o r besitzt den Hammer Mjöllnir, »Zermalmer«, mit dem er alle
Riesen tötet. Der Hammer wurde vom Zwerg Brokk im Plasma ge-
schmiedet. Wenn man ihn wirft, verfehlt er niemals sein Ziel und kehrt
von selbst in die Hand des Werfers zurück; er kann auch so klein ge-
macht werden, dass man ihn unbemerkt unter dem Rock tragen kann.
Allerdings ist der Handgriff zu kurz geraten, weshalb er schwer zu fas-
sen ist. Der Hammer ist also eigentlich kein Hammer, sondern wie alle
typische Zwergentechnologie offenbar eine plasmatische Technologie
oder ein seelisches Täuschungsmanöver. Stellen wir uns den Hammer
als mentale Waffe vor, ist er die Angriffslust, die, wenn man sie aus-
schickt, um jene des Feindes zu zermalmen, zu einem selbst zurück-
kehrt; man könnte sie auch verstecken, sprich klein machen. Zwergen-

243
waffen sind nicht aus Gold und Eisen, sondern aus Suggestion, Hyp-
nose, Leidenschaft und Täuschung gestrickt, daraus besteht die feine
Kunst der Zwerge und Riesen. Das Totenreich kennt keine Materie, es
ist das Gespinst unserer Träume und Wünsche. Der Zwerg Brokk ver-
weist darauf, dass T h o r und alle magischen Täuschungswaffen ins
Plasma gehören. Der Hammer ist nicht der physische Blitz, sondern
der psychische Geistesblitz. Doch will ich eine Mischform aus Seelen-
energie und subatomarer Energie nicht ausschließen.
Thor verfügt auch über einen Kraftgürtel; legt er ihn an, wächst
sein Kraft um das Doppelte. Außerdem besitzt er eiserne Handschuhe,
und nur mit diesen kann er den zu kurz geratenen Schaft des Hammers
umklammern.
Thors Frau ist die Riesin Sif, deren goldenes Haar von Zwergen an-
gefertigt wurde, was auf ihre Zugehörigkeit zu Hel verweist. Sif hat mit
Thor eine Tochter namens Thrud, »Kraft«, erneut eine Riesin. T h o r s
Söhne heißen Modi, »Zorn«, und Magni, »Kraft«; sie werden im
neuen Weltzeitalter Thors Hammer erben und sein Werk fortsetzen,
in anderen Worten: T h o r überlebt in allen Welten.
Thor stammt von Jörd oder Fjörgyn, »der im Eichenwald Verehr-
ten«, ab. Mit Jörd ist nicht die irdische Erde gemeint, sondern ihre plas-
matische Vorstufe. T h o r ist also ein Sohn Hels, und daraus leiten sich
all seine Erlebnisse ebenso wie sein Charakter ab: Er ist ein Kraftprotz
im mentalen Sinne. Dass er jedoch seine eigene Spezies, die Riesen,
bekämpft, ist verwunderlich. Er handelt im Auftrag Odins und gilt da-
her auch als Ase und Gott. Da Odin sein Vater ist, ist T h o r Haibase, als
Sohn der plasmatischen Jörd ist er Halbriese. Daher sein grundlegend
doppeldeutiges Wesen. Da das Kontinuum des Lebens eine Stufenlei-
ter von Übergangslebensformen herstellt, muss es Zwischenwesen
zwischen Asen und Riesen wie zwischen Riesen und Menschen geben;
Thor ist ein solches Zwischenwesen.

1 2
Grimm ward da Wingthor, Und also war
als er erwachte sein erstes Wort:
und umsonst seinen »Lausche, was ich,
Hammer suchte: Loki, dir sage,
er schwang das Haar, was niemand noch
er schwenkte den Bart, vernahm auf Erden,
jäh griff um sich noch auf Himmels Höhn:
der Jörd Sprössling. mein Hammer ist gestohlen!«

244
4 Freyja:
Sie schritten zu Freyjas »Dir wollt ich's geben,
schönem Hofe, ob's auch golden wäre;
und also war dein sollt es sein,
sein erstes Wort: wenn es silbern wäre.«
»Leih mir, Freyja,
dein Federkleid,
dass meinen Hammer
ich holen kann!«

Als T h o r das Fehlen seines Hammers bemerkt, unterrichtet er Loki,


und beide gehen zu Freyja, um ihr Feder- oder Falkenkleid zu erbit-
ten, mit dem man sich im Plasma fliegend fortbewegen kann. Sie wol-
len nach Riesenheim fliegen, denn - davon wird wie selbstverständlich
ausgegangen - nur Riesen können die Waffe gestohlen haben, da sie
offenbar nur in Riesenheim verwendbar ist.
Alle Asen haben besondere plasmatische Fortbewegungsmittel, um
nach Riesenheim zu gelangen. N u r T h o r geht zu Fuß, vielleicht weil
er selbst im Plasma verwurzelt, halb Plasmawesen ist; er bedarf keines
besonderen Fahrzeugs und keiner Anpassung an die Lebensbedingun-
gen in dieser Dimension. Die Asen hingegen müssen ihr Wesen her-
untertransformieren auf die Ebene des Plasmas. Sie können nicht
Plasma werden, sondern dieses höchstens »überfliegen«, »überreiten«
oder mittels Brücken überqueren. Thor, der durch die Flüsse Hels wa-
tet, kann scheinbar selbst Plasma werden und die Riesen vielleicht nur
deshalb erschlagen, weil er mit ihnen als Halbriese fast auf gleicher
Ebene steht. Allerdings gelingt dies auch Odin, aber stets nur in Ver-
kleidung. Wenn er Riesen aufsucht, dann nicht als Odin, sondern un-
ter einem seiner Beinamen. Da er selbst kein Plasma ist, verwandelt er
sich in Wesen seiner Schöpfungspyramide - Odin ist alles und kann
sich daher in alles verwandeln, natürlich auch in Plasmagestalten.
Während T h o r im Gegensatz zu allen anderen Asen normalerweise zu
Fuß nach Riesenheim geht, fliegt jetzt Loki für ihn in Freyjas Falken-
gewand dorthin, um Erkundigungen einzuziehen.

245
Loki als Trickster

5 8 Thrym:
Es flog Loki, »Verholen hab ich
die Federn rauschten, den Hammer Thors
bis hinter ihm lag unter der Erde
das Heim der Asen wohl acht Meilen.
und vor ihm lag Wieder heimwärts
die Flur der Riesen. holt ihn niemand,
führt man als Frau
6 mir Freyja nicht her.«
Auf dem Hügel saß Thrym,
der Thursen König;
er band den Bracken
Bänder von Gold
und strich den Mähren
die Mähnen glatt.

7
Thrym:
»Was gibt's bei den Asen?
Was gibt's bei den Alben?
Was trieb dich allein
nach Thursenheim?«

Loki:
»Schlimm geht's den Asen!
Schlimm geht's den Alben!
Hast du verholen
den Hammer Thors?«

Der Riese Thrym hat den Hammer erbeutet. Als Ersatz will er Freyja
zur Gattin. Dies wäre grundsätzlich möglich, denn sie ist eine Wanin,
meiner Deutung nach eine Riesin. Sie wohnt in Folkwang, einem U n -
terbereich Gladsheims, in dem auch Walhall liegt und der den ersten
Gürtel um Hel darstellt. Freyja hat scheinbar nichts mit den höheren
Zonen Asgards zu tun, sie lebt an der Grenze und ist damit ebenfalls
wie Thor eine Vermittlerin zwischen Riesen und Asen. Weil sie selbst
Riesin ist, hat sie auch viel mit Riesen zu tun. Wir müssen die Asen also
unterteilen in echte Asen und solche wie die zugewanderten Wanen

246
und die Haibasen wie Thor. Die beiden letzten Gruppen leben notge-
drungen am Rande Asgards nach Hel hin.
Bezeichnungen für die Riesen (die Erhabenen) sind Jöten oder
Thursen, ihr Land heißt demgemäß Riesenheim, Jötunheim, Thur-
senheim und eben auch Thrymheim (»Kraft-Lärmheim«). Das Plasma
liegt also voll mentaler Kraft erhaben über der Materie.
Loki, der Vermittler zwischen beiden Welten, reist nach Thrymheim
(thrym = »emotionaler« Lärm), trifft den Thursenkönig Thrym auf An-
hieb, wobei auch gleich klar wird, dass dieser den Hammer gestohlen
hat. Der Riesenkönig sitzt auf einem Hügel, was ihn als Bergriesen aus-
weist (das Plasma ist der dem Geist entwachsene Urberg). Riese heißt,
wie bereits ausgeführt, »der über das Materielle Erhabene«, was sich
ebenso auf die erhabenen, erhobenen Berge bezieht, nämlich die Er-
habenheit des Plasmas im Vergleich zur Materie. Thrym geht einer
Lieblingsbeschäftigung der Riesen nach, er flicht Goldbänder in das
Haar der Pferde - Pferde als Hinweis auf die hohe Geschwindigkeit, die
im Plasma herrscht. Gold, auf dieselbe Wurzel zurückgehend wie
»gelb«, das »Schillernde, Schimmernde, Glänzende«, verweist auf den
Lichtglanz des hellen Landes Hel (Hel = hell). Andererseits werden
auch die Asen stets die Glänzenden genannt, wobei aber offenbar Gold
nicht so sehr glänzt wie der Lichtglanz der Asen. Gold ist das Synonym
der Urstoffwelt. Der Thursenkönig fragt hinterlistig: »Was gibt's bei
den Asen?« Und er gibt unumwunden zu, den Hammer gestohlen und
in die Erde (im Plasma, nicht in der materiellen Erde!) versenkt zu ha-
ben; er will ihn nur herausgeben, wenn er dafür Freyja als Braut erhält.

Thors Verwandlung in eine Braut

9 10
Es flog Loki, «Ward dir Wissen,
die Federn rauschten, das wert der Müh?
bis hinter ihm lag Sag aus der Luft
das Heim der Riesen langen Bericht!
und vor ihm lag Das Sagen versiegt
die Flur der Asen. dem Sitzenden oft;
Draußen traf er Lügen bringt leicht
T h o r im Hofe, der Liegende vor.»
und also war
sein erstes Wort:

247
11 Loki:
»Wissen ward mir, Da sprach Heimdall,
das wert der Müh: der hellste Gott -
Thrym hat den Hammer, er wusste die Zukunft,
der Thursen König. den Wanen gleich:
W e d e r heimwärts
holt ihn niemand, 16
führt man als Frau »Binden wir T h o r
ihm Freyja nicht hin.« mit Brautlinnen!
Er trage den breiten
12 Brisingenschmuck!
Sie schritten hin Lassen wir Schlüssel
zur schönen Freyja, am Leib ihm klirren
und also war sein erstes Wort: und Frauenkleider
»Binde dich, Freyja, aufs Knie fallen
mit Brautlinnen! und breite Steine
Wr reisen zu zweit auf der Brust liegen,
nach Riesenheim.« türmen wir hoch
den Hauptschmuck ihm!«
13
Grimm ward da Freyja, 17
grollend schnob sie, Da sagte Thor,
der ganze Saal der trutzstarke:
der Götter bebte, »Weibisch nennen mich
hinsprang der breite Wanen und Asen,
Brisingenschmuck: lass ich mich binden
»Die Mannstollste mit Braudinnen.«
müsste ich sein,
reist ich mit dir 18
nach Riesenheim!« Da sprach Loki,
der Laufey Sohn:
14 »Solche Sprache
Die Asen eilten spare dir, Thor!
alle zum Thing Bald sitzen Riesen im Ratersaal,
und die Asinnen holst du nicht heim
alle zum Rat; den Hammer dir.«
und das berieten
die reichen Götter,
wie heim sie holten
den Hammer Thors.

248
Als T h o r und Loki Freyja auffordern, ihr Brautkleid anzulegen, gerät
diese verständlicherweise in Zorn, und ihr Brisingenschmuck hüpft
dabei im Saal umher. Was es mit diesem Schmuck auf sich hat, ist nicht
klar. Wir wissen nur, dass vier Zwerge, also vier Plasmawesen, ihn
hergestellt haben und jeder dafür zum Dank eine Nacht mit Freyja
schlafen durfte, was Odin, Freyjas Gemahl, erzürnte. Loki entwendete
ihr den Schmuck, der ihm von Heimdall aber wieder entrissen und der
Göttin zurückgegeben wurde. Man muss wissen, dass alle kostbaren
Standessymbole der Götter - Odins Ring Draupnir, Thors Hammer
Mjöllnir, Freyrs Eber Gullinbursti ebenso wie der Brisingenschmuck
Freyjas - von Plasmazwergen hergestellt wurden. Es besteht offenbar
ein reger, ja vertrauter Austausch zwischen beiden Dimensionen.
Diese kostbaren Hilfsmittel können jedoch nur in der Urstoffwelt
selbst eingesetzt werden, da sie nur aus Urstoff bestehen und von
Urstoffwesen hergestellt sind. In Asgard nützen sie den Asen wenig.
Man darf sie als spezifische Waffen oder Tricks verstehen, mittels de-
rer sich die Asen im Urstoff bewegen und sich dessen Wesen gefügig
machen.
Bleibt der Hammer bei den Riesen, können diese nicht mehr abge-
wehrt werden, und »bald sitzen Riesen im Ratersaal, holst du nicht
heim den Hammer dir«. Als ob nur Thors Hammer diese davon
abhielte; abgesehen davon können die Riesen nicht jederzeit nach As-
gard eindringen, sondern nur beim Ragnarök, wenn sich die Naturge-
setze ohnehin von selbst vollziehen und der Urstoff in den Geist hin-
einsinkt.
Loki gilt als Sohn der Riesin Laufey, »Laubblatt, Laubinsel«, auch
Nal, »Nadel des Nadelbaums« genannt; wenn ein Funke ins Laub oder
die Nadeln fällt, entsteht Feuer. Als sein Vater gilt der Riese Farbauti,
»gefährlicher Schläger«, der Blitz, der damit eindeutig als Riese und
Urstoffprinzip bestimmt ist.

19
Sie banden T h o r
mit Brautlinnen
und mit dem breiten
Brisingenschmuck.
Sie ließen Schlüssel
am Leib ihm klirren
und Frauenkleider
aufs Knie fallen

249
und breite Steine
auf der Brust liegen
und türmten hoch
den Hauptschmuck ihm.

20
Da sprach Loki,
der Laufey Sohn:
»Ich will bei dir
als Dienerin sein;
wir reisen zu zweit
nach Riesenheim.«

Nach dem Thing der Asen wird T h o r auf Heimdalls Rat in Braudin-
nen gekleidet; man legt ihm den Brisingenschmuck an, und breite
Steine werden ihm als Busen auf die Brust gelegt. Loki bietet sich als
Dienerin an: »wir reisen zu zweit nach Riesenheim«. Absurd ist dabei
wieder, dass Loki, selbst Riese, selbst Plasma, die Asen unterstützen
will im Kampf gegen sein eigenes Geschlecht. Aber das ist eben seine
zwiespältige Position als Trickster.

Die Dimensionsreise

21
Bald waren heim
die Böcke getrieben,
an die Sielen geschirrt,
sie sollten rennen.
Berge barsten,
es brannte der Grund:
aus fuhr da T h o r
nach Thursenheim.

Nun beginnt die Reise in die andere Dimension. Diese Reise ist weder
für Loki, der selbst Plasma ist, noch für Thor, der dauernd ostwärts
nach Riesenland zieht, etwas Ungewöhnliches oder Neues. T h o r ist
Grenzbewohner; Thrudwang, sein Heim, liegt ganz nahe an Hei, ja in
Wahrheit in Hel selbst. Doch diesmal wird eine Ausnahme gemacht:
Thor geht nicht zu Fuß, sondern lässt seine Böcke anspannen. Dass es

250
sich nicht um gewöhnliche Böcke handelt, geht klar daraus hervor, dass
Berge bersten, der Grund brennt. Dimensionsreisen sind ungeheuer
schwer: Man stelle sich doch einmal vor: Eine Seele (ein Riese) muss
sich in einen Körper verwandeln. Kann eine Seele überhaupt Körper
werden, und wenn ja, wie? Oder: Wie kann sich Odin auf die Ebene
der Riesen hinabbegeben, um mit ihnen zu verkehren? Er muss dazu
selbst Riese werden. Wie aber verdichtet sich Geist zu Seele? Die Ver-
wendung symbolischer Fahrzeuge zwischen den Dimensionen ist eine
Lösung.

Thor holt den Hammer zurück

Der Rest des Liedes ist aus sich selbst verständlich. T h o r erhält den
Hammer. Gleich darauf lässt er sich, ohne lange zu zögern, zum Kahl-
schlag verleiten und erschlägt die gesamte Thursenfamilie.

22 24
Da sagte Thrym, Man fand zu Abend
der Thursen König: dort früh sich ein;
»Stehet nun auf, herbeigebracht
bestreut die Bänke! ward das Bier dem Riesen.
Führt mir als Frau einen Ochsen aß er
nun Freyja her, und acht Lachse,
des Njörd Tochter alles Backwerk,
aus Noatun! gebracht den Frauen,
es trank da T h o r
23 drei Tonnen Met.
Zum Hof gehn hier Kühe,
die Hörner golden, 25
rabenschwarze Ochsen, Da sagte Thrym,
dem Riesen zur Lust; der Thursen König:
hab vielen Schmuck, »Wo schautest du Bräute
hab viele Schätze, schärfer beißen?
Freyja allein Nie sah ich Bräute
fehlte mir noch.« breiter beißen
noch auch mehr Met
eine Maid trinken.«

251
26 30
Da war nicht weit Da sagte Thrym,
die gewitzte Magd; der Thursen König:
auf des Riesen Rede »Bringt den Hammer,
fand rasch sie ein Wort: die Braut zu weihn!
»Nichts aß Freyja Leget Mjöllnir
acht Nächte lang; der Maid in den Schoß!
so sehnte sie sich Mit der Hand der War
nach dem Saale Thryms.« weiht uns zusammen!«

27 31
Unters Linnen lugt er, Das Herz im Leib
lüstern zu küssen; lachte da Thor,
einen Satz tat er, als der hartgemute
den Saal entlang: den Hammer sah:
»Wie furchtbar sind erst traf er Thrym,
Freyjas Augen! der Thursen König;
Wie Feuer flammt es der Riesen Geschlecht
aus Freyjas Blick!« erschlug er ganz.

28 32
Da war nicht weit Er schlug auch die arme
die gewitzte Magd; Schwester des Riesen,
auf des Riesen Rede die Brautgabe
fand rasch sie ein Wort: erbeten hatte:
»Nicht schlief Freyja Schellen bekam sie
acht Nächte lang; statt Schillinge
so sehnte sie sich und Hammerhiebe
nach dem Saale Thryms.« statt heller Ringe.
So holte T h o r
29 den Hammer zurück.
Herein kam die arme
Riesenschwester,
die um Brautgabe
bitten wollte:
»Die roten Ringe
reich mir vom Arm,
willst du meine
Minne haben,
meine Minne
und meine Huld!«

252
T h o r stammt wie gesagt zur Hälfte von Jörd, der vormateriellen Erde
ab, zur anderen Hälfte von Odin.
In allen alten Kulturen gelten die vier plasmatischen Elementarzu-
stände als Vorformen der stofflichen Elemente. Obwohl dies in der
Edda nicht so eindeutig zu Tage tritt, findet sich doch die Vorstellung
vom Plasma als aus vier urstofflichen Erscheinungsformen bestehend
(vgl. Abb. Seite 127 und 138): Feuer (Logi), Wind (Kari) oder Luft
(Lopt wie Loki), Wasser und Erde (Jörd). Dass Jörd, die Erde, Plasma
ist, darauf verweist ihre Abstammung. Nott, die Nacht, also Plasma,
zeugte sie mit dem Asen Anar. Geist und Plasma zeugen also gemein-
sam die vormaterielle Urform der Erde. In der Tat ist Materie die Wei-
terentwicklung von Geist und Urstoff, und dasselbe gilt für den Kör-
per des Menschen. N o t t zeugte weiter mit Delling, »Heller Tag«, den
Tag und mit Nagelfari das Stoffliche, was wieder unmittelbar auf die
Materie verweist.
T h o r ist das Plasmagesetz schlechthin. Sein Name, »Tor«, verweist
bereits auf seine Herkunft. Was aber versinnbildlicht sein Hammer?
Der »Zerschmetterer« drückt vielleicht das Gesetz der Zerstörung der
Seele aus. T h o r s Hammer, also T h o r selbst, tötet Riesen, aber nicht
körperlich, sondern seelisch. Der Hammer bewegt sich blitzschnell
zum Feind und kehrt ebenso schnell in Thors Hand zurück. Es ist also
kein gewöhnlicher Hammer, sondern es sind Thors Gedanken, seine
Gedankenkraft, mit der er kämpft. Thors Hammer ist Thors Seele!
Aber ich betone, der Hammer mag auch eine reale energetisch-plas-
matische Waffe sein.

253
7. DAS HYMIRLIED:
Der Kessel als Sinnbild der Seele

In diesem Lied geht es um Thors große Trinklust, so wie im T h r y m -


lied seine große Esslust erwähnt wird. Er trinkt offenbar Bier, womit
hier der Urstoff selbst gemeint ist. Doch es reicht ihm nicht, was ihm
erneut Anlass gibt, die Riesen zu erschlagen, die ihm nicht genug ge-
ben wollen oder können.
Die Asen, insbesondere Thor, der ständig und offenbar auch hier
auf Riesenjagd ist, begeben sich ins Riesenreich, verkörpert in Gestalt
des Meerriesen Agir. T h o r will Bier, sprich Urstoff trinken, doch Ägirs
Braukessel reichen nicht aus, um seinen Durst zu stillen. Deshalb ma-
chen sich T h o r und Tyr auf zum Riesen Hymir, um dessen Kessel zu
rauben, der wohl größer ist. Mit roher Gewalt ringt T h o r dem Riesen
den Kessel ab und versäumt es nicht, bevor er abzieht, alle Riesen und
Hymir selbst mit seinem Hammer zu erschlagen. Bedeutsam ist hier
vor allem, dass es dafür gar keinen Grund gibt, die Riesen ihm gar
nichts tun wollen. Und das verhält sich in fast allen Geschichten so:
Die Riesen sind immer die Verlierer, die Schwachen, die Dummen.
Von der höheren Warte Asgards aus gesehen, ist dies jedoch zwingend
so. Jeder Schritt der Götter nach Riesenheim bewirkt dort eine U n -
terjochung. Eine Überfahrt der Asen in die unter ihnen liegende Di-
mension hat für diese verheerende Folgen, das ist der Sinn der Para-
beln über Thor. Daher die unbegründeten Kämpfe, die in der Regel
von den Asen ausgehen, seltener von den Riesen. Gleiches geschieht
vielleicht, wenn die Riesen in Midgard einfallen und die Menschen ver-
sklaven. Die höhere ist der niedrigeren Dimension immer vollkommen
überlegen. Das erachte ich als eine der wichtigsten Deutungen im Ver-
ständis der Beziehung zwischen Asgard, Riesenheim und Midgard. Ist
das der Grund, weshalb T h o r die Erde vor Riesen schützen muss?
Denn fielen diese in Midgard ein, würden die Menschen ausgebeutet
werden.

254
Die Runen

1
Heim brachten Wild
die Walgötter,
besorgt auch um Trank,
bis sie satt würden;
sie schüttelten Zweige,
schauten aufs Los:
sie fanden bei Agir
viele Kessel.

Die Asen werden hier Walgötter genannt, jene, die die Toten aus-
wählen, ein Recht, das insbesondere Odin und Freyja zusteht. »Heim
brachten sie Wild«, soll das heißen, sie brachten die Gefallenen nach
Walhall? Sie machen dabei im Urstoff Halt beim Riesen Agir, der für
den wässrigen Elementarzustand des Plasmas steht. Bei ihm nämlich
gibt es viel Bier, was nichts anderes als die Superflüssigkeit des Plasmas
selbst ist. Dieses Bier wird in Kesseln aufbewahrt, wobei der Kessel
selbst wiederum ein Sinnbild für das Plasma ist. Dass es sich um keine
gewöhnlichen Kessel handelt, hören wir spätestens in Strophe 5, wo
gesagt wird, das Gefäß sei meilentief. Meilentief ist auch Ginnunga-
gap, eine andere Bezeichnung für das Plasma.
Das Plasma ist als Reich der Seele eine Spielwiese für Orakel- und
Zukunftsdeuterei. Im Plasma muss nicht mehr gerätselt werden wie in
unserer Welt, dort liegt alles sonnenklar zu Tage, weil weder Zeit noch
Raum bestehen. Dort sind alle Wesen bloß noch seelische Kräfte, und
jeder kann den anderen unmittelbar erkennen beziehungsweise an ihm
ablesen, was er wahrhaft denkt und fühlt. Die Seelen sind gewisser-
maßen durchsichtig, ohne den Schutz eines Körpers; sie sind äußerlich
das, was sie innerlich sind. Zwei sich gegenüberstehende Seelen erken-
nen sich sofort; sie unterliegen nicht der Abfolge der Zeit, sind also we-
der alt noch jung, sondern das, was sie sein möchten, und auch der Ma-
terieschranke sind sie nicht Untertan, ihre Wahrnehmung ist nicht mehr
an die fünf Sinne gebunden, stattdessen setzen sich Ubersinne durch:
statt Sehen Hellsehen, statt Fühlen Hellfühlen, statt Denken Telepa-
thie. Wenn es Verschleierungen und Behinderungen im Plasma gibt,
dann sind sie durch emotionale Blockaden selbst gesetzt, denn hier gilt:
Ich bin, was ich denke! Wer diese Eigenart nicht versteht, für den ist das
Dasein der Plasmawesen, ob Tote oder Riesen, nicht ergründbar, und

255
die Edda muss er abtun als wunderliche Anschauung unreifer Gemüter.
Die Edda ist ein Totenbuch und setzt ein umfassendes Einfühlungsver-
mögen für die Seele im körperfreien Zustand, das heißt im Tod voraus.
Noch etwas ist in diesem Rahmen von Bedeutung. Das Totenreich
birgt offensichtlich verschiedene Lebensbereiche in sich. Hier leben
Riesen und Zwerge und Menschen. Über die Art der Trennung dieser
Reiche äußert sich die Edda nicht, die Trennung der Lebensformen er-
folgt wohl durch eine entsprechende seelische Einstellung, denn Gren-
zen können hier nur im Seelischen gezogen werden durch Abneigung,
Abwehr und die Unfähigkeit, sich in andere seelische Formen einzu-
fühlen. Über einen Kontakt zwischen Totenseelen und Riesen hören
wir daher wenig.
Es wird gesagt, die Runen des germanischen Orakels werden ge-
legt. Das ist eigentlich gar nicht nötig, weil alle notgedrungen alles wis-
sen. In gewissem Sinn ist es ohnehin das Reich dauernden Runenwer-
fens. Im Plasma werden Runen oder Lose benutzt, daher heißt es: »sie
schüttelten Zweige, schauten aufs Los«. Die Zweige verweisen auf die
Äste des Weltenbaumes und damit auf Asgard, den Ursprung von al-
lem; Runen und Lose sind identisch mit Zauberformeln, denn Zeichen
sind immer ein Zauber - so wie Schrift Zauberei ist - und verweisen
aufs Plasma, denn hier arbeiten alle Riesen mit Zauber. »Zweige schüt-
teln« heißt demnach, die Runenstäbchen zu schütteln, dann fallen zu
lassen und daraus das Los zu ziehen und zu deuten.
Runen raunen Rat, heißt es. Rune bedeutet »Geheimnis«, »Raun«
heißt schweizerisch »Abstimmung«. Tacitus berichtet, dass die Ger-
manen Runen zum Orakeln verwenden. Dabei werden drei mit Zei-
chen versehene Stäbchen verwendet. Runen sind Stäbe, gemacht aus
Buche (Buchstaben). Seit mindestens 200 n. Chr. sind sie in Gebrauch.
Jede Rune hat einen Lautwert. Runen sind daher laut beim Namen zu
nennen. Es heißt: Die drei N o m e n sitzen an der Wurzel des Welten-
baums und werfen das Runenorakel, um das Schicksal der Menschen
zu weissagen. Das bedeutet: Die Plasmaprinzipien sind das Schicksal
für die Materiedimension, im Plasma ist alles vorgezeichnet, hier wer-
den die Gesetze und der gesetzmäßige Verlauf von Lebewesen festge-
legt. We das? Das Plasma ist seelischer Natur, unsere Seele ist Plasma.
In der Seele sind daher alle Schicksalsfaktoren gespeichert und werden
im physischen Leben Schritt für Schritt ausgelebt, das heißt zur Reife
gebracht.
»Los« leitet sich etymologisch her von althochdeutsch hliozan, mit-
telhochdeutsch liezen = »losen, wahrsagen, zaubern«. Das Losen

256
diente urspünglich der Schicksalsbefragung, Lose wurden geworfen,
um eine vom Menschen unabhängige Schicksalsentscheidung zu er-
halten. Das Los kommt also von den Schicksalsmächten, den Nomen,
die jedoch nicht vor den Göttern anzusetzen sind, denn Zeit und Raum
beziehen sich nicht auf das All-Eine, sondern nur auf Plasma- und Ma-
teriedimension. Das Losen wurde auch beim Opfer angewandt (aisl.
hlautr, »Los«; das ähnelt blaut, »Opferblut«).
Rat bedeutet Rune, weshalb die Asen Rater genannt werden. Odin
in verringerter Form als Plasmagestalt ist Raterfürst, die Alben sind ru-
nenkundig. Die Asen eilen jeden Tag zur Richtstätte, an die Wurzeln
des Weltenbaumes, also ins Plasma, und bewirken dort in ihrer verrin-
gerten, verdichteten Gestalt als Schicksalsmächte die lebendige Ent-
faltung der Runen. Genau gesagt: Götter können sich dimensional
herunterschrauben, können Emanationen in niedrigeren Dimensio-
nen bilden, weil alles Gott ist. In Gestalt von Plasmafiguren leben sie
das Göttliche im engeren Kostüm des Plasmas aus.

Plasma als Flüssigkeit

2
Fröhlich saß da
der Felsbewohner;
der Mann glich dem Sohn
Miskorblindis.
Trotzig sah ihm
T h o r ins Auge:
»Rüste den Ratern
reichlichen Trank!«

Der Felsbewohner Ägir (das Meer, das Plasma) gleicht seinem Vater
Miskorblindi (Riesen werden oft als Bergriesen und als in Höhlen le-
bend bezeichnet - das Plasma als Höhle!). T h o r schaut ihn an und sagt
unvermittelt und unverblümt: »Rüste den Ratern reichlichen Trank!«
Rater 17 sind die Asen, weil sie beim Gericht, das noch im Plasma abge-
halten wird, am Urd- oder Schicksalsbrunnen das Leben und Schick-

17
Rat heißt eigentlich »Mittel, die zum Lebensunterhalt notwendig sind« (siehe Vorrat,
Unrat, Gerät, Hausrat). Daraus entwickelte sich der Wortgebrauch im Sinne von »Besor-
gung der notwendigen Mittel« und daraus weiter »Beschaffung, Abhilfe, Fürsorge«, siehe

257
sal der Verstorbenen erraten, also wissen. Die Asen wollen Plasma trin-
ken, das heißt, sie bewegen sich ins Plasma hinein und trinken es, wer-
den dabei selbst Plasma. Dies wiederum hieße, dass sie Plasmagestalt
annehmen, wobei aber ihre wahre Natur, der reine Geist, verdunkelt
wird, so wie ein Nackter durch Bekleidung unkenntlich wird. Entspre-
chend den Gesetzmäßigkeiten der Dimension darf man annehmen,
dass die Asen im Plasma nicht voll funktionstüchtig, gewissermaßen
verlangsamt und beengt sind und umgekehrt die Riesen in Asgard, ih-
rer riesenhaften Natur entkleidet, sich wie Asen verhalten werden, so-
fern sie überhaupt die Möglichkeit haben, nach Asgard zu gelangen -
einigen, die zu Asen aufgestiegen sind, scheint dies gelungen zu sein.
Und wie lässt sich dann die Existenz in Midgard begreifen? Odin lebt
im Plasma in plasmatisch verringerter Gestalt und verdichtet sich dann
weiter zu Midgard, sein Wesen wird also noch raumzeitlicher, noch
dichter als im Urstoff. Ein Mensch besitzt daher einen odinschen, gött-
lichen Anteil, einen Plasmaanteil und einen offensichtlichen Materie-
anteil. Wr sind eine heilige Triade: Geist, Seele und Körper. Wr sind
Odin in seinem dreifachen Gewand!

Bier als Symbol d e s Plasmas

3
Ihm weckte Wut
der Wörtscharfe;
vergelten wollt er's
den Göttern rasch:
er bat Sifs Mann,
»dass ich brauen kann
Bier euch allen«,
um den Bottich dazu.

Offenbar ist der Riese Hymir vom Wunsch Thors (Thor ist Ehemann
der Riesin Sif, »angeheiratete Verwandte«) überfordert: T h o r will
mehr von dem Trank, als Hymir auf der Stelle brauen kann, und muss
daher um einen weiteren Bottich bitten. Bekanntlich trinken die Göt-

auch Heirat, eigentlich Hausbesorgung. Daraus entstand die Bedeutung »gut gemeinter
Vorschlag, Unterweisung, Empfehlung« und weiter die Bedeutung wie in Rathaus, Stadt-
rat usw. Die Rater sind demnach ursprünglich die, welche die Grundlagen vermitteln.

258
ter unendlich viel mehr als Riesen, was klar ist, stehen sie doch über
dem Plasma, das für sie wohl eher wie auf uns die Luft wirkt; im Ge-
gensatz zu den Riesen können sie unendlich viel davon zu sich nehmen.
Daher vielleicht ist Agir durch Thors Bierbestellung überfordert, was
in ihm Wut über seine eigene Unzulänglichkeit und die Unverschämt-
heit der Götter gleichermaßen weckt.

4 5
Kriegen konnten »Es wohnt östlich
den Kessel nicht von Eliwagar
die heiligen Rater der weise Hymir
und reichen Götter, am Himmelsrand;
bis Tyr zu T h o r einen Kessel hat
treues Sinnes mein kühner Vater,
heilsamen Rat ein mächtiges Gefäß,
heimlich sagte: ein meilentiefes.«

Tyr

In dieser Strophe wird gesagt, dass es nicht genug Kessel zum Bier-
brauen gab und nur Tyr (»Gott, Götter«) Rat wusste, nämlich den Kes-
sel18 seines »kühnen Vaters«, des Riesen Hymir (»der Dämmerer«),
sprich das Plasma selbst zu besorgen.
Tyr ist Sohn eines Riesen, also selbst Riese ebenso wie T h o r oder
Agir. Hymir wohnt bei den Eliwagar, das sind die Eisflüsse des östli-
chen Niflheims, also des Plasmas (M/7 = Nebel, Kälte, Eis, Wasser; alle
Flüsse sind Synonyme für das Plasma). Der Kessel Hymirs wird als
»ein mächtiges Gefäß, ein meilentiefes« beschrieben. Der Kessel steht
hier für das Plasma insgesamt, das T h o r haben will. Ihm als Haibasen
und Halbriesen gehört es ohnehin; er neigt zum Riesenzorn, was die
Riesen ihrerseits erzürnt, weil sie in einer Emotionssphäre leben, wo
alles gleich zu Gefühlen gerinnt, insbesondere zu negativen, denn der
Kessel ist Hei selbst, wo wir unter unseren negativen Zuständen leiden.
Odin, der Geist dagegen, kennt keine Gefühle mehr; Geist steht jen-

18
Vgl. den Kessel in der Hermetik, der das Psychoplasma beschreibt, ebenso wie alle
dem Kessel verwandten Gefässe wie Tasse, Becher, Glas, Schale usw. Im Buddhismus
verweist die kesselartige umgestülpte Form der Stupa auf das Sambhogakaya, das iden-
tisch ist mit dem Reich der Trugbilder, dem Plasma, der Seele, dem Todesreich.

259
seits der Dualität von Gut und Böse. Odin beeinflusst Gefühle eher
von einer spöttisch-höhnischen Warte aus; er tut so, als entglitten ihm
Gefühle, und heizt so die anderer an, womit er sie überführt, nämlich
den Geist, ihn, nicht erkannt zu haben, und darauf steht nichts weni-
ger als Tod.

6
Thor: Die Götter eilten
»Gewinnen wir den ganzen Tag
den Wassersieder?« von Asgard fort
bis zu Egils Heim;
Tyr: die stattlichen Böcke
»Leicht, Freund, gelingt's, stellte er ein;
wenn List du brauchst.« sie gingen zur Halle,
die Hymir besaß.

Die Götter eilten von Asgard zu »Egils Heim«. Egil scheint ein Riese
zu sein. Dort werden die zwei Böcke Tanngnjost und Tanngrisnir, die
den Wagen Thors ziehen, abgestellt.

8
Die Ahne fand Tyr,
ihm arg verhasst,
die hatte Häupter
hundert mal neun;
die andre eilte,
die allgoldne,
Bier zu bringen,
die brauenlichte.

Nun trifft Tyr auf die »Ahne« (die Frau Hymirs?) mit ihren neunhun-
dert Köpfen. Die andere, die »allgoldene« und »brauenlichte«, die
ihm Bier bringt, scheint die Geliebte Hymirs und die Mutter Tyrs zu
sein. Tyr hat also eine Riesin zur Mutter und holt nun von seinem Stief-
vater den Kessel ab. (Hier besteht ein Widerspruch: Oben heisst es, er
sei Sohn, nicht Stiefsohn, des Riesen Hymir; wenn Vater und Mutter
Riesen sind, wäre er selbst doch auch Riese. Unten wird er dann aber
als Ase bezeichnet.)

260
9 Tyrs Mutter:
»Sohn des Riesen,
setzen will ich
unter die Kessel,
Kühne, euch zwei,
da manches Mal
mein Mann erweist
Geiz den Gästen
und grimmen Sinn.«

Jetzt redet »Tyrs Mutter« Tyr oder T h o r als »Sohn des Riesen« an, ein
erneuter Hinweis auf eine riesische Abstammung. Sie sagt, sie wolle sie
beide unter den Kessel setzen, damit ihr Mann Hymir sie nicht so-
gleich sehe. Sie will sie verbergen, weil der Riese voller Geiz und
Grimm ist - zwei typische emotionale Plasmaeigenschaften?

Streit im Totenland

10 12
Der Kränkungsstifter Geirröds Gegner
kehrte erst spät, begleitet ihn,
der grimme Hymir, der Menschen Helfer,
heim von der Jagd; er heißt Weor;
er kam in den Saal, sieh, sie sitzen
es klirrte das Eis: im Saalgiebel,
gefroren war hinterm Balken
sein Forst des Kinns. bergen sie sich.«

11 Tyrs Mutter:
»Heil dir, Hymir,
sei holdes Sinns!
Es sitzt dein Sohn
im Saale hier,
den weither wir
erwartet haben.

261
Wenn Hymir von der Jagd heimkommt, klirrt das Eis, denn wir befin-
den uns in der kalten Zone des Plasmas, in Niflheim. Tyrs Mutter teilt
dem heimkehrenden Hymir vorsichtig mit, dass »sein Sohn«, Tyr, hier
sei.
Mit Geirröds Gegner ist T h o r gemeint, der diesen Riesen
bekämpfte; und mit »der Menschen Helfer« wird auf Thors Eigen-
schaft als Riesentöter und damit Beschützer der Menschen vor den
Riesen hingewiesen. Thors Name wird verheimlicht und er wird Weor
genannt. Beide hätten sich im Saalgiebel hinter Balken verborgen.

13
Vor des Riesen Blick
barst der Pfeiler,
der starke Balken
brach in Stücke:
acht Kessel krachten
vom Querträger;
hartgehämmert
blieb heil nur einer.

Hymir gerät über den unerfreulichen Besuch sogleich derart in Zorn,


dass allein von seinem Blick starke Balken bersten und acht Kessel vom
Querträger herunterkrachen, und obwohl hartgehämmert, nur einer
heil bleibt. Was soll das heißen? Was bedeuten die Kessel, was ihr Zer-
bersten? In den Kesseln wird Bier, sprich Plasma gebraut. Der Kessel
ist im Allgemeinen ein Symbol des Plasmas schlechthin. Bedeutet dies,
dass im Plasma, in Riesenheim, Unruhe herrscht, hervorgerufen durch
den Riesenzorn?

14 15
Sie traten vor; Drei Stiere wurden
der Thursengreis aus dem Stall geholt,
folgte seinem der Riese hieß
Feind mit dem Blick: sie rasch kochen;
Böses schwant ihm, sie kürzten alle
da zur Bühne hin um einen Kopf
den Thursentöter und trugen das Fleisch
er treten sah. zum Feuer hin.

262
16
Sifs Ehmann aß
von den Ochsen da,
eh er schlafen ging,
im ganzen zwei,
dass recht reichlich
dem Riesengreis
des Odinserben
Essen dünkte.

Tyr und T h o r treten unverletzt vor, T h o r schreitet sogar selbstbewusst


zur »Bühne«, wohl zum Stall. Drei Stiere werden geschlachtet und ge-
kocht als Mahl für die Besucher. T h o r isst zwei Ochsen, was dem Rie-
sen zu viel und als Herausforderung erscheint.

17 Hymir:
»Vom Weidwerk werden
uns wohl wir drei
zum nächsten Nachtmahl
nähren müssen.«
Bereit war T h o r
zu rudern aufs Meer,
gäbe den Köder
der kühne Riese.

Weil alles aufgegessen ist, sagt Hymir, werde man sich das nächste
Nachtmahl durch Fischen erwerben müssen. T h o r zeigte sich bereit zu
rudern, der Riese sollte den Köder bereitstellen.

18 Hymir: 19
»Hast du ein Herz, Zum Wald wandte
zur Herde geh, sich wacker Thor,
Felsenvolks Feind, ein schwarzer Stier
zu finden den Köder! stand da vor ihm;
Ich denke doch, da riss diesem
dass du vom Stier der Riesentöter
Lockspeise leicht die hohe Heide
erlangen kannst.« der Hörner ab.

263
20 Hymir:
»Schlimmer scheint mir,
Schiffsgebieter,
wahrlich dein Wirken,
als weilst du still.«

Mit »Felsenvolks Feind« (die Riesen werden auch »Felsdänen« ge-


nannt) ist natürlich T h o r gemeint, der die Bergriesen alle erschlägt.
Thor soll die Lockspeise selbst holen, und er findet im Wald einen
Stier, dem er die Hörner («hohe Heide« = Kenning für Hörner) ab-
reißt, was Hymir zu Recht veranlasst zu sagen: »Schlimmer scheint
mir, Schiffsgebieter, wahrlich dein W r k e n , als weilst du still.«

21 22
Halten hieß ihn Zwei der Wale
der Herr der Böcke zog an der Schnur
weiter seewärts Hymir beherzt
den Walzenhengst; in die H ö h zugleich;
doch sagte, es sei doch Odins Erbe
seine Neigung im Achterschiff
gering, der Riese, legte listig
zu rudern noch mehr. die Leine zurecht.

Die Midgardschlange

Das Totenreich, der Kosmos der Seele, wird - es sei hier nochmals wie-
derholt - in drei Hauptgestalten dargestellt: als Hel, Fenrirwolf und
Midgardschlange. Hel ist der Aspekt des Plasmas, der auf das Helle
und die allgemeine seelische Situation verweist, der Fenrirwolf ist der
Aspekt des Plasmas, der das seelisch Verschlingende dieser Dimension
ausdrückt, und die Midgardschlange - die Plasmaenergie, die sich um
den mittleren Garten der Materie schlängelt - versinnbildlicht unsere
Einhüllung, besser noch Durchdringung durch dieses seelische Kraft-
feld. Neben diesen Personifizierungen des Plasmas gibt es Dutzende
weiterer, die alle einen bestimmten Aspekt des Plasmas hervorheben.
Bisherige Forscher haben unglücklicherweise nicht erkannt, dass sich
die verschiedensten Gestalten auf dasselbe, nämlich das Plasma, bezie-
hen, und konnten so zu keinerlei klarem Verständnis der germanischen
Weltlehre gelangen.

264
Hier nun will T h o r die Midgardschlange fangen, was ein Unding
ist, denn damit würde er sich selbst entwurzeln. Deshalb gelingt es ihm
auch nicht, denn erst beim Ragnarök geht das Plasma nach dem Ge-
setz der Natur unter.

23
Auf die Angel spießte
das Ochsenhaupt,
der die Menschen schirmt,
der Schlange Feind;
vom Grunde griff
gierig den Köder,
den die Asen hassen,
der Erdgürter.

Sie ruderten hinaus aufs Meer, sprich Plasma. Hymir hatte Angst, wei-
ter hinauszurudern, denn dort liegt die Midgardschlange. Hymir zog
zwei Wale an Bord, doch T h o r ging weiter: er spießte das Ochsenhaupt
auf und wollte damit die Midgardschlange (»den die Asen hassen, der
Erdgürter«), das Plasma selbst, angeln. Die Midgardschlange ist eines
der Kinder von Loki und Angrboda, sie verkörpert den Aspekt des
Wässrigen, Superflüssigen des Plasmas. Das Plasma umgibt die Erde,
die Materie schwimmt mit jedem Atom im Plasma, Materie ist durch-
drungen und umgeben vom Plasma. Diese Energie ist es, die das Ma-
terielle aufrechterhält. Die Schlange steht fast in allen Überlieferun-
gen für den seelischen Mittelkosmos und dessen Prinzipien oder
Bewohner. Sie beißt sich selbst in den Schwanz, was auf ihre Selbst-
zeugungskraft beziehungsweise die schöpferische Hervorbringung der
Materie hinweist, denn Plasma gilt als Grundlage der Materie.

24
Zur Rettung riss
rüstig den Wurm,
den giftglänzenden,
der Gatte Sifs;
mit dem Hammer hieb
auf des Haares Berg
Walvaters Sohn
dem Wölfsbruder.

265
Die Midgardschlange, der Wurm, der giftglänzende (Seele = Gift, ne-
gative Emotion), beißt an und Thor, der Sohn von Odin, dem Walva-
ter, schlägt mit seinem berühmten Hammer auf die Schlange (Ken-
ning: Wolfsbruder; ihr Bruder ist der Fenrirwolf) ein. Es findet ein
Kampf statt zwischen Plasma und Asgard, verkörpert in den Gestalten
Thors und der Midgardschlange. Wie üblich muss Asgard gewinnen,
der Ausgang ist von der Gesetzmässigkeit der Dimensionen stets vor-
bestimmt.

25
Fluten wallten,
Felsen hallten,
die ganze alte
Erde bebte;

drauf in die See


sank dieser Fisch.

In dieser Strophe fehlen Zeilen, die aber von der Snorri-Edda ergänzt
werden. Aus diesen geht hervor, dass der Riese Hymir die Angel-
schnur im letzten Augenblick zerschneidet und so T h o r um seine
Beute bringt. Gleichzeitig rettet er sich selbst aber auch, denn sonst
wäre seine Welt untergegangen. Bei Snorri haut ihm T h o r die Faust
an die Schläfe und schleudert ihn über Bord. Hier aber bleibt er am
Leben. Die Midgardschlange taucht ab, doch: Da wallen nicht nur
Fluten und Felsen hallen, auch die Materiedimension, die Erde, wird
in Mitleidenschaft gezogen, denn Materie beruht und schwimmt
gewissermaßen auf dem Plasma, müsste also logischerweise mit unter-
gehen. Die Tötung der Midgardschlange erscheint unangemessen,
denn die Schlange repräsentiert das ganze Plasma; und da man sich
noch nicht dem Weltuntergang Ragnarök nähert, darf die Schlange
auch noch nicht sterben - das geschieht endgültig erst beim letzten Er-
eignis.
Die Schlange verwandelte sich später in den Drachen. Drachen be-
wachen die in die Gräber mitgegebenen Goldschätze, so die Sagen.
Alle Bewohner Hels werden auch als Drachen, Schlangen, Reptiloide
beschrieben.

266
26 28
Heim fuhr Hymir, Vor trat Weor,
nicht heiters Sinns; fasste den Steven,
nicht früher sprach hob das Bordross
der Freund Hrungnirs samt Bodenwasser;
er lenkte das Schiff schnell samt Rudern
dem Lande zu -: und Schöpfkelle
trug T h o r allein
27 zum Thursenhof
»Die halbe Arbeit den Brandungskeiler
nimm mir nun ab! durchs Bergholz hin.
Bring die Wale
zur Wohnung heim,
oder mach fest
den Flutwidder!«

Hymir ist keineswegs erfreut über das Gesehene und bittet Thor (als
Weor), die Wale zur Wohnung zu tragen und den Flutwidder, das
Boot, festzumachen. Und T h o r schnappt sich das Bordross, den Bran-
dungskeiler, wie es poetisch heißt, und trägt ihn zum Hof des Thursen.

Wettstreit Thor g e g e n Hymir

T h o r soll den Kessel des Hymir holen. Im Kessel befindet sich Plasma,
versinnbildlicht als Bier; Met ist daher ein irdischer Ableger des plas-
matischen Nektars. Plasma ist die Seele, so auch das Met, welches see-
lische Kraft gibt.

29 30
Noch immer stritt Das Glas ergriff
um der Arme Kraft der Gatte Sifs,
mit T h o r der Thurse, warf in Stücke
trotzigen Sinns; den Steinpfeiler,
der Recke sei schwach, sitzend schlug er
ob er rudern auch die Säulen durch;
kräftig könne, man holte es heil
der den Kelch nicht bräche. Hymir zurück.

267
Hymir prüft nun Thor. Er soll ein Glas, einen Steinpfeiler und Säulen
zerschlagen, doch beim Glas gelingt es ihm nicht, T h o r hat die Prü-
fung also nicht bestanden. Doch Hymirs Frau rettet ihn.

31 32
Bis Hymirs Hausfrau Der Böcke Gebieter
heilsamen Rat bog die Knie,
dem Gotte gab, tat an alle
den die Glänzende wusste: Asenstärke:
»Hau ihm aufs Haupt! heil blieb Hymirs
Härter ist es Helmsitz oben;
des trägen Jöten, es brach der runde
als jeder Kelch.« Berger des Weins.

Die Frau, wohl die Geliebte oder die Mutter Tyrs, rettet die Situation,
indem sie T h o r rät, den Glaskelch dem Jöten (Riesen) auf den Kopf zu
hauen.
Offenbar hatte Hymir den Kelch zwischen seine Knie geklemmt
und T h o r musste diese auseinanderbiegen, was wohl gelang, denn: »Es
brach der runde Berger des Weins«, der Kelch.

33 Hymir:
»Ein glänzend Gut
ging mir nun hin:
den Kelch seh ich
meinen Knien geraubt«;
so sprach Hymir:
»Sagen kann ich:
gebraut bist du,
mein Bier! nie mehr.

Hymir trauert seinem zerschlagenen Kelch oder Kessel nach: »Sagen


kann ich: gebraut bist du, mein Bier! nie mehr.« Damit erlischt Hymirs
Plasmaexistenz.

34
Bedingung sei
dies noch: ihr sollt
den Braubottich
bringen zum Hof!«

268
Zweimal zerrte
am Zuber Tyr;
beidemal stand
still der Kessel.

35
Modis Vater
fasst ihn am Rand,
hindurch schritt er
die Diele lang;
auf die Stirn stülpte
der Starke ihn:
an den Knöcheln klirrten
die Kesselringe.

Daraufhin sagt Hymir, der zwar geschlagen ist, aber doch eine letzte
Kraftprobe anstrebt, die Asen sollten versuchen, den Braukessel weg-
zutragen. Gelänge es nicht, hätte vielleicht der Riese gewonnen. Tyr
gelang es nicht, den Zuber vom Fleck zu bewegen, wohl aber Thor.

36 37
Sie fuhren nicht weit, Vom Nacken nahm er
da wandte den Blick nieder den Kessel;
Odins Erbe Mjöllnir schwang er,
noch einmal rückwärts: den mordgierigen,
aus Höhlen sah er und fällte alle
mit Hymir von Osten die Felswale.
vielköpfige
Volksschar kommen.

Die beiden Asen schleppten also den Braubottich weg, wurden jedoch
offenbar von Hymir und anderen Riesen verfolgt, wohl in der Absicht,
den Kessel zurückzuerobern. T h o r nimmt seinen Hammer und fällt
die Riesen, »die Felswale«. Und wieder hat er sein Ziel erreicht, Rie-
sen zu erschlagen, worin ja seine einzige Aufgabe besteht.

269
Thors Böcke

38
Sie fuhren nicht weit,
da fiel plötzlich
Hlorridis Bock
halbtot nieder:
dem Leitseilsläufer
lahmte ein Bein;
das war Lokis,
des Listigen Werk.

Auf der Heimfahrt begann Hlorridis (ein Beiname Thors, gedeutet als
Blitzflamme oder als Schwingen des Hammers), Thors Leitbock zu lah-
men, was als Werk Lokis hingestellt wird - aber warum? Diese Strophe
stammt vermutlich aus einer anderen Geschichte, in der es darum geht,
dass T h o r bei einem Bauern, einem Riesen, übernachtet und zum
Abendmahl seine beiden Böcke schlachten lässt, allerdings mit dem Hin-
weis aufzupassen und keine Knochen zu beschädigen, denn die Böcke
würden wieder lebendig werden. Doch der Sohn des Bauern spaltet ei-
nen Schenkelknochen, um das Mark zu essen. Am nächsten Morgen
schwingt Thor (Kenning: »der Böcke Gebieter«) seinen Hammer über
den Tieren, wodurch sie wieder auferstehen, aber einer lahmt.

39
Gehört habt ihr -
kann hiervon wohl
noch mehr melden
ein Märenkenner? -,
was T h o r als Lohn
vom Thursen nahm,
der beide Kinder
als Buße gab.

Als Rache und Strafe nimmt T h o r die beiden Kinder des Riesen mit,
die ihm fortan zu dienen haben.

40
Der Kräftige kam
zum Kreis der Götter

270
und hatte bei sich
Hymirs Kessel;
nun mögen die Asen
bei Agir Bier
wacker trinken
den Winter hindurch.

T h o r und Tyr kommen zurück zu den Asen; in Hymirs Kessel können


sie nun reichlich Bier brauen, sprich Plasma zu sich nehmen. Aber sind
Tyr und T h o r wirklich Asen? Asen trinken kein Plasma, sie nähren sich
vom Nektar Asgards. Auch Agir ist ein Riese, der Aspekt des Wässri-
gen. Also sitzen Riesen beisammen im Plasma und trinken Plasma. Ge-
nau gesagt nähren sie sich in einer seelischen Dimension von seeli-
schen Einbildungen. Und so darf auch die Eroberung des Kessels als
bloß vorgestellter Kampf verstanden werden, eine Folge der Begierden
dieser Dimension. Eine erfundene Landschaft ist das Plasma, eine un-
wirkliche Wrklichkeit, gestrickt aus den Kraftlinien unseres Denkens
und Fühlens und den Leidenschaften der Wesen dieser Zone. Wie-
derum werden uns mit dieser verwickelten Geschichte neue Seiten des
seelischen Daseins im Plasma vorgestellt, und das ist der hintergrün-
dige Sinn dieser Erzählung.

271
8. DAS SKIRNIRLIED:
Sehnsucht nach Hel

Freyr, der Sohn Njörds und Skadis, hatte sich dereinst auf Hlidskjalf,
»Aussichtsturm«, den Sitz Odins, gesetzt, von wo aus man über alle
Welten blicken kann. Da sah er in Riesenheim eine schöne Maid ge-
hen, und tiefe Schwermut ergriff ihn. Njörd und Skadi fordern den
Freund ihres Sohnes, Skirnir, auf, Freyr zur Seite zu stehen.

Hel als das Weibliche

1 Skirnir trat zu Freyr


Steh auf, Skirnir! in die Halle:
Eilend zur Zwiesprach
besuch unsern Sohn, 3
das zu erkunden, Antworte, Freyr,
warum der Kluge so ganz Asgards Heerwalt,
verzehrt ist vom Zorn! was ich wissen will:
warum sitzest du
2 Skimii-. im Saal, mein König,
Üble Antwort einsam immerdar?
wird mir der edle geben,
komm ich mit Fragen zu Freyr, 4 Freyr:
das zu erkunden, We sagt ich dir,
warum der Kluge so ganz Gesell, du junger,
verzehrt ist vom Zorn. meinen großen Gram?
Der Albenstrahl
leuchtet alle Tage,
doch nicht der Minne mein.

272
5 Skirnir:
Deine Minne Die Maid ist mir lieber,
wird so mächtig nicht sein, als ein Mädchen noch
dass du sie nicht künden kannst; je einem Jüngling war;
in unsrer Jugend von Asen und Alben
waren wir oft zusammen: nicht einer uns gönnt,
uns ziemt Verschlossenheit zusammen zu sein.
schlecht.

6 Freyr:
Gehen sah ich
in Gymirs Hof,
die ich minne, die Maid:
die Arme glänzten,
von ihnen strahlten
die Luft und das Land.

Freyr, der Ase, lebt in der Geistdimension Asgards. Wir wissen aber
auch, dass Freyr Wane war und in die Geistdimension erhoben wurde.
Von seinem Ursprung her ist er nicht wirklich Geist, sondern Riese.
Seine Eltern Njörd und Skadi sind dementsprechend Prinzipien des
Riesenlandes. Das müssen wir uns klar machen, bevor wir in diese Ge-
schichte eintauchen. Freyr schaute von der Geistdimension aus in die
Heidimension hinüber und erblickte dort ein wunderbares Weib, in das
er sich augenblicklich verliebte. Er hatte sich auf Odins Hochsitz Hlids-
kjalf gesetzt, von dem aus man alle Welten überblicken beziehungsweise
alle Welten sein kann. Hlidskjalf, der in Odins Götterwohnung Walas-
kjalf liegt, bedeutet »Gerüst über der (Tür-)Öffhung« oder »Aussichts-
turm, Wachturm«. Da Freyr im Grunde ein Wesen der Riesendimen-
sion ist, kann er sich auch in eine Riesin verlieben. Aber da er in die Welt
der Asen erhoben worden ist, kann er offenbar nicht ohne weiteres
hinüber nach Hel; Asen und Alben verhinderten dies, heißt es. Seine
besorgten Eltern schicken nun seinen Freund Skirnir, »den Strahlen-
den«, zu ihm. Skirnir darf als Emanation Freyrs verstanden werden.
Die wunderbare Maid, die Freyr in Gymirs »Meer-Hof« erspäht
hatte, ist dessen Tochter, die schöne Gerd, »die durch Einzäunung Ge-
schützte«. Gymir ist ein Synonym oder eine Emanation Ägirs, des
Meeres, des Wassers beziehungsweise des wässrigen Elementarzustan-
des der Heidimension. Gymir und seine Tochter sind Riesen, Heibe-
wohner, seelische Wesen. Die Maid wird als glänzend beschrieben; es

273
heißt, von ihren glänzenden Armen werden Luft und Land erleuchtet.
Licht, Strahlen, Glanz, Gold sind, wie wir wissen, Eigenschaften der
Heidimension. Diese strahlt ein besonderes Licht aus, das aber nicht
so glänzend ist wie das Licht der Geistdimension Asgard. Asen sind
strahlendere Gestalten als Alben.

Höllenfahrt

8 Skirnir: In Riesenheim traf Skirnir


Gib mir das Ross, einen Wächter. Er sprach:
zu durchreiten die düstre
verwunschne Waberlohe, 11
die Klinge auch, Sage, Hüter,
die kämpft von selbst der auf dem Hügel sitzt
wider der Riesen Reihn! und alle Wege bewacht,
wie der jungen Maid
9 Freyr: trotz der Meute Gymirs
Ich geb dir das Ross, Botschaft ich bringen kann!
zu durchreiten die düstre
verwunschne Waberlohe, 12 Der Wächter:
die Klinge auch, Bist zum Tode du bestimmt?
die kämpft von selbst, Oder starbst du schon,
gewann sie ein Wissender. der im Sattel hier sitzt?
Nie sollst du der glänzenden
Skirnir sattelt das Ross; Gymirstochter
er sprach zu ihm: bringen die Botschaft dein.

10
Finster ist's draußen:
zur Fahrt nenn ich's Zeit
über feuchtes Felsgebirg,
über der Riesen Reich;
uns beiden gelingt's,
oder uns beide packt
Gymir, der grimmstarke.

Freyr schickt nun seine Emanation Skirnir ins Riesenland der Seele,
damit dieser seiner Angebeteten die Botschaft seiner Liebe überbringe.
Das Verhältnis von Geist und Seele wird hier in eine Liebesgeschichte

274
verpackt. Ähnlich wird es im Fjölswinnlied geschildert, wo ein Mensch
in Hei eindringt, weil dort seine verstorbene Geliebte lebt. Das Thema
der Liebe ist sicherlich am besten geeignet, die Überwindung einer Di-
mension auszudrücken. Überwunden werden muss im Allgemeinen die
Materiedimension, um ins Seelische zu gelangen; hier jedoch muss
Freyr die höhere Geistdimension hinter sich lassen, um in die niedri-
gere Heidimension einzudringen.
Als Beförderungsmittel von einer in die andere Dimension wird ne-
ben Kähnen und Wagen meistens das Pferd benutzt. Pferde waren den
Germanen das fasslichste Fortbewegungsmittel; tatsächlich bewegte man
sich zwischen den Dimensionen mittels raum-zeit-transzendierender
Technologien, also mental-energetischer Konstruktionen fort. Die see-
lische Zone Hels wird beschrieben als »düstre verwunschne Waberlohe«.
Die Waberlohe ist ein Wall aus Flammen, eine Feuerlohe, die wabert wie
Wasser. Waberlohe ist eine treffende Beschreibung der halbmateriellen
Atmosphäre, der seelischen Energie. Die feinstoffliche Eigenart des See-
lischen ist wie Feuerwasser, wie ein Feuersee, ein Flammenmeer. Was-
ser und Feuer, Eis und Flammen, Kälte und Hitze sind die zwei polaren
Zustände der Energie. Auch im Fjölswinnlied und bei Brynhild muss der
Held, um zu seiner Geliebten vorzudringen, durch die Waberlohe
schreiten. Die Waberlohe ist düster, dunkel, was im Gegensatz zum
Glanz seiner Bewohner steht. In der Tat ist Hel ein helles Land, aber von
der Helligkeit des ersten Tageslichts, der Morgen- oder Abenddämme-
rung, nicht vom Leuchten der Sonne. Asgard dagegen ist strahlender
als glänzendes Sonnenlicht. Wir müssen also wissen, dass Hel hell und
Asgard wahrhaft leuchtend ist. Anhand der Lichtbeschaffenheit lässt
sich sehr leicht erkennen, welcher Dimension wir gegenüberstehen.
Als Waffe gegen die Riesen, also die seelischen Zustände Hels, be-
kommt Skirnir Freyrs selbstkämpfendes Schwert mit, das selbstständig
alles abwehrt und immer trifft und dem alle Riesen ohnmächtig ge-
genüberstehen.
Hel wird in Strophe 10 als feucht und bergig beschrieben. Das Bild
für die Halbmaterialität der energetischen Seele ist das Wasser, das ja
zwischen Materie und Stofflosigkeit steht. Den Hinweis, dass Hel ein
Bergland ist, finden wir oft. Riesen sind nicht nur riesig wie die Berge,
es gibt auch die eigentümliche Gruppe der Bergriesen. Die hohen
Berge verweisen auf das Riesige, Hohe, Erhabene, aber im mentalen,
nicht im körperlichen Sinne.
In Hel befinden sich alle gewöhnlichen Toten, die nicht in einer
Schlacht gefallen und nach Walhall eingegangen sind. Hel herrscht voller

275
Hass in Heiheim, wo sie von Zäunen und Gattern, dem Heigrind und
Heigatter, eingezwängt lebt. Um von Midgard aus zu ihr zu gelangen,
muss man neun Nächte auf dem Helweg reiten, dabei ist der Grenzfluss
Gjöll zu überqueren, die Wächterin Modgud und der Höllenwachhund
Garm oder die Waberlohe, die wabernde Feuerwand, sind zu überwin-
den. Wer mit dem Pferd über den Gjöll und das Heigatter einfach hin-
wegsetzt, kann Hel besuchen und von dort auch wieder zurückkehren.
Skirnir trifft an der Grenze auf den Wächter Hels. Dieser fragt ihn
zu Recht, ob er tot sei, denn nur Tote, also materielose Wesen, können
nach Hel einreisen. Skirnir aber ist ein Geistwesen beziehungsweise als
Emanation Freyrs selbst Heiwesen und kann daher problemlos nach
Hel eintreten.

13 Skirnir:
Besseres kennt
als bloßes Klagen,
wen zum Ziel es zieht:
auf einen Tag
ist mein Alter bestimmt
und meines Lebens Lauf.

Skirnir sagt, er habe keinen Grund zu klagen, sein Alter sei festgelegt.

14 Gerd: 16 Gerd:
Welch ein tosend Getöse Heiß ihn eintreten
muss ich tosen hören in unsern Saal
vor dem Hause hier? und trinken trefflichen Trank!
Der Boden zittert; Doch bebe ich,
es bebt davon dass meines Bruders T ö t e r
der ganze Gymirshof. vor der Halle hier hält.

15 Die Dienerin: Da trat Skirnir ein.


Hier steht ein Mann,
gestiegen vom Pferd, 17 Gerd:
und lässt grasen das Grauross: Bist du einer der Alben
ein Schwert hat er, oder der Asensöhne
ein schmales, schmuckes; oder der weisen Wanen?
für beherzt halt ich ihn. Warum rittest du allein
durchs rasende Feuer,
unsern Saal zu sehn?

276
18 Skimir:
Bin keiner der Alben
noch der Asensöhne
noch der weisen Wanen;
dennoch ritt ich allein
durchs rasende Feuer,
euern Saal zu sehn.

Skirnir betritt den Saal oder Hof, das heißt das mentale Feld der Rie-
sin Gerd, was sich als Getöse und als Zittern des Bodens, sprich des Ur-
stoffs, bemerkbar macht. Der ganze Gymirhof, Hel als Ganzes, erzit-
tert, wenn ein Ase, ein Geistprinzip, darin eindringt. Die Seele ist
schwach gegenüber dem Geist, so wie der Körper schwach gegenüber
seelischen Regungen ist. In Strophe 16 erwähnt Gerd einen trefflichen
Trank, wohl Met, das heißt die Qualität des Plasmas schlechthin, das
Seelische. Doch sie hat Angst und ahnt, dass ihr Bruder von dem Gast
getötet werden wird.
Skirnir tritt ein und Gerd befragt ihn, warum er allein durchs ra-
sende Feuer der Waberlohe ritt. Hel wird hier als Feuerzustand er-
wähnt, womit aber nicht materielles Feuer gemeint ist, sondern das wie
Flüssigkeit wabernde »Superfeuer« Muspellheims.

Brautwerbung mit Unsterblichkeitsäpfeln


und Ewigkeitsring

19 21 Skirnir:
Der Äpfel elf Ich biete den Ring dir,
hab ich hier, eitel golden, der verbrannt einst ward
die will ich dir geben, Gerd, mit dem jungen Odinssohn:
Frieden zu kaufen, ebenschwere acht
dass du Freyr nennest träufen ab davon
im Leben den liebsten dir. jede neunte Nacht.

20 Gerd: 22 Gerd:
Die elf Äpfel Nicht brauch ich den Ring,
werd ich annehmen nie ob auch verbrannt er ward
einem Werber zu Wunsch; mit dem jungen Odinssohn!
bei Njörds Sohne Nicht fehlt mir Gold
werd ich nimmer hausen, im Gymirs Hof,
so lange mein Leben währt. da mit Schätzen ich schalten kann.

277
Anfangs will Skirnir sich nicht zu erkennen geben, doch in Strophe 19
gesteht er, dass er eine Botschaft vom Gott Freyr überbringt. Er wirbt
nun mit Geschenken um Gerd. Zunächst bietet er elf goldene Äpfel an.
Warum elf? Elf bedeutet eigentlich, »eins ist übrig«. Handelt es sich
um die Äpfel der Unsterblichkeit der Göttin Idun, »die Verjüngen-
den«, welche die Götter essen müssen, um sich vor Alter zu schützen?
Oder um vergleichbare Äpfel? Sie sind golden, weil in Hel alles gold-
glänzend ist. N u r in Hel, wohlgemerkt, benötigen die Götter die Äp-
fel, nicht in Asgard. Gerd bekommt also als Geschenk die Unsterb-
lichkeit, ewiges Leben in Hel - doch hat sie das nicht ohnehin?
Auch den Ring Draupnir bietet Skirnir an. Damit hat es folgende
Bewandtnis. Der Ring Draupnir ist Odins kostbarer goldener Ring,
der von den Zwergen Sindri und Brokk geschmiedet wurde. Jede neun-
te Nacht träufeln aus ihm acht ebensolche Ringe hervor. Einst legte
Odin diesen Ring auf den Scheiterhaufen des verstorbenen Balder,
aber er verbrannte nicht. Balder wurde in seinem Schiff Hringhorni
verbrannt, auf seiner Brust lag Odins Ring. Später sah Hermod, wie
Balder den Ring in Hel am Finger trug, er sandte den Ring aber aus
dem Totenreich zurück, das heißt Hermod, Odins Sohn, brachte ihn
zurück. Die Symbolik des sich selbst vermehrenden Ringes ist klar. Der
Ring ist ein Wahrzeichen Hels. Hel als Urstoff ist die Dimension des

Der Ring Draupnir

Draupnir wurde Der Ring als Symbol


geschmiedet von Odins im Plasma: d a s
den Zwergen Sindri Anfangs- und Endlose,
und Brokk Kreis der Unendlichkeit,
Prinzip der ewigen
Wiederkehr

278
Reichtums, des Goldes, der Vermehrung. Der unendliche Kreis sym-
bolisiert unendliche Vermehrung des Reichtums. Ein Ring ist alle
Ringe. Dieser Ring ist die Seele mit ihrer Vorstellungs- und Wunsch-
kraft. Er ist das Unendliche und Zeitlose, die ewige Wiederholung des
Gleichen. Der Ring verbindet im Kreis alles zur Einheit. Dieser Ring
ist Odin in seiner Gestalt als das Seelische, als Hel.

Schimpf- und Schmachrede: Der Hass Hels

23 Skimir: 26
Schaust du dieses Schwert, Mit dem Zauberreis schlag ich
das schmale, schmucke, dich;
das ich hier halt in der Hand? zähmen werd ich dich
Das Haupt hau ich nach meinem Willen, Weib.
dir vom Hals ab Dort sollst du sein,
wenn du dich versöhnt wo den Söhnen der Menschen
nicht sagst. stets verborgen du bleibst.

24 Gerd: 27
Zwang zu dulden, Auf Adlers Hügel
geziemt mir nimmer sollst fortan du sitzen,
einem Werber zu Wunsch; schauen aus der Welt,
doch glaub ich, schielen nach der Hel;
wenn dich Gymir findet, zum Ekel sei dir Speise,
kühner Krieger, mehr als es Erdensöhnen
dass es zum Kampf euch treibt. die schillernde Schlange ist!

25 Skirnir:
Schaust du dieses Schwert,
das schmale, schmucke,
das ich hier halt in der Hand?
Durch seine Schneide
soll sinken der Riese,
wird dein Vater gefällt.

In Strophe 23 droht Skirnir, Gerd das Haupt abzuschlagen, wenn sie


nicht zu Freyr komme. Sie dagegen droht in 24, ihr Vater Gymir werde
Skirnir töten.

279
N u n beginnt eine unglaubliche Schmäh- und Drohrede. Skirnir be-
schwört alle Pein und alle Schmach, denen Gerd ausgesetzt sein werde,
wenn sie sich nicht Freyrs Werbung beuge. In Strophe 27 sagt er, sie
werde auf Adlers Hügel sitzen, ein Kenning für die Felsspitze, womit
gemeint ist, sie werde dort ganz isoliert sein und könne dann Hel kaum,
also nur von Ferne erblicken.

28 31
Zum Scheusal werde, Bei dreihäuptigen Thursen
schleichst du hinaus! sollst du dauernd hausen
Anstiere Hrimnir dich; oder missen den Mann.
anstarre jeder dich! Begierde ergreife dich,
Werd weiter bekannt Sehnsucht versenge dich!
als der Wächter der Götter! Der Distel sei gleich,
Aus dem Gitter gaffe du! die zerdrückt wurde
am Ende der Erntezeit!
29
Wahnsinn und Neid, 32
Wirrnis und N o t Ich ging zum Wald
mehre Tränen und Trübsal dir! und zum grünen Baum,
Setz dich nieder, zu finden den Zauberzweig:
da ich dir sagen will ich fand den Zauberzweig.
hartes Herzeleid
und zwiefachen Zwang! 33
Grimm ist dir Odin,
30 grimm dir der Asenfürst,
Tag für Tag zum Feind wird dir Freyr:
sollen dich Trolle quälen ruchlose Maid,
in der Riesen Reich. die du bereitet hast
Tag für Tag dir der Himmlischen Hass.
sollst du zur Thursenhalle
verhungert hinschleichen,
verhungert hinkriechen;
mit Leid statt Lust
sollst du belohnt werden,
verzweifelt in Zähren gehen.

280
34 36
Höret, Riesen, Einen Thursen ritz ich
höret, Reifthursen, und der Runen drei:
Söhne Suttungs, Argheit und Unrast
Sippen der Asen, und Irresein;
wie ich verbiete, so ritz ich's ab,
wie ich verbanne wie ich's ritze ein,
Mannesliebe der Maid, wenn es dessen bedarf.
Mannesgenuss der Maid!

35
Hrimgrimnir heißt der Thurse,
der dich haben soll
an des Totenreichs Tor;
auf Waldwurzeln
werden dort Trolle
dir geben Geißenharn;
edlerer Trank
sei dir immer versagt
trotz deines Willens, Weib,
nach meinem Willen, Weib!

Die Drohrede setzt sich ins Unermessliche fort. In Strophe 32 beginnt


Skirnir mit dem Runenzauber. Wenn man in den Zweig eines saftfri-
schen Baumes Runen ritzt, hat man einen Zauber gegen den Gegner.
In Strophe 36 werden vier Zauberrunen erwähnt, ein Thurse (Riese)
sowie Arglist, Unrast und Irresein.
Hel ist die Dimension seelischer Unruhe, hierher gehört auch die
Liebe. Wer liebt, bringt die Gefühle zum Wallen, was sich als Bewe-
gung des Urstoffs kundtut.

Die Bezwingung der Riesin Gerd

37 Gerd: 38 Skirnir:
Heil sei dir nun, Jüngling! Vollen Bescheid
hebe den Eiskelch, auf die Frage begehr ich,
mit Firnmet gefüllt! eh von hinnen ich heimreite,
Nicht hätt ich geahnt, wann zum Stelldichein
dass ich einmal sollte du dich Njörds starkem
einem Wanen gewogen sein. Sohne gesellen willst.

281
39 Gerd:
Barri heißt er,
den wir beide kennen,
der Hag der Heimlichkeit:
nach neun Nächten
wird dort Njörds Sohne
Gunst schenken Gerd.

Nach der Gewalt dieser Drohrede beugt sich Gerd wider Erwarten schnell
und nennt einen Ort, Barri, an dem sie sich mit Freyr treffen werde.
»Barri« heißt »Hag«, »Kornfeld«, »Nadelwald« oder »Knospenaue«,
offenbar ein Ort der Fruchtbarkeit. Dort werde sie sich nach neun
Nächten - der mythischen Zahl aus drei mal drei - dem Gott hingeben.

Skimir ritt heim; Freyr stand 42 Freyr:


draußen und fragte: Lang ist die Nacht;
lang sind zwei;
40 wie erdulde ich drei?
Sag mir, Skirnir, Minder meint ich
eh du den Sattel abnimmst den Monat oft lang
und setzest vorwärts den Fuß: als des Harrens Halbnacht.
was gewannst du
meinem Wunsch und deinem
in der Riesen Reich?

41 Skirnir:
Barri heißt er,
den wir beide kennen,
der Hag der Heimlichkeit:
nach neun Nächten
wird dort Njörds Sohne
Gunst schenken Gerd.

Das Lied handelt von einer Brautwerbung, die aber lediglich dazu
dient, einige Eigenarten Hels zu veranschaulichen. W i r haben hier den
zeitlosen Orpheusmythos: Eine Frau im Totenreich, in Hel, wird
sehnsüchtig angebetet, und der Held muss alle Schwierigkeiten des Di-
mensionssprungs überwinden, um die Geliebte zu erobern. » W e
treffe ich meine verstorbene Geliebte wieder«, ist ein Urmotiv und U r -
wunsch des Menschen. Hier aber kehrt ein Gott und Geistprinzip in

282
Hel ein, was viel einfacher ist, als wenn ein Mensch versuchen würde,
seine Seele vom Körper abzuspalten, um nach Hel zu gelangen; ein
Gottprinzip muss sich eine Seele zulegen, um eine Seelenfrau zu er-
obern. In der Tat legt sich Skirnir in Gestalt des Pferds und des magi-
schen Seelenschwerts, das von selbst, also seelisch gesteuert kämpft
(womit auf die seelischen Kräfte Hels hingewiesen wird), eine Seele zu.
Aber diese Erörterung ist an sich hinfällig, denn Freyr ist selbst Riese
- allerdings zum Gott erhoben - und dürfte keine Schwierigkeiten ha-
ben, die Gunst der Riesin Gerd zu erlangen. Das Feld Barri, wo sie sich
treffen, ist als die Plasmadimension schlechthin zu betrachten. Und in
der Tat ist das Plasma eine »Knospenaue«, ein Feld der Fruchtbarkeit,
der seelischen wohlgemerkt.

283
9. LOKIS ZANKREDEN:
Die Prinzipien der Seele

Trinkgelage in Hel

Die Handlung spielt im wässrigen Reich des Meerriesen Agir in Hel.


Die Asen versammeln sich und trinken das einzige, was es dort gibt:
Bier, die Atmosphäre dieser Dimension. Wie zu erwarten, stößt Loki,
die Verkörperung dieser Dimension, zu ihnen. Als Trickster, Schelm
und Lügenbold ist er die Verwirrung schlechthin, das Seelische-Schil-
lernde; genau das bringt er nun in die hehre Götterversammlung ein.
Und es kann nicht anders sein: Wenn man sich nach Hel begibt, wird
man vom Lug und Trug des Seelischen überrollt. Andererseits haben
alle Asen, sofern sie sich in Hel befinden, Dreck am Stecken - insbe-
sondere das Fremdgehen und Töten, also Liebe und Hass -, und all das
wirft ihnen Loki nun zu Recht vor. Es gilt: Wer in Hel ist, wird von Hel
verfährt, beschmutzt sich gefühlsmäßig.

Götter und Göttinnen sitzen beim Trunk in der Halle des Meerriesen
Agir, im Plasma. An dieser Friedensstätte darf man sich an niemand
vergreifen. N u r T h o r und Loki fehlen. Da kommt Loki an und trifft
vor der T ü r den Koch des Riesen. Er spricht ihn an:

1 3 Loki:
Sag mir, Eldir, Eintreten will ich
eh du einen Schritt in Agirs Halle,
setzest vorwärts den Fuß: das Saalfest zu sehn;
was führen hier innen H o h n und Hass
für Algespräche bring ich den hohen Göttern
die Söhne der Sieggötter? und mische Bosheit ins Bier.

2 Eldir: 4 Eldir:
Von ihren Schwertern W s s e , wenn du eintrittst
und von Schlachtmut reden in Agirs Halle,
die Söhne der Sieggötter; das Saalfest zu sehn,
die Asen und Alben, spritzt Gift und Geifer
die hier innen sind, auf die Götter Loki,
sprechen alle arg von dir. an ihm wischt man's ab.

284
5 Loki:
Wisse, Eldir,
willst im Wortstreite
du dich messen mit mir,
arm werd ich nicht
an Antworten sein,
wenn du schnell nicht schweigst.

Verwirrung der Asen in Hel

Loki betritt nun den Saal und legt damit über die Gäste das ganze Pan-
optikum der mentalen Streitigkeiten der Seele. Die Asen werden gleich
davon erfasst, und es baut sich eine von Hass und Zorn geschwängerte
Atmosphäre auf, Hölle pur. Die Götter sind in Lokis Hand, weil sie
sich in seiner Dimension befinden und seinen Gesetzmäßigkeiten un-
terworfen sind.

Darauf trat Loki in die Halle 8 Bragi:


ein und sprach: Sitz und Stätte
werden im Saal nie
6 die Asen dir einräumen;
Durstig komm ich denn die Asen wissen,
zu dieser Halle wen sie von allen Wesen
gar weiten Weg, zum Gelage laden sollen.
die Asen zu bitten,
ob mir einer des Mets 9 Loki:
trefflichen Trank gebe. Gedenke, Odin,
dass wir in alten Tagen
7 beide das Blut mischten!
Was verstummt ihr so, Bier genießen
stolze Götter? wolltest du nimmermehr,
Geruht zu reden doch! wär's nicht uns beiden gebracht.
Sitz und Stätte
gönnt im Saale mir 10 Odin:
oder weiset mich weg! Steh auf, Widar!
Heiß des Wölfs Vater
sich setzen im Saal!
Nie möge Loki
mit Lästerung begrüßen
die Asen im Ägirsaal.

285
Dichtergott Bragi

Bragi, »Dichtung« oder »Häupding, Fürst«, gilt als Sohn Odins und
der Frigg und ist der Gatte Iduns, die die goldenen Äpfel der U n -
sterblichkeit für die Götter verwahrt. Er ist der Gott der Dichtkunst
und der Skalden und hat das Dichtermet erworben. Er ist ein Lieder-
schmied und in seine Zunge sind Runen eingeritzt. Vielleicht leitet sich
sein Name ab von bragr, »Bester, Vornehmster«. Weil er von Iduns Äp-
feln isst, altert er nicht.

Da stand Widar auf und 14 Bragi:


schenkte Loki Bier ein; aber Wisse, wär ich draußen,
ehe dieser trank, entbot er statt dass drinnen ich
den Asen den Gruß: hier sitze im Saal,
dein Haupt hielte
11 in der Hand ich bald;
Heil euch, Asen! das wär deiner Lüge Lohn.
Heil euch, Asinnen,
allen gnädigen Göttern - 15 Loki:
außer dem einen Asen, Auf dem Sitz bist du tapfer,
der dort innen sitzt, doch die Tat wirst du meiden,
Bragi, auf der Bank! Bragi, du Bankzierde!
Komm zum Kampf,
12 Bragi: wenn so kühn du bist!
Ring und Ross Der Zaglose zaudert nicht.
aus meinen Reichtümern,
ein Schwert dazu schenk ich dir;
mit Unbill lohne
den Asen nimmer!
reize die Rater nicht!

13 Loki:
Entbehren, Bragi,
wirst du beides stets,
Ringe und Ross;
von den Asen und Alben,
die hier innen sind,
bist du der feigste im Gefecht
und der scheueste vorm Schuss.

286
Idun, Bewahrerin der Unsterblichkeitsäpfel

Idun, »die Verjüngende, Erneuernde«, ist Bragis Frau. Ihre Hauptauf-


gabe ist es, wie gesagt, die Apfel der Götter aufzubewahren, durch de-
ren Verzehr sich diese vor dem Altern schützen.

16 Idun: 18 Idun:
Ich bitte dich, Bragi, Mit Lästerworten
damit die Bande nicht reißen begrüß ich Loki nicht
zwischen wahren und in der Halle hier:
Wunschsöhnen, ich besänftige Bragi,
dass du Loki nicht den bierseligen,
mit Lästerung begrüßest da ich Hader verhüten will.
in der Halle hier.

17 Loki:
Schweig doch, Idun!
Scheinst du doch der Frauen
manntollste mir,
seit des Bruders T ö t e r
du mit beiden Armen,
den schneeweißen, umschlangst.

Strophe 16 weist auf etwas Wichtiges hin: Es wird unterschieden zwi-


schen wahren Söhnen Odins und seinen Wunschsöhnen. Seine wahren
Söhne sind Bragi, Balder und Höd, die Wunschsöhne sind wohl die
Einherjer, die Gefallenen für Walhall, die Odin auswählt.
In Strophe 17 bezichtigt Loki Idun des Seitensprungs, doch besit-
zen wir darüber keine Geschichte. Ist mit dem Hinweis »des Bruders
Töter« etwa Höd(ur) gemeint, der blinde Sohn Odins, der seinen Bru-
der Balder durch Lokis List unwissentlich tötete?

287
Gefjon, Schutzgöttin aller Jungfrauen

Gefjon, »die Gebende«, nimmt alle verstorbenen Jungfauen bei sich


auf, ähnlich wie Odin die Helden nach Walhall und Freyja oder Frigg
die verstorbenen Frauen nach Folkwang. Vermutlich ist sie eine Ver-
dopplung der Freyja, denn wie diese besitzt sie einen Halsschmuck,
den sie als Geschenk für den Beischlaf von vier Zwergen erhielt.
Gefjon ist wohl ein anderer Name für Freyja oder Frigg, vielleicht
abgeleitet von gefn, angelsächsisch geofon, altsächsisch geban, »Meer«;
Gefjon wäre damit als Seegöttin oder Wanin (Wanen hier als »die See-
götter«) zu verstehen. Gefjon ist Odins Vertraute; dies erfahren wir,
wenn Odin in »Lokis Zankreden« über sie sagt: »Denn der Welt
Schicksal, mein ich, weiß sie alles ebenso wie ich.«

19 Geßon: 20 Loki:
Warum müsst ihr Asen Schweig doch, Gefjon!
hier innen euch beide Den Göttern erzähl ich's,
mit Scheltworten schmähn! wer dich zur Liebe verlockt:
Das ist Lokis Art, Schmuck schenkte
dass er ein Lästerer ist dir der schöne Knabe;
und die Himmlischen hasst. mit den Schenkeln umschlangst
du ihn.

Wen umschlang Gefjon mit ihren Schenkeln? Eine Geschichte dazu ist
uns nicht überliefert.

Odin, der Zauberer

Zu den folgenden Vorwürfen Lokis an Odin kann nichts gesagt wer-


den, da keine Geschichten dazu bekannt sind.

21 Odin: 22 Loki:
Wirr bist du, Loki, Schweig doch, Odin!
und wahnbetört, Gar schlecht verteiltest du
da du Gefjons Groll erweckst: zwischen Kriegern das
denn der Welt Schicksal, Kampfeslos:
mein ich, weiß sie alles gabst du doch oft,
ebenso wie ich. dem du nicht geben solltest,
dem Feigeren Erfolg.

288
23 Odin: 24 Loki:
Wisse, wenn ich gab, Doch von dir erzählt man,
dem ich nicht geben sollte, dass du gezaubert hast
dem Feigeren Erfolg, und zu Samsey Seidwerk triebst:
acht Winter in Zauberers Gestalt
warst unter der Erde du zogst du durchs Volk;
als Melkerin und Magd, das dünkt mich des Argen Art.
da hast du Buben geboren,
das dünkt mich des Argen Art.

Loki soll nach Strophe 2 3 acht Winter als Melkerin unter der Erde ge-
lebt und Buben geboren haben. Dies bezieht sich auf eine unbekannte
oder verloren gegangene Sage. Loki kann sich in alles verwandeln,
eben auch in ein Weib. Hier wird angespielt auf Lokis Rolle als Schöp-
fer der Menschheit. »Unter der Erde« mag sich auf das Unter-Irdische
ebenso wie auf die Unterwelt des Plasmas beziehen; dort schuf er die
Rohform der Menschen. Menschen stammen aus dem Plasma ab, das
ist eine uralte Überlieferung bei vielen Kulturen.
Die Verehrung Odins wanderte von Süden nach Norden und soll
gegen 500 Skandinavien erobert haben. Noch in späterer Zeit er-
scheint den Skandinaviern Odin als Sachsengott. Odin ist also der Al-
lerhöchste eines Volkes.
Odin wandelt häufig seine Gestalt, er ist vielgestaltig, veränderlich
und verkleidet sich gern. Er ist einäugig - Symbol seiner Sonnenhaf-
tigkeit - und trägt einen Schlapphut, damit man ihn nicht erkennt. Er
gilt als Gott der Gehenkten, weil er sich in den Weltenbaum gehenkt
hatte. Er wurde runenkundig, als er neun Nächte im Weltenbaum
hing.
Sein bevorzugtes Fortbewegungsmittel ist sein schnelles Ross Slei-
pnir. Zwei Wölfe, Geri und Freki, »Gierig« und »Gefräßig«, beglei-
ten ihn nach Walhall, um dort die Toten zu fressen. Zwei Raben sitzen
auf seinen Schultern, Hugin und Munin, Gedanke und Gedächtnis, sie
beobachten die Welt und geben Odin über alles Bericht. Er besitzt ei-
nen Speer, Gungnir, der immer trifft, und den Ring Draupnir. Seine
Gemahlin ist Frigg.

289
Liebesgöttin Frigg

25 Frigg: 26 Loki:
Euer einstig Schicksal Schweig doch, Frigg!
ließet den andern ihr Du bist des Fjörgyns Tochter
besser verborgen sein, und warst lüstern nach Liebe stets:
was vor Urzeiten We und Wili
ihr zwei Asen triebt - hast du, Widrirs Gattin,
nicht soll man Altes beide an die Brust gedrückt.
aufrühren.

Widrir, »der Wetterer«, ist ein Beiname Odins. We, »Heiligkeit«, und
Wili, »Wille«, sind die Brüder Odins, mit ihnen soll Frigg, seine Ge-
mahlin, Verkehr gehabt haben, was aber nicht weiter schlimm ist, bil-
den doch alle drei eine kosmologische Einheit.

27 Frigg: 28 Loki:
Wisse, säße mir ein Sohn Du willst es, Frigg,
im Saale Agirs dass ich weiter noch
auf der Bank, ein Balder- Hohnreden halten soll:
gleicher, mein Werk war's,
nicht kämst du hinaus dass du nach Walhall reiten
von den Kindern der Asen, den Sohn nicht mehr siehst.
man böte dir Keckem Kampf.

In der letzten Strophe spielt Loki auf seine größte Schandtat an. Er
hatte Balders blinden Bruder Hödur angestiftet, mit einem Mistelpfeil
auf den Bruder zu schießen, der diesen dann auch tödlich traf. Daher
musste Frigg ins Totenreich nach Walhall reiten. Andererseits kann
der Tod eines Gottes unmöglich mit einem Abstieg nach Hel verbun-
den sein. N u r Menschen gelangen nach Hel, Götter sterben nicht. Ich
habe diesen W d e r s p r u c h gelöst, indem ich den Schluss zog, dass
Balder gar kein Ase, sondern ein Heiprinzip ist. Er gehört nach Hel,
darauf will die Geschichte hinweisen. Balder als Lichtgott wäre dann
das Licht Hels. Da wir aber wenig über Balder wissen, lässt sich nichts
Genaues behaupten.

290
Liebesgöttin Freyja

29 Freyja: 31 Freyja:
Von Sinnen bist du, Loki, Bös ist deine Zunge;
da du selbst erzählst doch bald, mein ich, wirst du
deine schlimmen Schandtaten: dir Unheil anschwatzen:
kund ist Frigg grimm sind dir die Asen
das künftige all, und die Asinnen;
wenn sie's auch selbst nicht du wirst übel abziehen.
sagt.
32 Loki:
30 Loki: Schweig doch, Freyja!
Schweig doch, Freyja! Eine Frevlerin bist du
Zuviel von dir weiß ich, und mit Argem angefüllt:
kein Fehl ist dir fremd: da beim Bruder dich ertappten
mit den Asen und Alben die trauten Gebieter,
hast du allen gebuhlt, da entwich dir wohl ein Wind.
die im Saal hier sind.

Loki wirft Freyja ihre vielen erotischen Abenteuer vor, insbesondere


das Verhältnis zu ihrem Bruder Freyr. Doch erwartet man nichts an-
deres, entstammen beide doch einer Inzestehe. Freyja hatte zudem Be-
ziehungen zu anderen Asen und zu vier Zwergen, außerdem wird sie
von etlichen Riesen begehrt. All das schadet jedoch ihrem Ruf als Lie-
besgöttin wenig, eher bestätigt es diesen, denn: Kann eine Liebesgöt-
tin anderes tun als lieben? Dass sie mit Riesen und Zwergen Bezie-
hungen pflegen kann, verweist darauf, dass sie von gleicher Natur ist
wie diese. Freyja ist in Wirklichkeit eine Riesin aus Hel; darauf ver-
weisen bereits ihre Eltern: Njörd und seine Schwester sind Riesen-
prinzipien. Freyjas Bruder Freyr schwingt das leuchtende Schwert, sie
trägt den leuchtenden Brisingenschmuck. Einige Interpreten meinen,
die Geschwister stünden deshalb für die strahlende Sonne. Mir scheint
es eher auf Hel zu verweisen. Ein Ebenbild der Freyja ist die Menglöd
aus dem Fjölswinnlied, die gleichfalls ein Halsband besitzt. Freyja gilt
auch als Gattin Odins, die beiden teilen sich die Gefallenen je zur
Hälfte.
Die Geschichte, auf die Strophe 32 anspielt, ist wohl verloren ge-
gangen.

291
Meergott Njörd

Njörd ist ein Prinzip Hels, des wässrigen Elementarzustands, und wird
daher als Gott der Schifffahrt und des Meeres verehrt. Dass ein Plas-
maprinzip in einer materiellen Gestalt wie hier als Meer Verehrung
findet, kennen alle Religionen. Njörd hat mit dem materiellen Ozean
nichts zu tun, das physische Meer ist lediglich mikrokosmisch-materi-
elles Abbild des superflüssigen plasmatischen Urmeeres.

33 Njörd: 35 Njörd:
Wenig macht's, Der Gewinn ward mir,
ob ein Weib einen Mann, da man weit mich sandte
Buhlen oder beides wählt; als Geisel fürs Götterreich:
doch schmählich ist's, da zeugte ich den Sohn,
dass der Schamlose herkam, ihm zürnt keiner,
der Bastarde gebar. er ist der Himmlischen Hort.

34 Loki: 36 Loki:
Schweig doch, Njörd! H ö r auf, Njörd!
Geschickt warst du ostwärts Den Ubermut lass!
als Geisel fürs Götterreich; Heute verhehl ich's nicht:
in den Mund machten mit deiner Schwester
dir die Mädchen Hymirs zeugtest du diesen Sohn,
und nahmen zum Nachttopf wie es zu erwarten war.
dich.

Nach dem Krieg der Wanen gegen die Asen sandten die Wanen Njörd
als Geisel nach Asgard. Hier aber ist von einer anderen uns unbekann-
ten Geschichte die Rede, nach der Njörd offenbar als Geisel im Rie-
senland beim Riesen Hymir diente. In Strophe 35 wird ausdrücklich
gesagt, er diente als Geisel fürs Götterreich. Dort zeugte er mit seiner
Schwester Skadi, »Schatten, Schaden«, die offenbar auch als Geisel
diente, einen Sohn: Freyr. Die Kinder Freyr und Freyja gingen offen-
bar aus einer Inzestehe hervor. Njörd kann auch als doppelgeschlecht-
liche Fruchtbarkeitsgottheit verstanden werden, als das Plasma selbst,
aus dem alles Materielle entsteht. Seine Schwester ist nur eine Ver-
dopplung seiner selbst, und so zeugte er aus sich selbst die Fruchtbar-
keitsgötter Freyr und Freyja, die ebenfalls nur zwei Seiten des Glei-
chen sind. Loki klagt Njörd an, mit seiner Schwester einen Sohn
gezeugt zu haben. Doch dies ist für einen zweigeschlechtlichen Gott

292
kein Vorwurf, sondern eine Selbstverständlichkeit, nichts anderes ist
von ihm zu erwarten. Ebenso wie von der Liebesgöttin Frey ja nichts
anderes als Liebestechtelmechtel zu erwarten sind.
In Lokis Zankreden wird im Grunde gar nicht gezankt, sondern wie
üblich nur Wissenswertes in der Form menschlicher Auseinanderset-
zung dargestellt, um es für die Leser oder Zuhörer spannender zu ma-
chen. Die plasmatisch-seelischen Prinzipien werden im Rahmen der
Zankreden dargestellt als Gesetze der Natur und der Seele - und in
Agirs Saal befinden wir uns im Seelischen, inmitten mentaler Natur-
gesetze. Die unglaubliche Aussage der Edda ist, dass die Materie und
die Menschen hervorgehen aus Hel. Und zwar durch die Aufsplitte-
rung des Plasmas in fünf Elementarzustände, deren Mischung zu den
unterschiedlichen Formen in unserer Welt führt.
Bedeutsamerweise galt Njörd später als Herrscher über die Schwe-
den - sei es nun als plasmatischer Fruchtbarkeitsgott oder als realer
Kulturheroe und erster König.

Rechtsgott Tyr

Tyr (vielleicht zu übersetzen als »Götter«) gilt als Sohn Odins und der
Frigg. Seine Hand wurde vom Fenrirwolf abgebissen, als er sie ihm als
Unterpfand ins Maul legte. Beim Ragnarök kämpft er in Gestalt des
Heihundes Garm erneut gegen Fenrir, wobei sie sich gegenseitig tö-
ten. Da Fenrir und Garm für Hel stehen oder für Loki, ist Tyr der Ase,
der den Kampf gegen die Plasmadimension am schärfsten ausdrückt,
er ist der Kriegsgott des Geistes, der sich von der Seele nicht in die
Knie zwingen lässt.19

37 Tyr: 38 Loki:
Freyr ist der hehrste Schweig doch, Tyr!
aller Heldenreiter Gar schlecht konntest du
in der Rater Reich; eines Bundes Bürge sein:
keine Maid kränkt er deiner Hand, der rechten,
noch eines Mannes Weib muss ich hier gedenken,
und befreit Gefesselte. die dem Fenrir verfiel.

19
Tyr oder Ziu, Tiwaz gehört zu altindisch devah, »leuchtender Gott«. Er ist der Gott
des Dienstags. Die T- oder Tyr-Rune steht für ihn, sie verleiht Sieg und ist mit dem

293
39 Tyr: 40 Loki:
Die Hand misse ich, Schweig doch, Tyr!
du den herrlichen Wolf, Es geschah deinem Weib,
böse dünkt beides mich; dass sie einen Buben mir gebar;
nicht gut hat's der Wolf, nicht Elle noch Pfennig
da der Götterdämmerung ward für den Unglimpf dir,
Fenrir in Fesseln harrt. armer Wicht, gewährt.

Fenrir ist eine Emanation und ein Kind Lokis, er ist die Plasmadimen-
sion selbst. Fenrir wurde von den Asen gefesselt und in die Hei ge-
worfen, das heißt tatsächlich: Er wurde dort gelassen, wohin er
gehörte. Hel ist ein Zustand der Fesselung, und zwar der seelischen,
das soll uns hier mitgeteilt werden. Die Seele bannt uns durch ihre Ge-
fühlsregungen, wie Fenrir in die Unterwelt der Seele gebannt ist.
Sämtliche Emanationen Hels, Loki, Fenrir, Midgardschlange, Riesen,
Zwerge, Verstorbene, stehen im Bann dieser Fesselung durchs Seeli-
sche.
Zu der Geschichte, dass Loki dem Weib Tyrs einen Buben zeugte,
ist uns nichts weiter bekannt.

Liebesgott Freyr

Freyr und seine Schwester Freyja sind aus Inzucht geborene Kinder
von Njörd, dem Meerriesen, und seiner Frau Skadi. Freyr lebt in Alf-
heim, das er als Geschenk von den Asen erhalten haben soll; seine
Wohnung dort ist Uppsalir, »die himmlischen Säle«. Dies verweist er-
neut auf seine Herkunft als Riese, denn Alfen, Alben, Elben, Feen, Fays
sind andere Namen für die Riesen. Auch seine Frau Gerd ist Riesin.
Dieser Deutung kann sich nur entziehen, wer sich die Stammbäume
nicht genau ansieht. Als Riesen und Wanen gehören sie zur Plasma-
dimension, sind aber aufgestiegen zu Göttern und Asen. Wie es zu die-
sem Aufstieg kam, bleibt unklar. Ich erwähne hier zwei mögliche Deu-
tungen. 1. Riesen werden ins Spektrum des Geistes eingemeindet,
dienen als Übergang zwischen Geist und Plasma. 2. Geschichtlich
gesehen sind die Wanen, die den Riesen vergleichbar sind, durch Ver-

Rechtssymbol des Ringes verbunden (T'r = Ring). Tyr ist also ein Rechtsgott. Daher
büßt er seine rechte, die Schwurhand ein, die er dem Fenrir für ein Versprechen, das er
aber nicht hielt, in den Rachen gelegt hatte.

294
Schmelzung von Stämmen oder Überlieferungen den Asen gleichge-
stellt worden; das ist die häufigste wissenschaftliche Erklärung. Der
Dänengott Freyr soll einst auf der Erde gelebt und mit Menschen ver-
kehrt haben; von ihm sollen überhaupt die Menschen abstammen. In
diesem goldenen Zeitalter mischte sich auch die Göttin Nerthus unter
die Menschen.
Freyr wurde als Spender von Fruchtbarkeit und Wohlstand bei
Hochzeiten und beim Essen angerufen. Er wird auf seinem Himmels-
ross reitend dargestellt, oder er sitzt in seinem Wagen, gezogen vom
Eber Gullinborsti, den die Zwerge herstellten. Überall, wohin der
Eber läuft, verbreitet er Licht, auch in der Nacht, so wie Freyr als »der
Lichte, der Schimmernde« verehrt wurde. Auch Freyrs Schiff Skid-
bladnir, »etwas aus dünnen Holzstücken Zusammengesetztes«, wurde
von Zwergen erschaffen, was ebenfalls auf seine Natur als Riese hin-
weist. Beim Ragnarök wird Freyr durch Surt erschlagen. Nach der
Snorri-Edda erkrankt Freyr tödlich, doch drei Winter lang soll man
den Schweden, von denen der Gott am meisten verehrt wurde, nichts
von seinem Tod gesagt haben.

41 Freyr: 42 Loki:
Gefesselt liegt Fenrir Gymirs Tochter
an der Flussmündung, hast du mit Gold gekauft
bis die Götter vergehn; und verschenkt dein Schwert;
nicht anders wirst du, doch wenn Muspills Söhne
wenn du nicht endlich über den Myrkwid reiten,
schweigst, hast du, W e h t , keine Wehr.
gebunden, Bosheitsschmied.

Fenrir liegt gefesselt an der Flussmündung, also im wässrigen Nifl-


heim. Dort im Plasma wartet er, bis sich seine »seelisch verschlingende
Dimension« naturgesetzlich von selbst auflöst und nur noch reiner
Geist übrig bleibt. Dann wird er nach Asgard einfallen.
In Strophe 42 konfrontiert Loki Freyr damit, dass er Gymirs Toch-
ter, die Riesin Gerd, nicht durch Liebe gewonnen habe, sondern durch
Gold und durch den Verzicht auf sein wertvolles, selbstkämpfendes
Schwert. In der Tat ist Gerd nicht freiwillig zu Freyr gegangen. Und
wenn dann die Riesen, hier »Muspills Söhne« genannt, aus Muspell-
heim über den Myrkwid reiten - den »Dunkelwald, Schwarzwald«, der
im Süden die Grenze zwischen den Dimensionen Hel und Asgard dar-
stellt -, steht Freyr ohne seine geheimnisvolle seelische Waffe da. Hat

295
sich also Freyr der Liebe wegen an die Heidimension verkauft? Ist er
ihrer Lebenskraft erlegen, oder ist das eine zwangsläufige Folge, weil
er ursprünglich selbst Riese ist und gar nicht wirklich gegen die Rie-
sendimension kämpfen kann?

Byggwir

Byggwir ist ein Diener des Gottes Freyr.

43 Byggwir: 45 Byggwir:
Wisse, wär ich edel Byggwir heiß ich,
wie Yngwi-Freyr doch hurtig bin ich
und so herrlich mein Hof, bei Asen und Irdischen;
zu Brei zermalmt ich drum ehrt man mich hier,
die Bosheitskrähe wo Odins Söhne
und zerbräche all ihr Gebein. alle Al trinken.

44 Loki: 46 Loki:
Wer ist das kleine, Schweig doch, Byggwir!
das ich da krabbeln seh Gar schlecht verteiltest du
und das schnappgierig unter Männern das Mahl;
schnappt? im Stroh unter der Bank
Immer wirst du Freyr verstecktest du dich,
in den Ohren liegen, zogen Krieger zum Kampf.
krächzen bei der Kornmühle.

Götterwächter Heimdali

Heimdali, »der die Welt Beleuchtende«, wacht an der Grenze Asgards


gegen Hel hin, um vor den Riesen zu warnen. Daher sagt Loki in Stro-
phe 48, er müsse bei jedem Wetter »mit nassem Buckel« bei Walhall
Wache stehen (Walhall gehört noch zu Hel). Das ist keine Strafe im ei-
gentlichen Sinne, vielmehr ist es nun mal Heimdalls Aufgabe. Ich habe
bereits dargestellt, dass Heimdali nicht nur Ase, sondern auch ein Prin-
zip Hels ist - ein Doppel- oder Ubergangswesen denn nur so kann
er vor Hel warnen. Geheimnisvollerweise gilt Heimdall nach Freyr
und Njörd auch als Schöpfer der Menschen.

296
47 Heimdall: 48 Loki:
Trunken bist du, Loki, Schweig doch, Heimdall!
du verlorst den Verstand; Dir ward ein hässlich Geschick
warum lässt du's nicht, Loki? in der Urzeit auferlegt,
Trunkes Unmaß da mit nassem Buckel
betört einen jeden, du nachdich stehn
dass er seine Worte nicht und Walhall bewachen musst.
weiß.

Skadi, die Folter Lokis

Skadi ist eine Riesin, die Töchter des Frostriesen Thjazi und selbst
ebenfalls Reifriesin, was durch ihre Vorliebe für das Skifahren ange-
zeigt wird. Skadi ist unglücklich mit dem Meerriesen Njörd verheira-
tet; später erhält sie von Odin zahlreiche Söhne. Loki verursachte den
Tod ihres Vaters Thjazi. Dieser hatte einst Idun samt ihren goldenen
Äpfeln entführt, wofür er von den Asen in einem Feuer vernichtet
wurde. Nach dem Tod ihres Vaters ging Skadi zu den Asen, um eine
Entschädigung zu verlangen. Die Asen gewährten ihr, sich einen der
Ihren als Mann auszusuchen, und zwar jenen mit den schönsten Füßen.
Skadi hoffte insgeheim auf Balder, doch als sich alle Asen so vor ihr auf-
gestellt hatten, dass nur ihre Füße sichtbar waren, fiel ihre Wahl
dummerweise auf Njörd, der ebenfalls schöne Füße hatte, wohl weil sie
vom Salzwasser so geschmeidig waren. Eine weitere Forderung an die
Asen bestand darin, sie zum Lachen zu bringen, wobei sie glaubte, dass
dies unmöglich sei. Doch Loki gelang es, indem er eine Schnur am Bart
eines Ziegenbocks befestigte und das andere Ende um seine eigenen
Hoden wickelte; wenn die Ziege meckerte, wackelten auch die Hoden
Lokis, und das brachte Skadi in der Tat zum Lachen (Branston 1980,
S. 212). Außerdem soll Odin sie beruhigt haben, indem er Thjazis
Augen an den Himmel warf, wo sie zu Sternen wurden.
Loki beschimpft sie nun. Später wird sie sich dafür rächen, indem
sie den von den Göttern gefesselten Loki mit einer Giftschlange
quält.

297
49 Skadi: 51 Skadi:
Lustig bist du, Loki: Wisse, wenn der erste und letzte
doch nicht lange sollst du du beim Lebensraub warst,
schlagen mit dem Schweif: als ihr Thjazi tötetet:
bald fesseln mit den Därmen von meinem Haus und Hof
deines frostkalten Sohns wird heilloser Anschlag
auf den Grat die Götter dich. dich verfolgen hinfort.

50 Loki: 52 Loki:
W s s e , fesseln mit den Lieblicher sprachst du
Därmen zu der Laufey Sohn,
meines frostkalten Sohns als du in dein Bett mich entbotst:
auf den Grat die Götter mich: nicht darf ich's verschweigen,
der erste und letzte wenn unsre Schandtaten wir
war ich beim Lebensraub sollen nennen genau.
als wir Thjazi töteten.

Zu der hier angesprochenen Tatsache, dass Loki, der Sohn der Laufey,
im Bett der Skadi gelegen hat, ist uns keine Geschichte überliefert.

Loki als S e e l e

Loki soll zur Strafe mit den Därmen seines Sohnes, gemeint ist Narfi,
gefesselt werden. Diese Episode erzählt die Snorri-Edda wie folgt:
Nach seiner Schmährede gegen die Götter wurde Loki in Gestalt
eines Lachses, in den er sich flüchtend verwandelt hatte, von T h o r ge-
fangen, als er im Wasserfall schwamm. Er wurde in eine Höhle, sprich
ins Plasma gesperrt und an drei Felsen festgebunden. Seinen Sohn
Wali verwandelten die Götter in einen Wolf und ließen ihn seinen Bru-
der Narfi zerfetzen. Narfis Gedärme wurden dann als Fesseln für Loki
verwendet. Skadi hängte eine Schlange über Lokis Gesicht, aus deren
Maul Gift tropfte. Sigyn, Lokis Frau, wollte ihrem Mann helfen und
hielt eine Schale darunter, um das Gift aufzufangen. Doch immer,
wenn die Schale voll war und ausgegossen werden musste, tropfte Gift
in Lokis Gesicht. Dann wand er sich in schrecklichen Krämpfen, was
sich auf der Erde als Erdbeben äußerte. So bleibt Loki bis zum
Ragnarök gefesselt.
Die Deutung ist folgende: Loki ist Hel selbst. Darauf wird mit dem
Wasserfall und mit seiner Gestalt als Lachs verwiesen, denn das Plasma

298
ist eine wässrige Zone. Loki wird in eine Höhle geworfen: Höhlen ste-
hen ganz allgemein für die Unterwelt Hels. Lokis Söhne, seine Emana-
tionen, werden ebenfalls getötet, und er wird mit den Gedärmen sei-
nes eigenen Sohnes gefesselt, das heißt in anderen Worten, er fesselt
sich selbst durch seine eigenen Prinzipien, nämlich die Natur Hels als
seelische Illusion. Die Götter können Loki nicht binden, er kann sich
nur selbst verstricken in seinen Trugschlüssen, und das ist nach seiner
Zankrede auch der Fall; er hat sich ganz und gar verstrickt in Emotio-
nen, ist Gefangener seiner selbst geworden - das sollen »Lokis Zank-
reden« verdeutlichen. Das Plasma ist eine einzige Falle, eine Illusion.
Die Zankrede Lokis gipfelt in seiner Fesselung, seinem Fall in Hei.
Loki ist mit seinen Schmähreden, seinen aufgeblähten Hassgefühlen,
in die er sich selbst verstrickt hat, mit all seinen Schandtaten, Lügen
und der Zerstörung anderer zu weit gegangen. Im Grunde geht es in
diesem Lied nicht darum, die Götter anzuklagen, sondern es wird ein
Strich unter Lokis Taten gezogen und die große Abrechnung findet
statt. Da aber dieses Verhalten die Natur des Plasmas ist, kann Loki gar
nicht anders sein. Also wird er auch nicht wirklich bestraft, er wird
dorthin gebracht, wo er ohnehin hingehört: nach Hel. Loki, das ist ein
jeder von uns. Jeder ist ein Trickster, der andere und sich selbst betrügt.
Ebenso wie Loki bleiben wir mental gefesselt bis zum Weltende in Hel,
schmoren dort in unseren wirren Gemütszuständen und werden erst
mit der Auflösung des emotionalen Urstoffs nach unendlich vielen
Wedergeburten wirklich sterben und nach Asgard eingehen. Hier
deutet sich eine Erlösungsphilosophie an. Alle Lebewesen werden aus
ihrer Seelenbindung einst befreit werden. Dabei erhebt sich die Frage,
wie lange der Ragnarök dauert, ob er plötzlich vor sich geht oder sich
in riesigen kosmologischen Zeiträumen vollzieht; dann würden wir
nach dem Ende Midgards für lange Zeit nur Seele und Geist und eine
weitere lange Zeit nur Geist sein, um schließlich auch diesen aufzuge-
ben und nur noch Urkeim in Gimle zu sein.
Die nordische Mythologie behandelt auf verlockend menschliche
Art und Weise die großen Gesetze der beiden Dimensionen Geist und
Seele. Loki, das Prinzip unserer Seele, steht im Mittelpunkt der eddi-
schen Kosmologie, weil uns als Menschen das Seelische so beschäftigt,
weil wir das sind. Das Geistige unseres Wesens erfahren wir nur am
Rande, wir sind noch nicht bewusst genug, aber unsere Entwicklungs-
aufgabe besteht genau darin, dies zu erfahren: die Seele von sich selbst
zu befreien, damit sie aufsteigt zum reinen Geist, oder in die Sprache
der Edda gefasst: Die Riesen müssen Asgard stürmen! Unsere Lebens-

299
aufgabe scheint es also zu sein, uns seelisch zu befreien, das heißt un-
sere lokischen Schmähreden aufzugeben, uns dem Bann der aufge-
wühlten Gefühle zu entziehen, um das, was der Seele als Grundlage
dient, den Geist, zu erfahren. Wir alle sind Odin, aber Odin, ver-
schleiert durch das Riesische. Riesen und Zwerge in uns müssen ster-
ben, damit die Selbsttäuschung ein Ende hat.

Sif, die Frau mit dem goldenen Haar

Sif (»angeheiratete Verwandte«) ist die Gattin Thors. W i r wissen we-


nig über sie, nur dass sie das schönste Haar besitzt, was Loki dazu
reizte, es ihr abzuschneiden. T h o r drohte ihm, ihn zu töten, würde er
nicht für neues goldenes Haar sorgen. Die Söhne des Zwergs Iwaldis
fertigten schließlich neues Goldhaar an.

Da trat Sif heran, reichte Loki 54 Loki:


in einem Kristallkelch Met Als einzige wärest du,
und sprach: wärest du's eben,
andern unzugänglich;
53 einen kenn ich,
Heil dir nun, Loki! den ich zu kennen glaube,
Nimm hin den Eiskelch, mit dem du auch T h o r betrogst.
mit Firnmet gefällt!
Eine lass
unter den Asensöhnen
mit Schmähreden verschont!

Mit wem Sif fremdgegangen ist, bleibt unbekannt.

Beyla

55 Beyla: 56 Loki:
Es zittern die Berge, Schweig doch, Beyla!
nun zog, mein ich, aus Du bist Byggwirs Weib
vom Hofe Hlorridi; und von Falschheit erfüllt;
den bringt er zur Ruh, kein eklerer Auswurf
der ruchlos schmäht kam zu den Asensöhnen,
die Asen und Irdischen. ganz voll Mist bist du, Magd!

300
Beyla ist die Frau des Byggwir, eine Magd des Gottes Freyr. Sie hört
T h o r - hier unter dem Beinamen Hlorridi, »der laute Reiter« oder
»der laute Wettergott« - kommen. Sie weiß, dass T h o r Loki zur Ruhe
bringen wird.

Thors Abstammung von Jörd

Thor, heißt es, ist Sohn von Odin und Jörd, der Erde. Mit Erde ist, wie
schon gesagt, nicht unsere irdische Erde gemeint, sondern der plas-
matische Elementarzustand Erde. Jörd ist die Tochter der Nott
(Nacht) und des Anar, beides Riesenprinzipien. T h o r ist den Riesen
überlegen, weil er ein Halbgott ist. Im Grunde stehen T h o r und Loki
auf der gleichen kosmologischen Ebene. T h o r allerdings arbeitet für
die Asen, denn wenn sie Aufträge im Plasma zu erfüllen haben, dann
können diese offenbar nur von Wesen eben dieser Dimension ausge-
führt werden. Dass Odin mit Riesen Kinder zeugt, ist nicht erstaun-
lich, ist aus ihm doch die Riesendimension hervorgegangen; und so
zeugt er jetzt mit dem aus ihm gezeugten Plasma Plasmawesen der
zweiten Generation. Im Grund ist Odin ein sich selbst befruchtendes
Prinzip, das auf all seinen Zeugungsebenen immer wieder mit sich
selbst in Berührung tritt und so eine Zeugungskette gebiert. Alle
Schöpfungsebenen sind demnach von Geist durchdrungen, letzdich
von Geist gezeugt.

Thor, Retter der Asen

Da kam Thor herein 58 Loki:


und sprach: Der Sohn der Jörd
ist in den Saal gekommen:
57 warum tobst du so, Thor?
Schweig, arger W e h t ! Dann wagst du nichts,
Dir soll mein Wuchthammer, sollst du den Wolf bestehn;
Mjöllnir, den Mund und er verschlingt den Schlach-
schließen! tengott.
Das Haupt hau ich
dir vom Halse ab,
verloren ist dein Leben dann.

301
59 Thor: 63 Thor:
Schweig, arger Wicht! Schweig, arger W e h t !
Dir soll mein Wuchthammer, Dir soll mein Wuchthammer,
Mjöllnir, den Mund Mjöllnir, den Mund schließen!
schließen! Hrungnirs Töter
Nach oben werf ich dich wird dich zur Hel senden
und nach dem Ostlande; hinter des Totenreichs Tor.
nie wieder gewahrt man dich.
64 Loki:
60 Loki: Ich sprach vor den Asen,
Deine Ostfahrten sprach vor den Asensöhnen,
ließest den andern du was meinem Herzen behagt;
besser verborgen sein, einzig vor dir
seit du, Held, hocktest will ich abziehen,
in des Handschuhs Däumling denn mich dünkt, du schlägst
und dich nicht trautest, drein.
T h o r zu sein.
65
61 Thor: Al brautest du, Agir;
Schweig, arger Wicht! nicht noch einmal sollst du
Dir soll mein Wuchthammer, geben ein Gastgelage:
Mjöllnir, den Mund all dein Eigen,
schließen! das hier innen ist,
Meine Hand trifft dich erfasse die Feuersbrunst
mit Hrungnirs Töter, und verbrenne den Buckel dir!
dass dein Gebein zerbricht.

62 Loki:
Zu leben denk ich
lange Zeit,
hebst du den Hammer auch;
rauh schienen
dir die Riemen Skrymirs,
nicht kamst du zur Kost.

Thor tritt nun in den Saal des Ägir. Der Saal ist das Plasma selbst. N u r
hier kann Loki so unverschämt werden, weil es sein Bereich ist. T h o r
will Loki ins Ostland, sprich Riesenheim, werfen.
Loki kontert in Strophe 60 und erzählt die peinliche Geschichte,
wie Thor unwissentlich im Ostland, also im Plasma, vermeintlich in ei-

302
ner Höhle übernachtete, die sich aber als Däumling des Handschuhs
eines Riesen herausstellte.
Die folgende Strophe bezieht sich auf den Riesen Hrungnir, »Lär-
mer«, der mit Odin eine Wette einging, wer das schnellste Pferd be-
sitze. Doch Hrungnirs Ross Gullfaxi, »Goldmähne«, ist nicht so
schnell wie Odins achtbeiniges Pferd Sleipnir. Wütend über die Nie-
derlage setzt der Riese Odin bis nach Asgard nach. Dort wird er von
den Asen zu einem Gelage eingeladen. Im Rausch droht er, alle Asen
bis auf Freyja und Sif zu erschlagen. Man kommt überein, dass Thor
gegen ihn zum Zweikampf antreten soll. Wie stets wird eine List be-
nutzt, um den Riesen zu schlagen. Thors Hammer trifft den Riesen
tödlich, aber dessen Schleifstein trifft auch Thor am Kopf und bleibt
dort für immer stecken.
Dann wird erneut auf Thors Übernachtung im Handschuh des Rie-
sen Skrymir angespielt. Dreimal versuchte er den Riesen zu erschla-
gen, doch ohne Erfolg. Es stellte sich nämlich heraus, dass der Riese
Utgard (= Außenhof, Hof um Midgard herum) Loki selbst ist das
Plasma schlechthin, und das kann man nicht erschlagen. Loki ist also
unsterblich, man kann ihn nur in seine eigene Dimension verweisen,
aber da lebt er ja ohnehin. All die Kämpfe sind also Schall und Rauch
und stellen lediglich die nordische Methode dar, Unterschiede zwi-
schen den Dimensionen zu erhellen. Offenbar hat sich die germanische
Leidenschaft für den Krieg in den Sagen niedergeschlagen. Doch wenn
wir all die Kriege, Zwistigkeiten, Schmähreden usw. weglassen und den
Kern der Überlieferung herausschälen, enthüllt sich uns die altbe-
kannte Weltlehre.
In Strophe 63 sagt Thor klar, wohin Loki gehört, nämlich nach Hel,
ins Totenreich. Loki gibt sich T h o r gegenüber geschlagen und zieht
ab. Dann holt er zum letzten Schlag aus. Er prophezeit Agir, dass er
beim Ragnarök in der Feuersbrunst untergehen werde. Aber das kann
nicht weiter beeindrucken, denn davon wird alles erfasst werden, wie
es das Naturgesetz verlangt. Naturgesetze sollten hier in Form lehr-
hafter Wissensvermittlung vorgeführt werden, und diese hinter der
allzu menschlichen Rahmenhandlung zu erkennen ist unsere Aufgabe.

303
1 0 . DAS HARBARDLIED:
Liebe und Krieg in Hel

Thor, dessen einzige Tätigkeit darin besteht, Riesen im Osten, im Rie-


senland zu erschlagen, muss, um dorthin zu gelangen, durchs Wasser,
weil die Seele (See = Wasser) ein feinstofflich-wässriger Zustand ist.
Die Dimension der Seele ist feinstoffliche Energie, die mit dem Begriff
Wasser bestens beschrieben ist. Es ist also niemals irdisches Wasser ge-
meint, sondern stets Seelenwasser. T h o r ist ein Seelenreisender und
auch ein Seelentöter. Aber er tötet nicht wirklich, er tötet nur die
falschen seelischen Vorstellungen, die Einbildungen, das Seelenego
der Riesen. T h o r ist im Grunde genommen der hartgesottene Psycho-
therapeut der Riesen, was offenbar handfestere Methoden verlangt als
die eines irdischen Therapeuten. Anders ausgedrückt: Die Germanen
liebten es, seelische Veränderungen ebenso wie kosmologische U m -
wälzungen als Krieg darzustellen.
Die Geschichte des Harbardliedes besteht in einer Begegnung
Thors mit seinem Vater Odin, der sich jedoch nicht zu erkennen gibt
- er nennt sich Harbard, »Graubart«. Die zwei rühmen sich nun ihrer
Taten, wobei allerdings wenig Neues herauskommt. Das Lied scheint
neueren Datums zu sein, eine Nachdichtung ohne Tiefgang. Die Frage
erhebt sich, ob es zu den Eddaliedern gehört.

Das wässrige Niflheim im Osten

Alle Arten von Wasser, ob See, Meer, Sund, Fluss oder Teich, verwei-
sen auf die Dimension der Seele. Müssen Asen übers Meer setzen oder
durchs Wasser waten wie Thor, dann wird damit auf das Eindringen in
den Seelenzustand Hels verwiesen. Es verändert sich der geistige Zu-
stand der Asen, sie werden seelischer, dichter, mentaler, mehr vom Auf
und Ab der seelischen Stimmungen geplagt. Sie kämpfen mental mit
mental vorgestellten Waffen, die nichts anderes als seelische Zustände
im materiellen Gewand zum Ausdruck bringen. In diesem Lied will
Thor vom Fährmann Harbard, der die Totenbarke steuert, über den
Sund gesetzt werden. Er will übersetzen ins Totenreich, in das Reich

304
der seelischen Riesen, der Erhabenen, ins Land der Zwerge, der men-
tal Erfinderischen, nach Windheim, ins Land der Totenseelen. Thor
ist Halbriese, so kann ihm die dichtere Atmosphäre Niflheims nichts
anhaben; gleichzeitig steht er als Haibase über dem Plasma und durch-
schaut die Riesenseelen, weshalb er sie leicht töten, sprich therapieren
kann.
T h o r kehrte aus dem Ostland zurück und kam an einen Sund. Drü-
ben stand der Fährmann mit dem Boot. T h o r rief hinüber:

1 4 Harbard:
Welch ein Gesell ist der Gesell, Als Morgentat
der jenseits des Sundes steht? rühmst du der Mahlzeit dich;
nicht weißt du, was dich erwartet:
2 Harbard: traurig ist's bei dir daheim;
Welch ein Mann ist der Mann, tot, mein ich, ist deine Mutter.
der übern Meeresarm ruft?
5 Thor:
3 Thor: Das sagst du jetzt,
Fahr mich übern Sund! was jeden wohl
Ich füttre dich heut morgen: eine schlimme Meldung dünkt,
einen Korb hab ich aufm dass meine Mutter tot sei!
Buckel,
bessres Essen gibt's nicht.
Ich aß in Ruhe,
eh ich aufbrach daheim,
Hering und Haferbrei,
das hält nun noch vor.

Thors Mutter ist die Riesin Jörd, der vormaterielle Erdzustand. Dass
sie jetzt tot ist, überrascht, weil sie unmöglich sterben kann.

6 Harbard: 7 Thor:
Nicht scheint mir's, Lenk den Einbaum her!
als hättest du Den Landeplatz zeig ich dir.
drei schöne Höfe: Doch wem gehört das Schiff,
barbeinig stehst du das du hütest am Land?
und hast Bettlerkleidung;
nicht mal hast du deine
Büchsen an!

305
8 Harbard: 9 Thor:
Hildolf heißt er, Meinen Namen sollst du erfahren,
der mich's hüten lässt, wenn ich auch friedlos bin,
der ratschnelle Recke und meine Abkunft auch:
im Ratseilandsund; ich bin Odins Sohn,
Räuber und Rossdiebe Meilis Bruder
zu rudern verbot er mir, und Magnis Vater,
Ehrliche nur, der Rater Kraftherrscher:
und die ich genau kenne. du redest hier mit Thor!
Sag mir deinen Namen, Das will ich nun fragen,
willst du übern Sund fahren! wie du heißest.

Von Meili, einem Sohn Odins und Bruder Thors, wissen wir sonst
nichts. Magnis, »der Starke«, ist ein Sohn Thors und der Riesin Jarn-
saxa. Er und sein Bruder Modi werden nach dem Ragnarök T h o r s Er-
ben und übernehmen den Hammer Mjöllnir. Magni ist lediglich die
Verkörperung der Haupteigenschaft Thors.
T h o r wird in Strophe 9 treffend als der »Kraftherrscher«, der Ra-
ter als Ase beschrieben. In der Tat schützt er die Asen gegen die Rie-
sen, was im Grunde aber unnötig ist, denn Riesen können Asen kaum
etwas anhaben. Eher schützt T h o r die Menschen in Mannheim, in
Midgard, vor den Riesen.

10 Harbard: 13 Thor:
Harbard heiß ich, Ein misslich Ding
nicht hehl ich meinen Namen. dünkt mich das,
durchs Wasser zu dir zu waten
11 Thor: und meinen Korb zu durch-
Warum solltest du ihn hehlen, weichen.
hast keine Fehde du? Du sollst mir büßen,
Bürschlein du,
12 Harbard: dein freches Maulwerk,
Und wenn ich auch Fehde wenn ich übern Sund komme!
hätte:
vor solchen, wie du einer bist, 14 Harbard:
da wollt ich mein Leben wohl Hier will ich stehen
wahren, und dich hier erwarten;
wäre mir nicht Tod bestimmt. du trafst noch keinen zäheren
seit dem Tode Hrungnirs.

306
Odins und Thors Tatenvergleich

15 Thor:
Davon fängst du nun an,
dass ich focht mit Hrungnir,
dem keckdreisten Riesen,
der einen Kopf aus Stein hatte;
dennoch musst er stürzen
und in den Staub sinken,
was tatst du derweil, Harbard?

Das ist die bereits erzählte Geschichte, in der T h o r den Riesen


Hrungnir mit seinem Hammer zerschmettert, selbst aber vom Schleif-
stein des Riesen am Kopf getroffen wird, der für immer darin stecken
bleibt.

16 Harbard:
Bei Fjölwar war ich
volle fünf Winter,
auf jenem Eiland,
das Allgrün heißt;
kämpfen konnten wir dort
und Krieger fällen,
an manches uns wagen,
Mädchen erproben.

Uber die Geschichte ist nichts Näheres bekannt.

17 Thor:
Wie fleckte euch's mit euern Weibern?

18 Harbard:
Herzige Weiber hatten wir,
wären sie uns handzahm geworden;
tüchtige Weiber hatten wir,
wären sie uns treu geblieben.
Sie wollten aus Sand
Seile drehen
und aus tiefem Tal
den Grund graben.

307
Ich war ihnen allen
an Witz doch über:
ich schlief bei den sieben Schwestern
und genoss aller Liebe und Lust.
Was tatst du derweil, Thor?

Odin wird häufig als Liebhaber und Verführer von Asinnen und Rie-
sinnen dargestellt, doch warum? Gelegentlich hat man den Eindruck,
einen Liebesgott vor sich zu haben, der seine Gespielinnen unwirsch
und grob behandelt.

19 Thor:
Ich erschlug Thjazi,
den trutzgewaltigen Riesen,
warf empor die Augen
von Alwaldis Sohn
an den heitern Himmel.
Das ist das mächtigste Mal
meiner Taten,
das jedermann seitdem sieht.
Was tatst du derweil, Harbard?

Die Geschichte ist wieder die des Raubs von Idun und ihren Äpfeln.
Der Riese Thjazi hatte sie entführt. Doch die Asen vernichten ihn
durch Feuer, als er in Adlergestalt Loki verfolgte, der Idun zurück nach
Asgard brachte. Zum Schluss erschlägt T h o r ihn ganz und wirft seine
Augen an den Himmel, wo sie als Sterne leuchten. Daher wird der
Sternenhimmel als unsere Nachbardimension gesehen. Fast alle alten
Kulturen verstanden den irdischen Nachthimmel sinnbildlich als Hel.
Natürlich ist dem nicht so, der Sternenhimmel ist in der Kosmologie
lediglich ein Symbol des plasmatischen Kosmos. Wohl weil die Sterne
für uns so weit entfernt und so unvorstellbar sind, bieten sie sich als
sichtbarer Ausdruck der Nachbardimension an.

20 Harbard:
Zauber übt ich
wider Zaunreiterinnen,
da ich sie lockte von ihren Liebsten.
Ein beherzter Riese
dünkte mich Hlebard zu sein:

308
er gab mit den Zauberzweig,
und ich nahm ihm die Vernunft.

Zaunreiterinnen sind Hexen. Sie sitzen auf dem Zaun zwischen zwei
Welten, der irdischen und der zauberisch-seelischen. Eine Geschichte
mit dem Riesen Hlebard ist unbekannt.

21 Thor: 23 Thor:
Übles Sinnes Ich war im Osten
lohntest du da gute Gaben! und schlug Jötenvolk tot,
böse Weiber,
22 Harbard: die zum Gebirge schritten:
Die Eiche gewinnt, überstark würden die Riesen,
was der andern man nimmt; wenn sie alle lebten;
jeder sorgt für sich selbst. ausgetilgt würden die Menschen
Was tatst du derweil, Thor? in Midgards Reich.
Was tatst du derweil, Harbard?

T h o r gilt als großer Beschützer der Menschen, obwohl dafür keine Ge-
schichten nachzuweisen sind. Er schützt die Menschen vor den Riesen,
denn würde er ihren Bestand nicht ab und an vermindern, drohten sie
so überhand zu nehmen, dass sie die Menschen schließlich ausrotten
würden. Das besagt, dass Riesen aus Hel die Menschen aus einem nicht
näher genannten Grund gerne vernichten oder verdrängen würden
und nur Thors Macht sie in die Schranken weist. Die Menschen kom-
men in der Edda zu kurz, sie werden kaum erwähnt, das geschieht erst
in den Heldenliedern. Etwas mehr erfahren wir dazu in der nächsten
Strophe, in der Odins Tätigkeit bezüglich der Menschen erwähnt wird.

24 Harbard:
In Walland war ich
und wanderte zu Schlachten,
schuf Fürsten Fehde,
doch Frieden nie.
Das Knechtvolk hat Thor,
doch die Könige hat Odin,
die da fallen im Feld.

Odin erzeugt unter den Menschen nicht Frieden, sondern Streit, wo-
durch es zu Kriegen kommt, in denen Menschen fallen, die er dann

309
nach Walhall (Walland) bringt. Hier wird gesagt, Odin erhalte die ge-
fallenen Könige, T h o r die gefallenen Knechte - was an anderer Stelle
jedoch anders dargestellt wird. Odin ist Kriegsgott, aber auch Liebes-
gott. Liebe und Krieg sind die ewigen Urmotive unseres Daseins, und
Odin ist dieses Dasein, er steckt in jedem von uns, daher unsere Wi-
dersprüchlichkeit.

25 Thor: 28 Harbard:
Ungleich verteilen Warum solltest du übern Sund
würdest du unter den Asen langen,
das Volk wo wir doch gar keine Fehde
hättest du die meiste Macht. führen?
Was tatst du derweil, Thor?
26 Harbard:
Thor hat Kraft genug, 29 Thor:
doch keinen Mut: Im Osten war ich,
vor Schrecken und Herzens- das Ufer schirmte ich,
angst als mich Swarangs
wurdest du in den Handschuh Söhne bestürmten.
gestopft, Mit Steinen warfen sie mich;
und nicht trautest du dich, des Straußes wurden sie doch
T h o r zu sein; nicht froh:
da wagtest du nicht einmal sie mussten mich bald
vor lauter Angst bitten um Frieden.
zu niesen und zu furzen, Was tatst du derweil, Harbard?
dass es Fjalar vernahm.

27 Thor:
Harbard, du Schuft!
Ich wollte zur Hel dich
schmettern,
könnt ich langen übern Sund.

Wieder ein uns unbekannter Kampf gegen Riesen.

30 Harbard:
Im Osten war ich,
mit einer plaudert ich,
bestürmte die Strahlende
und zum Stelldichein zog ich,

310
letzte die Linnenweiße,
die der Lust sich freute.

Hier wiederum Odin in seiner Rolle als Weiberheld, der rücksichtslos


Riesinnen verführt. Das passt eigentlich nicht so sehr zum höchsten
Einheitsgott und bezieht sich eher auf seine plasmatische Emanation,
wo Krieg und Liebe, also die Dualität der Gefühle, eine so große Rolle
spielt. In der Tat verführt und vergewaltigt er Weiber vor allem im
Plasma.

31 Thor: 36 Harbard:
Gute Weiberbekanntschaften Was tatst du derweil, Thor?
hattest du damals dort.
37 Thor:
32 Harbard: Berserkerweiber
Deinen Beistand bracht ich auf Hlesey um;
hätt ich da brauchen können, sie hatten's gar toll getrieben,
Thor, getötet alles Volk.
um sie zu halten, die linnen-
weiße Maid. 38 Harbard:
Lästerliches begingst du da,
33 Thor: loszuschlagen auf Weiber!
Ich stünde dir gerne bei,
wär ich zur Stelle gewesen. 39 Thor:
Wölfinnen waren das,
34 Harbard: doch Weiber schwerlich:
Ich traute dir gerne, sie zerstörten mein Schiff,
wenn du mir die Treue nicht das ich gestützt hatte;
brächtest. sie vertrieben Thjalfi
und trotzten mir mit Eisen-
35 Thor: stangen.
Ich bin nicht solch Fersen- Was tatst du derweil, Harbard?
beißer
wie im Frühjahr ein alter Schuh.

W e d e r eine unbekannte oder hier vom Dichter frei erfundene Ge-


schichte, in der T h o r Riesinnen umbringt. Die Riesen Thjalfi, »der
Arbeiter«, und seine Schwester Röskwa, »die Rasche«, Verkörperun-
gen des Blitzes, dienten - wie die Prosaedda erzählt - T h o r auf seinen
Reisen.

311
40 Harbard: 42 Harbard:
Ich war bei dem Heer, Ich biete dir einen Ring
das hierher rückte als Buße dafür,
mit ragendem Banner, wie es die Schiedsrichter
zu röten den Ger. schätzen,
die uns schlichten wollten.
41 Thor:
Davon fängst du nun an,
dass du kamst, um Böses
anzutun!

Hier ist wohl der Ring Draupnir gemeint, der laufend weitere Ringe
von sich abträufelt. Der Ring galt als Rechtssymbol, gleichzeitig auch
als Fruchtbarkeit- und Fortpflanzungssymbol. Letzteres würde auf
Odins Emanation als Plasmaprinzip passen.

43 Thor: 46 Harbard:
Woher hast du So denke ich darüber.
die höhnischen Worte,
wie ich sie höhnischer nie 47 Thor:
vernommen habe? Dein Schandmaul wird
dir noch schlecht bekommen,
44 Harbard: wate ich durchs Wasser erst:
Ich hab sie von den Männern, heller als ein Wölf,
den altersgrauen, sag ich, wirst heulen du,
die in der Heimat Hainen spürst du des Hammers Hieb!
wohnen.
48 Harbard:
45 Thor: Einen Buhlen hat Sif daheim,
Da gibst du einen guten den wirst du sehen wollen;
Namen den Gräbern, das ist dir dringlicher,
wenn du sie der Heimat mach dich nur da ans Werk!
Haine nennst.

Welchen Geliebten Thors Frau Sif hatte, ist unbekannt - war es gar
Loki?

49 Thor:
Du schwatzt, was dir in den Mund kommt,
was mich das Schlimmste dünken muss,

312
feiger Geselle!
Ich sage: du lügst!

50 Harbard:
Ich sage: die Wahrheit sprech ich,
du weilst zu lang auf der Fahrt.
Weit wärst du schon gekommen, Thor,
wandeltest du die Gestalt.

T h o r ist immer in Hel, auf der Fahrt gen Osten, um Riesen zu er-
schlagen. Er hat offenbar nicht wie Odin die Gabe, sich in jede Gestalt
zu verwandeln, weshalb er nicht so vielseitig ist und auch nicht ganz so
listig arbeiten kann wie dieser. Wer sich verwandelt, kann sofort über-
all sein und muss sich nicht wie T h o r zu Fuß von Asgard nach Hel be-
geben und durch die Flüsse oder hier den Sund wandern. Dass Thor
immer zu Fuß nach Hel geht, kann man vielleicht so deuten, dass er als
Halbplasmawesen dort zu Hause ist und sich dort eben wie ein Plas-
mawesen bewegt, sich nicht wie ein Ase - wie es Odin dauernd tut -
durch Gestaltwandel von einem Ort zum nächsten versetzt und jede
Gestalt annehmen kann.

51 Thor: 55 Thor:
Harbard, du Schuft! So weise mir den Weg,
Du hieltest mich zu lange wenn du mich nicht übers Wasser
schon auf. setzen willst!

52 Harbard: 56 Harbard:
Nicht hätte ich geahnt, Leicht ist die Weigerung;
dass Asathors Fahrt lang ist der Weg:
ein Hirte hindern könnte. eine Stunde zum Stock,
eine zweite zum Stein;
53 Thor: nimm zur Linken den Weg,
Den Rat will ich dir geben: bis du nach Werland kommst!
rudre das Boot her! Treffen wird Fjörgyn
Lass uns enden den Zank! dort Thor, ihren Sohn,
Setz über Magnis Vater! und sie wird ihm den Heimweg
zeigen
54 Harbard: nach Heervaters Landen.
Packe dich fort vom Sund!
Die Fahrt gibt's für dich nicht.

313
57 Thor: 59 Thor:
Werd ich heut noch hin- Unser Gespräch mag nun enden,
kommen? da du mit Spott nur erwiderst;
vergelten will ich dir die
58 Harbard: Weigerung,
Kommen mit Arbeit und begegnen wir uns ein andermal.
Mühe
beim Aufgang der Sonne, 60 Harbard:
so etwa dächt ich. Zieh nun hin,
wo dich die Unholde holen!

Thor bekommt den Weg nach Hel gewiesen. Dazu muss er übers Was-
ser - also Hel in Gestalt des Totenflusses. Das ganze Lied hat keinen
Höhepunkt und auch keinen großen Lehrcharakter. Es scheint eine
modische Neudichtung zu sein. An Wissen ist für uns eigentlich nur zu
entnehmen, dass Odins und Thors Geschichten darauf hinweisen, wie
es Göttern ergeht, wenn sie sich ins Plasma herablassen: Sie werden
von diesem durchdrungen, Odin zu Liebesabenteuern und T h o r zu
Gewalttaten verleitet. In anderen Worten: Im feinstofflichen Reich der
Seele spielen Liebe und Krieg wie in ihrem irdischen Spiegelbild die
erste Geige.

314
1 1 . DAS ALWISLIED:
Die Herkunft der Zwerge

Der Zwerg Alwis, »der Allweise«, hat sich in Thors Abwesenheit des-
sen Stieftochter Thrud, »Stärke, Gewalt«, versprechen lassen. Thruds
Mutter ist Sif, Schwester des Uli. Hier zeigt sich erneut, dass ein
Zwerg, ein Wesen aus der Zwischendimension Hel, auf der gleichen
Ebene lebt wie Thor, denn der Zwerg kann sich die Tochter Thors zur
Frau nehmen. T h o r wohnt in Thrudwang (thrud = »Stärke«, wang =
»Wiesenabhang«), die Zwerge in Zwergenheim, beides benachbarte
Unterbereiche Hels. N u n trifft Alwis auf Thor, erkennt ihn aber nicht.
Der Zwerg sagt, T h o r sei fahl um die Nase, was auf Thors Wesen als
Bewohner Niflheims und Windheims verweist. Andererseits gewahrt
T h o r am Zwerg Riesenwuchs, was verwundert, denn Zwerge denkt
man sich im Allgemeinen als klein. Hier stoßen wir auf eine Schwie-
rigkeit: Riesen sind riesig, weil sie - wie ich bereits erläuterte - mental
groß, das heißt Erhabene sind; Zwerge wohnen auf der gleichen kos-
mologischen Ebene wie die Riesen, sind also ebenfalls Erhabene, aber
offenbar von einer anderen Spezies. In anderen Worten: Riesen sind
nicht riesig, Zwerge nicht klein, denn in Hei gibt es keinen Raum und
damit auch keine Körpergröße. Man ist dort so groß, wie man sich see-
lisch macht, oder man entwirft für andere ein Trugbild von sich, das
den Betrachter sehr wohl als groß oder klein beeindrucken mag. Wir
befinden uns im Plasma, der Zone plastischer Gestaltungen. Wahr
wird hier, was ich denke!

Das Rätsel der Zwerge

Die Zwerge oder Schwarzalben erschaffen Wunderwerke der Plasma-


technik. Besonders zu erwähnen sind der Zwerg Brokk (»Dachs«) und
sein Bruder Sindri. Sie erschaffen drei Kostbarkeiten: den Ring Draup-
nir für Odin, den Eber Gullinbursti für Freyja und den Hammer Mjöll-
nir für Thor. Das Halsband der Göttin Freyja, den Brisingamen oder
Brisingenschmuck, erschufen vier Zwerge zum Dank dafür, dass jeder

315
Die Techniken d e r Z w e r g e

Thors Hammer S i f s Haar Die Kette Gleipnir

Thors Waffe, dem Hammer Loki schnitt der Frau Thors, Die Kette wurde von den
Mjöllnir, »dem Zermalmers Sif, ihr schönes Haar ab. Zwergen aus s e c h s unmögli-
unterliegt jeder Riese. Er Thor zwang ihn, von Iwaldis chen Dingen hergestellt,
verfehlt sein Ziel nie und Söhnen (Zwergen) Goldhaar um damit den Fenrirwolf
kommt von selbst in die als Ersatz anfertigen zu zu fesseln:
Hand d e s Werfers zurück. lassen, d a s normal 1. Tritten der Katze
Geschaffen wurde er von wachsen konnte. 2. Bart d e s Weibes
den Zwergen Sindri und 3. Wurzeln d e s Berges
Brokk. Sein Stiel ist leider 4. Sehnen d e s Bären
zu kurz. Selbst Thor kann ihn 5. Hauch d e s Rsches
nur mittels seines Eisen- 6. Speichel d e s Vogels
handschuhs ergreifen.
Nach dem Ragnarök werden
Thors Söhne «den Blitz«, also
den Hammer, erben.

Odins S p e e r Gungnir Odins Ring Draupnir Odins Dichtermet

Dieser verfehlt nie sein Goldener Ring, von den Odin beschafft d a s
Ziel. Iwaldis Söhne (Zwerge) Zwergen Sindri und Brokk Skaldenmet für die Asen
haben ihn hergestellt. Alle geschmiedet; jede neunte und Menschen. Es verleiht
Feinde, über die er hinweg- Nacht entträufeln ihm Weisheit und Dichtkunst.
fliegt, sind dem Tod geweiht. 8 ebensolche Ringe. Der Hergestellt von den Zwergen
Ring ist d a s Wahrzeichen Sindri und Brokk oder aus
Hels, er symbolisiert dem Blut d e s weisen Kwasir
Reichtum und Gold. Der gebraut, dient es in Hei zur
unendliche Kreis Erlangung der Inspiration;
verweist auf die unendliche es ist der Plasmatrank
Selbstvermehrung von allem schlechthin, die Atmosphäre
in Hei. Der Ring verbindet dieser Dimension.
im Kreis zur Einheit. Er ist
d a s Endlose, sich ewig
wiederholende, Fruchtbarkeit
schenkende Prinzip Hels.

Freyrs Schiff Freyjas Halsband


Freyrs Eber Skidbladnir Brisingamen

Gullinborsti, »Goldborste«, Alle Asen haben darin Platz. Dieses wurde geschaffen
genannt. Wurde von Zwergen Es ist d a s schnellste Schiff, von vier Zwergen, wofür
gefertigt. Sie legten eine weil es immer Fahrtwind hat, jeder mit der begehrten
Schweinehaut in den Ofen, kann zusammengefaltet Göttin eine Nacht verbringen
doch ein Eber mit Goldborsten werden und in der Tasche durfte. Aus Eifersucht lässt
kam heraus. Er läuft durch verschwinden. »Segler der Odin Loki d a s Halsband
die Luft und auf dem Wasser Lüfte« genannt. entwenden, doch Heimdali
und verbreitet überall Helle. Gebaut von den Zwergen holt es für Freyja zurück.
Er schmückt die Helme und Sindri und Brokk.
wird »Kampfschein«
genannt.

316
eine Nacht mit der Göttin verbringen durfte. Zwerge sind ver-
schmitzte Ränkeschmiede des Seelischen. Der Zwerg Alwis steht hier
für das Zwergenprinzip schlechthin.
In der Edda spielen die Zwerge keine so große Rolle wie im nordi-
schen Alltagsleben. In Island hießen sie Huldafolk, in Norwegen Huld-
rer, »die Unterirdischen«, aber auch »Liebling«, weil sie Menschen
gelegentlich wohlgesinnt sind. In Schweden nennt man sie Ra oder
Radande, »die Waltenden«, was etymologisch auf »trügerisch« ver-
weist. Mittelhochdeutsch spricht man von twerc oder zwerg, »Druck-
geist«, angelsächsisch von dweorh, altnordisch von dvergr oder draugr,
»durch Betrug schädigen«. Elbe heißt altnordisch auch skratti, »Lärm-
geist«, norwegisch skratta, »lärmen«. Elben sollen in der Erde leben
und sich den Menschen gegenüber mal freundlich, mal feindlich ver-
halten. Ihnen gehören die Verstorbenen, weshalb sie in der Nähe der
Gräber wohnen. Der »Elbenhauch« bringt Pest und Krankheit, der
»Alpschuss« den tödlichen Pfeil. Trifft man auf einen nächtlichen El-
bentanz, solle man nicht hinsehen, denn sonst werde man ins Elben-
reich gelockt und komme - wenn überhaupt - nur verrückt oder erst
nach vielen Jahren wieder zurück. In Norwegen spricht man von Geis-
teskranken als »Huldrin«, sie sind »verhuldert«.
Elben lieben den Tanz und die Musik, von der ein großer Zauber
ausgeht. Die Zwergentochter Ulfa schlägt auf ihrer Goldharfe einen
Runenschlag, durch den selbst das Waldgetier ergriffen wird und zu
fliehen vergisst. Man spricht in Schweden vom Elbenspiel, in Norwe-
gen vom Schlag oder Spiel des Huldrevolkes, in Island von der Weise
oder dem Schlag der Lieblinge. Ebenso verführerisch ist die Speise der
Elfen; auch diese soll man nicht annehmen, sonst verfällt man ihnen,
insbesondere durch ihren Vergessenheitstrank.
Elfen rauben schöne Kinder und schieben ihre eigenen hässlichen
als Wechselbalg unter. Wechselbälge sind bleich wie Bast und fahl wie
Asche, es sind Unholde. Verprügelt man den Wechselbalg, kommen
die Elfen und holen ihn im Tausch gegen das leibliche Kind der Mut-
ter wieder zurück. Elfen, glaubt man, sind sehr hübsch im Gegensatz
zu den hässlichen, alt aussehenden Zwergen, die bleich oder erdbraun
sind, weil sie nicht von der Sonne bestrahlt werden. Der Zwerg Alwis
ist ebenfalls bleich. Zwerge sind nur männlich, Zwergenweiber gibt es
nicht, sagen die Quellen. Die Zwerge erschaffen ihre Rasse selbst, in-
dem sie aus der Erde ihresgleichen herstellen; auch sollen sie aus Erde
Menschen geschaffen haben. Zwerge werden auch »menschliche Ge-
bilde« genannt, weil sie Menschen ähneln.

317
Herkunft der Zwerge. Die Zwerge stammen von Ymir ab. Beim Verfall dieses Riesen
formte sich differenzierend eine neue Welt, nämlich Unterzustände im Plasma mit Rie-
sen und Zwergen sowie Midgard mit den Menschen. In anderen Quellen wird erwähnt,
dass die Götter aus der Schädelschale des toten Ymir den Himmel formten, den sie auf
vier Pfeiler in Gestalt von vier Zwergen stellten. Ymir ist offenbar ein Evolutionsvor-
gang im Plasma.

Man spricht auch vom Bergkönig, der in Felsen lebt. Von Elben
entführte Menschen erzählen, sie seien auf der »blumigen Heid« ge-
wesen, in Elfengärten, wo der Elbenkönig Gudmund auf der » U n -
sterblichkeitswiese« im Lande »Glanzgefilde« residiert, was eine Art
nordisches Paradies ist. Bei Folkwang, »Volkswiese«, handelt es sich
wohl um das Gleiche (vergleiche die griechische Asphodeloswiese).
Wie man sieht, ist nicht klar auszumachen, ob ein Unterschied zwi-
schen Zwergen und Elfen besteht, viele Merkmale verweisen auch auf
Riesen. Sind also Riesen, Elben, Zwerge verschiedene Namen für ein
und dieselbe Rasse aus dem Plasma? Die Begriffe verweisen lediglich
auf unterschiedliche Tätigkeitsbereiche der Erhabenen hin. Alben und
Riesen sind, wie gesagt, nicht eindeutig voneinander zu trennen. Ihre
Eigenschaften unterscheiden sich nicht sonderlich. Riesen sind insbe-
sondere mit den Bergen, mit Kraft (thurs, sanskrit turd, »stark«, alt-
nordisch Jötunn, »der Gefräßige«) und Lärm verbunden, aber auch
mit Wssen; sie heißen vielwissend, vielkundig, weise, allweise, klug,

318
zukunftswissend. Alle Weissagerinnen und Seherinnen sind Riesinnen,
sie stammen (wie die Seherin in »Die kürzere Seherinnenrede« sagt)
von Widolf ab und die Weissager von Swarthöfdi, »Schwarzkopf«.
Riesen mit den rohen Naturgewalten zu verbinden, die Alben oder
Zwerge mit dem Reich unter der irdischen Erde, ist eine späte verfäl-
schende Vereinfachung. Überhaupt ist die Naturdeutung eine roman-
tische Unsitte von Interpreten, die unfähig sind, in kosmologischen
Ebenen und nichtphysischen Welten zu denken. Für sie gilt allein als
wahr, was ihre Augen sehen.
Das Lied stammt offensichtlich aus neuerer Zeit, gedichtet von ei-
nem gelehrten, poesiebegabten Isländer. Es hat keinen Tiefgang, keine
echten kosmologischen Hinweise, alles erscheint zusammengeleimt
aus blosser Freude am Reim - der wahre Ursprung ist darin nicht mehr
enthalten, weshalb es zweifelhaft erscheint, es zur Eddasammlung zu
zählen; es baut höchstens auf Eddamaterial auf.

Der Zwerg Alwis

1 Alwis: 3 Alwis:
Die Bänke belegen Alwis heiß ich,
soll nun die Braut bei mir, unter der Erde wohn ich,
zum Heim mit mir hinziehen. meine Stätte ist unterm Stein.
Übereilt wird manchen Des Wagens Herrn
die Magdschaft dünken; hab ich nun heimgesucht;
daheim soll man Hast meiden. niemand breche den Bund!

2 Thor: 4 Thor:
Welch ein Fremdling ist das? Ich will ihn brechen,
Woher so fahl um die Nase? da über die Braut nur ich
Lagst du bei Toten vor Tag? als Vater verfügen darf.
Riesenwuchs, Nicht war ich daheim,
dünkt mich, gewahr ich an dir; als sie dir verheißen ward;
nicht gebührt dir die Braut! kein Gott sonst gibt sie dir.

Alwis sagt von sich, er wohne »unter der Erde, unterm Stein« - oft
werden Zwerge als im Innern der Erde wohnend missverstanden. An-
dererseits sagt T h o r über ihn, er besitze Riesenwuchs, was wider-
sprüchlich ist. In den meisten Sagen der Völker wird das Innere der
Erde auch als eine andere Dimension verstanden, das Totenreich, und

319
darauf spielt T h o r an, wenn er zu Alwis sagt: »Lagst du bei Toten vor
Tag?« Denn Zwerge, Riesen und die Verstorbenen leben alle in Hel.
Die Riesen und Zwerge sollen aus Ymir hervorgegangen sein, was dar-
auf verweist, dass sie noch reine Plasmawesen sind, denn Ymir ist der
Urzustand, und die Folgewesen sind Ausfaltungen seiner selbst.
T h o r gibt sich nicht als Vater zu erkennen, sagt aber, er wolle Al-
wis seine Tocher nicht geben - vielleicht weil er sich als Gott versteht,
während Alwis ein Zwerg ist - und will den Bund der beiden brechen.
Tatsächlich jedoch ist T h o r ein Riese. Alwis lügt und sagt dem Herrn
des Wagens, T h o r sei als Herr des Ziegenwagens bekannt, den Vater
der Braut habe er besucht und gefragt, und der Bund sei nun geschlos-
sen.

5 Alwis: 7 Alwis:
Welch ein Mann ist das, Gewinnen will ich
der über die Maid, die lichte, deinen Willen bald
behauptet, Herr zu sein? und die Ehe eingehen;
Wenige werden schöner scheint mir
dich Wegestrolch kennen; der Schneeweißen Besitz,
wer nahm als Erbe dich an? als ohne sie zu sein.

6 Thor: 8 Thor:
Wingthor heiß ich - Verwehrt werden
ich bin weit gezogen - soll dir, weiser Gast,
und bin Sidgranis Sohn. nicht die Minne der Maid,
Ohne meinen Willen wenn aus allen Heimen
sollt du die Maid nicht haben du mir angeben kannst,
und die Ehe nicht eingehen. was ich wissen will.

Thor sagt, er heiße Wingthor und sei der Sohn des Sidgranis, »der mit
dem langen Schnauzbart«, was ein Beiname Odins ist. Das verwundert,
denn Odin ist nicht T h o r - oder wurde hier an Stelle Odins, der ja häu-
fig Wesen des Riesenreichs prüft, unüberlegt T h o r eingeschoben?
Tatsächlich passt die Wissensprüfung mehr auf Odin. Auch die Ver-
kleidung und das Reisen unter anderen Namen verweisen eher auf die-
sen als auf Thor. T h o r sagt nun zu Alwis, er könne die Tocher sehr
wohl haben, wenn er folgende Fragen beantworte, womit der bekannte
Wissenswettstreit eingeleitet wird.

320
Die Erde

9 10 Alwis:
Sage mir, Alwis - Erde bei den Menschen,
von allen Weltreichen bei den Asen Flur,
weißt, Zwerg, du wohl -, bei den Wanen Wegbreite,
wie die Erde heißt, Allgrün bei den Riesen,
die vor uns allen sich breitet, bei den Alben Sprießende,
bei den Bewohnern jeder Welt. bei den Luftherrschern Land.

Die Welten

Die Aufzählung der Namen ist willkürlich, verweist aber vielleicht


doch auf Vorstellungen über diesen Bereich. Bezüglich der Erde fin-
den sich jedoch keinerlei bahnbrechende Hinweise, eher Fantasie.

11 Thor: 14 Alwis:
Sage mir, Alwis Mond bei den Menschen,
von allen Weltreichen Mindrer bei den Göttern,
weißt, Zwerg, du wohl - Himmelsrad bei Hel,
wie man den Himmel heißt, Eiler bei den Riesen,
den die Helden sehn, bei den Alben Schein,
bei den Bewohnern jeder Welt! bei den Zwergen Zeitmesser.

12 Alwis: 15 Thor:
Himmel bei den Menschen, Sag mir, Alwis
Hochheim bei den Riesen, von allen Weltreichen
bei den Wanen W n d w e b e r , weißt, Zwerg, du wohl -,
Tropfdach bei den Zwergen, wie man die Sonne heißt,
Tagglast bei den Alben, die da sehn die Menschen,
bei den Göttern den bei den Bewohnern jeder Welt.
Glänzenden.
16 Alwis:
13 Thor: Sonne bei den Menschen,
Sag mir, Alwis - Südglanz bei den Göttern,
von allen Weltreichen Dwalins Zwang beim Zwergen-
weißt, Zwerg, du wohl -, volk
wie man den Mond heißt, Leuchte bei den Riesen,
den die Menschen sehn, Lichtrad bei den Alben,
bei den Bewohnern jeder Welt. Allrein bei den Asensöhnen.
321
Dwalin ist ein Zwerg, »der Schlafende« oder »der Langsame«. »Dwa-
lins Zwang« bezieht sich auf die Sonne, den Albenstrahl; wenn die
Zwerge von einem Sonnenstrahl getroffen werden, versteinern sie, die
Sonne bezwingt sie. Der Rest dürfte freie Erfindung sein.

17 Thor: 18 Alwis:
Sag mir, Alwis - Wolke bei den Menschen,
von allen Weltreichen bei den Waltern Böe-Bringer,
weißt, Zwerg, du wohl -, bei den Riesen Regenspender,
wie man die Wolken heißt, Windfloß bei den Wanen,
die Wetterschauer bringen, Wetterkraft bei den Alben,
bei den Bewohnern jeder Welt. doch Hehlehelm bei Hel.

»Hehlehelm«, da man in Hel gewissermaßen einen Helm (Hel-m!),


eine Tarnkappe auf hat, also mental verhehlt, verdeckt ist. »Hehlen«
im Sinne von verstecken, verheimlichen, denn in Hel wird mental ver-
heimlicht beziehungsweise ist Hel vor unserem Blick versteckt.

19 Thor: 22 Alwis:
Sag mir, Alwis - Stille bei den Menschen,
von allen Weltreichen Sturmrast bei den Göttern,
weißt, Zwerg, du wohl -, bei den Wanen Windriegel,
wie man den Wind heißt, Tagruh bei den Zwergen,
der weithin fährt, bei den Thursen Schwüle,
bei den Bewohnern jeder Welt. bei den Alben Allschlummer.

20 Alwis: 23 Thor:
Wind bei den Menschen Sag mir, Alwis
Weher bei den Göttern, von allen Weltreichen
Heuler bei den Himmlischen, weißt, Zwerg, du wohl -,
Brauser bei den Riesen, wie man das Meer heißt,
Böe bei den Alben durch das die Menschen rudern,
doch Hinstürmer bei Hel. bei den Bewohnern jeder Welt.

21 Thor: 24 Alwis:
Sag mir, Alwis See bei den Menschen,
vun allen Weltreichen Meer bei den Göttern,
weißt, Zwerg, du wohl -, bei den Wanen Wogenreich,
wie man die Luft heißt, Tief bei den Zwergen,
die bewegungslos liegt, bei den Thursen Flut,
bei den Bewohnern jeder Welt. Aalheim beim Albenvolk.

322
25 Thor: 26 Alwis:
Sag mir, Alwis Feuer bei den Menschen,
von allen Weltreichen Flamme bei den Asen,
weißt, Zwerg, du wohl -, bei den Wanen Waberbrand,
wie man das Feuer heißt, Fresser bei den Riesen,
das bei den Völkern brennt, Flackerer bei Hel,
bei den Bewohnern jeder Welt. Verzehrer beim Zwergenvolk.

Bemerkenswert ist in der letzten Strophe das Wort »Waberbrand«.


»Wabermasse« wird im Fjölswinnlied der Zustand Hels genannt. Wa-
bern ist ein schwankender Zustand, der sich auf die plasmatische Be-
wegung der Energie Hels bezieht, »Brand« bezieht sich auf den feuri-
gen Aspekt Hels. Also: Das Plasma brennt und wabert wie Wasser!

27 Thor: 29 Thor:
Sag mir, Alwis - Sag mir, Alwis -
von allen Weltreichen von allen Weltreichen
weißt, Zwerg, du wohl -, weißt, Zwerg, du wohl -,
wie man den Wald heißt, wie man die Nacht heißt,
der da wächst bei den die von N o r abstammt,
Menschen, bei den Bewohnern jeder Welt.
bei den Bewohnern jeder Welt.

28 Alwis:
Wald bei den Menschen,
bei den Wanen Gezweig,
Haldentang bei Hel,
Feldmähne bei Asen,
Feuerfraß bei Riesen,
bei den Alben Astereich.

Mit N o r ist Nörfi, der Vater der Nott, der Nacht, gemeint.

30 Alwis:
Nacht bei den Menschen,
Nebel bei den Göttern,
bei den Himmlischen Hehlende,
Unlicht bei den Riesen,
bei den Alben Schlafwonne,
bei Dwalins Volk Dämmergöttin.

323
•Dwalins Volk« sind die Zwerge.

31 Thor: 32 Alwis:
Sag mir, Alwis - Gerste bei den Menschen,
von allen Weltreichen bei den Göttern Saat,
weißt, Zwerg, du wohl -, Wachstum im Wanenreich.
wie man die Saat heißt, Brotkorn bei den Riesen,
die da säen die Menschen, Bierstoff bei den Alben,
bei den Bewohnern jeder Welt. Hängehalm bei Hel.

Die Flüssigkeiten der drei Welten

33 Thor: 34 Alwis:
Sag mir, Alwis - Bier bei den Menschen,
von allen Weltreichen Bräu bei den Wanen,
weißt, Zwerg, du wohl -, Al im Asenreich,
wie man das Bier heißt, Heiltrank bei den Alben,
das da brauen die Menschen, bei Hel aber Met,
bei den Bewohnern jeder Welt. Rauschtrank im Riesenland.

Jede der drei Welten hat ihre Nahrung und Flüssigkeit. Was bei den
Menschen Bier ist, ist bei den Wanen, sprich Riesen Bräu beziehungs-
weise auch Met. Im Riesenland Hels bewirkt Bräu oder Met einen
mentalen Rauschzustand. Bei den Asen heißt es Al, es vergeistigt. Mit-
tels der drei Bierarten wird auf die drei grundlegenden Seinszustände
der drei Dimension hingewiesen.

Der Albenstrahl

35 Thor:
Aus einem Mund
hab ich mehr noch nie
erfahren an Vorzeitkunde.
Mit viel List hab ich gefesselt dich;
nun trifft dich das Tageslicht:
die Sonne scheint in den Saal.

N u n stellt es sich heraus: Die ganze Befragung war eine List Thors, um

324
den Zwerg festzuhalten, bis das Tageslicht, der Albenstrahl, die Sonne
erscheint, die für diesen tödlich ist, denn Zwerge sind unterirdische
Wesen und vertragen keine Sonne. Der Zwerg erstarrt zu Stein.
Warum Zwerge das Sonnenlicht meiden müssen, ist unklar. N u r weil
sie immer im Dunkeln leben? In Hel herrscht ja immer Zwielicht, düs-
ter-nebliges Hel-Licht. Sollten alle Heiwesen - auch Verstorbene -
daher vor der harten Sonnenstrahlung flüchten?

325
1 2 . BRUCHSTUCKE UND EINZELSTROPHEN:
Totenflüsse und Riesenweiber

Hier finden sich Fragmente aus verschiedenen Liedern.


Um die beiden ersten Reststrophen verstehen zu können, ist
zunächst eine nicht erwähnte Vorgeschichte zu erzählen. Thor fuhr
zum Riesen Geirröd, »Speertöter«, nach Hel, setzte sich in Gestalt ei-
nes Vogels, das heißt in Freyjas Falkengewand, auf den Rauchfang, wo
er jedoch durch Zauberei kleben blieb; so konnte er von Geirröd ge-
fangen und für drei Monate hungernd in eine Kiste geschlossen wer-
den. Als er dann herausgelassen wurde, stellte sich heraus, dass Loki
heimlich mit Thor zusammengewesen war, und dieser gab sich nun zu
erkennen. Um sein Leben zu retten, musste Geirröd Loki schwören,
Thor ohne seine drei Kraftwaffen, den Hammer, den Kraftgürtel Me-
gingjardar, der ihm Asenkraft verleiht, und den Eisenhandschuh, zu
fangen. Als Thor seine Reise antrat, kehrte er bei der Riesin Grid ein,
der Mutter Widars, und sie erzählte ihm von den Absichten Geirröds.
Da Thor ohne seine Waffen war, gab sie ihm ihren eignen Gürtel und
Stab und ihre Eisenhandschuhe. Thor musste den Totenfhiss W m u r ,
das Plasma, überwinden, wobei er sich auf Grids Stab stützte. Loki war
dabei und klammerte sich an ihn. Doch das Wasser schwoll immer
höher an, bis Thor die Ursache erkannte: Gjalp, die Tochter des
Geirröd, stand mit gespreizten Beinen über dem Fluss und urinierte.
Thor traf sie mit einem großen Stein und konnte so das andere Ufer
erreichen. Dann erschlug Thor Geirröd.

Die Flüsse des Totenreichs

Zwei Thorstrophen

Auf der Fahrt zu dem Riesen Geirröd stapfte Thor durch den Strom Wimur,
den größten aller Ströme. Er hatte sich gegürtet mit dem Kraftgürtel und
stemmte den Stab stromabwärts. Und als er in die Mitte kam, da schwoll die
Flut so hoch, dass sie ihm an die Achseln schlug. Da sprach Thor:

326
Wachse nicht, Wimur,
da ich dich durchwaten muss
nach der Riesen Reich!

Wisse, wenn du wächst,


so wächst mir Asenkraft
wie der Himmel, so hoch!

Diese zwei Reststrophen über T h o r werfen nochmals einiges Licht auf


den Zustand des Riesenlandes Hel. Wir hören erneut von einem Fluss,
Wimur. Diesen muss T h o r durchschreiten, um im Osten Riesen zu ja-
gen. Ich nehme diese Stelle zum Anlass, um grundsätzlich auf das Phä-
nomen der Flüsse im Totenbuch einzugehen.
Alle alten Überlieferungen kennen die Totenflüsse. Selbstredend
handelt es sich nicht um Flüsse, sondern um mentale Energieströme,
worauf die Namen der Flüsse hinreichend verweisen, sie beschreiben
nämlich allesamt Gefühlszustände. Wenn also Thor, wie es heißt,
durch einen Fluss waten muss, um ins Riesenland zu gelangen, dann
muss er durch nichts anderes als durch Gefühlsfelder waten. Wenn im
Fluss Wimur die Flut anschwillt, dann schwellen Emotionen an.
Zunächst ist grob zu unterscheiden zwischen den Eliwagar, »Eis-
wellen« oder »Sturmgewoge«, den Eisflüssen Niflheims, und den Feu-
erflüssen Muspellheims. Die verschiedenen Eisflüsse entströmen dem
Brunnen Hwergelmir, »brausender Kessel«, und fließen von Niflheim
nach Ginnungagap. Doch all das sind letzdich Synonyme: Die Ströme
wie der Brunnen ebenso wie Niflheim oder Ginnungagap beziehen
sich alle auf das Plasma. Im Grunde wird nur gesagt, dass es ein Plasma
gibt. Das Höllengift, welches die Flüsse mit sich führen oder aus dem
sie bestehen, gefriert in der »nördlichen« Region der Schlucht, wo-
durch sich diese mit Reif und Eisschichten füllt, während die südliche
Region, Muspellheim (Muspell = Feuer), durch die heißen Flüsse und
die heißen Lüfte, die sie mit sich führen, eisfrei bleibt. Man muss also
Eisströme von Feuerströmen unterscheiden; Hel teilt sich in einander
entgegengesetzte Zustände.
Einige Namen, die sich wohl auf die Eisströme, die Eliwagar, be-
ziehen, lauten: Fimbulthul, Fjth, Gunnthrä, Hrid, Leiptr, Slid, »die
Fürchterliche«, das ist der mit Schwertern und Messern versehene
Strom, sowie Svol, Sylgr, Vith, Ylgr.

327
Am bekanntesten scheint Gjöll, »die Brausende, Echo«, die offen-
bar besonders von den Verstorbenen, also von der Seite Midgards aus
(über die Gjöllbrücke), überwunden werden muss. An der Gjöll wa-
chen die Riesin Modgud, »Götterfeindin«, und der Höllenhund Garm
als Zöllner, auf dass nur wahrhaft Verstorbene Hel betreten. Hel ist ein
lautes Reich, ein Lärmheim, ein »Echo«. Laut sind die nun zu Tage
tretenden Gefühle der Toten. Die Toten befinden sich in Gjöll, im su-
perflüssigen Plasma, und ihre Emotionen, nun freigesetzt, das heißt
befreit von der körperlichen Hülle, entfalten sich ungehemmt; sie
echoen durch das Plasma. Der Totenfluss, das sind wir im leiblosen Zu-
stand.
Thund, »der Angeschwollene«, ist ein Fluss, der Walhall umströmt
und den die Einherjer mühsam überqueren müssen (Thund ist auch ein
Beiname Odins). Thund steht hier für Walhall, das ebenfalls als reine
Plasmaregion und als Totenfeld zu sehen ist. Angeschwollen sind hier
wieder die Gefühle.
Ifing gilt als Fluss, der Asgard und Jötunheim trennt und niemals
zufriert (wohl weil er in Muspellheim liegt).
In der Wöluspa (Strophe 28) heißt es bezüglich des Totenflusses
Slid: »Durch Gifttäler gleitet von Osten mit Schneiden und Schwer-
tern der Schreckensstrom.« Gift, Schneiden, Schwerter, Schrecken:
diese Worte beziehen sich auf seelische Zustände.
Der Fluss Wan fließt als Speichel aus dem Maul des Wolfes Fenrir,
weil ihm von den Göttern ein Schwert zwischen die Kinnbacken ge-
steckt wurde; der Speichel läuft, heißt es, bis zum Weltuntergang.
Das Wasser, welches die Flüsse speist, bildet sich als Tau auf dem
Geweih der Hirsche, die in der Krone des Weltenbaumes, sprich in As-
gard, äsen; der Tau fällt herunter, bildet die Flusslandschaften und N e -
belheim, wo es neblig, dunkel und kalt ist.
T h o r will nicht vom Fluss, das heißt also von Emotionen, ertränkt
werden und warnt, er werde Asenkraft, also Geistkraft, dagegen ein-
setzen und die Emotion herunterdrücken. Im reinen Geist gibt es
keine Gefühle mehr; das heißt, T h o r müsste diese in sich selbst auflö-
sen, was ihm als Halbriese schwerfallen, als Ase aber gelingen dürfte.
Da T h o r halb Riese halb Ase ist, kann er gelegentlich in sich das Hel-
element unterdrücken, und nur so gelingt es ihm auch, Riesen zu er-
schlagen; wäre er nur Riese, also nur Emotion, könnte er das nicht. Das
Plasma und seine Bewohner müssen T h o r fürchten, weil er nicht nur
Plasma ist, sondern auch Anteil an der Geistkraft der Asen hat.

328
Thors Kampf gegen die Riesentöchter

Beim Riesen Geirröd saß T h o r in der Gasthalle auf einem Stuhl. Da


merkte er, wie der Stuhl unter ihm zum Dach hin aufstieg. Er stemmte
seinen Stab mit aller Kraft gegen das Dachgebälk und legte sich schwer
in den Stuhl hinein. Da hörte man ein lautes Krachen und darauf ein
Geschrei: Unter dem Stuhl waren die zwei Töchter des Riesen, Gjalp
und Greip, gewesen; diesen hatte Thor das Rückgrat gebrochen. Da-
von sprach T h o r später einmal:

2
Einmal brauchte
ich all meine Kraft
in der Riesen Reich,
als Gjalp und Greip,
Geirröds Töchter,
mich himmelan heben wollten.

Thor befindet sich in der Riesendimension beim Riesen Geirröd, der


als Ziehsohn Odins gilt. Geirröds Töchter, Gjalp und Greip, versu-
chen, T h o r zu zermalmen, doch Thor drückt stattdessen sie nieder und
bricht ihnen das Rückgrat. Wieder einmal siegt Thor, weil er nicht nur
halb Riese, sondern zusätzlich noch halb Gott ist.

Die Strophe der Thökk

Als der Gott Balder durch Lokis Schuld umgekommen war.; sandten die Asen
Boten über die ganze Erde, man möge weinen, um Balder aus Hel zu befreien.
Alle taten so und weinten, Menschen und Tiere, die Erde und die Steine und
die Bäume und jegliches Erz. Zuletzt stießen die Sendboten in einer Höhle
auf eine Riesin namens Thökk: Als sie auch diese baten zu weinen, damit
Balder aus Hel herauskommen könne, antwortete sie:

Mit trockenen Tränen


wird Thökk beweinen,
dass man Balder verbrannt;
nicht lebend noch tot
tat mir Liebes der Mann:
halte Hel, was sie hat!

329
Loki hatte sich in die Riesin Thökk, »Dank«, verwandelt. »Dank«
verweist auf Lokis Zynismus, denn er erweist Balder eben alles andere
als einen Dank. In der Verkleidung der Riesin verhindert er Balders
Rückkehr, er weint mit »trockenen Tränen«, das heißt, er weint nicht.
Die Schwierigkeit besteht hier in der Frage, was Balder darstellt. Im
Allgemeinen wird er als ein Ase betrachtet, aber alle Hinweise deuten
meines Erachtens daraufhin, dass er ein Prinzip Hels ist. Wird hier an-
gedeutet, Balder müsse in Hel bleiben, weil er ein Heiprinzip ist?

Frigg als Botschafterprinzip

Gna und die Wanen

Die Göttin Frigg hat eine Dienerin namens Gna, welche sie auf Botschaft in
diese und jene Welten schickt. Gna hat ein Ross namens Hufwerfer, das durch
die Luft und übers Meer läuft. Einmal geschah es, dass sie, als sie ritt, einige
Wanen in der Luft droben sahen. Da sprach einer von ihnen:

1 2
Was fliegt da? Nicht flieg ich,
Was flitzt da doch flitz ich,
und eilt leicht durch die Luft? eile leicht durch die Luft
auf Hufwerfer,
den Haarstruppig
zeugte mit Zaunspringe.

Die Botschafterrolle als Gna ist ein Aspekt der Frigg, der Gemahlin
Odins; mit dem Pferd Hufwerfer reitet sie ins Plasma zu den Wanen;
dies kann sie nur mit einem Pferd - das Pferd steht für die Emotion des
Plasmas, und dieser muss die Göttin sich jetzt aussetzen, sie muss sie
überziehen wie einen Mantel. In anderen Worten fliegt sie mittels
der emotionalen Triebkraft - die so wild und schnell wie ein Pferd ist
- durchs Plasma. Das Pferd ist also der Ausdruck der Kraft der Emo-
tion.

330
Widerstreit im Plasma

Njörd und Skadi

Der Gott Njörd aus dem Wanengeschlecbt hat seine Wohnung an der See, in
Noatun. Er lenkt die Winde und stillt Meer und Feuer; er schützt Seefahrt
und Fischfang; reichbegütert ist er und schenkt Reichtum denen, die ihn an-
rufen. Die Götter gaben ihm Skadi zum Weib, eines Bergriesen Tochter, die
im Gebirge Ski läuft und mit dem Bogen Wild jagt. Skadi kommt mögli-
cherweise von den Lappen oder Finnen. Sie wollte da wohnen, wo ihr Vater
gewohnt hatte, auf den Bergen droben. Njörd aber wollte an der See leben.
Da einigten sie sich, neun Tage im Gebirge zu hausen und die nächsten neun
in Noatun. Aber als sie in Noatun zurück waren, sprach Njörd:

1 Da sprach Skadi dies:


Leid sind mir die Berge;
nicht lange war ich dort, 2
neun Nächte nur: Nicht schlafen kann ich
schöner schien mir vor dem Schreien der Vögel
der Schwäne Sang an der Brandung Bett:
als der Wölfe Wutgeheul. jeden Morgen,
wenn sie vom Meere kommt,
weckt die Möwe mich.

Skadi wie Njörd sind Riesen, die der Berge und des Meeres. Das
Plasma unterteilt sich in verschiedene vormaterielle Elementarzu-
stände wie Wasser, Erde, Feuer, Luft. Wasser wird in der Edda als
Flüsse, Brunnen, Meer, Regentropfen dargestellt, im wässrigen Nifl-
heim wohnen Wasser- und Bergriesen. Feuerriesen leben in Muspell-
heim; Luft wird Windheim genannt, wo die Totenseelen leben. Berge
stehen für das Hohe, denn - von der Materie aus betrachtet - ist das
Plasma das Erhabene, Riesige. Riesen leben daher oft in den Bergen,
weil sie Erhabene sind. Dass nun die verschiedenen Elementarzu-
stände zu unterscheiden sind, das Bergige und das Wässrige also nicht
zusammenpassen, wird hier bildlich geschildert. Es gibt demnach vier
Arten von Riesen im Plasma, denn in allen Elementarzuständen gibt es
entsprechende Lebensformen.

331
Nomen

Schutzgeister und Götterwalstatt

Die Nomen 2
Nicht einer Abkunft
1 sind alle die Nornen,
Sage mir, Fafnir, sie sind verschiednen Geschlechts:
da man erfahren dich nennt die stammen von Asen,
und bewandert gar wohl: die stammen von Alben,
welche Nornen kommen doch die von Dwalin ab.
bei Kindesnöten,
und lösen die Leibesfrucht?

Diese Strophen gehören zum Lied vom Drachenhort, das zu den Hel-
denliedern gehört. Lediglich der Name Fafnir, »der Umarmer«, ist
neu und steht in diesem Lied für die Midgardschlange, von der sich alle
Drachensagen ableiten. Der Drache steht also für das Plasma mit all
seinen Eigenschaften. Die Midgardschlange wurde im Verlauf der Ge-
schichte ein Drache, der Goldschätze und Jungfrauen bewacht. Es geht
hier um die Nornen, die Schicksalsgöttinnen, die verschiedene Aufga-
ben haben. Als Nornen bestimmen sie das Schicksal des Daseins
schlechthin. In Form ihrer Emanationen als hilfreiche Elbinnen oder
Disen helfen sie in einfachen menschlichen Angelegenheiten, bei der
Geburt, in Kindsnöten und bei anderen Schwierigkeiten. Als Schwa-
nenmädchen oder Walküren entscheiden sie, wer in der Schlacht fällt.
Als Wölwen oder Zauberfrauen geben sie das Schicksal kund.
Es wird darauf hingewiesen, dass das Schicksal zweierlei Herkunft
haben kann, zum einen das Schicksal des Geistes, der Asen, zum ande-
ren das Schicksal der Seele, der Alben. Zum Teil bestimmen uns die
reinen Gesetze des Geistes, zum anderen Teil die Gesetze der Seele,
weshalb man sehr wohl von zwei Arten Nornen sprechen darf.
Die Schicksalsgesetze der Alben sind identisch mit jenen der
Zwerge, sprich des Zwerges Dwalin, der hier für alle Zwerge steht. Al-
ben und Zwerge gehören der Riesendimension an.

332
Wigrid, Schlachtfeld fürs Weltende

Die Götterwalstatt 4
Oskopnir heißt es:
3 es sollen alle dort,
Sage mir, Fafhir, die Götter, Gere schwingen;
da man erfahren dich nennt Bilröst bricht,
und bewandert gar wohl: wenn über die Brücke sie ziehn,
wie heißt das Eiland, es schwimmen die Schlachtrosse.
wo die Asen den Schwerttau
zusammen mit Surt mischen?

Das Eiland, wo die Asen den Schwerttau, sprich das Blut mischen, ist
Oskopnir, das heißt das Feld Wigrid, die Götterwalstatt (wal = wählen,
statt = Ort), wo beim Weltuntergang die Endschlacht zwischen Riesen
und Asen stattfindet. Oskopnir bedeutet vermutlich »der (noch nicht)
geschaffene« Kampfplatz; »noch nicht geschaffen«, weil der Weltun-
tergang noch bevorsteht. Surt ist der Feuerriese, der Wache hält an der
Grenze zwischen Hel und Asgard. Surt führt die Bewohner der Hei-
dimension zum Kampf gegen Asgard. Beim Hineinstürmen der Riesen
nach Asgard, das heißt also dem Hineinfallen Hels, der Seele, in den
Geist, bricht auch die Brücke Bilröst oder Bifröst, »die schwankende
Himmelsstraße« oder »der nur kurz zu sehende Regenbogen«, welche
die beiden Dimensionen verbindet, zwangsläufig zusammen. Die
Schlachtrosse der Heibewohner müssen nun durch die Heiflüsse, also
durch Hel selbst schwimmen und können nicht mehr den schnellen
Weg über die Brücke nehmen.

333
1 3 . ZAUBERGESANG DER GROA:
Das mentale Rüstzeug des Helden

Dieses Lied (Thule Bd. 2, Nr. 28) entstammt nicht der Übertragung
von Genzmer, der dieses Lied ausklammert, sondern jener von Sim-
rock. Es ist unabdinglich für das Verständnis des folgenden Fjölswinn-
lieds. Die Zauberin Groa ist die Frau des Sommergottes Aurwandil.
Gröa bedeutet vermutlich »wachsen, grünen, heilen«. Aurwandil,
»helle Sonne«, ist ein Riese, womit klar wird, dass auch sie eine Riesin
ist. Aurwandil wurde dereinst von T h o r in einem Korb aus dem N o r -
den weggetragen, wobei dem Riesen eine aus dem Korb herausragende
Zehe abfror. T h o r brach die Zehe ab und warf sie an den Himmel, wo
sie zum Sternbild wurde. Aurwandil gilt auch als Licht- und Früh-
lingswesen, das T h o r aus dem Winter des Nordens zu seiner Gattin
Groa, dem emporsprießenden Frühling, zurückführt. Doch ist diese
Überlieferung nach Golther nicht alt. Aurwandil, genauer earendel, ist
im Angelsächsischen auch der Name des Morgensterns. Groa wurde
dadurch bekannt, dass sie einst versuchte, den Schleifstein zu entfer-
nen, der - von einem Riesen geworfen - im Kopf T h o r s stecken ge-
blieben war.
Groa tritt nur als Tote in Erscheinung, nämlich als ihr Sohn
Swipdag, »der plötzlich hereinbrechende Tag« (den sie nach anderer
Überlieferung mit Solbiartr zeugte), zur Weissagung, also Totenbe-
schwörung an ihr Grab kommt. Swipdag will nach Hel, um seine Ge-
liebte Menglöd zu treffen. Bei seiner Mutter sucht er Rat, wie er sich
in Hel verhalten soll.
Swipdag ist der Tag. Sein Vater Aurwandil ist die helle Sonne, die
Mutter Groa ist der Frühling. Die drei Namen verbinden sich zum
Prinzip des Wachstums, der Fruchtbarkeit, des Lichts - und genau das
ist Hel, das helle Land der vormateriellen Fruchtbarkeit, eine Frucht-
barkeit, die die Materie hervorbringt. Wie die Wissenschaft heute auch,
waren die Germanen an den Ursachen des Lebens und Gedeihens in-
teressiert. Den Quell des Lebens erkannten sie in einer raumzeitlosen
Dimension, dem hellen Land. Zentral wird für Wachstum, Grünen
und Heilen das Licht - Sonne, Tag, Morgenstern - verantwortlich ge-
macht - zunächst das Urlicht von Hel, dann dessen Emanation, das

334
Licht der physischen Welt. Für die Germanen gab es keine Trennung
von Todeslicht und Lebenslicht, letzteres ist Kind von ersterem.
Leben und Tod sind eins, das ist die Philosophie, aus der sich die ger-
manische Lebenskraft nährt, während wir als ihre Nachfahren gelernt
haben, streng zu trennen zwischen Tod und Leben.
Der Anlass zu Swipdags Reise wird im »Zaubergesang der Groa«
vorgetragen, der oft mit dem »Fjölswinnlied« unter dem Titel »Svip-
dagsmäl« zusammengelegt wird, da sie eine Geschichte bilden. Die
Stiefmutter Swipdags (Aurwandils Frau) gibt diesem eine unerfüllbare
Aufgabe. Er soll Menglöd suchen, und zwar dort, wo im Grunde nie-
mand hin kann - in Hel. Er geht daraufhin zum Grab seiner Mutter, der
Riesin Groa, und bittet diese um Hilfe, denn er fürchtet zu Recht auf
dieser Reise den Tod. Die Reise wird also bereits als Reise in den Tod
angekündigt, denn man kann überallhin reisen, nur nicht in das Toten-
reich, weil man dazu selbst tot sein muss. Lebende haben dort selbstre-
dend nichts zu suchen. Das Lied stellt es so dar, als sei Swipdag ein Le-
bender, was ich aber widerlege. In Hel leben Riesen. Wäre Swipdag ein
Mensch, dann könnte er nur durch seinen eigenen Tod nach Hel reisen.
Aus diesem Grund wird er von seiner Stiefmutter, die ihn offenbar los-
werden will, dorthin geschickt, was nichts anderes heißt, als dass sie ihm
den Tod wünscht; andererseits macht sie ihn dadurch zum Märtyrer be-
ziehungsweise ermöglicht ihm ein heldisches Schicksal. Andererseits ist
Swipdag ein Riese und daher unsterblich. Dieses Lied soll offenbar nur
die Gesetze Hels vorführen, die Handelnden haben lediglich eine Sta-
tistenrolle. Swipdags tote Mutter gibt ihm nun viele Zauberkünste mit
auf den Weg, insbesondere solche, die ihm den Weg ins Totenreich
Hels öffnen werden, was ein erneuter Hinweis auf das Ziel der Reise ist.
Swipdag stellt das Tageslicht dar, seine Eltern sind Sonnengötter.
Das Licht stirbt also in den Tod hinein, stirbt aber nicht wirklich, son-
dern trifft auf seinen Ursprung, das Licht Hels. Lichtphilosophie wird
hier vorgeführt.

Gang zum Grab

Swipdag ist zum Grab seiner Mutter gegangen. Die Mutter lebt ent-
weder als Verstorbene in Hel oder war von Anfang an ein Heiwesen.
Die Stiefmutter hat Swipdag - was hier nicht erwähnt wird - angewie-
sen, nach Hel zu reisen, um Menglöd zu suchen. Für einen Menschen
ist die Reise nach Hel und eine Rückkehr von dort an sich unmöglich.

335
N u r ein Held ist dazu in der Lage. Er muss besondere Zauberkräfte,
also mentale Fähigkeiten besitzen. Swipdag bittet daher seine Mutter,
über ihn Zaubergesänge zu singen.

1 Swipdag:
Wache, Groa, erwache, gutes Weib,
Ich wecke dich am Totentor.
Gedenk dir das nicht? Zu deinem Grab
Hast du den Sohn beschieden.

2 Groa:
Was bekümmert nun mein einziges Kind?
Welch Unheil ängstigt dich,
Dass du die Mutter anrufst, die in der Erde ruht,
Menschliche Wohnungen längst verließ?

3 Swipdag:
Zu üblem Spiel beschiedst du mich, Arge:
Die mein Vater umfing,
Lud an den Ort mich, den kein Lebender kennt,
Eine Frau hier zu finden.

4 Groa:
Lang ist die Wanderung, die Wege sind lang,
Lang ist der Menschen Verlangen.
Wenn es sich fügt, dass sich erfüllt dein Wunsch,
So lacht dir günstiges Glück.
9

5 Swipdag:
Heb' ein Lied an, das heilsam ist,
Kräftige, Mutter, dein Kind.
Unterwegs fürcht' ich den Untergang,
Allzu jung eracht' ich mich.

Zaubergesang zur Stärkung d e s Selbstvertrauens

6 Groa:
So heb' ich zuerst an ein heilkräftig Lied,
Das Rinda sang der Ran:

336
Hinter die Schultern wirf, was du beschwerlich wähnst,
Dir selbst vertraue selber.

Zuerst lehrt Groa Swipdag einen Gesang, ein heilkräftiges Lied, das er
singen soll, wenn ihn auf dem Heiweg der Mut verlässt und er den
Glauben an seine Sendung verliert. Einst sang es die Riesin Rinda (viel-
leicht eine Emanation der Erde) der Meergöttin Ran (Plasma), der
Frau des Meerriesen Agir, vor.

Zaubergesang, um sich dem Schicksal hinzugeben

7
Zum andern sing' ich dir, da du irren sollst
Auf weiten Wegen wonnelos:
Der Urd Riegel sollen dich allseits wahren,
Wo du Schädliches siehst.

Urd ist das Schicksal, das jeder Mensch angeborenermaßen besitzt.


Um dieses zu festigen, gibt ihm Groa einen weiteren Gesang, den er
singen soll, wenn er, ernüchtert und mutlos, von Unangenehmem nie-
dergedrückt wird.

Zaubergesang g e g e n die mentale Flut

8
Zum dritten sing' ich dies, wenn wo verderblich
Flutende Flüsse brausen,
Der reißende, rauschende rinne dem Abgrund zu.
Vor dir Versand' er und schwinde.

Swipdag wird nach Hel in seine eigene seelische Natur reisen. Hel ist
unsere Seele, die Seele ist aber auch ein weiter Raum, eine andere Di-
mension, in der man mit anderen Seelenwesen zusammentrifft. Im
Seelenreich sind alle Wesen einander nahe, da weder Raum, noch Zeit
besteht. Hel ist also ein Seelenzustand und zugleich eine Dimension.
Die Kräfte der Seele, Gedanken und Gefühle, werden als reißende
Flüsse dargestellt, die den Suchenden fortschwemmen können. Die
Seele lebt im See, im Seelenwasser. Die ungestüme Bewegung unseres

337
Gemüts kann uns in der Tat abtreiben; dem vorzubeugen, singt Groa
ein Lied, das auch Swipdag in solch gefährlichen Augenblicken an-
stimmen kann. Wenn er sich mental beruhigt und entspannt, werden
die Seelenwasser in den Abgrund stürzen und versanden.

Zaubergesang g e g e n Aggression

9
Dies sing' ich zum vierten, so Feinde dir dräuend
Am Galgenweg begegnen,
Ihnen mangle der Mut, die Macht sei bei dir,
Bis sie zum Frieden sich fügen.

Diese Strophe ist beim Auftreten von äußeren beziehungsweise inne-


ren Feinden anzustimmen. Sie nimmt diesen die Kraft und verwandelt
ihre Angriffslust in Friedfertigkeit. Mit den Feinden können auch die
eigenen Ängste gemeint sein, die sich in Hel zu wirklich erscheinen-
den Truggestalten aufbauen. Sie also sind zu beruhigen und in Fried-
fertigkeit zu verwandeln.

Zaubergesang g e g e n mentale Fesselung

10
Dies sing' ich zum fünften, so Fesseln sich dir
Um die Gelenke legen,
Lösende Glut gießt dir mein Lied um die Glieder,
Der Haft springt von der Hand,
Von den Füßen die Fessel.

Angst und geistige Einschnürung können uns lähmen und uns fesseln.
Hel ist ein Zustand mentaler Fesselung: wir sind nur noch Emotion
und werden von ihr beherrscht. N u r wer sich von seinen eigenen Emo-
tionen löst - durch inneren Gesang eine »lösende Glut um die Glie-
der« sich strömen lässt -, befreit sich aus den Gelenkfesseln der Ge-
fühle.

338
Zaubergesang zur Umwandlung der Seelenunruhe

11
Dies sing' ich zum sechsten, stürmt die See
Wilder als Menschen wissen,
Sturm und Flut fass' in den Schlauch,
Dass sie frohe Fahrt gewähren.

Erneut wird auf die Gefahr der See, der Seele verwiesen; wenn sie
stürmt, soll Swipdag sie in einen »Schlauch« (sind Segel gemeint?) fas-
sen, ihre W l d h e i t umkehren und für den eigenen Antrieb nutzen.
Auch hier wird wieder eine Umwandlungsstrategie vorgeschlagen: Die
Seele soll den Sturm in innere Kraft verwandeln, statt sich davon ab-
treiben zu lassen. Das Verfahren der mentalen Verwandlung negativer
in positive Gefühlszustände stellt überhaupt die entscheidende Strate-
gie im Umgang mit Hel, unserer Seele, dar.

Zaubergesang g e g e n die Kälte d e s Plasmas

12
Dies sing' ich zum siebten, wenn dich schaurig umweht
Der Frost auf Felsenhöhen,
Kein Glied verletze dir der grimmige Hauch,
Noch soll er die Sehnen dir straff ziehn.

Hei besteht aus verschiedenen Bereichen. Einer ist Niflheim mit sei-
nen (mental) hohen Bergen. Dort ist es seelisch kalt. Die ungewohnte
Plasmaatmosphäre kann einem Neuankömmling zu schaffen machen.
Um zu verhindern, dass seine Glieder, sprich Seelenglieder, erstarren,
bekommt Swipdag einen weiteren Gesang mit auf dem Weg.

Zaubergesang g e g e n die Dämmerung

13
Dies sing' ich zum achten, überfällt dich
Die Nacht auf nebligem Wege,
Nichts desto minder mag dir nicht schaden
Ein getauftes totes Weib.

339
Das Totenreich, das Plasma, hat eine neblige Atmosphäre, es ist hell
wie die Dämmerung oder das Morgengrauen. Dieser Zaubergesag
hilft, die unsichere seelische Düsterheit zu meistern, in die wir beim
Sterben verfallen, und innerlich gelassen zu bleiben. Dann können ei-
nen auch sich nähernde Tote nicht schrecken.

Zaubergesang für die Überredungskunst

14
Zum neunten sing' ich dir, wird dir Not, mit dem Joten,
Dem schwertgeschmückten, zu reden,
Wortes und Witzes sei im bewussten Herzen
Fülle dir und Überfluss.

Wenn Swipdag mit starken Jöten, sprich Riesen in Berührung kommt,


soll er einen Gesang anstimmen, der seine Überredungskunst verbes-
sert, seine Stimme lockert, seine Beredsamkeit und Ideen stärkt.

Abschied

15
N u n fahre getrost der Gefahr entgegen,
Dich mag kein Hindernis hemmen.
Ich stand auf dem Stein an der Schwelle des Grabs
Und ließ mein Lied dir erklingen.

16
Nimm mit dir, Sohn, der Mutter Worte
Und behalte sie im Herzen:
Heil genug hast du immer,
Dieweil mein Wort dir gedenkt.

Folgende Zauber erhält Swipdag also am Grab der Groa, das heißt aus
der Todesdimension:

1. Alles von seinen Schultern abzuschütteln, was ihm gefährlich wer-


den könnte. Stärkung des Selbstvertrauens.
2. Willenlos, also ohne eigene Entscheidungen zu handeln, während

340
»die Blitze von Urd« (Schicksalsschläge, Eingebungen?), also »das Ge-
schick« der Schicksalsgöttinnen ihm den richtigen Weg weisen.
3. Ein Zauber, der ihm helfen wird, (Tod bringenden) Totenflüssen,
wie dem H o r n und Rudr, die seinen Weg kreuzen werden, auszuwei-
chen. Ein unübersehbarer Wink, wohin seine Fahrt gehen soll, näm-
lich über den Totenfluss, der Hel von Midgard trennt. Hel ist das wäss-
rige, feucht-neblige Reich, der Totenfluss selbst; der Totenfluss, die
Totensee, ist aber auch die Seele, und die darf uns nicht überschwem-
men. Das bedeutet, dass wir möglichst ruhig und gelassen bleiben müs-
sen.
4. Einen Zauber gegen die eigene Wut und die anderer.
5. Einen Zauber, um emotionale Fesseln zu lösen. Später besteht näm-
lich die Gefahr, dass Swipdag von der Einzäunung um Hel herum -
Heigatter, Heigrind - gefesselt wird beziehungsweise nicht mehr her-
aus kann. Hel ist der Ort der mentalen Fesselung schlechthin.
6. Einen Zauber, um seelische Stürme und Schiffbruch zu verhüten,
wohl wenn er über das Totengewässer Hels fahren muss, wo Stürme
(gedankliche, gefühlsmäßige Unruhe) an der Tagesordnung sind.
7. Eine Zauberformel gegen den tödlichen Frost im Bergland. Das ist
eine Anrufung gegen die eisige Kälte in Hels Unterbereich Niflheim,
wo nur Frost- und Bergriesen leben.
8. Einen Zauberspruch, wenn er nachts auf dem Niflweg - dem Ne-
belweg, der von Midgard nach Niflheim beziehungsweise Hel führt -
wandert. Der Gesang vertreibt die Furcht vor dem Dämmerlicht des
Plasmas.
9. Und zu guter Letzt ein Zauberlied, sollte er je in ein tödlich ausge-
hendes Streitgespräch mit einem Riesen verwickelt werden. Riesen
fordern einen nämlich oft zu Streitgesprächen oder Wissenskämpfen
auf, wobei - so die Regel - der Verlierer sterben muss.

Bepackt mit solcherlei Abwehrsprüchen, die eine Vielfalt Eigenarten


Hels wiedergeben, begibt sich der Held auf den Heiweg, womit das
»Zauberlied der Groa« endet.
Diese neun Zaubersprüche beziehen sich bis auf zwei alle unmit-
telbar auf das, was dem Helden in Hel widerfahren wird, nämlich eine
Gegenüberstellung mit sich selbst. Es steht also bereits fest, wohin
Swipdag zu reisen hat, doch das wird nicht offen gesagt und ist nur zwi-
schen den Zeilen zu lesen. Es verwundert daher außerordentlich, dass
Forscher dies bisher nicht einstimmig erkennen konnten, zumal in der
Überlieferung aller Völker der Orpheusmythos, das heißt die Reise in

341
die Unterwelt der eigenen Seele, zu den bekanntesten Motiven gehört.
Der Grund hierfür mag im falschen Verständnis der Drei-Welten-
Lehre liegen, insbesondere im krassen Unverständnis dessen, wie sich
die Unterwelt topografisch, psychologisch und philosophisch darstellt.
Aber auch ohne eine genauere Kenntnis der Abfolge der drei hätte man
darauf aufmerksam werden müssen. Auch Vigfussons und Powells
Weglassen des »Zaubergesangs der Groa« aus dem Corpus Poeticum
Boreale mit der Begründung, er sei zu »unklar«, erscheint in dem hier
eröffneten Rahmen gänzlich unannehmbar und erinnert an das kurz-
sichtige Hinauswerfen ganzer Bücher der so genannten Apokryphen
aus der Bibel.

342
1 4 . DAS FJOLSWINNLIED:
Auf der Suche nach Heilung in der Unterwelt

Ein Orpheusmythos

Das Fjöswinnlied zeigt in Kurzform den größten Teil der nordgerma-


nischen Weltlehre auf, insbesondere wie Heilung zu gewinnen ist,
wenn man in die höhere Dimension Hels eindringt, was aber nur dem
Helden möglich ist. Die Kenntnis der Hel-Dimension, die der mate-
riellen Dimension zugrunde liegt, bürgt für umfassendes Leben, Heil
und Heilung. Das Fjölswinnlied belegt diesen Zusammenhang um-
fangreich.
Das Fjölswinnlied behandelt meiner Deutung nach die Reise
Swipdags nach Hel, der dort seine Geliebte Menglöd sucht. Von Genz-
mer und anderen wird dagegen das Lied lediglich als »Brautfahrt« zu
einem »Palast« beschrieben; Swipdag gilt als »Märchenheld« und das
Lied insgesamt lediglich als »Zaubergesang«. Mir geht es hier darum
zu zeigen, dass es sich um eine klassische Reise in die Unterwelt han-
delt, wie sie in vielen Kulturen bekannt ist, und das ganze Lied als Mit-
tel dazu dient, Kosmologie, nämlich das Verhältnis von Midgard zu
Hel, darzustellen. Vigfusson und Powell meinen dagegen, das Lied sei
so unübersichtlich, dass sich eine Übersetzung nicht lohne; Viktor
Rydberg übersetzte es dennoch für seine »Teutonic Mythology«. Das
Fjölswinnlied bietet eine ungeahnte Fülle an kosmologischen Hinwei-
sen, die es zu dem für die der menschlichen Welt nächstgelegene Di-
mension aufschlussreichsten altgermanischen Lied machen.
Der Orpheusmythos findet sich in fast jedem Stammesglauben und
in sämtlichen großen Religionen, Weidehren und Unterweltsschilde-
rungen. Die Motive sind dabei überall weitgehend dieselben: Reise ei-
nes Lebenden in die Unterwelt, um dort seine Geliebte oder Ver-
wandte zu treffen. Die germanische Überlieferung macht darin keine
Ausnahme, ihr war die Möglichkeit, gezielt in Hel einzudringen, eben-
falls gut bekannt.
Die Geschichte entwickelt sich folgendermaßen: Swipdag (englisch
swift day, »schneller Tag, Tageslicht, Sonne«) macht sich auf ins Rie-
senreich, dorthin, wo er hofft, seine Geliebte Menglöd, »die Hals-

343
bandfrohe«, wiederzufinden und als Braut heimzuführen. Es handelt
sich um eine Brautfahrt, allerdings in die Unterwelt, ins Riesenreich.
Der Schmuck der Menglöd, das Halsband, verweist auf ihre Abstam-
mung: Sie ist Riesin. Riesen und Zwerge sind bekannt als Hersteller
von goldenen Kleinoden, die stets Raum und Zeit transzendierende
Eigenschaften besitzen. An der Grenze zur Unterwelt begegnet
Swipdag dem riesischen Wächter Fjölswinn, »Vielwisser, Vielweise«,
dem Hauptdarsteller des Liedes. Swipdag fragt ihn, wie er in die U n -
terwelt eindringen kann.

Vorgeschichte zum Fjölswinnlied

Bei der Orpheussage geht es darum, dass ein Lebender, ein Mensch,
versucht, in die Unterwelt einzudringen, um einem Verstorbenen zu
begegnen. Oberflächlich betrachtet scheint dies in diesem Lied auch
der Fall zu sein, doch ist nicht bekannt, dass Menglöd gestorben ist.
Außerdem kommt hinzu, dass Menglöds Vater ein Riese war, nämlich
der Sohn des Swafrthorin; über ihre Mutter ist nichts bekannt. Auch
Swipdags Eltern sind wider Erwarten Riesen: Groa, seine Mutter, ist
eine zauberkundige Riesin (berühmt dafür, dass sie einst versuchte,

344
dem T h o r den Schleifstein, den ihm der Riese Hrungnir in den Kopf
geschlagen hatte, herauszuziehen); sein Vater war der Riese Solbiartr
(»Sonne«), sein Stiefvater ist Aurwandil, »helle Sonne« (den Thor
einst aus Riesenheim entführte, wobei - wie bereits erzählt - dessen
Zehe erfror, die T h o r dann in den Himmel warf, wo sie der Morgen-
stern wurde. Riesen stehen oft für Sterne; alle Völker versuchten die
Plasmazone durch den fassbareren Sternenhimmel darzustellen.). Bei-
de Elternteile sind Riesen, gehören zu Riesenheim, einem Unterbe-
reich Hels. Folglich dürfte es für Swipdag nicht schwer sein, nach Hel
zu gelangen, da er ohnehin dort lebt. Das Lied stellt es aber (vielleicht
aus didaktischen Gründen) so dar, als komme Swipdag aus dem Irdi-
schen. Wie dem auch sei, ob Swipdag nun als Mensch oder als Riese zu
behandeln ist, bleibt für die Logik der Geschichte ohne Belang; es geht
vor allem darum, die Gefahren Hels zu überwinden, und das ist das
klassische Thema aller Orpheusmythen. Dieses Lied versucht im Rah-
men einer Liebesgeschichte die mentale Landschaft Hels aufzuzeigen.

Riesenland

1
Vorm Wall sah er
einen Wandrer nahen
durch des Riesenvolks Reich.

Fjölswinn:
Feuchte Wege
zieh wieder von hinnen!
Nicht lässt man dich Elenden ein.

Schon von weitem erkennt Fjölswinn, der Wächter Hels, der sich auf
dem Wall befindet, der die Unterwelt umgibt (Heigatter, Heigrind,
Erzwald), dass sich ein Wanderer auf das Reich der Riesen zubewegt.
»Vorm Wall sah er einen Wanderer nahen durch des Riesenvolks
Reich.« Das Land der Riesen (Berg-, Frost-, Feuer-, Reifsteinriesen)
ist zweifellos identisch mit Hel, deren duale Natur aus Niflheim
(Nebel, Wasser, Eis) und Muspellheim (Feuer) besteht und unterglie-
dert ist in die Bereiche Riesenheim, Zwergenheim, Windheim, Toten-
heim.

345
Muspellheim und Niflheim

2 Swipdag:
Welch ein Unhold ist das, Fjölswinn heiß ich,
der hier außen steht ich bin erfahrnes Sinns,
und ums feindliche Feuer doch bin ich karg mit Kost;
schweift? nicht erhältst du Einlass
zum Innern des Hofs:
Fjölswinn: zieh, Wolf, deines Wegs!
Was suchst du?
Auf welcher Suche bist du?
Was willst du Heilloser hier?

3 Swipdag:
Welch ein Unhold ist das,
der hier außen steht
und dem Fremdling Empfang
versagt?

Fjölswinn:
Ehrendes Wort
hat man dir immer verweigert;
von hinnen heb dich heim!

In Strophe 2 wird vom Feuer gesprochen, welches Hel umgibt: Mus-


pellheim ist ein Schutzwall aus Feuer, beziehungsweise Hel insgesamt
ist ein Feuerland. Später, in Strophe 31, wird gesagt, »wie heißt die
Halle, die rings umhüllt die verwunschene Waberlohe«, was erneut auf
ein waberndes Feuer verweist. Waberlohe ist ohnehin eine weitere
Bezeichnung für Hels feurigen Aspekt Muspellheim. Offenbar bedarf
es dieser Abgrenzung der Dimensionen, denn eine gegenseitige Be-
rührung würde zum »Krieg«, das heißt zur Selbstzerstörung fuhren;
doch das wird erst der Fall sein, wenn dereinst die Riesen in Asgard ein-
fallen, das Plasma also in die Geistzone hineinfällt. Die Riesen wollen
stets nach Asgard eindringen, aber auch nach Midgard (was vom Asen
Thor, dem Beschützer der Menschen, verhindert wird), das heißt, die
Dimensionen sind ständig in Gefahr, sich zu berühren und so gegen-
seitig zu vernichten. Wenn sich dereinst am Weltende die Dimensio-
nen berühren, wenn sie sich schrittweise ineinander zurückziehen -
Midgard in Hel, Hel in Asgard -, dann wird das von den kriegsge-

346
übten Germanen als ein Krieg der Dimensionen beschrieben: Die Rie-
sen fallen in Asgard ein, womit sie - und das ist hier gemeint - sich
selbst die Lebensgrundlage zerstören. Dieser als Ragnarök bekannte
Vorgang stellt wohl keinen plötzlichen Untergang, sondern eine stu-
fenweise Entwicklung dar beziehungsweise eine Rückentwicklung.
Doch überlebt in Asgard die höchste Dimension Gimle den Ragnarök,
und aus ihr erstehen erneut durch Entwicklung Asgard, Hel und Mid-
gard.
Die Unterwelt wird andererseits beschrieben als eine wässrige, neb-
lige, feuchte und eisige Zone. Daher der Begriff Nebelheim und die
Eisflüsse, die als Totenflüsse jeweils verschiedene mentale Eigenschaf-
ten dieses Raumes bezeichnen. Die Unterwelt ist eine Wasserwelt, was
natürlich nicht wörtlich zu nehmen ist, sondern als ein Hinweis auf
ihren halb- und vormateriellen Zustand. Wasser, Eis und Nebel sind
lediglich Sinnbilder aus der Materiedimension, sie verweisen auf den
feinstofflichen Urzustand des Urstoffs. Dass es sich um Sinnbilder
handelt und nicht um stoffliche Flüsse und Nebelzonen, dürfte klar
sein, denn Hel ist ein seelischer Zustand, in dem man in Seelengestalt
lebt - und die Seele ist ein »See«, so wie Wasser ein halb fester, halb
weicher Zustand ist. Kurzum: Die Seele ist feinstofflich.
Der Geschwisterbereich Niflheims ist Muspellheim, die Feuerwelt,
die »Waberlohe«. Das Reich der Seele, wird damit gesagt, ist so fein
wie Feuer, irgendwie materiell und doch luftig, immateriell. Beide Zu-
stände zusammen - die Polarität von Heiß und Kalt - ergeben das
Reich der Hel, »der Lichthellen, der Verhüllenden«. Hier wird sozu-
sagen die Witterungslage benutzt, um mentale Zustände zu umschrei-
ben. So bezieht sich Hitze unter anderem auf die Hitze des Gemüts.
Anders verhält es sich mit den in diesen beiden Zonen liegenden
Wohnheimen: Riesenheim, Zwergenheim, Windheim, Totenseelen-
heim, natürlich Heiheim und das Haus der Hel selbst, die als Unter-
prinzipien dieser Dimension zu verstehen sind. All diese Bezeichnun-
gen sind jedoch bloße Synonyme, sie verdeutlichen verschiedene
Aspekte dieser Dimension. Und genau darauf weist der Wächter gleich
zu Anfang hin: »Feuchte Wege zieh wieder von hinnen! Nicht lass man
dich Elenden ein« (Strophe 1). Wer in die Unterwelt der riesischen
Prinzipien eindringen will, muss - wie das ebenso bei den Reisen
Thors ist, der oft ins Riesenland reist, um Trolle zu erschlagen - stets
durch mentales Wasser waten, Emotionsflüsse durchqueren, also sich
durch sein Seelisch-Feinstoffliches quälen. Ebenso müssen die Toten
den Totenfluss - der nichts anderes als ein Synonym Hels ist - durch-

347
waten, ehe sie Eingang in Asgard finden. Midgard wird konzentrisch
umschlossen von Hel; so zum Beispiel auch dargestellt als Midgard-
schlange, die sich um Midgard schlängelt (die Schlange ist stets Sinn-
bild der Unterwelt). Um Hel herum liegt Asgard, aus dem alle Di-
mensionen einst hervorgegangen sind.

Windheim der Seelen

5 Swipdag: 6 Fjölswinn:
Zur Augenweide Sag mir, Gesell,
zieht's immer den Liebenden, wessen Sohn du bist,
dort, wo schönes er schaut; von welchen Eltern du abstammst!
es glänzen die Zäune,
dünkt micht, um goldne Säle: Swipdag:
hier fänd ich Zufriedenheit. Windkald heiß ich,
Warkald hieß mein Vater,
dessen Vater Fjölkald war.

Der Wächter will Swipdag nicht einlassen, doch dieser bedrängt ihn
und teilt ihm mit, er sei ein Liebender (ein Fühlender des Unter-
bewusstseins, der Unterwelt Hel), der in die Unterwelt will, um hier
»Zufriedenheit« zu erlangen. Gefragt von Fjölswinn, wie er heiße,
nennt er nicht seinen wahren Namen, sondern gibt offensichtlich die
Wtterungslage an, die in Hel herrscht: W n d k a l d (kalter Wind), War-
kald (kalter Lenz), Fjölkald (Vielkalt). Hel ist Windheim, der Aufent-
haltsort der Totenseelen, denn Hel ist als windig und zugig bekannt
(Seele als kalter W n d h a u c h , Geisterhauch). Die Seele ist wie W n d
(Wasser, Feuer und Wind als Analogien des halbmateriellen Zustands).
In Niflheim ist das Klima zudem neblig-kalt, von den Eisflüssen be-
stimmt, vom Nebel, der entsteht, wenn das heiße Muspellheim und das
kalte Niflheim mit seinem Eis zusammentreffen. Am Punkt des Zu-
sammentreffens, Ginnungagap genannt, entsteht die Materiedimen-
sion.
Nun beginnt Swipdag den Wächter auszufragen, der ihm - ein
Vielwisser, so sein Name (Hel weiß alles, weil sie jenseits von Raum
und Zeit liegt) - gutmütig Auskunft über die Gegebenheiten in Hel
gibt. Offenbar versucht Swipdag damit den Schlüssel oder die Ge-
heimworte zu erhalten, mittels derer er in Hel eindringen kann, um
seine Geliebte zu besuchen. Das ganze Lied ist von nun an ein Frage-

348
und-Antwort-Spiel. Swipdag fragt stets: »Sag mir dies, Fjölswinn, was
ich dich fragen werde und ich wissen will«, worauf der Riese äußerst
redselig Antwort steht. Wortgefechte, Spiegelfechtereien und Überre-
dung des Wächters an der Grenze zur Unterwelt ist bei den meisten
Orpheussagen eine beliebte List, um schließlich doch Einlass zu er-
halten.

Menglöd als Verkörperung Hels

7 8 Fjölsivinn:
Sage mir dies, Fjölswinn, Menglöd heißt sie,
was ich dich fragen werde die Mutter gebar sie,
und ich wissen will: dem Sohne Swafrthorins:
wer wohnt hier sie wohnt hier
und waltet der Herrschaft, und waltet der Herrschaft,
des Guts und der Glanzhalle? des Guts und der Glanzhalle.

Der Wächter erzählt nun, dass er ein Gut oder einen Hof bewache, was
aber zweifellos nicht ein in der Unterweltdimension angesiedelter
mentaler »Hof« sein kann, sondern Hel selbst ist. Er sagt, in dieser
Glanzhalle wohne Menglöd, »die Halsbandfrohe«. Hel ist ein heller
Zustand; ich wiederhole noch einmal: Mittelhochdeutsch bedeutet hel
»tönend, laut, licht, glänzend«; es ist mit der Wortgruppe von »Hall«
und »holen«, das heißt »herbeirufen, schreien«, verbunden und gehört
zur indogermanischen Wurzel kle, »rufen, schreien, lärmen«. In der
Tat ist es in Hel nicht nur hell, es geht dort auch recht laut zu, sowohl
von den Geräuschen her als auch im visuellen Sinne von »laut« gleich
»grell, glänzend«. Die Worte Halle, Hall, Helle deuten auf dasselbe
hin: auf einen vor lauter Emotionen hallenden, grellen Geisteszustand,
eine »emotionale Glanzhalle«. Die Riesen gelten dementsprechend als
lautstarke Lärmer, und die Totenseelen leiden unter diesem Lärm, dem
Lärm ihrer eigenen unruhigen und verblendeten Gefühle und Gedan-
ken. Besonders in »Walhall« geht es ungewöhnlich lärmend und krie-
gerisch zu, dort hört man den ganzen Tag das mentale Waffengeklirr
der gefallenen Helden, denn Krieger leiden nach dem Tod an ihren
Verblendungen und Hassgefühlen.

349
Das Höllengatter

9 Swipdag: 10 Fjölswinn:
Sage mir dies, Fjölswinn, Thrymgjöll heißt es,
was ich dich fragen werde dieses Tor machten
und ich wissen will: drei Söhne Solblindis;
wie heißt das Gatter - eine feste Fessel
bei den Göttern sah man wird es jedem Fremden,
nie schlimmere Schutzwehr? der's aus dem Rahmen rückt.

Nun befragt Swipdag den Wächter über das Gatter und die Schutz-
wehr um Hel herum. Sie heiße Thrymgjöll, lautet die Antwort. Thrym
bedeutet wiederum »laut, lärmend«, und so geht es in Hel mental zu,
daher der Name Thrymheim für diese Dimension. Als zusätzliche Be-
deutung kommt hier »schmerzend, stechend« hinzu - was Hel als Ort
der Qual auszeichnet. Die zweite Silbe gjöll ist ein bekannter Name des
Unterweltflusses, der die Materiewelt von Hel trennt, also ein Toten-
fluss. Gjöll leitet sich ab von »Echo«; vermutlich ist damit wiederum
der Lärm Hels gemeint. (Gjöll ist bezeichnenderweise auch der Name
jener Steinplatte, an die der Fenrirwolf, den wir als das Unterwelt-
prinzip deuten müssen, von den Göttern festgebunden wird - was lo-
gisch ist, denn ein Heiprinzip kann nur in Hel selbst festgebunden wer-
den. Aus dem Speichel, der aus dem Mund des gefesselten wütenden
Wolfes tropft, entsteht ein weiterer Unterweltfluss, Wan, »Hoff-
nung«, wohl die Hoffnung, einst loszukommen.) Der Name des Tors
oder Gatters kann also mit »laut schallend« oder »zuschlagend« über-
setzt werden. Dieses Heigatter, hört Swipdag, wird treffenderweise
auch Gastropnir, »Gästezerquetscher«, genannt, da jener, der durch es
hindurchtritt, stirbt. Es ward hergestellt aus den Gliedern des Riesen
Leirbrimir, »Lehmriese« (ein Synonym des Urriesen Ymir, aus dem
die Materiedimension entstand).

11 Swipdag:
Sage mir dies, Fjölswinn,
was ich dich fragen werde
und ich wissen will:
wie heißt die Mauer
kein Mensch sah je
eine schlimmere Schutzwehr?

350
Fjölswinn fragt weiter, wie dieses Tor, diese Mauer - »eine feste Fessel
wird es jedem Fremden, der's aus dem Rahmen rückt« - heiße. Der Be-
griff Tor darf nicht verwirren: Ob Gatter, Mauer, Schutzwehr oder Tor,
es handelt sich um eine Einzäunung. Dass nun diese jedem uner-
wünschten Eindringling zur Fessel und er in Hel eingesperrt wird und
nicht wieder zurückkehren kann, ist verständlich, denn ein Toter kann
nicht mehr zurück ins Irdische. Andererseits können Unerwünschte
die Mauer nicht überwinden und bleiben draußen; nur Seelen, also
Körperlose, können diese überwinden und werden von den Wächtern
nicht daran gehindert. So wedelt der Höllenhund Garm, »der Brüller«
oder »der Grimmige«, jene andere Wächterfigur, bei ankommenden
Verstorbenen mit dem Schwanz und lässt sie ein, bei Menschen, die tot
scheinen, es aber tatsächlich nicht sind, fletscht er die Zähne. Er lässt
auch niemanden aus Hel entfliehen. Allerdings kennen alle Orpheus-
geschichten Ausnahmen: Helden nämlich können eindringen und wie-
der daraus zurückkehren, also Hel überwinden.

Der Midgardwall

In Strophe 12 wird erwähnt, die Mauer sei aus den Gliedern Leirbri-
mirs hergestellt worden. In anderen Liedern wird erzählt, wie aus Leir-
brimir beziehungsweise Ymir alle vier Riesengeschlechter entstanden,
dass überhaupt ganz Hel Ausdruck dieses Urriesen ist; aus seinen
Augenbrauen formte sich später zum Beispiel der Midgardwall, die
Abgrenzung gegen Midgard hin, und dann Midgard selbst mit den
Menschen.

12 Fjölswinn:
Gastropnir heißt sie:
aus den Gliedern Leirbrimirs
hab ich die Mauer gemacht;
so hab ich sie gestützt,
dass sie stehen soll
bis zum Weltende wohl.

351
Der Weltenbaum Mimameid

13 Swipdag: 15 Swipdag:
Sage mir dies, Fjölswinn, Sage mir dies, Fjölswinn,
was ich dich fragen werde was ich dich fragen werde
und ich wissen will: und ich wissen will:
wie heißt der Baum, was wird aus der Frucht
der da breitet über des gewaltigen Baumes,
die Erde sein Geäst? den Brand noch Beil nicht fallt?

14 Fjölswinn:
Mimameid heißt er,
kein Mensch aber weiß,
aus welcher Wurzel er wächst;
niemand kennt,
was ihn niederlegt:
nicht fällt ihn Brand noch Beil.

Als Nächstes fragt Swipdag, wie der Baum heiße, »der da breitet über
die Erde sein Geäst«. Fjölswinn antwortet, er heiße Mimameid (des

Yggdrasil Mimameid Lärad Hoddmimir


-Pferd des Ygg«, »des Riesen >der Schutz«; »der Schatz des
»des Mimirs Maid«; in Walhall Riesen Mimir«;
Schrecklichen« in Riesenland in Riesenland
(Odin)

Der Weltenbaum Yggdrasil ist ein Hilfsmittel, um die drei Dimensionen Asgard, Hel
und Midgard zu verdeudichen. Für Hei stehen erneut drei Weltenbäume: Mimameid,
Lärad und Hoddmimir; es sind weitere Synonyme für Yggdrasil.

352
Riesen Mimas Maid!), also der Baum (die Maid), an dem der weise
Riese Mimir wohnt, der auch den Mimisbrunnen (Brunnen = Wasser,
Hel) bewacht. Es handelt sich um eine Anspielung auf den Welten-
baum Yggdrasil oder Lärad, der als Hilfsmittel benutzt wird, um die
Topografie der drei Welten zu erläutern. Entsprechend dem Analogie-
prinzip kann der Weltenbaum in jeder einzelnen Dimension stehen als
Hinweis auf die Gemeinsamkeit aller drei Welten. In Walhall zum Bei-
spiel steht der Baum Lärad, »der Schutz oder Beschützer«, im Riesen-
land der Baum Hoddmimir, »der Schatz des Riesen Mimir«, und Mi-
mameid, »der Baum oder die Maid des Riesen Mimir«. Der Baum Mi-
mameid steht also generell für Hel, und wenn es heißt: »der da breitet
über die Erde sein Geäst«, bedeutet dies, dass aus ihm die Materiewelt
hervorging - wir entstammen Hel.

16 Fjölswinn:
Seine Frucht soll man
zum Feuer bringen
für fieberkranke Fraun:
austreiben soll sie,
was innen sitzt;
das vermag sie beim Menschenvolk.

Die Früchte des Weltenbaumes sollen ein Heilmittel für Fieberkranke


sein, heißt es, und nach anderen Hinweisen eine Medizin für Schwan-
gere. Mimameid ist also ein Heilbaum beziehungsweise die Dimen-
sion, in der er steht, eine heilende: Hel und Heil sind eins.

Der Hahn Widofnir

17 Swipdag:
Sage mir dies, Fjölswinn,
was ich dich fragen werde
und ich wissen will:
wie heißt der Hahn,
der im hohen Baum sitzt,
ganz glänzt er von Gold?

N u n will Swipdag wissen, wie der Hahn heißt, der in dem hohen Baum
sitzt. Es ist Widofnir. In jeder der drei Dimensionen gibt es einen

353
Hahn, eine weitere Wächterfigur, wie das auf jeden Hahn in jeder Welt
zutrifft. So wacht vor Jötunheim (Riesenheim, Hel), in dem die Rie-
sengeschlechter wohnen, gemeinsam mit dem Wächterriesen Eggdir,
»Schwertknecht«, der feuerrote Hahn Muspellheims, Fjalar. Ob unser
Hahn mit diesem gleichbedeutend ist, bleibt zweifelhaft, denn er soll
golden glänzen, was eher auf den in Walhall lebenden Hahn Gullin-
kambi, »Goldkamm«, zutrifft, der die Einherjer, die gefallenen Hel-
den, weckt. In Hel selbst soll noch ein weiterer, ein rußbrauner Hahn
Wache halten. Der fragliche Hahn Widofnir ist vielleicht nur eine
dichterische Verdopplung für »wachen«, ebenso wie der Baum Mimirs
nur ein Abbild der Weltesche Yggdrasil ist. Warum wird aber hier auf
den Hahn angespielt? Geheimnisvoll heißt es, seine Flügel bilden das
Fleisch, das die Heihunde essen.

18 Fjölswinn:
Widofnir heißt er,
der im Wipfel sitzt,
leuchtend durch die Luft;
Surt und Sinmara
quält mit einer Sorge
gar heftig der Hahn.

Hier wird auf Ereignisse vorgegriffen, die später besprochen werden.


Der Hahn hindert Surt, den Feuerriesen, und die Riesin Sinmara
daran, in die »Burg« der Menglöd einzudringen. Offenbar warnt er vor
ihrem Kommen, was diese beiden natürlich erzürnt.

Höllenhunde

19 Swipdag: 20 Fjölswinn:
Sage mir dies, Fjölswinn, Gifr heißt einer,
was ich dich fragen werde Geri der andre,
und ich wissen will: wenn du's wissen willst,
wie heißen die Hunde, nimmermüde Wächter,
die hungrig laufen sie wachen hier,
vor dem Gehöft umher? bis die Götter vergehn.

In diesen Strophen wird auf eine weitere Wächterfigur angespielt, den


Hund, genau genommen zwei Hunde, die vor Hel Wache halten. Sie

354
heißen treffend Giff, »gefräßig«, und Geri, »gierig«. Der Höllenhund
als Wächter kommt bei vielen Unterweltsüberlieferungen vor. Alle
Wächterfiguren verweisen nur auf eines, auf die Unzugänglichkeit
Hels.

21 Swipdag: 23 Swipdag:
Sage mir dies, Fjölswinn, Sage mir dies, Fjölswinn,
was ich dich fragen werde was ich dich fragen werde
und ich wissen will: und ich wissen will:
kommt von den Menschen gibt's keinen Bissen,
denn keiner hinein, den man ihnen bringen kann,
wenn die Scharfen im Schlaf wenn sie essen, einzuschlafen?
liegen?

22 Fjölswinn:
Ewiger Schlafwechsel
ward beschieden den beiden,
seit die Wacht ihnen ward:
der eine schläft nachts,
der andre am Tage;
nichts hilft's, kommt man hin.

Das Rätsel der Liebe

24 Fjölswinn:
In Widofhirs Flügeln
ist dieser Fraß enthalten,
wenn du's wissen willst:
das sind die beiden Bissen,
die man ihnen bringen muss,
wenn sie essen, einzuschlafen.

N u n wird langsam klar, warum Swipdag nach den Mauern und den
Wächtern von Hel fragt: Er überlegt sich, wie er diese überwinden
kann. Er fragt listig weiter, was denn die Hunde essen, um sie damit zu
ködern. Doch sie essen widersinnigerweise nur die Flügel des Hahns
W d o f h i r . Es stellt sich also die Frage, wie der Hahn zu fangen ist, um
den Hunden Nahrung zu verschaffen. Ein Wächter muss zur Beruhi-
gung der anderen Wächter herhalten!

355
25 Swipdag:
Sage mir dies, Fjölswinn,
was ich dich fragen werde
und ich wissen will:
gibt's keine Waffe,
die den W d o f n i r
zur Hel hinbringen kann?

Nun wird weiter gefragt, wie man den Hahn zur Strecke bringen kann.
Nach meiner Deutung müsste der Baum, auf dem der Hahn sitzt, leicht
zugänglich sein, denn er ist nur ein weiterer Name von Hel, ist diese
selbst. Man erwischt demnach den goldglänzenden Hahn nur, wenn
man selbst in Hel lebt, aber dazu muss man erst einmal hineinkommen,
und das kann man ja nun gerade wegen der Hunde nicht. Es ist daher
unmöglich, die Wächter zu bestechen, Hel bleibt unzugänglich.

26 Fjölswinn:
Läwatein heißt sie:
sie schuf Lopt durch Zauber
an des Totenreichs Tor;
im eisernen Schrein,
den neun Schlösser sichern,
birgt Sinmara sie.

Swipdag fragt, mit welcher Waffe der Hahn herbeizulocken sei, wor-
auf er die Antwort erhält: mit Läwatein, »verwundender Zauberstab«,
»Schwert«. Diese Waffe sei von Lopt, alias Loki, dem dreizehnten
Gott, einst geschaffen und am Tor zum Totenreich in einem eisernen
Schrein (nach Branston dem Schrein von Lägjarn, Lover of ill, »Lieb-
haber des Bösen« oder »liebeskrank«), den neun Schlösser sichern,
verwahrt worden. Mit anderen Worten: An der Grenze zwischen Mid-
gard und Hel gibt es ein eigenartiges Heiprinzip in Gestalt einer
Waffe. Diese Waffe wird von der Riesin Sinmara bewacht. Sinmara hat
immer Angst davor, dass ein Eindringling aus Midgard sich vom Hahn
W d o f n i r die Sichel (Sichel = vielleicht die gebogene Schwanzfeder)
holt und damit die geheimnisvolle Waffe erpressen kann, denn es
heißt: Wer die »Sichel« bringt, erhält - warum auch immer - die
Waffe. Daher hieß es in Strophe 17: »Surt und Sinmara quält mit ei-
ner Sorge heftig der Hahn.« (Surt, der riesische Wächter, der an der
Grenze Hels, genauer Muspellheims, steht - wohl weil auch er wie Sin-

356
mara die Grenze bewacht -, beginnt bekanntlich seine Eroberung As-
gards mit dem Schrei des Hahns. Vielleicht ist es auch dieses Warten
auf das Angriffssignal, das Surt und Sinmara quält.)
Hier die Reihenfolge der zu überwindenden Hindernisse, die aber
in umgekehrter Folge bewältigt werden müssen: Hunde, Hahn Wi-
dofnir, Läwatein (oder erst Läwatein, dann Hahn). Dies sind alles Hei-
prinzipien. Letztlich ist festzuhalten: Hel kann nur überwunden wer-
den, indem man selbst Hei wird!

27 Swipdag: 29 Swipdag:
Sage mir dies, Fjölswinn, Sage mir dies, Fjölswinn,
was ich dich fragen werde was ich dich fragen werde
und ich wissen will: und ich wissen will:
kehrt der heim, ist die herrliche Gabe
der hinzieht nach ihr zu haben für Menschen,
und die Waffe gewinnen will? die die Fahle erfreut?

28 Fjölswinn: 30 Fjölswinn:
Heim kehrt der, Die lichte Sichel,
der hinzieht nach ihr die im Leib sitzt Widofhirs,
und die Waffe gewinnen will, zur Truhe du tragen musst,
schenkt er das, sie der Riesin zu reichen,
was man schwer erlangt, dass sie bereit sich erklärt,
der Göttin der Glanzhalle. dir zu leihen Läwatein.

N u n wird es fürwahr verzwickt: Ein typisch altisländisches Abfolgerät-


sel muss gelöst werden, das aber auf geradem Weg nicht lösbar ist. Wer
das Rätsel lösen will - wer daran keine Lust findet, kann es getrost über-
gehen -, der schaue sich zum klareren Verständnis erneut die Strophen
25 bis 30 an. Um die Hunde zu besänftigen, muss als deren Nahrung
der goldglänzende Hahn zur Strecke gebracht werden, was nur mit der
Waffe Läwatein gelingt. Doch kann Läwatein nur erhalten, wer zuvor
damit den Hahn getötet hat. Ursache und Wirkung werden hier einfach
vertauscht, wodurch das Rätsel unlösbar wird. Die Waffe bleibt zudem
in ihrer Wirkungsweise imbekannt. Was immer diese Waffe ist, Swipdag
erhält die Auskunft, dass nur jener die Waffe gewinnt, der Menglöd,
der »Göttin der Glanzhalle« dafür etwas anderes - was sehr schwer zu
gewinnen ist - schenkt. Dann erst darf er sich mit ihr vereinen. Sofort
fragt Swipdag weiter, ob dieses Geschenk für ihn erreichbar sei. Fjöls-
winn gibt nun ein weiteres Rätsel auf - so leicht will er sein Wissen

357
nicht preisgeben. Er sagt, diese besondere Gabe für Menglöd sei »Läwa-
tein« (Strophe 30). Erneut wird Swipdag in ein unlösbares Rätsel ver-
wickelt. Um Läwatein zu bekommen, muss man erst die »lichte Sichel«,
vermutlich die Schwanzfeder oder die Flügel des Hahns, besitzen. Das
Fleisch dieses Hahns ist ja bereits als Essen für die beiden Höllenhunde
benannt worden, und nun soll dessen »lichte Sichel« als Gegenleistung
für Läwatein herhalten. Diese »Sichel« müsse Swipdag zur Riesen-
wächterin Sinmara tragen, welche die Truhe oder den Schrein be-
wacht, in dem Läwatein verwahrt ist. Dafür würde die Riesin dem
Glücklichen die Geheimwaffe leihen, die er dann der Menglöd als Ge-
schenk übergeben soll. Doch ist all das logisch-kausal unmöglich!
Die Abfolge der Handlung ist unlogisch und von hinten aufge-
zäumt. Offenbar wird hier Swipdag ein Rätsel aufgegeben. Um die
Hunde zu ködern, braucht er den Hahn, weil in dessen Gefieder die Si-
chel sitzt, die er der Wächterin Sinmara zum Geschenk machen muss,
um die Waffe zu erhalten, mittels welcher er den Hahn herbeizwingen
kann. Im Klartext: N u r wenn er die Schwanzfeder des Hahnes hat, er-
hält er die Waffe, mit der er den Hahn herbeilocken kann. Mit ande-
ren Worten, er kann den Hahn gar nicht bekommen, weil die Logik
hier aufhört. (Der Hahn in der Krone des Mimameidbaums wird in
germanischen Volksliedern und Geschichten als der bei Sonnenauf-
gang Weckende beschrieben. Aber nicht nur das, er vertreibt mit sei-
nem Krähen auch den verstorbenen Gespenstergatten, der in der
Nacht gekommen ist, das Bett mit seinem lebenden Gatten zu teilen.)
Hier nun einige Deutungsmöglichkeiten, die uns dem Rätsel je-
doch keinen wirklichen Schritt näher bringen.
Die erste Deutung, jene Genzmers, besagt, die »lichte Sichel« sei
ein Symbol der sich in den Schwanz beißenden Schlange. Diese
Schlange wäre die Midgardschlange, die im Meer um Midgard herum
liegt; und die Midgardschlange ebenso wie ihre Geschwister Fenris-
wolf und Hel seien ein Symbol von Hel selbst. Der Vater dieser drei
Prinzipien ist Loki, der dreizehnte Gott von Asgard, der nach meiner
Ableitung eigentlich ein Riese ist beziehungsweise die Dimension Hel
selbst verkörpert. Loki, der Trickster, Schelm und germanische Teufel,
hat die drei obersten Kräfte dieser Dimension gezeugt, sie stellen
Aspekte derselben dar. Demnach erhielte Menglöd von Swipdag als
Geschenk die Midgardschlange beziehungsweise Hel selbst, was merk-
würdig und unlogisch ist, denn Menglöd ist - wie wir später sehen wer-
den - selbst nichts anderes als Hel in Gestalt des hebenden Weibes.
Quintessenz: Man gelangt nur nach Hel, wenn man selbst helartig ist.

358
Swipdag, »schneller Tag« oder »Tageslicht«, verbindet sich mit
Menglöd, »der Halsbandfrohen« beziehungsweise »der mit Hals-
schmuck Beladenen«. Menglöd könnte für die Sonne stehen, da das
Tageslicht das der Sonne ist; beide Namen, Swipdag wie Menglöd,
wären dann Synonyme der Sonne, gehörten also als männlicher und
weiblicher Pol zusammen. Übrigens ist Swipdags Vater Aurwandil »die
helle Sonne«, was Swipdag erneut zur Sonnengestalt macht. Das Hals-
band aus Gold, sein Strahlen, ist möglicherweise ein weiterer Hinweis
auf den Sonnencharakter. Da Menglöd und Swipdag sich aber eindeu-
tig in Hel aufhalten, kann nur analogisch von unserer Sonne die Rede
sein. Als Riesen bleiben sie immer Helgestalten. Meiner Ansicht nach
bezieht sich alles Helle, das strahlende Halsband aus Gold wie »Ta-
geshelle« und Sonne oder Menglöd als Verkörperung des Goldenen
auf das Licht Hels, denn in Hel ist es hell, und Gold wird vor allem in
Hel von Riesen und Zwergen bearbeitet, überhaupt scheint dort alles
aus Gold. Gold wie Sonne sind daher grundsätzlich Synonyme für Hel,
weshalb die Unterwelt immer als eine Zone des Reichtums angesehen
wurde. Dass nun »Tageslicht« und »die halsbandfrohe Sonne« in Hel
zusammenkommen wollen, ist nicht sonderlich aufregend, denn nach
dieser Deutung ist ohnehin nichts anderes möglich. Man kann nun so
weit gehen zu sagen, das Lied splittere das Licht Hels auf in einen
weiblichen und einen männlichen Aspekt und ließe diese sich in dieser
Geschichte vereinen, woraus eine bestimmte erzählerische Spannung
entsteht, besonders, wenn man sich Menglöd und Swipdag ver-
menschlicht als Liebende vorstellt; damit würde gleichzeitig hinge-
wiesen auf eine Eigenart Hels, nämlich die Liebe, das emotional Ver-
bindende. Und Hel ist in der Tat die Liebe, die alles verbindet. Hel ist
eine Dimension, in der sich alles mit allem verbindet zu einer Art all-
umfassender Erotik, einem kosmischen Netz der Gemeinsamkeit. Die
im Materiellen bestehende Trennung der Dinge hört hier auf. Das ist
vielleicht die wichtigste Eigenschaft unserer Nachbardimension.
Ich wende mich nun einer zweiten Deutung zu, die in der Waffe ein
Schwert beziehungsweise einen Phallus sieht und in der Truhe - be-
deutungsschwanger »liebeskrank«, also süchtig nach Liebe genannt -
eine Vagina. Die Truhe ist mit ihren neun Schlössern nach Branston
gegen Entjungferung geschützt, er vermutet eine Art Keuschheitsgür-
tel. Der Phallus liegt demnach bereits in der Vagina. Eine Vorweg-
nahme der Sehnsüchte der beiden Liebenden? Und da Swipdag einen
Phallus beziehungsweise ein Schwert besitzt, ist er bereits von seiner
Natur her im Besitz der Waffe, die den Hahn tötet; so erhält er dessen

359
Flügel, die die Heihunde fressen, wodurch er die Helmauer überwin-
den und zur Geliebten vordringen kann. Im Übrigen könnte die Sichel
des Hahns auch als Vagina gedeutet werden. Der überraschende
Schluss lautet damit: Durch Liebestrunkenheit und sexuelle Sehnsucht
überschreitet man die Grenzen Hels. Liebe reißt alle Bedenken und
Behinderungen nieder, Liebe heißt vollkommene Verknüpfung, und
umfassende erotische Verbindung kennzeichnet vor allem das Wesen
Hels.
Ganz unabhängig von dieser Deutung lässt sich sagen, dass - da Hel
ohnehin ein seelischer Zustand und voller Leidenschaften ist, worauf
ausführlich die verschiedenen Namen der Heiflüsse hinweisen - Lie-
bessehnsucht sehr wohl in diesen Bereich einzudringen vermag, wo es
ja von Süchten nur so wimmelt. Wohlgemerkt: Da Swipdag rein men-
tal in Hel eindringt (ohnehin ist nur dies möglich), braucht er bloß an
die Geliebte zu denken, die ja in Hel ein rein seelisches Wesen ist, und
schon können sie sich vereinigen. Der materielle Körper kann nicht in
die feinstoffliche Hel eindringen, es gelingt nur mit der List, ins eigene
Unterbewusstsein einzutauchen, das genau genommen bereits Hel ist
- man braucht dazu noch nicht gestorben zu sein -, um sofort nach Hel
zu reisen. Es gibt also zwei Möglichkeiten, nach Hel zu gelangen: 1.
durch Tod, 2. durch Eintauchen ins eigene Unterbewusstsein. Das
grundlegende Prinzip dabei ist die Identität von Seele und Hel: Unsere
Seele befindet sich immer in Hel, ist Hel; es bedarf nur eines Erwa-
chens unserer Seele, um alsgleich in Hel zu sein.
Swipdag sucht seine Geliebte entweder rein seelisch auf, oder er
stirbt tatsächlich. Die Seelen der Germanen versanken beim Tod in ei-
nem See, ebenso wie die Ungeborenen bei der Geburt daraus hervor-
kamen; und da Hel als Fluss und Wasser beschrieben wird, findet die
Seele dort ihre eigentliche Heimat. Vielleicht aus diesem Grund wird
nichts erzählt von einer Rückkehr beider in die Menschenwelt, eben
weil Tote nicht zurückkehren können, aber auch deshalb, weil beide
vermutlich gar keine Menschen, sondern in Wahrheit Riesen, Hei-
bewohner sind. Eine menschliche Liebesgeschichte wurde aufgebaut,
um Anteilnahme an den Gesetzen Hels zu wecken.
Hier noch ein Hinweis, der nicht unmittelbar zu erschließen ist:
Wirklich Verstorbene kommen problemlos an den Heiwächtern und
Heihunden vorbei, der Hund wedelt dann mit dem Schwanz. Auch Le-
bende, deren Seele sich nur vorübergehend abgespalten hat vom Leib,
könnten - wie unser Fall zeigt - Einlass finden, wenn sie sich gewis-
sermaßen in Heistimmung befinden, zum Beispiel Leidenschaft

360
spüren. Vermutlich dürfen alle entkörperten Seelen nach Hel, nicht
aber körperliche Menschen, was ohnehin unmöglich ist - wozu aber
dann die Wächter?

Die Waberlohe

31 Swipdag: 32 Fjölswinn:
Sage mir dies, Fjölswinn, Lyr heißt sie,
was ich dich fragen werde doch lange wird sie
und ich wissen will: beben auf Bergeshöh;
wie heißt die Halle, von dem Reichtumshaus
die rings umhüllt wird Gerücht nur kommen
die verwunschene Waberlohe? ewig zum Erdenvolk.

Swipdag erfährt, dass die Halle Lyr, »die Glückliche, Freudige«, heißt.
Die Glanzhalle ist natürlich Hei selbst. Glanz, Licht, Gold, Helle sind
Ausdruck Hels. Die sie umgebende Waberlohe ist ebenfalls Hel in
ihrem feurigen Gewand. Hel hier also endlich einmal bejahend darge-
stellt. Das wäre verständlich, nehmen wir an, dass Hel nichts anderes
ist als das, was von uns nach dem Tod übrig bleibt, nämlich unsere
Seele, bestehend aus unseren guten und schlechten Gefühlen, unseren
Erinnerungen und Gedanken. Hel als der Spiegel unserer Seele.
Eine Anmerkung über die Waberlohe ist hier angebracht. Eine Wa-
berlohe ist eine heiße Flamme. Die Etymologie ist bedeutsam. Wabern
heißt »sich hin und her bewegen, flackern, zucken« und steht mit »we-
ben« in Zusammenhang: »eine Flamme, die webt«. Das bringt sie in
Verbindung mit den drei webenden Schicksalsgöttinnen, den Nornen,
die am Stamm des Weltenbaums, also in Hel, wohnen. Mit der Wa-
berlohe als Schicksal webender Lohe ist vielleicht die Eigenart von Hel
selbst angesprochen, die als vormaterielle Dimension Dasein und
Schicksal der Materie und ihrer Lebewesen vorherbestimmt. Die
Schicksalsgöttinnen Urd, Werdandi und Skuld - sie stehen in späterer
Zeit spielerisch für Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft beziehungs-
weise Geschick, Werden, Sollen (»sollen« auch im Sinne von
»Schuld«) - sind Wirkkräfte Hels und beeinflussen von dieser Urma-
terie aus unsere Welt etwa so, wie Atome den Stoff bedingen. Die drei
sind darüber hinaus Synonyme für Asgard, Hel und Midgard.

361
Urd Werdandi Skuld

Vergangenheit Gegenwart Zukunft

Asgard Hei Midgard

Ursprung Werden Sollen/Schuld

Doppelbezeichnungen für Hei

33 Swipdag: 34 Fjölswinn:
Sag mir dies, Fjölswinn, Uni und Iri,
was ich dich fragen werde Ori und Bari,
und ich wissen will: War und Wegdrasil,
welcher Gott hat, Darri und Uri,
was durchs Gatter ich sehe, Delling, Atward,
im Innern aufgebaut? Lidskialf und Loki auch.

Nun wird gefragt, welcher Gott Hel erschaffen habe. Es werden zwölf
genannt, die allesamt Umschreibungen Hels sind. Nach der Weltlehre
der Edda entstand Hei aus Asgard; verkörpert wird Hel als das Kind
Lokis, des übel Beleumdeten, Doppelgesichtigen, der Gott und Riese
in einem ist. Gelegentlich werden auch zwölf Zwerge als Urheber ge-
nannt - was nicht widersprüchlich ist, denn Loki wird als dreizehnter
erwähnt, und zudem sind die Zwerge wichtige Wirkkräfte Hels und
ebenso bedeutsam wie die Riesen.

Der Weltenberg als Heilberg

35 Swipdag: 36 Fjölswinn:
Sage mir dies, Fjölswinn, Lyfjaberg heißt er,
was ich dich fragen werde der lange Trost
und ich wissen will: Versehrten und Siechen bringt:
wie heißt der Berg, gesund wird die Frau,
auf dessen H ö h ich die Meid, war sie gefährlich auch
die herrliche, hausen seh? erkrankt, die ihn erklimmt.

362
37 Swipdag:
Sage mir dies, Fjölswinn,
was ich dich fragen werde
und ich wissen will:
wie heißen die Mädchen,
die zu Menglöds Füßen
gesellt zusammen sitzen?

Menglöd wohnt in Hel auf dem Lyfjaberg, was »Fels der Heilmittel«
heißt, und jede Frau werde gesund, die diesen erklimmt. Menglöd hat
also diesen Berg erklommen beziehungsweise ist mental so weit fort-
geschritten, dass sie geheilt ist - doch wovon? Hel ist das Reich der
mentalen Riesen, des seelisch Riesengroßen, bildlich gesprochen der
Berge (engl, to rise = »sich erheben, erhaben«). Die Riesen sind »die
Erhabenen«, die sich wie Berge aus dem Materiellen erheben, daher
auch Bergriesen genannt. Der Lyfjaberg bezieht sich auf den erha-
benen Zustand, auf das Heil, das wir in Hel von selbst erlangen, wenn
wir vom Körper befreit sind. Das helle Land Hel erhebt sich wie ein
Berg aus der Ebene des Stofflichen. Man vergleiche es mit dem all-
gemein bekannten Urhügel oder Urberg, der sich aus den Urfluten,
den Wassern Hels, erhebt, sich zur Urerde, zur vormateriellen Erde
auftürmt und später sich verdichtend zum Materieuniversum verwan-
delt. Ich deute die Riesen hier als Berge, als Erhabene, als den
Urhügel, den vorstofflichen Zustand vor der Geburt der Materie; sie
dürfen aber gleichfalls als Individuen betrachtet werden. Menglöd lebt
also auf dem heilenden Berg, ein weiteres Bild für Hel. Wenn der
»Berg« aber ein Heilender ist, dann ist Hel überhaupt eine heilende
Dimension, das heißt, unser Unterbewusstsein - bestehend aus
Gefühlen und Gedanken - ist potenziell heilsam, kann andererseits
aber auch krankmachend wirken, dann nämlich, wenn unsere Ge-
danken sich verirren. Krankheit und Heilung sind die zwei Seiten
Hels, und daraus nährt sich ihre zwiespältige Beurteilung bei den Men-
schen.
Wenn Menglöd auf dem »Fels der Heilmittel« sitzt, war sie dann
zuvor krank? In den Orpheussagen ist es im Allgemeinen so, dass die
Geliebte durch Krankheit oder Unfall stirbt und der Mann sie unbe-
dingt wieder ins Leben zurückholen will. W r d Menglöd in Hel, auf
dem Lyfjaberg, vielleicht von ihrem Leiden, dem falschen Glauben an
einen Tod der Seele, geheilt? Wird sie als Seele, die den Tod überlebt
hat, vom Glauben an einen endgültigen Tod geheilt? Heißt nicht Tod

363
überhaupt, sich an den vorgeburtlichen immateriellen Ursprungsort
zurückzubegeben, um dort Heilung zu erlangen vom Irrglauben, dass
es nur ein irdisches Leben gibt? Tod wäre damit eine allumfassende
Heilung. Hel, der Lyfjaberg, der erhabene Zustand, als letzter Ort der
Heilung und nicht etwa nur als Ort des Grauens, wirft ein ganz neues
Licht auf diesen Zustand. Damit wäre der Eintritt in die erhabene
Helle Hels in der Tat eine Universalmedizin gegen Alter, Krankheit
und Tod, was auch der Fall ist, denn diese drei sind die Rachegöttin-
nen, die in der Materiewelt den Körper beherrschen, der in Hel aber
nicht mehr da ist, weshalb wir dort frei von seinen Übeln sind. Die
Reise in den Tod also verstanden als Überleben der Seele, die, nun kör-
perfrei, in sich selbst heil und ganz ist. Alle Leiden wären dann zu ver-
stehen als das Leiden der Seele, eingeschlossen zu sein in eine materi-
elle Dimension, gewissermaßen wie der Geist in der Flasche; dieser
Dimension entflieht der Mensch, wenn er stirbt oder ins Unterbe-
wusstsein, die Unterwelt eintaucht - und damit löst sich die Qual auf.
Für die Germanen war Hel niemals einseitig ein unguter Strafort, son-
dern gleichzeitig das wunderbare Reich der Helle; erst das Christen-
tum verunstaltete sie ausschließlich zur Hölle. Hel ist ein Zustand, in
dem der Verstorbene das ist, was er seelisch ist; ist er frei von schlech-
ten Gedanken, kann Hel zu einer allheilenden Medizin werden, einem
Reich des Heils, der Helle und Liebe. Swipdags Irrfahrt in die Unter-
welt ist vermutlich zu verstehen als eine Reise zu sich selbst in Gestalt
seines weiblichen Aspektes Menglöd, der Halsbandfrohen, deren Ge-
stalt wiederum identisch mit Hel ist.

Wallfahrt nach Hei als Universalmedizin

38 Fjölswinn:
Hlif heißt eine,
die andre Hlifthrasa,
die dritte Thjodwarta,
Björt und Bleik,
Blid und Frid,
Eir und Aurboda.

Dass der Berg wirklich ein heilender ist, bezeugt diese letzte Strophe.
Zu Menglöds Füßen auf dem Lyfjaberg sitzen Mädchen, die den Cha-
rakter des Berges und den der Menglöd spiegeln. Ihre Namen stellen

364
Anspielungen auf den Heilcharakter des Ortes dar. Die Jungfrauen
sind Vervielfältigungen und nähere Beschreibungen Menglöds: Hlif,
»Beschützerin«; Hlifthrasa, »Schutz-?«; Thjodwarta, »Volksbewahre-
rin«; Björt, »die Glänzende«; Bleik, »die Weiße«; Blid, »die Freund-
liche«; Frid, »Frieden, die Schöne«; Eir, »die Pflegerin« und »Arztin«;
Aurboda, »die Goldspenderin«. Sie alle verweisen auf das Heilsame
dieses Berges, Hels.
Menglöd habe ich eine Verkörperung Hels genannt. Sie ist aber
keine eigenständige Göttin, sondern im Grunde ist sie Freyja oder ein
Aspekt derselben. Freyja gilt neben Frigg als Gemahlin Odins, der Per-
sonifikation Asgards. Andererseits kann sie keine wahre Asin sein; sie
gilt als Wanengöttin, da sie in Folkwang lebt, das eindeutig als Bereich
Hels zu bestimmen ist, denn dorthin kommen die gefallenen Helden.
Folkwang ist das weibliche Gegenstück Walhalls. Freyja alias Menglöd
gehört damit zu Hel, zum Halbgottprinzip. Frigg dagegen wird deut-
licher als Asin vorgeführt. Freyja und Frigg sind beide Besitzerinnen
eines Halsbandes, was auch auf ihre Übereinstimmung verweist. Freyja
gehört das Brisingenhalsband, das lichte Goldgeschmeide. Gold ist,
wie wir wissen, Ausdruck Hels. Freyja und Menglöd sind demnach
Verdoppelungen. Das Halsband der Menglöd ist das Halsband der
Freyja. Das Halsband hatten vier Zwerge der Freyja geschmiedet, was
erneut auf ihre Zugehörigkeit zu Hel hinweist.
Nach einer anderen Geschichte bringt das göttliche Brüderpaar des
Zwielichts, die Brisingen, Freyja aus dem nächtlichen Dunkel Hels als
Braut zum Himmelsgott Tiuz (später Odin-Wodan). Sie haben ein
Halsband gefertigt, welches sie Freyja schenken wollen, vorausgesetzt,
sie gibt sich ihnen hin - ein Angebot, auf das sie eingeht. Die Bezeich-
nung des Schmucks Brisingamen beziehungsweise »Brisingar« bedeu-
tet vielleicht »Zusammenflechter«, ein Hinweis auf die alles zusam-
menschmiedenden, das heißt vereinigenden Zwerge. Das Halsband
kann auch ein Gürtel sein, also etwas Verstrickendes und Verschlin-
gendes, dessen Zauberkraft alle Götter und Sterblichen bezwingt. Das
geflochtene Halsband dient dazu, die alles miteinander verflechtende
Kraft des Urstoffs, der Seele, der Liebe, auszudrücken. Es versinnbild-
licht also die Fähigkeit der Seele, sich mit allem Dasein eins zu fühlen,
was in der Tat verwirrend ist wie ein Spiegelkabinett, in dem wir uns
tausendfach gespiegelt sehen. Von Zwergen geschaffene Technologien
wirken immer auf diese Weise, und Hel ist ein alles verbindendes Lie-
besband.

365
39 Swipdag: 41 Swipdag
Sage mir dies, Fjölswinn, Sage mir dies, Fjölswinn,
was ich dich fragen werde was ich dich fragen werde
und ich wissen will: und ich wissen will:
helfen sie allen, gibt's keinen Mann,
die ihnen Opfer bringen, der in Menglöds wonnigen
wenn es dessen bedarf? Armen ausruhn darf?

40 Fjölswinn:
Allen helfen sie,
die ihnen Opfer bringen
am urheilgen Opferplatz;
nicht wird so mächtig die N o t
für die Menschensöhne:
sie befrein sie aus der Gefahr.

Bringen Menschen diesen Heil- und Heiwesen Opfer dar, dann wer-
den sie von ihnen geheilt. Wer sich an Hel und ihre Gesetze wendet,
erfährt Heilung, weil sie eine heilende Dimension ist, das Heilende
selbst, das Reich unserer Seele. Hier wird auf Psychotherapie und Psy-
chosomatik verwiesen. Hel ist zum einen die menschliche Seele, aber
gleichzeitig auch eine Dimension, in der alle Seelen ruhen, auch die
nichtmenschlichen Seelen der Riesen und Zwerge. Swipdags Reise
nach Hel, zu Menglöd auf dem Lyfjaberg, wäre demnach eine Reise in
seine Seele, zum Ursprung des Heils; denn ist unsere Seele gesund,
dann auch der Körper. Steht also Menglöd, »die Halsbandfrohe«,
wortwörtlich für das »Seelenheil«?
Den Mittelpunkt des Liedes bildet die Darlegung des Aufbaus von
Hel, Swipdags Sehnsucht nach der Geliebten ist zweitrangig, weshalb
auch die für uns ungeklärte Folgerichtigkeit der Verbindung von den
Hunden zum Hahn und von dessen Sichel zu Läwatein nicht von allzu
großer Bedeutung ist.
Wer tief liebt, gelangt zwangsläufig nach Hel - sprich zu Menglöd,
zum Lyfjaberg, zur Heilung - und wird dadurch geheilt, durch die
Erfahrung großer Liebe. Hel wird hier erstmals vorgeführt als Mekka
der Liebe, wo die Dinge zusammenkommen und Ganzheit erreicht
wird.

366
Hei als Liebesreich

42 Fjölswinn: 47 Swipdag:
Keinen Mann gibt's, Swipdag heiß ich,
der in Menglöds wonnigen Solbjart hieß mein Vater,
Armen ausruhn darf, mich trieb's den windkalten Weg;
außer Swipdag allein: das Wort der Urd
ihm soll die sonnige Meid überwindet keiner,
zur Gattin gegeben werden. beschied's ihm Schweres auch.

43 Swipdag: 48 Menglöd:
Stoß das Tor auf! Froh sei gegrüßt!
Die T ü r gib frei! Erfüllt ist nun mein Wunsch:
Hier kannst du Swipdag sehn. komm und küsse mich!
Flugs nun geh, Des Ersehnten Anblick
zu fragen, ob Menglöd muss die Sorge bannen
nach meiner Liebe verlangt! dem, der nach Liebe verlangt.

44 Fjölswinn: 49
Höre, Menglöd: Lange saß ich
ein Mann ist gekommen; auf dem Lyfjaberg,
geh, zu grüßen den Gast! harrte dein Tag für Tag;
Die Hunde wedeln, wes ich gewartet,
das Haus tat sich auf: das ward nun erfüllt,
mich dünkt, dass es Swipdag sei. da du, Held, kamst zur Halle
mein.
45 Menglöd:
Hungrige Raben 50
sollen am hohen Galgen Lange hatt ich Sehnsucht
dir die Augen aushacken, nach der Liebe dein
lügst du das, wie du nach der Minne mein;
dass den langen Weg wahr nun wird's,
Swipdag zum Saale kam. dass wir weilen sollen
immerdar vereint.
46
Woher des Wegs?
Woher bist gewandert du?
Wie heißt man dich daheim?
Namen und Sippe
soll ich nehmen zum Zeichen,
ob ich als Gattin gegeben dir.

367
Die Befragung endet jählings. Fjölswinn teilt Swipdag mit, er werde
die »sonnige Maid« zur Gattin erhalten, wohl da er alles weiß. Es
scheint, als seien Swipdags Fragen gleichzeitig die richtigen Antwor-
ten auf ein Rätsel gewesen - so ließe sich zumindest die überraschende
Öffnung des Heitores verstehen. Die Höllenhunde wedeln mit dem
Schwanz. Hel tut die Tore auf. Swipdag ist glücklich, er erzählt
Menglöd, es hätte ihn auf den »windkalten Weg« getrieben, den Hei-
weg, den zu gehen es gewöhnlich neun Nächte braucht; und so hätte
er das Wort der Urd, der Schicksalsnorne, erfüllt, die ihm offenbar -
man erinnere sich des Zaubers seiner Mutter - Hilfe bei diesem U n -
terfangen gegeben und damit das Schicksal der Liebenden erfüllt hat.
Das Lied schließt mit dem Satz, von Menglöd gesprochen: »wahr nun
wird's, dass wir weilen sollen immerdar vereint.«
In diesem Licht betrachtet, steht fest, dass der Riese Swipdag dort
bleibt, wo er hingehört, nämlich in Hel. Die Zaubereien, die seine ver-
storbene Mutter ihm mit auf den Helweg gegeben hatte, sind nichts
anderes als zum Wesen von Hel gehörende Regeln, sprich Umgangs-
formen gewesen, mit denen man sich in dieser Dimension zurechtfin-
den kann.
In diesem Lied wird uns eine Brautfahrt in den Tod beziehungs-
weise in die Dimension der Seele vorgeführt. Swipdag vereint sich mit
seinem weiblichen Aspekt Menglöd, dem Unterbewusstsein, dem
Feinstofflichen, oder anders gesagt, er stirbt, falls wir in ihm einen
Menschen sehen wollen, und erwacht ganz in seinem wahren Selbst,
unter dessen Verlust er in Gestalt von Liebessehnsucht so gelitten
hatte. Überraschender Schluss des Liedes: Wer stirbt, wird heil; der
Tod lässt uns ganz erwachen für unsere Seele, die im Leben durch
den Körper scheinbar überschattet ist. Tod, Seele und Heilung sind
eins. Alle Heilung liegt in Hel, weshalb sie Ziel aller Helden ist (daher
Hel-d möglicherweise von Hel abzuleiten), das heißt jener Wagemuti-
gen, die auf Selbstheilung setzen.
Das ganze Lied darf nicht als im Irdischen spielend missverstanden
werden, es spielt an der Grenze zu Hel, das heißt in Hel selbst. Dabei
werden überraschend viele Gesetze dieser Dimension vorgestellt; es
handelt sich deshalb meines Erachtens um ein Lehrlied über Aufbau
und Eigenart des uns benachbarten und uns durchdringenden Heirei-
ches in uns selbst und im grossen Zusammenhang der Dimensionen,
dargestellt in der Rahmenhandlung einer Orpheussage, bildlich ver-
standen als Heilreise eines Helden zu seiner Geliebten, zu sich selbst.
Hel ist die Heildimension an sich. Alle Heilung entspringt der

368
Berührung mit Hel. Wichtigstes Prinzip, um Heilung zu erlangen, ist
Liebessehnsucht, die einen unweigerlich nach Hel bringt. Daher viel-
leicht die Identität von Liebe und Tod für viele Liebenden. Die Dar-
stellung der Heiprinzipien wird daher am besten vorgeführt am Bei-
spiel einer jeden ansprechenden Liebesgeschichte, und das tat dieses
Eddalied. Der Liebende steht immer mit einem Fuß in Hel, durch
seine starken Gefühle besitzt er Kraft und Konzentration, seine Seele
loszureißen vom Körperlichen, sprich in sie einzudringen. Hel ist nicht
nur der Schreckensort unguter Gefühle, sondern auch das Seelenreich
verzückter Gefühle. Die germanische Welt dürstete nach einer mysti-
schen Vereinigung mit dem hellen Land, davon nähren sich die Edda-
lieder. Der germanische Krieger kämpfte nicht für Ruhm, sondern um
sterbend einzugehen in Walhall; das Leben wurde als Schein erkannt
und die Materie als der Sarg der Seele, der nur durch den Tod oder das
Erlebnis des Austretens der Seele überwunden werden konnte. Das
Reich Hels zu finden ist aber so schwierig wie eine Psychotherapie.
Nach einer anderen Überlieferung heißt es, die Burg der Menglöd
drehe sich auf der Spitze eines Speeres und sei von lodernden Flam-
men umgeben, womit - wie in der christlich-scholastischen Frage, wie
viele Engel auf einer Nadelspitze tanzen können, nämlich unendlich
viele - klar ist, dass Menglöds Reich jenseits der Raumzeit liegt.

Kleines Lexikon der Wirkmechanismen Hels

Da es sich bei diesem Lied um eine Fahrt nach Hel handelt, möchte
ich zum Schluss alle angeführten Wirkgesetze Hels zusammenfassen.

Fjölswinn, »Vielwisser, Vielweiser«. Der Name des Wächters an der


Grenze zwischen Hel und Midgard bezieht sich auf das große Wissen
der Riesen, das ein W s s e n um die Heiprinzipien ist. Da die Riesendi-
mension der Materie vorausgeht und sie umfasst, bewirkt sie ein voll-
kommenes Grundwissen, es ist die Urmaterie, aus der das materielle
Weltall hervorging. Alle Riesen, Zwerge und lötenseelen, alle Bewoh-
ner Hels sind daher mit großen Wissen und mit großer Kunstfertigkeit
ausgestattet. Anders gesagt: Unsere Seele weiß alles.

Halsband Brisingamen. Menglöd, »die Halsbandfrohe«, trägt ein gol-


denes Halsband. Wie alles Geschmeide und alle trickreichen Techno-
logien wurde das Halsband hergestellt von Zwergen; es ist ein Hel-

369
produkt wie alles, was aus Gold ist. Das glänzende Gold ist ein zentra-
les Symbol Hels, weil es eine hell scheinende Dimension ist. Reichtum,
Schmuck und Kleinode sind damit Hinweise auf Hel und weisen ihre
Besitzer als Heibewohner aus. Das geflochtene Halsband verweist auf
das umfassende Verflochtensein aller Dinge und Zustände.

Groa: Mutter Swipdags, Riesin und zauberkundig wie alle Riesen, also
mit der Fähigkeit ausgestattet, mentale Scheinwelten zu erzeugen, gibt
dem Sohn Ratschläge, wie man sich in Hel verhalten muss. Es folgt ein
kleiner Knigge für Hel, ich werde nur die verständlichsten Motive er-
wähnen:
1. Hel ist das Reich des Schicksals, hier stehen wir an der Wurzel von U r -
sache und W r k u n g ; Zukunft ist hier bereits gespeichert in Gestalt des
Schicksalsgesetzes, der Norne Urd, der sich Swipdag willenlos über-
lassen soll, nur dann habe er Erfolg. Hel ist daher der Zustand der In-
tuition und Eingebung, des Mitfließens mit dem Geschick.
2. Swipdag wird Totenflüsse zu überwinden haben. Hel ist halbmateri-
ell, ein wasserähnliches Medium. Dieser »Äther«, dieses »Plasma«
speichert all unsere Gefühle, weshalb die Flüsse Namen aus dem Reich
der Gefühle, insbesondere negativer Art, tragen. Swipdag muss diese
überwinden, ohne von ihren Emotionen angesteckt zu werden, also ge-
fühlsmäßig gelassen bleiben, und dafür erhält er einen Zauber. Einen
ähnlichen Zauber erhält er gegen mentalen Schiffbruch und gegen die
auf den Gewässern tobenden seelischen Stürme, also gegen jähzornige
Regungen.
3. Einen anderen Zauber erhält er gegen Fesselung, denn Hel ist ein
Ort emotionaler Fesselung beziehungsweise des Verstricktseins in un-
sere Gefühlswelt - das Heigatter schließt sich um uns.
4. Einen Zauber erhält er gegen Kälte und Nebel, denn Hel ist kalt und
neblig (Niflheim, W n d h e i m , kalter Geisterhauch der Totenseelen);
das Feuchte ist die Struktur des Feinstoffs, in dem unsere Gefühle ge-
speichert sind. Swipdag erhält also einen Zauber gegen zu starke Ge-
fühlsanwandlungen.

Heigatter: Hel ist umgeben von einem Wall, einer Mauer, auch T h r y m -
gjöll genannt. Thrym bedeutet »laut, lärmend«, Gjöll ist ein Toten-
fluss; die Mauer beziehungsweise ganz Hel ist also eine wasserartige,
halbmaterielle Zone, in der unsere Emotionen schreien. Emotionen
sind superflüssig.

370
Riesen leben in Hel: »Vorm Wall sah er einen Wandrer nahen durch des
Riesenvolkes Reich« (Strophe 1), heißt es. Ich deutete die Riesen als
die »Erhabenen, Hohen«, weshalb sie in den Bergen wohnend darge-
stellt werden: Gemeint sind die erhabenen Prinzipien oder Gesetze des
Seelischen.

Feuer oder eine »Waberlohe« umgibt Hel (Muspellheim). Hel besteht


selbst ganz aus Feuer oder zumindest ist das ein Aspekt von ihr. Ge-
meint ist tatsächlich die feurige Hitze des Urstoffs; andererseits ist da-
mit gelegentlich auch die feurige Natur unseres Gemüts gemeint, das
Feuer der Leidenschaften.

Niflheim: Hels anderer Aspekt neben Muspellheim ist Niflheim, jene


feucht-neblige, kalte und von Eisflüssen durchflossene Region. Beide
Regionen zusammen stellen den polaren Zustand Hels dar, aus dessen
Spannung sich später Materie entwickeln wird. Es handelt sich nicht
um Feuer oder Wasser in unserem Sinne, sondern um begriffliche An-
leihen aus unserer sinnlichen Erfahrung; gemeint ist eine andere Er-
scheinungsform, ähnlich der des Wassers und Feuers, daher ziehe ich
es vor, von superflüssigem Plasma zu sprechen. Auch Nebelheim ver-
weist wie Muspellheim auf unsere Leidenschaften. Urstoff und Ge-
fühle sind eins, Gefühl ist der Urstoff, so die widersprüchliche Wis-
senschaft der Edda.

Glanzhalle: Menglöds Gehöft ist eine Glanzhalle, ebenso wie ihr Hals-
band glänzt. Hel ist ein Glanzort, Hel = hell. Glanz aber auch verstan-
den als »laut tönend, hell klingend«, nämlich unangenehm im Sinn von
grell schreien, lärmen. Riesen sind bekanntlich Kraftlärmer, das heißt,
in dieser Dimension schreien unsere Gefühle. Ein Ort der Qual, be-
sonders Walhall, wo immer noch gekämpft wird, obwohl die Helden
längst tot sind: In dieser Halle (hallen, lärmen) schreit man sich die
Emotionen von der Seele. Das Helle von Hel kann also positiv und ne-
gativ verstanden werden, so wie unsere Emotionen auch.

Wachhunde stehen vor Hel. Es ist nicht so einfach, nach Hel einzu-
dringen; dies ist nur Toten möglich oder mittels starker Gefühle, wie
der Liebe. Die Hunde lassen nur jenen ein, der voller Liebe bezie-
hungsweise reinen Gefühls ist. N u r wer das Materielle gedanklich wie
körperlich abstreift, kann in Hel, in seine eigene Seele eindringen. Die
Seele ist ein individueller Zustand, aber auch eine Dimension, die ge-

371
schaffen wird durch das Gemenge aller Seelen. Ohne Seelen gäbe es
keine Hel.

Liebe. Hel als Dimension stärksten Liebesgefühls, der Leidenschaft, die


bekanntlich Leiden schafft. Bedürfnisse und Begierden sind die nega-
tive Seite Hels, sie lassen uns leiden, wenn wir sie nicht verwirklichen
können. Die positive Seite Hels ist das Bedürfnis nach mystischer Ein-
heit, die dort ebenfalls gewährt wird: Es ist ein Bedürfnis ohne Ichan-
spruch und stellt damit die Überwindung der kleinlichen Egobegier-
den dar. Insgesamt aber ist Hel ein im Vergleich zu Asgard niederer
Zustand, der immer eingebunden bleibt in ein gewisses Bedürfnis nach
Ich und die Illusion der Individualität, die in Asgard aufgehoben ist,
wenn wir Götter werden. Asgard ist daher das eigentliche Ziel der ger-
manischen Evolutionslehre, individuell wie kosmologisch.

Seele: Hel ist die Dimension unserer Gefühle, unserer Seele oder Psy-
che. Hel ist unsere reale seelische Zone, kein irgendwie geartetes
Ideenkonstrukt. Hier dominiert die Seele, nicht der Körper. Das Wort
Seele ist von »See, Wasser« abzuleiten, womit bildlich auf ihren halb-
materiellen Zustand verwiesen wird.

Waberlohe: Hel ist umgeben von Feuer beziehungsweise selbst ganz und
gar eine »verwunschene Waberlohe«, eine wie Wasser wabernde, feu-
rige Lohe. Dieses Wabernde ist nicht nur als wabernde, unruhige Emo-
tion zu verstehen, denn sie wird auch Lyr, »die Glückliche, Freudige«,
genannt, womit auf die freudig wabernden Gefühle hingewiesen wird.

Loki hat Hel erschaffen (es ist seine Tochter). Loki ist der zwiespältige
Gott, Trickster, Lügner und Held in einem. Sein Name bedeutet eben-
falls Feuer. Hel und Loki sind Synonyme. (Nach anderer Version ent-
stand Hel dadurch, dass Odin Hel aus Asgard hinausgeworfen hat, um
ein eigenes Reich zu gründen. Tatsächlich entstand Hel als Verdich-
tung von Asgard.)

Zwerge sind nichtmenschliche Lebensformen, sie leben in Hel und


schaffen durch mentale Kunstfertigkeit wunderbare Gegenstände mit
Zauberwirkung. Ich persönlich neige dazu, die Zwerge als bestimmte
Wrkprinzipien Hels zu deuten, das heißt einerseits als die kunstvollen
Eigenarten unserer Seele, andererseits als unabhängige Wesen inner-
halb Hels.

372
Lyfjaberg, »Fels der Heilmittel«: Dieser steht in (ist) Hel. Hel als Hei-
lung von unserer wilden seelischen Natur selbst. Denn es gibt die
Möglichkeit, in Asgard zu leben, jenem unmentalen, anti-seelischen
Daseinszustand höchsten Glücks, das offenbar kein persönliches Glück
mehr ist. Wenn Hel ein Ort des Todes ist, dann sind wir dort das, was
uns überlebt, unsere unzerstörbare Seele, alles, was wir emotional sind,
gute wie schlechte Gefühle. Folglich kann Hel ein Ort des Grauens wie
der Freude und Heilung sein.

Weltberg: Der Lyfjaberg ist ein Synonym Hels. Berge sind erhaben, der
Mensch will aufschauen zu den Bergen, sprich dem geistig Erhabenen,
dem Riesenhaften. Die Riesen sind die Engel der Germanen, aber auch
die erbaulichen, ehrwürdigen, glanzvollen Gefühlsaugenblicke. Hel
wird daher sinnbildlich als Bergland gedacht, wo es Riesen und riesige
Berge gibt, gemeint sind natürlich deren mentale Entsprechungen.
Hel ist das Reich unserer erhabensten wie niedrigsten Gefühle; und
dementsprechend widersprüchlich führen sich Riesen und Zwerge auf,
mal freundlich, mal feindlich, mal erhaben, mal egoistisch.

Als lebender Mensch kann man mit Hel allein durch seine Gedanken
in Verbindung treten. Wer stark fühlen kann, befindet sich aisgleich
auf der Ebene Hels, eben in Gestalt seiner Gefühle und Gedanken,
nicht körperlich, und nimmt zu den dortigen Gefühls- und Gedan-
kenkomplexen - ebenso wie Riesen, Zwergen und Totenseelen - Ver-
bindung auf. Demnach ruht Hel in uns selbst. Gebete, Rituale und
Wünsche sprechen Hel unmittelbar an, daher ihre Bedeutung.

373
1 5 . DAS WALKURENLIED:
Das gewebte Netzwerk des Schicksals

Dieses Lied gehört ursprünglich nicht zur Eddasammlung, sondern ist


in verschiedenen Handschriften der Njalssaga überliefert. Die Vorrede
berichtet, ein Mann habe zwölf Gestalten gesehen, womit die zwölf
Walküren gemeint sind, die in eine Webstube eintraten und darin ver-
schwanden. In der Webstube habe er zwölf Webstühle gesehen, und
zwar grausigster Art, denn hier werde das Schicksal gewebt und ge-
sponnen. Dazu hätten die Walküren das folgende Lied gesungen, so-
zusagen das Lied vom Tod, denn mit Schicksal ist meistens die Vor-
herbestimmung unseres Todes gemeint.
Genzmer bezieht das Lied auf die Kriege, welche die Wikinger 901
n. Chr. in Irland fochten. Daher die Einleitung des Liedes, aber das ist
bloße Rahmenhandlung. Uns beschäftigen die Aufgaben und Eigenar-
ten der Walküren.

Die Walküren

Walküren, Helferinnen Odins und Freyjas beim Auswählen und Ein-


sammeln der Gefallenen auf dem Schlachtfeld, haben die Aufgabe, die
auf der Wal oder Walstatt, also dem Schlachtfeld Erschlagenen zu
küren, sprich ihren Tod zu bestimmen und ihre Seele nach Walhall,
also in die Halle der auf der Walstatt Gefallenen zu geleiten. Die Ge-
fallenen teilen sich Odin und Freyja je zur Hälfte; Odins Helden ge-
langen nach Walhall, Freyjas Helden in ihr Heim Folkwang. In der
Halle feiern sie im Saale Sessrumnir, was »viele Sitze habend« heißt.
Folkwang hatte ich bestimmt als (folk = Volk, wang = Wiesenhang) eine
freundliche Erholungsstätte, vergleichbar einem Kurheim im Grünen.
Zwar ist es Odins und Freyjas Aufgabe, die Krieger auszuwählen,
die sterben werden, dabei helfen ihnen aber die Walküren, die »To-
tenwählerinnen«. Sie waren zuerst eine Art Schicksalsgöttinnen, wur-
den dann aber zunehmend als Waffen tragende, große, starke Frauen
dargestellt, mit Schild und Rüstung auf Pferden durch die Luft jagend.
Die Walküren verleihen nicht nur Sieg und erwählen die l o t e n , in

374
Walhall selbst bedienen sie die zechenden und feiernden Helden, ver-
sorgen sie vor allem mit Met, denn nachdem sie auf dem Schlachtfeld
gefallen sind, müssen sie jetzt ihre Kräfte durch die mentalen Säfte
Walhalls erneuern, ähnlich wie durch eine Bluttransfusion. Die Wal-
küren wohnen aber nicht in Walhall, sondern in Wingolf, was »Halle
der Freundschaft« heißt. Es werden folgende Walküren genannt: Hrist
(Sturm), Mist (Nebelgrau), Skeggjöld (Beilvergeltung), Skögul (die
Wütende), Hild (Kämpferin), T h r u d (Stärke, Gewalt), Hlökk
(Frohlocken, Schreien), Herfjöt (Heerfessel). Andernorts werden wei-
tere erwähnt. Ihre Namen verweisen deutlich auf ihre Eigenschaften
und damit unsere Eigenschaften nach dem Tod.
Walküren sind auch als Schwanenmädchen bekannt, das heißt, sie
bedienen sich gerne der Gestalt des Schwans. Sie fliegen im Gefolge
Odins zur Schlacht, lassen sich am Wasser nieder und spinnen das Ge-
wand des Schicksals. Sie sind verbunden mit Wasser, Nebel, Wolken,
aber nicht deren irdischer Erscheinung, sondern deren plasmatischem
Spiegelbild.
Viele Kulturen kennen die Wiese, die zwischen Hel und Asgard
liegt und eine Art Übergangszustand von einer Dimension zur ande-
ren darstellt. Die Germanen sprachen von Folkwang, »Volkswiese«,
die Griechen von der Asphodeloswiese. Auch in der modernen Nahto-
deserfahrung kommt diese Wiese überraschenderweise häufig vor. Es
gibt diese Wiese demnach als wahres seelisches Erleben; hier ruht man
sich von den Beschwerlichkeiten des Lebens und der Hölle aus, bevor
man ins rein Geistige, nach Asgard eindringt.
Weiter finden wir in diesem Lied eine Verquickung der Walküren,
die wir eher als Totenführerinnen kennen, und der N o m e n , die eher
als die drei Schicksalsprinzipien Schicksal, Werden, Skuld gelten. Die
hier erwähnten zwölf Walküren weben nämlich an Webstühlen und
bestimmen derart das Schicksal der Helden.

Die Vorherbestimmung d e s Todes

1
Weit ist gespannt
zum Waltode
Webstuhls Wolke;
Wundtau regnet.
N u n hat an Geren

375
grau sich erhoben
Volksgewebe
der Freundinnen
mit rotem Einschlag
des Randwertöters.

»Weit ist gespannt zum Waltode Webstuhls Wolke«. Das heißt: Viele
Helden werden fallen in der Schlacht, und das Gewebe, »die Wolke«,
wird viele erfassen. Es wird »Wundtau«, sprich Blut regnen, und an den
»Geren« (Speeren) - hier sind die Querstangen des Webstuhls gemeint
- zeichnet sich das »Volksgewebe«, das Volksschicksal ab, voll »rotem
Einschlag«, sprich Blut des »Randwertöters«, womit der Ostgotenkö-
nig Ermanerich gemeint ist, der versehentlich seinen Sohn hängen ließ.
Warum dieser hier Erwähnung findet, bleibt unverständlich. Gezeigt
wird in dieser Strophe nur, dass Leben und Sterben mit dem Weben
am Webstuhl vergleichbar ist. Bedeutsam ist eine allerdings oberfläch-
liche etymologische Verbindung zwischen dem, was auf dem Schlacht-
feld vor sich geht, und dem Weben. Weben hat die indogermanische
Wurzel uebh, »weben, flechten, knüpfen, sich hin und her bewegen,
wimmeln« und litauisch vebzdeti, »wimmeln, durcheinander bewe-
gen«. Weitere etymologische Bezüge verweisen auf »weichen, Platz
machen«, was sich vielleicht auf das Schlachtfeld übertragen lässt.
Der Tod ist vorherbestimmt durch das Weben, bei dem viele Fäden
zusammenkommen und ein Schicksal gründen. Also ist der Tod ab-
hängig von vielen Ereignisfäden, die aber in festgelegter Web- und
Weltordnung sich vereinen und so den Tod besiegeln. Der Tod ist ein
Geschehnis innerhalb des verflochtenen Gefüges des Webrahmens,
eine Vielzahl von Ereignissen gipfelt im Rahmen ihrer vorbestimmten
Webordnung im Tod. Die Erkenntnis der verzweigten, sich verkno-
tenden und verwebenden Ereignisfäden wird dem Menschen vorent-
halten, sie überschreitet sein Blickfeld. Die webenden Walküren stel-
len die verzahnte Ereigniskette des Lebens dar. Das Weben als Bild der
Ereignisvielfalt des Lebens und ihres undurchsichtigen Zusammen-
spiels zu benutzen ist bewundernswert; im Grunde haben wir hier
nicht einmal ein Sinnbild, sondern eine recht genaue Beschreibung des
Lebensgeflechts vorliegen.

2
Geflochten ist es
aus Fechterdärmen

376
und stark gestrafft
mit Streiterschädeln;
Kampfspeere sind
die Querstangen,
der Webebaum Stahl,
das Stäbchen ein Pfeil;
schlagt mit Schwertern
Schlachtgewebe!

Dieser Webstuhl, das Leben selbst, ist geflochten aus Fechterdärmen,


und diese werden straff gehalten durch Streiterschädel, die als Gewicht
am Ende befestigt sind. Als Querstangen beim Weben dienen Kampf-
speere (Ger = Speer, mhd. sper, aisl. spjor, ist nahe verwandt mit »Spar-
ren, Balken«), und auch der Webbaum ist daraus gemacht. Das Ge-
webe wird verglichen mit dem Schlachtgewebe und -gewimmel (weben
= wimmeln, hin und her bewegen), weshalb unsere Ableitung weben =
»das Gewimmel in der Schlacht« zutreffend ist. Das Stäbchen ist ein
Pfeil. Weben ist also mit einer Schlacht zu vergleichen. Auch die Le-
bensvorgänge als Weben zu beschreiben ist gerechtfertigt, denn das
Leben ist ebenso unübersichtlich, alles miteinander verknüpft und ver-
woben, ein Geflecht von Beziehungen und Abhängigkeit, dass es wie
ein Lebensteppich erscheint, auf dem plötzlich ungeahnte Muster auf-
tauchen, deren Entstehung wir durch die tausend sich verflechtenden
Fäden, obwohl von uns selbst angelegt, niemals entdecken können.
Der Vergleich von Weben und Leben ist auch treffend, da so wie ein
Gewebe langsam fortschreitet und sich zunehmend mehr Muster zei-
gen, auch ein Menschenleben zunehmend an Zeichnung und Form ge-
winnt; dabei wird dann immer mehr auch das Ende des Musters vor-
hersehbar und kann vorhergesagt werden, dass es nämlich so und nicht
anders sich fortentwickeln muss - deshalb können die Walküren oder
Nornen das Schicksal der Menschen problemlos vorhersehen und auch
den Todeszeitpunkt bestimmen. Hier wird eine folgerichtige Ordnung
vorgeführt, die das Vorhersehen erläutert. Wenn man nämlich einmal
einige Muster erkennt, kann man daraus auf deren Fortentwicklung
und Ende schließen. Schicksal kommt von »schicken«, was »ordnen,
ins Werk setzen, abfertigen« bedeutet. Es gehört in den Bedeutungs-
zusammenhang von »geschehen«; dazu gehören auch »sich an-
schicken, geschickt, Schicksal«. Der Begriff Schicksal wurde im 16.
Jahrhundert aus dem niederländischen »Schicksei« übernommen, was
»Anordnung, Fatum« heißt. Das Schicksal ist also vorherbestimmt!

377
Hild geht weben
und Hjörthrimul,
Sangrid, Swipul
mit Siegschwertern.
Schaft soll brechen,
Schild soll krachen,
durch Harnische
der Helmwolf dringen.

Es werden nun einige Walküren namentlich aufgezählt: Hild, »Kämp-


ferin«, Hjörthrimul, Sangrid, Swipul. Da das Weben benutzt wird, um
eine Schlacht zu beschreiben, werden alle Webtechniken mit den Mit-
teln des Krieges gleichgesetzt. Es wird gewoben mit Siegschwertern,
der Schaft bricht, das Schild kracht und durch den Harnisch dringt der
Helmwolf, sprich die Streitaxt.

4
Webet, webet
Gewebe des Speers,
das der junge König
von je gekannt!
Vorwärts stürmet
ins Feindsheer,
wo unsre Freunde
wir fechten sehn!

Die folgenden Strophen lassen kosmologische Tiefe ganz vermissen,


sie beziehen sich auf geschichtliche Ereignisse, und wir erfahren kaum
noch etwas Besonderes über die Walküren. »Gewebe des Speers« ist
die dichterische Umschreibung für »Schlacht«. Im jungen König sieht
Genzmer Sigtrygg, den Wikingerkönig, der die Iren 916 n. Chr. bei
Confey besiegte. Aber man darf nicht vergessen: Hier werden reale Er-
eignisse nur benutzt, um grundsätzliche kosmologische Gesetze vor-
zuführen.

5
Webet, webet
Gewebe des Speers!
Folget hinfort

378
dem Fürstensohn!
Voll Blut erblickt man
blanke Schilde,
wo den König Gunn
und Göndul schirmen.

Schicksalsbefragung durch Lose:


Ein universales Analogiesystem

6
Webet, webet
Gewebe des Speers,
wo kühner Fechter
Fahnen schreiten!
Lasst sein Leben
ihn nicht verlieren!
Walküren lenken
der Walstatt Los.

Der letzte Satz, »Walküren lenken der Walstatt Los«, verweist auf den
Ursprung des Loses. Dieses altgermanische Wort leitet sich ab vom
althochdeutschen hliozan, mittelhochdeutsch liezen, »losen, wahrsa-
gen, zaubern«. Das Losen diente der Schicksalsbefragung, aber später
auch bei der Rechtsprechung. Es besteht eine Verbindung zu Opfer-
blut: altisländisch blautr, »Los«, neben hlaut, »Opferblut«. Das Opfer
war offenbar mit der Schicksalsbefragung verbunden; man opferte, be-
vor man das Schicksal durch Losen befragte. Das Werfen eines Loses,
das unabhängig vom Menschen fällt, ist kein Zufall, es fällt nur nach
dem nornischen Prinzip des Webens und der Analogie.
Wenn alles mit allem verwoben ist, jedes nur bestehen kann in
voller Abhängigkeit von allem anderen, dann kann es keine Fehler im
Webrahmen geben. Also kann eines - das Fallen eines Loses - auf al-
les andere verweisen. Aus dem Los kann daher gelesen werden, wie es
sich mit anderen Dingen verhält. Dieser Grundgedanke, vorgeführt im
»Alles in allem«-Gesetz Odins, führt unausweichlich zur Zauberei und
zum Losorakel. Wenn jede Einzelheit stellvertretend für alles steht, er-
fährt man im Blick aufs Ganze jede Kleinigkeit, und umgekehrt wird
jedes Teilstück zum Abbild des Ganzen; das ist es, was die germanische
Philosophie zum Ausdruck bringen will.

379
Die Walküren wohnen in W n g o l f , »Halle der Freundschaft«, wo
aber auch Asinnen leben, was verwundert, da Walküren doch nur im
Plasma und am Rand Asgards arbeiten. Aber wir müssen verstehen, die
Walküren sind bloße Emanationen Odins, insbesondere seiner Eigen-
schaft, das Leben zu beenden. Die Walküren stellen das Prinzip des
Lebensendes mit all seinen verzwickten Ursachen und Hintergründen
dar. Walküren sind Odin in seinem Schicksals- und Todesgewand.

Die Walstatt

7
Die Leute werden
der Lande walten,
die mit am Strande
hatten gehaust.
Der mächtige Herrscher
muss nun sterben:
Jäh ist vom Speer
der Jarl gefällt.

Mit dem mächtigen Herrscher ist der irische König gemeint, der in ei-
ner Schlacht fiel. Ein Jarl ist ein Mann von Geblüt, ein Adliger.

8 9
Und es wird Unheil N u n ist Schrecken
die Iren treffen, rings zu schauen:
das nie erlischt blutige Wolke
in der Leute Sinn. wandert am Himmel;
Das Werk ist gewoben, roh ist die Luft
die Walstatt rot; von der Recken Blut,
Volksverderben denen unsre Lose
fährt durch das Land. zum Leid fielen.

Der Gesang d e s Todes

10
Dem jungen König
kündeten wir

380
Siegeslieder;
wir singen Heil!
Doch der es hört,
behalte wohl
der Walküren Sang
und sag ihn den Mannen!

11
Spornt die Rosse
zu raschem Lauf!
Mit bloßen Schwertern
schwingt euch davon.

Damit ritten sie davon, sechs nach Süden und sechs nach Norden.

In Strophe 10 wird auf den Gesang der Walküren hingewiesen. Ist da-
mit ein Todesgesang gemeint? Wir kennen in der Nahtodeserfahrung
den Sphärenklang, der bei Einsetzen des Todes gehört wird. Tod und
»Himmelsklänge« kennen die meisten Kulturen. Sphärenmusik er-
wähnt auch Platon. Bekannt ist der Sirenengesang in der Odyssee. Das
ganze Lied selbst singen die Walküren beim Weben des Schicksals, also
bei der Bestimmung des Todes. Die Toten werden diesen Gesang ver-
mutlich hören, daher die Warnung in Strophe 10: »Doch der es hört,
behalte wohl der Walküren Sang und sag ihn den Mannen!«

381
In der Sturmflut der Geschichte

Wie bereits in der Einleitung angekündigt habe ich versucht, die Lie-
deredda weitgehend aus sich selbst heraus zu deuten. Es schien mir ein
gerechtfertigtes und sicheres Unterfangen, keine anderen Quellen und
Deutungen heranzuziehen, um dem persönlichen Fabulieren und dem
anderer Quellen Einhalt zu gebieten. Und dennoch kann dieses U n -
terfangen für eine abschliessende, aber wohl niemals erreichbare Ed-
dadeutung nicht genügen.
Die Edda unterliegt geschichtlichen Vorgängen, wurde im Laufe
der Zeiten gedreht, gewendet und geknetet. Sie ist ein Spiegel der
menschlichen Geschichte wie jede andere Erzählung, behaftet mit
Verzerrungen, Verballhornungen, Auslassungen, Hinzufügungen, Er-
dichtungen. Die Edda ist Skaldendichtung, keine Urweltlehre mehr,
sie ist christianisiert worden, in ihr treffen sich Dutzende von Stam-
mesüberlieferungen, die sich überlagerten und immer wieder neu ver-
mischten. Es kam zu Verschmelzungen verschiedener Figuren zu einer
und zu Aufsplitterungen einer Figur in viele; es stehen Gottheiten ver-
schiedener Stammestraditionen unmittelbar nebeneinander, teilweise
verkörpern sie Gleiches oder Ähnliches, teilweise Verschiedenes. Und
nun habe ich es gewagt, alle Götter und Riesen dieses Gemischs an
Überlieferungen gleich zu behandeln und einfach nur den ihnen zu-
grunde liegenden symbolisch-kosmologischen Sinn zu erfassen, in der
Annahme, dass alle Kulturen und Stämme zu gleichen kosmologischen
Aussagen und Sinnbildern gelangen, ich daher also keine Geschichts-
forschung zu betreiben habe, welche Gottheit sich von welchem
Stamm ableitet. Dies wollte ich Berufeneren überlassen. Aus diesem
Grund und grundsätzlich wird es nie eine Möglichkeit geben, die Edda
restlos zu entschlüssen, denn das alte W s s e n und die alten Überliefe-
rungen sind längst aufgesogen worden von der Sturmflut der Ge-
schichte. Aus Stämmen wurden Völker, Völker wurden aufgesogen von
anderen oder gingen einfach zahlenmäßig und genetisch in anderen
auf. Eine Tradition ist ein lebendes Erzeugnis lebendiger Gehirne, sie

382
flattert und schillert wie das Leben selbst, ist dauerndem Wechsel un-
terworfen, wobei gediegene alte Formen sich unter anderem Namen,
in andere Geschichten eingestreut erhalten, aber auch Neues zur
Genüge hinzukommt und dieses erneut von Neuem überrollt und ein-
geschmolzen wird.
Was wollen wir eigentlich sagen über die Edda, über eine Handvoll
Lieder und Dichtungen? Sollten wir nicht besser schweigen? Ich habe
nicht geschwiegen. Ein Drang hat mich beseelt, ihr Geheimnis zu er-
gründen. Mir selbst haben sich viele Tore geöffnet, aber letztlich habe
ich mein Ziel nicht erreicht. Meine Deutungen sind fehlerhaft, weil die
Edda ein Gemisch von Uberlieferungslinien ist. Mein Ausgangspunkt
war der, dass die nordischen Völker sich Gedanken gemacht haben
über die Gestalt des Nichtirdischen. Die Edda ist dafür meines Erach-
tens ein guter Beleg: Sie beschäftigt sich weder mit unserem kleinen
Planeten noch mit den Menschen; sie entwirft eine Bühnenleinwand,
auf die zwei nichtstoffliche Welten gemalt sind, das Seelische und das
Geistige, von denen unser irdischer Kosmos und wir Menschen ab-
stammen. Das haben alle Kulturen genau in dieser Weise getan.
Die Edda behandelt keine irdischen Naturerscheinungen, auch
nicht in sinnbildlicher Gestalt; die nordischen Völker waren nicht na-
turbesessen, sie zogen ihre Kraft aus der Erforschung der Seele und des
Geistes, sie waren wie alle Kulturen geistbesessen, auf das Jenseits aus-
gerichtet. Wenn sich in der Edda die Vorstellungen verschiedener
Überlieferungen zur Frage von Seele und Geist versammeln und un-
entwirrbar verquicken, dann kann es sinnvoll sein, die angesprochenen
T h e m e n ohne Hinterfragung ihrer Herkunft einfach aus ihrem Inhalt
heraus zu deuten. So erhält man zwar keine Aufgliederung der ver-
schiedenen Traditionen und geschichtlichen Zeitalter, dafür aber ein
Bild der Philosophie, Jenseitskunde und Weltentstehungslehre. Und
darum ging es mir: nicht um eine geschichtliche Untersuchung, son-
dern um die Frage: »Welche Weltlehre und Philosophie entwirft
die Edda?« Dabei scheint mir, dass es nicht so wesentlich ist, die Tra-
ditionsstammbäume voneinander zu lösen, was ohnehin unmöglich
ist, sondern zu erkennen, wie verschiedene Überlieferungen zu glei-
chen Götterfiguren und zu gleichen kosmologischen Aussagen gelang-
ten.
Am meisten verwirrte mich bei meiner Deutung die Stellung der
Asen. Die Asen bilden keinen einheitlichen Götterhimmel. Sie ent-
stammen ganz deutlich verschiedenen Traditionslinien und weisen gar
mancherlei christliche Einflüsse auf. Odin als Allvater ist vermutlich

383
sogar eine christliche Uberzeichnung. Die drei Gebrüder Odin, Wili
und We sind gestrickt nach der christlichen Dreifaltigkeit. Doch: Ganz
unabhängig davon, welche Völker und Traditionen zur Kosmologie
der Edda beigetragen haben, verwiesen wird auf ein Totenreich, das
der stofflichen Welt benachbart ist. In dieser Nachbar- und Paralleldi-
mension spielen sich die in der Edda geschilderten Ereignisse ab. Die
Dimension der Asen wird jedoch kaum erwähnt; wenn Asen auftreten,
dann meistens im Totenreich. Daraus ließe sich der Schluss ziehen,
dass die Asen selbst eigentlich in Hel leben, kein höheres Gebiet be-
anspruchen, selbst Wesen Hels sind. Andererseits werden die Asen in
ihren Eigenschaften ganz anders als die Riesen geschildert. Dann wie-
der verhalten sich Asen genau wie Riesen, wenn sie nach Riesenland
reisen. Bei vielen so genannten Göttern meint man nichts anderes als
Riesen vor sich zu haben, so zum Beispiel bei Thor. Es bleibt in mir
also das ungute Gefühl zurück, Asen und Riesen nicht eindeutig von-
einander geschieden zu haben; zudem steht nach wie vor die Frage im
Raum, wer denn nun tatsächlich Götter und wer zugewanderte Götter,
das heißt ehemalige Riesen sind, so wie es bei den Wanen der Fall ist.
Oft erscheinen mir die Asen wie Riesen, aber aus einer anderen Tradi-
tion stammend. Es ist auch nicht klar, wer zu den angeblich zwölf Göt-
tern gehört; zudem spielen viele Gottheiten eine so nebensächliche
Rolle, bleiben im Grunde unbekannt, dass sie gar nicht einzuordnen
sind. Daher ist eine einheitliche Deutung unmöglich.
Auch wo Asgard liegt, blieb im Wesentlichen im Dunkeln. Asgard
irgendwo auf der Erde anzusiedeln, als Mittelpunkt derselben, ob nun
im Innern der Erde oder an einem Punkt auf dem Planeten, so wie es
gelegentlich getan wird, ist allerdings ganz abzulehnen. Andererseits -
und damit komme ich zum schwerwiegendsten Einwand gegen meine
Darstellung der Asen als Wesen, die in einer rein unstofflichen, von
Hei abgetrennten Zone leben - wird über ihre Dimension kaum etwas
Nennenswertes erwähnt. 20 Sehr blass nur wird von Asgard mit seinen
scheinbaren Unterbereichen wie Andlang, Widblain und Gimle ge-
sprochen. Die erwähnten Wohnsitze der Asen verweisen, wie ich
zeigte, eher auf ihre Emanationen oder Wohnsitze im Plasma, nicht in
Asgard. Man könnte nun versucht sein zu sagen, Asen und Riesen

20
Die Rig Veda kennt die Asuras, von der Wurzel as abgeleitet, »sitzen, sein, Kraft ha-
ben«, woraus später a-sura, »unheilig, dämonisch«, wurde. In den Veden galten die Asu-
ras erst als positiv, später als negativ. Auch die Assyrer beteten Asura an. Nach Ashur,
ihrem obersten Gott, wurde ihre Hauptstadt benannt, und sie als Volk bezeichnete man
als Assyrer. Die Ägypter huldigten dem Heiligen als Asar, ein anderer Name für Osiris.

384
wohnten gemeinsam im Plasma, aber in unterschiedlichen Gebieten.
Man könnte die Asen ganz und gar bis zur letzten Gottheit als Riesen-
prinzipien beschreiben. Damit fiele meine entscheidende Annahme,
Asen seien göttliche Prinzipien und Wesen, Riesen Plasmaprinzipien
und Plasmawesen. Was uns allerdings bleibt, ist die in der Mitte der ed-
dischen Kosmologie stehende Lehre der drei Welten und ihre stufen-
weise auseinander hervorgehende Geburt sowie der Rückzug der Wel-
ten ineinander beim Ragnarök und damit die Kernerkenntnis, dass es
sich um eine Kosmologie nichtstofflicher Dimensionen handelt, näm-
lich um seelisch-energetische und rein geistige Gesetze.
Die Erforscher der Edda gingen bisher nicht davon aus, für ihr ei-
genes Weltbild etwas zu lernen, Altertumsforschung aus Selbstzweck
war der Wahlspruch. Heute sieht das Bild anders aus: Unsere Er-
kenntnisse aus der Nahtodesforschung, wo Menschen, die kurzfristig
tot waren, zurückgekehrt sind und uns ihre Erfahrungen berichten, ha-
ben die germanische Auffassung zweier zusätzlicher Welten - gleich-
laufend zum Materiekosmos - bestätigt. Es scheint Hel und einen
übergeordneten Geistgürtel zu geben. Allerdings sind aus der Nahto-
desforschung keine Berührungen mit den so genannten Riesen, den
Erhabenen, bekannt, und in der Edda verhalten sich die Riesen ganz an-
ders als die Lichtgestalten - meistens bereits verstorbene Verwandte -,
die sich uns bei der Todeserfahrung nähern. Da uns die vorliegenden
Reste der germanischen Weltenlehre vorwiegend den Gegensatz zwi-
schen Asen und Riesen vorführen und nicht auf die menschlichen To-
tenseelen eingehen, erhalten wir ein recht einseitiges Bild von Hel.
Dennoch war es vor allem meine Forschung zur Nahtodeserfahrung,
die mich die Edda verstehen ließ und durch die es mir gelang, die Di-
mensionen Asgard und Hel genauer voneinander abzugrenzen und in
ihren Eigenschaften zu beschreiben. Und ich meine, dass der eddische
Entwurf zweier benachbarter Dimensionen kein Abbild von Natur-
kräften im Metaphysischen oder Ideellen ist, sondern Beschreibung
wirklich bestehender feinstofflicher und ganz unstofflicher, geistiger
Daseinsebenen, die uns im Zuge des heutigen Materialismus und
Kommerzialismus und durch das Christentum verloren gegangen sind.
Ich persönlich betrachte die Edda als eine ernst zu nehmende Philoso-
phie und Kosmologie, als eine Stütze für unser heutiges Leben, das sich
mit den unsichtbar neben uns bestehenden anderen Welten, bewohnt
in unserem Sinne ebensosehr wie im energetischen und geistigen
Sinne, zunehmend befreunden muss. Vielleicht ist die uralte Weltlehre
der Nordvölker unsere Zukunft, aufgeschrieben in der Vergangenheit.

385
Die Edda als Kosmologie

Gleich zu Beginn meiner Eddastudien zeichnete sich ab, die Edda


spielt nicht in unserer planetaren Welt, sondern fast ausschliesslich in
einer Seinszone, Hel, die sich durch transmaterielle, raumzeitlose, su-
perflüssige Zustände auszeichnet. Diese Zone ist eine reale feinstoffli-
che Dimension und gleichzeitig Seelenhort oder Totenreich. Die Ein-
heit von Totenreich und quasiphysikalischem Zustand macht es dem
modernen Menschen schwer, beides zu vereinbaren, er lebt zu sehr den
Dualismus von Seele und Materie. Die alten Völker dagegen spürten
eine Einheit von Seele und feinstofflicher Welt. Noch mehr erschwert
wird es dem Modernen, hört er, dass andersdimensionale Wesen, Göt-
ter, Riesen, Zwerge, in dieser »subatomaren« Dimension leben. Am
schwersten jedoch fällt wohl den meisten anzuerkennen, dass es eine
solche Welt mit den besagten transmateriellen Qualitäten wie Raum-
zeitlosigkeit gibt. Völlig verwirrt steht der moderne Mensch trotz
Schulung in Quantenphysik, Relativitätstheorie, Stringtheorie und
moderner Zeitforschung, trotz des Wissens um die Größe des Univer-
sums, schwarze Löcher und weiße Zwerge, trotz Plasmaforschung und
unserer Kenntnis von subatomaren Teilchen, die unseren Glauben an
eine feste Materie längst völlig erschüttert haben, geistig noch in Kin-
derschuhen, und beschwört nach wie vor die naive Welt eines festen
Raums, einer festgelegten Zeit herauf. Ein dergleichen kindliches
Weltbild kannten die Germanen nicht. Sie waren in ihrem multidi-
mensionalen Weltglauben weit über solche moderne Engstirnigkeit
hinausgewachsen, wussten sich als Kinder von Anderswesen aus An-
derswelten. Sie wussten, dass Raum und Zeit nur ihre Materiekörper
in Schranken wiesen, sie aber wahrhaft Kinder Hels sind; sie wussten
um ihre wechselhafte Geschichte bei der Menschenschöpfung, sie
kannten die Streitigkeiten verschiedener transirdischer Rassen, und
auch die Subjektivität und der Egoismus der nichtmenschlichen We-
sen diente ihnen zu mancherlei belustigenden Anekdoten. Sie lebten
viel mehr in den transmateriellen Gesetzen, reisten - ihre Geschichten
erzählend - viel mehr hinter den subatomaren Vorhang unserer Welt,
als es unsere Atomphysiker heute tun. Sie lebten die Kosmologie im
Alltag aus. Ihre Zeremonien waren Erinnerungen an kosmisches Ge-
schehen, an die Geburt der Materie aus dem Plasma und die damit ein-
hergehenden Geburten von Individuen, Göttern und Riesen. Sie er-
kannten darin eine Evolutionspyramide und machten sich den Evolu-
tionsgedanken - wenn auch einen ganz anderen als unseren - zum

386
obersten Weltprinzip. Eine Evolution, die durch andere Wesen initi-
iert und fortgeführt wurde, nicht eine natürliche Evolution, von der
wir heute träumen, und in dieser Kette sahen sie sich als unterste We-
sen; daher fühlten sie sich ihren Schöpfern zu Dank verpflichtet und
opferten sich selbst oder einen Ersatz.
An vorderster Front der Wissenschaft geht man von dem Satz aus:
»Wir sind nicht allein!« Das Universum soll ein belebtes sein mit un-
endlich vielen anderen Spezies. Aber man vermutet diese weit weg.
Und warum sollen die Menschen zeitlebens allein geblieben sein? An-
ders die Germanen: In den Überlieferungen führen sie ihre Herkunft
zurück auf andere Wesen, nicht Außerirdische, was heutzutage so sehr
Mode ist, sondern auf transdimensionale Wesen mit unglaublichen
psychisch-energetischen Technologien. Und noch mehr: Den Her-
kunftsort dieser höheren Wesen sahen sie in einer Dimension, in die
der Mensch eingeht beim Tod, dem Totenreich. Das ist das Absurdum.
Etwas soll den Tod überleben, der Kern unseres Ich, unsere wahre
Selbstidentität, Seele. Die Seele existiert als Ichpunkt in einem raum-
und zeitlosen Zustand, in dem allein das wirklich wird, was das Ich-Be-
wusstsein fühlt und denkt und will. Es entstehen damit subjektiv ent-
worfene Fantasiewelten, so viele wie es Wesen gibt. Das Totenreich
kennt also all die Dinge, die wir in der materiellen Existenz kennen,
aber nur als halluzinierte subjektive Wrklichkeit. Dennoch ist diese
Dimension real, insofern es sie gibt als ein Medium - Äther, Plasma,
Feinstoff, Raumenergie genannt -, welches seine Veränderung durch
Gedanken und Gefühle erlaubt. Dieser Urstoff ist so fein, dass er auf
Gefühle und Vorstellungen reagiert und damit können in ihm alle
Luftschlösser erbaut, alle Wünsche erfüllt, aber auch alle Ängste ver-
wirklicht werden. Daher sieht das Totenreich, unsere Nachbardimen-
sion in den Beschreibungen der Völker aus wie eine irdische Land-
schaft. Das ist keine primitive Logik, sondern fortgeschrittene Logik
auf der Grundlage des höchsten Wissens, das unsere Spezies entwickelt
hat: die Kenntnis der Existenz paralleler feinstofflicher Welten neben
unserem grobstofflichen Universum.
Alle Stammeskulturen wissen über eine Nachbardimension Be-
scheid, es ist das Zentrum ihres Weltverständnisses. Auch nach der
Auflösung der Stammesverbände und dem Verlust des kosmologischen
Wissens entdeckten einzelne Forscher immer wieder die Plasmawelt
neu. Aber es scheint ein Tabu über diesem W s s e n zu liegen, denn wer
sich damit beschäftigt, dem droht der Untergang: er wird, verhöhnt,
verlacht, missachtet. Die besten Köpfe sind auf das Plasma gestoßen,

387
aber keiner hat sich durchgesetzt. Warum? In den Mythen der Völker
finden wir die Antwort. Ein Tabu schwebt über der Nachbarwelt: Die
Götter möchten nicht gestört werden!

Götter als Archetypen

Ein großes Hindernis beschwerte den Gang meiner Untersuchung:


Sind Götter Archetypen oder sind Archetypen Götter, oder gibt es
Götter einerseits, Archetypen andererseits. Die Edda bringt beides
durcheinander gewürfelt hervor. Götter treten auf als Archetypen,
etwa Freyja als Magna Mater, Odin als Allgott, Menglöd als Liebes-
göttin. Archetypen sind grosse Daseinsprinzipien, die sich in tausend
Gestaltungen unseres Lebens durchsetzen. Die Edda ließe sich pro-
blemlos als eine Aneinanderreihung von Archetypen lesen, was in der
Tat die meisten Deuter bevorzugen würden; das wäre die eine Lesart.
Die zweite Lesart: Die Edda lässt sich wie alle Schöpfungsge-
schichten der Stämme ebenso problemlos lesen als realistische Geburt
der Menschen durch nicht-irdische Spezies, sofern man es über sich
bringt, noch andere Individuen im Kosmos oder der Nachbarwelt an-
zunehmen, eine Theorie, die sich derzeit sehr verbreitet und immer
mehr durchsetzen wird. Ich schwankte also zwischen zwei Deutungs-
ansätzen. Aber ich wollte gar nicht deuten, ich wollte die Edda vorle-
sen, wie sie ist. Der Verstand arbeitet jedoch ausschließlich mit Fanta-
sie, es gibt keine Objektivität. Das war mein Leid beim Schreiben. Ich
litt, weil ich mich nicht entscheiden wollte, ich wollte nur übersetzen,
was die Zeilen sagten. Aber es ließ sich so oder so übersetzen. So ei-
nigte ich mich schließlich mit mir und sagte: Alle drei Ansätze sind
möglich und stellen drei Sichtweisen auf die Kosmologie dar.
1. Wesen entwickelten sich mit der Geburt des Plasmas und schufen
weitere Wesen, die ebenso weitere erzeugten (und wir sind heute da-
bei, ebenfalls weitere Spezies zu erzeugen). Leben heißt offenbar Le-
bensschöpfung. Wesen schaffen Wesen, das scheint ihr höchstes Ver-
gnügen, ob als Frau oder im Labor.
2. Diese Wesen, Riesen und Zwerge, leben in einer vormateriellen Di-
mension, die von den Menschen als ihr Geburtsort ebenso wie als ihr
Todesort verstanden wird. Wir gehen dorthin, woher wir gekommen
sind - Materie als Übergangszustand, als Ferienausflug ins Feste.

388
Moderne Todesforschung

Meine Hauptforschung bestand immer in der Todesforschung. Ich


habe Hunderte von Nahtodeserfahrungen gesammelt und es gibt kein
Argument mehr gegen ein Überleben des Todes. Tausende sind
zurückgekehrt oder reanimiert worden, daher kommt das Wissen der
Völker über die Todes- und Nachbardimension. Mit der Befragung
von Nahtodesopfern hat die moderne Wssenschaft wieder Anschluss
an das alte Wissen gefanden. Ich habe nicht umsonst die Edda als »To-
tenbuch« beschrieben, denn die Geschichten spielen ausschließlich in
der Todesdimension und führen uns die Gesetze dieses Zustandes vor.
Die Edda ist ein Physikbuch, ein Lehrstück über seelische Quanten-
mechanik, aber praktisch vorgeführt, wie es ist, quantenmechanisch zu
existieren. Physiker in ihren Labors sind noch nicht so weit vorge-
drungen, eine quantenmechanische Existenz als Mensch steht noch
lange nicht auf ihren Arbeitsplänen. Die Edda steht am Anfang der Ge-
schichte und sie wird auch am Ende unserer Forschungsgeschichte ste-
hen. Es wird eine Zeit kommen, wo neben dem Physikbuch die Edda
liegen wird. In diesem Sinne habe ich die Edda sprechen lassen, die
letzten Reminiszenzen unserer Vorfahren, die letzten Fragmente un-
seres einstigen W s s e n s über Anfang und Ende, Leben und Tod.
In »Liebe und Tod jenseits der Zeit« (unveröffentlicht) lege ich
ausführlich dar, was Menschen, die tot waren und wiederbelebt wur-
den, erfahren haben. Hier eine kurze Übersicht über die Erfahrungs-
sequenz, die bei allen Menschen grundsätzlich die gleiche ist. Zuerst
hört man ein Geräusch, einen Knall oder ein Knacken, sofort sehen wir
uns von außerhalb, von oben; wir sind jetzt außerkörperlich, schweben
über dem Operationstisch oder fliegen. Materie ist transparent, wir se-
hen durch Wände, gehen durch geschlossene Türen, sehen die Stadt
von oben, sind im Nu dort, wo wir uns hindenken; Entfernung spielt
keine Rolle, ebensowenig wie Zeit. Wr hören den Arzt sprechen, und
er reagiert nicht auf unsere Berührung. Bald verblassen irdische Struk-
turen. Nebel, Dampf, Rauch, bläuliches Licht (die Atmosphäre des
Plasmas) zieht herauf, ein Gewässer, Fluss oder Bach erscheint (der To-
tenfluss!); wir fliegen über den Fluss oder gehen über eine Brücke.
Dauert die Nahtodeserfahrung etwas länger (Maximum 3 Minuten) ist
die Atmosphäre entweder neblig, bläulich oder rötlich-feurig. Das
Feuer ist aber eher wie Wasser und bewegt sich wie Wellen, es ist kühl,
seltener heiss. Wir treffen tote Verwandte, alle leben noch, auch
Hunde und Katzen. Der Kontakt besitzt die Qualität überströmender

389
Liebe und Nähe und Wahrheit. Ist die Todeserfahrung nur kurz, über-
schreiten wir den Fluss, der das Reich der Toten in komprimierter
Form darstellt, denn darin schwimmen und strampeln oft Verstorbene
und schreien um Hilfe. Nach dem Fluss spüren wir einen Sog, der N e -
bel wird dichter und bei grosser Geschwindigkeit schwarz und formt
sich zu einem Tunnel. Am Ende des Tunnels sehen wir ein Licht. Be-
vor wir in das Licht eintreten, sehen wir unsere gesamten Lebensdaten
an uns vorbeirauschen, dadurch verstehen wir erstmals unser gesamtes
Leben und geben uns mit dem Gehabten zufrieden. Das ist die große
und einzige Psychotherapie! Dann landen wir auf einer wunderschö-
nen Blumenwiese und ruhen uns dort aus. Gebadet im Licht dieser
Welt begegnen wir Lichtwesen; ihre Qualität ist Licht, Liebe, totales
Wissen, wir haben daran Teil, sind verwandelt. Werden wir herumge-
führt, treffen wir auf Lichthäuser, Lichtstädte, Lichtformen. Der Kon-
takt mit den Lichtwesen ist telepathisch. Plötzlich zieht uns etwas
zurück, ein Geräusch, wir rasten wieder in den Körper ein, der uns nun
zu eng erscheint.
Die Nachwirkung: Schwierigkeiten sich in der Raumzeit und Ma-
terie zu orientieren, Verlust der stolzen Ichidentität, kosmische Ge-
fühle, Hellsehen, Telepathie, übergroßes Mitgefühl, Einheitsempfin-
dungen, die Welt wird als durchsichtig erfahren. Wechsel des Berufs,
die Scheidungsrate ist hoch, man macht das, was man immer machen
wollte, aber auch Lebenskrise, Umwertung aller Werte, Sinnverlust
des normalen Lebens, Menschenscheu, Uberempfindlichkeit, Einsam-
keit. Glauben an ein Überleben nach dem Tod, Sehnsucht nach dem
Todesreich, W s s e n , dass die Seele überlebt.
Die Nahtodeserfahrung zeigt, dass es zwei Reiche nach dem Tod
gibt, das Plasma, Hel, Hölle, dann nach dem Tunnel das Lichtreich,
Asgard, was von der Edda bestätigt wird. Sollen wir die Lichtwesen als
Asen bezeichnen? Im Plasma jedoch begegnen die Menschen keinen
Elfen oder Riesen, nur Verstorbenen. Die Germanen wussten etwas,
die Todesforschung könnte von ihnen lernen und ihre Untersuchun-
gen vertiefen. Wr befinden uns erst am Anfang der Todesforschung,
auch wenn es seit Jahren den Eindruck macht, wir seien am Ende. To-
desforschung beginnt eigentlich tatsächlich erst mit dem Orpheus-
Projekt: bewusst und gezielt in den Tod zu reisen wie Orpheus oder
Swipdag - und zurückzukehren, das aber ist das Hindernis und das
zukünftige Abenteuer.

390
Identität von Plasma, S e e l e und Energie

Die Seinsqualität, die Stofflichkeit des Plasmas ist so stofflich wie die
Seele. Urstoff ist Seelenstoff. Eine für das materialistisch denkende
Gehirn unüberwindliche Barriere. Man kann dabei in verschiedene
Fehler verfallen. Man kann von einer zarten Seelenlandschaft ausge-
hen, in der alles wahr wird, was wir wünschen. Aber man muss dabei
bedenken - und das fällt sicher schwer - dass auf dieser Ebene zum Bei-
spiel auch Waffen hergestellt werden können, worüber die Edda hin-
reichend berichtet.
Diese Waffen bestehen aus Feinstoff. Ein Lichtstrahl kann eine
Waffe sein, ein Gedanken ebenso. Da es aber Übergänge, eine Skala
der Verdichtung vom Plasma zur Materie gibt, ist auch an plasmatische
Waffen mit einer Auswirkung im Materiellen zu denken. Psycholo-
gisch gedacht: Ich kann mit meiner Seele im Materiellen auch Auswir-
kungen hervorrufen (siehe Psychosomatik!). In dieser Weise lassen sich
also auch Plasmawaffen denken die plasmatische Wesen zur Bedroh-
nung materieller Wesen einsetzen, psychotronische, psychomaterielle
Waffensysteme, die auf Seele und Körper wirken. Doch von einer Be-
drohung der Menschen durch Riesen berichtet die Edda nicht aus-
drücklich, lediglich dass Riesen die ersten Herrscher über die Men-
schen waren wie ja auch ihre Schöpfer. Die modernste Technologie
spricht Bände zu plasmatischen Waffen. Wir sind nicht mehr so weit
entfernt von den Waffen der Riesen. Was ich andeuten will: Das
Plasma ist nicht weit weg von uns, wir sind Plasma, wir arbeiten see-
lisch mit Plasma, Materie basiert auf Plasma, Physik erforscht einzig
und allein die Struktur des Plasmas, Militärs interessiert das Plasma.
Das Plasma ist unsere Mutter. Die Welt ist Plasma, Materie eine
Fata Morgana des Plasmas. Die alten Völker lebten in dieser Atmo-
sphäre. Die moderne Zeit ist nur eine Ubergangsphase hin zum Plas-
mawissen, eine Eiszeit des Wissens.

391
Literatur

Branston, Brian: Gods of the North, Thames and Hudson, London


1980.

Davidson, H. R. Ellis: Gods and Myth of Northern Europe, Penguin


Books, Harmondsworth 1964.

Genzmer, Felix: Die Edda. Götterdichtung, Spruchweisheit und Hel-


dengesänge der Germanen, Eugen Diederichs Verlag, München 1992.

Germanische Götterlehre. Nach den Quellen der Lieder- und der


Prosa-Edda, hrsg. von Ulf Diederichs, Eugen Diederichs Verlag, Köln
1987.

Golther, Wolfgang: Handbuch der Germanischen Mythologie, Phai-


don Verlag, Essen o.J.

Herrmann, Paul: Deutsche Mythologie, Aufbau Taschenbuch Verlag,


Berlin 1991.

Herrmann, Paul: Nordische Mythologie, Aufbau Taschenbuch Ver-


lag, Berlin 1993.

Simek, Rudolf: Lexikon der Germanischen Mythologie, Alfred Krö-


ner Verlag, Stuttgart 1995.

Stange, Manfred (Hrsg.): Die Edda. Götterlieder, Heldenlieder und


Spruchweisheiten der Germanen, vollständige Text-Ausgabe in der
Übersetzung von Karl Simrock, Bechtermünz Verlag, Augsburg 1995.

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Holger Kalweit
geboren 1947 in Erfurt, lebt h e u t e
im Schwarzwald, Völkerkundler u n d
Psychotherapeut. Er ist Begründer
von zwei n e u e n Therapierichtungen,
der Dunkeltherapie u n d der Natur-
therapie, u n d hat sich durch verschie-
dene Veröffentlichungen internatio-
nal einen Namen gemacht.
Seine Forscherkarriere begann mit
der Untersuchung des Schamanen-
t u m s . Schamanen in Hawaii, Mexiko
u n d Tibet brachten ihn in Berührung
mit dem Tod, u n d so vertiefte er sich
in die Todesvorstellungen der Völker
sowie die Todeserfahrungen moder-
ner Menschen, die wiederbelebt
worden waren. Ausgehend von der
Erkenntnis, dass die alten Völker eine
g e n a u e Vorstellung unserer Nachbar-
dimension besaßen, machte er sich
auf, das alte Wissen der Germanen,
Kelten, Ägypter, Griechen sowie Tibe-
ter u n d Inder über das Leben nach
dem Tod in einem neuen Licht darzu-
stellen.
Bücher aus dem AT Verlag

Wolf-Dieter Storl
Pflanzen der Kelten
Heilkunde, Pflanzenzauber, Baum-
kalender

Clemens Zerling
Götter-, Götzen- und Gralstempel
Kultplätze in Deutschland
Ein Führer zu magisch-mystischen
Orten

Paul Devereux
Das Gedächtnis der Erde
Die Erdmysterien u n d die
Entschlüsselung der Rätsel heiliger
Kultstätten der Menschheit

Blanche Merz
Orte der Kraft
Stätten höchster kosmo-terrestrischer
Energie

Werner Anderhub/Hans PeteT Roth


Das Geheimnis der Kornkreise

Adrian Fisher/Howard Loxton


Geheimnis des Labyrinths
Ein interaktiver Führer zu den
faszinierendsten Labyrinthen der Welt

Claudia Müller-Ebeling/Christian Ratsch/


Wolf-Dieter Storl
Hexenmedizin
Die Wiederentdeckung einer verbotenen
Heilkunst - Schamanische Traditionen
in Europa
Franz-Theo Gottwald/Christian Rätsch (Hg.)
Rituale des Heilens
Ethnomedizin, Naturerkenntnis
u n d Heilkraft

AT Verlag
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