Sie sind auf Seite 1von 354

Das Buch

Es ist Fastnacht, als Vianne Rocher mit ihrer kleinen Tochter


Anouk in das französische Städtchen Lansquenet-sous-Tannes
kommt und direkt am Kirchplatz einen Laden für Schokoladen
und Pralinés eröffnet. Pater Reynaud, dem ortsansässigen
Pfarrer, ist diese Art der »himmlischen Verführung« jedoch ein
Dorn im Auge: Schokolade, und dazu noch in der Fastenzeit! Er
erkärt Vianne Rocher den Krieg und untersagt den Mitgliedern
seiner Gemeinde jeden Umgang mit ihr.
Doch Vianne hat ein besonderes Gespür für ihre Kunden: Für
jeden weiß sie das Praliné oder die Schokoladensorte, die am
besten seiner Persönlichkeit entspricht. Und so entwickelt sich
ihr Laden schon bald zum geheimen Mittelpunkt des Ortes, zu
dem jeder seine Sorgen, Hoffnungen und Träume trägt.
Viannes Pläne für ein großes Schokoladenfest an Ostern
allerdings drohen das Dorf zu spalten. Ostern oder
Schokolade? Die Aussicht auf den verführerischen Geschmack
von Viannes selbstgemachten Schokoladenphantasien stellt die
strengen kirchlichen Regeln auf eine harte Probe. In diesem
Konflikt setzt Pater Reynaud alles auf eine Karte …
Die Autorin
Joanne Harris, geboren 1964, studierte Französisch und
Deutsch am St. Catherine’s College in Cambridge. Sie lebt mit
ihrer Familie in Barnsley, Yorkshire, wo sie an einem
Gymnasium Französisch unterrichtet. Joanne Harris kennt
Frankreichs Landschaften, über die sie schreibt, aus ihrer
Kindheit und von vielen Verwandtenbesuchen und Reisen.
Chocolat ist ihr dritter Roman.
Von Joanne Harris sind in unserem Hause außerdem
erschienen: Himmlische Wunder
Die blaue Muschel

Page 2
Fünf Viertel einer Orange Wie wilder Wein
Das Lächeln des Harlekins Samt und Bittermandel
Schlaf, schöne Schwester Das verbotene Haus

Page 3
Joanne Harris
Chocolat
Roman
Aus dem Englischen
von Charlotte Breuer
Ullstein

Page 4
Besuchen Sie uns im Internet:

www.ullstein-taschenbuch.de

Alle Rechte v orbehalten. Unbefugte Nutzungen,

w ie etw a Verv ielfältigung, Verbreitung,

Speicherung oder Übertragung

können ziv il-oder strafrechtlich v erfolgt w erden.

Ungekürzte Ausgabe im Ullstein Taschenbuch

Dieser Roman erschien bereits 2000 im

Ullstein Taschenbuchverlag unter dem Titel Schokolade

14. Auflage 2008

© für die deutsche Ausgabe

Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2005

© 2003 für die deutsche Ausgabe

Page 5
by Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG

© 2001 für die deutsche Ausgabe by

Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München


© 1999 für die deutsche Ausgabe by

Paul List Verlag im Verlagshaus Goethestraße München


© 1997 by Joanne Harris

Titel der englischen Originalausgabe: Chocolat (Verlag Doubleday, London)


Umschlaggestaltung: HildenDesign, München

(nach einer Vorlage von Michael Löbel/Bezaubernde Gini, München)


Titelabbildung: Jacket Art © 2001 Miramax Films.

Mit freundlicher Genehmigung von Hyperion/Talk Miramax Books


eBook-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in Germany

eBook ISBN 978-3-548-92114-3

Die Titelabbildung entstammt der Romanverfilmung Chocolat.

Nähere Informationen unter: www.senator.de

Page 6
In Erinnerung an meine Urgroßmutter
MARIE ANDRÉ SORIN (1892-1962)

Page 7
11. Februar
Fastnacht
Wir kamen zu Karneval an, mit dem warmen Februarwind, der
den Duft von am Straßenrand gebratenen Pfannkuchen,
Würstchen und süßen Waffeln mit sich trug, während Konfetti
von Mantelkragen und Ärmelaufschlägen rieselte und im
Rinnstein herumgewirbelt wurde wie ein lächerliches
Gegenmittel, mit dem der Winter vertrieben werden sollte. Es
herrscht eine fieberhafte Aufregung unter den Menschen, die
die enge Hauptstraße säumen und die Hälse recken, um einen
Blick auf den mit bunten Girlanden und Papierrosetten
geschmückten Wagen zu erhaschen. Einen gelben Luftballon in
der einen und eine Spielzeugtrompete in der anderen Hand,
steht Anouk neben einem traurig dreinblickenden braunen Hund
und schaut mit großen Augen zu. Anouk und ich haben schon
viele Karnevalsumzüge gesehen; einen Zug von
zweihundertfünfzig geschmückten Wagen letztes Jahr beim
Mardi Gras in Paris, einhundertachtzig in New York, zwei
Dutzend Blaskapellen in Wien, Clowns auf Stelzen, große
Pappmaché-Figuren mit wackelnden Köpfen, Majoretten, die
ihre glitzernden Stäbe durch die Luft wirbeln ließen. Aber im
Alter von sechs Jahren erscheint einem die Welt noch voller
Wunder. Ein hölzerner Wagen, hastig geschmückt mit Goldfolie
und buntem Kreppapier, Szenen aus einem Märchen … Ein
Drachenkopf auf einem Schild, Rapunzel mit einer wollenen
Perücke, eine Meerjungfrau mit einem Schwanz aus Cellophan,
ein Lebkuchenhaus aus mit Goldfolie überzogener Pappe, über
und über mit Zuckerguß bedeckt, eine Hexe in der Tür, die ihre
langen, grünen Fingernägel nach ein paar stummen Kindern
ausstreckt … Mit sechs nimmt man noch Feinheiten wahr, die

Page 8
einem vielleicht schon ein Jahr später nicht mehr zugänglich
sind. Hinter dem Pappmaché, dem Zuckerguß, dem Plastik
sieht sie immer noch die echte Hexe, den wahren Zauber. Sie
schaut zu mir auf mit leuchtenden Augen, die so blaugrün
schimmern wie die Erde aus großer Höhe.
»Bleiben wir hier? Bleiben wir hier?« Ich muß sie daran
erinnern, Französisch zu sprechen. »Bleiben wir denn? Ja?«
Sie klammert sich an meinen Ärmel. Ihr Haar ist vom Wind
zerzauste Zuckerwatte.
Ich überlege. Dieses Dorf ist so gut wie jedes andere.
Lansquenet-sous-Tannes mit seinen höchstens zweihundert
Seelen ist kaum mehr als ein Klecks an der Autobahn zwischen
Toulouse und Bordeaux. Einmal geblinzelt, und schon ist man
vorbei. Eine Hauptstraße mit graubraunen, dicht
zusammengedrängt stehenden Fachwerkhäusern, ein paar
Seitenstraßen, die nebeneinander verlaufen wie die Zinken
einer verbogenen Gabel. Eine Kirche, strahlend weiß getüncht,
am Dorfplatz einige Läden. Ringsum vereinzelte Bauernhöfe.
Obstwiesen, Weinberge, Felder, alle nach den strengen Regeln
der Landwirtschaft säuberlich voneinander abgegrenzt: hier
Äpfel, dort Kiwis, Melonen, Endivien unter schwarzen
Plastikplanen, kahle Weinstöcke, die in der bleichen
Februarsonne wie tot wirken, aber in Wirklichkeit nur darauf
warten, im März zu neuem Leben zu erwachen … Jenseits der
Felder der Tannes, ein kleiner Nebenfluß der Garonne, der sich
durch das sumpfige Weideland schlängelt. Und die Menschen?
Wie sie da am Straßenrand stehen, scheinen sie sich nicht von
all den anderen Menschen zu unterscheiden, denen wir bisher
begegnet sind; vielleicht ein wenig bleich im ungewohnten
Sonnenlicht, ein wenig verhärmt. Sie tragen Kopftücher und
Baskenmützen passend zur Farbe ihrer Haare, braun, schwarz
oder grau. Die Gesichter sind zerfurcht wie Äpfel vom Vorjahr,

Page 9
die tief in ihren Höhlen liegenden Augen erinnern an
Glasmurmeln, in alten Teig gedrückt. Ein paar Kinder, die
leuchtend bunte Luftschlangen fliegen lassen, wirken wie
Angehörige einer anderen Rasse. Eine dicke Frau mit einem
breiten, unglücklichen Gesicht zieht ihren karierten Mantel fest
um sich und ruft etwas in ihrem kaum verständlichen örtlichen
Dialekt. Auf dem von einem Traktor gezogenen, schwerfällig
vorbeirumpelnden Wagen steht ein vierschrötiger
Weihnachtsmann, der zwischen den Feen und Kobolden und
Fabeltieren seltsam fehl am Platze wirkt, und wirft mit kaum
verhohlener Aggressivität Süßigkeiten in die Menge. Mit einem
entschuldigenden Blick hebt ein kleiner älterer Mann mit einem
Filzhut anstelle der in der Region üblichen Baskenmütze auf
dem Kopf den traurigen braunen Hund auf, der zwischen Anouk
und mir hockt. Ich sehe, wie seine dünnen, eleganten Finger das
Fell des Hundes kraulen; der Hund beginnt zu winseln; im
Gesicht seines Herrchens spiegeln sich Liebe, Besorgnis,
Schuldgefühle. Niemand beachtet uns. Es ist, als wären wir
unsichtbar; an unserer Kleidung kann man uns als Fremde, als
Durchreisende erkennen. Die Leute sind höflich, ausnehmend
höflich; niemand starrt uns an. Die Frau mit den langen Haaren,
die sie unter ihre orangefarbene Jacke gesteckt hat, einen
langen, bunten Seidenschal um den Hals; das Kind in den
gelben Gummistiefeln und dem himmelblauen Regenmantel.
Durch ihre Farben fallen sie auf. Ihre Kleider sind exotisch, ihre
Gesichter – sind sie zu blaß oder zu dunkel? –, ihre Haare
verraten sie als Fremde, als auf undefinierbare Weise anders.
Die Menschen von Lansquenet beherrschen die Kunst der
verstohlenen Beobachtung. Ich spüre ihre Blicke wie Atem in
meinem Nacken, nicht feindselig, aber dennoch kalt. Für sie
sind wir eine Attraktion, ein Teil des Karnevals, befremdlich. Ich
spüre, wie ihre Blicke uns folgen, als ich an einen der Stände

Page 10
trete, um eine galette zu kaufen. Das Papier ist heiß und fettig,
die dunkelbraune Waffel außen knusprig und innen weich und
köstlich. Ich breche ein Stück ab und reiche es Anouk, wische
ihr die geschmolzene Butter vom Kinn. Der Waffelverkäufer ist
ein korpulenter Mann mit Halbglatze und dicken Brillengläsern,
sein Gesicht vom Dampf der Waffeleisen feucht und gerötet. Er
zwinkert Anouk freundlich zu. Mit dem anderen Auge registriert
er jede Einzelheit, wohl wissend, daß man ihn später nach uns
ausfragen wird.
»Machen Sie Urlaub, Madame?« Die Dorfetikette gestattet
ihm, das zu fragen; hinter der neutralen Maske des
Geschäftsmannes spüre ich seinen großen Wissensdurst.
Wissen ist Gold wert, hier im Dorf; Touristen fahren gewöhnlich
in die nahe gelegenen Orte Agen und Montauban und verirren
sich nur selten hierher.
»Ja.«
»Sie kommen aus Paris?« Es muß an unserer Kleidung
liegen. In diesem farbenfrohen Landstrich tragen die Menschen
düstere Farben. Farbe ist Luxus; Buntes ist nicht kleidsam. Die
bunten Blumen am Straßenrand sind Unkraut, lästig, unnütz.
»Nein, nein, nicht aus Paris.«
Der Wagen ist fast am Ende der Straße angekommen. Hinter
ihm marschiert eine kleine Kapelle – zwei Querpfeifer, zwei
Trompeter, ein Posaunist und ein Trommler, die einen
undefinierbaren Marsch spielen. Ein Dutzend Kinder folgen
ihnen und sammeln die liegengebliebenen Süßigkeiten auf.
Einige von ihnen sind verkleidet; ich entdecke ein Rotkäppchen
und ein Kind in einem zotteligen Kostüm, das vielleicht einen
Wolf darstellen soll, die sich übermütig um eine Handvoll
Luftschlangen streiten.
Eine in Schwarz gekleidete Gestalt bildet das Schlußlicht.
Zunächst halte ich ihn für einen Teil des Umzugs – den Pestarzt

Page 11
vielleicht –, doch als er näher kommt, erkenne ich die
altmodische Soutane des Landpriesters. Er ist etwa Mitte
Dreißig, wirkt allerdings von weitem durch seinen steifen Gang
älter. Er schaut mich an, und ich sehe, daß auch er ein Fremder
ist, ein Mann aus dem Norden mit hohen Wangenknochen und
blassen Augen. Seine schmale Pianistenhand liegt auf dem
silbernen Kreuz, das an einer Kette um seinen Hals hängt.
Vielleicht gibt sein Status als Fremder ihm das Recht, mich
anzustarren; doch ich sehe kein Wohlwollen in seinen kalten
Augen. Nur den verstohlen abschätzenden Blick eines
Menschen, der sich seines Territoriums nicht sicher ist. Ich
lächle ihm zu; er wendet sich erschrocken ab, winkt zwei Kinder
zu sich. Mit einer beredten Geste verweist er auf den Abfall, der
sich mittlerweile am Straßenrand gesammelt hat; widerwillig
beginnen die beiden Kinder, die Luftschlangen und
Bonbonpapiere einzusammeln und in einen in der Nähe
stehenden Mülleimer zu stopfen. Im Weggehen bemerke ich,
wie der Priester mich erneut anstarrt, mit einem Blick, den man
bei einem anderen Mann als Zeichen von Bewunderung hätte
auslegen können.
In Lansquenet-sous-Tannes gibt es keine Polizeistation, und
daher auch keine Kriminalität. Ich versuche, es Anouk
gleichzutun und die Wahrheit unter der Verkleidung zu erkennen,
doch vorerst bleibt alles verschwommen.
»Bleiben wir hier? Bleiben wir, Maman?« Sie zupft ungeduldig
an meinem Ärmel. »Mir gefällt es hier. Bleiben wir?«
Ich nehme sie auf den Arm und küsse sie auf die Stirn. Sie
riecht nach Rauch und gebackenen Pfannkuchen und warmer
Bettwäsche an einem Wintermorgen.
Warum nicht? Dieses Dorf ist so gut wie jedes andere.
»Ja, natürlich«, sage ich, meinen Mund in ihren Haaren.
»Natürlich bleiben wir.«

Page 12
Keine richtige Lüge. Diesmal könnte es tatsächlich wahr
werden.
Der Karnevalsumzug ist vorbei. Einmal im Jahr flackert im
Dorf eine flüchtige Heiterkeit auf, doch schon ist die Wärme
wieder verschwunden, schon hat die Menge sich aufgelöst. Die
Straßenhändler packen ihre Stände zusammen, die Kinder
ziehen ihre Kostüme aus und geben ihre Süßigkeiten ab. Es
wird ein leichtes Gefühl von Verlegenheit spürbar, von Scham
über dieses Übermaß an Lärm und Farbenpracht. Es
verflüchtigt sich wie Sommerregen, der auf der
aufgesprungenen Erde verdampft, in den Ritzen des
Kopfsteinpflasters versickert und kaum eine Spur hinterläßt.
Zwei Stunden später ist Lansquenet-sous-Tannes wieder
unsichtbar wie ein verwunschenes Dorf, das nur einmal im Jahr
aus dem Nebel auftaucht. Hätte es den Karnevalsumzug nicht
gegeben, hätten wir das Dorf nie entdeckt.
Wir haben Gas, aber bisher noch keinen Strom. An unserem
ersten Abend habe ich bei Kerzenlicht für Anouk Pfannkuchen
gebacken, und wir haben sie vor dem offenen Kamin von alten
Zeitschriften gegessen, die als Teller dienten, da unsere
Sachen erst am nächsten Tag kommen. Der Laden war früher
einmal eine Bäckerei gewesen, und über der schmalen
Eingangstür ist immer noch das Zunftwappen des Bäckers, eine
in das Holz des Türrahmens geschnitzte Weizengarbe zu sehen.
Der Boden ist dick mit Mehlstaub bedeckt, und als wir den
Laden betraten, mußten wir über Berge von Reklame-und
Wurfsendungen steigen. Die Miete kommt mir lächerlich niedrig
vor, im Vergleich zu dem, was wir an Mietpreisen in der
Großstadt gewöhnt sind; trotzdem ist mir das Mißtrauen im Blick
der Hausverwalterin nicht entgangen, als ich ihr die Geldscheine
vorzählte. Laut Mietvertrag heiße ich Vianne Rocher, und meine
Unterschrift ist so unleserlich, daß man jeden Namen daraus

Page 13
lesen könnte. Bei Kerzenlicht erkundeten wir unser neues
Zuhause; die alten Öfen, die unter all dem Ruß und Fett noch
erstaunlich gut in Schuß sind, die mit Kiefernholz getäfelten
Wände, die rußgeschwärzten Tonfliesen. Als wir die alte,
zusammengelegte Markise aus einem Hinterzimmer
hervorholten, wo Anouk sie entdeckt hatte, flitzten lauter Spinnen
aus den Falten des ausgebleichten Segeltuchs hervor. Unsere
Wohnung liegt im ersten Stock über dem Laden; zwei Zimmer,
ein Bad, ein lächerlich winziger Balkon, ein Terracottakübel mit
toten Geranien … Anouk verzieht das Gesicht.
»Es ist so düster, Maman.« Sie klingt eingeschüchtert,
verunsichert angesichts des verwahrlosten Hauses. »Und es
riecht so traurig.«
Sie hat recht. Es ist ein Geruch wie von Tageslicht, das
jahrelang eingesperrt war, bis es sauer und ranzig wurde, von
Mäusedreck und dem Geist vergessener und lieblos
weggeworfener Dinge. Es hallt wie in einer Höhle, und die
geringe Wärme, die unsere Körper ausstrahlen, läßt jeden
Schatten nur noch unheimlicher wirken. Farbe und Sonnenlicht
und Seifenwasser werden uns helfen, den Schmutz zu entfernen,
aber die traurige Atmosphäre ist etwas anderes, die
Freudlosigkeit eines Hauses, in dem seit Jahren niemand
gelacht hat … Anouks Gesicht wirkte blaß im Kerzenlicht, als
sie mich mit großen Augen anschaute und meine Hand ganz
fest hielt.
»Müssen wir hier schlafen?« fragte sie. »Pantoufle gefällt es
hier nicht. Er hat Angst.«
Ich lächelte und küßte ihre ernste, goldene Wange.
»Pantoufle wird uns helfen.«
Wir zündeten für jedes Zimmer Kerzen an, goldene, rote,
weiße und orangefarbene Kerzen. Gewöhnlich stelle ich
Räucherstäbchen selbst her, aber in Krisensituationen reichen

Page 14
auch gekaufte: Lavendel, Zedernholz und Zitronengras. Wir
nahmen jede eine Kerze in die Hand, Anouk blies auf ihrer
Spielzeugtrompete, während ich mit einem alten Löffel auf eine
Kasserolle schlug, und dann stampften wir zehn Minuten lang
durch das ganze Haus, durch jeden Raum, schrien und sangen
aus voller Kehle – Raus! Raus! Raus! –, bis die Wände
wackelten und die entsetzten Geister die Flucht ergriffen. Zurück
blieben ein schwacher Geruch nach Verbranntem und jede
Menge abgefallener Putz. Wenn man hinter die brüchigen,
geschwärzten Tapeten schaut, hinter die Traurigkeit der
zurückgelassenen Gegenstände, beginnt man, schwache
Umrisse zu erkennen, wie das Nachbild einer Wunderkerze –
hier eine in glänzendem Gold bemalte Wand, dort ein
Ohrensessel, ein bißchen abgewetzt, aber strahlend
orangefarben, die alte Markise, die mit einemmal bunt
aufleuchtet, wenn man die verschossenen Farben unter der
dicken Schmutzschicht entdeckt. Raus! Raus! Raus! Anouk und
Pantoufle stampften und sangen, und die blassen Bilder
schienen deutlicher zu werden – ein roter Hocker neben der
Theke, ein paar Glöckchen über der Eingangstür. Natürlich weiß
ich, daß es nur ein Spiel ist. Es liegt Arbeit vor uns, harte Arbeit,
bis all das Wirklichkeit wird. Doch einen Moment lang genügt es
zu wissen, daß das Haus uns willkommen heißt, so wie wir es
auch willkommen heißen. Steinsalz und Brot auf der
Türschwelle, um die Hausgötter zu besänftigen. Sandelholz auf
dem Kopfkissen, um unsere Träume zu versüßen.
Später erklärte Anouk, Pantoufle habe jetzt keine Angst mehr,
und dann war es gut.
Wir schliefen gemeinsam in unseren Kleidern auf der mit
Mehlstaub bedeckten Matratze, und als wir aufwachten, war es
Morgen.
12. Februar
Page 15
Aschermittwoch
Wir wurden tatsächlich von den Glocken geweckt. Mir war
nicht bewußt gewesen, wie nah bei der Kirche wir wohnten, bis
ich die Glocken hörte, ein tiefer, schwingender Ton, der sich im
Takt mit einem hellen Läuten – dong da-di-dadi dong –
abwechselte. Ich schaute auf meine Armbanduhr. Es war sechs
Uhr früh. Graugoldenes Licht fiel durch die Ritzen in den
windschiefen Fensterläden auf das Bett. Ich stand auf und sah
hinaus auf den Dorfplatz und das regennasse, glänzende
Kopfsteinpflaster. Der eckige, weiße Kirchturm leuchtete im
Licht der Morgensonne, während die Schaufenster der Läden
rings um den Platz noch dunkel waren. Es gab eine Bäckerei,
einen Blumenladen, ein Geschäft für Friedhofsbedarf:
Gedenktafeln, steinerne Engel, unvergängliche Rosen aus
Emaille … Zwischen den Häuserfassaden mit den diskret
verschlossenen Fensterläden ragt der Kirchturm wie ein
Leuchtturm in den Himmel, die römischen Ziffern der Turmuhr
leuchten um sechs Uhr zwanzig rotgolden, als wollten sie den
Teufel abschrecken, während die Jungfrau Maria von ihrer
schwindelerregend hoch gelegenen Nische aus mit einer leicht
überdrüssigen Miene auf den Platz herunterschaut. Auf der
Spitze des gedrungenen Turms zeigt eine Wetterfahne in
Gestalt eines Mannes in Mönchsrobe mit einer Sichel in der
Hand die Windrichtung an – West bis Westnordwest. Von
meinem Balkon mit den toten Geranien aus konnte ich die
ersten Kirchgänger sehen. Ich erkannte die Frau mit dem
karierten Mantel, die mir beim Karnevalsumzug aufgefallen war;
ich winkte ihr zu, doch sie eilte weiter, ohne meinen Gruß zu
erwidern, und zog ihren Mantel fest um sich. Der Mann mit dem
Filzhut und dem traurigen braunen Hund, der kurz danach den
Platz überquerte, schenkte mir ein zaghaftes Lächeln. Ich
wünschte ihm freundlich einen guten Morgen, doch ein solch

Page 16
ungezwungenes Verhalten verstieß offenbar gegen die
Dorfetikette, denn er reagierte nicht darauf, sondern ging hastig
in die Kirche und nahm den Hund gleich mit. Danach schaute
niemand mehr zu meinem Balkon herauf, obwohl ich über
sechzig Köpfe zählte – Kopftücher, Baskenmützen, zum Schutz
gegen den unsichtbaren Wind tief in die Stirn gezogene Hüte –,
doch ich spürte ihre Neugier, die sich unter der einstudierten
Gleichgültigkeit verbarg. Wir sind mit wichtigen Dingen
beschäftigt, sagten ihre eingezogenen Schultern und gesenkten
Köpfe. Wie verdrossene Schulkinder schlurften sie über das
Kopfsteinpflaster. Der Mann da hat heute mit dem Rauchen
aufgehört, dachte ich; dieser dort hat sich vorgenommen, nicht
mehr regelmäßig ins Café zu gehen, jene Frau wird auf ihre
Lieblingsspeisen verzichten. Natürlich geht mich das alles nichts
an. Aber in diesem Augenblick sagte ich mir, wenn es je ein
Dorf gegeben hat, das dringend ein bißchen Verzauberung
nötig hatte … Alte Angewohnheiten brechen immer wieder
durch. Und wenn man einmal gemerkt hat, daß man in der Lage
ist, Wünsche zu erfüllen, wird man den Impuls nie wieder los.
Und außerdem hatte sich der Karnevalswind immer noch nicht
gelegt, der schwache Duft von Bratfett und Zuckerwatte und
Schießpulver, der scharfe Geruch, der den Jahreszeitenwechsel
ankündigt, lag immer noch in der Luft, ließ es einem in den
Fingern jucken und das Herz höher schlagen … Eine Zeitlang
werden wir also bleiben. Eine Zeitlang. Bis der Wind sich dreht.
Im Kramladen kauften wir Farbe, Pinsel, Rollen, Seife und
Eimer. Wir begannen im ersten Stock und arbeiteten uns nach
unten vor, warfen alte Vorhänge und kaputte Möbel auf den
wachsenden Haufen in dem kleinen Garten hinter dem Haus,
schrubbten Fußböden und ließen ganze Flutwellen über die
schmale, schmutzverkrustete Treppe stürzen, bis wir beide
vollständig durchnäßt waren. Anouks Wurzelbürste wurde zu

Page 17
einem U-Boot und meine zu einem Panzerkreuzer, der laut
polternde Seifentorpedos über die Treppenstufen in den Flur
hinunter abfeuerte. Mitten in diesem Spaß hörte ich die
Türglocke läuten, und als ich, die Seife in der einen und die
Bürste in der anderen Hand, aufblickte, sah ich den Priester in
der Tür stehen.
Ich hatte mich schon gefragt, wie lange es dauern würde, bis
er uns seine Aufwartung machte.
Er betrachtete uns lächelnd. Ein zurückhaltendes, gnädiges
Lächeln; der Gutsherr begrüßt ungelegene Gäste. Ich spürte,
wie er mich in meinem schmutzigen Overall musterte, mein mit
einem roten Tuch lose zusammengebundenes Haar, meine
nackten Füße in den von Putzwasser triefenden Sandalen.
»Guten Morgen.« Ein kleines Rinnsal schmutzigen Wassers
lief langsam auf seine blankpolierten Schuhe zu. Ich sah seinen
Blick kurz zu dem Rinnsal und dann wieder zu mir schnellen.
»Francis Reynaud«, sagte er, während er diskret zur Seite
trat. »Der Curé der Gemeinde.«
Ich mußte lachen.
»Ach so«, sagte ich ironisch. »Und ich dachte schon, Sie
gehörten zum Karnevalsumzug.«
Höfliches Lachen; hi hi hi.
Ich streckte ihm einen gelben Plastikhandschuh entgegen.
»Vianne Rocher. Und der Kanonier da oben ist meine Tochter
Anouk.« Geräusche von Seifenexplosionen und ausgelassenem
Gerangel zwischen Anouk und Pantoufle. Ich konnte förmlich
hören, wie der Priester darauf wartete, von Monsieur Rocher zu
hören. Wieviel angenehmer wäre es doch, alles schwarz auf
weiß zu haben, auf einem offiziellen Formular, dann könnte man
sich dieses lästige Gespräch ersparen …
»Ich nehme an, Sie hatten heute morgen viel zu tun.«
Er tat mir plötzlich leid, wie er dastand und krampfhaft

Page 18
versuchte, ins Gespräch zu kommen. Wieder das gezwungene
Lächeln.
»Ja, wir müssen dieses Haus so schnell wie möglich in
Ordnung bringen. Es gibt noch sehr viel zu tun! Aber wir wären
sowieso nicht in die Kirche gekommen, Monsieur le Curé. Wir
sind keine Kirchgängerinnen, wissen Sie.« Es war nett gemeint,
sollte ihm zeigen, wo er uns einzuordnen hatte, ihn beruhigen;
doch er wirkte verblüfft, beinahe beleidigt.
»Ach so.«
Es war zu direkt gewesen. Er hätte es vorgezogen, noch ein
bißchen mit mir um den heißen Brei herumzustreichen wie zwei
mißtrauische Katzen.
»Aber es ist sehr freundlich von Ihnen, uns willkommen zu
heißen«, fuhr ich heiter fort. »Vielleicht können Sie uns sogar
dabei behilflich sein, hier ein paar neue Freunde zu finden.«
Er hat tatsächlich etwas von einer Katze; die kalten, blassen
Augen, die dem Blick nicht standhalten, die nervöse
Wachsamkeit, die beherrschte Distanziertheit.
»Ich werde tun, was ich kann.« Das Wissen darum, daß wir
keine neuen Schäfchen in seiner Herde sein werden, macht ihn
gleichgültig. Doch sein Gewissen treibt ihn dazu, mehr
anzubieten, als er zu geben bereit ist. »Brauchen Sie sonst
noch etwas?«
»Nun, wir könnten ein bißchen tatkräftige Hilfe gebrauchen«,
sage ich. »Ich meine, natürlich nicht von Ihnen«, fahre ich schnell
fort, um ihm zuvorzukommen. »Aber vielleicht kennen Sie
jemanden, der sich ein bißchen Geld verdienen möchte? Einen
Putzer zum Beispiel, jemand, der uns beim Renovieren helfen
könnte?«
Das war sicherlich kein heikles Thema.
»Mir fällt niemand ein.« Er ist der vorsichtigste Mensch, dem
ich je begegnet bin. »Aber ich werde mich umhören.« Vielleicht

Page 19
wird er es tatsächlich tun. Er kennt seine Pflichten gegenüber
Neuankömmlingen. Aber ich weiß, er wird niemanden finden.
Wohlwollend Gefälligkeiten zu erweisen liegt nicht in seiner
Natur. Sein Blick glitt mißtrauisch zu dem Salz und Brot an der
Tür.
»Das bringt Glück.« Ich lächelte, doch sein Gesicht war wie
versteinert. Er machte einen Bogen um die kleine Opfergabe,
als sei sie eine Beleidigung für ihn.
»Maman?« In der Tür erschien Anouks Kopf, die Haare wild in
alle Richtungen abstehend. »Pantoufle will draußen spielen.
Dürfen wir?«
Ich nickte.
»Bleibt im Garten.« Ich wischte ihr einen Schmutzfleck von der
Nase. »Du siehst aus wie ein richtiger Kobold.« Gerade
rechtzeitig bemerkte ich den seltsamen Blick, mit dem sie den
Priester musterte. »Das ist Monsieur Reynaud, Anouk. Willst du
ihm nicht guten Tag sagen?«
»Hallo!« rief Anouk auf dem Weg zur Tür. »Tschüs!«
Ein verschwommenes Aufblitzen ihres gelben Sweatshirts und
ihrer roten Latzhose, als ihre Füße wie wild über die nassen
Fliesen schlitterten, und schon war sie verschwunden. Nicht zum
erstenmal war ich mir fast sicher, Pantoufle zu sehen, der ihr auf
den Fersen folgte, ein dunklerer Fleck auf dem dunklen Boden.
»Sie ist erst sechs«, erklärte ich.
Reynaud lächelte, die Lippen schmal zusammengepreßt, als
hätte der Anblick meiner Tochter jeden Verdacht bestätigt, den
er gegen mich hegte.
Donnerstag, 13. Februar
Gott sei Dank, es ist vorbei. Nach Besuchen bin ich jedesmal
völlig erschöpft. Das gilt natürlich nicht für Sie, mon père; meine
wöchentlichen Besuche bei Ihnen sind ein Luxus, ja, man könnte
fast sagen, der einzige Luxus, den ich mir gönne. Ich hoffe, daß

Page 20
Ihnen die Blumen gefallen. Sie sind nichts Besonderes, aber sie
duften herrlich. Ich stelle sie hierhin, neben Ihren Stuhl, wo Sie
sie sehen können. Von hier aus haben Sie einen schönen
Ausblick über die Felder mit dem Tannes, der sich durch das
Land schlängelt, und in der Ferne können Sie sogar die
Garonne glitzern sehen. Fast könnte man meinen, wir wären
ganz allein. Oh, ich will mich nicht beschweren. Wirklich nicht.
Aber Sie müssen wissen, wie schwer es für einen Mann ist, die
ganze Last allein zu tragen. Ihre nichtigen Sorgen, ihre Klagen,
ihre Dummheiten, all ihre trivialen Probleme … Am Dienstag
haben sie einen Karnevalsumzug veranstaltet. Man hätte
meinen können, daß es sich um Wilde handelte, so wie sie
herumgetollt sind. Louis Perrins Jüngster, Claude, hat mit einer
Wasserpistole auf mich geschossen, und sein Vater hatte nicht
mehr dazu zu sagen, als daß er doch noch klein sei und nur
spielen wolle. Ich will sie doch bloß im rechten Glauben leiten,
mon père, und sie von ihren Sünden befreien. Aber sie sind so
trotzig wie kleine Kinder, die gesunde Kost verweigern und sich
statt dessen weiterhin mit Süßigkeiten vollstopfen. Ich weiß, daß
Sie mich verstehen. Fünfzig Jahre lang haben Sie all das mit
Geduld und Strenge auf Ihren Schultern getragen. Sie haben
ihre Liebe gewonnen. Haben die Zeiten sich denn so geändert?
Ich werde geachtet und gefürchtet … aber nicht geliebt. Ihre
Gesichter sind mürrisch, voller Groll. Als sie gestern mit
Aschenkreuzen auf der Stirn die Kirche verließen, wirkten sie
zugleich schuldbewußt und erleichtert. Jetzt können sie sich
wieder ihren heimlichen Genüssen, ihren geheimen Lastern
hingeben. Begreifen sie denn nichts? Der Herr sieht alles. Ich
sehe alles. Paul-Marie Muscat prügelt seine Frau. Er kommt
jede Woche zur Beichte, betet zehn Ave-Maria und geht dann
nach Hause, um so weiterzumachen wie eh und je. Seine Frau
stiehlt. Letzte Woche ist sie auf den Markt gegangen und hat an

Page 21
einem Stand Modeschmuck gestohlen. Guillaume Duplessis will
wissen, ob Tiere eine Seele haben, und weint, wenn ich ihm
erkläre, daß sie keine haben. Charlotte Edouard glaubt, ihr
Mann hätte eine Geliebte – ich weiß, daß er drei hat, aber das
Beichtgeheimnis zwingt mich zu schweigen. Was sind sie doch
für Kinder! Ihre Erwartungen bringen mich zur Verzweiflung.
Aber ich kann es mir nicht leisten, Schwäche zu zeigen. Schafe
sind gar nicht so fromm und gutmütig wie auf den Hirtenbildern.
Das kann einem jeder Bauer bestätigen. Sie sind durchtrieben,
manchmal bösartig und absolut einfältig. Ein nachsichtiger Hirte
riskiert, daß seine Herde aufsässig und widerspenstig wird. Ich
kann es mir nicht leisten, nachsichtig zu sein.
Deswegen gestatte ich mir einmal pro Woche diesen Luxus.
Ihre Lippen, mon père, sind so fest versiegelt wie die eines
Beichtvaters. Sie haben stets ein offenes Ohr, sind stets voller
Milde. Für eine Stunde kann ich meine Last ablegen. Eine
Stunde lang kann ich zugeben, daß ich fehlbar bin.
Wir haben ein neues Mitglied in unserer Gemeinde. Eine
gewisse Vianne Rocher, eine Witwe, nehme ich an, mit einer
kleinen Tochter. Erinnern Sie sich noch an die Bäckerei des
alten Blaireau? Er ist vor vier Jahren gestorben, und seitdem
verfällt das Haus immer mehr. Nun, sie hat das Haus gemietet
und will am Wochenende einen Laden eröffnen. Ich glaube nicht,
daß das Geschäft lange bestehen wird. Wir haben ja schon
Poitous Bäckerei auf der gegenüberliegenden Seite des
Platzes, und außerdem paßt sie einfach nicht zu uns. Sie ist ja
ganz nett, aber sie hat nichts mit uns gemein. Ich gebe ihr zwei
Monate, dann kehrt sie wieder in die Stadt zurück, wo sie
hingehört. Komisch, sie hat mir gar nicht gesagt, woher sie
kommt. Wahrscheinlich aus Paris, oder vielleicht sogar aus
dem Ausland. Sie spricht völlig akzentfrei, mit harten Vokalen
wie im Norden, eigentlich fast zu akzentfrei für eine Französin,

Page 22
und ihre Augen könnten darauf schließen lassen, daß sie
italienischer oder portugiesischer Abstammung ist, und ihre
Haut … Aber ich habe sie nicht so genau gesehen. Sie hat
gestern und heute den ganzen Tag in der Bäckerei gearbeitet.
Sie haben eine riesige orangefarbene Plastikplane vor das
Schaufenster gehängt, so daß der ganze Laden aussieht wie
ein riesiges Geschenkpaket, und ab und zu sieht man sie oder
ihre unbändige kleine Tochter vor die Tür treten, um einen
Eimer Putzwasser in den Gully zu schütten oder sich schüchtern
mit einem Handwerker zu unterhalten … Sie besitzt ein
merkwürdiges Talent, Leute dazu zu überreden, daß sie für sie
arbeiten. Ich hatte ihr zwar angeboten, sie bei der Suche nach
Helfern zu unterstützen, war jedoch davon ausgegangen, daß
sich kaum jemand aus dem Dorf finden würde. Aber heute
morgen habe ich gesehen, wie Clairmont ihr in aller Frühe
Bauholz brachte, und später kam Pourceau mit seiner Leiter.
Poitou hat Möbel geliefert; ich habe ihn einen Sessel über den
Dorfplatz tragen sehen, im Gesicht den gehetzten Blick eines
Mannes, der nicht bemerkt werden will. Selbst dieses
nichtsnutzige Lästermaul Narcisse, der sich im vergangenen
November glatt geweigert hat, den Kirchhof umzugraben, ist mit
seinem Werkzeug zu ihr gegangen, um ihren Garten in Ordnung
zu bringen. Heute morgen gegen zwanzig vor neun hielt ein
Lieferwagen vor dem Laden. Duplessis, der wie immer um
diese Zeit seinen Hund ausführte, kam gerade vorbei, und sie
sprach ihn einfach an und bat ihn, beim Abladen zu helfen. Ich
konnte sehen, daß er über ihr Ansinnen ziemlich verblüfft war,
die Hand, mit der er gerade seinen Hut ziehen wollte, verharrte
in der Luft – einen Moment lang war ich mir fast sicher, daß er
ihr die Bitte abschlagen würde. Doch dann sagte sie etwas –
ich konnte nicht verstehen, was es war –, und ich hörte ihr
Lachen quer über den Platz. Sie lacht überhaupt viel und

Page 23
gestikuliert ausgiebig mit den Händen. Das ist wohl auch
typisch für eine Städterin. Hier auf dem Land sind wir es
gewohnt, daß die Leute reservierter sind, aber ich nehme an,
sie meint es gut. Sie hatte sich ein lilafarbenes Tuch nach
Zigeunerart um den Kopf gebunden, aber ihr Haar war zum
größten Teil darunter hervorgerutscht und voller weißer Farbe.
Das schien sie gar nicht zu stören. Duplessis konnte sich später
nicht mehr erinnern, was sie zu ihm gesagt hatte, aber er
erzählte auf seine übliche zaghafte Art, der Lieferwagen hätte
nichts Besonderes gebracht, nur ein paar Kartons, klein, aber
schwer, und einige offene Kisten mit Küchenutensilien. Er hat
sich nicht danach erkundigt, was sich in den Kartons befand,
aber er meinte, was es auch gewesen sein mochte, mit so
geringen Mengen könne man in einer Bäckerei nicht viel
anfangen.
Glauben Sie nicht, mon père, ich würde den ganzen Tag
nichts anderes tun, als beobachten, was in der Bäckerei vor
sich geht. Es ist nur so, daß sie sich genau meinem Haus
gegenüber befindet, gegenüber dem Haus, in dem Sie früher
gewohnt haben, mon père, vor Ihrer Erkrankung. Seit anderthalb
Tagen wird dort unaufhörlich gehämmert und gestrichen und
geweißt und geschrubbt, bis die Neugier mich überkam und ich
das Ergebnis all der Plackerei sehen wollte. Und ich bin nicht
der einzige, der neugierig geworden ist; ich habe gehört, wie
Madame Clairmont vor Poitous Bäckerei ein paar Freundinnen
wichtigtuerisch von der Arbeit ihres Mannes berichtete; ich hörte
sie von roten Fensterläden erzählen, bis sie mich bemerkte und
in einem verschwörerischen Flüsterton weiterredete. Als ob
mich das alles interessierte. Die Neue sorgt auf jeden Fall für
Klatsch. Ich bemerke immer wieder, wie die orangefarbene
Plastikplane einem in unerwarteten Augenblicken aufs neue ins
Auge sticht. Das verhängte Fenster erinnert an ein riesiges

Page 24
Bonbon, das darauf wartet, ausgewickelt zu werden, wie ein
Überbleibsel des Karnevalsumzugs. Die leuchtende Farbe und
die Art und Weise, wie die Falten der Plane das Sonnenlicht
reflektieren, haben etwas Beunruhigendes; ich bin froh, wenn
die Arbeiten beendet sind und der Laden wieder wie eine
normale Bäckerei aussieht.
Die Schwester schaut zu mir herüber. Sie glaubt, ich würde
Sie ermüden, Vater. Wie können Sie sie nur alle ertragen, mit
ihren lauten Stimmen und ihrem Gouvernantenton. Ich glaube,
es ist jetzt Zeit für unser Nickerchen. Ihre übertrieben
neckische Art ist beleidigend, unerträglich. Und doch meint sie
es gut, ich kann es an Ihren Augen ablesen, Vater. Vergib
ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Ich bin ein Egoist. Ich
komme hierher, um Erleichterung zu finden, nicht, um sie Ihnen
zu verschaffen. Und doch habe ich immer den Eindruck, daß
meine Besuche Ihnen Freude bereiten, daß Sie froh sind, auf
diese Weise den Kontakt zur Wirklichkeit nicht zu verlieren, die
für Sie verschwommen und konturlos geworden ist. Eine Stunde
pro Abend fernsehen, fünfmal täglich umbetten, künstliche
Ernährung … erdulden müssen, daß man über Sie redet, als
seien Sie ein Gegenstand – Ob er uns hören kann? Glaubst
du, er versteht, was wir sagen? –, niemand, der Sie nach Ihrer
Meinung fragt … Von allem ausgeschlossen zu sein und doch
fühlen und denken zu können … Das ist die wahre Hölle, ohne
das mittelalterlich bunte Beiwerk, mit dem man sie gewöhnlich
ausschmückt. Es ist der Verlust von menschlichem Kontakt. Und
doch wende ich mich an Sie, um von Ihnen zu lernen, wie man
mit den Menschen umgeht. Lehren Sie mich zu hoffen.
Freitag, 14. Februar
Valentinstag
Der Mann mit dem Hund heißt Guillaume. Er hat mir gestern

Page 25
geholfen, die Kisten vom Lieferwagen zu laden, und heute
morgen war er mein erster Kunde. Er hatte seinen Hund Charly
dabei, und er grüßte mich mit einer fast ritterlichen Höflichkeit.
»Es ist wunderschön geworden!« sagte er, als er sich umsah.
»Sie müssen die ganze Nacht gearbeitet haben.«
Ich lachte.
»Welch eine Verwandlung«, sagte Guillaume. »Wissen Sie,
ich kann nicht sagen, warum, aber ich hatte angenommen, es
würde wieder eine Bäckerei werden.«
»Sollte ich etwa dem armen Monsieur Poitou das Geschäft
verderben? Da hätte er sich aber bei mir bedankt, wo er doch
so sehr mit seinem Hexenschuß zu tun hat und seine Frau so
krank ist und so schlecht schläft.«
Guillaume bückte sich, um Charlys Halsband zurechtzurücken,
aber ich sah das Funkeln in seinen Augen.
»Sie haben ihn also bereits kennengelernt«, sagte er.
»Ja. Ich habe ihm mein Rezept für einen Schlaftee gegeben.«
»Wenn es wirkt, haben Sie einen Freund fürs Leben
gewonnen.«
»Es wirkt«, versicherte ich ihm. Dann holte ich eine kleine
rosafarbene Schachtel mit einer silbernen Schleife unter der
Theke hervor. »Für Sie. Für meinen ersten Kunden.«
Guillaume schaute mich verblüfft an.
»Wirklich, Madame, ich …«
»Nennen Sie mich Vianne.« Ich drückte ihm die Schachtel in
die Hand. »Ich bestehe darauf. Sie werden Ihnen schmecken.
Es ist Ihre Lieblingssorte.«
Darüber mußte er lächeln.
»Woher wollen Sie das wissen?« erkundigte er sich, während
er die Schachtel in seine Manteltasche steckte.
»Oh, ich weiß es einfach«, erwiderte ich lächelnd. »Ich sehe
es den Leuten an. Vertrauen Sie mir.«

Page 26
Das Schild wurde erst mittags fertig. Georges Clairmont kam
höchstpersönlich, um es aufzuhängen, während er sich
wortreich wegen der Verspätung entschuldigte. Die roten
Fensterläden sehen auf den frischgeweißten Wänden
wunderschön aus, und Narcisse hat mir unter halbherzigem
Protest wegen der Frostgefahr selbstgezogene Geranien für
meine Blumenkästen mitgebracht. Ich habe beiden zum
Valentinstag eine Schachtel Pralinen geschenkt, und sie zogen
mit freudig verwirrten Gesichtern ab. Danach kamen bis auf
einige Schulkinder kaum noch Kunden. So ist es immer, wenn
in einem kleinen Dorf ein neuer Laden eröffnet; für solche
Situationen gibt es einen strengen Verhaltenskodex, und die
Leute sind reserviert, geben sich uninteressiert, obwohl sie
innerlich vor Neugier platzen. Eine alte Dame in der
traditionellen schwarzen Witwenkleidung traute sich herein. Ein
Mann mit dunklen, stark ausgeprägten Zügen, der drei gleiche
Schachteln Pralinen kaufte, ohne sich nach dem Inhalt zu
erkundigen. Dann kam vier Stunden lang niemand. Ich hatte es
nicht anders erwartet; die Menschen brauchen Zeit, um sich an
Veränderungen zu gewöhnen, und obwohl mehrere Leute
stehenblieben, um sich die Auslagen in meinem Schaufenster
anzusehen, schien niemand geneigt hereinzukommen. Hinter
der gezwungenen Gleichgültigkeit jedoch spürte ich eine Art
Schmoren, ein argwöhnisches Flüstern, ein Rascheln von
Vorhängen, das Bemühen, sich ein Herz zu fassen. Als sie
schließlich erschienen, kamen sie alle zusammen; acht Frauen,
unter ihnen Caroline Clairmont, die Frau des Schildermalers.
Eine neunte Frau, die etwas später eintraf, blieb draußen vor
dem Laden stehen und berührte die Schaufensterscheibe fast
mit der Nase, und ich erkannte die Frau mit dem karierten
Mantel. Die Damen kicherten wie kleine Schulmädchen und
freuten sich über ihre Ungezogenheit.

Page 27
»Und Sie machen die wirklich alle selbst?« fragte Cécile, der
die Apotheke auf der Hauptstraße gehört.
»Während der Fastenzeit dürfte ich eigentlich gar nicht
naschen«, sagte Caroline, eine dicke Blonde mit einem
Pelzkragen.
»Ich werde es keiner Menschenseele verraten«, versprach ich.
Dann, als ich sah, daß die Frau in dem karierten Mantel immer
noch draußen vor dem Fenster stand, fragte ich: »Möchte Ihre
Freundin nicht auch hereinkommen?«
»Oh, sie gehört nicht zu uns«, erwiderte Joline Drou, eine Frau
mit strengen Zügen, die in der Dorfschule unterrichtet. Sie warf
einen kurzen Blick auf die Frau vor dem Fenster. »Das ist
Joséphine Muscat.« Es lag eine Art mitleidige Verachtung in
ihrer Stimme, als sie den Namen aussprach. »Ich glaube kaum,
daß sie hereinkommen wird.«
Als hätte sie es gehört, sah ich, wie Joséphine leicht errötete
und den Kopf senkte. Sie hielt sich eine Hand vor den Bauch,
was wie eine seltsame Schutzgebärde wirkte. Ich konnte
erkennen, wie ihre Lippen sich bewegten, so als würde sie ein
Gebet sprechen oder einen Fluch ausstoßen.
Nacheinander bediente ich die Damen – eine weiße
Schachtel mit goldener Schleife, zwei Spitztüten, eine Rose,
eine rosafarbene Valentinsschleife –, die ihre Bestellungen mit
kleinen Schreien des Entzückens und freudigem Lachen
begleiteten. Draußen murmelte Joséphine Muscat vor sich hin,
während sie rhythmisch vor-und zurückschaukelte und sich die
Fäuste unbeholfen in die Magengrube preßte. Schließlich, als
ich gerade dabei war, die letzte Kundin zu bedienen, hob sie
beinahe trotzig den Kopf und kam herein.
Diese letzte Kundin hatte spezielle Wünsche. Madame ließ
sich eine erlesene Auswahl an Trüffeln zusammenstellen, in
einer runden Schachtel mit weißen Schleifen und Blumen und

Page 28
goldenen Herzchen und dazu eine blanko Grußkarte – worüber
die Damen entzückt die Augen verdrehten und zu kichern
begannen –, so daß ich es beinahe nicht mitbekommen hätte.
Die großen, von Hausarbeit geröteten Hände sind
überraschend flink und geschickt. Die eine Hand bleibt in ihre
Magengrube gedrückt, die andere macht eine kurze Bewegung
wie die eines Revolverhelden, der in Sekundenschnelle seine
Waffe zieht, und im nächsten Augenblick verschwindet das
kleine, silberne, mit einer Rose verzierte Päckchen zu zehn
Francs vom Regal in ihrer Manteltasche. Gute Arbeit.
Bis die Damen den Laden mitsamt ihren Päckchen verlassen
hatten, ließ ich mir nichts anmerken. Joséphine, allein an der
Theke, tat so, als würde sie sich in Ruhe etwas aussuchen, hob
hier und da mit nervösen Händen eine Schachtel hoch, um sie
näher zu betrachten. Ich schloß die Augen.
»Kann ich Ihnen helfen, Madame Muscat?« fragte ich
freundlich. »Oder möchten Sie sich erst noch ein wenig
umsehen?«
Die Gedanken, die sie aussendete, waren verworren und
beunruhigend. Lauter Bilder gingen mir durch den Kopf; Rauch,
eine Handvoll glitzernder Tand, ein blutiger Knöchel. Und hinter
all dem spürte ich tiefen Kummer.
Sie murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und wandte
sich zum Gehen.
»Ich glaube, ich habe etwas, das Ihnen gefallen wird.« Ich
langte unter die Theke und holte ein silbernes Päckchen hervor,
das etwas größer war als das, was ich sie hatte stibitzen sehen.
Das Päckchen war mit einem weißen, mit gelben Blümchen
bestickten Band verschnürt. Sie starrte mich mit offenem Mund
an; Panik lag in ihren Augen.
Ich schob das Päckchen über die Theke.
»Ein Geschenk des Hauses, Joséphine«, sagte ich sanft. »Ist

Page 29
schon in Ordnung. Es ist Ihre Lieblingssorte.«
Joséphine Muscat drehte sich um und ergriff die Flucht.
Samstag, 15. Februar
Ich weiß, heute ist nicht mein üblicher Besuchstag, mon père.
Aber ich muß unbedingt mit jemandem reden. Die Bäckerei hat
gestern eröffnet. Aber es ist keine Bäckerei. Als ich morgens
um sechs Uhr aufwachte, war die orangefarbene Plastikplane
nicht mehr da, die Markise und die Fensterläden waren
angebracht, und die Jalousie im Schaufenster war
hochgezogen. Was einst ein gewöhnliches, ziemlich farbloses
Haus gewesen ist, das genauso aussah, wie all die anderen
Häuser rings um den Dorfplatz, hat sich in ein rotgoldenes Stück
Konfekt vor blütenweißem Hintergrund verwandelt. Rote
Geranien in den Blumenkästen. Das Balkongeländer mit
Girlanden aus rotem Krepp umwickelt. Und über der Tür ein
handgemaltes Schild aus schwarzer Eiche:

La Céleste Praline
Chocolaterie Artisanale
Die himmlische Praline. Das ist natürlich lächerlich. Ein
solcher Laden mag vielleicht in Marseille oder Bordeaux auf
Begeisterung stoßen – oder auch in Agen, wo es von Jahr zu
Jahr mehr Touristen gibt. Aber in Lansquenet-sous-Tannes?
Noch dazu zu Beginn der Fastenzeit, in der die Menschen
Verzicht üben sollen? Das scheint mir doch pervers zu sein,
möglicherweise sogar mit Absicht. Ich habe mir heute morgen
die Auslagen im Schaufenster angesehen. Auf einer weißen
Marmorplatte sind zahllose Schachteln und Tüten aus Silber-und
Goldpapier ausgestellt, mit Rosetten, Glöckchen, Blumen,
Herzchen und bunten, gekringelten Schleifen verziert. Unter
Glasglocken liegen Pralinen, Trüffel, Venusbrüstchen,

Page 30
mendiants, kandierte Früchte, Haselnußsplitter, Meeresfrüchte
aus Schokolade, kandierte Rosenblätter, Veilchenpastillen …
Durch die Markise vor der Sonne geschützt, glänzen sie im
Halbschatten wie die versunkenen Schätze in Aladins Höhle.
Und in der Mitte hat sie die Hauptattraktion aufgebaut. Ein
Lebkuchenhaus, dessen Wände mit Schokolade überzogen
sind; Türen und Fenster sind mit silbernem und goldenem
Zuckerguß aufgemalt, das Dach ist mit Dachpfannen aus
Florentinern gedeckt, an den Giebeln ranken seltsame
Kletterpflanzen aus Zuckerguß und Schokolade empor, an
denen kandierte Früchte wachsen, neben dem Haus stehen
Bäume aus Schokolade, in denen Marzipanvögel zwitschern …
Und dann die Hexe, von ihrem hohen, spitzen Hut bis zum Saum
ihres langen Umhangs aus dunkler Schokolade. Sie reitet auf
einem Besenstil, der dem Kitsch die Krone aufsetzt, einer von
diesen langen, bunten, gezwirbelten Zuckerstangen, wie man
sie zu Karneval überall an der Straße kaufen kann … Von
meinem Fenster aus kann ich das Schaufenster sehen, das wie
ein halb geschlossenes Auge zu mir herüberstarrt und mir
verschwörerisch zuzuzwinkern scheint.
Caroline Clairmont hat wegen der Waren, die in diesem
Laden feilgeboten werden, ihr Fastengelübde gebrochen.
Gestern im Beichtstuhl hat sie es mir gestanden, in diesem
atemlosen, mädchenhaften Ton, der ihre Beteuerungen der
Reue so unglaubhaft macht.
»O mon père, ich mache mir solche Vorwürfe! Aber was sollte
ich tun, wo diese charmante Frau so reizend zu mir war? Ich
meine, ich habe nicht mal im Traum daran gedacht, bis es zu
spät war, obwohl ich all das süße Zeug überhaupt nicht anrühren
dürfte … Ich meine, in den letzten zwei Jahren bin ich
aufgegangen wie ein Hefekuchen, und wenn ich daran denke,
möchte ich am liebsten sterben …«

Page 31
»Zwei Ave-Maria.« Gott, diese Frau. Selbst durch die
Gitterstäbe spüre ich ihre lüsternen Augen. Sie gibt sich
zerknirscht über meine Schroffheit.
»Selbstverständlich, Vater.«
»Und denken Sie daran, warum wir in der Fastenzeit
enthaltsam sind. Nicht aus Eitelkeit. Nicht, um unsere Freunde
zu beeindrucken. Nicht, damit wir in die teuren Kleider passen,
die im nächsten Sommer in Mode kommen.« Ich bin absichtlich
schonungslos. Es ist genau das, was sie braucht.
»Ja, ich bin eitel, nicht wahr?« Ein kurzes Schluchzen, eine
Träne, die sie vorsichtig mit dem Zipfel eines
Batisttaschentuchs abtupft. »Eine dumme, eitle Frau.«
»Denken Sie an unseren Herrn Jesus. An das Opfer, das er
für uns gebracht hat. An seine Demut.« Ich rieche ihr Parfüm,
irgend etwas Blumiges, zu intensiv in dieser dunklen Enge. Ich
frage mich, ob es verführerisch wirken soll. Falls ja, bin ich aus
Stein.
»Vier Ave-Maria.«
Es ist eine Art Verzweiflung. Es zerfrißt die Seele, zersetzt sie
Stück für Stück, so wie eine Kathedrale über die Jahre von in
der Luft fliegenden Staub-und Sandkörnchen allmählich
abgetragen wird. Ich spüre, wie es an meiner Entschlossenheit
nagt, an meiner Freude, meinem Glauben. Ich möchte ihnen in
Leid und Kümmernis beistehen, sie durch die Wildnis geleiten.
Und nun das. Diese schleppende Prozession von Lügnern,
Schwindlern, Vielfraßen und erbärmlichen Selbstbetrügern. Der
Kampf zwischen Gut und Böse personifiziert in einer dicken
Frau, die in jämmerlicher Unentschlossenheit vor dem
Süßwarenladen steht und sich fragt: Soll ich? Oder soll ich
nicht? Der Teufel ist ein Feigling; er wagt es nicht, sein Gesicht
zu zeigen. Er ist substanzlos, zerfällt in Millionen winziger
Teilchen, die das Blut und die Seele mit dem Bösen infiltrieren.

Page 32
Wir beide, Sie und ich, mon père, wurden zu spät geboren. Ich
sehne mich nach der rauhen, klaren Welt des Alten Testaments.
Damals wußten wir noch, wo wir standen. Damals war Satan in
F l e i s c h und Blut unter uns. Wir trafen schwierige
Entscheidungen; wir opferten unsere Kinder in Gottes Namen.
Wir liebten Gott, aber noch mehr fürchteten wir ihn.
Nicht daß Sie denken, ich würde Vianne Rocher die Schuld
geben. Eigentlich denke ich kaum an sie. Sie ist nur einer der
schlechten Einflüsse, gegen die ich Tag für Tag kämpfen muß.
Aber dieser Laden mit seiner bunten Markise, dieses
halbgeschlossene Schaufenster, dieses verführerische
Zwinkern, das der Enthaltsamkeit spottet, den Glauben
unterhöhlt … Wenn ich aus der Tür trete, um mich der
Gemeinde zu widmen, bemerke ich, wie sich im Inneren des
Ladens etwas bewegt. Probier mich. Koste mich. Nasch mich.
In der Stille zwischen zwei Strophen eines Kirchenliedes höre
ich das Hupen des Lieferwagens, der vor dem Laden hält.
Während der Predigt – während der heiligen Messe, Vater! –
fahre ich mitten im Satz zusammen, weil ich sicher bin, das
Rascheln von Bonbonpapier zu hören …
Obwohl heute morgen nur wenige Leute an der Messe
teilnahmen, habe ich eine besonders strenge Predigt gehalten.
Morgen werde ich sie büßen lassen. Morgen, am Sonntag,
wenn alle Läden geschlossen sind.
Samstag, 15. Februar
Heute ist die Schule früher aus. Um zwölf Uhr wimmelt es in
der Straße von Cowboys und Indianern in bunten Anoraks und
Jeans, mit schweren Schulranzen auf dem Rücken oder in der
Hand – die Größeren, mit verbotenen Zigaretten zwischen den
Lippen, die Kragen hochgeschlagen, werfen im
Vorbeischlendern lässig einen kurzen Blick auf die Auslagen in
meinem Fenster. Mir fiel ein Junge in einem tadellos sitzenden

Page 33
grauen Mantel und mit Baskenmütze auf, der allein ging, den
Schulranzen korrekt auf den schmalen Rücken geschnallt. Eine
ganze Weile blieb er vor dem Schaufenster von La Céleste
Praline stehen, doch die Sonne spiegelte sich so ungünstig in
der Fensterscheibe, daß ich sein Gesicht nicht erkennen
konnte. Als ein paar Kinder in Anouks Alter vor dem Laden
stehenblieben, ging er weiter. Zwei Nasen wurden kurz an der
Fensterscheibe plattgedrückt, dann steckten die vier die Köpfe
zusammen und leerten ihre Hosentaschen, um ihr Taschengeld
zu zählen. Nach kurzem Zögern bestimmten sie einen, der
hineingehen sollte. Ich tat so, als sei ich hinter der Theke mit
etwas beschäftigt.
»Madame?« Ein kleines, schmuddeliges Gesicht schaute
mißtrauisch zu mir auf. Ich erkannte den Wolf aus dem
Karnevalsumzug.
»Du willst bestimmt Makrönchen kaufen, junger Mann.« Ich
machte ein ernstes Gesicht, denn der Kauf von Süßigkeiten ist
eine ernste Angelegenheit. »Sie sind gesund, leicht zu teilen,
schmelzen nicht in der Hosentasche, und du bekommst« – ich
hob beide Hände um ihm die Menge anzudeuten –
»mindestens soviel für fünf Francs. Stimmt’s?«
Kein Lächeln, nur ein Nicken wie zwischen zwei
Geschäftsleuten. Die Münze war warm und ein bißchen klebrig.
Vorsichtig nahm er die Tüte entgegen.
»Das Lebkuchenhaus gefällt mir«, sagte er feierlich. »Das im
Fenster.« Die drei anderen standen in der Tür und nickten
scheu, dicht aneinandergedrückt, wie um sich gegenseitig Mut
zu machen. »Es ist cool.« Der amerikanische Ausdruck kam
fast trotzig über die kleinen Lippen, wie der Rauch einer
heimlich gerauchten Zigarette. Ich lächelte.
»Sehr cool«, stimmte ich zu. »Wenn ihr wollt, könnt ihr mir
helfen, es aufzuessen, wenn ich es aus dem Fenster nehme.«

Page 34
Große Augen.
»Cool!«
»Megacool!«
»Wann?«
Ich zuckte die Achseln.
»Ich werde Anouk bitten, euch Bescheid zu sagen«, versprach
ich. »Das ist meine Tochter.«
»Das wissen wir. Wir haben sie gesehen. Sie geht nicht zur
Schule.« Die letzte Bemerkung klang fast neidisch.
»Ab Montag wird sie in die Schule gehen. Es ist schade, daß
sie noch keine Freunde hat, denn ich habe ihr erlaubt, sie mit
nach Hause zu bringen. Sie könnten mir nämlich helfen, das
Schaufenster zu dekorieren, wißt ihr.«
Füße scharrten, klebrige Hände wurden ausgestreckt, jeder
wollte der erste sein, der den Laden betrat.
»Wir können –«
»Ich kann –«
»Ich heiße Jeannot –«
»Claudine –«
»Lucie –«
Ich schenkte jedem Kind eine Speckmaus, und im nächsten
Augenblick sah ich sie auf dem Dorfplatz ausschwärmen wie
Löwenzahnsamen im Wind. Ihre Anoraks blitzten kurz in der
Sonne auf – rot-orange-grün-blau –, dann waren sie
verschwunden. Im Schatten des Portals von Saint Jérôme sah
ich den Priester stehen, der sie neugierig und, wie mir schien,
mißbilligend beobachtete. Ich war überrascht. Warum sollte er
ihr Verhalten mißbilligen? Seit seinem Pflichtbesuch am ersten
Tag ist er nicht mehr bei uns gewesen, aber ich habe viel von
ihm gehört. Guillaume spricht respektvoll über ihn, Narcisse
entnervt, Caroline in dem koketten Ton, den sie stets
anzuschlagen scheint, wenn sie über einen Mann unter Fünfzig

Page 35
spricht … Es liegt wenig echte Sympathie in der Art, wie sie
über ihn reden. Er ist kein Einheimischer, wie ich gehört habe.
Ein Seminarist aus Paris, der sein Wissen aus Büchern
bezogen hat – er stammt nicht vom Land, kennt nicht dessen
Bedürfnisse und Zwänge. Das weiß ich von Narcisse, der mit
ihm in Fehde lebt, seit er sich weigerte, während der
Erntesaison die Messe zu besuchen. Ein Mann, der
Dummköpfe verachtet, sagt Guillaume mit einem traurigen
Halblächeln hinter seiner runden Brille, das heißt also, die
meisten von uns mit unseren törichten Sitten und eingefahrenen
Gewohnheiten. Dabei tätschelt er liebevoll Charlys Kopf,
woraufhin der Hund kurz aufbellt, wie um ihn zu bestätigen.
»Er findet es lächerlich, einen Hund zu lieben«, sagt Guillaume
wehmütig. »Er ist viel zu höflich, um es auszusprechen, aber er
hält es für – unschicklich. Ein Mann in meinem Alter …« Bevor
er pensioniert wurde, war Guillaume Lehrer an der hiesigen
Grundschule. Heute gibt es für die immer geringer werdenden
Schülerzahlen nur noch zwei Lehrer, aber viele der älteren Leute
sprechen immer noch von Guillaume als dem maître d’école. Ich
sehe ihm zu, wie er Charly die Ohren krault, und ich bin mir
sicher, hinter der sichtbaren Zuneigung noch etwas anderes zu
spüren, eine Art Traurigkeit, etwas in seinem Blick, das beinahe
schuldbewußt wirkt.
»Jeder hat das Recht, sich seine Freunde auszusuchen, egal,
wie alt er ist«, unterbrach ich ihn leicht aufgebracht. »Vielleicht
könnte Monsieur le Curé selbst etwas von Charly lernen.«
Wieder das freundliche, traurige Halblächeln.
»Monsieur le Curé tut sein Bestes«, erklärte er mir sanft.
»Mehr können wir nicht von ihm erwarten.«
Ich sagte nichts darauf. In meinem Beruf lernt man schnell, daß
das Geben keine Grenzen kennt. Guillaume verließ La Praline
mit einer kleinen Tüte Florentiner in der Tasche; bevor er um die

Page 36
Ecke der Avenue des Francs Bourgeois bog, sah ich, wie er
einen davon seinem Hund gab. Ein Tätscheln, ein Bellen, ein
kurzes Wedeln mit dem Stummelschwanz. Wie ich schon sagte,
manche Menschen geben, ohne lange zu überlegen.
Das Dorf wird mir immer vertrauter. Auch seine Einwohner. Ich
kenne inzwischen immer mehr Gesichter und Namen; die ersten
Stränge von kleinen Geschichten, die sich mit der Zeit zu einer
uns alle verbindenden Nabelschnur verflechten werden. Das
Dorf ist vielschichtiger, als sein einfacher Grundriß zunächst
vermuten läßt. Die Rue Principale, von der mehrere
Seitenstraßen wie die Finger einer Hand abzweigen: die
Avenue des Poètes, die Rue des Francs Bourgeois, die
Ruelle des Frères de la Revolution – irgendein Bürgermeister
muß eine ausgeprägt republikanische Ader gehabt haben. Der
Dorfplatz, die Place Saint-Jérôme, ist der Mittelpunkt, auf dem
diese Straßen zusammenlaufen und wo die Kirche weiß und
stolz in den Himmel aufragt. Um den Platz herum stehen
Lindenbäume, in der Mitte eine mit rotem Kies bedeckte
Fläche, auf der die alten Männer an lauen Abenden pétanque
spielen. Hinter der Kirche geht es steil den Hügel hinunter in das
Gewirr von engen Gassen, das die Einheimischen nur Les
Marauds, das Lumpenviertel, nennen. Das ist das Armenviertel
von Lansquenet, mit windschiefen Fachwerkhäusern und
holprigem Kopfsteinpflaster bis hinunter zum Ufer des Tannes.
Die Dorfgrenze jedoch liegt weiter draußen, wo das
Sumpfgebiet beginnt. Einige Häuser stehen auf morschen
Pfählen über dem Wasser des Flusses, andere schmiegen sich
an die steinerne Kaimauer, wo die Feuchtigkeit des brackigen
Wassers wie lange, kalte Finger bis zu ihren kleinen, schmalen
Fenstern hinaufkriecht. In einer Stadt wie Agen würde ein
malerisch verfallenes Viertel wie Les Marauds die Touristen

Page 37
anlocken. Aber hier gibt es keine Touristen. Die Einwohner von
Les Marauds sind Lumpensammler, die von dem leben, was
sie aus dem Fluß fischen. Viele Häuser sind baufällig; hier und
da sieht man Holundersträucher aus Mauerritzen wachsen. Ich
hatte den Laden über die Mittagszeit für zwei Stunden
zugemacht und war mit Anouk zum Fluß hinunter spaziert. Ein
paar magere Kinder spielen in dem grünlichen Schlamm am
Flußufer; selbst im Februar liegt ein leichter Gestank nach
Abwasser und Fäulnis in der Luft. Es war kalt und sonnig, und
Anouk in ihrem roten Anorak und der roten Mütze rannte über
das Kopfsteinpflaster mit Pantoufle auf den Fersen, dem sie
immer wieder aufgeregt etwas zurief. Ich habe mich mittlerweile
so sehr an Pantoufle gewöhnt – und an den Rest der seltsamen
Menagerie, die sie stets in ihrem Gefolge führt –, daß ich bei
solchen Gelegenheiten beinahe meine, ihn zu sehen, Pantoufle,
mit seinen Schnurrhaaren und den klugen Augen. In diesen
Augenblicken wird die Welt um mich herum plötzlich bunter, und
es ist, als sei ich auf wundersame Weise zu Anouk geworden
und sähe mit ihren Augen, liefe in ihren Fußstapfen. Dann
könnte ich vergehen vor Liebe für sie, für meine kleine Fremde;
dann schwillt mein Herz gefährlich an, und ich kann mich nur
retten, indem ich zu rennen beginne, so daß mein roter Anorak
im Wind flattert, als hätte ich Flügel bekommen, und mein Haar
wie der Schweif eines Kometen hinter mir herweht.
Eine schwarze Katze lief vor mir über den Weg, und ich
begann, um sie herumzutanzen und ein Kinderlied zu singen:

Où va-t-i, mistigri?
Passe sans faire de mal ici.
Anouk stimmte mit ein, und die Katze begann zu schnurren
und warf sich auf den Rücken, damit wir sie kraulen konnten. Als
ich mich hinunterbeugte, sah ich eine kleine alte Frau an der

Page 38
Ecke eines Hauses stehen, die mich neugierig beobachtete.
Schwarzer Rock, schwarze Jacke, graues Haar, zu einem
strengen Nackenknoten geflochten. Ihre Augen glänzten so
schwarz wie die eines Vogels. Ich nickte ihr zu.
»Sie sind die Frau aus der chocolaterie«, sagte sie. Trotz
ihres Alters – ich schätzte sie auf mindestens achtzig – hatte sie
eine klare, feste Stimme und sprach mit dem rauhen Akzent des
Midi.
»Ja, das stimmt«, erwiderte ich und nannte ihr meinen Namen.
»Armande Voizin«, sagte sie. »Ich wohne in dem Haus da
drüben.« Mit einem Kopfnicken deutete sie auf eines der
Häuser am Flußufer, das in einem etwas besseren Zustand zu
sein schien als der Rest. Es war frisch geweißt, und in den
Blumenkästen blühten rote Geranien. Und dann lächelte sie, und
ihr Gesicht legte sich in tausend Falten. »Ich habe Ihren Laden
gesehen. Er ist sehr hübsch, das muß ich zugeben, aber er
taugt nicht für einfache Leute wie uns. Viel zu extravagant.« Es
lag kein Mißfallen in ihrem Ton, eher ein amüsierter Fatalismus.
»Wie ich höre, hat unser M’sieur le Curé Sie bereits aufs Korn
genommen«, fügte sie mit einem spitzbübischen Lächeln hinzu.
»Ich nehme an, er findet es unschicklich, daß sich an seinem
Kirchplatz ein Süßwarenladen befindet.« Und wieder schaute
sie mich spöttisch herausfordernd an. »Weiß er, daß Sie eine
Hexe sind?« fragte sie.
Hexe, Hexe. Es ist nicht das richtige Wort, aber ich wußte,
was sie meinte.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Oh, es ist nicht zu übersehen. Ich nehme an, man muß selbst
eine sein, um eine andere zu erkennen«, sagte sie und stieß ein
Lachen aus wie wildes Geigenquietschen. »M’sieur le Curé
glaubt nicht an Zauberei«, sagte sie. »Ehrlich gesagt, bin ich
mir nicht einmal so sicher, daß er an Gott glaubt.« In ihrem Ton

Page 39
schwang nachsichtige Verachtung mit. »Er muß noch viel
lernen, dieser Mann, auch wenn er einen Doktortitel in
Theologie hat. Und meine dumme Tochter auch. Im Fach Leben
kann man keinen Doktortitel erwerben, nicht wahr?«
Ich stimmte ihr zu und fragte sie, ob ich ihre Tochter kennen
würde.
»Ich nehme es an. Caro Clairmont. Die hirnloseste eitle Gans
in ganz Lansquenet. Quatscht den ganzen Tag lang und besitzt
nicht den geringsten Funken Verstand.«
Als ich lächelte, nickte sie fröhlich. »Keine Sorge, meine
Liebe, in meinem Alter nimmt man sich kaum noch etwas zu
Herzen. Sie kommt nach ihrem Vater, wissen Sie. Das ist ein
großer Trost.« Sie sah mich seltsam an. »Hier gibt es nicht viel
Abwechslung«, meinte sie. »Vor allem für alte Leute.« Sie hielt
einen Moment lang inne und schaute mich wieder eindringlich
an. »Aber diesmal habe ich das Gefühl, daß wir reichlich
Unterhaltung bekommen werden.« Ihre Hand berührte meine
wie kühler Atem. Ich versuchte, ihre Gedanken zu lesen, wollte
wissen, ob sie sich über mich lustig machte, doch ich spürte
nichts als Humor und Freundlichkeit.
»Es ist doch nur eine chocolaterie«, sagte ich lächelnd.
Armande Voizin kicherte in sich hinein.
»Sie glauben wohl, ich sei von vorgestern«, sagte sie.
»Wirklich, Madame Voizin –«
»Nennen Sie mich Armande.« Die schwarzen Augen funkelten
vor Vergnügen. »Dann fühle ich mich jung.«
»In Ordnung. Aber ich weiß wirklich nicht, warum –«
»Ich weiß, welcher Wind Sie hergetragen hat«, sagte sie
eifrig. »Ich habe es genau gespürt. Der Mardi Gras. Der
Karneval. In Les Marauds gibt es viele Karnevalsnarren;
Zigeuner, Spanier, Kesselflicker, pieds-noirs und
Ausgestoßene. Ich habe Sie sofort erkannt, Sie und Ihre kleine

Page 40
Tochter. – Wie nennen Sie sich diesmal?«
»Vianne Rocher.« Ich lächelte. »Und das ist Anouk.«
»Anouk«, wiederholte Armande leise. »Und der kleine, graue
Freund – meine Augen sind nicht mehr so gut wie früher –, was
ist es? Eine Katze? Ein Eichhörnchen?«
Anouk schüttelte ihren Lockenkopf. »Er ist ein Kaninchen«,
erklärte sie heiter. »Er heißt Pantoufle.«
»Oh, ein Kaninchen. Natürlich.« Armande zwinkerte mir
verschwörerisch zu. »Sehen Sie, ich weiß, was Sie beide
hierhergebracht hat. Ich habe es selbst ein-oder zweimal erlebt.
Ich mag vielleicht alt sein, aber niemand kann mir etwas
vormachen. Niemand.«
Ich nickte.
»Vielleicht haben Sie recht«, sagte ich. »Kommen Sie doch
mal zu uns in den Laden; ich kenne die Lieblingssorte jedes
Kunden, der den Laden betritt. Ich werde Ihnen hundert Gramm
Ihrer Sorte spendieren.«
Armande lachte.
»Oh, ich darf keine Schokolade essen«, sagte sie. »Caro und
dieser idiotische Arzt erlauben es mir nicht. Sie verbieten mir
alles, was mir Spaß macht«, fügte sie ironisch hinzu. »Zuerst
das Rauchen, dann den Alkohol, und jetzt das …« Sie
schnaubte verächtlich. »Weiß Gott, wenn ich aufhörte zu atmen,
würde ich wahrscheinlich ewig leben.« In ihrem Lachen klang
eine tiefe Müdigkeit mit, und ich sah, wie sie sich die Hand vor
die Brust schlug, eine Geste, die mich an Joséphine Muscat
erinnerte. »Ich mache ihnen keine Vorwürfe«, fuhr sie fort. »Es
ist einfach ihre Art. Sie wollen einen vor allem beschützen. Vor
dem Leben. Vor dem Tod.« Sie setzte ein Grinsen auf, das trotz
all ihrer Runzeln mädchenhaft wirkte.
»Vielleicht komme ich Sie trotzdem einmal besuchen«, sagte
sie nachdenklich. »Und wenn ich es nur mache, um Monsieur le

Page 41
Curé zu ärgern.«
Ihre letzte Bemerkung ging mir noch immer durch den Kopf,
als sie schon längst hinter ihrem weißgetünchten Haus
verschwunden war. Ein Stück entfernt ließ Anouk Steinchen
über das seichte, brackige Wasser am Flußufer springen.
Monsieur le Curé. Immer wieder tauchte sein Name auf. Eine
Weile dachte ich über Francis Reynaud nach.
In einem Ort wie Lansquenet kann es passieren, daß eine
Person – der Schullehrer, der Kneipenwirt oder der Priester –
zum Dreh-und Angelpunkt der Gemeinde wird. Daß dieser eine
Mensch zur Achse des Räderwerks wird, das das Leben des
gesamten Dorfes bestimmt, wie die Unruh eines Uhrwerks, die
alle Zahnräder und -rädchen antreibt, Pendel schlagen läßt und
die Zeiger dazu bringt, die Uhrzeit anzuzeigen. Wenn die Unruh
beschädigt wird oder aus dem Takt gerät, bleibt die Uhr stehen.
Lansquenet ist wie diese Uhr. Seine Zeiger sind bei einer
Minute vor Mitternacht stehengeblieben, während das
Räderwerk sinnlos hinter dem blanken Zifferblatt weitertickt.
Wenn man den Teufel hereinlegen will, muß man die
Kirchturmuhr verstellen, hat meine Mutter immer gesagt. Aber in
diesem Fall läßt der Teufel sich nicht täuschen.
Nicht für einen Augenblick.
Sonntag, 16. Februar
Meine Mutter war eine Hexe. So bezeichnete sie sich
jedenfalls, und zwar so oft und so lange, bis sie es selbst
glaubte und das Spiel nicht mehr von der Wirklichkeit zu
unterscheiden war. In gewisser Weise erinnert Armande Voizin
mich an sie; die leuchtenden, spitzbübisch funkelnden Augen,
das lange Haar, das in ihrer Jugend sicherlich glänzend
schwarz gewesen ist, die Mischung aus Wehmut und Zynismus.
Was ich von ihr gelernt habe, hat meinen Charakter geformt.
Die Kunst, Pech in Glück zu verwandeln. Das Fingerkreuzen,

Page 42
um Unheil abzuwehren. Das Nähen von Duftkissen, das Brauen
von Heilsäften, die Überzeugung, daß eine Spinne vor
Mitternacht Glück und nach Mitternacht Unglück bringt … Vor
allem hat sie mir die Lust am Zigeunern vererbt, die Wanderlust,
die uns durch ganz Europa und darüber hinaus geführt hat; ein
Jahr in Budapest, eins in Prag, sechs Monate in Rom, vier in
Athen, dann über die Alpen nach Monaco, dann die Küste
entlang; Cannes, Marseille, Barcelona … Bis ich achtzehn war,
konnte ich die Orte nicht mehr zählen, in denen wir gelebt, die
Sprachen, die wir gesprochen hatten. Ebenso vielfältig waren
ihre Jobs; sie arbeitete als Kellnerin, als Dolmetscherin, als
Automechanikerin. Manchmal kletterten wir aus den Fenstern
von billigen Hotels und zogen weiter, ohne die Rechnung zu
bezahlen. Wir fuhren ohne Fahrkarte mit Zügen, fälschten
Arbeitspapiere, überquerten illegal Grenzen. Unzählige Male
wurden wir ausgewiesen. Zweimal wurde meine Mutter verhaftet
und wieder freigelassen, ohne daß Anklage gegen sie erhoben
worden war. Unsere Namen änderten sich in jedem Ort,
variierten je nach Sprache; Yanne, Jeanne, Johanna, Giovanna,
Anne, Anuschka … Wie Diebe waren wir ständig auf der Flucht,
tauschten den sperrigen Ballast des Lebens in Francs, Pfund,
Kronen, Dollar, während wir uns vom Wind treiben ließen. Ich
glaube nicht, daß ich gelitten habe; in jenen Jahren war das
Leben ein buntes Abenteuer. Wir hatten einander, meine Mutter
und ich. Einen Vater habe ich nie vermißt. Ich hatte zahllose
Freunde. Und dennoch muß es manchmal an ihr genagt haben,
dieser Mangel an Beständigkeit, die Notwendigkeit, sich
ständig zu verstellen. Doch über die Jahre zogen wir immer
schneller weiter, blieben einen Monat, höchstens zwei, um dann
wieder wie Flüchtlinge in den Sonnenuntergang aufzubrechen.
Es dauerte Jahre, bis ich begriff, daß wir vor dem Tod
davonliefen.

Page 43
Sie war vierzig. Es war Krebs. Sie hatte es schon eine ganze
Weile lang gewußt, aber jetzt … Nein, kein Krankenhaus. Kein
Krankenhaus, hatte ich das verstanden? Sie hatte noch Monate,
vielleicht Jahre zu leben, und sie wollte Amerika sehen, New
York, Florida, die Everglades … Wir zogen jetzt fast jeden Tag
weiter, und meine Mutter legte sich nachts die Karten, wenn sie
glaubte, ich schliefe. In Lissabon gingen wir an Bord eines
Kreuzfahrtschiffes, auf dem wir uns als Küchenhilfen verdingt
hatten. Wir arbeiteten bis zwei oder drei Uhr früh und standen
im Morgengrauen wieder auf. Jede Nacht wurden neben ihr auf
der Koje die Karten gelegt, die inzwischen vom vielen Gebrauch
klebrig waren. Sie flüsterte ihre Namen vor sich hin, während sie
immer tiefer in der Verwirrung versank, die sie schließlich ganz
erfassen sollte.
– Zehn Schwerter, der Tod. Drei Schwerter, der Tod. Zwei
Schwerter, der Tod. Der Wagen. Der Tod.
Der Wagen entpuppte sich als ein New Yorker Taxi, als wir
eines Abends mitten in der Hauptverkehrszeit in Chinatown
einkaufen gingen. Es war jedenfalls besser als Krebs. Als
meine Tocher neun Monate später geboren wurde, nannte ich
sie nach uns beiden. Es schien mir angemessen. Ihr Vater hat
sie nie kennengelernt – ja, ich bin mir nicht einmal sicher,
welcher von meinen flüchtigen Geliebten es war. Es spielt auch
keine Rolle. Ich hätte um Mitternacht einen Apfel schälen und
die Schale über meine Schulter werfen können, um seine Initiale
zu erfahren, aber es hat mich nie interessiert. Zuviel Ballast, der
uns nur behindern würde.
Und doch … Wehen die Winde nicht sanfter und weniger
häufig, seit ich New York verlassen habe? Schnürt es mir nicht
jedesmal ein wenig die Kehle zu, wenn wir einen Ort verlassen?
Ich glaube schon. Fünfundzwanzig Jahre, und die Antriebsfeder
beginnt langsam zu ermüden, so wie meine Mutter immer mehr

Page 44
ermüdete in ihren letzten Jahren. Ich ertappe mich dabei, wie
ich in die Sonne schaue und mich frage, wie es wäre, wenn ich
sie fünf – oder zehn oder vielleicht sogar zwanzig – Jahre lang
über demselben Horizont aufgehen sähe. Der Gedanke
verursacht mir einen seltsamen Schwindel, ein Gefühl der Angst
und der Sehnsucht. Und Anouk, meine kleine Fremde? Seit ich
selbst Mutter bin, sehe ich das verwegene Abenteuer, das wir
so viele Jahre lang gelebt haben, mit anderen Augen. Ich sehe
mich selbst als kleines braunes Mädchen mit ungekämmtem
langem Haar, in abgetragenen Kleidern vom
Wohltätigkeitsbasar. Ich mußte Mathematik auf die harte Art
lernen, Erdkunde auf die harte Art – Wieviel Brot für fünf
Francs? Wie weit kommen wir mit einer Fahrkarte für fünfzig
Mark? –, und das wünsche ich ihr nicht. Vielleicht sind wir
deswegen schon seit fünf Jahren in Frankreich. Zum erstenmal
im meinem Leben besitze ich ein Bankkonto. Ich habe einen
Beruf.
Meine Mutter hätte all das verachtet. Und doch hätte sie mich
vielleicht auch beneidet. Vergiß dich selbst, wenn du kannst,
sagte sie immer. Vergiß, wer du bist. Solange du es ertragen
kannst. Aber eines Tages, mein Mädchen, eines Tages wird
es dich einholen. Ich weiß es.
Heute habe ich den Laden zur üblichen Zeit geöffnet.
Ausnahmsweise nur für den Vormittag – ich gönne mir heute
zusammen mit Anouk einen freien Nachmittag –, aber heute ist
Messe, und es werden eine Menge Leute auf dem Dorfplatz
sein. Der Februar zeigt sich von seiner trübsten Seite, und es
regnet. Es ist ein kalter Schneeregen, der eine glitschige
Schicht auf dem Kopfsteinpflaster bildet und den Himmel
grauschwarz färbt wie angelaufenes Zinn. Anouk sitzt hinter der
Theke und liest in einem Buch mit Kinderreimen; sie paßt für
mich auf den Laden auf, während ich in der Küche einen neuen

Page 45
Vorrat an mendiants herstelle. Das ist mein Lieblingskonfekt:
süße Taler aus Vollmilch-, Zartbitter-oder weißer Schokolade
bestreut mit Zitronat, Mandeln und Malaga-Rosinen. Anouk mag
am liebsten die weißen, während ich die dunklen bevorzuge,
hergestellt aus der besten, siebzigprozentigen Kuvertüre …
Bittersüß auf der Zunge mit einem exotisch-geheimnisvollen
Beigeschmack. Meine Mutter hätte all das verachtet, und doch
liegt auch darin eine Art Zauber.
Am Freitag habe ich vor der Theke von La Praline ein paar
Barhocker aufgestellt, wunderbar kitschige aus Chrom mit roten
Kunstledersitzen. Der Laden erinnert jetzt ein bißchen an die
Diners, die wir in New York kennengelernt haben. Die Wände
sind narzissengelb. Poitous alter orangefarbener Sessel steht
wie ein bunter Farbklecks in der Ecke. Links vorn auf der Theke
steht eine Speisekarte, in Rot-und Orangetönen von Anouk
handgemalt:

Chocolat chaud 10 F
Gâteau au chocolat 10 F (la tranche)
Den Kuchen habe ich gestern abend gebacken, und die
Schokolade steht in einer Kanne auf einer heißen Platte bereit.
Ich stelle eine zweite Speisekarte ins Fenster und warte auf
meine ersten Kunden.
Die Messe ist aus. Ich beobachte die Passanten, die mit
mißmutigen Gesichtern durch den eiskalten Nieselregen eilen.
Aus meiner Tür, die einen Spaltbreit offensteht, duftet es süß
und verlockend. Ich bemerke hin und wieder sehnsüchtige
Blicke, doch dann ein kurzer Blick über die Schulter, ein
Achselzucken, ein Verziehen der Mundwinkel, das
Entschlossenheit oder auch Unmut bedeuten mag, und dann
sind sie auch schon verschwunden, kämpfen mit kläglich
eingezogenen Schultern gegen den Wind an, als stünde ein

Page 46
Engel mit flammendem Schwert vor der Tür, der ihnen den
Zugang verwehrt.
Zeit, sage ich mir. Solche Dinge brauchen Zeit.
Und dennoch befällt mich Ungeduld, ja, beinahe Ärger. Was
ist los mit diesen Leuten? Warum kommen sie nicht? Die
Kirchturmuhr schlägt zehn, dann elf. Ich sehe Leute in die
Bäckerei gegenüber gehen und kurz darauf wieder
herauskommen, einen Laib Brot unter dem Arm. Es hört auf zu
regnen, doch der Himmel bleibt grau. Halb zwölf. Die wenigen
Leute, die bis jetzt auf dem Dorfplatz herumgetrödelt haben,
machen sich auf den Heimweg, zum Mittagessen. Ein Junge mit
einem Hund kommt um die Ecke der Kirche, weicht dem
Regenwasser aus, das von der Dachrinne tropft. Im
Vorbeigehen würdigt er mein Schaufenster kaum eines Blickes.
Verdammt. Und das, wo ich gerade das Gefühl hatte, das Eis
sei gebrochen. Warum kommen sie nicht? Können sie nicht
sehen, nicht riechen? Was muß ich denn noch alles tun?
Anouk, die ein feines Gespür für meine Stimmungen hat,
kommt und umarmt mich.
»Nicht weinen, Maman.«
Ich weine nicht. Ich weine nie. Ihre Haare kitzeln mich im
Gesicht, und plötzlich überkommt mich eine schreckliche Angst,
sie zu verlieren.
»Es ist nicht deine Schuld. Wir haben uns solche Mühe
gegeben. Wir haben alles richtig gemacht.«
Das stimmt. Wir haben sogar daran gedacht, die Tür mit roten
Schleifen zu schmücken und Duftkissen mit Zedernholz und
Lavendel auszulegen, um schlechte Einflüsse abzuwehren. Ich
küsse sie auf den Kopf. Mein Gesicht ist feucht. Irgend etwas,
vielleicht das bittersüße Aroma der heißen Schokolade, brennt
mir in den Augen.
»Ist schon gut, chérie. Wir dürfen uns das alles nicht zu Herzen

Page 47
nehmen. Laß uns eine Tasse Schokolade trinken, das wird uns
aufmuntern.«
Wie zwei New Yorkerinnen sitzen wir auf unseren Barhockern,
jede mit einer Tasse Schokolade vor sich. Anouk trinkt ihre mit
Sahne und Schokostreuseln; meine ist heiß und dunkel, stärker
als Espresso. Wir schließen genüßlich die Augen über dem
köstlichen Duft und sehen sie kommen – zwei, drei, in Gruppen
von einem Dutzend, ihre Gesichter beginnen zu leuchten, als sie
sich zu uns setzen, ihre harten, gleichgültigen Gesichter werden
weich und drücken Wohlwollen und Zufriedenheit aus. Ich reiße
die Augen auf, und Anouk steht bei der Tür. Einen Augenblick
lang sehe ich Pantoufle mit aufgeregt zitternden Barthaaren auf
ihrer Schulter hocken. Das Licht hinter ihr wirkt irgendwie
wärmer; verändert. Verführerisch.
Ich springe auf.
»Bitte, tu das nicht.«
Sie wirft mir einen ihrer finsteren Blicke zu.
»Ich wollte doch nur helfen –«
»Bitte.« Einen Moment lang schaut sie mich trotzig an. Der
Zauber glitzert zwischen uns wie goldener Rauch. Es könnte so
leicht sein, sagt sie mir mit ihren Augen, so leicht wie das
Streicheln unsichtbarer Finger, wie lautlose Stimmen, die die
Leute anlocken …
»Das geht nicht. Das dürfen wir nicht.« Ich versuche, es ihr zu
erklären. Es würde uns zu Außenseitern machen. Wir würden
nie dazugehören. Wenn wir hierbleiben wollen, müssen wir uns
so weit wie möglich anpassen. Pantoufle sieht mich bittend an,
ein pelziges Etwas in dem goldenen Rauch. Ich schließe die
Augen, um ihn nicht zu sehen, und als ich sie wieder öffne, ist er
verschwunden.
»Es ist in Ordnung«, sage ich in entschiedenem Ton. »Es wird
alles gut. Wir können warten.«

Page 48
Und schließlich, um halb eins, kommt jemand in den Laden.
Anouk sah ihn zuerst – »Maman!« –, aber ich war sofort auf
den Beinen. Es war Reynaud, eine Hand erhoben, um sich
gegen das Regenwasser zu schützen, das von der Markise
tropfte, die andere zögernd am Türknauf. Sein blasses Gesicht
wirkte gelassen, aber in seinen Augen lag eine Art heimliche
Befriedigung. Irgendwie spürte ich, daß er nicht als Kunde kam.
Die Glocke bimmelte, als er eintrat, doch er kam nicht an die
Theke. Statt dessen blieb er in der Tür stehen, so daß der Wind
die Falten seiner Soutane wie Rabenflügel in den Raum blies.
»Monsieur.« Ich sah, wie er die roten Schleifen mißtrauisch
beäugte. »Kann ich Ihnen helfen? Ich bin sicher, daß ich Ihre
Lieblingssorte kenne.« Automatisch sagte ich meinen Spruch
auf, aber es stimmte nicht. Ich habe keine Ahnung, welche Art
Vorlieben dieser Mann hat. Er ist für mich wie ein völlig
unbeschriebenes Blatt, wie ein dunkler Fleck in
Menschengestalt. Es gelingt mir nicht, irgendeine Verbindung
zu ihm herzustellen, und mein Lächeln brach sich an ihm wie
eine Welle an einer Klippe. Er sah mich beinahe verächtlich an.
»Wohl kaum.« Seine Stimme klang leise und angenehm, aber
unter dem professionellen Ton spürte ich tiefe Abneigung. Ich
erinnerte mich an Armande Voizins Worte – Wie ich höre, hat
unser M’sieur le Curé Sie bereits aufs Korn genommen.
Wieso? Eine instinktive Abneigung gegen Ungläubige? Oder
sollte noch mehr dahinterstecken? Hinter der Theke richtete ich
heimlich Zeige-und Mittelfinger auf ihn.
»Ich hatte nicht damit gerechnet, daß Sie heute geöffnet
haben würden.«
Jetzt, wo er uns zu kennen glaubt, ist er selbstsicherer. Sein
schmallippig lächelnder Mund erinnert mich an eine Auster –
milchig weiß am Rand und dennoch scharf wie eine
Rasierklinge.

Page 49
»Sie meinen, am Sonntag?« Ich gab mich so arglos wie
möglich. »Ich hatte auf einen Ansturm am Ende der Messe
gezählt.«
Die kleine Spitze traf ihn nicht.
»Am ersten Sonntag in der Fastenzeit?« Er versuchte,
amüsiert zu klingen, doch er konnte seinen Abscheu nicht
verhehlen. »Damit dürften Sie schwerlich rechnen. Die
Menschen in Lansquenet sind einfache Leute, Madame
Rocher«, erklärte er. »Fromme Leute.« Er betonte das Wort mit
ausgesuchter Höflichkeit.
»Mademoiselle Rocher.« Ein kleiner Sieg, aber genug, um
ihn aus dem Konzept zu bringen. »Ich bin nicht verheiratet.«
Er warf einen kurzen Blick zu Anouk hinüber, die immer noch
mit ihrer großen Tasse an der Theke saß. Ihr Mund war
rundherum mit Schokolade beschmiert, und plötzlich spürte ich
es wieder wie das Brennen einer verborgenen Nessel – die
Panik, die irrationale Angst, sie zu verlieren. Aber an wen? Mit
wachsendem Unmut schüttelte ich den Gedanken ab. An ihn?
Sollte er es ruhig versuchen.
»Selbstverständlich«, erwiderte er ruhig. »Mademoiselle
Rocher. Ich bitte um Verzeihung.«
Ich lächelte über sein Mißfallen. Irgendein perverses Bedürfnis
in mir brachte mich dazu, darauf herumzureiten; meine Stimme
wurde um eine Nuance zu laut, nahm einen vulgär-
selbstbewußten Ton an, um meine Angst zu verbergen.
»Es tut gut, hier auf dem Land jemandem zu begegnen, der
Verständnis zeigt.« Ich schenkte ihm mein strahlendstes,
unerbittlichstes Lächeln. »Ich meine, solange wir in der
Großstadt lebten, hat sich niemand darum geschert. Aber hier
…« Es gelang mir, zugleich zerknirscht und reuelos zu wirken.
»Ich meine, es ist wirklich schön hier, und die Leute haben mir
so geholfen … auf ihre eigenwillige Art. Aber wir sind hier

Page 50
schließlich nicht in Paris, nicht wahr?«
Mit dem Anflug eines sarkastischen Lächelns pflichtete
Reynaud mir bei.
»Es stimmt schon, was man sich über das Leben auf dem
Dorf erzählt«, fuhr ich fort. »Jeder ist neugierig und will alles von
einem wissen. Ich nehme an, das liegt daran, daß es hier auf
dem Land so wenig Zerstreuung gibt. Drei Läden und eine
Kirche. Ich meine …« Ich kicherte. »Aber das wissen Sie ja
alles.«
Reynaud nickte ernst.
»Vielleicht könnten Sie mir erklären, Mademoiselle …«
»Nennen Sie mich doch Vianne«, unterbrach ich ihn.
»… warum Sie sich entschlossen haben, sich in Lansquenet
niederzulassen.« Sein öliger Ton triefte vor Abscheu, seine
schmalen Lippen wirkten austernhafter denn je. »Wie Sie schon
sagten, es ist hier nicht ganz so wie in Paris.« Sein Blick ließ
keinen Zweifel daran, daß der Vergleich zum Vorteil von
Lansquenet ausfiel. »Ein Laden wie dieser …« Mit einer
gelangweilten Geste seiner feingliedrigen Hand deutete er auf
die ausgestellten Waren. »Solch ein Spezialitätengeschäft wäre
doch in einer Stadt viel erfolgreicher – und schicklicher. In
Toulouse, zum Beispiel, oder selbst in Agen …« Jetzt begriff
ich, warum am Morgen niemand gewagt hatte, den Laden zu
betreten. Schicklich – in dem Wort klang die ganze eisige
Verdammung des Fluchs des Propheten mit.
Erneut streckte ich grimmig hinter der Theke meine beiden
Finger gegen ihn aus. Reynaud schlug sich mit der flachen
Hand in den Nacken, als hätte ihn ein Insekt gestochen.
»Ich glaube nicht, daß die großen Städte das Vergnügen
gepachtet haben«, sagte ich spitz. »Jeder braucht hin und
wieder ein wenig Luxus, ein bißchen Genuß.«
Reynaud erwiderte nichts. Wahrscheinlich teilte er meine

Page 51
Meinung nicht. Ich sprach es für ihn aus.
»Ich nehme an, in Ihrer Predigt heute morgen haben Sie das
Gegenteil erklärt«, sagte ich verwegen. Dann, als er immer
noch nicht antwortete: »Aber ich denke, in diesem Dorf ist Platz
genug für uns beide. Wir haben doch freies Unternehmertum,
nicht wahr?«
An seinem Gesichtsausdruck erkannte ich, daß er die
Herausforderung verstand. Einen Moment lang starrte ich ihn
feindselig lächelnd an. Reynaud zuckte zusammen, als hätte ich
ihm ins Gesicht gespuckt.
Leise: »Selbstverständlich.«
Oh, ich kenne seine Sorte. Wir sind genug von ihnen
begegnet, meine Mutter und ich, auf unserer Flucht durch
Europa. Das immer gleiche höfliche Lächeln, die Verachtung,
die Gleichgültigkeit. Eine kleine Münze, die einer Frau in der
überfüllten Kathedrale von Reims aus der Hand fällt; strafende
Blicke von einer Gruppe Nonnen, als die kleine Vianne
herbeispringt, um sie aufzuheben, zu Boden stürzt und sich die
nackten Knie aufschürft. Ein Mann im schwarzen Habit, der
meine Mutter verärgert zur Rede stellt – während sie mit
bleichem Gesicht aus der dunklen Kirche flieht und meine Hand
so fest hält, daß es weh tut … Später erfuhr ich, daß sie
versucht hatte, bei ihm zu beichten. Was hatte sie dazu
veranlaßt? Einsamkeit vielleicht; das Bedürfnis, mit jemandem
zu reden, sich jemandem anzuvertrauen, der nicht ihr Liebhaber
war … jemandem mit einem verständnisvollen
Gesichtsausdruck. Aber konnte sie denn nicht sehen? Sein
Gesichtsausdruck, jetzt nicht mehr verständnisvoll, sondern vor
Wut verzerrt. Es sei Sünde, Todsünde … Sie solle das kleine
Mädchen zu anständigen Leuten in Obhut geben. Wenn sie die
kleine – wie hieß sie noch? Anne? – liebte, falls sie sie liebte,
müsse sie dieses Opfer unbedingt bringen. Er kenne ein

Page 52
Kloster, in dem sie gut aufgehoben wäre. Er wisse, was gut für
das Kind sei … Er nahm ihre Hand, zerquetschte ihr fast die
Finger. Liebte sie ihr Kind denn nicht? Wollte sie denn nicht
erlöst werden? Wollte sie das nicht? Nein?
In jener Nacht wiegte meine Mutter mich weinend in den
Schlaf.
Am nächsten Morgen verließen wir Reims wie die Diebe. Sie
trug mich auf dem Arm, hielt mich fest wie einen gestohlenen
Schatz, die Augen voller Angst.
Ich begriff, daß er sie um ein Haar dazu gebracht hätte, mich
zurückzulassen. Später fragte sie mich häufig, ob ich glücklich
mit ihr sei, ob ich feste Freunde vermißte, ein Zuhause … Aber
sooft ich ihr auch antworten mochte, ja, nein, nein, sooft ich sie
auch küßte und ihr beteuerte, daß ich nichts, überhaupt nichts
vermißte, ein wenig von dem Gift blieb immer zurück. Jahrelang
liefen wir vor dem Priester, dem Schwarzen Mann, davon, und
jedesmal, wenn sein Gesicht in den Karten auftauchte, war es
wieder Zeit zu fliehen, dem dunklen Abgrund aus dem Weg zu
gehen, den er in ihrem Herzen aufgerissen hatte.
Und jetzt ist er wieder da, gerade als ich geglaubt hatte,
Anouk und ich hätten endlich eine Heimat gefunden. Da steht er
in der Tür wie der Engel vor dem Tor.
Nun, diesmal werden wir nicht davonlaufen, das schwöre ich.
Was immer er tun mag. Und wenn er alle Leute im Dorf gegen
uns aufhetzt. Sein Gesicht ist so glatt und zweifelsfrei wie eine
böse Karte. Und er hat mir seine Feindschaft so deutlich erklärt
– und ich ihm meine –, als hätten wir die Worte laut
ausgesprochen.
»Ich bin so froh, daß wir uns verstehen.« Meine Stimme hell
und kalt.
»Ich auch.«
Etwas in seinen Augen, ein Funkeln, das vorher noch nicht da

Page 53
war, beunruhigt mich. Erstaunlicherweise genießt er es, zwei
Feinde, die zum Kampf bereit in die Arena treten; in seiner
absoluten Gewißheit ist nicht der geringste Raum für den
Gedanken, daß er verlieren könnte.
Er wendet sich zum Gehen, formvollendet korrekt,
verabschiedet sich mit der Andeutung eines Nickens. Einfach
so. Höfliche Verachtung. Die giftige Waffe der Rechtschaffenen.
»M’sieur le Curé!« Als er sich umdreht, drücke ich ihm die
kleine, mit einem Schleifchen versehene Tüte in die Hand. »Für
Sie. Ein Geschenk des Hauses.« Mein Lächeln duldet keinen
Widerspruch, und er starrt peinlich berührt auf das Tütchen.
»Machen Sie mir die Freude?«
Er runzelt die Stirn, als ob ihn der Gedanke, daß mir etwas
Freude bereitet, ärgert.
»Aber eigentlich mag ich keine –«
»Unsinn.« Mein Ton ist streng, bestimmt. »Ich bin sicher, Sie
werden sie mögen. Sie erinnern mich so sehr an Sie.«
Ich habe den Eindruck, daß er trotz seines ruhigen Äußeren
verblüfft ist. Und dann, nach einem weiteren höflichen Nicken,
entschwindet er, das weiße Tütchen in der Hand, in den grauen
Regen. Mir fällt auf, daß er gemessenen Schrittes über den
Platz geht, anstatt so schnell wie möglich Schutz vor dem Regen
zu suchen, nicht gleichgültig, sondern mit dem
Gesichtsausdruck eines Menschen, dem selbst diese kleine
Unannehmlichkeit willkommen ist …
Ich stelle mir vor, wie er das Konfekt ißt. Wahrscheinlich wird
er es verschenken, aber ich hoffe, daß er das Tütchen
wenigstens öffnen wird … Einen neugierigen Blick wird er sich
sicherlich erlauben dürfen.
Sie erinnern mich so sehr an Sie.
Ein Dutzend meiner besten huîtres de Saint-Mâlo, kleine
flache Pralinen in der Form von verschlossenen Austern.

Page 54
Dienstag, 18. Februar
Fünfzehn Kunden gestern. Heute vierunddreißig. Darunter
Guillaume; er kaufte eine Hundert-Gramm-Tüte Florentiner und
trank eine Tasse Schokolade. Charly war auch dabei; er hatte
sich brav unter einem der Hocker zusammengerollt und starrte
mit traurigen Augen zu Guillaume hinauf, der ihm hin und wieder
ein Stück braunen Zucker in sein unersättliches Maul stopfte.
Es brauche Zeit, erklärt mir Guillaume, bis jemand, der neu
zugezogen sei, von den Leuten in Lansquenet akzeptiert werde.
Am vergangenen Sonntag habe Reynaud eine so
leidenschaftliche Predigt zum Thema Abstinenz gehalten, daß
die Neueröffnung von La Céleste Praline wie ein offener Affront
gegen die Kirche gewirkt habe. Caroline Clairmont – die
gerade wieder eine neue Diät angefangen hat – fand
besonders schneidende Worte, als sie ihren Freundinnen in der
Gemeinde laut erklärte, es sei absolut schockierend, wie bei
den lasterhaften Römern, meine Lieben, und wenn dieses
Weibsbild glaubt, sie könnte sich hier aufführen wie die
Königin von Saba – widerlich, wie stolz sie dieses uneheliche
Kind vorführt – und die Pralinen und Trüffel? Nichts
Besonderes, meine Lieben, und viel zu teuer … Die Damen
kamen zu dem Schluß, daß »es« – was immer es sein mochte
– nicht von Dauer sein könne. In spätestens vierzehn Tagen
würde ich aus dem Dorf verschwunden sein. Und dennoch hat
sich die Zahl meiner Kunden seit gestern verdoppelt, darunter
einige von Madame Clairmonts Busenfreundinnen, die sich
gegenseitig mit leuchtenden Augen, wenn auch ein wenig
verlegen, erklärten, sie seien aus reiner Neugier gekommen,
nur um alles mit eigenen Augen zu sehen.
Ich kenne alle ihre Lieblingssorten. Es ist ein Talent, das zu

Page 55
meinem Beruf gehört wie die Fähigkeit der Wahrsagerin, aus
Händen zu lesen. Meine Mutter hätte darüber gelacht, wie ich
mein Talent vergeude, aber ich habe kein Verlangen, weiter in
das Leben der Menschen einzudringen. Ich interessiere mich
nicht für ihre Geheimnisse und ihre innersten Gedanken. Ich
möchte weder Angst erwecken, noch Dankbarkeit erfahren.
Eine zaghafte Alchimistin hätte sie mich in ihrer liebevoll-
spöttischen Art genannt, die sich auf zahme Zauberei
beschränkt, wo sie Wunder hätte wirken können. Aber ich mag
diese Menschen. Ich mag ihre kleinen, heimlichen Sorgen. Ich
lese es aus ihren Augen, sehe es an ihren Lippen – diese Frau
mit dem leicht verbitterten Zug um die Augen wird meine
würzigen Orangentrüffel mögen; diese süß lächelnde Person die
Aprikosenherzen mit dem weichen Inneren; dieses Mädchen mit
dem vom Wind zerzausten Haar liebt meine mendiants; die
lebhafte, gutgelaunte Frau die Mandelsplitter. Für Guillaume die
Florentiner, die er in seiner ordentlichen Junggesellenwohnung
mit Bedacht über einem Teller verspeisen wird. Narcisse’
Vorliebe für Mokkatrüffel verrät das weiche Herz unter der
rauhen Schale. Caroline Clairmont wird heute nacht von
Champagnertrüffeln träumen und hungrig und schlecht gelaunt
aufwachen. Und die Kinder … Schokoladenkringel, weiße,
runde Plätzchen mit bunten Zuckerstreuseln, Pfefferkuchen mit
süßem Rand, Marzipanfrüchte in Nestern aus bunter Holzwolle,
Makronen, kandierte Früchte, Knusperkekse, gemischte Sorten
Konfekt zweiter Wahl in Fünfhundert-Gramm-Schachteln … Ich
verkaufe Träume, kleine Trostspender, harmlose, süße
Versuchungen, die all die kleinen Heiligen zwischen Pralinen
und Trüffeln schwach werden lassen …
Ist das so schlimm?
Für Curé Reynaud ist es das offenbar.
»Hier, Charly. Guter Junge.« Guillaumes Stimme klingt

Page 56
liebevoll, wenn er mit seinem Hund spricht, aber auch ein
bißchen traurig. Er hat sich den Hund gekauft, nachdem sein
Vater gestorben war, erzählt er mir. Aber das Leben eines
Hundes ist kürzer als ein Menschenleben, sagt er, und die
beiden sind zusammen alt geworden.
»Hier.« Er macht mich auf eine Wucherung unter Charlys Kinn
aufmerksam. Sie ist etwa so groß wie ein Hühnerei und
zerfurcht wie Eichenrinde. »Sie wächst.« Der Hund reckt sich
genüßlich, zappelt mit einem Bein, während er sich von seinem
Herrchen den Bauch kraulen läßt. »Der Tierarzt sagt, man kann
nichts machen.«
Ich beginne zu begreifen, warum sich in seinem Blick oft Liebe
und Schuldgefühle mischen.
»Einen alten Mann würde man auch nicht einschläfern«, sagt
er ernst. »Nicht, daß er« – er ringt nach Worten –, »daß er
nichts mehr vom Leben hätte. Charly leidet nicht. Nicht richtig.«
Ich nicke. Ich weiß, er versucht, sich selbst zu überzeugen. »Die
Medikamente hemmen das Wachstum der Wucherungen.«
Vorerst. Das Wort steht unausgesprochen im Raum.
»Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich es wissen.« Trauer
und Schrecken liegen in seinem Blick. »Ich werde wissen, was
ich zu tun habe. Ich werde mich nicht fürchten.« Wortlos fülle ich
seine Tasse noch einmal auf und gebe Schokostreusel auf den
Schaum, aber Guillaume ist zu sehr mit seinem Hund
beschäftigt, um es mitzubekommen. Charly rollt sich träge auf
den Rücken.
»M’sieur le Curé sagt, Tiere hätten keine Seele«, murmelte
Guillaume. »Er sagt, ich soll Charly von seinem Leiden
erlösen.«
»Alles hat eine Seele«, erwidere ich. »Das hat meine Mutter
mir immer gesagt. Alles.«
Er nickt, allein mit seiner Angst und seinen Schuldgefühlen.

Page 57
»Was würde ich nur ohne ihn tun?« fragt er, immer noch dem
Hund zugewandt, und mir wird klar, daß er mich vergessen hat.
»Was würde ich nur ohne dich tun?« Hinter der Theke balle ich
vor Wut die Fäuste. Ich kenne diesen Blick – Angst,
Schuldgefühle, Verlangen –, ich kenne ihn gut. Es ist der Blick,
den ich auf dem Gesicht meiner Mutter gesehen habe, an dem
Abend, als der Schwarze Mann auf sie einredete. Guillaumes
Worte – Was würde ich nur ohne dich tun? – sind dieselben,
die sie während jener ganzen schrecklichen Nacht geflüstert hat.
Wenn ich abends vor dem Schlafengehen in den Spiegel
schaue, wenn ich morgens aufwache, verfolgt von der
wachsenden Angst – dem Wissen – der Gewißheit –, daß
meine Tochter mir entgleitet, daß ich sie verlieren werde, wenn
es mir nicht gelingt, ein Zuhause zu finden … Es ist der Blick,
den ich auf meinem eigenen Gesicht sehe.
Ich nehme Guillaume in den Arm. Im ersten Augenblick wird er
ganz steif, er ist es nicht gewohnt, von einer Frau berührt zu
werden. Dann entspannt er sich. Ich spüre seinen Kummer, der
in Wellen durch seinen Körper geht.
»Vianne«, sagt er leise. »Vianne.«
»Es ist in Ordnung, daß Sie solche Gefühle haben«, sage ich
bestimmt. »Es ist erlaubt.«
Charly macht sich mit eifersüchtigem Bellen bemerkbar.
Heute haben wir fast dreihundert Francs eingenommen. Zum
erstenmal genug, um die Kosten zu decken. Ich erzählte es
Anouk, als sie aus der Schule kam, aber sie war abwesend und
ungewöhnlich still. Ihre Augen wirkten traurig, so dunkel wie ein
heraufziehendes Gewitter.
Ich fragte sie, was los sei.
»Es ist wegen Jeannot«, sagte sie tonlos. »Seine Mutter hat
gesagt, er darf nicht mehr mit mir spielen.«
Ich erinnerte mich an Jeannot im Wolfskostüm beim

Page 58
Karnevalsumzug, ein schmaler, siebenjähriger Junge mit
struppigem Haar und mißtrauischem Blick. Er und Anouk haben
gestern abend zusammen auf dem Dorfplatz gespielt, sind unter
lautem Kriegsgeheul herumgerannt, bis es dunkel wurde. Seine
Mutter ist Joline Drou, eine der beiden Grundschullehrerinnen
und eine Busenfreundin von Caroline Clairmont.
»So?« Neutraler Tonfall. »Was hat sie denn gesagt?«
»Sie sagt, ich habe einen schlechten Einfluß auf ihn.« Sie warf
mir einen grimmigen Blick zu. »Weil wir nicht in die Kirche
gehen. Weil du den Laden am Sonntag aufgemacht hast.«
Du hast am Sonntag aufgemacht.
Ich schaute sie an. Ich hätte sie gern in die Arme genommen,
aber ihre steife, feindselige Haltung ließ mich zögern.
»Und was sagt Jeannot dazu?« fragte ich so ruhig wie
möglich.
»Er kann nichts machen. Sie ist immer da und paßt auf ihn
auf.« Anouks Stimme wurde schrill, und ich hatte das Gefühl,
daß sie den Tränen nahe war. »Warum passiert mir immer so
was?« fragte sie. »Warum kann ich nie …« Ihr Kinn begann zu
zittern.
»Du hast doch noch andere Freunde.« Es stimmte; gestern
abend waren vier oder fünf Kinder zusammen auf dem Dorfplatz
herumgetollt.
»Das sind Jeannots Freunde.« Ich verstand, was sie meinte.
Louis Clairmont. Lise Poitou. Seine Freunde. Ohne Jeannot
würde die Gruppe sich schon bald verlieren. Plötzlich überkam
mich ein tiefes Mitgefühl für meine Tochter, die sich mit
unsichtbaren Freunden umgab, um die Welt um sie herum zu
bevölkern. Die Vorstellung, daß eine Mutter diesen leeren Raum
würde füllen können, war ziemlich egoistisch. Egoistisch und
blind.
»Wir könnten zur Kirche gehen, wenn du willst«, schlug ich

Page 59
sanft vor. »Aber du weißt, daß es nichts ändern würde.«
Vorwurfsvoll: »Und warum nicht? Die glauben doch auch nicht
an Gott. Die gehen auch einfach nur hin.«
Ich lächelte bitter. Sechs Jahre alt, und immer wieder
überrascht sie mich mit ihrer scharfen Beobachtungsgabe.
»Das mag ja stimmen«, sagte ich. »Aber möchtest du
genauso sein?«
Ein Achselzucken, zynisch und gleichgültig. Sie trat von einem
Fuß auf den anderen, als fürchtete sie eine Strafpredigt. Ich
suchte nach Worten, um ihr die Situation zu erklären. Aber alles,
was mir einfiel, war das verzweifelte Gesicht meiner Mutter, wie
sie mich in ihren Armen wiegte und fast grimmig flüsterte: Was
würde ich nur ohne dich tun? Was würde ich tun?
Oh, ich habe ihr das alles schon vor langer Zeit erklärt. Die
Heuchelei der Kirche, die Hexenverbrennungen, die Verfolgung
von Zigeunern und Andersgläubigen. Sie versteht das alles.
Aber dieses Wissen hilft einem nicht unbedingt im Alltag, hilft
nicht, die Einsamkeit und den Verlust eines Freundes zu
ertragen.
»Es ist nicht fair.« Sie war immer noch rebellisch, wenn auch
nicht mehr ganz so feindselig.
Die Vertreibung aus dem Paradies war auch nicht fair, auch
nicht die Verbrennung der heiligen Johanna von Orleans auf
dem Scheiterhaufen und auch nicht die spanische Inquisition.
Aber ich hütete mich, es auszusprechen. Ihre Züge waren
angespannt, verbissen; ein leises Anzeichen von Schwäche,
und sie wäre auf mich losgegangen.
»Du wirst neue Freunde finden.« Eine unbefriedigende
Antwort. Anouk sah mich verächtlich an.
»Aber ich will Jeannot.« Ihre Stimme klang seltsam
erwachsen, seltsam müde, als sie sich abwandte. Tränen
quollen ihr aus den Augen, doch sie machte keine Anstalten,

Page 60
sich von mir trösten zu lassen. Und mit überwältigender Klarheit
sah ich sie plötzlich vor mir, das Kind, die Heranwachsende, die
Erwachsene, die Fremde, die sie eines Tages werden würde,
und beinahe hätte ich vor Angst und Schrecken aufgeschrien,
als wären unsere Positionen irgendwie vertauscht worden, als
sei sie mit einemmal die Erwachsene und ich das Kind.
Bitte! Was würde ich nur ohne dich tun?
Aber ich ließ sie wortlos gehen. Ich sehnte mich danach, sie in
die Arme zu nehmen, doch ich spürte die Mauer, die zwischen
uns entstanden war. Kinder werden als wilde Kreaturen
geboren, ich weiß. Ich kann nicht mehr erwarten als ein wenig
Zärtlichkeit, eine scheinbare Fügsamkeit. Doch unter der
Oberfläche bleibt die Wildheit, roh, grausam und fremd. Den
ganzen Abend lang sprach sie fast kein Wort. Als ich sie zu Bett
brachte, wollte sie keine Gutenachtgeschichte hören, aber sie
konnte stundenlang nicht einschlafen und lag immer noch wach,
als ich meine Nachttischlampe schon längst ausgeschaltet
hatte. Von meinem Bett aus hörte ich sie in ihrem Zimmer hin-
und hergehen und mit sich selbst – oder mit Pantoufle – reden,
kurze, wütend abgehackte Sätze, zu leise, um etwas zu
verstehen. Später, als ich mir sicher war, daß sie schlief, schlich
ich hinüber, um das Licht auszumachen. Sie lag
zusammengerollt am Fußende ihres Bettes, einen Arm
ausgestreckt, den Kopf auf seltsame und zugleich rührende
Weise verdreht. Mit einer Hand hielt sie eine kleine Figur aus
Knetgummi umklammert. Ich nahm sie ihr aus der Hand, als ich
sie zudeckte, und wollte sie in die Spielzeugkiste zurücklegen.
Sie war noch warm von ihrer kleinen Hand und roch
unverwechselbar nach Grundschule, nach geflüsterten
Geheimnissen, Plakafarbe und Druckerschwärze und
halbvergessenen Freunden. Sie war kaum zwanzig Zentimeter
groß, sorgfältig gearbeitet, Augen und Mund mit einem spitzen

Page 61
Gegenstand eingeritzt, um die Taille einen roten Wollfaden
gebunden und mit einem zottigen Haarschopf aus kleinen
Stöckchen oder Stroh … In den Körper der Puppe, etwa in der
Herzgegend, war ein Buchstabe eingeritzt; ein großes J.
Darunter ein großes A, das sich mit dem J überschnitt.
Ich legte die Puppe vorsichtig neben sie auf das Kopfkissen,
schaltete das Licht aus und ging zurück in mein Zimmer.
Irgendwann kurz vor dem Morgengrauen kam sie in mein Bett
gekrochen, so wie sie es früher oft getan hatte, als sie noch
kleiner war, und im Halbschlaf hörte ich sie flüstern: »Ist schon
gut, Maman, ich bleibe doch immer bei dir.«
Sie duftete nach Salz und Babyseife, als sie sich im Dunkeln
an mich kuschelte. Ich wiegte sie, wiegte mich selbst, hielt uns
beide so fest in den Armen, daß es beinahe schmerzte.
»Ich hab dich lieb, Maman. Ich will dich immer und ewig
liebhaben. Nicht weinen.«
Ich weinte nicht. Ich weine nie.
Ich schlief schlecht, von unruhigen Träumen geplagt; wachte
mit der Dämmerung auf, Anouks Arm über meinem Gesicht,
und plötzlich überkam mich eine solche Panik, daß ich nur noch
wegrennen wollte, Anouk auf den Arm nehmen und weit weg
fliehen … Wie sollten wir hier leben? Wie konnte ich nur so naiv
sein anzunehmen, daß er uns hier nicht finden würde? Der
Schwarze Mann hat viele Gesichter; sie sind alle gnadenlos,
hart und seltsam neidisch … Lauf, Vianne, lauf. Lauf, Anouk.
Vergiß deinen kleinen süßen Traum und lauf …
Aber diesmal nicht. Wir sind schon viel zu weit gelaufen.
Anouk und ich, Mutter und ich, haben uns viel zu weit von uns
selbst entfernt.
An diesem Traum werde ich festhalten.
Mittwoch, 19. Februar
Mittwoch ist unser Ruhetag. Heute ist schulfrei, und während

Page 62
Anouk in Les Marauds spielt, warte ich auf den Lieferwagen
und stelle neues Konfekt für die kommende Woche her.
Diese Kunst kann ich genießen. Kochen ist eine Art Hexerei;
das Auswählen der Zutaten, der Prozeß des Anrührens, das
Zerkleinern, Schmelzen, Ziehenlassen und Abschmecken, die
alten Rezepte, die vertrauten Werkzeuge – der Stößel und der
Mörser, von meiner Mutter benutzt, um die Duftstoffe für ihre
Räucherstäbchen zu zermahlen, wird zu einem profaneren
Zweck eingesetzt, ihre Gewürze und Aromen dienen einem
sinnlicheren Zauber. Zum Teil ist es die Flüchtigkeit, die mir
besonderes Vergnügen bereitet; so viel liebevolle Arbeit, so viel
Kunstfertigkeit und Erfahrung für einen Genuß, der nur einen
Augenblick lang währt, und den nur wenige wirklich zu schätzen
wissen. Meine Mutter hat meine Leidenschaft immer mit
liebevoller Herablassung verfolgt. Essen war für sie kein
Vergnügen, sondern eine lästige Notwendigkeit, eine Art Steuer
auf den Preis für unsere Freiheit. Ich stahl Speisekarten aus
Restaurants und starrte sehnsüchtig in die Schaufenster von
Konditoreien. Ich muß etwa zehn Jahre alt gewesen sein –
vielleicht auch älter –, als ich zum erstenmal echte Schokolade
gekostet habe. Aber die Faszination ist geblieben. Ich bewahrte
Rezepte in meinem Gedächtnis auf wie Landkarten. Alle
möglichen Rezepte; Rezepte, die ich aus in Bahnhöfen
liegengelassenen Zeitschriften gerissen hatte, die ich Fremden
entlockt hatte, denen wir unterwegs begegnet waren, eigene
Kreationen. Mit Hilfe ihrer Karten und Wahrsagereien
bestimmte meine Mutter unseren Kurs kreuz und quer durch
Europa. Meine Kochkarten markierten unseren Weg, sie waren
die Meilensteine auf der trostlosen Landkarte. Paris duftet nach
frischgebackenem Brot und Croissants, Marseille nach
Bouillabaisse und geröstetem Knoblauch. Berlin war Eisbein
mit Sauerkraut und Kartoffelsalat, Rom war das Eis, das ich in

Page 63
dem winzigen Restaurant am Flußufer geschenkt bekam. Meine
Mutter hatte keine Zeit, Meilensteine zu setzen. All ihre
Landkarten waren in ihrem Kopf, für sie war jeder Ort wie der
andere. Schon damals waren wir verschieden. Oh, sie hat mir
alles beigebracht, was sie konnte. Wie man zum Kern der
Dinge vordringt, wie man Menschen durchschaut, ihre
Gedanken und Sehnsüchte errät. Der Autofahrer, der anhielt
und uns mitnahm, einen Umweg von zehn Kilometern in Kauf
nahm, um uns nach Lyon zu bringen; die Ladenbesitzer, die kein
Geld von uns nehmen wollten; der Polizist, der ein Auge
zudrückte. Natürlich klappte es nicht jedesmal. Manchmal
funktionierte es nicht, ohne daß wir verstanden, warum. Manche
Menschen sind undurchschaubar, unerreichbar. Francis
Reynaud ist einer von ihnen. Aber auch wenn es hin und wieder
nicht gelang, hat mich dieses Eindringen in das Leben anderer
immer irritiert. Es war einfach zu leicht. Aber Schokolade
herzustellen ist etwas ganz anderes. Oh, es erfordert einiges
Geschick. Eine gewisse Fingerfertigkeit, eine Geduld, die
meine Mutter nie hatte. Aber das Rezept bleibt immer gleich. Es
ist sicher. Harmlos. Ich brauche nicht in ihre Herzen zu schauen,
um zu bekommen, was ich brauche; ich kann ihre Wünsche
erfüllen, weil sie mich darum bitten.
Guy, mein Lieferant, kennt mich schon lange. Wir arbeiteten
zusammen, als Anouk geboren wurde, und er hat mir geholfen,
meinen ersten Laden zu eröffnen, eine winzige Pâtisserie-
Chocolaterie am Stadtrand von Nizza. Jetzt ist er in Marseille
ansässig, wo er die Kakaobutter direkt aus Südamerika
importiert und in seiner Fabrik zu verschiedenen Sorten
Schokolade verarbeitet. Ich verwende nur die beste. Die Blocks
sind etwas größer als die Haushaltspackungen
Blockschokolade und Kuvertüre, die man im Supermarkt kaufen
kann. Bei jeder Lieferung ist ein Karton von jeder Sorte dabei:

Page 64
Zartbitter, Vollmilch und weiße Schokolade. Man muß sie
erhitzen, damit sie die richtige Konsistenz erhält, und sie ganz
vorsichtig abkühlen lassen, damit sie hart und glatt und glänzend
wird. Manche Konditoren kaufen ihre Schokolade fertig
gehärtet, aber ich mache das lieber selbst. Es ist ein
unglaublicher Genuß, die rohen, matten Blocks Kuvertüre zu
verarbeiten, sie per Hand in große Keramikkasserollen zu
raffeln – ich benutze niemals eine elektrische Reibe –, sie zu
schmelzen, zu rühren, jeden komplizierten Schritt mit einem
Zuckerthermometer zu überwachen, bis genau die richtige
Temperatur erreicht ist, die nötig ist, um den gewünschten
Geschmack zu erzielen.
Es ist ein alchemistisches Vergnügen, die matte Kuvertüre in
das Narrengold zu verwandeln, eine Art laienhafter Zauber, der
meiner Mutter gefallen hätte. Bei der Arbeit denke ich an nichts,
atme tief und ruhig. Die Fenster stehen offen, doch die Hitze der
Öfen, die kupfernen Kasserollen, aus denen der Dampf der
schmelzenden Schokolade aufsteigt, halten mich warm. Das
Duftgemisch aus Kakao, Vanille, heißem Kupfer und Zimt ist
sinnlich und berauschend; es erinnert an den schwülen, erdigen
Geruch in den süd-und mittelamerikanischen Regenwäldern.
Dies ist heute meine Art zu reisen, nach Art der Azteken mit
ihren heiligen Ritualen; Mexiko, Venezuela, Kolumbien. Der Hof
von Montezuma. Cortez und Kolumbus. Die Speisen der Götter
sieden und blubbern in geweihten Kelchen. Das bittere Elixir
des Lebens.
Vielleicht ist es das, was Reynaud instinktiv spürt; einen
Rückfall in Zeiten, als die Welt noch weiter und wilder war. Vor
Christus – bevor Adonis in Bethlehem geboren wurde oder
Osiris zu Ostern geopfert wurde – wurde die Kakaobohne als
heilig verehrt. Man schrieb ihr magische Kräfte zu. Ein aus den
Bohnen hergestelltes Gebräu wurde auf den Stufen von heiligen

Page 65
Tempeln geschlürft und versetzte diejenigen, die es tranken, in
einen ekstatischen Rauschzustand. Ist es das, was er fürchtet?
Vergnügen, das ins Verderben führt, die allmähliche
Verwandlung des Fleisches in ein Instrument der
Ausschweifung? Die Orgien der aztekischen Priesterkaste sind
nichts für ihn. Doch in den Dämpfen der schmelzenden
Schokolade beginnt etwas Gestalt anzunehmen – eine Vision,
hätte meine Mutter gesagt –, ein aus Dampf geformter Finger,
der auf etwas deutet …
Da. Einen Augenblick lang glaubte ich es zu erkennen. Über
der glänzenden Oberfläche kräuselt sich der Dampf. Dann noch
einmal, ein bleicher Hauch, halb verdeckend, halb enthüllend …
Einen Moment lang konnte ich die Antwort beinahe erkennen,
das Geheimnis, das er – sogar vor sich selbst – so ängstlich
verbirgt, den Schlüssel, der ihn – und uns alle – in Bewegung
setzen wird.
Schokolade als Orakel zu benutzen ist eine schwierige
Angelegenheit. Die Visionen sind verschwommen, verschleiert
durch die aufsteigenden Dämpfe und Düfte, die den Verstand
benebeln. Und ich bin nicht meine Mutter, die bis zu dem Tag,
an dem sie starb, wahrsagerische Fähigkeiten besaß, die so
stark waren, daß wir von Entsetzen gepackt vor ihnen
davonliefen. Doch bevor die Vision sich auflöst, bin ich sicher,
etwas zu erkennen – ein Zimmer, ein Bett, einen alten Mann, der
in dem Bett liegt, die Augen tief in den Höhlen seines bleichen
Gesichts … Und Feuer. Feuer.
Ist es das, was ich hatte sehen sollen?
Ist das das Geheimnis des Schwarzen Mannes?
Ich muß sein Geheimnis herausfinden, wenn wir hierbleiben
wollen. Und ich muß bleiben. Was immer es mich kosten mag.
Mittwoch, 19. Februar
Eine Woche, mon père. Mehr nicht. Eine Woche. Aber es

Page 66
kommt mir länger vor. Ich begreife nicht, warum sie mich so
irritiert; mir ist klar, was sie ist. Neulich bin ich bei ihr gewesen,
um mit ihr über die sonntäglichen Öffnungszeiten zu reden. Der
Laden ist wie verwandelt; es duftet verwirrend nach Ingwer und
anderen Gewürzen. Ich habe versucht, nicht zu den Regalen
hinzusehen, auf denen die Süßigkeiten ausgestellt sind;
Schachteln, Schleifen in Pastelltönen, kandierte Mandeln mit
Puderzucker bestäubt, Veilchenpastillen und Rosenblätter aus
Schokolade. Der Laden hat etwas von einem Boudoir, etwas
Intimes, er suggeriert eine Art Selbstvergessenheit mit seinem
Duft nach Rosen und Vanille. Er erinnert mich an das Zimmer
meiner Mutter; all die Schleifen, all der Brokat und das
Kristallglas, das in dem gedämpften Licht funkelte, all die
Fläschchen und Tiegel auf ihrer Frisierkommode, wie eine
Armee von Flaschengeistern, die darauf warteten, losgelassen
zu werden. Soviel Süße auf einmal hat etwas Ungesundes. Eine
halberfüllte Verheißung des verbotenen Genusses. Ich versuche,
nicht hinzusehen, den Duft nicht zu riechen.
Immerhin hat sie mich freundlich empfangen. Diesmal habe
ich sie deutlicher gesehen; langes, schwarzes Haar, zu einem
Knoten geschlungen, Augen so dunkel, daß sie keine Pupillen
zu haben scheinen. Ihre Brauen sind vollkommen gerade, was
ihr eine gewissen Strenge verleiht, die jedoch von den spöttisch
geschwungenen Lippen Lügen gestraft wird. Breite, kräftige
Hände; kurzgeschnittene Fingernägel. Obwohl sie sich nicht
schminkt, hat ihr Gesicht etwas Unziemliches. Vielleicht es ist
die direkte Art, mit der sie einen ansieht, wie ihre Augen
forschend verweilen, der ironische Zug um ihre Mundwinkel.
Und sie ist groß, zu groß für eine Frau, etwa so groß wie ich.
Sie starrt mir geradewegs in die Augen, mit aufrechter Haltung
und trotzig vorgerecktem Kinn. Sie trägt einen langen, weiten,
flammenfarbenen Rock und einen engen schwarzen Pullover.

Page 67
Diese Farbzusammenstellung signalisiert Gefahr, wie bei einer
Schlange oder einem giftigen Insekt, eine Warnung an alle
Feinde.
Sie ist meine Feindin. Ich habe es vom ersten Augenblick an
gefühlt. Ich spüre ihre Feindseligkeit und ihr Mißtrauen, obwohl
sie die ganze Zeit mit ruhiger, freundlicher Stimme spricht. Ich
habe das Gefühl, daß sie auf mich lauert, um mich in
Versuchung zu führen, daß sie irgendein Geheimnis kennt, das
selbst ich … Aber das ist Unsinn. Was kann sie schon wissen?
Was kann sie schon tun? Sie stört lediglich meinen
Ordnungssinn, so wie es einen Gärtner stören würde, wenn er
Pusteblumen in seinem Garten entdecken würde. Der Same
der Zwietracht ist überall, Vater, und er verbreitet sich
unaufhaltsam.
Ich weiß. Ich übertreibe. Aber wir müssen immer wachsam
sein, Sie und ich. Denken Sie nur an Les Marauds, wie wir die
Zigeuner vom Ufer des Tannes vertrieben haben. Wissen Sie
noch, wie lange es gedauert hat, wie viele vergebliche
Beschwerden wir eingereicht haben, bis wir die Sache
schließlich selbst in die Hand genommen haben? Erinnern Sie
sich noch an meine leidenschaftlichen Predigten? Eine Tür nach
der anderen wurde ihnen verschlossen. Einige der
Ladenbesitzer haben sofort mit uns am selben Strang gezogen.
Sie wußten noch, wie es beim letztenmal war, als die Zigeuner
da waren, sie erinnerten sich an die Krankheiten, an die
Diebstähle und die Hurerei. Sie waren auf unserer Seite. Aber
ich weiß noch, daß wir Narcisse gehörig unter Druck setzen
mußten, der ihnen, was mal wieder typisch für ihn war, im
Sommer Arbeit auf seinen Feldern angeboten hatte. Aber am
Ende haben wir sie alle verjagt, die düster dreinblickenden
Männer und ihre frechen Schlampen, ihre unverschämten,
barfüßigen Kinder, ihre räudigen Hunde. Schließlich sind sie

Page 68
alle abgezogen, und Freiwillige aus dem Dorf haben den Unrat
beseitigt, den sie hinterlassen hatten. Ein einziges Samenkorn,
mon père, würde ausreichen, um sie zurückzubringen. Das
wissen Sie so gut wie ich. Und wenn sie dieses Samenkorn ist

Gestern habe ich mit Joline Drou gesprochen. Anouk Rocher
geht jetzt in die Grundschule. Ein vorlautes Kind, schwarzes
Haar, wie die Mutter, und ein breites, freches Grinsen. Offenbar
hat Joline ihren Sohn Jean erwischt, wie er mit ihr auf dem
Schulhof irgendein Spiel spielte. Etwas Verderbliches, nehme
ich an, Wahrsagerei oder so ein Unsinn, Knochen und Perlen
auf dem Boden ausgebreitet … Ich habe Ihnen ja gesagt, daß
ich diese Sorte kenne. Joline hat Jean verboten, noch einmal
mit ihr zu spielen, aber der Junge hat eine halsstarrige Ader und
schmollt seitdem. In diesem Alter kann man ihnen nur mit
strengster Disziplinierung beikommen. Ich habe angeboten,
selbst einmal mit dem Jungen zu reden, aber die Mutter wollte
nichts davon wissen. So sind sie, mon père. Schwach.
Schwach. Ich frage mich, wie viele von ihnen bereits ihr
Fastengelübde gebrochen haben. Ich frage mich, wie viele von
ihnen jemals vorhatten, es einzuhalten. Ich selbst spüre, daß das
Fasten mich läutert. Allein der Anblick der Auslagen im
Schaufenster des Fleischers stößt mich ab; ich nehme jede Art
von Geruch mit einer solchen Intensität wahr, daß mir
schwindelt. Plötzlich kann ich den Duft, der jeden Morgen aus
Poitous Bäckerei dringt, nicht mehr ertragen; der Geruch von
heißem Fett aus der rôtisserie an der Place des Beaux-Arts
kommt mir vor wie Gestank aus der Hölle. Seit über einer
Woche habe ich weder Fleisch noch Fisch noch Eier angerührt
und mich nur von Brot, Suppe und Salat ernährt, dazu ein
einziges Glas Wein am Sonntag, und ich bin geläutert, Vater,
geläutert … Ich wünschte nur, ich könnte noch mehr tun. Das ist

Page 69
kein Leiden. Das ist keine Buße. Manchmal denke ich, wenn ich
ihnen nur das rechte Beispiel sein könnte, wenn ich es sein
könnte, der blutend und leidend am Kreuz hängt … Diese Hexe
Voizin macht sich über mich lustig, wenn sie mit ihrem Korb
voller Einkäufe an mir vorbeigeht. Als einzige aus dieser
Familie braver Kirchgänger verabscheut sie die Kirche, grinst
mich an, wenn sie an mir vorbeihumpelt, ihren Strohhut mit
einem roten Tuch festgebunden, und mit ihrem Stock auf das
Kopfsteinpflaster klopft … Nur wegen ihres Alters, mon père,
und weil die Familie mich darum bittet, lasse ich sie unbehelligt.
Stur verweigert sie jede ärztliche Behandlung und jeden
geistlichen Beistand. Wahrscheinlich glaubt sie, sie würde ewig
leben. Aber eines Tages wird sie zusammenbrechen. Das tun
sie alle. Und ich werde ihr demütig die Absolution erteilen; trotz
all ihrer Verfehlungen, ihres Stolzes und ihrer Halsstarrigkeit
werde ich um sie trauern. Am Ende kriege ich sie, mon père.
Am Ende werde ich sie alle kriegen, nicht wahr?
Donnerstag, 20. Februar
Ich hatte sie erwartet. Karierter Mantel, das Haar streng und
unvorteilhaft aus dem Gesicht frisiert, die Hände nervös wie die
eines Revolverhelden. Joséphine Muscat. Sie wartete, bis
meine Stammkunden – Guillaume, Georges und Narcisse –
gegangen waren, dann kam sie herein, die Hände tief in den
Manteltaschen.
»Eine Tasse Schokolade, bitte.« Sie setzte sich unbeholfen
auf einen Hocker und starrte in die leeren Tassen, die ich noch
nicht weggeräumt hatte.
»Selbstverständlich.« Ohne mich zu erkundigen, wie sie sie
wünschte, brachte ich ihr die Schokolade mit Sahne und
Streuseln garniert und dazu zwei Mokkatrüffel. Einen Augenblick
lang betrachtete sie die Tasse mit zusammengekniffenen

Page 70
Augen, dann griff sie vorsichtig danach.
»Neulich«, sagte sie mit gezwungener Beiläufigkeit, »habe ich
etwas zu bezahlen vergessen.«
Sie hat lange, schmale Finger, an denen die Schwielen wie
ein Widerspruch wirken. Jetzt, wo sie entspannt ist, scheint ihr
Gesicht etwas von dem gequälten Ausdruck zu verlieren,
bekommt etwas Anziehendes. Ihr Haar ist dunkelblond, ihre
Augen sind bernsteinfarben. »Es tut mir leid.« Mit einer fast
trotzigen Geste warf sie das Zehn-Franc-Stück auf die Theke.
Wie automatisch ballten ihre Hände sich zu Fäusten, die
Daumen bohrten sich in ihr Brustbein, dieselbe Geste, die ich
schon einmal beobachtet hatte.
»Ist schon in Ordnung.« Ich bemühte mich, beiläufig und
uninteressiert zu klingen. »So etwas kommt immer mal vor.«
Einen Augenblick lang schaute Joséphine mich mißtrauisch an,
dann, als sie keine Feindseligkeit spürte, entspannte sie sich
ein wenig. »Die schmeckt gut.« Sie nippte an ihrer Schokolade.
»Wirklich gut.«
»Ich mache sie selbst«, erklärte ich. »Aus Kakaobutter, bevor
das Fett hinzugefügt wird, um die Schokolade zu härten. So
haben die Azteken sie schon vor Jahrhunderten getrunken.«
Wieder ein kurzer, mißtrauischer Blick.
»Vielen Dank für Ihr Geschenk«, sagte sie schließlich.
»Schokomandeln. Meine Lieblingssorte.« Und dann sprudeln
die Worte hastig aus ihr heraus: »Ich habe es nicht mit Absicht
mitgenommen. Sie haben bestimmt über mich geredet, ich
weiß es genau. Aber ich stehle nicht. Das behaupten die
immer« – ihr Ton wird verächtlich, die Mundwinkel verziehen
sich vor Abscheu und Selbsthaß –, »dieses Weibsbild
Clairmont und ihre Freundinnen. Lügnerinnen.«
Sie schaute mich herausfordernd an.
»Ich habe gehört, Sie gehen nicht zur Kirche.« Ihre Stimme

Page 71
klang gereizt, zu laut für den kleinen Raum, in dem nur wir beide
uns befanden.
Ich lächelte. »Stimmt. Ich gehe nicht zur Kirche.«
»Sie werden hier nicht lange überleben, wenn Sie nicht
gehen«, sagte Joséphine mit derselben hohen, schneidenden
Stimme. »Die werden Sie genauso vertreiben, wie sie jeden
vertreiben, der ihnen nicht in den Kram paßt. Sie werden es ja
sehen. All das hier« – eine eher angedeutete, kurze Geste, um
auf die Regale, die Schachteln, die Auslagen im Fenster
hinzuweisen – »wird Ihnen nichts nützen. Ich habe sie reden
hören. Ich habe gehört, was sie über Sie sagen.«
»Ich auch.« Ich goß mir aus der silbernen Kanne eine Tasse
Schokolade ein. Dunkel und stark wie Espresso, mit einem
Löffel aus Schokolade zum Umrühren. Dann sagte ich sanft:
»Aber ich brauche ja nicht hinzuhören.« Ich nippte an meiner
Schokolade. »Und Sie auch nicht.«
Joséphine lachte.
Wir schwiegen. Fünf Sekunden. Zehn.
»Sie behaupten, Sie seien eine Hexe.« Schon wieder dieses
Wort. Herausfordernd hob sie den Kopf. »Sind Sie eine Hexe?«
Ich zuckte die Achseln, trank noch einen Schluck.
»Wer behauptet das?«
»Joline Drou. Caroline Clairmont. Die Betschwestern von
Curé Reynaud. Ich hab sie vor der Kirche reden hören. Ihre
Tochter hat den anderen Kindern was erzählt. Irgendwas von
Geistern.« Neugier lag in ihrer Stimme und eine unterschwellige
Feindseligkeit, die ich nicht verstand.
»Geister!« rief sie lachend.
Ich starrte auf die dünne, gewundene Tropfenspur, die vom
gelben Rand meiner Tasse herunterlief.
»Ich dachte, Sie würden nicht darauf hören, was diese Leute
sagen«, bemerkte ich.

Page 72
»Ich bin nur neugierig.« Wieder dieser trotzig-herausfordernde
Blick, als hätte sie Angst, gemocht zu werden. »Und Sie haben
sich neulich mit Armande unterhalten. Niemand redet mit
Armande. Außer mir.«
Armande Voizin. Die alte Frau, die in Les Marauds wohnt.
»Ich mag sie«, erwiderte ich. »Warum sollte ich nicht mit ihr
reden?«
Joséphine ballte die Fäuste. Sie wirkte erregt; ihre Stimme
klang plötzlich brüchig wie gesprungenes Glas. »Weil sie
verrückt ist, darum!« Zur Unterstreichung ihrer Worte tippte sie
sich mit dem Finger an die Schläfe. »Verrückt, verrückt,
verrückt.« Dann fuhr sie beinahe flüsternd fort: »Ich will Ihnen
mal was sagen. Durch Lansquenet verläuft eine Grenze« – sie
demonstrierte es auf der Theke mit einem schwieligen Finger –,
»und wenn man die überschreitet, wenn man nicht zur Beichte
geht, wenn man seinen Ehemann nicht achtet, wenn man ihm
nicht täglich drei Mahlzeiten kocht und am Kamin sitzt und sich
fromme Gedanken macht, bis er abends nach Hause kommt,
wenn man keine Kinder bekommt – und wenn man zur
Beerdigung seiner Freunde keine Blumen mitbringt, wenn man
nicht staubsaugt oder die Blumenbeete nicht jätet! …« Ihr
Gesicht war vor Anstrengung rot angelaufen. Sie war außer sich
vor Wut. »Dann ist man verrückt!« stieß sie hervor. »Dann ist
man nicht normal und die Leute reden hinterm Rücken über
einen und – und – und –«
Sie brach ab, und der gequälte Ausdruck verschwand von
ihrem Gesicht. Ich bemerkte, daß sie an mir vorbei aus dem
Fenster starrte, doch wegen der Spiegelung in der
Fensterscheibe konnte ich nicht erkennen, was sie sah. Es war,
als wäre eine Jalousie vor ihrem Gesicht heruntergelassen
worden, ihr Blick war leer und hoffnungslos.
»Tut mir leid. Ich hab mich ein bißchen gehenlassen.« Sie

Page 73
trank den letzten Schluck Schokolade. »Ich sollte überhaupt
nicht mit Ihnen reden. Und Sie nicht mit mir. Es ist alles so
schon schlimm genug.«
»Hat Armande das gesagt?« fragte ich freundlich.
»Ich muß gehen.« Ihre Daumen bohrten sich wieder in ihr
Brustbein, diese selbstanklagende Geste, die so
charakteristisch für sie zu sein schien. »Ich muß gehen.« Der
gequälte Blick war wieder da, sie öffnete den Mund mit
angstvoll nach unten gezogenen Mundwinkeln, so daß sie
beinahe debil wirkte … Doch die wütende Frau, die noch einen
Augenblick zuvor zu mir gesprochen hatte, war weit davon
entfernt, debil zu sein. Was – wen – hatte sie gesehen, was
hatte diese Reaktion ausgelöst? Als sie den Laden verließ, den
Kopf gesenkt, wie um sich vor einem Schneesturm zu schützen,
trat ich ans Fenster, um ihr nachzusehen. Niemand sprach sie
an. Niemand schien in ihre Richtung zu schauen. In diesem
Augenblick bemerkte ich Reynaud, der vor dem Kirchenportal
stand. Reynaud und ein Mann mit Halbglatze, den ich nicht
kannte. Beide starrten zum Schaufenster von La Praline
herüber.
Reynaud? Sollte er die Ursache ihrer Ängste sein? Ich spürte
Ärger in mir aufsteigen bei dem Gedanken, daß er derjenige
gewesen sein könnte, der Joséphine vor mir gewarnt hatte. Und
dennoch hatte sie verächtlich gewirkt, als sie von ihm sprach,
nicht ängstlich. Der zweite Mann war klein und massig; karierte
Hemdsärmel über geröteten Unterarmen hochgekrempelt, eine
kleine Intellektuellenbrille, die in dem fleischigen Gesicht
seltsam fehl am Platze wirkte. Er strahlte eine unbestimmte
Feindseligkeit aus, sein Blick war böse und mißtrauisch, und
endlich wußte ich, daß ich ihn schon einmal gesehen hatte. Mit
weißem Bart und rotem Mantel hatte er Süßigkeiten in die
Menge geworfen. Beim Karnevalsumzug. Der Nikolaus, der die

Page 74
Bonbons so wütend in die Menge warf, als hoffte er, ein Auge zu
treffen. In diesem Moment traten ein paar Kinder an das
Schaufenster, so daß ich ihn nicht mehr sehen konnte, aber nun
glaubte ich zu wissen, warum Joséphine so hastig die Flucht
ergriffen hatte.
»Lucie, siehst du den Mann da drüben? Den in dem karierten
Hemd? Wer ist das?«
Lucie verzieht das Gesicht. Weiße Schokoladenmäuse sind
ihre Schwäche; fünf für zehn Francs. Ich stecke ein paar mehr in
die Papiertüte.
»Du kennst ihn doch sicher, nicht wahr?«
Sie nickt.
»Monsieur Muscat. Aus dem café.« Ich kenne es; ein düsteres
kleines Lokal am Ende der Avenue des Francs Bourgeois. Ein
halbes Dutzend Metalltische vor dem Haus, ein verschossener
Orangina-Sonnenschirm. Ein uraltes Schild über dem Eingang:
Café de la République. Die Kleine nimmt ihre Tüte, wendet
sich zum Gehen, zögert, dreht sich noch einmal um. »Seine
Lieblingssorte kriegen Sie nie raus«, sagt sie. »Er hat nämlich
keine.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, erwidere ich lächelnd.
»Jeder hat eine Lieblingssorte. Sogar Monsieur Muscat.«
Lucie überlegt.
»Vielleicht ist seine Lieblingssorte die, die er anderen Leuten
wegnimmt«, sagt sie. Und schon ist sie aus der Tür und winkt
noch einmal zum Abschied durch das Schaufenster.
»Sag Anouk, wir gehen nach der Schule nach Les Marauds!«
»Mach ich.« Les Marauds. Ich frage mich, was sie dort so
interessant finden. Der Fluß mit seinen braunen, stinkenden
Ufern. Die engen Gassen voller Unrat. Eine Oase für Kinder.
Höhlen, kleine, flache Steine, die man über das Wasser hüpfen
lassen kann. Geflüsterte Geheimnisse, Schwerter aus Stöcken

Page 75
und Schilde aus Rhabarberblättern. Kriegsspiele zwischen
dornigen Brombeerranken, Tunnel, Entdecker, streunende
Hunde, Gerüchte, erbeutete Schätze … Gestern kam Anouk
fröhlich und aufgekratzt aus der Schule und zeigte mir ein Bild,
das sie gemalt hatte.
»Das bin ich.« Eine Gestalt in einer roten Latzhose mit wild
hingekritzeltem schwarzem Haar. »Pantoufle.« Das Kaninchen
sitzt auf ihrer Schulter wie ein Papagei, die Ohren aufgestellt.
»Und Jeannot.« Ein Junge in Grün mit ausgestreckter Hand.
Beide Kinder lächeln. Mütter – auch Lehrerinnen, die Mütter
sind –, scheinen in Les Marauds nicht erwünscht zu sein. Die
Knetgummipuppe sitzt noch immer neben Anouks Bett, und das
Bild hat sie darüber an die Wand geheftet.
»Pantoufle hat mir gesagt, was ich tun soll.« Sie hebt ihn auf
und hält ihn lässig im Arm. In diesem Licht kann ich ihn deutlich
erkennen, er sieht aus wie ein Kind mit Schnurrhaaren.
Manchmal sage ich mir, ich sollte ihr dieses Phantasieren
abgewöhnen, doch ich bringe es nicht übers Herz, ihr soviel
Einsamkeit zuzumuten. Wenn wir hier bleiben, wird Pantoufle
vielleicht eines Tages wirklicheren Spielkameraden weichen.
»Ich freue mich, daß ihr doch Freunde geblieben seid«, sagte
ich zu ihr und küßte ihren Lockenkopf. »Frag Jeannot, ob er Lust
hat, demnächst mit herzukommen und uns beim Ausräumen des
Schaufensters zu helfen. Du kannst auch noch mehr Freunde
mitbringen.«
»Das Lebkuchenhaus?« Ihre Augen leuchteten wie
Sonnenlicht auf dem Wasser. »Au ja!« Dann rannte sie
ausgelassen los, stieß beinahe einen Hocker um, wich mit
einem riesigen Satz einem Phantasiehindernis aus und dann
ging’s die Treppe hinauf, drei Stufen auf einmal nehmend. »Um
die Wette, Pantoufle!« Ein Krachen, als die Tür gegen die
Wand flog – bumm-bumm! Eine Welle der Liebe zu ihr, die

Page 76
mich plötzlich und unerwartet überwältigt, wie immer. Meine
kleine Fremde. Immer sprudelnd, immer in Bewegung.
Während ich mir noch eine Tasse Schokolade einschenkte,
hörte ich die Türglocke läuten und drehte mich um. Eine
Sekunde lang sah ich sein Gesicht unverstellt, den taxierenden
Blick, das vorgereckte Kinn, die gestrafften Schultern, die
blauen Venen auf seinen glänzenden Unterarmen. Dann lächelte
er, ein dünnes Lächeln ohne Wärme.
»Monsieur Muscat, richtig?« Ich fragte mich, was er wollte. Er
wirkte fehl am Platze, beäugte die Auslagen mit gesenktem
Kopf. Er sah mich an, schaute mir aber nicht ins Gesicht,
sondern ließ seinen Blick kurz zu meinen Brüsten wandern;
einmal; noch einmal.
»Was wollte sie?« Er sprach leise, mit starkem Akzent.
Ungläubig den Kopf schüttelnd, fuhr er fort: »Was zum Teufel hat
sie in einem solchen Laden zu suchen?« Er deutete auf ein
Tablett mit Schokomandeln zu fünfzig Francs die Tüte.
»Wahrscheinlich so was, wie?« Er breitete die Hände aus.
»Hochzeiten und Taufen. Was will sie mit Zeug, das man zu
Hochzeiten und Taufen verschenkt?« Dann lächelte er wieder
dieses verblüffte, fragende Lächeln, doch seine rotunterlaufenen
Augen funkelten eiskalt. »Sagen Sie’s mir.« Und dann
schmeichelnd, ein vergeblicher Versuch, charmant zu wirken.
»Was hat sie gekauft?«
»Ich nehme an, Sie meinen Joséphine.«
»Meine Frau.« Er sprach die Worte mit einem seltsamen
Unterton aus, mit einer Art kategorischer Endgültigkeit. »So
sind die Weiber. Man arbeitet sich halb tot, um das Geld
ranzuschaffen, und was machen sie? Werfen es aus dem
Fenster für …« Er deutete erneut auf die Regale voller Pralinen,
Trüffel, Marzipanfrüchte, Silberpapier, Seidenblumen. »Was war
es, ein Geschenk?« Mißtrauen lag in seiner Stimme. »Für wen

Page 77
kauft sie Geschenke? Für sich selbst?« Er lachte kurz auf, als
sei allein der Gedanke absurd.
Ich wußte nicht, was ihn das anging. Aber in seiner Art lag
etwas Aggressives, sein Blick und seine Gesten waren so
nervös, daß ich beschloß, mich vorzusehen. Nicht meinetwegen
– ich hatte in den Jahren mit meiner Mutter gelernt, auf mich
aufzupassen –, sondern ihretwegen. Bevor ich mich dagegen
wehren konnte, sah ich ein Bild vor mir; ein blutiger Knöchel,
aus Rauch geformt. Ich ballte die Fäuste hinter Theke. Dieser
Mann hatte nichts, was ich sehen wollte.
»Ich glaube, Sie haben da etwas mißverstanden«, erklärte ich
ihm. »Ich habe Joséphine auf eine Tasse Schokolade
eingeladen. Als Freundin.«
»Ach so.« Einen Augenblick lang schien er verblüfft. Dann
stieß er erneut sein bellendes Lachen aus. »Als Freundin,
wie?« Das Lachen war fast echt, es amüsierte ihn tatsächlich,
und gleichzeitig war er voller Verachtung. »Sie wollen eine
Freundin von Joséphine sein?« Wieder dieser taxierende Blick.
Ich spürte, wie er uns miteinander verglich, wie sein geiler Blick
erneut zu meinen Brüsten wanderte. Dann erkundigte er sich mit
schmalziger, schmeichelnder Stimme, die wohl verführerisch
klingen sollte: »Sie sind neu hier, nicht wahr?«
Ich nickte.
»Vielleicht sollten wir mal zusammen ausgehen. Um uns
besser kennenzulernen, wissen Sie.«
»Vielleicht«, erwiderte ich gelassen. »Dann könnten Sie ja
auch Ihre Frau mitbringen.«
Schweigen. Er starrte mich an, diesmal mißtrauisch,
verschlagen.
»Sie hat doch nichts erzählt, oder?«
Ausdruckslos: »Was denn?«
Kurzes Kopfschütteln.

Page 78
»Nichts, nichts. Sie redet einfach viel, das ist alles. Redet
ohne Ende.« Der arrogante Ton war wieder da. »Von morgens
bis abends.« Kurzes, freudloses Auflachen. »Aber das werden
Sie bald selber merken«, fügte er mit säuerlicher Genugtuung
hinzu.
Ich murmelte etwas Unverfängliches. Dann, einer spontanen
Eingebung folgend, holte ich eine kleine Tüte Schokomandeln
unter der Theke hervor und reichte sie ihm.
»Würden Sie die bitte für Joséphine mitnehmen?« sagte ich
beiläufig. »Ich wollte sie ihr heute morgen geben, habe es aber
vergessen.«
Er schaute mich an, rührte sich jedoch nicht.
»Sie ihr geben?« wiederholte er.
»Ja. Ein Geschenk des Hauses.« Ich schenkte ihm mein
gewinnendstes Lächeln.
Grinsend nahm er die hübsche silberne Tüte.
»Ich werde dafür sorgen, daß sie sie bekommt«, sagte er,
während er sich die Tüte in die Hosentasche stopfte.
»Es ist ihre Lieblingssorte«, erklärte ich ihm.
»Sie werden es mit Ihrem Laden nicht weit bringen, wenn Sie
Ihren Kram verschenken«, sagte er. »Ein Monat, und Sie sind
pleite.« Wieder der harte, gierige Blick, als sei ich eine
Schokoladenfigur, die er am liebsten gleich auspacken würde.
»Wir werden sehen«, sagte ich höflich und sah ihm nach, als
er den Laden verließ und lässig wie James Dean über den Platz
davonschlenderte. Er war noch nicht einmal außer Sichtweite,
da sah ich ihn schon das Tütchen für Joséphine aus der Tasche
ziehen und öffnen. Vielleicht dachte er sich, daß ich ihm
nachschaute. Eins; zwei; drei; scheinbar gelangweilt ging seine
Hand immer wieder zu seinem Mund, und bevor er am anderen
Ende des Platzes angekommen war, hatte er die
Schokomandeln aufgegessen und die Tüte in seiner Faust

Page 79
zusammengeknüllt. Er kam mir vor wie ein gieriger Hund, der
sich beeilt, sein Futter aufzufressen, um sich dann über den
Napf eines anderen Hundes herzumachen. Als er an der
Bäckerei vorbeikam, warf er die zerknüllte Tüte in Richtung des
Mülleimers neben der Tür, traf jedoch nur den Rand, und die
silberne Kugel rollte über das Pflaster. Dann ging er, ohne sich
noch einmal umzudrehen, mit lässig schwingenden Armen an
d e r Kirche vorbei und die Avenue des Francs Bourgeois
hinunter. Seine schweren Stiefel schlugen bei jedem Schritt
über das Kopfsteinpflaster kleine Funken.
Freitag, 21. Februar
Über Nacht wurde es wieder kälter. Die Wetterfahne auf der
Kirchturmspitze drehte sich die ganze Nacht hektisch und
unentschlossen hin und her und quietschte in ihrer rostigen
Halterung, wie um vor Eindringlingen zu warnen. Im dichten
Morgennebel wirkte selbst der Kirchturm in zwanzig Schritten
Entfernung schemenhaft und gespenstisch, und das
Messeläuten klang wie durch Zuckerwatte gedämpft, als einige
Kirchgänger mit hochgeschlagenen Mantelkragen
herbeigeschlurft kamen, um sich die Absolution erteilen zu
lassen.
Nachdem sie ihre Milch getrunken hatte, packte ich Anouk in
ihren warmen roten Anorak und zog ihr trotz ihrer Proteste noch
eine wollene Mütze über den Kopf.
»Willst du wirklich nicht frühstücken?«
Sie schüttelte energisch den Kopf und nahm sich einen Apfel
aus der Obstschale.
»Wie wär’s mit einem Kuß?«
Es ist zu einem morgendlichen Ritual geworden.
Mit einem verschmitzten Lächeln schlingt sie ihre Arme um
meinen Hals, leckt mir das Gesicht ab, springt dann kichernd
los, wirft mir von der Tür aus einen Kuß zu und rennt auf den

Page 80
Dorfplatz hinaus. Mit gespieltem Entsetzen wische ich mir das
Gesicht ab. Sie lacht beglückt auf, streckt mir die kleine Zunge
heraus und ruft: »Ich hab dich lieb!«, und dann verschwindet sie,
die Schultasche schlenkernd, wie eine rote Luftschlange im
Nebel. Ich weiß genau, daß es höchstens eine halbe Minute
dauert, bis ihre wollene Mütze in der Schultasche landet,
zusammen mit Büchern, Heften und allem, was an die Welt der
Erwachsenen erinnert. Einen Moment lang glaube ich fast,
Pantoufle hinter ihr herrennen zu sehen, beeile mich jedoch, das
unwillkommene Bild gleich wieder zu verscheuchen. Ein
plötzliches Gefühl des Verlassenseins überkommt mich – wie
soll ich den Tag nur ohne sie überstehen? –, und ich muß mich
beherrschen, um sie nicht zurückzurufen.
Sechs Kunden heute morgen. Einer davon ist Guillaume, er
kommt gerade vom Fleischer und hat ein in Papier gewickeltes
Stück boudin in der Hand.
»Charly liebt Blutwurst«, erklärt er mir mit ernster Miene. »Er
hat in letzter Zeit keinen rechten Appetit, aber die frißt er
bestimmt.«
»Vergessen Sie nicht, selber auch etwas zu essen«, ermahne
ich ihn freundlich.
»Bestimmt nicht.« Er lächelt entschuldigend. »Ich esse wie ein
Scheunendrescher. Ehrlich.« Plötzlich schaut er mich betroffen
an. »Im Moment ist natürlich Fastenzeit«, sagt er. »Aber Tiere
sind doch sicherlich nicht an das Fastengebot gebunden, nicht
wahr?«
Ich schüttele den Kopf über seinen gequälten
Gesichtsausdruck. Sein Gesicht ist klein und feingeschnitten. Er
gehört zu der Sorte, die ein Plätzchen in zwei Hälften brechen
und eine davon für später aufheben.
»Ich finde, Sie sollten alle beide besser für sich sorgen.«
Guillaume krault Charly hinter den Ohren. Der Hund wirkt

Page 81
teilnahmslos und kaum interessiert an dem Inhalt des
Päckchens vom Fleischer, das neben ihm in einem
Einkaufskorb liegt.
»Wir kommen ganz gut zurecht.« Sein Lächeln kommt
genauso automatisch wie die Lüge. »Wirklich.« Er trinkt seine
Tasse chocolat espresso aus.
»Köstlich«, sagt er wie immer. »Kompliment, Madame
Rocher.« Ihn aufzufordern, mich Vianne zu nennen, habe ich
längst aufgegeben. Sein Gefühl für Anstand und Höflichkeit
verbietet es ihm. Er legt das Geld auf die Theke, tippt zum Gruß
an seinen Hut und öffnet die Tür. Charly rafft sich auf und folgt
ihm wankend. Kaum sind sie aus der Tür, sehe ich, wie
Guillaume ihn wieder auf den Arm nimmt.
Mittags bekamen wir noch einmal Besuch. Ich erkannte sie
sofort, trotz des unförmigen Männermantels, den sie immer
trägt; das pfiffige Winterapfelgesicht unter dem schwarzen
Strohhut, der lange, schwarze Rock über den schweren Stiefeln.
»Madame Voizin! Sie hatten versprochen, einmal
vorbeizuschauen, nicht wahr? Darf ich Ihnen etwas zu trinken
anbieten?«
Mit leuchtenden Augen sah sie sich bewundernd im Laden
um. Ich spürte, wie sie alles genau betrachtete. Ihr Blick fiel auf
Anouks Getränkekarte:

Chocolat chaud 10 F
Chocolat espresso 15 F
Chococcino 12 F
Mocha 12 F
Sie nickte anerkennend.
»Es ist schon Jahre her, daß ich so etwas getrunken habe«,
sagte sie. »Ich hatte schon fast vergessen, daß es solche
Läden überhaupt gibt.« In ihrer Stimme liegt eine Energie, in

Page 82
ihren Bewegungen eine Bestimmtheit, die ihrem Alter zu
widersprechen scheinen. Ihre Mundwinkel verraten eine
Schalkhaftigkeit, die mich an meine Mutter erinnert. »Früher
habe ich mit Vorliebe Schokolade getrunken«, verkündete sie.
Ich schenkte ihr eine große Tasse Mokka ein und gab einen
Schuß Cognac hinzu, während sie die Barhocker mißtrauisch
beäugte.
»Sie erwarten doch hoffentlich nicht von mir, daß ich da
raufklettere, oder?«
Ich lachte.
»Wenn ich gewußt hätte, daß Sie kommen, hätte ich eine
Leiter besorgt. Warten Sie einen Moment.« Ich ging in die
Küche und holte Poitous alten Sessel.
»Probieren Sie’s mal mit dem.«
Armande setzte sich auf die Sesselkante und nahm die Tasse
in beide Hände. Sie wirkte begierig wie ein Kind, mit
leuchtenden Augen und entzücktem Gesichtsausdruck.
»Mmmm.« Es war mehr als Freude. Es war beinahe
Ehrfurcht. »Mmmmmm.« Mit geschlossenen Augen probierte
sie das Getränk. Es war fast beängstigend, wie sehr sie das
Vergnügen genoß.
»Unübertrefflich.« Einen Augenblick lang hielt sie inne, die
Augen halb geschlossen. »Da ist Sahne drin und – Zimt, würde
ich sagen – und was noch? Tia Maria?«
»Fast«, sagte ich.
»Was verboten ist, schmeckt sowieso am besten«, erklärte
Armande und wischte sich zufrieden den Schaum von den
Lippen. »Aber das …« Sie nahm gierig noch einen Schluck.
»Das ist besser als alles, an das ich mich erinnern kann, selbst
aus meiner Kindheit. Ich wette, in dieser Tasse stecken
zehntausend Kalorien. Ach was, noch mehr.«
»Warum sollte es verboten sein?« Ich war neugierig. Klein und

Page 83
rund wie ein Rebhuhn, wie sie war, konnte ich mir kaum
vorstellen, daß sie so fanatisch auf ihre Figur achtete wie ihre
Tochter.
»Ach, die Ärzte«, sagte sie wegwerfend. »Sie wissen ja, wie
die sind. Die verbieten einem alles.« Sie trank noch einen
Schluck. »Ah, das ist gut. Gut. Caro versucht seit Jahren, mich
in irgend so ein Heim abzuschieben. Es gefällt ihr nicht, mich
gleich nebenan wohnen zu haben. Sie will nicht daran erinnert
werden, woher sie stammt.«
Sie kicherte in sich hinein. »Sie behauptet, ich sei krank. Ich
könnte nicht auf mich selbst aufpassen. Schickt mir diesen
Quacksalber, der mir vorschreiben will, was ich essen darf und
was nicht. Man sollte meinen, sie wollten unbedingt, daß ich
ewig lebe.«
Ich lächelte.
»Ich bin sicher, daß Caroline es nur gut mit Ihnen meint«,
sagte ich.
Armande warf mir einen spöttischen Blick zu.
»Ach, wirklich?« Sie stieß ein ordinäres Lachen aus.
»Verschonen Sie mich damit, meine Liebe. Sie wissen ganz
genau, daß meine Tochter einzig und allein an ihr eigenes
Wohlergehen denkt. Mir kann man nichts vormachen.« Ihr Blick
wurde durchdringend. »Es geht mir nur um den Jungen«, sagte
sie.
»Den Jungen?«
Armande nickte und trank noch einen Schluck.
»Er heißt Luc. Mein Enkel. Er wird im April vierzehn. Vielleicht
haben Sie ihn schon mal auf dem Dorfplatz gesehen.«
Ich erinnerte mich vage, ihn schon einmal gesehen zu haben;
ein farbloser Junge, zu korrekt in seiner frischgebügelten grauen
Flanellhose und seiner Tweedjacke, kühle, graugrüne Augen
und glattes, aschblondes Haar. Ich nickte.

Page 84
»Ich habe ihn in meinem Testament zum Alleinerben
eingesetzt«, erklärte mir Armande. »Eine halbe Million Francs,
die bis zu seinem achtzehnten Geburtstag treuhänderisch
verwaltet werden sollen.« Sie zuckte die Achseln. »Ich sehe ihn
nie«, fügte sie hinzu. »Caro erlaubt es nicht.«
Ich habe sie zusammen gesehen. Jetzt erinnere ich mich
wieder; auf dem Weg zur Kirche, die Mutter am Arm des
Jungen. Er ist der einzige unter den Kindern von Lansquenet,
der noch nie etwas in meinem Laden gekauft hat, ich meine
allerdings, ihn ein-oder zweimal am Fenster stehen gesehen zu
haben.
»Er hat mich zum letztenmal besucht, als er zehn Jahre alt
war.« Armandes Stimme klang seltsam tonlos. »Es kommt mir
so vor, als sei das hundert Jahre her.« Sie trank ihre Tasse aus
und stellte sie dann mit Nachdruck auf die Theke. »Es war an
seinem Geburtstag. Ich habe ihm ein Buch mit Gedichten von
Rimbaud geschenkt. Er war sehr – höflich.« Ihr Ton wurde bitter.
»Natürlich bin ich ihm seitdem ein paarmal auf der Straße
begegnet«, sagte sie. »Ich kann mich nicht beklagen.«
»Warum besuchen Sie ihn nicht?« fragte ich neugierig.
»Gehen mit ihm spazieren, reden mit ihm, versuchen, ihn
besser kennenzulernen?«
Armande schüttelte den Kopf.
»Caro und ich haben uns miteinander überworfen.« Plötzlich
verfiel sie in einen jammernden Tonfall. Ihr Lächeln war
verschwunden, und sie wirkte mit einemmal entsetzlich alt. »Sie
schämt sich für mich. Der Himmel weiß, was sie dem Jungen
alles erzählt.« Sie schüttelte den Kopf und schaute ins Leere.
»Nein. Es ist zu spät. Ich sehe es an seinem Blick – diesem
höflichen Blick –, an den artigen, nichtssagenden
Weihnachtskarten, die er mir schickt. So ein wohlerzogener
Junge.« Ihr Lachen war bitter. »So ein höflicher, wohlerzogener

Page 85
Junge.«
Sie wandte sich mir wieder zu und lächelte mich tapfer an.
»Wenn ich nur wüßte, was er tut«, sagte sie. »Wenn ich nur
wüßte, was er für Bücher liest, für welchen Sport er sich
interessiert, was er für Freunde hat, wie gut er in der Schule ist.
Wenn ich das wüßte …«
»Dann?«
»Dann könnte ich wenigstens so tun –« Sie war den Tränen
nah. Dann holte sie tief Luft, gewann ihre Fassung wieder.
»Wissen Sie was, ich glaube, ich könnte noch so eine Tasse
von Ihrer Spezialität vertragen.« Ihre Tapferkeit war gespielt,
und ich bewunderte sie mehr, als ich es sagen konnte. Daß sie
es trotz ihres Kummers noch schafft, die Rebellin zu spielen und
auftrumpfend die Ellbogen auf die Theke zu stützen, während
sie ihren Mokka schlürft.
»Sodom und Gomorrha. Mmmm. Ich glaube, ich bin im
Paradies. Oder jedenfalls so dicht dran, wie es mir je vergönnt
sein wird.«
»Ich könnte mich für Sie nach Luc erkundigen, wenn Sie
wollen.«
Armande dachte schweigend über meinen Vorschlag nach.
Ich spürte, wie sie mich unter ihren halbgeschlossenen Lidern
prüfend ansah.
»Alle Jungs mögen Süßigkeiten, nicht wahr?« sagte sie
schließlich wie beiläufig. Ich stimmte ihr zu. »Und ich nehme an,
seine Freunde kommen auch hier in Ihren Laden?« Ich erklärte
ihr, ich sei nicht sicher, wer seine Freunde wären, aber daß die
meisten Kinder regelmäßig kämen.
»Ich könnte ja auch ab und zu herkommen«, sagte Armande.
»Ihr Mokka schmeckt mir sehr gut, auch wenn Ihre Stühle
furchtbar sind. Vielleicht werde ich sogar Stammkundin bei
Ihnen.«

Page 86
»Das würde mich freuen«, sagte ich.
Erneutes Schweigen. Ich begriff, daß Armande alles auf ihre
Weise tat, in ihrem eigenen Tempo, ohne sich von irgend
jemandem antreiben oder mit guten Ratschlägen überschütten
zu lassen. Ich ließ ihr Zeit zum Nachdenken.
»Hier. Nehmen Sie das.« Sie hatte ihre Entscheidung
getroffen. Energisch knallte sie einen Hundert-Franc-Schein auf
die Theke.
»Aber ich –«
»Wenn Sie ihn sehen, geben Sie ihm eine Schachtel von
irgendeiner Sorte, die er mag. Sagen Sie ihm nicht, daß das
Geschenk von mir kommt.«
Ich nahm den Geldschein.
»Und lassen Sie sich von seiner Mutter nicht einschüchtern.
Sie ist garantiert schon eifrig dabei, allen möglichen Klatsch zu
verbreiten. Mein einziges Kind, und sie muß ausgerechnet eine
von Reynauds Betschwestern werden.« Sie kniff verächtlich die
Augen zusammen, so daß sich lauter kleine Fältchen auf ihren
Wangen bildeten.
»Es kursieren bereits Gerüchte über Sie«, sagte sie. »Sie
kennen ja diese Sorte. Wenn Sie sich auch noch mit mir
einlassen, wird es nur noch schlimmer.«
Ich lachte.
»Ich denke, daß ich das verkraften kann.«
»Das glaube ich auch.« Plötzlich sah sie mich eindringlich an,
der ärgerliche Ton war verschwunden. »Es ist irgendwas an
Ihnen«, sagte sie leise. »Irgend etwas Vertrautes. Könnte es
sein, daß wir uns früher schon mal begegnet sind?«
Lissabon, Paris, Florenz, Rom. So viele Menschen. So viele
Lebenswege, die wir auf unserer rastlosen Wanderschaft
gekreuzt hatten. Aber ich konnte es mir nicht vorstellen.
»Und dann dieser Geruch. Nach Feuer. Es riecht wie kurz

Page 87
nach einem sommerlichen Blitzschlag. Es duftet nach
Augustgewittern und Maisfeldern im Regen.« Ihr
Gesichtsausdruck war angespannt, ihr Blick forschend. »Es
stimmt, nicht wahr? Was ich gesagt habe. Was Sie sind.«
Schon wieder dieses Wort.
Sie lachte entzückt und nahm meine Hand. Ihre Haut fühlte sich
kühl an, wie Laub. Sie drehte meine Hand um und betrachtete
meine Handfläche.
»Ich wußte es!« Sie fuhr mit dem Finger an meiner
Lebenslinie, der Herzlinie entlang. »Ich wußte es in dem
Augenblick, als ich Sie zum erstenmal gesehen habe!« Und
dann zu sich selbst, mit gesenktem Kopf, so leise, daß es kaum
mehr war als ihr Atem auf meiner Haut: »Ich wußte es. Ich wußte
es. Aber ich hatte nie erwartet, Ihnen hier in diesem Ort zu
begegnen.«
Ein scharfer, mißtrauischer Blick nach oben.
»Weiß Reynaud es?«
»Ich bin mir nicht sicher.« Es stimmte. Ich hatte keine Ahnung,
wovon sie redete. Aber ich roch es auch; den Geruch, den der
Wind mitbringt, wenn das Wetter umschlägt, einen Enthüllung
verheißenden Luftstrom. Ein vager Geruch nach Feuer und
Ozon. Das Quietschen eines Getriebes, das lange nicht in
Gebrauch war, die Höllenmaschine der Synchronizität. Oder
vielleicht hatte Joséphine recht, und Armande war doch
verrückt. Immerhin hatte sie Pantoufle gesehen.
»Lassen Sie es Reynaud nicht wissen«, sagte sie mit verrückt
leuchtenden, ernsten Augen. »Sie wissen doch, wer er ist, nicht
wahr?«
Ich starrte sie an. Ich muß geahnt haben, was sie meinte. Oder
vielleicht waren wir uns einmal kurz im Traum begegnet, in einer
unserer Nächte auf der Flucht.
»Er ist der Schwarze Mann.«

Page 88
Reynaud. Wie eine Unheil verheißende Tarot-Karte. Immer
und immer wieder. Gelächter auf den Rängen.
Lange nachdem ich Anouk zu Bett gebracht hatte, holte ich die
Karten meiner Mutter hervor, zum erstenmal seit ihrem Tod. Ich
bewahre sie in einer Schachtel aus Sandelholz auf; sie sind
vom vielen Benutzen ganz weich, und ihr Duft ist voller
Erinnerungen an sie. Beinahe hätte ich sie gleich wieder
weggepackt, verwirrt durch die Flut der Erinnerungen, die
Gerüche mit sich bringen. New York. Von Dampf umhüllte
Würstchenstände. Das Café de la Paix mit seinen tadellosen
Kellnern. Eine Nonne, die vor Notre-Dame ein Eis leckt. Billige
Hotelzimmer, mürrische Portiers, mißtrauische gendarmes,
neugierige Touristen. Und über allem der Schatten der
namenlosen, unerbittlichen Bedrohung, vor der wir ständig auf
der Flucht waren.
Ich bin nicht meine Mutter. Ich bin kein Flüchtling. Und doch ist
das Bedürfnis zu sehen, zu wissen, so stark, daß ich die Karten
aus ihrer Schachtel nehme und auslege, genauso wie sie es
damals auf ihrem Bett getan hat. Ein Blick über meine Schulter,
um sicherzugehen, daß Anouk schläft, ich möchte nicht, daß sie
meine Unruhe spürt, dann mische ich, hebe ab, mische erneut,
hebe ab, bis ich vier Karten habe.
Zehn Schwerter, der Tod. Drei Schwerter, der Tod. Zwei
Schwerter, der Tod. Der Wagen. Der Tod.
Der Eremit. Der Turm. Der Wagen. Der Tod.
Es sind die Karten meiner Mutter. Das hat nichts mit mir zu
tun, sage ich mir, obwohl der Eremit leicht zu deuten ist. Aber
der Turm? Der Wagen?
Der Tod?
Die Karte des Todes, sagt die Stimme meiner Mutter in mir,
muß nicht immer den physischen Tod bedeuten, sie kann auch
für das Ende eines Lebensabschnitts stehen. Für sich drehende

Page 89
Winde. Könnte es das sein, was sie mir sagt?
Ich glaube nicht an Wahrsagerei. Nicht so, wie sie es tat, als
eine Möglichkeit, die zufälligen Muster unseres Lebensweges
zu erklären. Nicht als Vorwand für Untätigkeit, als Krücke in
schwierigen Situationen, als Rationalisierung des inneren
Chaos. Ich höre ihre Stimme, und sie klingt genauso wie
damals auf dem Schiff, als ihre Stärke in Sturheit umschlug, ihr
Humor in übermütige Verzweiflung.
Wie wär’s mit Disneyland? Was meinst du? Die Florida
Keys? Die Everglades? Es gibt so vieles zu sehen in der
Neuen Welt, so vieles, von dem wir bisher nicht einmal zu
träumen gewagt haben. Ist es das? Was meinst du? Ist es das,
was die Karten uns sagen wollen?
Inzwischen war der Tod auf jeder Karte, der Tod und der
Schwarze Mann, der mit der Zeit dieselbe Bedeutung
angenommen hatte. Wir flohen vor ihm, und er verfolgte uns, in
Sandelholz verpackt.
Um mich dagegen zu schützen, las ich Jung und Hermann
Hesse und lernte etwas über das kollektive Unbewußte.
Wahrsagerei ist eine Methode, uns einzugestehen, was wir
bereits wissen. Wovor wir uns fürchten. Es gibt keine Dämonen,
sondern verschiedene Archetypen, die in jeder Kultur gleich
sind. Die Angst vor Verlust – der Tod. Die Furcht vor
Vertreibung – der Turm. Die Angst vor der Vergänglichkeit –
der Wagen.
Und dennoch ist meine Mutter gestorben.
Ich legte die Karten liebevoll zurück in ihre duftende Schachtel.
Adieu, Mutter. Hier hört unsere Reise auf. Hier werden wir
bleiben, um uns dem zu stellen, was der Wind uns bringt. Ich
werde die Karten nicht noch einmal befragen.
Sonntag, 23. Februar

Page 90
Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt. Ich weiß, daß Sie
mich hören können, Vater, und es gibt niemand anderen, bei
dem ich zu beichten wagen würde. Auf keinen Fall würde ich
den Bischof von Bordeaux zu meinem Beichtvater wählen, der
so weit weg und sicher auf seinem Bischofsstuhl sitzt. Und die
Kirche wirkt so leer. Ich komme mir vor wie ein Narr, wenn ich
vor dem Altar knie und zu unserem Herrn in seinem Blattgold
und seiner Dornenkrone aufblicke – das Gold ist durch den
Kerzenrauch geschwärzt, was Ihm einen verschlagenen,
heimlichtuerischen Blick verleiht –, und die Gebete, die früher
so segensreich und beglückend für mich waren, sind nun eine
Last, ein Schrei am Fuß eines kahlen Berges, von dem jeden
Augenblick eine Lawine auf mich herabzustürzen droht.
Ist das der Zweifel, mon père? Diese Stille in meinem Innern,
diese Unfähigkeit zu beten, geläutert zu werden, Demut zu
empfinden … ist das meine Schuld? Ich schaue mich in der
Kirche um, die mein Lebensinhalt ist, und möchte Liebe für sie
empfinden. Liebe, wie Sie sie empfunden haben, für die
Heiligenfiguren – der heilige Hieronymus mit seiner
abgeschlagenen Nase, die lächelnde Madonna, Johanna von
Orleans mit ihrem Banner, der heilige Franziskus mit seinen
gemalten Tauben. Ich selbst mag Vögel nicht. Vielleicht ist das
eine Sünde gegen meinen Namenspatron, aber ich kann mir
nicht helfen. Der Dreck, den sie verursachen – selbst am
Kirchenportal, die getünchten Wände sind mit ihren grünlichen
Exkrementen besudelt –, und der Lärm, den sie machen – das
Gegurre während der Messe … Ich lege Gift aus für die Ratten,
die in die Sakristei eindringen und die Gewänder anfressen.
Sollte ich nicht ebenso die Tauben vergiften, die meinen
Gottesdienst stören? Ich habe es versucht, Vater, aber ohne
Erfolg. Vielleicht beschützt sie der heilige Franziskus.
Wenn ich nur nicht so unwürdig wäre. Meine Unwürdigkeit

Page 91
quält mich, und meine Intelligenz – die der meiner Anbefohlenen
weit überlegen ist – dient nur dazu, meine Schwäche zu
verstärken, die Unzulänglichkeit des Werkzeugs, das Gott
ausersehen hat, ihm zu dienen. Ist das meine Bestimmung? Ich
habe von höheren Dingen geträumt, von Opfer und Martyrium.
Statt dessen vergeude ich meine Zeit mit beklemmenden
Ängsten, die meiner und Ihrer unwürdig sind.
Meine Sünde ist die Kleinlichkeit, Vater. Deswegen schweigt
Gott in Seinem Haus. Ich weiß das, aber ich weiß nicht, wie ich
das Übel überwinden kann. Ich habe mir noch größere Strenge
für die Fastenzeit auferlegt und übe mich auch an den Tagen im
Fasten, an denen Erleichterung gestattet ist. Heute zum
Beispiel habe ich meinen Sonntagswein an die Hortensien
gegossen und fühlte mich gleich gestärkt. Von nun an werde ich
mir nichts als Kaffee und Wasser zu den Mahlzeiten gestatten,
und den Kaffee werde ich schwarz und ohne Zucker trinken, um
den bitteren Geschmack zu verstärken. Heute habe ich
Karottensalat mit Oliven gegessen – Wurzeln und Beeren, wie
es sich für das Leben in der Wildnis geziemt. Zugegeben, ich
verspüre jetzt einen leichten Schwindel, aber das Gefühl ist nicht
unangenehm. Gleichzeitig habe ich Schuldgefühle, weil selbst
meine Entsagung mir Genuß bereitet, und ich habe
beschlossen, mich der Versuchung auszusetzen. Ich werde fünf
Minuten lang vor dem Schaufenster der rôtisserie verweilen und
zusehen, wie sich die Brathähnchen am Spieß drehen. Sollte
Arnaud mich verspotten, um so besser. Eigentlich müßte er
sowieso während der Fastenzeit geschlossen haben.
Und was Vianne Rocher angeht … Ich habe während der
vergangenen Tage kaum an sie gedacht. Wenn ich an ihrem
Laden vorübergehe, wende ich meinen Blick ab. Ihr Geschäft
geht gut, obwohl Fastenzeit ist und die Rechtschaffenen unter
den Bürgern von Lansquenet ihre Anwesenheit mißbilligen, aber

Page 92
das liegt sicherlich allein daran, daß solch ein Laden etwas
völlig Neues für unser Dorf ist. Das wird sich mit der Zeit geben.
Unsere Gemeindemitglieder haben kaum genug Geld, um ihre
täglichen Bedürfnisse zu befriedigen, ohne daß sie zusätzlich
noch einen Laden subventionieren, der besser in eine
Großstadt paßt.
La Céleste Praline. Allein der Name ist ein bewußter Affront.
Ich werde mit dem Bus nach Agen fahren und mich bei der
Vermieterin beschweren. Sie hätte nie einen Mietvertrag
bekommen dürfen. Die zentrale Lage des Ladens garantiert
einen gewissen Erfolg, leistet der Versuchung Vorschub. Man
sollte den Bischof informieren. Er besitzt größeren Einfluß als
ich, den er vielleicht geltend machen kann. Ich werde ihm heute
noch schreiben.
Ich sehe sie manchmal auf der Straße. Sie trägt einen gelben
Regenmantel mit grünen Gänseblümchen drauf, ein
Kleidungsstück, das für ein Kind passend wäre, aber an einer
erwachsenen Frau unziemlich wirkt. Nie bedeckt sie ihr Haar,
nicht einmal bei Regen, wenn es glänzt wie ein Robbenfell.
Wenn sie unter ihre Markise tritt, wringt sie es aus wie ein
langes Seil. Häufig stehen Leute unter der Markise, wo sie
Schutz vor dem endlosen Regen suchen, und betrachten die
Auslagen im Schaufenster. Sie hat inzwischen einen
elektrischen Heizofen aufgestellt, nahe genug an der Theke, um
angenehme Wärme zu verbreiten, aber weit genug entfernt, um
ihre Waren nicht zu verderben. Und seit sie die Hocker
angeschafft hat, wirkt der Laden mit all seinen Torten und
Kuchen unter gläsernen Hauben und den Pralinen und Trüffeln in
Kristallschalen eher wie ein Café. An manchen Tagen sehe ich
zehn und mehr Leute da drinnen, die herumstehen oder sich an
die Theke lehnen und plaudern. Sonntags und mittwochs
nachmittags duftet es auf dem ganzen Dorfplatz nach Bäckerei;

Page 93
dann steht sie in der Tür, die Arme bis zu den Ellbogen weiß
vom Mehl, und spricht einfach irgendwelche Passanten an. Ich
kann mich nur wundern, wie viele Leute sie bereits mit Namen
kennt – ich selbst habe ein halbes Jahr gebraucht, bis ich alle
Mitglieder meiner Gemeinde kannte –, und sie scheint stets
irgendeine Frage oder eine Bemerkung zu ihren Sorgen und
Problemen parat zu haben. Blaireaus Arthritis. Lamberts Sohn,
der beim Militär ist. Narcisse und seine preisgekrönten
Orchideen. Sie kennt sogar den Hund von Duplessis mit
Namen. Oh, sie ist verschlagen. Man kann sie unmöglich
übersehen. Man muß schon regelrecht flegelhaft sein, um nicht
zu reagieren. Selbst ich – selbst ich muß lächeln und nicken,
obwohl ich innerlich koche. Ihre Tochter ist genauso, treibt sich
mit einer Bande älterer Jungs und Mädchen in Les Marauds
herum. Die meisten sind acht oder neun Jahre alt; sie sind
immer nett zu ihr, behandeln sie wie eine kleine Schwester, wie
ein Maskottchen. Ständig sind sie zusammen, rennen und
schreien herum; sie breiten die Arme aus und tun so, als seien
sie Jagdbomber, die sich gegenseitig verfolgen und
abschießen. Jean Drou ist auch immer dabei, obwohl seine
Mutter es mißbilligt. Ein-oder zweimal hat sie ihm den Umgang
mit ihnen verboten, aber er wird von Tag zu Tag aufsässiger und
klettert aus dem Fenster seines Zimmers, wenn sie ihm
Stubenarrest erteilt.
Aber ich habe noch ernstere Sorgen, mon père, als das
ungehörige Benehmen von ein paar ungezogenen Gören. Als
ich heute vor der Messe durch Les Marauds ging, habe ich am
Ufer des Tannes ein Hausboot gesehen, eins von der Sorte, die
Ihnen und mir wohlbekannt ist. Ein heruntergekommener Kahn,
dessen grüne Farbe überall abblättert, mit einem blechernen
Schornstein, aus dem giftiger, schwarzer Rauch quoll, einem
Dach, so rostig wie die Dächer auf den Wellblechhütten in den

Page 94
bidonvilles von Marseille. Und ich weiß genau, was das zu
bedeuten hat. Was auf uns zukommt. Der erste Löwenzahn, der
im Frühling aus der feuchten Erde am Straßenrand sprießt.
Jedes Jahr versuchen sie es wieder, kommen flußaufwärts aus
den Vorstädten und Barackensiedlungen, aus Algerien und
Marokko. Auf der Suche nach Arbeit. Auf der Suche nach einem
Lagerplatz, einem Ort, an dem sie sich vermehren können … In
meiner Predigt heute morgen habe ich gegen sie gewettert,
aber ich weiß, daß einige Gemeindemitglieder – unter anderen
Narcisse – sie trotz meiner Warnungen willkommen heißen
werden. Sie sind Vagabunden, vulgäre Menschen ohne
moralische Werte. Sie sind Zigeuner, Verbreiter von
Krankheiten, Diebe, Lügner, Mörder, wenn man sie nicht aufhält.
Wenn wir es zulassen, daß sie bleiben, werden sie alles
zerstören, wofür wir gearbeitet haben, Vater. All unsere
Erziehung. Ihre Kinder werden mit den unsrigen spielen, bis
alles verdorben, beschmutzt, ruiniert ist. Sie werden die Seelen
unserer Kinder stehlen. Sie lehren, die Kirche zu mißachten und
zu hassen. Sie werden zu Müßiggang und
Verantwortungslosigkeit anstiften. Sie zu Verbrechen und
Drogenmißbrauch verführen. Haben sie etwa schon vergessen,
was in jenem Sommer geschah? Sind sie dumm genug
anzunehmen, daß so etwas nicht wieder passieren kann?
Heute nachmittag bin ich zu dem Hausboot hinuntergegangen.
Es waren bereits zwei weitere dazugekommen, ein rotes und
ein schwarzes. Es hatte aufgehört zu regnen, und zwischen den
beiden neuen Booten war eine Wäscheleine gespannt, an der
Kinderwäsche hing. An Deck des schwarzen Bootes saß ein
Mann mit dem Rücken zu mir und angelte. Langes, rotes Haar,
mit einem Halstuch zusammengebunden, die nackten Arme und
Schultern über und über mit Henna bemalt. Eine ganze Weile
habe ich dagestanden und mir ihre erbärmlichen Behausungen

Page 95
angesehen, ihre provozierende Armut. Was versprechen diese
Leute sich davon, daß sie so leben? Wir sind ein reiches Land.
Eine europäische Großmacht. Diese Leute könnten sich Arbeit
suchen, nützliche Arbeit, anständige Wohnungen … Warum
ziehen sie es vor, dem Müßiggang zu frönen und in einem
solchen Elend zu leben? Sind sie zu faul? Zu dumm?
Der rothaarige Mann mit der Angel drehte sich zu mir um,
streckte mir abwehrend zwei gespreizte Finger entgegen und
widmete sich dann wieder dem Angeln.
»Hier können Sie nicht bleiben«, rief ich über das Wasser.
»Das ist Privatbesitz. Sie müssen weiterziehen.«
Höhnisches Gelächter von den Booten. Meine Schläfen
pochten vor Wut, doch äußerlich blieb ich ruhig.
»Mit mir können Sie reden«, rief ich. »Ich bin Priester.
Vielleicht finden wir gemeinsam eine Lösung.«
In den Fenstern und Türen der Boote waren mehrere
Gesichter aufgetaucht. Ich sah vier Kinder, eine junge Frau mit
einem Baby und drei oder vier ältere Leute, in die typischen
grauen, farblosen Kleider gehüllt, ihre Blicke herausfordernd
und feindselig. Sie warteten darauf, wie der Rothaarige
reagieren würde. Ich wandte mich erneut an ihn.
»He, Sie!«
Er nahm eine ironisch-ehrerbietige Haltung an.
»Kommen Sie doch her und reden Sie mit mir. Ich kann Ihnen
alles besser erklären, wenn ich nicht über das Wasser hinweg
brüllen muß«, rief ich.
»Erklären Sie nur«, sagte er. Er sprach mit einem so starken
Marseiller Akzent, daß ich ihn kaum verstand. »Ich höre Sie gut
genug.« Seine Leute auf den anderen Booten stießen sich
gegenseitig an und kicherten. Ich wartete geduldig, bis Ruhe
einkehrte.
»Das hier ist ein Privatgrundstück«, wiederholte ich. »Ich

Page 96
fürchte, hier können Sie nicht bleiben. Hier wohnen Leute.« Ich
deutete auf die Häuser an der Avenue des Marais. Zugegeben,
viele dieser Häuser stehen leer und sind halb verfallen, aber
einige sind immer noch bewohnt.
Der Rothaarige warf mir einen verächtlichen Blick zu.
»Hier wohnen auch Leute«, sagte er und deutete auf die
Boote.
»Das ist mir klar, aber trotzdem –« Er fiel mir ins Wort.
»Keine Sorge. Wir bleiben nicht lange.« Sein Ton war
bestimmt. »Wir müssen die Boote reparieren, unsere Vorräte
aufstocken. Das können wir nicht draußen in der freien
Landschaft. Wir bleiben zwei Wochen, höchstens drei. Damit
werden Sie ja wohl leben können, oder?«
»In einem größeren Dorf …« Seine Unverschämtheit machte
mich rasend, doch ich blieb ruhig. »Oder vielleicht in einer Stadt
wie Agen könnten Sie …«
Knapp: »Zwecklos. Von da kommen wir gerade.«
Das konnte ich mir vorstellen. In Agen machen sie mit
Vagabunden kurzen Prozeß. Wenn wir nur hier in Lansquenet
unsere eigene Polizei hätten.
»Ich habe Probleme mit meinem Motor. Seit einigen
Kilometern verliere ich Öl. Ich kann erst weiterfahren, wenn ich
ihn repariert hab.«
Ich straffte die Schultern.
»Ich glaube kaum, daß Sie hier finden werden, was Sie
suchen«, erklärte ich.
»Jeder hat das Recht, zu glauben, was er will«, sagte er
wegwerfend, beinahe belustigt. Eine der alten Frauen begann
zu kichern. »Selbst ein Priester.« Noch mehr Gelächter. Ich
wahrte meine Würde. Diese Leute sind es nicht wert, daß ich
mich über sie ärgere.
Ich wandte mich zum Gehen.

Page 97
»Sieh mal einer an, Monsieur le Curé!« sagte eine Stimme
hinter mir, und unwillkürlich zuckte ich zusammen. Armande
Voizin stieß ein gackerndes Lachen aus. »Nervös, was?« sagte
sie boshaft. »Und zu Recht. Das hier ist nicht Ihr Revier, nicht
wahr? In welcher Mission sind Sie denn diesmal unterwegs?
Wollen Sie etwa die Heiden bekehren?«
»Madame.« Trotz ihrer Frechheit grüßte ich sie höflich. »Ich
hoffe, Sie erfreuen sich guter Gesundheit.«
»Ach, tatsächlich?« Ihre schwarzen Augen funkelten spöttisch.
»Und ich dachte, Sie könnten es nicht erwarten, mir die letzte
Ölung zu geben.«
»Keineswegs, Madame«, erwiderte ich kühl.
»Das ist gut. Weil dieses alte Lämmchen nämlich niemals zur
Herde zurückkehren wird«, erklärte sie. »Für Sie bin ich
sowieso zu zäh. Ich weiß noch gut, wie Ihre Mutter gesagt hat –«
Ich unterbrach sie schärfer, als ich beabsichtigt hatte.
»Ich fürchte, ich habe heute keine Zeit zum Plaudern,
Madame. Ich muß mich um diese Leute« – ich deutete auf die
Zigeuner – »kümmern, bevor die Situation außer Kontrolle
gerät. Ich muß die Interessen meiner Gemeinde schützen.«
»Was sind Sie doch für ein Schwätzer«, bemerkte Armande
gelangweilt. »Die Interessen meiner Gemeinde. Ich erinnere
mich noch an die Zeit, als Sie ein kleiner Junge waren und in
Les Marauds Indianer gespielt haben. Was haben Sie in der
Stadt gelernt, außer sich wichtig zu tun?«
Ich starrte sie wütend an. Sie ist die einzige in Lansquenet, die
sich einen Spaß daraus macht, mich an Dinge zu erinnern, die
längst vergessen sein sollten. Wenn sie stirbt, wird sie diese
Erinnerungen mit ins Grab nehmen, und ich wäre gewiß nicht
traurig darüber.
»Ihnen mag die Vorstellung, daß die Zigeuner Les Marauds
eines Tages übernehmen könnten, vielleicht Vergnügen

Page 98
bereiten«, sagte ich scharf, »aber andere Leute – unter ihnen
Ihre Tochter – wissen ganz genau, daß sie, wenn sie erst einmal
den Fuß in der Tür haben …«
Armande schnaubte verächtlich.
»Sie redet sogar schon wie Sie«, sagte sie. »Kanzel-
Klischees und nationalistische Platitüden. Ich habe nicht den
Eindruck, daß diese Leute irgendwelchen Schaden anrichten.
Warum sind Sie so versessen darauf, einen Kreuzzug gegen
sie zu unternehmen, wenn sie sowieso bald wieder
weiterziehen?«
Ich zuckte die Achseln.
»Offenbar wollen Sie nicht verstehen«, sagte ich knapp.
»Nun, ich habe Roux da drüben gesagt« – sie deutete
verschmitzt auf den Mann auf dem schwarzen Hausboot –, »ich
habe ihm gesagt, daß er und seine Freunde hierbleiben
können, bis sie ihren Motor repariert und ihre Vorräte
aufgestockt haben.« Sie schaute mich triumphierend an. »Sie
können sie also kaum wegen unbefugten Betretens von
Privatbesitz belangen. Sie haben vor meinem Haus angelegt,
und zwar mit meinem Segen.« Das letzte Wort sprach sie mit
besonderer Betonung aus, wie um mich zu verspotten.
»Dasselbe gilt für ihre Freunde«, fügte sie hinzu, »sobald sie
eintreffen.« Sie warf mir noch einen unverschämten Blick zu.
»Alle ihre Freunde.«
Nun, ich hätte damit rechnen müssen. Es war zu erwarten, daß
sie sich so verhalten würde, und wenn sie es nur tut, um mich zu
provozieren. Sie genießt den Ruf, den ihr Verhalten ihr einbringt;
sie weiß genau, daß sie als älteste Bewohnerin des Dorfes eine
gewisse Narrenfreiheit besitzt. Es hat keinen Zweck, sich mit ihr
auseinanderzusetzen, mon père. Das wissen wir beide. Sie
hätte nur ihren Spaß an einem Streit, genauso wie es ihr Spaß
macht, mit diesen Leuten zu verkehren, sich ihre Geschichten

Page 99
anzuhören, sich von ihrem Leben erzählen zu lassen. Kein
Wunder, daß sie sie alle schon mit Namen kennt. Ich werde ihr
nicht die Genugtuung bereiten und diese Leute darum bitten
weiterzuziehen. Nein, ich muß die Sache anders lösen.
Eines habe ich zumindest von Armande erfahren. Es werden
noch mehr kommen. Wie viele, bleibt abzuwarten. Aber es ist
genau so, wie ich befürchtet hatte. Heute sind es drei Boote.
Wie viele werden es morgen sein?
Auf dem Weg hierher habe ich Clairmont einen Besuch
abgestattet. Er wird dafür sorgen, daß es sich im Dorf
herumspricht. Ich rechne mit leichtem Widerstand – Armande
hat immer noch Freunde –, bei Narcisse müssen wir vielleicht
ein wenig nachhelfen. Aber im großen und ganzen gehe ich
davon aus, daß die Leute einsichtig sein werden. Schließlich
genieße ich im Dorf ein gewisses Ansehen. Meine Meinung ist
etwas wert. Mit Muscat habe ich auch gesprochen. Er sieht die
meisten Leute in seinem Café. Außerdem ist er Vorsitzender
des Gemeinderats. Trotz seiner Fehler ein rechtschaffener
Mann, ein braver Kirchgänger. Und sollte eine starke Hand
gebraucht werden – natürlich verabscheuen wir alle Gewalt,
aber bei diesen Leuten muß man mit allem rechnen –, nun, da
bin ich sicher, daß Muscat sich nicht lange bitten lassen würde.
Armande hat es einen Kreuzzug genannt. Das war als
Beleidigung gemeint, ich weiß, aber dennoch … Ich spüre, daß
der Gedanke an diesen Konflikt eine freudige Erregung in mir
auslöst. Sollte das die Aufgabe sein, für die Gott mich
ausersehen hat?
Darum bin ich nach Lansquenet gekommen, Vater. Um für
meine Leute zu kämpfen. Um sie vor der Versuchung zu
bewahren. Und wenn Vianne Rocher die Macht der Kirche
erkennt – meinen Einfluß auf jede einzelne Seele in dieser
Gemeinde –, dann wird sie begreifen, daß sie auf verlorenem

Page 100
Posten steht. Was auch immer sie sich erhoffen, was für Ziele
sie auch verfolgen mag. Sie wird einsehen, daß sie hier nicht
bleiben kann. Sie hat keine Chance zu gewinnen.
Am Ende werde ich triumphieren.

Page 101
Montag, 24. Februar
Caroline Clairmont kam gleich nach der Messe in den Laden.
Ihr Sohn war mit dabei, den Ranzen auf dem Rücken, ein großer
Junge mit einem blassen, ausdruckslosen Gesicht. Sie hatte ein
Bündel gelber, handbeschriebener Karten dabei.
Ich lächelte die beiden an.
Der Laden war noch leer – es war erst halb neun, und die
ersten Kunden kommen gewöhnlich nicht vor neun. Nur Anouk
saß an der Theke, vor sich eine halb ausgetrunkene Tasse
Milch und ein pain au chocolat. Sie schaute den Jungen
freundlich an, winkte zum Gruß mit ihrem Schokocroissant und
wandte sich wieder ihrem Frühstück zu.
»Was kann ich für Sie tun?«
Caroline sah sich mit einem Ausdruck von Neid und Mißfallen
im Laden um. Der Junge starrte vor sich hin, doch ich spürte,
daß er sich zusammennehmen mußte, um nicht zu Anouk
hinüber zu sehen. Er wirkte verschlossen, das Haar fiel ihm so
tief in die Stirn, daß seine Augen fast dahinter verschwanden.
»Sie können mir einen Gefallen tun.« Ihre Stimme klang
gewollt locker, voller falscher Freundlichkeit, und ihr
aufgesetztes Lächeln war so süß wie Zuckerguß, der an den
Zähnen schmerzt. »Ich bin gerade dabei, diese hier zu
verteilen« – sie zeigte mir das Bündel Karten –, »und ich
dachte, Sie könnten vielleicht eine davon in Ihr Fenster
hängen.« Sie reichte mir eine Karte. »Alle anderen haben auch
schon eine aufgehängt«, fügte sie hinzu, als könnte mir das die
Entscheidung erleichtern.
Ich nahm die Karte entgegen.
Schwarz auf Gelb, in sauberen Großbuchstaben:
KEINE HAUSIERER, VAGABUNDEN ODER BETTLER.
DIE GESCHÄFTSLEITUNG BEHÄLT SICH VOR,

Page 102
UNERWÜNSCHTEN PERSONEN
DIE BEDIENUNG ZU VERWEIGERN.
»Wozu brauche ich das?« Ich runzelte verblüfft die Stirn.
»Warum sollte ich mich weigern, irgend jemanden zu
bedienen?«
Caroline sah mich zugleich mitleidig und verächtlich an.
»Sie sind natürlich neu hier«, sagte sie mit einem honigsüßen
Lächeln. »Aber wir haben in der Vergangenheit schon häufig
Probleme gehabt. Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Ich
glaube kaum, daß diese Leute es wagen werden, Ihren Laden
zu betreten. Aber Vorsicht ist besser als Nachsicht, meinen Sie
nicht auch?«
»Ich verstehe nicht recht.«
»Na ja, diese Zigeuner, diese Leute vom Fluß«, erwiderte sie
beinahe ungehalten. »Sie sind schon wieder da, und, was
immer sie vorhaben, sie werden zumindest« – sie verzog
angewidert das Gesicht – »ihre Vorräte aufstocken wollen.«
»Und?« fragte ich freundlich.
»Nun, wir müssen ihnen klipp und klar zeigen, daß sie mit uns
nicht rechnen können!« erklärte sie erregt. »Wir müssen ihnen
zeigen, daß wir uns alle einig sind und ihnen nichts verkaufen
werden. Sie sollen gefälligst dorthin zurückgehen, woher sie
gekommen sind.«
»Oh.« Ich ließ mir ihre Worte durch den Kopf gehen. »Können
wir uns denn überhaupt weigern, ihnen etwas zu verkaufen?«
fragte ich. »Wenn sie Geld haben, um zu bezahlen?«
Ungehalten: »Natürlich können wir das. Wer sollte uns denn
daran hindern?«
Ich überlegte einen Moment lang, dann gab ich ihr die gelbe
Karte zurück. Caroline starrte mich an.
»Sie machen nicht mit?« Ihre Stimme war plötzlich eine
Oktave höher und hatte nichts mehr von ihrem gewählten Ton.

Page 103
Ich zuckte die Achseln.
»Wenn jemand sein Geld in meinem Laden ausgeben will,
habe ich wohl kaum das Recht, ihn daran zu hindern«, sagte ich.
»Aber die Gemeinde …« beharrte Caroline. »Sie wollen doch
sicherlich nicht, daß solche Leute – Zigeuner, Wegelagerer,
Araber, Herrgott noch mal …«
Erinnerungsfetzen schießen mir durch den Kopf, finster
dreinblickende Hotelportiers in New York, vornehme Damen in
Paris, Touristen in Sacré-Cœur, die Kamera in der Hand, das
Gesicht abgewandt, um das bettelnde Mädchen in seinem zu
kurzen Kleid und mit seinen zu langen Beinen nicht sehen zu
müssen … Caroline Clairmont, obwohl sie auf dem Land
aufgewachsen ist, weiß genau, wie wichtig es ist, sich beim
richtigen modiste einzukleiden. Das elegante Tuch, das sie um
den Hals trägt, hat ein Etikett von Hermès, und ihr Parfüm ist
von Chanel. Meine Antwort klang schärfer als beabsichtigt.
»Ich denke, die Gemeinde sollte sich um ihre eigenen
Angelegenheiten kümmern«, sagte ich barsch. »Es steht weder
mir – noch irgend jemandem – zu, darüber zu befinden, wie
diese Leute ihr Leben gestalten.«
Caroline starrte mich giftig an.
»Nun gut, wenn das Ihre Meinung ist« – sie wandte sich zum
Gehen –, »dann will ich Sie nicht länger aufhalten.« Sie warf
einen herablassenden Blick auf die leeren Barhocker. »Ich hoffe
nur, daß Sie Ihre Entscheidung nicht eines Tages bereuen
werden, das ist alles.«
»Warum sollte ich?«
Sie zuckte verdrießlich die Achseln.
»Na ja, falls es Schwierigkeiten gibt oder so.« Aus ihrem Ton
schloß ich, daß das Gespräch damit beendet war. »Diese
Leute bringen nur Probleme, wissen Sie. Drogen, Gewalt …«
Ihr säuerliches Lächeln ließ vermuten, daß sie es begrüßen

Page 104
würde, mich als Opfer solcher Probleme zu sehen. Der Junge
starrte mich verständnislos an. Ich lächelte.
»Ich habe neulich mit deiner Großmutter gesprochen«, sagte
ich zu ihm. »Sie hat mir viel von dir erzählt.« Der Junge errötete
und murmelte etwas Unverständliches.
Caroline wurde stocksteif.
»Ich habe gehört, daß sie hier gewesen ist«, sagte sie mit
gezwungenem Lächeln. »Sie sollten meine Mutter wirklich nicht
unterstützen«, fügte sie mit geheucheltem schelmischem
Augenaufschlag hinzu. »Sie ist schon schlimm genug.«
»Oh, ich habe ihre Gesellschaft sehr genossen«, erwiderte
ich, ohne meinen Blick von dem Jungen zu wenden. »Richtig
erfrischend. Und geistig äußerst fit.«
»Für ihr Alter.«
»Für jedes Alter.«
»Nun, sie mag vielleicht auf Fremde so wirken«, sagte
Caroline pikiert. »Aber für ihre Angehörigen …« fuhr sie mit
einem kühlen Lächeln fort. »Sie müssen wissen, meine Mutter
ist sehr alt. Ihr Verstand ist nicht mehr, was er einmal war. Ihr
Sinn für die Realität –« Sie unterbrach sich mit einer nervösen
Geste. »Das muß ich Ihnen sicherlich nicht erklären«, sagte sie.
»Nein, das brauchen Sie nicht«, erwiderte ich freundlich. »Es
geht mich schließlich nichts an.«
Ihre Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen, als sie die
Spitze durchschaute. Sie mag vielleicht bigott sein, aber sie ist
nicht dumm.
»Ich meine …« Einen Moment lang geriet sie ins Stocken. Ich
glaubte, ein kurzes, belustigtes Funkeln in den Augen des
Jungen zu sehen, aber möglicherweise habe ich mir das auch
eingebildet. »Ich meine, meine Mutter weiß durchaus nicht
immer, was das beste für sie ist.« Sie hatte sich wieder in der
Gewalt, ihr Lächeln war so steif wie ihre Frisur. »Dieser Laden

Page 105
zum Beispiel.«
Ich nickte.
»Meine Mutter ist Diabetikerin«, erläuterte Caroline. »Der Arzt
erklärt ihr immer wieder, daß sie keinen Zucker essen darf.
Aber sie hört nicht auf ihn. Sie lehnt jede Behandlung ab.« Sie
warf ihrem Sohn einen triumphierenden Blick zu. »Was meinen
Sie, Madame Rocher, ist das normal? Ist es normal, sich so
unvernünftig zu benehmen?« Ihre Stimme wechselte wieder die
Tonlage, wurde schrill und gereizt. Peinlich berührt, warf ihr
Sohn einen Blick auf seine Armbanduhr.
»Maman, ich komme zu spät«, sagte er höflich. Zu mir:
»Verzeihen Sie, Madame, ich muß zur Sch-Schule.«
»Hier, eine Tüte Pralinen für dich. Eine Spezialität. Ein
Geschenk des Hauses.« Ich reichte ihm die Cellophantüte.
»Mein Sohn ißt keine Schokolade«, erklärte Caroline streng.
»Er ist hyperaktiv. Kränklich. Er weiß, daß sie ihm nicht
bekommt.«
Ich schaute den Jungen an. Er wirkte weder kränklich noch
hyperaktiv, höchstens gelangweilt und ein wenig gehemmt.
»Sie hält große Stücke auf dich«, sagte ich. »Deine
Großmutter. Vielleicht kommst du einfach mal in den Laden,
wenn sie hier ist. Sie ist eine meiner Stammkundinnen.«
Seine Augen leuchteten hinter den Ponyfransen kurz auf.
»Mal sehen.« Es klang nicht enthusiastisch.
»Mein Sohn hat keine Zeit, um in Süßwarenläden
herumzulungern«, sagte Caroline hochnäsig. »Mein Sohn ist ein
talentierter Junge. Er weiß, was er seinen Eltern schuldig ist.«
Ihre Worte enthielten eine Art Drohung, eine selbstgefällige
Gewißheit. Sie drehte sich um und ging an Luc vorbei, der
bereits an der Tür war.
»Luc«, sagte ich leise. Zögernd drehte er sich um.
Unwillkürlich faßte ich ihn am Arm und schaute ihm in die

Page 106
Augen, schaute hinter das ausdruckslos höfliche Gesicht und
sah …
»Hat Rimbaud dir gefallen?« fragte ich, ohne nachzudenken,
während mir tausend Bilder durch den Kopf schossen.
Einen Augenblick lang wirkte der Junge beinahe
schuldbewußt.
»Was?«
»Rimbaud. Sie hat dir ein Buch mit seinen Gedichten zum
Geburtstag geschenkt, stimmt’s?«
»J-ja.« Die Antwort war kaum hörbar. Er schaute mich mit
graugrünen Augen an und schüttelte leicht den Kopf, wie um
mich zu warnen. »Ich ha-hab sie aber nicht gelesen«, sagte er
etwas lauter. »Ich m-mag keine G-Gedichte.« Ein eselsohriges
Buch, in der hintersten Ecke eines Kleiderschranks versteckt.
Ein Junge, der die wunderbaren Gedichte beinahe inbrünstig
vor sich hin murmelt. Bitte, komm, flüstere ich lautlos. Bitte,
Armande zuliebe.
In seinen Augen flackerte etwas auf.
»Ich muß jetzt gehen.«
Caroline wartete ungeduldig an der Tür.
»Bitte, nimm das.« Ich reichte ihm ein kleines Päckchen – drei
Pralinés in Silberpapier gewickelt. Der Junge hat Geheimnisse.
Ich spürte, wie sie aus ihm heraus wollten. Mit schnellem Griff,
so daß seine Mutter es nicht sah, nahm er das Päckchen und
lächelte. Vielleicht habe ich mir die Worte nur eingebildet, die er
mit den Lippen formte:
»Sagen Sie ihr, ich werde kommen. A-am Mittwoch, wwenn
Maman zum F-Friseur geht.«
Und dann war er verschwunden.
Ich erzählte Armande, die später am Tag vorbeischaute, von
ihrem Besuch. Sie schüttelte den Kopf und brach in schallendes
Gelächter aus, als ich ihr von meinem Gespräch mit Caroline

Page 107
berichtete.
»Hi hi hi!« Sie hatte es sich in dem alten Sessel bequem
gemacht und hielt eine Tasse Mokka in den feingliedrigen
Händen. »Meine arme Caro. Kann’s nicht ertragen, wenn man
ihr die Wahrheit sagt, nicht wahr?« Sie nippte genüßlich an ihrer
Tasse. »Was hat sie davon, wenn sie so über mich herzieht?«
fragte sie leicht gereizt. »Ihnen zu sagen, was ich essen darf
und was nicht. Ich bin also Diabetikerin, wie? Das möchte ihr
Arzt uns alle glauben machen.« Sie knurrte verächtlich. »Nun,
ich lebe noch, oder? Ich bin vorsichtig. Aber das reicht ihnen
natürlich nicht, o nein. Sie wollen mich unbedingt unter ihrer
Fuchtel haben.« Sie schüttelte den Kopf. »Dieser arme Junge.
Er stottert, haben Sie das bemerkt?«
Ich nickte.
»Daran ist seine Mutter schuld«, sagte Armande verächtlich.
»Wenn sie ihn bloß in Frieden gelassen hätte – aber nein.
Ständig muß sie ihn korrigieren. Immer ist sie hinter ihm her.
Und macht alles nur noch schlimmer. Sie gibt ihm das Gefühl,
daß irgend etwas an ihm nicht stimmt.« Sie schnaubte. »Der
Junge hat nichts, was nicht sofort verschwinden würde, wenn es
ihm gestattet wäre, wie ein normales Kind zu leben«, erklärte
sie mit Nachdruck. »Er müßte nur mal drauflos rennen, ohne
dauernd zu befürchten, er könnte stolpern. Sie müßte ihn
loslassen. Ihm nicht länger die Luft zum Atmen nehmen.«
Ich erklärte ihr, es sei normal, wenn eine Mutter ihre Kinder zu
beschützen versucht.
Armande schenkte mir einen ihrer ironischen Blicke.
»Ach, so nennen Sie das?« sagte sie. »So wie die Mistel
einen Apfelbaum beschützt?« Sie lachte in sich hinein. »Ich
hatte früher Apfelbäume im Garten«, erzählte sie. »Die Misteln
haben einem nach dem anderen den Garaus gemacht. Eine
gemeine kleine Pflanze, sieht gar nicht gefährlich aus, mit ihren

Page 108
schönen Beeren, kann allein nicht überleben, aber wehe, wenn
sie einen Baum erwischt!« Sie nippte an ihrem Mokka. »Sie ist
Gift für alles, was mit ihr in Berührung kommt.« Sie nickte mir
vielsagend zu. »Genau wie meine Caro.«
Nach dem Mittagessen habe ich Guillaume kurz gesprochen.
Er war unterwegs zum Zeitungsladen. Guillaume ist süchtig nach
Filmzeitschriften, obwohl er nie ins Kino geht, und er kauft sich
jede Woche einen ganzen Stapel davon. Vidéo und Ciné-Club,
Télérama und Film Express. Als einziger im Dorf besitzt er
eine Satellitenschüssel, und in seinem ansonsten spärlich
eingerichteten kleinen Haus hat er einen Breitbildfernseher und
einen Videorecorder von Toshiba, beides in eine Regalwand
eingebaut, die bis an die Decke mit Videofilmen gefüllt ist. Mir
fiel auf, daß er seinen Hund wieder auf dem Arm trug, der mit
trüben Augen teilnahmslos dreinblickte. Auf seine übliche
liebevolle Art streichelte er immer wieder Charlys Kopf.
»Wie geht es ihm?« fragte ich.
»Oh, er hat seine guten Tage«, sagte Guillaume. »Es steckt
immer noch eine Menge Leben in ihm.« Und dann setzten sie
ihren Weg fort, der kleine, elegante Mann und sein trauriger
brauner Hund, den er umklammert hielt, als hinge sein Leben
von ihm ab.
Joséphine Muscat ging am Laden vorbei, kam aber nicht
herein. Ich war ein bißchen enttäuscht, denn ich hatte gehofft,
noch einmal mit ihr reden zu können. Doch sie warf mir nur im
Vorbeigehen einen ausdruckslosen Blick zu, die Hände tief in
den Manteltaschen vergraben. Mir fiel auf, daß ihr Gesicht
geschwollen wirkte, die Augen zu Schlitzen verengt, was
allerdings am eiskalten Regen gelegen haben kann, die Lippen
zusammengepreßt. Sie hatte sich ein dickes, farbloses
Kopftuch wie einen Verband um den Kopf gewickelt. Ich rief sie
an, doch sie antwortete nicht, sondern beschleunigte ihren

Page 109
Schritt, wie um vor einer Gefahr zu fliehen.
Ich zuckte die Achseln. Diese Dinge brauchen Zeit. Manchmal
eine Ewigkeit.
Später, als Anouk mit den Kindern in Les Marauds spielte und
ich den Laden geschlossen hatte, schlenderte ich über die
Avenue des Francs Bourgeois auf das Café de la République
zu. Es ist ein kleines, schäbiges Lokal mit trüben
Fensterscheiben, auf denen stets dieselbe spécialité du jour
steht, und einer schmuddeligen Markise, die den Laden noch
düsterer macht. Drinnen sind an einer Wand mehrere
Spielautomaten aufgereiht, und in der Mitte stehen ein paar
runde Tische, an denen die wenigen griesgrämig
dreinblickenden Gäste ihren café crème oder ihren demi
schlürfen und endlos über Nichtigkeiten debattieren. Es riecht
nach fettigem Essen und Zigarettenqualm, obwohl niemand zu
rauchen scheint. Mir fiel eine von Caroline Clairmonts gelben
Karten auf, die an gut sichtbarer Stelle neben der offenen Tür
hing. Darüber ein schwarzes Kruzifix.
Nach kurzem Zögern trat ich ein.
Muscat stand hinter der Theke. Er musterte mich abschätzig.
Fast unmerklich glitt sein Blick kurz zu meinen Beinen, meinen
Brüsten – zack-zack, wie die Leuchtanzeigen an den
Spielautomaten, die kurz aufblitzen. Mit einer Hand griff er nach
dem Zapfhahn und ließ die Muskeln seines Unterarms spielen.
»Was darf’s denn sein?«
»Einen café-cognac, bitte.«
Er servierte mir den Kaffee in einer kleinen, braunen Tasse,
dazu zwei in Papier gewickelte Zuckerwürfel. Ich nahm den
Kaffee und trug ihn zu einem Tisch in der Nähe des Fensters.
Ein paar alte Männer – einer von ihnen mit dem Abzeichen der
Légion d’Honneur an seinem ausgefransten Revers – beäugten
mich mißtrauisch.

Page 110
»Soll ich Ihnen Gesellschaft leisten?« fragte Muscat grinsend.
»Sie wirken ein bißchen … verloren, wie Sie da so allein am
Tisch sitzen.«
»Nein, danke«, erwiderte ich höflich. »Ich hatte eigentlich
gehofft, Joséphine heute zu treffen. Ist sie da?«
Muscat sah mich säuerlich an, sein Sinn für Humor war
verflogen.
»Ach ja, Ihre Busenfreundin«, sagte er trocken. »Tja, Sie
haben sie leider verpaßt. Sie ist gerade nach oben gegangen,
um sich ein bißchen auszuruhen. Kopfschmerzen.« Er begann
mit merkwürdiger Heftigkeit ein Glas zu polieren. »Erst geht sie
den ganzen Tag einkaufen, und dann legt sie sich ins Bett,
während ich hier die ganze Arbeit mache.«
»Geht es ihr gut?«
Er starrte mich an.
»Klar.« Seine Stimme klang scharf. »Warum sollte es ihr nicht
gutgehen? Ich wünschte nur, die gnädige Frau würde ab und zu
ihren fetten Arsch hochkriegen, dann würde dieser verdammte
Laden auch besser laufen.« Er bohrte seine mit dem
Geschirrtuch umwickelte Faust in das Glas und schnaufte vor
Anstrengung.
»Ich meine …« Er machte eine ausladende Geste. »Ich
meine, sehen Sie sich die Bude doch bloß mal an.« Er schaute
mich an, als wollte er noch etwas sagen, doch dann wanderte
sein Blick zum Eingang.
»He!« Er sprach offenbar jemanden an, den ich von meinem
Platz aus nicht sehen konnte. »Seid ihr begriffsstutzig? Wir
haben geschlossen!«
Ich hörte eine Männerstimme etwas Unverständliches
antworten. Muscat grinste hämisch.
»Könnt ihr Idioten nicht lesen?« Er deutete auf ein Exemplar
der gelben Karten, von denen ich schon eine an der Tür

Page 111
gesehen hatte. »Los, haut ab!«
Ich stand auf, um nachzusehen, was sich an der Tür abspielte.
Fünf Leute standen unsicher vor dem Café, zwei Männer und
drei Frauen. Alle fünf waren mir unbekannt, nicht weiter auffällig,
nur daß sie einfach fremd wirkten in ihren geflickten Hosen, den
schweren Stiefeln und den verschossenen TShirts, die sie zu
Außenseitern stempelten. Dieser demütige Blick müßte mir
vertraut sein. Ich hatte ihn auch einmal gehabt. Der Mann, den
ich hatte sprechen hören, hatte rotes Haar und trug ein grünes
Stirnband. Er schaute sich mit vorsichtigem Blick um, sein
Tonfall war betont neutral.
»Wir wollen nichts verkaufen«, erklärte er. »Wir möchten nur
ein Bier und Kaffee trinken. Wir werden Ihnen keine
Unannehmlichkeiten bereiten.«
Muscat sah ihn verächtlich an.
»Ich hab doch gesagt, wir haben geschlossen.«
Eine der Frauen, eine unscheinbare, magere Gestalt mit
einem Ring in der Augenbraue, zupfte ihn am Ärmel.
»Es hat keinen Zweck, Roux. Laß uns lieber –«
»Laß mich.« Roux schüttelte sie ungehalten ab. »Ich verstehe
nicht recht. Die Dame, die eben noch hier war … Ihre Frau …
sie wollte uns –«
»Meine Frau kann mich mal!« schrie Muscat. »Die Alte ist
doch dümmer als die Polizei erlaubt! Es ist mein Name, der
über der Tür steht, und ich sage wir haben geschlossen!« Er
war hinter der Theke hervorgekommen und stand jetzt, die
Fäuste in die Hüften gestemmt, in der Tür wie ein
übergewichtiger Revolverheld aus einem drittklassigen
Western. Ich sah seine gelblich glänzenden Knöchel und hörte
seinen pfeifenden Atem. Seine Züge waren wutverzerrt.
»Verstehe«, sagte Roux mit ausdruckslosem Gesicht.
Bedächtig betrachtete er die Gäste, die an den Tischen saßen.

Page 112
»Geschlossen.« Noch einmal blickte er in die Runde. Unsere
Augen trafen sich kurz. »Für uns geschlossen«, sagte er ruhig.
»Ihr seid ja gar nicht so blöd, wie ihr ausseht«, sagte Muscat
hämisch. »Das letzte Mal haben wir schon genug Ärger mit
eurer Sorte gehabt. Diesmal lassen wir uns das nicht mehr
bieten.«
»Okay.« Roux wandte sich zum Gehen. Muscat trat noch zwei
Schritte vor, steifbeinig wie ein Hund, der einen Kampf wittert.
Ich ließ meinen halb ausgetrunkenen Kaffee auf dem Tisch
stehen und ging wortlos an ihm vorbei. Ich hoffe, er erwartete
kein Trinkgeld.
Auf halbem Weg die Avenue des Francs Bourgeois hinunter
holte ich die kleine Gruppe ein. Es hatte wieder angefangen zu
nieseln, und die fünf wirkten verfroren und niedergeschlagen.
Jetzt sah ich ihre Boote unten am Ufer in Les Marauds, etwa
zwei Dutzend … eine kleine Flotte grüner, gelber, blauer,
weißer, roter Hausboote, einige mit Leinen voller feuchter
Wäsche, andere mit bunten Szenen aus Tausendundeiner
Nacht, mit Bildern von fliegenden Teppichen und Einhörnern
bemalt, die sich in dem trüben grünen Wasser spiegelten.
»Es tut mir leid, daß man Sie so behandelt«, sagte ich. »Die
Leute in Lansquenet-sous-Tannes sind nicht besonders
gastfreundlich.«
Roux musterte mich eindringlich.
»Ich heiße Vianne«, sagte ich. »Ich habe eine chocolaterie
gegenüber der Kirche. La Céleste Praline.« Er schaute mich
stumm an. Ich erkannte mich selbst in seinem betont
ausdruckslosen Gesicht. Ich hätte ihm – ihnen allen – gern
gesagt, daß mir ihre Wut und ihre Demütigung vertraut waren,
daß ich sie am eigenen Leib erfahren hatte, daß sie nicht allein
waren. Aber ich wußte auch um ihren Stolz, ihren sinnlosen
Trotz, der übrigbleibt, wenn einem alles andere ausgetrieben

Page 113
wurde. Ich wußte, daß Mitgefühl das letzte war, was sie wollten.
»Kommen Sie doch morgen zu mir in den Laden«, sagte ich
freundlich. »Bei mir gibt es zwar kein Bier, aber dafür sehr
guten Kaffee.«
Er sah mich an, als fürchtete er, ich wollte mich über ihn lustig
machen.
»Sie würden mir eine Freude bereiten«, sagte ich. »Ich würde
Ihnen gern einen Kaffee und ein Stück Kuchen ausgeben. Ihnen
allen.« Die magere Frau sah ihre Freunde an und hob die
Schultern, was Roux mit einem Achselzucken erwiderte.
»Mal sehen.« Sein Ton war unverbindlich.
»Wir haben viel zu tun«, sagte die junge Frau keck.
Ich lächelte. »Legen Sie eine Pause ein«, schlug ich vor.
Wieder dieser musternde, mißtrauische Blick.
»Mal sehen.«
Während ich ihnen nachschaute, kam Anouk den Hügel
heraufgerannt. Ihr roter Anorak flatterte im Wind wie die Flügel
eines exotischen Vogels.
»Maman, Maman! Schau mal die Boote!«
Eine Weile blieben wir stehen und betrachteten die Boote, die
flachen Lastkähne, die Hausboote mit den rostigen Dächern,
den Ofenrohren, den Gemälden an den Bootswänden, den
bunten Flaggen, die aufgemalten Zeichen, die gegen Unfälle
und Schiffbruch schützen sollten, die kleinen Beiboote, die
ausgelegten Angelschnüre, Reusen zum Fangen von
Flußkrebsen, die für die Nacht aus dem Wasser gezogen
worden waren, ausgefranste Schirme, die als Sichtschutz
dienten, am Ufer riesige Blechtonnen, in denen Feuer
angezündet worden waren, um die Mücken von den Booten
fernzuhalten. Es roch nach Holzfeuer und Benzin und
gebratenem Fisch, und vom Fluß her wurde leise Musik zu uns
herübergetragen, die unheimlichen, fast menschlich klagenden

Page 114
Töne eines Saxophons. In der Dämmerung konnte ich die
Gestalt des rothaarigen Mannes erkennen, der allein an Deck
eines schwarzen Hausbootes stand. Als er mich sah, hob er die
Hand. Ich winkte zurück.
Es war schon fast dunkel, als wir den Heimweg antraten.
Unten in Les Marauds hatte sich ein Trommler zu dem
Saxophon gesellt, und der Klang seines Instruments wurde
gedämpft vom Wasser zurückgeworfen. Ich ging am Café de la
République vorbei, ohne hineinzusehen.
Kurz vor dem Ende der steilen Straße spürte ich, daß jemand
in der Nähe war. Ich drehte mich um und sah Joséphine Muscat,
ohne Mantel, aber mit einem Tuch um den Kopf, das ihr Gesicht
zur Hälfte bedeckte. Im Halbdunkel wirkte sie bleich, wie ein
Schattenwesen.
»Lauf schon nach Hause, Anouk. Ich komme gleich.«
Anouk schaute mich verblüfft an, dann rannte sie folgsam los.
»Ich habe gehört, was Sie getan haben«, sagte Joséphine
leise. »Sie sind gegangen wegen dieser Sache mit den Leuten
vom Fluß.«
Ich nickte. »Genau.«
»Paul-Marie war wütend.« Sie sagte das mit einer Strenge,
die fast einen bewundernden Unterton hatte. »Sie hätten mal
hören sollen, was er alles über Sie gesagt hat.«
Ich lachte.
»Glücklicherweise brauche ich mir nicht anzuhören, was Paul-
Marie zu sagen hat«, erwiderte ich trocken.
»Jetzt darf ich nicht mehr mit Ihnen reden«, fuhr sie fort. »Er
meint, Sie hätten einen schlechten Einfluß auf mich.« Sie sah
mich nervös und erwartungsvoll an. »Er will nicht, daß ich
Freundinnen habe«, fügte sie hinzu.
»Sie erzählen mir nur, was Paul-Marie will«, sagte ich
freundlich. »Er interessiert mich eigentlich überhaupt nicht. Aber

Page 115
Sie –« Ich berührte flüchtig ihren Arm. »Sie interessieren mich
sehr.«
Sie errötete und schaute sich um, als fürchtete sie, jemand
könnte hinter ihr stehen.
»Sie verstehen das nicht«, murmelte sie.
»Ich glaube doch.« Ich fuhr mit den Fingerspitzen über ihr
Kopftuch.
»Warum tragen Sie das?« fragte ich unvermittelt. »Wollen Sie
es mir erzählen?«
Sie schaute mich zugleich ängstlich und hoffnungsvoll an und
schüttelte den Kopf. Vorsichtig löste ich das Kopftuch.
»Sie sind hübsch«, sagte ich, als ich ihr das Tuch abnahm.
»Sie könnten eine Schönheit sein.«
Unterhalb ihrer Unterlippe war ein frischer blauer Fleck zu
sehen. Sie öffnete den Mund, um mir automatisch eine Lüge
aufzutischen. Ich fiel ihr ins Wort.
»Das stimmt nicht«, sagte ich.
»Woher wollen Sie das wissen?« fragte sie gereizt. »Ich hab
ja noch gar nichts gesagt …«
»Das brauchten Sie auch nicht.«
Schweigen. Vom Fluß her waren jetzt helle Flötentöne zu
hören, die die Trommel begleiteten. Als sie endlich zu sprechen
begann, war es voller Selbstverachtung.
»Es ist idiotisch, nicht wahr?« Ihre Augen hatten sich zu
Schlitzen verengt. »Ich gebe ihm nie die Schuld. Nicht so richtig.
Manchmal vergesse ich sogar, was wirklich passiert ist.« Sie
holte tief Luft wie eine Taucherin, bevor sie unter Wasser geht.
»Ich renne durch geschlossene Türen, falle die Treppe hinunter,
trete auf R-Rechen.« Sie schien einem Lachanfall nahe. Ich
spürte die Hysterie hinter ihren Worten. »Ich neige zu Unfällen,
sagt er jedesmal. Unfälle.«
»Weswegen ist es denn diesmal passiert?« fragte ich sanft.

Page 116
»Wegen der Leute am Fluß?«
Sie nickte.
»Sie hatten nichts Böses im Sinn. Ich wollte sie einfach nur
bedienen.« Einen Moment lang nahm ihre Stimme einen
schrillen Ton an. »Ich sehe überhaupt nicht ein, warum ich
dieser Clairmont, dieser Giftschlange, dauernd nach der Pfeife
tanzen soll!« Sie begann, Caroline nachzuäffen. »Also, wir
müssen unbedingt zusammenhalten«, sagte sie mit gespielter
Ereiferung. »Um der Gemeinde willen. Denken Sie doch an
unsere Kinder, Madame Muscat …« Dann holte sie kurz Luft
und fuhr in ihrer normalen Stimme fort. »Gewöhnlich grüßt sie
mich noch nicht mal auf der Straße, sondern tut, als wäre ich
Luft!« Sie atmete tief durch, um ihre Fassung zu wahren.
»Dauernd heißt es, Caro hier, Caro da«, zischte sie wütend.
»Ich hab genau gesehen, wie er sie in der Kirche anstarrt.
Wieso bist du nicht wie Caroline Clairmont?« Jetzt ahmte sie
die vom Suff heisere Stimme ihres Mannes nach. Sie brachte
es sogar fertig, seine Haltung zu parodieren, das vorgereckte
Kinn, die aggressive Art, wie er sich in Positur warf. »Neben ihr
siehst du aus wie eine fette Kuh. Diese Frau hat Stil, sie hat
Klasse. Sie hat einen prächtigen Sohn, der nicht nur
wohlerzogen, sondern auch noch ein guter Schüler ist. Und du,
was hast du, hä? Was zum Teufel hast du zu bieten?«
»Joséphine.« Sie starrte mich entgeistert an.
»Tut mir leid. Einen Moment lang hab ich ganz vergessen, wo
…«
»Ich weiß.«
Meine Nackenhaare begannen sich vor Wut zu sträuben.
»Sie müssen mich für unglaublich dumm halten, daß ich all die
Jahre bei ihm geblieben bin«, sagte sie tonlos, ihre Augen
dunkel und haßerfüllt.
»Nein, das tue ich nicht.«

Page 117
Sie ignorierte meine Antwort.
»Das bin ich tatsächlich«, sagte sie. »Dumm und schwach. Ich
liebe ihn nicht – kann mich kaum erinnern, ihn je geliebt zu
haben –, aber die Vorstellung, ihn zu verlassen …« Sie hielt
verwirrt inne. »Ihn wirklich zu verlassen …«, wiederholte sie
leise.
»Nein, es hat keinen Zweck.« Sie schaute mich an, und ihre
Miene war entschlossen. »Deswegen kann ich nicht mehr mit
Ihnen reden«, erklärte sie mir gefaßt. »Ich könnte Ihnen nichts
vormachen – das haben Sie nicht verdient. Aber es geht nicht
anders.«
»Doch«, widersprach ich. »Es geht anders.«
»Nein.« Sie wehrte sich verzweifelt und voller Bitterkeit gegen
die Aussicht, Trost zu finden. »Verstehen Sie denn nicht? Ich bin
nichts wert. Ich stehle. Ich habe Sie schon einmal belogen. Ich
stehle immer wieder!«
»Ja. Ich weiß.«
Die Erkenntnis drehte sich lautlos zwischen uns wie eine
Christbaumkugel.
»Dinge können sich ändern«, sagte ich schließlich. »Paul-
Marie ist nicht allmächtig.«
»So kommt er mir aber vor«, erwiderte Joséphine trotzig.
Ich lächelte. Was könnte sie nicht alles erreichen, wenn sie
diesen Trotz nicht nach innen, sondern nach außen richten
würde. Ich könnte ihr helfen. Ich spürte ihre Gedanken, sie war
mir so nah, sie war so offen. Es wäre so leicht, die Sache in die
Hand zu nehmen. Ungehalten wehrte ich den Gedanken ab. Es
stand mir nicht zu, sie zu einer Entscheidung zu zwingen.
»Bisher hatten Sie niemanden, an den Sie sich wenden
konnten«, sagte ich. »Jetzt haben Sie jemanden.«
»Wirklich?« Aus ihrem Mund hörte es sich beinahe an wie das
Eingeständnis, verloren zu haben.

Page 118
Ich sagte nichts. Ich ließ sie ihre Frage selbst beantworten.
Eine Zeitlang schaute sie mich schweigend an. Die Lichter
von Les Marauds spiegelten sich in ihren Augen. Erneut fiel mir
auf, daß es kaum eines Aufwands bedurfte, und sie wäre eine
Schönheit.
»Gute Nacht, Joséphine.«
Ich wandte mich nicht nach ihr um, aber ich wußte, daß sie mir
nachschaute, als ich den Hügel hinaufging, und ich bin mir
sicher, daß sie noch lange dort gestanden und hinter mir
hergeschaut hat, als ich schon längst um die Ecke gebogen und
aus ihrem Blickfeld verschwunden war.
Mittwoch, 26. Februar
Der Regen scheint nicht enden zu wollen. Es ist, als würde ein
Teil des Himmels ausgeleert, um die Erde mit Trübsal zu
übergießen und in ein Aquarium zu verwandeln. Die Kinder, in
ihren Regenjacken und Gummistiefeln wie bunte Plastikenten,
watscheln lärmend durch die Pfützen auf dem Dorfplatz, wo ihr
Geschrei von den niedrig hängenden Wolken widerhallt. Ich
beobachte sie mit halbem Auge, während ich in der Küche
arbeite. Heute morgen habe ich die Schaufensterdekoration
abgebaut, die Hexe, das Lebkuchenhaus und all die
Schokoladentiere, die die Szenerie bevölkerten, und Anouk und
ihre Freunde machten sich zwischen ihren Ausflügen in die
verregneten Gassen von Les Marauds gierig über die
Süßigkeiten her. Mit leuchtenden Augen, ein Stück
Lebkuchenhaus in jeder Hand, sah Jeannot Drou mir in der
Küche bei der Arbeit zu. Hinter ihm stand Anouk, dahinter die
anderen, lauter neugierige Augen und aufgeregtes Flüstern.
»Und jetzt?« fragt er mit einer für sein Alter tiefen Stimme, ein
kleiner Maulheld mit Schokolade am Kinn. »Was kommt als
nächstes ins Schaufenster?«
Ich zucke die Achseln.

Page 119
»Das ist ein Geheimnis«, antworte ich, während ich crème de
cacao in eine Emailschüssel mit geschmolzener Kuvertüre
rühre.
»Och nee.« Er läßt nicht locker. »Es wird bestimmt was für
Ostern. Eier und so ’n Zeugs. Schokoladenhühner, Osterhasen
und so. Wie in den Läden in Agen.«
Erinnerungen aus meiner Kindheit; die Schaufenster der
chocolateries in Paris mit Körben voller in bunte Folie
gewickelter Ostereier, mit Armeen von Osterhasen, Hühnern,
Glocken, Marzipanfrüchten, marrons glacés und amourettes
und filigranen Nestern, gefüllt mit petits fours und
Sahnebonbons, und tausendundeine Epiphanie aus
Zuckerwattewolken, die eher an einen orientalischen Harem
erinnerten als an die ernste Feierlichkeit der Fastenzeit.
»Meine Mutter hat mir früher die Geschichte von den
Osterleckereien erzählt.« Wir hatten nie genug Geld, um diese
erlesenen Sachen zu kaufen, aber ich bekam jedes Jahr ein
cornet surprise, eine spitze Papiertüte mit Ostergeschenken:
Münzen, Papierblumen, buntgefärbte hartgekochte Eier, eine
Muschel aus Pappmaché – jedes Jahr dieselbe, bemalt mit
Hühnchen, Osterhasen, lächelnden Kindern zwischen
Butterblumen, die dann wieder sorgfältig verpackt und für das
nächste Osterfest aufbewahrt wurde –, darin eine kleine Tüte
mit Schokolade umhüllter Rosinen, die ich mir, wenn ich auf
unserer Reise von Stadt zu Stadt nachts in fremden
Hotelzimmern wach lag, genüßlich im Mund zergehen ließ,
während die Neonreklame des Hotels durch die Ritzen in den
Fensterläden blinkte und in der dunklen Stille nichts zu hören
war als das regelmäßige Atmen meiner Mutter, die neben mir
schlief.
»Sie hat mir erzählt, daß in der Nacht zum Karfreitag die
Glocken ihre Kirchtürme verlassen und mit Zauberflügeln nach

Page 120
Rom fliegen.« Er nickte mit dem für Heranwachsende typischen
zweifelnden Blick.
»Sie reihen sich vor dem Papst in seinem weiß-goldenen
Gewand, der Mitra und dem goldenen Hirtenstab auf, große
Glocken und kleine Glöckchen, clochettes und schwere
bourdons, carillons und Glockenspiele, und warten geduldig auf
ihren Segen.«
Meine Mutter verfügte über einen unerschöpflichen Schatz an
solchen Kindergeschichten, an deren Absurdität sie sich immer
wieder von neuem ergötzte. Sie liebte Geschichten – von Jesus
und Eostra und Ali Baba, wobei sie Märchenstoff und biblische
Geschichte und Aberglaube untrennbar miteinander verwob.
Geschichten von Wahrsagerei aus Kristallkugeln, Astralreisen,
Entführungen durch Außerirdische und Selbstentzündungen –
meine Mutter glaubte sie alle, oder tat jedenfalls so.
»Und der Papst segnet sie, jede einzelne, bis spät in die
Nacht, während die leeren Kirchtürme in ganz Frankreich auf
ihre Rückkehr warten und bis zum Ostermorgen schweigen.«
Und ich, ihre Tochter, ließ mich von ihren Worten bezaubern,
lauschte mit leuchtenden Augen ihren Erzählungen von Mithras
und Baldur dem Strahlenden, von Osiris und Quetzalcoatl,
unentwirrbar verwoben mit Geschichten von fliegenden
Süßigkeiten, fliegenden Teppichen, von der Dreifaltigen Göttin
und Aladins Schatzhöhle, von dem Grab, aus dem Jesus nach
drei Tagen auferstand, amen, Abrakadabra, amen.
»Und der Segen verwandelt sich in lauter bunte Süßigkeiten,
und die Glocken stellen sich auf den Kopf, fangen sie auf und
nehmen sie mit nach Hause. Sie fliegen die ganze Nacht, und
wenn sie am Ostersonntag in ihren Türmen ankommen, drehen
sie sich um und läuten freudig das Osterfest ein …«
Die Glocken von Paris, Rom, Köln, Prag. Morgenläuten,
Trauerläuten, die immer wiederkehrende Begleitmusik in

Page 121
unseren Jahren des Exils. Das Osterläuten so laut in meiner
Erinnerung, daß es beinahe schmerzt.
»Und die Süßigkeiten fliegen hinaus über die Felder und die
Städte. Sie regnen vom Himmel, während die Glocken läuten.
Manche zerbrechen, wenn sie auf den Boden fallen. Aber die
Kinder bauen weiche Nester, um die herabfallenden Ostereier
und Pralinen, die Hasen und Küken aus Schokolade, die
guimauves und Mandeln aufzufangen …«
Jeannot starrt mich mit leuchtenden Augen an.
»Cool!« sagt er grinsend.
»Und darum gibt’s zu Ostern Süßigkeiten.«
Seine Stimme ist voller Begeisterung, die plötzliche Gewißheit
läßt ihn lauter werden.
»Au ja, bitte, machen Sie das!«
Ich wende mich ab und rolle eine Trüffel in Kakaopulver.
»Was soll ich machen?«
»Das! Die Ostergeschichte. Das wär echt cool … mit den
Glocken und dem Papst und alles … und dann könnten wir ein
Schokoladenfest veranstalten, eine ganze Woche lang, und wir
könnten Nester bauen – und Ostereier suchen und –« Aufgeregt
zupft er an meinem Ärmel. »Madame Rocher – bitte.«
Anouk steht immer noch hinter ihm und schaut mich
erwartungsvoll an. Ein Dutzend mit Schokolade beschmierter
Gesichter im Hintergrund nicken eifrig.
» E i n Grand Festival du Chocolat.« Ich denke über den
Vorschlag nach. In einem Monat wird der Flieder blühen. Ich
mache jedes Jahr ein Nest für Anouk, mit einem großen Ei, auf
dem in Zuckerguß ihr Name steht. Es könnte unser eigenes
Karnevalsfest sein, ein Fest, mit dem wir unsere Entscheidung,
hierzubleiben, feiern würden. Die Idee ist mir schon früher
gekommen, aber den Vorschlag von diesem Kind zu hören,
erscheint mir schon fast wie ihre Verwirklichung.

Page 122
»Wir bräuchten ein paar Plakate.« Ich gebe mich zögernd.
»Die machen wir!« ruft Anouk aufgeregt.
»Und Girlanden –«
»Und Luftschlangen –«
»Den Papst aus weißer Schokolade –«
»Ein Schokoladenosterlamm –«
»Eierlaufen, eine Schatzsuche –«
»Wir laden alle ein, es wird –«
»Cool!«
»Megacool –«
Ich hebe lachend die Arme, um sie zum Schweigen zu bringen
und wirble eine Wolke aus bitterem Kakaopulver auf.
»Ihr macht die Plakate«, sage ich. »Den Rest überlaßt ihr
mir.«
Anouk fliegt mir stürmisch um den Hals. Sie riecht nach Salz
und Wind, nach Erde und brackigem Wasser. Ihr zerzaustes
Haar ist naß vom Regen.
»Kommt alle mit rauf in mein Zimmer!« ruft sie dicht an
meinem Ohr. »Sie dürfen doch, nicht wahr, Maman, sag, daß
sie dürfen. Wir können sofort anfangen, ich hab Papier und
Stifte und –«
»Sie dürfen«, erwidere ich.
Eine Stunde später hängt ein großes Plakat im Schaufenster
– Anouks Entwurf, ausgeführt von Jeannot. Der Text, in großen,
unbeholfenen grünen Buchstaben, lautete:
GROSSES SCHOKOLADENFEST BEI
LA CÉLESTE PRALINE
BEGINN: OSTERSONNTAG
ALLE SIND EINGELADEN
KAUFEN SIE, SOLANGE DER VORRAT REICHT!!!
Der Text ist eingerahmt von verschiedenen phantasievoll
gezeichneten Figuren. Eine Gestalt in einem langen Gewand
und mit einer hohen Krone soll wohl den Papst darstellen. Zu

Page 123
seinen Füßen sind aus Buntpapier ausgeschnittene Glocken
aufgeklebt. Alle Glocken lachen.
Ich verbrachte fast den ganzen Nachmittag damit, die
Kuvertüre zu bearbeiten und das Fenster neu zu dekorieren.
Mehrere Lagen grünes Seidenpapier sollten das Gras
andeuten. Links und rechts heftete ich Papierblumen an den
Fensterrahmen – Osterglocken und Margeriten, von Anouk
gebastelt. Aus aufeinandergestapelten leeren Blechdosen, die
einmal Kakaopulver enthalten hatten, wurde mit Hilfe von
dunkelgrünem Seidenpapier ein zerklüfteter Berg. Obenauf kam
zerknittertes Cellophanpapier als glitzernde Eisschicht. Am Fuß
des Berges entlang schlängelt sich ein Bach aus blauem
Seidenband, auf dem ein paar bunte Hausboote in das Tal
dümpeln. Im Vordergrund eine bunte Schar von
Schokoladentieren: Katzen, Hunde, Hasen, einige mit Augen
aus Rosinen, Ohren aus rosa Marzipan, Schwänzen aus Lakritz
und Zuckerblumen zwischen den Zähnen … Und Mäuse. Auf
jeder verfügbaren Fläche Mäuse. Auf dem Berghang, in dunklen
Ecken, sogar auf den Booten. Rosafarbene und weiße
Speckmäuse, Schokoladenmäuse in allen Farben, mit
Maraschinocreme marmorierte Nougatmäuse, buntgescheckte
Fondantmäuse, Marzipanmäuse in zarten Frühlingsfarben. Und
in der Mitte der Rattenfänger in seinem leuchtend rot und gelb
gemusterten Wams, in der einen Hand eine Zuckerstange als
Flöte und in der anderen seinen Hut. In meiner Küche habe ich
Hunderte von Formen, leichte aus Plastik für die Ostereier und
Schokoladenfiguren, schwere aus Keramik für die Kameen und
die gefüllten Pralinen. Mit Hilfe dieser Formen kann ich jeden
Gesichtsausdruck gestalten und ihn dann auf einen Kopf aus
Hohlschokolade kleben, dazu Haare aus durch eine feine
Presse gedrücktem Marzipan. Körper und Gliedmaßen werden
extra hergestellt und die Einzelteile zum Schluß mit Draht und

Page 124
geschmolzener Schokolade miteinander verbunden … Darüber
ein roter Umhang aus dünn ausgerolltem Marzipan. Dazu eine
Tunika, ein Hut in derselben Farbe mit einer Feder, die den
Boden neben seinen Stiefeln streift. Mit seinem roten Haar und
seinem bunten Kostüm erinnert mein Rattenfänger ein bißchen
an Roux.
Ich kann nicht widerstehen; das Fenster wirkt einladend
genug, aber ich komme nicht gegen die Versuchung an, es
noch ein wenig zu verschönern. Ich schließe die Augen und
überziehe es mit einem goldenen Glanz, stelle ein unsichtbares
Schild auf, das wie ein Leuchtturm strahlt – KOMMT ALLE
HER. Ich möchte den Menschen etwas geben, möchte sie
glücklich machen; damit kann ich doch keinen Schaden
anrichten. Mir ist bewußt, daß dies eine Reaktion auf Carolines
Feindseligkeit gegenüber dem fahrenden Volk ist, aber in
meiner momentanen Begeisterung kann ich darin nichts
Schlechtes sehen. Ich möchte, daß sie kommen.
Seit meiner letzten Begegnung mit ihnen habe ich sie hin und
wieder gesehen, doch sie scheinen mißtrauisch und scheu, wie
Stadtfüchse, die nach Abfällen suchen, aber jeden Kontakt mit
den Menschen meiden. Meistens sehe ich Roux, ihren
Botschafter – mit Einkäufen in Kartons oder Plastiktüten unter
dem Arm –, manchmal Zézette, die magere junge Frau mit dem
Ring in der Augenbraue. Gestern abend haben zwei Kinder
versucht, vor der Kirche Lavendel zu verkaufen, aber Reynaud
hat sie fortgeschickt. Ich rief sie zurück, doch sie waren zu sehr
auf der Hut und warfen mir feindselige Blicke zu, ehe sie den
Hügel hinunterrannten.
Ich war so sehr in meine Vorbereitungen und die Gestaltung
meines Schaufensters vertieft, daß ich die Zeit vergaß. Anouk
machte in der Küche Butterbrote für ihre Freunde, dann zogen
sie wieder in Richtung Flußufer ab. Ich schaltete das Radio ein

Page 125
und sang vor mich hin, während ich die Pralinen und Trüffel
sorgsam zu Pyramiden stapelte. Der Zauberberg hat eine
Öffnung, eine mit Schätzen gefüllte Höhle; lauter bunte
Süßigkeiten glänzen und glitzern wie Edelsteine. Dahinter,
durch die verkleideten Regale vor dem Licht geschützt, liegen
die zum Verkauf vorgesehenen Waren. Ich muß eigentlich sofort
mit der Herstellung des Ostersortiments beginnen, da ich in der
Osterzeit mit mehr Kundschaft rechne. Zum Glück bietet der
kühle Keller genug Lagerraum. Ich muß Geschenkkartons,
Schleifen, Cellophantüten und anderen Osterschmuck bestellen.
Ich war so beschäftigt, daß ich beinahe nicht gehört hätte, wie
Armande durch die halb offenstehende Tür eintrat.
»Guten Tag«, sagte sie in ihrem üblichen brüsken Ton. »Ich
wollte mir eigentlich noch eine Tasse von Ihrer
Schokoladenspezialität gönnen, aber wie ich sehe, haben Sie
zu tun.«
Vorsichtig kletterte ich aus dem Fenster.
»Nein, nein«, erwiderte ich. »Ich hatte Sie schon erwartet.
Außerdem bin ich fast fertig, und mein Rücken bringt mich um.«
»Also, wenn ich Sie nicht störe …« Sie war irgendwie anders
als sonst. In ihrer Stimme lag eine gewisse Schärfe, eine
gewollte Beiläufigkeit, mit der sie ihre gewaltige Anspannung zu
überspielen suchte. Sie trug einen schwarzen Strohhut mit
einem bunten Hutband und einen ebenfalls schwarzen Mantel,
der nagelneu aussah.
»Sie sind aber schick heute«, bemerkte ich.
Sie lachte kurz auf.
»Das hat schon lange niemand mehr zu mir gesagt«,
erwiderte sie, während sie mit dem ausgestreckten Zeigefinger
auf einen der Barhocker deutete. »Glauben Sie, es würde mir
gelingen, auf einen von diesen Hockern hier zu klettern?«
»Ich hole Ihnen einen Stuhl aus der Küche«, schlug ich vor,

Page 126
doch die alte Dame hielt mich mit einer herrischen Geste
zurück.
»Unsinn!« Sie beäugte den Hocker. »In meiner Jugend war
ich sehr geschickt im Klettern.« Sie raffte ihren langen Rock
hoch, so daß ihre robusten Schnürstiefel und dicke, graue
Strümpfe zum Vorschein kamen. »Meistens bin ich auf Bäume
geklettert und habe die Passanten mit kleinen Zweigen
beworfen. Ha!« Sie stieß ein zufriedenes Grunzen aus, als sie
sich, mit einer Hand auf die Theke gestützt, auf den Hocker
schwang. Unter ihrem Rock blitzte kurz etwas leuchtend Rotes
auf.
Stolz und mit sich selbst zufrieden thronte Armande auf dem
Hocker und glättete sorgfältig ihren Rock über dem roten
Unterkleid.
»Rote Seidenunterwäsche«, sagte sie grinsend, als sie
meinen Blick bemerkte. »Wahrscheinlich halten Sie mich für
eine alte Närrin, aber mir gefällt sie. Ich trage schon seit so
vielen Jahren Trauer – jedesmal, wenn es soweit ist, daß ich
wieder mit Anstand bunte Farben tragen könnte, fällt der
nächste tot um –, daß ich es inzwischen aufgegeben habe,
etwas anderes als Schwarz zu tragen.« Sie sah mich strahlend
an. »Aber Unterwäsche – das ist etwas ganz anderes.« Sie
senkte verschwörerisch die Stimme. »Ich bestelle sie per
Katalog aus Paris«, sagte sie. »Kostet mich ein Vermögen.«
Sie lachte lautlos in sich hinein. »So, wie wär’s mit einer Tasse
Schokolade?«
Ich machte sie stark und dunkel und wegen ihres Diabetes mit
so wenig Zucker wie möglich. Armande hatte mich jedoch
beobachtet und zeigte vorwurfsvoll mit dem Finger auf die
Tasse.
»Hier wird nichts rationiert!« befahl sie. »Geben Sie mir alles,
was dazugehört. Schokostreusel, einen von diesen

Page 127
Schokoladenrührlöffeln, alles. Fangen Sie bloß nicht auch noch
an wie die anderen, die alle glauben, ich könnte nicht selbst auf
mich aufpassen. Sehe ich etwa so aus, als wäre ich senil?«
Ich gab zu, daß das nicht der Fall war.
»Na also.« Mit sichtbarer Genugtuung nippte sie an dem
süßen Getränk. »Gut. Hmmm. Sehr gut. Es heißt, so was bringt
Energie, nicht wahr? Das ist ein, wie heißt es gleich, ein
Aufputschmittel, stimmt’s?«
Ich nickte.
»Und außerdem ein Aphrodisiakum, wie ich gehört habe«,
fügte sie verwegen hinzu, während sie über den Tassenrand
lugte. »Diese alten Knacker aus dem Café da drüben sollten
sich in acht nehmen. Man ist nie zu alt, um sich zu amüsieren!«
Sie brach in schrilles Gelächter aus. Schrill und aufgekratzt, die
knorrigen Hände unruhig. Mehrmals faßte sie an ihre
Hutkrempe, wie um den Hut zurechtzurücken.
Hinter der Theke schaute ich heimlich auf die Uhr, aber sie
bemerkte es trotzdem.
»Er wird nicht kommen«, sagte sie trocken. »Mein Enkelsohn.
Jedenfalls rechne ich nicht damit.« Jede ihrer Gesten strafte
ihre Worte Lügen. Die Sehnen an ihrem Hals zeichneten sich ab
wie bei einer alten Tänzerin.
Eine Weile plauderten wir über dieses und jenes; über die
Dinge, die die Kinder sich für das Fest ausgedacht hatten –
Armande bog sich vor Lachen, als ich ihr von dem Jesus und
dem Papst aus Schokolade erzählte –, über die fahrenden
Leute. Anscheinend hatte Armande Lebensmittel für die Leute
am Fluß auf ihren Namen bestellt, sehr zum Unwillen von
Reynaud. Roux wollte ihr das Geld erstatten, doch sie möchte
lieber, daß er ihr dafür ihr undichtes Dach repariert. Georges
Clairmont wird einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn er
davon erfährt, wie sie mir spitzbübisch grinsend erklärte.

Page 128
»Er bildet sich ein, er sei der einzige, der mir helfen kann«,
sagte sie zufrieden. »Er und Caro stehen sich in nichts nach, sie
versuchen dauernd, mir einzureden, mein Haus sei feucht und
ungesund. In Wirklichkeit wollen sie mich nur da raushaben. Ich
soll mein schönes Haus aufgeben und in so ein lausiges
Altenheim ziehen, wo man um Erlaubnis bitten muß, wenn man
zum Klo will!« sagte sie empört. Ihre schwarzen Augen funkelten
erbost.
»Denen werd ich’s zeigen«, fuhr sie fort. »Roux hat auf dem
Bau gearbeitet, bevor er unter die fahrenden Leute gegangen
ist. Er und seine Freunde werden mein Dach schon richten. Und
lieber bezahle ich diese Leute für ihre ehrliche Arbeit, als mir
mein Dach von diesem Schwachkopf umsonst reparieren zu
lassen.«
Mit zitternden Händen rückte sie ihren Hut zurecht.
»Ich rechne nicht mit ihm, wissen Sie.« Ihre Stimme klang
wieder so gereizt wie anfangs.
Ich wußte, daß sie nicht mehr von derselben Person redete.
Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Zwanzig nach vier. Es
begann bereits dunkel zu werden. Und ich war mir so sicher
gewesen … Das kommt davon, wenn man sich einmischt, sagte
ich mir entnervt. Wie leicht fügt man sich selbst und anderen
ungewollt Leid zu.
»Ich habe nie geglaubt, daß er kommen würde«, fuhr sie in
demselben scharfen Ton fort. »Dafür wird sie schon gesorgt
haben. Sie hat ihn gut erzogen.« Mühsam begann sie von ihrem
Hocker zu klettern. »Ich habe schon zuviel von Ihrer Zeit in
Anspruch genommen«, sagte sie knapp. »Ich muß –«
»M-Mémée.«
Sie fährt so abrupt herum, daß ich fürchte, sie stürzt. Der
Junge steht still in der Tür. Er trägt Jeans und ein
Matrosenhemd und auf dem Kopf eine Baseballmütze. In der

Page 129
Hand hält er ein kleines, zerlesenes Buch. Er spricht leise und
unsicher.
»Ich mußte w-warten, bis meine M-Mutter weg war. Sie ist
beim Frisör. Sie k-kommt erst um sechs wieder n-nach Hause.«
Armande schaut ihn an. Sie berühren sich nicht, aber ich
spüre, daß sich zwischen ihnen etwas abspielt wie eine
elektrische Entladung. Es ist zu komplex, als daß ich es
benennen könnte, aber ich spüre Wärme und Wut, Verlegenheit
und Schuldgefühle – und über allem die Freude über das
Wiedersehen.
»Du bist ja völlig durchnäßt. Ich mache dir etwas Heißes zu
trinken«, sage ich und gehe in die Küche. Beim Weggehen höre
ich den Jungen etwas sagen, leise und zögernd.
»Danke für das B-Buch«, sagt er. »Ich habe es mitgebracht.«
Er hält es hoch wie eine weiße Fahne. Es ist nicht mehr neu,
sondern so abgegriffen wie ein Buch, das immer wieder
gelesen wurde. Als Armande es registriert, verschwindet der
angespannte Ausdruck aus ihrem Gesicht.
»Lies mir dein Lieblingsgedicht vor«, sagt sie.
Während ich in der Küche Schokolade in zwei große Tassen
gieße, Sahne und Cognac hineinrühre, während ich mit Töpfen
und Tellern klappere, um ihnen das Gefühl zu geben, daß sie
ungestört sind, höre ich den Jungen das Gedicht vortragen,
anfangs steif und gestelzt, doch dann gewinnt er
Selbstvertrauen und findet seinen Rhythmus. Ich kann die Worte
nicht verstehen, aber es klingt fast wie ein Gebet.
Mir fällt auf, daß der Junge beim Vorlesen nicht stottert.
Vorsichtig stellte ich die beiden Tassen auf die Theke. Als er
mich durch die Tür treten sah, brach der Junge mitten im Satz
ab und schaute mich zugleich höflich und mißtrauisch an. Sein
Haar fiel ihm in die Stirn wie die Mähne eines scheuen Ponys.
Er bedankte sich mit ausgesuchter Höflichkeit und nippte eher

Page 130
argwöhnisch als genüßlich an seiner Schokolade.
»Eigentlich d-darf ich so was n-nicht trinken«, sagte er.
»Meine Mutter sagt, von Sch-Schokolade kriegt man P-Pickel.«
»Und ich riskiere, daß ich tot umfalle«, sagte Armande keck.
Sie lachte, als sie sein Gesicht sah.
»Komm schon, mein Junge, zweifelst du denn niemals an
dem, was deine Mutter sagt? Oder hat sie dir das bißchen
Verstand, das du von mir geerbt haben könntest, schon restlos
ausgetrieben?«
Luc starrte sie verdattert an.
»D-das sagt sie j-jedenfalls immer«, erwiderte er lahm.
Armande schüttelte den Kopf.
»Also, wenn ich hören will, was Caro zu sagen hat, dann
verabrede ich mich mit ihr«, sagte sie. »Was hast du denn zu
sagen? Du bist doch ein aufgewecktes Kerlchen, oder
zumindest warst du das früher. Also, was meinst du?«
Luc trank einen kleinen Schluck.
»Ich meine, daß sie vielleicht ein bißchen übertreibt«, sagte er
zaghaft lächelnd. »Ich finde, du siehst ziemlich fit aus.«
»Und ich hab keine Pickel«, sagte Armande.
Er lachte verblüfft. So gefiel er mir schon besser, seine Augen
leuchteten heller, und sein schelmisches Lächeln ähnelte dem
seiner Großmutter. Er war immer noch auf der Hut, aber hinter
seiner Reserviertheit schien ein kluger Kopf mit einem
ausgeprägten Sinn für Humor verborgen. Er trank seine
Schokolade aus, lehnte jedoch ein Stück Kuchen ab, obwohl
Armande zwei aß. Sie redeten eine halbe Stunde lang
ausgiebig miteinander, während ich so tat, als ginge ich meiner
Arbeit nach. Ein-oder zweimal bemerkte ich, wie der Junge
mich neugierig ansah, doch sobald ich auf ihn aufmerksam
wurde, wandte er sich ab. Ich beließ es dabei.
Um halb sechs machte Luc sich auf den Heimweg. Es wurde

Page 131
kein weiteres Treffen vereinbart, aber die selbstverständliche
Art, mit der sie sich voneinander verabschiedeten, ließ darauf
schließen, daß sie beide dasselbe dachten. Es überraschte
mich, wie sehr sie sich ähnelten, wie sie sich aufeinander zu
tasteten wie alte Freunde, die sich nach Jahren wiedersehen.
Sie haben die gleiche Gestik, dieselbe direkte Art, einen
anzusehen, die hohen Wangenknochen, das kantige Kinn.
Wenn er reserviert ist, ist die Ähnlichkeit nicht so deutlich zu
sehen, aber wenn er munter wird, verschwindet die einstudierte
Höflichkeit, die Armande so sehr mißfällt.
Armandes Augen leuchten unter ihrer dunklen Hutkrempe. Luc
ist entspannt, sein Stottern wirkt nur noch wie ein leichtes
Zögern, fällt kaum noch auf. Ich sehe, wie er in der Tür
stehenbleibt, vielleicht weil er überlegt, ob er sie zum Abschied
küssen soll. Vorerst jedoch gewinnt die für sein Alter typische
Abneigung gegen jede Art Körperkontakt die Oberhand. Er hebt
die Hand zu einem scheuen Gruß, dann ist er verschwunden.
Armande dreht sich mit glühenden Wangen zu mir um. Einen
Augenblick lang ist ihr Gesicht ungeschützt. Liebe, Hoffnung und
Stolz liegen in ihrem Blick. Dann kehrt die Reserviertheit zurück,
die sie mit ihrem Enkel gemeinsam hat, und sie klingt gewollt
locker, als sie mit einem ruppigen Unterton sagt: »Das war
schön, Vianne. Vielleicht komme ich Sie noch mal besuchen.«
Dann schaut sie mich auf ihre direkte Art an und berührt meinen
Arm. »Sie haben es geschafft, daß er hergekommen ist«, sagte
sie. »Allein hätte ich das nie zuwege gebracht.«
Ich zuckte die Achseln.
»Irgendwann früher oder später wäre es passiert«, sagte ich.
»Luc ist kein Kind mehr. Er muß lernen, selbst Entscheidungen
zu treffen.«
Armande schüttelte den Kopf.
»Nein, es liegt an Ihnen«, sagte sie trotzig. Sie stand so dicht

Page 132
bei mir, daß ich ihr Maiglöckchen-Parfüm riechen konnte. »Es
weht ein anderer Wind im Dorf, seit Sie hier sind. Ich spüre es
genau. Jeder spürt es. Alles kommt in Bewegung. Huii!« rief sie
amüsiert aus.
»Aber ich mache doch gar nichts«, widersprach ich und mußte
mitlachen. »Ich kümmere mich nur um meine eigenen
Angelegenheiten. Ich führe meinen Laden. Ich bin einfach ich
selbst.« Obschon ich lachen mußte, war mir plötzlich
beklommen zumute.
»Egal«, sagte Armande. »Es liegt trotzdem an Ihnen. Sehen
Sie sich doch nur an, was sich alles verändert hat; ich, Luc,
Caro, die Leute unten am Fluß« – sie machte eine
Kopfbewegung in Richtung Les Marauds –, »und selbst er dort
drüben in seinem Elfenbeinturm. Wir alle sind dabei, uns zu
verändern. Wir kommen auf Trab. Wie eine alte Uhr, die man
wieder aufgezogen hat.«
Es erinnerte mich zu sehr an meine eigenen Gedanken, die
mir in der vergangenen Woche durch den Kopf gegangen
waren. Ich schüttelte heftig den Kopf.
»Es liegt nicht an mir«, sagte ich. »Es ist Reynaud. Nicht ich.«
Plötzlich tauchte in meinem Kopf ein Bild auf, als hätte ich eine
Karte umgedreht. Der Schwarze Mann in seinem Turm mit der
großen Uhr, der das Uhrwerk immer schneller laufen läßt, der
die Veränderung einläutet, vor Gefahren warnt, uns alle aus der
Stadt läutet … Und dann sah ich plötzlich einen alten Mann im
Bett, mit Schläuchen in Nase und Armen, und der Schwarze
Mann stand trauernd oder triumphierend über ihn gebeugt,
während hinter ihm die Flammen loderten …
»Ist er sein Vater?« Ich sprach die ersten Worte aus, die mir in
den Sinn kamen. »Ich meine – der alte Mann, den er besucht. Im
Krankenhaus. Wer ist er?«
Armande schaute mich verblüfft an.

Page 133
»Woher wissen Sie davon?«
»Manchmal habe ich – so eine Ahnung.« Aus irgendeinem
Grund scheute ich mich, ihr von meiner Wahrsagerei mit der
Schokolade zu erzählen, scheute mich davor, die Worte
auszusprechen, die mir von meiner Mutter so vertraut waren.
»Eine Ahnung.« Armande wirkte neugierig, stellte jedoch
keine weiteren Fragen.
»Es gibt also tatsächlich einen alten Mann?« Ich konnte mich
des Eindrucks nicht erwehren, daß ich auf etwas Wichtiges
gestoßen war. Vielleicht eine Waffe in meinem heimlichen
Kampf mit Reynaud.
»Wer ist er?« beharrte ich.
Armande zuckte die Achseln.
»Ein Priester«, sagte sie verächtlich. Mehr bekam ich nicht
aus ihr heraus.
Donnerstag, 27. Februar
Als ich heute morgen den Laden aufschloß, stand Roux vor
der Tür. Er trug einen Jeans-Overall und hatte sein Haar im
Nacken zusammengebunden. Er schien schon eine Weile
gewartet zu haben, denn in seinem Haar und auf seinen
Schultern hatten sich durch den Morgennebel kleine Tröpfchen
gebildet. Er schenkte mir ein angedeutetes Lächeln, dann
schaute er an mir vorbei in den Laden, wo Anouk gerade
frühstückte.
»Hallo, kleine Fremde«, sagte er. Diesmal war das Lächeln,
das sein Gesicht kurz erhellte, echt.
»Kommen Sie rein. Sie hätten klopfen sollen. Ich habe Sie da
draußen nicht gesehen.«
Roux murmelte etwas in seinem starken Marseiller Dialekt und
trat zögernd ein. Er bewegt sich seltsam geschmeidig und
unbeholfen zugleich, als fühle er sich in geschlossenen Räumen
nicht wohl.

Page 134
Ich schenkte ihm eine große Tasse mit einem Schuß Cognac
ein.
»Sie hätten Ihre Freunde mitbringen sollen«, sagte ich
beiläufig.
Er zuckte die Schultern. Ich bemerkte, wie er sich im Laden
umsah und alles um sich herum interessiert, fast mißtrauisch
betrachtete.
»Nehmen Sie doch Platz«, sagte ich und deutete auf die
Hocker vor der Theke. Roux schüttelte den Kopf.
»Danke.« Er trank einen Schluck. »Ich wollte Sie eigentlich
fragen, ob Sie mir vielleicht helfen können. Uns.« Er klang
zugleich verlegen und ärgerlich. »Es geht nicht um Geld«, fügte
er eilig hinzu, wie um einer möglichen Absage zuvorzukommen.
»Wir würden natürlich dafür bezahlen. Wir haben einfach
Schwierigkeiten mit … der Organisation.«
Ich bemerkte den Groll in seinem Blick.
»Armande … Madame Voizin … hat gesagt, Sie würden uns
helfen«, sagte er.
Er erläuterte mir die Situation, während ich schweigend
zuhörte und hin und wieder aufmunternd nickte. Ich begriff
allmählich, daß er keineswegs unfähig war, sich klar und
deutlich auszudrücken, sondern daß es ihm zutiefst
widerstrebte, um Hilfe bitten zu müssen. Trotz seines starken
Dialekts sprach Roux wie ein intelligenter Mann. Er habe
Armande versprochen, ihr Dach zu reparieren, erklärte er. Es
sei nicht besonders schwierig und würde nur ein paar Tage in
Anspruch nehmen. Leider gehöre der einzige Laden im Ort, wo
man Holz, Farbe und alle sonstigen Utensilien erstehen könne,
Georges Clairmont, und der weigere sich kategorisch, ihm oder
Armande das nötige Material zu verkaufen. Wenn seine
Schwiegermutter ihr Dach reparieren lassen wolle, hatte er ihm
beschieden, dann solle sie sich gefälligst an ihn wenden und

Page 135
nicht an irgendwelche dahergelaufenen Zigeuner. Er habe ihr
schließlich seit Jahren angeboten, das Dach in Ordnung zu
bringen, und zwar umsonst. Es sei nicht auszudenken, was
passieren könne, wenn sie die Zigeuner erst einmal in ihr Haus
ließe. Wertsachen, Geld, sie würden garantiert alles mitgehen
lassen, was nicht nietund nagelfest sei … Es wäre nicht das
erstemal, daß eine alte Frau um ihrer bescheidenen Habe willen
mißhandelt oder erschlagen würde … Nein, es sei ein absurdes
Ansinnen, und er könne beim besten Willen nicht …
»Dieser scheinheilige Bastard«, zischte Roux. »Er glaubt,
über uns Bescheid zu wissen – er hat keine Ahnung. Wenn man
ihm glaubt, sind wir alle Diebe und Mörder. Ich habe immer für
alles bezahlt. Ich habe noch nie gebettelt, habe immer
gearbeitet.«
»Trinken Sie noch eine Tasse Schokolade«, sagte ich sanft
und schenkte ihm nach. »Nicht jeder denkt wie Georges und
Caroline Clairmont.«
»Das weiß ich.« Seine Haltung war immer noch abweisend,
die Arme vor der Brust verschränkt.
»Clairmont hat mir schon einmal Baumaterial geliefert«, fuhr
ich fort. »Ich werde ihm sagen, ich würde noch ein paar Dinge
im Haus renovieren. Wenn Sie mir eine Liste geben, werde ich
das Material für Sie bestellen.«
»Ich werde für alles bezahlen«, wiederholte er noch einmal, als
könne er mir seine Absicht nicht oft genug beteuern. »Das Geld
ist wirklich nicht das Problem.«
»Selbstverständlich nicht.«
Er entspannte sich ein wenig und trank noch einen Schluck
Schokolade. Zum erstenmal schien er zu bemerken, wie gut sie
schmeckte, denn er lächelte mich plötzlich beglückt an.
»Armande ist gut zu uns«, sagte er. »Sie besorgt uns
Lebensmittel und Medikamente für Zézettes Baby. Und sie hat

Page 136
sich für uns eingesetzt, als euer Priester, dieser Pfaffe mit dem
Pokergesicht, wieder auftauchte.«
»Er ist nicht mein Priester«, unterbrach ich ihn. »In seinen
Augen bin ich genauso ein Eindringling hier in Lansquenet wie
Sie.« Roux sah mich verblüfft an. »Ich glaube, er sieht in mir
einen verderblichen Einfluß auf die Gemeinde. Jede Nacht
Schokoladenorgien. Fleischliche Exzesse, wenn anständige
Leute längst brav im Bett liegen, und zwar allein.«
Seine Augen sind so verhangen wie der Regenhimmel über
der Stadt. Wenn er lacht, funkeln sie schalkhaft. Anouk, die
während seines Berichts ungewöhnlich still dagesessen hatte,
ließ sich von seinem Lachen anstecken.
»Willst du denn nicht frühstücken?« krähte sie. »Wir haben
pains au chocolat. Und Croissants. Aber die pains au chocolat
sind besser.«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich glaube nicht«, sagte er. »Danke.«
Ich legte ein Schokocroissant auf einen Teller und stellte ihn
neben seine Tasse.
»Gratis«, sagte ich. »Probieren Sie, ich mache sie selbst.«
Irgendwie hatte ich etwas Falsches gesagt. Ich sah, wie das
Funkeln aus seinen Augen verschwand und sein Gesicht sich
wieder verfinsterte.
»Ich kann bezahlen«, sagte er fast trotzig. »Ich habe Geld.« Er
holte eine Handvoll Münzen aus seiner Hosentasche. Ein paar
davon rollten über die Theke.
»Stecken Sie das weg«, sagte ich.
»Ich hab gesagt, ich kann bezahlen.« Seine einstudierte
Gleichgültigkeit schlug in Unmut um. »Ich muß mir nicht –«
Ich legte meine Hand auf seine. Einen Augenblick lang spürte
ich seinen Widerstand, bis unsere Blicke sich trafen.
»Niemand muß irgend etwas tun«, sagte ich freundlich. Ich

Page 137
begriff, daß ich mit meiner freundschaftlichen Geste seinen
Stolz verletzt hatte. »Ich habe Sie eingeladen.« Er starrte mich
unverändert feindselig an. »Ich habe jeden eingeladen, der zum
erstenmal in meinen Laden kam«, fuhr ich fort. »Caro Clairmont.
Guillaume Duplessis. Sogar Paul-Marie Muscat, den Mann, der
Sie aus dem Café geworfen hat.« Ich machte eine kleine
Pause, um meine Worte sinken zu lassen. »Wieso meinen Sie,
meine Einladung ausschlagen zu können?«
Er senkte verlegen den Blick und murmelte etwas
Unverständliches in seinen Bart. Dann schaute er mich an und
lächelte.
»Tut mir leid«, sagte er. »Ich hatte Sie mißverstanden.« Er
zögerte unbeholfen, bevor er nach dem Croissant griff. »Aber
nächstesmal lade ich Sie zu mir nach Hause ein«, sagte er in
entschiedenem Ton. »Und falls Sie ablehnen, werde ich das als
große Beleidigung auffassen.«
Von da an war das Eis gebrochen, und er wurde zusehends
ungezwungener. Nachdem wir eine Weile über belanglose
Dinge geplaudert hatten, begann er von sich zu erzählen. Ich
erfuhr, daß Roux seit sechs Jahren mit dem Hausboot
unterwegs war, anfangs allein, später hatte er sich seinen
Gefährten angeschlossen. Er hatte früher als Handwerker auf
dem Bau gearbeitet und verdiente sein Geld immer noch mit
Reparatur-und Renovierungsarbeiten oder im Sommer und
Herbst als Erntehelfer. Aus seinen Erzählungen schloß ich, daß
es Probleme gegeben hatte, durch die er zu dem unsteten
Leben gezwungen worden war, unterließ es jedoch
wohlweislich, mich nach Einzelheiten zu erkundigen.
Als meine ersten Stammkunden erschienen, verabschiedete
er sich. Guillaume, wie immer mit Charly auf dem Arm, grüßte
ihn höflich, und Narcisse nickte ihm freundlich zu, doch es
gelang mir nicht, Roux zum Bleiben zu überreden. Er stopfte

Page 138
sich den Rest seines pain au chocolat in den Mund und wandte
sich mit jenem Ausdruck stolzer Unnahbarkeit, mit dem er sich
von Fremden distanziert, zum Gehen. An der Tür drehte er sich
abrupt um.
»Vergessen Sie nicht, daß Sie eingeladen sind«, sagte er.
»Samstag abend um sieben. Und bringen Sie die kleine
Fremde mit.«
Noch bevor ich ihm danken konnte, war er verschwunden.
Guillaume blieb länger als gewöhnlich. Narcisse machte
seinen Platz für Georges frei, dann kam Arnauld und kaufte drei
Champagner-Trüffel – jedesmal das gleiche: drei Champagner-
Trüffel und im Gesicht ein Ausdruck schuldbewußter Vorfreude
–, und Guillaume saß immer noch auf seinem Stammplatz, das
schmale Gesicht von Kummer getrübt. Ich versuchte mehrmals,
ihn aufzumuntern, doch er blieb einsilbig, mit den Gedanken
woanders. Charly lag träge und reglos unter seinem Hocker.
»Ich habe gestern mit Reynaud gesprochen«, sagte er
schließlich so unvermittelt, daß ich zusammenfuhr. »Ich habe ihn
gefragt, was ich mit Charly tun soll.«
Ich sah ihn fragend an.
»Es ist so schwer, ihm das zu erklären«, fuhr er leise fort. »Er
findet es egoistisch von mir, nicht auf den Tierarzt zu hören.
Schlimmer noch, er hält mich für verrückt. Charly ist schließlich
kein Mensch.« Er hielt inne, und ich spürte, wie schwer es ihm
fiel, die Fassung zu wahren.
»Ist es wirklich so schlimm?«
Aber ich kannte die Antwort. Guillaume schaute mich mit
traurigen Augen an.
»Ich glaube schon.«
»Verstehe.«
Er beugte sich zu Charly hinunter, um ihn hinter den Ohren zu
kraulen. Der Hund schlug mechanisch mit dem Schwanz und

Page 139
begann leise zu winseln.
»Guter Hund.« Guillaume lächelte mich schüchtern an.
»Curé Reynaud ist kein schlechter Mensch. Er meint es nicht
so brutal, wie es klingt. Aber so etwas zu sagen – auf so eine
schonungslose Art …«
»Was hat er denn gesagt?«
Guillaume zuckte die Achseln. »Er hat gesagt, ich würde mich
schon seit Jahren zum Narren machen mit dem Hund. Er
meinte, ihm wäre es ja egal, aber es wäre einfach lächerlich, ein
Tier so zu verhätscheln, als wäre es ein Mensch, oder Geld für
eine sinnlose Behandlung beim Tierarzt zu verschwenden.«
Ich spürte Ärger in mir aufsteigen.
»Das war gemein von ihm, so etwas zu sagen.«
Guillaume schüttelte den Kopf.
»Er versteht das nicht«, sagte er noch einmal. »Er mag
einfach keine Tiere. Aber Charly und ich sind schon so lange
zusammen …« Ihm standen Tränen in den Augen, und er
wandte sich ab, um sie zu verbergen.
»Sobald ich ausgetrunken habe, gehe ich zum Tierarzt.«
Seine Tasse stand seit zwanzig Minuten leer auf der Theke.
»Es muß ja noch nicht heute sein, nicht wahr?« Es lag fast so
etwas wie Verzweiflung in seiner Stimme. »Er ist doch noch
ganz munter. Neuerdings frißt er auch wieder besser. Niemand
kann mich dazu zwingen.« Jetzt klang er wie ein störrisches
Kind. »Wenn es soweit ist, werde ich es wissen. Da bin ich mir
ganz sicher.«
Es gab nichts, was ich zu seinem Trost hätte sagen können.
Ich versuchte es trotzdem. Ich beugte mich hinab, um Charly zu
streicheln, spürte seine Knochen unter dem dünnen Fell.
Manche Dinge können geheilt werden. Wärme strömte aus
meinen Fingern, während ich vorsichtig das Ausmaß des
Tumors zu erspüren versuchte. Der Knoten war größer

Page 140
geworden. Ich wußte, es war hoffnungslos.
»Es ist Ihr Hund, Guillaume«, sagte ich. »Sie wissen am
besten, was gut für ihn ist.«
»Das stimmt.« Einen Augenblick lang wirkte er erleichtert.
»Die Medikamente nehmen ihm die Schmerzen. Er winselt nicht
mehr die ganze Nacht.«
Ich mußte daran denken, wie es meiner Mutter in ihren letzten
Monaten gegangen war. Wie bleich sie gewesen war, wie ihr
Fleisch von den Knochen zu schmelzen schien, bis sie
schließlich wie ein zartes, zerbrechliches Skelett wirkte. Ihre
großen, fiebrigen Augen – Florida, Liebes, New York, Chicago,
der Grand Canyon, es gibt so viel zu sehen! –, ihr leises
Wimmern in der Nacht.
»Irgendwann muß man einfach aufhören«, sagte ich. »Es ist
zwecklos. Man versteckt sich hinter Rechtfertigungen, setzt sich
nur noch kurzfristige Ziele, um die Woche zu überstehen.
Irgendwann ist der Verlust der Würde schlimmer als alles
andere. Irgendwann braucht man einfach Ruhe.«
In New York eingeäschert, die Asche im Hafen verstreut.
Komisch, daß man sich immer vorstellt, man würde im Bett
sterben, umgeben von seinen Lieben. Statt dessen, viel zu
häufig, die kurze, verwirrende Begegnung, die plötzliche
Erkenntnis, die zeitlupenartige, panische Flucht vor dem
Hintergrund der aufgehenden Sonne, die wie ein Pendel auf
einen zuschwingt, egal wie schnell man versucht, vor ihr
davonzurennen.
»Wenn ich die Wahl hätte, wüßte ich, wie ich mich
entscheiden würde. Die schmerzlose Spritze. Die freundliche
Hand. Besser so, als mitten in der Nacht auf der Straße unter
die Räder eines Taxis zu geraten, wo keiner stehenbleibt und
sich darum kümmert.« Plötzlich wurde mir bewußt, daß ich laut
gesprochen hatte. »Verzeihen Sie, Guillaume«, sagte ich, als

Page 141
ich sein entsetztes Gesicht sah. »Ich habe an jemand anderen
gedacht.«
»Ist schon in Ordnung«, sagte er ruhig, während er ein paar
Münzen auf die Theke legte. »Ich wollte sowieso gerade
gehen.«
Dann hob er Charly auf, nahm seinen Hut und ging, ein wenig
gebeugter als gewöhnlich, eine kleine, unscheinbare Gestalt mit
einem Bündel unter dem Arm, das genausogut eine Tüte mit
Einkäufen, ein alter Regenmantel oder etwas ganz anderes
hätte sein können.
Samstag, 1. März
Ich beobachte ihren Laden. Ich gebe zu, daß ich das tue, seit
sie im Dorf angekommen ist; ich sehe, wer ein-und ausgeht,
wer sich Zeit nimmt, um mit ihr zu plaudern. Ich beobachte das
Treiben in ihrem Laden, so wie ich als Junge das Gewimmel in
einem Wespennest verfolgt habe, fasziniert und abgestoßen
zugleich. Anfangs gingen sie klammheimlich hin, in der
Abenddämmerung oder früh am Morgen. Taten so, als seien sie
ganz normale Kunden. Hier eine Tasse Kaffee, dort eine Tüte
Süßigkeiten für die Kinder. Aber jetzt ist die Heimlichtuerei
vorbei. Die Zigeuner gehen inzwischen ganz selbstverständlich
in ihren Laden, starren im Vorbeigehen herausfordernd in mein
Fenster; der Rothaarige mit dem arroganten Blick, die magere
junge Frau und das junge Mädchen mit den gebleichten Haaren
und der Araber mit dem kahlgeschorenen Schädel. Sie kennt
sogar ihre Namen; Roux und Zézette und Blanche und Mamhed.
Gestern hat der Lieferwagen von Clairmont Baumaterial bei ihr
abgeladen; Holz und Farbe und Dachpappe. Der Fahrer hat
das Material wortlos vor ihre Tür gestapelt. Sie hat ihm einen
Scheck ausgestellt. Und dann mußte ich zusehen, wie ihre
Freunde die Kisten und Kartons und Eimer grinsend auf ihre
Schultern packten und sie nach Les Marauds abtransportierten.

Page 142
Das Ganze war ein abgekartetes Spiel. Ein perfides,
abgekartetes Spiel. Aus irgendeinem Grund ist sie
entschlossen, sie zu unterstützen. Das macht sie natürlich nur,
um mir eins auszuwischen. Und mir bleibt nichts anderes übrig,
als würdevoll zu schweigen und dafür zu beten, daß sie
scheitert. Aber sie macht meine Aufgabe so viel schwerer!
Schlimm genug, daß ich mich um Armande Voizin kümmern
muß, die ihnen auf ihre Rechnung Lebensmittel kauft. Leider bin
ich zu spät eingeschritten. Die Zigeuner haben sich inzwischen
mit genug Vorräten für mindestens zwei Wochen eingedeckt.
Was sie für den täglichen Bedarf an frischen Lebensmitteln
brauchen – Brot und Milch –, besorgen sie sich flußaufwärts in
Agen. Bei dem Gedanken, daß sie noch länger bleiben
könnten, kommt mir die Galle hoch. Aber was soll ich tun, wenn
diese Leute sich auch noch mit ihnen anfreunden? Sie könnten
mir sagen, was ich tun soll, Vater, wenn Sie nur sprechen
könnten. Und ich weiß, Sie würden ohne zu zögern Ihre Pflicht
tun, wie unangenehm sie auch sein möchte. Wenn Sie mir nur
sagen könnten, was ich tun soll. Ein leichter Händedruck würde
mir genügen. Ein Zucken mit den Augenlidern. Irgend etwas,
das mir zeigte, daß mir vergeben wird.
Nein? Sie rühren sich nicht. Nur das schwerfällige Zischen der
Maschine, die Sie am Leben hält, indem sie Sauerstoff in Ihre
geschundenen Lungen pumpt. Ich weiß, daß Sie schon bald
aufwachen werden, geheilt und geläutert, und daß mein Name
das erste Wort sein wird, das Sie aussprechen. Sehen Sie, ich
glaube an Wunder. Ich, der ich durch das Feuer gegangen bin.
Ich glaube.
Ich hatte mir vorgenommen, heute mit ihr zu sprechen. Ganz
sachlich, ohne ihr Vorwürfe zu machen, wie von Vater zu
Tochter. Ich war mir sicher, daß sie mich verstehen würde.
Unsere erste Begegnung hatte unter schlechten Vorzeichen

Page 143
gestanden. Aber ich dachte, wir könnten noch einmal von vorne
anfangen. Sie sehen, Vater, ich war bereit, ihr
entgegenzukommen. Bereit, Verständnis zu zeigen. Aber als ich
auf den Laden zuging, sah ich, daß dieser Roux bei ihr war. Er
fixierte mich mit seinen harten Augen und dem für
seinesgleichen typischen spöttisch-arroganten Blick. In der
Hand hielt er eine Tasse mit irgendeinem Getränk. Er wirkte
gefährlich, regelrecht gewalttätig, in seinem schmutzigen Overall
und mit seinen langen, ungepflegten Haaren, und einen
Augenblick lang war ich um das Wohl der Frau besorgt. Ist ihr
denn gar nicht klar, auf welche Gefahr sie sich einläßt, wenn sie
mit diesen Leuten verkehrt? Sorgt sie sich denn nicht um sich
und um ihr Kind? Ich wollte gerade kehrtmachen, als mir ein
Plakat im Fenster auffiel. Eine Weile lang tat ich so, als würde
ich es studieren, während ich sie – die beiden – heimlich
beobachtete. Sie hatte ein weinrotes Kleid an, und sie trug ihr
Haar offen. Ich hörte sie lachen.
Dann las ich, was auf dem Plakat stand. Es war in einer
ungelenken Kinderschrift geschrieben.
GROSSES SCHOKOLADENFEST BEI
LA CÉLESTE PRALINE
BEGINN: OSTERSONNTAG
ALLE SIND EINGELADEN
Mit wachsendem Unwillen las ich es noch einmal. Drinnen war
immer noch ihr Lachen und das Klappern von Geschirr zu hören.
Sie war so in ihr Gespräch vertieft, daß sie mich noch gar nicht
bemerkt hatte. Sie stand mit dem Rücken zur Tür, einen Fuß
abgewinkelt wie eine Ballettänzerin. Sie trug flache
Ballerinaschuhe mit kleinen Schleifen und keine Strümpfe.
BEGINN: OSTERSONNTAG
Jetzt wird mir alles klar.
Ihre Bosheit, ihre Gehässigkeit. Sie muß es von Anfang an
geplant haben, dieses Schokoladenfest, und zwar ausgerechnet

Page 144
am höchsten kirchlichen Festtag. Seit dem Tag ihrer Ankunft zu
Karneval muß sie es im Schilde geführt haben, um meine
Autorität zu untergraben, um meine Lehre zu verspotten. Sie und
ihre Freunde mit den Hausbooten.
Ich hätte mich auf dem Absatz umdrehen und gehen sollen,
doch ich war zu aufgebracht und betrat den Laden. Ein
höhnisches Geklingel ertönte, als ich die Tür öffnete, und sie
drehte sich lächelnd zu mir um. Hätte ich nicht gerade erst mit
eigenen Augen den unwiderlegbaren Beweis für ihre
Niedertracht gesehen, ich hätte schwören können, daß das
Lächeln echt war.
»Monsieur Reynaud.«
Im ganzen Laden duftet es nach Schokolade. Es riecht ganz
anders als der lösliche Kakao, den ich als Junge getrunken
habe, es ist ein schweres Aroma, so betörend wie von den
frisch gerösteten Kaffeebohnen auf dem Markt, vermischt mit
dem Duft von Amaretto und Tiramisu, ein kräftiger, rauchiger
Wohlgeruch, der mir das Wasser im Mund zusammenlaufen
läßt. Auf der Theke steht eine silberne, mit dem Gebräu gefüllte
Kanne, aus der heißer Dampf aufsteigt. Mir wird bewußt, daß
ich noch nicht gefrühstückt habe.
»Mademoiselle.« Ich wünschte, meine Stimme würde mehr
Strenge ausdrücken. Aber die Wut schnürt mir die Kehle zu, und
statt der Worte gerechten Zorns, die ich loslassen wollte, bringe
ich nur ein empörtes Krächzen hervor, wie ein höflicher Frosch.
»Mademoiselle Rocher.« Sie schaut mich fragend an. »Ich
habe Ihr Plakat gesehen!«
»Das freut mich«, erwidert sie. »Darf ich Ihnen etwas zu
trinken anbieten?«
»Nein!«
»Mein chococcino tut gut, wenn man einen rauhen Hals hat.«
»Ich habe keinen rauhen Hals!«

Page 145
»Wirklich nicht?« fragt sie mit gespielter Besorgnis. »Ich hatte
den Eindruck, Sie seien ein bißchen heiser. Möchten Sie
vielleicht lieber einen grand crème? Oder einen Mokka?«
Mit Mühe gewinne ich die Fassung wieder.
»Danke, ich möchte Ihnen keine Umstände machen.«
Der Rothaarige neben ihr lacht leise in sich hinein und murmelt
irgend etwas in seiner Gossensprache. Mir fallen Farbspuren
an seinen Händen auf, feine, weiße Linien an den Knöcheln und
Handflächen. Hat er irgendwo Arbeit gefunden? frage ich mich
beunruhigt. Und falls ja, bei wem? Wenn wir in Marseille wären,
würde er wegen Schwarzarbeit verhaftet werden. Eine
Hausdurchsuchung auf seinem Boot würde genug Beweise
zutage fördern – Drogen, Diebesgut, Pornographie, Waffen –,
um ihn für den Rest seines Lebens hinter Gitter zu bringen. Aber
wir sind in Lansquenet. Hierher würde sich die Polizei nur
bemühen, wenn ein Gewaltverbrechen stattgefunden hätte.
»Ich habe Ihr Plakat gesehen.« Mit soviel Würde, wie ich
aufbringen kann, versuche ich es noch einmal. Sie schaut mich
höflich fragend an, ein Funkeln in den Augen. »Ich muß sagen«
– hier muß ich mich räuspern, weil mir die Galle schon wieder in
den Hals gestiegen ist –, »ich muß sagen, daß ich den
Zeitpunkt, den Sie für Ihr … für Ihre Veranstaltung … gewählt
haben, äußerst unpassend finde.«
»Den Zeitpunkt?« fragt sie unschuldig. »Sie meinen das
Osterfest?« Sie lächelt mich schelmisch an. »Ich dachte, das
wäre Ihr Gebiet«, sagt sie trocken. »Sie sollten sich mit dem
Papst auseinandersetzen.«
Ich starre sie eiskalt an.
»Ich glaube, Sie wissen genau, was ich meine.«
Schon wieder dieser höflich fragende Blick.
»Schokoladenfest. Alle sind eingeladen.« Meine Wut steigt
auf wie überkochende Milch, unkontrollierbar. In diesem

Page 146
Augenblick fühle ich mich stark, meine Wut verleiht mir Kraft. Ich
zeige mit dem Finger auf sie. »Glauben Sie ja nicht, ich würde
nicht durchschauen, was Sie vorhaben.«
»Lassen Sie mich raten.« Ihre Stimme ist sanft, sie klingt
interessiert. »Es ist ein persönlicher Angriff auf Sie. Ein
Versuch, die Fundamente der katholischen Kirche zu
unterminieren.« Sie lacht so schrill auf, daß sie sich selbst
verrät. »Gott bewahre uns davor, daß ein Schokoladengeschäft
zu Ostern Ostereier verkauft.« Ihre Stimme klingt unsicher,
beinahe ängstlich, obwohl ich mir nicht sicher bin, wovor sie
sich fürchtet. Der Rothaarige starrt mich feindselig an. Dann faßt
sie sich mit Mühe, und die Furcht, die ich zuvor in ihren Augen
gesehen hatte, ist verschwunden.
»Ich bin mir sicher, daß in diesem Ort genug Platz für uns
beide ist«, sagt sie ruhig. »Wollen Sie wirklich keine Tasse
Schokolade? Ich könnte Ihnen erklären, was ich –«
Ich schüttele heftig den Kopf, wie ein Hund, der von einem
Schwarm Wespen attackiert wird. Ihre Ruhe macht mich rasend,
in meinem Kopf beginnt es zu summen, und es kommt mir so
vor, als würde sich der ganze Raum um mich herum drehen. Der
süße Schokoladenduft raubt mir den Verstand. Meine Sinne
sind plötzlich auf unnatürliche Weise geschärft; ich rieche ihr
Parfüm, einen Hauch von Lavendel, den Duft ihrer Haut. Hinter
ihr schwebt eine andere Duftwolke, der Geruch nach Sumpf,
nach Maschinenöl und Schweiß und Farbe, den der Rothaarige
ausdünstet.
»Ich … nein … ich …« Es ist wie ein Alptraum, ich habe
vergessen, was ich sagen wollte. Irgend etwas über Respekt,
glaube ich, über Verantwortung der Gemeinde gegenüber. Über
die Pflicht, an einem Strang zu ziehen, über Rechtschaffenheit,
Anstand und Moral. Statt dessen ringe ich nach Luft, und alles
schwimmt in meinem Kopf.

Page 147
»Ich … ich …« Ich bin mir sicher, daß sie das alles bewirkt,
daß sie mir den Verstand vernebelt … Sie beugt sich mit
gespielter Besorgnis vor, und erneut überwältigt mich ihr Duft.
»Geht es Ihnen nicht gut?« Ich höre ihre Stimme wie aus
weiter Ferne. »Monsieur Reynaud, geht es Ihnen nicht gut?«
Mit zitternden Händen stoße ich sie fort.
»Es ist nichts.« Endlich finde ich meine Sprache wieder.
»Eine … leichte Unpäßlichkeit. Nichts weiter. Guten Tag.« Und
dann stürze ich blindlings auf die Tür zu. Mein Gesicht streift ein
rotes Säckchen, das im Türrahmen baumelt – ein weiterer
Beweis für ihren Aberglauben –, und ich kann mich des
absurden Eindrucks nicht erwehren, daß dieses lächerliche
Ding mein Unbehagen ausgelöst hat, ein Säckchen voller
Kräuter und Knochen, das dort aufgehängt wurde, um mir
meinen Seelenfrieden zu rauben. Nach Luft ringend stürze ich
auf die Straße.
Kaum bin ich in den Regen hinausgetreten, bin ich wieder bei
klarem Verstand. Aber ich gehe weiter und weiter. Ich bin immer
weitergegangen, bis zu Ihnen, Vater. Mein Herz klopfte wie wild,
und der Schweiß lief mir in Strömen über den Rücken, aber
endlich fühlte ich mich von ihrer Gegenwart gereinigt. Ist es das,
was Sie gefühlt haben, mon père, damals in der alten Kanzlei?
Ist das das Gesicht der Versuchung?
Der Löwenzahn breitet sich aus, seine bitteren Blätter
durchbrechen die schwarze Erde, seine weißen Wurzeln
fressen sich tief ins Erdreich hinein. Bald wird er blühen. Auf
dem Heimweg werde ich am Fluß entlanggehen, Vater, und mir
das schwimmende Dorf ansehen, das immer größer wird, das
sich immer weiter auf dem Tannes ausbreitet. Seit meinem
letzten Besuch sind noch mehr Boote eingetroffen, und der Fluß
ist regelrecht mit ihnen gepflastert. Man könnte trockenen Fußes
von einem Ufer zum anderen gehen.

Page 148
ALLE SIND EINGELADEN.
Ist es das, was sie beabsichtigt? Will sie diese Leute
anlocken, der Ausschweifung Vorschub leisten? Wie hart haben
wir gekämpft, um diese heidnischen Traditionen auszumerzen,
Vater, wie leidenschaftlich haben wir gepredigt. Das Osterei,
den Osterhasen, diese immer noch lebendigen Symbole des
Heidentums entlarvt. Eine Zeitlang waren wir makellos. Aber sie
zwingt uns, von neuem mit der Säuberung zu beginnen. Diesmal
sind sie stärker, bieten uns einmal mehr die Stirn. Und meine
Herde, meine dumme, vertrauensselige Herde, wendet sich ihr
zu, hört auf ihre Worte … Armande Voizin. Michel Narcisse.
Guillaume Duplessis. Joséphine Muscat. Georges Clairmont.
Morgen in der Predigt werde ich die Namen aller nennen, die
auf sie hören. Ich werde ihnen sagen, daß das Schokoladenfest
nur ein Teil des sündigen Ganzen ist. Ihre Freundschaft mit den
Zigeunern. Ihre Verachtung für unsere Sitten und Bräuche. Ihr
Einfluß auf unsere Kinder. All dies sind Anzeichen für die
verderblichen Auswirkungen ihrer Anwesenheit.
Ihr Fest wird nicht stattfinden. Lächerlich, anzunehmen, daß sie
damit durchkommen kann, wenn sie mit so viel Widerstand
rechnen muß. Ich werde jeden Sonntag in meiner Predigt gegen
das Fest wettern. Ich werde die Namen der Kollaborateure laut
vorlesen und für ihre Erlösung beten. Die Zigeuner haben jetzt
schon Unruhe in die Gemeinde gebracht. Muscat beschwert
sich, daß sie ihm die Kunden vergraulen. Der Lärm von ihren
Booten, die Musik, die Feuer haben Les Marauds in eine
schwimmende Holzbudenstadt verwandelt, der Tannes ist mit
einem glänzenden Ölfilm überzogen, und lauter Abfall treibt den
Fluß hinunter. Und seine Frau wollte sie tatsächlich in ihrem
Café freundlich bedienen, wie ich höre. Zum Glück läßt Muscat
sich von diesen Leuten nicht einschüchtern. Clairmont hat mir
erzählt, er hat sie sofort rausgeworfen, als sie es letzte Woche

Page 149
gewagt haben, sein Café zu betreten. Sie sehen also, mon
père, sie sind Feiglinge, auch wenn sie noch so großspurig
auftreten. Muscat hat den Weg, der nach Les Marauds
hinunterführt, blockiert, damit sie nicht mehr ins Dorf kommen.
Im Moment sind sie noch vorsichtig, legen eine Verschlagenheit
an den Tag, die für diese Leute typisch ist, jederzeit bereit, die
geringste Schwäche auszunutzen. Aber wie alle Aasfresser sind
sie nur mutig, solange sie sich auf ihrem eigenen Territorium
bewegen. Vier von ihnen haben die Flucht ergriffen – unter
ihnen Roux –, anstatt sich einem offenen Kampf mit Muscat zu
stellen. Ich verabscheue Gewalt, Vater, aber im Moment würde
ich sie begrüßen. Dann hätte ich einen Vorwand, die Polizei aus
Agen kommen zu lassen. Ich werde noch einmal mit Muscat
reden. Er wird wissen, was zu tun ist.
Samstag, 1. März
Roux’ Boot gehört zu den unmittelbar am Flußufer liegenden,
etwas abseits von den anderen Booten und ist direkt Armandes
Haus gegenüber vertäut. Heute war es mit Papierlampions
geschmückt, die wie leuchtende Früchte am Bug aufgehängt
waren, und auf unserem Weg die steile Straße nach Les
Marauds hinunter stieg uns schon von weitem der scharfe Duft
von gegrilltem Fleisch in die Nase. Armandes Fenster standen
weit offen, und das Licht aus dem Haus warf unregelmäßige
Muster auf das Wasser. Mir fiel auf, daß keinerlei Müll herumlag,
wie sorgfältig selbst der kleinste Abfall eingesammelt und zum
Verbrennen in die großen Blechtonnen geworfen wurde. Von
einem der Boote weiter flußabwärts war Gitarrenmusik zu
hören. Roux saß auf der kleinen Mole und schaute ins Wasser.
Ein paar von seinen Freunden hatten sich bereits zu ihm gesellt,
unter ihnen Zézette, eine junge Frau namens Blanche und
Mamhed, der Nordafrikaner. Neben ihnen brutzelte etwas auf

Page 150
einem tragbaren Kohlegrill.
Anouk rannte sofort auf das Feuer zu. Ich hörte, wie Zézette
sie mit sanfter Stimme warnte: »Vorsichtig, Liebes, das ist
heiß.«
Blanche reichte mir eine mit Glühwein gefüllte Henkeltasse,
die ich lächelnd entgegennahm.
»Probieren Sie mal.«
Der Wein war süß und kräftig, mit Zitrone und Muskat gewürzt,
und so stark, daß er in der Kehle brannte. Zum erstenmal seit
Wochen herrschte klares Wetter, und unser Atem bildete weiße
Wölkchen in der stillen Abendluft. Über dem Fluß lag eine dünne
Nebelschicht, die hier und da von den Lichtern auf den Booten
erleuchtet wurde.
»Pantoufle will auch was davon«, sagte Anouk und deutete auf
den Topf mit dem Glühwein. Roux grinste.
»Pantoufle?«
»Anouks Kaninchen«, erkläre ich ihm. »Ihr … imaginärer
kleiner Freund.«
»Ich weiß nicht recht, ob Pantoufle das schmecken würde«,
sagte er. »Sollen wir ihm vielleicht lieber etwas Apfelsaft
geben?«
»Ich frag ihn mal«, erwiderte Anouk.
Roux wirkte hier ganz anders, wesentlich ungezwungener, wie
er da im Feuerschein stand und seinen Grill überwachte. Es
gab Flußkrebse, Sardinen, frische Maiskolben, Süßkartoffeln,
Äpfel in Zucker gewälzt und in heißer Butter karamelisiert, dicke
Pfannkuchen mit Honig. Wir aßen mit den Fingern von
Blechtellern und tranken Cidre und Glühwein. Ein paar Kinder
spielten mit Anouk am Flußufer. Später gesellte sich Armande
zu uns und wärmte sich die Hände über dem Grill.
»Wenn ich nur ein bißchen jünger wäre«, seufzte sie. »So
etwas würde ich mir jeden Abend gefallen lassen.« Sie fischte

Page 151
eine Kartoffel aus der Glut und jonglierte damit zwischen beiden
Händen, um sie abkühlen zu lassen. »Als Kind hab ich immer
von so einem Leben geträumt. Ein Hausboot, lauter gute
Freunde, jeden Abend eine Party …« Sie schaute Roux
spitzbübisch an. »Ich glaube, ich werde einfach mit Ihnen
durchbrennen«, sagte sie. »Ich hab schon immer eine
Schwäche für rothaarige Männer gehabt. Ich mag zwar alt sein,
aber ich wette, ich könnte Ihnen immer noch das eine oder
andere beibringen.«
Roux grinste. Heute abend war nicht die geringste Spur von
Befangenheit an ihm zu entdecken. Gut gelaunt schenkte er
Cidre und Glühwein aus, auf rührende Weise glücklich in seiner
Rolle als Gastgeber. Er flirtete mit Armande, machte ihr die
ausgefallensten Komplimente, bis sie schallend lachte. Er
brachte Anouk bei, wie man flache Steine über das Wasser
hüpfen läßt. Und schließlich zeigte er uns sein Boot, die kleine
Küche, den Lagerraum mit dem Wassertank und den
Vorratsregalen, die Schlafkabine mit dem Plexiglasdach.
»Es war das reinste Wrack, als ich es gekauft habe«, erzählte
er. »Ich hab es wieder in Ordnung gebracht, und jetzt ist es
genausogut wie ein Haus an Land.« Er lächelte fast verlegen,
als hätte er gerade ein kindisches Hobby eingestanden. »All die
Arbeit, nur damit ich nachts im Bett das Wasser plätschern
hören und die Sterne beobachten kann.«
Anouk war begeistert.
»Mir gefällt es«, erklärte sie. »Ich find es ganz toll! Und es ist
überhaupt kein Schrott-, kein Schrott-, überhaupt nicht das, was
Jeannots Mutter immer sagt.«
»Ein Schrotthaufen«, sagte Roux sanft. Ich schaute
erschrocken zu ihm auf, aber er lachte. »Nein, nein, wir sind gar
nicht so schlecht, wie manche Leute glauben.«
»Wir glauben überhaupt nicht, daß ihr schlecht seid!« rief

Page 152
Anouk empört.
Roux zuckte die Achseln.
Später wurde Musik gemacht, eine Flöte, eine Geige und ein
paar aus leeren Konservendosen und Mülleimern improvisierte
Trommeln. Anouk blies auf ihrer Plastiktrompete, und die Kinder
tanzten so wild und so dicht am Flußufer, daß wir sie ermahnen
mußten, nicht so nah am Wasser herumzutoben. Es war schon
fast Mitternacht, als wir uns verabschiedeten, und obwohl ihr fast
die Augen zufielen, protestierte Anouk heftig.
»Keine Sorge«, sagte Roux. »Du kannst jederzeit
wiederkommen.«
Ich bedankte mich und nahm Anouk auf den Arm.
»Es wäre mir eine Ehre.« Einen Augenblick lang meinte ich,
Besorgnis in seinem Blick zu sehen, als er an mir vorbei den
Hügel hinaufschaute. Eine Falte erschien zwischen seinen
Augenbrauen.
»Was ist los?«
»Ich bin mir nicht sicher. Wahrscheinlich ist es nichts.«
Es gibt nur wenige Straßenlaternen in Les Marauds. Eine
gelbe Laterne vor dem Café de la République ist die einzige
Beleuchtung in der schmalen Gasse, die den Hügel hinaufführt.
Dahinter weitet sich die Avenue des Francs Bourgeois zu einer
hell erleuchteten Allee aus. Noch einmal starrte er mit
zusammengezogenen Augen angestrengt in die Dunkelheit.
»Ich dachte nur, ich hätte jemanden den Hügel
herunterkommen sehen, das ist alles. Aber ich habe mich wohl
getäuscht.«
Ich trug Anouk den Hügel hinauf. Hinter uns sanfte Musik.
Zézette tanzte auf der Mole, und ihr Schatten huschte im Schein
des nur noch schwach flackernden Feuers um sie herum. Als wir
a m Café de la République vorbeikamen, fiel mir auf, daß die
Tür einen Spalt weit offenstand, obwohl im Café kein Licht

Page 153
brannte. Dann wurde sie leise geschlossen, wie wenn jemand
eben noch die Straße beobachtet hätte. Es hätte aber auch der
Wind gewesen sein können.

Page 154
Sonntag, 2. März
Der März hat dem Regen ein Ende gemacht. Der Himmel ist
jetzt klar, ein leuchtendes Blau zwischen schnell
dahintreibenden Wolken, und über Nacht ist ein kräftiger Wind
aufgekommen, der in den Ecken pfeift und an den Fenstern
rüttelt. Die Kirchenglocken läuten wie wild, als hätten auch sie
die plötzliche Veränderung bemerkt. Die Wetterfahne dreht sich
hektisch hin und her, ihr rostiges Scharnier quietscht
unablässig. In ihrem Zimmer singt Anouk beim Spielen ein Lied
vom Wind.

V’là l’bon vent, v’là l’joli vent


V’là l’bon vent, ma mie m’appelle
V’là l’bon vent, v’là l’joli vent
V’là l’bon vent, ma mie m’attend.
Märzwinde sind schlechte Winde, pflegte meine Mutter zu
sagen. Aber der Wind tut gut, er riecht nach Frühling und Ozon
und Meersalz. Der März ist ein guter Monat, er treibt den
Februar durch die Hintertür hinaus, während vor dem Haus
schon der Frühling wartet. Ein guter Monat für Veränderungen.
Fünf Minuten lang stehe ich mit ausgebreiteten Armen allein
auf dem Dorfplatz und lasse mir den Wind durch die Haare
gehen. Ich habe vergessen, mir eine Jacke anzuziehen, und der
Wind bauscht meinen roten Rock. Ich bin ein Drache, spüre den
Wind, lasse mich von ihm über den Kirchturm hinweg, über mich
selbst hinaus tragen. Ich verliere kurz die Orientierung, sehe die
rote Gestalt dort unten auf dem Dorfplatz, zugleich hier und dort
– dann bin ich wieder ganz bei mir. Außer Atem entdecke ich
Reynauds Gesicht ganz oben an einem Fenster, seine dunklen
Augen, die mich voller Abscheu anstarren. Er wirkt bleich, trotz

Page 155
des hellen Sonnenscheins. Seine Hände umklammern den
Fenstersims, und seine Knöchel sind ebenso weiß wie sein
Gesicht.
Der Wind ist mir in den Kopf gestiegen. Ich winke Reynaud
freundlich zu und gehe zurück in meinen Laden. Ich weiß, er wird
es als eine herausfordernde Geste auffassen, aber heute
morgen ist mir das egal. Der Wind hat meine Ängste
fortgeweht. Ich winke dem Schwarzen Mann in seinem Turm zu,
und der Wind zupft spielerisch an meinem Rock. Ich bin in
Hochstimmung. Voller freudiger Erwartung.
Die Stimmung scheint auch die Einwohner von Lansquenet
erfaßt zu haben. Ich beobachte sie auf ihrem Weg zur Kirche –
die Kinder rennen mit ausgebreiteten Armen durch den Wind,
die Hunde bellen aus Übermut, und selbst die Gesichter der
Erwachsenen wirken trotz der vom Wind tränenden Augen
fröhlich. Caroline Clairmont am Arm ihres Sohnes mit neuem
Hut und Mantel. Luc schaut kurz zu mir herüber, lächelt mir
verstohlen hinter vorgehaltener Hand zu. Joséphine und Paul-
Marie Muscat Arm in Arm wie ein Liebespaar, obwohl ihr
Gesicht unter der braunen Baskenmütze verkniffen und trotzig
wirkt. Ihr Mann starrt mich durch das Schaufenster wütend an
und beschleunigt seinen Schritt. Ich entdecke Guillaume, heute
ohne Charly, die bunte Plastikleine baumelt sinnlos an seinem
Arm, und er wirkt seltsam verloren ohne seinen Hund. Anouk
schaut mich an und nickt. Narcisse bleibt stehen, um die
Geranien vor dem Laden zu begutachten, reibt ein Blatt
zwischen den Fingern, schnuppert an dem grünen Saft. Trotz
seiner ruppigen Art ist er ein Leckermaul, und ich bin mir sicher,
daß er nach der Messe auf eine Tasse Mokka und ein paar
Trüffel hereinkommen wird.
Der Klang der Glocken geht in ein tiefes, eindringliches
Döhnen über – dong! dong! –, während die Leute auf die offene

Page 156
Kirchentür zuströmen. Vor dem Portal steht Reynaud in einer
weißen Soutane, die Hände gefaltet, mit eifriger Miene, um sie
zu begrüßen. Ich habe den Eindruck, daß er zu mir
herüberschaut, ein kurzer Blick über den Dorfplatz, ein leichtes
Straffen der Schultern unter der Soutane – aber ich bin mir nicht
sicher.
Mit einer Tasse Schokolade in der Hand, mache ich es mir
hinter der Theke gemütlich und warte auf das Ende der Messe.
Der Gottesdienst hat diesmal länger gedauert als gewöhnlich.
Ich nehme an, daß Reynauds Erwartungen an seine Gemeinde
in der vorösterlichen Zeit besonders groß sind. Erst nach mehr
als anderthalb Stunden kamen die ersten Leute aus der Kirche,
die Köpfe gegen den Wind gesenkt, der frech an Tüchern und
Sonntagsmänteln zerrte, mit plötzlicher Unverschämtheit unter
Röcke fuhr und die kleine Herde über den Dorfplatz scheuchte.
Arnauld grinste mich im Vorbeigehen verlegen an; keine
Champagnertrüffel heute morgen. Narcisse kam wie immer in
den Laden, doch er war noch wortkarger als sonst, zog eine
Zeitung aus seinem Tweedjackett und beugte sich lesend über
seine Tasse. Eine Viertelstunde später war die Hälfte der
Gemeinde immer noch in der Kirche, und ich nahm an, daß sie
auf die Beichte warteten. Ich schenkte mir noch eine Tasse
Schokolade ein und wartete. Sonntags kommt das Geschäft nur
langsam in Gang. Da braucht man Geduld.
Plötzlich sah ich eine vertraute Gestalt in einem karierten
Mantel durch die halboffene Kirchentür schlüpfen. Joséphine
schaute sich nach allen Seiten um, und als sie sich vergewissert
hatte, daß niemand auf dem Dorfplatz war, kam sie auf den
Laden zugelaufen. Als sie Narcisse auf seinem Hocker sitzen
sah, zögerte sie einen Moment. Dann trat sie ein, die Fäuste
schützend in die Magengegend gedrückt.
»Ich kann nicht bleiben«, sagte sie ohne zu grüßen. »Paul ist

Page 157
gerade bei der Beichte. Ich hab nur zwei Minuten.« Ihre Stimme
klang gehetzt, die Worte purzelten aus ihrem Mund wie
Dominosteine.
»Sie müssen sich von diesen Leuten fernhalten«, sagte sie.
»Von diesen Zigeunern. Sie müssen ihnen sagen, sie sollen
weiterziehen. Sie müssen sie warnen.« Ihr Gesicht war
angespannt, und sie rang nervös die Hände.
Ich schaute sie an.
»Joséphine, bitte, nehmen Sie Platz. Ich mache Ihnen eine
Schokolade.«
»Nein, das geht nicht!« Sie schüttelte heftig den Kopf, und ihr
vom Wind zerzaustes Haar fiel ihr ins Gesicht. »Ich hab Ihnen
doch gesagt, ich hab keine Zeit. Tun Sie einfach, was ich Ihnen
sage. Bitte.« Sie klang gehetzt und erschöpft und schaute
immer wieder zur Kirche hinüber, als fürchtete sie, bei mir
gesehen zu werden.
»Er hat in seiner Predigt gegen diese Leute gewettert«, sagte
sie hastig und leise. »Und gegen Sie. Er spricht über Sie.
Verbreitet Gerüchte über Sie.«
Ich zuckte gleichgültig die Achseln.
»Na und? Was kümmert mich das?«
Joséphine drückte sich frustriert die Fäuste an die Schläfen.
»Sie müssen sie warnen«, wiederholte sie. »Sagen Sie ihnen,
sie sollen weggehen. Und Sie müssen Armande warnen. Sagen
Sie ihr, er hat heute in der Kirche ihren Namen vorgelesen. Und
Ihren auch. Und meinen wird er auch vorlesen, wenn er mich hier
sieht, und Paul –«
»Ich verstehe nicht recht, Joséphine. Was kann er denn tun?
Und warum sollten wir uns um sein Gerede kümmern?«
»Sagen Sie es ihnen einfach, ja?« Ihr Blick schoß wieder
ängstlich zur Kirche hinüber. Ein paar Leute traten gerade aus
der Tür. »Ich kann nicht länger bleiben«, sagte sie. »Ich muß

Page 158
weg.« Sie wandte sich zum Gehen.
»Joséphine, warten Sie –«
Als sie sich umdrehte, war ihr Gesicht ein Abbild des Grams.
Ich sah, daß sie den Tränen nahe war.
»Das passiert jedesmal«, sagte sie mit rauher, unglücklicher
Stimme. »Wenn ich mal ein Freundin finde, macht er mir alles
kaputt. Es wird so kommen wie immer. Und dann werden Sie
längst fort sein, aber ich …«
Ich trat einen Schritt auf sie zu, wollte sie in den Arm nehmen.
Aber Joséphine wich mit einer unbeholfenen Abwehrgeste
zurück.
»Nein! Ich kann nicht! Ich weiß, Sie meinen es gut, aber ich
kann einfach nicht!« Sie riß sich mit Mühe zusammen. »Sie
müssen das verstehen. Ich lebe hier. Ich muß hier leben. Sie
sind frei, Sie können gehen, wohin Sie wollen –«
»Sie auch«, unterbrach ich sie sanft.
Sie schaute mich an und berührte meine Schulter ganz leicht
mit den Fingerspitzen.
»Das verstehen Sie nicht«, sagte sie ohne Vorwurf. »Sie sind
anders. Eine Zeitlang dachte ich, ich könnte auch lernen, anders
zu sein.«
Die Erregung war mit einemmal von ihr gewichen, und sie
starrte geistesabwesend ins Leere, die Hände tief in den
Manteltaschen vergraben.
»Es tut mir leid, Vianne«, sagte sie. »Ich hab’s wirklich
versucht. Ich weiß, es ist nicht Ihre Schuld.« Einen Augenblick
lang verrieten ihre Züge wieder ängstliche Erregung. »Reden
Sie mit den Leuten vom Fluß«, sagte sie eindringlich. »Sagen
Sie ihnen, sie müssen verschwinden. Es ist nicht ihre Schuld,
aber ich will nicht, daß jemandem etwas zustößt«, schloß
Joséphine leise. »In Ordnung?«
Ich zuckte die Achseln.

Page 159
»Es wird niemandem etwas zustoßen«, sagte ich.
»Gut.« Ihr gezwungenes Lächeln versetzte mir einen Stich.
»Und machen Sie sich keine Sorgen um mich. Ich komme
schon zurecht. Ganz bestimmt.« Wieder dieses gequälte
Lächeln. Als sie an mir vorbei zur Tür ging, sah ich etwas
Glänzendes in ihrer Hand und bemerkte, daß ihre
Manteltaschen mit Modeschmuck gefüllt waren. Armreifen,
Halsketten, Ringe, alles ineinander verheddert.
»Hier, das ist für Sie«, sagte sie leichthin und hielt mir eine
Handvoll ihrer kostbaren Beute hin. »Nehmen Sie es ruhig. Ich
hab noch mehr davon.« Dann drehte sie sich mit einem
strahlenden Lächeln um und ließ mich mit den Ketten und
Ohrringen und bunten Plastikperlen stehen, die zwischen
meinen Fingern hervorquollen.
Später am Nachmittag machte ich mit Anouk einen
Spaziergang zum Flußufer hinunter. Die kleine Flotte der
fahrenden Leute wirkte fröhlich im hellen Sonnenlicht, Wäsche
flatterte an zwischen den Booten gespannten Leinen, und die
Sonne spiegelte sich in den Fenstern und den bunt
angestrichenen Wänden. Armande saß in ihrem umzäunten
Vorgarten in einem Schaukelstuhl und schaute auf den Fluß
hinaus. Roux und Mamhed kraxelten auf dem steilen Dach
herum und befestigten lose Dachpfannen. Ich bemerkte, daß die
verrotteten Dachsimse und Giebelwände ersetzt und leuchtend
gelb gestrichen worden waren. Ich winkte den beiden Männern
zu und setzte mich auf die Gartenmauer zu Armande, während
Anouk zum Ufer hinunterrannte, um ihre neuen Freunde zu
besuchen.
Die alte Frau wirkte müde, und ihr Gesicht unter der breiten
Hutkrempe war leicht aufgedunsen. Ihre Handarbeit lag
unberührt auf ihrem Schoß. Sie nickte mir zu, sagte jedoch
nichts. Ihr Stuhl schaukelte fast unmerklich, tick-tick-tick, auf

Page 160
dem Gartenweg. Ihre Katze schlief zusammengerollt zu ihren
Füßen.
»Caro war heute morgen hier«, sagte sie schließlich. »Ich
nehme an, ich müßte mich eigentlich geehrt fühlen.« Eine
unwillige Kopfbewegung.
Schaukeln.
Tick-tick-tick-tick.
»Für wen hält die sich eigentlich?« raunzte sie unvermittelt.
»Marie-Antoinette?« Eine Weile versank sie in wütendes
Grübeln, ihr Schaukeln wurde heftiger. »Bildet sich ein, sie
könnte mir Vorschriften machen. Schleppt mir ihren Arzt ins
Haus –« Sie unterbrach sich und starrte mich durchdringend wie
ein Raubvogel an. »Mischt sich in meine Angelegenheiten ein.
Das hat sie schon immer versucht, wissen Sie. Ihrem Vater hat
sie sonstwas erzählt.« Sie lachte kurz auf. »Jedenfalls hat sie
das nicht von mir«, erklärte sie nachdrücklich. »Da können Sie
Gift drauf nehmen. Ich hab in meinem ganzen Leben keinen Arzt
gebraucht – und auch keinen Priester –, der mir gesagt hat, was
ich tun und lassen soll.«
Armande reckte ihr Kinn vor und schaukelte noch energischer.
»Ist Luc hiergewesen?« fragte ich.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Er ist zu einem
Schachturnier in Agen gefahren.« Ihr starrer Blick wurde
weicher. »Sie weiß nicht, daß er neulich im Laden war«, sagte
sie zufrieden. »Und sie wird es auch nicht erfahren.« Sie
lächelte. »Er ist ein guter Junge, mein Enkel. Er weiß, wann er
den Mund halten muß.«
»Wie ich höre, wurden heute morgen in der Kirche unsere
Namen genannt«, sagte ich. »Es heißt, man wirft uns vor, mit
unerwünschten Elementen zu verkehren.«
Armande schnaubte verächtlich.
»Was ich in meinem eigenen Haus tue, geht niemanden

Page 161
etwas an«, sagte sie knapp. »Das hab ich Reynaud gesagt, und
das hab ich damals auch Père Antoine gesagt. Aber die
kapieren das einfach nicht. Kommen einem dauernd mit
demselben Geschwätz. Gemeinschaftssinn. Traditionelle Werte.
Ewig dieselbe Moralpredigt.«
»Sie haben das also schon mal erlebt?« Ich wurde neugierig.
»Allerdings.« Sie nickte nachdrücklich. »Vor Jahren. Reynaud
muß damals etwa in Lucs Alter gewesen sein. Natürlich sind
danach noch mehrmals fahrende Leute hiergewesen, aber sie
sind nie geblieben. Jedenfalls bis jetzt nicht.« Sie schaute zu
ihrem halb fertiggestrichenen Haus auf. »Es wird richtig schön,
nicht wahr?« sagte sie zufrieden. »Roux sagt, bis heute abend
werden sie es geschafft haben.« Plötzlich runzelte sie die Stirn.
»Es geht keinen etwas an, ob ich ihn für mich arbeiten lasse«,
erklärte sie gereizt. »Er ist ein ehrlicher Mann und ein guter
Handwerker. Georges hat kein Recht, mir da reinzureden.
Absolut kein Recht.«
Sie nahm ihre Handarbeit auf, legte sie jedoch wieder weg,
ohne einen einzigen Stich getan zu haben.
»Ich kann mich nicht konzentrieren«, sagte sie verstimmt.
»Schlimm genug, daß man in aller Herrgottsfrühe von diesem
Glockengebimmel geweckt wird, da fehlt es mir gerade noch,
daß ich mir als erstes Caros scheinheiliges Gesicht ansehen
muß. Wir beten jeden Tag für dich, Mutter«, äffte sie Caroline
nach. »Wir möchten, daß du verstehst, warum wir uns solche
Sorgen um dich machen. In Wirklichkeit sind sie um ihren
guten Ruf im Dorf besorgt. Es ist einfach peinlich, eine Mutter
wie mich zu haben, die einen immer wieder daran erinnert,
woher man kommt.«
Sie lächelte zugleich zufrieden und verbittert vor sich hin.
»Solange ich lebe, wissen sie, daß es jemanden gibt, der sich
an alles erinnert«, sagte sie. »Die Schwierigkeiten, die sie

Page 162
bekam, nachdem sie sich mit diesem Jungen eingelassen
hatte. Wer hat denn dafür bezahlt, hä? Und er – Reynaud, der
Mann mit der blütenweißen Weste …« Ihre Augen funkelten
boshaft. »Ich wette, ich bin die einzige, die sich noch an diese
alte Geschichte erinnert. Es hat sowieso kaum jemand gewußt,
damals. Es hätte der größte Skandal im Land werden können,
wenn ich meinen Mund nicht gehalten hätte.« Sie warf mir einen
verschmitzten Blick zu. »Und schauen Sie mich bloß nicht so an,
junge Frau. Ich kann immer noch ein Geheimnis für mich
behalten. Was glauben Sie, warum er mich in Ruhe läßt? Er
könnte eine Menge unternehmen, wenn er wollte. Caro hat’s
schon probiert.« Armande kicherte schadenfroh in sich hinein.
»Ich dachte, Reynaud sei nicht von hier«, sagte ich neugierig.
Armande schüttelte den Kopf.
»Kaum jemand erinnert sich daran«, sagte sie. »Er ist aus
Lansquenet weggegangen, als er noch ein Junge war. Es war
für alle Beteiligten besser so.« Einen Moment lang hing sie
ihren Erinnerungen nach. »Aber diesmal soll er sich in acht
nehmen«, fuhr sie düster fort. »Er soll es nicht wagen, etwas
gegen Roux oder seine Freunde zu unternehmen.« Der Humor
war verschwunden; sie wirkte mit einemmal älter, zänkisch,
krank. »Ich freue mich, daß sie hier sind«, erklärte sie mit
zittriger Stimme. »In ihrer Gegenwart fühle ich mich wieder
jung.« Die knochigen kleinen Hände zupften nervös an der
Stickerei in ihrem Schoß herum. Die Katze wachte durch die
Bewegung auf und sprang schnurrend auf ihren Schoß. Als
Armande ihr den Kopf kraulte, langte sie verspielt mit der Pfote
nach ihrem Kinn.
»Lariflete«, sagte Armande. Nach einer Weile wurde mir klar,
daß das der Name der Katze war. »Ich habe sie schon
neunzehn Jahre. In Katzenjahren ist sie also fast genauso alt wie
ich.« Sie schnalzte mit der Zunge, und die Katze schnurrte noch

Page 163
lauter. »Angeblich habe ich eine Allergie«, sagte Armande.
»Asthma oder so was. Ich hab ihnen gesagt, daß ich lieber
ersticken würde, als mich von meinen Katzen zu trennen.
Allerdings gibt es einige Menschen, auf die ich gut und gerne
verzichten könnte.« Lariflete rollte sich zufrieden auf Armandes
Schoß zusammen. Ich schaute zum Fluß hinunter und sah Anouk
mit zwei schwarzhaarigen Kindern an der Mole spielen. Anouk,
die jüngste von den dreien, schien das Kommando
übernommen zu haben.
»Bleiben Sie doch zum Kaffee«, schlug Armande vor. »Ich
wollte sowieso welchen aufsetzen. Ich hab auch Limonade für
Anouk.«
Ich ging in Armandes kleine, niedrige Küche mit dem
gußeisernen Herd und setzte den Kaffee selbst auf. Alles ist
blitzblank, doch durch das einzige winzige Fenster, das zum
Fluß hinausgeht, fällt grünliches Licht herein, so daß eine
Atmosphäre entsteht wie unter Wasser. Von den dunklen
Deckenbalken baumeln Baumwollsäckchen mit getrockneten
Kräutern. An den weißgetünchten Wänden hängen kupferne
Pfannen und Töpfe an eisernen Haken. In die Tür ist – wie in alle
Türen im Haus – am unteren Rand ein Loch gesägt, damit die
Katzen sich überall frei bewegen können. Eine Katze saß auf
dem Küchenschrank und beobachtete mich, während ich in
einer emaillierten Blechkanne den Kaffee aufbrühte. Mir fiel auf,
daß die Limonade zuckerfrei war, und in der Zuckerdose
befand sich Süßstoff. Trotz ihrer gespielten Tapferkeit scheint
sie doch gewisse Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.
»Ekliges Zeug«, kommentierte sie ohne Groll, während sie
ihren Kaffee aus einer ihrer handbemalten Tassen schlürfte.
»Es heißt, man schmecke den Unterschied nicht. Aber man
schmeckt es doch.« Sie zog eine Grimasse. »Caro bringt es
immer mit, wenn sie kommt. Sie kontrolliert meinen

Page 164
Küchenschrank. Wahrscheinlich meint sie es gut. Sie ist eben
eine dumme Gans.«
Ich riet ihr, besser auf ihre Gesundheit zu achten.
Armande schnaubte verächtlich.
»Wenn man erst mal in meinem Alter ist«, sagte sie, »geht es
los mit den Zipperlein. Dauernd hat man irgendwas anderes. So
ist das nun mal im Leben.« Sie nahm noch einen Schluck von
dem bitteren Kaffee. »Mit sechzehn Jahren hat Rimbaud erklärt,
er wolle soviel wie möglich so intensiv wie möglich erleben.
Nun, ich gehe auf die Achtzig zu, und langsam komme ich zu
dem Schluß, daß er recht hatte.« Sie grinste, und ich war
überrascht, wie jugendlich ihr Gesicht wirkte. Eine
Jugendlichkeit, die weniger mit der Hautfarbe oder den
Konturen zu tun hat, als vielmehr mit einer inneren
Lebensfreude; es war der Blick einer Frau, die gerade erst
dabei ist, zu entdecken, was das Leben zu bieten hat.
»Ich schätze, Sie sind zu alt, um in die Fremdenlegion
einzutreten«, sagte ich lächelnd. »Und hat Rimbaud damals
nicht auch zu Exzessen geneigt?«
Armande grinste mich spitzbübisch an.
»Richtig«, erwiderte sie. »Ein paar Exzesse könnte ich auch
gebrauchen. Von jetzt an werde ich unmäßig sein – und
launenhaft –, ich werde laute Musik hören und schauerliche
Gedichte lesen. Ich werde zügellos sein«, erklärte sie
selbstzufrieden.
Ich mußte lachen.
»Sie sind wirklich unglaublich«, sagte ich mit gespieltem
Ernst. »Kein Wunder, daß Sie Ihre Angehörigen zur
Verzweiflung bringen.«
Aber obwohl sie mit mir lachte und ausgelassen in ihrem
Schaukelstuhl wippte, erinnere ich mich heute weniger an ihr
Lachen, als an das, was hinter dem Lachen durchschimmerte,

Page 165
diesen Anflug von Leichtsinn und Übermut.
Und erst später, als ich mitten in der Nacht aus einem
Alptraum erwachte, an den ich mich kaum erinnern konnte,
wußte ich, wo ich diesen Blick schon einmal gesehen hatte.
Wie wär’s mir Florida, Liebes? Die Everglades? Die Keys?
Was hältst du von Disneyland, chérie, oder New York,
Chicago, dem Grand Canyon, Chinatown, New Mexico, den
Rocky Mountains?
Aber Armande fehlte die Angst, von der meine Mutter
getrieben wurde, das verzweifelte Ringen mit dem Tod, die
Flucht in immmer wieder neue Phantasiereisen. Bei Armande
spürte ich nur den Hunger, die Gier, das schreckliche
Bewußtsein der Vergänglichkeit.
Ich fragte mich, was der Arzt ihr an diesem Morgen tatsächlich
gesagt hatte, und wieviel sie wirklich begriff. Noch lange lag ich
wach und grübelte über alles nach, und als ich endlich einschlief,
träumte ich, ich sei mit Armande in Disneyland, wo Reynaud
und Caro uns Hand in Hand entgegenkamen, sie als die Rote
Königin und er als der Weiße Hase aus Alice im Wunderland
verkleidet, beide mit großen weißen Handschuhen wie die
Hände von Comicfiguren. Caro trug eine rote Krone auf ihrem
riesigen Kopf, und Armande hatte in jeder Hand einen Stiel mit
Zuckerwatte.
Von irgendwo aus der Ferne hörte ich die New Yorker
Verkehrsgeräusche näher kommen, das laute Hupen der Taxis.
»Um Gottes willen, iß das nicht, das ist giftig«, kreischte
Reynaud, aber Armande stopfte sich mit beiden Händen gierig
die Zuckerwatte in den Mund. Ich versuchte, sie vor dem Taxi zu
warnen, doch sie schaute mich nur an und sagte mit der Stimme
meiner Mutter: »Das Leben ist ein Fest, chérie, jedes Jahr
sterben mehr Menschen im Straßenverkehr, das ist statistisch
erwiesen.« Dann machte sie sich wieder auf diese

Page 166
schreckliche, gefräßige Art über die Zuckerwatte her, und
Reynaud wandte sich mir zu und kreischte mit einer Stimme, die
wegen ihrer schrillen Höhe um so bedrohlicher klang:
»Das ist alles deine Schuld! Du mit deinem
Schokoladenfest! Alles war in Ordnung, bis du aufgetaucht
bist, und jetzt sterben alle – sie STERBEN STERBEN
STERBEN …« Ich streckte abwehrend die Hände aus.
»Es ist nicht meine Schuld«, flüsterte ich, »sondern deine. Du
bist der Schwarze Mann, du bist –« Und dann stürzte ich
rückwärts durch den Spiegel, und die Karten flogen in alle
Richtungen um mich herum – Neun Schwerter, DER TOD. Drei
Schwerter, DER TOD. Der Turm, DER TOD. Der Wagen, DER
TOD.
Ich wachte schreiend auf. Anouk stand über mir, das Gesicht
schlafverquollen und angsterfüllt.
»Maman, was ist los?«
Ihre Arme legen sich warm um meinen Hals. Sie riecht nach
Schokolade und Vanille und friedlichem Schlaf.
»Nichts. Ich hab nur geträumt. Weiter nichts.«
Sie tröstet mich mit ihrer sanften Kinderstimme, und ich
komme mir vor wie in einer verkehrten Welt, als würde ich in ihr
versinken wie eine Meeresschnecke in ihrem Gehäuse, als
würde ich mich um mich selbst drehen, während ihre Hand kühl
auf meiner Stirn liegt, ihr Mund in meinem Haar.
»Fort-fort-fort«, murmelt sie mechanisch. »Böser Geist, mach
dich davon. Jetzt ist es gut, Maman. Es ist alles fort.« Ich weiß
nicht, wo sie diese Dinge aufschnappt. Meine Mutter sagte
solche Dinge, aber ich kann mich nicht erinnern, sie Anouk je
beigebracht zu haben. Und doch benutzt sie sie wie vertraute
Formeln. Einen Moment lang klammere ich mich an sie, vor
Liebe wie gelähmt.

Page 167
»Es wird alles gut, nicht wahr, Anouk?«
»Na klar.« Ihre Stimme klingt klar und erwachsen und
selbstsicher. »Klar wird alles gut.« Sie legt ihren Kopf an meine
Schulter und kuschelt sich an mich. »Ich hab dich lieb, Maman.«
Draußen zeigen sich die ersten Streifen der Dämmerung am
Horizont. Ich halte meine Tochter fest in den Armen, während
sie wieder einschläft, und ihr Locken kitzeln mich im Gesicht. Ist
es das, wovor meine Mutter sich immer fürchtete? Ich frage
mich, während ich dem Zwitschern der Vögel lausche – zuerst
ein einzelnes Krah-krah, dann ein ganzes Konzert –, ist es das,
wovor sie flüchtete? Nicht ihr eigener Tod, sondern die
zahllosen Begegnungen mit anderen Menschen, die
abgebrochenen Kontakte, die ungewollt entstehenden
Bindungen, die Verantwortung? Sind wir all die Jahre vor
unseren Gefühlen davongelaufen, vor unseren Freundschaften,
den beiläufig ausgesprochenen Worten, die ein Leben
verändern können?
Ich versuche, mich an meinen Traum zu erinnern, an Reynauds
Blick – den verzweifelten Ausdruck in seinem Gesicht, ich
komme zu spät, ich komme zu spät –, auch er auf der Flucht
vor einem unvorstellbaren Schicksal, zu dessen Teil ich
unabsichtlich geworden bin. Aber der Traum hat sich aufgelöst,
seine Teile haben sich wie Karten im Wind zerstreut. Schwer zu
sagen, ob der Schwarze Mann der Verfolger oder der Verfolgte
ist. Schwer zu sagen, ob er wirklich der Schwarze Mann ist.
Statt dessen sehe ich wieder das Gesicht des weißen
Kaninchens vor mir – wie das Gesicht eines ängstlichen Kindes
auf einem Karussell, das verzweifelt versucht auszusteigen.
»Wer läutet die Veränderungen ein?«
In meiner Verwirrung halte ich die Stimme für die eines
anderen; eine Sekunde später begreife ich, daß ich laut
gesprochen habe. Aber als ich wieder in den Schlaf sinke, bin

Page 168
ich mir fast sicher, daß ich eine andere Stimme antworten höre,
eine Stimme, die mich sowohl an Armande als auch an meine
Mutter erinnert.
Du, Vianne, sagt sie sanft.
Du.
Dienstag, 4. März
Das erste Grün auf den Feldern macht die Landschaft
lieblicher, als wir beide es gewohnt sind. Von weitem wirkt es
üppig und saftig – ein paar frühe Bienen sticheln die Luft über
den zarten Halmen, so daß die Felder wie schlaftrunken wirken.
Aber wir wissen, daß in zwei Monaten nur noch Stoppeln übrig
sein werden, verbrannt von der Sonne, die Erde ausgedörrt und
aufgesprungen, eine rote Kruste, auf der nur noch Disteln
wachsen. Ein heißer Wind fegt alles weg, was an fruchtbarem
Boden noch übrig ist, und bringt Dürre ins Land, und darauf folgt
eine stickige Windstille, in der Krankheiten gedeihen. Ich
erinnere mich noch an den Sommer 1975, mon père, an die
glühende Hitze und den heißen weißen Himmel. In jenem
Sommer folgte Plage auf Plage. Zuerst die Zigeuner, die in
ihren schmuddeligen Booten über den halb ausgetrockneten
Fluß angekrochen kamen und in Les Marauds im Schlamm auf
Grund liefen. Und dann die Krankheit, die erst ihre Tiere und
dann die unsrigen befiel; eine Art Wahnsinn. Zuerst verdrehten
sie die Augen, zuckten hilflos mit den Beinen, weigerten sich
trotz ihrer aufgedunsenen Körper zu trinken, schließlich
begannen sie zu schwitzen und zu zittern und verendeten unter
Wolken von schwarzen Fliegen, o Gott, es lag ein Gestank in
der Luft, durchdringend und süßlich wie von verfaulendem Obst.
Erinnern Sie sich? Das war der Sommer, als Sie hierherkamen,
Vater. So heiß, daß die wilden Tiere aus dem ausgetrockneten
Sumpf bis an den Fluß kamen. Füchse, Iltisse, Wiesel, Hunde.

Page 169
Die meisten tollwütig, vom Hunger und Durst aus ihren
angestammten Revieren getrieben. Wir schossen sie ab, wenn
sie auf das Ufer zuwankten, schossen sie ab oder töteten sie
mit Steinen. Die Kinder bewarfen auch die Zigeuner mit
Steinen, aber sie waren genauso gefangen und verzweifelt wie
die Tiere und kamen immer wieder zurück. Die Luft war schwarz
vor Fliegen und verpestet von dem Gestank der Feuer, mit
denen sie versuchten, die Krankheit abzuwehren. Zuerst gingen
die Pferde ein, dann die Kühe, Ziegen und Hunde. Wir
versuchten, sie in Schach zu halten, weigerten uns, ihnen
Lebensmittel oder Wasser oder Medikamente zu verkaufen. Im
Schlamm des Tannes auf Grund gelaufen, tranken sie
Flaschenbier und Flußwasser. Ich erinnere mich noch, wie ich
sie von Les Marauds aus beobachtete, gebeugte Gestalten, die
abends still um ihre Lagerfeuer hockten, und wie ich jemanden
– eine Frau oder ein Kind – vom dunklen Wasser her
schluchzen hörte.
Einige Leute, Schwächlinge – unter ihnen Narcisse –, fingen
an, von Nächstenliebe zu faseln. Von Mitleid. Aber Sie sind hart
geblieben. Sie wußten, was Sie zu tun hatten.
In der Messe haben Sie die Namen derjenigen verlesen, die
sich weigerten mitzumachen. Muscat – der alte Muscat, Pauls
Vater – hat sie so lange vor dem Café verscheucht, bis sie
Vernunft angenommen haben. Nachts gab es Prügeleien
zwischen den Zigeunern und den Dorfbewohnern. Die Kirche
wurde geschändet. Aber Sie sind standhaft geblieben.
Eines Tages sahen wir, wie sie versuchten, ihre Boote in
tieferes Wasser zu ziehen. An manchen Stellen versanken sie
bis an die Hüften in dem nassen Schlamm, versuchten, auf den
schleimigen Steinen Halt zu finden. Einige hatten sich Taue wie
Geschirr umgelegt und zogen die Boote, andere schoben von
hinten. Als sie bemerkten, daß wir sie beobachteten, verfluchten

Page 170
sie uns mit ihren harten, heiseren Stimmen. Aber es dauerte
noch weitere zwei Wochen, bis sie endlich abzogen und ihre
ruinierten Boote zurückließen. Ein Feuer, haben Sie gesagt,
Vater, ein Feuer, das der Säufer und die Schlampe, denen das
Boot gehörte, unbeaufsichtigt gelassen hatten. Es breitete sich
in der trockenen, elektrisierten Luft rasend schnell aus, bis der
ganze Fluß in Flammen zu stehen schien. Ein Unfall.
Es gab Gerede; wie immer. Es hieß, Sie hätten das Unglück
mit Ihren Predigten herausgefordert; Sie hätten dem alten
Muscat und seinem Sohn, den beiden, die stets so fromm in der
ersten Bank saßen und alles sahen und hörten, freundlich
zugenickt, den beiden, die in jener Nacht nichts gesehen und
gehört hatten. Vor allem jedoch war man erleichtert. Und als der
Winter kam und der Tannes wieder mehr Wasser führte,
versanken sogar die Wracks.
Ich bin heute morgen noch einmal hingegangen, Vater. Dieser
Ort geht mir nicht aus dem Sinn. Es ist fast genauso wie vor
zwanzig Jahren. Heimtückische Stille liegt über dem Fluß, eine
Stimmung, die nichts Gutes ahnen läßt. Im Vorbeigehen sehe
ich, wie hinter schmutzigen Fensterscheiben Vorhänge bewegt
werden. Dann meine ich, leises, anhaltendes Gelächter aus den
Booten zu hören. Werde ich stark genug sein, Vater? Werde ich
trotz meines guten Willens versagen?
Drei Wochen. Ich habe jetzt drei Wochen in der Wüste
verbracht. Mittlerweile müßte ich von allen Schwächen und
Unsicherheiten geläutert sein. Aber die Angst ist immer noch
da. Letzte Nacht habe ich von ihr geträumt. Oh, es war kein
wollüstiger Traum, vielmehr fühlte ich mich auf unbegreifliche
Weise bedroht. Die Unruhe, die sie ins Dorf bringt, ist es, was
mich so umtreibt. Diese Wildheit.
Joline Drou sagt, ihre Tochter sei auch schlecht. Sie treibe
sich in Les Marauds herum, praktiziere heidnische Riten,

Page 171
verbreite Aberglauben. Joline sagt, das Kind sei noch nie in der
Kirche gewesen, habe nie zu beten gelernt. Wenn sie der
Kleinen von Ostern und der Auferstehung erzählt, plappere sie
irgendwelchen heidnischen Unsinn. Und dann dieses Fest; in
jedem Schaufenster hängt inzwischen eins von ihren Plakaten.
Die Kinder sind jetzt schon vor Aufregung ganz aus dem
Häuschen.
»Lassen Sie sie doch, Vater, man ist nur einmal jung«, sagt
Georges Clairmont verständnisvoll, während seine Frau ihre
gezupften Brauen hebt und mich neckisch anschaut.
»Es kann doch wirklich nichts schaden«, sagt sie mit einem
affektierten Lächeln. Ich habe den Verdacht, daß sie nur
deswegen so nachsichtig sind, weil ihr Sohn für das Fest
Interesse zeigt. »Und alles, was die Osterbotschaft bekräftigt
…«
Ich versuche erst gar nicht, ihnen begreiflich zu machen,
worum es mir geht. Gegen ein Kinderfest zu Felde zu ziehen
bedeutet, sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Narcisse macht
sich bereits lustig über meinen Anti-Schokoladen-Kreuzzug,
begleitet von hämischem Gekicher. Aber es wurmt mich. Daß
sie sich eines Kirchenfestes bedient, um die Kirche zu
unterminieren – um meine Autorität zu unterminieren … Meine
Würde ist bereits in Frage gestellt. Ich wage nicht, noch weiter
zu gehen. Und mit jedem Tag wächst ihr Einfluß. Teilweise liegt
es an dem Laden. Halb Café, halb confiserie, hat er etwas
Einladendes, etwas Gemütliches. Die Kinder sind ganz verrückt
nach den Schokoladenfiguren, die sie sich von ihrem
Taschengeld leisten können. Die Erwachsenen genießen die
leicht verruchte Atmosphäre, in der man sich Geheimnisse
zuflüstert und gegenseitig das Herz ausschüttet. Mehrere
Familien haben angefangen, für den Sonntagskaffee Kuchen
bei ihr zu bestellen; ich sehe genau, wenn sie nach der Messe

Page 172
die mit Schleifen zugebundenen Schachteln abholen. Noch nie
haben die Einwohner von Lansquenet-sous-Tannes soviel
Schokolade gegessen. Gestern hat Toinette Arnauld sogar im
Beichtstuhl genascht! Ihr Atem roch nach Schokolade, aber als
Beichtvater war ich gezwungen, die Anonymität zu respektieren.
»Schegnen Sie misch, Vater, denn isch habe geschündigt.«
Ich hörte sie kauen, hörte das saugende Geräusch zwischen
ihren Zähnen. Blanke Wut stieg in mir auf, als sie eine lange
Reihe von läßlichen Sünden beichtete, die ich kaum hörte,
während der Duft von Schokolade und Karamel in dem engen
Raum immer intensiver wurde. Sie sprach mit vollem Mund, und
ich spürte, wie mir das Wasser auf der Zunge zusammenlief.
Schließlich konnte ich es nicht mehr aushalten.
»Essen Sie etwa gerade etwas?« fuhr ich sie an.
»Nein, Vater«, erwiderte sie beinahe empört. »Essen?
Warum sollte ich –«
»Ich bin sicher, daß ich Sie essen höre.« Ich machte mir nicht
die Mühe, leise zu sprechen, sondern erhob mich von meinem
Stuhl und umklammerte den Sims mit beiden Händen. »Für was
halten Sie mich eigentlich, für einen Trottel?« Schon wieder
hörte ich ein schmatzendes Geräusch, und die Wut übermannte
mich vollends. »Ich höre Sie essen, Madame«, sagte ich scharf.
»Oder glauben Sie etwa, Sie seien weder zu sehen noch zu
hören?«
»Mon père, ich versichere Ihnen –«
»Schweigen Sie, Madame Arnauld, bevor Sie sich in weitere
Lügen verstricken!« donnerte ich, und plötzlich war der
Schokoladenduft verschwunden, es war kein Schmatzen mehr
zu hören, sondern nur ein unterdrücktes Schluchzen und
panisches Rascheln, als sie aus dem Beichtstuhl flüchtete. Mit
ihren hohen Absätzen wäre sie beinahe ausgerutscht, als sie
aus der Kirche rannte.

Page 173
Allein im Beichtstuhl, versuchte ich, mich an den Duft, die
Geräusche zu erinnern, an die Empörung, die ich empfunden
hatte, meinen gerechten Zorn. Doch als die Dunkelheit mich
umfing, als die Luft anstatt nach Schokolade nur noch nach
Weihrauch und Kerzen duftete, kamen mir Zweifel. Und dann
wurde mir das Absurde an der ganzen Situation bewußt, und ich
bekam fast einen Lachkrampf, der mich zugleich verblüffte und
ängstigte. Am Ende war ich verwirrt und naßgeschwitzt, mein
Magen rebellierte. Der plötzliche Gedanke, daß sie die einzige
wäre, die das Komische an der Situation erkennen würde,
reichte aus, um mir den Magen von neuem umzudrehen, und ich
war gezwungen, mich wegen leichter Übelkeit zu entschuldigen
und die Beichte abzubrechen. Mit unsicheren Schritten ging ich
zurück in die Sakristei, und ich bemerkte, wie mehrere Leute
mich merkwürdig ansahen. Ich muß vorsichtiger sein. In
Lansquenet wird zuviel geklatscht.
Seitdem herrscht einigermaßen Ruhe. Ich führe meinen
Ausbruch im Beichtstuhl auf ein leichtes Fieber zurück, das
mich während der Nacht schüttelte. Auf jeden Fall ist es nicht
wieder vorgekommen. Als Vorsichtsmaßnahme habe ich meine
Abendmahlzeiten noch weiter reduziert, um die
Verdauungsstörungen zu vermeiden, die den Vorfall
möglicherweise verursacht haben. Dennoch spüre ich um mich
herum eine gewisse Unsicherheit – beinahe so etwas wie
gespannte Erwartung. Der Wind macht die Kinder ausgelassen,
sie rennen mit ausgestreckten Armen auf dem Dorfplatz herum
und kreischen wie Vögel. Auch die Erwachsenen wirken
flatterhaft, fallen von einem Extrem ins andere. Die Frauen
reden zu laut, nur um verlegen zu schweigen, sobald ich
auftauche; manche sind dauernd den Tränen nahe, andere
aggressiv. Heute morgen sprach ich Joséphine Muscat vor dem
Café de la République an, und diese sonst so stille, einsilbige

Page 174
Frau starrte mich wütend an und begann mich mit zitternder
Stimme zu beschimpfen und zu beleidigen.
»Lassen Sie mich in Ruhe«, zischte sie. »Haben Sie nicht
schon genug angerichtet?«
Ich bewahrte meine Würde und ließ mich nicht dazu herab, ihr
zu antworten, aus Furcht, in einen hitzigen Disput verwickelt zu
werden. Aber sie hat sich verändert; sie ist härter geworden, ihr
ehemals unbeteiligter Blick ist nun konzentriert und haßerfüllt.
Auch sie ist ins Lager des Feindes übergelaufen.
Warum begreifen sie einfach nicht, mon père?Warum sehen
sie nicht, was diese Frau uns antut? Sie zerstört unseren
Gemeinschaftssinn, unseren Zusammenhalt. Sie nutzt die
Fehler und Schwächen der Menschen aus. Und erntet damit
Zuneigung und Loyalität, die ich – Gott steh mir bei! – in meiner
Schwäche für mich selbst begehre. Es ist ein Hohn, wie sie von
Wohlwollen und Toleranz, von Mitleid für die armen Heimatlosen
vom Fluß predigt, während in Wirklichkeit die Verderbtheit um
sich greift.
Der Teufel tut sein Werk nicht durch das Böse, sondern durch
Schwäche, Vater. Sie wissen das am allerbesten. Wo wären wir
ohne die Kraft und Reinheit unserer Überzeugungen? Wie
sicher können wir sein? Wie lange wird es dauern, bis das
Geschwür bis in die Kirche vordringt? Wir haben gesehen, wie
schnell die Fäulnis sich ausbreitet. Schon bald werden sie
»interkonfessionelle Gottesdienste« fordern, um »alternative
Glaubensbekenntnisse zu integrieren«, die Beichte als
»nutzloses Unterdrückungsinstrument« verdammen und die
»inneren Werte« verherrlichen, und ehe sie sich’s versehen,
werden sie sich mit all ihrem scheinbar fortschrittlichen Denken
und ihren harmlos liberalen Ansichten auf dem direkten Weg in
die Hölle befinden.
Es ist doch ironisch, nicht wahr? Noch vor einer Woche habe

Page 175
ich meinen eigenen Glauben in Frage gestellt. Ich war zu sehr
mit mir selbst beschäftigt, um die Zeichen zu erkennen. Zu
schwach, um meine Pflicht zu tun. Doch die Bibel sagt uns
unmißverständlich, was wir zu tun haben. Unkraut und Weizen
können nun einmal nicht auf demselben Feld friedlich
nebeneinander gedeihen. Das kann einem jeder Gärtner sagen.
Mittwoch, 5. März
Luc ist heute wieder dagewesen, um mit Armande zu reden.
Er wirkt jetzt etwas selbstbewußter, obwohl er immer noch
ziemlich schlimm stottert. Aber er ist so weit aufgetaut, daß er
hier und da eine scherzhafte Bemerkung macht, über die er
dann selbst grinst, als sei er die Rolle des Spaßmachers nicht
gewohnt. Armande war in Hochform und trug statt des
schwarzen Strohhuts ein buntes Seidentuch um den Kopf. Ihre
Wangen leuchteten rosig – obwohl ich annahm, daß dies,
ebenso wie ihre ungewöhnlich roten Lippen, eher ihren
Schminkkünsten als allein ihrer guten Laune zu verdanken war.
In dieser kurzen Zeit haben sie und ihr Enkel entdeckt, daß sie
mehr Gemeinsamkeiten haben, als sie vermutet hatten; ohne
die hemmende Gegenwart von Caro gehen die beiden
erstaunlich zwanglos miteinander um. Schwer vorstellbar, daß
sie noch bis vor einer Woche kaum Kontakt hatten. Man spürt
eine tiefe Vertrautheit zwischen ihnen, wenn sie sich mit
gedämpfter Stimme unterhalten. Politik, Musik, Schach,
Religion, Rugby, Lyrik – sie schweifen von einem Thema zum
nächsten, wie Gourmets an einem Buffet, die unbedingt von
jedem Gericht probieren wollen. Armande konzentriert all ihren
Charme und ihre volle Aufmerksamkeit auf ihn – mal ordinär,
mal gelehrt, mal gewinnend, mädchenhaft, ernst, weise.
Kein Zweifel, das ist die Kunst der Verführung.
Diesmal war es Armande, die auf die Zeit achtete.
»Es wird spät, mein Junge«, sagte sie barsch. »Zeit für dich,

Page 176
nach Hause zu gehen.«
Luc hielt mitten im Satz inne und schaute sie betroffen an.
»I-i-ich habe gar nicht gemerkt«, sagte er und blickte auf seine
Uhr, »d-daß es schon so spät ist.« Er schaute sich ziellos um,
als sträubte er sich zu gehen. »D-dann werd ich wohl mal«,
sagte er ohne Begeisterung. »Wenn ich zu spät komme, d-dreht
meine M-mutter durch. D-du weißt ja, wie sie ist.«
Klugerweise versucht Armande nicht, den Jungen gegen seine
Mutter einzunehmen und enthält sich weitgehend jeglichen
abschätzigen Kommentars über Caro. Auf diese eindeutige
Kritik hin jedoch lächelte sie spitzbübisch.
»Das kann man wohl sagen«, erwiderte sie. »Sag mal, Luc,
ist dir denn niemals danach, ein bißchen zu rebellieren?« Ihre
Augen leuchteten schelmisch. »In deinem Alter gehört das doch
eigentlich dazu – da läßt man sich die Haare wachsen, hört
Rockmusik, flirtet mit den Mädchen und all so was. Sonst sieht
man mit achtzig ganz schön alt aus.«
Luc schüttelte den Kopf.
»Zu gefährlich«, sagte er knapp. »Ich will sch-schließlich
überleben.«
Armande lachte.
»Also dann, bis nächste Woche?« Diesmal drückte er ihr
einen Kuß auf die Wange. »Um dieselbe Zeit?«
»Ich glaube, das werde ich einrichten können«, sagte sie
lächelnd. »Morgen gebe ich eine Einweihungsparty«, sagte sie
unvermittelt. »Um mich bei allen zu bedanken, die mein Dach
repariert haben. Du bist auch herzlich eingeladen, wenn du Lust
hast.«
Luc wirkte unentschlossen.
»Aber wenn Caro was dagegen hat«, meinte sie ironisch und
schaute ihn herausfordernd an.
»M-mir fällt bestimmt eine Ausrede ein«, sagte Luc, von ihrem

Page 177
amüsierten Blick aufgemuntert. »Das k-könnte lustig werden.«
»Darauf kannst du dich verlassen«, sagte Armande energisch.
»Es werden alle dasein. Außer natürlich Reynaud und seine
Bibel-Groupies.« Sie lächelte ihn verschmitzt an. »Was ich
allerdings sehr begrüße.«
Ein verlegenes Grinsen huscht über sein Gesicht.
»B-Bibel-Groupies«, wiederholt er. »Das ist echt c-cool,
Mémée.«
»Ich bin immer cool«, erwidert Armande würdevoll.
»M-Mal sehen, was sich machen läßt.«
Armande hatte ihre Tasse ausgetrunken, und ich wollte
gerade den Laden schließen, als Guillaume eintrat. Ich hatte ihn
in dieser Woche kaum gesehen, und er wirkte irgendwie
zerknautscht, sein Gesicht traurig und farblos unter der
schmalen Hutkrempe. Förmlich wie immer, grüßte er uns mit
ausgesuchter Höflichkeit, doch ich sah, daß er bedrückt war.
Seine Kleider hingen an seinen schmalen Schultern, als würde
kein Körper darunter stecken. Seine Augen waren rot
gerändert, seine Wangen eingefallen. Charly war nicht dabei,
doch ich bemerkte, daß er die Leine wieder um das
Handgelenk gewickelt hatte. Anouk lugte neugierig aus der
Küche.
»Ich weiß, Sie machen Feierabend.« Er sprach beherrscht
und akzentuiert, wie die tapferen Soldatenbräute in den
britischen Kriegsfilmen, die er so liebte. »Ich werde Sie nicht
lange aufhalten.«
Ich schenkte ihm eine halbe Tasse meines besten chocolat
espresso ein und legte ein paar seiner geliebten Florentiner auf
die Untertasse. Anouk kletterte auf einen Hocker und beäugte
sie neidisch.
»Ich habe keine Eile«, sagte ich.
»Ich auch nicht«, erklärte Armande in ihrer direkten Art. »Aber

Page 178
ich kann auch gehen, wenn Ihnen das lieber ist.«
Guillaume schüttelte den Kopf.
»Nein, natürlich nicht.« Er schenkte ihr ein wenig
überzeugendes Lächeln. »Es ist nichts Weltbewegendes.«
Obwohl ich ahnte, was geschehen war, wartete ich, bis er
soweit war, uns von seinem Kummer zu erzählen. Guillaume
nahm einen Florentiner und biß lustlos hinein, während er eine
Hand darunterhielt, um die Krümel aufzufangen.
»Ich habe gerade Charly begraben«, sagte er mit brüchiger
Stimme. »Unter dem Rosenstrauch in meinem Garten. Das
hätte ihm gefallen.«
Ich nickte.
»Ganz bestimmt.«
Ich konnte seine Trauer riechen, einen scharfen, sauren
Geruch wie nach Erde und Mehltau. Er hatte schwarze Erde
unter den Fingernägeln der Hand, mit der er den Florentiner
hielt. Anouk schaute ihn mit ernster Miene an.
»Armer Charly«, sagte sie. Guillaume schien sie kaum zu
hören.
»Es mußte schließlich sein«, fuhr er fort. »Er konnte nicht mehr
laufen, und er winselte jedesmal, wenn ich ihn hochnahm.
Gestern abend hörte er überhaupt nicht mehr auf zu winseln. Ich
habe die ganze Nacht bei ihm gesessen, aber ich wußte
Bescheid.« Guillaume wirkte beinahe schuldbewußt, von einer
Trauer überwältigt, für die er keine Worte fand. »Ich weiß, es ist
albern«, sagte er. »Er war nur ein Hund, wie Monsieur le curé
sagt. Albern, so ein Theater zu machen.«
»Unsinn«, mischte Armande sich ein. »Ein Freund ist ein
Freund. Und Charly war ein guter Freund. Von diesen Dingen
versteht Reynaud eben nichts.«
Guillaume schaute sie dankbar an.
»Nett, daß Sie das sagen.« Er wandte sich an mich. »Und

Page 179
Ihnen danke ich auch, Madame Rocher. Sie haben letzte Woche
versucht, mich zu warnen, aber ich wollte nicht auf Sie hören.
Wahrscheinlich hab ich mir eingebildet, Charly würde ewig
leben, wenn ich die Wahrheit einfach ignorierte.«
Armande beobachtete ihn mit einem seltsamen Ausdruck in
den schwarzen Augen.
»Manchmal ist Weiterleben die schlechtere Alternative«,
sagte sie sanft.
Guillaume nickte.
»Ich hätte ihn früher gehen lassen sollen«, sagte er. »Ihm ein
bißchen Würde lassen sollen.« Sein Gesicht verzog sich zu
einem Lächeln, das fast schmerzhaft wirkte. »Zumindest hätte
ich uns die vergangene Nacht ersparen sollen.«
Ich wußte nicht, was ich ihm sagen sollte. Irgendwie hatte ich
das Gefühl, daß ich gar nichts zu sagen brauchte. Er wollte
einfach nur reden. Ich verzichtete auf die üblichen Klischees und
sagte nichts. Guillaume aß seinen Florentiner auf und lächelte
matt.
»Es ist schrecklich«, sagte er geistesabwesend, »aber ich
habe einen solchen Appetit. Es ist, als hätte ich seit Wochen
nichts gegessen. Gerade habe ich meinen Hund begraben, und
jetzt könnte ich essen wie –« Er brach verwirrt ab. »Irgendwie
kommt es mir so unrecht vor«, sagte er schuldbewußt. »Als
würde ich am Karfreitag Fleisch essen.«
Armande mußte lachen und legte Guillaume eine Hand auf die
Schulter. Neben ihm wirkte sie regelrecht fit und gesund.
»Sie kommen jetzt mit zu mir!« befahl sie. »Ich habe Brot und
rillettes und einen guten, reifen Camembert. Oh, und Vianne« –
mit einer gebieterischen Geste an mich gewandt –, »ich nehme
noch eine Schachtel von diesen Schokoladenkeksen. Wie
heißen die gleich? Florentiner? Eine schöne, große Schachtel.«
Wenigstens das kann ich ihm geben. Auch wenn es für einen

Page 180
Mann, der gerade seinen besten Freund verloren hat, ein
schwacher Trost ist. Heimlich machte ich mit der Fingerspitze
ein Zeichen auf die Schachtel. Es sollte ihm Glück bringen.
Guillaume wollte protestieren, aber Armande schnitt ihm das
Wort ab.
»Quatsch!« sagte sie kategorisch. Unwillkürlich übertrug sich
ihre Energie auf den kleinen müden Mann. »Was wollen Sie
denn sonst tun? Zu Hause rumsitzen und Trübsal blasen?« Sie
schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Ich habe schon lange keinen
Herrenbesuch mehr gehabt. Ich werde es genießen.
Außerdem«, fügte sie nachdenklich hinzu, »gibt es etwas,
worüber ich gern mit Ihnen reden würde.«
Armande bekommt ihren Willen. Es ist beinahe ein Gesetz. Ich
beobachtete die beiden, während ich die Schachtel Florentiner
einwickelte und mit einer silbernen Schleife zuband. Guillaume
war von ihrer Herzlichkeit überwältigt, er war verwirrt und
dankbar zugleich.
»Madame Voizin –«
»Armande«, unterbrach sie ihn bestimmt. »Wenn Sie mich
Madame nennen, komme ich mir so alt vor.«
»Armande.«
Es ist ein kleiner Sieg.
» Und das können Sie auch gleich hierlassen.« Vorsichtig
nestelte sie die Hundeleine von Guillaumes Handgelenk. Sie ist
auf eine ruppige Art mitfühlend, ohne gönnerhaft zu werden. »Es
bringt nichts, unnötigen Ballast mit sich herumzuschleppen. Das
ändert auch nichts.«
Ich sehe zu, wie sie Guillaume aus der Tür bugsiert. Beim
Hinausgehen dreht sie sich noch einmal um und zwinkert mir zu.
Eine Welle der Zuneigung für die beiden steigt in mir auf.
Dann verschwinden sie in der Nacht.
Stunden später liegen Anouk und ich im Bett und schauen in

Page 181
den Sternenhimmel über unserem Dachfenster. Nach
Guillaumes Besuch war Anouk den ganzen Abend sehr ernst,
ohne ihre übliche Ausgelassenheit. Sie hat die Tür zwischen
unseren Zimmern offengelassen, und ich warte bedrückt auf die
unvermeidliche Frage; ich habe sie mir selbst oft gestellt, in den
Nächten, nachdem meine Mutter gestorben war, und habe keine
Antwort gefunden. Doch die Frage kommt nicht. Statt dessen
krabbelt sie, obwohl ich dachte, sie schliefe schon lange, unter
meine Decke und schiebt ihre kleine kalte Hand in meine.
»Maman?« Sie weiß, ich bin noch wach. »Nicht wahr, du
stirbst nicht?«
Ich lache leise in der Dunkelheit.
»Das kann niemand versprechen«, sage ich sanft.
»Aber du stirbst noch lange nicht«, beharrt sie. »Noch ganz,
ganz lange nicht.«
»Das hoffe ich.«
»Hm.« Das muß sie erst einmal verdauen. Sie kuschelt sich
noch dichter an mich. »Menschen leben länger als Hunde, nicht
wahr?«
Ich bestätige, daß das stimmt. Wieder Schweigen.
»Was glaubst du, wo Charly jetzt ist, Maman?«
Ich könnte ihr Lügenmärchen erzählen; tröstliche
Lügenmärchen. Aber ich bringe es nicht fertig.
»Ich weiß es nicht, Nanou. Ich stelle mir gern vor, daß wir
wiedergeboren werden. In einem neuen, gesunden Körper.
Oder als Vogel oder als Baum. Aber niemand weiß das
genau.«
»Hm.« Zweifel klingt in ihrer Stimme mit. »Hunde auch?«
»Warum nicht.«
Es ist eine angenehme Vorstellung. Manchmal verliere ich
mich in ihr wie ein Kind in seinen Phantasiegeschichten; dann
sehe ich meine Mutter in den lebhaften Zügen meiner kleinen

Page 182
Fremden …
Eifrig: »Dann können wir Guillaumes Hund doch suchen.
Morgen. Dann wäre er doch bestimmt wieder glücklich, nicht
wahr?«
Ich versuche, ihr zu erklären, daß das nicht ganz so einfach ist,
aber sie läßt nicht locker.
»Wir könnten zu den Bauernhöfen gehen und rausfinden,
welcher Hund gerade Junge bekommen hat. Glaubst du, wir
würden Charly erkennen?«
Ich seufze. Eigentlich müßte ich mich inzwischen an ihre
gewundenen Gedankengänge gewöhnt haben. Ihre
Überzeugung erinnert mich so sehr an meine Mutter, daß ich
den Tränen nahe bin.
»Ich weiß nicht.«
Dickköpfig: »Pantoufle würde ihn auf jeden Fall erkennen.«
»Schlaf jetzt, Anouk. Morgen ist Schule.«
»Er würde ihn erkennen, das weiß ich ganz genau. Pantoufle
sieht alles.«
»Schsch.«
Schließlich wird ihr Atem regelmäßig. Ihr Gesicht ist dem
Fenster zugewandt, und ich sehe Sternenlicht auf ihren nassen
Wimpern. Wenn ich nur Gewißheit hätte, um ihretwillen … Aber
es gibt keine Gewißheit. Die Magie, an die meine Mutter so
unerschütterlich glaubte, hat sie am Ende auch nicht gerettet;
alles, was wir erlebten, hätte auch durch Zufall geschehen sein
können. Nichts ist leichter als das, sage ich mir; die Karten, die
Kerzen, die Räucherstäbchen, die Zaubersprüche – alles nur
Kindertricks, um die Dunkelheit zu bannen. Und doch schmerzt
mich Anouks Enttäuschung. Im Schlaf wirkt ihr Gesicht
gelassen, vertrauensvoll. Ich stelle mir vor, wie wir uns morgen
auf eine sinnlose Suche machen, wie wir alle möglichen Welpen
begutachten, und es zerreißt mir das Herz. Ich hätte ihr nichts

Page 183
erzählen sollen, was ich nicht beweisen kann …
Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, schlüpfe ich aus dem Bett.
Die Dielen fühlen sich glatt und kühl unter meinen Füßen an. Als
die Tür beim Öffnen ein bißchen quietscht, murmelt Anouk im
Schlaf, wacht jedoch nicht auf. Ich habe eine Verantwortung ihr
gegenüber, sage ich mir. Ohne es zu wollen, habe ich ihr etwas
versprochen.
Die Sachen meiner Mutter sind immer noch in ihrer Kiste, sie
duften nach Sandelholz und Lavendel. Ihre Karten, ihre Kräuter,
ihre Bücher, ihre Öle, die duftende Tinte, die sie für ihre
Wahrsagerei benutzte, Runen, Amulette, Kristallkugeln, Kerzen
in vielen Farben. Wenn die Kerzen nicht wären, würde ich die
Kiste kaum jemals öffnen. Zu sehr riecht sie nach verlorener
Hoffnung. Aber um Anouks willen – Anouk, die mich so sehr an
sie erinnert – muß ich es wohl versuchen. Ich komme mir ein
bißchen lächerlich vor. Eigentlich müßte ich jetzt schlafen und
mich für den morgigen Tag stärken. Aber Guillaumes Gesicht
verfolgt mich. Anouks Worte rauben mir den Schlaf. Es ist
gefährlich, sage ich mir verzweifelt; indem ich auf diese beinahe
vergessenen Fähigkeiten zurückgreife, setze ich mich noch
mehr von ihnen ab und mache es um so schwerer für uns,
hierzubleiben …
Das vertraute Ritual, das ich vor so langer Zeit aufgegeben
habe, geht mir erstaunlich leicht von der Hand. Den Kreis auf
dem Boden zu ziehen, in die Mitte ein mit Wasser gefülltes
Glas, ein Schälchen mit Salz und eine brennende Kerze – es
hat fast etwas Tröstliches, es ist wie die Rückkehr in eine Zeit,
als es noch für alles eine einfache Erklärung gab. Ich setze mich
im Schneidersitz auf den Boden, schließe die Augen, lasse
meinen Atem fließen.
Meine Mutter liebte Rituale und Zaubersprüche. Ich war
weniger willig. Ich sei gehemmt, pflegte sie dann zu kichern.

Page 184
Jetzt, mit geschlossenen Augen und ihrem Duft an den
Fingerspitzen, fühle ich mich ihr sehr nahe. Vielleicht fällt mir
das alles deswegen heute nacht so leicht. Menschen, die nichts
von echter Zauberei verstehen, stellen sich vor, der Vorgang
erfordere eine Menge Brimborium. Ich nehme an, daß meine
Mutter, die eine ausgeprägte theatralische Ader besaß,
deswegen immer so einen Hokuspokus darum gemacht hat. In
Wirklichkeit ist das Ganze äußerst undramatisch; es geht
lediglich darum, sich mit allen Sinnen auf das gewünschte Ziel
zu konzentrieren. Es gibt keine Wunder, keine plötzlichen
Erscheinungen. Ich sehe Guillaumes Hund deutlich vor meinem
geistigen Auge, umgeben von jenem einladenden Glanz, aber
es erscheint kein Hund in meinem Kreis. Vielleicht morgen oder
übermorgen, ein scheinbarer Zufall wie der orangefarbene
Sessel oder die roten Barhocker, die wir uns am ersten Tag
vorgestellt hatten. Vielleicht wird aber auch gar nichts
geschehen.
Ein Blick auf meine Armbanduhr, die ich auf den Boden gelegt
habe, sagt mir, daß es bereits kurz vor halb vier ist. Ich muß
schon länger hier sitzen, als ich angenommen habe, denn die
Kerze ist fast heruntergebrannt, und meine Glieder sind kalt und
steif. Dennoch ist das ungute Gefühl verschwunden, ich fühle
mich seltsam ausgeruht und zufrieden, ohne daß ich mir das
erklären könnte.
Ich schlüpfe wieder in mein Bett – Anouk hat sich inzwischen
breitgemacht, ihre Arme auf den Kissen ausgestreckt – und
kuschele mich unter die warme Decke. Meine anspruchsvolle
kleine Fremde wird zufrieden sein. Beim Einschlafen meine ich
einen Moment lang, die Stimme meiner Mutter zu hören, die
ganz dicht bei meinem Ohr etwas flüstert.
Freitag, 7. März
Die Zigeuner ziehen ab. Ich bin heute morgen am Ufer

Page 185
entlanggegangen und habe sie bei ihren Vorkehrungen
beobachtet, wie sie ihre Fischreusen einholten und ihre
endlosen Wäscheleinen abnahmen. Einige sind gestern abend
in der Dunkelheit abgefahren – ich habe gehört, wie sie ihre
Signalpfeifen und Nebelhörner wie eine letzte Geste des Hohns
ertönen ließen –, doch die meisten sind so abergläubisch, daß
sie es nicht wagen, vor der Dämmerung aufzubrechen. Es war
kurz nach sieben, als ich vorbeiging. Kalter Nebel lag über dem
Fluß. Im fahlen, graugrünen Licht der Morgendämmerung
wirkten sie bleich und mürrisch, wie Flüchtlinge, als sie die
letzten Reste ihres schwimmenden Zirkus zusammenpackten.
Was am Abend zuvor noch zauberhaft funkelte und glitzerte, war
allen scheinbaren Prunks beraubt und wirkte nur noch trist und
heruntergekommen. In der feuchtkalten Luft liegt ein Geruch von
Maschinenöl und Verbranntem. Man hört das Knattern von
Segeltuch, das Wummern der Schiffsmotoren. Mit finsterer
Miene versehen sie ihre Arbeit, und kaum einer schaut zu mir
herüber. Keiner sagt ein Wort. Roux ist nicht unter den
Nachzüglern. Vielleicht ist er schon mit den anderen
abgefahren. Es sind noch etwa dreißig Boote übrig, sie liegen
tief im Wasser, belastet mit all den Vorräten, die sie sich
beschafft haben. Ich sehe Zézette am Rand der schrottreifen
Flotte, wie sie irgendwelche unidentifizierbaren verkohlten
Gegenstände auf ihr Boot hievt. Auf einer versengten Matratze
und einer Kiste voller Zeitschriften steht gefährlich wackelig ein
Käfig mit Hühnern. Sie wirft mir einen haßerfüllten Blick zu, sagt
jedoch nichts.
Glauben Sie nicht, ich hätte kein Mitgefühl mit diesen Leuten,
mon père. Ich empfinde keinen persönlichen Groll, aber ich
muß an meine Gemeinde denken. Ich kann meine Zeit nicht mit
unerbetenen Predigten für Fremde vergeuden, die mich nur
verhöhnen und beleidigen würden. Und dennoch bin ich nicht

Page 186
unnahbar. Jeder von ihnen wäre in meiner Kirche willkommen,
wenn er ernste Reue zeigte. Wenn sie geistlichen Beistand
brauchen, wissen sie, daß sie sich an mich wenden können.
Ich habe letzte Nacht schlecht geschlafen. Seit dem Beginn
der Fastenzeit leide ich an Schlafstörungen. Oft stehe ich vor
dem Morgengrauen auf in der Hoffnung, in einem Buch, auf den
stillen, dunklen Straßen von Lansquenet oder am Ufer des
Tannes Schlaf zu finden. Letzte Nacht war ich noch ruheloser als
gewöhnlich, und da ich wußte, daß ich sowieso nicht würde
schlafen können, bin ich gegen elf aus dem Haus gegangen und
eine Stunde lang am Fluß entlanggewandert. Ich ging an Les
Marauds und dem schwimmenden Lager der Zigeuner vorbei
flußaufwärts hinaus in die Felder, doch ich konnte die
Geräusche ihres emsigen Treibens deutlich hören. Flußabwärts
sah ich ihre Lagerfeuer am Ufer flackern und tanzende
Gestalten im gelben Schein der Flammen. Als ich einen Blick
auf meine Uhr warf, stellte ich fest, daß ich schon seit fast einer
Stunde unterwegs war, und machte mich auf den Heimweg. Ich
hatte nicht vorgehabt, durch Les Marauds zu gehen, sondern
wollte denselben Weg zurück durch die Felder nehmen, was
meinen Heimweg jedoch um eine halbe Stunde verlängert hätte,
und mir war vor Müdigkeit flau und schwindlig. Noch schlimmer
jedoch war, daß ich durch die Kombination aus frischer Luft und
Übermüdung einen Hunger entwickelt hatte, der mit meinem
morgendlichen Imbiß aus Brot und Kaffee kaum zu stillen sein
würde. Aus diesem Grund schlug ich doch den Weg durch Les
Marauds ein, Vater. Meine Stiefel sanken tief in den Schlamm
am Ufer des Tannes, und mein Atem schimmerte weiß im Licht
ihrer Feuer. Schon bald war ich nah genug, um zu erkennen,
was dort vor sich ging. Sie feierten eine Art Party. Ich sah
Laternen, Kerzen, die sie an den Relings befestigt hatten, was
der ganzen Szene einen beinahe sakralen Charakter verlieh. Es

Page 187
roch nach Holzkohlenfeuer und duftete verlockend nach
gegrillten Sardinen; und darunter mischte sich der scharfe,
bittere Duft von Vianne Rochers Schokolade. Ich hätte mir
denken können, daß sie dort war. Wenn sie nicht wäre, hätten
die Zigeuner sich längst davongemacht. Ich sah sie auf dem
Steg vor Armande Voizins Haus. In ihrem langen, roten Mantel
und mit ihrem offenen Haar sah sie aus wie eine heidnische
Priesterin. Als sie sich kurz in meine Richtung wandte, sah ich
bläuliche Flammen in ihren ausgestreckten Händen, irgend
etwas Brennendes zwischen ihren Fingern, das die Gesichter
der anderen bleich erleuchtete …
Einen Augenblick lang war ich starr vor Entsetzen. Irrationale
Ängste überfielen mich – geheimnisvolle Opferriten,
Teufelsanbetung, Brandopfer für irgendwelche primitiven
Götzen –, und ich begann zu fliehen, stolperte in dem tiefen
Schlamm hinter den Schlehenbüschen entlang, die mich vor
ihren Blicken schützten. Dann die Erleichterung. Verblüffung und
tiefe Scham über meine eigenen absurden Gedanken, als sie
sich noch einmal in meine Richtung umdrehte und ich sah, wie
die Flammen verloschen.
»Mutter Gottes!«
Meine Erleichterung war so groß, daß meine Beine beinahe
unter mir nachgaben.
»Pfannkuchen. Flambierte Pfannkuchen. Das ist alles.«
Ich begann hysterisch und lautlos zu lachen. Mein Magen
verkrampfte sich, und ich bohrte meine Fäuste in die
Magengrube, um das Lachen zu unterdrücken. Ich beobachtete,
wie sie noch einen Berg Pfannkuchen flambierte, mit der
Bratpfanne herumging und die Pfannkuchen beherzt austeilte,
und die Flammen hüpften von Teller zu Teller wie Elmsfeuer.
Pfannkuchen.
Was haben sie mir angetan, Vater! Sie haben mich so weit

Page 188
gebracht, daß ich Dinge höre – und Dinge sehe –, die gar nicht
da sind. Das hat sie mir angetan, sie und ihre Freunde vom
Fluß.
Und dennoch wirkt sie so unschuldig. Ihr Gesicht ist offen,
freundlich. Der Klang ihrer Stimme, der vom Fluß her an meine
Ohren dringt – ihr Lachen, das ich aus dem der anderen
heraushöre –, ist verführerisch, voller Humor und Wohlwollen.
Unwillkürlich frage ich mich, wie meine eigene Stimme unter
den Stimmen dieser Leute klingen würde, mein Lachen
vermischt mit ihrem, und mit einemmal fühle ich mich einsam,
plötzlich ist die Nacht kalt und leer.
Wenn ich nur könnte, dachte ich. Aus meinem Versteck
kommen und mich zu ihnen gesellen. Essen, trinken – und
plötzlich machte der Gedanke an Essen mich rasend, lief mir
das Wasser im Mund zusammen. Wenn ich mich nur an diesen
Pfannkuchen laben, mich nur an dem Feuer und dem Licht auf
ihrer goldenen Haut wärmen könnte …
Ist das die Versuchung, Vater? Ich sage mir, ich habe ihr
widerstanden, meine innere Kraft hat sie besiegt, mein Gebet –
bitte, o bitte, bitte, bitte – war ein Flehen um Erlösung, nicht
Ausdruck des Verlangens.
Haben Sie ebenso gefühlt? Haben Sie auch gebetet? Und als
Sie der Versuchung damals in der Sakristei erlagen, war der
Genuß hell und warm wie die Lagerfeuer der Zigeuner, oder war
es ein erschöpftes Aufschluchzen, ein letzter lautloser Aufschrei
in der Dunkelheit?
Ich hätte Ihnen keinen Vorwurf machen dürfen. Ein Mann –
selbst ein Priester – kann das Verlangen nicht ewig
unterdrücken. Und ich war zu jung, um die Einsamkeit der
Versuchung zu kennen, den bitteren Geschmack des Neids. Ich
war sehr jung, mon père. Ich habe zu Ihnen aufgeblickt. Es war
weniger der Akt selbst – oder die Person, mit der Sie ihn

Page 189
vollzogen –, sondern die simple Tatsache, daß Sie fähig waren
zu sündigen. Selbst Sie, Vater. Und in diesem Augenblick
wurde mir klar, daß es keine Sicherheit gibt. Für niemanden.
Nicht einmal für mich selbst.
Ich weiß nicht, wie lange ich zugesehen habe, Vater. Zu lange,
denn als ich schließlich ging, waren meine Hände und Füße
taub. Ich sah Roux in der Gruppe, die beiden Frauen Blanche
und Zézette, Armande Voizin, Luc Clairmont, Narcisse, den
Araber, Guillaume Duplessis, die junge Frau mit den
Tätowierungen, die dicke Frau mit dem grünen Kopftuch. Sogar
die Kinder waren da – hauptsächlich Zigeunerkinder, aber auch
Jeannot Drou und natürlich Anouk Rocher –, einige schliefen
schon fast, andere tollten am Flußufer herum, aßen in
Pfannkuchen eingewickelte Würstchen oder tranken heißen, mit
Ingwer gewürzten Zitronensaft. Mein Geruchssinn schien
unnatürlich geschärft, so daß ich die einzelnen Gerichte beinahe
schmecken konnte – den gegrillten Fisch, den gerösteten
Ziegenkäse, die dunklen Pfannkuchen und den leichten,
warmen Schokoladenkuchen, den confit de canard und die
scharf gewürzten merguez-Würstchen … Ich konnte Armandes
Stimme aus den anderen heraushören; ihr Lachen war
ungewöhnlich schrill, wie das eines übermüdeten Kindes. Die
Laternen und Kerzen, die überall am Ufer brannten, leuchteten
wie Weihnachtsschmuck.
Anfangs hielt ich den Alarmruf für einen Freudenschrei. Ein
kurzer, heller Ton, ein Auflachen vielleicht oder ein hysterisches
Kreischen. Einen Augenblick lang dachte ich, eines der Kinder
sei ins Wasser gefallen. Dann sah ich das Feuer.
Es war auf einem der Boote ausgebrochen, die in einiger
Entfernung von den Nachtschwärmern dicht am Ufer lagen. Eine
umgefallene Laterne vielleicht, eine achtlos weggeworfene
Zigarette, brennendes Kerzenwachs, das auf einen Ballen

Page 190
trockenen Segeltuchs getropft war. Was immer es war, es
breitete sich in Windeseile aus. Schon war es auf dem Dach
des Bootes, und gleich darauf griff es auf das Deck über.
Anfangs waren die Flammen genauso blaßblau wie auf den
flambierten Pfannkuchen, aber je mehr sie sich ausbreiteten,
um so höher schlugen sie, bis sie schließlich so hell
orangefarben leuchteten wie ein brennender Heuhaufen in einer
Augustnacht. Der Rothaarige, Roux, war der erste, der
reagierte. Ich nahm an, daß es sich um sein Boot handelte. Die
Flammen hatten kaum Zeit gehabt, die Farbe zu wechseln, da
war er auch schon auf den Füßen, sprang von Boot zu Boot um
das Feuer zu erreichen. Eine der Frauen rief ihm nach, ein
hoher, spitzer Schrei voller Angst und Sorge. Aber er kümmerte
sich nicht darum. Er ist überraschend leichtfüßig. Innerhalb von
dreißig Sekunden hatte er zwei Boote überquert, riß die Taue
los, mit denen sie verbunden waren, trat im Weiterhasten eine
losgelöste Barke nach der anderen auf das Wasser hinaus. Ich
sah Vianne Rocher mit wie flehend ausgestreckten Armen
hinter ihm herstarren; die anderen standen stumm auf dem Steg
herum. Die Barken, die von ihrer Vertäuung gelöst waren,
trieben langsam stromabwärts, und das Wasser wurde von
ihrem Schaukeln aufgewühlt. Roux‘ Boot war nicht mehr zu
retten, verkohlte Teile brachen ab und drifteten auf den Wellen
dahin. Ich sah, wie er trotzdem einen halb verbrannten Ballen
Segeltuch ergriff und auf die Flammen einschlug, aber die Hitze
war zu groß. Seine Hose und sein Hemd fingen Feuer, und er
ließ das Segeltuch fallen und schlug die Flammen an seinem
Körper mit den Händen aus. Einen Arm schützend vor das
Gesicht gehalten, versuchte er noch einmal, die Kajüte zu
erreichen; ich hörte ihn in seinem Dialekt laut fluchen. Armande
rief ihm etwas zu, ihre Stimme schrill vor Sorge. Ich hörte sie
etwas von Benzin und Schiffstank schreien.

Page 191
Angst und Hochstimmung zugleich nagten an meinen
Eingeweiden, Erinnerungen stiegen in mir auf, süß und warm.
Es war fast genauso wie damals, der Gestank nach brennenden
Reifen, das dumpfe Tosen des Feuers, das zuckende Licht …
Es kam mir fast so vor, als wäre ich wieder ein kleiner Junge,
als wären Sie der curé, und als seien wir beide wie durch ein
Wunder von aller Verantwortung befreit.
Zehn Sekunden später sprang Roux von dem brennenden
Boot ins Wasser. Ich sah ihn auf das Ufer zuschwimmen, doch
der Schiffstank explodierte erst ein paar Minuten später, und es
war nur ein dumpfer Knall, nicht das Feuerwerk, das ich erwartet
hatte. Einen Moment lang war er nicht mehr zu sehen, verdeckt
von den Flammen, die über die Wasseroberfläche rasten. Ich
stand auf, denn jetzt fürchtete ich nicht mehr, gesehen zu
werden, und reckte den Hals, um nach ihm Ausschau zu halten.
Ich glaube, ich betete.
Sie sehen also, Vater, ich bin nicht ohne Mitgefühl. Ich
fürchtete um sein Leben.
Vianne Rocher war bereits im Wasser, bis zu den Hüften in
den braunen Fluten des Tannes, ihr roter Mantel bis unter die
Arme durchnäßt. Eine Hand über den Augen suchte sie den
Fluß ab. Neben ihr stand Armande und schrie; ihre Stimme
klang schrill und alt. Und als sie ihn schließlich triefnaß auf den
Steg zerrten, war ich so erleichtert, daß meine Beine
nachgaben und ich wie zum Gebet auf den Boden sank. Aber
dieses Hochgefühl, als ich ihr Lager brennen sah – es war
herrlich, wie eine Kindheitserinnerung, die Lust, heimlich zu
beobachten, zu wissen … In der Dunkelheit fühlte ich mich
mächtig, Vater, es war, als hätte ich das alles irgendwie
verursacht – das Feuer, die Verwirrung, die Flucht des Mannes
–, als hätte meine heimliche Gegenwart eine Wiederholung der
Ereignisse jenes fernen Sommers verursacht. Kein Wunder. So

Page 192
naiv bin ich nicht. Aber ein Zeichen. Bestimmt, ein Zeichen.
Im Schutz der Dunkelheit schlich ich nach Hause. Bei den
vielen Menschen, die am Flußufer standen, den weinenden
Kindern, den zornigen Erwachsenen, die sich stumm an den
Händen hielten und das lodernde Feuer betrachteten wie
verwirrte Kinder in einem bösen Märchen, war es leicht,
unbemerkt davonzukommen.
Nicht nur für mich.
Ich sah ihn, als ich die Hügelkuppe erreichte. Schwitzend und
grinsend, das Gesicht vor Anstrengung gerötet und
rußverschmiert, die Brille verdreckt. Er hatte die Ärmel seines
karierten Hemdes bis über die Ellbogen aufgekrempelt, und im
geisterhaften Licht des Feuers wirkte seine Haut glatt und rot
wie poliertes Zedernholz. Er zeigte sich über meine
Anwesenheit nicht überrascht, sondern grinste nur. Ein
dummes, verschlagenes Grinsen wie das eines Kindes, das
von einem nachsichtigen Vater bei einer Dummheit erwischt
wird. Mir fiel auf, daß er stark nach Benzin roch.
»n’Abend, Vater.«
Ich wagte nicht, seinen Gruß zu erwidern, als könnte ich mich
durch mein Schweigen einer Verantwortung entledigen. Statt
dessen neigte ich den Kopf wie ein stiller Mitverschwörer und
eilte weiter. Ich spürte, wie Muscat mir nachschaute, das
Gesicht glänzend vor Schweiß, aber als ich mich schließlich
umdrehte, war er fort.
Eine Kerze, tropfendes Wachs. Eine Zigarette, die, achtlos
fortgeworfen, auf einem Stapel Brennholz landet. Ein Lampion,
dessen buntes Papier Feuer gefangen hat und kleine Funken
auf das Deck regnet. Alles mögliche hätte das Feuer auslösen
können.
Alles mögliche.
Samstag, 8. März
Page 193
Heute morgen war ich wieder bei Armande. Sie saß in ihrem
niedrigen Wohnzimmer in ihrem Schaukelstuhl, eine ihrer
Katzen auf dem Schoß. Seit dem Brand in Les Marauds wirkt
sie zugleich zerbrechlich und verbittert, ihr rundes Gesicht
eingefallen, Augen und Lippen in Runzeln versunken. Sie trug
ein graues Hauskleid und dicke, schwarze Strümpfe, und ihr
offenes Haar hing matt und stumpf über ihre Schultern.
»Sie sind fort.« Ihre Stimme klang tonlos, beinahe
teilnahmslos. »Kein einziges Boot ist übriggeblieben.«
»Ich weiß.«
Wenn ich nach Les Marauds hinuntergehe, ist der Anblick
immer noch ein Schock, wie der häßliche gelbe Fleck auf dem
Feld, wo einmal ein Zirkuszelt gestanden hat. Nur das Wrack
von Roux‘ Boot ist noch da, ein untergegangenes Skelett,
schwarz schimmernd im Schlamm unter der Wasseroberfläche.
»Blanche und Zézette haben ein Stück weiter flußabwärts
festgemacht. Sie haben gesagt, sie wollen heute noch einmal
herkommen, um nach dem Rechten zu sehen.«
Sie begann, ihr langes, graues Haar zu einem Zopf zu
flechten. Ihre Finger wirkten so steif und unbeholfen wie kleine
Stöckchen.
»Was ist mit Roux? Wie geht es ihm?«
»Er ist wütend.«
Und das zu Recht. Er weiß, daß das Feuer kein Zufall war, er
weiß, daß er nichts beweisen kann, er weiß, daß es ihm auch
nichts nützen würde, wenn er Beweise hätte. Blanche und
Zézette haben ihm angeboten, zu ihnen in ihr bereits überfülltes
Hausboot zu ziehen, aber er hat abgelehnt. Die Arbeiten an
Armandes Haus seien noch nicht abgeschlossen, hat er erklärt.
Das muß er zuerst noch erledigen. Ich selbst habe seit dem
Brand nicht mehr mit ihm gesprochen. Ich habe ihn einmal kurz
am Ufer gesehen, wo er dabei war, den Abfall zu verbrennen,

Page 194
den seine Gefährten hinterlassen hatten. Er wirkte mürrisch und
verschlossen, die Augen vom Rauch gerötet. Als ich ihn grüßte,
reagierte er nicht. Sein Haar war im Feuer teilweise verbrannt,
und den Rest hatte er zu kurzen Stoppeln geschnitten, so daß er
jetzt aussieht wie ein brennendes Streichholz.
»Was hat er jetzt vor?«
Armande zuckte die Achseln.
»Ich weiß nicht. Ich glaube, er schläft in einem der verfallenen
Häuser hier in der Straße. Gestern abend hab ich ihm was zu
essen vor die Tür gestellt, und heute morgen war es weg. Ich
hab ihm auch Geld angeboten, aber er wollte es nicht
annehmen.« Sie zupfte nervös an ihrem fertigen Zopf. »Sturer
Bengel. Was nützt mir das ganze Geld in meinem Alter? Ich
würde viel lieber ihm einen Teil davon geben, anstatt es alles
dem Clairmont-Clan in den Rachen zu werfen. Wie ich die
kenne, landet es sowieso nur in Reynauds Klingelbeutel.«
Sie schnaubte verächtlich.
»Der Kerl ist ein Dickkopf. Gott bewahre uns vor rothaarigen
Männern. Die lassen sich einfach nichts sagen.« Sie schüttelte
verdrießlich den Kopf. »Gestern ist er wutschnaubend
abgezogen, und seitdem hab ich ihn nicht mehr gesehen.«
Ich mußte unwillkürlich lächeln.
»Sie beide sind vielleicht ein Paar«, sagte ich. »Einer so stur
wie der andere.«
Armande sah mich empört an.
»Ich?« rief sie aus. »Wollen Sie mich etwa mit diesem
fuchshaarigen, dickschädeligen –«
Lachend nahm ich meine Bemerkung zurück.
»Ich will mal sehen, ob ich ihn finde«, sagte ich.
Ich fand ihn nicht, obwohl ich eine Stunde lang an den Ufern
des Tannes nach ihm suchte. Selbst die Methoden meiner
Mutter halfen nicht. Ich entdeckte jedoch seinen Schlafplatz. In

Page 195
einem Haus nicht weit von Armandes entfernt, einem der
weniger verfallenen unter den heruntergekommenen Häusern in
der Straße. Die Wände glänzen vor Feuchtigkeit, aber die
obere Etage scheint noch einigermaßen in Schuß zu sein, und
in mehreren Fenstern sind die Scheiben erhalten. Im
Vorbeigehen fiel mir auf, daß die Tür aufgebrochen worden war,
und als ich einen Blick hinein warf, bemerkte ich, daß im Kamin
im Wohnzimmer erst kürzlich ein Feuer gebrannt haben mußte.
Es gab noch weitere Anzeichen, die darauf hindeuteten, daß
das Haus bewohnt war; ein Ballen angesengten, aus dem Feuer
geretteten Segeltuchs, ein Stapel Treibholz, mehrere
Möbelstücke, wahrscheinlich von den ehemaligen Bewohnern
als wertlos im Haus zurückgelassen. Ich rief seinen Namen,
bekam jedoch keine Antwort.
Da ich um halb neun den Laden öffnen mußte, gab ich die
Suche schließlich auf. Roux würde schon von allein auftauchen,
wenn er soweit war. Als ich am Laden ankam, wartete
Guillaume schon draußen, obwohl die Tür unverschlossen war.
»Sie hätten ruhig drinnen auf mich warten können«, sagte ich.
»O nein«, erwiderte er ernst. »Das wäre ungehörig gewesen.«
»Man muß im Leben auch mal was riskieren«, sagte ich
lachend. »Kommen Sie rein, Sie müssen unbedingt meine
frischgebackenen Windbeutel probieren.«
Seit Charlys Tod wirkt er eingefallen, als sei er auf die Hälfte
seiner ursprünglichen Größe zusammengeschrumpft, sein
junges-altes Gesicht wirkt zugleich verschmitzt und weise vor
Gram. Aber er hat seinen Sinn für Humor nicht verloren, seine
wehmütig spöttische Art, die ihn vor Selbstmitleid bewahrt.
Heute morgen war er ganz mit dem Unglück beschäftigt, das
den Leuten am Fluß widerfahren war.
»Reynaud hat heute in der Messe kein Wort darüber
verloren«, sagte er, während er sich aus dem silbernen

Page 196
Kännchen Schokolade einschenkte. »Weder gestern noch
heute. Nicht ein einziges Wort.«
Ich bestätigte, daß dies ziemlich ungewöhnlich sei angesichts
des Interesses, das der curé bis dahin an den fahrenden Leuten
gezeigt hatte.
»Vielleicht weiß er etwas, über das er nicht sprechen darf«,
meinte Guillaume. »Sie wissen schon. Beichtgeheimnis.«
Er erzählt mir, daß er Roux gesehen hat, der sich mit Narcisse
vor dessen Gewächshäusern unterhielt. Vielleicht hat Narcisse
Arbeit für Roux. Ich hoffe es zumindest.
»Er stellt häufig Gelegenheitsarbeiter ein, wissen Sie«, sagte
Guillaume. »Er ist verwitwet. Hat nie Kinder gehabt. Außer
einem Neffen in Marseille gibt es niemanden, der den Betrieb
übernehmen könnte. Und Narcisse ist es egal, wer im Sommer
für ihn arbeitet, wenn er alle Hände voll zu tun hat. Solange einer
zuverlässig ist, interessiert es ihn nicht, ob er zur Kirche geht.«
Guillaume lächelte entschuldigend, wie immer, wenn er etwas
sagt, was er als gewagt empfindet. »Manchmal frage ich mich«,
fuhr er nachdenklich fort, »ob Narcisse nicht ein besserer Christ
im eigentlichen Sinne ist als ich oder Georges Clairmont – oder
sogar curé Reynaud.« Er trank einen Schluck. »Ich meine,
Narcisse hilft, wo er kann«, sagte er ernst. »Er gibt Leuten, die
Geld brauchen, Arbeit. Er läßt Zigeuner auf seinem Land
kampieren. Alle wissen, daß er die ganzen Jahre mit seiner
Haushälterin geschlafen hat, und er geht nie in die Kirche, außer
um seine Kunden zu treffen, aber er ist immer hilfsbereit.«
Ich nahm den Deckel von dem Tablett mit den Windbeuteln
und legte ihm einen auf den Teller.
»Ich glaube nicht, daß es so etwas gibt wie gute und schlechte
Christen«, sagte ich. »Nur gute und schlechte Menschen.«
Er nickte und nahm das kleine runde Gebäck zwischen
Daumen und Zeigefinger.

Page 197
»Vielleicht.«
Schweigend schenkte ich mir eine Tasse Schokolade ein, mit
Noisette-Likör und Haselnußblättchen. Es duftete warm und
betörend wie ein Stapel Holz in der späten Herbstsonne.
Guillaume aß seinen Windbeutel mit stillem Genuß und
sammelte die Krümel mit einem befeuchteten Finger von
seinem Teller.
»Das heißt also, Sie würden sagen, daß alles, woran ich mein
Leben lang geglaubt habe – Sünde und Erlösung und
Auferstehung des Fleisches –, daß das alles keine Bedeutung
hat, nicht wahr?«
Ich lächelte über seine Ernsthaftigkeit.
»Ich würde sagen, Sie haben sich mit Armande unterhalten«,
sagte ich freundlich. »Und ich würde sagen, daß Sie und
Armande das Recht haben, zu glauben, was Sie wollen.
Solange es Sie glücklich macht.«
»Oh.« Er schaute mich mißtrauisch an, als erwartete er, daß
mir jeden Augenblick Hörner sprießen würden. »Und an was –
wenn ich mir die Frage erlauben darf –, an was glauben Sie?«
An Reisen mit fliegenden Teppichen, Runenzauber, Ali Baba
und Mutter-Gottes-Erscheinungen, Astralreisen und das Deuten
der Zukunft aus dem Satz in einem Rotweinglas …
Florida? Disneyland? Die Everglades? Wie wär’s damit,
chérie? Na, wie wär’s?
Buddha. Frodos Reise nach Mordor. Das Sakrament der
heiligen Wandlung. Dorothy und Toto. Der Osterhase.
Marsmenschen. Das Gespenst im Schrank. Die Auferstehung
und das Leben, das die Karten verheißen … Irgendwann in
meinem Leben habe ich an all das geglaubt. Oder es zumindest
vorgegeben. Oder vorgegeben, nicht daran zu glauben.
Was immer du willst, Mutter. Was immer dich glücklich
macht.

Page 198
Und jetzt? An was glaube ich jetzt?
»Ich glaube, das einzige, was zählt, ist, daß man glücklich und
zufrieden ist«, sagte ich schließlich.
Glück. So simpel wie eine Tasse Schokolade oder so
kompliziert wie das Herz. Bitter. Süß. Lebendig.
Am Nachmittag kam Joséphine. Anouk war nach der Schule
sofort losgerannt, um in Les Marauds zu spielen, warm
eingepackt in ihren roten Anorak und mit der strengen
Anweisung, nach Hause zu kommen, falls es anfangen sollte zu
regnen. Die Luft ist schwer und riecht scharf wie frisch
geschlagenes Holz. Joséphine trug ihren karierten Mantel, den
sie bis zum Hals zugeknöpft hatte, die rote Baskenmütze und
ein neues rotes Halstuch, das ihr ins Gesicht flatterte. Sie betrat
den Laden mit einem trotzig-selbstsicheren Blick, und einen
Augenblick lang stand eine strahlend schöne Frau vor mir, mit
vom Wind geröteten Wangen und funkelnden Augen. Dann löste
sich das Trugbild auf, und sie war wieder sie selbst, die Hände
tief in den Taschen vergraben, den Kopf gesenkt, als müßte sie
sich gegen einen unsichtbaren Angreifer verteidigen. Als sie
ihre Mütze abnahm, kamen ihr zerzaustes Haar und eine frische
Strieme an ihrer Stirn zum Vorschein. Sie wirkte zugleich
verängstigt und euphorisch.
»Ich hab’s geschafft«, verkündete sie. »Vianne, ich hab’s
geschafft.«
Eine Schrecksekunde lang dachte ich, sie würde mir
gestehen, daß sie ihren Mann ermordet hatte. Sie hatte diesen
Blick – einen wilden, leidenschaftlichen Blick –, und sie zeigte
ihre Zähne, als hätte sie gerade in eine Zitrone gebissen. Ich
spürte ihre Angst wie abwechselnd heiße und kalte Wellen von
ihr ausgehen.
»Ich habe Paul verlassen«, sagte sie. »Endlich habe ich es
geschafft.«

Page 199
Ihr Blick war messerscharf. Zum erstenmal, seit ich sie
kennengelernt hatte, sah ich Joséphine, wie sie zehn Jahre
zuvor gewesen sein mußte, bevor sie durch Paul-Marie Muscat
farblos und unscheinbar geworden war. Halb wahnsinnig vor
Angst, aber unter dem Wahnsinn lag ein gesunder Verstand,
der einem das Herz stocken ließ.
»Weiß er es schon?« fragte ich, während ich ihr den Mantel
abnahm. Die Manteltaschen waren schwer, aber anscheinend
nicht mit Schmuck gefüllt.
Joséphine schüttelte den Kopf.
»Er glaubt, ich sei einkaufen gegangen«, sagte sie atemlos.
»Uns war die Tiefkühlpizza ausgegangen. Er hat mich
losgeschickt, um neue zu besorgen.« Sie lächelte beinahe
kindlich verschmitzt. »Und ich hab einen Teil der
Haushaltskasse mitgenommen«, fuhr sie fort. »Er bewahrt das
Geld in einer Keksdose unter der Theke auf. Neunhundert
Francs.« Unter dem Mantel trug sie einen roten Pullover und
einen schwarzen Faltenrock. Zum erstenmal sah ich sie nicht in
Jeans. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr.
»Einen chocolat espresso, bitte«, sagte sie. »Und eine große
Tüte Mandeln.« Sie legte das Geld auf den Tisch. »Ich habe
gerade noch genug Zeit, bevor mein Bus fährt.«
»Ihr Bus?« Ich war verblüfft. »Wohin?«
»Agen.« Sie schaute mich trotzig an. »Wohin es anschließend
geht, weiß ich noch nicht. Vielleicht nach Marseille. So weit weg
von ihm wie möglich.« Sie sah mich zugleich mißtrauisch und
überrascht an. »Sagen Sie bloß nicht, ich soll es nicht tun,
Vianne. Sie haben mich schließlich dazu ermutigt. Von allein
wäre ich nie auf die Idee gekommen.«
»Ich weiß, aber –«
Ihre Worte klangen wie ein Vorwurf.
»Sie haben mir gesagt, ich sei frei.«

Page 200
Das stimmte. Frei, davonzulaufen, frei, auf das Wort einer
Fremden hin aufzubrechen, abzuheben wie ein losgebundener
Luftballon, der mit dem Wind davontreibt. Die Angst schnürte
mir plötzlich das Herz zusammen. War das der Preis dafür, daß
ich bleiben durfte? Daß sie an meiner Stelle in die Welt hinaus
ging? Welche Möglichkeiten hatte ich ihr eigentlich eröffnet?
»Aber Sie fühlten sich doch in Sicherheit.« Ich brachte die
Worte kaum heraus, denn ich sah das Gesicht meiner Mutter in
ihrem. Ihre Sicherheit aufzugeben für ein paar neue
Erfahrungen, für einen flüchtigen Blick auf das Meer … und
dann? Der Wind wirft uns immer wieder zurück an dieselbe
Wand. Ein Taxi in New York. Eine dunkle Gasse. Ein strenger
Frost.
»Sie können nicht einfach vor allem davonlaufen«, sagte ich.
»Ich weiß es. Ich habe es versucht.«
»Also, in Lansquenet kann ich jedenfalls nicht bleiben«, sagte
sie schnippisch, und ich sah, daß sie den Tränen nahe war.
»Nicht, solange er hier ist.«
»Ich erinnere mich noch gut, wie es war, als wir ein solches
Leben geführt haben. Immer unterwegs. Immer auf der Flucht.«
Sie hat ihren eigenen Schwarzen Mann. Ich sehe es an ihren
Augen. Er besitzt die Stimme der Autorität, die keinen
Widerspruch duldet, eine trügerische Logik, die einen starr,
gehorsam und ängstlich macht. Sich von dieser Angst zu
befreien, voller Hoffnung und Verzweiflung davonzulaufen, nur
um irgendwann festzustellen, daß man den Schwarzen Mann in
seinem Innern mit sich trägt wie ein bösartiges Kind … Am
Ende wußte meine Mutter es. Sie sah ihn an jeder Straßenecke,
im Bodensatz jeder Tasse. Er grinste sie von Plakatwänden an,
beobachtete sie aus jedem Auto heraus, und wenn es noch so
schnell vorüber fuhr. Und mit jedem Herzschlag kam er näher.
»Wenn Sie davonlaufen, werden Sie Ihr Leben lang auf der

Page 201
Flucht sein«, sagte ich eindringlich. »Bleiben Sie lieber bei mir.
Bleiben Sie und kämpfen Sie mit mir gemeinsam.«
Joséphine schaute mich an.
»Bei Ihnen?« Ihre Verblüffung war beinahe komisch.
»Warum nicht? Ich habe noch ein Zimmer, ein Klappbett …«
Sie schüttelte bereits den Kopf, und ich widerstand dem Impuls,
sie an den Armen zu packen und zum Bleiben zu zwingen. Ich
hätte es gekonnt. »Nur eine Zeitlang, bis Sie etwas anderes
finden, bis Sie einen Job finden –«
Sie begann beinahe hysterisch zu lachen.
»Einen Job? Ich kann doch nichts. Außer putzen – und kochen
– und Aschenbecher leeren und – B-Bier zapfen und den G-
Garten umgraben und mich jeden F-Freitagabend von m-
meinem Mann ficken lassen …« Sie lachte immer lauter, hielt
sich den Bauch mit beiden Händen.
Ich versuchte, ihren Arm zu nehmen.
»Joséphine. Ich meine es ernst. Sie werden etwas finden. Sie
brauchen nicht zu –«
»Sie müßten ihn mal sehen.« Sie lachte immer noch, jedes
Wort schoß aus ihrem Mund wie eine bittere Kugel, ihre Stimme
war voller Selbstverachtung. »Dieses geile Schwein. Dieses
fette, haarige Schwein.« Und plötzlich weinte sie ebenso heftig,
wie sie gelacht hatte, die Augen fest zugekniffen und die Hände
an die Wangen gepreßt, als versuchte sie, eine innere
Explosion zu verhindern.
Ich wartete.
»Und wenn er fertig ist, dreht er sich um und fängt an zu
schnarchen. Und am nächsten Morgen versuche ich«, fuhr sie
mit vor Ekel verzerrtem Gesicht fort, mühsam die Worte
formend, »versuche ich, seinen Gestank aus den Laken zu
schütteln, und jedesmal habe ich mich gefragt: Was ist mit mir
geschehen? Mit Joséphine Bonnet, d-die so gut in der Schule

Page 202
war und einmal davon geträumt hat, T-Tänzerin zu werden …«
Plötzlich sah sie mich wütend und zugleich ruhig an.
»Es klingt vielleicht albern, aber ich habe immer gedacht, daß
das alles ein Irrtum sein müsse, daß eines Tages jemand
kommen und mir sagen würde, das alles sei nicht wahr, das
alles sei der Alptraum einer anderen Frau, und daß mir das
niemals zustoßen würde …«
Ich nahm ihre Hand. Sie war kalt und zitterte. Ein Fingernagel
war tief eingerissen, und ihre Handfläche war blutverschmiert.
»Ich versuche immer wieder, mich zu erinnern, wie es war, als
ich ihn noch geliebt habe. Aber da ist nichts. Ein großes
schwarzes Loch. An alles andere erinnere ich mich – an das
erste Mal, als er mich geschlagen hat, das weiß ich noch ganz
genau –, aber man sollte meinen, daß es selbst bei Paul-Marie
etwas geben müßte, an das ich mich gern erinnere. Irgend
etwas, das alles rechtfertigen würde. Aber es ist alles nur
Zeitverschwendung gewesen.«
Sie brach abrupt ab und schaute auf ihre Uhr.
»Ich hab viel zuviel geredet«, sagte sie überrascht. »Wenn ich
den Bus kriegen will, hab ich keine Zeit mehr für eine
Schokolade.«
Ich schaute sie an.
»Trinken Sie, und lassen Sie den Bus fahren«, sagte ich. »Ich
spendiere Ihnen einen chocolat espresso. Ich wünschte nur, es
wäre Champagner.«
»Ich muß gehen«, sagte sie störrisch. Ihre Fäuste bohrten sich
wieder in ihre Magengrube. Sie senkte den Kopf wie ein
angriffslustiger Stier.
»Nein.« Ich sah sie an. »Sie müssen bleiben. Sie müssen ihm
offen die Stirn bieten. Sonst hätten Sie auch gleich bei ihm
bleiben können.«
Einen Moment lang hielt sie meinem Blick trotzig stand.

Page 203
»Das kann ich nicht.« In ihrer Stimme lag ein verzweifelter
Unterton. »Das stehe ich nicht durch. Er wird mich beschimpfen,
mir jedes Wort im Mund herumdrehen –«
»Sie haben Freunde hier im Dorf«, erwiderte ich sanft. »Und
Sie sind stark, auch wenn Sie es noch nicht wissen.«
Und dann setzte Joséphine sich auf einen meiner roten
Barhocker, legte ihren Kopf auf die Theke und begann leise zu
weinen.
Ich ließ sie gewähren. Ich sagte ihr nicht, daß alles gut werden
würde. Ich versuchte nicht, sie zu trösten. Manchmal ist es
besser, die Dinge nicht zu beeinflussen, Trauer und Leid ihren
Lauf nehmen zu lassen. Statt dessen ging ich in die Küche und
bereitete in aller Ruhe chocolat espresso für uns beide zu. Bis
ich die Tassen gefüllt, Cognac und Schokostreusel hinzugefügt,
einen Zuckerwürfel auf jede Untertasse gelegt hatte und die
beiden Tassen auf einem gelben Tablett hinaustrug, hatte sie
sich beruhigt. Ich weiß, es ist ein schwacher Zauber, aber
manchmal wirkt er.
»Warum haben Sie es sich anders überlegt?« fragte ich, als
sie ihre Tasse halb ausgetrunken hatte. »Als wir uns das letzte
Mal unterhielten, hatte ich nicht den Eindruck, daß Sie vorhatten,
Paul zu verlassen.«
Sie zuckte die Achseln und wich meinem Blick aus.
»Hat er Sie wieder geschlagen?«
Diesmal wirkte sie überrascht. Sie fuhr sich mit der Hand an
die Stirn und befühlte die feuerrote Strieme.
»Nein.«
»Warum dann?«
Sie wandte den Blick wieder ab. Mit den Fingerspitzen
berührte sie die Tasse, wie um sich zu vergewissern, daß sie
wirklich existierte.
»Ich weiß nicht.«

Page 204
Es ist eine offensichtliche Lüge. Automatisch versuche ich,
ihre Gedanken zu erreichen, die gerade noch so offen vor mir
gelegen hatten. Ich muß wissen, ob ich sie dazu gebracht habe,
ob ich sie entgegen meiner guten Vorsätze dazu gezwungen
habe. Doch im Moment sind ihre Gedanken formlos, vernebelt.
Ich sehe nichts als Dunkelheit.
Es hat keinen Zweck, sie zu bedrängen. Joséphine ist
starrköpfig. Und sie ist eine schlechte Lügnerin. Aber etwas in
ihr sträubt sich dagegen, sich hetzen zu lassen. Irgendwann wird
sie es mir sagen. Wenn sie will.
Es wurde Abend, bis Muscat sie suchen kam. Inzwischen
hatten wir Anouks Bett für sie bezogen – Anouk wird vorerst in
meinem Zimmer auf dem Klappbett schlafen. Sie nimmt
Joséphines Anwesenheit so gelassen hin wie so vieles andere
auch. Ich wußte, daß es meiner Tochter einen Moment lang
schwerfiel, ihr erstes eigenes Zimmer zu opfern, doch ich
versprach ihr, daß es nur für kurze Zeit sein würde.
»Ich habe mir etwas überlegt«, sagte ich ihr. »Wir könnten den
Dachboden für dich herrichten, mit einer Leiter zum
Hinaufklettern und einer Falltür und kleinen, runden
Dachfenstern. Was hältst du davon?«
Die Vorstellung ist zugleich verlockend und gefährlich. Sie
bedeutet, daß wir noch lange hierbleiben werden.
»Kann ich von dort oben aus die Sterne sehen?« fragte Anouk
begierig.
»Natürlich.«
»In Ordnung!« sagte Anouk und lief zusammen mit Pantoufle
die Treppe hinauf.
Gemeinsam aßen wir in der überfüllten Küche zu Abend. Der
Küchentisch stammt noch aus den Zeiten, als der Laden eine
Bäckerei war, ein massiver, schwerer Tisch aus Kiefernholz,
übersät mit einem Netzwerk von feinen, weißen Linien,

Page 205
Messerritzen, gefüllt mit uralten, zementharten Teigresten, die
der Tischplatte eine glatte, marmorartige Oberfläche verleihen.
Die Teller sind kunterbunt zusammengewürfelt; einer ist grün,
einer weiß, Anouks geblümt. Auch die Gläser sind alle
verschieden; ein hohes, schlankes, ein schweres, breites und
eines, das immer noch den Aufdruck Moutarde Amora trägt.
Und dennoch ist es das erste Mal, daß wir solche Dinge
tatsächlich besitzen. Bisher haben wir Hotelgeschirr benutzt,
Plastikbecher und Plastikbesteck. Selbst in Nizza, wo wir über
ein Jahr gelebt haben, waren Geschirr und Mobiliar gemietet,
gehörten zur Einrichtung des Ladens. Besitz ist immer noch
etwas Neues für uns, etwas Kostbares, Berauschendes. Ich
beneide den Tisch um seine Narben, die Brandflecken, die von
den heißen Backformen herrühren. Ich beneide ihn um sein
ruhiges Zeitgefühl, und ich wünschte, ich könnte sagen: Das
habe ich vor fünf Jahren getan. Diesen Fleck habe ich gemacht,
diesen Ring dort, der von einer nassen Kaffeetasse stammt,
diese kleine, von einer Zigarette verursachte Brandstelle, diese
Kerben an der Tischkante. Dort hat Anouk ihre Initialen in das
Tischbein geritzt, als sie sechs Jahre alt war. Das da hab ich
vor sieben Jahren an einem warmen Sommertag mit einem
Schnitzmesser gemacht. Weißt du noch? Erinnerst du dich noch
an den Sommer, als der Fluß ausgetrocknet war? Weißt du
noch?
Ich beneide den Tisch um seine Ruhe. Er ist schon lange an
diesem Ort. Er gehört hierher.
Joséphine half mir beim Zubereiten des Abendessens; einen
Salat aus grünen Bohnen und Tomaten, rote und schwarze
Oliven vom Wochenmarkt, Walnußbrot, frisches Basilikum von
Narcisse, Ziegenkäse, Rotwein aus Bordeaux. Wir unterhielten
uns beim Essen, sprachen jedoch nicht über Paul-Marie
Muscat. Ich erzählte ihr von uns, von Anouk und mir, von den

Page 206
Orten, in denen wir gelebt hatten, von der chocolaterie in Nizza,
von der Zeit in New York, kurz nach Anouks Geburt, und von der
Zeit davor, von Paris und Neapel, von all den provisorischen
Quartieren, in denen meine Mutter und ich uns auf unserer
endlosen Flucht kreuz und quer durch die Welt häuslich
eingerichtet hatten. Heute abend will ich mich nur an die guten
Dinge erinnern, an all die guten, lustigen Erlebnisse. Es liegen
schon genug traurigen Gedanken in der Luft. Ich stelle eine
weiße Kerze auf den Tisch, um schlechte Einflüsse abzuwehren.
Ihr Duft hat etwas Romantisches, etwas Tröstliches. Ich erzähle
Joséphine von dem kleinen Kanal in Ourcq, vom Pantheon, von
der Place des Artistes, der Prachtstraße Unter den Linden, von
der Fähre nach Jersey, von knusprigen Wiener Pasteten, die
wir noch warm auf der Straße aus dem Papier aßen, von der
Strandpromenade in Juan-les-Pins und von San Pedro, wo wir
auf der Straße getanzt haben. Ich sah, wie ihre Züge sich
langsam entspannten. Ich erzählte ihr davon, wie meine Mutter
einmal einen Esel an einen Bauern in einem Dorf in der Nähe
von Rivoli verkaufte, und wie das Tier immer wieder zu uns
zurückfand, uns fast bis nach Mailand nachlief. Und dann die
Geschichte von den Blumenverkäufern in Lissabon, und wie wir
diese Stadt im Kühlwagen eines Blumenhändlers verließen, der
uns vier Stunden später halb erfroren im Hafen von Porto
ablieferte. Sie begann zu lächeln, und schließlich lachte sie. Es
gab Zeiten, da hatten meine Mutter und ich Geld, und Europa
erschien uns sonnig und verheißungsvoll. Von diesen Zeiten
erzählte ich Joséphine; von dem vornehmen Araber in der
weißen Limousine, der meiner Mutter an dem Abend in San
Remo ein Ständchen brachte, wie wir lachten und wie glücklich
sie war und wie lange wir nachher von dem Geld lebten, das er
uns gegeben hatte.
»Sie haben so viel erlebt«, sagte sie mit einem Unterton von

Page 207
Neid und Bewunderung. »Und dabei sind Sie noch so jung.«
»Ich bin fast genauso alt wie Sie.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich bin tausend Jahre alt.« Sie lächelte wehmütig. »Ich wäre
gern eine Abenteurerin«, sagte sie. »Dann würde ich der Sonne
folgen mit nichts als einem Koffer in der Hand, ohne zu wissen,
wo ich am nächsten Tag sein würde …«
»Glauben Sie mir«, sagte ich sanft, »das ist mit der Zeit sehr
ermüdend. Nach einer Weile sieht es überall gleich aus.«
Sie schaute mich zweifelnd an.
»Glauben Sie mir«, sagte ich, »ich weiß, wovon ich rede.«
Es stimmt nicht ganz. Jeder Ort hat seinen Charakter, und an
einen Ort zurückzukehren, an dem man einmal gelebt hat, ist
wie einen alten Freund nach langer Zeit wiederzusehen. Aber
die Menschen fangen an, überall gleich auszusehen; dieselben
Gesichter tauchen in Städten auf, die Tausende von Kilometern
voneinander entfernt liegen, dieselben Gesichtsausdrücke. Das
kühle, feindselige Starren des Beamten. Der neugierige Blick
der Bauern. Die trägen, gelangweilten Gesichter der Touristen.
Dieselben Liebhaber, Mütter, Bettler, Krüppel, fliegenden
Händler, Jogger, Kinder, Polizisten, Taxifahrer, Zuhälter. Nach
einer Weile wird man regelrecht paranoid, es ist, als würden
diese Menschen einen heimlich von Stadt zu Stadt verfolgen,
die Kleider und Gesichter wechseln, aber im Grunde
unverändert bleiben, ihren eintönigen Beschäftigungen
nachgehen, während sie uns, die Eindringlinge, ständig halb im
Auge behalten. Zu Anfang kommt man sich irgendwie überlegen
vor. Wir sind ein besonderer Schlag, wir Unsteten. Wir haben so
viel mehr gesehen, so viel mehr erlebt als die anderen. Die
anderen, die es zufrieden sind, ihr erbärmliches Leben in einer
endlosen Abfolge von Schlafen-Arbeiten-Schlafen
dahinplätschern zu lassen. Wir blicken verächtlich herab auf ihre

Page 208
gepflegten Gärten, ihre eintönigen Reihenhäuser in den
Vorstädten, ihre bescheidenen Träume. Dann, nach einer
Weile, kommt der Neid. Beim erstenmal ist es beinahe
komisch; ein plötzlicher Stich, der beinahe augenblicklich
vergessen ist. Eine Frau im Park, die sich über ein Baby im
Kinderwagen beugt, beider Gesichter strahlen, aber nicht vom
Sonnenschein. Dann kommt das zweite Mal, dann das dritte;
zwei junge Leute Arm in Arm am Strand; eine Gruppe von
jungen Sekretärinnen in ihrer Mittagspause, die bei Kaffee und
Croissants miteinander scherzen und lachen … Mit der Zeit wird
es zu einem Schmerz, der einen überall begleitet. Nein, Orte
verlieren ihre Identität nicht, egal, wie weit man herumkommt. Es
ist das Herz, das mit der Zeit verkümmert. Manchmal wirkt das
Gesicht morgens im Spiegel des Hotelzimmers
verschwommen, wie verblaßt durch die vielen flüchtigen Blicke.
Bis zehn sind die Betten gemacht, die Teppiche gesaugt. Die
Namen auf den Hotelanmeldungen ändern sich von Ort zu Ort.
Wir hinterlassen keine Spur auf unserer Reise. Wie Geister
haben wir keinen Schatten.
Ein gebieterisches Klopfen an der Tür riß mich aus meinen
Gedanken. Joséphine sprang auf, die Augen angstvoll geweitet,
die Fäuste gegen die Rippen gepreßt. Wir hatten es die ganze
Zeit erwartet; das Abendessen, die Unterhaltung waren ein
Versuch gewesen, Normalität vorzutäuschen. Ich stand auf.
»Keine Sorge«, sagte ich zu Joséphine. »Ich werde ihn nicht
reinlassen.«
In ihren Augen lag Panik.
»Ich will nicht mit ihm reden«, sagte sie leise. »Ich kann nicht.«
»Vielleicht werden Sie es müssen«, erwiderte ich. »Aber
machen Sie sich keine Sorgen. Er kann nicht durch Wände
gehen.«
Sie lächelte schwach.

Page 209
»Ich will noch nicht mal seine Stimme hören«, sagte sie. »Sie
wissen nicht, wie er ist. Er wird sagen –«
Ich ging in den unbeleuchteten Laden.
»Ich weiß genau, wie er ist«, sagte ich in entschlossenem Ton.
»Und was immer Sie denken mögen, er ist nicht einzigartig.
Das Gute am Reisen ist, daß man nach einer Weile feststellt,
daß die Menschen gar nicht so unterschiedlich sind, wo immer
man auch hinkommt.«
»Ich hasse diese Szenen«, murmelte Joséphine, als ich das
Licht im Laden einschaltete. »Ich hasse Geschrei.«
»Es wird bald vorbei sein«, sagte ich, als das ungeduldige
Klopfen wieder anfing. »Anouk soll Ihnen eine Tasse
Schokolade machen.«
Die Tür hat eine Kette. An die Sicherheitsvorkehrungen in der
Stadt gewöhnt, habe ich sie angebracht, als wir hierherzogen,
doch bis jetzt haben wir sie nicht gebraucht. Im Türspalt sehe ich
Muscats wutverzerrtes Gesicht.
»Ist meine Frau hier?« Seine Stimme klingt belegt.
»Ja.« Ich sehe keinen Grund, mich auf Ausflüchte zu verlegen.
Es ist besser, ihn gleich in seine Schranken zu verweisen. »Ich
fürchte, sie hat Sie verlassen, Monsieur Muscat. Ich habe ihr
angeboten, bei mir zu wohnen, bis alles geregelt ist. Es schien
mir das Beste.«
Ich bemühe mich um einen neutralen, höflichen Ton. Ich kenne
seine Sorte. Wir sind ihnen tausendmal begegnet, meine Mutter
und ich, an tausend verschiedenen Orten. Er starrt mich verblüfft
an. Dann gewinnt seine Schläue die Oberhand, er fixiert mich
mit seinem Blick, hält mir seine offenen Hände entgegen, um
mir zu zeigen, daß er harmlos ist, eher verwirrt und amüsiert.
Einen Augenblick lang wirkt er beinahe charmant. Dann tritt er
einen Schritt näher an die Tür. Ich rieche seinen ranzigen Atem,
der nach Bier und Rauch stinkt.

Page 210
»Madame Rocher.« Seine Stimme klingt weich, beinahe
bittend. »Ich möchte, daß Sie dieser fetten Kuh sagen, sie soll
ihren Arsch bewegen und sofort rauskommen, sonst bekommt
sie es mit mir zu tun. Und wenn Sie sich einbilden, Sie könnten
sich mir in den Weg stellen, Sie Emanzenhexe –«
Er rüttelt an der Tür.
»Machen Sie die Kette los.« Er lächelt, versucht mir zu
schmeicheln, während seine Wut wie ein übler Gestank aus ihm
herausströmt. »Ich hab gesagt, Sie sollen die verdammte Kette
losmachen, bevor ich die Tür eintrete!« Seine Stimme ist schrill
vor Rage, sie klingt wie das Quieken eines wütenden Schweins.
Ich versuche, ihm in aller Ruhe die Situation zu erklären. Er
flucht und kreischt seinen Frust heraus. Mehrmals tritt er gegen
die Tür, so daß die Scharniere quietschen.
»Wenn Sie in mein Haus eindringen, Monsieur Muscat«,
erkläre ich ihm ruhig, »bin ich gezwungen, Sie wie einen
Einbrecher zu behandeln. In meiner Küche habe ich eine Dose
Contre-Attaq’, die ich immer bei mir trug, als ich in Paris lebte.
Ich habe das Gas ein-oder zweimal ausprobiert. Es ist äußerst
effektiv.«
Die Drohung läßt ihn innehalten. Wahrscheinlich glaubt er, er
sei der einzige, der das Recht hat, Drohungen auszusprechen.
»Sie verstehen das nicht«, jammert er. »Sie ist doch meine
Frau. Ich liebe sie. Ich weiß nicht, was sie Ihnen erzählt hat, aber
–«
»Was sie mir erzählt hat, spielt keine Rolle, Monsieur. Sie
allein trifft die Entscheidung. Wenn ich Sie wäre, würde ich
aufhören, mich lächerlich zu machen, und nach Hause gehen.«
»Sie können mich mal!« Sein Gesicht ist so dicht an der Tür,
daß seine Spucke mich trifft wie heiße, eklige Schrotkugeln.
»Das habe ich Ihnen zu verdanken, Sie Schlampe. Sie haben
ihr diese Flausen von Emanzipation und all dem Scheiß in den

Page 211
Kopf gesetzt.« Er ahmt Joséphines Stimme mit einem
wütenden Falsett nach. »Dauernd heißt es Vianne sagt dies,
Vianne sagt das. Lassen Sie mich nur eine Minute mit ihr
reden, dann werden wir ja sehen, was sie selbst dazu zu sagen
hat.«
»Ich glaube kaum, daß –«
»Ist schon gut.« Joséphine ist lautlos hinter mich getreten, eine
Tasse Schokolade in beiden Händen, als wollte sie sich
wärmen. »Ich muß mit ihm reden, sonst verschwindet er nie.«
Ich schaue sie an. Sie ist ruhiger geworden, ihr Blick klar. Ich
nicke.
»In Ordnung.«
Ich trete zur Seite, und Joséphine geht an die Tür. Muscat
beginnt zu reden, doch sie fällt ihm ins Wort, ihre Stimme
überraschend scharf und ruhig.
»Paul. Hör mir zu.«
Ihr Ton bringt ihn mitten im Satz zum Schweigen.
»Geh. Ich habe dir nichts mehr zu sagen. Kapiert?«
Sie zittert am ganzen Leib, aber ihre Stimme klingt gefaßt. Ich
bin plötzlich richtig stolz auf sie und drücke ihr ermutigend den
Arm. Einen Augenblick lang schweigt Muscat. Dann verlegt er
sich wieder aufs Schmeicheln, doch ich höre die Wut in seiner
Stimme wie das Rauschen in einem von weit her kommenden
Funksignal.
»José –«, sagt er sanft. »Das ist doch alles Blödsinn. Komm
mit, dann können wir in Ruhe über alles reden. Du bist meine
Frau, José. Hab ich nicht wenigstens eine letzte Chance
verdient?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Zu spät, Paul«, sagt sie in einem Ton, der Endgültigkeit
ausdrückt. »Tut mir leid.«
Dann machte sie ganz langsam, ganz bestimmt die Tür zu,

Page 212
und obwohl er noch minutenlang dagegenhämmerte,
abwechselnd fluchte, lockte, drohte und schließlich, als er
anfing, an seine eigene Version der Realität zu glauben,
rührselig wurde und weinte, machten wir nicht wieder auf.
Gegen Mitternacht hörte ich ihn vor dem Haus brüllen, dann
flog ein Erdklumpen gegen das Fenster, der eine schmierige
Lehmspur auf der Scheibe hinterließ. Ich stand auf, um
nachzusehen, was sich da draußen abspielte, und sah Muscat
wie einen vierschrötigen, bösen Kobold mitten auf dem
Dorfplatz stehen, die Hände tief in den Hosentaschen, so daß
ich seinen Bauch sehen konnte, der ihm über den Gürtel hing.
Er wirkte betrunken.
»Ihr könnt nicht ewig da drin bleiben!« Seine Stimme klang
gehässig und schrill. Ich sah, wie in einem der Fenster hinter
ihm das Licht anging. »Irgendwann müßt ihr da wieder
rauskommen! Und dann, ihr Schlampen, dann krieg ich euch!«
Automatisch streckte ich ihm meine ausgestreckten Zeige-und
Mittelfinger entgegen, um seine Flüche auf ihn zurückzuwerfen.
Fort! Böser Geist, mach dich fort.
Einer der Reflexe, die ich von meiner Mutter geerbt habe. Und
dennoch bin ich überrascht darüber, wieviel sicherer ich mich
jetzt fühle. Danach lag ich noch lange ruhig und wach im Bett,
lauschte dem regelmäßigen Atem meiner Tochter und
beobachtete die ständig wechselnden Muster, die das Laub im
Mondlicht formte. Ich glaube, ich versuchte wieder, die Zukunft
zu lesen, hoffte, in den Mustern ein Zeichen zu finden, ein Wort
der Ermutigung … Nachts ist es leichter, an solche Dinge zu
glauben, wenn der Schwarze Mann draußen Wache hält und die
Wetterfahne auf dem Kirchturm quietscht. Aber ich sah nichts,
fühlte nichts und schlief schließlich wieder ein. Ich träumte von
Reynaud, der im Krankenhaus am Bett eines alten Mannes
stand, ein Kruzifix in der einen und eine Schachtel Streichhölzer

Page 213
in der anderen Hand.

Page 214
Sonntag, 9. März
Armande kam heute am frühen Morgen in den Laden, um zu
plaudern und eine Tasse Schokolade zu trinken. Sie trug einen
neuen hellen Strohhut mit einem roten Band und wirkte frischer
und vitaler als gestern. Den Spazierstock nimmt sie wohl nur
aus Affektiertheit mit; mit dem leuchtend roten Taschentuch, das
sie stets darum bindet, sieht er aus wie eine kleine
Rebellenflagge. Sie bestellte chocolat viennois und ein Stück
von meinem schwarzweißen Schichtkuchen und machte es sich
auf einem Hocker bequem. Joséphine, die mir im Laden
aushilft, bis sie etwas anderes gefunden hat, verfolgte das
Geschehen von der Küche aus mit leicht besorgter Miene.
»Ich hab gehört, es hat letzte Nacht einen ziemlichen Wirbel
gegeben«, sagte Armande in ihrer direkten Art. Ihre
freundlichen dunklen Augen machen ihr betont forsches
Auftreten immer wieder wett. »Muscat, dieser Rüpel, hat sich
anscheinend mal wieder von seiner besten Seite gezeigt.«
Ich erklärte ihr die Sachlage so knapp wie möglich. Armande
hörte aufmerksam zu.
»Ich frage mich bloß, warum sie ihm nicht schon vor Jahren
den Laufpaß gegeben hat«, meinte sie, als ich geendet hatte.
»Sein Vater war keinen Deut besser. Der konnte seine Meinung
auch nicht für sich behalten. Und seine Hände genausowenig.«
Sie nickte Joséphine freundlich zu, die mit einer Kanne heißer
Milch in der Hand in der Tür erschien. »Ich hab schon immer
gewußt, daß Sie eines Tages zur Besinnung kommen würden,
meine Liebe«, fuhr sie fort. »Lassen Sie sich bloß nichts
anderes einreden.«
Joséphine lächelte.
»Keine Sorge«, sagte sie. »Das werde ich nicht.«
Am Mittag kam Guillaume zusammen mit Anouk. In der

Page 215
Aufregung der letzten Tage hatte ich ein paarmal mit ihm
gesprochen, doch als er hereinkam, war ich verblüfft, wie sehr
er sich verändert hatte. Er wirkte nicht mehr so eingefallen und
gesunken. Auf einmal bewegte er sich mit federnden Schritten
und trug einen leuchtend roten Schal um den Hals, der ihm
etwas Verwegenes verlieh. Mir fiel auf, daß immer noch Charlys
Leine um sein Handgelenk gewickelt war. Aus dem
Augenwinkel sah ich etwas Dunkles zu seinen Füßen. Anouk
rannte an Guillaume vorbei, tauchte unter der Theke hindurch
und gab mir einen Kuß.
»Maman!« trompetete sie mir ins Ohr. »Guillaume hat seinen
Hund gefunden.«
Ich drehte mich um, Anouk immer noch in den Armen.
Guillaume stand neben der Tür, mit freudig geröteten Wangen.
Zu seinen Füßen wuselte ein Welpe, ein braunweißer Mischling.
»Schsch, Anouk, das ist nicht mein Hund.« Guillaumes
Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Freude und
Verlegenheit. »Er war unten am Fluß, in Les Marauds.
Wahrscheinlich wollte ihn jemand loswerden.«
Anouk fütterte den Hund mit Zuckerwürfeln.
»Roux hat ihn gefunden«, rief sie. »Hat ihn unten am Fluß
weinen hören. Das hat er mir selber erzählt.«
»Ach, du hast mit Roux gesprochen?«
Anouk nickte geistesabwesend, während sie den Hund
kraulte, der sich genüßlich über den Boden wälzte.
»Ist der süß«, sagte Anouk. »Werden Sie ihn behalten?«
Guillaume lächelte traurig.
»Ich glaube nicht, Liebes. Weißt du, nachdem Charly –«
»Aber er ist ganz allein, er hat gar kein Zuhause –«
»Es gibt bestimmt Leute im Dorf, die so einem netten kleinen
Hund ein Zuhause geben wollen.« Guillaume beugte sich
hinunter und zog den Hund zärtlich an den Ohren. »Er ist ein

Page 216
freundlicher kleiner Kerl, und so lebhaft.«
Hartnäckig: »Wie soll er denn heißen?«
Guillaume schüttelte den Kopf.
»Ich glaube nicht, daß ich ihn lange genug behalten werde, um
ihm einen Namen zu geben, ma mie.«
Anouk warf mir einen seltsamen Blick zu, und ich schüttelte
den Kopf.
»Ich dachte, Sie könnten vielleicht einen Zettel ins
Schaufenster hängen«, sagte Guillaume und setzte sich an die
Theke. »Vielleicht meldet sich sein Besitzer ja doch.«
Ich schenkte ihm eine Tasse Mokka ein und stellte sie
zusammen mit ein paar Florentinern vor ihn hin.
»Natürlich.« Ich lächelte.
Als ich kurz darauf wieder zu Guillaume hinübersah, saß der
Hund auf seinem Schoß und ließ sich Florentiner füttern. Anouk
schaute mich an und zwinkerte mir zu.
Seit Anouk und ich hier eingezogen sind, haben wir noch an
keinem Sonntag so viele Kunden gehabt wie heute. Unsere
Stammkunden – Guillaume, Narcisse, Arnauld und die anderen
– sagten wenig, nickten Joséphine freundlich zu und benahmen
sich wie immer. Narcisse hatte mir einen Korb voll
Endiviensalat aus seinem Gewächshaus mitgebracht, und als er
Joséphine sah, reichte er ihr ein kleines Sträußchen Anemonen,
das er aus seiner Jackentasche zog. »Die bringen ein bißchen
Farbe in den Laden«, murmelte er dazu.
Joséphine errötete, schien jedoch erfreut und wollte sich bei
ihm bedanken. Doch Narcisse winkte verlegen ab und schlurfte
davon.
Dann kamen die Neugierigen. Während der Messe hatte es
sich herumgesprochen, daß Joséphine Muscat bei mir
eingezogen war, und den ganzen Vormittag über riß der Strom
der Kunden nicht ab. Joline Drou und Caro Clairmont kamen in

Page 217
Frühlingskostümen und bunten Kopftüchern und überbrachten
eine Einladung zu einem Wohltätigkeitstee am Palmsonntag.
Armande mußte über ihren Anblick lachen.
»Sieh mal einer an, die sonntägliche Modenschau!« rief sie
amüsiert aus.
Caro wirkte entnervt.
»Du dürftest eigentlich gar nicht hier sein, Maman«, sagte sie
mit einem leicht vorwurfsvollen Unterton. »Du weißt doch, was
der Doktor gesagt hat, nicht wahr?«
»Allerdings weiß ich das«, erwiderte Armande. »Was ist los,
sterbe ich dir nicht schnell genug? Schickst du mir deswegen
diesen wandelnden Totenkopf ins Haus, um mir den Vormittag
zu verderben?«
Auf Caros gepuderten Wangen erschien ein Anflug von Röte.
»Wirklich, Maman, wie kannst du so etwas –«
»Ich halte den Mund, sobald du dich um deine eigenen
Angelegenheiten kümmerst«, raunzte Armande schlagfertig,
und Caro kerbte fast die Bodenfliesen mit ihren
Pfennigabsätzen, so eilig hatte sie es plötzlich, den Laden zu
verlassen.
Dann kam Denise Arnauld, um sich zu erkundigen, ob wir
heute mehr Brot bräuchten.
»Nur für alle Fälle«, sagte sie mit neugierig funkelnden Augen.
»Wo Sie doch jetzt einen Gast haben und so.« Ich versicherte
ihr, wenn uns das Brot ausginge, würden wir uns an sie wenden.
Dann Charlotte Edouard, Lydie Perrin, Georges Demoulin;
eine kaufte vorzeitig ein Geburtstagsgeschenk, eine andere
erkundigte sich nach den Einzelheiten des Schokoladenfests –
so ein origineller Einfall, Madame –, der nächste hatte vor der
Kirche sein Portemonnaie verloren und dachte, ich könnte es
vielleicht gefunden haben. Ich ließ Joséphine hinter der Theke
bedienen. Sie trug eine meiner gelben Schürzen, um ihre

Page 218
Kleider vor Schokoladenflecken zu schützen, und sie machte
ihre Sache überraschend gut. Sie hat sich heute besonders
sorgfältig zurechtgemacht. Der rote Pullover und der schwarze
Faltenrock sind adrett und geschäftsmäßig, das dunkle Haar
wird von einem Tuch aus der Stirn gehalten. Ihr Lächeln ist
professionell, ihre Haltung aufrecht, und obwohl ihr Blick hin und
wieder ängstlich zur Tür wandert, wirkt sie kaum wie eine Frau,
die um sich und ihren Ruf bangt.
»Sie ist schamlos«, zischte Joline Drou, als sie mit Caro
Clairmont noch einmal am Laden vorbeiging, »einfach
schamlos. Wenn man sich überlegt, was dieser arme Mann
alles mitgemacht hat –«
Joséphine stand mit dem Rücken zu ihnen, aber ich sah, wie
ihre Schultern sich strafften. Da das allgemeine Gespräch
gerade abgeebbt war, hatten alle die Worte verstanden, und
obwohl Guillaume einen Hustenanfall vortäuschte, um Joline zu
übertönen, wußte ich, daß Joséphine es gehört hatte.
Es entstand betretenes Schweigen.
Dann ergriff Armande das Wort.
»Tja, meine Liebe, wenn die beiden anfangen, über Sie
herzuziehen, wissen Sie, daß Sie es geschafft haben«, sagte
sie keck. »Willkommen auf der anderen Seite!«
Joséphine warf ihr einen mißtrauischen Blick zu. Dann, als sie
merkte, daß der Scherz nicht gegen sie gerichtet war, lachte
sie. Ein offenes, unbefangenes Lachen. Verblüfft fuhr sie mit der
Hand an ihren Mund, wie um sich zu vergewissern, daß das
Lachen von ihr stammte. Darüber mußte sie noch mehr lachen,
und die anderen lachten mit ihr. Wir lachten immer noch, als die
Türglocke läutete und Francis Reynaud den Laden betrat.
»Monsieur le Curé!« Ich bemerkte die Veränderung in ihrem
Gesicht, noch bevor ich ihn sah; ihre Miene wurde feindselig
und verschlossen, ihre Fäuste drückten sich in alter Gewohnheit

Page 219
in ihre Magengrube.
Reynaud nickte ernst.
»Madame Muscat.« Das erste Wort sprach er mit besonderer
Betonung aus. »Ich war bestürzt, Sie heute morgen nicht in der
Kirche zu sehen.«
Joséphine murmelte etwas Unverständliches. Als Reynaud auf
die Theke zutrat, drehte sie sich halb um, wie um in die Küche
zu flüchten, überlegte es sich jedoch anders und wandte sich
ihm zu.
»Gut so, meine Liebe«, sagte Armande anerkennend.
»Lassen Sie sich von diesem Schwätzer bloß nicht
einschüchtern.« Dann wandte sie sich an Reynaud und
gestikulierte streng mit einem Stück Croissant. »Lassen Sie
diese Frau in Frieden, Francis. Wenn überhaupt, sollten Sie ihr
Ihren Segen geben.«
Reynaud ignorierte sie.
»Hören Sie, ma fille«, sagte er ernst. »Wir müssen
miteinander reden.« Sein Blick wanderte verächtlich zu dem
roten Säckchen, dem Glücksbringer, der über der Tür baumelte.
»Aber nicht hier.«
Joséphine schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid, ich habe zu arbeiten. Und ich möchte mir nicht
anhören, was Sie zu sagen haben.«
Reynaud schob trotzig das Kinn vor.
»Noch nie haben Sie die Kirche so dringend gebraucht wie
jetzt.« Ein kurzer, kalter Blick in meine Richtung. »Sie sind
schwach geworden. Sie haben es zugelassen, daß andere Sie
auf Abwege leiten. Das Sakrament der Ehe –«
Mit einem verächtlichen Aufschrei fiel Armande ihm erneut ins
Wort.
»Das Sakrament der Ehe? Wo haben Sie das denn
ausgegraben? Ich hätte gedacht, daß ausgerechnet Sie –«

Page 220
»Bitte, Madame Voizin …« Endlich eine Spur von Emotion in
seiner Stimme. Seine Augen waren frostig. »Ich würde es sehr
begrüßen, wenn Sie –«
»Reden Sie doch nicht so geschwollen«, fauchte Armande.
»Ihre Mutter hat Ihnen nicht beigebracht zu sprechen, als hätten
Sie eine Kartoffel im Mund, oder?« Sie kicherte in sich hinein.
»Wir halten uns wohl für was Besseres, wie? Auf dieser
vornehmen Schule haben wir ganz vergessen, wo wir
herkommen, was?«
Reynaud wurde stocksteif. Ich spürte deutlich seine
Anspannung. Er hat in den letzten Wochen deutlich
abgenommen, seine Haut spannt sich über seinen hohlen
Schläfen wie die Membran eines Tamburins, die Bewegungen
seines Unterkiefers sind unter dem mageren Fleisch gut zu
verfolgen. Eine Haarsträhne, die ihm schräg in die Stirn hängt,
läßt ihn auf trügerische Weise arglos wirken; der Rest ist
schneidige Effizienz.
»Joséphine.« Seine Stimme war sanft, beschwörend. Durch
seinen Ton schloß er die anderen Anwesenden aus, als wäre er
mit Joséphine allein. »Ich weiß, daß Sie meine Hilfe wünschen.
Ich habe mit Paul-Marie gesprochen. Er sagt, Sie seien in
letzter Zeit sehr unter Druck gewesen. Er sagt –«
Joséphine schüttelte den Kopf.
»Mon père.« Der ausdruckslose Blick in ihren Augen war
verschwunden, sie war ruhig und gelassen. »Ich weiß, daß Sie
es gut meinen. Aber ich bleibe bei meinen Entschluß.«
»Aber das Sakrament der Ehe –« Er war jetzt deutlich erregt,
beugte sich vor, das Gesicht gramverzerrt. Seine Hände
umklammerten die gepolsterte Theke. Noch ein verstohlener
Blick in Richtung des roten Säckchens. »Ich weiß, Sie sind
verwirrt. Sie haben sich von anderen beeinflussen lassen.«
Dann, bedeutungsvoll: »Wenn wir doch nur unter vier Augen

Page 221
miteinander reden könnten –«
»Nein«, erwiderte sie mit fester Stimme. »Ich bleibe hier bei
Vianne.«
»Aber wie lange?« Er versucht, ungläubig zu klingen, doch ich
höre das Entsetzen in seiner Stimme. »Madame Rocher mag
zwar Ihre Freundin sein, aber sie ist eine Geschäftsfrau, sie
muß ihren Laden führen, sich um ihr Kind kümmern. Wie lange
wird sie eine Fremde in ihrem Haus dulden?« Das hatte
gesessen. Ich sah, wie Joséphine zögerte, sah wieder die
Unsicherheit in ihren Augen. Ich habe diesen Blick zu oft bei
meiner Mutter gesehen, um mich zu täuschen, diesen Ausdruck
des Zweifels, der Angst.
Wir brauchen nur einander, und sonst niemanden. Ein
eindringliches Flüstern in der schwülen Dunkelheit eines
anonymen Hotelzimmers. Warum, zum Teufel, sollten wir die
Hilfe von anderen in Anspruch nehmen? Tapfere Worte, und
sollte sie Tränen vergossen haben, waren sie in der Dunkelheit
nicht zu sehen. Doch ich spürte, wie sie fast unmerklich zitterte,
während sie mich unter der Decke in den Armen hielt, als würde
sie von Fieber geschüttelt. Vielleicht war das der Grund, warum
sie vor ihnen davonlief, vor den freundlichen Männern und
Frauen, die sich mit ihr anfreunden, sie lieben, sie verstehen
wollten. Wir waren wie Aussätzige, von Mißtrauen getrieben; der
Stolz, den wir vor uns hertrugen, die letzte Zuflucht der
Ausgestoßenen.
»Ich habe Joséphine angeboten, für mich zu arbeiten«, sagte
ich freundlich, aber bestimmt. »Ich brauche dringend Hilfe bei
den Vorbereitungen für das Schokoladenfest an Ostern.«
Sein Blick, endlich entlarvt, war voller Haß.
»Ich werde sie in der Herstellung von Schokolade
unterweisen«, fuhr ich fort. »Außerdem kann sie mich im Laden
vertreten, wenn ich in der Küche zu tun habe.« Joséphine

Page 222
beobachtete mich mit erstaunten Augen. Ich zwinkerte ihr zu.
»Sie tut mir einen Gefallen, und ich bin sicher, daß sie das
Geld gut gebrauchen kann«, sagte ich ruhig. »Und was ihre
Wohnsituation angeht …« Ich schaute ihr direkt in die Augen.
»Joséphine, Sie können so lange bei mir wohnen, wie Sie
wollen. Es ist uns ein Vergnügen, Sie bei uns zu haben.«
Armande kicherte in sich hinein.
»Sie sehen also, mon père«, sagte sie schadenfroh, »Sie
verschwenden nur Ihre Zeit. Es sieht so aus, als würde sich alles
auch ohne Sie wunderbar fügen.« Sie nippte provozierend
genüßlich an ihrer Schokolade. »So ein Täßchen Schokolade
würde Ihnen auch guttun«, sagte sie. »Sie wirken ein bißchen
spitz um die Nase, Francis. Haben Sie wieder am Meßwein
genascht?«
Er lächelte sie mit stechenden Augen an.
»Sehr witzig, Madame. Wie schön, daß Sie Ihren Sinn für
Humor noch nicht verloren haben.« Dann drehte er sich auf dem
Absatz um, und mit einem pikierten »Monsieur-Dames« an die
restlichen Kunden verließ er den Laden.
Montag, 10. März
Ihr Gelächter folgte mir bis auf die Straße wie ein
Vogelschwarm. Mein Unmut und der Schokoladenduft machten
mich schwindlig, ich fühlte mich beinahe euphorisch vor Wut.
Wir haben die ganze Zeit recht gehabt, Vater. Damit hat sie uns
vollkommen bestätigt. Indem sie die drei Bereiche angreift, die
uns am wichtigsten sind – die Gemeinde, die kirchlichen
Feiertage und nun das Sakrament der Ehe –, hat sie sich
schließlich selbst entlarvt. Ihr Einfluß ist verderblich, und er wird
immer größer, der Samen ist bereits in ein oder zwei Dutzend
Köpfen auf fruchtbaren Boden gefallen. Heute morgen habe ich
auf dem Friedhof den ersten Löwenzahn gesehen, der sich
hinter einem Grabstein aus einer Ritze zwängte. Die Wurzel ist

Page 223
bereits fingerdick und hat sich so tief in den Boden gegraben,
daß ich nicht mehr drankomme, wühlt sich in die Dunkelheit
unter den Stein. In einer Woche wird die Pflanze wieder
nachgewachsen und noch zäher sein als zuvor.
Ich habe Muscat heute morgen bei der Kommunion gesehen,
obwohl er vorher nicht gebeichtet hat. Er wirkt abgespannt und
mürrisch, unbehaglich in seinem Sonntagsanzug. Es hat ihn
sehr mitgenommen, daß seine Frau ihn verlassen hat.
Als ich die chocolaterie verließ, stand er rauchend neben dem
Hauptportal und wartete auf mich.
»Nun, mon père?«
»Ich habe mit Ihrer Frau gesprochen.«
»Wann kommt sie nach Hause?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich möchte Ihnen keine falschen Hoffnungen machen«, sagte
ich freundlich.
»Diese sture Kuh«, sagte er, warf seinen Zigarettenstummel
auf den Boden und zertrat ihn mit dem Absatz. »Verzeihen Sie
meine Ausdrucksweise, Vater, aber so ist es nun mal. Wenn ich
mir überlege, was ich alles für diese Schlampe aufgegeben
habe – das Geld, das sie mich gekostet hat –«
»Sie hat es auch nicht leicht gehabt«, entgegnete ich mit
einem bedeutungsvollen Blick, denn ich mußte an alles denken,
worüber ich mit seiner Frau in all den Jahren im Beichtstuhl
gesprochen habe.
Muscat zuckte die Achseln.
»Ich bin kein Engel«, sagte er. »Ich kenne meine Schwächen.
Aber sagen Sie mir eins, Vater« – er hob bittend die Hände –,
»habe ich nicht meine Gründe gehabt? Jeden Morgen neben
ihrem dämlichen Gesicht aufzuwachen. Sie immer wieder mit
prallvollen Taschen zu erwischen, vollgestopft mit Zeug, das sie
auf dem Markt geklaut hat, mit Lippenstiften und Parfümflaschen

Page 224
und billigem Modeschmuck. Und in der Kirche haben mich alle
angestarrt und über mich gelacht.« Er schaute mich
Zustimmung heischend an. »Was meinen Sie, Vater? Habe ich
nicht auch mein Kreuz zu tragen gehabt?«
Das alles hörte ich nicht zum erstenmal. Seine Beschwerden
über ihre Schlampigkeit, ihre Dummheit, ihren Hang zum
Stehlen, ihre Faulheit. Ich bin nicht verpflichtet, eine Meinung zu
solchen Dingen zu haben. Meine Aufgabe ist es, Rat und
Beistand zu geben. Aber er widert mich an mit seinen
Ausreden, seiner Überzeugung, er hätte es im Leben zu etwas
Großem bringen können, wenn sie nicht gewesen wäre.
»Wir sind nicht hier, um Schuld zuzuweisen«, sagte ich mit
einem tadelnden Unterton. »Wir sollten lieber nach
Möglichkeiten suchen, wie wir Ihre Ehe retten können.«
Er lenkte sofort ein.
»Tut mir leid, Vater. Ich – ich hätte das alles nicht sagen
dürfen.« Er bemühte sich, sich ernsthaft geben, zeigte mir seine
Zähne, die so gelb waren wie uraltes Elfenbein. »Glauben Sie
nicht, ich würde sie nicht lieben, Vater. Ich meine, ich will sie
schließlich zurückhaben, oder?«
O ja. Damit sie ihm sein Essen kocht. Und seine Kleider
bügelt. Im Café bedient. Und um seinen Freunden zu zeigen,
daß niemand Paul-Marie Muscat zum Narren hält, niemand. Ich
verachte diese Heuchelei. Er muß sie tatsächlich
zurückgewinnen, in diesem Punkt zumindest stimme ich ihm zu.
Aber aus anderen Gründen.
»Wenn Sie sie wiederhaben wollen, Muscat«, sagte ich spitz,
»dann haben Sie sich bisher allerdings erstaunlich dumm
angestellt.«
Er warf verächtlich den Kopf in den Nacken.
»Das sehe ich aber gar nicht –«
»Geben Sie sich nicht für dümmer aus, als Sie sind.«

Page 225
Mein Gott, mon père, wie haben Sie es bloß geschafft, soviel
Geduld mit diesen Leuten zu haben?
»Drohungen, Beschimpfungen, Ihr Auftritt letzte Nacht?
Glauben Sie wirklich, daß Sie damit zum Ziel kommen?«
Verdrossen: »Ich konnte ihr das doch nicht einfach
durchgehen lassen, Vater. Im ganzen Dorf heißt es schon,
meine Frau hätte mich sitzenlassen. Und diese Schlampe
Rocher …« Seine bösen Augen zogen sich hinter den
Brillengläsern zu Schlitzen zusammen. »Es geschähe ihr recht,
wenn mit diesem Luxusladen etwas passieren würde«, sagte er
geradeheraus. »Dann wären wir die Hexe ein für allemal los.«
Ich sah ihn streng an.
»Ach ja?«
Es war zu nah an dem, was mir auch schon durch den Kopf
gegangen ist, Vater. Gott steh mir bei, aber als ich das Boot
brennen sah … Es ist ein primitives Vergnügen, unter meiner
Würde als Priester, ein heidnisches Gelüst, das ich eigentlich
gar nicht empfinden dürfte. Ich habe mit mir gerungen, Vater,
am frühen Morgen. Ich habe es in mir unterdrückt, aber wie der
Löwenzahn wächst es immer wieder nach, schlägt heimtückisch
immer wieder neue Wurzeln. Vielleicht klang meine Stimme
härter als gewollt, als ich ihm antwortete, weil ich wußte, was er
meinte.
»An was hatten Sie denn gedacht, Muscat?«
Er murmelte etwas Unverständliches.
»Ein Feuer vielleicht? Einen praktischen Hausbrand?« Ich
spürte die Wut in mir wachsen. Mein Mund füllte sich mit einem
Geschmack, der zugleich metallisch und süßlich faul war. »Wie
das Feuer, das die Zigeuner vertrieben hat?«
Er grinste.
»Möglich. Diese alten Häuser sind gräßliche Feuerfallen.«
»Hören Sie mir gut zu.« Plötzlich empfand ich Abscheu bei

Page 226
dem Gedanken, er könnte mein Schweigen in jener Nacht als
Komplizenschaft aufgefaßt haben. »Wenn ich außerhalb des
Beichtstuhls auch nur den leisesten Verdacht schöpfe, daß Sie
so etwas vorhaben – wenn mit diesem Laden irgend etwas
passiert –« Ich hatte ihn bei den Schultern gepackt, meine
Finger gruben sich tief in sein weiches Fleisch.
Muscat starrte mich gekränkt an.
»Aber Vater, Sie haben doch selbst gesagt –«
»Ich habe überhaupt nichts gesagt!« Ich hörte meine Stimme
auf dem Platz widerhallen und beeilte mich, leiser zu sprechen.
»Ich habe niemals gewollt, daß Sie –« Ich hatte plötzlich einen
Kloß im Hals und mußte mich räuspern. »Wir leben nicht im
Mittelalter, Muscat«, sagte ich dann knapp. »Wir legen Gottes
Gesetze nicht nach eigenem Gutdünken aus. Oder die Gesetze
dieses Landes«, fügte ich mühsam hinzu, während ich ihm in
die Augen sah. Seine Augäpfel waren ebenso gelb wie seine
Zähne. »Haben wir uns verstanden?«
»Ja, mon père«, brummte er verstimmt.
»Wenn nämlich irgend etwas geschieht, Muscat, irgend etwas,
eine eingeschlagene Fensterscheibe, ein kleines Feuer, egal
was …« Ich bin einen Kopf größer als er. Ich bin jünger, kräftiger
als er. Instinktiv reagiert er auf die physische Bedrohung. Ich
versetze ihm einen Stoß, der ihn gegen die Steinmauer hinter
sich torkeln läßt. Mittlerweile bin ich kaum noch in der Lage,
meine Wut zu beherrschen. Daß er es wagt – daß er es wagt! –,
meine Rolle zu übernehmen, Vater. Ausgerechnet er, dieser
erbärmliche, verblendete Säufer. Daß er mich in diese Situation
bringt; mich zwingt, diese Frau zu beschützen, die meine
Feindin ist. Mühsam gewinne ich die Fassung wieder.
»Halten Sie sich von dem Laden fern, Muscat.«
Etwas bescheidener, kleinlauter: »Ja, Vater.«
»Und überlassen Sie die Sache mir.«

Page 227
»Ja, Vater.«
Ich bin nicht verantwortlich für die Verblendung meiner
Gemeindemitglieder. Ich habe ihn zu nichts angestiftet. Es
besteht keine Seelenverwandtschaft zwischen mir, der seine
niederen Instinkte beherrscht, und ihm, der sich in ihnen suhlt.
Und dennoch geht mir die Sache nicht mehr aus dem Kopf. Ein
Unglücksfall – ein achtlos fortgeworfenes Streichholz, eine
unbeachtete Kerze, ein Kurzschluß – auch solche Dinge können
Gottes Werk tun. Aber ich habe meinen Standpunkt deutlich
gemacht. Ich muß Vianne Rocher beschützen. Es liegt eine
bittere Ironie darin, Vater, etwas, das mir den Magen versäuert
und den Mund austrocknet. Jedesmal, wenn ich über den Platz
hinweg zu der rot-goldenen Markise hinüberschaue, die in der
Sonne glitzert, spüre ich ihr Lachen. Irgendwie hat sie es
geschafft, mich auszumanövrieren, Vater. Sie hat Muscat und
seine Frau benutzt, um mich zu ihrem Werkzeug zu machen. Sie
hat es geschafft, uns machtlos zu machen und daran zu hindern,
zu tun, was wir tun müssen, die Sache bei der Wurzel zu
packen, bevor sie uns übermannt.
Noch drei Wochen bis zu ihrem großen Fest. Mehr bleibt mir
nicht. Drei Wochen, um mir zu überlegen, wie ich sie aufhalten
kann. Ich habe in der Kirche gegen sie gepredigt, mit dem
einzigen Erfolg, mich selbst lächerlich gemacht zu haben.
Schokolade, hat man mir erklärt, habe nichts mit Moral zu tun.
Selbst die Clairmonts finden meine Unerbittlichkeit eher
merkwürdig; sie überschlägt sich vor gespielter Sorge, ich sei
überarbeitet, während er offen über mich grinst. Vianne Rocher
selbst kümmert sich überhaupt nicht um meine Einwände.
Anstatt sich anzupassen, trägt sie ihr Anderssein zur Schau,
grüßt mich frech quer über den Platz hinweg, fördert die
Schrullen von Leuten wie Armande und hat dauernd alle Kinder
um sich herum, die unter ihrem Einfluß immer ausgelassener

Page 228
werden. Selbst in einer großen Menschenmenge fällt sie sofort
auf. Andere gehen die Straße entlang – sie rennt. Ihr Haar, ihre
Kleidung; immer zerzaust, immer bunt – orange und gelb und
gepunktet und geblümt. Wenn sich ein Wellensittich in der
Wildnis unter die Spatzen mischte, würde er schon bald wegen
seines bunten Federkleids zerrissen. Aber hier wird sie mit
Wohlwollen akzeptiert, ja, man hat sogar Vergnügen an ihr. Was
anderswo Empörung auslösen würde, wird hier toleriert, denn
es ist ja nur Vianne. Selbst Clairmont erliegt ihrem Charme, und
seiner Frau ist sie nicht etwa ein Dorn im Auge, weil sie sich
moralisch überlegen fühlt, nein, Caro ist eifersüchtig, was nicht
gerade für sie spricht. Zumindest ist Vianne Rocher keine
Heuchlerin, die Gottes Wort mißbraucht, um ihren sozialen
Status zu erhöhen. Aber auch dieser Gedanke bedeutet eine
weitere Gefahr, denn er beinhaltet eine gewisse Sympathie
meinerseits, die sich ein Mann in meiner Position kaum leisten
kann. Ich darf keine Sympathie empfinden. Zuneigung ist
ebenso unangemessen wie Haß. Um der Gemeinde und der
Kirche willen muß ich unvoreingenommen sein. Nur der Kirche
und der Gemeinde bin ich zu Loyalität verpflichtet.
Mittwoch, 12. März
Seit Tagen haben wir nicht mehr mit Muscat gesprochen.
Nachdem Joséphine sich anfangs weigerte, das Haus zu
verlassen, traut sie sich inzwischen, allein zum Bäcker am Ende
der Straße oder zum Blumenladen auf der gegenüberliegenden
Seite des Dorfplatzes zu gehen. Da sie es nicht wagt, das Café
de la République zu betreten, habe ich ihr ein paar von meinen
Kleidern geliehen. Sie sieht hübsch aus in dem blauen Pullover
und dem geblümten langen Rock, die Farben verleihen ihr eine
jugendliche Frische. In den wenigen Tagen hat sie sich völlig
verändert; der stumpfe, feindselige Blick ist verschwunden,
ebenso die abwehrend geballten Fäuste. Sie wirkt größer,

Page 229
geschmeidiger, nicht mehr so unförmig wie zuvor, als sie
ständig mit eingezogenen Schultern herumlief und mehrere
Lagen Kleider übereinandertrug. Sie bedient im Laden,
während ich in der Küche arbeite, und ich habe ihr bereits
beigebracht, wie man die verschiedenen Schokoladensorten
mischt und anrührt und einfache Pralinen herstellt. Ihre Hände
sind flink und geübt. Lachend erinnere ich sie daran, mit welcher
Geschicklichkeit sie damals am ersten Tag die Mandeln hatte in
ihrer Tasche verschwinden lassen. Sie errötet.
»Ich würde Sie nie bestehlen!« Ihre Empörung ist echt.
»Vianne, Sie glauben doch nicht etwa, ich –«
»Natürlich nicht.«
»Sie wissen doch, ich –«
»Natürlich.«
Sie und Armande, die sich bisher kaum kannten, sind gute
Freundinnen geworden. Die alte Dame kommt jetzt jeden Tag in
den Laden, manchmal zum Plaudern, manchmal, um sich eine
Tüte von ihren Lieblingstrüffeln zu kaufen. Häufig ist sie in
Begleitung von Guillaume, der sie inzwischen regelmäßig
besucht. Heute war Luc auch hier, und die drei saßen
zusammen in einer Ecke mit einer großen Kanne Schokolade
und einem Teller voll Eclairs. Es waren immer wieder Gelächter
und freudige Ausrufe von der kleinen Runde zu hören.
Kurz vor Ladenschluß kam Roux herein. Er wirkte schüchtern
und verhalten. Zum erstenmal seit dem Brand sah ich ihn von
nahem, und ich war bestürzt darüber, wie sehr er sich verändert
hatte. Er wirkt schlanker, sein Haar ist mit Pomade streng aus
dem mürrischen Gesicht frisiert. An einer Hand trägt er einen
schmutzigen Verband. Die Spuren der Verbrennungen in
seinem Gesicht wirken jetzt wie ein schlimmer Sonnenbrand.
Er zuckte zusammen, als er Joséphine hinter der Theke sah.
»Verzeihung. Ich dachte, Vianne wäre –« Er wandte sich

Page 230
abrupt zum Gehen.
»Nein, bitte. Sie ist in der Küche.« Sie ist wesentlich lockerer
geworden, seit sie im Laden arbeitet, doch diesmal wirkte sie
verlegen. Vielleicht hatte seine Erscheinung sie
eingeschüchtert.
Roux zögerte.
»Sie sind die Frau aus dem Café«, sagte er schließlich. »Sie
sind …«
»Joséphine Bonnet«, unterbrach sie ihn. »Ich wohne jetzt
hier.«
»Ach.«
Als ich aus der Küche trat, sah ich, wie er sie mißtrauisch
betrachtete. Doch er verfolgte das Thema nicht weiter, und
Joséphine zog sich erleichtert in die Küche zurück.
»Schön, Sie zu sehen, Roux«, sagte ich. »Ich wollte Sie um
einen Gefallen bitten.«
»So?«
Er schafft es immer wieder, eine einzige Silbe bedeutungsvoll
klingen zu lassen. Diesmal war es höfliche Verblüffung,
Mißtrauen. Er wirkte wie eine nervöse Katze, die jederzeit zum
Angriff bereit ist.
»Es müssen ein paar Umbauarbeiten am Haus durchgeführt
werden, und ich dachte, Sie könnten vielleicht …«
Ich finde es schwierig, die richtigen Worte zu finden, denn ich
weiß, daß er alles ablehnen wird, was er als Almosen
betrachtet.
»Hat das vielleicht etwas mit unserer Freundin Armande zu
tun?« Sein Ton war zugleich beiläufig und hart. Er schaute zu
dem Tisch in der Ecke hinüber, an dem Armande, Luc und
Guillaume saßen. »Wir versuchen wohl wieder, heimlich Gutes
zu tun, wie?« sagte er sarkastisch.
Als er sich mir wieder zuwandte, war sein Gesicht

Page 231
ausdruckslos.
»Ich bin nicht hergekommen, um Sie um Arbeit zu bitten. Ich
wollte Sie fragen, ob Sie an dem Abend jemanden um mein
Boot haben schleichen sehen.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid, Roux. Ich habe niemanden gesehen.«
»Okay.« Er wandte sich erneut zum Gehen. »Vielen Dank.«
»Moment, warten Sie –« rief ich. »Wollen Sie nicht wenigstens
eine Tasse Schokolade mit mir trinken?«
»Ein andermal.« Sein Ton war schroff, beinahe grob. Ich
spürte, daß seine Wut eine Angriffsfläche suchte.
»Wir sind immer noch Ihre Freunde«, sagte ich, als er die Tür
erreichte. »Armande und Luc und ich. Seien Sie doch nicht so
abweisend. Wir wollen Ihnen helfen.«
Roux drehte sich mit einem Ruck um. Er starrte mich mit
wütend zusammengekniffenen Augen an.
»Das gilt für alle hier.« Er sprach mit leiser, haßerfüllter
Stimme, sein Akzent war so stark, daß seine Worte kaum zu
verstehen waren. »Ich brauche keine Hilfe. Ich hätte mich
überhaupt nie mit Ihnen einlassen sollen. Ich bin nur deswegen
immer noch hier, weil ich rausfinden will, wer mein Boot
abgefackelt hat. Und Sie sind nicht meine Freunde.«
Und dann war er verschwunden, wie ein wütender Bär
hinausgestapft, begleitet vom hellen Klingeln der Türglocke.
Als er weg war, sahen wir einander an.
»Rothaarige Männer«, sagte Armande mitfühlend. »Stur wie
die Esel.«
Joséphine wirkte erschüttert.
»Was für ein ungehobelter Kerl«, sagte sie schließlich. »Sie
haben sein Boot doch nicht angezündet. Welches Recht hat er,
seine Wut an Ihnen auszulassen?«
Ich zuckte die Achseln.

Page 232
»Er ist hilflos und wütend, und er weiß nicht, wer der Schuldige
ist«, sagte ich. »Das ist eine natürliche Reaktion. Und er glaubt,
wir würden ihm unsere Hilfe bloß anbieten, weil wir Mitleid mit
ihm haben.«
»Ich hasse Szenen«, sagte Joséphine, und ich wußte, daß sie
an ihren Mann dachte. »Ich bin froh, daß er weg ist. Glauben
Sie, er wird jetzt aus Lansquenet fortgehen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Das glaube ich nicht«, erwiderte ich. »Wo sollte er denn auch
hingehen?«
Donnerstag, 13. März
Gestern nachmittag bin ich nach Les Marauds
hinuntergegangen, um mit Roux zu reden, hatte aber
ebensowenig Erfolg wie beim letztenmal. Das verfallene Haus
ist von innen mit einem Vorhängeschloß gesichert, und die
Fensterläden sind geschlossen. Ich stelle mir vor, wie er sich mit
seiner Wut im Dunkeln verkriecht wie ein argwöhnisches Tier.
Ich rief seinen Namen, und ich wußte, daß er mich hörte, aber er
antwortete nicht. Ich wollte ihm eine Nachricht an der Tür
hinterlassen, überlegte es mir jedoch anders. Wenn er mich
sprechen will, dann muß er das von sich aus tun. Anouk war
mitgekommen; sie hatte ein Papierschiff dabei, das ich ihr aus
dem Umschlag einer Zeitschrift gebastelt hatte. Während ich vor
Roux’ Tür stand, ließ sie es im Fluß schwimmen und hielt es mit
einem langen, biegsamen Zweig davon ab, zu weit vom Ufer
abzutreiben. Als Roux nicht auftauchte, überließ ich Anouk ihrem
Spiel, um zum Laden zurückzugehen, wo Joséphine dabei war,
den Nachschub an Schokolade für diese Woche zuzubereiten.
»Nimm dich vor den Krokodilen in acht«, sagte ich ihr mit
ernster Miene.
Anouk grinste mich an. Ihre Spielzeugtrompete in der einen
und den langen Zweig in der anderen Hand, begann sie, laut

Page 233
Alarm zu blasen, während sie aufgeregt von einem Fuß auf den
anderen hüpfte.
»Krokodile! Die Krokodile greifen an!« krähte sie. »Macht die
Kanonen klar!«
»Vorsicht«, sagte ich. »Fall nicht ins Wasser.«
Mit theatralischer Geste warf sie mir einen Kuß zu und
konzentrierte sich wieder auf ihr Spiel. Als ich mich am oberen
Ende der steilen Straße noch einmal umdrehte, war sie gerade
dabei, die Krokodile mit Erdklumpen zu bombardieren, und ich
konnte immer noch das dünne Schmettern ihrer Trompete und
andere Schlachtgeräusche hören.
Komisch, daß das plötzliche Aufwallen von zärtlichen Gefühlen
mich immer wieder überrascht. Wenn ich angestrengt gegen
die Abendsonne blinzele, kann ich die Krokodile fast
ausmachen, die langen, weitaufgerissenen Mäuler im Wasser,
das Aufblitzen der Kanonen. Wie sie so zwischen den Häusern
herumläuft und das Rot und Gelb ihres Anoraks und ihrer Mütze
immer wieder aus den Schatten auftauchen, kann ich beinahe
die ganze Menagerie erkennen, die sie um sich versammelt hat.
Als sie bemerkt, daß ich ihr zusehe, winkt sie mir zu, ruft: Ich
hab dich lieb! und wendet sich wieder der ernsten
Angelegenheit ihres Spiels zu.
Am Nachmittag hatten wir geschlossen, und Joséphine und
ich arbeiteten hart, um genug Pralinen und Trüffel für den Rest
der Woche herzustellen. Ich habe bereits angefangen, die
Osterleckereien herzustellen, und Joséphine hat gelernt, die
Tierfiguren zu dekorieren und vorsichtig in Schachteln zu
verpacken, die sie mit bunten Schleifen zubindet. Der Keller ist
der ideale Lagerraum. Kühl, aber nicht so kalt, daß die
Schokolade den weißen Film bekommt, der entsteht, wenn man
sie im Kühlschrank aufbewahrt, dunkel und trocken. In Kartons
verpackt, können wir alle unsere Waren hier lagern und haben

Page 234
dabei immer noch Platz für Küchenvorräte. Der Boden ist mit
alten Feldsteinen gefliest, glatt und braun wie Eichenholz und an
den Füßen angenehm kühl. Von der Decke baumelt eine nackte
Glühbirne. Die Kellertür besteht aus rohem Kiefernholz, mit
einem Loch am unteren Rand für die längst verschwundene
Katze. Selbst Anouk mag den Keller, der nach Gemäuer und
altem Wein duftet, und sie hat mit bunter Kreide Figuren auf die
Steine und die geweißten Wände gemalt; Tiere und Schlösser
und Vögel und Sterne.
Heute morgen kamen Armande und Luc kurz nacheinander in
den Laden, um ein bißchen zu plaudern, dann gingen sie
gemeinsam fort. Sie treffen sich jetzt häufiger, nicht nur in
meinem Laden. Luc hat mir erzählt, daß er Armande letzte
Woche zweimal besucht und jedesmal eine Stunde in ihrem
Garten gearbeitet hat.
»Die B-Beete müssen hergerichtet werden, jetzt, w-wo das
Dach fertig ist«, erklärte er mir ernst. »Sie schafft die G-
Gartenarbeit nicht mehr so wie f-früher, aber sie sagt, sie will
dieses Jahr ein paar B-Blumen haben und nicht n-nur Unkraut.«
Gestern hat er eine Kiste mit Pflanzen aus Narcisse’
Gewächshaus mitgenommen und sie in die frisch umgegrabene
Erde entlang Armandes Gartenmauer gepflanzt.
»L-Lavendel und Pfingstrosen und Tulpen und Osterglocken«,
sagte er. »Am liebsten hat sie die bunten und die, d-die
besonders schön duften. S-Sie sieht nicht mehr so gut,
deswegen hab ich F-Flieder und Ginster und Stockrosen und s-
solche Blumen genommen, die nicht zu übersehen sind.« Er
lächelte schüchtern. »Ich m-möchte alles vor ihrem

Geburtstag f-fertig haben«, erklärte er.


Ich fragte ihn, wann Armandes Geburtstag sei.
»Am achtundzwanzigsten März«, sagte er. »Dann wird sie

Page 235
einundachtzig. Ich hab mir schon ein G-Geschenk überlegt.«
»So?«
Er nickte.
»Ich kaufe ihr einen seidenen Schlüpfer«, sagte er leicht
verlegen. »S-Sie mag Unterwäsche.«
Ich bemühte mich, ein Lächeln zu unterdrücken, und sagte ihm,
das sei eine gute Idee.
»Ich muß nach Agen fahren«, sagte er. »Und ich m-muß
aufpassen, daß meine Mutter nichts merkt, s-sonst bekommt sie
einen Anfall.« Plötzlich mußte er grinsen. »Vielleicht könnten wir
eine Geburtstagsparty für sie organisieren, wwissen Sie, um
ihren Eintritt ins n-nächste Jahrzehnt zu feiern.«
»Wir können sie ja mal fragen, was sie davon hält«, schlug ich
vor.
Um vier kam Anouk müde und glücklich und von Kopf bis Fuß
mit Schlamm bedeckt nach Hause, und Joséphine machte
Zitronentee, während ich das Badewasser einließ. Ich befreite
Anouk von ihren schmutzigen Kleidern und steckte sie in das
warme, nach Honig duftende Wasser. Anschließend setzten wir
uns gemeinsam an den Tisch und aßen pains au chocolat und
brioche mit Himbeermarmelade und dicke, süße Aprikosen aus
Narcisse’ Gewächshaus. Nachdenklich rollte Joséphine eine
Aprikose in ihrer Handfläche hin und her.
»Ich muß immer wieder an diesen Mann denken«, sagte sie
schließlich. »An den, der heute früh im Laden war, wissen Sie.«
»Roux.«
Sie nickte.
»Daß sein Boot abgebrannt ist –« sagte sie zögernd. »Sie
glauben nicht, daß das ein Unfall war, nicht wahr?«
»Er glaubt es nicht. Er sagt, es habe nach Benzin gerochen.«
»Was denken Sie, würde er tun, wenn er herausfinden würde«
– sie holte tief Luft –, »wer es getan hat?«

Page 236
Ich zuckte die Achseln.
»Ich weiß es wirklich nicht. Warum fragen Sie, Joséphine?
Können Sie sich vorstellen, wer das getan haben könnte?«
Hastig: »Nein. Aber wenn es jemand wüßte – und nicht sagen
würde –« Sie unterbrach sich gequält. »Würde er … ich meine
… was würde –«
Ich schaute sie an. Sie wich meinem Blick aus, rollte immer
noch die Aprikose in ihrer Hand. In ihren Gedanken sah ich
plötzlich Rauchwolken schimmern.
»Sie wissen, wer es war, nicht wahr?«
»Nein.«
»Hören Sie, Joséphine, wenn Sie etwas wissen –«
»Ich weiß überhaupt nichts«, sagte sie tonlos. »Ich wünschte,
es wäre anders.«
»Ist schon gut. Niemand macht Ihnen einen Vorwurf«, sagte
ich sanft.
»Ich weiß überhaupt nichts!« wiederholte sie mit schriller
Stimme. »Wirklich nicht. Außerdem hat er doch gesagt, er
würde von hier fortgehen, er ist nicht von hier, und er hätte nie
herkommen sollen und –« Sie schnitt den Satz mit einem
hörbaren Zähnezusammenbeißen ab.
»Ich hab ihn heute nachmittag gesehen«, sagte Anouk mit
vollem Mund. »Er hat mir sein Haus gezeigt.«
Ich schaute sie neugierig an.
»Er hat mir dir gesprochen?«
Sie nickte eifrig.
»Na klar. Er hat gesagt, nächstesmal baut er mir ein Boot, ein
richtiges aus Holz, eins, das nicht untergeht. Das heißt, wenn
die Bastarde es nicht auch abfackeln.« Sie gibt seine Sprache
treffend wieder. Seine Worte knurren und springen in ihrem
Mund. Ich wende mich ab, um mein Grinsen zu verbergen.
»Sein Haus ist cool«, fuhr Anouk fort. »Er hat ein Lagerfeuer

Page 237
mitten auf dem Teppich. Er hat gesagt, ich darf kommen, wann
ich will. Oh.« Erschrocken hielt sie sich die Hand vor den Mund.
»Er hat gesagt, solange ich dir nichts davon erzähle.« Sie
seufzte theatralisch. »Und jetzt hab ich’s dir doch erzählt,
stimmt’s, Maman?«
Ich nahm sie lachend in den Arm.
»Stimmt.«
Ich bemerkte, daß Joséphine höchst beunruhigt war.
»Ich finde, du solltest nicht in dieses Haus gehen, Anouk«,
sagte sie. »Du kennst diesen Mann doch gar nicht richtig.
Vielleicht ist er ja böse.«
»Ich glaube, sie kann ruhig zu ihm gehen«, sagte ich und
zwinkerte Anouk zu. »Solange sie es mir erzählt.«
Anouk zwinkerte zurück.
Heute war eine Beerdigung – jemand aus dem Altenheim Les
Mimosas ein Stück flußabwärts war gestorben –, und aus Angst
oder Respekt blieben die meisten Kunden weg. Die alte Dame
war vierundneunzig, erzählt Clothilde mir im Blumenladen, eine
Verwandte von Narcisse’ verstorbener Frau. Ich sah Narcisse,
der als Zugeständnis an den Anlaß eine schwarze Krawatte zu
seinem alten Tweedjackett trug, am Eingang der Kirche stehen.
Neben ihm Reynaud in seinem schwarzweißen Gewand, in der
einen Hand ein silbernes Kreuz, die andere gütig ausgestreckt,
um die Trauergäste zu begrüßen. Es kamen nur wenige.
Vielleicht ein Dutzend alte Frauen, von denen ich keine kannte;
eine wurde von einer blonden Krankenschwester in einem
Rollstuhl geschoben, einige waren so rundlich wie Armande,
andere hager mit der für sehr alte Menschen typischen, beinahe
durchsichtigen Haut, alle in Schwarz – schwarze Strümpfe und
Mäntel und Häubchen und Kopftücher –, manche mit
Handschuhen, andere hielten die bleichen, gefalteten Händen
vor die Brust gepreßt wie die Jungfrauen auf den Gemälden von

Page 238
Grünewald. Ich sah vor allem ihre Köpfe, als sie, dicht
zusammengedrängt und leise raunend, auf die Kirche zugingen;
hin und wieder ein kurzer, mißtrauischer Blick aus schwarzen
funkelnden Augen, aus der Sicherheit der Gruppe riskiert,
während die resolute, gutgelaunte Schwester am Schluß der
kleinen Prozession den Rollstuhl schob. Sie schienen nicht von
Trauer überwältigt. Die Frau im Rollstuhl hielt ein Gebetbuch in
einer Hand und begann mit hoher, zittriger Stimme zu singen,
als sie die Kirche betraten. Die anderen nickten Reynaud
stumm zu, und ein paar Frauen reichten ihm, bevor sie in der
Dunkelheit verschwanden, eine schwarz umrandete Karte, die
er während der Totenmesse vorlesen sollte. Der einzige
Leichenwagen des Dorfes kam ein bißchen zu spät. Durch die
Seitenfenster des Wagens konnte ich den Sarg sehen, der mit
einem schwarzen Tuch bedeckt und mit einem Blumengebinde
geschmückt war. Die dumpfen Töne der Totenglocke hallten
über den Dorfplatz. Dann begann die Orgel zu spielen, traurige,
lustlose Töne, wie Kiesel, die in einen Brunnen fallen.
Joséphine, die gerade ein Blech mit Schokoladenbaisers aus
dem Ofen genommen hatte, trat in den Laden und schüttelte
sich.
»Das ist ja schauerlich«, sagte sie.
Ich muß an das Krematorium denken, an die Orgelmusik – die
Toccata von Bach –, den billigen, glänzenden Sarg, den Duft
nach Bohnerwachs und Blumen. Der Pfarrer sprach den Namen
meiner Mutter falsch aus – Jean Roacher. Nach zehn Minuten
war alles vorbei.
Der Tod sollte ein Fest sein, hatte sie gesagt. Wie ein
Geburtstagsfest. Wenn meine Zeit gekommen ist, will ich in
die Luft gehen wie eine Rakete und wie eine Sternenwolke
vom Himmel regnen und hören, wie alle sagen: Aaah!
Am Abend des vierten Juli verstreute ich ihre Asche im Hafen.

Page 239
Auf dem Pier gab es ein Feuerwerk und Zuckerwatte für die
Kinder, Chinaböller wurden abgefeuert, und die Luft war erfüllt
von dem scharfen Geruch nach Kordit, dem Duft von
Grillwürstchen und fritierten Zwiebeln und dem fauligen Gestank
der Abfälle, die im Hafenwasser trieben. Es war das Amerika,
von dem sie immer geträumt hatte, ein Riesenrummel mit
zuckendem Neonlicht, lauter Musik und ausgelassen singenden
und sich drängelnden Menschenmengen, die ganze glitzernde,
sentimentale Geschmacklosigkeit, die sie so geliebt hatte. Ich
wartete bis zum Höhepunkt des Feuerwerks, und als der
Himmel ein einziges Meer aus Licht und Farbe war, ließ ich die
Asche langsam in den Luftstrom rieseln. Sie fiel in einem blau-
weiß-roten Farbenspiel. Ich hätte gern etwas gesagt, aber
anscheinend gab es nichts mehr zu sagen.
»Schauerlich«, wiederholte Joséphine. »Ich hasse
Begräbnisse. Ich gehe nie hin, wenn jemand beerdigt wird.«
Ich sagte nichts, sondern schaute still auf den leeren Platz
hinaus und lauschte der Orgelmusik. Zumindest spielten sie
nicht die Toccata. Jetzt wurde der Sarg in die Kirche getragen.
Er wirkte sehr leicht, die Männer gingen zügig und wenig
ehrfurchtsvoll über die Pflastersteine.
»Ich wünschte, wir wären nicht so nah bei der Kirche«, sagte
Joséphine unruhig. »Was sich dort abspielt, macht mich ganz
nervös.«
»In China gehen die Leute in Weiß zu Beerdigungen«, sagte
ich. »Sie verteilen in leuchtend rotes Papier gewickelte
Geschenke, das soll Glück bringen. Sie zünden
Feuerwerkskörper an. Sie plaudern und lachen und tanzen und
weinen. Und am Ende springen alle nacheinander über die Glut
des Scheiterhaufens, um den aufsteigenden Rauch zu segnen.«
Sie schaute mich neugierig an.
»Haben Sie auch schon mal in China gelebt?«

Page 240
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein. Aber wir haben in New York viele Chinesen
kennengelernt. Für sie war eine Beerdigung ein Fest, bei dem
das Leben des Verstorbenen gefeiert wurde.«
Joséphine wirkte skeptisch.
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie man den Tod feiern kann«,
sagte sie schließlich.
»Man feiert nicht den Tod«, erklärte ich ihr. »Man feiert das
Leben. Das ganze Leben. Selbst sein Ende.«
Ich nahm die Kanne mit der Schokolade von der
Warmhalteplatte und füllte zwei Tassen.
Nach einer Weile ging ich in die Küche, um zwei Baisers zu
holen, die noch warm und innen weich waren, und servierte sie
mit Sahne und gehackten Haselnüssen.
»Irgendwie ist es nicht recht, ausgerechnet jetzt«, sagte
Joséphine, doch sie aß trotzdem.
Es war schon fast Mittag, als die Trauergäste benommen und
in der Sonne blinzelnd die Kirche verließen. Die Pralinen und
Baisers waren alle fertig, die dunklen hatten wir etwas länger im
Backofen gelassen. Ich sah Reynaud wieder am Portal stehen.
Dann fuhren die alten Damen in ihrem Minibus ab – auf der
Seite stand in leuchtend gelben Buchstaben Les Mimosas –,
und auf dem Dorfplatz kehrte der Alltag wieder ein. Nachdem er
die Trauergäste verabschiedet hatte, kam Narcisse in den
Laden, völlig verschwitzt in seinem engen Hemdkragen. Als ich
ihm mein Beileid aussprach, zuckte er die Schultern.
»Ich hab sie eigentlich gar nicht gekannt«, sagte er
gleichgültig. »Eine Großtante von meiner verstorbenen Frau.
Sie war schon seit zwanzig Jahren in dem Sterbehaus. Sie war
geistig verwirrt.«
Das Sterbehaus. Ich sah, wie Joséphine das Gesicht verzog,
als das Wort ausgesprochen wurde. Im Grunde genommen ist

Page 241
es das, was sich hinter dem lieblich klingenden Namen Les
Mimosas verbirgt. Ein Haus, in dem man auf den Tod wartet.
Narcisse hält sich an die im Volksmund gebräuchliche
Bezeichnung. Die Frau war schon seit langem tot.
Ich schenkte Schokolade ein, dunkel und bittersüß.
»Möchten Sie ein Stück Kuchen?«
Er überlegte einen Moment lang.
»Lieber nicht, solange ich Trauer trage«, sagte er unsicher.
»Was für ein Kuchen ist es denn?«
»Bavaroise mit Caramelguß.«
»Vielleicht ein kleines Stück.«
Joséphine starrte aus dem Fenster auf den leeren Dorfplatz.
»Da ist dieser Mann schon wieder«, murmelte sie. »Der aus
Les Marauds. Er geht in die Kirche.«
Ich schaute aus der Tür. Roux stand direkt im Eingang von St.
Jérôme. Er wirkte erregt, trat nervös von einem Fuß auf den
anderen, die Arme fest um den Körper geschlungen, als sei ihm
kalt.
Irgend etwas stimmte nicht, dessen war ich mir plötzlich ganz
sicher. Irgend etwas Schlimmes war passiert. Dann sah ich, wie
Roux sich abrupt umdrehte und wieder auf meinen Laden
zukam. Er blieb kurz stehen, rieb sich den Nacken, sah sich
noch einmal nach allen Seiten um und kam dann fast auf die Tür
zugerannt, wo er mit gesenktem Kopf und unglücklich
schuldbewußtem Blick stehenblieb.
»Armande«, sagte er. »Ich glaube, ich habe sie getötet.«
Einen Moment lang starrten wir ihn alle an. Er machte eine
hilflose Geste mit den Händen, wie um schlimme Gedanken zu
verscheuchen.
»Ich wollte den Priester holen. Sie hat kein Telefon, und ich
dachte, er könnte vielleicht –« Er brach ab. Vor lauter Streß
sprach er so starken Dialekt, daß seine Worte kaum zu

Page 242
verstehen waren, die kehligen Laute hätten genausogut
Arabisch oder Spanisch oder verlan oder eine Mischung aus
allen dreien sein können.
»Ich konnte sehen, daß sie – sie hat mir gesagt, ich soll an
den Kühlschrank gehen – da hat sie ihre Medikamente drin –«
Die Aufregung ließ ihn erneut mitten im Satz abbrechen. »Ich
hab sie nicht angerührt. Ich hab sie noch nie angerührt. Ich
würde niemals –« Er spuckte die Worte mühsam aus, wie
abgebrochene Zähne. »Sie werden behaupten, ich hätte sie
überfallen, ich hätte sie berauben wollen. Aber das stimmt nicht.
Ich hab ihr einen Schluck Brandy gegeben, und da ist sie
einfach –«
Er verstummte. Ich sah, daß er Mühe hatte, die Fassung zu
wahren.
»Ist schon in Ordnung«, sagte ich ruhig. »Sie können mir alles
unterwegs erzählen. Joséphine kann hier im Laden bleiben.
Narcisse soll vom Blumenladen aus den Arzt rufen.«
Trotzig: »Ich gehe da nicht noch mal hin. Ich hab getan, was
ich konnte. Ich will nicht –«
Ich packte ihn am Arm und zog ihn mit mir.
»Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Ich brauche Ihre Hilfe.«
»Sie werden behaupten, es war meine Schuld. Die Polizei –«
»Armande braucht Sie. Los, kommen Sie schon!«
Auf dem Weg nach Les Marauds erfuhr ich den Rest der
Geschichte. Roux, der sich wegen seines Wutausbruchs am
vorangegangenen Tag in meinem Laden schämte, hatte
Armandes Tür offenstehen sehen und sich spontan
entschlossen, sie zu besuchen. Er fand sie halb bewußtlos in
ihrem Schaukelstuhl vor. Es gelang ihm, sie soweit
wachzurütteln, daß sie ein paar Worte flüstern konnte. Medizin
… Kühlschrank … Auf dem Kühlschrank stand eine Flasche
Brandy. Er füllte ein Glas und flößte ihr etwas von dem Brandy

Page 243
ein.
»Da ist sie einfach … in sich zusammengesunken. Ich konnte
sie nicht mehr wach bekommen.« Die Verzweiflung drang ihm
aus allen Poren. »Dann ist mir eingefallen, daß sie zuckerkrank
ist. Wahrscheinlich hab ich sie umgebracht, weil ich versucht
hab, ihr zu helfen.«
»Sie haben sie nicht umgebracht.« Ich war vom Laufen außer
Atem und hatte Seitenstiche. »Es wird alles gut werden.
Schließlich haben Sie rechtzeitig Hilfe geholt.«
»Was ist, wenn sie stirbt? Wer wird mir dann noch glauben?«
Panik machte seine Stimme heiser.
»Beruhigen Sie sich. Der Arzt wird gleich hiersein.«
Armandes Tür steht immer noch offen, eine Katze hat sich im
Türspalt zusammengerollt. Im Haus ist es still. Aus einem losen
Stück Dachrinne tropft Regenwasser. Ich sehe, wie Roux einen
kurzen, prüfenden Blick nach oben wirft: Das muß ich
reparieren. Er bleibt an der Tür stehen, als wartete er darauf,
hereingebeten zu werden.
Armande liegt auf dem Teppich vor dem Kamin, das Gesicht
matt und dunkel wie Waldpilze, die Lippen bläulich verfärbt.
Zumindest hat er sie in Seitenlage gebracht, ein Arm stützt Kopf
und Hals, um die Atemwege frei zu halten. Sie rührt sich nicht,
doch an einem leichten Beben ihrer Lippen sehe ich, daß sie
atmet. Ihre Stickarbeit liegt neben ihr, ihre Kaffeetasse ist zu
Boden gefallen, und der Kaffee hat einen kommaförmigen Fleck
auf dem Teppich gebildet. Die Szene ist seltsam profan, wie ein
Standbild aus einem Stummfilm. Ihre Haut fühlt sich kalt und
fischig an, ihre dunklen Augäpfel sind durch die Augenlider, die
so dünn sind wie eine Crêpe, deutlich zu erkennen. Unter ihrem
schwarzen Rock, der bis über die Knie hochgerutscht ist,
schauen rote Rüschen hervor. Eine Welle des Mitgefühls
überkommt mich beim Anblick ihrer arthritischen Knie in den

Page 244
schwarzen Strümpfen und dem bunten Seidenunterrock unter
ihrem farblosen Hauskleid.
»Und?« Die Angst läßt seine Stimme gereizt klingen.
»Ich denke, sie wird sich wieder erholen.«
In seinen dunklen Augen liegen Zweifel und Mißtrauen.
»Sie muß Insulin im Kühlschrank haben«, sage ich ihm. »Das
wird es sein, was sie gemeint hat. Holen Sie es, schnell!«
Sie bewahrt es bei den Eiern auf. Die Tupperdose enthält
sechs Ampullen Insulin und einige Einmalspritzen. Auf der
anderen Seite eine Schachtel Trüffel mit der Aufschrift La
Céleste Praline. Ansonsten hat sie kaum etwas Eßbares im
Haus; eine offene Dose Sardinen, ein Stück Pergamentpapier
mit einem Rest rillettes, ein paar Tomaten. Ich injiziere ihr das
Insulin in die Ellbogenvene. Ich beherrsche die Technik gut.
Während des letzten Stadiums der Krankheit, für die meine
Mutter so viele verschiedene Heilmethoden ausprobiert hatte –
Akupunktur, Homöopathie, Kreative Visualisierung –, griffen wir
schließlich auf das gute alte Morphium zurück, kauften es auf
dem Schwarzmarkt, wenn wir kein Rezept bekommen konnten.
Obwohl meine Mutter Drogen verabscheute, war sie zu einem
Zeitpunkt, als ihr Körper zu einem schweißtriefenden Tempel für
den Schwarzen Mann geworden war und die Wolkenkratzer von
New York wie eine Fata Morgana vor ihren Augen
verschwammen, dankbar für die erlösenden Spritzen.
Sie wiegt fast nichts in meinem Arm, ihr Kopf rollt willenlos hin
und her. Eine Spur Rouge auf ihren Wangen verleiht ihrem
Gesicht etwas Clownhaftes. Ich halte ihre kalten, steifen Hände
in den meinen, massiere ihre Finger.
»Armande. Wachen Sie auf. Armande.«
Roux beobachtet mich unruhig, sein Ausdruck eine Mischung
aus Hoffnung und Verwirrung. Ihre Finger fühlen sich in meiner
Hand an wie Schlüssel an einem Ring.

Page 245
»Armande«, wiederhole ich etwas schärfer, befehlend. »Sie
dürfen jetzt nicht schlafen! Sie müssen aufwachen!«
Da. Ein kaum wahrnehmbares Zittern.
»Vianne.«
Augenblicklich war Roux auf den Knien neben uns. Sein
Gesicht war aschfahl, aber seine Augen leuchteten.
»Sag’s noch einmal, du störrisches altes Weib!« Seine
Erleichterung war so groß, daß sie schmerzte. »Ich weiß, daß
du da bist, Armande. Ich weiß, daß du mich hören kannst!« Er
sah mich erwartungsvoll, beinahe lächelnd, an. »Sie hat doch
was gesagt, oder? Ich hab mir das nicht eingebildet, nicht
wahr?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Sie ist zäh«, sagte ich. »Und Sie haben sie rechtzeitig
gefunden, bevor sie ins Koma gefallen ist. Lassen Sie dem
Insulin Zeit zu wirken. Reden Sie weiter mit ihr.«
»Okay.« Dann fing er an zu reden, ein bißchen durcheinander,
atemlos, während er ihr Gesicht nach Anzeichen dafür
absuchte, daß sie das Bewußtsein wiedererlangte. Ich fuhr fort,
ihre Hände zu massieren, die ganz allmählich wärmer wurden.
»Du machst uns nichts vor, Armande, du alte Hexe. Du bist so
stark wie ein Pferd. Du könntest ewig leben. Außerdem hab ich
gerade erst dein Dach repariert. Du glaubst doch nicht etwa, ich
hätte das alles getan, damit deine Tochter ein anständiges
Haus erbt, oder? Ich weiß, daß du mir zuhörst, Armande. Ich
weiß, daß du mich hören kannst. Worauf wartest du noch? Willst
du, daß ich mich entschuldige? Okay. Ich entschuldige mich.«
Die letzten Worte hatte er fast geschrien, Tränen liefen ihm über
die Wangen. »Hast du gehört? Ich habe mich entschuldigt. Ich
bin ein undankbarer Bastard, und es tut mir leid. Und jetzt wach
endlich auf und –«
»… und ein lauter Bastard …«

Page 246
Er brach mitten im Satz ab. Armande lachte kaum merklich in
sich hinein. Ihre Lippen bewegten sich lautlos. Ihr Blick war
wach und klar. Roux hielt ihr Gesicht sanft in beiden Händen.
»Ich hab euch einen Schrecken eingejagt, was?« sagte sie
mit dünner, brüchiger Stimme.
»Nein.«
»Hab ich doch«, beharrte sie mit einem Ausdruck von
Genugtuung und Übermut.
Roux wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
»Sie hatten mir meine Arbeit noch nicht bezahlt«, sagte er mit
zitternder Stimme. »Ich hatte bloß Angst, ich würde mein Geld
nie kriegen.«
Armande gluckste vergnügt. Sie kam allmählich wieder zu
Kräften, und gemeinsam hoben wir sie in ihren Schaukelstuhl.
Sie war immer noch sehr blaß, ihr Gesicht eingesunken wie ein
fauler Apfel, aber ihre Augen waren klar. Roux schaute mich an;
zum erstenmal seit dem Brand lag keine mißtrauische
Wachsamkeit in seinem Blick. Unsere Hände berührten sich.
Einen Augenblick lang sah ich sein Gesicht im Mondlicht vor
mir, seine nackte Schulter im Gras, zarter Fliederduft stieg mir
in die Nase … Meine Augen weiteten sich vor Erstaunen. Roux
muß auch etwas gespürt haben, denn er wich verlegen zurück.
Hinter uns hörte ich Armande leise kichern.
»Ich habe Narcisse gebeten, den Arzt zu rufen«, sagte ich. »Er
wird jeden Augenblick hiersein.«
Armande schaute mich an. Ihr Blick war eindringlich, und nicht
zum erstenmal fragte ich mich, wie hellsichtig sie sein mochte.
»Dieser Totengräber kommt mir nicht ins Haus«, sagte sie.
»Sie können ihn gleich wieder dorthin zurückschicken, wo er
hergekommen ist. Ich hab es nicht nötig, mir von ihm
Vorschriften machen zu lassen.«
»Aber Sie sind krank«, protestierte ich. »Wenn Roux nicht

Page 247
zufällig gekommen wäre, hätten Sie sterben können.«
Sie warf mir einen spöttischen Blick zu.
»Vianne«, sagte sie geduldig. »So ist das nun mal mit alten
Leuten. Sie sterben. So ist das Leben. Es passiert jeden Tag.«
»Ja, aber –«
»Und ich gehe nicht in dieses Sterbehaus«, fuhr sie fort. »Das
können Sie denen von mir ausrichten. Niemand kann mich
zwingen, dorthin zu gehen. Ich lebe seit sechzig Jahren in
diesem Haus, und hier werde ich auch sterben.«
»Niemand wird Sie zu irgend etwas zwingen«, sagte Roux
bestimmt. »Sie haben Ihre Medizin nicht rechtzeitig genommen,
das ist alles. Nächstes Mal werden Sie schlauer sein.«
Armande lächelte.
»So einfach ist das nicht«, sagte sie.
Störrisch: »Warum nicht?«
Sie zuckte die Achseln.
»Guillaume weiß Bescheid«, erklärte sie ihm. »Ich habe mich
viel und lange mit ihm unterhalten. Er versteht das.« Sie klang
jetzt fast wieder normal, obwohl sie immer noch schwach war.
»Ich will diese Medizin nicht jeden Tag nehmen müssen«, sagte
sie ruhig. »Ich habe keine Lust, mich an tausend
Diätvorschriften zu halten. Ich will nicht von netten Schwestern
versorgt werden, die mit mir reden, als wäre ich im
Kindergarten. Ich bin achtzig Jahre alt, verdammt noch mal, und
wenn ich in meinem Alter nicht weiß, was ich will –«
Sie unterbrach sich abrupt.
»Wer ist das?«
Ihr Gehör funktioniert tadellos. Ich hatte es auch vernommen –
das Geräusch eines Wagens, der auf dem holprigen Weg
vorfuhr. Der Arzt.
»Wenn das dieser scheinheilige Quacksalber ist, sagen Sie
ihm, er verschwendet seine Zeit«, giftete Armande. »Sagen Sie

Page 248
ihm, es geht mir gut. Sagen Sie ihm, er soll sich jemand anders
zum Behandeln suchen. Ich will ihn nicht sehen.«
Ich schaute nach draußen.
»Es sieht so aus, als hätte er halb Lansquenet mitgebracht«,
sagte ich ruhig. Das Auto, ein blauer Citroën, platzte fast aus
den Nähten. Außer dem Arzt, einem bleichen Mann in einem
anthrazitfarbenen Anzug, sah ich Caroline Clairmont, ihre
Freundin Joline und Reynaud, die sich alle drei auf den Rücksitz
quetschten. Auf dem Beifahrersitz saß Georges Clairmont, der
schüchtern und verlegen dreinblickte, ein Ausdruck stillen
Protests. Ich hörte, wie die Wagentüren zugeschlagen wurden,
und über dem plötzlich einsetzenden Lärm vernahm ich
Carolines hysterisch-schrille Stimme.
»Ich hab’s ihr tausendmal gesagt! Stimmt’s George, ich hab’s
ihr gesagt! Keiner kann mir vorwerfen, ich hätte meine
Pflichten als Tochter vernachlässigt, ich tue alles für diese
Frau, und seht euch bloß an, was sie –«
Knirschen von Schritten auf den Pflastersteinen, dann eine
Kakophonie von Stimmen, als die ungebetenen Gäste die
Haustür öffnen.
»Maman? Maman? Halt durch, meine Liebe, ich bin’s! Ich
komme! Hier entlang, Monsieur Cussonnet, hier geht’s ins …
ach so, ja, Sie kennen sich ja aus, nicht wahr? Meine Güte, wie
oft habe ich ihr ins Gewissen geredet – ich habe gewußt, daß
so etwas passieren würde –«
Georges, der einen schwachen Protest versucht:
»Glaubst du wirklich, wir sollten uns einmischen, Caro,
Liebling? Ich meine, laß das doch den Doktor machen, oder?«
Joline, kühl und herablassend:
»Ich frage mich sowieso, was er hier zu suchen hatte –«
Reynaud, kaum hörbar:
»… hätte zu mir kommen sollen …«

Page 249
Ich spürte, wie Roux ganz steif wurde, noch bevor sie den
Raum betraten. Er sah sich nervös nach einem Fluchtweg um.
Doch es war zu spät. Zuerst kamen Caroline und Joline mit
ihren perfekten chignons, ihren Twinsets und Hermès-
Halstüchern, dicht gefolgt von Clairmont – dunkler Anzug und
Krawatte, ungewöhnlich für einen Arbeitstag in der
Holzhandlung, oder sollte sie ihn überredet haben, sich für den
Anlaß umzuziehen? –, dann der Arzt, der Priester. Wie in einer
Szene in einem Melodram blieben sie alle wie versteinert in der
Tür stehen, die Gesichter schockiert, ausdruckslos,
schuldbewußt, kummervoll, wütend … Roux starrte sie
hochmütig an, eine Hand verbunden, das feuchtklebrige Haar in
den Augen, ich stand bei der Tür, der Saum meines
orangefarbenen Rocks schlammbespritzt, und Armande, bleich,
aber gefaßt, saß vergnügt in ihrem Schaukelstuhl, ein
gefährliches Funkeln in den schwarzen Augen und einen Finger
gekrümmt wie eine Hexe …
»Aha. Die Geier sind eingetroffen.« Ihre Stimme klang
zugleich leutselig und bedrohlich. »Ihr habt es ziemlich eilig
gehabt, was?« Ein scharfer Blick zu Reynaud, der im
Hintergrund stand. »Sie hatten wohl gedacht, Sie würden
endlich Ihre Chance bekommen, wie?« sagte sie giftig. »Sie
haben wohl geglaubt, Sie könnten mir schnell Ihren Segen
erteilen, solange ich nicht bei Sinnen war, hä?« Sie stieß ein
ordinäres Lachen aus. »Pech gehabt, Francis. Ich bin noch nicht
reif für die letzte Ölung.«
Reynaud schaute verdrießlich drein.
»Das ist nicht zu übersehen«, sagte er. Ein kurzer Blick in
meine Richtung. »Ein Glück, daß Mademoiselle Rocher so …
geschickt ist … im Umgang mit Spritzen.« Seine Worte trieften
vor Häme.
Caroline war stocksteif, ihr Gesicht eine gequält grinsende

Page 250
Fratze.
»Maman, chérie, du siehst doch, was geschieht, wenn wir dich
dir selbst überlassen. Du hast uns alle zu Tode geängstigt.«
Armande wirkte gelangweilt.
»Die Zeit, die uns das alles kostet! Du hast uns völlig aus der
Fassung gebracht –« Lariflete sprang auf Armandes Knie,
während Caro redete, und die alte Frau streichelte die Katze
gedankenverloren. »Verstehst du jetzt, warum wir dir immer
wieder sagen –«
»Daß ich in diesem Sterbehaus besser aufgehoben wäre?«
beendete Armande den Satz trocken. »Wirklich, Caro. Du gibst
wohl niemals auf, was? Du bist genau wie dein Vater, weißt du
das? Dumm, aber hartnäckig. Das war eine seiner
liebenswürdigsten Charaktereigenschaften.«
Caroline wirkte verdrossen.
»Les Mimosas ist kein Sterbehaus, sondern ein Altenheim,
und wenn du es dir nur einmal ansehen würdest –«
»Sie flößen einem die Nahrung mit Schläuchen ein, und wenn
man mal zum Klo muß, wird man begleitet, damit man nicht
reinfällt …«
»Das ist doch lächerlich.«
Armande lachte.
»Meine Liebe, in meinem Alter kann ich mich lächerlich
machen, soviel es mir gefällt. Ich bin so alt, daß ich mir alles
leisten kann.«
»Du führst dich auf wie ein Kleinkind«, sagte Caro
eingeschnappt. »Les Mimosas ist ein sehr gutes, sehr
exklusives Seniorenheim. Du könntest dich dort mit Leuten in
deinem Alter unterhalten, an Ausflügen teilnehmen, alles würde
für dich geregelt –«
»Klingt ja phantastisch.« Armande schaukelte weiterhin
gemächlich in ihrem Stuhl. Caro wandte sich an den Arzt, der

Page 251
den Disput verlegen verfolgt hatte. Dem hageren, nervösen
Mann schien es peinlich zu sein, Zeuge dieses Familienzwists
zu werden. Er wirkte wie ein schüchterner Mann, der zufällig in
eine Orgie geraten war.
»Simon, sagen Sie es ihr!«
»Nun ja, ich weiß nicht, ob es mir zusteht –«
»Simon ist ganz meiner Meinung«, schnitt Caro ihm das Wort
ab. »In deinem Zustand und in deinem Alter kannst du einfach
nicht weiter allein leben. Stell dir das bloß mal vor, du könntest
jederzeit –«
»Ja, Madame Voizin.« Jolines Stimme klang freundlich und
vernünftig. »Sie sollten sich einmal überlegen, was Caro sagt …
ich meine, natürlich ist es verständlich, daß Sie Ihre
Unabhängigkeit nicht verlieren wollen, aber zu Ihrem eigenen
Nutzen und Frommen …«
Armandes Augen funkelten gereizt. Einen Moment lang starrte
sie Joline schweigend an. Joline wirkte zunächst entrüstet, dann
errötete sie und wich Armandes Blick aus.
»Raus hier«, sagte Armande leise. »Alle.«
»Aber Maman –«
»Alle«, wiederholte Armande kategorisch. »Dem Quacksalber
hier gebe ich zwei Minuten unter vier Augen – es scheint, als
müßte ich Sie noch mal an Ihren hippokratischen Eid erinnern,
Monsieur Cussonnet –, und bis ich mit ihm fertig bin, erwarte
ich, daß der Rest von euch Geiern verschwunden ist.« Mühsam
versuchte sie, sich aus ihrem Schaukelstuhl zu erheben. Ich
stützte sie am Arm, und sie schenkte mir ein gequältes,
spitzbübisches Lächeln.
»Danke, Vianne«, sagte sie sanft. »Ihnen auch –« Das war an
Roux gerichtet, der immer noch am anderen Ende des Zimmers
stand und ein gleichgültiges Gesicht machte. »Ich möchte mit
Ihnen reden, wenn der Doktor weg ist. Gehen Sie nicht fort.«

Page 252
»Mit mir?« Roux war nervös. Caro warf ihm einen unverhohlen
verächtlichen Blick zu.
»Maman, in einer solchen Situation, denke ich, sollte deine
Familie –«
»Wenn ich dich brauche, weiß ich, wo ich dich erreichen
kann«, sagte Armande spitz. »Ich werde jetzt ein paar
Vorkehrungen treffen.«
Caro sah Roux an.
»Ach so?« In ihrem Ton lag blanker Abscheu.
»Vorkehrungen?« Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß, und ich
sah, wie er leicht zusammenzuckte. Es war derselbe Reflex, den
ich bei Joséphine beobachtet hatte; ein leichtes Verkrampfen,
ein Einziehen der Schultern, die Fäuste tief in den
Hosentaschen, wie um eine kleinere Angriffsfläche zu bieten.
Unter diesem durchdringend prüfenden Blick wird jeder Makel
sichtbar. Einen Augenblick lang sieht er sich mit ihren Augen –
schmutzig, ungehobelt. Wie in einem perversen Reflex spielt er
die Rolle, die sie ihm zugedacht hat: »Was zum Teufel glotzen
Sie so blöd?«
Sie schaut ihn verblüfft an und weicht zurück. Armande grinst.
»Wir sehen uns später«, sagt sie zu mir. »Und vielen Dank
noch mal.«
Caro folgte mir sichtlich verärgert. Hin-und hergerissen
zwischen Neugier und ihrem Widerwillen, mit mir zu reden, gab
sie sich schroff und herablassend. In knapper Form schilderte
ich ihr, was vorgefallen war. Reynaud stand daneben und hörte
zu, sein Gesicht so ausdruckslos wie das der Heiligenfiguren in
seiner Kirche. Georges, um Diplomatie bemüht, lächelte
verlegen, gab hin und wieder Platitüden von sich.
Niemand bot mir an, mich nach Hause zu fahren.
Samstag, 15. März
Heute morgen bin ich noch einmal bei Armande Voizin

Page 253
gewesen, um mit ihr zu reden. Aber sie hat sich wieder
geweigert, mich ins Haus zu lassen. Ihr rothaariger Wachhund
öffnete die Tür, knurrte mich in seinem ungehobelten patois an
und stellte sich breit in den Türrahmen, um mich am Eintreten zu
hindern. Es gehe Armande gut, sagt er mir. Ein bißchen Ruhe,
und sie werde sich wieder vollständig erholen. Ihr Enkel sei bei
ihr, und ihre Freunde besuchen sie jeden Tag. Letzteres sagt er
mir mit einem Sarkasmus, der mir das Mark in den Knochen
gefrieren läßt. Armande will nicht gestört werden. Es widerstrebt
mir zutiefst, diesen Mann um etwas zu bitten, mon père, aber
ich kenne meine Pflicht. Egal, welche primitiven Individuen sie
ihre Freunde nennt, egal, wieviel Spott und Hohn sie mir
entgegenschleudert, meine Pflicht bleibt dieselbe. Zu trösten –
sogar dort, wo Trost abgelehnt wird – und auf den richtigen Weg
zu führen. Aber es ist unmöglich, mit diesem Mann über die
Seele zu reden – seine Augen sind so ausdruckslos und
gleichgültig wie die eines Tieres. Die zarte Seele, die heilige
Flamme im Innern des unwürdigen Fleisches, die durch ein
Leben in Sünde zerstört wird … Das ist unsere heiligste Pflicht,
Vater. Die Rettung der Seele ist das einzige, worum es uns
geht. Ich versuche, es ihm zu erklären. Armande ist alt, sage ich
ihm. Alt und störrisch. Es bleibt nur noch so wenig Zeit. Kann er
das denn nicht einsehen? Will er zusehen, wie sie sich durch
ihre Arroganz und Nachlässigkeit umbringt?
Er zuckt die Achseln.
»Es geht ihr gut«, sagt er mit einem Blick, der voller Abscheu
ist. »Niemand vernachlässigt sie. Sie wird sich wieder ganz
erholen.«
»Das stimmt nicht«, erwidere ich betont schroff. »Sie spielt
Russisches Roulette mit ihren Medikamenten. Sie weigert sich,
auf den Arzt zu hören. Sie ißt Schokolade, Herrgott noch mal!
Haben Sie sich überhaupt schon mal überlegt, was das in ihrem

Page 254
Zustand bedeutet? Warum –« Sein Gesichtsausdruck ist
plötzlich feindselig.
»Sie will Sie nicht sehen.«
»Ist Ihnen das denn gleichgültig? Macht es Ihnen nichts aus,
daß sie sich mit ihrer Völlerei umbringt?«
Er zuckt mit den Schultern. Ich spüre seinen Haß hinter der
dünnen Fassade scheinbarer Gleichgültigkeit. Es ist zwecklos,
an seinen guten Kern zu appellieren – er hält einfach nur
Wache, so wie es ihm aufgetragen wurde. Armande hat ihm
Geld angeboten, sagt Muscat. Vielleicht möchte er, daß sie
stirbt. Ich kenne ihren perversen Charakter. Ihre Familie zu
enterben und ihr Geld statt dessen einem dahergelaufenen
Fremden zu vermachen, das würde zu ihr passen.
»Ich warte«, sagte ich ihm. »Wenn es sein muß, den ganzen
Tag.«
Zwei Stunden lang wartete ich draußen im Garten. Dann fing
es an zu regnen. Ich hatte keinen Schirm, und meine Soutane
wurde immer schwerer, je mehr sie sich mit Feuchtigkeit
vollsaugte. Mir war schwindelig, und ich fühlte mich benommen.
Nach einer Weile wurde ein Fenster geöffnet, und der Duft nach
frischem Brot und Kaffee, der aus der Küche kam, machte mich
fast wahnsinnig. Ich sah, wie der Wachhund mich verächtlich
betrachtete, und ich wußte, selbst wenn ich ohnmächtig
zusammenbräche, würde er keinen Finger rühren, um mir zu
helfen. Als ich langsam den Hügel hinaufging, spürte ich seinen
Blick in meinem Rücken. Von irgendwoher jenseits des Flusses
meinte ich, jemanden lachen zu hören.
Auch bei Joséphine Muscat habe ich versagt. Obwohl sie sich
weigert, zur Messe zu gehen, habe ich mehrmals mit ihr
gesprochen, aber ohne Erfolg. Sie hat einen harten,
widerspenstigen Kern entwickelt, eine Art Trotz, obwohl ihr Ton
immer respektvoll und sanft bleibt, wenn wir miteinander reden.

Page 255
Sie wagt sich nie weit weg von dem Laden, La Céleste Praline,
und heute traf ich sie direkt vor der Ladentür. Sie war gerade
dabei, den Gehweg zu fegen, und sie hatte ihr Haar mit einem
gelben Tuch zusammengebunden. Während ich auf sie zuging,
hörte ich sie leise vor sich hin singen.
»Guten Morgen, Madame Muscat«, grüßte ich sie höflich. Ich
weiß, wenn ich sie zurückgewinnen will, dann nur mit Vernunft
und Freundlichkeit. Später, wenn unsere Arbeit getan ist, kann
sie immer noch bereuen.
Sie schenkte mir ein schmallippiges Lächeln. Sie wirkt jetzt
wesentlich selbstbewußter, ihre Haltung ist aufrecht, sie trägt
den Kopf hoch, wie sie es von Vianne Rocher abgeschaut hat.
»Ich heiße jetzt Joséphine Bonnet, Vater.«
»Nicht nach dem Gesetz, Madame.«
»Ach, das Gesetz.« Sie zuckte die Achseln.
»Gottes Gesetz«, sagte ich nachdrücklich und vorwurfsvoll.
»Ich habe für Sie gebetet, ma fille. Ich habe um Ihre Erlösung
gebetet.«
Darüber mußte sie lachen, wenn auch nicht boshaft.
»Dann sind Ihre Gebete erhört worden, Vater. Ich bin noch nie
in meinem Leben so glücklich gewesen.«
Sie scheint unerreichbar. Seit einer knappen Woche steht sie
unter dem Einfluß dieser Frau, und schon höre ich deren
Stimme aus Joséphines Worten. Das Lachen der beiden ist
unerträglich. Ihr Spott, ebenso wie Armandes, ein Stachel, der
mich rasend macht. Ich spüre bereits, wie etwas in mir darauf
reagiert, Vater, eine Schwäche, gegen die ich mich gefeit
glaubte. Wenn ich die chocolaterie auf der anderen Seite des
Platzes betrachte, das hell erleuchtete Schaufenster, die Kübel
mit den rosa-und orangefarbenen und roten Geranien auf den
Balkonen und links und rechts über der Tür, fühle ich, wie der
Zweifel sich in mein Herz schleicht, und mein Mund füllt sich mit

Page 256
der Erinnerung des Dufts von Sahne und Caramel und dem
berauschenden Aroma von Cognac und frisch gemahlenen
Kakaobohnen. Es ist der Duft von Frauenhaar, von zartem
Flaum im Nacken einer Frau, von reifen Aprikosen, von warmen
brioches und Zimtschnecken, von Zitronentee und
Maiglöckchen. Es ist der Duft von Räucherstäbchen, der sich im
Wind entfaltet wie das Banner des Aufruhrs. Der Stachel des
Teufels stinkt nicht nach Schwefel, so wie wir es als Kinder
gelernt haben, sondern wie ein betörendes Parfüm, vermischt
mit dem Duft von tausend Gewürzen, der einem den Kopf
verdreht und die Sinne benebelt. Manchmal stehe ich vor der
Kirche und halte meinen Kopf in den Wind, um einen Hauch von
diesem Duft zu erhaschen. Er verfolgt mich bis in meine
Träume, bis ich verschwitzt und ausgehungert aus dem Schlaf
fahre. In meinen Träumen esse ich bergeweise Schokolade,
wälze mich in Pralinen, und sie fühlen sich weich an wie
menschliches Fleisch, wie tausend Münder auf meinem Körper,
die mich mit tausend winzigen Bissen verschlingen. Unter ihrer
zärtlichen Gier zu sterben ist der Gipfel der Versuchung, und in
solchen Augenblicken kann ich beinahe verstehen, warum
Armande Voizin mit jedem Bissen ihr Leben riskiert …
Ich sagte beinahe.
Ich kenne meine Pflicht. Ich schlafe nur noch sehr wenig, denn
auch für diese Augenblicke der Zügellosigkeit habe ich mir
Buße auferlegt. Meine Gelenke schmerzen, aber ich begrüße
den Schmerz, der mich ablenkt. Körperliche Freuden sind die
Risse, in die der Teufel seine Wurzeln schlägt. Ich hüte mich vor
lieblichen Düften. Ich esse nur noch eine Mahlzeit am Tag, die
nur aus den einfachsten, fast geschmacklosen Zutaten besteht.
Wenn ich nicht gerade meinen Pflichten in der Gemeinde
nachgehe, arbeite ich auf dem Friedhof, grabe die Beete um
und jäte das Unkraut auf den Gräbern. Der Friedhof ist in den

Page 257
letzten beiden Jahren ziemlich vernachlässigt worden, und es
schmerzt mich zu sehen, was für ein Chaos sich in dem
ehemals gepflegten Garten ausgebreitet hat. Lavendel,
Majoran, Goldrute und Salbei wuchern zwischen Gräsern und
blauen Disteln. Außerdem irritieren mich so viele verschiedene
Gerüche. Ich möchte gepflegte Beete mit ordentlichen Reihen
von Blumen und Sträuchern, vielleicht eine Buchsbaumhecke
um den Friedhof herum. Der üppige Pflanzenwuchs scheint mir
unpassend, respektlos, ein wilder Überlebenskrieg, in dem die
eine Pflanze die andere erstickt, in einem vergeblichen Kampf
um die Vorherrschaft. In der Bibel steht, wir sollen uns die Erde
untertan machen. Doch ich fühle mich nicht stark genug. Was
ich empfinde, ist Hilflosigkeit, denn soviel ich auch umgrabe und
jäte und beschneide, das Unkraut ist immer schneller als ich,
die grüne Armee füllt die Lücken hinter meinem Rücken, noch
während ich arbeite, streckt ihre lange, grüne Zunge heraus zum
Spott über meine Bemühungen. Narcisse beobachtet mich mit
amüsierter Verachtung.
»Sie sollten lieber anfangen zu pflanzen, Vater«, sagt er.
»Füllen Sie die Lücken mit etwas, das Ihnen gefällt, sonst wird
das Unkraut es für Sie tun.«
Natürlich hat er recht. Ich habe hundert Pflanzen bei ihm
bestellt, bescheidene Gewächse, die ich in Reihen anordnen
werde. Ich mag die weißen Begonien und die Zwerglilien und
die blaßgelben Dahlien und die Osterglocken, die nicht duften,
aber so schöne, gekräuselte Blüten haben. Sie sind hübsch,
aber sie wuchern nicht, hat Narcisse mir versichert. Von
Menschenhand gezähmte Natur.
Vianne Rocher kommt herüber, um meine Arbeit zu
begutachten. Ich beachte sie nicht. Sie trägt einen
türkisfarbenen Pullover und Jeans und kurze, weinrote
Wildlederstiefel. Ihr Haar flattert im Wind wie eine Piratenflagge.

Page 258
»Sie haben einen schönen Garten«, sagt sie. Mit einer Hand
fährt sie über die Pflanzen; dann macht sie eine Faust und
bringt den geballten Duft an ihre Nase.
»So viele Kräuter«, sagt sie. »Zitronenmelisse und Minze und
Salbei –«
»Ich kenne ihre Namen nicht«, erwidere ich schroff. »Ich bin
kein Gärtner. Außerdem ist das alles nur Unkraut.«
»Ich mag Unkraut.«
Natürlich. Der Unmut ließ meinen Puls schneller gehen – oder
lag es am Duft? Als ich mich inmitten von kniehohem Gras
aufrichtete, knackten meine Lendenwirbel infolge der
ruckartigen Bewegung.
»Sagen Sie mir eins, Mademoiselle.«
Sie schaute mich lächelnd an.
»Sagen Sie mir, was Sie damit bezwecken, daß Sie meine
Gemeindemitglieder dazu anstacheln, ihr Leben zu entwurzeln,
ihre Sicherheit aufzugeben –«
Sie sah mich verblüfft an.
»Entwurzeln?« Sie warf einen Blick auf den Berg Unkraut am
Wegrand.
»Ich spreche von Joséphine Muscat«, raunzte ich.
»Ach so.« Sie pflückte einen Zweig Lavendel. »Sie war
unglücklich.«
Sie schien anzunehmen, das würde alles erklären.
»Und jetzt, wo sie ihr Ehegelübde gebrochen, alles
zurückgelassen hat, was sie besaß, jetzt, wo sie ihr altes Leben
aufgegeben hat, glauben Sie, wird sie glücklicher sein?«
»Natürlich.«
»Eine feine Philosophie«, höhnte ich, »falls Sie nicht an die
Sünde glauben.«
Sie lachte.
»Das tue ich nicht«, erwiderte sie. »Ich glaube überhaupt nicht

Page 259
daran.«
»Dann bedaure ich Ihr armes Kind«, sagte ich beißend.
»Ohne Gott und ohne Moral aufzuwachsen.«
Sie schaute mich nachdenklich mit zusammengekniffenen
Augen an.
»Anouk weiß, was Gut und Böse ist«, entgegnete sie, und da
wußte ich, daß ich endlich zu ihr vorgedrungen war. Ein kleiner
Punkt für mich. »Was Gott betrifft –« Sie brach den Satz ab.
»Ich glaube nicht, daß dieser weiße Kragen Ihnen das
Alleinrecht auf den Zugang zu Gott gibt«, sagte sie etwas
freundlicher. »Ich denke, es ist Platz genug da für uns beide,
meinen Sie nicht?«
Ich ließ mich zu keiner Antwort herab. Ihre gespielte Toleranz
ist allzu fadenscheinig.
»Wenn Sie wirklich die Absicht haben, Gutes zu tun«, erklärte
ich ihr würdevoll, »sollten Sie Madame Muscat zureden, sich
ihre voreilige Entscheidung noch einmal zu überlegen. Und
Armande Voizin zur Vernunft bringen.«
»Vernunft?« Sie tat so, als verstünde sie nicht, aber sie wußte
genau, was ich meinte.
Ich wiederholte noch einmal, was ich bereits diesem
Wachhund gesagt hatte. Armande sei alt, erklärte ich ihr.
Eigensinnig und störrisch. Aber Menschen ihrer Generation
seien wenig aufgeklärt in medizinischen Dingen. Armande
begreife nicht, wie wichtig es ist, eine Diät einzuhalten und
Medikamente regelmäßig einzunehmen – sie weigere sich
hartnäckig, den Tatsachen ins Auge zu sehen –
»Aber Armande ist glücklich und zufrieden.« Ihre Stimme
klang beinahe vernünftig. »Sie will ihr Haus nicht aufgeben und
in ein Altenheim ziehen. Sie will in ihren eigenen vier Wänden
sterben.«
»Dazu hat sie kein Recht!« Ich hörte meine Stimme wie eine

Page 260
Peitsche über den Platz knallen. »Diese Entscheidung steht ihr
nicht zu. Wer weiß, wie lange sie noch lebt, womöglich noch
zehn Jahre –«
»Das kann gut sein«, sagte sie mit ironischem Unterton. »Sie
ist immer noch sehr agil, geistig fit, unabhängig –«
»Unabhängig!« Es gelang mir kaum noch, meine Verachtung
zu verbergen. »Und wenn sie in einem halben Jahr stockblind
ist? Was macht sie dann?«
Zum erstenmal wirkte sie verwirrt.
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, sagte sie schließlich.
»Armandes Augen sind doch in Ordnung, oder? Ich meine, sie
trägt ja noch nicht mal eine Brille –«
Ich sah sie durchdringend an. Sie wußte es nicht. »Sie haben
sich noch nicht mit dem Arzt unterhalten, nicht wahr?«
»Warum sollte ich? Armande –«
Ich fiel ihr ins Wort. »Armande hat ein Problem«, erklärte ich
ihr. »Eines, das sie systematisch ignoriert. Da sehen Sie, wie
eigensinnig sie tatsächlich ist. Sie weigert sich, ihrer Familie
und sogar sich selbst gegenüber einzugestehen –«
»Bitte, sagen Sie’s mir.« Ihre Augen waren hart wie Achate.
Ich sagte es ihr.
Sonntag, 16. März
Armande tat zunächst so, als verstünde sie nicht. Dann
verlangte sie in einem selbstherrlichen Ton zu wissen, wer
»geplappert« habe, während sie mir gleichzeitig vorwarf, ich
mischte mich in Angelegenheiten ein, die mich nichts angingen,
und ich hätte außerdem sowieso keine Ahnung, wovon ich
sprach.
»Armande«, sagte ich, als sie schließlich eine Atempause
machte. »Reden Sie mit mir. Erklären Sie mir, was es bedeutet.
Diabetische Erkrankung der Netzhaut –«
Sie zuckte die Achseln. »Wenn dieser verdammte Doktor es

Page 261
schon im ganzen Dorf rumerzählt, kann ich’s Ihnen auch sagen.«
Sie wirkte gereizt. »Er behandelt mich, als könnte ich nichts
mehr für mich selbst entscheiden.« Sie sah mich durchdringend
an. »Und Sie sind auch nicht besser, Madame«, sagte sie.
»Bemuttern mich, mischen sich in meine Angelegenheiten ein
… Ich bin kein Kind, Vianne.«
»Das weiß ich.«
»Also gut.« Sie langte nach ihrer Teetasse. Ich sah, wie
vorsichtig sie sie anfaßte, sich vergewisserte, daß sie sicher
zwischen ihren Fingern lag, bevor sie sie anhob. Nicht sie,
sondern ich bin blind gewesen. Der Spazierstock mit der roten
Schleife, die vorsichtigen Schritte, die unfertige Stickarbeit, die
Augen stets durch die verschiedensten Hüte geschützt …
»Man kann mir sowieso nicht helfen«, sagte Armande etwas
freundlicher. »Soweit ich es verstanden habe, ist es unheilbar,
also geht es außer mir niemanden etwas an.« Sie trank einen
Schluck von ihrem Tee und verzog das Gesicht.
»Kamille«, sagte sie trocken. »Soll entgiftend wirken.
Schmeckt wie Katzenpisse.« Mit derselben Vorsicht stellte sie
die Tasse wieder ab.
»Das Lesen fehlt mir«, sagte sie. »Ich kann die Buchstaben
nicht mehr erkennen. Aber Luc liest mir manchmal was vor.
Wissen Sie noch, wie er mir an dem ersten Mittwoch ein
Gedicht von Rimbaud vorgelesen hat?«
Ich nickte.
»Sie sagen es so, als sei es Jahre her«, bemerkte ich.
»Ist es auch.« Ihre Stimme klang schwach, fast tonlos. »Ich
habe bekommen, was ich nie zu hoffen gewagt hatte. Mein
Enkel besucht mich jeden Tag. Wir reden miteinander wie
Erwachsene. Er ist ein guter Junge und so liebenswürdig, daß
er sich ein wenig um mich grämt.«
»Er liebt Sie, Armande«, unterbrach ich sie. »Wir alle lieben

Page 262
Sie.«
Sie lachte in sich hinein.
»Na ja, vielleicht nicht alle«, sagte sie. »Aber das ist nicht so
wichtig. Ich habe alles, was ich mir je gewünscht habe. Mein
Haus, meine Freunde, Luc …« Sie sah mich trotzig an. »Ich
werde mir nichts davon wegnehmen lassen«, erklärte sie
herausfordernd.
»Ich verstehe nicht recht. Es kann Sie doch niemand zwingen
–«
»Ich rede nicht von irgend jemandem«, unterbrach sie mich
scharf. »Cussonnet kann mir erzählen, was er will, über
Retinatransplantation und Lasertechnik und was weiß ich –«
Ihre Verachtung für solche Dinge war nicht zu überhören. »Aber
das ändert nichts an den Tatsachen. Die Wahrheit ist, daß ich
blind werde, und da ist wohl nichts dran zu machen.« Sie
verschränkte die Arme, wie um die Endgültigkeit ihrer Worte zu
unterstreichen.
»Ich hätte früher zu ihm gehen sollen«, sagte sie ohne
Bitterkeit. »Jetzt ist es nicht mehr heilbar und wird immer
schlimmer. Ein halbes Jahr gibt er mir höchstens, bis ich völlig
erblindet bin, dann kommt das Sterbehaus, ob’s mir gefällt oder
nicht, bis ich die Augen zumache.« Sie machte eine Pause.
»Womöglich lebe ich noch zehn Jahre«, sinnierte sie, als würde
sie wiederholen, was ich zu Reynaud gesagt hatte.
Ich öffnete den Mund, um sie zu beruhigen, um ihr zu sagen,
daß es vielleicht nicht so schlimm werden würde, wie sie es sich
vorstellte, schloß ihn jedoch wieder.
»Schauen Sie mich nicht so an.« Armande knuffte mich
aufmunternd mit dem Ellbogen. »Nach einem fünfgängigen
Menü will man Kaffee und Likör, stimmt’s? Da hat man doch
keine Lust, das Festmahl mit einer Schüssel Haferschleim zu
krönen, oder? Nur damit man noch einen Gang kriegt.«

Page 263
»Armande –«
»Unterbrechen Sie mich nicht.« Ihre Augen leuchteten. »Was
ich sagen will, ist, man muß wissen, wann man aufzuhören hat,
Vianne. Man muß wissen, wann man den Teller wegschieben
und den Likör bestellen muß. In vierzehn Tagen werde ich
einundachtzig –«
»Das ist doch kein Alter«, platzte ich heraus. »Ich kann es
nicht fassen, daß Sie einfach so aufgeben wollen!«
Sie sah mich an.
»Dabei sind Sie es doch gewesen, nicht wahr, die Guillaume
gesagt hat, er soll Charly seine Würde lassen.«
»Sie sind doch kein Hund!« erwiderte ich ärgerlich.
»Nein«, sagte Armande leise. »Und ich kann selbst für mich
entscheiden.«
New York ist eine unwirtliche Stadt, trotz all ihrer glitzernden
Verlockungen; bitterkalt im Winter und drückend heiß im
Sommer. Nach drei Monaten hat sogar der Lärm etwas
Vertrautes, man nimmt ihn nicht mehr wahr; Motorengedröhn,
menschliche Stimmen, Taxihupen verschmelzen zu einer
Geräuschkulisse, die wie Nieselregen über der Stadt liegt. Sie
kam aus einem Deli mit unserem Mittagessen in einer braunen
Papiertüte in den vor der Brust verschränkten Armen; ich lief ihr
entgegen, unsere Blicke begegneten sich über die stark
befahrene Straße hinweg, hinter ihr ein Plakat mit einer
Marlboro-Reklame; ein Mann vor rötlichen Felsen im
Hintergrund … Ich sah es kommen. Öffnete meinen Mund, um
ihr etwas zuzurufen, sie zu warnen … Erstarrte. Eine Sekunde
lang, mehr nicht, eine einzige Sekunde. War es die Angst, die
mir die Zunge lähmte? War es einfach die Trägheit des
Körpers, der sich mit einer plötzlichen Gefahr konfrontiert sieht,
die Ewigkeit, die der Körper braucht, um zu reagieren,
nachdem der Gedanke das Gehirn erreicht hat? Oder war es

Page 264
Hoffnung, die Art von Hoffnung, die entsteht, wenn alle Träume
zerplatzt sind und nichts geblieben ist als die Anstrengung, die
es kostet, den Anschein zu wahren?
Natürlich, Maman, natürlich fahren wir nach Florida. Ganz
bestimmt.
Ihr Gesicht, zu einem Lächeln erstarrt, in ihren Augen ein viel
zu helles Leuchten, so hell wie das Feuerwerk am vierten Juli.
Was würde ich tun? Was würde ich bloß tun, wenn ich dich
nicht hätte?
Ist schon gut, Maman. Wir schaffen es. Ich verspreche es dir.
Verlaß dich auf mich.
Der Schwarze Mann steht da und schaut ruhig zu, seine
zuckenden Mundwinkel zu einem Lächeln verzogen, und
während dieser endlosen Sekunde begreife ich, daß es
Schlimmeres gibt, viel Schlimmeres als den Tod. Dann ist die
Lähmung vorbei, und ich beginne zu schreien, aber der Warnruf
kommt zu spät. Sie wendet sich mir zu, ein Lächeln bildet sich
auf ihren bleichen Lippen – Was gibt’s, Liebes? –, und der
Schrei wird vom Kreischen der Bremsen verschluckt …
»Florida!« Es klingt wie ein Frauenname, der über die Straße
hallt, die junge Frau rennt quer durch den Verkehr, läßt ihre
Tüten mit den Einkäufen fallen – ein paar Lebensmittel, eine
Tüte Milch –, ihr Gesicht verzerrt. Es klingt wie ein Name, als
hieße die ältere Frau, die da auf der Straße stirbt, Florida, und
sie ist tot, bevor ich sie erreiche, ganz still und undramatisch, so
daß es mir beinahe peinlich ist, daß ich so ein Aufhebens
darum mache. Eine dicke Frau in einem rosafarbenen
Trainingsanzug legt ihre fleischigen Arme um mich, und was ich
vor allem empfinde ist Erleichterung, wie aus einer
aufgeschnittenen Eiterbeule laufen mir Tränen der Erleichterung
über die Wangen, bittere Erleichterung darüber, daß ich endlich

Page 265
am Ende angekommen bin. Unversehrt am Ende angekommen,
oder zumindest beinahe unversehrt.
»Weinen Sie nicht«, sagte Armande sanft. »Sie sind es doch,
nicht wahr, die immer sagt, Glück ist das einzige, was zählt?«
Verblüfft stellte ich fest, daß mein Gesicht naß war.
»Außerdem brauche ich Ihre Hilfe.« Pragmatisch wie immer,
reichte sie mir ein Taschentuch. Es duftete nach Lavendel. »Ich
werde an meinem Geburtstag eine Party geben«, verkündete
sie. »Lucs Idee. Kosten spielen keine Rolle. Ich möchte, daß
Sie für das Buffet sorgen.«
»Was?« Ich war verwirrt von diesem Wechselbad zwischen
Tod, Festessen und wieder Tod.
»Der letzte Gang meines Menüs«, erklärte Armande. »Bis
dahin werde ich wie ein braves Mädchen regelmäßig meine
Medizin nehmen. Ich werde sogar diesen scheußlichen Tee
trinken. Ich möchte meinen einundachtzigsten Geburtstag
zusammen mit allen meinen Freunden feiern, Vianne. Vielleicht
lade ich sogar meine bescheuerte Tochter ein. Wir werden Ihr
Schokoladenfest richtig stilvoll begehen. Und dann …« Ein
kurzes, gleichgültiges Achselzucken. »Nicht jeder hat das
Glück«, bemerkte sie. »Die Chance, alles genau zu planen, alle
Ecken auszufegen. Und noch was –« sie schaute mich
durchdringend an. »Kein Wort zu irgend jemandem«, sagte sie.
»Niemand darf etwas davon erfahren. Ich werde keine
Einmischung dulden. Es ist meine Entscheidung, Vianne. Meine
Party. Ich will nicht, daß irgend jemand auf meiner Party anfängt
zu weinen oder herumzujammern. Verstanden?«
Ich nickte.
»Versprochen?« Sie sprach mit mir wie mit einem
aufsässigen Kind.
»Versprochen.«
Zufriedenheit breitete sich auf ihrem Gesicht aus, wie immer,

Page 266
wenn sie von gutem Essen redete. Sie rieb sich die Hände.
»Dann werden wir jetzt das Menü planen.«

Page 267
Dienstag, 18. März
Joséphine fiel auf, wie still ich war, während wir gemeinsam in
der Küche arbeiteten. Wir haben schon dreihundert
Osterschachteln fertig, sauber im Keller gestapelt und mit
bunten Schleifen versehen, aber ich möchte doppelt so viele
machen. Wenn wir sie alle verkaufen, werden wir einen guten
Gewinn erzielen, vielleicht genug, um uns endgültig hier
niederzulassen. Wenn nicht – über diese Möglichkeit denke ich
nicht nach, obwohl die Wetterfahne mich von ihrem Turm aus
laut auslacht. Roux hat bereits mit der Arbeit an Anouks
Dachzimmer begonnen. Das Fest ist ein Risiko, aber unser
Leben ist schon immer von solchen Dingen bestimmt gewesen.
Und wir scheuen keine Mühe, um dem Fest zu einem Erfolg zu
verhelfen. Überall in den Nachbarorten, sogar in Agen habe ich
Plakate aufhängen lassen. In der Osterwoche wird täglich im
Radio für das Fest geworben. Es wird Musik geben – ein paar
alte Freunde von Narcisse haben eine Kapelle gegründet –,
Blumen und Spiele. Ich habe mit einigen der Händler
gesprochen, die donnerstags immer auf dem Markt stehen, und
es wird ein paar Stände auf dem Dorfplatz geben, wo man
Modeschmuck und Andenken kaufen kann. Wir werden eine
Ostereiersuche für die Kinder veranstalten, angeführt von Anouk
und ihren Freunden, und es gibt cornets surprise für jeden
Teilnehmer. Und im Schaufenster von La Céleste Praline wird
eine riesige Schokoladenstatue von Eostra stehen, in der einen
Hand einen Maiskolben und in der anderen einen Korb mit
Ostereiern, die an alle, die mit uns feiern, verteilt werden. Nur
noch zwei Wochen. Von den zarten Likörpralinen, den
Rosenblättern aus Schokolade, den in Goldfolie verpackten
Münzen, den kandierten Veilchen, den Kirschpralinen und den
Mandelsplittern machen wir jeweils fünfzig Stück und legen sie

Page 268
dann zum Auskühlen auf gefettete Bleche. Große Eier und
Tierfiguren aus Hohlschokolade werden vorsichtig geöffnet und
mit kleinen Pralinen und Trüffeln gefüllt. Es gibt Nester aus
gesponnenen Karamelfäden mit Zuckereiern, auf denen eine
dicke Schokoladenhenne thront; gescheckte Hasen, mit
gebrannten Mandeln gefüllt, stehen in Reih und Glied bereit, um
eingewickelt und in Schachteln verpackt zu werden; ganze
Herden von Marzipantieren marschieren über die Regalbretter.
Das gesamte Haus ist erfüllt vom Duft nach Vanille und Cognac
und karamelisierten Äpfeln und Bitterschokolade.
Und nun muß auch noch Armandes Party vorbereitet werden.
Das Festessen wird am Karsamstagabend um neun Uhr
beginnen, dem Vorabend des Schokoladenfests, und um
Mitternacht will sie ihren Geburtstag feiern. Ich habe eine Liste
mit allem, was sie aus Agen bestellen will – foie gras,
Champagner, Trüffel und frische chantrelles aus Bordeaux,
Meeresfrüchte vom Fischhändler in Agen. Für Kuchen und
Pralinen werde ich selbst sorgen.
»Das wird bestimmt eine tolle Party«, meint Joséphine
begeistert, als ich ihr von Armandes Vorhaben erzähle. Ich darf
das Versprechen nicht vergessen, das ich Armande gegeben
habe.
»Sie sind eingeladen«, erkläre ich ihr. »Das hat sie mir
ausdrücklich gesagt.«
»Das ist aber nett«, sagt Joséphine hocherfreut. »Alle sind so
nett zu mir.«
Erstaunlicherweise ist sie überhaupt nicht verbittert, sondern
stets bereit, die Freundlichkeit anderer anzunehmen. Selbst
Paul-Marie hat ihren Optimismus nicht zerstören können. Wie er
sich aufführt, sagt sie, sei teilweise ihre Schuld. Er habe einen
schwachen Charakter; sie hätte sich viel früher gegen ihn zur
Wehr setzen müssen. Für Caro Clairmont und ihre Freundinnen

Page 269
hat sie nur ein mitleidiges Lächeln übrig.
»Das sind doch dumme Gänse«, sagt sie bloß.
Welch schlichtes Gemüt. Sie ist jetzt vollkommen gelassen, im
Frieden mit sich und der Welt. Gleichzeitig stelle ich fest, daß
ich selbst immer weniger gelassen bin, wie aus einem
perversen Widerspruchsgeist heraus. Und dennoch beneide ich
sie. Es hat so wenig gebraucht, um sie so zufrieden werden zu
lassen. Ein bißchen Wärme, ein paar geliehene Kleider und die
Sicherheit eines eigenen Zimmers … Wie eine Blume wächst
sie auf das Licht zu, ohne nachzudenken oder den Prozeß ihrer
Veränderung zu analysieren. Ich wünschte, ich könnte das auch.
Mir fällt das Gespräch wieder ein, das ich am Sonntag mit
Reynaud geführt habe. Was ihn antreibt, ist mir nach wie vor ein
Rätsel. Neuerdings wirkt er beinahe verzweifelt, wenn er auf
dem Friedhof arbeitet, wenn er wie ein Wilder gräbt und hackt –
manchmal reißt er zusammen mit dem Unkraut die Blumen und
Sträucher gleich mit aus –, wenn ihm der Schweiß den Rücken
hinunterläuft, und ein dunkles Dreieck auf seiner Soutane
entsteht. Die harte Arbeit macht ihm keine Freude. Sein Gesicht
ist vor Anstrengung verzerrt. Es ist, als würde er die Erde
hassen, die er umgräbt, die Pflanzen, durch die er sich kämpft.
Er wirkt wie ein Geizhals, der gezwungen ist, Berge von
Geldscheinen in einen Ofen zu schaufeln; Gier, Abscheu und
unterdrückte Faszination liegen in seinem Blick. Und dennoch
gibt er nicht auf. Während ich ihn beobachte, flackert ein
vertrautes Gefühl der Angst in mir auf, doch ich bin mir nicht
sicher, wovor ich mich fürchte. Er ist wie eine Maschine, dieser
Mann, mein Feind. Wenn ich ihn ansehe, fühle ich mich seinen
prüfenden Blicken auf seltsame Weise ausgesetzt. Ich muß
meinen ganzen Mut aufbringen, um ihm in die Augen zu
schauen, ihn anzulächeln, mich unbefangen zu geben … doch
etwas in meinem Innern schreit und sträubt sich und versucht zu

Page 270
fliehen. Es ist nicht nur einfach das Schokoladenfest, das ihn so
in Rage versetzt. Das spüre ich so deutlich, als könnte ich seine
Gedanken lesen. Es ist meine Anwesenheit hier im Dorf, die ihn
aus der Fassung bringt. Für ihn bin ich eine lebende Schande.
Er beobachtet mich unauffällig während der Arbeit auf dem
Friedhof; sein Blick wandert immer wieder zu meinem Fenster
und dann wieder zurück, voll verstohlener Genugtuung. Seit
Sonntag haben wir nicht wieder miteinander gesprochen, und er
nimmt an, er hätte einen Pluspunkt gegen mich gewonnen.
Armande ist nicht wieder im Laden gewesen, und an seinen
Augen erkenne ich, daß er glaubt, er sei der Grund dafür. Soll er
es ruhig annehmen, wenn es ihn glücklich macht.
Anouk hat mir erzählt, daß er gestern in der Schule war. Er hat
den Kindern von der Bedeutung des Osterfests erzählt –
harmloses Zeug, und doch läuft mir bei der Vorstellung, daß
meine Tochter seinem Einfluß ausgesetzt ist, ein Schauer über
den Rücken –, hat ihnen eine Geschichte vorgelesen, ihnen
versprochen, wiederzukommen. Ich fragte Anouk, ob er mit ihr
gesprochen hätte.
»Na klar«, erwiderte sie vergnügt. »Er ist nett. Er hat gesagt,
ich darf ihn besuchen und mir die Kirche ansehen, wenn ich Lust
hab. Dann zeigt er mir den heiligen Franziskus und all die
Tiere.«
»Und, möchtest du hingehen?«
Anouk zuckte die Achseln.
»Mal sehen«, sagte sie.
Ich sage mir – in den frühen Morgenstunden, wenn alles
möglich scheint und meine Nerven kreischen wie die rostigen
Scharniere der Wetterfahne –, daß meine Ängste völlig
irrational sind. Was kann er uns schon anhaben? Wie könnte er
uns weh tun, wenn das in seiner Absicht liegt? Er weiß nichts. Er
kann nichts über uns wissen. Er hat keine Macht über uns.

Page 271
Natürlich hat er das, sagt die Stimme meiner Mutter in mir. Er
ist der Schwarze Mann.
Anouk wälzt sich unruhig im Schlaf hin und her. Feinfühlig, wie
sie ist, spürt sie, daß ich wach bin, und versucht, sich durch
einen Morast von Träumen zu kämpfen und auch aufzuwachen.
Ich atme ganz ruhig, bis sie wieder in Tiefschlaf versinkt.
Der Schwarze Mann ist nichts als Einbildung, sage ich mir
nachdrücklich. Eine Verkörperung von Ängsten, die sich hinter
einer Karnevalsmaske verbergen. Ein Schauermärchen. Ein
Schatten in einem fremden Zimmer.
Statt einer Antwort entsteht das Bild erneut vor mir, hell und
leuchtend wie ein Transparent: Reynaud am Bett eines alten
Mannes, seine Lippen bewegen sich, als betete er, hinter ihm
lodern Flammen wie Sonnenlicht in einem Kirchenfenster. Es ist
kein beruhigendes Bild. In der Haltung des Priesters liegt etwas
Raubtierhaftes, die beiden geröteten Gesichter haben eine
gewisse Ähnlichkeit, das dunkel glühende Licht der Flammen
wirkt bedrohlich. Ich versuche, meine psychologischen
Kenntnisse zu Hilfe zu nehmen. Der Schwarze Mann
symbolisiert den Tod, ein Archetyp, der meine Angst vor dem
Unbekannten widerspiegelt. Es überzeugt mich nicht. Der Teil in
mir, der immer noch zu meiner Mutter gehört, spricht deutlicher
zu mir.
Du bist meine Tochter, Vianne , sagt sie mir unerbittlich. Du
weißt, was es bedeutet.
Es bedeutet, daß wir weiterziehen müssen, wenn der Wind
sich dreht, daß wir die Zukunft aus den Karten lesen, daß unser
Leben eine permanente Flucht ist …
»Ich bin nichts Besonderes.« Unwillkürlich habe ich laut
gesprochen.
»Maman?« Anouks verschlafene Stimme.
»Schsch«, sage ich. »Es ist noch nicht Morgen. Schlaf noch

Page 272
ein bißchen.«
»Sing mir was vor, Maman«, murmelt sie und streckt in der
Dunkelheit einen Arm nach mir aus. »Sing noch mal das Lied
vom Wind.«
Also singe ich, lausche meiner eigenen Stimme, die von dem
leisen Quietschen der Wetterfahne begleitet wird;

V’là l’bon vent, v’là l’joli vent,


V’là l’bon vent, ma mie m’appelle,
V’là l’bon vent, v’là l’joli vent,
V’là l’bon vent, ma mie m’attend.
Nach einer Weile höre ich Anouk wieder regelmäßig atmen,
und ich weiß, sie ist wieder eingeschlafen. Ihre Hand liegt
immer noch in meiner, weich und schwer. Wenn Roux mit der
Arbeit am Dach fertig ist, wird sie wieder ihr eigenes Zimmer
haben, dann werden wir beide wieder ruhiger schlafen. Heute
nacht fühle ich mich allzusehr an all die Hotelzimmer erinnert, in
denen meine Mutter und ich geschlafen haben, umhüllt von der
Feuchtigkeit unseres eigenen Atems, die beschlagenen
Fenster, und draußen der stete Lärm des Straßenverkehrs.
V’là l’bon vent, v’là l’joli vent …
Diesmal nicht, verspreche ich mir im stillen. Diesmal bleiben
wir. Egal, was passiert. Aber noch während ich einschlafe,
fange ich unwillkürlich an, zu überlegen, wie es wäre.
Sehnsüchtig und voller Ungläubigkeit.
Mittwoch, 19. März
Neuerdings scheint im Laden von dieser Rocher weniger los
zu sein. Armande Voizin ist nicht mehr dagewesen, obwohl ich
sie mehrmals im Dorf gesehen habe. Sie hat sich wieder recht
gut erholt, bewegt sich mit forschen Schritten und ist kaum auf
ihren Stock angewiesen. Ich sehe sie häufig zusammen mit

Page 273
Guillaume Duplessis, der diesen mickrigen Welpen überallhin
mitnimmt, und Luc geht sie jeden Tag besuchen. Als sie erfuhr,
daß ihr Sohn Armande seit einiger Zeit heimlich besucht,
lächelte Caroline Clairmont gequält.
»Ich habe keinen Einfluß mehr auf ihn, Vater«, jammerte sie.
»Er war immer so ein guter Junge, so ein folgsames Kind, aber
jetzt –«
Mit theatralischer Geste schlug sie sich mit den manikürten
Händen vor die Brust.
»Ich habe ihm – auf die allersanfteste Art– erklärt, er hätte mir
sagen müssen, daß er seine Großmutter besucht –« Sie
seufzte. »Als hätte er annehmen müssen, ich hätte etwas
dagegen gehabt, der dumme Junge. Ich habe natürlich nichts
dagegen, habe ich ihm gesagt. Ich freue mich, daß ihr beiden
euch so gut versteht – schließlich wirst du eines Tages eine
Menge von ihr erben … Und plötzlich schreit er mich an, das
Geld würde ihn nicht im geringsten interessieren, und er hätte
mir nichts davon gesagt, weil er genau gewußt hätte, daß ich
ihm alles verderben würde, ich sei eine heuchlerische
Betschwester … Das sind ihre Worte, Vater, darauf würde ich
mein Leben verwetten –« Sie betupfte sich vorsichtig die
Augen, ängstlich darauf bedacht, ihr tadelloses Make-up nicht
zu verschmieren.
»Was habe ich nur falsch gemacht?« jammerte sie. »Ich habe
alles für diesen Jungen getan, er hat alles von mir bekommen.
Daß er sich jetzt so von mir abwendet, mir alles vor die Füße
wirft wegen dieser Frau …« Trotz der Tränen war ihre Stimme
hart. »Sie ist schlimmer als eine Giftschlange«, lamentierte sie.
»Sie können sich nicht vorstellen, was das für eine Mutter
bedeutet, Vater.«
»Oh, Sie sind nicht die einzige, die darunter leidet, daß
Madame Rocher sich überall mit gutgemeinten Ratschlägen

Page 274
einmischt«, sagte ich. »Sehen Sie sich doch bloß einmal an,
was sie alles in wenigen Wochen ausgelöst hat.«
Caroline schniefte.
»Gut gemeint! Sie sind wirklich zu liebenswürdig, Vater«,
höhnte sie. »Sie ist bösartig, lassen Sie sich das von mir
gesagt sein. Sie hätte meine Mutter beinahe umgebracht, sie
hat meinen Sohn gegen mich aufgehetzt …«
Ich nickte zustimmend.
»Ganz zu schweigen davon, daß sie die Ehe der Muscats
zerstört hat«, fuhr sie fort. »Ich kann mich nur wundern, wieviel
Geduld Sie immer wieder aufbringen, Vater.« Ihre Augen
funkelten haßerfüllt. »Es wundert mich, daß Sie Ihren Einfluß
noch nicht genutzt haben.«
Ich zuckte die Achseln.
»Ach, ich bin nur ein Dorfpfarrer«, erwiderte ich. »Ich besitze
keinen nennenswerten Einfluß. Ich kann etwas mißbilligen, aber
–«
»Sie können wesentlich mehr tun, als etwas zu mißbilligen«,
fauchte Caroline. »Wir hätten von Anfang an auf Sie hören
sollen, Vater. Wir hätten sie nie im Dorf dulden sollen.«
Ich hob die Schultern.
»Im nachhinein ist man immer schlauer«, sagte ich. »Wenn ich
mich recht erinnere, sind Sie anfangs auch gern in ihren Laden
gegangen.«
Sie errötete.
»Nun, wir könnten Sie unterstützen«, schlug sie vor. »Paul
Muscat, Georges, die Arnaulds, die Drous, die Prudhommes …
Wir könnten uns zusammentun. Noch mehr Verbündete suchen.
Wir könnten dafür sorgen, daß sich schließlich alle gegen sie
verschwören.«
»Aus welchem Grund? Die Frau hat kein Gesetz gebrochen.
Es wäre nichts als üble Nachrede, und am Ende hätten Sie

Page 275
nichts gewonnen.«
Caroline lächelte böse.
»Auf jeden Fall können wir ihr großartiges Fest ruinieren«,
sagte sie.
»Ach ja?«
»Natürlich.« Die Wut machte sie häßlich. »Georges kommt mit
vielen Leuten zusammen. Er ist sehr wohlhabend. Auch Muscat
hat einen gewissen Einfluß. Er hat mit vielen Leuten zu tun, und
er besitzt Überzeugungskraft. Im Gemeinderat zum Beispiel …«
Das stimmt. Ich muß an seinen Vater denken, den Sommer,
als die Zigeuner schon einmal hier waren.
»Wenn sie bei dem Fest Verluste macht – und wie ich höre,
hat sie bereits ziemlich viel in die Vorbereitungen investiert –,
dann wird sie vielleicht genötigt sein –«
»Vielleicht«, erwiderte ich freundlich. »Ich kann mich natürlich
nicht offiziell daran beteiligen. Es könnte einen … unchristlichen
Eindruck machen.«
An ihrem Gesichtsausdruck erkannte ich, daß sie mich genau
verstanden hatte.
»Selbstverständlich, Vater.« Ihre Stimme klingt eifrig und
gehässig. Einen Augenblick lang empfinde ich tiefe Verachtung
für sie, wie sie schnauft und schwitzt wie eine läufige Hündin,
aber mit Hilfe von solchen verabscheuungswürdigen
Werkzeugen gelingt es uns doch immer wieder, unser Werk zu
tun.
Sie, mon père, müßten das am besten wissen.
Freitag, 21. März
Das Dach ist fast fertig. Der Putz ist hier und da noch feucht,
aber das neue Fenster, rund und mit Messingbeschlägen wie
ein Bullauge, ist eingebaut. Morgen will Roux die Dielen
verlegen, und wenn sie abgezogen und versiegelt sind, können
wir Anouks Bett in ihr neues Zimmer räumen. Es gibt keine Tür,

Page 276
nur die Falltür und eine Leiter, die mit einem Dutzend Sprossen
zu ihr hinaufführt. Anouk ist schon ganz aufgeregt. Immer wieder
steigt sie auf die Leiter, steckt ihren Kopf durch die Falltür,
beobachtet Roux bei der Arbeit und gibt ihm Anweisungen.
Meistens jedoch ist sie bei mir in der Küche und sieht bei den
Ostervorbereitungen zu. Jeannot ist auch oft da. Dann sitzen sie
zusammen am Küchentisch und reden an einem Stück. Ich muß
sie bestechen, damit sie mich ab und zu in Ruhe lassen. Roux
ist seit Armandes Kollaps wieder ganz der alte, er pfeift
vergnügt vor sich hin, während er Anouks Zimmer den letzten
Schliff verpaßt. Er hat seine Arbeit sehr gut gemacht, bedauert
allerdings, daß er sein Werkzeug verloren hat. Das von
Clairmont gemietete sei minderwertig, sagt er. Er will sich so
bald wie möglich wieder eigenes Werkzeug besorgen.
»In Agen gibt es eine Werft, wo man gebrauchte Hausboote
bekommen kann«, erzählte er mir heute bei heißer Schokolade
und Eclairs. »Ich könnte mir einen alten Kahn kaufen und ihn
während der Wintermonate in Schuß bringen.«
»Wieviel Geld würden Sie denn dafür brauchen?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Erst mal vier-oder fünftausend Francs. Kommt drauf an.«
»Armande würde Ihnen das Geld bestimmt leihen.«
»Nein.« In dieser Frage ist er unerbittlich. »Sie hat schon
genug für mich getan.« Mit dem Zeigefinger fuhr er um den
Rand seiner Tasse. »Außerdem hat Narcisse mir einen Job
angeboten«, sagte er. »Vorerst im Gewächshaus, und später
bei der Weinlese, dann kommen die Kartoffeln, die Bohnen,
Gurken, Auberginen … Genug Arbeit, um mich bis November zu
beschäftigen.«
»Gut.« Ich freue mich, daß er seinen Enthusiasmus und seine
Zuversicht wiedergefunden hat. Er sieht auch wieder besser
aus, wirkt entspannter, ohne diesen feindseligen, mißtrauischen

Page 277
Blick, der sein Gesicht wie ein verwunschenes Haus
überschattete. Die letzten Nächte hat er auf Armandes Bitte hin
in ihrem Haus verbracht.
»Für den Fall, daß ich noch mal so einen Anfall habe«, sagt
sie ernst und wirft mir dabei hinter seinem Rücken einen
seltsamen Blick zu. Ob die Gefahr nur eingebildet ist, oder nicht,
ich bin froh, zu wissen, daß er bei ihr ist.
Ganz im Gegensatz zu Caro Clairmont. Sie kam am Mittwoch
morgen zusammen mit Joline Drou in den Laden, angeblich, um
über Anouk zu reden. Roux saß an der Theke und schlürfte
seinen Mokka. Joséphine, die sich immer noch vor Roux zu
fürchten scheint, war in der Küche dabei, Pralinen zu verpacken.
Anouk war noch beim Frühstücken und saß an der Theke, eine
gelbe Tasse chocolat au lait und ein halbes Croissant vor sich.
Die beiden Frauen schenkten Anouk ein honigsüßes Lächeln
und bedachten Roux mit einem verächtlichen Blick. Roux starrte
sie hochmütig an.
»Ich hoffe, wir kommen nicht ungelegen.« Jolines weiche,
geübte Stimme trieft vor Sorge und Mitgefühl. Dahinter verbirgt
sich jedoch nichts als Gleichgültigkeit.
»Überhaupt nicht. Wir sind gerade beim Frühstücken. Kann
ich Ihnen etwas anbieten?«
»Nein, nein. Ich frühstücke nie.«
Ein verschämter Blick zu Anouk hinüber, die jedoch mit ihrer
Schokolade beschäftigt war.
»Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten«, sagte Joline
betont freundlich. »Unter vier Augen.«
»Nun, das wäre sicherlich kein Problem«, erwiderte ich, »aber
ich bin sicher, daß das nicht nötig ist. Können Sie mir hier nicht
sagen, was Sie auf dem Herzen haben? Roux macht das
bestimmt nichts aus.«
Roux grinste, und Joline verzog das Gesicht.

Page 278
»Na ja, es ist ein bißchen delikat«, sagte sie.
»Sind Sie denn sicher, daß ich die Richtige bin, um darüber
zu reden? Ich hätte gedacht, daß Reynaud in solchen Dingen
viel –«
»Nein, ich möchte mich mit Ihnen unterhalten«, sagte Joline
steif.
»Ach so.« Höflich: »Worüber?«
»Es handelt sich um Ihre Tochter.« Sie lächelte gekünstelt.
»Wie Sie wissen, bin ich ihre Klassenlehrerin.«
»Das weiß ich.« Ich schenkte Roux noch eine Tasse Mokka
ein. »Was ist denn los? Kommt sie nicht mit? Hat sie
Probleme?«
Ich weiß ganz genau, daß Anouk keine Probleme hat. Seit sie
viereinhalb ist, liest sie ein Buch nach dem anderen. Ihr
Französisch ist tadellos, und seit unserer Zeit in New York
spricht sie auch fließend Englisch.
»Nein, nein«, versichert Joline mir eilig. »Sie ist ein sehr
gescheites Mädchen.« Sie schaut kurz zu Anouk hinüber, aber
meine Tochter ist mit ihrem Croissant beschäftigt. Weil sie sich
unbeobachtet glaubt, stibitzt sie eine Schokoladenmaus und
stopft sie in ihr Croissant, um ein pain au chocolat daraus zu
machen.
»Dann geht es wohl um ihr Betragen?« frage ich ohne
übertriebene Sorge. »Stört sie den Unterricht? Ist sie nicht
folgsam? Ist sie unhöflich?«
»Nein, nein. Natürlich nicht. Es ist nichts dergleichen.«
»Was ist es dann?«
Caro schaut mich säuerlich an.
»Curé Reynaud ist in dieser Woche mehrmals in der Schule
gewesen«, unterrichtet sie mich. »Er hat mit den Kindern über
die Bedeutung des christlichen Osterfests gesprochen und so
weiter.«

Page 279
Ich nickte ermunternd. Joline schenkte mir ein mitfühlendes
Lächeln.
»Nun, Anouk scheint« – ein erneuter Blick in Anouks Richtung
–, »nun ja, sie stört nicht gerade, aber sie hat ihm einige
äußerst seltsame Fragen gestellt.« Ihr Lächeln drückte tiefes
Mißfallen aus.
»Sehr seltsame Fragen«, wiederholte sie.
»Ach ja«, sagte ich leichthin. »Sie ist schon immer sehr
neugierig gewesen. Ich bin sicher, daß Sie es begrüßen, wenn
Schüler wißbegierig sind. Außerdem«, fügte ich schelmisch
hinzu, »wollen Sie mir doch wohl nicht erzählen, es gäbe
irgendein Thema, zu dem Monsieur Reynaud nicht fast jede
Frage beantworten könnte.«
Joline lächelte affektiert.
»Es irritiert die anderen Kinder, Madame«, sagte sie knapp.
»So?«
»Anscheinend hat Anouk ihnen erzählt, Ostern sei eigentlich
gar kein christliches Fest, und die Lehre von unserem Herrn« –
sie unterbrach sich verlegen – »und seiner Auferstehung stelle
einen Rückgriff dar auf eine Art Gott des Getreides, auf eine
Fruchtbarkeitsgöttin aus heidnischen Zeiten.« Sie lachte
gezwungen, aber ihre Stimme war kalt.
»Ja.« Ich streichelte Anouks Locken. »Sie ist ein sehr
belesenes Mädchen, nicht wahr, Nanou?«
»Ich hab ihn bloß nach Eostra gefragt«, sagte Anouk tapfer.
»Curé Reynaud sagt, keiner feiert heute mehr ihr Fest, aber ich
hab gesagt, wir schon.«
Ich verbarg mein Lächeln hinter einer Hand.
»Wahrscheinlich kann er das nicht verstehen, Liebes«, sagte
ich. »Am besten, du stellst ihm nicht mehr so viele Fragen, wenn
ihn das irritiert.«
»Es irritiert die Kinder, Madame«, sagte Joline.

Page 280
»Nein, das stimmt gar nicht«, konterte Anouk. »Jeannot sagt,
wir sollen ein Feuer anzünden, wenn das Fest kommt, und rote
und weiße Kerzen und alles. Jeannot sagt –«
Caroline unterbrach sie.
»Jeannot scheint ja eine Menge gesagt zu haben«, bemerkte
sie.
»Anscheinend kommt er ganz nach seiner Mutter«, sagte ich.
Joline wirkte beleidigt.
»Sie scheinen das alles nicht besonders ernst zu nehmen«,
sagte sie, wobei ihr das Lächeln verrutschte.
Ich zuckte die Achseln.
»Ich sehe das Problem nicht«, erwiderte ich freundlich.
»Meine Tochter beteiligt sich an der Klassendiskussion. Das ist
es doch, was Sie mir erzählen, nicht wahr?«
»Es gibt Themen, die dürften eigentlich gar nicht zur
Diskussion stehen«, fauchte Caro, und einen Moment lang sah
ich unter der pastellfarbenen Maske ihre Mutter in ihr, herrisch
und tyrannisch. Daß sie mal etwas Temperament zeigte,
machte sie mir sympathischer. »Manche Dinge sind eine Frage
d e s Glaubens, und wenn dieses Kind eine anständige
Erziehung genießen und die grundlegenden moralischen
Werte erlernen soll –« Verwirrt brach sie den Satz ab.
»Aber es liegt mir fern, Ihnen erzählen zu wollen, wie man ein
Kind großzieht«, fuhr sie tonlos fort.
»Gut«, sagte ich lächelnd. »Es würde mir widerstreben, mich
mit Ihnen zu streiten.«
Beide Frauen starrten mich verblüfft und angewidert an.
»Wollen Sie wirklich keine heiße Schokolade?«
Caros Blick wanderte sehnsüchtig über die Auslagen, die
Pralinen, Trüffel, Mandelsplitter und Nougatherzen, die Eclairs,
Florentiner, Likörkirschen und gebrannten Mandeln.
»Ein Wunder, daß dieses Kind keine faulen Zähne hat«, sagte

Page 281
sie spitz.
Anouk grinste und zeigte ihre Zähne. Daß sie makellos weiß
waren, schien Caros Mißmut noch zu vergrößern.
»Wir verschwenden hier nur unsere Zeit«, sagte Caro kühl zu
Joline. Ich sagte nichts, und Roux kicherte in sich hinein. In der
Küche hörte ich Joséphines kleines Kofferradio dudeln. Ein
paar Sekunden lang war nichts zu hören als die Musik, die
blechern von den Fliesen widerhallte.
»Komm, wir gehen«, forderte Caro ihre Freundin auf. Joline
wirkte unsicher, zögerte.
»Ich hab gesagt, wir gehen!« Mit einer ungehaltenen Geste
rauschte sie von dannen, Joline auf den Fersen. »Ich glaube
nicht, daß Sie sich darüber im klaren sind, was auf Sie
zukommt«, giftete sie zum Abschied, dann waren sie
verschwunden. Ihre spitzen Absätze klapperten auf den
Pflastersteinen, als sie den Platz überquerten.
Am nächsten Tag fanden wir das erste Flugblatt. Jemand
hatte es zusammengeknüllt auf die Straße geworfen, und
Joséphine hob es auf, als sie den Gehweg fegte, und brachte
es mit in den Laden. Eine maschinengeschriebene Seite, eine
Fotokopie auf rosafarbenem Papier, in der Mitte einmal
gefaltet. Es war ohne Angabe des Verfassers, doch der Stil
verriet, von wem der Text stammte.
Der Titel: OSTERN UND DIE RÜCKKEHR ZUM GLAUBEN.
Ich überflog die Zeilen. Der Inhalt entsprach weitgehend dem,
was die Überschrift nahelegte. Es ging um die Osterbotschaft,
um Läuterung, Sünde und die Bedeutung von Absolution und
Gebet. Doch etwa in der Mitte des Blattes war eine
fettgedruckte zweite Überschrift, die meine Aufmerksamkeit
erregte.
Die neuen Erweckungsprediger: Wie sie den Osterglauben
verfälschen.

Page 282
Es wird immer eine kleine Minderheit geben, die versucht,
unsere heiligen Traditionen zum persönlichen Vorteil
auszunutzen. Die Grußkartenindustrie. Die Supermarktketten.
V i el gefährlicher jedoch sind jene Elemente, die versuchen,
längst vergessene Traditionen wiederzubeleben und unseren
Kindern unter dem Deckmantel harmloser Spiele heidnische
Praktiken beibringen. Zu viele unter uns betrachten diese Dinge
als unschädlich und begegnen ihnen mit Toleranz. Warum sonst
hätte unsere Gemeinde es hinnehmen sollen, daß ausgerechnet
am Ostersonntag außerhalb unserer Kirche ein sogenanntes
Schokoladenfest stattfinden soll? Es ist ein Hohn auf alles, was
Ostern bedeutet. Wir fordern Sie auf, um unserer unschuldigen
Kinder willen dieses sogenannte Fest und alle ähnlichen
Veranstaltungen zu boykottieren.
KIRCHE statt SCHOKOLADE, das ist die WAHRE
OSTERBOTSCHAFT!!
»Kirche statt Schokolade.« Ich mußte laut lachen. »Das ist gar
kein schlechter Slogan, was?«
Joséphine schaute mich besorgt an.
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte sie. »Das scheint Sie
überhaupt nicht zu beunruhigen.«
»Warum sollte ich mich beunruhigen lassen?« fragte ich
achselzuckend. »Es ist doch nur ein Flugblatt. Ich bin mir
beinahe sicher, daß ich weiß, von wem das stammt.«
Sie nickte.
»Caro«, sagte sie nachdrücklich. »Caro und Joline. Das ist
genau ihr Stil. Dieses Gefasel über unschuldige Kinder.« Sie
schnaubte verächtlich. »Aber die Leute hören auf sie, Vianne.
Da werden es sich einige noch einmal überlegen, ob sie
kommen sollen oder nicht. Joline ist Lehrerin hier im Dorf. Und
Caro ist Mitglied des Gemeinderats.«

Page 283
»Wirklich?« Ich hatte gar nicht gewußt, daß es einen
Gemeinderat gab. Wichtigtuerische Frömmler mit einer
Vorliebe für jede Art von Klatsch. »Was können sie denn schon
tun? Alle Leute verhaften lassen?«
Joséphine schüttelte den Kopf.
»Paul ist auch im Gemeinderat«, sagte sie leise.
»Und?«
»Sie wissen ja, was er tun kann«, sagte Joséphine verzweifelt.
Mir fiel auf, daß sie unter Streß wieder in ihre alten
Angewohnheiten zurückfiel. Sie drückte ihre Daumen in ihr
Brustbein wie sie es anfangs getan hatte. »Er ist verrückt, das
wissen Sie doch. Er ist einfach –«
Gequält brach sie den Satz ab, die Fäuste vor der Brust
geballt. Wieder hatte ich den Eindruck, daß sie mir etwas
erzählen wollte, daß sie etwas wußte. Ich berührte ihre Hand,
versuchte, ihre Gedanken zu erreichen, konnte aber nicht mehr
erkennen als zuvor; Rauch, grau und fettig, vor einem roten
Himmel.
Rauch! Meine Hand klammerte sich um ihre. Rauch! Jetzt
wußte ich, was ich sah, konnte Einzelheiten erkennen; sein
Gesicht bleich und verschwommen in der Dunkelheit, sein
gehässiges, triumphierendes Grinsen. Sie schaute mich
schweigend an.
»Warum haben Sie es mir nicht gesagt?« fragte ich
schließlich.
»Sie können es nicht beweisen«, sagte Joséphine. »Und
außerdem habe ich Ihnen überhaupt nichts gesagt.«
»Das brauchten Sie nicht. Ist das der Grund, warum Sie sich
vor Roux fürchten? Wegen dem, was Paul-Marie getan hat?«
Sie reckte trotzig das Kinn vor.
»Ich fürchte mich nicht vor ihm.«
»Aber Sie weigern sich, mit ihm zu reden. Sie trauen sich

Page 284
nicht einmal, sich im selben Raum aufzuhalten wie er. Sie
können ihm nicht in die Augen sehen.«
Joséphine verschränkte die Arme vor der Brust wie eine Frau,
die nichts mehr zu sagen hat.
»Joséphine?« Ich drehte ihr Gesicht zu mir, zwang sie, mich
anzusehen. »Joséphine?«
»Na gut.« Ihre Stimme klingt schroff. »Ich hab’s gewußt, okay?
Ich wußte, was Paul vorhatte. Ich hab ihm gesagt, ich würde ihn
verraten, wenn er irgendwas versuchte, und ich hätte sie
gewarnt. Da hat er mich verprügelt.« Sie warf mir einen giftigen
Blick zu, ihr Gesicht verzerrt von unvergossenen Tränen. »Ich bin
also ein Feigling«, sagte sie tonlos. »Jetzt wissen Sie, was ich
für eine bin, ich bin nicht so mutig wie Sie, ich bin eine Lügnerin
und ein Feigling, und ich hab ihn nicht aufgehalten. Jemand
hätte dabei umkommen können, Roux hätte sterben können,
oder Zézette oder ihr Baby, und es wäre alles meine Schuld
gewesen!« Sie holte tief und mühsam Luft.
»Sagen Sie es ihm nicht«, bat sie. »Ich könnte es nicht
ertragen.«
»Ich werde es ihm nicht sagen«, erwiderte ich sanft. »Das
werden Sie tun.«
Sie schüttelte heftig den Kopf.
»Nein, das mach ich nicht. Das kann ich nicht.«
»Ist schon gut, Joséphine«, beruhigte ich sie. »Es war nicht
Ihre Schuld. Und es ist niemand umgekommen, oder?«
Trotzig: »Das kann ich nicht.«
»Roux ist nicht wie Paul«, sagte ich. »Er ist Ihnen ähnlicher,
als Sie glauben.«
»Was soll ich ihm denn sagen?« Sie rang verzweifelt die
Hände. »Ich wünschte, er würde einfach verschwinden«, sagte
sie wütend. »Ich wünschte, er würde sein Geld nehmen und
woanders hingehen.«

Page 285
»Nein, das stimmt nicht«, sagte ich. »Außerdem wird er
sowieso nicht gehen.« Ich erzählte ihr, was Roux mir über den
Job bei Narcisse und das Boot in Agen berichtet hatte. »Er hat
es wenigstens verdient zu erfahren, wer ihm das angetan hat«,
beharrte ich. »Dann wird er begreifen, daß allein Muscat
schuldig ist und daß niemand sonst im Dorf ihn haßt. Das
müßten Sie doch verstehen, Joséphine. Sie wissen doch selbst,
wie man sich in einer solchen Situation fühlt.«
Joséphine seufzte.
»Aber nicht heute«, sagte sie. »Ich werd’s ihm sagen, aber ein
andermal. In Ordnung?«
»Es wird nicht leichter, wenn Sie es vor sich herschieben«,
warnte ich sie. »Möchten Sie, daß ich mit Ihnen komme?«
Sie starrte mich an.
»Nun, er wird bald eine Pause einlegen müssen«, erklärte ich.
»Sie könnten ihm eine Tasse Schokolade bringen.«
Schweigen. Ihr Gesicht war bleich und ausdruckslos. Ihre
Hände zitterten. Ich nahm einen Trüffel aus einer Schale und
steckte ihn in ihren halboffenen Mund, bevor sie Zeit hatte,
etwas zu sagen.
»Das wird Ihnen Mut machen«, sagte ich und drehte mich um,
um eine große Tasse mit Schokolade zu füllen. »Also los,
beißen Sie zu.« Ich hörte ein winziges Geräusch, wie ein halbes
Lachen. Ich reichte ihr die Tasse. »Sind Sie bereit?«
»Ich glaub schon«, sagte sie mit vollem Mund. »Ich werd’s
versuchen.«
Ich las noch einmal das Flugblatt, das Joséphine auf der
Straße gefunden hatte. Kirche statt Schokolade. Eigentlich
ziemlich lustig. Der Schwarze Mann hat endlich seinen Sinn für
Humor entdeckt.
Obwohl ein kräftiger Wind wehte, war es warm draußen. Die
Dächer in Les Marauds schimmerten im Sonnenlicht. Langsam

Page 286
spazierte ich zum Tannes hinunter und genoß die Sonne auf
meinem Rücken. Die Vorboten des Frühlings sind da, und in
den Gärten und an den Straßenrändern blühen mit einemmal
Narzissen, Iris und Tulpen. Selbst die windschiefen Häuser von
Les Marauds sind mit lustigen Farbtupfern gesprenkelt,
allerdings sind die ehemals gepflegten Gärten alle verwildert;
auf einem Balkon, der über den Fluß hinausragt, blüht ein
Holunderstrauch, ein Dach ist über und über mit gelbem
Löwenzahn bedeckt, aus Mauerritzen lugen kleine Veilchen.
Veredelte Gartengewächse haben sich in ihre Wildformen
zurückentwickelt; kleine, feinstielige Geranien wuchern zwischen
Schierlingsdolden, überall haben sich Mohnblumen ausgesät
und durch Kreuzungen ihr ursprüngliches Rot über Orange in
eine ganz blasse Malvenfarbe verwandelt. Nur wenige Tage
Sonnenschein reichen aus, um sie aus ihrem Winterschlaf zu
wecken; nach dem Regen richten sie sich auf und recken die
Köpfe dem Licht entgegen. Man braucht nur eine Handvoll von
diesem angeblichen Unkraut auszurupfen, und man findet
Salbei und Iris, Nelken und Lavendel zwischen Rüben und
Kreuzkraut. Ich ging lange genug am Ufer spazieren, um
Joséphine und Roux Zeit zu lassen, miteinander ins reine zu
kommen, dann wanderte ich langsam durch die kleinen Gassen
zurück, die Ruelle des Frères de la Révolution hinauf, und
dann die Avenue des Poètes, eine enge, düstere Gasse
zwischen beinahe fensterlosen Fassaden, aufgelockert nur von
den von Balkon zu Balkon gespannten Wäscheleinen und hier
und da einem Blumenkasten mit wildwuchernden Wicken.
Ich traf sie gemeinsam im Laden an, eine halbleere Kanne
Schokolade zwischen sich auf der Theke. Joséphine hatte
verweinte Augen, wirkte jedoch erleichtert, beinahe glücklich.
Roux lachte gerade über etwas, das sie gesagt hatte, sein
Lachen klang seltsam und ungewohnt, fremdartig, weil es so

Page 287
selten zu hören ist. Einen Augenblick lang war ich beinahe
eifersüchtig, dachte: Die beiden gehören zusammen.
Später, als Joséphine fortgegangen war, um ein paar
Besorgungen zu machen, sprach ich mit Roux. Er achtet
sorgfältig darauf, nichts Indiskretes über sie zu sagen, doch
seine Augen funkeln, als wollte jeden Augenblick ein Lächeln
hervorbrechen. Anscheinend hatte er Muscat bereits im
Verdacht gehabt.
»Es war gut, daß sie diesen Bastard sitzengelassen hat«,
sagt er mit unverhohlener Verachtung. »Was dieser Kerl ihr
angetan hat –« Einen Augenblick lang wird er verlegen, schiebt
seine Tasse auf der Theke hin und her. »So ein Mann hat es
nicht verdient, eine Frau zu haben«, brummt er. »Der hat keine
Ahnung, was für ein Glück er hat.«
»Was werden Sie tun?« frage ich ihn.
Er zuckt die Achseln.
»Es gibt nichts zu tun«, erwidert er trocken. »Er wird alles
leugnen. Die Polizei interessiert sich nicht für den Fall.
Außerdem bin ich sowieso nicht darauf erpicht, mit denen zu tun
zu haben.«
Er geht nicht weiter auf das Thema ein. Ich nehme an, daß es
in seiner Vergangenheit Dinge gibt, die besser nicht ans Licht
kommen.
Seitdem haben Joséphine und er viele lange Gespräche
geführt. Sie bringt ihm Schokolade und Kuchen, wenn er Pause
macht, und oft höre ich sie zusammen lachen. Ihr furchtsamer,
abwesender Blick ist verschwunden. Mir fällt auf, daß sie sich
sorgfältiger kleidet. Heute morgen verkündete sie sogar, sie
wolle ins Café gehen, um ein paar Sachen abzuholen.
»Ich komme mit«, schlug ich vor.
Joséphine schüttelte den Kopf.
»Ich schaff das schon allein.« Sie wirkte glücklich, beinahe

Page 288
hochgestimmt über ihre Entscheidung. »Außerdem sagt Roux,
wenn ich mich Paul nicht stelle –« Sie brach verlegen ab. »Ich
wollte einfach noch mal rübergehen, das ist alles«, sagte sie
störrisch. Ihre Wangen waren gerötet. »Ich hab noch Bücher,
Kleider … Ich will meine Sachen holen, bevor Paul auf die Idee
kommt, alles wegzuschmeißen.«
Ich nickte.
»Wann wollen Sie denn rübergehen?«
Ohne zu zögern: »Am Sonntag. Dann ist er in der Kirche.
Wenn ich Glück hab, bin ich wieder weg, bevor er zurückkommt.
Ich brauche nicht lange.«
Ich sah sie an.
»Sind Sie sicher, daß Sie allein gehen wollen?«
Sie nickte.
»Es wäre irgendwie nicht richtig.«
Ich mußte über ihren entschlossenen Gesichtsausdruck
lächeln, aber ich wußte, was sie meinte. Es war sein Territorium
– ihr Territorium –, auf unsichtbare Weise markiert mit den
Spuren ihres gemeinsamen Lebens. Ich hatte dort nichts zu
suchen.
»Ich schaff das schon.« Sie lächelte. »Ich weiß, wie ich mit ihm
umgehen muß, Vianne. Ich hab das schon öfter überstanden.«
»Ich hoffe, daß es dazu nicht kommen wird.«
»Das wird es nicht.« Sie nahm meine Hand, wie um mich zu
beruhigen. »Ich verspreche es.«
Sonntag, 23. März
Palmsonntag
Das Läuten der Glocken hallt dumpf von den geweißten
Wänden der Häuser und Läden wider. Selbst die Pflastersteine
vibrieren; ich spüre das leichte Beben durch meine
Schuhsohlen. Narcisse hat die rameaux geliefert, die

Page 289
Palmsträußchen, die ich nach der Messe verteilen werde, und
die die Leute für den Rest der Karwoche an ihren Kragen
tragen oder an ihre Kruzifixe über dem Kamin oder dem Bett
stecken werden. Ich werde Ihnen auch eins mitbringen, mon
père, und eine Kerze für Ihren Nachttisch; warum sollen Sie leer
ausgehen? Die Schwestern beäugen mich mit kaum
verhohlener Belustigung. Nur die Angst und ihr Respekt vor
meiner Soutane hält sie davon ab, laut über mich zu lachen. Ihre
rosigen Schwesterngesichter glänzen vom heimlichen Kichern.
Auf dem Korridor höre ich sie tuscheln:
Er glaubt, der Alte könnte ihn hören … er meint, der würde
noch mal aufwachen … nein, wirklich? … o nein! … er redet
die ganze Zeit mit ihm … einmal hab ich ihn beten hören –
und dann mädchenhaftes Gekicher – hihihihihi! – wie Perlen,
die über den Boden kullern.
Natürlich wagen sie es nicht, mir ins Gesicht zu lachen. In ihren
makellos weißen Kitteln, das Haar unter gestärkten Hauben
verborgen, den Blick gesenkt, könnte man sie für Nonnen
halten. Klosterschülerinnen, die respektvoll ihre Floskeln
murmeln – oui, mon père, non, mon père –, während sie sich
heimlich amüsieren. Auch die Mitglieder meiner Gemeinde sind
nicht mit dem rechten Ernst bei der Sache – während der
Messe sind sie unkonzentriert und können es hinterher kaum
erwarten, in die chocolaterie zu eilen –, doch heute ist alles, wie
es sein soll. Sie grüßen mich mit Respekt, beinahe furchtsam.
Narcisse entschuldigt sich dafür, daß die Palmsträußchen
diesmal nur aus Zedernzweigen bestehen.
»Das ist kein einheimischer Baum, Vater«, erklärt er mit
seiner mürrischen Stimme. »Der gedeiht hier nicht. Der Frost
macht ihn kaputt.«
Ich klopfe ihm väterlich auf die Schulter.

Page 290
»Kein Problem, mon fils.« Seine Rückkehr in den Schoß der
Gemeinde stimmt mich milde und gütig.
Caroline Clairmont nimmt meine Hand zwischen ihre
behandschuhten Finger.
»Eine schöne Messe.« Ihre Stimme klingt warm.
»So eine schöne Messe«, plappert Georges ihr nach. Luc
steht neben ihr und macht ein verdrießliches Gesicht. Dahinter
die Drous mit ihrem Sohn, der in seinem Matrosenhemd
verlegen dreinblickt. Ich sehe Muscat nicht unter den Leuten, die
die Kirche verlassen, nehme jedoch an, daß er auch da ist.
Caroline Clairmont lächelt mich spitzbübisch an.
»Sieht so aus, als hätten wir es geschafft«, sagt sie mit
Genugtuung. »Wir haben schon mehr als hundert Unterschriften
gesammelt –«
»Das Schokoladenfest.« Unwirsch unterbreche ich sie mit
leiser Stimme. Ich kann mir nicht leisten, das Thema in der
Öffentlichkeit zu diskutieren. Sie versteht den Wink nicht.
»Genau!« ruft sie aufgeregt aus. »Wir haben zweihundert
Flugblätter verteilt, und die Hälfte der Einwohner von
Lansquenet hat bereits unterschrieben. Wir sind in jedem Haus
gewesen … na ja, in fast jedem Haus.« Sie grinst. »Mit einigen
Ausnahmen, natürlich.«
»Verstehe«, erwidere ich betont kühl. »Vielleicht können wir
ein andermal darüber reden.«
Sie registriert den Rüffel und errötet.
»Selbstverständlich, Vater.«
Sie hat natürlich recht. Die Aktion hat einen deutlichen Erfolg
gezeitigt. Der Pralinenladen ist seit Tagen so gut wie leer. In so
einer kleinen Gemeinde hat die offene Mißbilligung durch den
Gemeinderat schließlich ein größeres Gewicht als die
stillschweigende Kritik der Kirche. Wer wagt es noch, unter den
mißbilligenden Augen des Gemeinderats in diesem Laden zu

Page 291
kaufen, zu naschen und zu schlemmen … Dazu braucht es mehr
Mut und mehr Widerspruchsgeist, als diese Hexe Rocher es
ihnen wert ist. Wie lange wohnt sie überhaupt schon hier? Das
verirrte Lamm findet stets zur Herde zurück, Vater. Ganz
instinktiv. Sie ist nichts weiter als eine kurzlebige Abwechslung
für die Leute im Dorf. Aber am Ende kommen sie alle wieder
zur Besinnung. Ich gebe mich nicht der Illusion hin, daß sie es
aus Reue oder Einsicht tun – Schafe sind von Natur aus dumm
–, aber sie besitzen einen gesunden Instinkt. Ihre Füße tragen
sie nach Hause, auch wenn ihre Gedanken in die Irre gehen. Mit
einemmal verspüre ich eine tiefe Zuneigung zu ihnen, zu meiner
Gemeinde, meiner Herde. Ich möchte ihre Hände in meinen
fühlen, ihr warmes, dummes Fleisch berühren, mich in ihrer
Bewunderung und in ihrem Vertrauen aalen.
Ist das die Antwort auf meine Gebete, Vater? Ist das die
Lektion, die ich lernen mußte? Auf der Suche nach Muscat
lasse ich meinen Blick noch einmal über die Menge schweifen.
Er kommt jeden Sonntag in die Kirche, er kann doch unmöglich
an diesem besonderen Sonntag die Messe versäumt haben …
Doch die Kirche leert sich, und ich kann ihn immer noch nicht
entdecken. Ich erinnere mich auch nicht, daß er die Kommunion
empfangen hat. Er wird doch sicherlich nicht gegangen sein,
ohne ein paar Worte mit mir zu wechseln. Vielleicht wartet er
noch im Innern der Kirche, sage ich mir. Die Sache mit seiner
Frau hat ihn sehr mitgenommen. Vielleicht braucht er meinen
geistlichen Beistand.
Der Korb mit den Palmsträußchen wird immer leerer. Jedes
einzelne wird in Weihwasser getaucht und gesegnet. Jeder wird
mit einem Handauflegen verabschiedet. Luc Clairmont weicht
vor meiner Berührung zurück und murmelt wütend irgend etwas
vor sich hin. Seiner Mutter ist das offenbar peinlich, und sie
lächelt mir über die gebeugten Köpfe hinweg entschuldigend zu.

Page 292
Immer noch keine Spur von Muscat. Ich werfe einen Blick in die
Kirche: sie ist leer, bis auf ein paar ältere Leute, die immer noch
vor dem Altar knien. Der heilige Franziskus steht neben dem
Eingang; umringt von Gipstauben wirkt er seltsam vergnügt für
einen Heiligen, sein strahlendes Gesicht würde eher zu einem
Verrückten oder einem Betrunkenen passen. Es ärgert mich
plötzlich, daß jemand die Statue ausgerechnet hier am Eingang
aufgestellt hat. Ich finde, mein Namenspatron müßte würdevoller
sein, mehr Eindruck machen. Statt dessen scheint dieser
grinsende Narr mich zu verspotten, eine Hand zaghaft zum
Segen ausgestreckt, mit der anderen wiegt er eine Taube vor
seinem dicken Bauch, als träumte er von Taubenpastete. Ich
versuche mich zu erinnern, ob die Statue schon dort gestanden
hat, als wir beide aus Lansquenet fortgegangen sind, mon père.
Wissen Sie es noch? Oder ist sie vielleicht verrückt worden,
womöglich von Leuten, die mich verhöhnen wollen? Der heilige
Hieronymus, dem diese Kirche geweiht ist, hat keinen solchen
Ehrenplatz: in der düsteren Nische, wo er vor einem dunklen
Ölgemälde steht, ist er kaum zu sehen, der Marmor, aus dem
die Figur gemeißelt wurde, ist vom Rauch Tausender Kerzen
verfärbt. Der heilige Franziskus dagegen nach wie vor so weiß
wie frische Champignons, trotz der Feuchtigkeit, die den guten
Franz unter der unbekümmerten Mißachtung seines Kollegen
langsam und vergnügt zerbröckeln läßt. Ich nehme mir vor, ihn
so bald wie möglich an einen ihm angemesseneren Platz
versetzen zu lassen.
Muscat ist nicht in der Kirche. Ich suche alles ab, immer noch
in der Annahme, daß er womöglich auf mich wartet, aber er ist
nicht zu finden. Vielleicht ist er krank, überlege ich. Nur eine
ernste Krankheit würde einen so eifrigen Kirchgänger wie ihn
davon abhalten, am Palmsonntag die Messe zu besuchen. In
der Sakristei lege ich mein Meßgewand ab und schlüpfe in

Page 293
meine Soutane. Den Kelch und die Patene schließe ich
sicherheitshalber ein. Zu Ihrer Zeit wäre das nicht nötig
gewesen, Vater, aber heutzutage muß man sich vorsehen.
Landstreicher und Zigeuner – von einigen Elementen in
unserem Dorf ganz zu schweigen – würden sich durch die
Aussicht auf ewige Verdammnis nicht davon abhalten lassen,
mit solchen Wertgegenständen ein schnelles Geschäft zu
machen.
Mit zügigen Schritten gehe ich nach Les Marauds hinunter.
Muscat ist seit letzter Woche ziemlich wortkarg, und ich bin ihm
nur ein paarmal flüchtig begegnet. Aber er wirkt teigig und
krank, gebeugt wie ein verdrossener Büßer, die Augen halb
verborgen unter den geschwollenen Lidern. In letzter Zeit
besuchen nur noch wenige Leute sein Café; vielleicht aus Furcht
vor Muscats Jähzorn und seinem verhärmten Gesichtsausdruck.
Am Freitag war ich selbst dort; das Café war so gut wie leer.
Seit Joséphine ausgezogen ist, ist der Boden nicht mehr gefegt
worden und mit Zigarettenkippen und Bonbonpapieren übersät.
Überall auf den Tischen und der Theke standen leere Gläser. In
der Vitrine lagen ein paar alte Sandwiches und etwas Rotes,
Zusammengerolltes, das aussah wie eine vertrocknete Pizza.
Daneben ein Stapel von Carolines Flugblättern, mit einem
schmutzigen Bierglas beschwert. Neben dem schalen Gestank
nach kalter Zigarettenasche roch es nach Schimmel und nach
Erbrochenem.
Muscat war betrunken.
»Ach, Sie sind’s.« Sein Ton war mürrisch, beinahe aggressiv.
»Sie sind wohl gekommen, um mir zu sagen, ich soll auch noch
die andere Wange hinhalten, was?« Er nahm einen tiefen Zug
an der Zigarette, die halb aufgeweicht zwischen seinen Zähnen
klemmte. »Sie können zufrieden mit mir sein. Ich halte mich seit
Tagen von der Schlampe fern.«

Page 294
Ich schüttelte den Kopf.
»Sie dürfen nicht verbittert sein«, sagte ich.
»In meinem eigenen Café kann ich sein, was ich will«,
erwiderte Muscat feindselig. »Das ist doch mein Café, nicht
wahr, Vater? Ich meine, Sie wollen ihr doch wohl nicht auch
noch den Laden auf einem silbernen Tablett servieren, oder?«
Ich erklärte ihm, ich könne seine Gefühle verstehen. Er zog
noch einmal an seiner Zigarette und hustete mir höhnisch
lachend seinen fauligen Atem ins Gesicht.
»Das ist gut, Vater.« Er stank wie ein Tier. »Das ist
phantastisch. Natürlich verstehen Sie mich. Gar keine Frage.
Als Sie Ihr Gelübde abgelegt haben, oder was auch immer, hat
die Kirche Ihnen die Eier abgeschnitten. Da kann ich mir
vorstellen, daß Sie nicht wollen, daß ich meine behalte.«
»Sie sind betrunken, Muscat«, fauchte ich.
»Scharf beobachtet, Vater«, höhnte er. »Ihnen entgeht doch
wirklich nichts, was?« Er machte eine weit ausholende Geste
mit der Hand, in der er die Zigarette hielt. »Sie braucht sich nur
anzusehen, wie der Laden jetzt aussieht«, sagte er heiser.
»Mehr braucht sie nicht, um glücklich zu sein. Zu sehen, daß sie
mich ruiniert hat« – er war den Tränen nahe, überwältigt von
dem typischen Selbstmitleid des Säufers –, »zu wissen, daß sie
unsere Ehe zum Gespött des Dorfes gemacht hat –« Er stieß
einen obszönen Laut aus, halb Schluchzen, halb Rülpsen. »Zu
wissen, daß sie mir das verdammte Herz gebrochen hat.«
Er wischte sich mit dem Handrücken über die triefende Nase.
»Glauben Sie ja nicht, ich wüßte nicht, was sich da drüben
abspielt«, sagte er leise. »Diese Schlampe und ihre lesbischen
Freundinnen. Ich weiß genau, was die treiben.« Er wurde
wieder lauter, und ich schaute mich verlegen nach seinen drei
oder vier verbliebenen Gästen um, die ihn neugierig anstarrten.
Warnend legte ich eine Hand auf seinen Arm.

Page 295
»Geben Sie die Hoffnung nicht auf, Muscat«, sagte ich,
meinen Ekel überwindend. »Auf diese Weise können Sie sie
nicht zurückgewinnen. Sie dürfen nicht vergessen, daß es in
jeder Ehe Krisen gibt, aber –«
Er schnaubte verächtlich.
»Eine Krise? Das ist es also?« Er lachte in sich hinein.
»Wissen Sie was, Vater? Geben Sie mir fünf Minuten allein mit
dieser Schlampe, dann werd ich ihr die Krise schon austreiben.
Ich hole sie mir zurück, da können Sie Gift drauf nehmen.«
Er wirkte dumm und bösartig, kaum in der Lage, seine Worte
bei dem Haifischgrinsen zu artikulieren. Ich packte ihn an den
Schultern und sprach jedes Wort deutlich aus, in der Hoffnung,
daß wenigstens ein Teil von dem, was ich sagte, zu ihm
vordringen würde.
»Das werden Sie nicht«, sagte ich ihm ins Gesicht, ohne mich
um die stumm glotzenden Säufer hinter mir zu kümmern. »Sie
werden sich anständig verhalten, Muscat, Sie werden korrekt
vorgehen, wenn Sie etwas unternehmen wollen, und Sie werden
die beiden Frauen nicht anrühren! Kapiert?«
Meine Finger bohrten sich in seine Schultern. Muscat
protestierte und warf mir Obszönitäten an den Kopf.
»Ich warne Sie, Muscat«, sagte ich. »Ich habe Ihnen eine
Menge durchgehen lassen, aber ich werde es nicht hinnehmen,
wenn Sie sich in aller Öffentlichkeit wie ein Schläger aufführen.
Haben Sie mich verstanden?«
Er brummte etwas in seinen Bart; ob es eine Drohung oder
eine Entschuldigung war, konnte ich nicht verstehen. Anfangs
dachte ich, er hätte gesagt, Es tut mir leid, aberim nachhinein
bin ich mir nicht sicher, ob er nicht sagte, Es wird Ihnen noch
leid tun. Seine Augen funkelten böse durch seine
halbvergossenen Tränen.

Page 296
Leid tun. Aber wem wird es leid tun? Und was?
Als ich nach Les Marauds hinuntereilte, fragte ich mich erneut,
ob ich die Zeichen falsch gedeutet hatte. War es ihm
zuzutrauen, daß er sich selbst Gewalt antat? Sollte ich, in
meinem Bemühen, weiteres Unheil zu verhindern, nicht gesehen
haben, daß der Mann am Rande der Verzweiflung war? Als ich
vor dem Café de la République ankam, war es geschlossen,
doch ein paar Leute standen vor dem Haus und schauten zu
einem der Fenster im ersten Stock hinauf. Ich sah Caroline
Clairmont und Joline Drou unter ihnen. Auch Duplessis war da,
eine kleine, würdige Gestalt in seinem Filzhut und mit dem
Hund, der um ihn herumtollte. Über dem allgemeinen Gemurmel
meinte ich eine höhere, schrillere Stimme zu hören, die lauter
und leiser wurde, hin und wieder Worte zu formulieren schien,
Sätze, dann ein Schrei …
»Vater.« Caro klang atemlos, sie wirkte erhitzt. Ihr
Gesichtsausdruck erinnerte mich an die rehäugigen, ewig
japsenden Schönheiten auf den Titelseiten gewisser
Hochglanzmagazine auf den oberen Regalen, und der Gedanke
ließ mich erröten.
»Was ist los?« fragte ich knapp. »Muscat?«
»Es ist Joséphine«, sagte Caro aufgeregt. »Muscat hat sie
oben in dem Zimmer eingesperrt, Vater, sie schreit um Hilfe.«
Noch während sie sprach, drangen erneut Geräusche aus
dem Fenster – Schreie, Flüche und lautes Poltern –, und gleich
darauf wurden Gegenstände hinausgeworfen, die auf dem
Pflaster zerschellten. Eine Frauenstimme kreischte in Tönen,
die Glas hätten zum Zerbersten bringen können – jedoch nicht
vor Angst, wie mir schien, sondern vor wilder, unbändiger Wut –,
gefolgt von einem weiteren Bombardement mit
Hausratutensilien. Bücher, Kleider, Schallplatten, Bilderrahmen
… die profane Artillerie häuslicher Gemütlichkeit.

Page 297
Ich rief zum Fenster hinauf.
»Muscat? Können Sie mich hören? Muscat!«
Ein leerer Vogelkäfig kam durch die Luft geflogen.
»Muscat!«
Es kam keine Antwort aus dem Haus. Die Stimmen der
beiden Kontrahenten klingen beinahe unmenschlich – wie die
eines Trolls und einer Harpyie –, und einen Moment lang fühle
ich mich unwohl in meiner Haut, als wäre die Welt noch ein
Stück weiter in den Schatten gerückt und die Dunkelheit, die
uns vom Licht trennt, größer geworden. Was würde ich zu sehen
bekommen, wenn ich die Tür öffnete?
Eine schreckliche Sekunde lang kehrt die Erinnerung zurück,
und ich bin wieder dreizehn und öffne die Tür zu dem alten
Kirchenanbau, den einige heute immer noch die Kanzlei
nennen, trete von dem dämmrigen Zwielicht der Kirche in tiefere
Düsternis, meine Füße fast lautlos auf dem Parkett, und in
meinen Ohren das seltsame Stöhnen eines unsichtbaren
Ungeheuers im Nebenraum. Ich öffne die Tür mit wild
pochendem Herzen, die Fäuste geballt, die Augen aufgerissen
… und plötzlich sehe ich vor mir das bleiche, sich krümmende
Untier, seine Umrisse irgendwie vertraut, aber auf groteske
Weise verdoppelt, zwei Gesichter, die mich voller Wut und
Entsetzen anstarren –
Maman! – Père!
Absurd, ich weiß. Unmöglich, daß es einen Zusammenhang
gibt. Und dennoch frage ich mich, als ich in Caro Clairmonts
erhitztes, aufgeregtes Gesicht sehe, ob sie es auch spürt, den
erotischen Kitzel der Gewalt, den Augenblick der Macht, wenn
das Streichholz angerissen wird, der Schlag fällt, das Benzin
Feuer fängt …
Es war nicht nur Ihr Verrat, Vater, der mir das Mark in den
Knochen gefrieren ließ und die Haut an den Schläfen straffte

Page 298
wie das Fell auf einer Trommel. Die Sünde – die Sünde des
Fleisches – war für mich etwas Abstraktes und zutiefst
Verabscheuungswürdiges gewesen, widerwärtig, wie die
Vereinigung mit Tieren. Daß sie auch Genuß bereiten konnte,
war für mich unfaßbar. Und doch sah ich Sie und meine Mutter,
erregt und verschwitzt einander bearbeiten, mechanisch wie die
Kolben einer Maschine, nicht ganz nackt, nein, gerade die in
der Hast nur halb heruntergerissenen Kleider gaben der Szene
etwas besonders Obszönes – die Bluse offen, der Rock und die
Soutane hochgeschoben … Nein, es war nicht das Fleisch, das
mich abstieß, denn ich betrachtete das Geschehen mit
distanziertem Ekel. Es war, weil ich mich erst zwei Wochen
zuvor für Sie kompromittiert hatte, Vater, meine Seele für Sie
beschmutzt hatte – die Ölflasche glitschig in meiner Hand, das
erregende Gefühl der Macht, der Seufzer der Verzückung, als
die Flasche durch die Luft fliegt und sich entzündet, das
brennende Öl sich verteilt und die Flammen sich auf dem
erbärmlichen Hausboot hungrig ausbreiten, an dem trockenen
Segeltuch lecken, das alte, trockene Holz verschlingen, wollüstig
und schadenfroh über das Deck züngeln … Man vermutete
Brandstiftung, Vater, aber niemand kam auf die Idee, Reynauds
guten, stillen Jungen zu verdächtigen, der im Kirchenchor sang
und während der Messe stets so blaß und brav in der Bank saß.
Nicht den scheuen Francis, der noch nie ein Fenster
eingeworfen hatte. Muscat, vielleicht. Der alte Muscat und sein
draufgängerischer Sohn, ja, die konnten es getan haben. Eine
Zeitlang wurden sie im Dorf geschnitten, man tuschelte hinter
ihrem Rücken. Diesmal waren sie zu weit gegangen. Aber sie
leugneten standhaft, und schließlich gab es keine Beweise. Die
Opfer waren keine von uns. Niemand sah den Zusammenhang
zwischen dem Brand und den Veränderungen im Hause
Reynaud – die Eltern ließen sich scheiden, und der Junge

Page 299
wurde auf eine Eliteschule im Norden geschickt … Ich tat es für
Sie, Vater. Aus Liebe zu Ihnen. Das brennende Boot in dem
ausgetrockneten Flußbett erleuchtet die braune Nacht,
Menschen rennen heraus, schreien, stolpern über die
ausgedörrte Erde am Ufer des Tannes, einige machen den
hoffnungslosen Versuch, den letzten verbliebenen Schlamm mit
Eimern aus dem Fluß zu schöpfen und damit das Feuer zu
löschen, während ich aus meinem Versteck hinter den Büschen
zuschaue, mein Mund trocken, mein Bauch heiß vor Freude.
Ich konnte nicht wissen, daß in dem Boot noch Leute schliefen,
sage ich mir. Sturzbetrunken, so daß selbst das Feuer sie nicht
weckt. Später habe ich von ihnen geträumt, verkohlte Gestalten,
miteinander verschmolzen wie Liebende … Monatelang fuhr ich
nachts schreiend aus dem Schlaf, sah ihre flehend nach mir
ausgestreckten Arme, hörte ihre Stimmen – ein aus der Asche
gehauchtes Atmen –, sah bleiche Lippen, die lautlos meinen
Namen formten.
Aber Sie haben mir die Absolution erteilt, Vater. Es waren nur
ein Säufer und seine Schlampe, sagten Sie mir. Wertloses
Treibgut auf dem schmutzigen Fluß. Zwanzig Vaterunser und
ebenso viele Ave-Maria reichten als Bezahlung für ihr Leben.
Diebe, die unsere Kirche entweiht und unseren Priester
beleidigt hatten, sie hatten nicht mehr verdient. Ich war ein
junger Mensch mit einer großen Zukunft vor mir, mit liebevollen
Eltern, die sich grämen würden, die schrecklich unglücklich
wären, wenn sie wüßten … Außerdem, sagten Sie, hätte es
auch ein Unglücksfall sein können. Man konnte nie wissen,
sagten Sie. Vielleicht hatte Gott es so gewollt.
Ich glaubte Ihnen. Oder tat jedenfalls so. Und ich bin Ihnen
immer noch dankbar.
Jemand berührt meinen Arm. Ich fahre erschrocken
zusammen. Der Blick in den Abgrund meiner Erinnerung hat

Page 300
mich die Wirklichkeit vergessen lassen. Armande Voizin steht
hinter mir, ihre klugen schwarzen Augen fixieren mich. Neben ihr
steht Duplessis.
»Werden Sie nun endlich etwas unternehmen, Francis, oder
wollen Sie es zulassen, daß dieses Untier Muscat einen Mord
begeht?«
Sie spricht mit klarer, kalter Stimme. Mit einer Klaue hält sie
ihren Stock umklammert, mit der anderen deutet sie wie eine
Hexe auf die geschlossene Tür.
»Es ist nicht –« Meine Stimme klingt nicht wie meine eigene,
sondern wie die eines Kindes. »Es ist nicht meine Aufgabe,
einzu –«
»Blödsinn!« Sie berührt meine Hand mit ihrem Stock. »Ich
werde diesem Wahnsinn ein Ende bereiten, Francis. Kommen
Sie mit mir, oder wollen Sie den ganzen Tag hier stehenbleiben
und glotzen?«
Ohne auf eine Antwort zu warten, geht sie auf die Tür des
Cafés zu.
»Sie ist abgeschlossen«, sage ich zaghaft.
Sie zuckt die Achseln. Mit ihrem Stock schlägt sie die
Scheibe in der Tür ein.
»Der Schlüssel steckt im Schloß«, sagt sie unwirsch. »Drehen
Sie ihn für mich um, Guillaume.« Sobald der Schlüssel sich im
Schloß dreht, schwingt die Tür auf. Ich folge Armande die
Treppe hinauf. Das Geschrei und das Gepolter sind hier lauter
zu vernehmen, verstärkt durch den Hohlraum des
Treppenhauses. Muscat steht vor der Tür des oberen Zimmers,
sein massiger Körper füllt den halben Treppenabsatz aus. Das
Zimmer ist von innen verbarrikadiert; durch einen kleinen Spalt
zwischen Tür und Rahmen fällt ein heller Lichtstreifen auf die
Stufen. Ich sehe, wie Muscat sich gegen die blockierte Tür wirft;
man hört etwas poltern, und zufrieden grunzend schiebt er sich

Page 301
in das Zimmer.
Eine Frau schreit.
Sie drückt sich ängstlich an die gegenüberliegende Wand.
Mehrere Möbelstücke sind vor der Tür gestapelt – eine
Kommode, ein Schrank, Stühle –, aber Muscat hat es endlich
doch geschafft, in den Raum einzudringen. Das schwere,
schmiedeeiserne Bett hatte sie nicht verrücken können, aber
sie benutzt die Matratze als Schutzschild, hinter den sie sich
kauert, einen Berg Wurfgeschosse griffbereit neben sich. Seit
die Messe begonnen hat, hält sie schon durch, geht es mir voller
Erstaunen durch den Kopf. Ich sehe die Spuren ihrer Flucht;
Glasscherben auf der Treppe, die Kerben in der Tür, den
Wohnzimmertisch, den er als Rammbock benutzt hat. Als er
sich zu mir umdreht, sehe ich in seinem Gesicht die Spuren
ihrer Fingernägel, eine blutige Schramme an seiner Schläfe, die
Nase ist geschwollen, das Hemd zerrissen. Ich entdecke
Blutflecken auf den Treppenstufen, eine kleine Lache, eine
Rutschspur, vereinzelte Tröpfchen. Blutige Fingerabdrücke auf
der Tür.
»Muscat!«
Meine Stimme klingt schrill, zitternd.
»Muscat!«
Er starrt mich ausdruckslos an. Seine Augen sehen aus wie
winzige Löcher in einem Hefeteig.
Armande steht neben mir, ihren Stock wie ein Schwert
erhoben. Sie sieht aus wie der älteste Haudegen der Welt. Sie
ruft Joséphine an.
»Alles in Ordnung, meine Liebe?«
»Schaffen Sie ihn hier raus! Sagen Sie ihm, er soll abhauen!«
Muscat zeigt mir seine blutigen Hände. Er wirkt wütend und
zugleich verwirrt und erschöpft, wie ein Kind, das in einen Streit
zwischen zwei größeren Jungs geraten ist.

Page 302
»Sehen Sie, was ich meine, Vater?« lamentiert er. »Was hab
ich Ihnen gesagt? Sehen Sie, was ich meine?«
Armande schiebt sich an mir vorbei.
»Sie haben keine Chance, Muscat.« Sie klingt jünger und
stärker als ich, und ich muß mich daran erinnern, daß sie alt und
krank ist. »Sie können die Zeit nicht zurückdrehen, Sie können
nichts erzwingen. Kommen Sie raus, und lassen Sie sie
gehen.«
Muscat spuckt sie an und zuckt verblüfft zurück, als Armande
schnell und gezielt wie eine Kobra zurückspuckt. Wütend wischt
er sich das Gesicht ab.
»Du verdammte alte –«
Guillaume stellt sich vor sie, eine schützende Geste, die auf
absurde Weise sinnlos wirkt. Sein Hund beginnt, wild zu kläffen.
»Versuchen Sie bloß nicht, mich einzuschüchtern, Paul-Marie
Muscat«, faucht Armande. »Ich kann mich noch gut an die Zeit
erinnern, als Sie noch ein rotznäsiger Lümmel waren, der sich in
Les Marauds vor seinem versoffenen Vater versteckte. Außer
daß Sie fetter und häßlicher geworden sind, haben Sie sich
kaum verändert. Und jetzt lassen Sie mich vorbei!«
Verwirrt tritt er zur Seite. Einen Augenblick lang scheint er
mich um Hilfe bitten zu wollen.
»Vater. Sagen Sie’s ihr.« Seine Augen sehen aus, als hätte
ihm jemand Salz hineingestreut. »Sie wissen doch, was ich
meine. Oder?«
Ich tue so, als ob ich ihn nicht höre. Es gibt nichts, was uns
verbindet, diesen Mann und mich. Wir haben nichts gemein. Ich
kann ihn riechen, den schalen Gestank seines verschwitzten,
ungewaschenen Hemdes, den fauligen Bieratem. Er packt mich
am Arm.
»Sie verstehen schon, Vater«, wiederholt er verzweifelt. »Ich
hab Ihnen die Zigeuner vom Hals geschafft. Erinnern Sie sich?

Page 303
Ich hab Ihnen auch geholfen.«
Sie mag vielleicht halb blind sein, aber sie sieht alles,
verdammt. Alles. Ich sehe ihren Blick zu mir herüberschnellen.
»Ach so ist das?« Sie stößt ein vulgäres Lachen aus. »Zwei
von einer Sorte, was, Curé?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Muscat«, sage ich trocken.
»Sie sind sinnlos betrunken.«
»Aber Vater –« Er ringt nach Worten, sein verzerrtes Gesicht
ist puterrot. »Vater, Sie haben doch selbst gesagt –«
Eisig: »Ich habe überhaupt nichts gesagt.«
Er öffnet den Mund wie ein Fisch auf einer Sandbank.
»Überhaupt nichts!«
Armande und Guillaume haben Joséphine zwischen sich
genommen und begleiten sie hinaus. Joséphine wirft mir einen
seltsam durchdringenden Blick zu, der mich fast erschreckt. Ihr
Gesicht ist schmutzig, ihre Hände sind blutverschmiert, und
doch ist sie in diesem Augenblick auf beunruhigende Weise
schön. Sie sieht mich an, als könnte sie bis in mein Innerstes
blicken. Ich möchte sie bitten, mich nicht verantwortlich zu
machen, möchte ihr sagen, daß ich nicht so bin wie er; ich bin
kein Mann, sondern ein Priester, ich gehöre einer anderen Art
an … doch der Gedanke ist absurd, beinahe blasphemisch.
Dann führt Armande sie die Treppe hinunter, und ich bleibe
allein mit Muscat zurück. Seine Tränen benetzen meinen Hals,
seine heißen Arme halten mich umklammert. Einen Augenblick
verliere ich die Orientierung, versinke zusammen mit ihm im
Nebel meiner Erinnerungen. Ich mache mich los, zunächst
vorsichtig, dann mit zunehmender Gewalt, schiebe seinen
schwabbeligen Bauch mit den Händen von mir, bearbeite ihn
mit den Fäusten, den Ellbogen … Und dabei schreie ich gegen
sein Flehen an, mit einer Stimme, die nicht meine eigene ist,
einer hohen, zornigen Stimme:

Page 304
»Lassen Sie mich, Sie Bastard, Sie haben alles verdorben –«
Francis, es tut mir leid, ich –
»Père –«
»Alles ist verdorben – alles –, lassen Sie mich los!«
Schnaufend vor Anstrengung gelingt es mir endlich, mich aus
seiner Umklammerung zu befreien. Von Erleichterung
überwältigt renne ich die Treppe hinunter, verstauche mir den
Knöchel, als ich über einen Teppich stolpere, während er hinter
mir her jammert und greint wie ein verlassenes Kind …
Später fand ich Zeit, mit Caro und Georges zu sprechen. Mit
Muscat werde ich nicht mehr reden. Außerdem geht das
Gerücht, er hätte alles, was er in der Eile zusammenraffen
konnte, in seinen alten Wagen gepackt und sich davongemacht.
Das Café ist jetzt geschlossen, nur die eingeschlagene Scheibe
in der Eingangstür erinnert noch an das, was sich heute
vormittag dort abgespielt hat. Als es dunkel wurde, bin ich noch
einmal hingegangen und habe lange vor dem Fenster
gestanden. Der Himmel über Les Marauds war kühl und
schimmerte grünlich, nur über den Horizont zog sich ein
milchiger Streifen. Der Fluß war dunkel und still.
Ich habe Caro erklärt, daß die Kirche ihre Kampagne gegen
das Schokoladenfest nicht unterstützen wird. Daß ich sie nicht
unterstützen werde. Begreift sie es denn nicht? Nach dem, was
Muscat getan hat, hat der Gemeinderat seine Glaubwürdigkeit
verloren. Diesmal hat er sich zu weit in die Öffentlichkeit
gewagt, diesmal war er zu brutal. Genau wie ich müssen auch
sie sein Gesicht gesehen haben, seinen wahnsinnigen,
haßerfüllten Blick. Zu wissen, daß ein Mann seine Frau prügelt –
es insgeheim zu wissen –, ist eine Sache. Aber die Brutalität in
all ihrer Häßlichkeit hautnah mitzuerleben … Nein. Er wird es
nicht überleben. Caro erzählt bereits jedem, der es hören will,
sie hätte ihn schon immer durchschaut, sie hätte es von Anfang

Page 305
an gewußt. Sie distanziert sich, so gut sie kann – Wie
schrecklich, diese arme, betrogene Frau! –, ebenso, wie ich es
tue. Wir haben uns zu sehr mit ihm eingelassen, erkläre ich ihr.
Wir haben ihn benutzt, wenn es uns zupaß kam. Diesen
Eindruck müssen wir schnellstens korrigieren. Zu unserem
eigenen Schutz müssen wir uns zurückziehen. Die andere
Sache, den Vorfall mit den Zigeunern, erwähne ich ihr
gegenüber nicht, doch auch daran muß ich denken. Armande
hat Verdacht geschöpft. Sie könnte anfangen zu reden, und sei
es nur aus Gehässigkeit. Und dann diese andere Sache, die
längst vergessen ist und einzig in ihrem Kopf noch herumspukt
… Nein. Ich fühle mich hilflos. Schlimmer noch, ich bin
gezwungen, mich nach außen hin nachsichtig zu geben und so
zu tun, als hätte ich nichts gegen das Fest. Andernfalls wird es
Gerede geben, und wer weiß, was dabei alles ans Tageslicht
kommt? Morgen werde ich in meiner Predigt Toleranz fordern,
die Flut, die ich ins Rollen gebracht habe, aufhalten und dafür
sorgen, daß sie ihre Meinung ändern. Die verbliebenen
Flugblätter werde ich verbrennen. Die Plakate, die von
Lansquenet bis Montauban geklebt werden sollten, müssen
ebenfalls vernichtet werden. Es bricht mir das Herz, Vater, aber
was bleibt mir übrig? Der Skandal würde mich umbringen.
Es ist Karwoche. Nur noch eine Woche bis zum Fest. Und sie
hat gewonnen, mon père. Sie hat gewonnen. Nur ein Wunder
kann uns jetzt noch retten.
Mittwoch, 26. März
Immer noch keine Spur von Muscat. Am Montag hat
Joséphine sich fast den ganzen Tag nicht aus dem Laden
getraut, aber gestern früh beschloß sie, noch einmal zum Café
zu gehen. Diesmal hat Roux sie begleitet, doch sie fanden
nichts anderes vor als das Chaos von Sonntag. Anscheinend

Page 306
stimmt das Gerücht. Muscat ist verschwunden.
Roux ist inzwischen fertig mit Anouks Zimmer unter dem Dach
und hat bereits mit der Arbeit am Café angefangen. Er hat ein
neues Schloß in die Haustür eingebaut, den alten
Linoleumboden herausgerissen und die vergilbten Gardinen von
den Fenstern genommen. Mit ein bißchen Mühe, meint er –
frisches Weiß an den Wänden, ein bißchen Farbe für die alten,
abgewetzten Möbel, jede Menge Wasser und Seife –, könne
man das Café wieder in eine helle, freundliche Gaststube
verwandeln. Er hat Joséphine angeboten, kostenlos für sie zu
arbeiten, aber davon will sie nichts wissen. Muscat hat natürlich
ihr gemeinsames Konto leergeräumt, aber sie hat noch ein
bißchen eigenes Geld, und sie ist davon überzeugt, daß das
neue Café ein Erfolg werden wird. Das alte, verblaßte Schild mit
der Aufschrift Café de la République hat sie von Roux entfernen
und an seiner Stelle ein handgemaltes Schild mit dem neuen
Namen Café des Marauds und eine rot-weiß-gestreifte Markise
– die gleiche wie an meinem Laden – anbringen lassen.
Narcisse hat die schmiedeeisernen Blumenkästen mit
Hängegeranien bepflanzt, deren leuchtend rote Knospen sich in
der warmen Sonne bereits geöffnet haben. Von ihrem Garten
am Fuß des Hügels aus betrachtet Armande die
Veränderungen mit Wohlwollen.
»Sie ist eine tüchtige Frau«, erklärt sie mir auf ihre brüske Art.
»Sie wird es schaffen, jetzt, wo sie endlich diesen versoffenen
Ehemann losgeworden ist.«
Roux wohnt vorübergehend in Joséphines Gästezimmer, und
Luc ist, sehr zum Verdruß seiner Mutter, zu Armande gezogen.
»Das ist kein Zuhause für dich«, giftet sie mit schriller Stimme.
Ich stehe gerade auf dem Dorfplatz, als die beiden aus der
Kirche kommen, Luc in seinem Sonntagsanzug und Caro in
einem ihrer zahllosen pastellfarbenen Kostüme und einem

Page 307
seidenen Kopftuch.
Seine Antwort ist höflich, aber unumstößlich.
»N-nur bis zu ihrer P-Party«, sagt er. »Es ist n-niemand da,
der sich um sie kümmert. S-Sie könnte schließlich noch mal so
einen A-Anfall bekommen.«
»Blödsinn!« erwidert sie wegwerfend. »Ich kann dir sagen,
was sie will. Sie versucht, einen Keil zwischen uns beide zu
treiben. Ich verbiete dir, diese Woche bei ihr zu bleiben. Und
was diese lächerliche Party angeht –«
»D-Das kannst du mir nicht verbieten, M-Maman.«
»Und warum nicht? Du bist mein Sohn, verflixt noch mal, wie
kommst du dazu, mir ins Gesicht zu sagen, daß du lieber auf
diese verrückte Alte hörst als auf mich?« Tränen der Wut
schießen ihr in die Augen. Ihre Stimme zittert.
»Ist schon gut, Maman.« Ohne sich von ihrem Theater
beeindrucken zu lassen, legt er ihr einen Arm um die Schultern.
»Es ist ja nicht für lange. Nur bis zur Party. Ich v-versprech’s dir.
Du bist übrigens auch eingeladen. Sie würde sich freuen, w-
wenn du kämst.«
»Ich will aber nicht hingehen!« Ihre Stimme klingt nun trotzig
und weinerlich wie die eines Kindes. Er zuckt die Achseln.
»Dann eben nicht. Aber dann erwarte auch nicht, daß sie h-
hinterher auf das hört, was du willst.«
Sie schaut ihn an.
»Was meinst du damit?«
»Ich meine, ich k-könnte mit ihr reden. S-Sie überzeugen.« Er
kennt seine Mutter. Er versteht sie besser, als sie ahnt. »Ich
könnte sie zur V-Vernunft bringen«, sagt er. »Aber w-wenn du
nicht willst –«
»Das hab ich nicht gesagt.« Einem plötzlichen Impuls folgend,
nimmt sie ihn in den Arm. »Du bist ein kluger Junge«, sagt sie,
wieder gefaßt. »Du könntest es schaffen, nicht wahr?« Sie

Page 308
drückt ihm einen schmatzenden Kuß auf die Wange, was er
geduldig über sich ergehen läßt. »Mein guter, kluger Junge«,
wiederholt sie liebevoll, und dann machen sie sich Arm in Arm
auf den Heimweg. Luc ist bereits größer als seine Mutter und
sieht sie an wie ein toleranter Vater sein übermütiges Kind.
Oh, er kennt sie genau.
Seit Joséphine mit ihrem Café beschäftigt ist, habe ich kaum
noch Hilfe bei meinen Ostervorbereitungen; glücklicherweise ist
das meiste erledigt, es müssen nur noch ein paar Dutzend
Schachteln verpackt werden. Ich arbeite abends in der Küche
und mache die Kekse, die Trüffel, die Lebkuchenglocken und
die mit Zuckerguß überzogenen pains d’épices. Ich vermisse
Joséphines Geschick im Verpacken und Dekorieren, aber
Anouk hilft mir, so gut sie kann, bastelt bunte Papierkrausen und
steckt Seidenrosen auf zahllose Cellophantüten.
Ich habe das Schaufenster für die Zeit, in der ich an der
Dekoration für Sonntag arbeite, mit Silberpapier verhängt, und
der Laden sieht fast wieder so aus wie zu Anfang, als wir
hierherkamen. Anouk hat die Fensterscheibe mit Ostereiern
und lauter Tieren geschmückt, die sie aus buntem Papier
ausgeschnitten hat, und in der Mitte hängt ein riesiges Plakat
mit der Aufschrift:
GRAND FESTIVAL DU CHOCOLAT
Sonntag, Place St. Jérôme
Seit die Osterferien angefangen haben, wimmelt es auf dem
Platz von Kindern, die sich immer wieder die Nase am Fenster
platt drücken in der Hoffnung, einen Blick auf die
Vorbereitungen zu erhaschen. Es sind bereits Bestellungen im
Wert von über achttausend Franc eingegangen – einige aus
Montauban und sogar aus Agen –, und es kommen immer mehr
Kunden, so daß der Laden kaum jemals leer ist. Caros
Flugblattkampagne scheint im Sande verlaufen zu sein.

Page 309
Guillaume erzählt mir, Reynaud habe seiner Gemeinde
versichert, daß das Schokoladenfest im Gegensatz zu allem,
was böse Zungen behaupten, seine volle Unterstützung hat.
Dennoch sehe ich ihn manchmal von seinem kleinen Fenster
aus herüberstarren, und dann erblicke ich in seinen Augen nur
Gier und Haß. Ich weiß, daß er mir übel will, aber irgendwas hat
ihm den Giftstachel genommen. Ich versuche, etwas aus
Armande herauszubekommen. Sie weiß mehr, als sie preisgibt,
aber sie schüttelt nur den Kopf.
»Das ist alles so lange her«, sagt sie ausweichend. »Mein
Gedächtnis ist nicht mehr das beste.« Statt dessen will sie jede
Einzelheit über das Menü wissen, das ich für ihre Party geplant
habe. Sie ist ganz aufgeregt vor Vorfreude und sprudelt über vor
Ideen. Brandade truffée, vol-aux-vents aux trois champignons
in Wein und Sahne gekocht und mit chantrelles garniert,
gegrillte langoustines mit Krautsalat, fünf verschiedene Sorten
Schokoladenkuchen – all ihre Lieblingssorten –,
selbstgemachtes Schokoladeneis … Ihre Augen funkeln
schelmisch und erwartungsvoll.
»Als junges Mädchen habe ich nie ein Geburtstagsfest
gehabt«, erklärt sie. »Nicht ein einziges Mal. Einmal bin ich zu
einem Ball gegangen, drüben in Montauban, mit einem Jungen
von der Küste. Hui!« Sie machte eine eindeutige Geste. »Er
war so dunkel wie Sirup und genauso süß. Es gab Champagner
und Erdbeer-Sorbet, und wir haben getanzt …« Sie seufzte.
»Damals hätten Sie mich mal sehen sollen, Vianne. Das
können Sie sich heute gar nicht mehr vorstellen. Er hat gesagt,
ich sähe aus wie Greta Garbo, dieser Charmeur, und wir taten
beide so, als hätte er es ernst gemeint.« Sie lachte in sich
hinein. »Natürlich war er kein Mann zum Heiraten«, sinnierte sie.
»Damit haben solche Männer nichts im Sinn.«
Ich liege fast jeden Abend noch lange wach, während Trüffel

Page 310
und Pralinen vor meinen Augen tanzen. Anouk schläft in ihrem
neuen Zimmer unter dem Dach, und ich träume mit offenen
Augen, nicke ein, wache träumend auf, döse vor mich hin, bis
meine Augenlider schmerzen und das Zimmer um mich herum
schwankt wie ein Schiff auf hoher See. Nur noch ein Tag, sage
ich mir, nur noch ein Tag.
Letzte Nacht bin ich noch einmal aufgestanden und habe die
Karten aus der Schachtel genommen, obwohl ich mir eigentlich
fest vorgenommen hatte, sie nicht mehr anzurühren. Sie fühlten
sich kühl an, kühl und glatt wie Elfenbein, zeigten sich in ihren
bunten Farben, als ich sie auffächerte, und die vertrauten Bilder
leuchteten nacheinander auf wie zwischen Glasscheiben
gepreßte Blumen. Der Turm. Der Tod. Die Liebenden. Der
Tod. Sechs Schwerter. Der Tod. Der Eremit. Der Tod . Ich sage
mir, es hat nichts zu bedeuten. Meine Mutter glaubte an die
Karten, aber was hat es ihr gebracht? Flucht, immer wieder
Flucht. Die Wetterfahne auf dem Kirchturm schweigt, es
herrscht eine fast unheimliche Stille. Der Wind hat sich gelegt.
Die Stille beunruhigt mich mehr als das Quietschen des alten
Eisens. Die Luft ist warm und duftet süß nach dem
herannahenden Sommer. Der Sommer kommt schnell nach
Lansquenet, folgt dem Märzwind auf dem Fuß, und er riecht
nach Zirkus; nach Sägemehl und in heißem Fett brutzelndem
Teig und frisch geschlagenem Holz und Pferdeäpfeln. Die
Stimme meiner Mutter flüstert: Zeit zum Aufbruch. Bei Armande
brennt noch Licht; ich kann das kleine gelbe Viereck ihres
Fensters, das sich im Tannes widerspiegelt, von hier aus
sehen. Ich frage mich, was sie gerade tut. Seit jenem ersten Mal
hat sie nicht mehr mit mir über ihre Pläne gesprochen. Sie redet
nur noch von Rezepten, erklärt mir, wie man einen
Bisquitkuchen flambiert und welches für in Brandy eingelegte
Kirschen das beste Verhältnis von Zucker zu Alkohol ist. Ich

Page 311
habe in meinem medizinischen Wörterbuch nachgelesen, was
dort über Diabetes steht. Der Fachjargon ist auch eine Art
Fluchtweg, dunkel und hypothetisch wie die Karten.
Unvorstellbar, daß diese Sprache sich auf menschliche Körper
beziehen soll. Ihr Augenlicht läßt immer mehr nach, schwarze
Flecken treiben über ihr Gesichtsfeld, so daß alles, was sie
sieht, gescheckt und gesprenkelt und schließlich nicht mehr zu
erkennen ist. Dann kommt die Dunkelheit.
Ich verstehe ihre Situation. Warum sollte sie weiter um ein
Leben kämpfen, das unweigerlich in der Dunkelheit endet? Ihr
Vorhaben Verschwendung zu nennen – ein Begriff, den meine
Mutter nach Jahren der Einschränkung und der Ungewißheit
häufig benutzte –, ist hier sicherlich unangebracht, sage ich mir.
Eine letzte verschwenderische Geste, ein riesiges Gelage, ein
Feuerwerk und dann die totale Finsternis. Und doch schreit
irgend etwas in mir: unfair!, die kindische Hoffnung auf ein
Wunder. Auch das die Stimme meiner Mutter. Armande weiß es
besser.
Während der letzten Wochen – das Morphium beherrschte sie
inzwischen Tag und Nacht, und ihre Augen waren nur noch
glasig – verlor sie stundenlang den Bezug zur Wirklichkeit,
flatterte von Hirngespinst zu Hirngespinst wie ein Schmetterling
von einer Blume zur anderen. Manche waren lieblich, Träume
von Schwerelosigkeit, von bunten Lichtern, von ätherischen
Begegnungen mit längst verstorbenen Filmstars und Wesen von
fernen Planeten. Manche waren schrecklich, düstere
Angstträume. In denen war der Schwarze Mann immer präsent,
lauerte an Straßenecken, saß in einem Diner am Fenster, hinter
der Theke in einem Kramladen. Manchmal war er ein
Taxifahrer; eine Baseballmütze tief in die Augen gezogen, saß
er am Steuer in einem schwarzen Londoner Taxi, das aussah
wie ein Leichenwagen. Auf die Mütze war das Wort

Page 312
DODGERS, Drückeberger, aufgestickt, sagte sie, und
deswegen suche er nach ihr, nach uns, nach allen, die ihm
schon einmal entwischt waren, aber man konnte ihm nicht für
immer entkommen, sagte sie und schüttelte wissend den Kopf,
niemals für immer. Einmal, während sie unter dem Bann eines
solchen Verfolgungswahns stand, kramte sie eine gelbe
Plastikmappe hervor und zeigte sie mir. Sie war gefüllt mit
Zeitungsausschnitten, überwiegend aus den späten sechziger
und frühen siebziger Jahren. Die meisten waren auf französisch,
andere auf italienisch, deutsch oder griechisch. In allen ging es
um Entführungen, um verschwundene oder mißhandelte Kinder.
»Es passiert so leicht«, sagte sie mir mit weit aufgerissenen
Augen. »In großen Städten. Es passiert so leicht, daß man ein
Kind wie dich verliert.« Sie zwinkerte mir erschöpft zu. Ich
streichelte ihre Hand.
»Ist schon in Ordnung, Maman«, sagte ich. »Du hast ja immer
gut auf mich aufgepaßt. Mir ist nie etwas passiert.«
Sie zwinkerte noch einmal.
»Oh, aber du bist verlorengegangen«, sagte sie lächelnd.
»Ver-lo-ren.« Dann starrte sie eine Zeitlang ins Leere, das
Gesicht grinsend verzerrt, ihre Finger in meiner Hand wie ein
Bündel Reisig. »Ver-looo-ren«, wiederholte sie abwesend und
begann zu weinen. Ich tröstete sie, so gut ich konnte, und
steckte die Zeitungsartikel zurück in die Mappe. Dabei fiel mir
auf, daß in mehreren Artikeln über denselben Fall berichtet
wurde, über das Verschwinden der achtzehn Monate alten
Sylviane Caillou in Paris. Ihre Mutter hatte sie zwei Minuten lang
im Auto allein gelassen, während sie etwas aus der Apotheke
besorgte, und als sie zurückkam, war das Baby nicht mehr da.
Mit dem Kind verschwunden waren die Tasche mit den Windeln
und die Spielsachen, ein roter Plüschelefant und ein brauner
Teddybär.

Page 313
Als meine Mutter sah, wie ich den Artikel las, begann sie
wieder zu lächeln.
»Ich glaube, damals warst du zwei«, sagte sie in einem
verschwörerischen Ton. »Oder beinahe zwei. Und sie hatte viel
helleres Haar als du. Du konntest es also nicht gewesen sein,
nicht wahr? Außerdem war ich eine bessere Mutter als sie.«
»Bestimmt«, sagte ich. »Du warst eine gute Mutter, eine
wunderbare Mutter. Mach dir keine Sorgen. Du hättest mich nie
in Gefahr gebracht.«
Meine Mutter wiegte sich hin und her und lächelte.
»Leichtsinnig«, sagte sie leise. »Einfach leichtsinnig. Die hat
so ein nettes kleines Mädchen gar nicht verdient, nicht wahr?«
Ich schüttelte den Kopf. Plötzlich war mir kalt.
»Ich war keine schlechte Mutter, nicht wahr, Vianne?« fragte
sie wie ein Kind.
Mir lief ein Schauer über den Rücken. Das Zeitungspapier
fühlte sich rauh an.
»Nein«, versicherte ich ihr. »Du warst keine schlechte Mutter.«
»Ich hab mich gut um dich gekümmert, stimmt’s? Ich hab dich
nie weggegeben. Noch nicht mal, als dieser Priester gesagt hat
… was er gesagt hat. Nie.«
»Nein, Maman, nie.«
Vor Kälte fühlte ich mich wie gelähmt, konnte kaum noch
denken. Das einzige, was mir durch den Kopf ging, war der
Name, dem meinen so ähnlich, die Daten … Und erinnerte ich
mich nicht auch an diesen Bären, diesen Elefanten, dessen
Plüschfell so abgewetzt war, daß der rote Stoff überall
durchschimmerte, den wir unermüdlich von Paris nach Rom, von
Rom nach Wien mitschleppten?
Natürlich konnte es sich um eine ihrer Angstphantasien
handeln. Ebenso wie die Schlange im Bett und die Frau im
Spiegel. Es konnte eine Selbsttäuschung sein. So vieles im

Page 314
Leben meiner Mutter basierte auf Selbsttäuschung. Und was
spielte es für eine Rolle … nach so langer Zeit?
Um drei stand ich auf. Das Bett war verschwitzt und zerwühlt;
an Schlaf war nicht mehr zu denken. Ich zündete eine Kerze an
und ging damit in Joséphines leeres Zimmer. Die Karten waren
an ihrem alten Platz in der Schachtel meiner Mutter; sie fühlten
sich glatt und kühl an, als ich sie herausnahm. Die Liebenden.
Der Turm. Der Eremit. Der Tod . Ich setzte mich im
Schneidersitz auf den Holzboden und mischte die Karten. Den
Turm mit den herabstürzenden Menschen, den bröckelnden
Mauern, konnte ich deuten. Es ist meine ständige Angst vor der
Vertreibung, die Angst vor der Straße, vor Verlust. Der Eremit
mit seiner Kapuze und der Laterne erinnert mich an Reynaud,
das blasse, verschlagene Gesicht halb versteckt im Schatten.
Den Tod kenne ich sehr gut, und ich streckte automatisch
Zeige-und Mittelfinger über der Karte aus … Sei gebannt! Aber
die Liebenden? Ich dachte an Roux und Joséphine, die sich so
ähnlich waren, ohne es zu wissen, und verspürte einen kurzen
Stich der Eifersucht. Doch mit einemmal war ich davon
überzeugt, daß die Karte noch nicht alle ihre Geheimnisse
preisgegeben hatte. Im Zimmer duftete es nach Flieder.
Vielleicht war eines von den Parfümfläschchen meiner Mutter
nicht richtig verschlossen. Trotz der morgendlichen Kühle wurde
mir ganz heiß. Roux? Roux.
Hastig und mit zitternden Fingern drehte ich die Karte um.
Noch ein Tag. Was immer es sein mag, kann noch einen Tag
warten. Ich mischte die Karten erneut, aber ich bin nicht so
versiert wie meine Mutter, und die Karten glitten mir aus den
Händen und fielen auf den Boden. Der Eremit lag aufgedeckt.
Im flackernden Kerzenlicht erinnerte er mich mehr denn je an
Reynaud. Im Halbdunkel schien er boshaft zu grinsen. Ich werde
einen Weg finden, versprach er mir hinterhältig. Du glaubst, du

Page 315
hättest gewonnen, aber ich werde dich kriegen. Ich spürte seine
Bosheit in den Fingerspitzen.
Meine Mutter hätte es als ein Zeichen gedeutet.
Plötzlich, einer spontanen Eingebung folgend, die ich nur halb
begriff, nahm ich die Karte und hielt sie in die Kerzenflamme.
Einen Moment lang umspielte die Flamme das harte Papier,
dann begann es Blasen zu werfen. Das bleiche Gesicht verzog
sich zu einer Grimasse, dann wurde es schwarz.
»Ich werd’s dir zeigen«, flüsterte ich. »Wag es, mir was
anzutun, und ich –«
Plötzlich loderten die Flammen bedrohlich auf, und ich ließ die
Karte fallen. Das Feuer verlosch, und Funken und Asche stoben
über die Dielen.
Ich war in Hochstimmung.
Wer wird jetzt die Veränderungen einläuten, Mutter?
Und dennoch kann ich mich nicht gegen das Gefühl wehren,
daß ich manipuliert wurde, daß ich mich habe drängen lassen,
etwas zu offenbaren, was besser unberührt geblieben wäre. Ich
habe doch nichts getan, sage ich mir. Ich hatte keine böse
Absicht.
Trotzdem will es mir nicht gelingen, den Gedanken zu
verscheuchen. Ich fühle mich ganz leicht, körperlos wie
Löwenzahnsamen. Bereit, mich mit dem Wind davontreiben zu
lassen.
Freitag, 28. März
Karfreitag
Ich müßte eigentlich bei meiner Herde sein, Vater. Ich weiß es.
Die Luft in der Kirche ist schwer vom Weihrauch, es herrscht
Grabesstimmung, alles ist mit schwarzen und violetten Tüchern
verhängt, nicht eine einzige Blume ist geblieben. Ich müßte dort
sein. Heute ist mein größter Tag, Vater, die Feierlichkeit, die

Page 316
Ehrfurcht, die Orgel, die wie eine Unterwasserglocke dröhnt –
die Glocken selbst schweigen natürlich, aus Trauer über Christi
Tod am Kreuz. Ich selbst in Schwarz und Violett, zur Begleitung
der Orgel die Choräle anstimmend. Sie schauen mich mit
großen, dunklen Augen an. Selbst die Abtrünnigen sind heute
gekommen, ganz in Schwarz gekleidet und mit Pomade im
Haar. Ihre Bedürftigkeit, ihre Erwartungen füllen die Leere in
mir. Einen Augenblick lang empfinde ich echte Liebe; ich liebe
sie wegen ihrer Sünden, wegen ihrer Erlösung, ihrer nichtigen
Sorgen, ihrer Bedeutungslosigkeit. Ich weiß, daß Sie mich
verstehen, denn Sie sind auch ihr Vater gewesen. In gewissem
Sinne sind Sie genauso für sie gestorben wie unser Herr Jesus.
Um sie vor Ihren und ihren eigenen Sünden zu bewahren. Sie
haben es nie erfahren, nicht wahr, Vater? Von mir jedenfalls
nicht. Aber als ich Sie mit meiner Mutter in der Kanzlei entdeckt
habe … Ein schwerer Schlaganfall, sagte der Arzt. Der Schock
muß zu groß gewesen sein. Sie haben sich zurückgezogen. Sie
haben sich in sich selbst zurückgezogen, doch ich weiß, daß
Sie mich hören können, ich weiß, daß Sie klarer sehen als je
zuvor. Und ich weiß, daß Sie eines Tages zu uns zurückkehren
werden. Ich habe gefastet und gebetet, Vater. Ich habe mich in
Demut geübt. Und dennoch fühle ich mich unwürdig. Es gibt
immer noch eine Sache, die ich noch nicht erledigt habe.
Nach der Messe kam ein Kind auf mich zu, Mathilde Arnauld.
Sie nahm meine Hand und flüsterte:
»Werden Sie Ihnen auch Schokoladeneier bringen, Monsieur
le Curé?«
»Wer soll mir Schokoladeneier bringen?« fragte ich verblüfft.
» D i e Glocken natürlich!« Sie kicherte. »Die fliegenden
Glocken!«
»Ach so. Die Glocken. Natürlich.«
Einen Augenblick lang war ich verwirrt und wußte nicht, was

Page 317
ich sagen sollte. Sie zupfte ungeduldig an meiner Soutane.
»Sie wissen doch, die Glocken. Sie fliegen nach Rom zum
Papst und wenn sie zurückkommen, bringen sie
Schokoladenostereier –«
Es ist zu einer fixen Idee geworden. Ein Refrain, ein
geflüsterter Kehrreim, der jedem Gedanken folgt. Ich konnte
meine Wut nicht beherrschen, und ihr erwartungsvolles Gesicht
war plötzlich angstverzerrt. Ich brüllte: »Wieso kann plötzlich
niemand mehr an etwas anderes als Schokolade denken?«,
und das Kind rannte weinend über den Platz davon, während
der kleine Laden mit seinem verlockend verhangenen Fenster
mich triumphierend angrinste. Zu spät rief ich ihr nach.
Heute abend werden Kinder aus der Gemeinde die letzten
Augenblicke im Leben unseres Herrn Jesus nachspielen, eine
symbolische Grablegung vollziehen und Kerzen anzünden, wenn
es dunkel wird. Gewöhnlich ist dies für mich eines der
wichtigsten Ereignisse des Jahres, der Augenblick, in dem sie
ganz mir gehören, meine Kinder, ganz ernst und ganz in
Schwarz gekleidet. Aber werden sie auch in diesem Jahr an die
Leidensgeschichte denken, an die Feierlichkeit der Eucharistie,
oder wird ihnen vor lauter Vorfreude schon das Wasser im
Mund zusammenlaufen? Ihre Geschichten – fliegende Glocken
und rauschende Feste – sind überzeugend und verführerisch.
Ich bemühe mich, unsere eigenen Verführungskünste in die
Messe einfließen zu lassen, aber die dunkle Herrlichkeit der
Kirche kommt gegen abenteuerliche Reisen auf fliegenden
Teppichen nicht an.
Heute nachmittag habe ich Armande Voizin einen Besuch
abgestattet. Sie hat heute Geburtstag, und in ihrem Haus
herrschte reges Treiben. Ich wußte natürlich, daß eine Party
geplant ist, aber so etwas hätte ich nie erwartet. Caro hat es mir
gegenüber ein-oder zweimal erwähnt – sie hat eigentlich keine

Page 318
Lust hinzugehen, aber sie hofft, die Gelegenheit nutzen zu
können, um ein für allemal Frieden mit ihrer Mutter zu schließen
–, doch ich fürchte, auch sie hat keine Ahnung, welche
Ausmaße diese Party offenbar annimmt. Vianne Rocher war in
der Küche und schon den ganzen Tag dabei, das Essen
zuzubereiten. Joséphine Muscat hat die Küche des Cafés
zusätzlich zur Verfügung gestellt, denn in Armandes Haus ist
nicht genug Platz für so aufwendige Vorbereitungen, und als ich
ankam, war eine ganze Phalanx von Helfern dabei, Platten,
Töpfe und Terrinen vom Café zu Armande zu tragen. Aus dem
offenen Fenster duftete es köstlich nach gutem Wein, und
gegen meinen Willen lief mir das Wasser im Mund zusammen.
Im Garten war Narcisse dabei, eine Art Pergola, die er
zwischen dem Haus und dem Gartentor errichtet hatte, mit
Blumen zu schmücken. Der Effekt ist verblüffend: Clematis,
Purpurwinde, Flieder und Wicken scheinen an dem hölzernen
Gitterwerk herunterzuranken und bilden ein buntes Blumendach,
das das Sonnenlicht auf sanfte Weise filtert. Armande war
nirgendwo zu sehen.
Aufgewühlt vom Anblick dieser Üppigkeit, wandte ich mich ab.
Typisch für sie, ausgerechnet am Karfreitag so ein opulentes
Fest zu veranstalten. All dieser Überfluß – Blumen, exotische
Speisen, kistenweise Champagner, der in Eis gepackt bis vor
die Tür geliefert wurde – ist eine Blasphemie, ein Hohn
angesichts Christi Opfertod. Morgen muß ich unbedingt mit ihr
darüber reden. Als ich gerade gehen wollte, entdeckte ich
Guillaume Duplessis neben dem Haus, der eine von Armandes
Katzen streichelte. Er zog höflich seinen Hut.
»Sie helfen also auch?« fragte ich.
Guillaume nickte.
»Ich hab versprochen, mit anzupacken«, gab er zu. »Es gibt
immer noch eine Menge zu tun bis heute abend.«

Page 319
»Es wundert mich, daß Sie sich für so etwas einspannen
lassen«, sagte ich in scharfem Ton. »Ausgerechnet am
Karfreitag! Ich finde wirklich, daß Armande es diesmal
übertreibt. Diese Verschwendung – ganz abgesehen von der
Respektlosigkeit gegenüber der Kirche –«
Guillaume zuckte die Achseln.
»Sie hat ein Recht auf eine kleine Feier«, erwiderte er sanft.
»Ich fürchte eher, daß sie sich mit dieser Völlerei umbringt!«
raunzte ich.
»Ich denke, sie ist alt genug, um zu tun, was ihr gefällt«, sagte
Guillaume.
Ich schaute ihn mißbilligend an. Er hat sich verändert, seit er
mit dieser Rocher verkehrt. Sein demütiger Blick ist
verschwunden, und jetzt liegt statt dessen etwas Eigensinniges,
beinahe Trotziges in seinem Gesichtsaudruck.
»Es gefällt mir nicht, wie Armandes Familie sich dauernd in ihr
Leben einmischt«, fuhr er dickköpfig fort. Ich zuckte mit den
Schultern.
»Es wundert mich, daß ausgerechnet Sie sich auf ihre Seite
schlagen«, sagte ich.
»Es geschehen noch Zeichen und Wunder«, sagte Guillaume.
Ich wünschte, er hätte recht.

Page 320
Freitag, 28. März
Karfreitag
Irgendwann vergaß ich, was die Party zu bedeuten hatte, und
begann mich zu freuen. Während Anouk unten in Les Marauds
spielte, traf ich die letzten Vorkehrungen für das größte und
üppigste Essen, das ich je zubereitet hatte, und war nur noch
mit den Einzelheiten des Festmahls beschäftigt. Ich hatte drei
Küchen zur Verfügung; meine eigenen geräumigen Öfen im
Laden, wo ich die Kuchen backte, die Küche des Café des
Marauds für die Meeresfrüchte und Armandes winzige Küche
für die Suppen, Beilagen, Soßen und Garnierungen. Joséphine
bot Armande an, ihr Geschirr und Besteck zu leihen, aber
Armande schüttelte lächelnd den Kopf.
»Dafür ist bereits gesorgt«, erwiderte sie. Und so war es
auch; am frühen Donnerstagmorgen kam ein Lieferwagen mit
dem Namen einer Firma in Limoges und brachte zwei Kisten
mit Gläsern und Besteck und eine mit Porzellan, alles in
Holzwolle verpackt. Der Fahrer des Wagens grinste, als
Armande die Quittung unterschrieb.
»Eine Ihrer Enkelinnen feiert wohl Hochzeit, was?« fragte er
vergnügt. Armande lachte.
»Gut möglich«, erwiderte sie. »Gut möglich.«
Den ganzen Freitag über war sie bester Laune, wollte alles
überwachen, war dabei jedoch meistens im Weg. Wie ein
ungezogenes Kind steckte sie die Finger in jede Soße, hob
jeden Deckel hoch, bis ich schließlich Guillaume anflehte, sie für
ein paar Stunden zum Friseur in Agen zu entführen, damit ich in
Ruhe arbeiten konnte. Als sie zurückkehrte, war sie wie
verwandelt: das Haar modisch kurz geschnitten, einen
verwegenen neuen Hut auf dem Kopf, neue Handschuhe, neue

Page 321
Schuhe. Schuhe, Handschuhe und Hut waren allesamt kirschrot,
Armandes Lieblingsfarbe.
»Ich werde immer mutiger«, erklärte sie mir voller
Genugtuung, als sie sich in ihren Schaukelstuhl setzte, um das
Geschehen zu verfolgen. »Bis zum Wochenende bin ich
vielleicht soweit, daß ich mich traue, mir ein rotes Kleid zu
kaufen. Stellen Sie sich bloß vor, wie ich damit in die Kirche
gehe!«
»Ruhen Sie sich ein bißchen aus«, sagte ich streng. »Sie
müssen heute abend eine Party überstehen. Ich möchte nicht,
daß Sie mitten beim Dessert einschlafen.«
»Keine Sorge«, erwiderte sie, willigte jedoch ein, in der
späten Nachmittagssonne ein Nickerchen zu machen, während
ich den Tisch deckte und die anderen nach Hause gingen, um
sich auszuruhen und für den Abend umzuziehen. Der Eßtisch ist
groß, eigentlich zu groß für Armandes kleines Zimmer, und
wenn ich es geschickt anstelle, müßten wir alle Platz daran
finden. Wir mußten zu viert anfassen, um das schwere Möbel
aus massivem Eichenholz hinauszutragen und unter das Dach
aus Blumen und Blättern zu stellen, das Narcisse errichtet hat.
Die Tischdecke ist aus Damast mit einer Bordüre aus feiner
Spitze und duftet nach dem Lavendel, auf den Armande sie
nach ihrer Hochzeit gelegt hat – ein Geschenk ihrer Großmutter,
das sie noch nie benutzt hat. Die Teller aus Limoges sind weiß
mit kleinen, gelben Blüten auf dem Rand; die Gläser – drei
verschiedene Sorten – sind aus Kristall, kleine Nester voller
Sonnenlicht, die bunte Regenbogensprenkel auf das weiße
Tischtuch werfen. In die Mitte des Tischs kommt eine Vase mit
Frühlingsblumen von Narcisse, neben jeden Teller eine
säuberlich gefaltete Serviette. Auf den Servietten Tischkarten
mit den Namen der Gäste:
Armande Voizin, Vianne Rocher, Anouk Rocher, Caroline

Page 322
Clairmont, Georges Clairmont, Luc Clairmont, Guillaume
Duplessis, Joséphine Bonnet, Julien Narcisse, Michel Roux,
Blanche Dumand, Cerisette Plançon.
Im ersten Augenblick konnte ich mit den letzten beiden Namen
nichts anfangen, doch dann erinnerte ich mich an Blanche und
Zézette, die immer noch flußabwärts mit ihrem Boot warteten.
Mir fiel auf, daß ich bisher Roux’ Namen gar nicht gekannt hatte,
daß ich davon ausgegangen war, es sei ein Spitzname,
vielleicht wegen seiner roten Haare.
Die Gäste kamen gegen acht. Um sieben war ich kurz nach
Hause gelaufen, um zu duschen und mich umzuziehen, und als
ich zurückkam, war das Boot bereits vor dem Haus
festgemacht, und Blanche, Zézette und Roux stiegen gerade
aus. Blanche in einem roten Dirndl und einer Schürze aus
Spitze, Zézette in einem alten schwarzen Abendkleid, die Arme
mit Henna bemalt und einen Rubin in der Augenbraue, Roux in
sauberen Jeans und einem weißen T-Shirt. Jeder von ihnen
hatte ein Geschenk dabei, bunt verpackt in Geschenkpapier
oder Tapeten-und Stoffresten. Dann kam Narcisse in seinem
Sonntagsanzug, dann Guillaume mit einer gelben Blume im
Knopfloch, dann die Clairmonts, sehr bemüht, gut gelaunt zu
wirken. Caro beäugte die fahrenden Leute mit mißtrauischen
Blicken, schien jedoch entschlossen, sich zu amüsieren, da nun
mal ein solches Opfer von ihr verlangt wurde … Bei Apéritifs,
gesalzenen Pinienkernen und kleinen Plätzchen sahen wir
Armande beim Auspacken ihrer Geschenke zu: von Anouk ein
roter Umschlag mit einem selbstgemalten Bild von einer Katze
darin, von Blanche ein Glas Honig, von Zézette mit dem
Buchstaben »B« bestickte Säckchen mit Lavendel – »Ich bin
nicht mehr dazu gekommen, neue Säckchen mit Ihren Initialen
zu besticken«, erklärte sie heiter, »aber bis zum nächsten Jahr
schaffe ich es« –, von Roux ein geschnitztes Eichenblatt, so

Page 323
zart, als sei es echt, mit ein paar am Stiel befestigten Eicheln,
von Narcisse ein Korb mit Früchten und Blumen. Auch die
Clairmonts haben Geschenke mitgebracht; ein Halstuch – nicht
von Hèrmes, fiel mir auf, aber trotzdem aus Seide – und eine
silberne Blumenvase; von Luc etwas Rotes, Glänzendes in
einem Umschlag aus Kreppapier, das er so gut er kann vor den
Blicken seiner Mutter verbirgt, indem er es unter einen Stapel
Geschenkpapier schiebt … Armande grinst und wirft mir einen
verschmitzten Blick zu. Mit einem entschuldigenden Lächeln
überreicht Joséphine ihr ein kleines goldenes Medaillon.
»Es ist nicht neu«, sagt sie.
Armande hängt es sich um den Hals, drückt Joséphine kurz
ans Herz und schenkt großzügig Champagner aus. Ich höre die
Gespräche von der Küche aus; soviel Essen zuzubereiten ist
eine knifflige Angelegenheit und erfordert große Konzentration,
aber ich bekomme trotzdem einiges mit von dem, was draußen
vor sich geht. Caro gibt sich freundlich, aufgeschlossen;
Joséphine ist still; Roux und Narcisse haben ihr gemeinsames
Interesse an exotischen Obstbäumen entdeckt. Zézette singt ein
Volkslied mit ihrer hohen Stimme, während sie das Baby lässig
in einem Arm wiegt. Mir fällt auf, daß sogar das Baby zur Feier
des Tages mit Henna bemalt ist, so daß es mit seiner
marmorierten, goldenen Haut aussieht wie eine dicke, kleine
Netzmelone.
Inzwischen haben alle am Tisch Platz genommen. Armande ist
in Hochstimmung und bestreitet den größten Teil des
Tischgesprächs. Ich höre Luc in seiner angenehmen, leisen
Stimme etwas von einem Buch erzählen, das er gerade liest.
Caros Stimme wird ein bißchen schärfer – ich vermute, daß
Armande sich gerade ein weiteres Glas St. Raphaël
eingeschenkt hat.
»Maman, du weißt doch, daß du das nicht –« höre ich sie

Page 324
sagen, aber Armande lacht einfach nur.
»Das ist mein Geburtstagsfest«, verkündet sie fröhlich. »Und
ich will nicht, daß auf meinem Fest irgend jemand unglücklich
ist, am allerwenigsten ich selbst.«
Damit ist das Thema vorerst erledigt. Ich höre Zézette mit
Georges flirten. Roux und Narcisse fachsimpeln über Pflaumen.
»Belle du Languedoc«, erklärt Narcisse ernst. »Das ist
meiner Meinung nach die beste. Süß und klein, mit Blüten wie
Schmetterlingsflügel –« Aber Roux läßt sich nicht beirren.
»Mirabellen«, sagt er bestimmt. »Das sind die einzigen
gelben Pflaumen, die anzubauen sich lohnt. Mirabellen.«
Ich wende mich wieder dem Ofen zu, und eine Zeitlang höre
ich nichts mehr.
Kochen ist eine Leidenschaft von mir, und ich habe es mir
selbst beigebracht. Niemand hat es mir gezeigt. Meine Mutter
braute Wundermittel und Zaubertränke, und ich habe ihre Kunst
zu einer süßeren Alchimie veredelt. Wir sind uns nie sehr
ähnlich gewesen, meine Mutter und ich. Sie träumte vom
Fliegen, von Sternenwanderungen und geheimen Essenzen; ich
brütete über Rezepten und Speisekarten, die ich aus teuren
Restaurants geklaut hatte, wo zu essen wir uns nie leisten
konnten. Immer wieder spöttelte sie liebevoll über meine
fleischlichen Gelüste.
»Zum Glück haben wir kein Geld«, sagte sie zu mir. »Sonst
würdest du noch so fett werden wie ein Schwein.« Arme Mutter.
Als der Krebs sie schon halb zerfressen hatte, konnte sie sich
immer noch über jedes Pfund freuen, das sie abnahm. Und
während sie ihre Karten deutete und vor sich hin murmelte,
studierte ich meine Sammlung Rezeptkarten und sagte die
Namen der exotischen Gerichte auf wie Mantras, wie eine
geheime Formel, die ewiges Leben verspricht. Bœuf en
Daube. Champignons farcis à la grèque. Escalopes à la

Page 325
Reine. Crème Caramel. Schokoladentorte. Tiramisu. In der
geheimen Küche meiner Phantasie bereitete ich sie alle zu,
probierte sie aus, kostete sie, erweiterte meine
Rezeptsammlung an jedem Ort, in den wir kamen, klebte sie in
mein Heft wie Fotos von alten Freunden. Sie verliehen unserer
Wanderschaft Bedeutung; die glänzenden Bilder, die aus den
zerfledderten Seiten meiner Kladde hervorlugten, waren wie
Meilensteine auf unserem ziellosen Weg.
Jetzt trage ich die Gerichte auf wie lange vermißte Freunde.
Soupe de tomates à la gasconne, mit frischem Basilikum
serviert, dazu tartelettes méridonales mit einem hauchdünnen
Boden aus pâte brisée, gewürzt mit Olivenöl und belegt mit
Anchovis und saftigen, einheimischen Tomaten, die zuvor
zusammen mit Oliven langsam weich gedünstet wurden und
dadurch einen fast unvorstellbar köstlichen Geschmack
ergeben. Ich fülle lange, schlanke Gläser mit 85er Chablis. Mit
betont gezierter Geste trinkt Anouk aus ihrem Glas Limonade.
Narcisse interessiert sich für die Zutaten der tartelettes und
preist die Qualitäten der weniger gleichmäßig geformten
Roussette-Tomate im Vergleich zu den nach nichts
schmeckenden europäischen Standardtomaten. Roux zündet
die Holzkohlengrills zu beiden Seiten des Tisches an und
besprenkelt sie mit Zitronellöl, um die Insekten fernzuhalten. Ich
bemerke, daß Caro Armande mit mißbilligendem Blick
beobachtet. Ich esse nur wenig. Die Küchendüfte, die mich den
ganzen Tag umgeben haben, sind mir in den Kopf gestiegen,
ich fühle mich aufgekratzt und ungewöhnlich empfindlich, so daß
ich, als Joséphines Hand mich während des Essens streift,
zusammenfahre und beinahe aufschreie. Der Chablis ist kühl
und trocken, und ich trinke mehr, als ich sollte. Farben werden
greller, Geräusche schriller. Ich höre Armande das Essen loben.
Ich trage den Kräutersalat auf, um den Gaumen wieder

Page 326
freizumachen, dann foie gras auf warmem Toast. Mir fällt auf,
daß Guillaume seinen Hund mitgebracht hat und ihn heimlich
unter dem Tisch mit kleinen Leckerbissen füttert. Wir kommen
von der Politik zum Problem mit den baskischen Separatisten,
von der ETA über die neueste Damenmode zur Frage, wie man
Rauke am besten anpflanzt, und zu den Vorzügen von wildem
Salat. Dazu fließt reichlich Chablis. Dann kommt der vol-aux-
vents auf den Tisch, so leicht wie eine Sommerbrise, dann
Holunderblütensorbet gefolgt von einer großen Platte fruits de
mer – gegrillte Langusten, blaue Krabben, Garnelen, Austern,
berniques, Spinnenkrebse und die größeren Taschenkrebse,
die einem mit derselben Leichtigkeit, mit der ich einen Stiel
Rosmarin pflücke, einen Finger abschneiden können,
Strandschnecken, palourdes und obenauf ein riesiger
schwarzer Hummer, königlich auf seinem Bett aus Seetang. Die
riesige Platte glänzt farbenprächtig in Rot-und Rosatönen,
hellen und dunklen Schattierungen von Meeresgrün, dazwischen
Perlmuttfarben und Violett, Köstlichkeiten wie aus der
Schatzkammer einer Meerjungfrau, die romantisch nach
Salzwasser duften wie Erinnerungen an Kindertage am Meer.
Wir verteilen Zangen für die Krebsscheren, kleine Gabeln für die
Muscheln, Schüsselchen mit Zitronenscheiben und Mayonnaise.
Unmöglich, sich angesichts solcher Delikatessen
zurückzuhalten; solche Dinge erfordern Aufmerksamkeit,
Ungezwungenheit. Gläser und Besteck glitzern im Licht der
Lampions, die an dem Gitterwerk über unseren Köpfen hängen.
Die Nacht duftet nach Blumen und Flußwasser. Armandes
Finger sind so geschickt wie die einer Spitzenklöpplerin; der
Teller mit den leeren Schalen vor ihr füllt sich mühelos. Ich hole
Nachschub an Chablis; Augen leuchten, Gesichter glänzen rosig
beim Pulen der Schalentiere. Diese Leckerbissen muß man
sich erarbeiten, das erfordert Zeit. Joséphine wird langsam

Page 327
entspannter, unterhält sich sogar mit Caro, während sie mit
einer Krebsschere kämpft. Caros Hand rutscht aus, ein feiner
Strahl Salzwasser schießt ihr ins Auge. Joséphine lacht. Einen
Augenblick später lacht Caro mit. Auch ich unterhalte mich. Der
Wein ist hell und trügerisch, seine berauschende Wirkung
wegen seiner Weichheit kaum wahrnehmbar. Caro ist bereits
leicht beschwipst, ihre Wangen sind gerötet, kleine Löckchen
lösen sich aus ihrer strengen Frisur. Georges streichelt mein
Knie unter dem Tisch und zwinkert mir lüstern zu. Blanche
erzählt vom Leben der fahrenden Leute; es gibt nicht wenige
Orte, die wir beide schon gesehen haben, sie und ich. Nizza,
Wien, Turin. Zézettes Baby fängt an zu weinen; sie taucht einen
Finger in den Chablis und läßt das Baby daran saugen.
Armande diskutiert mit Luc, der um so weniger stottert, je mehr
Wein er trinkt, über de Musset. Schließlich räume ich die
leergegessene Platte und die Teller mit den perlmuttfarbenen
Abfällen ab. Es gibt Schalen mit Zitronenwasser für die Finger
und Minzesalat für den Gaumen. Ich sammle die Gläser ein und
verteile die coupes à champagne. Caro wirkt wieder besorgt.
Auf dem Weg in die Küche höre ich sie leise und eindringlich
auf Armande einreden.
Armande wimmelt sie ab.
»Darüber können wir später reden. Heute abend will ich
feiern.«
Sie begrüßt den Champagner mit einem zufriedenen
Jauchzer.
Zum Dessert gibt es Schokoladenfondue. Der klare Tag ist
wie geschaffen dafür – feuchtes Wetter macht die
geschmolzene Schokolade stumpf –, mit siebzig Prozent
Bitterschokolade, Butter, ein wenig Mandelöl, im allerletzten
Augenblick ein Schuß Sahne dazu und sanft über einem
Rechaud erhitzt. Dann werden kleine Stücke Kuchen oder Obst

Page 328
aufgespießt und in die Schokoladenmischung getaucht. Ich
habe jedem Gast seine Lieblingssorte Kuchen mitgebracht,
allerdings ist nur der gâteau de savoie zum Tunken gedacht.
Caro erklärt, sie würde keinen Bissen mehr herunterbringen,
nimmt aber dann doch zwei Stücke von der schwarzweißen
Schokoladenbisquitrolle. Armande probiert von allem, ihre
Wangen glühen, und sie wird immer aufgekratzter. Joséphine
erklärt Blanche gerade, warum sie ihren Mann verlassen hat.
Hinter vorgehaltener Hand und mit Schokolade an den Fingern
grinst Georges mir lüstern zu. Luc zieht Anouk auf, die auf ihrem
Stuhl beinahe einschläft. Der Hund beißt spielerisch in ein
Tischbein. Zézette beginnt völlig unbefangen ihr Baby zu stillen.
Caro scheint eine Bemerkung dazu machen zu wollen, zuckt
jedoch dann die Achseln und verkneift es sich. Ich öffne noch
eine Flasche Champagner.
»Geht es dir wirklich gut?« erkundigt Luc sich ruhig bei
Armande. »Ich meine, ist dir wirklich nicht schlecht oder so? Du
hast doch deine Medizin genommen, oder?«
Armande lacht.
»Du machst dir viel zu viele Gedanken für dein Alter«, sagt
sie. »Du solltest mal Dampf machen und deine Mutter die
Wände hochtreiben, anstatt einen alten Hund das Bellen lehren
zu wollen.« Sie ist immer noch in Stimmung, wirkt aber
mittlerweile leicht erschöpft. Wir sitzen schon seit fast vier
Stunden am Tisch. Es ist zehn vor zwölf.
»Ich weiß«, erwidert er lächelnd. »Aber ich möchte noch nicht
so bald mein Erbe antreten.« Sie tätschelt ihm die Hand und
schenkt ihm noch ein Glas Champagner ein. Ihre Hand zittert ein
wenig, und sie verschüttet etwas auf die Tischdecke.
»Keine Sorge«, sagt sie fröhlich. »Es ist noch genug da.«
Wir runden das Mahl ab mit Schokoladeneis, Trüffeln und
Espresso in winzigen Tassen, dazu Calvados aus heißen

Page 329
Gläsern. Anouk verlangt ihren canard, einen Zuckerwürfel mit
ein paar Tropfen Calvados, und dann noch einen für Pantoufle.
Tassen und Teller sind schnell geleert. Die Holzkohlenfeuer sind
fast heruntergebrannt. Ich beobachte Armande, die immer noch
redet und lacht, wenn auch weniger aufgekratzt als zuvor. Ihre
Augenlider sind schwer geworden, unter dem Tisch hält sie
Lucs Hand.
»Wie spät ist es?« fragt sie kurz darauf.
»Fast eins«, sagt Guillaume.
Sie seufzt.
»Zeit für mich, ins Bett zu gehen«, verkündet sie. »Ich bin
schließlich nicht mehr die Jüngste.« Sie erhebt sich mühsam
und sammelt die Geschenke ein, die unter ihrem Stuhl liegen.
Ich sehe, wie Guillaume sie aufmerksam beobachtet. Er weiß
Bescheid. Sie wirft ihm einen seltsam liebevollen Blick zu.
»Glaubt ja nicht, ich würde jetzt eine Rede halten«, sagt sie
gespielt schroff. »Ich kann Reden nicht ausstehen. Ich möchte
euch nur allen danken – euch allen – und euch sagen, daß ich
mich wunderbar amüsiert habe. Das war mein schönstes
Geburtstagsfest. Die Leute meinen immer, man hat keinen
Spaß mehr, wenn man alt wird. Aber das ist alles Quatsch.«
Hochrufe von Roux, Georges und Zézette. Armande nickt weise.
»Aber weckt mich morgen nicht zu früh«, sagt sie und verzieht
das Gesicht. »Ich glaube, seit ich zwanzig war, hab ich nicht
mehr so viel getrunken, und ich brauche meinen Schlaf.« Sie
wirft mir einen kurzen Blick zu, fast wie eine Warnung. »Ich
brauche meinen Schlaf«, wiederholt sie wie abwesend und
macht sich auf den Weg ins Haus.
Caro stand auf, um sie zu stützen, aber Armande schüttelte sie
unwirsch ab.
»Mach nicht so einen Zirkus, Mädel«, sagte sie. »Das ist
schon immer deine Art gewesen. Dauernd meinst du, du

Page 330
müßtest mich bemuttern.« Sie schaute mich an. »Vianne kann
mir helfen«, erklärte sie. »Ihr anderen könnt bis morgen
warten.«
Ich brachte sie in ihr Zimmer, während die Gäste sich langsam
auf den Heimweg machten, immer noch lachend und
schwatzend. Caro hatte sich bei Georges eingehakt; Luc stützte
sie auf der anderen Seite. Ihre Frisur hatte sich mittlerweile
völlig aufgelöst, so daß sie jünger und weicher wirkte. Als ich
die Tür zu Armandes Zimmer öffnete, hörte ich sie sagen:
»… regelrecht versprochen, daß sie in das Heim ziehen wird
… ich bin ja so erleichtert …« Armande hörte es auch und
kicherte in sich hinein.
»Es muß ein Kreuz sein, so eine aufmüpfige Mutter zu
haben«, sagte sie. »Bringen Sie mich ins Bett, Vianne. Bevor
ich umfalle.« Ich half ihr beim Ausziehen. Auf dem Kopfkissen
lag ein leinenes Nachthemd bereit. Ich faltete ihre Kleider
zusammen, während sie sich das Nachthemd überzog.
»Geschenke«, sagte Armande. »Legen Sie sie dort hin, wo
ich sie sehen kann.« Eine vage Geste in Richtung Kommode.
»Hmm. Das tut gut.«
Fast wie in Trance führte ich ihre Anweisungen aus. Vielleicht
hatte ich auch mehr getrunken, als mir bewußt war, denn ich war
vollkommen ruhig. An der Anzahl der noch im Kühlschrank
vorhandenen Insulinampullen hatte ich festgestellt, daß sie vor
einigen Tagen aufgehört hatte, das Medikament zu nehmen. Ich
hätte sie gern gefragt, ob sie sich ganz sicher war, ob sie
wirklich genau wußte, was sie tat. Statt dessen hängte ich Lucs
Geschenk – ein seidener Schlüpfer in verwegen leuchtendem
Rot – über die Stuhllehne, so daß sie es gut sehen konnte.
Kichernd streckte sie eine Hand aus, um die Seide zu befühlen.
»Sie können jetzt gehen, Vianne.« Ihre Stimme klang sanft,
aber bestimmt. »Es war wunderbar.« Ich zögerte. Einen

Page 331
Augenblick lang sah ich uns beide im Spiegel über der
Frisierkommode. Mit ihrer neuen Frisur sah sie aus wie die alte
Frau in meiner Vision, aber ihre Hände waren leuchtend rot, und
sie lächelte. Sie hatte die Augen geschlossen.
»Lassen Sie das Licht an, Vianne.« Es war eine endgültige
Aufforderung zu gehen. »Gute Nacht.«
Ich gab ihr einen Kuß auf die Wange. Sie duftete nach
Lavendel und Schokolade. Ich ging in die Küche, um den
Abwasch zu erledigen.
Roux war noch geblieben, um mir zu helfen. Die anderen
Gäste waren gegangen. Anouk schlief auf dem Sofa, einen
Daumen im Mund. Schweigend spülten wir das Geschirr, und
ich stellte die neuen Teller und Gläser in Armandes Schrank.
Ein-oder zweimal versuchte Roux, ein Gespräch anzufangen,
aber ich konnte nicht mit ihm reden; nur das Klappern des
Geschirrs durchbrach die Stille.
»Geht es Ihnen gut?« fragte er schließlich und legte zärtlich
eine Hand auf meine Schulter. Seine Haare leuchteten wie
Ringelblumen. Ich sprach aus, was mir als erstes in den Sinn
kam.
»Ich hab gerade an meine Mutter gedacht.« Seltsamerweise
stimmte das. »Das Fest hätte ihr gefallen. Sie liebte …
Feuerwerke.«
Er schaute mich an. Seine seltsamen blauen Augen wirkten in
dem schwachen gelben Küchenlicht beinahe violett. Ich
wünschte, ich hätte ihm von Armande erzählen können.
»Ich wußte gar nicht, daß Sie Michel heißen«, sagte ich
schließlich.
Er zuckte die Achseln.
»Namen spielen keine Rolle.«
»Sie verlieren Ihren Dialekt«, sagte ich verwundert. »Anfangs
hatten Sie so einen starken Marseiller Dialekt, aber jetzt …« Er

Page 332
lächelte sanft.
»Akzente spielen auch keine Rolle.«
Seine Hände umschlossen mein Gesicht. Weich für einen
Handwerker, blaß und weich wie Frauenhände. Ich fragte mich,
ob all das, was er mir über sich erzählt hatte, stimmte. In dem
Augenblick war es mir egal. Ich küßte ihn. Er roch nach Farbe
und Seife und Schokolade. Ich schmeckte Schokolade in
seinem Mund und dachte an Armande. Ich hatte angenommen,
er würde Joséphine lieben. Und auch während ich ihn küßte,
wußte ich, daß er sie liebte, aber dies war der einzige Zauber,
mit dem wir die Nacht bekämpfen konnten. Der primitivste
Zauber, das Feuer, das wir in Beltane vom Berg mitbringen, in
diesem Jahr ein bißchen früh. Ein kleiner Trost zum Trotz gegen
die Dunkelheit. Seine Hände tasteten unter meinem Pullover
nach meinen Brüsten.
Einen Moment lang zögerte ich. Es hat schon zu viele Männer
in meinem Leben gegeben, Männer wie er, gute Männer, die ich
gemocht, aber nicht geliebt habe. Wenn ich recht hatte und er
und Joséphine zusammengehörten, was würde es ihnen antun?
Was würde es mir antun? Sein Mund war sanft, seine
Berührungen unbefangen. Von draußen drang Fliederduft durch
das offene Fenster, von der warmen Luft der Holzkohlenglut
hereingetragen.
»Draußen«, flüsterte ich. »Im Garten.«
Er schaute zu Anouk hinüber, die noch immer auf dem Sofa
schlief, und nickte. Gemeinsam gingen wir hinaus unter den
klaren Sternenhimmel.
Die Holzkohlengrills verbreiteten immer noch eine sanfte
Wärme. Die Blumen an Narcisse’ Pergola umhüllten uns mit
ihrem Duft. Wir lagen im Gras wie Kinder. Wir versprachen uns
nichts, er flüsterte mir keine Liebesschwüre ins Ohr, obwohl er
sehr zärtlich war; beinahe leidenschaftslos liebkoste er mich mit

Page 333
sanften Händen, erkundete meinen Körper mit seiner Zunge.
Der Himmel über seinem Kopf war so violett wie seine Augen,
und ich sah das breite Band der Milchstraße, das wie ein Pfad
um die Welt herumzuführen schien. Ich wußte, es würde das
einzige Mal zwischen uns sein, doch der Gedanke verursachte
nur einen Hauch von Melancholie. Statt dessen überkam mich
ein Gefühl der Unmittelbarkeit, der Erfüllung, das stärker war als
meine Einsamkeit und mich sogar meinen Kummer über
Armande vergessen ließ. Später würde noch genug Zeit zum
Trauern bleiben. Für den Augenblick simples Erstaunen; über
mich selbst, wie ich da so nackt im Gras lag; über den stillen
Mann neben mir, über die Unermeßlichkeit über mir und die
Unermeßlichkeit in mir. Wir lagen noch lange dort, Roux und ich,
bis unser Schweiß abkühlte und kleine Insekten über unsere
Körper krabbelten. Das Blumenbeet zu unseren Füßen duftete
nach Lavendel und Thymian. Wir hielten uns an den Händen und
betrachteten die unerträglich langsamen Bewegung der
Himmelskörper.
Ich hörte Roux ganz leise ein Lied singen:

V’là l’bon vent, v’là l’joli vent,


V’là l’bon vent, ma mie m’appelle …
Der Wind war jetzt in meinem Inneren, zerrte an mir mit seiner
alten Unnachgiebigkeit. Und im Zentrum vollkommene, auf
wundersame Weise ungetrübte Stille, und das beinahe vertraute
Gefühl von Veränderung … Auch das ist eine Art Zauber, etwas,
das meine Mutter nie begreifen konnte, und dennoch gibt mir
diese neue, wundersame, lebendige Wärme in mir eine
Gewißheit, die ich noch nie zuvor empfunden habe. Und endlich
verstand ich, warum ich die Liebenden gezogen hatte. Mit
diesem Wissen im Herzen schloß ich die Augen und versuchte,
von ihr zu träumen, so wie damals während der Monate vor

Page 334
Anouks Geburt, träumte von einer kleinen Fremden mit
leuchtend roten Wangen und funkelnden schwarzen Augen.
Als ich aufwachte, war Roux fort, und der Wind hatte sich
wieder gedreht.
Samstag, 29. März
Die Nacht zu Ostersonntag
Helfen Sie mir, Vater. Habe ich nicht genug gebetet? Nicht
genug für unsere Sünden gelitten? Ich habe auf beispielhafte
Weise Buße getan. Vom vielen Fasten und vom Schlafmangel
ist mir ständig schwindelig. Ist die Karwoche nicht die Zeit der
Erlösung, in der alle Sünden vergeben werden? Die silbernen
Leuchter stehen wieder auf dem Altar, die Kerzen brennen in
Erwartung der Auferstehung. Zum erstenmal seit Beginn der
Fastenzeit schmücken Blumen die Kirche. Selbst der verrückte
Franziskus ist mit Lilien gekrönt, die nach nacktem Fleisch
duften. Wir haben so lange gewartet, Sie und ich. Sechs Jahre
sind seit Ihrem ersten Schlaganfall vergangen. Schon damals
haben Sie nicht mit mir gesprochen, sondern nur mit anderen.
Dann, letztes Jahr, der zweite Schlaganfall. Man sagt mir, Sie
seien unerreichbar, aber ich weiß, daß das nur Täuschung ist,
ein Wartespiel. Wenn Sie bereit sind, werden Sie aufwachen.
Heute morgen hat man Armande Voizin gefunden, Vater. Steif
und immer noch lächelnd in ihrem Bett; noch eine, die uns
verlorengegangen ist. Ich habe ihr die Letzte Ölung gegeben,
obwohl sie es mir nicht gedankt hätte. Vielleicht bin ich der
einzige, der in solchen Dingen noch Trost findet.
S i e wollte sterben, sie hatte für den gestrigen Abend alles
minutiös geplant, das Essen, die Getränke, die Gäste. Sie hatte
ihre Familie um sich versammelt und hat sie mit dem
Versprechen, sich zu bessern, hinters Licht geführt. Ihre
vermaledeite Arroganz! Caro hat versprochen, für zwanzig,

Page 335
dreißig Messen zu bezahlen. Um für sie zu beten. Für uns zu
beten. Ich zittere immer noch vor Wut. Ich kann ihr nicht mit
Mäßigung begegnen. Am Dienstag ist die Beerdigung. Ich stelle
mir vor, wie sie daliegt, in der Krankenhauskapelle aufgebahrt,
von Pfingstrosen umgeben, das Lächeln immer noch auf den
bleichen Lippen. Aber der Gedanke erfüllt mich weder mit
Mitleid noch mit Befriedigung, sondern mit schrecklicher,
hilfloser Wut.
Wir wissen natürlich, wer dahintersteckt. Diese Hexe Rocher.
Oh, Caro hat mir alles erzählt. Sie ist der böse Einfluß, mon
père, der Parasit, der in unseren Garten eingedrungen ist. Ich
hätte auf meinen Instinkt hören sollen. Hätte sie vertreiben
sollen, als ich sie das erstemal zu Gesicht bekam. Diese Frau,
die mir Knüppel zwischen die Beine wirft, wo sie nur kann, die
hinter ihrem verhängten Fenster über mich lacht und alle
möglichen Trottel dazu anstiftet, die Gemeinde zu unterwandern.
Ich bin ein Narr gewesen, Vater. Armande Voizin ist wegen
meiner Dummheit gestorben. Das Übel lebt unter uns. Das Übel
trägt ein gewinnendes Lächeln und grellbunte Farben. Als Kind
lauschte ich mit Entsetzen dem Märchen von dem
Lebkuchenhaus, von der Hexe, die kleine Kinder hereinlockte
und sie aufaß. Wenn ich ihren Laden sehe, mit buntem Papier
verhüllt wie ein Geschenk, das darauf wartet, ausgewickelt zu
werden, dann frage ich mich, wie viele Leute, wie viele Seelen
sie bereits soweit verdorben hat, daß sie nicht mehr erlöst
werden können. Armande Voizin. Joséphine Muscat. Paul-
Marie Muscat. Julien Narcisse. Luc Clairmont. Sie muß verjagt
werden. Und ihr Gör ebenfalls. Egal wie. Für Nettigkeiten ist es
zu spät, Vater. Meine Seele ist schon gezeichnet. Ich wünschte,
ich wäre wieder zwölf. Ich versuche, mich an meine kindliche
Grausamkeit zu erinnern, an den phantasievollen Jungen, der
ich einmal war. Der Junge, der die Flasche geworfen und das

Page 336
Übel aus der Welt geschafft hat. Aber diese Zeiten sind vorbei.
Ich muß klug vorgehen. Ich darf mein Amt nicht in Verruf bringen.
Und doch, wenn ich versagen sollte …
Was würde Muscat tun? Oh, er ist so brutal, so
verabscheuungswürdig. Dennoch hat er die Gefahr lange vor
mir erkannt. Was würde er tun? Ich muß mir Muscat zum Vorbild
nehmen, Muscat, das Schwein. Er ist brutal, aber gerissen wie
ein Schwein.
Was würde er tun?
Morgen ist das Schokoladenfest. Morgen wird sich zeigen, ob
wir siegen oder unterliegen. Zu spät, die öffentliche Meinung
gegen sie aufzubringen. Ich darf mir nicht das geringste
zuschulden kommen lassen. Hinter dem verhängten Fenster
warten Tausende von Süßigkeiten darauf, verkauft zu werden.
Zuckereier, Schokoladenfiguren, Osternester in
Geschenkschachteln und mit Schleifen geschmückt, Osterhasen
in glitzerndem Cellophan … Morgen werden hundert Kinder vom
Läuten der Glocken geweckt werden, doch ihr erster Gedanke
wird nicht sein Er ist auferstanden!, sondern Schokolade!
Ostereier! Aber was wäre, wenn es gar keine Schokolade und
keine Ostereier mehr gäbe?
Der Gedanke durchzuckt mich wie ein Blitz. Einen Augenblick
lang bin ich von Freude überwältigt. Das schlaue Schwein in mir
grinst und tanzt. Ich könnte in ihr Haus einbrechen, sagt es zu
mir. Die Hintertür ist alt und morsch. Ich könnte sie aufhebeln.
Mich mit einem Knüppel in den Laden schleichen. Schokolade
ist zerbrechlich, leicht zu zerstören. Fünf Minuten würden
ausreichen. Sie schläft in der oberen Etage. Vielleicht würde sie
es noch nicht einmal hören. Außerdem würde ich schnell sein.
Und ich würde mir eine Maske überziehen, so daß sie, selbst
wenn sie mich sieht … Alle würden Muscat für den Täter halten
– ein Racheakt. Der Mann ist nicht mehr hier, um die Tat

Page 337
abzustreiten, und außerdem …
Vater, haben Sie sich bewegt? Einen Moment lang war ich mir
sicher, daß Ihre Hand sich bewegt hätte, die ersten beiden
Finger sich gekrümmt hätten wie zum Segen. Wieder dieses
Zucken, wie bei einem Schützen, der von vergangenem
Kampfgetümmel träumt. Ein Zeichen.
Der Herr sei gelobt. Ein Zeichen.
Sonntag, 30. März
Ostersonntag, 4.00 Uhr morgens
Ich habe kaum geschlafen. Ihr Fenster war bis gegen zwei Uhr
erleuchtet, und selbst nachdem es dunkel geworden war, wagte
ich noch nicht loszuschlagen, aus Angst, sie könnte noch wach
liegen. Ich blieb in meinem Sessel sitzen und döste noch zwei
Stunden vor mich hin, hatte jedoch den Wecker gestellt, um
nicht zu verschlafen. Ich hätte mir keine Sorgen zu machen
brauchen. Ich träumte so unruhig, daß ich immer wieder aus
dem Schlaf fuhr. Ich glaube, ich sah Armande im Traum – die
junge Armande, obwohl ich sie damals gar nicht gekannt habe
–, sah sie in einem roten Kleid über die Felder jenseits von Les
Marauds laufen, das lange, schwarze Haar flog wie ein Banner
im Wind. Oder vielleicht war es auch Vianne, und ich
verwechsle die beiden. Dann träumte ich von dem Feuer in Les
Marauds, von der Schlampe und ihrem Kerl, von den roten,
ausgetrockneten Ufern des Tannes und von Ihnen, Vater, von
Ihnen und meiner Mutter in der Kanzlei … Die ganze bittere
Ernte jenes Sommers drang in meine Träume ein, und ich
wühlte genüßlich darin wie ein Schwein, das mit seiner gierigen
Schnauze nach Trüffeln sucht.
Um vier erhebe ich mich aus meinem Sessel. Ich habe in
meinen Kleidern geschlafen und lege Soutane und Kragen ab.
Die Kirche hat mit dieser Sache nichts zu tun. Ich mache Kaffee,

Page 338
sehr starken Kaffee, aber ohne Zucker, obwohl die Fastenzeit
eigentlich beendet ist. Ich sage eigentlich. In meinem Herzen
weiß ich, daß Ostern noch nicht da ist. Er ist noch nicht
auferstanden. Wenn ich heute erfolgreich bin, dann wird er
auferstehen.
Ich zittere. Ich esse trockenes Brot, um mir Mut zu machen.
Der Kaffee ist heiß und bitter. Wenn ich mein Werk vollendet
habe, verspreche ich mir, werde ich ein gutes Frühstück zu mir
nehmen; Eier, Schinken und Brötchen von Arnauld. Bei dem
Gedanken läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Ich schalte
das Radio ein und suche einen Sender, der klassische Musik
spielt. Sheep May Safely Graze. Mein Mund verzieht sich zu
einem harten, verächtlichen Grinsen. Dies ist nicht die Zeit für
Schäferspiele. Dies ist die Stunde des Schweins, des schlauen
Schweins. Ich drehe die Musik ab.
Es ist fünf vor fünf. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe
ich den ersten hellen Streifen der Dämmerung am Horizont. Ich
habe reichlich Zeit. Der Küster wird um sechs kommen, die
Osterglocken zu läuten; mir bleibt mehr als genug Zeit, um
meine heimliche Mission zu erfüllen. Ich ziehe die wollene
Skimaske über, die ich mir für den Zweck zurechtgelegt habe;
im Spiegel sehe ich verändert aus, gefährlich. Ein Saboteur.
Darüber muß ich wieder grinsen. Mein Mund wirkt hart und
zynisch. Fast hoffe ich, daß sie mich sieht.
5.10 Uhr.
Die Tür ist unverschlossen. Ich kann mein Glück kaum fassen.
Es zeigt, wie sicher sie sich fühlt, wie sehr sie davon überzeugt
ist, niemand könne ihr etwas zuleide tun. Ich lege den großen
Schraubenschlüssel weg, mit dem ich die Tür hatte aufbrechen
wollen, und nehme das schwere Kantholz – es ist Teil eines
Fenstersturzes, Vater, der während des Krieges abgebrochen
ist – in beide Hände. Die Tür öffnet sich geräuschlos. Eins von

Page 339
ihren roten Beutelchen baumelt über mir im Türrahmen; ich
nehme es herunter und werfe es verächtlich auf den Boden.
Zunächst fehlt mir die Orientierung. Das Haus hat sich
verändert, seit es keine Bäckerei mehr ist, und im übrigen
kannte ich mich mit den hinteren Räumlichkeiten sowieso nicht
so gut aus. Nur ein ganz schwaches Licht spiegelt sich in den
gefliesten Wänden, und ich bin froh, daß ich mir eine
Taschenlampe mitgebracht habe. Ich schalte sie ein, und einen
Moment lang werde ich regelrecht geblendet von all dem
weißen Email – die Arbeitsflächen, die Spülbecken, die alten
Backöfen, alles glänzt und schimmert im schmalen Lichtkegel
der Taschenlampe. Es ist keine Schokolade zu sehen.
Natürlich. Das ist nur die Küche, wo die Pralinen und Trüffel
hergestellt werden. Ich bin mir nicht sicher, warum ich mich
wundere, daß es hier so sauber ist; ich hatte sie für eine
Schlampe gehalten, die Pfannen und Töpfe ungespült
herumstehen läßt, gebrauchte Teller turmhoch im Spülbecken
stapelt, lange schwarze Haare in den Essensresten. Aber alles
ist makellos sauber und ordentlich; die Kasserollen stehen nach
Größe geordnet in den Regalen, Kupfer neben Kupfer, Email
neben Email, Porzellanschüsseln stehen griffbereit, und diverse
Utensilien – große Kellen, Pfannen – hängen an den geweißten
Wänden. Auf dem mit Gebrauchsspuren übersäten alten Tisch
stehen mehrere Brotformen aus Keramik. In der Mitte eine Vase
mit einem Strauß halb verwelkter Dahlien, die einen
unheimlichen Schatten werfen. Aus irgendeinem Grund machen
die Blumen mich wütend. Welches Recht hat sie auf Blumen,
wenn Armande Voizin tot in der Kapelle liegt? Das Schwein in
mir wirft die Blumenvase um und grinst. Ich lasse ihm seinen
Willen. Ich brauche seine Grausamkeit, um die Aufgabe zu
erfüllen, die vor mir liegt.
5.20 Uhr.

Page 340
Die Schokolade muß im Laden sein. Leise schleiche ich
durch die Küche und öffne die schwere Kiefernholztür, die in
den vorderen Teil des Hauses führt. Zu meiner Linken führt eine
Treppe zu den im oberen Stockwerk gelegenen Wohnräumen.
Zu meiner Rechten die Theke, die Regale, die Auslagen, die
Schachteln … Ich bin erschrocken über den intensiven Duft von
Schokolade, obwohl ich mit ihm gerechnet habe. Die Dunkelheit
scheint ihn noch zu verstärken, so daß es mir einen Moment
lang so vorkommt, als sei der Duft die Dunkelheit, die sich wie
dichter, brauner Staub über mich legt und mir die Sinne
vernebelt. Im Schein meiner Taschenlampe entstehen kleine
Inseln des Lichts, buntes Papier, Schleifen, glitzerndes
Cellophan leuchten abwechselnd auf. Ich bin mitten in der
Schatzhöhle. Ein Schauer der Erregung läuft mir über den
Rücken. Hier zu sein, im Haus der Hexe, ein Eindringling,
unbemerkt. Heimlich, während sie schläft, ihre Sachen zu
berühren … Ich verspüre den unwiderstehlichen Drang, mir das
Schaufenster anzusehen, das Papier, das die Auslagen
verbirgt, herunterzureißen und der erste zu sein – ein absurder
Wunsch, da ich sowieso vorhabe, alles zu zerschlagen. Aber ich
komme nicht dagegen an. Auf meinen Gummisohlen tappe ich
leise auf das Fenster zu, das schwere Kantholz locker in der
Hand. Ich habe reichlich Zeit. Zeit genug, um meine Neugier zu
befriedigen, wenn mir danach ist. Außerdem ist der Augenblick
zu kostbar, um ihn zu vergeuden. Ich will ihn vollkommen
genießen.
5.30 Uhr.
Ganz vorsichtig ziehe ich das Papier weg, das das Fenster
verhüllt. Es löst sich mit einem leisen Rascheln, und ich lege es
beiseite, während ich angestrengt nach Geräuschen im ersten
Stock lausche. Alles ist still. Mit meiner Taschenlampe
beleuchte ich die Auslagen, und einen Moment lang vergesse

Page 341
ich fast, warum ich hier bin. Mit Staunen betrachte ich die
Köstlichkeiten, die sich vor mir auftürmen, glasierte Früchte und
Marzipanblumen, Berge von Pralinen in allen Formen und
Farben, Hasen, Enten, Hühner, Küken und Lämmer aus
Schokolade schauen mich mit ihren Schokoladenaugen an wie
die Terracotta-Armeen aus den chinesischen Königsgräbern,
und in der Mitte eine Frauenfigur mit wallendem Haar, deren
wohlgeformte braune Arme eine Weizengarbe aus Schokolade
halten. Die Details sind kunstvoll ausgearbeitet, die Haare aus
dunklerer Schokolade, die Augen mit weißer Kuvertüre
aufgemalt. Der Schokoladenduft ist überwältigend, füllt Gaumen
und Rachen mit köstlicher Süße. Die Frau mit der Weizengarbe
lächelt kaum merklich, als sinnierte sie über irgendwelche
Geheimnisse.
Probier mich. Koste mich. Nasch mich.
Der Gesang ist lauter denn je, hier an der Quelle der
Versuchung. Ich bräuchte nur die Hand auszustrecken, dann
könnte ich eine dieser verbotenen Früchte nehmen und ihr
geheimes Fleisch kosten. Der Gedanke läßt mich nicht mehr
los.
Probier mich. Koste mich. Nasch mich.
Niemand würde je davon erfahren.
Probier mich. Koste mich. Nasch –
Warum eigentlich nicht?
5.40 Uhr.
Ich werde wahllos irgend etwas herausgreifen. Ich darf mich
nicht von meinem Vorhaben ablenken lassen. Eine einzige
Praline – das ist kein Diebstahl, sondern Rettung; sie ist die
einzige unter all ihren Brüdern und Schwestern, die der
Zerstörung entgehen wird. Gegen meinen Willen zögert meine
Hand; wie eine Libelle schwebt sie über diesem Berg von
Leckerbissen. Sie liegen in Glasschalen, von Deckeln aus

Page 342
Plexiglas geschützt. Auf den Deckeln kleine Schilder mit den
Namen der einzelnen Köstlichkeiten in feiner Schrift. Allein die
Namen klingen verlockend. Bitterorangen-Krokant.
Aprikosenmarzipan-Kugeln. Pariser Konfekt. Weiße
Rumtrüffel. Champagnertrüffel. Venusbrüstchen. Meine
Wangen werden ganz heiß unter meiner Maske. Wie soll man
solche Namen aussprechen, wenn man so etwas kaufen will?
Aber sie sehen so wundervoll aus im Schein meiner
Taschenlampe, weiße Halbkugeln mit einem Tupfer dunkler
Schokolade. Ich nehme eine davon mit Daumen und
Zeigefinger. Ich halte sie mir unter die Nase; sie riecht nach
Sahne und Vanille. Niemand wird es je erfahren. Mir wird
bewußt, daß ich seit meiner Kindheit keine Schokolade mehr
gegessen habe, ich weiß kaum, wie viele Jahre das her ist. Und
damals war es billige Schokolade mit einem Nachgeschmack
nach Zucker und Fett. Ein-oder zweimal habe ich mir im
Supermarkt eine bessere Tafel Schokolade gekauft, aber sie
war fünfmal so teuer wie die billige Sorte, und ich konnte mir
diesen Luxus nur selten leisten. Dies hier ist etwas ganz
anderes; die zarte Schokoladenhülle, die sahnige Trüffelmasse
im Inneren … Die Praline verströmt ein Aroma wie das Bouquet
eines guten Weins, ein Hauch von Zartbitter, von
frischgemahlenem Kaffee, Aroma, das sich durch die Wärme
voll entfaltet und mir verführerisch in die Nase steigt; sie zergeht
mir auf der Zunge wie ein Geschmackssukkubus, der mich
aufstöhnen läßt.
5.45 Uhr.
Ich sage mir, daß es auf eine weitere Praline nicht ankommt,
und probiere noch eine. Auch diesmal verweile ich zunächst bei
den Namen. Crème-de-Cassis-Trüffel. Nußsplitter. Ich wähle
eine dunkle Praline aus einer Schale mit der Aufschrift
Jamaikasplitter. Kandierter Ingwer in einer harten Zuckerhülle,

Page 343
gefüllt mit Kräuterlikör, der ein Aroma ausströmt, in dem
Sandelholz und Zimt mit Limone wetteifern … Ich nehme noch
eine Praline, diesmal aus einer Schale mit der Aufschrift Pêche
au miel millefleurs. Ein Stück Pfirsich, in Honig und Eau-de-Vie
getränkt, mit einem Stückchen kandiertem Pfirsich auf der
Schokoladenhülle. Ich schaue auf meine Uhr. Es bleibt immer
noch Zeit.
Ich weiß, ich müßte jetzt eigentlich damit beginnen, mein
gerechtes Werk zu tun. Die Auslagen im Laden, so vielfältig und
verwirrend sie sein mögen, reichen nicht aus, um die Hunderte
von Bestellungen zu erfüllen, die bei ihr eingegangen sind. Es
muß noch einen anderen Ort geben, wo sie ihre
Präsentschachteln, ihre Vorräte aufbewahrt. Dies hier dient vor
allem Ausstellungszwecken. Ich nehme eine Schokomandel,
stecke sie in den Mund, um besser denken zu können. Dann ein
Caramelfondant. Dann eine Champagnertrüffel mit einer zarten
Hülle aus weißer Schokolade. Die Zeit ist zu kurz, um jede Sorte
zu probieren … Ich bräuchte fünf Minuten, um meine Arbeit zu
erledigen, vielleicht weniger. Hauptsache, ich finde heraus, wo
sie ihre Vorräte aufbewahrt. Ich nehme noch eine Praline, bevor
ich mich auf die Suche mache. Nur noch eine.
5.55 Uhr.
Es ist wie in meinem Traum. Ich wälze mich in Pralinen. Ich
komme mir vor wie in einem Schokoladenfeld, an einem
Schokoladenstrand, ich aale mich in Schokolade, wühle in
Schokolade, verschlinge alles, was in meiner Reichweite ist. Ich
habe keine Zeit, die Schilder zu lesen; wahllos stecke ich mir
eine Praline nach der anderen in den Mund. Angesichts all
dieser Köstlichkeiten verliert das Schwein seine Schläue, wird
wieder zum Schwein, und obwohl etwas in mir schreit, ich soll
aufhören, kann ich nicht mehr an mich halten. Nachdem ich
einmal angefangen habe, kann ich nicht mehr aufhören. Das hat

Page 344
nichts mit Hunger zu tun; ich zwinge alles hinunter, mit vollen
Backen und vollen Händen. Einen schrecklichen Augenblick
lang bilde ich mir ein, Armande sei zurückgekehrt, um mich
heimzusuchen, um mich mit ihrem seltsamen Schicksal zu
verfluchen; Tod durch Völlerei. Ich höre die Geräusche, die ich
beim Essen mache, ein verzweifeltes, ekstatisches Stöhnen, als
hätte das Schwein in mir endlich eine Stimme gefunden.
6.00 Uhr.
Er ist auferstanden! Das Läuten der Glocken reißt mich aus
meiner Verzückung. Ich sitze auf dem Boden, inmitten von
Pralinen, als hätte ich mich tatsächlich in ihnen gewälzt. Der
Knüppel liegt neben mir, ich habe ihn vergessen. Die
hinderliche Maske habe ich abgenommen. Das erste
Morgenlicht fällt durch das enthüllte Schaufenster.
Er ist auferstanden! Trunken richte ich mich auf. In fünf
Minuten werden die ersten Gläubigen zur Messe kommen. Sie
müssen mich bereits vermißt haben. Mit
schokoladeverschmierten Fingern greife ich nach dem Knüppel.
Plötzlich weiß ich, wo sie ihre Vorräte aufbewahrt. Der alte
Keller, der kühle, trockene Keller, wo früher die Mehlsäcke
gelagert wurden. Dorthin kann ich es schaffen. Ich weiß es.
Er ist auferstanden!
Den Knüppel in der Hand drehe ich mich um, ich habe keine
Zeit mehr, keine Zeit …
Sie steht hinter dem Perlenvorhang und erwartet mich bereits.
Ich habe keine Ahnung, wie lange sie mich schon beobachtet
hat. Ein kaum wahrnehmbares Lächeln umspielt ihre Lippen.
Ganz vorsichtig nimmt sie mir den Knüppel aus der Hand.
Zwischen den Fingern hält sie etwas, das aussieht wie ein
verbranntes Stück buntes Papier. Vielleicht eine Karte.
… Und so haben sie mich gesehen, Vater, auf den Knien in
der zerstörten Auslage ihres Fensters, das Gesicht mit

Page 345
Schokolade verschmiert, die Augen gerötet. Wie aus dem
Nichts schienen die Leute herbeizueilen, um ihr beizustehen.
Duplessis mit seiner Hundeleine in der Hand hielt bei der Tür
Wache. Die Hexe Rocher an der Hintertür mit meinem Knüppel
im Arm. Arnauld von gegenüber, der schon früh in seiner
Backstube gearbeitet hatte, rief die Neugierigen herbei, damit
sie es alle sehen konnten. Die Clairmonts starrten mich an wie
gestrandete Karpfen. Narcisse schüttelte seine Faust. Und das
Gelächter. Mein Gott! Das Gelächter. Und die ganze Zeit
läuteten die Glocken über dem Platz.
Er ist auferstanden.
Montag, 31. März
Ostermontag
Als die Glocken verstummten, schickte ich Reynauld fort. Die
Messe las er nicht. Statt dessen rannte er ohne ein Wort nach
Les Marauds hinunter. Kaum jemand hat ihm eine Träne
nachgeweint. Wir begannen einfach ein bißchen früher mit dem
Fest, es gab heiße Schokolade und Kuchen vor dem Laden,
während ich in aller Eile den Schlamassel beseitigte. Zum Glück
war es nicht so schlimm; ein paar Hundert Pralinen und Trüffel
auf dem Boden, aber keine Präsentschachteln beschädigt.
Nach ein paar Handgriffen sah das Schaufenster wieder aus
wie neu.
Das Fest war ein voller Erfolg. Es gab Verkaufsstände für
Kunsthandwerk, Fanfaren, Narcisse’ Kapelle – ich war
überrascht, wie virtuos er Saxophon spielt –, Jongleure,
Feuerschlucker. Die Leute vom Fluß waren zurückgekommen –
zumindest für den Tag –, und ihre bunten Gestalten belebten
das Straßenbild. Einige bauten ihre eigenen Stände auf,
flochten Perlen in die Haare der Mädchen, verkauften
Marmelade und Honig, bemalten Hände mit Henna oder

Page 346
betätigten sich als Wahrsager. Roux verkaufte Puppen, die er
aus Treibholz geschnitzt hatte. Nur die Clairmonts fehlten, aber
ich meinte immer wieder, Armande unter den Leuten zu sehen,
so als könne sie bei einer solchen Gelegenheit einfach nicht
fehlen. Eine Frau mit einem roten Halstuch, ein gebeugter
Rücken unter einer grauen Kittelschürze, ein mit Kirschen
dekorierter Stohhut, der sich zwischen den Köpfen auf und ab
bewegte. Sie schien überall zu sein. Seltsamerweise empfand
ich keine Trauer. Nur die wachsende Überzeugung, daß sie
jeden Augenblick auftauchen und die Deckel von den
Schachteln heben würde, um nachzusehen, was sich darin
befand, sich genüßlich die Finger lecken und vor Freude über all
den Spaß laut jauchzen würde. Einmal meinte ich sogar, ihre
Stimme zu hören, ganz dicht neben mir, als ich mich vorbeugte,
um eine Tüte Rumrosinen aus einem Korb zu nehmen, doch als
ich mich umsah, war niemand da. Meine Mutter hätte es
verstanden.
Alle Bestellungen wurden abgeholt, und um Viertel nach vier
verkaufte ich meine letzte Schachtel Pralinen. Lucie
Prudhomme gewann die Ostereiersuche, aber jeder Teilnehmer
erhielt ein cornet-surprise, gefüllt mit Schokoladeneiern,
Spielzeugtrompeten und Luftschlangen. Ein mit echten Blumen
geschmückter Wagen machte Reklame für Narcisse’ Gärtnerei.
Ein paar junge Leute trauten sich sogar, unter den strengen
Augen des heiligen Hieronymus zu tanzen, und den ganzen Tag
lang schien die Sonne.
Und dennoch fühle ich mich unwohl, als ich mich in unserem
stillen Haus mit Anouk hinsetze, um ihr aus einem Märchenbuch
vorzulesen. Ich sage mir, daß es nichts weiter ist als die
plötzliche Leere, die unvermeidlich auf ein langersehntes
Ereignis folgt. Erschöpfung vielleicht, der Schreck über
Reynauds Einbruch im allerletzten Moment, die Sonnenhitze,

Page 347
die vielen Leute … Und auch Trauer um Armande, die mich nun
überkommt, da die fröhlichen Klänge verstummt sind, Kummer,
vermischt mit so vielen anderen widersprüchlichen Gefühlen,
Einsamkeit, Verlust, Zweifel und ein seltsam ruhiges
Bewußtsein, daß alles seine Richtigkeit hat … Meine liebe
Armande. Es hätte dir so viel Spaß gemacht. Aber du hast dein
eigenes Feuerwerk gehabt, nicht wahr?
Am späten Abend kam Guillaume zu Besuch, lange nachdem
wir alle Spuren des Festes beseitigt hatten. Anouk wollte
gerade zu Bett gehen, in ihren Augen immer noch ein
glückliches Leuchten.
»Darf ich reinkommen?« Sein Hund hat gelernt, auf Befehl
Platz zu machen, und wartet brav vor der Tür. Guillaume hält
etwas in der Hand. Einen Brief. »Armande hat mich gebeten,
Ihnen das zu geben. Nach dem Fest.«
Ich nehme den Brief. In dem Umschlag fühle ich etwas Kleines,
Hartes.
»Danke.«
»Ich werde nicht bleiben.« Er schaut mich einen Augenblick
lang an, dann streckt er die Hand aus, eine steife, seltsam
rührende Geste. Sein Händedruck ist fest und kühl. Ich spüre ein
Brennen in den Augen; etwas Glitzerndes fällt auf den Ärmel
des alten Mannes – seine oder meine Träne, ich weiß es nicht.
»Gute Nacht, Vianne.«
»Gute Nacht, Guillaume.«
Der Umschlag enthält ein einziges Blatt Papier. Als ich es
herausziehe, fällt etwas auf den Tisch … Münzen, denke ich.
Die Schrift ist groß und markant.
Liebe Vianne,
danke für alles. Ich weiß, wie Sie sich fühlen müssen. Reden
Sie mit Guillaume, wenn Sie mögen – er versteht mich besser
als jeder andere. Es tut mir leid, daß ich nicht an Ihrem Fest

Page 348
teilnehmen konnte, aber ich habe es so oft in meiner
Phantasie erlebt, daß es nicht mehr so wichtig war. Geben Sie
Anouk einen Kuß von mir und eine von den Münzen – die
andere ist für das nächste, ich glaube, Sie wissen, was ich
meine.
Ich bin müde, und ich spüre, daß der Wind sich dreht. Ich
glaube, Schlaf wird mir guttun. Und wer weiß, vielleicht sehen
wir uns eines Tages wieder.
Ihre Armande Voizin.
P.S. Gehen Sie lieber nicht zur Beerdigung, alle beide. Das
ist Caros Party, und ich nehme an, sie hat ein Recht darauf,
wenn ihr so etwas wichtig ist. Laden Sie lieber alle Ihre
Freunde auf eine Tasse Schokolade ein. Ich liebe euch alle.
A.
Nachdem ich den Brief gelesen habe, lege ich ihn weg und
suche die Münzen. Eine liegt auf dem Tisch, die andere auf
einem Stuhl; zwei Louisdors, die golden in meiner Hand
glänzen. Einer für Anouk – und der andere? Instinktiv lege ich
eine Hand auf die warme, dunkle Stelle in mir, auf das
Geheimnis, das ich bisher noch nicht einmal mir selbst wirklich
eingestanden habe.
Anouks Kopf lehnt sanft an meiner Schulter. Schläfrig summt
sie ein Lied für Pantoufle, während ich ihr vorlese. In den letzten
Wochen haben wir Pantoufle wenig gesehen; er wurde von
greifbareren Spielkameraden verdrängt. Es scheint bedeutsam,
daß er jetzt zurückkehrt, wo der Wind sich gedreht hat. Etwas in
mir spürt die Unausweichlichkeit der Veränderung. Mein
liebevoll konstruiertes Bild von einem seßhaften Leben ist wie
die Sandburgen, die wir früher am Strand bauten und die von
der Flut fortgespült wurden. Selbst wenn das Meer sie nicht
erreicht, werden sie von der Sonne ausgehöhlt, und am

Page 349
nächsten Tag sind sie fast verschwunden. Trotzdem empfinde
ich Unmut, fühle ich mich gekränkt. Und dennoch lockt mich der
Karnevalswind, der warme Wind aus … woher? Aus dem
Süden? Dem Osten? Amerika? England? Es ist nur eine Frage
der Zeit. Lansquenet und alles, was dazugehört, erscheint mir
mit einemmal ein wenig unwirklich, fängt bereits an, in der
Erinnerung zu verblassen. Das Räderwerk kommt zum
Stillstand; sein Geräusch verstummt. Vielleicht ist es das, was
ich von Anfang an vermutet hatte, daß Reynaud und ich
miteinander verkettet sind, daß wir einander Gegengewicht
sind, daß ich ohne ihn hier keine Aufgabe habe. Was immer es
sein mag, der Ort hat seine Bedürftigkeit verloren; statt dessen
ist Zufriedenheit eingekehrt, ein Gefühl der Sättigung, das mich
nicht mehr braucht. Überall in den Häusern von Lansquenet
lieben sich die Ehepaare, spielen die Kinder, bellen die Hunde,
plärren die Fernseher … Ohne uns. Guillaume streichelt seinen
Hund und schaut sich Casablanca an. Luc, allein in seinem
Zimmer, liest laut und ohne zu stottern Gedichte von Rimbaud.
Roux und Joséphine sind dabei, sich in ihrem
frischgestrichenen Haus gegenseitig zu entdecken. Radio-
Gascogne hat heute abend einen Beitrag über das
Schokoladenfest gebracht und stolz über das Festival de
Lansquenet-sous-Tannes berichtet. Von nun an werden die
Touristen nicht mehr an Lansquenet vorbeifahren. Ich habe das
unsichtbare Dorf auf der Landkarte eingetragen.
Der Wind riecht nach Meer, nach Ozon und gegrilltem Fisch,
nach der Küste vor Juan-les-Pins, nach Pfannkuchen und
Kokosöl und Holzkohle und Schweiß. So viele Orte, die darauf
warten, daß der Wind sich dreht. So viele bedürftige Menschen.
Wie lange wird es diesmal dauern? Ein halbes Jahr? Ein Jahr?
Anouk kuschelt sich an meine Schulter, und ich halte sie in
meinem Arm, zu fest, denn sie wacht halb auf und murmelt

Page 350
irgend etwas Vorwurfsvolles. La Céleste Praline wird wieder
eine Bäckerei werden. Vielleicht auch eine Confiserie-
Pâtisserie mit Kitsch an den Wänden und in den Regalen
Lebkuchen in Präsentschachteln mit der Aufschrift Souvenir de
Lansquenet-sous-Tannes. Zumindest haben wir Geld, mehr als
genug, um irgendwo neu anzufangen. In Nizza vielleicht, oder
Cannes, London oder Paris. Anouk murmelt im Schlaf. Sie spürt
es auch.
Und doch haben wir Fortschritte gemacht. Keine anonymen
Hotelzimmer mehr, kein flackerndes Neonreklameschild, keine
Flucht von Norden nach Süden auf Geheiß einer Tarotkarte.
Endlich haben wir uns dem Schwarzen Mann gestellt, Anouk
und ich, ihn endlich als den erkannt, der er ist; einer, der sich
selbst zum Narren hält, eine Karnevalsmaske. Wir können nicht
für immer hierbleiben. Aber vielleicht hat er uns den Weg
bereitet zu einem anderen Ort, an dem wir bleiben können. Eine
Küstenstadt vielleicht. Oder ein Dorf an einem Fluß, umgeben
von Maisfeldern und Weinbergen. Unsere Namen werden sich
ändern. Und auch der Laden wird einen anderen Namen haben.
Truffe Enchantée, vielleicht. Oder Tentations Divines, in
Erinnerung an Reynaud. Und diesmal können wir soviel von
Lansquenet mitnehmen. Ich halte Armandes Geschenk in der
Hand. Die Münzen sind schwer. Das Gold schimmert rötlich,
beinahe wie Roux’ Haar. Erneut frage ich mich, woher sie es
wußte – wie hellsichtig sie gewesen ist. Noch ein Kind –
diesmal nicht vaterlos, sondern das Kind eines guten Mannes,
auch wenn er nie davon erfahren wird. Ich wüßte gern, ob sie
seine Haarfarbe haben wird, seine rauchgrauen Augen. Ich bin
mir beinahe sicher, daß es ein Mädchen sein wird. Ich weiß
sogar schon ihren Namen.
Andere Dinge werden wir zurücklassen. Der Schwarze Mann
ist fort. Meine Stimme klingt jetzt anders, mutiger. Sie hat einen

Page 351
Ton, den ich, wenn ich genau hinhöre, wiedererkenne. Eine
Spur Trotz, ja beinahe Schadenfreude. Meine Ängste sind
verschwunden. Auch du bist verschwunden, Maman, auch wenn
ich deine Stimme immer hören werde. Ich brauche mich nicht
mehr vor meinem Gesicht im Spiegel zu fürchten. Anouk lächelt
im Schlaf. Ich könnte hier bleiben, Maman. Wir haben ein
Zuhause, wir haben Freunde. Die Wetterfahne vor meinem
Fenster dreht sich unermüdlich. Stell dir vor, wir würden sie jede
Woche hören, in jeder Jahreszeit. Stell dir vor, du würdest an
einem Wintermorgen aus meinem Fenster schauen. Die neue
Stimme in mir lacht, und es klingt fast wie Nachhausekommen.
Das neue Leben in mir bewegt sich zart. Anouk spricht im
Schlaf, unverständliches Zeug. Ihre kleinen Hände klammern
sich an meinen Arm.
»Bitte.« Ihre Stimme ist durch meinen Pullover gedämpft.
»Maman, sing mir ein Lied.« Sie öffnet die Augen. Aus sehr
weiter Entfernung gesehen, hat die Erde dieselbe blaugrüne
Farbe.
»In Ordnung.«
Sie macht die Augen wieder zu, und ich beginne leise zu
singen:
V’là l’bon vent, v’là l’joli vent,
V’là l’bon vent, ma mie m’appelle …
Ich hoffe, daß es diesmal nur ein Schlaflied ist. Daß der Wind
es diesmal nicht hört. Daß er diesmal – bitte, nur dieses eine
Mal – ohne uns weiterziehen wird.

Page 352
Danksagung
Mein Dank gilt allen, die zur Entstehung dieses Buchs
beigetragen haben: meiner Familie für die moralische
Unterstützung, die Kinderbetreuung und die etwas verdutzte
Ermutigung; Kevin für all die mühevolle Schreibarbeit; Anouchka
für das Ausleihen von Pantoufle. Außerdem danke ich meiner
unbezähmbaren Agentin Serafina Clarke, meiner Verlegerin
Francesca Liversidge, Jennifer Luithlen und Lora Fountain, und
allen Mitarbeitern von Bantam Press, die mich so freundlich
aufgenommen haben. Und schließlich meinen besonderen
Dank an meinen Schriftstellerkollegen Christopher Fowler, der
mir den Anstoß zu dieser Geschichte gegeben hat.

Page 353
Table of Contents
Das Buch
Joanne Harris
Besuchen Sie uns im Internet:
In Erinnerung an meine Urgroßmutter
11. Februar
Dienstag, 18. Februar
Montag, 24. Februar
Sonntag, 2. März
Sonntag, 9. März
Dienstag, 18. März
Freitag, 28. März
Danksagung

Page 354

Das könnte Ihnen auch gefallen