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Das Bu 

Es ist Fastnat, als Vianne Roer mit ihrer kleinen Toter Anouk in das
französise Städten Lansquenet-sous-Tannes kommt und direkt am

Kirplatz einen Laden für Sokoladen und Pralinés eröffnet. Pater

Reynaud, dem ortsansässigen Pfarrer, ist diese Art der »himmlisen

Verführung« jedo ein Dorn im Auge: Sokolade, und dazu no in der

Fastenzeit! Er erkärt Vianne Roer den Krieg und untersagt den Mitgliedern

seiner Gemeinde jeden Umgang mit ihr.

Do  Vianne hat ein besonderes Gespür für ihre Kunden: Für jeden weiß sie
das Praliné oder die Sokoladensorte, die am besten seiner Persönlikeit

entsprit. Und so entwielt si ihr Laden son bald zum geheimen

Mielpunkt des Ortes, zu dem jeder seine Sorgen, Hoffnungen und Träume

trägt.

Viannes Pläne für ein großes S okoladenfest an Ostern allerdings drohen


das Dorf zu spalten. Ostern oder Sokolade? Die Aussit auf den

verführerisen Gesma von Viannes selbstgematen

Sokoladenphantasien stellt die strengen kirlien Regeln auf eine harte

Probe. In diesem Konflikt setzt Pater Reynaud alles auf eine Karte …

Die Autorin

Joanne Harris, geboren 1964, studierte Französis  und Deuts  am St.

Catherine’s College in Cambridge. Sie lebt mit ihrer Familie in Barnsley,

Yorkshire, wo sie an einem Gymnasium Französis  unterritet. Joanne

Harris kennt s
Frankrei Lands aen, über die sie sreibt, aus ihrer

Kindheit und von vielen Verwandtenbesu en und Reisen. Chocolat ist ihr

drier Roman.

Von Joanne Harris sind in unserem Hause außerdem ers ienen:


Himmlische Wunder

Die blaue Muschel

Fünf Viertel einer Orange

Wie wilder Wein

Das Lächeln des Harlekins

Samt und Bittermandel

Schlaf, schöne Schwester

Das verbotene Haus


Joanne Harris

Chocolat
Roman

Aus dem Englis 



en

von Charlo e Breuer

Ullstein

 
Besu en Sie uns im Internet:

www.ullstein-tas enbu .de

Alle Re  te vorbehalten. Unbefugte Nutzungen,


wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung,

 
Spei erung oder Übertragung

können zivil- oder strafre tli verfolgt werden.

 

Ungekürzte Ausgabe im Ullstein Tas enbu

 
Dieser Roman ers ien bereits 2000 im

Ullstein Tas enbu verlag unter dem Titel Schokolade


flage 2008

14. Au


© für die deuts e Ausgabe


Ullstein Bu verlage GmbH, Berlin 2005

© 2003 für die deuts e Ausgabe


by Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG


© 2001 für die deuts e Ausgabe by


Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, Mün en


© 1999 für die deuts e Ausgabe by

Paul List Verlag im Verlagshaus Goethestraße Mün en


© 1997 by Joanne Harris

Chocolat (Verlag Doubleday, London)


 
Titel der englis en Originalausgabe:

  
Ums laggestaltung: HildenDesign, Mün en


(na einer Vorlage von Mi ael Löbel/Bezaubernde Gini, Mün en)


Titelabbildung: Ja et Art © 2001 Miramax Films.

Mit freundli er Genehmigung von Hyperion/Talk Miramax Books

eBook-Konvertierung: CPI  – Ebner & Spiegel, Ulm


Printed in Germany

eBook ISBN 978-3-548-92114-3

Die Titelabbildung entstammt der Romanver filmung Chocolat.


Nähere Informationen unter: www.senator.de
In Erinnerung an meine Urgroßmu er
MARIE ANDRÉ SORIN (1892-1962)
11. Februar

Fastnacht

Wir kamen zu Karneval an, mit dem warmen Februarwind, der den Du 
von am Straßenrand gebratenen Pfannku en, Würsten und süßen
Wa ffeln mit si trug, während Konfei von Mantelkragen und

Ärmelaufs lägen rieselte und im Rinnstein herumgewirbelt wurde wie ein


läerlies Gegenmiel, mit dem der Winter vertrieben werden sollte. Es

herrst eine fieberhae Aufregung unter den Mensen, die die enge

Hauptstraße säumen und die Hälse reen, um einen Bli auf den mit

bunten Girlanden und Papierroseen gesmüten Wagen zu erhasen.

Einen gelben Luballon in der einen und eine Spielzeugtrompete in der

anderen Hand, steht Anouk neben einem traurig dreinblienden braunen

Hund und saut mit großen Augen zu. Anouk und i haben son viele

Karnevalsumzüge gesehen; einen Zug von zweihundertfünfzig

gesmüten Wagen letztes Jahr beim Mardi Gras in Paris,


einhundertatzig in New York, zwei Dutzend Blaskapellen in Wien, Clowns

auf Stelzen, große Pappmaé-Figuren mit waelnden Köpfen, Majoreen,

die ihre glitzernden Stäbe dur die Lu wirbeln ließen. Aber im Alter von

ses Jahren erseint einem die Welt no voller Wunder. Ein hölzerner

Wagen, hastig gesmüt mit Goldfolie und buntem Kreppapier, Szenen aus

einem Mären  … Ein Draenkopf auf einem Sild, Rapunzel mit einer

wollenen Perüe, eine Meerjungfrau mit einem Swanz aus Cellophan, ein

Lebkuenhaus aus mit Goldfolie überzogener Pappe, über und über mit

Zuerguß bedet, eine Hexe in der Tür, die ihre langen, grünen

Fingernägel na ein paar stummen Kindern ausstret  … Mit ses nimmt

man no Feinheiten wahr, die einem vielleit son ein Jahr später nit

mehr zugängli sind. Hinter dem Pappmaé, dem Zuerguß, dem Plastik
sieht sie immer no  die ete Hexe, den wahren Zauber. Sie saut zu mir
auf mit leutenden Augen, die so blaugrün simmern wie die Erde aus

großer Höhe.

»Bleiben wir hier? Bleiben wir hier?« I  muß sie daran erinnern,

Französis  zu spre en. »Bleiben wir denn? Ja?« Sie klammert si an

meinen Ärmel. Ihr Haar ist vom Wind zerzauste Zu erwae.


I überlege. Dieses Dorf ist so gut wie jedes andere. Lansquenet-sous-

Tannes mit seinen hö stens zweihundert Seelen ist kaum mehr als ein

Kle s an der Autobahn zwisen Toulouse und Bordeaux. Einmal

geblinzelt, und s on ist man vorbei. Eine Hauptstraße mit graubraunen,

dit zusammengedrängt stehenden Fa werkhäusern, ein paar

Seitenstraßen, die nebeneinander verlaufen wie die Zinken einer verbogenen

Gabel. Eine Kir e, strahlend weiß getün t, am Dorfplatz einige Läden.

Ringsum vereinzelte Bauernhöfe. Obstwiesen, Weinberge, Felder, alle na 


den strengen Regeln der Landwirts a säuberli voneinander abgegrenzt:
hier Äpfel, dort Kiwis, Melonen, Endivien unter swarzen Plastikplanen,

kahle Weinstöe, die in der bleien Februarsonne wie tot wirken, aber in

Wirklikeit nur darauf warten, im März zu neuem Leben zu erwaen  …

Jenseits der Felder der Tannes, ein kleiner Nebenfluß der Garonne, der si

dur das sumpfige Weideland slängelt. Und die Mensen? Wie sie da am

Straßenrand stehen, seinen sie si nit von all den anderen Mensen zu

unterseiden, denen wir bisher begegnet sind; vielleit ein wenig blei im

ungewohnten Sonnenlit, ein wenig verhärmt. Sie tragen Kopüer und

Baskenmützen passend zur Farbe ihrer Haare, braun, swarz oder grau. Die

Gesiter sind zerfurt wie Äpfel vom Vorjahr, die tief in ihren Höhlen

liegenden Augen erinnern an Glasmurmeln, in alten Teig gedrüt. Ein paar

Kinder, die leutend bunte Luslangen fliegen lassen, wirken wie

Angehörige einer anderen Rasse. Eine die Frau mit einem breiten,

unglülien Gesit zieht ihren karierten Mantel fest um si und ru

etwas in ihrem kaum verständlien örtlien Dialekt. Auf dem von einem

Traktor gezogenen, swerfällig vorbeirumpelnden Wagen steht ein

viersrötiger Weihnatsmann, der zwisen den Feen und Kobolden und

Fabeltieren seltsam fehl am Platze wirkt, und wir mit kaum verhohlener
Aggressivität Süßigkeiten in die Menge. Mit einem ents uldigenden Bli 
hebt ein kleiner älterer Mann mit einem Filzhut anstelle der in der Region

üblien Baskenmütze auf dem Kopf den traurigen braunen Hund auf, der
zwisen Anouk und mir hot. I sehe, wie seine dünnen, eleganten Finger

das Fell des Hundes kraulen; der Hund beginnt zu winseln; im Gesit seines

Herrens spiegeln si Liebe, Besorgnis, Suldgefühle. Niemand beatet

uns. Es ist, als wären wir unsitbar; an unserer Kleidung kann man uns als

Fremde, als Durreisende erkennen. Die Leute sind höfli, ausnehmend

höfli; niemand starrt uns an. Die Frau mit den langen Haaren, die sie unter

ihre orangefarbene Jae gestet hat, einen langen, bunten Seidensal um

den Hals; das Kind in den gelben Gummistiefeln und dem himmelblauen

Regenmantel. Dur  ihre Farben fallen sie auf. Ihre Kleider sind exotis ,
ihre Gesiter  – sind sie zu blaß oder zu dunkel?  –, ihre Haare verraten sie
als Fremde, als auf undefinierbare Weise anders. Die Mensen von

Lansquenet beherrsen die Kunst der verstohlenen Beobatung. I spüre

ihre Blie wie Atem in meinem Naen, nit feindselig, aber denno kalt.

Für sie sind wir eine Araktion, ein Teil des Karnevals, befremdli. I

spüre, wie ihre Blie uns folgen, als i an einen der Stände trete, um eine

galette zu kaufen. Das Papier ist heiß und feig, die dunkelbraune Waffel
außen knusprig und innen wei und köstli. I bree ein Stü ab und

reie es Anouk, wise ihr die gesmolzene Buer vom Kinn. Der

Waffelverkäufer ist ein korpulenter Mann mit Halbglatze und dien

Brillengläsern, sein Gesit vom Dampf der Waffeleisen feut und gerötet.

Er zwinkert Anouk freundli zu. Mit dem anderen Auge registriert er jede

Einzelheit, wohl wissend, daß man ihn später na uns ausfragen wird.

»Maen Sie Urlaub, Madame?« Die Dorfetikee gestaet ihm, das zu

fragen; hinter der neutralen Maske des Gesäsmannes spüre i seinen

großen Wissensdurst. Wissen ist Gold wert, hier im Dorf; Touristen fahren

gewöhnli  in die nahe gelegenen Orte Agen und Montauban und verirren
si nur selten hierher.
»Ja.«

»Sie kommen aus Paris?« Es muß an unserer Kleidung liegen. In diesem

farbenfrohen Landstri  tragen die en


Mens düstere Farben. Farbe ist
Luxus; Buntes ist ni t kleidsam. Die bunten Blumen am Straßenrand sind

Unkraut, lästig, unnütz.

»Nein, nein, ni t aus Paris.«


Der Wagen ist fast am Ende der Straße angekommen. Hinter ihm

mars iert eine kleine Kapelle  – zwei erpfeifer, zwei Trompeter, ein

Posaunist und ein Trommler, die einen unde finierbaren Mars  spielen. Ein
Dutzend Kinder folgen ihnen und sammeln die liegengebliebenen

Süßigkeiten auf. Einige von ihnen sind e ein


verkleidet; i  entde

Rotkäppen und ein Kind in einem zoeligen Kostüm, das vielleit einen

Wolf darstellen soll, die si übermütig um eine Handvoll Luslangen

streiten.

Eine in S warz gekleidete Gestalt bildet das Slußlit. Zunäst halte


i ihn für einen Teil des Umzugs  – den Pestarzt vielleit  –, do als er

näher kommt, erkenne i die altmodise Soutane des Landpriesters. Er ist

etwa Mie Dreißig, wirkt allerdings von weitem dur seinen steifen Gang

älter. Er saut mi an, und i sehe, daß au er ein Fremder ist, ein Mann

aus dem Norden mit hohen Wangenknoen und blassen Augen. Seine

smale Pianistenhand liegt auf dem silbernen Kreuz, das an einer Kee um

seinen Hals hängt. Vielleit gibt sein Status als Fremder ihm das Ret,

mi anzustarren; do i sehe kein Wohlwollen in seinen kalten Augen.

Nur den verstohlen absätzenden Bli eines Mensen, der si seines

Territoriums nit sier ist. I läle ihm zu; er wendet si ersroen

ab, winkt zwei Kinder zu si. Mit einer beredten Geste verweist er auf den

Abfall, der si milerweile am Straßenrand gesammelt hat; widerwillig

beginnen die beiden Kinder, die Luslangen und Bonbonpapiere

einzusammeln und in einen in der Nähe stehenden Mülleimer zu stopfen. Im

Weggehen bemerke i , wie der Priester mi  erneut anstarrt, mit einem

, den man bei einem


Bli anderen Mann als Zei en von Bewunderung

häe auslegen können.

In Lansquenet-sous-Tannes gibt es keine Polizeistation, und daher au 


keine Kriminalität. I  versu e, es Anouk glei zutun und die Wahrheit

unter der Verkleidung zu erkennen, do  vorerst bleibt alles verswommen.


»Bleiben wir hier? Bleiben wir, Maman?« Sie zup  ungeduldig an meinem
Ärmel. »Mir gefällt es hier. Bleiben wir?«

I nehme sie auf den Arm und küsse sie auf die Stirn. Sie riet na
Rau und gebaenen Pfannkuen und warmer Bewäse an einem

Wintermorgen.

Warum ni t? Dieses Dorf ist so gut wie jedes andere.


»Ja, natürli«, sage i, meinen Mund in ihren Haaren. »Natürli 
bleiben wir.«

Keine ri tige Lüge. Diesmal könnte es tatsäli wahr werden.

Der Karnevalsumzug ist vorbei. Einmal im Jahr flaert im Dorf eine

flütige Heiterkeit auf, do son ist die Wärme wieder verswunden,
son hat die Menge si aufgelöst. Die Straßenhändler paen ihre Stände

zusammen, die Kinder ziehen ihre Kostüme aus und geben ihre Süßigkeiten

ab. Es wird ein lei tes am über


Gefühl von Verlegenheit spürbar, von S

dieses Übermaß an Lärm und Farbenprat. Es verflütigt si wie

Sommerregen, der auf der aufgesprungenen Erde verdamp, in den Ritzen

des Kopfsteinpflasters versiert und kaum eine Spur hinterläßt. Zwei

Stunden später ist Lansquenet-sous-Tannes wieder unsitbar wie ein

verwunsenes Dorf, das nur einmal im Jahr aus dem Nebel auaut. Häe

es den Karnevalsumzug nit gegeben, häen wir das Dorf nie entdet.

Wir haben Gas, aber bisher no keinen Strom. An unserem ersten Abend

habe i bei Kerzenlit für Anouk Pfannkuen gebaen, und wir haben

sie vor dem offenen Kamin von alten Zeitsrien gegessen, die als Teller

dienten, da unsere Saen erst am nästen Tag kommen. Der Laden war

früher einmal eine Bäerei gewesen, und über der smalen Eingangstür ist

immer no das Zunwappen des Bäers, eine in das Holz des Türrahmens

gesnitzte Weizengarbe zu sehen. Der Boden ist di mit Mehlstaub

bedet, und als wir den Laden betraten, mußten wir über Berge von

Reklame- und Wurfsendungen steigen. Die Miete kommt mir läerli

niedrig vor, im Verglei zu dem, was wir an Mietpreisen in der Großstadt

gewöhnt sind; trotzdem ist mir das Mißtrauen im Bli der Hausverwalterin

nit entgangen, als i ihr die Geldseine vorzählte. Laut Mietvertrag


heiße i Vianne Roer, und meine Untersri ist so unleserli, daß man
jeden Namen daraus lesen könnte. Bei Kerzenlit erkundeten wir unser

neues Zuhause; die alten Öfen, die unter all dem Ruß und Fe no

erstaunli gut in Suß sind, die mit Kiefernholz getäfelten Wände, die

rußgeswärzten Tonfliesen. Als wir die alte, zusammengelegte Markise aus

einem Hinterzimmer hervorholten, wo Anouk sie entdet hae, flitzten

lauter Spinnen aus den Falten des ausgebleiten Segeltus hervor. Unsere

Wohnung liegt im ersten Sto über dem Laden; zwei Zimmer, ein Bad, ein

läerli winziger Balkon, ein Terracoakübel mit toten Geranien … Anouk

verzieht das Gesit.

»Es ist so düster, Maman.« Sie klingt eingesütert, verunsiert

angesits des verwahrlosten Hauses. »Und es riet so traurig.«

Sie hat ret. Es ist ein Geru wie von Tageslit, das jahrelang

eingesperrt war, bis es sauer und ranzig wurde, von Mäusedre und dem

Geist vergessener und lieblos weggeworfener Dinge. Es hallt wie in einer

Höhle, und die geringe Wärme, die unsere Körper ausstrahlen, läßt jeden

Saen nur no  unheimli er wirken. Farbe und Sonnenli t und

Seifenwasser werden uns helfen, den S mutz zu entfernen, aber die

traurige Atmosphäre ist etwas anderes, die Freudlosigkeit eines Hauses, in

dem seit Jahren niemand gela t hat  … Anouks Gesi t wirkte blaß im

Kerzenli t, als sie mi mit großen Augen ansaute und meine Hand ganz
fest hielt.

»Müssen wir hier s lafen?« fragte sie. »Pantoufle gefällt es hier nit. Er
hat Angst.«

I läelte und küßte ihre ernste, goldene Wange.


»Pantoufle wird uns helfen.«

Wir zündeten für jedes Zimmer Kerzen an, goldene, rote, weiße und

orangefarbene Kerzen. Gewöhnli   Räuerstäben selbst


stelle i her,

aber in Krisensituationen rei en au gekaue: Lavendel, Zedernholz und

Zitronengras. Wir nahmen jede eine Kerze in die Hand, Anouk blies auf

ihrer Spielzeugtrompete, während i mit einem alten Lö ffel auf eine

lug, und dann stampen wir zehn Minuten lang dur


Kasserolle s das

ganze Haus, dur jeden Raum, srien und sangen aus voller Kehle  – Raus!
Raus! Raus!  –, bis die Wände waelten und die entsetzten Geister die Flut
ergri ffen. Zurü blieben ein swaer Geru na Verbranntem und jede
Menge abgefallener Putz. Wenn man hinter die brü  igen, ges  wärzten

Tapeten s aut, hinter die Traurigkeit der zurü  gelassenen Gegenstände,

beginnt man, s   wa e Umrisse zu erkennen, wie das Na  bild einer

Wunderkerze  – hier eine in glänzendem Gold bemalte Wand, dort ein

Ohrensessel, ein biß  en abgewetzt, aber strahlend orangefarben, die alte

Markise, die mit einemmal bunt au fleutet, wenn man die vers  ossenen

Farben unter der di  en S  mutzs  i t entde  t. Raus! Raus! Raus! Anouk

und Pantou fle stamp en und sangen, und die blassen Bilder s  ienen

deutli  er zu werden  – ein roter Ho  er neben der  eke, ein paar

Glö  en über der Eingangstür. Natürli  weiß i  , daß es nur ein Spiel ist.

Es liegt Arbeit vor uns, harte Arbeit, bis all das Wirkli  keit wird. Do 
einen Moment lang genügt es zu wissen, daß das Haus uns willkommen

heißt, so wie wir es au  willkommen heißen. Steinsalz und Brot auf der

Türs  welle, um die Hausgö  er zu besän  igen. Sandelholz auf dem

Kop  issen, um unsere Träume zu versüßen.

Später erklärte Anouk, Pantou fle habe jetzt keine Angst mehr, und dann
war es gut.

Wir s liefen gemeinsam in unseren Kleidern auf der mit Mehlstaub

bede  ten Matratze, und als wir aufwa  ten, war es Morgen.

12. Februar

Aschermi  woch

Wir wurden tatsä 


li von den Glo  en gewe  t. Mir war ni  t bewußt

gewesen, wie nah bei der Kir  e wir wohnten, bis i  die Glo  en hörte, ein

tiefer, s  wingender Ton, der si  im Takt mit einem hellen Läuten  – dong

da-di-dadi dong  – abwe  selte. I   s aute auf meine Armbanduhr. Es war

se s Uhr früh. Graugoldenes Li fi t el dur die Ritzen in den winds  iefen


Fensterläden auf das Be . I stand auf und sah hinaus auf den Dorfplatz

und das regennasse, glänzende Kopfsteinp ige, weiße


flaster. Der e

Kirturm leutete im Lit der Morgensonne, während die Saufenster

der Läden rings um den Platz no dunkel waren. Es gab eine Bäerei,

einen Blumenladen, ein Gesä für Friedhofsbedarf: Gedenktafeln,

steinerne Engel, unvergänglie Rosen aus Emaille  … Zwisen den

Häuserfassaden mit den diskret verslossenen Fensterläden ragt der

Kirturm wie ein Leuurm in den Himmel, die römisen Ziffern der

Turmuhr leuten um ses Uhr zwanzig rotgolden, als wollten sie den

Teufel absreen, während die Jungfrau Maria von ihrer

swindelerregend ho gelegenen Nise aus mit einer leit überdrüssigen

Miene auf den Platz heruntersaut. Auf der Spitze des gedrungenen Turms

zeigt eine Weerfahne in Gestalt eines Mannes in Mönsrobe mit einer

Siel in der Hand die Windritung an  – West bis Westnordwest. Von

meinem Balkon mit den toten Geranien aus konnte i die ersten

Kirgänger sehen. I erkannte die Frau mit dem karierten Mantel, die mir

beim Karnevalsumzug aufgefallen war; i winkte ihr zu, do sie eilte

weiter, ohne meinen Gruß zu erwidern, und zog ihren Mantel fest um si.

Der Mann mit dem Filzhut und dem traurigen braunen Hund, der kurz

dana  den Platz überquerte, senkte mir ein zaghaes Läeln. I


wünste ihm freundli einen guten Morgen, do ein sol

ungezwungenes Verhalten verstieß offenbar gegen die Dorfetikee, denn er

reagierte nit darauf, sondern ging hastig in die Kire und nahm den

Hund glei mit. Dana saute niemand mehr zu meinem Balkon herauf,

obwohl i über sezig Köpfe zählte  – Kopüer, Baskenmützen, zum

Sutz gegen den unsitbaren Wind tief in die Stirn gezogene Hüte  –, do

i spürte ihre Neugier, die si unter der einstudierten Gleigültigkeit

verbarg. Wir sind mit witigen Dingen besäigt, sagten ihre

eingezogenen Sultern und gesenkten Köpfe. Wie verdrossene Sulkinder

sluren sie über das Kopfsteinpflaster. Der Mann da hat heute mit dem

Rauen aufgehört, date i; dieser dort hat si vorgenommen, nit

mehr regelmäßig ins Café zu gehen, jene Frau wird auf ihre Lieblingsspeisen

verzi ten. Natürli geht mi  das alles ts


ni an. Aber in diesem
Augenbli  sagte i  mir, wenn es je ein Dorf gegeben hat, das dringend ein

biß  en Verzauberung nötig ha  …


e  Alte Angewohnheiten bre en immer

wieder dur  . Und wenn man einmal gemerkt hat, daß man in der Lage ist,

Wüns  e zu erfüllen, wird man den Impuls nie wieder los. Und außerdem

ha   e si der Karnevalswind immer no   ni t gelegt, der s   wa e Du 


von Bratfe  und Zu  erwa  e und S  ießpulver, der s  arfe Geru , der den

Jahreszeitenwe  sel ankündigt, lag immer no  in der Lu , ließ es einem in

den Fingern ju  en und das Herz höher s  lagen  … Eine Zeitlang werden

wir also bleiben. Eine Zeitlang. Bis der Wind si  dreht.

Im Kramladen kau  en wir Farbe, Pinsel, Rollen, Seife und Eimer. Wir

begannen im ersten Sto  und arbeiteten uns na  unten vor, warfen alte

Vorhänge und kapu  e Möbel auf den wa  senden Haufen in dem kleinen

Garten hinter dem Haus, s  rubbten Fußböden und ließen ganze Flutwellen

über die s male, s  mutzverkrustete Treppe stürzen, bis wir beide

vollständig dur  näßt waren. Anouks Wurzelbürste wurde zu einem U-Boot

und meine zu einem Panzerkreuzer, der laut polternde Seifentorpedos über

die Treppenstufen in den Flur hinunter abfeuerte. Mi  en in diesem Spaß

hörte i  die Türglo  e läuten, und als i  , die Seife in der einen und die

Bürste in der anderen Hand, au  li te, sah i  den Priester in der Tür

stehen.

I  ha e mi   s on gefragt, wie lange es dauern würde, bis er uns seine

Aufwartung ma  te.

Er betra  tete uns lä  elnd. Ein zurü  haltendes, gnädiges Lä  eln; der

Gutsherr begrüßt ungelegene Gäste. I  spürte, wie er mi  in meinem

s mutzigen Overall musterte, mein mit einem roten Tu  lose

zusammengebundenes Haar, meine na  ten Füße in den von Putzwasser

triefenden Sandalen.

»Guten Morgen.« Ein kleines Rinnsal s  mutzigen Wassers lief langsam

auf seine blankpolierten S  uhe zu. I  sah seinen Bli  kurz zu dem Rinnsal

und dann wieder zu mir s  nellen.

»Francis Reynaud«, sagte er, während er diskret zur Seite trat. »Der Curé
der Gemeinde.«

I  mußte la  en.
»A  so«, sagte i  ironis  . »Und i   
da te s on, Sie gehörten zum

Karnevalsumzug.«

Hö flies Laen; hi hi hi.


I stre  te ihm einen gelben Plastikhands  uh entgegen.

»Vianne Ro  er. Und der Kanonier da oben ist meine To  ter Anouk.«

Geräus  e von Seifenexplosionen und ausgelassenem Gerangel zwis  en

Anouk und Pantou fle. 


I konnte förmli  hören, wie der Priester darauf

wartete, von Monsieur Ro  er zu hören. Wieviel angenehmer wäre es do  ,

alles s warz auf weiß zu haben, auf einem ffiziellen


o Formular, dann

könnte man si  dieses lästige Gespräch ersparen  …


»I  nehme an, Sie ha  en heute morgen viel zu tun.«

Er tat mir plötzli  leid, wie er dastand und kramp  a versu  te, ins

Gesprä  zu kommen. Wieder das gezwungene Lä  eln.

»Ja, wir müssen dieses Haus so s  nell wie mögli  in Ordnung bringen.

Es gibt no  sehr viel zu tun! Aber wir wären sowieso ni  t in die Kir  e

gekommen, Monsieur le Curé. Wir sind keine Kir  gängerinnen, wissen Sie.«

Es war ne  gemeint, sollte ihm zeigen, wo er uns einzuordnen ha  e, ihn

beruhigen; do  er wirkte verblü  , beinahe beleidigt.

»A  so.«

Es war zu direkt gewesen. Er hä e es vorgezogen, no  ein biß  en mit

mir um den heißen Brei herumzustrei  en wie zwei mißtrauis  e Katzen.

»Aber es ist sehr freundli  von Ihnen, uns willkommen zu heißen«, fuhr

i heiter fort. »Viellei  t können Sie uns sogar dabei behil fli sein, hier ein
paar neue Freunde zu finden.«
Er hat tatsä  li etwas von einer Katze; die kalten, blassen Augen, die

dem Bli   ni t standhalten, die nervöse Wa  samkeit, die beherrs  te

Distanziertheit.


»I werde tun, was i  kann.« Das Wissen darum, daß wir keine neuen

S   äf en in seiner Herde sein werden, ma  t ihn glei  gültig. Do  sein

Gewissen treibt ihn dazu, mehr anzubieten, als er zu geben bereit ist.

»Brau  en Sie sonst no  etwas?«

»Nun, wir könnten ein biß  en tatkrä  ige Hilfe gebrau en«, sage i  .

»I  meine, natürli   ni t von Ihnen«, fahre i   s nell fort, um ihm


zuvorzukommen. »Aber viellei  t kennen Sie jemanden, der si  ein biß  en

Geld verdienen mö  te? Einen Putzer zum Beispiel, jemand, der uns beim

Renovieren helfen könnte?«

Das war si   erli kein heikles  ema.

»Mir fällt niemand ein.« Er ist der vorsi  tigste Mens  , dem i  je

begegnet bin. »Aber i  werde mi  umhören.« Viellei  t wird er es

tatsä  li tun. Er kennt seine P fliten gegenüber Neuankömmlingen. Aber


i  weiß, er wird niemanden finden. Wohlwollend Gefälligkeiten zu

erweisen liegt ni  t in seiner Natur. Sein Bli   gli mißtrauis  zu dem Salz

und Brot an der Tür.

»Das bringt Glü    .« I lä elte, do  sein Gesi  t war wie versteinert. Er

ma  te einen Bogen um die kleine Opfergabe, als sei sie eine Beleidigung für

ihn.

»Maman?« In der Tür ers  ien Anouks Kopf, die Haare wild in alle

Ri  tungen abstehend. »Pantou fle will draußen spielen. Dürfen wir?«


 
I ni te.

»Bleibt im Garten.« I  wis  te ihr einen S  mutz fle von der Nase. »Du
siehst aus wie ein ri  tiger Kobold.« Gerade re  tzeitig bemerkte i  den

seltsamen Bli  , mit dem sie den Priester musterte. »Das ist Monsieur

Reynaud, Anouk. Willst du ihm ni  t guten Tag sagen?«

»Hallo!« rief Anouk auf dem Weg zur Tür. »Ts  üs!«

Ein vers  wommenes Au  litzen ihres gelben Sweatshirts und ihrer roten

Latzhose, als ihre Füße wie wild über die nassen Fliesen s  li erten, und

s  on war sie vers  wunden. Ni  t zum erstenmal war i  mir fast si  er,

Pantou fle zu sehen, der ihr auf den Fersen folgte, ein dunklerer Fle  auf

dem dunklen Boden.

»Sie ist erst se  s«, erklärte i  .

Reynaud 
lä elte, die Lippen 
s mal zusammengepreßt, als hä  e der

Anbli  meiner To  ter jeden Verda  t bestätigt, den er gegen mi  hegte.

Donnerstag, 13. Februar


Go  sei Dank, es ist vorbei. Na Besuen bin i jedesmal völlig ersöp.
Das gilt natürli nit für Sie, mon père; meine wöentlien Besue bei

Ihnen sind ein Luxus, ja, man könnte fast sagen, der einzige Luxus, den i

mir gönne. I hoffe, daß Ihnen die Blumen gefallen. Sie sind nits

Besonderes, aber sie duen herrli. I stelle sie hierhin, neben Ihren Stuhl,

wo Sie sie sehen können. Von hier aus haben Sie einen sönen Ausbli

über die Felder mit dem Tannes, der si dur das Land slängelt, und in

der Ferne können Sie sogar die Garonne glitzern sehen. Fast könnte man

meinen, wir wären ganz allein. Oh, i  will mi nit besweren. Wirkli
nit. Aber Sie müssen wissen, wie swer es für einen Mann ist, die ganze

Last allein zu tragen. Ihre nitigen Sorgen, ihre Klagen, ihre Dummheiten,

all ihre trivialen Probleme  … Am Dienstag haben sie einen Karnevalsumzug


veranstaltet. Man hä e meinen können, daß es si um Wilde handelte, so
wie sie herumgetollt sind. Louis Perrins Jüngster, Claude, hat mit einer

Wasserpistole auf mi gesossen, und sein Vater hae nit mehr dazu zu
sagen, als daß er do no klein sei und nur spielen wolle. I will sie do

bloß im reten Glauben leiten, mon père, und sie von ihren Sünden

befreien. Aber sie sind so trotzig wie kleine Kinder, die gesunde Kost

verweigern und si  sta dessen weiterhin mit Süßigkeiten vollstopfen. I


weiß, daß Sie mi verstehen. Fünfzig Jahre lang haben Sie all das mit

Geduld und Strenge auf Ihren Sultern getragen. Sie haben ihre Liebe

gewonnen. Haben die Zeiten si denn so geändert? I werde geatet und

gefürtet  … aber nit geliebt. Ihre Gesiter sind mürris, voller Groll.

Als sie gestern mit Asenkreuzen auf der Stirn die Kire verließen,

wirkten sie zuglei suldbewußt und erleitert. Jetzt können sie si

wieder ihren heimlien Genüssen, ihren geheimen Lastern hingeben.

Begreifen sie denn nits? Der Herr sieht alles. Ich sehe alles. Paul-Marie

Muscat prügelt seine Frau. Er kommt jede Woe zur Beite, betet zehn

Ave-Maria und geht dann na Hause, um so weiterzumaen wie eh und

je. Seine Frau stiehlt. Letzte Woe ist sie auf den Markt gegangen und hat

an einem Stand Modesmu gestohlen. Guillaume Duplessis will wissen,

ob Tiere eine Seele haben, und weint, wenn i ihm erkläre, daß sie keine

haben. Charloe Edouard glaubt, ihr Mann häe eine Geliebte  – i weiß,
daß er drei hat, aber das Bei tgeheimnis  zu sweigen. Was
zwingt mi

sind sie do für Kinder! Ihre Erwartungen bringen mi zur Verzweiflung.

Aber i kann es mir nit leisten, Swäe zu zeigen. Safe sind gar nit

so fromm und gutmütig wie auf den Hirtenbildern. Das kann einem jeder

Bauer bestätigen. Sie sind trieben,


dur manmal bösartig und absolut

einfältig. Ein nasitiger Hirte riskiert, daß seine Herde aufsässig und
widerspenstig wird. I kann es mir nit leisten, nasitig zu sein.

Deswegen gestae i mir einmal pro Woe diesen Luxus. Ihre Lippen,

mon père, sind so fest versiegelt wie die eines Beitvaters. Sie haben stets

ein offenes Ohr, sind stets voller Milde. Für eine Stunde kann i meine Last

ablegen. Eine Stunde lang kann i zugeben, daß i fehlbar bin.

Wir haben ein neues Mitglied in unserer Gemeinde. Eine gewisse Vianne

Roer, eine Witwe, nehme i an, mit einer kleinen Toter. Erinnern Sie
si no an die Bäerei des alten Blaireau? Er ist vor vier Jahren gestorben,

und seitdem verfällt das Haus immer mehr. Nun, sie hat das Haus gemietet

und will am Wo enende ffnen. I glaube nit, daß das


einen Laden erö

Gesä lange bestehen wird. Wir haben ja son Poitous Bäerei auf der

gegenüberliegenden Seite des Platzes, und außerdem paßt sie einfa nit

zu uns. Sie ist ja ganz ne, aber sie hat nits mit uns gemein. I gebe ihr

zwei Monate, dann kehrt sie wieder in die Stadt zurü, wo sie hingehört.

Komis, sie hat mir gar nit gesagt, woher sie kommt. Wahrseinli aus

Paris, oder vielleit sogar aus dem Ausland. Sie sprit völlig akzentfrei,

mit harten Vokalen wie im Norden, eigentli fast zu akzentfrei für eine

Französin, und ihre Augen könnten darauf sließen lassen, daß sie

italieniser oder portugiesiser Abstammung ist, und ihre Haut  … Aber

i habe sie nit so genau gesehen. Sie hat gestern und heute den ganzen

Tag in der Bäerei gearbeitet. Sie haben eine riesige orangefarbene

Plastikplane vor das Saufenster gehängt, so daß der ganze Laden aussieht

wie ein riesiges Gesenkpaket, und ab und zu sieht man sie oder ihre

unbändige kleine Toter vor die Tür treten, um einen Eimer Putzwasser in

den Gully zu süen oder si sütern mit einem Handwerker zu

unterhalten  … Sie besitzt ein merkwürdiges Talent, Leute dazu zu überreden,

daß sie für sie arbeiten. I  hae ihr zwar angeboten, sie bei der Sue na
Helfern zu unterstützen, war jedo  davon ausgegangen, daß si  kaum

jemand aus dem Dorf finden würde. Aber heute morgen habe i  gesehen,

wie Clairmont ihr in aller Frühe Bauholz bra  te, und später kam Pourceau

mit seiner Leiter. Poitou hat Möbel geliefert; i  habe ihn einen Sessel über

den Dorfplatz tragen sehen, im Gesi  t den gehetzten Bli  eines Mannes,

der ni t bemerkt werden will. Selbst dieses ni tsnutzige Lästermaul

Narcisse, der si  im vergangenen November 


gla geweigert hat, den

Kir  hof umzugraben, ist mit seinem Werkzeug zu ihr gegangen, um ihren

Garten in Ordnung zu bringen. Heute morgen gegen zwanzig vor neun hielt

ein Lieferwagen vor dem Laden. Duplessis, der wie immer um diese Zeit

seinen Hund ausführte, kam gerade vorbei, und sie spra  ihn einfa  an

und bat ihn, beim Abladen zu helfen. I  konnte sehen, daß er über ihr

Ansinnen ziemli  verblü  war, die Hand, mit der er gerade seinen Hut

ziehen wollte, verharrte in der Lu –


  einen Moment lang war i  mir fast


si er, daß er ihr die Bi  e abs  lagen würde. Do  dann sagte sie etwas  –
i konnte ni  t verstehen, was es war  –, und i hörte ihr Laen quer über
den Platz. Sie la t überhaupt viel und gestikuliert ausgiebig mit den

Händen. Das ist wohl au  typis  für eine Städterin. Hier auf dem Land

sind wir es gewohnt, daß die Leute reservierter sind, aber i  nehme an, sie

meint es gut. Sie ha   e si ein lilafarbenes Tu   na Zigeunerart um den

Kopf gebunden, aber ihr Haar war zum größten Teil darunter

hervorgeruts  t und voller weißer Farbe. Das s  ien sie gar ni  t zu stören.

Duplessis konnte si  später ni  t mehr erinnern, was sie zu ihm gesagt

ha  e, aber er erzählte auf seine übli  e zagha  e Art, der Lieferwagen hä  e

ni  ts Besonderes gebra  t, nur ein paar Kartons, klein, aber s  wer, und

einige offene Kisten mit Kü  enutensilien. Er hat si  ni t dana 


erkundigt, was si  in den Kartons befand, aber er meinte, was es au 
gewesen sein mo  te, mit so geringen Mengen könne man in einer Bä  erei

ni  t viel anfangen.

Glauben Sie ni  t, mon père, i  würde den ganzen Tag ni  ts anderes

tun, als beoba  ten, was in der Bä  erei vor si  geht. Es ist nur so, daß sie

si  genau meinem Haus gegenüber be findet, gegenüber dem Haus, in dem


Sie früher gewohnt haben, mon père, vor Ihrer Erkrankung. Seit anderthalb
Tagen wird dort unau   örli gehämmert und gestri  en und geweißt und

ges  rubbt, bis die Neugier mi  überkam und i  das Ergebnis all der

Pla  erei sehen wollte. Und i bin ni t der einzige, der neugierig

geworden ist; i  habe gehört, wie Madame Clairmont vor Poitous Bä  erei

ein paar Freundinnen wi  tigtueris  von der Arbeit ihres Mannes

beri  tete; 
i hörte sie von roten Fensterläden erzählen, bis sie mi 
bemerkte und in einem vers  wöreris  en Flüsterton weiterredete. Als ob

mi  das alles interessierte. Die Neue sorgt auf jeden Fall für Klats   . I

bemerke immer wieder, wie die orangefarbene Plastikplane einem in

unerwarteten Augenbli en aufs neue ins Auge sti  t. Das verhängte Fenster

erinnert an ein riesiges Bonbon, das darauf wartet, ausgewi  elt zu werden,

wie ein Überbleibsel des Karnevalsumzugs. Die leu  tende Farbe und die

Art und Weise, wie die Falten der Plane das Sonnenli  t re flektieren, haben
etwas Beunruhigendes; i  bin froh, wenn die Arbeiten beendet sind und der

Laden wieder wie eine normale Bä  erei aussieht.

Die S  wester s  aut zu mir herüber. Sie glaubt, i  würde Sie ermüden,

Vater. Wie können Sie sie nur alle ertragen, mit ihren lauten Stimmen und

ihrem Gouvernantenton. Ich glaube, es ist jetzt Zeit für unser Nickerchen.

Ihre übertrieben ne  is e Art ist beleidigend, unerträgli  . Und do  meint

sie es gut, i  kann es an Ihren Augen ablesen, Vater. Vergib ihnen, denn sie

wissen nicht, was sie tun. I bin ein Egoist. I  komme hierher, um

Erlei  terung zu finden, nit, um sie Ihnen zu vers ffa en. Und do  habe

i immer den Eindru  , daß meine Besu  e Ihnen Freude bereiten, daß Sie

froh sind, auf diese Weise den Kontakt zur Wirkli  keit ni  t zu verlieren,

die für Sie vers  wommen und konturlos geworden ist. Eine Stunde pro

Abend fernsehen, fünfmal tägli  umbe en, künstli  e Ernährung  …


erdulden müssen, daß man über Sie redet, als seien Sie ein Gegenstand  – Ob
er uns hören kann? Glaubst du, er versteht, was wir sagen?  –, niemand, der
Sie na  Ihrer Meinung fragt  … Von allem ausgeslossen zu sein und do
fühlen und denken zu können  … Das ist die wahre Hölle, ohne das

mi  elalterli  bunte Beiwerk, mit dem man sie gewöhnli   


auss mü t. Es

ist der Verlust von mens  li em Kontakt. Und do  wende i   mi an Sie,


um von Ihnen zu lernen, wie man mit den Mens  en umgeht. Lehren Sie

mi  zu ho ffen.

Freitag, 14. Februar

Valentinstag

Der Mann mit dem Hund heißt Guillaume. Er hat mir gestern geholfen, die

Kisten vom Lieferwagen zu laden, und heute morgen war er mein erster

Kunde. Er ha e seinen Hund Charly dabei, und er grüßte mi  mit einer fast

ri  
erli en Hö flikeit.
»Es ist wunders  ön geworden!« sagte er, als er si  umsah. »Sie müssen

die ganze Na  t gearbeitet haben.«

I  la te.


»Wel eine Verwandlung«, sagte Guillaume. »Wissen Sie, i  kann ni  t

sagen, warum, aber i   ha e angenommen, es würde wieder eine Bä  erei

werden.«

»Sollte i  etwa dem armen Monsieur Poitou das Ges  ä verderben? Da

hä  e er 
si aber bei mir bedankt, wo er do  so sehr mit seinem

Hexens  uß zu tun hat und seine Frau so krank ist und so s     le t s lä .«

Guillaume bü  te si  , um Charlys Halsband zure  


tzurü  en, aber i

sah das Funkeln in seinen Augen.

»Sie haben ihn also bereits kennengelernt«, sagte er.

»Ja. I  habe ihm mein Rezept für einen S  


la ee gegeben.«

»Wenn es wirkt, haben Sie einen Freund fürs Leben gewonnen.«

»Es wirkt«, versi  erte i  ihm. Dann holte i  eine kleine rosafarbene

S a tel mit einer silbernen S  leife unter der eke hervor. »Für Sie. Für

meinen ersten Kunden.«

Guillaume s  aute mi  verblü  an.

»Wirkli  , Madame, i …  «

»Nennen Sie mi  Vianne.« I  drü 


te ihm die S 
a tel in die Hand.

»I  bestehe darauf. Sie werden Ihnen s  


me en. Es ist Ihre Lieblingssorte.«
Darüber mußte er lä eln.
»Woher wollen Sie das wissen?« erkundigte er si, während er die

S atel in seine Manteltase stete.


»Oh, i weiß es einfa«, erwiderte i läelnd. »I sehe es den Leuten

an. Vertrauen Sie mir.«

Das ild wurde erst miags fertig. Georges Clairmont kam


S

höstpersönli, um es aufzuhängen, während er si wortrei wegen der

Verspätung entsuldigte. Die roten Fensterläden sehen auf den

frisgeweißten Wänden wundersön aus, und Narcisse hat mir unter

halbherzigem Protest wegen der Frostgefahr selbstgezogene Geranien für

meine Blumenkästen mitgebra t. I habe beiden zum Valentinstag eine

Satel Pralinen gesenkt, und sie zogen mit freudig verwirrten


Gesitern ab. Dana kamen bis auf einige Sulkinder kaum no Kunden.

So ist es immer, wenn in einem kleinen Dorf ein neuer Laden eröffnet; für

sole Situationen gibt es einen strengen Verhaltenskodex, und die Leute

sind reserviert, geben si uninteressiert, obwohl sie innerli vor Neugier

platzen. Eine alte Dame in der traditionellen swarzen Witwenkleidung

traute si herein. Ein Mann mit dunklen, stark ausgeprägten Zügen, der

drei gleie Sateln Pralinen kaue, ohne si na dem Inhalt zu

erkundigen. Dann kam vier Stunden lang niemand. I hae es nit anders

erwartet; die Mensen brauen Zeit, um si an Veränderungen zu

gewöhnen, und obwohl mehrere Leute stehenblieben, um si die Auslagen

in meinem Saufenster anzusehen, sien niemand geneigt

hereinzukommen. Hinter der gezwungenen Gleigültigkeit jedo spürte

i eine Art Smoren, ein argwöhnises Flüstern, ein Raseln von

Vorhängen, das Bemühen, si ein Herz zu fassen. Als sie sließli

ersienen, kamen sie alle zusammen; at Frauen, unter ihnen Caroline

Clairmont, die Frau des Sildermalers. Eine neunte Frau, die etwas später

eintraf, blieb draußen vor dem Laden stehen und berührte die

S aufensterseibe fast mit der Nase, und i  erkannte die Frau mit dem

karierten Mantel. Die Damen kierten wie kleine S ulmäden und

freuten si  über ihre Ungezogenheit.


»Und Sie ma en die wirkli alle selbst?« fragte Cécile, der die Apotheke
auf der Hauptstraße gehört.

»Während der Fastenzeit dür e i eigentli gar ni t nasen«, sagte

Caroline, eine di e Blonde mit einem Pelzkragen.


»I  werde es keiner Mensenseele verraten«, verspra  i. Dann, als

i sah, daß die Frau in dem karierten Mantel immer no draußen vor dem
Fenster stand, fragte i: »Möte Ihre Freundin nit au hereinkommen?«

»Oh, sie gehört nit zu uns«, erwiderte Joline Drou, eine Frau mit

strengen Zügen, die in der Dorfsule unterritet. Sie warf einen kurzen

Bli auf die Frau vor dem Fenster. »Das ist Joséphine Muscat.« Es lag eine

Art mitleidige Veratung in ihrer Stimme, als sie den Namen ausspra.

»I glaube kaum, daß sie hereinkommen wird.«

Als häe sie es gehört, sah i, wie Joséphine leit errötete und den Kopf

senkte. Sie hielt si eine Hand vor den Bau, was wie eine seltsame

Sutzgebärde wirkte. I konnte erkennen, wie ihre Lippen si bewegten,

so als würde sie ein Gebet spreen oder einen Flu ausstoßen.

Naeinander bediente i die Damen  – eine weiße Satel mit

goldener Sleife, zwei Spitztüten, eine Rose, eine rosafarbene

Valentinssleife  –, die ihre Bestellungen mit kleinen Sreien des

Entzüens und freudigem Laen begleiteten. Draußen murmelte Joséphine

Muscat vor si hin, während sie rhythmis vor- und zurüsaukelte und

si die Fäuste unbeholfen in die Magengrube preßte. Sließli, als i

gerade dabei war, die letzte Kundin zu bedienen, hob sie beinahe trotzig den

Kopf und kam herein.

Diese letzte Kundin hae spezielle Wüns e. Madame ließ  eine
si

erlesene Auswahl an Trüffeln zusammenstellen, in einer runden Satel

mit weißen S leifen und Blumen und goldenen Herz en und dazu eine

– worüber die Damen entzüt die Augen verdrehten und


blanko Grußkarte 

zu kiern begannen  –, so daß i es beinahe nit mitbekommen häe. Die

großen, von Hausarbeit geröteten Hände sind end flink und


überras

gesit. Die eine Hand bleibt in ihre Magengrube gedrüt, die andere

mat eine kurze Bewegung wie die eines Revolverhelden, der in

Sekundensnelle seine Waffe zieht, und im nästen Augenbli


verswindet das kleine, silberne, mit einer Rose verzierte Päen zu zehn
Francs vom Regal in ihrer Manteltase. Gute Arbeit.

Bis die Damen den Laden mitsamt ihren Päen verlassen haen, ließ

i mir nits anmerken. Joséphine, allein an der eke, tat so, als würde sie

si in Ruhe etwas aussuen, hob hier und da mit nervösen Händen eine

Satel ho, um sie näher zu betraten. I sloß die Augen.

»Kann i Ihnen helfen, Madame Muscat?« fragte i freundli. »Oder

möten Sie si erst no ein wenig umsehen?«

Die Gedanken, die sie aussendete, waren verworren und beunruhigend.

Lauter Bilder gingen mir dur den Kopf; Rau, eine Handvoll glitzernder
Tand, ein blutiger Knöel. Und hinter all dem spürte i tiefen Kummer.

Sie murmelte etwas Unverständlies vor si hin und wandte si zum

Gehen.

 glaube, i habe etwas, das Ihnen gefallen wird.« I langte unter die
»I

eke und holte ein silbernes Päen hervor, das etwas größer war als das,
was i sie hae stibitzen sehen. Das Päen war mit einem weißen, mit

gelben Blümen bestiten Band versnürt. Sie starrte mi mit offenem

Mund an; Panik lag in ihren Augen.

I sob das Päen über die eke.


»Ein Gesenk des Hauses, Joséphine«, sagte 
i san . »Ist on
s in

Ordnung. Es ist Ihre Lieblingssorte.«

 um und ergriff die Flut.


Joséphine Muscat drehte si

Samstag, 15. Februar

I weiß, heute ist nit mein üblier Besustag, mon père. Aber i muß
unbedingt mit jemandem reden. Die Bäerei hat gestern eröffnet. Aber es

ist keine Bäerei. Als i morgens um ses Uhr aufwate, war die

orangefarbene Plastikplane nit mehr da, die Markise und die Fensterläden

waren angebrat, und die Jalousie im Saufenster war hogezogen. Was


einst ein gewöhnli  es, ziemli  farbloses Haus gewesen ist, das genauso

aussah, wie all die anderen Häuser rings um den Dorfplatz, hat si  in ein

rotgoldenes Stü  Konfekt vor blütenweißem Hintergrund verwandelt. Rote

Geranien in den Blumenkästen. Das Balkongeländer mit Girlanden aus

rotem Krepp umwi  elt. Und über der Tür ein handgemaltes S  ild aus

s warzer Ei  e:

La Céleste Praline

Chocolaterie Artisanale

Die himmlis  e Praline. Das ist natürli   


lä erli . Ein sol  er Laden mag

viellei  t in Marseille oder Bordeaux auf Begeisterung stoßen  – oder au in


Agen, wo es von Jahr zu Jahr mehr Touristen gibt. Aber in Lansquenet-sous-

Tannes? No  dazu zu Beginn der Fastenzeit, in der die Mens  en Verzi  t

üben sollen? Das s  eint mir do  pervers zu sein, mögli  erweise sogar mit

Absi   t. I habe mir heute morgen die Auslagen im S aufenster

angesehen. Auf einer weißen Marmorpla  e sind zahllose S  a teln und

Tüten aus Silber- und Goldpapier ausgestellt, mit Rose  en, Glö  en,

Blumen, Herz  en und bunten, gekringelten S leifen verziert. Unter

Glasglo  en liegen Pralinen, Trü ffel, Venusbrüst  en, mendiants, kandierte

Frü  te, Haselnußspli  er, Meeresfrü  te aus S  okolade, kandierte

Rosenblä  er, Veil  enpastillen  … Dur  die Markise vor der Sonne

ges ützt, glänzen sie im Halbs  a en wie die versunkenen S ätze in

Aladins Höhle. Und in der Mi e hat sie die Haupta  raktion aufgebaut. Ein

Lebku  enhaus, dessen Wände mit S  okolade überzogen sind; Türen und

Fenster sind mit silbernem und goldenem Zu  erguß aufgemalt, das Da  ist

mit Da  pfannen aus Florentinern gede  t, an den Giebeln ranken seltsame

Kle erp flanzen aus Zu  erguß und S  okolade empor, an denen kandierte

Frü  te wa  sen, neben dem Haus stehen Bäume aus S  okolade, in denen

Marzipanvögel zwits  ern  … Und dann die Hexe, von ihrem hohen, spitzen
Hut bis zum Saum ihres langen Umhangs aus dunkler S  okolade. Sie reitet

auf einem Besenstil, der dem Kits  die Krone aufsetzt, einer von diesen

langen, bunten, gezwirbelten Zu erstangen, wie man sie zu Karneval


… 
 
überall an der Straße kaufen kann  Von meinem Fenster aus kann i das

  
S aufenster sehen, das wie ein halb ges lossenes Auge zu mir

herüberstarrt und mir vers wöreris zuzuzwinkern s eint.

 
Caroline Clairmont hat wegen der Waren, die in diesem Laden feilgeboten

 
werden, ihr Fastengelübde gebro en. Gestern im Bei tstuhl hat sie es mir

 
gestanden, in diesem atemlosen, mäd enha en Ton, der ihre Beteuerungen

   
der Reue so unglaubha ma t.

  
»O mon père, i ma e mir sol e Vorwürfe! Aber was sollte i tun, wo

 
diese charmante Frau so reizend zu mir war? I meine, i habe ni t mal

 …
im Traum daran geda t, bis es zu spät war, obwohl i all das süße Zeug

   
überhaupt ni t anrühren dür e  I meine, in den letzten zwei Jahren bin

i aufgegangen wie ein Hefekuchen, und wenn i daran denke, mö te i


   
am liebsten sterben  «

  
»Zwei Ave-Maria.« Go , diese Frau. Selbst dur die Gi erstäbe spüre i


ihre lüsternen Augen. Sie gibt si zerknirs t über meine S ro eit.

»Selbstverständli , Vater.«

   
»Und denken Sie daran, warum wir in der Fastenzeit enthaltsam sind.


Ni t aus Eitelkeit. Ni t, um unsere Freunde zu beeindru en. Ni t, damit

  
wir in die teuren Kleider passen, die im nä sten Sommer in Mode


kommen.« I bin absi tli s onungslos. Es ist genau das, was sie

  
brau t.

   
»Ja, i bin eitel, ni t wahr?« Ein kurzes S lu zen, eine Träne, die sie

vorsi tig mit dem Zipfel eines Batis as entu s abtup . »Eine dumme,

eitle Frau.«

  
»Denken Sie an unseren Herrn Jesus. An das Opfer, das er für uns

 
gebra t hat. An seine Demut.« I rie e ihr Parfüm, irgend etwas

 
Blumiges, zu intensiv in dieser dunklen Enge. I frage mi , ob es

verführeris wirken soll. Falls ja, bin i aus Stein.


»Vier Ave-Maria.«

flung.
 fl
Es ist eine Art Verzwei Es zerfrißt die Seele, zersetzt sie Stü für

  
Stü , so wie eine Kathedrale über die Jahre von in der Lu iegenden

 
Staub- und Sandkörn en allmähli abgetragen wird. I spüre, wie es an

meiner Ents lossenheit nagt, an meiner Freude, meinem Glauben. I


mö  te ihnen in Leid und Kümmernis beistehen, sie dur  die Wildnis

geleiten. Und nun das. Diese s  leppende Prozession von Lügnern,

S  windlern, Vielfraßen und erbärmli  en Selbstbetrügern. Der Kampf

zwis  en Gut und Böse personi fiziert in einer di en Frau, die in

jämmerli  er Unents  lossenheit vor dem Süßwarenladen steht und si 


fragt: Soll ich? Oder soll ich nicht? Der Teufel ist ein Feigling; er wagt es

ni  t, sein Gesi  t zu zeigen. Er ist substanzlos, zerfällt in Millionen

winziger Teil  en, die das Blut und die Seele mit dem Bösen in filtrieren. Wir
beide, Sie und i  , mon père, wurden zu spät geboren. I  sehne mi   na

der rauhen, klaren Welt des Alten Testaments. Damals wußten wir no  , wo

wir standen. Damals war Satan in Fleis  und Blut unter uns. Wir trafen

s  wierige Ents  eidungen; wir opferten unsere Kinder in Go  es Namen.

Wir liebten Go , aber no  mehr für  teten wir ihn.

Ni  t daß Sie denken, i  würde Vianne Ro  er die S  uld geben.

Eigentli  denke i  kaum an sie. Sie ist nur einer der s   le ten Ein flüsse,
gegen die i  Tag für Tag kämpfen muß. Aber dieser Laden mit seiner

bunten Markise, dieses halbges  lossene S  aufenster, dieses verführeris  e

Zwinkern, das der Enthaltsamkeit spo  et, den Glauben unterhöhlt  … Wenn
i aus der Tür trete, um mi  der Gemeinde zu widmen, bemerke i  , wie


si im Inneren des Ladens etwas bewegt. Probier mich. Koste mich. Nasch

mich. In der Stille zwis  en zwei Strophen eines Kir  enliedes höre i  das

Hupen des Lieferwagens, der vor dem Laden hält. Während der Predigt  –
während der heiligen Messe, Vater!  – fahre i  
mi en im Satz zusammen,

weil i   si er bin, das Ras  eln von Bonbonpapier zu hören  …


Obwohl heute morgen nur wenige Leute an der Messe teilnahmen, habe

i  eine besonders strenge Predigt gehalten. Morgen werde i  sie büßen

lassen. Morgen, am Sonntag, wenn alle Läden ges  lossen sind.

Samstag, 15. Februar


ule früher aus. Um zwölf Uhr wimmelt es in der Straße von
Heute ist die S

Cowboys und Indianern in bunten Anoraks und Jeans, mit sweren

Sulranzen auf dem Rüen oder in der Hand  – die Größeren, mit

verbotenen Zigareen zwisen den Lippen, die Kragen hogeslagen,

werfen im Vorbeislendern lässig einen kurzen Bli auf die Auslagen in

meinem Fenster. Mir fiel ein Junge in einem tadellos sitzenden grauen

Mantel und mit Baskenmütze auf, der allein ging, den S ulranzen korrekt

auf den s malen Rü en ges nallt. Eine ganze Weile blieb er vor dem

Saufenster von La Céleste Praline stehen, do die Sonne spiegelte si so
ungünstig in der Fensterseibe, daß i sein Gesit nit erkennen konnte.

Als ein paar Kinder in Anouks Alter vor dem Laden stehenblieben, ging er

weiter. Zwei Nasen wurden kurz an der Fensters eibe plagedrüt, dann
steten die vier die Köpfe zusammen und leerten ihre Hosentasen, um ihr

Tasengeld zu zählen. Na kurzem Zögern bestimmten sie einen, der

hineingehen sollte. I tat so, als sei i hinter der eke mit etwas

besäigt.

»Madame?« Ein kleines, smuddeliges Gesit saute mißtrauis zu

mir auf. I erkannte den Wolf aus dem Karnevalsumzug.

»Du willst bestimmt Makrönen kaufen, junger Mann.« I mate ein

ernstes Gesit, denn der Kauf von Süßigkeiten ist eine ernste

Angelegenheit. »Sie sind gesund, leit zu teilen, smelzen nit in der

Hosentase, und du bekommst«  – i hob beide Hände um ihm die Menge

anzudeuten  – »mindestens soviel für fünf Francs. Stimmt’s?«


Kein Lä eln, nur ein Ni en wie zwisen zwei Gesäsleuten. Die
Münze war warm und ein bißen klebrig. Vorsitig nahm er die Tüte

entgegen.

enhaus gefällt mir«, sagte er feierli. »Das im Fenster.« Die


»Das Lebku

drei anderen standen in der Tür und niten seu, dit

aneinandergedrüt, wie um si gegenseitig Mut zu maen. »Es ist cool.«

Der amerikanise Ausdru kam fast trotzig über die kleinen Lippen, wie

der Rau einer heimli gerauten Zigaree. I läelte.

»Sehr cool«, stimmte i zu. »Wenn ihr wollt, könnt ihr mir helfen, es

aufzuessen, wenn i es aus dem Fenster nehme.«


Große Augen.

»Cool!«

»Megacool!«

»Wann?«

I  zu te die A  seln.

»I werde Anouk bi  en, eu   Bes eid zu sagen«, verspra i . »Das ist

meine To ter.«

»Das wissen wir. Wir haben sie gesehen. Sie geht ni  t zur S  ule.« Die

letzte Bemerkung klang fast neidis  .

»Ab Montag wird sie in die S  ule gehen. Es ist s  ade, daß sie no  keine

Freunde hat, denn i  habe ihr erlaubt, sie mit na  Hause zu bringen. Sie

könnten mir nämli  helfen, das S  aufenster zu dekorieren, wißt ihr.«

Füße s  arrten, klebrige Hände wurden ausgestre t, jeder wollte der

erste sein, der den Laden betrat.

»Wir können  –«
»Ich kann  –«
»I  heiße Jeannot  –«
»Claudine  –«
»Lucie  –«
I s enkte jedem Kind eine Spe  maus, und im nä  sten Augenbli  sah

i sie auf dem Dorfplatz auss  wärmen wie Löwenzahnsamen im Wind.

Ihre Anoraks blitzten kurz in der Sonne auf  – rot-orange-grün-blau  –, dann


waren sie vers  wunden. Im S 
a en des Portals von Saint Jérôme sah i 
den Priester stehen, der sie neugierig und, wie mir s  ien, mißbilligend

beoba  tete. I  war überras  t. Warum sollte er ihr Verhalten mißbilligen?

Seit seinem P fl i tbesu  am ersten Tag ist er ni  t mehr bei uns gewesen,

aber i  habe viel von ihm gehört. Guillaume spri  t respektvoll über ihn,

Narcisse entnervt, Caroline in dem koke en Ton, den sie stets anzus  lagen

s eint, wenn sie über einen Mann unter Fünfzig spri  t  … Es liegt wenig

e  te Sympathie in der Art, wie sie über ihn reden. Er ist kein Einheimis  er,

wie i  gehört habe. Ein Seminarist aus Paris, der sein Wissen aus Bü  ern

bezogen hat  – er stammt ni  t vom Land, kennt ni  t dessen Bedürfnisse

und Zwänge. Das weiß i  von Narcisse, der mit ihm in Fehde lebt, seit er
si  weigerte, während der Erntesaison die Messe zu besu en. Ein Mann,

der Dummköpfe vera  tet, sagt Guillaume mit einem traurigen Halblä  eln

hinter seiner runden Brille, das heißt also, die meisten von uns mit unseren

töri  ten Si en und eingefahrenen Gewohnheiten. Dabei täts  elt er

liebevoll Charlys Kopf, worau  in der Hund kurz au  ellt, wie um ihn zu

bestätigen.

findet es läerli, einen Hund zu lieben«, sagt Guillaume wehmütig.


»Er

»Er ist viel zu höfli, um es auszuspreen, aber er hält es für  –

unschicklich. Ein Mann in meinem Alter  …« Bevor er pensioniert wurde,

war Guillaume Lehrer an der hiesigen Grunds  ule. Heute gibt es für die

immer geringer werdenden S  ülerzahlen nur no  zwei Lehrer, aber viele

der älteren Leute spre  en immer no  von Guillaume als dem maître

d’école. I  sehe ihm zu, wie er Charly die Ohren krault, und i  bin mir

si  er, hinter der si  tbaren Zuneigung no  etwas anderes zu spüren, eine

Art Traurigkeit, etwas in seinem Bli  , das beinahe s  uldbewußt wirkt.

»Jeder hat das Re   t, si seine Freunde auszusu  en, egal, wie alt er ist«,

unterbra   i ihn lei t aufgebra  t. »Viellei  t könnte Monsieur le Curé

selbst etwas von Charly lernen.« Wieder das freundli  e, traurige

Halblä  eln.

»Monsieur le Curé tut sein Bestes«, erklärte er mir san  . »Mehr können

wir ni  t von ihm erwarten.«

I sagte ni  ts darauf. In meinem Beruf lernt man s  nell, daß das Geben

keine Grenzen kennt. Guillaume verließ La Praline mit einer kleinen Tüte

Florentiner in der Tas  e; bevor er um die E  e der Avenue des Francs

Bourgeois bog, sah i  , wie er einen davon seinem Hund gab. Ein Täts  eln,

ein Bellen, ein kurzes Wedeln mit dem Stummels  wanz. Wie i   s on

sagte, man  e Mens  en geben, ohne lange zu überlegen.

Das Dorf wird mir immer vertrauter. Au  seine Einwohner. I  kenne

inzwis  en immer mehr Gesi  ter und Namen; die ersten Stränge von

kleinen Ges  i ten, die si  mit der Zeit zu einer uns alle verbindenden

Nabels  nur ver fleten werden. Das Dorf ist viels i tiger, als sein

einfa  er Grundriß zunä  st vermuten läßt. Die Rue Principale, von der
mehrere Seitenstraßen wie die Finger einer Hand abzweigen: die Avenue des

Poètes, die Rue des Francs Bourgeois, die Ruelle des Frères de la Revolution  –
irgendein Bürgermeister muß eine ausgeprägt republikanis  e Ader gehabt

haben. Der Dorfplatz, die Place Saint-Jérôme, ist der Mi  elpunkt, auf dem

diese Straßen zusammenlaufen und wo die Kir  e weiß und stolz in den

Himmel aufragt. Um den Platz herum stehen Lindenbäume, in der Mi  e

eine mit rotem Kies bede  te Flä e, auf der die alten Männer an lauen

Abenden pétanque spielen. Hinter der Kir  e geht es steil den Hügel

hinunter in das Gewirr von engen Gassen, das die Einheimis  en nur Les

Marauds, das Lumpenviertel, nennen. Das ist das Armenviertel von

Lansquenet, mit winds  iefen Fa  werkhäusern und holprigem

Kopfsteinp flaster bis hinunter zum Ufer des Tannes. Die Dorfgrenze jedo 
liegt weiter draußen, wo das Sumpfgebiet beginnt. Einige Häuser stehen auf

mors  en Pfählen über dem Wasser des Flusses, andere s  miegen si  an

die steinerne Kaimauer, wo die Feu  tigkeit des bra  igen Wassers wie

lange, kalte Finger bis zu ihren kleinen, s  malen Fenstern hinau  rie t. In

einer Stadt wie Agen würde ein maleris  verfallenes Viertel wie Les

Marauds die Touristen anlo  en. Aber hier gibt es keine Touristen. Die

Einwohner von Les Marauds sind Lumpensammler, die von dem leben, was

sie aus dem Fluß fisen. Viele Häuser sind baufällig; hier und da sieht man
Holundersträu  er aus Mauerritzen wa  sen. I   ha e den Laden über die

Mi  agszeit für zwei Stunden zugema  t und war mit Anouk zum Fluß

hinunter spaziert. Ein paar magere Kinder spielen in dem grünli  en

S lamm am Flußufer; selbst im Februar liegt ein lei  ter Gestank na 


Abwasser und Fäulnis in der Lu  . Es war kalt und sonnig, und Anouk in

ihrem roten Anorak und der roten Mütze rannte über das Kopfsteinp flaster
mit Pantou fle auf den Fersen, dem sie immer wieder aufgeregt etwas zurief.
I habe mi milerweile so sehr an Pantoufle gewöhnt  – und an den Rest

der seltsamen Menagerie, die sie stets in ihrem Gefolge führt  –, daß i bei

solen Gelegenheiten beinahe meine, ihn zu sehen, Pantoufle, mit seinen

S  nurrhaaren und den klugen Augen. In diesen Augenbli  en wird die Welt

um mi  herum plötzli  bunter, und es ist, als sei i  auf wundersame

Weise zu Anouk geworden und sähe mit ihren Augen, liefe in ihren
Fußstapfen. Dann könnte i  vergehen vor Liebe für sie, für meine kleine

Fremde; dann s  willt mein Herz gefährli  an, und i  kann mi  nur

re en, indem i  zu rennen beginne, so daß mein roter Anorak im Wind

fl  a ert, als hä  e i Flügel bekommen, und mein Haar wie der S  weif eines

Kometen hinter mir herweht.

Eine s  warze Katze lief vor mir über den Weg, und i  begann, um sie

herumzutanzen und ein Kinderlied zu singen:

Où va-t-i, mistigri?

Passe sans faire de mal ici.

Anouk stimmte mit ein, und die Katze begann zu s  nurren und warf si 
auf den Rü  en, damit wir sie kraulen konnten. Als i   mi hinunterbeugte,

sah i  eine kleine alte Frau an der E e eines Hauses stehen, die mi 
neugierig beoba  tete. S warzer  
Ro , s warze Ja e, graues Haar, zu

einem strengen Na  enknoten ge fl 


o ten. Ihre Augen glänzten so s  warz

wie die eines Vogels. I  ni te ihr zu.

»Sie sind die Frau aus der chocolaterie«, sagte sie. Trotz ihres Alters  – i

s ätzte sie auf mindestens a  tzig  – ha e sie eine klare, feste Stimme und

spra  mit dem rauhen Akzent des Midi.

»Ja, das stimmt«, erwiderte i  und nannte ihr meinen Namen.

»Armande Voizin«, sagte sie. »I  wohne in dem Haus da drüben.« Mit

einem Kopfni  en deutete sie auf eines der Häuser am Flußufer, das in

einem etwas besseren Zustand zu sein s  ien als der Rest. Es war fris 
geweißt, und in den Blumenkästen blühten rote Geranien. Und dann lä  elte

sie, und ihr Gesi  t legte si  in tausend Falten. »I  habe Ihren Laden

gesehen. Er ist sehr hübs , das muß i  zugeben, aber er taugt ni  t für

einfa  e Leute wie uns. Viel zu extravagant.« Es lag kein Mißfallen in ihrem

Ton, eher ein amüsierter Fatalismus. »Wie i  höre, hat unser M’sieur le

Curé Sie bereits aufs Korn genommen«, fügte sie mit einem spitzbübis  en

Lä  eln hinzu. »I  nehme an, er findet es unschicklich, daß si an seinem


Kir  platz ein Süßwarenladen befindet.« Und wieder saute sie mi

spö  is herausfordernd an. »Weiß er, daß Sie eine Hexe sind?« fragte sie.
Hexe, Hexe. Es ist ni  t das ri  tige Wort, aber i  wußte, was sie meinte.

»Wie kommen Sie darauf ?«

»Oh, es ist ni  t zu übersehen. I  nehme an, man muß selbst eine sein,

um eine andere zu erkennen«, sagte sie und stieß ein La  en aus wie wildes

Geigenquiets  en. »M’sieur le Curé glaubt ni  t an Zauberei«, sagte sie.

»Ehrli  gesagt, bin i  


mir ni t einmal so si  er, daß er an Go  glaubt.« In

ihrem Ton s  wang na  si tige Vera  tung mit. »Er muß no  viel lernen,

dieser Mann, au  wenn er einen Doktortitel in  eologie hat. Und meine

dumme To   ter au . Im Fa  Leben kann man keinen Doktortitel erwerben,

ni  t wahr?«

I stimmte ihr zu und fragte sie, ob i  ihre To  ter kennen würde.

»I nehme es an. Caro Clairmont. Die hirnloseste eitle Gans in ganz

Lansquenet.   ats t den ganzen Tag lang und besitzt ni  t den geringsten

Funken Verstand.«

Als i  
lä elte, ni  te sie fröhli . »Keine Sorge, meine Liebe, in meinem

Alter nimmt man si  kaum no  etwas zu Herzen. Sie kommt na  ihrem

Vater, wissen Sie. Das ist ein großer Trost.« Sie sah mi  seltsam an. »Hier

gibt es ni  t viel Abwe  slung«, meinte sie. »Vor allem für alte Leute.« Sie

hielt einen Moment lang inne und s  aute mi  wieder eindringli  an.

»Aber diesmal habe i das Gefühl, daß wir rei  li Unterhaltung

bekommen werden.« Ihre Hand berührte meine wie kühler Atem. I


versu  te, ihre Gedanken zu lesen, wollte wissen, ob sie si  über mi  lustig

ma  te, do  i spürte ni  ts als Humor und Freundli  keit.

»Es ist do  nur eine chocolaterie«, sagte i  


lä elnd.

Armande Voizin ki  erte in si  hinein.

»Sie glauben wohl, i  sei von vorgestern«, sagte sie.

»Wirkli  , Madame Voizin  –«


»Nennen Sie mi  Armande.« Die s warzen Augen funkelten vor

Vergnügen. »Dann fühle i   mi jung.«

»In Ordnung. Aber i  weiß wirkli  


ni t, warum  –«
»I  weiß, wel  er Wind Sie hergetragen hat«, sagte sie eifrig. »I  habe

es genau gespürt. Der Mardi Gras. Der Karneval. In Les Marauds gibt es

viele Karnevalsnarren; Zigeuner, Spanier, Kessel fli er, pieds-noirs und


Ausgestoßene. I  habe Sie sofort erkannt, Sie und Ihre kleine To  ter.  – Wie
nennen Sie si  diesmal?«

»Vianne Ro  er.« I   lä elte. »Und das ist Anouk.«

»Anouk«, wiederholte Armande leise. »Und der kleine, graue Freund  –


meine Augen sind ni  t mehr so gut wie früher  –, was ist es? Eine Katze?

Ein Ei  hörn  en?«

Anouk s  ü elte ihren Lo 


enkopf. »Er ist ein Kaninchen«, erklärte sie

heiter. »Er heißt Pantou fle.«


»Oh, ein Kanin  en. Natürli  .« Armande zwinkerte mir vers  wöreris 
zu. »Sehen Sie, i  weiß, was Sie beide hierhergebra  t hat. I  habe es

selbst ein- oder zweimal erlebt. I  mag viellei  t alt sein, aber niemand

kann mir etwas vorma  en. Niemand.«

I  ni te.


»Viellei t haben Sie re  t«, sagte i  . »Kommen Sie do  mal zu uns in

den Laden; i  kenne die Lieblingssorte jedes Kunden, der den Laden betri .

I werde Ihnen hundert Gramm Ihrer Sorte spendieren.«

Armande la te.

»Oh, i darf keine S okolade essen«, sagte sie. »Caro und dieser

idiotis  e Arzt erlauben es mir ni  t. Sie verbieten mir alles, was mir Spaß

ma  t«, fügte sie ironis  hinzu. »Zuerst das Rau  en, dann den Alkohol,

und jetzt das  …« Sie s  naubte verä  


tli . »Weiß Go  , wenn i   au örte

zu atmen, würde i  wahrs  einli  ewig leben.« In ihrem La  en klang eine

tiefe Müdigkeit mit, und i  sah, wie sie si  die Hand vor die Brust s  lug,

eine Geste, die mi  an Joséphine Muscat erinnerte. »I   ma e ihnen keine

Vorwürfe«, fuhr sie fort. »Es ist einfa  ihre Art. Sie wollen einen vor allem

bes  ützen. Vor dem Leben. Vor dem Tod.« Sie setzte ein Grinsen auf, das

trotz all ihrer Runzeln mäd  enha  wirkte.

»Viellei  t komme i Sie trotzdem einmal besu  en«, sagte sie

na  denkli  . »Und wenn 


i es nur 
ma e, um Monsieur le Curé zu

ärgern.«

Ihre letzte Bemerkung ging mir no  immer dur  den Kopf, als sie s  on

längst hinter ihrem weißgetün ten Haus vers  wunden war. Ein Stü 
entfernt ließ Anouk Stein en über das seite, braige Wasser am Flußufer
springen.

Monsieur le Curé. Immer wieder tau te sein Name auf. Eine Weile

da te i über Francis Reynaud na.


In einem Ort wie Lansquenet kann es passieren, daß eine Person  – der

Sullehrer, der Kneipenwirt oder der Priester – zum Dreh- und Angelpunkt
der Gemeinde wird. Daß dieser eine Mens zur Ase des Räderwerks

wird, das das Leben des gesamten Dorfes bestimmt, wie die Unruh eines

Uhrwerks, die alle Zahnräder und -räd en antreibt, Pendel s lagen läßt

und die Zeiger dazu bringt, die Uhrzeit anzuzeigen. Wenn die Unruh

bes ädigt wird oder aus dem Takt gerät, bleibt die Uhr stehen. Lansquenet
ist wie diese Uhr. Seine Zeiger sind bei einer Minute vor Miernat

stehengeblieben, während das Räderwerk sinnlos hinter dem blanken

Zifferbla weitertit. Wenn man den Teufel hereinlegen will, muß man die
Kirturmuhr verstellen, hat meine Muer immer gesagt. Aber in diesem

Fall läßt der Teufel si nit täusen.

Nit für einen Augenbli.

Sonntag, 16. Februar

Meine Mu er war eine Hexe. So bezeinete sie si jedenfalls, und zwar so
o und so lange, bis sie es selbst glaubte und das Spiel nit mehr von der

Wirklikeit zu unterseiden war. In gewisser Weise erinnert Armande

Voizin mi an sie; die leutenden, spitzbübis funkelnden Augen, das

lange Haar, das in ihrer Jugend sierli glänzend swarz gewesen ist, die

Misung aus Wehmut und Zynismus. Was i von ihr gelernt habe, hat

meinen Charakter geformt. Die Kunst, Pe in Glü zu verwandeln. Das

Fingerkreuzen, um Unheil abzuwehren. Das Nähen von Dukissen, das

Brauen von Heilsäen, die Überzeugung, daß eine Spinne vor Miernat

Glü und na Miernat Unglü bringt  … Vor allem hat sie mir die Lust
am Zigeunern vererbt, die Wanderlust, die uns 
dur ganz Europa und

darüber hinaus geführt hat; ein Jahr in Budapest, eins in Prag, se s Monate
in Rom, vier in Athen, dann über die Alpen na  Monaco, dann die Küste
entlang; Cannes, Marseille, Barcelona  … Bis i atzehn war, konnte i die

Orte nit mehr zählen, in denen wir gelebt, die Spraen, die wir

gesproen haen. Ebenso vielfältig waren ihre Jobs; sie arbeitete als

Kellnerin, als Dolmetserin, als Automeanikerin. Manmal kleerten

wir aus den Fenstern von billigen Hotels und zogen weiter, ohne die

Re nung zu bezahlen. Wir fuhren ohne Fahrkarte mit Zügen, fäls ten
Arbeitspapiere, überquerten illegal Grenzen. Unzählige Male wurden wir

ausgewiesen. Zweimal wurde meine Mu er verha et und wieder

freigelassen, ohne daß Anklage gegen sie erhoben worden war. Unsere

Namen änderten 
si in jedem Ort, variierten je na  Spra e; Yanne,

Jeanne, Johanna, Giovanna, Anne, Anus ka  … Wie Diebe waren wir

ständig auf der Flu t, tausten den sperrigen Ballast des Lebens in Francs,
Pfund, Kronen, Dollar, während wir uns vom Wind treiben ließen. I

glaube nit, daß i gelien habe; in jenen Jahren war das Leben ein buntes

Abenteuer. Wir haen einander, meine Muer und i. Einen Vater habe i

nie vermißt. I hae zahllose Freunde. Und denno muß es manmal an

ihr genagt haben, dieser Mangel an Beständigkeit, die Notwendigkeit, si

ständig zu verstellen. Do über die Jahre zogen wir immer sneller weiter,

blieben einen Monat, höstens zwei, um dann wieder wie Flütlinge in

den Sonnenuntergang aufzubreen. Es dauerte Jahre, bis i begriff, daß

wir vor dem Tod davonliefen.

Sie war vierzig. Es war Krebs. Sie ha e on


es s eine ganze Weile lang

gewußt, aber jetzt  … Nein, kein Krankenhaus. Kein Krankenhaus, ha e i


das verstanden? Sie ha e no  Monate, viellei t Jahre zu leben, und sie

wollte Amerika sehen, New York, Florida, die Everglades  … Wir zogen jetzt

fast jeden Tag weiter, und meine Mu er legte si nats die Karten, wenn
sie  sliefe.
glaubte, i In Lissabon gingen wir an Bord eines

Kreuzfahrtsiffes, auf dem wir uns als Kü enhilfen verdingt ha en. Wir

arbeiteten bis zwei oder drei Uhr früh und standen im Morgengrauen wieder

auf. Jede Na t wurden neben ihr auf der Koje die Karten gelegt, die
inzwis en vom vielen Gebrau klebrig waren. Sie flüsterte ihre Namen vor
 hin, während sie immer
si tiefer in der Verwirrung versank, die sie

sließli ganz erfassen sollte.

– Zehn Schwerter, der Tod. Drei Schwerter, der Tod. Zwei Schwerter, der

Tod. Der Wagen. Der Tod.

Der Wagen entpuppte si  als ein New Yorker Taxi, als wir eines Abends
mi en in der Hauptverkehrszeit in Chinatown einkaufen gingen. Es war

jedenfalls besser als Krebs. Als meine To er neun Monate später geboren
wurde, nannte i sie na uns beiden. Es sien mir angemessen. Ihr Vater

hat sie nie kennengelernt  – ja, i bin mir nit einmal sier, weler von

meinen flütigen Geliebten es war. Es spielt au keine Rolle. I häe um

Miernat einen Apfel sälen und die Sale über meine Sulter werfen

können, um seine Initiale zu erfahren, aber es hat mi nie interessiert.

Zuviel Ballast, der uns nur behindern würde.

  … Wehen die Winde nit saner und weniger häufig, seit i


Und do

New York verlassen habe? Snürt es mir nit jedesmal ein wenig die Kehle

zu, wenn wir einen Ort verlassen? I glaube son. Fünfundzwanzig Jahre,

und die Antriebsfeder beginnt langsam zu ermüden, so wie meine Muer

immer mehr ermüdete in ihren letzten Jahren. I ertappe mi dabei, wie

i in die Sonne saue und mi frage, wie es wäre, wenn i sie fünf  –

oder zehn oder vielleit sogar zwanzig  – Jahre lang über demselben

Horizont aufgehen sähe. Der Gedanke verursat mir einen seltsamen

Swindel, ein Gefühl der Angst und der Sehnsut. Und Anouk, meine

kleine Fremde? Seit i selbst Muer bin, sehe i das verwegene Abenteuer,

das wir so viele Jahre lang gelebt haben, mit anderen Augen. I sehe mi

selbst als kleines braunes Mäden mit ungekämmtem langem Haar, in

abgetragenen Kleidern vom Wohltätigkeitsbasar. I mußte Mathematik auf

die harte Art lernen, Erdkunde auf die harte Art –  Wieviel Brot für fünf

Francs? Wie weit kommen wir mit einer Fahrkarte für fünfzig Mark?  –, und
das wüns e i t.
ihr ni Viellei t sind wir deswegen s on seit fünf

Jahren in Frankrei. Zum erstenmal im meinem Leben besitze 


i ein

Bankkonto. I  habe einen Beruf.


Meine Mu  er hä  e all das vera  tet. Und do  
hä e sie mi  viellei  t

au  beneidet. Vergiß dich selbst, wenn du kannst, sagte sie immer. Vergiß,

wer du bist. Solange du es ertragen kannst. Aber eines Tages, mein Mädchen,

eines Tages wird es dich einholen. Ich weiß es.

Heute habe i  den Laden zur übli  en Zeit geö ffnet. Ausnahmsweise nur

für den Vormi  ag  – i gönne mir heute zusammen mit Anouk einen freien
Na   mi ag  –, aber heute ist Messe, und es werden eine Menge Leute auf

dem Dorfplatz sein. Der Februar zeigt si  von seiner trübsten Seite, und es

regnet. Es ist ein kalter S  neeregen, der eine glits  ige S 


i t auf dem

Kopfsteinp flaster bildet und den Himmel graus  warz färbt wie

angelaufenes Zinn. Anouk sitzt hinter der  eke und liest in einem Bu  mit

Kinderreimen; sie paßt für mi  auf den Laden auf, während i  in der

Kü  e einen neuen Vorrat an mendiants herstelle. Das ist mein

Lieblingskonfekt: süße Taler aus Vollmil -, Zartbi  er- oder weißer

S  okolade bestreut mit Zitronat, Mandeln und Malaga-Rosinen. Anouk

mag am liebsten die weißen, während i  die dunklen bevorzuge, hergestellt

aus der besten, siebzigprozentigen Kuvertüre  … Biersüß auf der Zunge mit
einem exotis  -geheimnisvollen Beiges   ma . Meine Mu 
er hä  e all das

vera  tet, und do  liegt au  darin eine Art Zauber.

Am Freitag habe i  vor der  eke von La Praline ein paar Barho  er

aufgestellt, wunderbar kits  ige aus Chrom mit roten Kunstledersitzen. Der

Laden erinnert jetzt ein biß  en an die Diners, die wir in New York

kennengelernt haben. Die Wände sind narzissengelb. Poitous alter

orangefarbener Sessel steht wie ein bunter Farbkle  s in der E  e. Links

vorn auf der  eke steht eine Speisekarte, in Rot- und Orangetönen von

Anouk handgemalt:

Chocolat chaud 10 F

Gâteau au chocolat 10 F (la tranche)

Den Ku  en habe i  gestern abend geba  en, und die S  okolade steht in

einer Kanne auf einer heißen Pla  e bereit. I  stelle eine zweite Speisekarte
ins Fenster und warte auf meine ersten Kunden.

Die Messe ist aus. 


I beoba te die Passanten, die mit mißmutigen

Gesitern dur den eiskalten Nieselregen eilen. Aus meiner Tür, die einen
Spaltbreit offensteht, duet es süß und verloend. I bemerke hin und

wieder sehnsütige Blie, do dann ein kurzer Bli über die Sulter, ein

Aselzuen, ein Verziehen der Mundwinkel, das Entslossenheit oder

au Unmut bedeuten mag, und dann sind sie au son verswunden,

kämpfen mit klägli eingezogenen Sultern gegen den Wind an, als stünde

ein Engel mit flammendem Swert vor der Tür, der ihnen den Zugang

verwehrt.

 mir. Sole Dinge brauen Zeit.


Zeit, sage i

Und denno befällt mi Ungeduld, ja, beinahe Ärger. Was ist los mit

diesen Leuten? Warum kommen sie nit? Die Kirturmuhr slägt zehn,

dann elf. I sehe Leute in die Bäerei gegenüber gehen und kurz darauf

wieder herauskommen, einen Laib Brot unter dem Arm. Es hört auf zu

regnen, do der Himmel bleibt grau. Halb zwölf. Die wenigen Leute, die bis
jetzt auf dem Dorfplatz herumgetrödelt haben, maen si auf den

Heimweg, zum Miagessen. Ein Junge mit einem Hund kommt um die Ee

der Kire, weit dem Regenwasser aus, das von der Darinne trop. Im

Vorbeigehen würdigt er mein Saufenster kaum eines Blies.

Verdammt. Und das, wo i gerade das Gefühl hae, das Eis sei

gebroen. Warum kommen sie nit? Können sie nit sehen, nit

riechen? Was muß i denn no alles tun?


Anouk, die ein feines Gespür für meine Stimmungen hat, kommt und

umarmt mi .
»Ni t weinen, Maman.«
I weine nit. I weine nie. Ihre Haare kitzeln mi im Gesit, und

plötzli überkommt mi eine srelie Angst, sie zu verlieren.

»Es ist nit deine Suld. Wir haben uns sole Mühe gegeben. Wir

haben alles ritig gemat.«

Das stimmt. Wir haben sogar daran gedat, die Tür mit roten Sleifen

zu smüen und Dukissen mit Zedernholz und Lavendel auszulegen, um

slete Einflüsse abzuwehren. I küsse sie auf den Kopf. Mein Gesit ist
feut. Irgend etwas, vielleit das biersüße Aroma der heißen Sokolade,
brennt mir in den Augen.

»Ist s on gut, chérie. Wir dürfen uns das alles nit zu Herzen nehmen.
Laß uns eine Tasse Sokolade trinken, das wird uns aufmuntern.«

Wie zwei New Yorkerinnen sitzen wir auf unseren Barhoern, jede mit

einer Tasse Sokolade vor si. Anouk trinkt ihre mit Sahne und

Sokostreuseln; meine ist heiß und dunkel, stärker als Espresso. Wir

sließen genüßli die Augen über dem köstlien Du und sehen sie

kommen  – zwei, drei, in Gruppen von einem Dutzend, ihre Gesiter

beginnen zu leuten, als sie si zu uns setzen, ihre harten, gleigültigen

Gesiter werden wei und drüen Wohlwollen und Zufriedenheit aus. I

reiße die Augen auf, und Anouk steht bei der Tür. Einen Augenbli lang

sehe i Pantoufle mit aufgeregt ziernden Barthaaren auf ihrer Sulter

hoen. Das Lit hinter ihr wirkt irgendwie wärmer; verändert.

Verführeris.

I springe auf.

»Bie, tu das nit.«

Sie wir mir einen ihrer finsteren Blie zu.

»I wollte do nur helfen –«

»Bie.« Einen Moment lang saut sie mi trotzig an. Der Zauber

glitzert zwisen uns wie goldener Rau. Es könnte so leit sein, sagt sie

mir mit ihren Augen, so leit wie das Streieln unsitbarer Finger, wie

lautlose Stimmen, die die Leute anloen …

»Das geht nit. Das dürfen wir nit.« I versue, es ihr zu erklären. Es

würde uns zu Außenseitern maen. Wir würden nie dazugehören. Wenn

wir hierbleiben wollen, müssen wir uns so weit wie mögli anpassen.

Pantoufle sieht mi biend an, ein pelziges Etwas in dem goldenen Rau.

I sließe die Augen, um ihn nit zu sehen, und als i sie wieder öffne,

ist er verswunden.

»Es ist in Ordnung«, sage i in entsiedenem Ton. »Es wird alles gut.

Wir können warten.«

Und s ließli, um halb eins, kommt jemand in den Laden.


Anouk sah ihn zuerst  – »Maman!«  –, aber i war sofort auf den Beinen. Es
war Reynaud, eine Hand erhoben, um 
si gegen das Regenwasser zu

sützen, das von der Markise trope, die andere zögernd am Türknauf. Sein
blasses Gesit wirkte gelassen, aber in seinen Augen lag eine Art heimlie

Befriedigung. Irgendwie spürte i, daß er nit als Kunde kam.

Die Gloe bimmelte, als er eintrat, do er kam nit an die eke. Sta

dessen blieb er in der Tür stehen, so daß der Wind die Falten seiner Soutane

wie Raben flügel in den Raum blies.


»Monsieur.« I sah, wie er die roten Sleifen mißtrauis beäugte.

»Kann i Ihnen helfen? I bin sier, daß i Ihre Lieblingssorte kenne.«

Automatis sagte i meinen Spru auf, aber es stimmte nit. I habe

keine Ahnung, wele Art Vorlieben dieser Mann hat. Er ist für mi wie ein

völlig unbesriebenes Bla, wie ein dunkler Fle in Mensengestalt. Es

gelingt mir nit, irgendeine Verbindung zu ihm herzustellen, und mein

Läeln bra si an ihm wie eine Welle an einer Klippe. Er sah mi

beinahe verätli an.

»Wohl kaum.« Seine Stimme klang leise und angenehm, aber unter dem

professionellen Ton spürte i  tiefe Abneigung. I erinnerte mi  an

Armande Voizins Worte  – Wie ich höre, hat unser M’sieur le Curé Sie bereits
aufs Korn genommen. Wieso? Eine instinktive Abneigung gegen

Ungläubige? Oder sollte no  mehr dahinterste en? Hinter der eke


ritete i heimli Zeige- und Mielfinger auf ihn.
»I hae nit damit gerenet, daß Sie heute geöffnet haben würden.«

Jetzt, wo er uns zu kennen glaubt, ist er selbstsierer. Sein smallippig

läelnder Mund erinnert mi an eine Auster  – milig weiß am Rand und

denno sarf wie eine Rasierklinge.

»Sie meinen, am Sonntag?« I gab mi so arglos wie mögli. »I hae

auf einen Ansturm am Ende der Messe gezählt.«

Die kleine Spitze traf ihn ni t.


»Am ersten Sonntag in der Fastenzeit?« Er versu te, amüsiert zu klingen,
do er konnte seinen Abseu nit verhehlen. »Damit düren Sie

swerli renen. Die Mensen in Lansquenet sind einfae Leute,


Madame Ro  er«, erklärte er. » Fromme Leute.« Er betonte das Wort mit

ausgesu  ter Hö fli  keit.

» Mademoiselle Ro er.« Ein kleiner Sieg, aber genug, um ihn aus dem

Konzept zu bringen. »I  bin ni  t verheiratet.«

Er warf einen kurzen Bli  zu Anouk hinüber, die immer no  mit ihrer

großen Tasse an der  eke saß. Ihr Mund war rundherum mit S  okolade

bes miert, und plötzli  spürte i  es wieder wie das Brennen einer

verborgenen Nessel  – die Panik, die irrationale Angst, sie zu verlieren. Aber
an wen? Mit wa  sendem Unmut s  ü elte i  den Gedanken ab. An ihn?
Sollte er es ruhig versu  en.

»Selbstverständli  «, erwiderte er ruhig. »Mademoiselle Ro   


er. I bi e

um Verzeihung.«

I   lä elte über sein Mißfallen. Irgendein perverses Bedürfnis in mir

bra   te mi dazu, darauf herumzureiten; meine Stimme wurde um eine

Nuance zu laut, nahm einen vulgär-selbstbewußten Ton an, um meine Angst

zu verbergen.

»Es tut gut, hier auf dem Land jemandem zu begegnen, der Verständnis

zeigt.« I   s enkte ihm mein strahlendstes, unerbi li stes Lä eln. »I 


meine, solange wir in der Großstadt lebten, hat 
si niemand darum

ges ert. Aber hier  …« Es gelang mir, zuglei  zerknirs t und reuelos zu

wirken. »I  meine, es ist wirkli   s ön hier, und die Leute haben mir so

geholfen  … auf ihre eigenwillige Art. Aber wir sind hier sließli nit in
Paris, ni  t wahr?«

Mit dem An flug eines sarkastis  en Lä  elns p fli tete Reynaud mir bei.

»Es stimmt s  on, was man si  über das Leben auf dem Dorf erzählt«,

fuhr i  fort. »Jeder ist neugierig und will alles von einem wissen. I  nehme

an, das liegt daran, daß es hier auf dem Land so wenig Zerstreuung gibt.

Drei Läden und eine Kir  


e. I meine  …« I kierte. »Aber das wissen Sie
ja alles.«

Reynaud ni  te ernst.

»Viellei  t könnten Sie mir erklären, Mademoiselle  …«


»Nennen Sie mi   do Vianne«, unterbra  i ihn.
»…  warum Sie si  lossen haben, si in Lansquenet
ents

niederzulassen.« Sein öliger Ton triee vor Abseu, seine smalen Lippen

wirkten austernhaer denn je. »Wie Sie son sagten, es ist hier nit ganz

so wie in Paris.« Sein Bli ließ keinen Zweifel daran, daß der Verglei zum

Vorteil von Lansquenet ausfiel. »Ein Laden wie dieser  …« Mit einer

gelangweilten Geste seiner feingliedrigen Hand deutete er auf die

ausgestellten Waren. »Sol  ein Spezialitätenges ä wäre do  in einer

Stadt viel erfolgrei er  – und schicklicher. In Toulouse, zum Beispiel, oder

selbst in Agen  …« Jetzt begri ff i, warum am Morgen niemand gewagt

ha e, den Laden zu betreten. Schicklich  – in dem Wort klang die ganze

eisige Verdammung des Flu s des Propheten mit.


Erneut strete i grimmig hinter der eke meine beiden Finger gegen

ihn aus. Reynaud slug si mit der flaen Hand in den Naen, als häe

ihn ein Insekt gestoen.

»I glaube nit, daß die großen Städte das Vergnügen gepatet haben«,

sagte i spitz. »Jeder braut hin und wieder ein wenig Luxus, ein bißen

Genuß.«

Reynaud erwiderte ni ts. Wahrseinli teilte er meine Meinung nit.


I spra es für ihn aus.
»I nehme an, in Ihrer Predigt heute morgen haben Sie das Gegenteil

erklärt«, sagte i verwegen. Dann, als er immer no nit antwortete:

»Aber i denke, in diesem Dorf ist Platz genug für uns beide. Wir haben

do freies Unternehmertum, nit wahr?«

An seinem Gesitsausdru erkannte i, daß er die Herausforderung

verstand. Einen Moment lang starrte i ihn feindselig läelnd an. Reynaud

zute zusammen, als häe i ihm ins Gesit gesput.

Leise: »Selbstverständli.«

Oh, i kenne seine Sorte. Wir sind genug von ihnen begegnet, meine

Muer und i, auf unserer Flut dur Europa. Das immer gleie höflie

Läeln, die Veratung, die Gleigültigkeit. Eine kleine Münze, die einer

Frau in der überfüllten Kathedrale von Reims aus der Hand fällt; strafende

e von einer Gruppe Nonnen, als die kleine Vianne herbeispringt, um sie
Bli

aufzuheben, zu Boden stürzt und si die naten Knie aufsür. Ein Mann
im s  warzen Habit, der meine Mu  er verärgert zur Rede stellt  – während

sie mit blei  em Gesi  t aus der dunklen Kir  e flieht und meine Hand so

fest hält, daß es weh tut  … Später erfuhr i, daß sie versut hae, bei ihm
zu bei ten. Was ha e sie dazu veranlaßt? Einsamkeit viellei  t; das

Bedürfnis, mit jemandem zu reden, si  jemandem anzuvertrauen, der ni  t

ihr Liebhaber war  … jemandem mit einem verständnisvollen

Gesi  tsausdru  . Aber konnte sie denn ni  t sehen? Sein Gesi  tsausdru  ,

jetzt ni  t mehr verständnisvoll, sondern vor Wut verzerrt. Es sei Sünde,

Todsünde  … Sie solle das kleine Mäd  en zu anständigen Leuten in Obhut

geben. Wenn sie die kleine  – wie hieß sie no? Anne?  – liebte, falls sie sie
liebte, müsse sie dieses Opfer unbedingt bringen. Er kenne ein Kloster, in

dem sie gut aufgehoben wäre. Er wisse, was gut für das Kind sei  … Er nahm
ihre Hand, zerquets  te ihr fast die Finger. Liebte sie ihr Kind denn ni  t?

Wollte sie denn ni  t erlöst werden? Wollte sie das ni  t? Nein?

In jener Na  t wiegte meine Mu er mi  weinend in den S  laf.

Am nä  sten Morgen verließen wir Reims wie die Diebe. Sie trug mi 
auf dem Arm, hielt mi  fest wie einen gestohlenen S  atz, die Augen voller

Angst.

I begri ff, daß er sie um ein Haar dazu  


gebra t hä e, mi 
zurü  zulassen. Später fragte sie mi  häu fig, ob i  
glü li mit ihr sei, ob

i feste Freunde vermißte, ein Zuhause  … Aber soo  i ihr au antworten

mo  te, ja, nein, nein, soo   i sie au  küßte und ihr beteuerte, daß i 
ni  ts, überhaupt nichts vermißte, ein wenig von dem Gi  blieb immer

zurü  . Jahrelang liefen wir vor dem Priester, dem S warzen Mann, davon,

und jedesmal, wenn sein Gesi  t in den Karten au  


au te, war es wieder

Zeit zu fliehen, dem dunklen Abgrund aus dem Weg zu gehen, den er in

ihrem Herzen aufgerissen ha  e.

Und jetzt ist er wieder da, gerade als i  geglaubt ha  e, Anouk und i 
hä  en endli  eine Heimat gefunden. Da steht er in der Tür wie der Engel

vor dem Tor.

Nun, diesmal werden wir ni  t davonlaufen, das s  wöre i  . Was immer

er tun mag. Und wenn er alle Leute im Dorf gegen uns au  etzt. Sein Gesi  t

ist so gla  und zweifelsfrei wie eine böse Karte. Und er hat mir seine
Feinds  a so deutli  erklärt  – und i  ihm meine  –, als hä  en wir die

Worte laut ausgespro  en.

»I  bin so froh, daß wir uns verstehen.« Meine Stimme hell und kalt.

»I   au .«

Etwas in seinen Augen, ein Funkeln, das vorher no   ni t da war,

beunruhigt mi  . Erstaunli  erweise genießt er es, zwei Feinde, die zum

Kampf bereit in die Arena treten; in seiner absoluten Gewißheit ist ni  t der

geringste Raum für den Gedanken, daß er verlieren könnte.

Er wendet si  zum Gehen, formvollendet korrekt, verabs  iedet si  mit

der Andeutung eines Ni  ens. Einfa  so. Hö flie Vera  tung. Die gi  ige

Wa ffe der Retsaffenen.
»M’sieur le Curé!« Als er si  umdreht, drü  
e i ihm die kleine, mit

einem S   leif en versehene Tüte in die Hand. »Für Sie. Ein Ges  enk des

Hauses.« Mein Lä  eln duldet keinen Widerspru  , und er starrt peinli 


berührt auf das Tüt  en. »Ma  en Sie mir die Freude?«

Er runzelt die Stirn, als ob ihn der Gedanke, daß mir etwas Freude

bereitet, ärgert.

»Aber eigentli  mag i  keine  –«


»Unsinn.« Mein Ton ist streng, bestimmt. »I  bin si  er, Sie werden sie

mögen. Sie erinnern mi  so sehr an Sie.«

I habe den Eindru  , daß er trotz seines ruhigen Äußeren verblü  ist.

Und dann, na  einem weiteren hö flien Ni  en, ents  windet er, das

weiße Tüt  en in der Hand, in den grauen Regen. Mir fällt auf, daß er

gemessenen S 
ri es über den Platz geht, ansta  so s  nell wie mögli 
S utz vor dem Regen zu su  en, 
ni t glei  gültig, sondern mit dem

Gesi  tsausdru  eines Mens en, dem selbst diese kleine Unannehmli  keit

willkommen ist  …
I  stelle mir vor, wie er das Konfekt ißt. Wahrs  einli  wird er es

vers  enken, aber i  ho ffe, 


daß er das Tüt en wenigstens ö ffnen wird  …
Einen neugierigen Bli  wird er si   si erli erlauben dürfen.

Sie erinnern mich so sehr an Sie.


Ein Dutzend meiner besten huîtres de Saint-Mâlo, kleine fla e Pralinen in

der Form von vers lossenen Austern.


Dienstag, 18. Februar

Fünfzehn Kunden gestern. Heute vierunddreißig. Darunter Guillaume; er

kau e eine Hundert-Gramm-Tüte Florentiner und trank eine Tasse

Sokolade. Charly war au dabei; er ha e si brav unter einem der

Hoer zusammengerollt und starrte mit traurigen Augen zu Guillaume

hinauf, der ihm hin und wieder ein Stü  braunen Zu er in sein

unersä lies Maul stope.


Es braue Zeit, erklärt mir Guillaume, bis jemand, der neu zugezogen sei,

von den Leuten in Lansquenet akzeptiert werde. Am vergangenen Sonntag

habe Reynaud eine so leidens alie Predigt zum ema Abstinenz

gehalten, daß die Neuerö ffnung von La Céleste Praline wie ein offener
A ffront gegen die Kir e gewirkt habe. Caroline Clairmont  – die gerade

wieder eine neue Diät angefangen hat  – fand besonders sneidende Worte,
als sie ihren Freundinnen in der Gemeinde laut erklärte, es sei absolut

schockierend, wie bei den lasterhaften Römern, meine Lieben, und wenn

dieses Weibsbild glaubt, sie könnte sich hier aufführen wie die Königin von

Saba  – widerlich, wie stolz sie dieses uneheliche Kind vorführt  – und die


Pralinen und Trüffel? Nichts Besonderes, meine Lieben, und viel zu teuer 

Die Damen kamen zu dem Sluß, daß »es«  – was immer es sein mote  –

t von Dauer sein könne. In spätestens vierzehn Tagen würde i aus dem
ni

Dorf verswunden sein. Und denno hat si die Zahl meiner Kunden seit

gestern verdoppelt, darunter einige von Madame Clairmonts

Busenfreundinnen, die si  gegenseitig mit leu tenden Augen, wenn au 


ein wenig verlegen, erklärten, sie seien aus reiner Neugier gekommen, nur

um alles mit eigenen Augen zu sehen.

I kenne alle ihre Lieblingssorten. Es ist ein Talent, das zu meinem Beruf
gehört wie die Fähigkeit der Wahrsagerin, aus Händen zu lesen. Meine

Mu er häe darüber gela t, wie i  mein Talent vergeude, aber i  habe
kein Verlangen, weiter in das Leben der Mens  en einzudringen. I
interessiere mi   ni t für ihre Geheimnisse und ihre innersten Gedanken.

I mö  te weder Angst erwe  en, no  Dankbarkeit erfahren. Eine

zagha  e Al  imistin hä  e sie mi  in ihrer liebevoll-spö   is en Art

genannt, die si  auf zahme Zauberei bes  ränkt, wo sie Wunder hä  e

wirken können. Aber i  mag diese Mens  en. I  mag ihre kleinen,

heimli  en Sorgen. I  lese es aus ihren Augen, sehe es an ihren Lippen  –


diese Frau mit dem lei  t verbi erten Zug um die Augen wird meine

würzigen Orangentrü ffel mögen; diese süß lä  elnde Person die

Aprikosenherzen mit dem wei  en Inneren; dieses Mäd  en mit dem vom

Wind zerzausten Haar liebt meine mendiants; die lebha  e, gutgelaunte Frau

die Mandelspli 
er. Für Guillaume die Florentiner, die er in seiner

ordentli  en Junggesellenwohnung mit Beda  t über einem Teller

verspeisen wird. Narcisse ’ Vorliebe für Mokkatrüffel verrät das weie Herz
unter der rauhen S  ale. Caroline Clairmont wird heute na  t von

Champagnertrü ffeln träumen und hungrig und slet gelaunt aufwaen.


Und die Kinder  … S  okoladenkringel, weiße, runde Plätz  en mit bunten

Zu  erstreuseln, Pfe fferkuen mit süßem Rand, Marzipanfrü  te in Nestern

aus bunter Holzwolle, Makronen, kandierte Frü  te, Knusperkekse,

gemis  te Sorten Konfekt zweiter Wahl in Fün  undert-Gramm-

S a teln  … I  verkaufe Träume, kleine Trostspender, harmlose, süße

Versu  ungen, die all die kleinen Heiligen zwis  en Pralinen und Trü ffeln
s  
wa werden lassen  …
Ist das so s  limm?

Für Curé Reynaud ist es das o ffenbar.


»Hier, Charly. Guter Junge.« Guillaumes Stimme klingt liebevoll, wenn er

mit seinem Hund spri  t, aber au  ein biß  en traurig. Er hat si  den

Hund gekau  
, na dem sein Vater gestorben war, erzählt er mir. Aber das

Leben eines Hundes ist kürzer als ein Mens  enleben, sagt er, und die beiden

sind zusammen alt geworden.

»Hier.« Er ma  t mi  auf eine Wu  erung unter Charlys Kinn

aufmerksam. Sie ist etwa so groß wie ein Hühnerei und zerfur  t wie

Ei  enrinde. »Sie wä  st.« Der Hund re  


t si genüßli  , zappelt mit einem
Bein, während er si  von seinem Herr en den Bau  kraulen läßt. »Der

Tierarzt sagt, man kann ni ts maen.«


 beginne zu begreifen,
I warum si in seinem Bli  o Liebe und

Suldgefühle misen.

»Einen alten Mann würde man au  ni t


läfern«, sagt er ernst.
eins

»Nit, daß er«  – er ringt na Worten  –, »daß er nits mehr vom Leben

häe. Charly leidet nit. Nit ritig.« I nie. I weiß, er versut, si

selbst zu überzeugen. »Die Medikamente hemmen das Wastum der

Wuerungen.« Vorerst. Das Wort steht unausgesproen im Raum.

»Wenn die Zeit gekommen ist, werde i es wissen.« Trauer und

Sreen liegen in seinem Bli. »I werde wissen, was i zu tun habe.

I werde mi nit fürten.« Wortlos fülle i seine Tasse no einmal

auf und gebe Sokostreusel auf den Saum, aber Guillaume ist zu sehr mit

seinem Hund besäigt, um es mitzubekommen. Charly rollt si träge auf

den Rüen.

»M’sieur le Curé sagt, Tiere häen keine Seele«, murmelte Guillaume. »Er

sagt, i soll Charly von seinem Leiden erlösen.«

»Alles hat eine Seele«, erwidere i. »Das hat meine Muer mir immer

gesagt. Alles.«

t, allein mit seiner Angst und seinen Suldgefühlen.


Er ni

»Was würde i nur ohne ihn tun?« fragt er, immer no dem Hund

zugewandt, und mir wird klar, daß er mi vergessen hat. »Was würde i

nur ohne di tun?« Hinter der eke balle i vor Wut die Fäuste. I kenne

diesen Bli  – Angst, Suldgefühle, Verlangen  –, i kenne ihn gut. Es ist

der Bli, den i auf dem Gesit meiner Muer gesehen habe, an dem

Abend, als der Swarze Mann auf sie einredete. Guillaumes Worte  – Was

würde ich nur ohne dich tun?  – sind dieselben, die sie während jener ganzen
srelien Nat geflüstert hat. Wenn i abends vor dem Slafengehen
in den Spiegel saue, wenn i morgens aufwae, verfolgt von der

wasenden Angst – dem Wissen – der Gewißheit –, daß meine Toter mir

entgleitet, daß i sie verlieren werde, wenn es mir nit gelingt, ein

Zuhause zu finden  … Es ist der Bli, den i auf meinem eigenen Gesit

sehe.
I  nehme Guillaume in den Arm. Im ersten Augenbli  wird er ganz

steif, er ist es ni  t gewohnt, von einer Frau berührt zu werden. Dann

entspannt er si   . I spüre seinen Kummer, der in Wellen dur  seinen

Körper geht.

»Vianne«, sagt er leise. »Vianne.«

»Es ist in Ordnung, daß Sie sol  e Gefühle haben«, sage i  bestimmt. »Es

ist erlaubt.«

Charly ma  
t si mit eifersü  tigem Bellen bemerkbar.

Heute haben wir fast dreihundert Francs eingenommen. Zum erstenmal

genug, um die Kosten zu de  en. I  erzählte es Anouk, als sie aus der

S  ule kam, aber sie war abwesend und ungewöhnli  still. Ihre Augen

wirkten traurig, so dunkel wie ein heraufziehendes Gewi er.

I fragte sie, was los sei.

»Es ist wegen Jeannot«, sagte sie tonlos. »Seine Mu  er hat gesagt, er darf


ni t mehr mit mir spielen.«

 I erinnerte mi  an Jeannot im Wolfskostüm beim Karnevalsumzug, ein

s maler, siebenjähriger Junge mit struppigem Haar und mißtrauis  em


Bli . Er und Anouk haben gestern abend zusammen auf dem Dorfplatz

gespielt, sind unter lautem Kriegsgeheul herumgerannt, bis es dunkel wurde.

Seine Mu er ist Joline Drou, eine der beiden Grunds  ullehrerinnen und

eine Busenfreundin von Caroline Clairmont.

»So?« Neutraler Tonfall. »Was hat sie denn gesagt?«

»Sie sagt, i  habe einen s  


le ten Ein fluß auf ihn.« Sie warf mir einen

grimmigen Bli  zu. »Weil wir ni  t in die Kir e gehen. Weil du den Laden

am Sonntag aufgema  t hast.«

Du hast am Sonntag aufgema  t.

I   s aute sie an. I   hä e sie gern in die Arme genommen, aber ihre

steife, feindselige Haltung ließ mi  zögern.

»Und was sagt Jeannot dazu?« fragte i  so ruhig wie mögli .

»Er kann ni  ts ma  en. Sie ist immer da und paßt auf ihn auf.« Anouks

Stimme wurde s  rill, und i  ha e das Gefühl, daß sie den Tränen nahe
war. »Warum passiert mir immer so was?« fragte sie. »Warum kann i 
nie  …« Ihr Kinn begann zu zi ern.
»Du hast do  no  andere Freunde.« Es stimmte; gestern abend waren

vier oder fünf Kinder zusammen auf dem Dorfplatz herumgetollt.

»Das sind Jeannots Freunde.« I verstand, was sie meinte. Louis

Clairmont. Lise Poitou. Seine Freunde. Ohne Jeannot würde die Gruppe si 
son bald verlieren. Plötzli überkam mi ein tiefes Mitgefühl für meine
Toter, die si mit unsitbaren Freunden umgab, um die Welt um sie

herum zu bevölkern. Die Vorstellung, daß eine Muer diesen leeren Raum

würde füllen können, war ziemli egoistis. Egoistis und blind.

»Wir könnten zur Kire gehen, wenn du willst«, slug i san vor.

»Aber du weißt, daß es nits ändern würde.«

Vorwurfsvoll: »Und warum nit? Die glauben do au nit an Go.

Die gehen au einfa nur hin.«

I läelte bier. Ses Jahre alt, und immer wieder überrast sie mi

mit ihrer sarfen Beobatungsgabe.

»Das mag ja stimmen«, sagte i. »Aber mötest du genauso sein?«

Ein Aselzuen, zynis und gleigültig. Sie trat von einem Fuß auf

den anderen, als fürtete sie eine Strafpredigt. I sute na Worten, um

ihr die Situation zu erklären. Aber alles, was mir ein fiel, war das

verzweifelte Gesi t meiner Muer, wie sie mi in ihren Armen wiegte und
fast grimmig flüsterte: Was würde ich nur ohne dich tun? Was würde ich

tun?

Oh, i  habe ihr das alles son vor langer Zeit erklärt. Die Heuelei der
Kir e, die Hexenverbrennungen, die Verfolgung von Zigeunern und

Andersgläubigen. Sie versteht das alles. Aber dieses Wissen hil  einem nit
unbedingt im Alltag, hil nit, die Einsamkeit und den Verlust eines

Freundes zu ertragen.

»Es ist ni t fair.« Sie war immer no rebellis, wenn au nit mehr
ganz so feindselig.

Die Vertreibung aus dem Paradies war au  nit fair, au  t


ni die

Verbrennung der heiligen Johanna von Orleans auf dem Seiterhaufen und
au nit die spanise Inquisition. Aber i hütete mi, es auszuspreen.
Ihre Züge waren angespannt, verbissen; ein leises Anzei  en von S  wä e,

und sie wäre auf mi  losgegangen.

»Du wirst neue Freunde finden.« Eine unbefriedigende Antwort. Anouk

sah mi  verä   tli an.

»Aber i  will Jeannot.« Ihre Stimme klang seltsam erwa  sen, seltsam

müde, als sie si  abwandte. Tränen quollen ihr aus den Augen, do  sie

ma  te keine Anstalten, 
si von mir trösten zu lassen. Und mit

überwältigender Klarheit sah i  sie plötzli  vor mir, das Kind, die

Heranwa  sende, die Erwa  sene, die Fremde, die sie eines Tages werden

würde, und beinahe hä   e i vor Angst und S  re en aufges  rien, als

wären unsere Positionen irgendwie vertaus  t worden, als sei sie mit

einemmal die Erwa sene und i  das Kind.

Bitte! Was würde ich nur ohne dich tun?

Aber i  ließ sie wortlos gehen. I  sehnte mi  dana  , sie in die Arme

zu nehmen, do  i spürte die Mauer, die zwis  en uns entstanden war.

Kinder werden als wilde Kreaturen geboren, i  weiß. I  kann ni  t mehr

erwarten als ein wenig Zärtli  keit, eine s  einbare Fügsamkeit. Do  unter

der Ober fläe bleibt die Wildheit, roh, grausam und fremd. Den ganzen

Abend lang spra  sie fast kein Wort. Als i  sie zu Be   bra te, wollte sie

keine Gutena   tges i te hören, aber sie konnte stundenlang ni  t

eins  lafen und lag immer no   wa , als i  meine Na   is lampe s  on

längst ausges  altet ha  e. Von meinem Be aus hörte  i sie in ihrem

Zimmer hin- und hergehen und mit si  selbst  – oder mit Pantoufle – reden,
kurze, wütend abgeha  te Sätze, zu leise, um etwas zu verstehen. Später, als

i  mir 
si er war, daß sie s  lief,  
s li i hinüber, um das Li  t

auszuma  en. Sie lag zusammengerollt am Fußende ihres Be  es, einen Arm

ausgestre  t, den Kopf auf seltsame und zuglei  rührende Weise verdreht.

Mit einer Hand hielt sie eine kleine Figur aus Knetgummi umklammert. I 
nahm sie ihr aus der Hand, als i sie zude  te, und wollte sie in die

Spielzeugkiste zurü  legen. Sie war no  warm von ihrer kleinen Hand und

ro  unverwe  selbar na  Grunds  ule, na  ge flüsterten Geheimnissen,

Plakafarbe und Dru  ers wärze und halbvergessenen Freunden. Sie war

kaum zwanzig Zentimeter groß, sorgfältig gearbeitet, Augen und Mund mit
einem spitzen Gegenstand eingeritzt, um die Taille einen roten Wollfaden

gebunden und mit einem zo  igen Haars  opf aus kleinen Stö  en oder

Stroh  … In den Körper der Puppe, etwa in der Herzgegend, war ein

Bu  stabe eingeritzt; ein großes J. Darunter ein großes A, das si  mit dem J

übers   ni .


I legte die Puppe vorsi  tig neben sie auf das Kop  issen, s  altete das

Li  t aus und ging zurü  in mein Zimmer. Irgendwann kurz vor dem

Morgengrauen kam sie in mein Be  gekro  en, so wie sie es früher o  getan


ha e, als sie no  kleiner war, und im Halbs  laf hörte i  sie flüstern: »Ist

s on gut, Maman, i  bleibe do  immer bei dir.«

Sie du 
ete na  Salz und Babyseife, als sie si  im Dunkeln an mi 
kus  elte. I  wiegte sie, wiegte mi  selbst, hielt uns beide so fest in den

Armen, daß es beinahe s  merzte.

»I  hab di  lieb, Maman. I  will di  immer und ewig liebhaben. Ni  t

weinen.«


I weinte ni  
t. I weine nie.

 
I s lief s  
le t, von unruhigen Träumen geplagt; wa te mit der

Dämmerung auf, Anouks Arm über meinem Gesi  t, und plötzli  überkam

mi  eine sol  e Panik, daß i  nur no  wegrennen wollte, Anouk auf den

Arm nehmen und weit weg fliehen  … Wie sollten wir hier leben? Wie

konnte i nur so naiv sein anzunehmen, daß er uns hier ni  t finden


würde? Der S  warze Mann hat viele Gesi  ter; sie sind alle gnadenlos, hart

und seltsam neidis …   Lauf, Vianne, lauf. Lauf, Anouk. Vergiß deinen

kleinen süßen Traum und lauf  …


Aber diesmal ni  t. Wir sind s on viel zu weit gelaufen. Anouk und i  ,

Mu er und i  , haben uns viel zu weit von uns selbst entfernt.

An diesem Traum werde i  festhalten.

Mi  woch, 19. Februar


Mi wo ist unser Ruhetag. Heute ist sulfrei, und während Anouk in Les
Marauds spielt, warte i auf den Lieferwagen und stelle neues Konfekt für
die kommende Woe her.

Diese Kunst kann i genießen. Koen ist eine Art Hexerei; das

Auswählen der Zutaten, der Prozeß des Anrührens, das Zerkleinern,

S melzen, Ziehenlassen und Abs meen, die alten Rezepte, die

vertrauten Werkzeuge  – der Stößel und der Mörser, von meiner Mu er
benutzt, um die Du stoffe für ihre Räuerstäben zu zermahlen, wird zu
einem profaneren Zwe eingesetzt, ihre Gewürze und Aromen dienen

einem sinnlieren Zauber. Zum Teil ist es die Flütigkeit, die mir

besonderes Vergnügen bereitet; so viel liebevolle Arbeit, so viel

Kunstfertigkeit und Erfahrung für einen Genuß, der nur einen Augenbli
lang währt, und den nur wenige wirkli zu sätzen wissen. Meine Muer

hat meine Leidensa immer mit liebevoller Herablassung verfolgt. Essen

war für sie kein Vergnügen, sondern eine lästige Notwendigkeit, eine Art

Steuer auf den Preis für unsere Freiheit. 


I stahl Speisekarten aus

Restaurants und starrte sehnsü tig in die S aufenster von Konditoreien.


I muß etwa zehn Jahre alt gewesen sein  – vielleit au älter  –, als i

zum erstenmal e te Sokolade gekostet habe. Aber die Faszination ist

 bewahrte Rezepte in meinem Gedätnis auf wie Landkarten.


geblieben. I

Alle möglien Rezepte; Rezepte, die i aus in Bahnhöfen liegengelassenen

Zeitsrien gerissen hae, die i Fremden entlot hae, denen wir

unterwegs begegnet waren, eigene Kreationen. Mit Hilfe ihrer Karten und

Wahrsagereien bestimmte meine Mu er unseren Kurs kreuz und quer dur
Europa. Meine Ko karten markierten unseren Weg, sie waren die

Meilensteine auf der trostlosen Landkarte. Paris du et na


fris gebaenem Brot und Croissants, Marseille na  Bouillabaisse und

geröstetem Knoblau . Berlin war Eisbein mit Sauerkraut und Kartoffelsalat,


Rom war das Eis, das i in dem winzigen Restaurant am Flußufer gesenkt

bekam. Meine Muer hae keine Zeit, Meilensteine zu setzen. All ihre

Landkarten waren in ihrem Kopf, für sie war jeder Ort wie der andere.

Son damals waren wir versieden. Oh, sie hat mir alles beigebrat, was
sie konnte. Wie man zum Kern der Dinge vordringt, wie man Mensen
dur  s aut, ihre Gedanken und Sehnsü  te errät. Der Autofahrer, der

anhielt und uns mitnahm, einen Umweg von zehn Kilometern in Kauf

nahm, um uns na  Lyon zu bringen; die Ladenbesitzer, die kein Geld von

uns nehmen wollten; der Polizist, der ein Auge zudrü  te. Natürli  klappte

es ni  t jedesmal. Man  mal funktionierte es ni t, ohne daß wir

verstanden, warum. Man  e Mens  en sind undur  s aubar, unerrei  bar.

Francis Reynaud ist einer von ihnen. Aber au  wenn es hin und wieder

ni  t gelang, hat mi  dieses Eindringen in das Leben anderer immer

irritiert. Es war einfa  zu lei  t. Aber S  okolade herzustellen ist etwas

ganz anderes. Oh, es erfordert 


einiges Ges i . Eine gewisse

Fingerfertigkeit, eine Geduld, die meine Mu   er nie ha e. Aber das Rezept

bleibt immer glei  . Es ist si  er. Harmlos. I    brau e ni t in ihre Herzen

zu s  auen, um zu bekommen, was i   brau e; i kann ihre Wüns  e

erfüllen, weil sie mi  darum bi  en.

Guy, mein Lieferant, kennt mi   s on lange. Wir arbeiteten zusammen,

als Anouk geboren wurde, und er hat mir geholfen, meinen ersten Laden zu

erö ffnen, eine winzige Pâtisserie-Chocolaterie am Stadtrand von Nizza. Jetzt


ist er in Marseille ansässig, wo er die Kakaobu  er direkt aus Südamerika

importiert und in seiner Fabrik zu vers  iedenen Sorten S  okolade

verarbeitet. I  verwende nur die beste. Die Blo  s sind etwas größer als die

Haushaltspa  ungen Blo 


s okolade und Kuvertüre, die man im

Supermarkt kaufen kann. Bei jeder Lieferung ist ein Karton von jeder Sorte

dabei: Zartbi  er, Vollmil  und weiße S  okolade. Man muß sie erhitzen,

damit sie die ri  tige Konsistenz erhält, und sie ganz vorsi  tig abkühlen

lassen, damit sie hart und gla  und glänzend wird. Man e Konditoren

kaufen ihre S  okolade fertig gehärtet, aber i   ma e das lieber selbst. Es

ist ein unglaubli  er Genuß, die rohen, 


ma  en Blo s Kuvertüre zu

verarbeiten, sie per Hand in große Keramikkasserollen zu ra ffeln  – i 


benutze niemals eine elektris  e Reibe  –, sie zu smelzen, zu rühren, jeden
komplizierten S  ri mit einem Zu  erthermometer zu überwa  en, bis

genau die ri  tige Temperatur errei  t ist, die nötig ist, um den gewüns  ten

Ges   ma zu erzielen.
Es ist ein al emistises Vergnügen, die ma e Kuvertüre in das

Narrengold zu verwandeln, eine Art laienha er Zauber, der meiner Muer
gefallen hä e. Bei der Arbeit denke i  an nits, atme tief und ruhig. Die

ffen, do die Hitze der Öfen, die kupfernen Kasserollen, aus
Fenster stehen o

denen der Dampf der smelzenden Sokolade aufsteigt, halten mi warm.

Das Dugemis aus Kakao, Vanille, heißem Kupfer und Zimt ist sinnli

und berausend; es erinnert an den swülen, erdigen Geru in den süd-

und mielamerikanisen Regenwäldern. Dies ist heute meine Art zu reisen,

na Art der Azteken mit ihren heiligen Ritualen; Mexiko, Venezuela,

Kolumbien. Der Hof von Montezuma. Cortez und Kolumbus. Die Speisen

der Gö er sieden und blubbern in geweihten Kelen. Das biere Elixir des
Lebens.

Viellei t ist es das, was Reynaud instinktiv spürt; einen Rüfall in

Zeiten, als die Welt no  weiter und wilder war. Vor Christus  – bevor

Adonis in Bethlehem geboren wurde oder Osiris zu Ostern geopfert wurde  –


wurde die Kakaobohne als heilig verehrt. Man s rieb ihr magis e Kräe
zu. Ein aus den Bohnen hergestelltes Gebräu wurde auf den Stufen von

heiligen Tempeln geslür und versetzte diejenigen, die es tranken, in einen


ekstatisen Rauszustand. Ist es das, was er fürtet? Vergnügen, das ins

Verderben führt, die allmählie Verwandlung des Fleises in ein

Instrument der Aussweifung? Die Orgien der aztekisen Priesterkaste

sind nits für ihn. Do in den Dämpfen der smelzenden Sokolade

beginnt etwas Gestalt anzunehmen  – eine Vision, häe meine Muer

gesagt  –, ein aus Dampf geformter Finger, der auf etwas deutet …
Da . Einen Augenbli  lang glaubte i  es zu erkennen. Über der

glänzenden Ober fläe kräuselt 


si der Dampf. Dann no  einmal, ein

er
blei Hau, halb verde end, halb enthüllend  … Einen Moment lang

konnte i die Antwort beinahe erkennen, das Geheimnis, das er – sogar vor
si selbst  – so ängstli verbirgt, den Slüssel, der ihn  – und uns alle  – in

Bewegung setzen wird.

S okolade als Orakel zu benutzen ist eine swierige Angelegenheit. Die


Visionen sind verswommen, versleiert dur die aufsteigenden Dämpfe

und Düe, die den Verstand benebeln. Und i bin nit meine Muer, die
bis zu dem Tag, an dem sie starb, wahrsageris e Fähigkeiten besaß, die so
stark waren, daß wir von Entsetzen gepat vor ihnen davonliefen. Do

bevor die Vision si auflöst, bin i sier, etwas zu erkennen – ein Zimmer,

ein Be, einen alten Mann, der in dem Be liegt, die Augen tief in den

Höhlen seines bleien Gesits … Und Feuer. Feuer.

Ist es das, was i hae sehen sollen?

Ist das das Geheimnis des Swarzen Mannes?

I muß sein Geheimnis herausfinden, wenn wir hierbleiben wollen. Und

i muß bleiben. Was immer es mi kosten mag.

Mi  woch, 19. Februar

Eine Wo e, mon père. Mehr nit. Eine Woe. Aber es kommt mir länger
vor. I begreife nit, warum sie mi so irritiert; mir ist klar, was sie ist.

Neuli bin i bei ihr gewesen, um mit ihr über die sonntäglien

Öffnungszeiten zu reden. Der Laden ist wie verwandelt; es duet verwirrend

na Ingwer und anderen Gewürzen. I habe versut, nit zu den

Regalen hinzusehen, auf denen die Süßigkeiten ausgestellt sind; Sateln,

Sleifen in Pastelltönen, kandierte Mandeln mit Puderzuer bestäubt,

Veilenpastillen und Rosenbläer aus Sokolade. Der Laden hat etwas von

einem Boudoir, etwas Intimes, er suggeriert eine Art Selbstvergessenheit mit

seinem  na Rosen und Vanille. Er erinnert mi an das Zimmer


Du

meiner Muer; all die Sleifen, all der Brokat und das Kristallglas, das in

dem gedämpen Lit funkelte, all die Fläsen und Tiegel auf ihrer

Frisierkommode, wie eine Armee von Flasengeistern, die darauf warteten,

losgelassen zu werden. Soviel Süße auf einmal hat etwas Ungesundes. Eine

halberfüllte Verheißung des verbotenen Genusses. 


I versue, ni t
hinzusehen, den Du  nit zu rieen.
Immerhin hat sie mi freundli empfangen. Diesmal habe i sie

deutlier gesehen; langes, swarzes Haar, zu einem Knoten geslungen,


Augen so dunkel, daß sie keine Pupillen zu haben s  einen. Ihre Brauen sind

vollkommen gerade, was ihr eine gewissen Strenge verleiht, die jedo  von

den spö  is ges wungenen Lippen Lügen gestra  wird. Breite, krä ige

Hände; kurzges   ni ene Fingernägel. Obwohl sie si    ni t s minkt, hat

ihr Gesi  t etwas Unziemli  es. Viellei  t es ist die direkte Art, mit der sie

einen ansieht, wie ihre Augen fors  end verweilen, der ironis  e Zug um

ihre Mundwinkel. Und sie ist groß, zu groß für eine Frau, etwa so groß wie

i . Sie starrt mir geradewegs in die Augen, mit aufre  ter Haltung und

trotzig vorgere  tem Kinn. Sie trägt einen langen, weiten, flammenfarbenen
Ro  und einen engen s  warzen Pullover. Diese Farbzusammenstellung

signalisiert Gefahr, wie bei einer S  lange oder einem gi  igen Insekt, eine

Warnung an alle Feinde.

Sie ist meine Feindin. I  habe es vom ersten Augenbli  an gefühlt. I 


spüre ihre Feindseligkeit und ihr Mißtrauen, obwohl sie die ganze Zeit mit

ruhiger, freundli  er Stimme spri   t. I habe das Gefühl, daß sie auf mi 
lauert, um mi  in Versu  ung zu führen, daß sie irgendein Geheimnis

kennt, das selbst i …   Aber das ist Unsinn. Was kann sie s  on wissen? Was

kann sie s  on tun? Sie stört ledigli  meinen Ordnungssinn, so wie es einen

Gärtner stören würde, wenn er Pusteblumen in seinem Garten entde  en

würde. Der Same der Zwietra  t ist überall, Vater, und er verbreitet si 
unau  altsam.

I  weiß. I  übertreibe. Aber wir müssen immer wa  sam sein, Sie und

i . Denken Sie nur an Les Marauds, wie wir die Zigeuner vom Ufer des

Tannes vertrieben haben. Wissen Sie no  , wie lange es gedauert hat, wie

viele vergebli  e Bes  werden wir eingerei  t haben, bis wir 


die Sa e

s  ließli selbst in die Hand genommen haben? Erinnern Sie si   no an

meine leidens a li en Predigten? Eine Tür na  der anderen wurde ihnen

vers  lossen. Einige der Ladenbesitzer haben sofort mit uns am selben

Strang gezogen. Sie wußten no  , wie es beim letztenmal war, als die

Zigeuner da waren, sie erinnerten si  an die Krankheiten, an die Diebstähle

und die Hurerei. Sie waren auf unserer Seite. Aber i  weiß no  , daß wir

Narcisse gehörig unter Dru  setzen mußten, der ihnen, was mal wieder

typis  für ihn war, im Sommer Arbeit auf seinen Feldern angeboten ha  e.
enden Männer
Aber am Ende haben wir sie alle verjagt, die düster dreinbli

und ihre fre en Slampen, ihre unversämten, barfüßigen Kinder, ihre
räudigen Hunde. Sließli sind sie alle abgezogen, und Freiwillige aus dem

Dorf haben den Unrat beseitigt, den sie hinterlassen haen. Ein einziges

Samenkorn, mon père, würde ausreien, um sie zurüzubringen. Das

wissen Sie so gut wie i. Und wenn sie dieses Samenkorn ist …

Gestern habe i mit Joline Drou gesproen. Anouk Roer geht jetzt in

die Grundsule. Ein vorlautes Kind, swarzes Haar, wie die Muer, und

ein breites, frees Grinsen. Offenbar hat Joline ihren Sohn Jean erwist,

wie er mit ihr auf dem Sulhof irgendein Spiel spielte. Etwas Verderblies,

nehme i an, Wahrsagerei oder so ein Unsinn, Knoen und Perlen auf dem

Boden ausgebreitet  … I habe Ihnen ja gesagt, daß i diese Sorte kenne.

Joline hat Jean verboten, no einmal mit ihr zu spielen, aber der Junge hat

eine halsstarrige Ader und smollt seitdem. In diesem Alter kann man

ihnen nur mit strengster Disziplinierung beikommen. I habe angeboten,

selbst einmal mit dem Jungen zu reden, aber die Muer wollte nits davon

wissen. So sind sie, mon père. Swa. Swa. I frage mi, wie viele

von ihnen bereits ihr Fastengelübde gebroen haben. I frage mi, wie

viele von ihnen jemals vorhaen, es einzuhalten. I selbst spüre, daß das

Fasten mi läutert. Allein der Anbli der Auslagen im Saufenster des

Fleisers stößt mi ab; i nehme jede Art von Geru mit einer solen

Intensität wahr, daß mir swindelt. Plötzli kann i den Du, der jeden

Morgen aus Poitous Bäerei dringt, nit mehr ertragen; der Geru von

heißem Fe aus der rôtisserie an der Place des Beaux-Arts kommt mir vor

wie Gestank aus der Hölle. Seit über einer Woe habe i weder Fleis

no Fis no Eier angerührt und mi nur von Brot, Suppe und Salat

ernährt, dazu ein einziges Glas Wein am Sonntag, und i bin geläutert,

Vater, geläutert  … I wünste nur, i könnte no mehr tun. Das ist kein

Leiden. Das ist keine Buße. Manmal denke i, wenn i ihnen nur das

rete Beispiel sein könnte, wenn ich es sein könnte, der blutend und leidend

am Kreuz hängt  … Diese Hexe Voizin mat si über mi lustig, wenn sie

mit ihrem Korb voller Einkäufe an mir vorbeigeht. Als einzige aus dieser

Familie braver Kirgänger verabseut sie die Kire, grinst mi an, wenn
sie an mir vorbeihumpelt, ihren Strohhut mit einem roten Tu 
festgebunden, und mit ihrem Sto  flaster klop  … Nur
auf das Kopfsteinp

wegen ihres Alters, mon père, und weil die Familie mi darum biet, lasse

i sie unbehelligt. Stur verweigert sie jede ärztlie Behandlung und jeden

geistlien Beistand. Wahrseinli glaubt sie, sie würde ewig leben. Aber

eines Tages wird sie zusammenbreen. Das tun sie alle. Und i werde ihr

demütig die Absolution erteilen; trotz all ihrer Verfehlungen, ihres Stolzes

 um sie trauern. Am Ende kriege i sie,


und ihrer Halsstarrigkeit werde i

mon père. Am Ende werde i sie alle kriegen, nit wahr?

Donnerstag, 20. Februar

I ha e sie erwartet. Karierter Mantel, das Haar streng und unvorteilha 


aus dem Gesi t frisiert, die Hände nervös wie die eines Revolverhelden.

Joséphine Muscat. Sie wartete, bis meine Stammkunden  – Guillaume,

Georges und Narcisse  – gegangen waren, dann kam sie herein, die Hände

tief in den Manteltas en.


»Eine Tasse S okolade, bie.« Sie setzte si unbeholfen auf einen
Hoer und starrte in die leeren Tassen, die i no nit weggeräumt

hae.

.« Ohne mi zu erkundigen, wie sie sie wünste,


»Selbstverständli

brate i ihr die Sokolade mit Sahne und Streuseln garniert und dazu

zwei Mokkatrüffel. Einen Augenbli lang betratete sie die Tasse mit

zusammengekniffenen Augen, dann griff sie vorsitig dana.

»Neuli«, sagte sie mit gezwungener Beiläufigkeit, »habe i etwas zu

bezahlen vergessen.«

Sie hat lange, smale Finger, an denen die wielen


S wie ein

Widerspru  wirken. Jetzt, wo sie entspannt ist, s eint ihr Gesi t etwas

von dem gequälten Ausdru  zu verlieren, bekommt etwas Anziehendes. Ihr


Haar ist dunkelblond, ihre Augen sind bernsteinfarben. »Es tut mir leid.«
Mit einer fast trotzigen Geste warf sie das Zehn-Franc-Stü  auf die  eke.

Wie automatis  ballten ihre Hände si  zu Fäusten, die Daumen bohrten

si  in ihr Brustbein, dieselbe Geste, die i  s on einmal beoba tet ha  e.

»Ist s  on in Ordnung.« I  bemühte mi  , beiläu fig und uninteressiert zu


klingen. »So etwas kommt immer mal vor.« Einen Augenbli  lang s  aute

Joséphine mi  mißtrauis  an, dann, als sie keine Feindseligkeit spürte,

entspannte sie si  ein wenig. »Die  


s me t gut.« Sie nippte an ihrer

S  okolade. »Wirkli  gut.«

»I  ma  e sie selbst«, erklärte i  . »Aus Kakaobu er, bevor das Fe 


hinzugefügt wird, um die S  okolade zu härten. So haben die Azteken sie

s on vor Jahrhunderten getrunken.«

Wieder ein kurzer, mißtrauis  er Bli  .

»Vielen Dank für Ihr Ges  enk«, sagte sie s  ließli  


. »S okomandeln.

Meine Lieblingssorte.« Und dann sprudeln die Worte hastig aus ihr heraus:

»I  habe es ni  t mit Absi  t mitgenommen. Sie haben bestimmt über mi 


geredet, i  weiß es genau. Aber i  stehle ni  t. Das behaupten die

immer«  – ihr Ton wird verä  


tli , die Mundwinkel verziehen si  vor

Abs  eu und Selbsthaß  –, »dieses Weibsbild Clairmont und ihre

Freundinnen. Lügnerinnen.«

Sie s  aute mi  herausfordernd an.

»I  habe gehört, Sie gehen ni  t zur Kir  e.« Ihre Stimme klang gereizt,

zu laut für den kleinen Raum, in dem nur wir beide uns befanden.

 
I lä elte. »Stimmt. I  gehe ni  t zur Kir  e.«

»Sie werden hier ni  t lange überleben, wenn Sie ni  t gehen«, sagte

Joséphine mit derselben hohen, s  neidenden Stimme. »Die werden Sie

genauso vertreiben, wie sie jeden vertreiben, der ihnen ni  t in den Kram

paßt. Sie werden es ja sehen. All das hier«  – eine eher angedeutete, kurze

Geste, um auf die Regale, die S  a teln, die Auslagen im Fenster

hinzuweisen  – »wird Ihnen nits nützen. I habe sie reden hören. I habe
gehört, was sie über Sie sagen.«

»I   
au .« I goß mir aus der silbernen Kanne eine Tasse S  okolade

ein. Dunkel und stark wie Espresso, mit einem Lö ffel aus S  okolade zum
Umrühren. Dann sagte i san: »Aber i braue ja nit hinzuhören.« I
nippte an meiner Sokolade. »Und Sie au nit.«

Joséphine late.

Wir swiegen. Fünf Sekunden. Zehn.

»Sie behaupten, Sie seien eine Hexe.« Son wieder dieses Wort.

Herausfordernd hob sie den Kopf. »Sind Sie eine Hexe?«

 zute die Aseln, trank no einen Slu.


I

»Wer behauptet das?«

»Joline Drou. Caroline Clairmont. Die Bets western von Curé Reynaud.

I hab sie vor der e
Kir reden hören. Ihre Toter hat den anderen

Kindern was erzählt. Irgendwas von Geistern.« Neugier lag in ihrer Stimme

und eine unters wellige Feindseligkeit, die i nit verstand.


»Geister!« rief sie laend.

I starrte auf die dünne, gewundene Tropfenspur, die vom gelben Rand

meiner Tasse herunterlief.

»I te, Sie würden nit darauf hören, was diese Leute sagen«,
da

bemerkte i.

»I bin nur neugierig.« Wieder dieser trotzig-herausfordernde Bli, als

häe sie Angst, gemot zu werden. »Und Sie haben si neuli mit

Armande unterhalten. Niemand redet mit Armande. Außer mir.«

Armande Voizin. Die alte Frau, die in Les Marauds wohnt.

»I  mag sie«, erwiderte i. »Warum sollte i nit mit ihr reden?«
Joséphine ballte die Fäuste. Sie wirkte erregt; ihre Stimme klang plötzli 
brü ig wie gesprungenes Glas. »Weil sie verrü t ist, darum!« Zur

Unterstrei ung ihrer Worte tippte sie si  läfe.


mit dem Finger an die S

»Verrüt, verrüt, verrückt.« Dann fuhr sie beinahe flüsternd fort: »I will

Ihnen mal was sagen. Dur Lansquenet verläu eine Grenze«  – sie

demonstrierte es auf der eke mit einem swieligen Finger  –, »und wenn

man die übersreitet, wenn man nicht zur Beichte geht, wenn man seinen

Ehemann nicht achtet, wenn man ihm nicht täglich drei Mahlzeiten kocht

und am Kamin sitzt und si  fromme Gedanken mat, bis er abends na
Hause kommt, wenn man keine Kinder bekommt  – und wenn man zur

Beerdigung seiner Freunde keine Blumen mitbringt, wenn man ni t


staubsaugt oder die Blumenbeete nicht jätet!  …« Ihr Gesi  t war vor

Anstrengung rot angelaufen. Sie war außer si  vor Wut. »Dann ist man

verrückt!« stieß sie hervor. »Dann ist man ni  t normal und die Leute reden

hinterm Rü  en über einen und  – und – und –«


Sie bra  ab, und der gequälte Ausdru  vers  wand von ihrem Gesi  t.

I  bemerkte, daß sie an mir vorbei aus dem Fenster starrte, do  wegen der

Spiegelung in der Fensters  eibe konnte i   ni t erkennen, was sie sah. Es

war, als wäre eine Jalousie vor ihrem Gesi  t heruntergelassen worden, ihr

Bli  war leer und ho ffnungslos.


»Tut mir leid. I hab mi 
ein biß en gehenlassen.« Sie trank den

letzten S   
lu S okolade. »I  sollte überhaupt ni  t mit Ihnen reden. Und

Sie ni  t mit mir. Es ist alles so s   on s limm genug.«

»Hat Armande das gesagt?« fragte i  freundli  .

»I  muß gehen.« Ihre Daumen bohrten si  wieder in ihr Brustbein,

diese selbstanklagende Geste, die so  arakteristis  für sie zu sein s  ien.

»I  muß gehen.« Der gequälte Bli  war wieder da, sie ö ffnete den Mund

mit angstvoll na  unten gezogenen Mundwinkeln, so daß sie beinahe debil

wirkte  … Do  die wütende Frau, die no  einen Augenbli  zuvor zu mir

gespro  en ha  e, war weit davon entfernt, debil zu sein. Was  – wen – hae
sie gesehen, was ha  e diese Reaktion ausgelöst? Als sie den Laden verließ,

den Kopf gesenkt, wie um si  vor einem S  neesturm zu s  ützen, trat i 


ans Fenster, um ihr na zusehen. Niemand spra  sie an. Niemand s  ien in

ihre Ri  tung zu s  auen. In diesem Augenbli  bemerkte i  Reynaud, der

vor dem Kir  enportal stand. Reynaud und ein Mann mit Halbglatze, den

i  ni t kannte. Beide starrten zum S  aufenster von La Praline herüber.

Reynaud? Sollte er die Ursa  e ihrer Ängste sein? I  spürte Ärger in mir

aufsteigen bei dem Gedanken, daß er derjenige gewesen sein könnte, der

Joséphine vor mir gewarnt ha  e. Und denno   ha e sie verä   tli gewirkt,

als sie von ihm spra  


, ni t ängstli  . Der zweite Mann war klein und

massig; karierte Hemdsärmel über geröteten Unterarmen ho  gekrempelt,

eine kleine Intellektuellenbrille, die in dem fleisigen Gesi  t seltsam fehl

am Platze wirkte. Er strahlte eine unbestimmte Feindseligkeit aus, sein Bli 


war böse und mißtrauis  , und endli  wußte i  , daß i  ihn s  on einmal
gesehen ha  e. Mit weißem Bart und rotem Mantel ha e er Süßigkeiten in

die Menge geworfen. Beim Karnevalsumzug. Der Nikolaus, der die Bonbons

so wütend in die Menge warf, als ho  e er, ein Auge zu tre ffen. In diesem

Moment traten ein paar Kinder an das S  aufenster, so daß i  ihn ni t

mehr sehen konnte, aber nun glaubte i  zu wissen, warum Joséphine so

hastig die Flu  t ergri ffen hae.


»Lucie, siehst du den Mann da drüben? Den in dem karierten Hemd? Wer

ist das?«

Lucie verzieht das Gesi   t. Weiße S okoladenmäuse sind ihre S   wä e;

fünf für zehn Francs. I   ste e ein paar mehr in die Papiertüte.

»Du kennst ihn do   si er, ni t wahr?«

Sie ni  t.

»Monsieur Muscat. Aus dem café.« I  kenne es; ein düsteres kleines

Lokal am Ende der Avenue des Francs Bourgeois. Ein halbes Dutzend

Metalltis  e vor dem Haus, ein vers  ossener Orangina-Sonnens  irm. Ein

uraltes S  ild über dem Eingang: Café de la République. Die Kleine nimmt

ihre Tüte, wendet si  zum Gehen, zögert, dreht si  no einmal um. »Seine

Lieblingssorte kriegen Sie nie raus«, sagt sie. »Er hat nämli  keine.«

»Das kann i  mir ni  t vorstellen«, erwidere i  


lä elnd. »Jeder hat eine

Lieblingssorte. Sogar Monsieur Muscat.«

Lucie überlegt.

»Viellei  t ist seine Lieblingssorte die, die er anderen Leuten wegnimmt«,

sagt sie. Und s  on ist sie aus der Tür und winkt no  einmal zum Abs  ied

dur  das S  aufenster.

»Sag Anouk, wir gehen na  der S  ule na  Les Marauds!«

»Ma   i .« Les Marauds. I  frage mi  , was sie dort so interessant

finden. Der Fluß mit seinen braunen, stinkenden Ufern. Die engen Gassen

voller Unrat. Eine Oase für Kinder. Höhlen, kleine, flae Steine, die man

über das Wasser hüpfen lassen kann. Ge flüsterte Geheimnisse, Swerter aus
Stö  en und S  ilde aus Rhabarberblä  ern. Kriegsspiele zwis  en dornigen

Brombeerranken, Tunnel, Entde  er, streunende Hunde, Gerü  te, erbeutete

S ätze  … Gestern kam Anouk fröhli  und aufgekratzt aus der S  ule und

zeigte mir ein Bild, das sie gemalt ha  e.


»Das bin i .« Eine Gestalt in einer roten Latzhose mit wild

hingekritzeltem s  warzem Haar. »Pantou fle.« Das Kaninen sitzt auf ihrer
S ulter wie ein Papagei, die Ohren aufgestellt. »Und Jeannot.« Ein Junge in

Grün mit ausgestre  ter Hand. Beide Kinder lä  eln. Mü  er  – au 


Lehrerinnen, die Mü er sind  –, seinen in Les Marauds nit erwünst zu
sein. Die Knetgummipuppe sitzt no  immer neben Anouks Be , und das

Bild hat sie darüber an die Wand gehe  et.

»Pantou fle hat mir gesagt, was i  tun soll.« Sie hebt ihn auf und hält ihn

lässig im Arm. In diesem Li  


t kann i ihn deutli  erkennen, er sieht aus

wie ein Kind mit S  nurrhaaren. Man  mal sage i  mir, i  sollte ihr dieses

Phantasieren abgewöhnen, do   i bringe es ni  t übers Herz, ihr soviel

Einsamkeit zuzumuten. Wenn wir hier bleiben, wird Pantou fle viellei  t

eines Tages wirkli  eren Spielkameraden wei  en.

»I  freue mi  , daß ihr do  Freunde geblieben seid«, sagte i  zu ihr

und küßte ihren Lo  enkopf. »Frag Jeannot, ob er Lust hat, demnä  st mit

herzukommen und uns beim Ausräumen des S  aufensters zu helfen. Du

kannst au   no mehr Freunde mitbringen.«

»Das Lebku  enhaus?« Ihre Augen leu  teten wie Sonnenli  t auf dem

Wasser. »Au ja!« Dann rannte sie ausgelassen los, stieß beinahe einen

Ho  er um, wi  mit einem riesigen Satz einem Phantasiehindernis aus und


dann ging s die Treppe hinauf, drei Stufen auf einmal nehmend. »Um die

We  e, Pantou fle!« Ein Kra  en, als die Tür gegen die Wand flog  – bumm-

bumm! Eine Welle der Liebe zu ihr, die mi  plötzli  und unerwartet

überwältigt, wie immer. Meine kleine Fremde. Immer sprudelnd, immer in

Bewegung.

Während i  mir no  eine Tasse S  okolade eins  enkte, hörte i  die

Türglo  e läuten und drehte mi  um. Eine Sekunde lang sah i  sein

Gesi  t unverstellt, den taxierenden Bli  , das vorgere  te Kinn, die

gestra  en S ultern, die blauen Venen auf seinen glänzenden Unterarmen.

Dann lä elte er, ein dünnes Lä  eln ohne Wärme.

»Monsieur Muscat, ri  tig?« I fragte mi  , was er wollte. Er wirkte fehl

am Platze, beäugte die Auslagen mit gesenktem Kopf. Er sah mi  an,


s aute mir aber ni  t ins Gesi  t, sondern ließ seinen Bli  kurz zu meinen

Brüsten wandern; einmal; no  einmal.

»Was wollte sie?« Er spra  leise, mit starkem Akzent. Ungläubig den

Kopf s ü elnd, fuhr er fort: »Was zum Teufel hat sie in einem sol  en

Laden zu su  en?« Er deutete auf ein Table  mit S  okomandeln zu fünfzig

Francs die Tüte. »Wahrs  einli  so was, wie?« Er breitete die Hände aus.

»Ho  zeiten und Taufen. Was will sie mit Zeug, das man zu Ho  zeiten und

Taufen vers  enkt?« Dann lä  elte er wieder dieses verblü  e, fragende

Lä  eln, do  seine rotunterlaufenen Augen funkelten eiskalt. »Sagen Sie s ’


mir.« Und dann s  
mei elnd, ein vergebli  er Versu  , armant zu

wirken. »Was hat sie gekau  ?«

»I  nehme an, Sie meinen Joséphine.«

»Meine Frau.« Er spra  die Worte mit einem seltsamen Unterton aus, mit

einer Art kategoris  er Endgültigkeit. »So sind die Weiber. Man arbeitet si 
halb tot, um das Geld ranzus ff a en, und was ma  en sie? Werfen es aus

dem Fenster für  …« Er deutete erneut auf die Regale voller Pralinen, Trüffel,
Marzipanfrü  te, Silberpapier, Seidenblumen. »Was war es, ein Ges  enk?«

Mißtrauen lag in seiner Stimme. »Für wen kau  sie Ges  enke? Für si 
selbst?« Er la  te kurz auf, als sei allein der Gedanke absurd.

I  wußte ni  t, was ihn das anging. Aber in seiner Art lag etwas

Aggressives, sein Bli  und seine Gesten waren so nervös, daß i   bes loß,

mi  vorzusehen. Ni  t meinetwegen  – i hae in den Jahren mit meiner


Mu  er gelernt, auf mi  aufzupassen  –, sondern ihretwegen. Bevor i mi

dagegen wehren konnte, sah i  ein Bild vor mir; ein blutiger Knö  el, aus

Rau  geformt. I  ballte die Fäuste hinter  eke. Dieser Mann ha  


e ni ts,

was i  sehen wollte.

»I  glaube, Sie haben da etwas mißverstanden«, erklärte i  ihm. »I 


habe Joséphine auf eine Tasse S  okolade eingeladen. Als Freundin.«

»A  so.« Einen Augenbli  lang s  ien er verblü  . Dann stieß er erneut

sein bellendes La  en aus. »Als Freundin, wie?« Das La  en war fast e  t, es

amüsierte ihn tatsä  li , und glei  zeitig war er voller Vera  tung. » Sie
wollen eine Freundin von Joséphine sein?« Wieder dieser taxierende Bli  .

I spürte, wie er uns miteinander vergli  , wie sein geiler Bli  erneut zu
meinen Brüsten wanderte. Dann erkundigte er si  mit smalziger,
smeielnder Stimme, die wohl verführeris klingen sollte: »Sie sind neu
hier, nit wahr?«

I nite.

»Vielleit sollten wir mal zusammen ausgehen. Um uns besser

kennenzulernen, wissen Sie.«

»Viellei t«, erwiderte i gelassen. »Dann könnten Sie ja au Ihre Frau
mitbringen.«

Sweigen. Er starrte mi an, diesmal mißtrauis, verslagen.


»Sie hat do nits erzählt, oder?«

Ausdruslos: »Was denn?«

Kurzes Kopfsüeln.

»Nits, nits. Sie redet einfa viel, das ist alles. Redet ohne Ende.« Der

arrogante Ton war wieder da. »Von morgens bis abends.« Kurzes, freudloses

Au flaen. »Aber das werden Sie bald selber merken«, fügte er mit

säuerli er Genugtuung hinzu.


I  murmelte etwas Unverfängli es. Dann, einer spontanen Eingebung
folgend, holte i  eine kleine Tüte Sokomandeln unter der eke hervor

und rei te sie ihm.


»Würden Sie die bi e für Joséphine mitnehmen?« sagte i beiläufig. »I
wollte sie ihr heute morgen geben, habe es aber vergessen.«

Er s aute mi an, rührte si jedo nit.


»Sie ihr geben?« wiederholte er.
»Ja. Ein Ges enk des Hauses.« I  senkte ihm mein gewinnendstes

Lä eln.
Grinsend nahm er die hübs e silberne Tüte.
 werde dafür sorgen, daß sie sie bekommt«, sagte er, während er si
»I

die Tüte in die Hosentase stope.

»Es ist ihre Lieblingssorte«, erklärte i ihm.

»Sie werden es mit Ihrem Laden nit weit bringen, wenn Sie Ihren Kram

versenken«, sagte er. »Ein Monat, und Sie sind pleite.« Wieder der harte,

gierige Bli, als sei i eine Sokoladenfigur, die er am liebsten glei

auspaen würde.
 höfli und sah ihm na, als er den Laden
»Wir werden sehen«, sagte i

verließ und lässig wie James Dean über den Platz davonslenderte. Er war

no nit einmal außer Sitweite, da sah i ihn son das Tüten für

Joséphine aus der Tase ziehen und öffnen. Vielleit date er si, daß i

ihm nasaute. Eins; zwei; drei; seinbar gelangweilt ging seine Hand

immer wieder zu seinem Mund, und bevor er am anderen Ende des Platzes

angekommen war, ha e er die Sokomandeln aufgegessen und die Tüte in


seiner Faust zusammengeknüllt. Er kam mir vor wie ein gieriger Hund, der

si beeilt, sein Fu er aufzufressen, um si  dann über den Napf eines

anderen Hundes herzuma en. Als er an der Bäerei vorbeikam, warf er die
zerknüllte Tüte in Ritung des Mülleimers neben der Tür, traf jedo nur

den Rand, und die silberne Kugel rollte über das Pflaster. Dann ging er, ohne

si no einmal umzudrehen, mit lässig swingenden Armen an der

Kire vorbei und die Avenue des Francs Bourgeois hinunter. Seine sweren

Stiefel slugen bei jedem Sri über das Kopfsteinpflaster kleine Funken.

Freitag, 21. Februar

Über Na t wurde es wieder kälter. Die Weerfahne auf der Kirturmspitze


drehte si die ganze Nat hektis und unentslossen hin und her und

quietste in ihrer rostigen Halterung, wie um vor Eindringlingen zu

warnen. Im diten Morgennebel wirkte selbst der Kirturm in zwanzig

Srien Entfernung semenha und gespenstis, und das Messeläuten

klang wie dur Zuerwae gedämp, als einige Kirgänger mit

hogeslagenen Mantelkragen herbeigeslur kamen, um si die

Absolution erteilen zu lassen.

Nadem sie ihre Mil  getrunken ha e, te i


pa Anouk in ihren

warmen roten Anorak und zog ihr trotz ihrer Proteste no  eine wollene

Mütze über den Kopf.

»Willst du wirkli  nit frühstüen?«


Sie s  ü elte energis  den Kopf und nahm si  einen Apfel aus der

Obsts  ale.


»Wie wär s mit einem Kuß?«

Es ist zu einem morgendli  en Ritual geworden.

Mit einem vers  mitzten Lä  eln s  lingt sie ihre Arme um meinen Hals,

le  t mir das Gesi  t ab, springt dann ki  ernd los, wir  mir von der Tür

aus einen Kuß zu und rennt auf den Dorfplatz hinaus. Mit gespieltem

Entsetzen wis   e i mir das Gesi  t ab. Sie la  t beglü  t auf, stre  t mir

die kleine Zunge heraus und ru : »I  hab di  lieb!«, und dann

vers  windet sie, die S   


ultas e s lenkernd, wie eine rote Lu  s lange im

Nebel. I  weiß genau, daß es hö  stens eine halbe Minute dauert, bis ihre

wollene Mütze in der S   ultas e landet, zusammen mit Bü  ern, He  en

und allem, was an die Welt der Erwa  senen erinnert. Einen Moment lang

glaube i  fast, Pantou fle hinter ihr herrennen zu sehen, beeile mi jedo,
das unwillkommene Bild glei  wieder zu vers  
eu en. Ein plötzli  es

Gefühl des Verlassenseins überkommt mi –   


wie soll i den Tag nur ohne

sie überstehen?  –, und 


i muß mi  beherrs  en, um sie ni  t

zurü  zurufen.

Se  s Kunden heute morgen. Einer davon ist Guillaume, er kommt gerade

vom Fleis  er und hat ein in Papier gewi  eltes Stü  boudin in der Hand.

»Charly liebt Blutwurst«, erklärt er mir mit ernster Miene. »Er hat in

letzter Zeit keinen re  ten Appetit, aber die frißt er bestimmt.«

»Vergessen Sie ni  t, selber au  etwas zu essen«, ermahne 


i ihn

freundli  .

»Bestimmt ni  t.« Er lä  elt ents uldigend. »I  esse wie ein

S  eunendres  er. Ehrli  .« Plötzli   s aut er mi betro ffen an. »Im

Moment ist natürli  Fastenzeit«, sagt er. »Aber Tiere sind do    si erli

ni  t an das Fastengebot gebunden, ni  t wahr?«

I  s ü ele den Kopf über seinen gequälten Gesi  tsausdru  . Sein

Gesi  t ist klein und feinges   ni en. Er gehört zu der Sorte, die ein

Plätz  en in zwei Häl  en bre  en und eine davon für später au  eben.

»Ifi nde, Sie sollten alle beide besser für si  sorgen.«


Guillaume krault Charly hinter den Ohren. Der Hund wirkt teilnahmslos

und kaum interessiert an dem Inhalt des Pä  ens vom Fleis  er, das neben

ihm in einem Einkaufskorb liegt.

»Wir kommen ganz gut zure  t.« Sein Lä  eln kommt genauso

automatis  wie die Lüge. »Wirkli  .« Er trinkt seine Tasse chocolat espresso

aus.

»Köstli  «, sagt er wie immer. »Kompliment, Madame Ro  er.« Ihn

aufzufordern, mi  Vianne zu nennen, habe i  längst aufgegeben. Sein

Gefühl für Anstand und Hö flikeit verbietet es ihm. Er legt das Geld auf die
 eke, tippt zum Gruß an seinen Hut und öffnet die Tür. Charly ra si

auf und folgt ihm wankend. Kaum sind sie aus der Tür, sehe 
i , wie

Guillaume ihn wieder auf den Arm nimmt.

Mi  ags bekamen wir no  einmal Besu   . I erkannte sie sofort, trotz des

unförmigen Männermantels, den sie immer trägt; das p fiffige


Winterapfelgesi  t unter dem s warzen Strohhut, der lange, s  warze Ro 
über den s  weren Stiefeln.

»Madame Voizin! Sie ha  en verspro  en, einmal vorbeizus  auen, ni  t

wahr? Darf i  Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

Mit leu  tenden Augen sah sie si  bewundernd im Laden um. I  spürte,

wie sie alles genau betra  tete. Ihr Bli fi el auf Anouks Getränkekarte:

Chocolat chaud 10 F

Chocolat espresso 15 F

Chococcino 12 F

Mocha 12 F

Sie ni  te anerkennend.

»Es ist s  on Jahre her, daß i  so etwas getrunken habe«, sagte sie. »I 
ha  
e s on fast vergessen, daß es sol  e Läden überhaupt gibt.« In ihrer

Stimme liegt eine Energie, in ihren Bewegungen eine Bestimmtheit, die

ihrem Alter zu widerspre  en s  einen. Ihre Mundwinkel verraten eine


S 
alkha igkeit, die mi  an meine Mu er erinnert. »Früher habe i  mit

Vorliebe S okolade getrunken«, verkündete sie.

I   s enkte ihr eine große Tasse Mokka ein und gab einen S  uß Cognac

hinzu, während sie die Barho  er mißtrauis  beäugte.

»Sie erwarten do  ho ffentli 


ni t von mir, daß i  da rau  
le ere,

oder?«

I   la te.

»Wenn i  gewußt hä  e, daß Sie kommen, hä   e i eine Leiter besorgt.

Warten Sie einen Moment.« I  ging in die Kü  e und holte Poitous alten

Sessel.


»Probieren Sie s mal mit dem.«

Armande setzte si  auf die Sesselkante und nahm die Tasse in beide

Hände. Sie wirkte begierig wie ein Kind, mit leu  tenden Augen und

entzü  tem Gesi  tsausdru  .

»Mmmm.« Es war mehr als Freude. Es war beinahe Ehrfur  t.

»Mmmmmm.« Mit ges lossenen Augen probierte sie das Getränk. Es war

fast beängstigend, wie sehr sie das Vergnügen genoß.

»Unübertre ffli.« Einen Augenbli  lang hielt sie inne, die Augen halb

ges  lossen. »Da ist Sahne drin und  – Zimt, würde i  sagen  – und was

no  ? Tia Maria?«

»Fast«, sagte i  .

»Was verboten ist, s   me t sowieso am besten«, erklärte Armande und

wis  te si  zufrieden den S aum von den Lippen. »Aber das  …« Sie nahm
gierig no  einen S  
lu . »Das ist besser als alles, an das i   mi erinnern

kann, selbst aus meiner Kindheit. 


I we  e, in dieser Tasse ste en

zehntausend Kalorien. A  was, no  mehr.«

»Warum sollte es verboten sein?« I  war neugierig. Klein und rund wie

ein Rebhuhn, wie sie war, konnte 


i mir kaum vorstellen, daß sie so

fanatis  auf ihre Figur a  tete wie ihre To ter.

»A  , die Ärzte«, sagte sie wegwerfend. »Sie wissen ja, wie die sind. Die

verbieten einem alles.« Sie trank no  einen S   lu . »Ah, das ist gut. Gut.

Caro versu  t seit Jahren, mi  in irgend so ein Heim abzus  ieben. Es


gefällt ihr ni t, mi glei nebenan wohnen zu haben. Sie will nit daran
erinnert werden, woher sie stammt.«

Sie ki erte in si hinein. »Sie behauptet, i sei krank. I könnte nit
auf mi selbst aufpassen. Sit mir diesen asalber, der mir

vorsreiben will, was i essen darf und was nit. Man sollte meinen, sie

wollten unbedingt, daß i ewig lebe.«

I läelte.

»I bin sier, daß Caroline es nur gut mit Ihnen meint«, sagte i.

Armande warf mir einen spöisen Bli zu.

»A, wirkli?« Sie stieß ein ordinäres Laen aus. »Versonen Sie mi

damit, meine Liebe. Sie wissen ganz genau, daß meine Toter einzig und

allein an ihr eigenes Wohlergehen denkt. Mir kann man nits vormaen.«

Ihr Bli wurde durdringend. »Es geht mir nur um den Jungen«, sagte sie.

»Den Jungen?«

Armande ni te und trank no einen Slu.


»Er heißt Luc. Mein Enkel. Er wird im April vierzehn. Viellei t haben Sie
on mal auf dem Dorfplatz gesehen.«
ihn s

I erinnerte mi vage, ihn son einmal gesehen zu haben; ein farbloser

Junge, zu korrekt in seiner frisgebügelten grauen Flanellhose und seiner

Tweedjae, kühle, graugrüne Augen und glaes, asblondes Haar. I

nite.

»I habe ihn in meinem Testament zum Alleinerben eingesetzt«, erklärte

mir Armande. »Eine halbe Million Francs, die bis zu seinem atzehnten

Geburtstag treuhänderis verwaltet werden sollen.« Sie zute die Aseln.

»I sehe ihn nie«, fügte sie hinzu. »Caro erlaubt es nit.«

I habe sie zusammen gesehen. Jetzt erinnere i mi wieder; auf dem

Weg zur Kire, die Muer am Arm des Jungen. Er ist der einzige unter den

Kindern von Lansquenet, der no nie etwas in meinem Laden gekau hat,

i meine allerdings, ihn ein- oder zweimal am Fenster stehen gesehen zu

haben.

»Er hat mi  zum letztenmal besu t, als er zehn Jahre alt war.«

Armandes Stimme klang seltsam tonlos. »Es kommt mir so vor, als sei das

hundert Jahre her.« Sie trank ihre Tasse aus und stellte sie dann mit
Na   
dru auf die eke. »Es war an seinem Geburtstag. I  habe ihm ein

Bu   mit Gedi ten von Rimbaud ges  enkt. Er war sehr  – höfli.« Ihr Ton

wurde bi  er. »Natürli bin i  ihm seitdem ein paarmal auf der Straße


begegnet«, sagte sie. »I kann mi   ni t beklagen.«


»Warum besu en Sie ihn ni  t?« fragte i  neugierig. »Gehen mit ihm

spazieren, reden mit ihm, versu  en, ihn besser kennenzulernen?«

Armande s  ü elte den Kopf.

»Caro und i  haben uns miteinander überworfen.« Plötzli  verfiel sie in


einen jammernden Tonfall. Ihr Lä  eln war vers  wunden, und sie wirkte

mit einemmal entsetzli  alt. »Sie s  


ämt si für mi  . Der Himmel weiß,

was sie dem Jungen alles erzählt.« Sie s  ü elte den Kopf und s  aute ins

Leere. »Nein. Es ist zu spät. I  sehe es an seinem Bli –   diesem höflichen


Bli –   , an den artigen, ni  tssagenden Weihna  tskarten, die er mir s  i t.

So ein wohlerzogener Junge.« Ihr La  en war bi  er. »So ein fl


hö i er,

wohlerzogener Junge.«

Sie wandte si  mir wieder zu und lä elte mi  tapfer an.

»Wenn i  nur wüßte, was er tut«, sagte sie. »Wenn i  nur wüßte, was er

für Bü  er liest, für wel  en Sport er si  interessiert, was er für Freunde

hat, wie gut er in der S  ule ist. Wenn i  das wüßte  …«


»Dann?«

»Dann könnte i  wenigstens so tun  –« Sie war den Tränen nah. Dann

holte sie tief Lu  , gewann ihre Fassung wieder. »Wissen Sie was, i  glaube,

i könnte no  so eine Tasse von Ihrer Spezialität vertragen.« Ihre

Tapferkeit war gespielt, und i  bewunderte sie mehr, als i es sagen

konnte. Daß sie es trotz ihres Kummers no   s a , die Rebellin zu spielen

und au  rumpfend die Ellbogen auf die  eke zu stützen, während sie ihren

Mokka s   lür .

»Sodom und Gomorrha. Mmmm  . I glaube, i  bin im Paradies. Oder

jedenfalls so di  t dran, wie es mir je vergönnt sein wird.«

»I  könnte mi  für Sie na  Luc erkundigen, wenn Sie wollen.«

Armande da   te s weigend über meinen Vors  lag na  


. I spürte, wie

sie mi  unter ihren halbges  lossenen Lidern prüfend ansah.


»Alle Jungs mögen Süßigkeiten, nit wahr?« sagte sie sließli wie
beiläufig. I stimmte ihr zu. »Und i nehme an, seine Freunde kommen

au hier in Ihren Laden?« I erklärte ihr, i sei nit sier, wer seine

Freunde wären, aber daß die meisten Kinder regelmäßig kämen.

»I  könnte ja au ab und zu herkommen«, sagte Armande. »Ihr Mokka


smet mir sehr gut, au wenn Ihre Stühle furtbar sind. Vielleit

werde i sogar Stammkundin bei Ihnen.«

»Das würde mi freuen«, sagte i.

Erneutes Sweigen. I begriff, daß Armande alles auf ihre Weise tat, in

ihrem eigenen Tempo, ohne si von irgend jemandem antreiben oder mit

guten Ratslägen übersüen zu lassen. I ließ ihr Zeit zum Nadenken.

»Hier. Nehmen Sie das.« Sie hae ihre Entseidung getroffen. Energis

knallte sie einen Hundert-Franc-Sein auf die eke.

»Aber i –«

»Wenn Sie ihn sehen, geben Sie ihm eine Satel von irgendeiner Sorte,

die er mag. Sagen Sie ihm nit, daß das Gesenk von mir kommt.«

I nahm den Geldsein.

»Und lassen Sie si von seiner Muer nit einsütern. Sie ist

garantiert son eifrig dabei, allen möglien Klats zu verbreiten. Mein

einziges Kind, und sie muß ausgerenet eine von Reynauds Betswestern

werden.« Sie kniff verätli die Augen zusammen, so daß si lauter

kleine Fälten auf ihren Wangen bildeten.

»Es kursieren bereits Gerüte über Sie«, sagte sie. »Sie kennen ja diese

Sorte. Wenn Sie si au no mit mir einlassen, wird es nur no

slimmer.«

I late.

»I denke, daß i das verkraen kann.«

»Das glaube i au.« Plötzli sah sie mi eindringli an, der

ärgerlie Ton war verswunden. »Es ist irgendwas an Ihnen«, sagte sie

leise. »Irgend etwas Vertrautes. Könnte es sein, daß wir uns früher son

mal begegnet sind?«

Lissabon, Paris, Florenz, Rom. So viele Mens en. So viele Lebenswege,

die wir auf unserer rastlosen Wanders a gekreuzt haen. Aber i konnte
es mir ni t vorstellen.
»Und dann dieser Geru .  Feuer. Es riet wie kurz na einem
Na

sommerlien Blitzslag. Es duet na Augustgewiern und Maisfeldern

im Regen.« Ihr Gesitsausdru war angespannt, ihr Bli forsend. »Es

stimmt, nit wahr? Was i gesagt habe. Was Sie sind.«

Son wieder dieses Wort.

Sie late entzüt und nahm meine Hand. Ihre Haut fühlte si kühl an,

wie Laub. Sie drehte meine Hand um und betratete meine Handfläe.

»I wußte es!« Sie fuhr mit dem Finger an meiner Lebenslinie, der

Herzlinie entlang. »I wußte es in dem Augenbli, als i Sie zum

erstenmal gesehen habe!« Und dann zu si selbst, mit gesenktem Kopf, so

leise, daß es kaum mehr war als ihr Atem auf meiner Haut: »I wußte es.

I wußte es. Aber i hae nie erwartet, Ihnen hier in diesem Ort zu

begegnen.«

Ein sarfer, mißtrauiser Bli na oben.


»Weiß Reynaud es?«

»I  bin mir nit sier.« Es stimmte. I hae keine Ahnung, wovon sie
redete. Aber i ro es au; den Geru, den der Wind mitbringt, wenn

das Weer umslägt, einen Enthüllung verheißenden Lustrom. Ein vager

Geru na Feuer und Ozon. Das ietsen eines Getriebes, das lange

nit in Gebrau war, die Höllenmasine der Synronizität. Oder

vielleit hae Joséphine ret, und Armande war do verrüt. Immerhin

hae sie Pantoufle gesehen.

»Lassen Sie es Reynaud nit wissen«, sagte sie mit verrüt leutenden,

ernsten Augen. »Sie wissen do, wer er ist, nit wahr?«

I starrte sie an. I muß geahnt haben, was sie meinte. Oder vielleit

waren wir uns einmal kurz im Traum begegnet, in einer unserer Näte auf

der Flut.

»Er ist der Schwarze Mann.«

Reynaud. Wie eine Unheil verheißende Tarot-Karte. Immer und immer

wieder. Gelä ter auf den Rängen.


Lange dem i Anouk zu Be gebrat hae, holte i die Karten
na

meiner Muer hervor, zum erstenmal seit ihrem Tod. I bewahre sie in

einer Satel aus Sandelholz auf; sie sind vom vielen Benutzen ganz

wei, und ihr Du ist voller Erinnerungen an sie. Beinahe häe i sie

glei wieder weggepat, verwirrt dur die Flut der Erinnerungen, die

Gerüe mit si bringen. New York. Von Dampf umhüllte

Würstenstände. Das Café de la Paix mit seinen tadellosen Kellnern. Eine

Nonne, die vor Notre-Dame ein Eis let. Billige Hotelzimmer, mürrise

Portiers, mißtrauise gendarmes, neugierige Touristen. Und über allem der

Saen der namenlosen, unerbilien Bedrohung, vor der wir ständig auf

der Flut waren.

I bin nit meine Muer. I bin kein Flütling. Und do ist das

Bedürfnis zu sehen, zu wissen, so stark, daß i die Karten aus ihrer

Satel nehme und auslege, genauso wie sie es damals auf ihrem Be

getan hat. Ein Bli über meine Sulter, um sierzugehen, daß Anouk

slä, i möte nit, daß sie meine Unruhe spürt, dann mise i, hebe

ab, mise erneut, hebe ab, bis i vier Karten habe.

Zehn Schwerter, der Tod. Drei Schwerter, der Tod. Zwei Schwerter, der

Tod. Der Wagen. Der Tod.

Der Eremit. Der Turm. Der Wagen. Der Tod.

Es sind die Karten meiner Mu er. Das hat nits mit mir zu tun, sage i
mir, obwohl der Eremit lei t zu deuten ist. Aber der Turm? Der Wagen?
Der Tod?

Die Karte des Todes, sagt die Stimme meiner Mu er in mir, muß nit
immer den physis en Tod bedeuten, sie kann au für das Ende eines

Lebensabs nis stehen. Für si drehende Winde. Könnte es das sein, was
sie mir sagt?

I  glaube nit an Wahrsagerei. t


Ni so, wie sie es tat, als eine

Mögli keit, die zufälligen Muster unseres Lebensweges zu erklären. Ni t


als Vorwand für e in swierigen Situationen, als
Untätigkeit, als Krü

Rationalisierung des inneren Chaos. I höre ihre Stimme, und sie klingt

genauso wie damals auf dem Siff, als ihre Stärke in Sturheit umslug, ihr

Humor in übermütige Verzweiflung.


Wie wär’s mit Disneyland? Was meinst du? Die Florida Keys? Die

Everglades? Es gibt so vieles zu sehen in der Neuen Welt, so vieles, von dem

wir bisher nicht einmal zu träumen gewagt haben. Ist es das? Was meinst

du? Ist es das, was die Karten uns sagen wollen?

Inzwis  en war der Tod auf jeder Karte, der Tod und der S  warze Mann,

der mit der Zeit dieselbe Bedeutung angenommen ha  e. Wir flohen vor ihm,
und er verfolgte uns, in Sandelholz verpa t.

Um mi  dagegen zu s  ützen, las i  Jung und Hermann Hesse und

lernte etwas über das kollektive Unbewußte. Wahrsagerei ist eine Methode,

uns einzugestehen, was wir bereits wissen. Wovor wir uns für  ten. Es gibt

keine Dämonen, sondern vers  iedene Ar  etypen, die in jeder Kultur glei 
sind. Die Angst vor Verlust  – der Tod. Die Fur  t vor Vertreibung  – der

Turm. Die Angst vor der Vergängli  keit  – der Wagen.


Und denno  ist meine Mu er gestorben.

I  legte die Karten liebevoll zurü  in ihre du ende S  a tel. Adieu,

Mu  er. Hier hört unsere Reise auf. Hier werden wir bleiben, um uns dem zu

stellen, was der Wind uns bringt. I  werde die Karten ni  t no  einmal

befragen.

Sonntag, 23. Februar

Vergib mir, Vater, denn i  habe gesündigt. I  weiß, daß Sie mi  hören

können, Vater, und es gibt niemand anderen, bei dem i  zu bei ten wagen

würde. Auf keinen Fall würde i  den Bis  of von Bordeaux zu meinem

Bei  tvater wählen, der so weit weg und si  er auf seinem Bis  ofsstuhl

sitzt. Und die Kir  e wirkt so leer. I  komme mir vor wie ein Narr, wenn


i vor dem Altar knie und zu unserem Herrn in seinem Bla gold und seiner

Dornenkrone au li e  – das Gold ist dur  den Kerzenrau  ges  wärzt,

was Ihm einen vers  lagenen, heimli 


tueris  en Bli  verleiht  –, und die

Gebete, die früher so segensrei  und beglü  end für mi  waren, sind nun
rei am Fuß eines kahlen Berges, von dem jeden Augenbli
eine Last, ein S

eine Lawine auf mi herabzustürzen droht.

Ist das der Zweifel, mon père? Diese Stille in meinem Innern, diese

Unfähigkeit zu beten, geläutert zu werden, Demut zu emp finden  … ist das

meine S uld? I saue mi in der Kire um, die mein Lebensinhalt ist,
und möte Liebe für sie empfinden. Liebe, wie Sie sie empfunden haben,

für die Heiligenfiguren  – der heilige Hieronymus mit seiner abgeslagenen

Nase, die läelnde Madonna, Johanna von Orleans mit ihrem Banner, der

heilige Franziskus mit seinen gemalten Tauben. I selbst mag Vögel nit.

Vielleit ist das eine Sünde gegen meinen Namenspatron, aber i kann mir

nit helfen. Der Dre, den sie verursaen  – selbst am Kirenportal, die

getünten Wände sind mit ihren grünlien Exkrementen besudelt  –, und

der Lärm, den sie maen  – das Gegurre während der Messe  … I lege Gi

aus für die Raen, die in die Sakristei eindringen und die Gewänder

anfressen. Sollte i nit ebenso die Tauben vergien, die meinen

Goesdienst stören? I habe es versut, Vater, aber ohne Erfolg. Vielleit

besützt sie der heilige Franziskus.

Wenn i nur nit so unwürdig wäre. Meine Unwürdigkeit quält mi,

und meine Intelligenz  – die der meiner Anbefohlenen weit überlegen ist  –
dient nur dazu, meine S wäe zu verstärken, die Unzulängli keit des

Werkzeugs, das Go  ausersehen hat, ihm zu dienen. Ist das meine

Bestimmung? I habe von höheren Dingen geträumt, von Opfer und

Martyrium. Sta dessen vergeude i meine Zeit mit beklemmenden

Ängsten, die meiner und Ihrer unwürdig sind.

Meine Sünde ist die Kleinli keit, Vater. Deswegen sweigt Go in
Seinem Haus. I  weiß das, aber i  weiß nit, wie i das Übel

überwinden kann. I  habe mir no  größere Strenge für die Fastenzeit

auferlegt und übe mi  au  an den Tagen im Fasten, an denen

Erleiterung gesta et ist. Heute zum Beispiel habe  i meinen

Sonntagswein an die Hortensien gegossen und fühlte mi glei gestärkt.

Von nun an werde i  mir nits als Kaffee und Wasser zu den Mahlzeiten
gestaen, und den Kaffee werde i swarz und ohne Zuer trinken, um

den bieren Gesma zu verstärken. Heute habe i Karoensalat mit


Oliven gegessen  – Wurzeln und Beeren, wie es si  für das Leben in der

Wildnis geziemt. Zugegeben, i  ten Swindel,


verspüre jetzt einen lei

aber das Gefühl ist nit unangenehm. Gleizeitig habe i Suldgefühle,

weil selbst meine Entsagung mir Genuß bereitet, und i habe beslossen,

mi der Versuung auszusetzen. I werde fünf Minuten lang vor dem

Saufenster der rôtisserie verweilen und zusehen, wie si die

Brathähnen am Spieß drehen. Sollte Arnaud mi verspoen, um so

besser. Eigentli müßte er sowieso während der Fastenzeit geslossen

haben.

Und was Vianne Ro er angeht  … I habe während der vergangenen


Tage kaum an sie gedat. Wenn i an ihrem Laden vorübergehe, wende

i meinen Bli ab. Ihr Gesä geht gut, obwohl Fastenzeit ist und die

Retsaffenen unter den Bürgern von Lansquenet ihre Anwesenheit

mißbilligen, aber das liegt sierli allein daran, daß sol ein Laden etwas

völlig Neues für unser Dorf ist. Das wird si mit der Zeit geben. Unsere

Gemeindemitglieder haben kaum genug Geld, um ihre täglien Bedürfnisse

zu befriedigen, ohne daß sie zusätzli no einen Laden subventionieren,

der besser in eine Großstadt paßt.

La Céleste Praline. Allein der Name ist ein bewußter A ffront. I werde
mit dem Bus na  Agen fahren und mi  bei der Vermieterin besweren.

Sie hä e nie einen Mietvertrag bekommen dürfen. Die zentrale Lage des

Ladens garantiert einen gewissen Erfolg, leistet der Versuung Vorsub.


Man sollte den Bisof informieren. Er besitzt größeren Einfluß als i, den

er vielleit geltend maen kann. I werde ihm heute no sreiben.

I sehe sie manmal auf der Straße. Sie trägt einen gelben Regenmantel

mit grünen Gänseblümen drauf, ein Kleidungsstü, das für ein Kind

passend wäre, aber an einer erwasenen Frau unziemli wirkt. Nie

bedet sie ihr Haar, nit einmal bei Regen, wenn es glänzt wie ein

Robbenfell. Wenn sie unter ihre Markise tri, wringt sie es aus wie ein

langes Seil. Häufig stehen Leute unter der Markise, wo sie Sutz vor dem

endlosen Regen suen, und betraten die Auslagen im Saufenster. Sie

hat inzwisen einen elektrisen Heizofen aufgestellt, nahe genug an der

eke, um angenehme Wärme zu verbreiten, aber weit genug entfernt, um


ihre Waren ni  t zu verderben. Und seit sie die Ho  er anges a hat, wirkt

der Laden mit all seinen Torten und Ku  en unter gläsernen Hauben und

den Pralinen und Trü ffeln in Kristallsalen eher wie ein Café. An manen
Tagen sehe i  zehn und mehr Leute da drinnen, die herumstehen oder si 
an die  eke lehnen und plaudern. Sonntags und mi  
wo s na   mi ags

du  et es auf dem ganzen Dorfplatz na   Bä erei; dann steht sie in der Tür,

die Arme bis zu den Ellbogen weiß vom Mehl, und spri  t einfa 
irgendwel  e Passanten an. I  kann mi  nur wundern, wie viele Leute sie

bereits mit Namen kennt  –i  selbst habe ein halbes Jahr gebrau  t, bis i 
alle Mitglieder meiner Gemeinde kannte  –, und sie s  eint stets irgendeine

Frage oder eine Bemerkung zu ihren Sorgen und Problemen parat zu haben.

Blaireaus Arthritis. Lamberts Sohn, der beim Militär ist. Narcisse und seine

preisgekrönten Or  ideen. Sie kennt sogar den Hund von Duplessis mit

Namen. Oh, sie ist vers  lagen. Man kann sie unmögli  übersehen. Man

muß s  on regelre  fl t egelha  sein, um ni  t zu reagieren. Selbst i –


 

selbst i  muß lä  eln und ni  en, obwohl i  innerli   ko e. Ihre To ter

ist genauso, treibt si  mit einer Bande älterer Jungs und Mäd  en in Les

Marauds herum. Die meisten sind a  t oder neun Jahre alt; sie sind immer

ne  zu ihr, behandeln sie wie eine kleine S  wester, wie ein Masko  en.

Ständig sind sie zusammen, rennen und s  reien herum; sie breiten die

Arme aus und tun so, als seien sie Jagdbomber, die si  gegenseitig verfolgen

und abs  ießen. Jean Drou ist au  immer dabei, obwohl seine Mu  er es

mißbilligt. Ein- oder zweimal hat sie ihm den Umgang mit ihnen verboten,

aber er wird von Tag zu Tag aufsässiger und kle  ert aus dem Fenster seines

Zimmers, wenn sie ihm Stubenarrest erteilt.

Aber i  habe no  ernstere Sorgen, mon père, als das ungehörige

Benehmen von ein paar ungezogenen Gören. Als i  heute vor der Messe

dur  Les Marauds ging, habe i  am Ufer des Tannes ein Hausboot

gesehen, eins von der Sorte, die Ihnen und mir wohlbekannt ist. Ein

heruntergekommener Kahn, dessen grüne Farbe überall abblä  ert, mit

einem ble  ernen S  ornstein, aus dem gi  iger, s  warzer Rau  quoll,

einem Da  , so rostig wie die Dä  er auf den Wellble  


hü en in den

bidonvilles von Marseille. Und i  weiß genau, was das zu bedeuten hat.
Was auf uns zukommt. Der erste Löwenzahn, der im Frühling aus der

feu  ten Erde am Straßenrand sprießt. Jedes Jahr versu  en sie es wieder,

kommen flußaufwärts aus den Vorstädten und Bara  ensiedlungen, aus

Algerien und Marokko. Auf der Su  e na  Arbeit. Auf der Su  e na 


einem Lagerplatz, einem Ort, an dem sie si  vermehren können  … In

meiner Predigt heute morgen habe i  gegen sie gewe  ert, aber i  weiß,

daß einige Gemeindemitglieder  – unter anderen Narcisse  – sie trotz meiner


Warnungen willkommen heißen werden. Sie sind Vagabunden, vulgäre

Mens  en ohne moralis  e Werte. Sie sind Zigeuner, Verbreiter von

Krankheiten, Diebe, Lügner, Mörder, wenn man sie ni  


t au ält. Wenn wir

es zulassen, daß sie bleiben, werden sie alles zerstören, wofür wir gearbeitet

haben, Vater. All unsere Erziehung. Ihre Kinder werden mit den unsrigen

spielen, bis alles verdorben, bes  mutzt, ruiniert ist. Sie werden die Seelen

unserer Kinder stehlen. Sie lehren, die Kir  e zu mißa ten und zu hassen.

Sie werden zu Müßiggang und Verantwortungslosigkeit ansti en. Sie zu

Verbre  en und Drogenmißbrau  verführen. Haben sie etwa s on

vergessen, was in jenem Sommer ges  ah? Sind sie dumm genug

anzunehmen, daß so etwas ni t wieder passieren kann?

Heute na   mi ag bin i  zu dem Hausboot hinuntergegangen. Es waren

bereits zwei weitere dazugekommen, ein rotes und ein s  warzes. Es ha  e

aufgehört zu regnen, und zwis  en den beiden neuen Booten war eine

Wäs  eleine gespannt, an der Kinderwäs  e hing. An De  des s  warzen

Bootes saß ein Mann mit dem Rü  en zu mir und angelte. Langes, rotes

Haar, mit einem Halstu  zusammengebunden, die na  ten Arme und

S ultern über und über mit Henna bemalt. Eine ganze Weile habe i 
dagestanden und mir ihre erbärmli  en Behausungen angesehen, ihre

provozierende Armut. Was verspre  en diese Leute si  davon, daß sie so

leben? Wir sind ein rei  es Land. Eine europäis  e Großma  t. Diese Leute

könnten si  Arbeit su  en, nützli  e Arbeit, anständige Wohnungen  …


Warum ziehen sie es vor, dem Müßiggang zu frönen und in einem sol en

Elend zu leben? Sind sie zu faul? Zu dumm?

Der rothaarige Mann mit der Angel drehte si  zu mir um, stre  te mir

abwehrend zwei gespreizte Finger entgegen und widmete si  dann wieder


dem Angeln.

»Hier können Sie nit bleiben«, rief i über das Wasser. »Das ist

Privatbesitz. Sie müssen weiterziehen.«

es Geläter von den Booten. Meine Släfen poten vor Wut,
Höhnis

do äußerli blieb i ruhig.

»Mit mir können Sie reden«, rief i. »I bin Priester. Vielleit finden

wir gemeinsam eine Lösung.«

In den Fenstern und Türen der Boote waren mehrere Gesi ter
aufgetau t. I sah vier Kinder, eine junge Frau mit einem Baby und drei

oder vier ältere Leute, in die typis en grauen, farblosen Kleider gehüllt, ihre
Bli e herausfordernd und feindselig. Sie warteten darauf, wie der

Rothaarige reagieren würde. I  wandte mi erneut an ihn.


»He, Sie!«

Er nahm eine ironis -ehrerbietige Haltung an.


 her und reden Sie mit mir. I kann Ihnen alles besser
»Kommen Sie do

erklären, wenn i nit über das Wasser hinweg brüllen muß«, rief i.

»Erklären Sie nur«, sagte er. Er spra mit einem so starken Marseiller

Akzent, daß i ihn kaum verstand. »I höre Sie gut genug.« Seine Leute

auf den anderen Booten stießen si gegenseitig an und kierten. I

wartete geduldig, bis Ruhe einkehrte.

»Das hier ist ein Privatgrundstü «, wiederholte i . »I  fürte, hier

können Sie ni t bleiben. Hier wohnen Leute.« I deutete auf die Häuser an
der Avenue des Marais. Zugegeben, viele dieser Häuser stehen leer und sind

halb verfallen, aber einige sind immer no bewohnt.


Der Rothaarige warf mir einen verätlien Bli zu.

»Hier wohnen au Leute«, sagte er und deutete auf die Boote.

»Das ist mir klar, aber trotzdem  –« Er fiel mir ins Wort.
»Keine Sorge. Wir bleiben ni t lange.« Sein Ton war bestimmt. »Wir

müssen die Boote reparieren, unsere Vorräte aufsto en. Das können wir

nit draußen in der freien Landsa. Wir bleiben zwei Woen, höstens
drei. Damit werden Sie ja wohl leben können, oder?«

»In einem größeren Dorf  …« Seine Unversämtheit mate mi rasend,


do  i blieb ruhig. »Oder viellei t in einer Stadt wie Agen könnten
Sie  …«
Knapp: »Zwe  los. Von da kommen wir gerade.«

Das konnte 
i mir vorstellen. In Agen ma en sie mit Vagabunden

kurzen Prozeß. Wenn wir nur hier in Lansquenet unsere eigene Polizei

hä  en.

»I  habe Probleme mit meinem Motor. Seit einigen Kilometern verliere

i  Öl. I kann erst weiterfahren, wenn i  ihn repariert hab.«

I   stra e die S  ultern.

»I  glaube kaum, daß Sie hier finden werden, was Sie suen«, erklärte
i .

»Jeder hat das Re  t, zu glauben, was er will«, sagte er wegwerfend,

beinahe belustigt. Eine der alten Frauen begann zu ki  ern. »Selbst ein

Priester.« No  mehr Gelä  ter. I wahrte meine Würde. Diese Leute sind

es ni  t wert, daß i   mi über sie ärgere.

I  wandte mi  zum Gehen.

»Sieh mal einer an, Monsieur le Curé!« sagte eine Stimme hinter mir, und

unwillkürli   
zu te i zusammen. Armande Voizin stieß ein ga  erndes

La  en aus. »Nervös, was?« sagte sie bosha  . »Und zu Re  t. Das hier ist

ni  t Ihr Revier, ni  t wahr? In wel  er Mission sind Sie denn diesmal

unterwegs? Wollen Sie etwa die Heiden bekehren?«

»Madame.« Trotz ihrer Fre  heit grüßte i  sie hö fli. »I  ho ffe, Sie

erfreuen si  guter Gesundheit.«

»A  , tatsä  li ?« Ihre s  warzen Augen funkelten spö 


is . »Und i 
da  te, Sie könnten es ni  t erwarten, mir die letzte Ölung zu geben.«

»Keineswegs, Madame«, erwiderte i  kühl.

»Das ist gut. Weil dieses alte Lämm  en nämli  niemals zur Herde

zurü  kehren wird«, erklärte sie. »Für Sie bin i  sowieso zu zäh. I  weiß

no   gut, wie Ihre Mu er gesagt hat  –«



I   unterbra sie s ärfer, als i  beabsi  tigt ha  e.

  
»I für te, i habe heute keine Zeit zum Plaudern, Madame. I  muß

mi  – 
um diese Leute«  i deutete auf die Zigeuner  – »kümmern, bevor die
Situation außer Kontrolle gerät. I  muß die Interessen meiner Gemeinde

s  ützen.«
»Was sind Sie do  für ein S  wätzer«, bemerkte Armande gelangweilt.

»Die Interessen meiner Gemeinde. I  erinnere mi  


no an die Zeit, als Sie

ein kleiner Junge waren und in Les Marauds Indianer gespielt haben. Was

haben Sie in der Stadt gelernt, außer si   wi tig zu tun?«

I starrte sie wütend an. Sie ist die einzige in Lansquenet, die si  einen

Spaß daraus ma  t, mi  an Dinge zu erinnern, die längst vergessen sein

sollten. Wenn sie stirbt, wird sie diese Erinnerungen mit ins Grab nehmen,

und i  wäre gewiß ni  t traurig darüber.

»Ihnen mag die Vorstellung, daß die Zigeuner Les Marauds eines Tages

übernehmen könnten, viellei  t Vergnügen bereiten«, sagte i  s arf, »aber

andere Leute  – unter ihnen Ihre Toter – wissen ganz genau, daß sie, wenn
sie erst einmal den Fuß in der Tür haben …«

Armande s  naubte verä   tli .

»Sie redet sogar s  on wie Sie«, sagte sie. »Kanzel-Klis  ees und

nationalistis  e Platitüden. I  habe ni  t den Eindru  , daß diese Leute

irgendwel   en S aden anri  ten. Warum sind Sie so versessen darauf,

einen Kreuzzug gegen sie zu unternehmen, wenn sie sowieso bald wieder

weiterziehen?«

I  
zu te die A  seln.

»O ffenbar wollen Sie nit verstehen«, sagte i knapp.


»Nun, i  habe Roux da drüben gesagt«  – sie deutete versmitzt auf den
Mann auf dem s  warzen Hausboot  –, »i  habe ihm gesagt, daß er und

seine Freunde hierbleiben können, bis sie ihren Motor repariert und ihre

Vorräte aufgesto  t haben.« Sie s  aute mi  triumphierend an. »Sie können

sie also kaum wegen unbefugten Betretens von Privatbesitz belangen. Sie

haben vor meinem Haus angelegt, und zwar mit meinem Segen.« Das letzte

Wort spra  sie mit besonderer Betonung aus, wie um mi  zu verspo  en.

»Dasselbe gilt für ihre Freunde«, fügte sie hinzu, »sobald sie eintre ffen.«
Sie warf mir no  einen unvers  ämten Bli  zu. »Alle ihre Freunde.«

Nun, i  
hä e damit re  nen müssen. Es war zu erwarten, daß sie si  so

verhalten würde, und wenn sie es nur tut, um mi  zu provozieren. Sie

genießt den Ruf, den ihr Verhalten ihr einbringt; sie weiß genau, daß sie als

älteste Bewohnerin des Dorfes eine gewisse Narrenfreiheit besitzt. Es hat


keinen Zwe   , si mit ihr auseinanderzusetzen, mon père. Das wissen wir

beide. Sie hä  e nur ihren Spaß an einem Streit, genauso wie es ihr Spaß

ma  t, mit diesen Leuten zu verkehren, si  ihre Ges i ten anzuhören,

si von ihrem Leben erzählen zu lassen. Kein Wunder, daß sie sie alle s  on

mit Namen kennt. I  werde ihr ni  t die Genugtuung bereiten und diese

Leute darum bi  en weiterzuziehen. Nein, i  muß die Sa  e anders lösen.

Eines habe i  zumindest von Armande erfahren. Es werden no  mehr

kommen. Wie viele, bleibt abzuwarten. Aber es ist genau so, wie i 
befür  tet ha  e. Heute sind es drei Boote. Wie viele werden es morgen sein?

Auf dem Weg hierher habe i  Clairmont einen Besu  abgesta  et. Er

wird dafür sorgen, daß es si  im Dorf herumspri   t. I re ne mit lei  tem

Widerstand  – Armande hat immer no Freunde –, bei Narcisse müssen wir
viellei  t ein wenig na  helfen. Aber im großen und ganzen gehe i  davon

aus, daß die Leute einsi  tig sein werden. S  ließli  genieße i  im Dorf

ein gewisses Ansehen. Meine Meinung ist etwas wert. Mit Muscat habe i 
au  gespro  en. Er sieht die meisten Leute in seinem Café. Außerdem ist er

Vorsitzender des Gemeinderats. Trotz seiner Fehler ein re  ff


ts a ener

Mann, ein braver Kir  gänger. Und sollte eine starke Hand gebrau  t

werden  – natürli  verabs  euen wir alle Gewalt, aber bei diesen Leuten

muß man mit allem re  nen  –, nun, da bin i sier, daß Muscat si nit
lange bi en lassen würde.

Armande hat es einen Kreuzzug genannt. Das war als Beleidigung

gemeint, i  weiß, aber denno … 


  I spüre, daß der Gedanke an diesen

Kon flikt eine freudige Erregung in mir auslöst. Sollte das die Aufgabe sein,
für die Go  
mi ausersehen hat?

Darum bin i   na Lansquenet gekommen, Vater. Um für meine Leute zu

kämpfen. Um sie vor der Versu ung zu bewahren. Und wenn Vianne

Ro  er die Ma  t der Kir  e erkennt  – meinen Ein fluß auf jede einzelne

Seele in dieser Gemeinde  –, dann wird sie begreifen, daß sie auf verlorenem
Posten steht. Was au  immer sie si  erho ffen, was für Ziele sie au 
verfolgen mag. Sie wird einsehen, daß sie hier ni  t bleiben kann. Sie hat

keine Chance zu gewinnen.

Am Ende werde i  triumphieren.


Montag, 24. Februar

Caroline Clairmont kam glei  


na der Messe in den Laden. Ihr Sohn war

mit dabei, den Ranzen auf dem Rü  en, ein großer Junge mit einem blassen,

ausdru  slosen Gesi  t. Sie 


ha e ein Bündel gelber, handbes  riebener

Karten dabei.

I   lä elte die beiden an.

Der Laden war no  leer  – es war erst halb neun, und die ersten Kunden
kommen gewöhnli  ni t vor neun. Nur Anouk saß an der eke, vor si 
eine halb ausgetrunkene Tasse Mil  und ein pain au chocolat. Sie s  aute

den Jungen freundli  an, winkte zum Gruß mit ihrem S okocroissant und

wandte si  wieder ihrem Frühstü  zu.

»Was kann i  für Sie tun?«

Caroline sah si  mit einem Ausdru  von Neid und Mißfallen im Laden

um. Der Junge starrte vor si  hin, do  i spürte, daß er si 


zusammennehmen mußte, um ni  t zu Anouk hinüber zu sehen. Er wirkte

vers  lossen, das Haar fiel ihm so tief in die Stirn, daß seine Augen fast

dahinter vers  wanden.

»Sie können mir einen Gefallen tun.« Ihre Stimme klang gewollt lo er,

voller fals  er Freundli  keit, und ihr aufgesetztes Lä  eln war so süß wie

Zu  erguß, der an den Zähnen s  merzt. »I  bin gerade dabei, diese hier zu

verteilen«  – sie zeigte mir das Bündel Karten –, »und i date, Sie könnten
viellei  t eine davon in Ihr Fenster hängen.« Sie rei  te mir eine Karte. »Alle

anderen haben au  s on eine aufgehängt«, fügte sie hinzu, als könnte mir

das die Ents eidung erlei  tern.

I  nahm die Karte entgegen.

S warz auf Gelb, in sauberen Großbu  staben:

KEINE HAUSIERER, VAGABUNDEN ODER BETTLER.


DIE GESCHÄFTSLEITUNG BEHÄLT SICH VOR,

UNERWÜNSCHTEN PERSONEN

DIE BEDIENUNG ZU VERWEIGERN.

»Wozu brau  e i das?« I  runzelte verblü  die Stirn. »Warum sollte i 


mi  weigern, irgend jemanden zu bedienen?«

Caroline sah mi  zuglei  mitleidig und verä   tli an.

»Sie sind natürli  neu hier«, sagte sie mit einem honigsüßen Lä  eln.

»Aber wir haben in der Vergangenheit s on häu fig Probleme gehabt. Es ist
nur eine Vorsi  tsmaßnahme. I  glaube kaum, daß diese Leute es wagen

werden, Ihren Laden zu betreten. Aber Vorsi  t ist besser als Na si t,

meinen Sie ni  t au ?«

»I  verstehe ni   t re t.«

»Na ja, diese Zigeuner, diese Leute vom Fluß«, erwiderte sie beinahe

ungehalten. »Sie sind s  on wieder da, und, was immer sie vorhaben, sie

werden zumindest«  – sie verzog angewidert das Gesi  t  – »ihre Vorräte

aufsto  en wollen.«

»Und?« fragte i  freundli  .

»Nun, wir müssen ihnen klipp und klar zeigen, daß sie mit uns ni 
t

re  nen können!« erklärte sie erregt. »Wir müssen ihnen zeigen, daß wir uns

alle einig sind und ihnen 


ni ts verkaufen werden. Sie sollen gefälligst

dorthin zurü  gehen, woher sie gekommen sind.«

»Oh.« I  ließ mir ihre Worte dur  den Kopf gehen. » Können wir uns

denn überhaupt weigern, ihnen etwas zu verkaufen?« fragte i  . »Wenn sie

Geld haben, um zu bezahlen?«

Ungehalten: »Natürli  können wir das. Wer sollte uns denn daran

hindern?«

I überlegte einen Moment lang, dann gab i  ihr die gelbe Karte zurü  .

Caroline starrte mi  an.

»Sie ma  en ni  t mit?« Ihre Stimme war plötzli  eine Oktave höher und

ha   e ni ts mehr von ihrem gewählten Ton.

I  zu te die A  seln.
»Wenn jemand sein Geld in meinem Laden ausgeben will, habe i  wohl

kaum das Re  t, ihn daran zu hindern«, sagte i  .

»Aber die Gemeinde  …« beharrte Caroline. »Sie wollen do sierli


ni t, daß sol e Leute  – Zigeuner, Wegelagerer, Araber, Herrgo no

mal  …«
Erinnerungsfetzen s  ießen mir dur  den Kopf, finster dreinbli  ende

Hotelportiers in New York, vornehme Damen in Paris, Touristen in Sacré-

Cœ ur, die Kamera in der Hand, das Gesi  t abgewandt, um das be  elnde

Mäd  en in seinem zu kurzen Kleid und mit seinen zu langen Beinen ni  t

sehen zu müssen  … Caroline Clairmont, obwohl sie auf dem Land

aufgewa  sen ist, weiß genau, wie wi tig es ist, si  beim ri  tigen modiste

einzukleiden. Das elegante Tu  , das sie um den Hals trägt, hat ein Etike 
von Hermès, und ihr Parfüm ist von Chanel. Meine Antwort klang s  ärfer

als beabsi  tigt.

»I  denke, die Gemeinde sollte si  um ihre eigenen Angelegenheiten

kümmern«, sagte i  bars  . »Es steht weder mir  – no irgend jemandem  –
zu, darüber zu be finden, wie diese Leute ihr Leben gestalten.«
Caroline starrte mi   gi ig an.

»Nun gut, wenn das Ihre Meinung ist«  – sie wandte si  zum Gehen  –,
»dann will i  Sie ni  t länger au  alten.« Sie warf einen herablassenden

Bli  auf die leeren Barho  er. »I  ho ffe nur, daß Sie Ihre Ents  eidung

ni t eines Tages bereuen werden, das ist alles.«

»Warum sollte i  ?«

Sie zu  te verdrießli  die A  seln.

»Na ja, falls es S  wierigkeiten gibt oder so.« Aus ihrem Ton s  loß i  ,

daß das Gesprä  damit beendet war. »Diese Leute bringen nur Probleme,

wissen Sie. Drogen, Gewalt  …« Ihr säuerli  es Lä  eln ließ vermuten, daß

sie es begrüßen würde, mi  als Opfer sol  er Probleme zu sehen. Der Junge

starrte mi  verständnislos an. I   lä elte.

»I  habe neuli  mit deiner Großmu 


er gespro  en«, sagte i  zu ihm.

»Sie hat mir viel von dir erzählt.« Der Junge errötete und murmelte etwas

Unverständli  es.

Caroline wurde sto  steif.


»I habe gehört, daß sie hier gewesen ist«, sagte sie mit gezwungenem
Läeln. »Sie sollten meine Muer wirkli nit unterstützen«, fügte sie

mit geheueltem selmisem Augenaufslag hinzu. »Sie ist son

slimm genug.«

»Oh, i habe ihre Gesellsa sehr genossen«, erwiderte i, ohne

meinen Bli von dem Jungen zu wenden. »Ritig erfrisend. Und geistig

äußerst fit.«
»Für ihr Alter.«

»Für jedes Alter.«

»Nun, sie mag viellei t auf Fremde so wirken«, sagte Caroline pikiert.

»Aber für ihre Angehörigen  …« fuhr sie mit einem kühlen Läeln fort. »Sie
müssen wissen, meine Mu er ist sehr alt. Ihr Verstand ist nit mehr, was er
einmal war. Ihr Sinn für die Realität  –« Sie unterbra si mit einer

nervösen Geste. »Das muß i Ihnen sierli nit erklären«, sagte sie.

»Nein, das brauen Sie nit«, erwiderte i freundli. »Es geht mi

sließli nits an.«

Ihre Augen zogen si zu Slitzen zusammen, als sie die Spitze

dursaute. Sie mag vielleit bigo sein, aber sie ist nit dumm.

»I meine  …« Einen Moment lang geriet sie ins Stoen. I glaubte, ein

kurzes, belustigtes Funkeln in den Augen des Jungen zu sehen, aber

mögli erweise habe i mir das au eingebildet. »I meine, meine Muer
weiß duraus nit immer, was das beste für sie ist.« Sie hae si wieder

in der Gewalt, ihr Läeln war so steif wie ihre Frisur. »Dieser Laden zum

Beispiel.«

I  nite.
»Meine Mu er ist Diabetikerin«, erläuterte Caroline. »Der Arzt erklärt ihr
immer wieder, daß sie keinen Zuer essen darf. Aber sie hört nit auf ihn.

Sie lehnt jede Behandlung ab.« Sie warf ihrem Sohn einen triumphierenden

Bli zu. »Was meinen Sie, Madame Roer, ist das normal? Ist es normal,
si so unvernünig zu benehmen?« Ihre Stimme weselte wieder die

Tonlage, wurde srill und gereizt. Peinli berührt, warf ihr Sohn einen

Bli auf seine Armbanduhr.


»Maman, i  komme zu spät«, sagte er hö fli  . Zu mir: »Verzeihen Sie,

Madame, i  muß zur S   -S ule.«

»Hier, eine Tüte Pralinen für di  . Eine Spezialität. Ein Ges  enk des

Hauses.« I   rei te ihm die Cellophantüte.

»Mein Sohn ißt keine S  okolade«, erklärte Caroline streng. »Er ist

hyperaktiv. Kränkli  . Er weiß, daß sie ihm ni t bekommt.«

I   s aute den Jungen an. Er wirkte weder kränkli   no hyperaktiv,

hö  stens gelangweilt und ein wenig gehemmt.

»Sie hält große Stü  e auf di «, sagte i  . »Deine Großmu 


er. Viellei  t

kommst du einfa  mal in den Laden, wenn sie hier ist. Sie ist eine meiner

Stammkundinnen.«

Seine Augen leu  teten hinter den Ponyfransen kurz auf.

»Mal sehen.« Es klang ni  t enthusiastis  .

»Mein Sohn hat keine Zeit, um in Süßwarenläden herumzulungern«,

sagte Caroline ho  näsig. »Mein Sohn ist ein talentierter Junge. Er weiß,

was er seinen Eltern s  uldig ist.« Ihre Worte enthielten eine Art Drohung,

eine selbstgefällige Gewißheit. Sie drehte si  um und ging an Luc vorbei,

der bereits an der Tür war.

»Luc«, sagte i  leise. Zögernd drehte er si  um. Unwillkürli  faßte i 


ihn am Arm und s  aute ihm in die Augen, s  aute hinter das ausdru  slos

hö fli e Gesi  t und sah …

»Hat Rimbaud dir gefallen?« fragte i , ohne na  zudenken, während mir

tausend Bilder dur  den Kopf s  ossen.

Einen Augenbli  lang wirkte der Junge beinahe s  uldbewußt.

»Was?«

»Rimbaud. Sie hat dir ein Bu  mit seinen Gedi  ten zum Geburtstag

ges  enkt, stimmt’s?«

»J-ja.« Die Antwort war kaum hörbar. Er s  aute mi  mit graugrünen

Augen an und s 
ü elte lei t den Kopf, wie um mi  zu warnen. »I  ha-

hab sie aber ni t gelesen«, sagte er etwas lauter. »I  m-mag keine G-

Gedi  te.« Ein eselsohriges Bu  , in der hintersten  E e eines

Kleiders  ranks verste  t. Ein Junge, der die wunderbaren Gedi  te beinahe
inbrünstig vor si  hin murmelt. Bi  e, komm, flüstere i  lautlos. Bi e,

Armande zuliebe.

In seinen Augen flaerte etwas auf.


»I  muß jetzt gehen.«

Caroline wartete ungeduldig an der Tür.

»Bi  e, nimm das.« I  rei te ihm ein kleines Pä  en  – drei Pralinés in
Silberpapier gewi  elt. Der Junge hat Geheimnisse. I  spürte, wie sie aus

ihm heraus wollten. Mit s  nellem Gri ff, so daß seine Mu er es ni  t sah,

nahm er das Pä  en und lä  elte. Viellei  t habe i  mir die Worte nur

eingebildet, die er mit den Lippen formte:

»Sagen Sie ihr, i  werde kommen. A-am Mi  


wo , wwenn Maman zum

F-Friseur geht.«

Und dann war er vers  wunden.

I  erzählte Armande, die später am Tag vorbeis  aute, von ihrem

Besu  . Sie s  ü elte den Kopf und bra  in s  allendes Gelä  ter aus, als

i ihr von meinem Gesprä  mit Caroline beri  tete.

»Hi hi hi!« Sie ha e es si  in dem alten Sessel bequem gema  t und hielt

eine Tasse Mokka in den feingliedrigen Händen. »Meine arme Caro. Kann s ’
ni  t ertragen, wenn man ihr die Wahrheit sagt, ni  t wahr?« Sie nippte

genüßli  an ihrer Tasse. »Was hat sie davon, wenn sie so über mi 
herzieht?« fragte sie lei  t gereizt. »Ihnen zu sagen, was i  essen darf und

was ni   t. I bin also Diabetikerin, wie? Das mö te ihr Arzt uns alle

glauben ma  en.« Sie knurrte verä   tli . »Nun, i  lebe no  , oder? I  bin

vorsi  tig. Aber das rei  t ihnen natürli   ni t, o nein. Sie wollen mi 
unbedingt unter ihrer Fu  tel haben.« Sie s  ü elte den Kopf. »Dieser arme

Junge. Er sto ert, haben Sie das bemerkt?«

I  
ni te.

»Daran ist seine Mu  


er s uld«, sagte Armande verä   tli . »Wenn sie

ihn bloß in Frieden gelassen hä e  – aber nein. Ständig muß sie ihn

korrigieren. Immer ist sie hinter ihm her. Und ma  t alles nur no 
s  limmer. Sie gibt ihm das Gefühl, daß irgend etwas an ihm ni  t stimmt.«

Sie s  naubte. »Der Junge hat ni  ts, was ni  t sofort vers  winden würde,

wenn es ihm gesta  et wäre, wie ein normales Kind zu leben«, erklärte sie
mit Na  
dru . »Er müßte nur mal drau flos rennen, ohne dauernd zu

befür  ten, er könnte stolpern. Sie müßte ihn loslassen. Ihm ni  t länger die

Lu zum Atmen nehmen.«


I erklärte ihr, es sei normal, wenn eine Mu er ihre Kinder zu


bes ützen versu  t.

Armande s  enkte mir einen ihrer ironis en Bli  e.

»A  , so nennen Sie das?« sagte sie. »So wie die Mistel einen Apfelbaum

bes  ützt?« Sie la te in 


si hinein. »I   ha e früher Apfelbäume im

Garten«, erzählte sie. »Die Misteln haben einem na  dem anderen den

Garaus gema  t. Eine gemeine kleine P flanze, sieht gar nit gefährli aus,
mit ihren s  önen Beeren, kann allein ni  t überleben, aber wehe, wenn sie

einen Baum erwis  t!« Sie nippte an ihrem Mokka. »Sie ist Gi  für alles,

was mit ihr in Berührung kommt.« Sie ni  te mir vielsagend zu. »Genau wie

meine Caro.«

Na  dem Mi  agessen habe i  Guillaume kurz gespro  en. Er war

unterwegs zum Zeitungsladen. Guillaume ist sü  tig na  Filmzeits  ri en,

obwohl er nie ins Kino geht, und er kau   si jede Wo  e einen ganzen

Stapel davon. Vidéo und Ciné-Club, Télérama und Film Express. Als einziger

im Dorf besitzt er eine Satellitens  üssel, und in seinem ansonsten spärli 


eingeri  teten kleinen Haus hat er einen Breitbildfernseher und einen

Videorecorder von Toshiba, beides in eine Regalwand eingebaut, die bis an

die De  e mit Video filmen gefüllt ist. Mir fiel auf, daß er seinen Hund

wieder auf dem Arm trug, der mit trüben Augen teilnahmslos dreinbli  te.

Auf seine übli  e liebevolle Art strei  elte er immer wieder Charlys Kopf.

»Wie geht es ihm?« fragte i  .

»Oh, er hat seine guten Tage«, sagte Guillaume. »Es ste  t immer no 
eine Menge Leben in ihm.« Und dann setzten sie ihren Weg fort, der kleine,

elegante Mann und sein trauriger brauner Hund, den er umklammert hielt,

als hinge sein Leben von ihm ab.

Joséphine Muscat ging am Laden vorbei, kam aber ni  t herein. I  war

ein biß  en en   äus t, denn i   ha e geho   , no einmal mit ihr reden zu

können. Do  sie warf mir nur im Vorbeigehen einen ausdru  slosen Bli 
zu, die Hände tief in den Manteltas  en vergraben. Mir fiel auf, daß ihr

Gesi  t ges  wollen wirkte, die Augen zu S  litzen verengt, was allerdings

am eiskalten Regen gelegen haben kann, die Lippen zusammengepreßt. Sie

ha  e si ein di es, farbloses Kop u wie einen Verband um den Kopf

gewi  elt. I rief sie an, do  sie antwortete ni  t, sondern bes  leunigte


ihren S ri , wie um vor einer Gefahr zu fliehen.
 
I  zu te die A seln. Diese Dinge brau  en Zeit. Man  mal eine

Ewigkeit.

Später, als Anouk mit den Kindern in Les Marauds spielte und i  den

Laden ges  lossen ha  e, 


s lenderte i  über die Avenue des Francs

Bourgeois auf das Café de la République zu. Es ist ein kleines, s  äbiges

Lokal mit trüben Fensters  eiben, auf denen stets dieselbe spécialité du jour

steht, und einer s  muddeligen Markise, die den Laden no  düsterer ma  t.

Drinnen sind an einer Wand mehrere Spielautomaten aufgereiht, und in der

Mi  e stehen ein paar runde Tis  e, an denen die wenigen griesgrämig

dreinbli  enden Gäste ihren café crème oder ihren demi s  lürfen und

endlos über Ni  tigkeiten deba  ieren. Es rie  t na   fe igem Essen und

Zigare  enqualm, obwohl niemand zu rau  en s  eint. Mir fiel eine von

Caroline Clairmonts gelben Karten auf, die an gut si  tbarer Stelle neben

der o ffenen Tür hing. Darüber ein swarzes Kruzifix.


Na  kurzem Zögern trat i  ein.

Muscat stand hinter der  eke. Er musterte mi  abs  ätzig. Fast

unmerkli   gli sein Bli  kurz zu meinen Beinen, meinen Brüsten  – zack-
zack, wie die Leu  tanzeigen an den Spielautomaten, die kurz au  litzen.

Mit einer Hand gri ff er na  dem Zap  ahn und ließ die Muskeln seines

Unterarms spielen.


»Was darf s denn sein?«

»Einen café-cognac, bi e.«

ffee in einer kleinen, braunen Tasse, dazu zwei in


Er servierte mir den Ka

Papier gewielte Zuerwürfel. I nahm den Kaffee und trug ihn zu einem

Tis  in der Nähe des Fensters. Ein paar alte Männer  – einer von ihnen mit
dem Abzei  en der Légion d’Honneur an seinem ausgefransten Revers  –

beäugten mi  mißtrauis  .
»Soll i  Ihnen Gesells  a leisten?« fragte Muscat grinsend. »Sie wirken

ein biß  …
en  verloren, wie Sie da so allein am Tis  sitzen.«

»Nein, danke«, erwiderte i hö fli. »I   ha e eigentli  geho  ,

Joséphine heute zu tre ffen. Ist sie da?«


Muscat sah mi  säuerli  an, sein Sinn für Humor war ver flogen.
»A  ja, Ihre Busenfreundin«, sagte er tro  en. »Tja, Sie haben sie leider

verpaßt. Sie ist gerade na  oben gegangen, um si  ein biß  en auszuruhen.

Kopfs  merzen.« Er begann mit merkwürdiger He  igkeit ein Glas zu

polieren. »Erst geht sie den ganzen Tag einkaufen, und dann legt sie si  ins

Be  , während i  hier die ganze Arbeit ma  e.«

»Geht es ihr gut?«

Er starrte mi  an.

»Klar.« Seine Stimme klang s  arf. »Warum sollte es ihr ni  t gutgehen?


I wüns  te nur, die gnädige Frau würde ab und zu ihren fe  en Ars 

ho kriegen, dann würde dieser verdammte Laden au  besser laufen.« Er

bohrte seine mit dem Ges  irrtu  umwi  elte Faust in das Glas und

s  
nau e vor Anstrengung.


»I meine  … « Er ma  te eine ausladende Geste. »I  meine, sehen Sie

si  die Bude do  bloß mal an.« Er s  aute mi  an, als wollte er no 


etwas sagen, do  dann wanderte sein Bli  zum Eingang.

»He!« Er spra  o ffenbar jemanden an, den i  von meinem Platz aus

ni  t sehen konnte. »Seid ihr begri ffsstutzig? Wir haben geslossen!«


I hörte eine Männerstimme etwas Unverständli es antworten. Muscat

grinste hämis  .

»Könnt ihr Idioten ni  t lesen?« Er deutete auf ein Exemplar der gelben

Karten, von denen i  s on eine an der Tür gesehen ha  e. »Los, haut ab!«

I stand auf, um na  zusehen, was si  an der Tür abspielte. Fünf Leute

standen unsi  er vor dem Café, zwei Männer und drei Frauen. Alle fünf

waren mir unbekannt, 


ni t weiter au ffällig, nur daß sie einfa  fremd

wirkten in ihren ge fl
i ten Hosen, den s  weren Stiefeln und den

vers  ossenen T-Shirts, die sie zu Außenseitern stempelten. Dieser demütige

Bli  müßte mir vertraut sein. I   ha e ihn au  einmal gehabt. Der Mann,

den  
i ha e spre  en hören,  ha e rotes Haar und trug ein grünes
Stirnband. Er s  aute si  mit vorsi  tigem Bli  um, sein Tonfall war

betont neutral.

»Wir wollen ni  ts verkaufen«, erklärte er. »Wir mö ten nur ein Bier

und Ka ffee trinken. Wir werden Ihnen keine Unannehmli 


keiten bereiten.«

Muscat sah ihn verä  


tli an.

»I  hab do  gesagt, wir haben ges  lossen.«

Eine der Frauen, eine uns  einbare, magere Gestalt mit einem Ring in der

Augenbraue, zup e ihn am Ärmel.

»Es hat keinen Zwe  , Roux. Laß uns lieber  –«


»Laß mi  .« Roux s  ü elte sie ungehalten ab. »I  verstehe ni  
t re t.

Die Dame, die eben no  hier war  … Ihre Frau … sie wollte uns –«
»Meine Frau kann mi  mal!« s  rie Muscat. »Die Alte ist do  dümmer

als die Polizei erlaubt! Es ist mein Name, der über der Tür steht, und i  sage

wir haben geschlossen!« Er war hinter der  eke hervorgekommen und

stand jetzt, die Fäuste in die Hü en gestemmt, in der Tür wie ein

übergewi  tiger Revolverheld aus einem dri klassigen Western. I  sah

seine gelbli  glänzenden Knö  el und hörte seinen pfeifenden Atem. Seine

Züge waren wutverzerrt.

»Verstehe«, sagte Roux mit ausdru  slosem Gesi  t. Bedä  tig betra  tete

er die Gäste, die an den Tis  en saßen. »Ges  lossen.« No  einmal bli  te

er in die Runde. Unsere Augen trafen si  kurz. »Für uns ges  lossen«, sagte

er ruhig.

»Ihr seid ja gar ni  t so blöd, wie ihr ausseht«, sagte Muscat hämis  .

»Das letzte Mal haben wir  s on genug Ärger mit eurer Sorte gehabt.

Diesmal lassen wir uns das ni  t mehr bieten.«

»Okay.« Roux wandte si  zum Gehen. Muscat trat no  zwei S  ri e

vor, stei  einig wie ein Hund, der einen Kampf wi  ert.

I ließ meinen halb ausgetrunkenen Ka ffee auf dem Tis  stehen und

ging wortlos an ihm vorbei. I  hoffe, er erwartete kein Trinkgeld.


Auf halbem Weg die Avenue des Francs Bourgeois hinunter holte i  die

kleine Gruppe ein. Es ha  e wieder angefangen zu nieseln, und die fünf

wirkten verfroren und niederges  lagen. Jetzt sah i  ihre Boote unten am

Ufer in Les Marauds, etwa zwei Dutzend  … eine kleine Floe grüner, gelber,
blauer, weißer, roter Hausboote, einige mit Leinen voller feu  ter Wäs  e,

andere mit bunten Szenen aus Tausendundeiner Nacht, mit Bildern von

fliegenden Teppien und Einhörnern bemalt, die si in dem trüben grünen
Wasser spiegelten.

»Es tut mir leid, daß man Sie so behandelt«, sagte i  . »Die Leute in

Lansquenet-sous-Tannes sind ni  t besonders gastfreundli  .«

Roux musterte mi  eindringli  .


»I heiße Vianne«, sagte i  
. »I habe eine chocolaterie gegenüber der

Kir  e. La Céleste Praline.« Er s  aute mi  stumm an. I erkannte mi 


selbst in seinem betont ausdru slosen Gesi    –
t. I hä e ihm  ihnen allen  –
gern gesagt, daß mir ihre Wut und ihre Demütigung vertraut waren, daß i 
sie am eigenen Leib erfahren ha  e, daß sie ni  t allein waren. Aber i 
wußte au  um ihren Stolz, ihren sinnlosen Trotz, der übrigbleibt, wenn

einem alles andere ausgetrieben wurde. I  wußte, daß Mitgefühl das letzte

war, was sie wollten.

»Kommen Sie do  morgen zu mir in den Laden«, sagte i  freundli .

»Bei mir gibt es zwar kein Bier, aber dafür sehr guten Ka ffee.«
Er sah mi  an, als für  tete er, i  wollte mi  über ihn lustig ma  en.

»Sie würden mir eine Freude bereiten«, sagte i  . »I würde Ihnen gern

einen Ka ffee und ein Stü Kuen ausgeben. Ihnen allen.« Die magere Frau
sah ihre Freunde an und hob die S ultern, was Roux mit einem

A selzu en erwiderte.

»Mal sehen.« Sein Ton war unverbindli  .

»Wir haben viel zu tun«, sagte die junge Frau ke  .

I   lä elte. »Legen Sie eine Pause ein«, s  lug i  vor.

Wieder dieser musternde, mißtrauis   e Bli .

»Mal sehen.«

Während i  ihnen na  s aute, kam Anouk den Hügel heraufgerannt.

Ihr roter Anorak flaerte im Wind wie die Flügel eines exotisen Vogels.
»Maman, Maman! S  au mal die Boote!«

Eine Weile blieben wir stehen und betra  teten die Boote, die flaen
Lastkähne, die Hausboote mit den rostigen Dä  ern, den Ofenrohren, den

Gemälden an den Bootswänden, den bunten Flaggen, die aufgemalten


   

Zei en, die gegen Unfälle und S i ru s ützen sollten, die kleinen


Beiboote, die ausgelegten Angels nüre, Reusen zum Fangen von

 
Flußkrebsen, die für die Na t aus dem Wasser gezogen worden waren,

 
ausgefranste S irme, die als Si ts utz dienten, am Ufer riesige

 
Ble tonnen, in denen Feuer angezündet worden waren, um die Mü en von


den Booten fernzuhalten. Es ro na Holzfeuer und Benzin und

 
gebratenem Fis , und vom Fluß her wurde leise Musik zu uns


herübergetragen, die unheimli en, fast mens li klagenden Töne eines

 
Saxophons. In der Dämmerung konnte i die Gestalt des rothaarigen

  
Mannes erkennen, der allein an De eines s warzen Hausbootes stand. Als


er mi sah, hob er die Hand. I winkte zurü .

 
Es war s on fast dunkel, als wir den Heimweg antraten. Unten in Les

  
Marauds ha e si ein Trommler zu dem Saxophon gesellt, und der Klang

seines Instruments wurde gedämp vom Wasser zurü geworfen. I ging


am Café de la République vorbei, ohne hineinzusehen.

 
Kurz vor dem Ende der steilen Straße spürte i , daß jemand in der Nähe

   
war. I drehte mi um und sah Joséphine Muscat, ohne Mantel, aber mit

 
einem Tu um den Kopf, das ihr Gesi t zur Häl e bede te. Im

   
Halbdunkel wirkte sie blei , wie ein S a enwesen.

  
»Lauf s on na Hause, Anouk. I komme glei .«


Anouk s aute mi verblü an, dann rannte sie folgsam los.


»I habe gehört, was Sie getan haben«, sagte Joséphine leise. »Sie sind

 
gegangen wegen dieser Sa e mit den Leuten vom Fluß.«

I ni te. »Genau.«

 
»Paul-Marie war wütend.« Sie sagte das mit einer Strenge, die fast einen

bewundernden Unterton ha e. »Sie hä en mal hören sollen, was er alles

 
über Sie gesagt hat.«

   
I la te.

 
»Glü li erweise brau e i mir ni t anzuhören, was Paul-Marie zu

 
sagen hat«, erwiderte i tro en.

   
»Jetzt darf i ni t mehr mit Ihnen reden«, fuhr sie fort. »Er meint, Sie

hä en fl
einen s le ten Ein uß auf mi .« Sie sah mi nervös und
erwartungsvoll an. »Er will ni t, daß i  Freundinnen habe«, fügte sie

hinzu.

»Sie erzählen mir nur, was Paul-Marie will«, sagte i  freundli. »Er

interessiert mi  
eigentli überhaupt ni t. Aber Sie  –« I berührte

flütig ihren Arm. »Sie interessieren mi sehr.«


Sie errötete und saute si um, als fürtete sie, jemand könnte hinter

ihr stehen.

t«, murmelte sie.


»Sie verstehen das ni

»I glaube do.« I fuhr mit den Fingerspitzen über ihr Kopu.

»Warum tragen Sie das?« fragte i unvermielt. »Wollen Sie es mir

erzählen?«

aute
Sie s  zuglei ängstli und hoffnungsvoll an und süelte
mi

den Kopf. Vorsitig löste i das Kopu.

»Sie sind hübs«, sagte i, als i ihr das Tu abnahm. »Sie könnten

eine Sönheit sein.«

Unterhalb ihrer Unterlippe war ein friser blauer Fle zu sehen. Sie

öffnete den Mund, um mir automatis eine Lüge aufzutisen. I fiel ihr

ins Wort.

»Das stimmt ni t«, sagte i.


»Woher wollen Sie das wissen?« fragte sie gereizt. »I  hab ja no  gar

ni ts gesagt …«
»Das brauten Sie au nit.«

Sweigen. Vom Fluß her waren jetzt helle Flötentöne zu hören, die die

Trommel begleiteten. Als sie endli  zu spre en begann, war es voller

Selbstvera tung.
»Es ist idiotis, nit wahr?« Ihre Augen haen si zu Slitzen verengt.

»I gebe ihm nie die Suld. Nit so ritig. Manmal vergesse i sogar,

was wirkli passiert ist.« Sie holte tief Lu wie eine Tauerin, bevor sie

unter Wasser geht. »I renne dur geslossene Türen, falle die Treppe

hinunter, trete auf R-Reen.« Sie sien einem Laanfall nahe. I spürte

die Hysterie hinter ihren Worten. »I neige zu Unfällen, sagt er jedesmal.

Unfälle.«
»Weswegen ist es denn diesmal passiert?« fragte i  san . »Wegen der

Leute am Fluß?«

Sie ni te.
»Sie haen nits Böses im Sinn. I  wollte sie einfa  nur bedienen.«

Einen Moment lang nahm ihre Stimme einen s rillen Ton an. »I  sehe
überhaupt t ein, warum i dieser Clairmont, dieser
ni Gislange,

dauernd na der Pfeife tanzen soll!« Sie begann, Caroline nazuäffen.

»Also, wir müssen unbedingt zusammenhalten«, sagte sie mit gespielter

Ereiferung. »Um der Gemeinde willen. Denken Sie do  an unsere Kinder ,

Madame Muscat  …«  und fuhr in ihrer normalen


Dann holte sie kurz Lu

Stimme fort. »Gewöhnli grüßt sie mi no nit mal auf der Straße,

sondern tut, als wäre i Lu!« Sie atmete tief dur, um ihre Fassung zu

wahren.

»Dauernd heißt es, Caro hier, Caro da«, zis te sie wütend. »I  hab

genau gesehen, wie er sie in der Kir e anstarrt. Wieso bist du nit wie

Caroline Clairmont?« Jetzt ahmte sie die vom Su ff heisere Stimme ihres

Mannes na . Sie bra te es sogar fertig, seine Haltung zu parodieren, das

vorgere te Kinn, die aggressive Art, wie er si in Positur warf. »Neben ihr
siehst du aus wie eine fee Kuh. Diese Frau hat Stil, sie hat Klasse. Sie hat

einen prätigen Sohn, der nit nur wohlerzogen, sondern au no ein

guter Schüler ist. Und du , was hast du, hä? Was zum Teufel hast du zu

bieten?«

 entgeistert an.
»Joséphine.« Sie starrte mi

»Tut mir leid. Einen Moment lang hab i ganz vergessen, wo …«

»I weiß.«

Meine Naenhaare begannen si vor Wut zu sträuben.

»Sie müssen mi für unglaubli dumm halten, daß i all die Jahre bei

ihm geblieben bin«, sagte sie tonlos, ihre Augen dunkel und haßerfüllt.

»Nein, das tue i  nit.«


Sie ignorierte meine Antwort.

»Das bin i  tatsä li«, sagte sie. »Dumm und s wa. I liebe ihn

nit  – kann mi  kaum erinnern, ihn je geliebt zu haben  –, aber die


Vorstellung, ihn zu verlassen  …« Sie hielt verwirrt inne. »Ihn wirkli  zu

verlassen …«, wiederholte sie leise.


»Nein, es hat keinen Zwe .« Sie saute mi an, und ihre Miene war
entslossen. »Deswegen kann i nit mehr mit Ihnen reden«, erklärte sie

mir gefaßt. »I könnte Ihnen nits vormaen  – das haben Sie nit

verdient. Aber es geht nit anders.«

»Do«, widerspra i. »Es geht anders.«

»Nein.« Sie wehrte si verzweifelt und voller Bierkeit gegen die

Aussit, Trost zu finden. »Verstehen Sie denn nit? I bin nits wert. I

stehle. I habe Sie son einmal belogen. I stehle immer wieder!«

»Ja. I weiß.«

Die Erkenntnis drehte si lautlos zwisen uns wie eine

Christbaumkugel.

»Dinge können si  ändern«, sagte i  sließli. »Paul-Marie ist ni t


allmä tig.«
»So kommt er mir aber vor«, erwiderte Joséphine trotzig.

I  läelte. Was könnte sie nit alles erreien, wenn sie diesen Trotz
nit na innen, sondern na außen riten würde. I könnte ihr helfen.

I spürte ihre Gedanken, sie war mir so nah, sie war so offen. Es wäre so

leit, die Sae in die Hand zu nehmen. Ungehalten wehrte i den

Gedanken ab. Es stand mir nit zu, sie zu einer Entseidung zu zwingen.

»Bisher haen Sie niemanden, an den Sie si wenden konnten«, sagte

i. »Jetzt haben Sie jemanden.«

»Wirkli?« Aus ihrem Mund hörte es si beinahe an wie das

Eingeständnis, verloren zu haben.

I  sagte nits. I ließ sie ihre Frage selbst beantworten.


Eine Zeitlang saute sie mi sweigend an. Die Liter von Les

Marauds spiegelten si in ihren Augen. Erneut fiel mir auf, daß es kaum
eines Aufwands bedure, und sie wäre eine Sönheit.

»Gute Nat, Joséphine.«

I wandte mi nit na ihr um, aber i wußte, daß sie mir

nasaute, als i den Hügel hinaufging, und i bin mir sier, daß sie
no  lange dort gestanden und hinter mir herges  aut hat, als i   s on

längst um die E  e gebogen und aus ihrem Bli  feld vers  wunden war.

Mi  woch, 26. Februar

Der Regen s  eint ni  t enden zu wollen. Es ist, als würde ein Teil des

Himmels ausgeleert, um die Erde mit Trübsal zu übergießen und in ein

Aquarium zu verwandeln. Die Kinder, in ihren Regenja  en und

Gummistiefeln wie bunte Plastikenten, wats  eln lärmend dur  die Pfützen

auf dem Dorfplatz, wo ihr Ges  rei von den niedrig hängenden Wolken

widerhallt. I  beoba  te sie mit halbem Auge, während i  in der Kü  e

arbeite. Heute morgen habe i  die S  aufensterdekoration abgebaut, die

Hexe, das Lebku  enhaus und all die S  okoladentiere, die die Szenerie

bevölkerten, und Anouk und ihre Freunde ma ten si zwis  en ihren

Aus flügen in die verregneten Gassen von Les Marauds gierig über die

Süßigkeiten her. Mit leu  tenden Augen, ein Stü  Lebku  enhaus in jeder

Hand, sah Jeannot Drou mir in der Kü  e bei der Arbeit zu. Hinter ihm

stand Anouk, dahinter die anderen, lauter neugierige Augen und aufgeregtes

Flüstern.

»Und jetzt?« fragt er mit einer für sein Alter tiefen Stimme, ein kleiner

Maulheld mit S okolade am Kinn. »Was kommt als nä  stes ins

S aufenster?«

 
I zu e die A  seln.

»Das ist ein Geheimnis«, antworte i  , während i  crème de cacao in

eine Emails  üssel mit ges  molzener Kuvertüre rühre.

»O  nee.« Er läßt ni  
t lo er. »Es wird bestimmt was für Ostern. Eier

und so ’n Zeugs. S  okoladenhühner, Osterhasen und so. Wie in den Läden

in Agen.«

Erinnerungen aus meiner Kindheit; die S  aufenster der chocolateries in

Paris mit Körben voller in bunte Folie gewi  elter Ostereier, mit Armeen
von Osterhasen, Hühnern, Glo  en, Marzipanfrü  ten, marrons glacés und

amourettes und filigranen Nestern, gefüllt mit petits fours und

Sahnebonbons, und tausendundeine Epiphanie aus Zu  erwa  ewolken, die

eher an einen orientalis  en Harem erinnerten als an die ernste Feierli  keit

der Fastenzeit.

»Meine Mu er hat mir früher die Ges  i te von den Osterle  ereien

erzählt.« Wir ha en nie genug Geld, um diese erlesenen Sa  en zu kaufen,

aber i  bekam jedes Jahr ein cornet surprise, eine spitze Papiertüte mit

Osterges  enken: Münzen, Papierblumen, buntgefärbte hartgeko  te Eier,

eine Mus  el aus Pappma  é  – jedes Jahr dieselbe, bemalt mit Hühn en,

Osterhasen, lä  elnden Kindern zwis en Bu  erblumen, die dann wieder

sorgfältig verpa  t und für das nä  ste Osterfest au  ewahrt wurde  –, darin
eine kleine Tüte mit S  okolade umhüllter Rosinen, die i  mir, wenn i  auf

unserer Reise von Stadt zu Stadt na ts in fremden Hotelzimmern wa  lag,

genüßli  im Mund zergehen ließ, während die Neonreklame des Hotels

dur  die Ritzen in den Fensterläden blinkte und in der dunklen Stille ni  ts

zu hören war als das regelmäßige Atmen meiner Mu  er, die neben mir

s lief.

»Sie hat mir erzählt, daß in der Na  t zum Karfreitag die Glo  en ihre

Kir  türme verlassen und mit Zauber flügeln na  Rom fliegen.« Er ni  te

mit dem für Heranwa  sende typis  en zweifelnden Bli  .

»Sie reihen si  vor dem Papst in seinem weiß-goldenen Gewand, der

Mitra und dem goldenen Hirtenstab auf, große Glo en und kleine

Glö  en, clochettes und s  were bourdons, carillons und Glo  enspiele,

und warten geduldig auf ihren Segen.«

Meine Mu  er verfügte über einen uners  flöp i en S  atz an sol  en

Kinderges  i ten, an deren Absurdität sie si  immer wieder von neuem

ergötzte. Sie liebte Ges 


i ten  – von Jesus und Eostra und Ali Baba, wobei
sie Mär  ensto ff und biblis  e Ges 
i te und Aberglaube untrennbar

miteinander verwob. Ges  i ten von Wahrsagerei aus Kristallkugeln,

Astralreisen, Entführungen dur  Außerirdis  e und Selbstentzündungen  –


meine Mu  er glaubte sie alle, oder tat jedenfalls so.
»Und der Papst segnet sie, jede einzelne, bis spät in die Na  t, während

die leeren Kir  türme in ganz Frankrei  auf ihre Rü  kehr warten und bis

zum Ostermorgen s  weigen.« Und i  , ihre To  ter, ließ mi  von ihren

Worten bezaubern, laus  te mit leu tenden Augen ihren Erzählungen von

Mithras und Baldur dem Strahlenden, von Osiris und  etzalcoatl,

unentwirrbar verwoben mit Ges 


i ten von fliegenden Süßigkeiten,

fliegenden Teppien, von der Dreifaltigen Göin und Aladins Satzhöhle,


von dem Grab, aus dem Jesus na  drei Tagen auferstand, amen,

Abrakadabra, amen.

»Und der Segen verwandelt si  in lauter bunte Süßigkeiten, und die

Glo  en stellen si  auf den Kopf, fangen sie auf und nehmen sie mit na 
Hause. Sie fliegen die ganze Nat, und wenn sie am Ostersonntag in ihren
Türmen ankommen, drehen sie si  um und läuten freudig das Osterfest

ein  …«
Die Glo  en von Paris, Rom, Köln, Prag. Morgenläuten, Trauerläuten, die

immer wiederkehrende Begleitmusik in unseren Jahren des Exils. Das

Osterläuten so laut in meiner Erinnerung, daß es beinahe s  merzt.

»Und die Süßigkeiten fliegen hinaus über die Felder und die Städte. Sie

regnen vom Himmel, während die Glo  en läuten. Man  e zerbre 


en,

wenn sie auf den Boden fallen. Aber die Kinder bauen wei  e Nester, um die

herabfallenden Ostereier und Pralinen, die Hasen und Küken aus

S  okolade, die guimauves und Mandeln aufzufangen …«


Jeannot starrt mi  mit leu  tenden Augen an.

» Cool!« sagt er grinsend.



»Und darum gibt s zu Ostern Süßigkeiten.«

Seine Stimme ist voller Begeisterung, die plötzli  e Gewißheit läßt ihn

lauter werden.

»Au ja, bitte, maen Sie das!«



I wende mi  ab und rolle eine Trü ffel in Kakaopulver.
»Was soll i  ma en?«

» Das! Die Ostergesite. Das wär et cool … mit den Gloen und dem
Papst und alles  … und dann könnten wir ein S  okoladenfest veranstalten,

eine ganze Wo  e lang, und wir könnten Nester bauen  – und Ostereier
su en und  –« Aufgeregt zup  er an meinem Ärmel. »Madame Ro er  –
bitte.«

 hinter ihm und saut mi erwartungsvoll an.


Anouk steht immer no

Ein Dutzend mit Sokolade besmierter Gesiter im Hintergrund nien

eifrig.

 denke über den Vorslag na. In


»Ein Grand Festival du Chocolat.« I

einem Monat wird der Flieder blühen. I mae jedes Jahr ein Nest für

Anouk, mit einem großen Ei, auf dem in Zuerguß ihr Name steht. Es

könnte unser eigenes Karnevalsfest sein, ein Fest, mit dem wir unsere

Ents eidung, hierzubleiben, feiern würden. Die Idee ist mir s on früher
gekommen, aber den Vors lag von diesem Kind zu hören, erseint mir

son fast wie ihre Verwirkliung.

»Wir bräuten ein paar Plakate.« I gebe mi zögernd.

»Die maen wir!« ru Anouk aufgeregt.

»Und Girlanden  –«
»Und Lu slangen –«
»Den Papst aus weißer S okolade –«
»Ein Sokoladenosterlamm –«
»Eierlaufen, eine Satzsue –«

»Wir laden alle ein, es wird  –«


»Cool!«

»Megacool  –«
 hebe laend die Arme, um sie zum Sweigen zu bringen und wirble
I

eine Wolke aus bierem Kakaopulver auf.

»Ihr mat die Plakate«, sage i. »Den Rest überlaßt ihr mir.«

Anouk fliegt mir stürmis um den Hals. Sie riet na Salz und Wind,

na Erde und braigem Wasser. Ihr zerzaustes Haar ist naß vom Regen.

»Kommt alle mit rauf in mein Zimmer!« ru sie dit an meinem Ohr.

»Sie dürfen do, nit wahr, Maman, sag, daß sie dürfen. Wir können

sofort anfangen, i hab Papier und Stie und –«

»Sie dürfen«, erwidere i.


Eine Stunde später hängt ein großes Plakat im S aufenster  – Anouks

Entwurf, ausgeführt von Jeannot. Der Text, in großen, unbeholfenen grünen

Bu staben, lautete:
GROSSES SCHOKOLADENFEST BEI

LA CÉLESTE PRALINE

BEGINN: OSTERSONNTAG

ALLE SIND EINGELADEN

KAUFEN SIE, SOLANGE DER VORRAT REICHT ‼!

Der Text ist eingerahmt von versiedenen phantasievoll gezei neten


Figuren. Eine Gestalt in einem langen Gewand und mit einer hohen Krone

soll wohl den Papst darstellen. Zu seinen Füßen sind aus Buntpapier

ausges niene Gloen aufgeklebt. Alle Gloen laen.

I verbra te fast den ganzen Na miag damit, die Kuvertüre zu

bearbeiten und das Fenster neu zu dekorieren. Mehrere Lagen grünes

Seidenpapier sollten das Gras andeuten. Links und re ts he ete i


Papierblumen an den Fensterrahmen  – Osterglo en und Margeriten, von

Anouk gebastelt. Aus aufeinandergestapelten leeren Ble dosen, die einmal


Kakaopulver enthalten en,
ha wurde mit Hilfe von dunkelgrünem

Seidenpapier ein zerklüeter Berg. Obenauf kam zerkni ertes


Cellophanpapier als glitzernde Eiss it. Am Fuß des Berges entlang

s längelt si ein Ba  aus blauem Seidenband, auf dem ein paar bunte

Hausboote in das Tal dümpeln. Im Vordergrund eine bunte Sar von

S okoladentieren: Katzen, Hunde, Hasen, einige mit Augen aus Rosinen,

Ohren aus rosa Marzipan, S wänzen aus Lakritz und Zu erblumen


zwis en den Zähnen  … Und Mäuse. Auf jeder verfügbaren Fläe Mäuse.

Auf dem Berghang, in dunklen E en, sogar auf den Booten. Rosafarbene

und weiße Spe mäuse, S okoladenmäuse in allen Farben, mit

Maras inocreme marmorierte ete


Nougatmäuse, buntges

Fondantmäuse, Marzipanmäuse in zarten Frühlingsfarben. Und in der Mie

der Raenfänger in seinem leutend rot und gelb gemusterten Wams, in


der einen Hand eine Zu erstange als Flöte und in der anderen seinen Hut.
In meiner Küe habe i Hunderte von Formen, leite aus Plastik für die

Ostereier und Sokoladenfiguren, swere aus Keramik für die Kameen und

die gefüllten Pralinen. Mit Hilfe dieser Formen kann i jeden

Gesitsausdru gestalten und ihn dann auf einen Kopf aus Hohlsokolade

kleben, dazu Haare aus dur eine feine Presse gedrütem Marzipan.

Körper und Gliedmaßen werden extra hergestellt und die Einzelteile zum

S luß mit Draht und gesmolzener Sokolade miteinander verbunden  …


Darüber ein roter Umhang aus dünn ausgerolltem Marzipan. Dazu eine

Tunika, ein Hut in derselben Farbe mit einer Feder, die den Boden neben

seinen Stiefeln strei . Mit seinem roten Haar und seinem bunten Kostüm

erinnert mein Ra enfänger ein bißen an Roux.



I kann ni t widerstehen; das Fenster wirkt einladend genug, aber i 
komme ni t gegen die Versu ung an, es no  ein wenig zu vers önern.
I sließe die Augen und überziehe es mit einem goldenen Glanz, stelle ein
unsitbares Sild auf, das wie ein Leuurm strahlt  – KOMMT ALLE

HER. I möte den Mensen etwas geben, möte sie glüli maen;

damit kann i do keinen Saden anriten. Mir ist bewußt, daß dies eine

Reaktion auf Carolines Feindseligkeit gegenüber dem fahrenden Volk ist,

aber in meiner momentanen Begeisterung kann i  darin ni ts Sletes


sehen. I  möchte, daß sie kommen.
Seit meiner letzten Begegnung mit ihnen habe i  sie hin und wieder

gesehen, do  sie seinen mißtrauis und seu, wie Stadtfüse, die na
Abfällen suen, aber jeden Kontakt mit den Mensen meiden. Meistens

sehe i Roux, ihren Botsaer  – mit Einkäufen in Kartons oder

Plastiktüten unter dem Arm  –, manmal Zézee, die magere junge Frau

mit dem Ring in der Augenbraue. Gestern abend haben zwei Kinder

versu t, vor der Kire Lavendel zu verkaufen, aber Reynaud hat sie
fortgesit. I rief sie zurü, do sie waren zu sehr auf der Hut und

warfen mir feindselige Blie zu, ehe sie den Hügel hinunterrannten.

I war so sehr in meine Vorbereitungen und die Gestaltung meines

Saufensters vertie, daß i die Zeit vergaß. Anouk mate in der Küe

Buerbrote für ihre Freunde, dann zogen sie wieder in Ritung Flußufer ab.
I  s altete das Radio ein und sang vor mi  hin, während i  die Pralinen

und Trü ffel sorgsam zu Pyramiden stapelte. Der Zauberberg hat eine

Ö ffnung, eine mit Sätzen gefüllte Höhle; lauter bunte Süßigkeiten glänzen
und glitzern wie Edelsteine. Dahinter, dur  die verkleideten Regale vor dem

Li  t 
ges ützt, liegen die zum Verkauf vorgesehenen Waren. I  muß

eigentli  sofort mit der Herstellung des Ostersortiments beginnen, da i  in

der Osterzeit mit mehr Kunds  a re ne. Zum Glü  bietet der kühle

Keller genug Lagerraum. 


I muß Ges  enkkartons, S leifen,

Cellophantüten und anderen Osters   mu bestellen. I  war so bes  ä igt,

daß i  beinahe ni  t gehört  hä e, wie Armande dur  die halb

o ffenstehende Tür eintrat.


»Guten Tag«, sagte sie in ihrem übli  en brüsken Ton. »I  wollte mir

eigentli   no eine Tasse von Ihrer S  okoladenspezialität gönnen, aber wie

i  sehe, haben Sie zu tun.«

Vorsi  tig kle  erte i  aus dem Fenster.

»Nein, nein«, erwiderte i    


. »I ha e Sie s on erwartet. Außerdem bin

i  fast fertig, und mein Rü   en bringt mi um.«

»Also, wenn i  Sie ni  …


t störe  « Sie war irgendwie anders als sonst. In

ihrer Stimme lag eine gewisse S  ärfe, eine gewollte Beiläu figkeit, mit der

sie ihre gewaltige Anspannung zu überspielen su  te. Sie trug einen

s  warzen Strohhut mit einem bunten Hutband und einen ebenfalls

s  warzen Mantel, der nagelneu aussah.

»Sie sind aber s  i heute«, bemerkte i  .

Sie la  te kurz auf.

»Das hat s on lange niemand mehr zu mir gesagt«, erwiderte sie,

während sie mit dem ausgestre  ten Zeige finger auf einen der Barho  er

deutete. »Glauben Sie, es würde mir gelingen, auf einen von diesen Ho  ern

hier zu kle  ern?«

»I  hole Ihnen einen Stuhl aus der Kü  e«, s lug i  vor, do  die alte

Dame hielt mi  mit einer herris  en Geste zurü  .

»Unsinn!« Sie beäugte den Ho  er. »In meiner Jugend war i  sehr

ges  i t im Kle ern.« Sie 


ra e ihren langen Ro   ho , so daß ihre

robusten S  nürstiefel und di  e, graue Strümpfe zum Vors  ein kamen.


»Meistens bin i  auf Bäume gekle ert und habe die Passanten mit kleinen

Zweigen beworfen. Ha!« Sie stieß ein zufriedenes Grunzen aus, als sie si  ,

mit einer Hand auf die  eke gestützt, auf den Ho   er s wang. Unter ihrem

Ro  blitzte kurz etwas leu  tend Rotes auf.

Stolz und mit si  selbst zufrieden thronte Armande auf dem Ho  er und

glä  ete sorgfältig ihren Ro  über dem roten Unterkleid.

»Rote Seidenunterwäs  e«, sagte sie grinsend, als sie meinen Bli 
bemerkte. »Wahrs  einli  halten Sie mi  für eine alte Närrin, aber mir

gefällt sie. I  trage s  on seit so vielen Jahren Trauer  – jedesmal, wenn es

soweit ist, daß i  wieder mit Anstand bunte Farben tragen könnte, fällt der

nä ste tot um –, daß i es inzwisen aufgegeben habe, etwas anderes als
S warz zu tragen.« Sie sah mi strahlend an. »Aber Unterwäsche  – das ist

etwas ganz anderes.« Sie senkte vers  wöreris  die Stimme. »I  bestelle

sie per Katalog aus Paris«, sagte sie. »Kostet mi  ein Vermögen.« Sie la  te


lautlos in si ’
hinein. »So, wie wär s mit einer Tasse S  okolade?«

 
I ma te sie stark und dunkel und wegen ihres Diabetes mit so wenig

Zu  er wie mögli  . Armande ha  e mi  jedo  beoba  tet und zeigte

vorwurfsvoll mit dem Finger auf die Tasse.

»Hier wird ni ts rationiert!« befahl sie. »Geben Sie mir alles, was

dazugehört. S  okostreusel, einen von diesen S  okoladenrührlö ffeln, alles.

Fangen Sie bloß ni    t au no an wie die anderen, die alle glauben, i 


könnte ni  
t selbst auf mi aufpassen. Sehe i  etwa so aus, als wäre i 
senil?«

I  gab zu, daß das ni  t der Fall war.

»Na also.« Mit si  tbarer Genugtuung nippte sie an dem süßen Getränk.

»Gut. Hmmm. Sehr gut. Es heißt, so was bringt Energie, ni  t wahr? Das ist

ein, wie heißt es glei  , ein Aufputs   mi el, stimmt s?« ’


I   ni te.

»Und außerdem ein Aphrodisiakum , wie i gehört habe«, fügte sie

verwegen hinzu, während sie über den Tassenrand lugte. »Diese alten

Kna  er aus dem Café da drüben sollten si  in a  t nehmen. Man ist nie zu

alt, um si  zu amüsieren!« Sie bra  in s  rilles Gelä  ter aus. S  rill und
aufgekratzt, die knorrigen Hände unruhig. Mehrmals faßte sie an ihre

Hutkrempe, wie um den Hut zure tzurüen.


Hinter der eke saute i heimli auf die Uhr, aber sie bemerkte es

trotzdem.

»Er wird ni t kommen«, sagte sie troen. »Mein Enkelsohn. Jedenfalls


rene i nit damit.« Jede ihrer Gesten strae ihre Worte Lügen. Die

Sehnen an ihrem Hals zeineten si ab wie bei einer alten Tänzerin.

Eine Weile plauderten wir über dieses und jenes; über die Dinge, die die

Kinder si für das Fest ausgedat haen  – Armande bog si vor Laen,
als i ihr von dem Jesus und dem Papst aus Sokolade erzählte  –, über die

fahrenden Leute. Anseinend hae Armande Lebensmiel für die Leute am

Fluß auf ihren Namen bestellt, sehr zum Unwillen von Reynaud. Roux

wollte ihr das Geld ersta en, do  sie mö te lieber, daß er ihr dafür ihr

undi tes Da  repariert. Georges Clairmont wird einen Tobsu tsanfall


bekommen, wenn er davon erfährt, wie sie mir spitzbübis  grinsend

erklärte.

»Er bildet si  ein, er sei der einzige, der mir helfen kann«, sagte sie

zufrieden. »Er und Caro stehen si  in nits na, sie versuen dauernd,
mir einzureden, mein Haus sei feut und ungesund. In Wirklikeit wollen

sie mi nur da raushaben. I soll mein sönes Haus aufgeben und in so

ein lausiges Altenheim ziehen, wo man um Erlaubnis bien muß, wenn man

zum Klo will!« sagte sie empört. Ihre swarzen Augen funkelten erbost.

»Denen werd i’s zeigen«, fuhr sie fort. »Roux hat auf dem Bau

gearbeitet, bevor er unter die fahrenden Leute gegangen ist. Er und seine

Freunde werden mein Da  son riten. Und lieber bezahle i diese Leute
für ihre ehrlie Arbeit, als mir mein Da von diesem Swakopf

umsonst reparieren zu lassen.«

ernden Händen rüte sie ihren Hut zuret.


Mit zi

»I rene nit mit ihm, wissen Sie.« Ihre Stimme klang wieder so

gereizt wie anfangs.

I wußte, daß sie nit mehr von derselben Person redete. I warf einen
Bli auf meine Uhr. Zwanzig na vier. Es begann bereits dunkel zu

werden. Und i war mir so sicher gewesen … Das kommt davon, wenn man
si  einmis  t, sagte i  mir entnervt. Wie lei  t fügt man si  selbst und

anderen ungewollt Leid zu.

»I  habe nie geglaubt, daß er kommen würde«, fuhr sie in demselben

s  arfen Ton fort. »Dafür wird sie s  on gesorgt haben. Sie hat ihn gut

erzogen.« Mühsam begann sie von ihrem Ho  er zu kle ern. »I  habe

s  on zuviel von Ihrer Zeit in Anspru  genommen«, sagte sie knapp. »I 


muß  –«
»M-Mémée.«

Sie fährt so abrupt herum, daß i  


für te, sie stürzt. Der Junge steht still

in der Tür. Er trägt Jeans und ein Matrosenhemd und auf dem Kopf eine

Baseballmütze. In der Hand hält er ein kleines, zerlesenes Bu  . Er spri t

leise und unsi  er.

»I  mußte w-warten, bis meine M-Mu er weg war. Sie ist beim Frisör.

Sie k-kommt erst um se  s wieder n-na  Hause.«

Armande s  aut ihn an. Sie berühren si   ni t, aber i  spüre, daß si 


zwis  en ihnen etwas abspielt wie eine elektris  e Entladung. Es ist zu

komplex, als daß i  es benennen könnte, aber i  spüre Wärme und Wut,

Verlegenheit und S uldgefühle  – und über allem die Freude über das

Wiedersehen.

»Du bist ja völlig dur  näßt. I   ma e dir etwas Heißes zu trinken«, sage

i und gehe in die Kü  e. Beim Weggehen höre i  den Jungen etwas sagen,

leise und zögernd.

»Danke für das B-Bu  «, sagt er. »I  habe es mitgebra  t.« Er hält es

ho  wie eine weiße Fahne. Es ist ni  t mehr neu, sondern so abgegri ffen
wie ein Bu  , das immer wieder gelesen wurde. Als Armande es registriert,

vers  windet der angespannte Ausdru  aus ihrem Gesi  t.

»Lies mir dein Lieblingsgedi  t vor«, sagt sie.

Während i  in der Kü  e S okolade in zwei große Tassen gieße, Sahne

und Cognac hineinrühre, während i  mit Töpfen und Tellern klappere, um

ihnen das Gefühl zu geben, daß sie ungestört sind, höre i  den Jungen das

Gedi  t vortragen, anfangs steif und gestelzt, do  dann gewinnt er

Selbstvertrauen und findet seinen Rhythmus. I  kann die Worte ni t

verstehen, aber es klingt fast wie ein Gebet.


Mir fällt auf, daß der Junge beim Vorlesen ni  
t sto ert.

Vorsi  tig stellte i  die beiden Tassen auf die eke. Als er mi   dur die

Tür treten sah, bra  der Junge mi  en im Satz ab und s  aute mi   zuglei

hö fli und mißtrauis  an. Sein Haar fiel ihm in die Stirn wie die Mähne

eines s  euen Ponys. Er bedankte si  mit ausgesu  ter Hö flikeit und

nippte eher argwöhnis  als genüßli  an seiner S  okolade.

»Eigentli  d-darf i  so was n-ni  t trinken«, sagte er. »Meine Mu  er

sagt, von S  -S okolade kriegt man P-Pi  el.«

»Und i  riskiere, daß i  tot umfalle«, sagte Armande ke .

Sie la  te, als sie sein Gesi  t sah.

»Komm s  on, mein Junge, zweifelst du denn niemals an dem, was deine

Mu  er sagt? Oder hat sie dir das biß  en Verstand, das du von mir geerbt

haben könntest, s  on restlos ausgetrieben?«

Luc starrte sie verda  ert an.

»D-das sagt sie j-jedenfalls immer«, erwiderte er lahm.

Armande s ü elte den Kopf.

»Also, wenn i  hören will, was Caro zu sagen hat, dann verabrede i 
mi  mit ihr«, sagte sie. »Was hast du denn zu sagen? Du bist do  ein

aufgewe  tes Kerl  en, oder zumindest warst du das früher. Also, was

meinst du?«

Luc trank einen kleinen S  lu .

»I  meine, daß sie viellei  t ein biß  en übertreibt«, sagte er zagha 


lä  elnd. »I fi nde, du siehst ziemli fi t aus.«

»Und i  
hab keine Pi el«, sagte Armande.

Er la  
te verblü . So ge fiel er mir s  on besser, seine Augen leu  teten

heller, und sein s   elmis es Lä  eln ähnelte dem seiner Großmu  er. Er war

immer no  auf der Hut, aber hinter seiner Reserviertheit s  ien ein kluger

Kopf mit einem ausgeprägten Sinn für Humor verborgen. Er trank seine

S okolade aus, lehnte jedo  ein Stü   Ku en ab, obwohl Armande zwei

aß. Sie redeten eine halbe Stunde lang ausgiebig miteinander, während i 
so tat, als ginge i  meiner Arbeit na  . Ein- oder zweimal bemerkte i  , wie
der Junge mi  neugierig ansah, do  sobald i  auf ihn aufmerksam wurde,

wandte er si   ab. I beließ es dabei.

Um halb se   s ma te Luc si  auf den Heimweg. Es wurde kein weiteres

Tre ffen vereinbart, aber die selbstverständli  e Art, mit der sie si 
voneinander verabs  iedeten, ließ darauf s  ließen, daß sie beide dasselbe

da  ten. Es überras  te mi  , wie sehr sie 


si ähnelten, wie sie si 
aufeinander zu tasteten wie alte Freunde, die si   na Jahren wiedersehen.

Sie haben die glei  e Gestik, dieselbe direkte Art, einen anzusehen, die

hohen Wangenkno  en, das kantige Kinn. Wenn er reserviert ist, ist die

Ähnli  keit ni  t so deutli  zu sehen, aber wenn er munter wird,

vers  windet die einstudierte Hö flikeit, die Armande so sehr mißfällt.


Armandes Augen leu  ten unter ihrer dunklen Hutkrempe. Luc ist

entspannt, sein Sto  ern wirkt nur no  wie ein lei  tes Zögern, fällt kaum

no  auf. I  sehe, wie er in der Tür stehenbleibt, viellei  t weil er überlegt,

ob er sie zum Abs  ied küssen soll. Vorerst jedo  gewinnt die für sein Alter

typis  e Abneigung gegen jede Art Körperkontakt die Oberhand. Er hebt die

Hand zu einem s  euen Gruß, dann ist er vers  wunden.

Armande dreht si  mit glühenden Wangen zu mir um. Einen Augenbli 


lang ist ihr Gesi  t unges  ützt. Liebe, Ho ffnung und Stolz liegen in ihrem
Bli  . Dann kehrt die Reserviertheit zurü  , die sie mit ihrem Enkel

gemeinsam hat, und sie klingt gewollt lo  er, als sie mit einem ruppigen

Unterton sagt: »Das war s  ön, Vianne. Viellei  t komme i  Sie no  mal

besu  en.« Dann s  aut sie mi  auf ihre direkte Art an und berührt meinen

Arm. »Sie haben es ges  a , daß er hergekommen ist«, sagte sie. »Allein

hä   e i das nie zuwege gebra  t.«

I  zu te die A  seln.

»Irgendwann früher oder später wäre es passiert«, sagte i  . »Luc ist kein

Kind mehr. Er muß lernen, selbst Ents eidungen zu tre ffen.«


Armande s  ü elte den Kopf.

»Nein, es liegt an Ihnen«, sagte sie trotzig. Sie stand so di t bei mir, daß

i  ihr Maiglö  en-Parfüm rie  en konnte. »Es weht ein anderer Wind im
Dorf, seit Sie hier sind. I  spüre es genau. Jeder spürt es. Alles kommt in

Bewegung. Huii!« rief sie amüsiert aus.

»Aber i   ma e do  gar ni  ts«, widerspra  i und mußte mitla  en.

»I  kümmere 
mi nur um meine eigenen Angelegenheiten. I  führe

meinen Laden. I  bin einfa   i selbst.« Obs  on i   la en mußte, war

mir plötzli  beklommen zumute.

»Egal«, sagte Armande. »Es liegt trotzdem an Ihnen. Sehen Sie si   do

nur an, was si  alles verändert hat; i  , Luc, Caro, die Leute unten am

Fluß«  – sie ma  te eine Kop  ewegung in Ri  tung Les Marauds  –, »und

selbst er dort drüben in seinem Elfenbeinturm. Wir alle sind dabei, uns zu

verändern. Wir kommen auf Trab. Wie eine alte Uhr, die man wieder

aufgezogen hat.«

Es erinnerte mi  zu sehr an meine eigenen Gedanken, die mir in der

vergangenen Wo  e dur  den Kopf gegangen waren. I   s ü elte he  ig

den Kopf.

»Es liegt ni t an mir«, sagte i  . »Es ist Reynaud. Ni  


t i .«

Plötzli   tau te in meinem Kopf ein Bild auf, als hä   e i eine Karte

umgedreht. Der S  warze Mann in seinem Turm mit der großen Uhr, der

das Uhrwerk immer s  neller laufen läßt, der die Veränderung einläutet, vor

Gefahren warnt, uns alle aus der Stadt läutet  … Und dann sah i  plötzli 
einen alten Mann im Be  , mit S  läu en in Nase und Armen, und der

S warze Mann stand trauernd oder triumphierend über ihn gebeugt,

während hinter ihm die Flammen loderten  …


»Ist er sein Vater?« I  spra  die ersten Worte aus, die mir in den Sinn

kamen. »I  meine  – der alte Mann, den er besu  t. Im Krankenhaus. Wer

ist er?«

Armande s  aute mi  verblü  an.

»Woher wissen Sie davon?«

»Man  mal habe i –   so eine Ahnung.« Aus irgendeinem Grund s  eute

i mi , ihr von meiner Wahrsagerei mit der S okolade zu erzählen,

s eute mi  davor, die Worte auszuspre  en, die mir von meiner Mu  er so

vertraut waren.
»Eine Ahnung.« Armande wirkte neugierig, stellte jedo  keine weiteren

Fragen.

»Es gibt also tatsä  li einen alten Mann?« 


I konnte mi  des

Eindru  s ni t erwehren, daß i  auf etwas Wi  tiges gestoßen war.

Viellei  t eine Wa ffe in meinem heimlien Kampf mit Reynaud.


»Wer ist er?« beharrte i  .

Armande zu  te die A  seln.

»Ein Priester«, sagte sie verä  


tli . Mehr bekam i   ni t aus ihr heraus.

Donnerstag, 27. Februar

Als i  heute morgen den Laden aufs  loß, stand Roux vor der Tür. Er trug

einen Jeans-Overall und ha  e sein Haar im Na  en zusammengebunden. Er

s ien s  on eine Weile gewartet zu haben, denn in seinem Haar und auf

seinen 
S ultern ha en si dur  den Morgennebel kleine Tröpf en

gebildet. Er s  enkte mir ein angedeutetes Lä  eln, dann s  aute er an mir

vorbei in den Laden, wo Anouk gerade frühstü  te.

»Hallo, kleine Fremde«, sagte er. Diesmal war das Lä eln, das sein

Gesi  t kurz erhellte, e  t.

»Kommen Sie rein. Sie hä  en klopfen sollen. I  habe Sie da draußen

ni  t gesehen.«

Roux murmelte etwas in seinem starken Marseiller Dialekt und trat

zögernd ein. Er bewegt si  seltsam ges  meidig und unbeholfen zuglei  ,

als fühle er si  in ges  lossenen Räumen ni  t wohl.

I s enkte ihm eine große Tasse mit einem S uß Cognac ein.

»Sie hä  en Ihre Freunde mitbringen sollen«, sagte i  beiläu fig.


Er zu  te die S  ultern. I  bemerkte, wie er si  im Laden umsah und

alles um si  herum interessiert, fast mißtrauis  betra  tete.

»Nehmen Sie do  Platz«, sagte i  und deutete auf die Ho  er vor der

 eke. Roux s ü elte den Kopf.


lu. »I wollte Sie eigentli fragen, ob Sie
»Danke.« Er trank einen S

mir vielleit helfen können. Uns.« Er klang zuglei verlegen und ärgerli.

»Es geht nit um Geld«, fügte er eilig hinzu, wie um einer möglien

Absage zuvorzukommen. »Wir würden natürli dafür bezahlen. Wir haben

einfa Swierigkeiten mit … der Organisation.«

I bemerkte den Groll in seinem Bli.

»Armande  … Madame Voizin … hat gesagt, Sie würden uns helfen«, sagte
er.

 sweigend zuhörte und hin


Er erläuterte mir die Situation, während i

und wieder aufmunternd nite. I begriff allmähli, daß er keineswegs

unfähig war, si klar und deutli auszudrüen, sondern daß es ihm

zutiefst widerstrebte, um Hilfe bien zu müssen. Trotz seines starken

Dialekts spra Roux wie ein intelligenter Mann. Er habe Armande

versproen, ihr Da zu reparieren, erklärte er. Es sei nit besonders

swierig und würde nur ein paar Tage in Anspru nehmen. Leider gehöre

der einzige Laden im Ort, wo man Holz, Farbe und alle sonstigen Utensilien

erstehen könne, Georges Clairmont, und der weigere si  kategoris , ihm

oder Armande das nötige Material zu verkaufen. Wenn seine

Swiegermuer ihr Da reparieren lassen wolle, hae er ihm besieden,


dann solle sie si gefälligst an ihn wenden und nit an irgendwele

dahergelaufenen Zigeuner. Er habe ihr sließli seit Jahren angeboten, das

Da in Ordnung zu bringen, und zwar umsonst. Es sei nit auszudenken,

was passieren könne, wenn sie die Zigeuner erst einmal in ihr Haus ließe.

Wertsa en, Geld, sie würden garantiert alles mitgehen lassen, was ni t
nietund nagelfest sei  … Es wäre nit das erstemal, daß eine alte Frau um

ihrer bes eidenen Habe willen mißhandelt oder erslagen würde  … Nein,
es sei ein absurdes Ansinnen, und er könne beim besten Willen nit …

»Dieser seinheilige Bastard«, ziste Roux. »Er glaubt, über uns

Beseid zu wissen  – er hat keine Ahnung. Wenn man ihm glaubt, sind wir

alle Diebe und Mörder. I habe immer für alles bezahlt. I habe no nie

gebeelt, habe immer gearbeitet.«

»Trinken Sie no eine Tasse Sokolade«, sagte i san und senkte

ihm na. »Nit jeder denkt wie Georges und Caroline Clairmont.«
»Das weiß i  .« Seine Haltung war immer no  abweisend, die Arme vor

der Brust vers  ränkt.

»Clairmont hat mir s  on einmal Baumaterial geliefert«, fuhr i  fort.

»I  werde ihm sagen, i  würde no  ein paar Dinge im Haus renovieren.

Wenn Sie mir eine Liste geben, werde i  das Material für Sie bestellen.«

»I  werde für alles bezahlen«, wiederholte er no  einmal, als könne er

mir seine Absi   


t ni t o genug beteuern. »Das Geld ist wirkli   ni t das

Problem.«

»Selbstverständli   ni t.«

Er entspannte si  ein wenig und trank no  einen S   


lu S okolade.

Zum erstenmal s  ien er zu bemerken, wie gut sie s   me te, denn er

lä  elte mi  plötzli   beglü t an.

»Armande ist gut zu uns«, sagte er. »Sie besorgt uns Lebensmi  el und

Medikamente für Zéze  es Baby. Und sie hat si  für uns eingesetzt, als euer

Priester, dieser Pfa ffe mit dem Pokergesit, wieder auaute.«


»Er ist ni  t mein Priester«, unterbra i ihn. »In seinen Augen bin i 
genauso ein Eindringling hier in Lansquenet wie Sie.« Roux sah mi 
verblü  an. »I  glaube, er sieht in mir einen verderbli  en Ein fluß auf die
Gemeinde. Jede Na  t S okoladenorgien. Fleis li e Exzesse, wenn

anständige Leute längst brav im Be  liegen, und zwar allein.«

Seine Augen sind so verhangen wie der Regenhimmel über der Stadt.

Wenn er la  t, funkeln sie s  alkha . Anouk, die während seines Beri  ts

ungewöhnli  still dagesessen ha  e, ließ si  von seinem La  en anste  en.

»Willst du denn ni  t frühstü  en?« krähte sie. »Wir haben pains au

chocolat. Und Croissants. Aber die pains au chocolat sind besser.«


Er s ü elte den Kopf.

»I glaube ni  t«, sagte er. »Danke.«

I legte ein S  okocroissant auf einen Teller und stellte ihn neben seine

Tasse.

»Gratis«, sagte i  . »Probieren Sie, i  ma e sie selbst.«

Irgendwie ha  e i etwas Fals  


es gesagt. I sah, wie das Funkeln aus

seinen Augen vers  wand und sein Gesi  


t si wieder ver finsterte.
»I  kann bezahlen«, sagte er fast trotzig. »I habe Geld.« Er holte eine
Handvoll Münzen aus seiner Hosentase. Ein paar davon rollten über die

eke.
»Steen Sie das weg«, sagte i.

»I hab gesagt, i kann bezahlen.« Seine einstudierte Gleigültigkeit

slug in Unmut um. »I muß mir nit –«

I legte meine Hand auf seine. Einen Augenbli lang spürte i seinen

Widerstand, bis unsere Blie si trafen.

»Niemand muß irgend etwas tun«, sagte i freundli. I begriff, daß

i mit meiner freundsalien Geste seinen Stolz verletzt hae. »I habe

Sie eingeladen.« Er starrte mi unverändert feindselig an. »I habe jeden

eingeladen, der zum erstenmal in meinen Laden kam«, fuhr i fort. »Caro

Clairmont. Guillaume Duplessis. Sogar Paul-Marie Muscat, den Mann, der

Sie aus dem Café geworfen hat.« I  ma te eine kleine Pause, um meine

Worte sinken zu lassen. »Wieso meinen Sie, meine Einladung auss lagen zu
können?«

Er senkte verlegen den Bli  und murmelte etwas Unverständlies in


seinen Bart. Dann saute er mi an und läelte.

»Tut mir leid«, sagte er. »I hae Sie mißverstanden.« Er zögerte

unbeholfen, bevor er na dem Croissant griff. »Aber nästesmal lade i

Sie zu mir na Hause ein«, sagte er in entsiedenem Ton. »Und falls Sie

ablehnen, werde i das als große Beleidigung auffassen.«

en, und er wurde zusehends ungezwungener.


Von da an war das Eis gebro

Nadem wir eine Weile über belanglose Dinge geplaudert haen, begann er

von si zu erzählen. I erfuhr, daß Roux seit ses Jahren mit dem

Hausboot unterwegs war, anfangs allein, später hae er si seinen

Gefährten angeslossen. Er hae früher als Handwerker auf dem Bau

gearbeitet und verdiente sein Geld immer no mit Reparatur- und

Renovierungsarbeiten oder im Sommer und Herbst als Erntehelfer. Aus

loß i, daß es Probleme gegeben hae, dur die er


seinen Erzählungen s

zu dem unsteten Leben gezwungen worden war, unterließ es jedo

wohlweisli, mi na Einzelheiten zu erkundigen.


Als meine ersten Stammkunden ers ienen, verabsiedete er .
si

Guillaume, wie immer mit Charly auf dem Arm, grüßte ihn hö fli, und

Narcisse ni te  zu, do es gelang mir nit, Roux zum


ihm freundli

Bleiben zu überreden. Er stope si den Rest seines pain au chocolat in den

Mund und wandte si mit jenem Ausdru stolzer Unnahbarkeit, mit dem

er si von Fremden distanziert, zum Gehen. An der Tür drehte er si

abrupt um.

»Vergessen Sie ni t, daß Sie eingeladen sind«, sagte er. »Samstag abend
um sieben. Und bringen Sie die kleine Fremde mit.«

No  bevor i ihm danken konnte, war er verswunden.


Guillaume blieb länger als gewöhnli . Narcisse ma te seinen Platz für

Georges frei, dann kam Arnauld unde drei Champagner-Trüffel  –


kau

jedesmal das gleie: drei Champagner-Trüffel und im Gesit ein Ausdru

suldbewußter Vorfreude  –, und Guillaume saß immer no auf seinem

Stammplatz, das smale Gesit von Kummer getrübt. I versute

mehrmals, ihn aufzumuntern, do er blieb einsilbig, mit den Gedanken

woanders. Charly lag träge und reglos unter seinem Hoer.

»I habe gestern mit Reynaud gesproen«, sagte er sließli so

unvermielt, daß i zusammenfuhr. »I habe ihn gefragt, was i mit

Charly tun soll.«

I sah ihn fragend an.


»Es ist so swer, ihm das zu erklären«, fuhr er leise fort. »Er findet es

egoistis von mir, nit auf den Tierarzt zu hören. Slimmer no, er hält

mi für verrüt. Charly ist sließli kein Mens.« Er hielt inne, und i

spürte, wie swer es ihm fiel, die Fassung zu wahren.

»Ist es wirkli so slimm?«

Aber i kannte die Antwort. Guillaume saute mi mit traurigen

Augen an.

»I  glaube son.«
»Verstehe.«

Er beugte si  zu Charly hinunter, um ihn hinter den Ohren zu kraulen.


Der Hund slug meanis mit dem Swanz und begann leise zu
winseln.

»Guter Hund.« Guillaume lä  elte mi  s ü tern an.

»Curé Reynaud ist kein s  le ter Mens  . Er meint es ni  t so brutal, wie

es klingt. Aber so etwas zu sagen  


– auf so eine s onungslose Art  …«
»Was hat er denn gesagt?«

Guillaume zu  te die A  seln. »Er hat gesagt, i  würde mi   s on seit

Jahren zum Narren ma  en mit dem Hund. Er meinte, ihm wäre es ja egal,

aber es wäre einfa   


lä erli , ein Tier so zu verhäts  eln, als wäre es ein

Mens  , oder Geld für eine sinnlose Behandlung beim Tierarzt zu

vers  wenden.«

I spürte Ärger in mir aufsteigen.

»Das war gemein von ihm, so etwas zu sagen.«

Guillaume s  ü elte den Kopf.

»Er versteht das ni  t«, sagte er no  einmal. »Er mag einfa  keine Tiere.

Aber Charly und i  sind s  on so lange zusammen  …« Ihm standen Tränen


in den Augen, und er wandte si  ab, um sie zu verbergen.

»Sobald i  ausgetrunken habe, gehe i  zum Tierarzt.« Seine Tasse stand

seit zwanzig Minuten leer auf der  eke. »Es muß ja no   ni t heute sein,

ni  t wahr?« Es lag fast so etwas wie Verzwei flung in seiner Stimme. »Er ist
do   no ganz munter. Neuerdings frißt er au  wieder besser. Niemand

kann mi dazu zwingen.« Jetzt klang er wie ein störris  es Kind. »Wenn es

soweit ist, werde i  es wissen. Da bin i  mir ganz si  er.«

Es gab ni  ts, was i  zu seinem Trost hä e sagen können. I  versu te

es trotzdem. I  beugte mi  hinab, um Charly zu strei  eln, spürte seine

Kno  en unter dem dünnen Fell. Man  e Dinge können geheilt werden.

Wärme strömte aus meinen Fingern, während i  vorsi  tig das Ausmaß des

Tumors zu erspüren versu  te. Der Knoten war größer geworden. I  wußte,

es war ho ffnungslos.
»Es ist Ihr Hund, Guillaume«, sagte i  . »Sie wissen am besten, was gut

für ihn ist.«

»Das stimmt.« Einen Augenbli  lang wirkte er erlei  tert. »Die

Medikamente nehmen ihm die S  merzen. Er winselt ni  t mehr die ganze

Na  t.«
I  mußte daran denken, wie es meiner Mu  er in ihren letzten Monaten

gegangen war. Wie blei  sie gewesen war, wie ihr Fleis  von den Kno  en

zu s  melzen s  ien, bis sie s  ließli  wie ein zartes, zerbre  li es Skele 
wirkte. Ihre großen, fiebrigen Augen  – Florida, Liebes, New York, Chicago,

der Grand Canyon, es gibt so viel zu sehen!  –, ihr leises Wimmern in der

Na  t.

»Irgendwann muß man einfa   au ören«, sagte i  . »Es ist zwe los.

Man verste   t si hinter Re  tfertigungen, setzt si  nur no  kurzfristige

Ziele, um die Wo  e zu überstehen. Irgendwann ist der Verlust der Würde

s limmer als alles andere. Irgendwann brau  t man einfa  Ruhe.«

In New York eingeäs  ert, die As  e im Hafen verstreut. Komis  , daß

man si  immer vorstellt, man würde im Be  sterben, umgeben von seinen

Lieben. Sta  dessen, viel zu häu fig, die kurze, verwirrende Begegnung, die

plötzli  e Erkenntnis, die zeitlupenartige, panis  e Flu  t vor dem

Hintergrund der aufgehenden Sonne, die wie ein Pendel auf einen

zus  wingt, egal wie s  nell man versu  t, vor ihr davonzurennen.

»Wenn i  die Wahl hä  e, wüßte i  , wie i   mi ents  eiden würde.

Die s  merzlose Spritze. Die freundli  e Hand. Besser so, als mi  en in der

Na  t auf der Straße unter die Räder eines Taxis zu geraten, wo keiner

stehenbleibt und si  darum kümmert.« Plötzli  wurde mir bewußt, daß i 


laut gespro  en ha  e. »Verzeihen Sie, Guillaume«, sagte i  , als i  sein

entsetztes Gesi  t sah. »I  habe an jemand anderen geda  t.«

»Ist s  on in Ordnung«, sagte er ruhig, während er ein paar Münzen auf

die  eke legte. »I  wollte sowieso gerade gehen.«

Dann hob er Charly auf, nahm seinen Hut und ging, ein wenig gebeugter

als gewöhnli  , eine kleine, uns  einbare Gestalt mit einem Bündel unter

dem Arm, das genausogut eine Tüte mit Einkäufen, ein alter Regenmantel

oder etwas ganz anderes hä  e sein können.

Samstag, 1. März
I beobate ihren Laden. I  gebe zu, daß i  das tue, seit sie im Dorf

angekommen ist; i  sehe, wer ein- und ausgeht, wer si  Zeit nimmt, um

mit ihr zu plaudern. I  beobate das Treiben in ihrem Laden, so wie i als
Junge das Gewimmel in einem Wespennest verfolgt habe, fasziniert und

abgestoßen zuglei . Anfangs gingen sie klammheimli  hin, in der

Abenddämmerung oder früh am Morgen. Taten so, als seien sie ganz

normale Kunden. Hier eine Tasse Ka ffee, dort eine Tüte Süßigkeiten für die
Kinder. Aber jetzt ist die Heimlituerei vorbei. Die Zigeuner gehen

inzwisen ganz selbstverständli in ihren Laden, starren im Vorbeigehen

herausfordernd in mein Fenster; der Rothaarige mit dem arroganten Bli,

die magere junge Frau und das junge Mäden mit den gebleiten Haaren

und der Araber mit dem kahlgesorenen Sädel. Sie kennt sogar ihre

Namen; Roux und Zézee und Blane und Mamhed. Gestern hat der

Lieferwagen von Clairmont Baumaterial bei ihr abgeladen; Holz und Farbe

und Da pappe. Der Fahrer hat das Material wortlos vor ihre Tür gestapelt.
Sie hat ihm einen Se ausgestellt. Und dann mußte i zusehen, wie ihre

Freunde die Kisten und Kartons und Eimer grinsend auf ihre Sultern

paten und sie na Les Marauds abtransportierten. Das Ganze war ein

abgekartetes Spiel. Ein perfides, abgekartetes Spiel. Aus irgendeinem Grund

ist sie entslossen, sie zu unterstützen. Das mat sie natürli nur, um mir

eins auszuwisen. Und mir bleibt nits anderes übrig, als würdevoll zu

sweigen und dafür zu beten, daß sie seitert. Aber sie mat meine

Aufgabe so viel swerer! Slimm genug, daß i mi um Armande Voizin

kümmern muß, die ihnen auf ihre Renung Lebensmiel kau. Leider bin

i zu spät eingesrien. Die Zigeuner haben si inzwisen mit genug

Vorräten für mindestens zwei Woen eingedet. Was sie für den täglien

Bedarf an frisen Lebensmieln brauen  – Brot und Mil  –, besorgen sie

si flußaufwärts in Agen. Bei dem Gedanken, daß sie no länger bleiben

könnten, kommt mir die Galle ho. Aber was soll i tun, wenn diese Leute

si au no mit ihnen anfreunden? Sie könnten mir sagen, was i tun

soll, Vater, wenn Sie nur spreen könnten. Und i weiß, Sie würden ohne

zu zögern Ihre Pflit tun, wie unangenehm sie au sein möte. Wenn Sie

mir nur sagen könnten, was i tun soll. Ein leiter Händedru würde mir
genügen. Ein Zu en mit den Augenlidern. Irgend etwas, das mir zeigte, daß
mir vergeben wird.

 nit. Nur das swerfällige Zisen der Masine,


Nein? Sie rühren si

die Sie am Leben hält, indem sie Sauerstoff in Ihre gesundenen Lungen

pumpt. I weiß, daß Sie son bald aufwaen werden, geheilt und

geläutert, und daß mein Name das erste Wort sein wird, das Sie ausspreen.

Sehen Sie, i glaube an Wunder. I, der i dur das Feuer gegangen bin.

I glaube.

I hae mir vorgenommen, heute mit ihr zu spreen. Ganz sali, ohne
ihr Vorwürfe zu maen, wie von Vater zu Toter. I war mir sier, daß

sie mi verstehen würde. Unsere erste Begegnung hae unter sleten

Vorzeien gestanden. Aber i date, wir könnten no einmal von vorne

anfangen. Sie sehen, Vater, i war bereit, ihr entgegenzukommen. Bereit,

Verständnis zu zeigen. Aber als i auf den Laden zuging, sah i, daß dieser

Roux bei ihr war. Er fixierte mi mit seinen harten Augen und dem für

seinesgleien typisen spöis-arroganten Bli. In der Hand hielt er eine

Tasse mit irgendeinem Getränk. Er wirkte gefährli, regelret gewalätig,

in seinem smutzigen Overall und mit seinen langen, ungepflegten Haaren,

und einen Augenbli lang war i um das Wohl der Frau besorgt. Ist ihr

denn gar nit klar, auf wele Gefahr sie si einläßt, wenn sie mit diesen

Leuten verkehrt? Sorgt sie si denn nit um si und um ihr Kind? I

wollte gerade kehrtmaen, als mir ein Plakat im Fenster auffiel. Eine Weile

lang tat i so, als würde i es studieren, während i sie  – die beiden  –

heimli beobatete. Sie hae ein weinrotes Kleid an, und sie trug ihr Haar

offen. I hörte sie laen.

Dann las i, was auf dem Plakat stand. Es war in einer ungelenken

Kindersri gesrieben.

GROSSES SCHOKOLADENFEST BEI

LA CÉLESTE PRALINE

BEGINN: OSTERSONNTAG

ALLE SIND EINGELADEN


Mit wasendem Unwillen las i es no einmal. Drinnen war immer no
ihr Laen und das Klappern von Gesirr zu hören. Sie war so in ihr

Gesprä vertie, daß sie mi no gar nit bemerkt hae. Sie stand mit

dem Rüen zur Tür, einen Fuß abgewinkelt wie eine Balleänzerin. Sie trug

flae Ballerinasuhe mit kleinen Sleifen und keine Strümpfe.


BEGINN: OSTERSONNTAG

Jetzt wird mir alles klar.

Ihre Bosheit, ihre Gehässigkeit. Sie muß es von Anfang an geplant haben,

dieses Sokoladenfest, und zwar ausgere net am hö sten lien


kir

Fesag. Seit dem Tag ihrer Ankun  zu Karneval muß sie es im Silde

geführt haben, um meine Autorität zu untergraben, um meine Lehre zu

verspoen. Sie und ihre Freunde mit den Hausbooten.


I häe mi auf dem Absatz umdrehen und gehen sollen, do i war

zu aufgebrat und betrat den Laden. Ein höhnises Geklingel ertönte, als

i die Tür öffnete, und sie drehte si läelnd zu mir um. Häe i nit

gerade erst mit eigenen Augen den unwiderlegbaren Beweis für ihre

Niedertra t gesehen, i häe swören können, daß das Läeln et war.
»Monsieur Reynaud.«

Im ganzen Laden du et es na Sokolade. Es riet ganz anders als der
löslie Kakao, den i als Junge getrunken habe, es ist ein sweres Aroma,

so betörend wie von den fris gerösteten Kaffeebohnen auf dem Markt,

vermist mit dem Du von Amareo und Tiramisu, ein kräiger, rauiger

Wohlgeru, der mir das Wasser im Mund zusammenlaufen läßt. Auf der

eke steht eine silberne, mit dem Gebräu gefüllte Kanne, aus der heißer
Dampf aufsteigt. Mir wird bewußt, daß i no nit gefrühstüt habe.

»Mademoiselle.« I wünste, meine Stimme würde mehr Strenge

ausdrüen. Aber die Wut snürt mir die Kehle zu, und sta der Worte

gereten Zorns, die i loslassen wollte, bringe i nur ein empörtes

Kräzen hervor, wie ein höflier Fros. »Mademoiselle Roer.« Sie

saut mi fragend an. »I habe Ihr Plakat gesehen!«

»Das freut mi«, erwidert sie. »Darf i Ihnen etwas zu trinken

anbieten?«

»Nein!«
»Mein chococcino tut gut, wenn man einen rauhen Hals hat.«

»I  habe keinen rauhen Hals!«

»Wirkli   ni t?« fragt sie mit gespielter Besorgnis. 


»I ha e den

Eindru  , Sie seien ein biß en heiser. Mö  ten Sie viellei  t lieber einen

grand crème? Oder einen Mokka?«

Mit Mühe gewinne i  die Fassung wieder.

»Danke, i   mö te Ihnen keine Umstände ma  en.«

Der Rothaarige neben ihr la  t leise in si  hinein und murmelt irgend

etwas in seiner Gossenspra  e. Mir fallen Farbspuren an seinen Händen auf,

feine, weiße Linien an den Knö  eln und Hand fläen. Hat er irgendwo

Arbeit gefunden? frage i   mi beunruhigt. Und falls ja, bei wem? Wenn

wir in Marseille wären, würde er wegen S  warzarbeit verha et werden.

Eine Hausdur   su ung auf seinem Boot würde genug Beweise zutage

fördern  – Drogen, Diebesgut, Pornographie, Wa ffen  –, um ihn für den Rest


seines Lebens hinter Gi  er zu bringen. Aber wir sind in Lansquenet. Hierher

würde si  die Polizei nur bemühen, wenn ein Gewaltverbre  en

sta  gefunden hä  e.

»I  habe Ihr Plakat gesehen.« Mit soviel Würde, wie i   au ringen kann,

versu   e i es no  einmal. Sie s  aut mi  hö fli fragend an, ein Funkeln


in den Augen. »I 
– hier muß i mi räuspern, weil mir die
muß sagen« 

Galle son wieder in den Hals gestiegen ist  –, »i muß sagen, daß i den

Zeitpunkt, den Sie für Ihr  … für Ihre Veranstaltung  … gewählt haben,

äußerst unpassend finde.«


»Den Zeitpunkt?« fragt sie uns  uldig. »Sie meinen das Osterfest?« Sie


lä   
elt mi  s elmis an. »I da te, das wäre Ihr Gebiet«, sagt sie


tro 
en. »Sie sollten si mit dem Papst auseinandersetzen.«

 I starre sie eiskalt an.

 »I 
glaube, Sie wissen genau, was i meine.«

 S fl 
on wieder dieser hö i fragende Bli .

 »S okoladenfest. Alle sind eingeladen.« Meine Wut steigt auf wie


überko  ende Mil , unkontrollierbar. In diesem Augenbli  fühle i   mi

stark,  
meine Wut verleiht mir Kra . I zeige mit dem Finger auf sie.

 
»Glauben Sie ja ni  t, i würde ni t dur s auen, was Sie vorhaben.«
»Lassen Sie mi  raten.« Ihre Stimme ist san, sie klingt interessiert. »Es
ist ein persönlier Angriff auf Sie. Ein Versu, die Fundamente der

katholisen Kire zu unterminieren.« Sie lat so srill auf, daß sie si

selbst verrät. »Go bewahre uns davor, daß ein Sokoladengesä zu

Ostern Ostereier verkau.« Ihre Stimme klingt unsier, beinahe ängstli,

obwohl i mir nit sier bin, wovor sie si fürtet. Der Rothaarige

starrt mi feindselig an. Dann faßt sie si mit Mühe, und die Furt, die

i zuvor in ihren Augen gesehen hae, ist verswunden.

»I bin mir sier, daß in diesem Ort genug Platz für uns beide ist«, sagt

sie ruhig. »Wollen Sie wirkli keine Tasse Sokolade? I könnte Ihnen

erklären, was i –«

I süele heig den Kopf, wie ein Hund, der von einem Swarm

Wespen aaiert wird. Ihre Ruhe mat mi rasend, in meinem Kopf

beginnt es zu summen, und es kommt mir so vor, als würde si der ganze

Raum um mi herum drehen. Der süße Sokoladendu raubt mir den

Verstand. Meine Sinne sind plötzli auf unnatürlie Weise gesär; i

riee ihr Parfüm, einen Hau von Lavendel, den Du ihrer Haut. Hinter

ihr swebt eine andere Duwolke, der Geru na Sumpf, na

Masinenöl und Sweiß und Farbe, den der Rothaarige ausdünstet.

»I … nein … i …« Es ist wie ein Alptraum, i habe vergessen, was i

sagen wollte. Irgend etwas über Respekt, glaube i, über Verantwortung der

Gemeinde gegenüber. Über die Pflit, an einem Strang zu ziehen, über

Retsaffenheit, Anstand und Moral. Sta dessen ringe i na Lu, und

alles swimmt in meinem Kopf.

»I … i …« I bin mir sier, daß sie das alles bewirkt, daß sie mir den

Verstand vernebelt  … Sie beugt si mit gespielter Besorgnis vor, und erneut

überwältigt mi ihr Du.

»Geht es Ihnen nit gut?« I höre ihre Stimme wie aus weiter Ferne.

»Monsieur Reynaud, geht es Ihnen nit gut?«

Mit ziernden Händen stoße i sie fort.

»Es ist nits.« Endli finde i meine Sprae wieder. »Eine  … leite

Unpäßlikeit. Nits weiter. Guten Tag.« Und dann stürze i blindlings auf

die Tür zu. Mein Gesit strei ein rotes Säen, das im Türrahmen
baumelt  – ein weiterer Beweis für ihren Aberglauben  –, und i kann mi
des absurden Eindru s ni t erlie Ding mein
erwehren, daß dieses lä

Unbehagen ausgelöst hat, ein Säen voller Kräuter und Knoen, das dort

aufgehängt wurde, um mir meinen Seelenfrieden zu rauben. Na Lu

ringend stürze i auf die Straße.

Kaum bin i in den Regen hinausgetreten, bin i wieder bei klarem

Verstand. Aber i gehe weiter und weiter. I bin immer weitergegangen,

bis zu Ihnen, Vater. Mein Herz klope wie wild, und der Sweiß lief mir in

Strömen über den Rüen, aber endli fühlte i mi von ihrer Gegenwart

gereinigt. Ist es das, was Sie gefühlt haben, mon père, damals in der alten

t der Versuung?
Kanzlei? Ist das das Gesi

Der Löwenzahn breitet si aus, seine bieren Bläer durbreen die

swarze Erde, seine weißen Wurzeln fressen si tief ins Erdrei hinein.

Bald wird er blühen. Auf dem Heimweg werde i am Fluß entlanggehen,

Vater, und mir das swimmende Dorf ansehen, das immer größer wird, das

si immer weiter auf dem Tannes ausbreitet. Seit meinem letzten Besu

sind no mehr Boote eingetroffen, und der Fluß ist regelret mit ihnen

gepflastert. Man könnte troenen Fußes von einem Ufer zum anderen

gehen.

ALLE SIND EINGELADEN.

Ist es das, was sie beabsi tigt? Will sie diese Leute anlo en, der

Aussweifung Vorsub leisten? Wie hart haben wir gekämp, um diese


heidnisen Traditionen auszumerzen, Vater, wie leidensali haben wir

gepredigt. Das Osterei, den Osterhasen, diese immer no lebendigen

Symbole des Heidentums entlarvt. Eine Zeitlang waren wir makellos. Aber

sie zwingt uns, von neuem mit der Säuberung zu beginnen. Diesmal sind sie

stärker, bieten uns einmal mehr die Stirn. Und meine Herde, meine dumme,

vertrauensselige Herde, wendet si  ihr zu, hört auf ihre Worte  … Armande
Voizin. Mi el Narcisse. Guillaume Duplessis. Joséphine Muscat. Georges

 die Namen aller nennen, die auf


Clairmont. Morgen in der Predigt werde i

sie hören. I werde ihnen sagen, daß das Sokoladenfest nur ein Teil des

sündigen Ganzen ist. Ihre Freundsa mit den Zigeunern. Ihre Veratung
für unsere Si en e. Ihr Einfluß auf unsere Kinder. All dies sind
und Bräu

Anzeien für die verderblien Auswirkungen ihrer Anwesenheit.

Ihr Fest wird nit stafinden. Läerli, anzunehmen, daß sie damit

durkommen kann, wenn sie mit so viel Widerstand renen muß. I

werde jeden Sonntag in meiner Predigt gegen das Fest weern. I werde

die Namen der Kollaborateure laut vorlesen und für ihre Erlösung beten. Die

Zigeuner haben jetzt on


s Unruhe in die Gemeinde gebrat. Muscat

beswert si, daß sie ihm die Kunden vergraulen. Der Lärm von ihren

Booten, die Musik, die Feuer haben Les Marauds in eine s wimmende
Holzbudenstadt verwandelt, der Tannes ist mit einem glänzenden Ölfilm

überzogen, und lauter Abfall treibt den Fluß hinunter. Und seine Frau wollte

sie tatsäli in ihrem Café freundli bedienen, wie i höre. Zum Glü
läßt Muscat si von diesen Leuten nit einsütern. Clairmont hat mir

erzählt, er hat sie sofort rausgeworfen, als sie es letzte Woe gewagt haben,

sein Café zu betreten. Sie sehen also, mon père, sie sind Feiglinge, au wenn

sie no so großspurig aureten. Muscat hat den Weg, der na Les Marauds

hinunterführt, bloiert, damit sie nit mehr ins Dorf kommen. Im Moment

sind sie no vorsitig, legen eine Verslagenheit an den Tag, die für diese

Leute typis ist, jederzeit bereit, die geringste Swäe auszunutzen. Aber

wie alle Aasfresser sind sie nur mutig, solange sie si auf ihrem eigenen

Territorium bewegen. Vier von ihnen haben die Flut ergriffen  – unter

ihnen Roux  –, ansta si einem offenen Kampf mit Muscat zu stellen. I

verabseue Gewalt, Vater, aber im Moment würde i sie begrüßen. Dann

häe i einen Vorwand, die Polizei aus Agen kommen zu lassen. I werde

no einmal mit Muscat reden. Er wird wissen, was zu tun ist.

Samstag, 1. März

Roux ’ Boot gehört zu den unmielbar am Flußufer liegenden, etwas abseits


von den anderen Booten und ist direkt Armandes Haus gegenüber vertäut.
Heute war es mit Papierlampions ges müt, die wie leu tende Frü te
am Bug aufgehängt waren, und auf unserem Weg die steile Straße na  Les
Marauds hinunter stieg uns son von arfe
weitem der s Du von

gegrilltem Fleis in die Nase. Armandes Fenster standen weit offen, und das

Lit aus dem Haus warf unregelmäßige Muster auf das Wasser. Mir fiel auf,

daß keinerlei Müll herumlag, wie sorgfältig selbst der kleinste Abfall

eingesammelt und zum Verbrennen in die großen Ble tonnen geworfen

wurde. Von einem der Booteflußabwärts war Gitarrenmusik zu


weiter

hören. Roux saß auf der kleinen Mole und saute ins Wasser. Ein paar von

seinen Freunden haen si bereits zu ihm gesellt, unter ihnen Zézee, eine

junge Frau namens Blane und Mamhed, der Nordafrikaner. Neben ihnen

brutzelte etwas auf einem tragbaren Kohlegrill.

Anouk rannte sofort auf das Feuer zu. I  hörte, wie Zéze e sie mit

saner Stimme warnte: »Vorsitig, Liebes, das ist heiß.«


Blane reite mir eine mit Glühwein gefüllte Henkeltasse, die i
läelnd entgegennahm.

»Probieren Sie mal.«

Der Wein war süß und krä ig, mit Zitrone und Muskat gewürzt, und so
stark, daß er in der Kehle brannte. Zum erstenmal seit Woen herrste

klares Weer, und unser Atem bildete weiße Wölken in der stillen

Abendlu. Über dem Fluß lag eine dünne Nebelsit, die hier und da von

den Litern auf den Booten erleutet wurde.

»Pantoufle will au was davon«, sagte Anouk und deutete auf den Topf

mit dem Glühwein. Roux grinste.

»Pantou fle?«
»Anouks Kanin en«, erkläre i ihm. »Ihr … imaginärer kleiner Freund.«
»I weiß nit ret, ob Pantoufle das smeen würde«, sagte er.

»Sollen wir ihm vielleit lieber etwas Apfelsa geben?«

»I frag ihn mal«, erwiderte Anouk.

Roux wirkte hier ganz anders, wesentli ungezwungener, wie er da im

Feuersein stand und seinen Grill überwate. Es gab Flußkrebse, Sardinen,

frise Maiskolben, Süßkartoffeln, Äpfel in Zuer gewälzt und in heißer

Buer karamelisiert, die Pfannkuen mit Honig. Wir aßen mit den
Fingern von Ble  tellern und tranken Cidre und Glühwein. Ein paar Kinder

spielten mit Anouk am Flußufer. Später gesellte si  Armande zu uns und

wärmte si  die Hände über dem Grill.

»Wenn i  nur ein biß  en jünger wäre«, seufzte sie. »So etwas würde i 
mir jeden Abend gefallen lassen.« Sie fiste eine Kartoffel aus der Glut und
jonglierte damit zwis  en beiden Händen, um sie abkühlen zu lassen. »Als

Kind hab i  immer von so einem Leben geträumt. Ein Hausboot, lauter gute

Freunde, jeden Abend eine Party  …« Sie s aute Roux spitzbübis  an. »I 
glaube, i  werde einfa  mit Ihnen dur  brennen«, sagte sie. »I  hab s on

immer eine S   wä e für rothaarige Männer gehabt. I  mag zwar alt sein,

aber i we  
e, i könnte Ihnen immer no  das eine oder andere

beibringen.«

Roux grinste. Heute abend war ni  t die geringste Spur von Befangenheit

an ihm zu entde  en. Gut gelaunt s enkte er Cidre und Glühwein aus, auf

rührende Weise glü  li in seiner Rolle als Gastgeber. Er flirtete mit

Armande, ma  te ihr die ausgefallensten Komplimente, bis sie s  allend

la te. Er bra  te Anouk bei, wie man flae Steine über das Wasser hüpfen
läßt. Und s  
ließli zeigte er uns sein Boot, die kleine Kü e, den

Lagerraum mit dem Wassertank und den Vorratsregalen, die S   la abine

mit dem Plexiglasda  .

»Es war das reinste Wra  , als i  es gekau  habe«, erzählte er. »I  hab

es wieder in Ordnung gebra  t, und jetzt ist es genausogut wie ein Haus an

Land.« Er lä elte fast verlegen, als hä  e er gerade ein kindis  es Hobby

eingestanden. »All die Arbeit, nur damit i   na ts im Be  das Wasser

pläts  ern hören und die Sterne beoba  ten kann.«

Anouk war begeistert.

»Mir gefällt es«, erklärte sie. »I fi nd es ganz toll! Und es ist überhaupt

kein S   ro -, kein S  
ro -, überhaupt ni  t das, was Jeannots Mu  er immer

sagt.«

»Ein S   ro haufen«, sagte Roux san   


. I   s aute ers ro en zu ihm auf,

aber er la  te. »Nein, nein, wir sind gar ni    t so s le t, wie man  e Leute

glauben.«

»Wir glauben überhaupt ni  t, daß ihr s  


le t seid!« rief Anouk empört.
Roux zu te die Aseln.
Später wurde Musik gema t, eine Flöte, eine Geige und ein paar aus

leeren Konservendosen und Mülleimern improvisierte Trommeln. Anouk

blies auf ihrer Plastiktrompete, und die Kinder tanzten so wild und so di t
am Flußufer, daß wir sie ermahnen mußten, t
ni so nah am Wasser

herumzutoben. Es war s on fast Miernat, als wir uns verabsiedeten,


und obwohl ihr fast die Augen zufielen, protestierte Anouk heig.

»Keine Sorge«, sagte Roux. »Du kannst jederzeit wiederkommen.«

I  bedankte mi und nahm Anouk auf den Arm.


»Es wäre mir eine Ehre.« Einen Augenbli lang meinte i, Besorgnis in

seinem Bli zu sehen, als er an mir vorbei den Hügel hinaufsaute. Eine

Falte ersien zwisen seinen Augenbrauen.

»Was ist los?«

»I  bin mir nit sier. Wahrseinli ist es nits.«


Es gibt nur wenige Straßenlaternen in Les Marauds. Eine gelbe Laterne

vor dem Café de la République ist die einzige Beleu tung in der smalen
Gasse, die den Hügel hinaufführt. Dahinter weitet si die Avenue des

Francs Bourgeois zu einer hell erleuteten Allee aus. No einmal starrte er

mit zusammengezogenen Augen angestrengt in die Dunkelheit.

»I  date  häe jemanden den Hügel herunterkommen sehen,


nur, i

das ist alles. Aber i habe mi wohl getäust.«

I trug Anouk den Hügel hinauf. Hinter uns sane Musik. Zézee tanzte

auf der Mole, und ihr Saen huste im Sein des nur no swa

flaernden Feuers um sie herum. Als wir am Café de la République


vorbeikamen, fiel mir auf, daß die Tür einen Spalt weit offenstand, obwohl

im Café kein Lit brannte. Dann wurde sie leise geslossen, wie wenn

jemand eben no die Straße beobatet häe. Es häe aber au der Wind

gewesen sein können.


Sonntag, 2. März

Der März hat dem Regen ein Ende gema t. Der Himmel ist jetzt klar, ein

leu tendes Blau zwisen snell dahintreibenden Wolken, und über Nat
ist ein kräiger Wind aufgekommen, der in den Een pfei und an den

Fenstern rüelt. Die Kirengloen läuten wie wild, als häen au sie die

plötzlie Veränderung bemerkt. Die Weerfahne dreht si hektis hin

und her, ihr rostiges Sarnier quietst unablässig. In ihrem Zimmer singt

Anouk beim Spielen ein Lied vom Wind.

V’là l’bon vent, v’là l’joli vent

V’là l’bon vent, ma mie m’appelle

V’là l’bon vent, v’là l’joli vent

V’là l’bon vent, ma mie m’attend.

Märzwinde sind s lete Winde, pflegte meine Muer zu sagen. Aber der
Wind tut gut, er riet na Frühling und Ozon und Meersalz. Der März ist

ein guter Monat, er treibt den Februar dur die Hintertür hinaus, während

vor dem Haus son der Frühling wartet. Ein guter Monat für

Veränderungen.

Fünf Minuten lang stehe i  mit ausgebreiteten Armen allein auf dem

Dorfplatz und lasse mir den Wind dur die Haare gehen. 
I habe

vergessen, mir eine Jae anzuziehen, und der Wind baust meinen roten
Ro. I bin ein Drae, spüre den Wind, lasse mi von ihm über den

Kirturm hinweg, über mi selbst hinaus tragen. I verliere kurz die

Orientierung, sehe die rote Gestalt dort unten auf dem Dorfplatz, zuglei

hier und dort  – dann bin i wieder ganz bei mir. Außer Atem entdee i

Reynauds Gesit ganz oben an einem Fenster, seine dunklen Augen, die

mi voller Abseu anstarren. Er wirkt blei, trotz des hellen


Sonnens eins. Seine Hände umklammern den Fenstersims, und seine

Knö el sind ebenso weiß wie sein Gesit.


Der Wind ist mir in den Kopf gestiegen. I  winke Reynaud freundli zu
und gehe zurü  in meinen Laden. I weiß, er wird es als eine

herausfordernde Geste au ffassen, aber heute morgen ist mir das egal. Der

Wind hat meine Ängste fortgeweht. I  warzen Mann in


winke dem S

seinem Turm zu, und der Wind zup spieleris an meinem Ro. I bin in

Hostimmung. Voller freudiger Erwartung.

Die Stimmung seint au die Einwohner von Lansquenet erfaßt zu

haben. I beobate sie auf ihrem Weg zur Kire  – die Kinder rennen mit

ausgebreiteten Armen dur den Wind, die Hunde bellen aus Übermut, und

selbst die Gesiter der Erwasenen wirken trotz der vom Wind tränenden

Augen fröhli. Caroline Clairmont am Arm ihres Sohnes mit neuem Hut

und Mantel. Luc saut kurz zu mir herüber, läelt mir verstohlen hinter

vorgehaltener Hand zu. Joséphine und Paul-Marie Muscat Arm in Arm wie

ein Liebespaar, obwohl ihr Gesit unter der braunen Baskenmütze

verkni ffen und trotzig wirkt. Ihr Mann starrt mi   das Saufenster
dur

wütend an und bes leunigt seinen Sri. I entdee Guillaume, heute

ohne Charly, die bunte Plastikleine baumelt sinnlos an seinem Arm, und er

wirkt seltsam verloren ohne seinen Hund. Anouk s aut mi an und nit.
Narcisse bleibt stehen, um die Geranien vor dem Laden zu begutaten, reibt

ein Bla zwisen den Fingern, snuppert an dem grünen Sa. Trotz seiner

ruppigen Art ist er ein Leermaul, und i bin mir sier, daß er na der

Messe auf eine Tasse Mokka und ein paar Trüffel hereinkommen wird.

Der Klang der Gloen geht in ein tiefes, eindringlies Döhnen über  –

dong! dong!  –, während die Leute auf die offene Kirentür zuströmen. Vor

dem Portal steht Reynaud in einer weißen Soutane, die Hände gefaltet, mit

eifriger Miene, um sie zu begrüßen. I  , daß er zu mir


habe den Eindru

herübersaut, ein kurzer Bli über den Dorfplatz, ein leites Straffen der

Sultern unter der Soutane – aber i bin mir nit sier.

Mit einer Tasse Sokolade in der Hand, mae i es mir hinter der

eke gemütli und warte auf das Ende der Messe.


Der Go esdienst hat diesmal länger gedauert als gewöhnli. I nehme an,
daß Reynauds Erwartungen an seine Gemeinde in der vorösterlien Zeit

besonders groß sind. Erst na mehr als anderthalb Stunden kamen die

ersten Leute aus der Kire, die Köpfe gegen den Wind gesenkt, der fre an

Tüern und Sonntagsmänteln zerrte, mit plötzlier Unversämtheit unter

Röe fuhr und die kleine Herde über den Dorfplatz seute.

Arnauld grinste mi im Vorbeigehen verlegen an; keine

Champagnertrüffel heute morgen. Narcisse kam wie immer in den Laden,

do er war no wortkarger als sonst, zog eine Zeitung aus seinem

Tweedjae und beugte si lesend über seine Tasse. Eine Viertelstunde

später war die Häle der Gemeinde immer no in der Kire, und i nahm

an, daß sie auf die Beite warteten. I senkte mir no eine Tasse

Sokolade ein und wartete. Sonntags kommt das Gesä nur langsam in

Gang. Da braut man Geduld.

Plötzli sah i eine vertraute Gestalt in einem karierten Mantel dur

die halboffene Kirentür slüpfen. Joséphine saute si na allen Seiten

um, und als sie si vergewissert hae, daß niemand auf dem Dorfplatz war,

kam sie auf den Laden zugelaufen. Als sie Narcisse auf seinem Hoer sitzen

sah, zögerte sie einen Moment. Dann trat sie ein, die Fäuste sützend in die

Magengegend gedrüt.

»I kann nit bleiben«, sagte sie ohne zu grüßen. »Paul ist gerade bei

der Beite. I hab nur zwei Minuten.« Ihre Stimme klang gehetzt, die

Worte purzelten aus ihrem Mund wie Dominosteine.

»Sie müssen si  von diesen Leuten fernhalten«, sagte sie. »Von diesen

Zigeunern. Sie müssen ihnen sagen, sie sollen weiterziehen. Sie müssen sie

warnen.« Ihr Gesit war angespannt, und sie rang nervös die Hände.
I  saute sie an.
»Joséphine, bie, nehmen Sie Platz. I mae Ihnen eine Sokolade.«

»Nein, das geht nit!« Sie süelte heig den Kopf, und ihr vom Wind

zerzaustes Haar fiel ihr ins Gesit. »I hab Ihnen do gesagt, i hab

keine Zeit. Tun Sie einfa, was i Ihnen sage. Bie.« Sie klang gehetzt und

ersöp und saute immer wieder zur Kire hinüber, als fürtete sie, bei

mir gesehen zu werden.


»Er hat in seiner Predigt gegen diese Leute gewe ert«, sagte sie hastig

und leise. »Und gegen Sie. Er spri t über Sie. Verbreitet Gerüte über Sie.«
I zute gleigültig die Aseln.
»Na und? Was kümmert mi das?«

Joséphine drüte si frustriert die Fäuste an die Släfen.

»Sie müssen sie warnen«, wiederholte sie. »Sagen Sie ihnen, sie sollen

weggehen. Und Sie müssen Armande warnen. Sagen Sie ihr, er hat heute in

der Kir e ihren Namen vorgelesen. Und Ihren au . Und meinen wird er

au vorlesen, wenn er mi hier sieht, und Paul –«


»I verstehe nit ret, Joséphine. Was kann er denn tun? Und warum

sollten wir uns um sein Gerede kümmern?«

»Sagen Sie es ihnen einfa , ja?« Ihr Bli  soß wieder ängstli  zur

Kir e hinüber. Ein paar Leute traten gerade aus der Tür. »I  kann ni t
länger bleiben«, sagte sie. »I  muß weg.« Sie wandte si zum Gehen.
»Joséphine, warten Sie  –«
Als sie si  umdrehte, war ihr Gesit ein Abbild des Grams. I sah, daß
sie den Tränen nahe war.

»Das passiert jedesmal«, sagte sie mit lier Stimme.


rauher, unglü

»Wenn i mal ein Freundin finde, mat er mir alles kapu. Es wird so

kommen wie immer. Und dann werden Sie längst fort sein, aber i …«

I trat einen Sri auf sie zu, wollte sie in den Arm nehmen. Aber

Joséphine wi mit einer unbeholfenen Abwehrgeste zurü.

»Nein! I kann nit! I weiß, Sie meinen es gut, aber i kann einfach

nicht!« Sie riß si mit Mühe zusammen. »Sie müssen das verstehen. I lebe

hier. I muß hier leben. Sie sind frei, Sie können gehen, wohin Sie

wollen  –«
»Sie au «, unterbra i sie san.
Sie saute mi an und berührte meine S ulter ganz lei t mit den

Fingerspitzen.

t«, sagte sie ohne Vorwurf. »Sie sind anders. Eine


»Das verstehen Sie ni

Zeitlang date i, i könnte au lernen, anders zu sein.«

Die Erregung war mit einemmal von ihr gewien, und sie starrte

geistesabwesend ins Leere, die Hände tief in den Manteltasen vergraben.


»Es tut mir leid, Vianne«, sagte sie. »I  hab’s wirkli  versu   t. I weiß,

es ist ni  t Ihre S  uld.« Einen Augenbli  lang verrieten ihre Züge wieder

ängstli  e Erregung. »Reden Sie mit den Leuten vom Fluß«, sagte sie

eindringli  . »Sagen Sie ihnen, sie müssen vers  winden. Es ist ni t ihre

S uld, aber i  will ni  t, daß jemandem etwas zustößt«, s  loß Joséphine

leise. »In Ordnung?«

I   zu te die A  seln.

»Es wird niemandem etwas zustoßen«, sagte i  .

»Gut.« Ihr gezwungenes Lä  eln versetzte mir einen Sti  . »Und ma  en

Sie si  keine Sorgen um mi  


. I komme s  on zure  t. Ganz bestimmt.«

Wieder dieses gequälte Lä  eln. Als sie an mir vorbei zur Tür ging, sah i 
etwas Glänzendes in ihrer Hand und bemerkte, daß ihre Manteltas  en mit

Modes   mu gefüllt waren. Armreifen, Halske  en, Ringe, alles ineinander

verheddert.

»Hier, das ist für Sie«, sagte sie lei  thin und hielt mir eine Handvoll ihrer

kostbaren Beute hin. »Nehmen Sie es ruhig. I  hab no  mehr davon.«

Dann drehte sie si  mit einem strahlenden Lä  eln um und ließ mi  mit

den Ke  en und Ohrringen und bunten Plastikperlen stehen, die zwis  en

meinen Fingern hervorquollen.

Später am Na  mi ag  
ma te i mit Anouk einen Spaziergang zum

Flußufer hinunter. Die kleine Flo  e der fahrenden Leute wirkte fröhli  im

hellen Sonnenli  t, Wäs  fl


e a erte an zwis  en den Booten gespannten

Leinen, und die Sonne spiegelte si  in den Fenstern und den bunt

angestri  enen Wänden. Armande saß in ihrem umzäunten Vorgarten in

einem S  aukelstuhl und s  aute auf den Fluß hinaus. Roux und Mamhed

kraxelten auf dem steilen Da  herum und befestigten lose Da  pfannen. I 


bemerkte, daß die verro eten Da  simse und Giebelwände ersetzt und

leu  tend gelb gestri  en worden waren. I  winkte den beiden Männern zu

und setzte mi  auf die Gartenmauer zu Armande, während Anouk zum

Ufer hinunterrannte, um ihre neuen Freunde zu besu  en.

Die alte Frau wirkte müde, und ihr Gesi  t unter der breiten Hutkrempe

war lei  t aufgedunsen. Ihre Handarbeit lag unberührt auf ihrem S  oß. Sie
ni  te mir zu, sagte jedo   ni ts. Ihr Stuhl s  aukelte fast unmerkli  , tick-
tick-tick, auf dem Gartenweg. Ihre Katze s  lief zusammengerollt zu ihren

Füßen.

»Caro war heute morgen hier«, sagte sie s  ließli  


. »I nehme an, i 
müßte mi  eigentli  geehrt fühlen.« Eine unwillige Kop  ewegung.

S aukeln.

Tick-tick-tick-tick.
»Für wen hält die si  eigentli  ?« raunzte sie unvermi elt. »Marie-

Antoine e?« Eine Weile versank sie in wütendes Grübeln, ihr S  aukeln

wurde he iger. »Bildet si  ein, sie könnte mir Vors  ri en ma en.

S leppt mir ihren Arzt ins Haus  –« Sie unterbra   si und starrte mi 
dur  dringend wie ein Raubvogel an. »Mis  t si in meine

Angelegenheiten ein. Das hat sie s  on immer versu  t, wissen Sie. Ihrem

Vater hat sie sonstwas erzählt.« Sie la  te kurz auf. »Jedenfalls hat sie das

ni  t von mir«, erklärte sie na   drü li . »Da können Sie Gi  drauf

nehmen. I  hab in meinem ganzen Leben keinen Arzt gebrau  t  – und au
keinen Priester  –, der mir gesagt hat, was i tun und lassen soll.«
Armande re  te ihr Kinn vor und s  aukelte no  energis  er.

»Ist Luc hiergewesen?« fragte i  .

»Nein.« Sie s  ü elte den Kopf. »Er ist zu einem S  a turnier in Agen

gefahren.« Ihr starrer Bli  wurde wei  er. »Sie weiß ni  t, daß er neuli 
im Laden war«, sagte sie zufrieden. »Und sie wird es au   ni t erfahren.«

Sie lä elte. »Er ist ein guter Junge, mein Enkel. Er weiß, wann er den Mund

halten muß.«

»Wie i  höre, wurden heute morgen in der Kir  e unsere Namen

genannt«, sagte i  . »Es heißt, man wir  uns vor, mit unerwüns  ten

Elementen zu verkehren.«

Armande s  naubte verä   tli .

»Was i  in meinem eigenen Haus tue, geht niemanden etwas an«, sagte

sie knapp. »Das hab i  Reynaud gesagt, und das hab i  damals au  Père

Antoine gesagt. Aber die kapieren das einfa  ni t. Kommen einem

dauernd mit demselben Ges  wätz. Gemeins  a ssinn. Traditionelle Werte.

Ewig dieselbe Moralpredigt.«


»Sie haben das also s  
on mal erlebt?« I wurde neugierig.

»Allerdings.« Sie ni   
te na drü li . »Vor Jahren. Reynaud muß damals

etwa in Lucs Alter gewesen sein. Natürli  sind dana   no mehrmals

fahrende Leute hiergewesen, aber sie sind nie geblieben. Jedenfalls bis jetzt

ni  
t.« Sie s aute zu ihrem halb fertiggestri  enen Haus auf. »Es wird

ri   
tig s ön, ni t wahr?« sagte sie zufrieden. »Roux sagt, bis heute abend

werden sie es ges  a haben.« Plötzli  runzelte sie die Stirn. »Es geht

keinen etwas an, ob i  ihn für mi  arbeiten lasse«, erklärte sie gereizt. »Er

ist ein ehrli  er Mann und ein guter Handwerker. Georges hat kein Re t,

mir da reinzureden. Absolut kein Re  t.«

Sie nahm ihre Handarbeit auf, legte sie jedo  wieder weg, ohne einen

einzigen Sti  getan zu haben.

»I kann mi   ni t konzentrieren«, sagte sie verstimmt. »S  limm

genug, daß man in aller Herrgo  sfrühe von diesem Glo  engebimmel

gewe  t wird, da fehlt es mir gerade no  , daß i  mir als erstes Caros

s einheiliges Gesi  t ansehen muß. Wir beten jeden Tag für dich, Mutter«,

ä e sie Caroline na  . »Wir möchten, daß du verstehst, warum wir uns

solche Sorgen um dich machen. In Wirkli keit sind sie um ihren guten Ruf

im Dorf besorgt. Es ist einfa  peinli  , eine Mu  er wie mi  zu haben, die

einen immer wieder daran erinnert, woher man kommt.«

Sie lä  elte zuglei  zufrieden und verbi  ert vor si  hin.

»Solange i  lebe, wissen sie, daß es jemanden gibt, der si  an alles

erinnert«, sagte sie. »Die S  wierigkeiten, die sie bekam, na  dem sie si 
mit diesem Jungen eingelassen ha  e. Wer hat denn dafür bezahlt, hä? Und

er  – Reynaud, der Mann mit der blütenweißen Weste  …« Ihre Augen

funkelten bosha    
. »I we e, i bin die einzige, die si   no an diese alte

Ges  i te erinnert. Es hat sowieso kaum jemand gewußt, damals. Es hä  e

der größte Skandal im Land werden können, wenn i  meinen Mund ni  t

gehalten hä  e.« Sie warf mir einen vers  mitzten Bli  zu. »Und s  auen Sie

mi  bloß ni  t so an, junge Frau. I  kann immer no  ein Geheimnis für

mi  behalten. Was glauben Sie, warum er mi  in Ruhe läßt? Er könnte

eine Menge unternehmen, wenn er wollte. Caro ’


hat s s  on probiert.«

Armande ki  erte s  adenfroh in si  hinein.


»I  date, Reynaud sei nit von hier«, sagte i neugierig.
Armande süelte den Kopf.

»Kaum jemand erinnert si daran«, sagte sie. »Er ist aus Lansquenet

weggegangen, als er no ein Junge war. Es war für alle Beteiligten besser

so.« Einen Moment lang hing sie ihren Erinnerungen na. »Aber diesmal

soll er si in at nehmen«, fuhr sie düster fort. »Er soll es nit wagen,

etwas gegen Roux oder seine Freunde zu unternehmen.« Der Humor war

wunden;
vers sie wirkte mit einemmal älter, zänkis , krank. »I  freue
mi, daß sie hier sind«, erklärte sieriger Stimme. »In ihrer
mit zi

Gegenwart fühle i mi wieder jung.« Die knoigen kleinen Hände

zupen nervös an der Stierei in ihrem Soß herum. Die Katze wate

dur die Bewegung auf und sprang snurrend auf ihren Soß. Als

Armande ihr den Kopf kraulte, langte sie verspielt mit der Pfote na ihrem

Kinn.

»Lari flete«, sagte Armande. Na einer Weile wurde mir klar, daß das der
Name der Katze war. »I habe sie son neunzehn Jahre. In Katzenjahren

ist sie also fast genauso alt wie i.« Sie snalzte mit der Zunge, und die

Katze snurrte no lauter. »Angebli habe i eine Allergie«, sagte

Armande. »Asthma oder so was. I hab ihnen gesagt, daß i lieber

erstien würde, als mi von meinen Katzen zu trennen. Allerdings gibt es

einige Menschen, auf die i gut und gerne verziten könnte.« Lariflete

rollte si zufrieden auf Armandes Soß zusammen. I saute zum Fluß

hinunter und sah Anouk mit zwei swarzhaarigen Kindern an der Mole

spielen. Anouk, die jüngste von den dreien, sien das Kommando

übernommen zu haben.

»Bleiben Sie do  zum Kaffee«, slug Armande vor. »I wollte sowieso
welen aufsetzen. I hab au Limonade für Anouk.«

I ging in Armandes kleine, niedrige Küe mit dem gußeisernen Herd

und setzte den Kaffee selbst auf. Alles ist blitzblank, do dur das einzige

winzige Fenster, das zum Fluß hinausgeht, fällt grünlies Lit herein, so

daß eine Atmosphäre entsteht wie unter Wasser. Von den dunklen

De enbalken baumeln Baumwollsä en mit getro neten Kräutern. An

den weißgetün ten Wänden hängen kupferne Pfannen und Töpfe an


eisernen Haken. In die Tür ist  – wie in alle Türen im Haus  – am unteren

Rand ein Lo  gesägt, damit die Katzen si  überall frei bewegen können.

Eine Katze saß auf dem Kü  ens rank und beoba  tete mi  , während i 
in einer emaillierten Ble 
ffee aurühte. Mir fiel auf, daß die
kanne den Ka

Limonade zuerfrei war, und in der Zuerdose befand si Süßstoff. Trotz

ihrer gespielten Tapferkeit s  eint sie do  gewisse Vorsi  tsmaßnahmen zu

tre ffen.
»Ekliges Zeug«, kommentierte sie ohne Groll, während sie ihren Ka ffee
aus einer ihrer handbemalten Tassen s   lür e. »Es heißt, man s   me e den

Unters  ied ni  t. Aber man s    me t es do .« Sie zog eine Grimasse.

»Caro bringt es immer mit, wenn sie kommt. Sie kontrolliert meinen

Kü   ens rank. Wahrs  einli  meint sie es gut. Sie ist eben eine dumme

Gans.«

I riet ihr, besser auf ihre Gesundheit zu a  ten.

Armande s  naubte verä  


tli .

»Wenn man erst mal in meinem Alter ist«, sagte sie, »geht es los mit den

Zipperlein. Dauernd hat man irgendwas anderes. So ist das nun mal im

Leben.« Sie nahm no  einen S   lu von dem bi eren Ka ffee. »Mit

se  zehn Jahren hat Rimbaud erklärt, er wolle soviel wie mögli  so intensiv

wie mögli  erleben. Nun, i  gehe auf die A  tzig zu, und langsam komme

i zu dem S  luß, daß er re  t ha e.« Sie grinste, und i  war überras  t,

wie jugendli  ihr Gesi  t wirkte. Eine Jugendli  keit, die weniger mit der

Hautfarbe oder den Konturen zu tun hat, als vielmehr mit einer inneren

Lebensfreude; es war der Bli  einer Frau, die gerade erst dabei ist, zu

entde  en, was das Leben zu bieten hat.

 
»I s ätze, Sie sind zu alt, um in die Fremdenlegion einzutreten«, sagte

i   lä elnd. »Und hat Rimbaud damals ni  


t au zu Exzessen geneigt?«

Armande grinste mi  spitzbübis  an.

»Ri  tig«, erwiderte sie. »Ein paar Exzesse könnte i   au gebrau  en.

Von jetzt an werde i  unmäßig sein  – und launenha – 


  , i werde laute

Musik hören und s auerli  e Gedi  te lesen. I  werde zügellos sein«,

erklärte sie selbstzufrieden.

I  mußte la  en.
»Sie sind wirkli  unglaubli «, sagte i  mit gespieltem Ernst. »Kein

Wunder, daß Sie Ihre Angehörigen zur Verzwei flung bringen.«


Aber obwohl sie mit mir la te und ausgelassen in ihrem S aukelstuhl
wippte, erinnere i  mi  heute weniger an ihr La en, als an das, was

hinter dem La en dursimmerte, diesen An flug von Leitsinn und

Übermut.

 mien in der Nat aus einem Alptraum erwate,


Und erst später, als i

an den i mi kaum erinnern konnte, wußte i, wo i diesen Bli son

einmal gesehen hae.

Wie wär’s mir Florida, Liebes? Die Everglades? Die Keys? Was hältst du

von Disneyland, chérie, oder New York, Chicago, dem Grand Canyon,

Chinatown, New Mexico, den Rocky Mountains?

Aber Armande fehlte die Angst, von der meine Mu er getrieben wurde,
das verzweifelte Ringen mit dem Tod, die Flu t in immmer wieder neue

Phantasiereisen. Bei Armande spürte i  nur den Hunger, die Gier, das

srelie Bewußtsein der Vergänglikeit.


I fragte mi, was der Arzt ihr an diesem Morgen tatsäli gesagt

hae, und wieviel sie wirkli begriff. No lange lag i wa und grübelte

über alles na, und als i endli einslief, träumte i, i sei mit

Armande in Disneyland, wo Reynaud und Caro uns Hand in Hand

entgegenkamen, sie als die Rote Königin und er als der Weiße Hase aus Alice

im Wunderland verkleidet, beide mit großen weißen Hands uhen wie die

Hände von Comic figuren. Caro trug eine rote Krone auf ihrem riesigen
Kopf, und Armande hae in jeder Hand einen Stiel mit Zuerwae.

Von irgendwo aus der Ferne hörte i die New Yorker Verkehrsgeräuse

näher kommen, das laute Hupen der Taxis.

te Reynaud, aber


»Um Gottes willen, iß das nicht, das ist giftig«, kreis

Armande stope si mit beiden Händen gierig die Zuerwae in den

Mund. I versute, sie vor dem Taxi zu warnen, do sie saute mi nur

an und sagte mit der Stimme meiner Muer: »Das Leben ist ein Fest, chérie,

jedes Jahr sterben mehr Mensen im Straßenverkehr, das ist statistis

erwiesen.« Dann mate sie si wieder auf diese srelie, gefräßige Art
über die Zu erwae her, und Reynaud wandte si  mir zu und kreis te
mit einer Stimme, die wegen ihrer s rillen Höhe um so bedrohlier klang:
»Das ist alles deine Schuld! Du mit deinem Schokoladenfest! Alles war in

Ordnung, bis du aufgetaucht bist, und jetzt sterben alle  – sie STERBEN

STERBEN STERBEN …« I  strete abwehrend die Hände aus.


»Es ist nit meine Suld«, flüsterte i, »sondern deine. Du bist der

Swarze Mann, du bist  –« Und dann stürzte i rüwärts dur den

Spiegel, und die Karten flogen in alle Ritungen um mi herum  – Neun

Schwerter, DER TOD. Drei Schwerter, DER TOD. Der Turm, DER TOD. Der

Wagen, DER TOD.


I wa te reiend
s auf. Anouk stand über mir, das t
Gesi

lafverquollen und angsterfüllt.


s

»Maman, was ist los?«

Ihre Arme legen si warm um meinen Hals. Sie riet na Sokolade
und Vanille und friedliem Slaf.

»Nits. I hab nur geträumt. Weiter nits.«

Sie tröstet mi mit ihrer sanen Kinderstimme, und i komme mir vor

wie in einer verkehrten Welt, als würde i in ihr versinken wie eine

Meeressnee in ihrem Gehäuse, als würde i mi um mi selbst

drehen, während ihre Hand kühl auf meiner Stirn liegt, ihr Mund in meinem

Haar.

»Fort-fort-fort«, murmelt sie me anis. »Böser Geist, mach dich davon.


Jetzt ist es gut, Maman. Es ist alles fort.« I weiß nit, wo sie diese Dinge

aufsnappt. Meine Muer sagte sole Dinge, aber i kann mi nit

erinnern, sie Anouk je beigebrat zu haben. Und do benutzt sie sie wie

vertraute Formeln. Einen Moment lang klammere i mi an sie, vor Liebe

wie gelähmt.

t wahr, Anouk?«
»Es wird alles gut, ni

»Na klar.« Ihre Stimme klingt klar und erwasen und selbstsier. »Klar
wird alles gut.« Sie legt ihren Kopf an meine Sulter und kuselt si an

mi. »I hab di lieb, Maman.«

Draußen zeigen si die ersten Streifen der Dämmerung am Horizont. I

halte meine Toter fest in den Armen, während sie wieder einslä, und
ihr Loen kitzeln mi im Gesit. Ist es das, wovor meine Muer si
immer fürtete? I frage mi, während i dem Zwitsern der Vögel

lause  – zuerst ein einzelnes Krah-krah, dann ein ganzes Konzert  –, ist es

das, wovor sie flütete? Nit ihr eigener Tod, sondern die zahllosen

Begegnungen mit anderen Mensen, die abgebroenen Kontakte, die

ungewollt entstehenden Bindungen, die Verantwortung? Sind wir all die

Jahre vor unseren Gefühlen davongelaufen, vor unseren Freunds aen, den
beiläu fig ausgesproenen Worten, die ein Leben verändern können?
I versu e, mi  an meinen Traum zu erinnern, an Reynauds Bli   –
den verzweifelten Ausdru  in seinem Gesit, ich komme zu spät, ich

komme zu spät   er auf der Flut vor einem unvorstellbaren


–, au

Sisal, zu dessen Teil i unabsitli geworden bin. Aber der Traum hat

si aufgelöst, seine Teile haben si wie Karten im Wind zerstreut. Swer

zu sagen, ob der Swarze Mann der Verfolger oder der Verfolgte ist. Swer

zu sagen, ob er wirkli der Swarze Mann ist. Sta dessen sehe i wieder

das Gesit des weißen Kaninens vor mir  – wie das Gesit eines

ängstlien Kindes auf einem Karussell, das verzweifelt versut

auszusteigen.

»Wer läutet die Veränderungen ein?«

In meiner Verwirrung halte i  die Stimme für die eines anderen; eine

Sekunde später begreife i ,


 laut gesproen habe. Aber als i
daß i

wieder in den Slaf sinke, bin i mir fast sier, daß i eine andere

Stimme antworten höre, eine Stimme, die mi sowohl an Armande als au

an meine Muer erinnert.

Du, Vianne, sagt sie san.

Du.

Dienstag, 4. März
Das erste Grün auf den Feldern ma t die Landsa lieblier, als wir beide
es gewohnt sind. Von weitem wirkt es üppig und saig  – ein paar frühe

Bienen sti eln die Lu  über den zarten Halmen, so daß die Felder wie

slarunken wirken. Aber wir wissen, daß in zwei Monaten nur no 


Stoppeln übrig sein werden, verbrannt von der Sonne, die Erde ausgedörrt

 Disteln wasen. Ein


und aufgesprungen, eine rote Kruste, auf der nur no

heißer Wind fegt alles weg, was an frutbarem Boden no übrig ist, und

bringt Dürre ins Land, und darauf folgt eine stiige Windstille, in der

Krankheiten gedeihen. I erinnere mi no an den Sommer 1975, mon

père, an die glühende Hitze und den heißen weißen Himmel. In jenem

Sommer folgte Plage auf Plage. Zuerst die Zigeuner, die in ihren

smuddeligen Booten über den halb ausgetro neten Fluß angekro en
kamen und in Les Marauds im S lamm auf Grund liefen. Und dann die

Krankheit, die erst ihre Tiere und dann die unsrigen be fiel; eine Art

Wahnsinn. Zuerst verdrehten sie die Augen, zu ten hilflos mit den Beinen,
weigerten si  trotz ihrer aufgedunsenen Körper zu trinken, sließli

witzen und zu ziern und verendeten unter Wolken von


begannen sie zu s

swarzen Fliegen, o Go, es lag ein Gestank in der Lu, durdringend und

süßli wie von verfaulendem Obst. Erinnern Sie si? Das war der Sommer,

als Sie hierherkamen, Vater. So heiß, daß die wilden Tiere aus dem

ausgetro neten Sumpf bis an den Fluß kamen. Fü se, Iltisse, Wiesel,

Hunde. Die meisten tollwütig, vom Hunger und Durst aus ihren

angestammten Revieren getrieben. Wir s ossen sie ab, wenn sie auf das

Ufer zuwankten, s ossen sie ab oder töteten sie mit Steinen. Die Kinder

bewarfen au  die Zigeuner mit Steinen, aber sie waren genauso gefangen

und verzweifelt wie die Tiere und kamen immer wieder zurü . Die Lu 
war s warz vor Fliegen und verpestet von dem Gestank der Feuer, mit

denen sie versu ten, die Krankheit abzuwehren. Zuerst gingen die Pferde

ein, dann die Kühe, Ziegen und Hunde. Wir versu ten, sie in S a zu

halten, weigerten uns, ihnen Lebensmi el oder Wasser oder Medikamente

zu verkaufen. Im S lamm des Tannes auf Grund gelaufen, tranken sie

Flas enbier und Flußwasser. I  erinnere mi  no , wie i  sie von Les

Marauds aus beoba tete, gebeugte Gestalten, die abends still um ihre
Lagerfeuer ho  ten, und wie i  jemanden  – eine Frau oder ein Kind  – vom
dunklen Wasser her s   lu zen hörte.

Einige Leute, S  
wä linge  – unter ihnen Narcisse  –, fingen an, von

Nä  stenliebe zu faseln. Von Mitleid. Aber Sie sind hart geblieben. Sie

wußten, was Sie zu tun ha  en.

In der Messe haben Sie die Namen derjenigen verlesen, die si  weigerten

mitzuma  en. Muscat  – der alte Muscat, Pauls Vater  – hat sie so lange vor

dem Café vers   eu t, bis sie Vernun  angenommen haben. Na ts gab es

Prügeleien zwis  en den Zigeunern und den Dor  ewohnern. Die Kir  e

wurde ges  ändet. Aber Sie sind standha  geblieben.

Eines Tages sahen wir, wie sie versu  ten, ihre Boote in tieferes Wasser zu

ziehen. An man  en Stellen versanken sie bis an die Hü  en in dem nassen

S  lamm, versu  ten, auf den s  leimigen Steinen Halt zu finden. Einige

ha en si  Taue wie Ges  irr umgelegt und zogen die Boote, andere

s oben von hinten. Als sie bemerkten, daß wir sie beoba  teten,

ver fluten sie uns mit ihren harten, heiseren Stimmen. Aber es dauerte

no  weitere zwei Wo  en, bis sie endli  abzogen und ihre ruinierten Boote

zurü  ließen. Ein Feuer, haben Sie gesagt, Vater, ein Feuer, das der Säufer

und die S  lampe, denen das Boot gehörte, unbeaufsi  tigt gelassen ha 
en.

Es breitete si  in der tro  enen, elektrisierten Lu  rasend s  nell aus, bis

der ganze Fluß in Flammen zu stehen s  ien. Ein Unfall.

Es gab Gerede; wie immer. Es hieß, Sie hä  en das Unglü  mit Ihren

Predigten herausgefordert; Sie hä  en dem alten Muscat und seinem Sohn,

den beiden, die stets so fromm in der ersten Bank saßen und alles sahen und

hörten, freundli  zugeni  t, den beiden, die in jener Na  t ni ts gesehen

und gehört ha  en. Vor allem jedo  war man erlei  tert. Und als der Winter

kam und der Tannes wieder mehr Wasser führte, versanken sogar die

Wra  s.

I bin heute morgen no  einmal hingegangen, Vater. Dieser Ort geht mir

ni t aus dem Sinn. Es ist fast genauso wie vor zwanzig Jahren.

Heimtü   is e Stille liegt über dem Fluß, eine Stimmung, die ni  ts Gutes

ahnen läßt. Im Vorbeigehen sehe i , wie hinter s mutzigen


Fensters eiben Vorhänge bewegt werden. Dann meine ,
i leises,

anhaltendes Gelä ter aus den Booten zu hören. Werde i stark genug sein,
Vater? Werde i  trotz meines guten Willens versagen?
Drei Woen. I habe jetzt drei Woen in der Wüste verbrat.

Milerweile müßte i von allen Swäen und Unsierheiten geläutert

sein. Aber die Angst ist immer no da. Letzte Nat habe i von ihr

geträumt. Oh, es war kein wollüstiger Traum, vielmehr fühlte i mi auf

unbegreiflie Weise bedroht. Die Unruhe, die sie ins Dorf bringt, ist es, was

mi so umtreibt. Diese Wildheit.

Joline Drou sagt, ihre Toter sei au slet. Sie treibe si in Les

Marauds herum, praktiziere heidnise Riten, verbreite Aberglauben. Joline


sagt, das Kind sei no nie in der Kire gewesen, habe nie zu beten gelernt.

Wenn sie der Kleinen von Ostern und der Auferstehung erzählt, plappere sie

irgendwel en en Unsinn. Und dann dieses Fest; in jedem


heidnis

Saufenster hängt inzwisen eins von ihren Plakaten. Die Kinder sind jetzt

son vor Aufregung ganz aus dem Häusen.

»Lassen Sie sie do, Vater, man ist nur einmal jung«, sagt Georges

Clairmont verständnisvoll, während seine Frau ihre gezupen Brauen hebt

und mi neis ansaut.

»Es kann do wirkli nits saden«, sagt sie mit einem affektierten

Läeln. I habe den Verdat, daß sie nur deswegen so nasitig sind,

weil ihr Sohn für das Fest Interesse zeigt. »Und alles, was die Osterbotsa

bekräigt …«

I versue erst gar nit, ihnen begreifli zu maen, worum es mir

geht. Gegen ein Kinderfest zu Felde zu ziehen bedeutet, si der

Läerlikeit preiszugeben. Narcisse mat si bereits lustig über meinen

Anti-Schokoladen-Kreuzzug, begleitet von hämisem Gekier. Aber es


wurmt mi. Daß sie si eines Kirenfestes bedient, um die Kire zu

unterminieren  – um meine Autorität zu unterminieren  … Meine Würde ist

 wage nit, no weiter zu gehen. Und mit


bereits in Frage gestellt. I

jedem Tag wäst ihr Einfluß. Teilweise liegt es an dem Laden. Halb Café,

halb confiserie, hat er etwas Einladendes, etwas Gemütlies. Die Kinder

sind ganz verrüt na den Sokoladenfiguren, die sie si von ihrem
Tasengeld leisten können. Die Erwasenen genießen die leit verrute
Atmosphäre, in der man si Geheimnisse zuflüstert und gegenseitig das

Herz aussüet. Mehrere Familien haben angefangen, für den

Sonntagskaffee Kuen bei ihr zu bestellen; i sehe genau, wenn sie na

der Messe die mit Sleifen zugebundenen Sateln abholen. No nie

haben die Einwohner von Lansquenet-sous-Tannes soviel Sokolade

gegessen. Gestern hat Toinee Arnauld sogar im Beitstuhl genast! Ihr

Atem ro na Sokolade, aber als Beitvater war i gezwungen, die

Anonymität zu respektieren.

»Schegnen Sie misch, Vater, denn isch habe geschündigt.« I  hörte sie

kauen, hörte das saugende Geräus  zwisen ihren Zähnen. Blanke Wut

en Sünden beitete, die


stieg in mir auf, als sie eine lange Reihe von läßli

i kaum hörte, während der Du  von Sokolade und Karamel in dem


engen Raum immer intensiver wurde. Sie spra mit vollem Mund, und i

spürte, wie mir das Wasser auf der Zunge zusammenlief. Sließli konnte

i es nit mehr aushalten.

»Essen Sie etwa gerade etwas?« fuhr i sie an.

»Nein, Vater«, erwiderte sie beinahe empört. »Essen? Warum sollte i –«

»I bin sicher, daß i Sie essen höre.« I mate mir nit die Mühe,

leise zu spreen, sondern erhob mi von meinem Stuhl und umklammerte

den Sims mit beiden Händen. »Für was halten Sie mi eigentli, für einen

Troel?« Son wieder hörte i ein smatzendes Geräus, und die Wut

übermannte mi vollends. »I höre Sie essen, Madame«, sagte i sarf.

»Oder glauben Sie etwa, Sie seien weder zu sehen no zu hören?«

»Mon père, i versiere Ihnen –«

»Sweigen Sie, Madame Arnauld, bevor Sie si in weitere Lügen

verstrien!« donnerte i, und plötzli war der Sokoladendu

verswunden, es war kein Smatzen mehr zu hören, sondern nur ein

unterdrütes Sluzen und panises Raseln, als sie aus dem

Beitstuhl flütete. Mit ihren hohen Absätzen wäre sie beinahe


ausgerutst, als sie aus der Kire rannte.

Allein im Beitstuhl, versute i, mi an den Du, die Geräuse zu

erinnern, an die Empörung, die i empfunden hae, meinen gereten


Zorn. Do  als die Dunkelheit mi  um fing, als die Lu  ansta   na

S  okolade nur no   na Weihrau  und Kerzen du  ete, kamen mir

Zweifel. Und dann wurde mir das Absurde an der ganzen Situation bewußt,

und i  bekam fast einen La  krampf, der mi  zuglei  verblü  e und

ängstigte. Am Ende war i verwirrt und naßges  witzt, mein Magen

rebellierte. Der plötzli  e Gedanke, daß sie die einzige wäre, die das

Komis  e an der Situation erkennen würde, rei  te aus, um mir den Magen

von neuem umzudrehen, und i  war gezwungen, mi  wegen 


lei ter

Übelkeit zu ents  uldigen und die Bei  te abzubre  en. Mit unsi  eren

S  ri en ging i   zurü in die Sakristei, und i  bemerkte, wie mehrere

Leute mi  merkwürdig ansahen. I  muß vorsi  tiger sein. In Lansquenet

wird zuviel geklats  t.

Seitdem herrs  t einigermaßen Ruhe. 


I führe meinen Ausbru  im


Bei tstuhl auf ein lei  tes Fieber zurü  , das mi  während der Na  t

s ü elte. Auf jeden Fall ist es 


ni t wieder vorgekommen. Als


Vorsi tsmaßnahme habe i  meine Abendmahlzeiten no  weiter reduziert,

um die Verdauungsstörungen zu vermeiden, die den Vorfall mögli  erweise

verursa  t haben. Denno  spüre 


i um mi  herum eine gewisse

Unsi  erheit  – beinahe so etwas wie gespannte Erwartung. Der Wind mat
die Kinder ausgelassen, sie rennen mit ausgestre  ten Armen auf dem

Dorfplatz herum und kreis  en wie Vögel. Au  die Erwa  senen wirken

flaerha, fallen von einem Extrem ins andere. Die Frauen reden zu laut,

nur um verlegen zu s  weigen, sobald i   au au e; man  e sind dauernd

den Tränen nahe, andere aggressiv. Heute morgen spra   i Joséphine

Muscat vor dem Café de la République an, und diese sonst so stille, einsilbige

Frau starrte mi  wütend an und begann mi  mit zi  ernder Stimme zu

bes  impfen und zu beleidigen.

»Lassen Sie mi  in Ruhe«, zis  te sie. »Haben Sie ni  t s on genug

angeri  tet?«

I  bewahrte meine Würde und ließ mi   ni t dazu herab, ihr zu

antworten, aus Fur  t, in einen hitzigen Disput verwi  elt zu werden. Aber

sie hat si  verändert; sie ist härter geworden, ihr ehemals unbeteiligter
Bli  ist nun konzentriert und haßerfüllt. Au sie ist ins Lager des Feindes
übergelaufen.

 nit, mon père?Warum sehen sie nit, was


Warum begreifen sie einfa

diese Frau uns antut? Sie zerstört unseren Gemeinsassinn, unseren

Zusammenhalt. Sie nutzt die Fehler und Swäen der Mensen aus. Und

erntet damit Zuneigung und Loyalität, die i  – Go steh mir bei!  – in

meiner Swäe für mi selbst begehre. Es ist ein Hohn, wie sie von

Wohlwollen und Toleranz, von Mitleid für die armen Heimatlosen vom Fluß

keit die Verderbtheit um si grei.


predigt, während in Wirkli

Der Teufel tut sein Werk nit dur das Böse, sondern dur Swäe,

Vater. Sie wissen das am allerbesten. Wo wären wir ohne die Kra und

Reinheit unserer Überzeugungen? Wie sier können wir sein? Wie lange

wird es dauern, bis das Geswür bis in die Kire vordringt? Wir haben

gesehen, wie snell die Fäulnis si ausbreitet. Son bald werden sie

»interkonfessionelle Gottesdienste« fordern, um »alternative

Glaubensbekenntnisse zu integrieren«, die Bei te als »nutzloses

Unterdrückungsinstrument« verdammen und die »inneren Werte«

verherrli en, und ehe sie si ’s versehen, werden sie si  mit all ihrem

einbar
s fortsrilien Denken und ihren harmlos liberalen Ansi ten
auf dem direkten Weg in die Hölle be finden.
 ironis, nit wahr? No vor einer Woe habe i meinen
Es ist do

eigenen Glauben in Frage gestellt. I war zu sehr mit mir selbst besäigt,

um die Zeien zu erkennen. Zu swa, um meine Pflit zu tun. Do die

Bibel sagt uns unmißverständli, was wir zu tun haben. Unkraut und

Weizen können nun einmal nit auf demselben Feld friedli

nebeneinander gedeihen. Das kann einem jeder Gärtner sagen.

Mi  woch, 5. März
Luc ist heute wieder dagewesen, um mit Armande zu reden. Er wirkt jetzt

etwas selbstbewußter, obwohl er immer no 


 slimm stoert.
ziemli

Aber er ist so weit aufgetaut, daß er hier und da eine serzhae Bemerkung

mat, über die er dann selbst grinst, als sei er die Rolle des Spaßmaers

nit gewohnt. Armande war in Hoform und trug sta des swarzen

Strohhuts ein buntes Seidentu um den Kopf. Ihre Wangen leuteten

rosig  – obwohl i annahm, daß dies, ebenso wie ihre ungewöhnli roten

Lippen, eher ihren Sminkkünsten als allein ihrer guten Laune zu

verdanken war. In dieser kurzen Zeit haben sie und ihr Enkel entdet, daß

sie mehr Gemeinsamkeiten haben, als sie vermutet haen; ohne die

hemmende Gegenwart von Caro gehen die beiden erstaunli zwanglos

miteinander um. Swer vorstellbar, daß sie no bis vor einer Woe kaum

Kontakt haen. Man spürt eine tiefe Vertrautheit zwisen ihnen, wenn sie

si mit gedämper Stimme unterhalten. Politik, Musik, Sa, Religion,

Rugby, Lyrik – sie sweifen von einem ema zum nästen, wie Gourmets

an einem Buffet, die unbedingt von jedem Gerit probieren wollen.

Armande konzentriert all ihren Charme und ihre volle Aufmerksamkeit auf

– mal ordinär, mal gelehrt, mal gewinnend, mädenha, ernst, weise.


ihn 

Kein Zweifel, das ist die Kunst der Verführung.

Diesmal war es Armande, die auf die Zeit a tete.


»Es wird spät, mein Junge«, sagte sie bars. »Zeit für di, na Hause zu

gehen.«

Luc hielt mien im Satz inne und saute sie betroffen an.
»I-i-i habe gar nit gemerkt«, sagte er und blite auf seine Uhr, »d-

daß es son so spät ist.« Er saute si ziellos um, als sträubte er si zu

gehen. »D-dann werd i wohl mal«, sagte er ohne Begeisterung. »Wenn i

zu spät komme, d-dreht meine M-muer dur. D-du weißt ja, wie sie ist.«

Klugerweise versut Armande nit, den Jungen gegen seine Muer

einzunehmen und enthält si weitgehend jeglien absätzigen

Kommentars über Caro. Auf diese eindeutige Kritik hin jedo läelte sie

spitzbübis.

»Das kann man wohl sagen«, erwiderte sie. »Sag mal, Luc, ist dir denn

niemals dana , ein biß en zu rebellieren?« Ihre Augen teten


leu
s elmis  . »In deinem Alter gehört das do  eigentli  dazu  – da läßt man

si die Haare wa  sen, hört Ro musik, flirtet mit den Mäd  en und all so

was. Sonst sieht man mit a  tzig ganz s  ön alt aus.«

Luc s  ü elte den Kopf.

»Zu gefährli  «, sagte er knapp. »I  will s  


-s ließli  überleben.«

Armande la  te.

»Also dann, bis nä  ste Wo  e?« Diesmal drü  te er ihr einen Kuß auf die

Wange. »Um dieselbe Zeit?«

»I  glaube, das werde i  einri  ten können«, sagte sie lä  elnd.

»Morgen gebe i  eine Einweihungsparty«, sagte sie unvermi  elt. »Um mi 


bei allen zu bedanken, die mein Da  repariert haben. Du bist au  herzli 
eingeladen, wenn du Lust hast.«

Luc wirkte unents  lossen.

»Aber wenn Caro was dagegen hat«, meinte sie ironis  und s  aute ihn

herausfordernd an.

»M-mir fällt bestimmt eine Ausrede ein«, sagte Luc, von ihrem

amüsierten Bli  aufgemuntert. »Das k-könnte lustig werden.«

»Darauf kannst du di verlassen«, sagte Armande energis  . »Es werden

alle dasein. Außer natürli  Reynaud und seine Bibel-Groupies.« Sie lä  elte

ihn vers  mitzt an. »Was i  allerdings sehr begrüße.«

Ein verlegenes Grinsen hus  t über sein Gesi  t.

»B-Bibel-Groupies«, wiederholt er. »Das ist e  t c-cool, Mémée .«

»I  bin immer cool«, erwidert Armande würdevoll.

»M-Mal sehen, was si  


ma en läßt.«

Armande ha  e ihre Tasse ausgetrunken, und i  wollte gerade den Laden

s  ließen, als Guillaume eintrat. I  ha e ihn in dieser Wo  e kaum

gesehen, und er wirkte irgendwie zerknauts  t, sein Gesi  t traurig und

farblos unter der s  malen Hutkrempe. Förmli  wie immer, grüßte er uns

mit ausgesu  ter Hö fli keit, do   i sah, daß er bedrü  t war. Seine

Kleider hingen an seinen s  malen S  ultern, als würde kein Körper

darunter ste  en. Seine Augen waren rot gerändert, seine Wangen

eingefallen. Charly war ni  t dabei, do   i bemerkte, daß er die Leine


wieder um das Handgelenk gewi  elt ha e. Anouk lugte neugierig aus der

Kü  e.


»I weiß, Sie ma  en Feierabend.« Er spra  beherrs  t und akzentuiert,

wie die tapferen Soldatenbräute in den britis  en Kriegs filmen, die er so


liebte. »I werde Sie ni  t lange au  alten.«

I s enkte ihm eine halbe Tasse meines besten chocolat espresso ein und

legte ein paar seiner geliebten Florentiner auf die Untertasse. Anouk

kle  
erte auf einen Ho er und beäugte sie neidis  .


»I habe keine Eile«, sagte i  .

  
»I au ni t«, erklärte Armande in ihrer direkten Art. »Aber i  kann

au  gehen, wenn Ihnen das lieber ist.«


Guillaume s ü elte den Kopf.

 
»Nein, natürli ni t.« Er s  enkte ihr ein wenig überzeugendes Lä  eln.


»Es ist ni ts Weltbewegendes.«


Obwohl i ahnte, was ges  ehen war, wartete i  , bis er soweit war, uns

von seinem Kummer zu erzählen. Guillaume nahm einen Florentiner und

biß lustlos hinein, während er eine Hand darunterhielt, um die Krümel

aufzufangen.

»I  habe gerade Charly begraben«, sagte er mit brü  iger Stimme.

»Unter dem Rosenstrau  in meinem Garten. Das hä  e ihm gefallen.«

I   ni te.

»Ganz bestimmt.«

I  konnte seine Trauer rie  en, einen s  arfen, sauren Geru  wie na 
Erde und Mehltau. Er ha  e s warze Erde unter den Fingernägeln der Hand,

mit der er den Florentiner hielt. Anouk s  aute ihn mit ernster Miene an.

»Armer Charly«, sagte sie. Guillaume s  ien sie kaum zu hören.

»Es mußte s ließli  sein«, fuhr er fort. »Er konnte ni  t mehr laufen,

und er winselte jedesmal, wenn i  ihn ho nahm. Gestern abend hörte er

überhaupt ni  t mehr auf zu winseln. I  habe die ganze Na  t bei ihm

gesessen, aber i  wußte Bes eid.« Guillaume wirkte beinahe

s uldbewußt, von einer Trauer überwältigt, für die er keine Worte fand.


»I weiß, es ist albern«, sagte er. »Er war nur ein Hund, wie Monsieur le

curé sagt. Albern, so ein  eater zu ma  en.«


»Unsinn«, mis te Armande si  ein. »Ein Freund ist ein Freund. Und

Charly war ein guter Freund. Von diesen Dingen versteht Reynaud eben

ni ts.«
Guillaume saute sie dankbar an.
, daß Sie das sagen.« Er wandte si an mi. »Und Ihnen danke i
»Ne

au, Madame Roer. Sie haben letzte Woe versut, mi zu warnen,

aber i wollte nit auf Sie hören. Wahrseinli hab i mir eingebildet,

Charly würde ewig leben, wenn i die Wahrheit einfa ignorierte.«

Armande beobatete ihn mit einem seltsamen Ausdru in den

swarzen Augen.

»Manmal ist Weiterleben die sletere Alternative«, sagte sie san.

Guillaume nite.

»I häe ihn früher gehen lassen sollen«, sagte er. »Ihm ein bißen

Würde lassen sollen.« Sein Gesit verzog si zu einem Läeln, das fast

smerzha wirkte. »Zumindest häe i uns die vergangene Nat

ersparen sollen.«

 wußte nit, was i ihm sagen sollte. Irgendwie hae i das Gefühl,
I

daß i gar nits zu sagen braute. Er wollte einfa nur reden. I

verzitete auf die üblien Klisees und sagte nits. Guillaume aß seinen

Florentiner auf und läelte ma.

»Es ist sreli«, sagte er geistesabwesend, »aber i habe einen

solen Appetit. Es ist, als häe i seit Woen nits gegessen. Gerade

habe i meinen Hund begraben, und jetzt könnte i essen wie  –« Er bra

verwirrt ab. »Irgendwie kommt es mir so unret vor«, sagte er

suldbewußt. »Als würde i am Karfreitag Fleis essen.«

Armande mußte laen und legte Guillaume eine Hand auf die Sulter.

Neben ihm wirkte sie regelret fit und gesund.

»Sie kommen jetzt mit zu mir!« befahl sie. »I habe Brot und rillettes und

einen guten, reifen Camembert. Oh, und Vianne«  – mit einer gebieterisen

Geste an mi gewandt  –, »i nehme no eine Satel von diesen

Sokoladenkeksen. Wie heißen die glei? Florentiner? Eine söne, große

Satel.«
Wenigstens das kann i  ihm geben. Au  wenn es für einen Mann, der

waer Trost ist. Heimli


gerade seinen besten Freund verloren hat, ein s

mate i mit der Fingerspitze ein Zeien auf die Satel. Es sollte ihm

Glü bringen.

Guillaume wollte protestieren, aber Armande sni ihm das Wort ab.

»ats!« sagte sie kategoris. Unwillkürli übertrug si ihre Energie

auf den kleinen müden Mann. »Was wollen Sie denn sonst tun? Zu Hause

üelte heig den Kopf. »Nein. I


rumsitzen und Trübsal blasen?« Sie s

habe son lange keinen Herrenbesu mehr gehabt. I werde es genießen.

Außerdem«, fügte sie nadenkli hinzu, »gibt es etwas, worüber i gern

mit Ihnen reden würde.«

Armande bekommt ihren Willen. Es ist beinahe ein Gesetz. I


beoba tete die beiden, während i  die S atel Florentiner einwi elte
und mit einer silbernen S leife zuband. Guillaume war von ihrer

Herzli keit überwältigt, er war verwirrt und dankbar zuglei.


»Madame Voizin  –«
»Armande«, unterbra  sie ihn bestimmt. »Wenn Sie mi  Madame
nennen, komme i  mir so alt vor.«
»Armande.«

Es ist ein kleiner Sieg.

»Und das können Sie au  glei  hierlassen.« Vorsi tig nestelte sie die

Hundeleine von Guillaumes Handgelenk. Sie ist auf eine ruppige Art

mitfühlend, ohne gönnerha zu werden. »Es bringt nits, unnötigen Ballast


mit si herumzusleppen. Das ändert au nits.«

I sehe zu, wie sie Guillaume aus der Tür bugsiert. Beim Hinausgehen

dreht sie si no einmal um und zwinkert mir zu. Eine Welle der

Zuneigung für die beiden steigt in mir auf.

Dann vers winden sie in der Nat.

Stunden später liegen Anouk und i  im Be  und s auen in den

Sternenhimmel über unserem Da fenster. Na  Guillaumes Besu  war

Anouk den ganzen Abend sehr ernst, ohne ihre übli e Ausgelassenheit. Sie
hat die Tür zwis en unseren Zimmern offengelassen, und i warte
t auf die unvermeidlie Frage; i habe sie mir selbst o gestellt, in
bedrü

den Näten, nadem meine Muer gestorben war, und habe keine

Antwort gefunden. Do die Frage kommt nit. Sta dessen krabbelt sie,

obwohl i date, sie sliefe son lange, unter meine Dee und siebt

ihre kleine kalte Hand in meine.

»Maman?« Sie weiß, i  bin no wa. »Nit wahr, du stirbst nit?«
I lae leise in der Dunkelheit.
»Das kann niemand verspreen«, sage i san.

»Aber du stirbst no lange nit«, beharrt sie. »No  ganz, ganz lange

nit.«

»Das hoffe i.«

»Hm.« Das muß sie erst einmal verdauen. Sie kus elt si no  diter
. »Mensen leben länger als Hunde, nit wahr?«
an mi

I bestätige, daß das stimmt. Wieder Sweigen.

»Was glaubst du, wo Charly jetzt ist, Maman?«

I  könnte ihr Lügenmären erzählen; tröstlie Lügenmären. Aber i


bringe es nit fertig.

»I weiß es nit, Nanou. I stelle mir gern vor, daß wir wiedergeboren

werden. In einem neuen, gesunden Körper. Oder als Vogel oder als Baum.

Aber niemand weiß das genau.«

»Hm.« Zweifel klingt in ihrer Stimme mit. »Hunde au ?«


»Warum ni t.«
Es ist eine angenehme Vorstellung. Manmal verliere i mi in ihr wie
ein Kind in seinen Phantasiegesiten; dann sehe i meine Muer in den

lebhaen Zügen meiner kleinen Fremden …

Eifrig: »Dann können wir Guillaumes Hund do suen. Morgen. Dann

wäre er do bestimmt wieder glüli, nit wahr?«

I versue, ihr zu erklären, daß das nit ganz so einfa ist, aber sie

läßt nit loer.

»Wir könnten zu den Bauernhöfen gehen und rausfinden, weler Hund

gerade Junge bekommen hat. Glaubst du, wir würden Charly erkennen?«

I  seufze. Eigentli  müßte i  mi en


inzwis an ihre gewundenen

Gedankengänge gewöhnt haben. Ihre Überzeugung erinnert mi  so sehr an


meine Mu er, daß i den Tränen nahe bin.
»I weiß nit.«

Diköpfig: »Pantoufle würde ihn auf jeden Fall erkennen.«

»Slaf jetzt, Anouk. Morgen ist Sule.«

»Er würde ihn erkennen, das weiß i ganz genau. Pantoufle sieht alles.«

»Ss.«

Sließli wird ihr Atem regelmäßig. Ihr Gesit ist dem Fenster

zugewandt, und i sehe Sternenlit auf ihren nassen Wimpern. Wenn i

nur Gewißheit häe, um ihretwillen  … Aber es gibt keine Gewißheit. Die

Magie, an die meine Muer so unersüerli glaubte, hat sie am Ende

au nit gereet; alles, was wir erlebten, häe au dur Zufall

gesehen sein können. Nits ist leiter als das, sage i mir; die Karten,

die Kerzen, die Räuerstäben, die Zaubersprüe  – alles nur Kindertris,

um die Dunkelheit zu bannen. Und do smerzt mi Anouks

Enäusung. Im Slaf wirkt ihr Gesit gelassen, vertrauensvoll. I stelle

mir vor, wie wir uns morgen auf eine sinnlose Sue maen, wie wir alle

möglien Welpen begutaten, und es zerreißt mir das Herz. I häe ihr

nits erzählen sollen, was i nit beweisen kann …

Vorsitig, um sie nit zu ween, slüpfe i aus dem Be. Die Dielen

fühlen si gla und kühl unter meinen Füßen an. Als die Tür beim Öffnen

ein bißen quietst, murmelt Anouk im Slaf, wat jedo nit auf. I

habe eine Verantwortung ihr gegenüber, sage i mir. Ohne es zu wollen,

habe i ihr etwas versproen.

Die Saen meiner Muer sind immer no in ihrer Kiste, sie duen na

Sandelholz und Lavendel. Ihre Karten, ihre Kräuter, ihre Büer, ihre Öle, die

duende Tinte, die sie für ihre Wahrsagerei benutzte, Runen, Amulee,

Kristallkugeln, Kerzen in vielen Farben. Wenn die Kerzen nit wären,

würde i die Kiste kaum jemals öffnen. Zu sehr riet sie na verlorener

Hoffnung. Aber um Anouks willen  – Anouk, die mi so sehr an sie

erinnert  – muß i es wohl versuen. I komme mir ein bißen läerli

vor. Eigentli müßte i jetzt slafen und mi für den morgigen Tag

stärken. Aber Guillaumes Gesit verfolgt mi. Anouks Worte rauben mir

den Slaf. Es ist gefährli, sage i mir verzweifelt; indem i auf diese
beinahe vergessenen Fähigkeiten zurü greife, setze i mi no mehr von
ihnen ab und ma e es um so swerer für uns, hierzubleiben …
Das vertraute Ritual, das i vor so langer Zeit aufgegeben habe, geht mir

erstaunli leit von der Hand. Den Kreis auf dem Boden zu ziehen, in die

Mie ein mit Wasser gefülltes Glas, ein Sälen mit Salz und eine

brennende Kerze  – es hat fast etwas Tröstlies, es ist wie die Rükehr in

eine Zeit, als es no für alles eine einfae Erklärung gab. I setze mi im

Sneidersitz auf den Boden, sließe die Augen, lasse meinen Atem fließen.

Meine Muer liebte Rituale und Zaubersprüe. I war weniger willig.

I sei gehemmt, pflegte sie dann zu kiern. Jetzt, mit geslossenen Augen

und ihrem Du an den Fingerspitzen, fühle i mi ihr sehr nahe. Vielleit

fällt mir das alles deswegen heute nat so leit. Mensen, die nits von

eter Zauberei verstehen, stellen si vor, der Vorgang erfordere eine

Menge Brimborium. I nehme an, daß meine Muer, die eine ausgeprägte

theatralise Ader besaß, deswegen immer so einen Hokuspokus darum

gemat hat. In Wirklikeit ist das Ganze äußerst undramatis; es geht

ledigli darum, si mit allen Sinnen auf das gewünste Ziel zu

konzentrieren. Es gibt keine Wunder, keine plötzlien Erseinungen. I

sehe Guillaumes Hund deutli vor meinem geistigen Auge, umgeben von

jenem einladenden Glanz, aber es erseint kein Hund in meinem Kreis.

Vielleit morgen oder übermorgen, ein seinbarer Zufall wie der

orangefarbene Sessel oder die roten Barhoer, die wir uns am ersten Tag

vorgestellt haen. Vielleit wird aber au gar nits gesehen.

Ein Bli auf meine Armbanduhr, die i auf den Boden gelegt habe, sagt

mir, daß es bereits kurz vor halb vier ist. I muß son länger hier sitzen,

als i angenommen habe, denn die Kerze ist fast heruntergebrannt, und

meine Glieder sind kalt und steif. Denno ist das ungute Gefühl

verswunden, i fühle mi seltsam ausgeruht und zufrieden, ohne daß

i mir das erklären könnte.

I slüpfe wieder in mein Be  – Anouk hat si inzwisen

breitgemat, ihre Arme auf den Kissen ausgestret  – und kusele mi

unter die warme Dee. Meine ansprusvolle kleine Fremde wird zufrieden
sein. Beim Eins  lafen meine i  einen Moment lang, die Stimme meiner

Mu  er zu hören, die ganz di  t bei meinem Ohr etwas flüstert.

Freitag, 7. März

Die Zigeuner ziehen ab. I  bin heute morgen am Ufer entlanggegangen und

habe sie bei ihren Vorkehrungen beoba  tet, wie sie ihre 
Fis reusen

einholten und ihre endlosen Wäs  eleinen abnahmen. Einige sind gestern

abend in der Dunkelheit abgefahren  – i  habe gehört, wie sie ihre

Signalpfeifen und Nebelhörner wie eine letzte Geste des Hohns ertönen

ließen  –, do die meisten sind so abergläubis, daß sie es nit wagen, vor
der Dämmerung aufzubre  en. Es war kurz na  sieben, als i  vorbeiging.

Kalter Nebel lag über dem Fluß. Im fahlen, graugrünen Li  t der

Morgendämmerung wirkten sie blei  und mürris  , wie Flü  tlinge, als sie

die letzten Reste ihres s  wimmenden Zirkus zusammenpa ten. Was am

Abend zuvor no  zauberha  funkelte und glitzerte, war allen s  einbaren

Prunks beraubt und wirkte nur no  trist und heruntergekommen. In der

feu  tkalten Lu  liegt ein Geru  von Mas  inenöl und Verbranntem. Man

hört das Kna  ern von Segeltu  , das Wummern der S ff i smotoren. Mit

finsterer Miene versehen sie ihre Arbeit, und kaum einer s  aut zu mir

herüber. Keiner sagt ein Wort. Roux ist ni  t unter den Na  züglern.

Viellei  t ist er 
s on mit den anderen abgefahren. Es sind no etwa

dreißig Boote übrig, sie liegen tief im Wasser, belastet mit all den Vorräten,

die sie si  bes a haben. I  sehe Zéze  e am Rand der s  


ro reifen

Flo e, wie sie irgendwel  e unidenti fizierbaren verkohlten Gegenstände auf
ihr Boot hievt. Auf einer versengten Matratze und einer Kiste voller

Zeits ri en steht gefährli  wa elig ein Kä fig mit Hühnern. Sie wir mir
einen haßerfüllten Bli  zu, sagt jedo  
ni ts.

Glauben Sie ni   
t, i hä e kein Mitgefühl mit diesen Leuten, mon père.


I emp finde keinen persönli  en Groll, aber i  muß an meine Gemeinde
denken. I kann meine Zeit ni t mit unerbetenen Predigten für Fremde

vergeuden, die mi  nur verhöhnen und beleidigen würden. Und denno 


bin i  nit unnahbar. Jeder von ihnen wäre in meiner Kire willkommen,
wenn er ernste Reue zeigte. Wenn sie geistlien Beistand brauen, wissen

sie, daß sie si an mi wenden können.


I habe letzte Na t slet geslafen. Seit dem Beginn der Fastenzeit
leide i an Slafstörungen. O stehe i vor dem Morgengrauen auf in der

Hoffnung, in einem Bu, auf den stillen, dunklen Straßen von Lansquenet

oder am Ufer des Tannes Slaf zu finden. Letzte Nat war i no

ruheloser als gewöhnli, und da i wußte, daß i sowieso nit würde

slafen können, bin i gegen elf aus dem Haus gegangen und eine Stunde

lang am Fluß entlanggewandert. I ging an Les Marauds und dem

swimmenden Lager der Zigeuner vorbei flußaufwärts hinaus in die Felder,

do i konnte die Geräuse ihres emsigen Treibens deutli hören.

Flußabwärts sah i ihre Lagerfeuer am Ufer flaern und tanzende

Gestalten im gelben Sein der Flammen. Als i einen Bli auf meine Uhr

warf, stellte i fest, daß i son seit fast einer Stunde unterwegs war, und

mate mi auf den Heimweg. I hae nit vorgehabt, dur Les

Marauds zu gehen, sondern wollte denselben Weg zurü dur die Felder

nehmen, was meinen Heimweg jedo um eine halbe Stunde verlängert

häe, und mir war vor Müdigkeit flau und swindlig. No slimmer

jedo war, daß i dur die Kombination aus friser Lu und

Übermüdung einen Hunger entwielt hae, der mit meinem morgendlien

Imbiß aus Brot und Kaffee kaum zu stillen sein würde. Aus diesem Grund

slug i do den Weg dur Les Marauds ein, Vater. Meine Stiefel sanken

tief in den Slamm am Ufer des Tannes, und mein Atem simmerte weiß

im Lit ihrer Feuer. Son bald war i nah genug, um zu erkennen, was

dort vor si ging. Sie feierten eine Art Party. I sah Laternen, Kerzen, die

sie an den Relings befestigt haen, was der ganzen Szene einen beinahe

sakralen Charakter verlieh. Es ro na Holzkohlenfeuer und duete

verloend na gegrillten Sardinen; und darunter miste si der sarfe,

biere Du von Vianne Roers Sokolade. I häe mir denken können,
daß sie dort war. Wenn sie ni t wäre, hä en die Zigeuner si  längst

davongema t. I sah sie auf dem Steg vor Armande Voizins Haus. In

ihrem langen, roten Mantel und mit ihrem offenen Haar sah sie aus wie eine
heidnise Priesterin. Als sie si kurz in meine Ritung wandte, sah i

bläulie Flammen in ihren ausgestreten Händen, irgend etwas

Brennendes zwisen ihren Fingern, das die Gesiter der anderen blei

erleutete …

Einen Augenbli lang war i starr vor Entsetzen. Irrationale Ängste

überfielen mi  – geheimnisvolle Opferriten, Teufelsanbetung, Brandopfer

für irgendwele primitiven Götzen  –, und i begann zu fliehen, stolperte

in dem tiefen Slamm hinter den Slehenbüsen entlang, die mi vor

ihren Blien sützten. Dann die Erleiterung. Verblüffung und tiefe

Sam über meine eigenen absurden Gedanken, als sie si no einmal in

meine Ritung umdrehte und i sah, wie die Flammen verlosen.

»Mutter Gottes!«

Meine Erlei terung war so groß, daß meine Beine beinahe unter mir

na gaben.
»Pfannkuen. Flambierte Pfannkuchen. Das ist alles.«
I begann hysteris und lautlos zu laen. Mein Magen verkrampe

si, und i bohrte meine Fäuste in die Magengrube, um das Laen zu

unterdrüen. I beobatete, wie sie no einen Berg Pfannkuen

flambierte, mit der Bratpfanne herumging und die Pfannkuen beherzt


austeilte, und die Flammen hüpen von Teller zu Teller wie Elmsfeuer.

Pfannkuen.

Was haben sie mir angetan, Vater! Sie haben mi so weit gebrat, daß

i Dinge höre  – und Dinge sehe  –, die gar nit da sind. Das hat sie mir

angetan, sie und ihre Freunde vom Fluß.

 wirkt sie so unsuldig. Ihr Gesit ist offen, freundli. Der


Und denno

Klang ihrer Stimme, der vom Fluß her an meine Ohren dringt  – ihr Laen,

das i aus dem der anderen heraushöre  –, ist verführeris, voller Humor

und Wohlwollen. Unwillkürli frage i mi, wie meine eigene Stimme

unter den Stimmen dieser Leute klingen würde, mein Laen vermist mit
ihrem, und mit einemmal fühle i  mi einsam, plötzli ist die Nat kalt
und leer.

 nur könnte, date i. Aus meinem Verste kommen und mi
Wenn i

zu ihnen gesellen. Essen, trinken  – und plötzli mate der Gedanke an

Essen mi rasend, lief mir das Wasser im Mund zusammen. Wenn i mi

nur an diesen Pfannkuen laben, mi nur an dem Feuer und dem Lit auf

ihrer goldenen Haut wärmen könnte  …


Ist das die Versuung, Vater? I  
sage mir, i habe ihr widerstanden,

meine innere Kra  hat sie besiegt, mein Gebet  – bitte, o bitte, bitte, bitte  –
war ein Flehen um Erlösung, nit Ausdru des Verlangens.

Haben Sie ebenso gefühlt? Haben Sie au gebetet? Und als Sie der

Versuung damals in der Sakristei erlagen, war der Genuß hell und warm

wie die Lagerfeuer der Zigeuner, oder war es ein ersöpes Aufsluzen,

ein letzter lautloser Aufsrei in der Dunkelheit?

I häe Ihnen keinen Vorwurf maen dürfen. Ein Mann  – selbst ein

Priester  – kann das Verlangen nit ewig unterdrüen. Und i war zu

jung, um die Einsamkeit der Versuung zu kennen, den bieren Gesma

des Neids. I war sehr jung, mon père. I habe zu Ihnen aufgeblit. Es

war weniger der Akt selbst  – oder die Person, mit der Sie ihn vollzogen  –,
sondern die simple Tatsa e, daß Sie fähig waren zu sündigen. Selbst Sie,

Vater. Und in diesem Augenbli  wurde mir klar, daß es keine Si erheit
gibt. Für niemanden. Ni t einmal für mi selbst.
I weiß nit, wie lange i zugesehen habe, Vater. Zu lange, denn als i
sließli ging, waren meine Hände und Füße taub. I sah Roux in der

Gruppe, die beiden Frauen Blane und Zézee, Armande Voizin, Luc

Clairmont, Narcisse, den Araber, Guillaume Duplessis, die junge Frau mit

den Tätowierungen, die die Frau mit dem grünen Kopu. Sogar die
Kinder waren da  – hauptsäli Zigeunerkinder, aber au Jeannot Drou

und natürli Anouk Roer  –, einige sliefen son fast, andere tollten am

Flußufer herum, aßen in Pfannkuen eingewielte Würsten oder

tranken heißen, mit Ingwer gewürzten Zitronensa. Mein Gerussinn

sien unnatürli gesär, so daß i die einzelnen Gerite beinahe


smeen konnte  – den gegrillten Fis , den gerösteten Ziegenkäse, die

dunklen Pfannku en und den lei ten, okoladenkuen, den


warmen S

confit de canard und die sarf gewürzten merguez-Würsten  … I konnte

Armandes Stimme aus den anderen heraushören; ihr Laen war

ungewöhnli srill, wie das eines übermüdeten Kindes. Die Laternen und

Kerzen, die überall am Ufer brannten, leuteten wie Weihnatssmu.

Anfangs hielt i den Alarmruf für einen Freudensrei. Ein kurzer, heller

Ton, ein Auflaen vielleit oder ein hysterises Kreisen. Einen

Augenbli lang date i, eines der Kinder sei ins Wasser gefallen. Dann

sah i das Feuer.

Es war auf einem der Boote ausgebroen, die in einiger Entfernung von

den Natswärmern dit am Ufer lagen. Eine umgefallene Laterne

vielleit, eine atlos weggeworfene Zigaree, brennendes Kerzenwas,

das auf einen Ballen troenen Segeltus getrop war. Was immer es war,

es breitete si in Windeseile aus. Son war es auf dem Da des Bootes,

und glei darauf griff es auf das De über. Anfangs waren die Flammen

genauso blaßblau wie auf den flambierten Pfannkuen, aber je mehr sie

si ausbreiteten, um so höher slugen sie, bis sie sließli so hell

orangefarben leuteten wie ein brennender Heuhaufen in einer

Augustnat. Der Rothaarige, Roux, war der erste, der reagierte. I nahm

an, daß es si um sein Boot handelte. Die Flammen haen kaum Zeit

gehabt, die Farbe zu weseln, da war er au son auf den Füßen, sprang

von Boot zu Boot um das Feuer zu erreien. Eine der Frauen rief ihm na,

ein hoher, spitzer Srei voller Angst und Sorge. Aber er kümmerte si

nit darum. Er ist überrasend leitfüßig. Innerhalb von dreißig

Sekunden hae er zwei Boote überquert, riß die Taue los, mit denen sie

verbunden waren, trat im Weiterhasten eine losgelöste Barke na der

anderen auf das Wasser hinaus. I sah Vianne Roer mit wie flehend

ausgestreten Armen hinter ihm herstarren; die anderen standen stumm

auf dem Steg herum. Die Barken, die von ihrer Vertäuung gelöst waren,

trieben langsam stromabwärts, und das Wasser wurde von ihrem S aukeln
aufgewühlt. Roux‘ Boot war nit mehr zu reen, verkohlte Teile braen ab

und drieten auf den Wellen dahin. I sah, wie er trotzdem einen halb
verbrannten Ballen Segeltu  ergri ff und auf die Flammen eins lug, aber

die Hitze war zu groß. Seine Hose und sein Hemd fingen Feuer, und er ließ
das Segeltu  lug die Flammen an seinem Körper mit den
fallen und s

Händen aus. Einen Arm sützend vor das Gesit gehalten, versute er

no einmal, die Kajüte zu erreien; i hörte ihn in seinem Dialekt laut

fluen. Armande rief ihm etwas zu, ihre Stimme srill vor Sorge. I hörte
sie etwas von Benzin und Siffstank sreien.

Angst und Hostimmung zuglei nagten an meinen Eingeweiden,

Erinnerungen stiegen in mir auf, süß und warm. Es war fast genauso wie

damals, der Gestank na  brennenden Reifen, das dumpfe Tosen des Feuers,
das zuende Lit  … Es kam mir fast so vor, als wäre i wieder ein kleiner

Junge, als wären Sie der curé, und als seien wir beide wie dur ein Wunder

von aller Verantwortung befreit.

Zehn Sekunden später sprang Roux von dem brennenden Boot ins Wasser.

I sah ihn auf das Ufer zuswimmen, do der Siffstank explodierte erst
ein paar Minuten später, und es war nur ein dumpfer Knall, nit das

Feuerwerk, das i erwartet hae. Einen Moment lang war er nit mehr zu

sehen, verdet von den Flammen, die über die Wasseroberfläe rasten. I

stand auf, denn jetzt fürtete i nit mehr, gesehen zu werden, und rete

den Hals, um na ihm Aussau zu halten. I glaube, i betete.

Sie sehen also, Vater, i bin nit ohne Mitgefühl. I fürchtete um sein

Leben.

Vianne Roer war bereits im Wasser, bis zu den Hüen in den braunen
Fluten des Tannes, ihr roter Mantel bis unter die Arme durnäßt. Eine

Hand über den Augen sute sie den Fluß ab. Neben ihr stand Armande und

srie; ihre Stimme klang srill und alt. Und als sie ihn sließli triefnaß

auf den Steg zerrten, war i so erleitert, daß meine Beine nagaben und

i wie zum Gebet auf den Boden sank. Aber dieses Hogefühl, als i ihr

Lager brennen sah – es war herrli, wie eine Kindheitserinnerung, die Lust,

heimli zu beobaten, zu wissen  … In der Dunkelheit fühlte i mi

mätig, Vater, es war, als häe i das alles irgendwie verursat  – das

Feuer, die Verwirrung, die Flut des Mannes  –, als häe meine heimlie

Gegenwart eine Wiederholung der Ereignisse jenes fernen Sommers


verursat. Kein Wunder. So naiv bin i nit. Aber ein Zeien. Bestimmt,
ein Zeien.

Im Sutz der Dunkelheit sli i na Hause. Bei den vielen

Mensen, die am Flußufer standen, den weinenden Kindern, den zornigen

Erwasenen, die si stumm an den Händen hielten und das lodernde Feuer

betrateten wie verwirrte Kinder in einem bösen Mären, war es leit,

unbemerkt davonzukommen.

Ni t nur für mi.


I sah ihn, als i die Hügelkuppe erreite. Switzend und grinsend,

das Gesit vor Anstrengung gerötet und rußversmiert, die Brille

verdret. Er hae die Ärmel seines karierten Hemdes bis über die Ellbogen

aufgekrempelt, und im geisterhaen Lit des Feuers wirkte seine Haut gla

und rot wie poliertes Zedernholz. Er zeigte si über meine Anwesenheit

nit überrast, sondern grinste nur. Ein dummes, verslagenes Grinsen

wie das eines Kindes, das von einem nasitigen Vater bei einer

Dummheit erwist wird. Mir fiel auf, daß er stark na Benzin ro.

»n’Abend, Vater.«

I wagte nit, seinen Gruß zu erwidern, als könnte i mi dur mein
Sweigen einer Verantwortung entledigen. Sta dessen neigte i den Kopf

wie ein stiller Mitverswörer und eilte weiter. I spürte, wie Muscat mir

nasaute, das Gesit glänzend vor Sweiß, aber als i mi sließli

umdrehte, war er fort.

Eine Kerze, tropfendes Wa s. Eine Zigaree, die, atlos fortgeworfen, auf
einem Stapel Brennholz landet. Ein Lampion, dessen buntes Papier Feuer

gefangen hat und kleine Funken auf das De  regnet. Alles mögli e hä e
das Feuer auslösen können.

Alles möglie.

Samstag, 8. März
Heute morgen war i  wieder bei Armande. Sie saß in ihrem niedrigen

Wohnzimmer in ihrem S  aukelstuhl, eine ihrer Katzen auf dem S  oß. Seit

dem Brand in Les Marauds wirkt sie zuglei  zerbre  li und verbi  ert, ihr

rundes Gesi  t eingefallen, Augen und Lippen in Runzeln versunken. Sie

trug ein graues Hauskleid und di   e, s warze Strümpfe, und ihr o ffenes
Haar hing ma  und stumpf über ihre S  ultern.

»Sie sind fort.« Ihre Stimme klang tonlos, beinahe teilnahmslos. »Kein

einziges Boot ist übriggeblieben.«

»I  weiß.«

Wenn i  
na Les Marauds hinuntergehe, ist der Anbli  immer no  ein

S o , wie der häßli  e gelbe Fle  auf dem Feld, wo einmal ein Zirkuszelt

gestanden hat. Nur das Wra von Roux‘ Boot ist no  da, ein

untergegangenes Skele  , s warz s  immernd im S  lamm unter der

Wasserober fläe.
»Blan  e und Zéze  e haben ein Stü  weiter flußabwärts festgemat. Sie
haben gesagt, sie wollen heute no  einmal herkommen, um na  dem

Re  ten zu sehen.«

Sie begann, ihr langes, graues Haar zu einem Zopf zu fleten. Ihre Finger
wirkten so steif und unbeholfen wie kleine Stö  en.

»Was ist mit Roux? Wie geht es ihm?«

»Er ist wütend.«

Und das zu Re  t. Er weiß, daß das Feuer kein Zufall war, er weiß, daß er

ni  ts beweisen kann, er weiß, daß es ihm au   ni ts nützen würde, wenn

er Beweise hä  e. Blan  e und Zéze e haben ihm angeboten, zu ihnen in ihr

bereits überfülltes Hausboot zu ziehen, aber er hat abgelehnt. Die Arbeiten

an Armandes Haus seien no  


ni t abges  lossen, hat er erklärt. Das muß

er zuerst no  erledigen. I  selbst habe seit dem Brand ni  t mehr mit ihm

gespro   en. I habe ihn einmal kurz am Ufer gesehen, wo er dabei war, den

Abfall zu verbrennen, den seine Gefährten hinterlassen ha en. Er wirkte

mürris  und vers  lossen, die Augen vom Rau  gerötet. Als i  ihn grüßte,

reagierte er ni  t. Sein Haar war im Feuer teilweise verbrannt, und den Rest

ha  e er zu kurzen Stoppeln ges  


ni en, so daß er jetzt aussieht wie ein

brennendes Strei  holz.


»Was hat er jetzt vor?«

Armande zute die Aseln.


»I weiß nit. I glaube, er slä in einem der verfallenen Häuser hier

in der Straße. Gestern abend hab i ihm was zu essen vor die Tür gestellt,

und heute morgen war es weg. I hab ihm au Geld angeboten, aber er

wollte es nit annehmen.« Sie zupe nervös an ihrem fertigen Zopf. »Sturer

Bengel. Was nützt mir das ganze Geld in meinem Alter? I würde viel

lieber ihm einen Teil davon geben, ansta es alles dem Clairmont-Clan in

den Raen zu werfen. Wie i die kenne, landet es sowieso nur in Reynauds

Klingelbeutel.«

naubte verätli.
Sie s

»Der Kerl ist ein Dikopf. Go bewahre uns vor rothaarigen Männern.

Die lassen si einfa nits sagen.« Sie süelte verdrießli den Kopf.

»Gestern ist er wutsnaubend abgezogen, und seitdem hab i ihn nit

mehr gesehen.«

I mußte unwillkürli läeln.


»Sie beide sind vielleit ein Paar«, .
sagte i »Einer so stur wie der

andere.«

Armande sah mi  empört an.


» Ich?« 
rief sie aus. »Wollen Sie mi etwa mit diesem fu shaarigen,
di sädeligen –«
Laend nahm i meine Bemerkung zurü.

»I will mal sehen, ob i ihn finde«, sagte i.

I fand ihn nit, obwohl i eine Stunde lang an den Ufern des Tannes
na ihm sute. Selbst die Methoden meiner Muer halfen nit. I

entdete jedo seinen Slafplatz. In einem Haus nit weit von Armandes

entfernt, einem der weniger verfallenen unter den heruntergekommenen

Häusern in der Straße. Die Wände glänzen vor Feu tigkeit, aber die obere
eint no einigermaßen in Suß zu sein, und in mehreren Fenstern
Etage s

sind die Seiben erhalten. Im Vorbeigehen fiel mir auf, daß die Tür

aufgebroen worden war, und als i einen Bli hinein warf, bemerkte i,

daß im Kamin im Wohnzimmer erst kürzli ein Feuer gebrannt haben


mußte. Es gab no  weitere Anzei en, die darauf hindeuteten, daß das

Haus bewohnt war; ein Ballen angesengten, aus dem eten


Feuer gere

Segeltu s, ein Stapel Treibholz, mehrere Möbelstüe, wahrseinli von

den ehemaligen Bewohnern als wertlos im Haus zurügelassen. I rief

seinen Namen, bekam jedo  keine Antwort.

Da i  um halb neun den Laden öffnen mußte, gab i die Sue sließli
auf. Roux würde son von allein auauen, wenn er soweit war. Als i

am Laden ankam, wartete Guillaume son draußen, obwohl die Tür

unverslossen war.

»Sie häen ruhig drinnen auf mi warten können«, sagte i.

»O nein«, erwiderte er ernst. »Das wäre ungehörig gewesen.«

»Man muß im Leben au mal was riskieren«, sagte i  laend.


»Kommen Sie rein, Sie müssen unbedingt meine frisgebaenen

Windbeutel probieren.«

Seit Charlys Tod wirkt er eingefallen, als sei er auf die Häl e seiner

ursprünglien Größe zusammengesrump, sein junges-altes Gesit


wirkt zuglei versmitzt und weise vor Gram. Aber er hat seinen Sinn für

Humor nit verloren, seine wehmütig spöise Art, die ihn vor

Selbstmitleid bewahrt. Heute morgen war er ganz mit dem Unglü

besäigt, das den Leuten am Fluß widerfahren war.

»Reynaud hat heute in der Messe kein Wort darüber verloren«, sagte er,

während er si  aus dem silbernen Känn en Sokolade eins enkte.


»Weder gestern no  heute. Nit ein einziges Wort.«
I bestätigte, daß dies ziemli ungewöhnli ts des sei angesi

Interesses, das der curé bis dahin an den fahrenden Leuten gezeigt hae.

»Vielleit weiß er etwas, über das er nit spreen darf«, meinte

Guillaume. »Sie wissen son. Beitgeheimnis.«

Er erzählt mir, daß er Roux gesehen hat, der si mit Narcisse vor dessen

Gewäshäusern unterhielt. Vielleit hat Narcisse Arbeit für Roux. I

hoffe es zumindest.

»Er stellt häufig Gelegenheitsarbeiter ein, wissen Sie«, sagte Guillaume.

»Er ist verwitwet. Hat nie Kinder gehabt. Außer einem Neffen in Marseille
gibt es niemanden, der den Betrieb übernehmen könnte. Und Narcisse ist es

egal, wer im Sommer für ihn arbeitet, wenn er alle Hände voll zu tun hat.

Solange einer zuverlässig ist, interessiert es ihn ni t, ob er zur Kire geht.«
Guillaume lä elte entsuldigend, wie immer, wenn er etwas sagt, was er
als gewagt empfindet. »Manmal frage i mi«, fuhr er nadenkli fort,

»ob Narcisse nit ein besserer Christ im eigentlien Sinne ist als i oder

Georges Clairmont – oder sogar curé Reynaud.« Er trank einen Slu. »I

meine, Narcisse hil, wo er kann«, sagte er ernst. »Er gibt Leuten, die Geld

brauen, Arbeit. Er läßt Zigeuner auf seinem Land kampieren. Alle wissen,

daß er die ganzen Jahre mit seiner Haushälterin geslafen hat, und er geht

nie in die Kire, außer um seine Kunden zu treffen, aber er ist immer

hilfsbereit.«

I nahm den Deel von dem Table mit den Windbeuteln und legte ihm
einen auf den Teller.

»I glaube nit, daß es so etwas gibt wie gute und slete Christen«,
sagte i. »Nur gute und slete Mensen.«

Er nite und nahm das kleine runde Gebä zwisen Daumen und

Zeigefinger.

»Vielleit.«

Sweigend senkte i mir eine Tasse Sokolade ein, mit Noisee-

Likör und Haselnußbläen. Es duete warm und betörend wie ein Stapel

Holz in der späten Herbstsonne. Guillaume aß seinen Windbeutel mit stillem

Genuß und sammelte die Krümel mit einem befeu teten Finger von seinem
Teller.

 mein Leben lang


»Das heißt also, Sie würden sagen, daß alles, woran i

geglaubt habe  – Sünde und Erlösung und Auferstehung des Fleises  –, daß

das alles keine Bedeutung hat, nit wahr?«

I läelte über seine Ernsthaigkeit.

»I würde sagen, Sie haben si mit Armande unterhalten«, sagte i

freundli. »Und i würde sagen, daß Sie und Armande das Ret haben,

zu glauben, was Sie wollen. Solange es Sie glüli mat.«

»Oh.« Er saute mi mißtrauis an, als erwartete er, daß mir jeden

Augenbli Hörner sprießen würden. »Und an was  – wenn i mir die Frage
–, an was glauben Sie?«
erlauben darf 

An Reisen mit fliegenden Teppien, Runenzauber, Ali Baba und Mu  er-

Go  es-Ers  einungen, Astralreisen und das Deuten der Zukun  aus dem

Satz in einem Rotweinglas  …


Florida? Disneyland? Die Everglades? Wie wär’s damit, chérie? Na, wie

wär’s?

Buddha. Frodos Reise na  Mordor. Das Sakrament der heiligen

Wandlung. Dorothy und Toto. Der Osterhase. Marsmens  en. Das Gespenst

im S  rank. Die Auferstehung und das Leben, das die Karten verheißen  …
Irgendwann in meinem Leben habe i  an all das geglaubt. Oder es

zumindest vorgegeben. Oder vorgegeben, ni  t daran zu glauben.

Was immer du willst, Mutter. Was immer dich glücklich macht.

Und jetzt? An was glaube i  jetzt?

»I  glaube, das einzige, was zählt, ist, daß man glü  li und zufrieden

ist«, sagte i  s ließli  .

Glü  . So simpel wie eine Tasse S  okolade oder so kompliziert wie das

Herz. Bi  er. Süß. Lebendig.

Am Na  mi ag kam Joséphine. Anouk war na  der S ule sofort

losgerannt, um in Les Marauds zu spielen, warm eingepa  t in ihren roten

Anorak und mit der strengen Anweisung, na  Hause zu kommen, falls es

anfangen sollte zu regnen. Die Lu  ist s  wer und rie   t s arf wie fris 
ges  lagenes Holz. Joséphine trug ihren karierten Mantel, den sie bis zum

Hals zugeknöp  
ha e, die rote Baskenmütze und ein neues rotes Halstu ,

das ihr ins Gesi  fl t a erte. Sie betrat den Laden mit einem trotzig-

selbstsi  eren Bli  , und einen Augenbli  lang stand eine strahlend s  öne

Frau vor mir, mit vom Wind geröteten Wangen und funkelnden Augen.

Dann löste si  das Trugbild auf, und sie war wieder sie selbst, die Hände

tief in den Tas  en vergraben, den Kopf gesenkt, als müßte sie si  gegen

einen unsi  tbaren Angreifer verteidigen. Als sie ihre Mütze abnahm,

kamen ihr zerzaustes Haar und eine fris  e Strieme an ihrer Stirn zum

Vors  ein. Sie wirkte zuglei  verängstigt und euphoris  .

»I  ’
hab s ges a «, verkündete sie. »Vianne, i  ’
hab s ges a .«
Eine S   re sekunde lang da   te i , sie würde mir gestehen, daß sie

ihren Mann ermordet ha  e.  Sie ha e diesen Bli    – einen wilden,

leidens a li en Bli –  , und sie zeigte ihre Zähne, als hä  e sie gerade in

eine Zitrone gebissen. I  spürte ihre Angst wie abwe  selnd heiße und

kalte Wellen von ihr ausgehen.

»I  habe Paul verlassen«, sagte sie. »Endli  habe i  es ges  a .«

Ihr Bli  war messers  arf. Zum erstenmal, seit i  sie kennengelernt

ha  e, sah i  Joséphine, wie sie zehn Jahre zuvor gewesen sein mußte, bevor

sie dur  Paul-Marie Muscat farblos und uns  einbar geworden war. Halb

wahnsinnig vor Angst, aber unter dem Wahnsinn lag ein gesunder Verstand,

der einem das Herz sto  en ließ.

»Weiß er es s  on?« fragte i  , während i  ihr den Mantel abnahm. Die

Manteltas  en waren s  wer, aber ans  einend ni  t mit S   mu gefüllt.

Joséphine s  ü elte den Kopf.

»Er glaubt, i  sei einkaufen gegangen«, sagte sie atemlos. »Uns war die

Tie  ühlpizza ausgegangen. Er hat mi  losges  i t, um neue zu besorgen.«

Sie lä  elte beinahe kindli  vers  mitzt. »Und 


i hab einen Teil der

Haushaltskasse mitgenommen«, fuhr sie fort. »Er bewahrt das Geld in einer

Keksdose unter der  eke auf. Neunhundert Francs.« Unter dem Mantel trug

sie einen roten Pullover und einen s  warzen Faltenro  . Zum erstenmal sah


i sie ni  t in Jeans. Sie warf einen Bli  auf ihre Uhr.

»Einen chocolat espresso, bi e«, sagte sie. »Und eine große Tüte

Mandeln.« Sie legte das Geld auf den Tis  


. »I habe gerade no  genug

Zeit, bevor mein Bus fährt.«

»Ihr Bus?« I  
war verblü . »Wohin?«

»Agen.« Sie s  
aute mi trotzig an. »Wohin es ans  ließend geht, weiß

i   
no ni  
t. Viellei t na Marseille. So weit weg von ihm wie mögli  .«


Sie sah mi zuglei  
mißtrauis und überras  t an. »Sagen Sie bloß ni  t,

i  
soll es ni t tun, Vianne. Sie haben mi  
s ließli  dazu ermutigt. Von


allein wäre i nie auf die Idee gekommen.«


»I weiß, aber  –«
Ihre Worte klangen wie ein Vorwurf.

»Sie haben mir gesagt, i  sei frei.«


Das stimmte. Frei, davonzulaufen, frei, auf das Wort einer Fremden hin

aufzubre en, abzuheben wie ein losgebundener Lu ballon, der mit dem

Wind davontreibt. Die Angst s nürte mir plötzli das Herz zusammen.
War das der Preis dafür, daß i bleiben dure? Daß sie an meiner Stelle in

die Welt hinaus ging? Wele Möglikeiten hae i ihr eigentli eröffnet?

»Aber Sie fühlten si do in Sierheit.« I brate die Worte kaum

heraus, denn i sah das Gesit meiner Muer in ihrem. Ihre Sierheit

aufzugeben für ein paar neue Erfahrungen, für einen flütigen Bli auf das

Meer  … und dann? Der Wind wir uns immer wieder zurü an dieselbe

Wand. Ein Taxi in New York. Eine dunkle Gasse. Ein strenger Frost.

»Sie können nit einfa vor allem davonlaufen«, sagte i. »I weiß es.
I habe es versut.«

»Also, in Lansquenet kann i jedenfalls nit bleiben«, sagte sie

snippis, und i sah, daß sie den Tränen nahe war. »Nit, solange er

hier ist.«

»I  erinnere mi no gut, wie es war, als wir ein soles Leben geführt
haben. Immer unterwegs. Immer auf der Flut.«

Sie hat ihren eigenen Swarzen Mann. I sehe es an ihren Augen. Er

besitzt die Stimme der Autorität, die keinen Widerspru duldet, eine

trügerise Logik, die einen starr, gehorsam und ängstli mat. Si von

dieser Angst zu befreien, voller Hoffnung und Verzweiflung davonzulaufen,

nur um irgendwann festzustellen, daß man den Swarzen Mann in seinem

Innern mit si trägt wie ein bösartiges Kind  … Am Ende wußte meine

Muer es. Sie sah ihn an jeder Straßenee, im Bodensatz jeder Tasse. Er

grinste sie von Plakatwänden an, beobatete sie aus jedem Auto heraus,

und wenn es no so snell vorüber fuhr. Und mit jedem Herzslag kam er

näher.

»Wenn Sie davonlaufen, werden Sie Ihr Leben lang auf der Flu t sein«,
sagte i  eindringli. »Bleiben Sie lieber bei mir. Bleiben Sie und kämpfen
Sie mit mir gemeinsam.«

aute mi an.


Joséphine s

»Bei Ihnen?« Ihre Verblüffung war beinahe komis.


»Warum ni t? I habe no ein Zimmer, ein Klappbe …« Sie süelte
bereits den Kopf, und i widerstand dem Impuls, sie an den Armen zu

paen und zum Bleiben zu zwingen. I häe es gekonnt. »Nur eine

Zeitlang, bis Sie etwas anderes finden, bis Sie einen Job finden –«

Sie begann beinahe hysteris zu laen.

»Einen Job? I kann do nits. Außer putzen  – und koen  – und

Asenbeer leeren und  – B-Bier zapfen und den G-Garten umgraben und

mi jeden F-Freitagabend von m-meinem Mann fien lassen  …« Sie late

immer lauter, hielt si den Bau mit beiden Händen.

I versute, ihren Arm zu nehmen.

»Joséphine. I meine es ernst. Sie werden etwas finden. Sie brauen

nit zu –«

»Sie müßten ihn mal sehen.« Sie late immer no, jedes Wort soß aus

ihrem Mund wie eine biere Kugel, ihre Stimme war voller

Selbstveratung. »Dieses geile Swein. Dieses fee, haarige Swein.« Und

plötzli weinte sie ebenso heig, wie sie gelat hae, die Augen fest

zugekniffen und die Hände an die Wangen gepreßt, als versute sie, eine

innere Explosion zu verhindern.

I wartete.
 um und fängt an zu snaren. Und
»Und wenn er fertig ist, dreht er si

am nästen Morgen versue i«, fuhr sie mit vor Ekel verzerrtem Gesit

fort, mühsam die Worte formend, »versue i, seinen Gestank aus den

Laken zu süeln, und jedesmal habe i mi gefragt: Was ist mit mir

geschehen? Mit Joséphine Bonnet, d-die so gut in der Sule war und einmal

davon geträumt hat, T-Tänzerin zu werden  …«


Plötzli sah sie mi wütend und zuglei ruhig an.
»Es klingt vielleit albern, aber i habe immer gedat, daß das alles ein

Irrtum sein müsse, daß eines Tages jemand kommen und mir sagen würde,

das alles sei ni t wahr, das alles sei der Alptraum einer anderen Frau, und
daß mir das niemals zustoßen würde  …«
I  erte. Ein
nahm ihre Hand. Sie war kalt und zi Fingernagel war tief

eingerissen, und ihre Handfläe war blutversmiert.


»I  versue immer wieder, mi zu erinnern, wie es war, als i ihn
no geliebt habe. Aber da ist nits. Ein großes swarzes Lo. An alles

andere erinnere i mi  – an das erste Mal, als er mi geslagen hat, das

weiß i no ganz genau  –, aber man sollte meinen, daß es selbst bei Paul-

Marie etwas geben müßte, an das i mi gern erinnere. Irgend etwas, das

alles retfertigen würde. Aber es ist alles nur Zeitverswendung gewesen.«

Sie bra abrupt ab und saute auf ihre Uhr.

»I hab viel zuviel geredet«, sagte sie überrast. »Wenn i den Bus

kriegen will, hab i keine Zeit mehr für eine Sokolade.«

I saute sie an.

»Trinken Sie, und lassen Sie den Bus fahren«, sagte i. »I spendiere

Ihnen einen chocolat espresso. I wünste nur, es wäre Champagner.«

»I muß gehen«, sagte sie störris. Ihre Fäuste bohrten si wieder in

ihre Magengrube. Sie senkte den Kopf wie ein angriffslustiger Stier.

»Nein.« I sah sie an. »Sie müssen bleiben. Sie müssen ihm offen die

Stirn bieten. Sonst häen Sie au glei bei ihm bleiben können.«

Einen Moment lang hielt sie meinem Bli trotzig stand.

»Das kann i nit.« In ihrer Stimme lag ein verzweifelter Unterton.

»Das stehe i nit dur. Er wird mi besimpfen, mir jedes Wort im

Mund herumdrehen  –«
»Sie haben Freunde hier im Dorf«, erwiderte i  san . »Und Sie sind

stark, au wenn Sie es no nit wissen.«


Und dann setzte Joséphine si auf einen meiner roten Barhoer, legte

ihren Kopf auf die eke und begann leise zu weinen.

I ließ sie gewähren. I sagte ihr nit, daß alles gut werden würde. I

versute nit, sie zu trösten. Manmal ist es besser, die Dinge nit zu

beeinflussen, Trauer und Leid ihren Lauf nehmen zu lassen. Sta dessen

ging i in die Küe und bereitete in aller Ruhe chocolat espresso für uns

beide zu. Bis i die Tassen gefüllt, Cognac und Sokostreusel hinzugefügt,

einen Zuerwürfel auf jede Untertasse gelegt hae und die beiden Tassen

auf einem gelben Table hinaustrug, hae sie si beruhigt. I weiß, es ist

ein swaer Zauber, aber manmal wirkt er.


»Warum haben Sie es si  anders überlegt?« fragte i  , als sie ihre Tasse

halb ausgetrunken ha  e. »Als wir uns das letzte Mal unterhielten, ha   e i

ni  t den Eindru  , daß Sie vorha  en, Paul zu verlassen.«

Sie zu  te die A  seln und wi  meinem Bli  aus.

»Hat er Sie wieder ges  lagen?«

Diesmal wirkte sie überras  t. Sie fuhr si  mit der Hand an die Stirn und

befühlte die feuerrote Strieme.

»Nein.«

»Warum dann?«

Sie wandte den Bli  wieder ab. Mit den Fingerspitzen berührte sie die

Tasse, wie um si  zu vergewissern, daß sie wirkli  existierte.

»I  weiß ni  t.«

Es ist eine o ffensitlie Lüge. Automatis versue i, ihre Gedanken


zu errei  en, die gerade no so offen vor mir gelegen haen. I muß

wissen, ob i  sie dazu gebracht habe, ob i  sie entgegen meiner guten

Vorsätze dazu gezwungen habe. Do  im Moment sind ihre Gedanken

formlos, vernebelt. I  sehe ni  ts als Dunkelheit.

Es hat keinen Zwe  , sie zu bedrängen. Joséphine ist starrköp fig. Und sie
ist eine s   le te Lügnerin. Aber etwas in ihr sträubt si  dagegen, si 
hetzen zu lassen. Irgendwann wird sie es mir sagen. Wenn sie will.

Es wurde Abend, bis Muscat sie su  en kam. Inzwis  en ha en wir Anouks

Be  für sie bezogen  – Anouk wird vorerst in meinem Zimmer auf dem

Klappbe  s lafen. Sie nimmt Joséphines Anwesenheit so gelassen hin wie

so vieles andere au   . I wußte, daß es meiner To  ter einen Moment lang


s wer fiel, ihr erstes eigenes Zimmer zu opfern, do  i verspra  ihr, daß

es nur für kurze Zeit sein würde.

»I  habe mir etwas überlegt«, sagte i  ihr. »Wir könnten den Da  boden

für di  herri  ten, mit einer Leiter zum Hinau  


le ern und einer Falltür

und kleinen, runden Da  fenstern. Was hältst du davon?«

Die Vorstellung ist zuglei  verlo  end und gefährli  . Sie bedeutet, daß

wir no  lange hierbleiben werden.

»Kann i  von dort oben aus die Sterne sehen?« fragte Anouk begierig.
»Natürli  .«

»In Ordnung!« sagte Anouk und lief zusammen mit Pantou fle die Treppe
hinauf.

Gemeinsam aßen wir in der überfüllten Kü e zu Abend. Der Kü  entis 


stammt no  aus den Zeiten, als der Laden eine Bä  erei war, ein massiver,

s werer Tis  aus Kiefernholz, übersät mit einem Netzwerk von feinen,

weißen Linien, Messerritzen, gefüllt mit uralten, zementharten Teigresten,

die der Tis   pla e eine gla  e, marmorartige Ober fläe verleihen. Die Teller
sind kunterbunt zusammengewürfelt; einer ist grün, einer weiß, Anouks

geblümt. Au  die Gläser sind alle vers  ieden; ein hohes, s  lankes, ein

s  weres, breites und eines, das immer no  den Aufdru  Moutarde Amora

trägt. Und denno  ist es das erste Mal, daß wir sol  e Dinge tatsä 
li

besitzen. Bisher haben wir Hotelges  irr benutzt, Plastikbe  er und

Plastikbeste  . Selbst in Nizza, wo wir über ein Jahr gelebt haben, waren

Ges  irr und Mobiliar gemietet, gehörten zur Einri  tung des Ladens. Besitz

ist immer no  etwas Neues für uns, etwas Kostbares, Beraus  endes. I 
beneide den Tis  um seine Narben, die Brand fleen, die von den heißen

Ba  formen herrühren. I  beneide ihn um sein ruhiges Zeitgefühl, und i 


wüns   te, i könnte sagen: Das habe i  vor fünf Jahren getan. Diesen

Fle   habe i gema  t, diesen Ring dort, der von einer nassen Ka ffeetasse
stammt, diese kleine, von einer Zigare  e verursa  te Brandstelle, diese

Kerben an der Tis  kante. Dort hat Anouk ihre Initialen in das Tis  bein

geritzt, als sie se  s Jahre alt war. Das da hab i  vor sieben Jahren an einem

warmen Sommertag mit einem S nitzmesser gema  t. Weißt du no ?

Erinnerst du di   no an den Sommer, als der Fluß ausgetro  net war?

Weißt du no  ?

I  beneide den Tis  um seine Ruhe. Er ist s  on lange an diesem Ort. Er

gehört hierher.

Joséphine half mir beim Zubereiten des Abendessens; einen Salat aus grünen

Bohnen und Tomaten, rote und s warze Oliven vom Wo  enmarkt,

Walnußbrot, fris  es Basilikum von Narcisse, Ziegenkäse, Rotwein aus


Bordeaux. Wir unterhielten uns beim Essen, spra en jedo  ni t über

Paul-Marie Muscat. I  erzählte ihr von uns, von Anouk und mir, von den

Orten, in denen wir gelebt ha en, von der chocolaterie in Nizza, von der

Zeit in New York, kurz na  Anouks Geburt, und von der Zeit davor, von

Paris und Neapel, von all den provisoris en artieren, in denen meine
Muer und i uns auf unserer endlosen Flut kreuz und quer dur die

Welt häusli eingeritet haen. Heute abend will i mi nur an die

guten Dinge erinnern, an all die guten, lustigen Erlebnisse. Es liegen son

genug traurigen Gedanken in der Lu. I stelle eine weiße Kerze auf den

Tis, um slete Einflüsse abzuwehren. Ihr Du hat etwas Romantises,

etwas Tröstlies. I erzähle Joséphine von dem kleinen Kanal in Ourcq,

vom Pantheon, von der Place des Artistes, der Pratstraße Unter den

Linden, von der Fähre na Jersey, von knusprigen Wiener Pasteten, die wir

no warm auf der Straße aus dem Papier aßen, von der Strandpromenade

in Juan-les-Pins und von San Pedro, wo wir auf der Straße getanzt haben.

I sah, wie ihre Züge si langsam entspannten. I erzählte ihr davon, wie
meine Muer einmal einen Esel an einen Bauern in einem Dorf in der Nähe

von Rivoli verkaue, und wie das Tier immer wieder zu uns zurüfand, uns

fast bis na Mailand nalief. Und dann die Gesite von den

Blumenverkäufern in Lissabon, und wie wir diese Stadt im Kühlwagen eines

Blumenhändlers verließen, der uns vier Stunden später halb erfroren im

eln, und sließli late sie.


Hafen von Porto ablieferte. Sie begann zu lä

Es gab Zeiten, da haen meine Muer und i Geld, und Europa ersien

uns sonnig und verheißungsvoll. Von diesen Zeiten erzählte i Joséphine;

von dem vornehmen Araber in der weißen Limousine, der meiner Muer an

dem Abend in San Remo ein Ständen brate, wie wir laten und wie

glüli sie war und wie lange wir naher von dem Geld lebten, das er uns

gegeben hae.

»Sie haben so viel erlebt«, sagte sie mit einem Unterton von Neid und

Bewunderung. »Und dabei sind Sie no  so jung.«


»I bin fast genauso alt wie Sie.«
Sie süelte den Kopf.

»I elte wehmütig. »I wäre gern eine
bin tausend Jahre alt.« Sie lä

Abenteurerin«, sagte sie. »Dann würde i der Sonne folgen mit nits als

einem Koffer in der Hand, ohne zu wissen, wo i am nästen Tag sein

würde  … «

»Glauben Sie mir«, sagte i 


, »das ist mit der Zeit sehr ermüdend.
san

Na einer Weile sieht es überall glei aus.«

Sie saute mi zweifelnd an.

»Glauben Sie mir«, sagte i, »i weiß, wovon i rede.«

Es stimmt nit ganz. Jeder Ort hat seinen Charakter, und an einen Ort

zurüzukehren, an dem man einmal gelebt hat, ist wie einen alten Freund

na langer Zeit wiederzusehen. Aber die Menschen fangen an, überall

glei auszusehen; dieselben Gesiter tauen in Städten auf, die Tausende

von Kilometern voneinander entfernt liegen, dieselben Gesitsausdrüe.

Das kühle, feindselige Starren des Beamten. Der neugierige Bli der Bauern.

Die trägen, gelangweilten Gesiter der Touristen. Dieselben Liebhaber,

Müer, Beler, Krüppel, fliegenden Händler, Jogger, Kinder, Polizisten,

Taxifahrer, Zuhälter. Na einer Weile wird man regelret paranoid, es ist,

als würden diese Mensen einen heimli von Stadt zu Stadt verfolgen, die

Kleider und Gesiter weseln, aber im Grunde unverändert bleiben, ihren

eintönigen Besäigungen nagehen, während sie uns, die Eindringlinge,

ständig halb im Auge behalten. Zu Anfang kommt man si irgendwie

überlegen vor. Wir sind ein besonderer Slag, wir Unsteten. Wir haben so

viel mehr gesehen, so viel mehr erlebt als die anderen. Die anderen, die es

zufrieden sind, ihr es


erbärmli Leben in einer endlosen Abfolge von

Slafen-Arbeiten-Slafen dahinplätsern zu lassen. Wir blien


verätli herab auf ihre gepflegten Gärten, ihre eintönigen Reihenhäuser

in den Vorstädten, ihre beseidenen Träume. Dann, na einer Weile,

kommt der Neid. Beim erstenmal ist es beinahe komis; ein plötzlier

Sti, der beinahe augenblili vergessen ist. Eine Frau im Park, die si

über ein Baby im Kinderwagen beugt, beider Gesiter strahlen, aber nit

vom Sonnensein. Dann kommt das zweite Mal, dann das drie; zwei

junge Leute Arm in Arm am Strand; eine Gruppe von jungen Sekretärinnen

in ihrer Mi agspause, die bei Ka ffee und Croissants miteinander s erzen


und la  en  … Mit der Zeit wird es zu einem S  merz, der einen überall

begleitet. Nein, Orte verlieren ihre Identität ni t, egal, wie weit man

herumkommt. Es ist das Herz, das mit der Zeit verkümmert. Man  mal

wirkt das Gesi  t morgens im Spiegel des Hotelzimmers vers  wommen,

wie verblaßt dur  die vielen flütigen Bli  e. Bis zehn sind die Be  en

gema  t, die Teppi  e gesaugt. Die Namen auf den Hotelanmeldungen

ändern si  von Ort zu Ort. Wir hinterlassen keine Spur auf unserer Reise.

Wie Geister haben wir keinen S  a en.

Ein gebieteris  es Klopfen an der Tür riß mi  aus meinen Gedanken.

Joséphine sprang auf, die Augen angstvoll geweitet, die Fäuste gegen die

Rippen gepreßt. Wir ha en es die ganze Zeit erwartet; das Abendessen, die

Unterhaltung waren ein Versu  gewesen, Normalität vorzutäus  en. I 


stand auf.

»Keine Sorge«, sagte i  zu Joséphine. »I  werde ihn ni  t reinlassen.«

In ihren Augen lag Panik.

»I  will ni  t mit ihm reden«, sagte sie leise. »I  kann ni  t.«

»Viellei  t werden Sie es müssen«, erwiderte i  . »Aber ma  en Sie si 


keine Sorgen. Er kann ni  t dur  Wände gehen.«

Sie lä  elte s   wa .

»I  will no   ni t mal seine Stimme hören«, sagte sie. »Sie wissen ni 


t,

wie er ist. Er wird sagen  –«



I ging in den unbeleu  teten Laden.


»I weiß genau, wie er ist«, sagte i  in ents  lossenem Ton. »Und was

immer Sie denken mögen, er ist ni  t einzigartig. Das Gute am Reisen ist,

daß man na  einer Weile feststellt, daß die Mens  en gar ni  t so

unters  iedli  sind, wo immer man au  hinkommt.«

»I  hasse diese Szenen«, murmelte Joséphine, als i  das Li  t im Laden

eins  altete. »I  hasse Ges  rei.«

»Es wird bald vorbei sein«, sagte i  , als das ungeduldige Klopfen wieder

anfing. »Anouk soll Ihnen eine Tasse S  okolade ma  en.«


Die Tür hat eine Ke e. An die Si  erheitsvorkehrungen in der Stadt

gewöhnt, habe i  sie angebra  t, als wir hierherzogen, do  bis jetzt haben

wir sie ni  t gebrau  t. Im Türspalt sehe i  Muscats wutverzerrtes Gesi  t.

»Ist meine Frau hier?« Seine Stimme klingt belegt.

»Ja.« I  sehe keinen Grund, mi  auf Aus flüte zu verlegen. Es ist

besser, ihn glei  in seine S  ranken zu verweisen. »I   für te, sie hat Sie

verlassen, Monsieur Muscat. I  habe ihr angeboten, bei mir zu wohnen, bis

alles geregelt ist. Es s  ien mir das Beste.«

I bemühe mi  um einen neutralen, hö flien Ton. I  kenne seine

Sorte. Wir sind ihnen tausendmal begegnet, meine Mu  er und i  , an

tausend vers  iedenen Orten. Er starrt mi  verblü  an. Dann gewinnt

seine S  läue die Oberhand, er fixiert mi mit seinem Bli, hält mir seine
o ffenen Hände entgegen, um mir zu zeigen, daß er harmlos ist, eher verwirrt
und amüsiert. Einen Augenbli  lang wirkt er beinahe  armant. Dann tri 
er einen S  ri näher an die Tür. I   rie e seinen ranzigen Atem, der na 
Bier und Rau  stinkt.

»Madame Ro er.« Seine Stimme klingt wei  , beinahe bi end. »I 


mö  te, daß Sie dieser fe  en Kuh sagen, sie soll ihren Ars  bewegen und

sofort rauskommen, sonst bekommt sie es mit mir zu tun. Und wenn Sie si 
einbilden, Sie könnten si  mir in den Weg stellen, Sie Emanzenhexe  –«
Er rü  elt an der Tür.

»Ma  en Sie die Ke  e los.« Er lä  elt, versu  t mir zu   s mei eln,

während seine Wut wie ein übler Gestank aus ihm herausströmt. »I  hab

gesagt, Sie sollen die verdammte Ke  e losma  en, bevor  i die Tür

eintrete!« Seine Stimme ist s  rill vor Rage, sie klingt wie das  ieken eines

wütenden S  weins.

 I versu  e, ihm in aller Ruhe die Situation zu erklären. Er flut und


kreis t seinen Frust heraus. Mehrmals tri  er gegen die Tür, so daß die

S arniere quiets  en.

»Wenn Sie in mein Haus eindringen, Monsieur Muscat«, erkläre i  ihm

ruhig, »bin i gezwungen, Sie wie einen Einbre  er zu behandeln. In

meiner Kü  e habe i  eine Dose Contre-Attaq ’, die i  immer bei mir trug,
als i  in Paris lebte. I  habe das Gas ein- oder zweimal ausprobiert. Es ist

äußerst e ffektiv.«
Die Drohung läßt ihn innehalten. Wahrs  einli  glaubt er, er sei der

einzige, der das Re  t hat, Drohungen auszuspre  en.

»Sie verstehen das ni  t«, jammert er. »Sie ist do  meine Frau. I  liebe

sie. I  weiß ni  t, was sie Ihnen erzählt hat, aber  –«


»Was sie mir erzählt hat, spielt keine Rolle, Monsieur. Sie allein tri  die

Ents  eidung. Wenn i  Sie wäre, würde i   au ören, mi   


lä erli zu

ma  en, und na  Hause gehen.«

»Sie können mi  mal!« Sein Gesi 


t ist so di  t an der Tür, daß seine

Spu  e mi   tri wie heiße, eklige S rotkugeln. »Das habe i  Ihnen zu

verdanken, Sie S  lampe. Sie haben ihr diese Flausen von Emanzipation und

all dem S  eiß in den Kopf gesetzt.« Er ahmt Joséphines Stimme mit einem

wütenden False   na . »Dauernd heißt es Vianne sagt dies, Vianne sagt das.

Lassen Sie mi  nur eine Minute mit ihr reden, dann werden wir ja sehen,

was sie selbst dazu zu sagen hat.«

»I  glaube kaum, daß  –«


»Ist s  on gut.« Joséphine ist lautlos hinter mi  getreten, eine Tasse

S okolade in beiden Händen, als wollte sie si  wärmen. »I  muß mit ihm

reden, sonst vers windet er nie.«

I s aue sie an. Sie ist ruhiger geworden, ihr Bli  klar. I  ni e.

»In Ordnung.«

I  trete zur Seite, und Joséphine geht an die Tür. Muscat beginnt zu

reden, do  sie fällt ihm ins Wort, ihre Stimme überras  end s  arf und

ruhig.

»Paul. Hör mir zu.«

Ihr Ton bringt ihn mi  en im Satz zum S  weigen.


»Geh. I habe dir ni  ts mehr zu sagen. Kapiert?«

Sie zi ert am ganzen Leib, aber ihre Stimme klingt gefaßt. 


I bin

 
plötzli ri tig stolz auf sie und drü  e ihr ermutigend den Arm. Einen


Augenbli  lang s weigt Muscat. Dann verlegt er si  wieder aufs

S   
mei eln, do i höre die Wut in seiner Stimme wie das Raus  en in

einem von weit her kommenden Funksignal.


»José  –«, sagt er san  . »Das ist do  alles Blödsinn. Komm mit, dann

können wir in Ruhe über alles reden. Du bist meine Frau, José. Hab i   ni t

wenigstens eine letzte Chance verdient?«

Sie s  ü elt den Kopf.

»Zu spät, Paul«, sagt sie in einem Ton, der Endgültigkeit ausdrü t. »Tut

mir leid.«

Dann ma  te sie ganz langsam, ganz bestimmt die Tür zu, und obwohl er

no  minutenlang dagegenhämmerte, abwe  selnd flute, lo  te, drohte

und s  ließli  , als er an fing, an seine eigene Version der Realität zu

glauben, rührselig wurde und weinte, ma  ten wir ni  t wieder auf.

Gegen Mi  erna  t hörte i  ihn vor dem Haus brüllen, dann flog ein

Erdklumpen gegen das Fenster, der eine s mierige Lehmspur auf der

S  eibe hinterließ. I  stand auf, um na  zusehen, was si  da draußen

abspielte, und sah Muscat wie einen viers  rötigen, bösen Kobold mi  en auf

dem Dorfplatz stehen, die Hände tief in den Hosentas  en, so daß i  seinen

Bau  sehen konnte, der ihm über den Gürtel hing. Er wirkte betrunken.

»Ihr könnt ni  t ewig da drin bleiben!« Seine Stimme klang gehässig und

s rill. I  sah, wie in einem der Fenster hinter ihm das Li  t anging.

»Irgendwann müßt ihr da wieder rauskommen! Und dann, ihr S  lampen,

dann krieg i   eu !«

Automatis   stre te i  ihm meine ausgestre  ten Zeige- und

Mi  elfinger entgegen, um seine Flüe auf ihn zurüzuwerfen.


Fort! Böser Geist, mach dich fort.

Einer der Re flexe, die i  


von meiner Mu er geerbt habe. Und denno 
bin i  überras  t darüber, wieviel si    erer i mi jetzt fühle. Dana  lag

i   no lange ruhig und wa   im Be , laus te dem regelmäßigen Atem

meiner To  ter und beoba  


tete die ständig we selnden Muster, die das

Laub im Mondli  t formte. I   


glaube, i versu te wieder, die Zukun  zu

lesen, ho  e, in den Mustern  einfi Zei en zu nden, ein Wort der

Ermutigung  … Na  ts ist es lei   ter, an sol e Dinge zu glauben, wenn der

S  warze Mann draußen Wa e 


hält und die We erfahne auf dem

Kir  turm quiets  t. Aber i   


sah ni 
ts, fühlte ni ts und s lief s  ließli 
wieder ein. I  träumte von Reynaud, der im Krankenhaus am Be  eines

alten Mannes stand, ein Kruzifix in der einen und eine 


S a tel


Strei hölzer in der anderen Hand.
Sonntag, 9. März

Armande kam heute am frühen Morgen in den Laden, um zu plaudern und

okolade zu trinken. Sie trug einen neuen hellen Strohhut mit


eine Tasse S

einem roten Band und wirkte friser und vitaler als gestern. Den

Spaziersto nimmt sie wohl nur aus Affektiertheit mit; mit dem leutend

roten Tasentu, das sie stets darum bindet, sieht er aus wie eine kleine

Rebellenflagge. Sie bestellte chocolat viennois und ein Stü von meinem

swarzweißen Sitkuen und mate es si auf einem Hoer

bequem. Joséphine, die mir im Laden aushil, bis sie etwas anderes

gefunden hat, verfolgte das Gesehen von der Küe aus mit leit

besorgter Miene.

»I  hab gehört, es hat letzte Na t einen ziemli en Wirbel gegeben«,


sagte Armande in ihrer direkten Art. Ihre freundlien dunklen Augen

ma en ihr betont fors es Aureten immer wieder we. »Muscat, dieser

 anseinend mal wieder von seiner besten Seite gezeigt.«


Rüpel, hat si

I erklärte ihr die Salage so knapp wie mögli. Armande hörte

aufmerksam zu.

»I frage mi bloß, warum sie ihm nit son vor Jahren den Laufpaß
gegeben hat«, meinte sie, als i geendet hae. »Sein Vater war keinen Deut

besser. Der konnte seine Meinung au nit für si behalten. Und seine

Hände genausowenig.« Sie nite Joséphine freundli zu, die mit einer

Kanne heißer Mil in der Hand in der Tür ersien. »I hab son immer

gewußt, daß Sie eines Tages zur Besinnung kommen würden, meine Liebe«,

fuhr sie fort. »Lassen Sie si  bloß nits anderes einreden.«


Joséphine lä elte.
»Keine Sorge«, sagte sie. »Das werde i  nit.«

Am Mi ag kam Guillaume zusammen mit Anouk. In der Aufregung der

letzten Tage ha e i ein paarmal mit ihm gespro en, do  als er


hereinkam, war i  verblü  , wie sehr er si  verändert ha 
e. Er wirkte

ni  t mehr so eingefallen und gesunken. Auf einmal bewegte er si  mit

federnden S  ri en und trug einen leu  tend roten S  al um den Hals, der

ihm etwas Verwegenes verlieh. Mir fiel auf, daß immer no Charlys Leine
um sein Handgelenk gewi  elt war. Aus dem Augenwinkel sah i  etwas

Dunkles zu seinen Füßen. Anouk rannte an Guillaume vorbei, tau  te unter

der  eke hindur  und gab mir einen Kuß.

»Maman!« trompetete sie mir ins Ohr. »Guillaume hat seinen Hund

gefunden.«

I drehte mi  um, Anouk immer no  in den Armen. Guillaume stand

neben der Tür, mit freudig geröteten Wangen. Zu seinen Füßen wuselte ein

Welpe, ein braunweißer Mis  ling.

»S  s , Anouk, das ist ni  t mein Hund.« Guillaumes Gesi  tsausdru 


war eine Mis  ung aus Freude und Verlegenheit. »Er war unten am Fluß, in

Les Marauds. Wahrs  einli  wollte ihn jemand loswerden.«

Anouk fü  erte den Hund mit Zu erwürfeln.

»Roux hat ihn gefunden«, rief sie. »Hat ihn unten am Fluß weinen hören.

Das hat er mir selber erzählt.«

»A  , du hast mit Roux gespro  en?«

Anouk ni  te geistesabwesend, während sie den Hund kraulte, der si 


genüßli  über den Boden wälzte.

»Ist der süß«, sagte Anouk. »Werden Sie ihn behalten?«

Guillaume lä  elte traurig.

»I  glaube ni  t, Liebes. Weißt du, na  dem Charly  –«


»Aber er ist ganz allein, er hat gar kein Zuhause  –«
»Es gibt bestimmt Leute im Dorf, die so einem ne 
en kleinen Hund ein

Zuhause geben wollen.« Guillaume beugte si  hinunter und zog den Hund

zärtli  an den Ohren. »Er ist ein freundli  er kleiner Kerl, und so lebha  .«

Hartnä ig: »Wie soll er denn heißen?«

Guillaume s  ü elte den Kopf.

»I  glaube ni  t, daß i  ihn lange genug behalten werde, um ihm einen

Namen zu geben, ma mie.«

Anouk warf mir einen seltsamen Bli  zu, und i s ü elte den Kopf.
 date, Sie könnten vielleit einen Zeel ins Saufenster hängen«,
»I

sagte Guillaume und setzte si an die eke. »Vielleit meldet si sein

Besitzer ja do.«

I senkte ihm eine Tasse Mokka ein und stellte sie zusammen mit ein

paar Florentinern vor ihn hin.

»Natürli .« I läelte.


 kurz darauf wieder zu Guillaume hinübersah, saß der Hund auf
Als i

seinem Soß und ließ si Florentiner füern. Anouk saute mi an und

zwinkerte mir zu.

Seit Anouk und i  hier eingezogen sind, haben wir no an keinem Sonntag
so viele Kunden gehabt wie heute. Unsere Stammkunden  – Guillaume,

Narcisse, Arnauld und die anderen  – sagten wenig, ni ten Joséphine

freundli zu und benahmen si wie immer. Narcisse hae mir einen Korb
voll Endiviensalat aus seinem Gewäshaus mitgebrat, und als er

Joséphine sah, reite er ihr ein kleines Sträußen Anemonen, das er aus

seiner Jaentase zog. »Die bringen ein bißen Farbe in den Laden«,

murmelte er dazu.

Joséphine errötete, ien


s jedo  erfreut und wollte 
si bei ihm

bedanken. Do  Narcisse winkte verlegen ab und slure davon.


Dann kamen die Neugierigen. Während der Messe hae es si

herumgesproen, daß Joséphine Muscat bei mir eingezogen war, und den

ganzen Vormiag über riß der Strom der Kunden nit ab. Joline Drou und

Caro Clairmont kamen in Frühlingskostümen und bunten Kopüern und

überbraten eine Einladung zu einem Wohltätigkeitstee am Palmsonntag.

Armande mußte über ihren Anbli laen.

»Sieh mal einer an, die sonntäglie Modensau!« rief sie amüsiert aus.

Caro wirkte entnervt.

est eigentli gar nit hier sein, Maman«, sagte sie mit einem
»Du dür

leit vorwurfsvollen Unterton. »Du weißt do, was der Doktor gesagt hat,

nit wahr?«

»Allerdings weiß i das«, erwiderte Armande. »Was ist los, sterbe i dir

nit snell genug? Sist du mir deswegen diesen wandelnden


Totenkopf ins Haus, um mir den Vormi  ag zu verderben?«

Auf Caros gepuderten Wangen ers  ien ein An flug von Röte.
»Wirkli  , Maman, wie kannst du so etwas  –«
»I  halte den Mund, sobald du di  um deine eigenen Angelegenheiten

kümmerst«, raunzte Armande s lagfertig, und Caro kerbte fast die

Boden fliesen mit ihren Pfennigabsätzen, so eilig ha  e sie es plötzli  , den

Laden zu verlassen.

Dann kam Denise Arnauld, um si  zu erkundigen, ob wir heute mehr

Brot bräu  ten.

»Nur für alle Fälle«, sagte sie mit neugierig funkelnden Augen. »Wo Sie

do  jetzt einen Gast haben und so.« I  versi  erte ihr, wenn uns das Brot

ausginge, würden wir uns an sie wenden.

Dann Charlo  e Edouard, Lydie Perrin, Georges Demoulin; eine kau  e

vorzeitig ein Geburtstagsges  enk, eine andere erkundigte si   na den

Einzelheiten des S  okoladenfests  – so ein origineller Einfall, Madame –, der


nä  ste ha  e vor der Kir  e sein Portemonnaie verloren und da   te, i

könnte es viellei  t gefunden haben. I  ließ Joséphine hinter der  eke

bedienen. Sie trug eine meiner gelben S ürzen, um ihre Kleider vor

S okoladen fleen zu s ützen, und sie ma  te ihre Sa  e überras  end

gut. Sie hat si  heute besonders sorgfältig zure  tgema  t. Der rote

Pullover und der s  warze Faltenro  sind adre  und ges  ä smäßig, das

dunkle Haar wird von einem Tu  aus der Stirn gehalten. Ihr Lä  eln ist

professionell, ihre Haltung aufre  t, und obwohl ihr Bli  hin und wieder

ängstli  zur Tür wandert, wirkt sie kaum wie eine Frau, die um si  und

ihren Ruf bangt.

»Sie ist s  amlos«, zis te Joline Drou, als sie mit Caro Clairmont no 
einmal am Laden vorbeiging, »einfa   s amlos. Wenn man si  überlegt,

was dieser arme Mann alles mitgema  – t hat  «

Joséphine stand mit dem Rü  en zu ihnen, aber i  sah, wie ihre S  ultern

si  stra  en. Da das allgemeine Gesprä  gerade abgeebbt war, ha  en alle

die Worte verstanden, und obwohl Guillaume einen Hustenanfall

vortäus  te, um Joline zu übertönen, wußte i  , daß Joséphine es gehört

ha  e.
Es entstand betretenes S  weigen.

Dann ergri ff Armande das Wort.


»Tja, meine Liebe, wenn die beiden anfangen, über Sie herzuziehen,

wissen Sie, daß Sie es ges a haben«, sagte sie ke  . »Willkommen auf der

anderen Seite!«

Joséphine warf ihr einen mißtrauis  en Bli  zu. Dann, als sie merkte,

daß der S  erz ni  t gegen sie geri tet war, la  te sie. Ein o ffenes,
unbefangenes La  en. Verblü  fuhr sie mit der Hand an ihren Mund, wie

um si  zu vergewissern, daß das La  en von ihr stammte. Darüber mußte

sie no  mehr la  en, und die anderen la  ten mit ihr. Wir la ten immer

no  , als die Türglo  e läutete und Francis Reynaud den Laden betrat.

»Monsieur le Curé!« I  bemerkte die Veränderung in ihrem Gesi  t, no 


bevor i  ihn sah; ihre Miene wurde feindselig und vers  lossen, ihre Fäuste

drü  ten si  in alter Gewohnheit in ihre Magengrube.

Reynaud ni  te ernst.

»Madame Muscat.« Das erste Wort spra  er mit besonderer Betonung

aus. »I  war bestürzt, Sie heute morgen ni  t in der Kir  e zu sehen.«

Joséphine murmelte etwas Unverständli  es. Als Reynaud auf die  eke

zutrat, drehte sie si  halb um, wie um in die Kü  e zu flüten, überlegte es


si  jedo  anders und wandte si  ihm zu.

»Gut so, meine Liebe«, sagte Armande anerkennend. »Lassen Sie si  von

diesem S  wätzer bloß ni  t eins  ü tern.« Dann wandte sie si  an

Reynaud und gestikulierte streng mit einem Stü  Croissant. »Lassen Sie

diese Frau in Frieden, Francis. Wenn überhaupt, sollten Sie ihr Ihren Segen

geben.«

Reynaud ignorierte sie.

»Hören Sie, ma fille«, sagte er ernst. »Wir müssen miteinander reden.«

Sein Bli  wanderte verä  


tli zu dem roten Sä  en, dem Glü  sbringer,

der über der Tür baumelte. »Aber ni  t hier.«

Joséphine s ü elte den Kopf.

»Tut mir leid, i  habe zu arbeiten. Und i  mö te mir ni  t anhören,

was Sie zu sagen haben.«


Reynaud s ob trotzig das Kinn vor.
»No nie haben Sie die Kire so dringend gebraut wie jetzt.« Ein

kurzer, kalter Bli in meine Ritung. »Sie sind swa geworden. Sie

haben es zugelassen, daß andere Sie auf Abwege leiten. Das Sakrament der

Ehe  –«
Mit einem verätlien Aufsrei fiel Armande ihm erneut ins Wort.
»Das Sakrament der Ehe? Wo haben Sie das denn ausgegraben? I häe

gedat, daß ausgerenet Sie –«

»Bie, Madame Voizin  …« Endli eine Spur von Emotion in seiner

Stimme. Seine Augen waren frostig. »I würde es sehr begrüßen, wenn

Sie –«
»Reden Sie do  ni t
wollen«, faute Armande. »Ihre Muer
so ges

hat Ihnen nit beigebrat zu spreen, als häen Sie eine Kartoffel im

Mund, oder?« Sie kierte in si hinein. »Wir halten uns wohl für was

Besseres, wie? Auf dieser vornehmen Sule haben wir ganz vergessen, wo

wir herkommen, was?«

Reynaud wurde sto steif. I spürte deutli seine Anspannung. Er hat in


den letzten en
Wo deutli abgenommen, seine Haut spannt si über

seinen hohlen Släfen wie die Membran eines Tamburins, die Bewegungen

seines Unterkiefers sind unter dem mageren Fleis gut zu verfolgen. Eine

Haarsträhne, die ihm sräg in die Stirn hängt, läßt ihn auf trügerise

Weise arglos wirken; der Rest ist sneidige Effizienz.

»Joséphine.« Seine Stimme war san, beswörend. Dur seinen Ton

sloß er die anderen Anwesenden aus, als wäre er mit Joséphine allein. »I

weiß, daß Sie meine Hilfe wünsen. I habe mit Paul-Marie gesproen.

Er sagt, Sie seien in letzter Zeit sehr unter Dru gewesen. Er sagt –«

Joséphine süelte den Kopf.

»Mon père.« Der ausdruslose Bli in ihren Augen war verswunden,

sie war ruhig und gelassen. »I weiß, daß Sie es gut meinen. Aber i bleibe

bei meinen Entsluß.«

»Aber das Sakrament der Ehe  –« Er war jetzt deutli erregt, beugte si

vor, das Gesit gramverzerrt. Seine Hände umklammerten die gepolsterte

eke. No ein verstohlener Bli in Ritung des roten Säens. »I
weiß, Sie sind verwirrt. Sie haben si  von anderen beein flussen lassen.«

Dann, bedeutungsvoll: »Wenn wir do nur unter vier Augen miteinander

reden könnten  –«
 bleibe hier bei Vianne.«
»Nein«, erwiderte sie mit fester Stimme. »I

»Aber wie lange?« Er versut, ungläubig zu klingen, do i höre das

Entsetzen in seiner Stimme. »Madame Roer mag zwar Ihre Freundin sein,

aber sie ist eine Gesäsfrau, sie muß ihren Laden führen, si um ihr Kind

kümmern. Wie lange wird sie eine Fremde in ihrem Haus dulden?« Das

ha e gesessen. I sah, wie Joséphine zögerte, sah wieder die Unsierheit in


ihren Augen. I habe diesen Bli zu o bei meiner Muer gesehen, um

mi zu täusen, diesen Ausdru des Zweifels, der Angst.

Wir brauchen nur einander, und sonst niemanden. Ein eindringlies

Flüstern in der swülen Dunkelheit eines anonymen Hotelzimmers.

Warum, zum Teufel, sollten wir die Hilfe von anderen in Anspruch nehmen?

Tapfere Worte, und sollte sie Tränen vergossen haben, waren sie in der

Dunkelheit nit zu sehen. Do i spürte, wie sie fast unmerkli zierte,
während sie mi unter der Dee in den Armen hielt, als würde sie von

Fieber gesüelt. Vielleit war das der Grund, warum sie vor ihnen

davonlief, vor den freundlien Männern und Frauen, die si mit ihr

anfreunden, sie lieben, sie verstehen wollten. Wir waren wie Aussätzige, von

Mißtrauen getrieben; der Stolz, den wir vor uns hertrugen, die letzte

Zu flut der Ausgestoßenen.


»I habe Joséphine angeboten, für mi  zu arbeiten«, sagte i 
freundli , aber bestimmt. »I  brau e dringend Hilfe bei den

Vorbereitungen für das S okoladenfest an Ostern.«


, endli entlarvt, war voller Haß.
Sein Bli

»I werde sie in der Herstellung von Sokolade unterweisen«, fuhr i

fort. »Außerdem kann sie mi im Laden vertreten, wenn i in der Küe

zu tun habe.« Joséphine beobatete mi mit erstaunten Augen. I

zwinkerte ihr zu.

»Sie tut mir einen Gefallen, und i  bin si er, daß sie das Geld gut

gebrau en kann«, sagte i ruhig. »Und was ihre Wohnsituation angeht …«
I saute ihr direkt in die Augen. »Joséphine, Sie können so lange bei mir
wohnen, wie Sie wollen. Es ist uns ein Vergnügen, Sie bei uns zu haben.«

Armande ki erte in si hinein.


adenfroh, »Sie verswenden nur
»Sie sehen also, mon père«, sagte sie s

Ihre Zeit. Es sieht so aus, als würde si alles au ohne Sie wunderbar

fügen.« Sie nippte provozierend genüßli an ihrer Sokolade. »So ein

Täßen Sokolade würde Ihnen au guun«, sagte sie. »Sie wirken ein

bißen spitz um die Nase, Francis. Haben Sie wieder am Meßwein

genast?«

Er läelte sie mit steenden Augen an.

»Sehr witzig, Madame. Wie sön, daß Sie Ihren Sinn für Humor no

nit verloren haben.« Dann drehte er si auf dem Absatz um, und mit

einem pikierten »Monsieur-Dames« an die restlien Kunden verließ er den

Laden.

Montag, 10. März

Ihr Gelä ter folgte mir bis auf die Straße wie ein Vogelswarm. Mein
Unmut und der S okoladendu maten mi swindlig, i fühlte mi

beinahe euphoris vor Wut. Wir haben die ganze Zeit ret gehabt, Vater.

Damit hat sie uns vollkommen bestätigt. Indem sie die drei Bereie

angrei, die uns am witigsten sind  – die Gemeinde, die kirlien

Feiertage und nun das Sakrament der Ehe  –, hat sie si sließli selbst

entlarvt. Ihr Einfluß ist verderbli, und er wird immer größer, der Samen ist

bereits in ein oder zwei Dutzend Köpfen auf frutbaren Boden gefallen.

Heute morgen habe i auf dem Friedhof den ersten Löwenzahn gesehen,

der si hinter einem Grabstein aus einer Ritze zwängte. Die Wurzel ist

bereits fingerdi und hat si so tief in den Boden gegraben, daß i nit

mehr drankomme, wühlt si in die Dunkelheit unter den Stein. In einer
Wo e wird die P flanze wieder na gewasen und no  zäher sein als

zuvor.

I habe Muscat heute morgen bei der Kommunion gesehen, obwohl er

vorher ni t gebeitet hat. Er wirkt abgespannt und mürris, unbehagli


in seinem Sonntagsanzug. Es hat ihn sehr mitgenommen, daß seine Frau ihn

verlassen hat.

 die chocolaterie verließ, stand er rauend neben dem Hauptportal


Als i

und wartete auf mi.

»Nun, mon père?«

»I  habe mit Ihrer Frau gesproen.«


»Wann kommt sie na Hause?«

I süelte den Kopf.

»I möte Ihnen keine falsen Ho ffnungen maen«, sagte i


freundli.

»Diese sture Kuh«, sagte er, warf seinen Zigare enstummel auf den

Boden und zertrat ihn mit dem Absatz. »Verzeihen Sie meine

Ausdru sweise, Vater, aber so ist es nun mal. Wenn i mir überlege, was
i alles für diese Slampe aufgegeben habe  – das Geld, das sie mi

gekostet hat  –«
»Sie hat es  nit leit gehabt«, entgegnete i mit einem
au

bedeutungsvollen Bli, denn i mußte an alles denken, worüber i mit

seiner Frau in all den Jahren im Beitstuhl gesproen habe.

Muscat zute die Aseln.

»I bin kein Engel«, sagte er. »I kenne meine Swäen. Aber sagen

Sie mir eins, Vater«  – er hob biend die Hände  –, »habe i nit meine

Gründe gehabt? Jeden Morgen neben ihrem dämlien Gesit

aufzuwaen. Sie immer wieder mit prallvollen Tasen zu erwisen,

vollgestop mit Zeug, das sie auf dem Markt geklaut hat, mit Lippenstien

und Parfümflasen und billigem Modesmu. Und in der Kire haben

mi alle angestarrt und über mi gelat.« Er saute mi Zustimmung

heisend an. »Was meinen Sie, Vater? Habe i nit au mein Kreuz zu

tragen gehabt?«
Das alles hörte i   ni t zum erstenmal. Seine Bes  werden über ihre

S lampigkeit, ihre Dummheit, ihren Hang zum Stehlen, ihre Faulheit. I 


bin ni  t verp flitet, eine Meinung zu sol  en Dingen zu haben. Meine

Aufgabe ist es, Rat und Beistand zu geben. Aber er widert mi  an mit

seinen Ausreden, seiner Überzeugung, er hä  e es im Leben zu etwas

Großem bringen können, wenn sie ni  t gewesen wäre.

»Wir sind ni  t hier, um S  uld zuzuweisen«, sagte i  mit einem

tadelnden Unterton. »Wir sollten lieber na  Mögli  keiten su  en, wie wir

Ihre Ehe re  en können.«

Er lenkte sofort ein.

»Tut mir leid, Vater. I –    i hä e das alles ni t sagen dürfen.« Er

bemühte si   , si ernstha  geben, zeigte mir seine Zähne, die so gelb waren

wie uraltes Elfenbein. »Glauben Sie ni   t, i würde sie ni  t lieben, Vater.

I meine, i  will sie s   


ließli zurü haben, oder?«

O ja. Damit sie ihm sein Essen ko  t. Und seine Kleider bügelt. Im Café

bedient. Und um seinen Freunden zu zeigen, daß niemand Paul-Marie

Muscat zum Narren hält, niemand. I  vera  te diese Heu  elei. Er muß sie

tatsä li zurü  gewinnen, in diesem Punkt zumindest stimme i  ihm zu.

Aber aus anderen Gründen.

»Wenn Sie sie wiederhaben wollen, Muscat«, sagte i  spitz, »dann haben

Sie si  bisher allerdings erstaunli  dumm angestellt.«

Er warf verä   tli den Kopf in den Na  en.

»Das sehe i  aber gar ni  t  –«


»Geben Sie si   ni t für dümmer aus, als Sie sind.«

Mein Go  , mon père, wie haben Sie es bloß ges a , soviel Geduld mit

diesen Leuten zu haben?

»Drohungen, Bes  impfungen, Ihr Au  ri letzte Na  t? Glauben Sie

wirkli  , daß Sie damit zum Ziel kommen?«

Verdrossen: »I  konnte ihr das do   ni t einfa  dur  gehen lassen,

Vater. Im ganzen Dorf heißt es s  on, meine Frau hä  e mi  sitzenlassen.

Und diese S  lampe Ro  er  …« Seine bösen Augen zogen si  hinter den

Brillengläsern zu S  litzen zusammen. »Es ges  ähe ihr re  t, wenn mit


diesem Luxusladen etwas passieren würde«, sagte er geradeheraus. »Dann

wären wir die Hexe ein für allemal los.«

I sah ihn streng an.


»A ja?«

Es war zu nah an dem, was mir au  son dur den Kopf gegangen ist,
Vater. Go steh mir bei, aber als i das Boot brennen sah  … Es ist ein

primitives Vergnügen, unter meiner Würde als Priester, ein heidnises

Gelüst, das i eigentli gar nit empfinden düre. I habe mit mir

gerungen, Vater, am frühen Morgen. I habe es in mir unterdrüt, aber wie

der Löwenzahn wäst es immer wieder na, slägt heimtüis immer

wieder neue Wurzeln. Vielleit klang meine Stimme härter als gewollt, als

i ihm antwortete, weil i wußte, was er meinte.

»An was haen Sie denn gedat, Muscat?«

Er murmelte etwas Unverständlies.

»Ein Feuer vielleit? Einen praktisen Hausbrand?« I spürte die Wut

in mir wasen. Mein Mund füllte si mit einem Gesma, der zuglei

metallis und süßli faul war. »Wie das Feuer, das die Zigeuner vertrieben

hat?«

Er grinste.

»Mögli . Diese alten Häuser sind gräßlie Feuerfallen.«


»Hören Sie mir gut zu.« Plötzli empfand i Abseu bei dem

Gedanken, er könnte mein Sweigen in jener Nat als Komplizensa

aufgefaßt haben. »Wenn i außerhalb des Beitstuhls au nur den

leisesten Verdat söpfe, daß Sie so etwas vorhaben  – wenn mit diesem

Laden irgend etwas passiert  –« I hae ihn bei den Sultern gepat,

meine Finger gruben si tief in sein weies Fleis.

Muscat starrte mi gekränkt an.

»Aber Vater, Sie haben do selbst gesagt –«

»Ich habe überhaupt nichts gesagt!« I hörte meine Stimme auf dem

Platz widerhallen und beeilte mi, leiser zu spreen. »I habe niemals

gewollt, daß Sie  –« I hae plötzli einen Kloß im Hals und mußte mi

räuspern. »Wir leben nit im Mielalter, Muscat«, sagte i dann knapp.

»Wir legen Goes Gesetze nit na eigenem Gutdünken aus. Oder die
Gesetze dieses Landes«, fügte i  mühsam hinzu, während i  ihm in die

Augen sah. Seine Augäpfel waren ebenso gelb wie seine Zähne. »Haben wir

uns verstanden?«

»Ja, mon père«, brummte er verstimmt.

»Wenn nämli  irgend etwas ges  ieht, Muscat, irgend etwas, eine

einges  lagene Fensters  eibe, ein kleines Feuer, egal was  …« I  bin einen

Kopf größer als er. I  bin jünger, krä  iger als er. Instinktiv reagiert er auf

die physis  e Bedrohung. I  versetze ihm einen Stoß, der ihn gegen die

Steinmauer hinter si  torkeln läßt. Mi  lerweile bin i  kaum no  in der

Lage, meine Wut zu beherrs  en. Daß er es wagt  – daß er es wagt! –, meine
Rolle zu übernehmen, Vater. Ausgere  net er, dieser erbärmli  e,

verblendete Säufer. Daß er mi  in diese Situation bringt; mi  zwingt, diese

Frau zu bes  ützen, die meine Feindin ist. Mühsam gewinne i  die Fassung

wieder.

»Halten Sie si  von dem Laden fern, Muscat.«

Etwas bes  eidener, kleinlauter: »Ja, Vater.«

»Und überlassen Sie die Sa  e mir.«

»Ja, Vater.«

I bin ni 
t verantwortli  für die Verblendung meiner

Gemeindemitglieder. I  habe ihn zu ni  ts angesti  et. Es besteht keine

Seelenverwandts  a zwis  en mir, der seine niederen Instinkte beherrs  t,

und ihm, der si  in ihnen suhlt. Und denno  geht mir die Sa   e ni t mehr

aus dem Kopf. Ein Unglü  sfall  – ein a tlos fortgeworfenes Strei  holz,

eine unbea  tete Kerze, ein Kurzs  –  


luß  au sol e Dinge können Go  es

Werk tun. Aber i  habe meinen Standpunkt deutli  gema   t. I muß

Vianne Ro  er bes  ützen. Es liegt eine bi  ere Ironie darin, Vater, etwas, das

mir den Magen versäuert und den Mund austro  net. Jedesmal, wenn i 
über den Platz hinweg zu der rot-goldenen Markise hinübers  aue, die in

der Sonne glitzert, spüre i  ihr La  en. Irgendwie hat sie es ges   a , mi

auszumanövrieren, Vater. Sie hat Muscat und seine Frau benutzt, um mi 


zu ihrem Werkzeug zu ma  en. Sie hat es ges  a , uns ma  
tlos zu ma en
und daran zu hindern, zu tun, was wir tun müssen, die Sa  e bei der Wurzel

zu pa  en, bevor sie uns übermannt.

No  drei Wo  en bis zu ihrem großen Fest. Mehr bleibt mir ni  t. Drei

Wo  en, um mir zu überlegen, wie i  sie au  alten kann. I  habe in der

Kir  e gegen sie gepredigt, mit dem einzigen Erfolg, mi  selbst lä   erli

gema  t zu haben. S  okolade, hat man mir erklärt, habe ni ts mit Moral

zu tun. Selbst die Clairmonts finden meine Unerbi 


li keit eher

merkwürdig; sie übers  lägt si  vor gespielter Sorge, i  sei überarbeitet,

während er offen über mi  grinst. Vianne 


Ro er selbst kümmert si
überhaupt ni  t um meine Einwände. Ansta  si anzupassen, trägt sie ihr

Anderssein zur S  au, grüßt mi   fre quer über den Platz hinweg, fördert

die S  rullen von Leuten wie Armande und hat dauernd alle Kinder um si 
herum, die unter ihrem Ein fluß immer ausgelassener werden. Selbst in einer
großen Mens  enmenge fällt sie sofort auf. Andere gehen die Straße

entlang  – sie rennt. Ihr Haar, ihre Kleidung; immer zerzaust, immer bunt  –
orange und gelb und gepunktet und geblümt. Wenn si  ein Wellensi  i in

der Wildnis unter die Spatzen mis  te, würde er s  on bald wegen seines

bunten Federkleids zerrissen. Aber hier wird sie mit Wohlwollen akzeptiert,

ja, man hat sogar Vergnügen an ihr. Was anderswo Empörung auslösen

würde, wird hier toleriert, denn es ist ja nur Vianne. Selbst Clairmont erliegt

ihrem Charme, und seiner Frau ist sie ni  t etwa ein Dorn im Auge, weil sie


si moralis  überlegen fühlt, nein, Caro ist eifersü  tig, was ni  t gerade

für sie spri  t. Zumindest ist Vianne Ro  er keine Heu  lerin, die Go  es

Wort mißbrau  t, um ihren sozialen Status zu erhöhen. Aber au  dieser

Gedanke bedeutet eine weitere Gefahr, denn er beinhaltet eine gewisse

Sympathie meinerseits, die si  ein Mann in meiner Position kaum leisten

kann. 
I darf keine Sympathie emp finden. Zuneigung ist ebenso

unangemessen wie Haß. Um der Gemeinde und der Kir  e willen muß i 
unvoreingenommen sein. Nur der Kir e und der Gemeinde bin i zu

Loyalität verp flitet.


Mi  woch, 12. März

Seit Tagen haben wir ni  t mehr mit Muscat gespro  en. Na  dem

Joséphine 
si anfangs weigerte, das Haus zu verlassen, traut sie si 
inzwis  en, allein zum Bä er am Ende der Straße oder zum Blumenladen

auf der gegenüberliegenden Seite des Dorfplatzes zu gehen. Da sie es ni  t

wagt, das Café de la République zu betreten, habe i  ihr ein paar von

meinen Kleidern geliehen. Sie sieht hübs  aus in dem blauen Pullover und

dem geblümten langen Ro  , die Farben verleihen ihr eine jugendli  e

Fris  e. In den wenigen Tagen hat sie si  völlig verändert; der stumpfe,

feindselige Bli  ist vers  wunden, ebenso die abwehrend geballten Fäuste.

Sie wirkt größer, ges  meidiger, ni t mehr so unförmig wie zuvor, als sie

ständig mit eingezogenen S  ultern herumlief und mehrere Lagen Kleider

übereinandertrug. Sie bedient im Laden, während i  in der Kü  e arbeite,

und i  habe ihr bereits beigebra  t, wie man die 


vers iedenen

S okoladensorten mis  t und anrührt und einfa e Pralinen herstellt. Ihre

Hände sind flink und geübt. La  end erinnere i  sie daran, mit wel  er

Ges  
i li keit sie damals am ersten Tag die Mandeln ha e in ihrer Tas  e

vers  winden lassen. Sie errötet.

»I  würde Sie nie bestehlen!« Ihre Empörung ist e  t. »Vianne, Sie

glauben do  – ni t etwa, i   «

 
»Natürli ni t.«

 –
»Sie wissen do , i   «


»Natürli .«


Sie und Armande, die si bisher kaum kannten, sind gute Freundinnen

geworden. Die alte Dame kommt jetzt jeden Tag in den Laden, man  mal

zum Plaudern, man  mal, um si  eine Tüte von ihren Lieblingstrü ffeln zu
kaufen. Häu fig ist sie in Begleitung von Guillaume, der sie inzwis en

regelmäßig besu  t. Heute war Luc au  hier, und die drei saßen zusammen

in einer E  e mit einer großen Kanne S  okolade und einem Teller voll
Eclairs. Es waren immer wieder Gelä  ter und freudige Ausrufe von der

kleinen Runde zu hören.

Kurz vor Ladens  luß kam Roux herein. Er wirkte 


s ü tern und

verhalten. Zum erstenmal seit dem Brand sah i  ihn von nahem, und i 
war bestürzt darüber, wie sehr er si  verändert ha  e. Er wirkt s  lanker,

sein Haar ist mit Pomade streng aus dem mürris  en Gesi  t frisiert. An

einer Hand trägt er einen 


s mutzigen Verband. Die Spuren der

Verbrennungen in seinem Gesi  t wirken jetzt wie ein s  limmer

Sonnenbrand.

Er zu  te zusammen, als er Joséphine hinter der  eke sah.

»Verzeihung. I   da te, Vianne wäre  –« Er wandte si  abrupt zum

Gehen.

»Nein, bi  e. Sie ist in der Kü  e.« Sie ist wesentli   lo erer geworden,

seit sie im Laden arbeitet, do  diesmal wirkte sie verlegen. Viellei   t ha e

seine Ers  einung sie einges 


ü tert.

Roux zögerte.

»Sie sind die Frau aus dem Café«, sagte er s  ließli  . »Sie sind  …«
»Joséphine Bonnet«, unterbra  sie ihn. »I  wohne jetzt hier.«

»A  .«

Als i  aus der Kü  e trat, sah i  , wie er sie mißtrauis  betra  tete.

Do  er verfolgte das  ema ni  t weiter, und Joséphine zog si  erlei  tert

in die Kü  e zurü  .

»S  ön, Sie zu sehen, Roux«, sagte i  


. »I wollte Sie um einen Gefallen

bi  en.«

»So?«

Er s  a es immer wieder, eine einzige Silbe bedeutungsvoll klingen zu

lassen. Diesmal war es hö flie Verblüffung, Mißtrauen. Er wirkte wie eine


nervöse Katze, die jederzeit zum Angriff bereit ist.

»Es müssen ein paar Umbauarbeiten am Haus dur  geführt werden, und

i   da te, Sie könnten viellei … t  «

fi
I nde es s  wierig, die ri  tigen Worte zu finden, denn i weiß, daß
er alles ablehnen wird, was er als Almosen betra  tet.
»Hat das viellei t etwas mit unserer Freundin Armande zu tun?« Sein

Ton war zuglei  beiläu fig und hart. Er s aute zu dem Tis  in der E e
hinüber, an dem Armande, Luc und Guillaume saßen. »Wir versu en wohl
wieder, heimli Gutes zu tun, wie?« sagte er sarkastis.
Als er si mir wieder zuwandte, war sein Gesit ausdruslos.

»I bin nit hergekommen, um Sie um Arbeit zu bien. I wollte Sie

fragen, ob Sie an dem Abend jemanden um mein Boot haben sleien

sehen.«

I süelte den Kopf.


»Tut mir leid, Roux. I habe niemanden gesehen.«

»Okay.« Er wandte si erneut zum Gehen. »Vielen Dank.«

»Moment, warten Sie  –« rief i. »Wollen Sie nit wenigstens eine Tasse

Sokolade mit mir trinken?«

»Ein andermal.« Sein Ton war sroff, beinahe grob. I spürte, daß seine

Wut eine Angriffsfläe sute.

»Wir sind immer no Ihre Freunde«, sagte i, als er die Tür erreite.

»Armande und Luc und i. Seien Sie do nit so abweisend. Wir wollen

Ihnen helfen.«

Roux drehte si  mit einem Ru  um. Er starrte mi mit wütend

zusammengekni ffenen Augen an.


»Das gilt für alle hier.« Er spra  mit leiser, haßerfüllter Stimme, sein

Akzent war so stark, daß seine Worte kaum zu verstehen waren. »I 


braue keine Hilfe. I häe mi überhaupt nie mit Ihnen einlassen sollen.
I bin nur deswegen immer no hier, weil i rausfinden will, wer mein

Boot abgefaelt hat. Und Sie sind nicht meine Freunde.«

Und dann war er verswunden, wie ein wütender Bär hinausgestap,

begleitet vom hellen Klingeln der Türgloe.

Als er weg war, sahen wir einander an.

»Rothaarige Männer«, sagte Armande mitfühlend. »Stur wie die Esel.«

Joséphine wirkte ers üert.


»Was für ein ungehobelter Kerl«, sagte sie s ließli. » Sie haben sein

Boot do  ni t angezündet. Wel es Re t hat er, seine Wut an Ihnen

auszulassen?«
I zute die Aseln.
»Er ist hilflos und wütend, und er weiß nit, wer der Suldige ist«, sagte

i. »Das ist eine natürlie Reaktion. Und er glaubt, wir würden ihm unsere

Hilfe bloß anbieten, weil wir Mitleid mit ihm haben.«

»I  hasse Szenen«, sagte Joséphine, und i  wußte, daß sie an ihren

Mann da te. »I bin froh, daß er weg ist. Glauben Sie, er wird jetzt aus

Lansquenet fortgehen?«

I süelte den Kopf.


»Das glaube i nit«, erwiderte i. »Wo sollte er denn au hingehen?«

Donnerstag, 13. März

Gestern na miag bin i na Les Marauds hinuntergegangen, um mit


Roux zu reden, hae aber ebensowenig Erfolg wie beim letztenmal. Das

verfallene Haus ist von innen mit einem Vorhängesloß gesiert, und die

Fensterläden sind geslossen. I stelle mir vor, wie er si mit seiner Wut

im Dunkeln verkriet wie ein argwöhnises Tier. I rief seinen Namen,

und i wußte, daß er mi hörte, aber er antwortete nit. I wollte ihm

eine Narit an der Tür hinterlassen, überlegte es mir jedo anders.

Wenn er mi spreen will, dann muß er das von si aus tun. Anouk war

mitgekommen; sie hae ein Papiersiff dabei, das i ihr aus dem Umslag

einer Zeitsri gebastelt hae. Während i vor Roux’ Tür stand, ließ sie es

im Fluß swimmen und hielt es mit einem langen, biegsamen Zweig davon

ab, zu weit vom Ufer abzutreiben. Als Roux nit auaute, überließ i

Anouk ihrem Spiel, um zum Laden zurüzugehen, wo Joséphine dabei war,

den Nasub an Sokolade für diese Woe zuzubereiten.

»Nimm di vor den Krokodilen in at«, sagte i ihr mit ernster Miene.

Anouk grinste mi an. Ihre Spielzeugtrompete in der einen und den

langen Zweig in der anderen Hand, begann sie, laut Alarm zu blasen,

während sie aufgeregt von einem Fuß auf den anderen hüp e.
»Krokodile! Die Krokodile greifen an!« krähte sie. »Ma  t die Kanonen

klar!«

»Vorsi  t«, sagte i  . »Fall ni  t ins Wasser.«

Mit theatralis  er Geste warf sie mir einen Kuß zu und konzentrierte si 
wieder auf ihr Spiel. Als i   mi am oberen Ende der steilen Straße no 
einmal umdrehte, war sie gerade dabei, die Krokodile mit Erdklumpen zu

bombardieren, und  i konnte immer no  das dünne S  


me ern ihrer

Trompete und andere S   la tgeräus  e hören.

Komis  , daß das  plötzli e Aufwallen von zärtli  en Gefühlen mi 


immer wieder 
überras t. Wenn i angestrengt gegen die Abendsonne

blinzele, kann 
i die Krokodile fast ausma  en, die langen,

weitaufgerissenen Mäuler im Wasser, das Au  litzen der Kanonen. Wie sie

so zwis  en den Häusern herumläu  und das Rot und Gelb ihres Anoraks

und ihrer Mütze immer wieder aus den S  a en au  au en, kann i
beinahe die ganze Menagerie erkennen, die sie um si  versammelt hat. Als

sie bemerkt, daß i  ihr zusehe, winkt sie mir zu, ru  : Ich hab dich lieb! und

wendet si  wieder der ernsten Angelegenheit ihres Spiels zu.

Am Na   mi ag ha en wir ges  lossen, und Joséphine und i  arbeiteten

hart, um genug Pralinen und Trü ffel für den Rest der Wo  e herzustellen.


I habe bereits angefangen, die Osterle  ereien herzustellen, und Joséphine

hat gelernt, die Tier figuren zu dekorieren und vorsi  tig in S  a teln zu

verpa  en, die sie mit bunten S  leifen zubindet. Der Keller ist der ideale

Lagerraum. Kühl, aber ni  t so kalt, daß die S  okolade den weißen Film

bekommt, der entsteht, wenn man sie im Kühls  rank au  ewahrt, dunkel

und tro  en. In Kartons verpa  t, können wir alle unsere Waren hier lagern

und haben dabei immer no  Platz für Kü  envorräte. Der Boden ist mit

alten Feldsteinen ge fliest, gla  und braun wie Ei  enholz und an den Füßen

angenehm kühl. Von der De  e baumelt eine na  te Glühbirne. Die Kellertür

besteht aus rohem Kiefernholz, mit einem Lo  am unteren Rand für die

längst vers  wundene Katze. Selbst Anouk mag den Keller, der na 
Gemäuer und altem Wein du et, und sie hat mit bunter Kreide Figuren auf
die Steine und die geweißten Wände gemalt; Tiere und S  lösser und Vögel

und Sterne.

Heute morgen kamen Armande und Luc kurz na  einander in den Laden,

um ein biß  en zu plaudern, dann gingen sie gemeinsam fort. Sie tre ffen si
jetzt häu figer, ni t nur in meinem Laden. Luc hat mir erzählt, daß er

Armande letzte Wo  e zweimal besu  t und jedesmal eine Stunde in ihrem

Garten gearbeitet hat.

»Die B-Beete müssen hergeri  tet werden, jetzt, w-wo das Da  fertig

ist«, erklärte er mir ernst. »Sie s a die G-Gartenarbeit ni  t mehr so wie

f-früher, aber sie sagt, sie will dieses Jahr ein paar B-Blumen haben und

ni  t n-nur Unkraut.«

Gestern hat er eine Kiste mit P flanzen aus Narcisse’ Gewä  shaus

mitgenommen und sie in die fris  umgegrabene Erde entlang Armandes

Gartenmauer gep flanzt.


»L-Lavendel und Pfingstrosen und Tulpen und Osterglo  en«, sagte er.

»Am liebsten hat sie die bunten und die, d-die besonders s  ön du en. S-Sie

sieht ni  t mehr so gut, deswegen hab i  F-Flieder und Ginster und

Sto  rosen und s-sol  e Blumen genommen, die ni  t zu übersehen sind.«

Er lä  elte s ü tern. »I  m-mö  te alles vor ihrem

Geburtstag f-fertig haben«, erklärte er.

I fragte ihn, wann Armandes Geburtstag sei.

»Am a  tundzwanzigsten März«, sagte er. »Dann wird sie einunda  tzig.

I hab mir s  on ein G-Ges  enk überlegt.«

»So?«

Er ni  te.

»I  kaufe ihr einen seidenen S  lüpfer«, sagte er lei  t verlegen. »S-Sie

mag Unterwäs  e.«

I bemühte mi  , ein Lä  eln zu unterdrü en, und sagte ihm, das sei

eine gute Idee.

»I  muß na  Agen fahren«, sagte er. »Und i  m-muß aufpassen, daß

meine Mu   er ni ts merkt, s-sonst bekommt sie einen Anfall.« Plötzli 


mußte er grinsen. »Viellei t könnten wir eine Geburtstagsparty für sie
organisieren, wwissen Sie, um ihren Eintri  ins n-nä ste Jahrzehnt zu

feiern.«

»Wir können sie ja mal fragen, was sie davon hält«, s lug i vor.
Um vier kam Anouk müde und glü li und von Kopf bis Fuß mit Slamm
bedet na Hause, und Joséphine mate Zitronentee, während i das

Badewasser einließ. I befreite Anouk von ihren smutzigen Kleidern und

stete sie in das warme, na Honig duende Wasser. Ansließend setzten

wir uns gemeinsam an den Tis und aßen pains au chocolat und brioche

mit Himbeermarmelade und die, süße Aprikosen aus Narcisse’

Gewäshaus. Nadenkli rollte Joséphine eine Aprikose in ihrer

Handfläe hin und her.

»I muß immer wieder an diesen Mann denken«, sagte sie sließli.

»An den, der heute früh im Laden war, wissen Sie.«

»Roux.«

Sie ni te.
»Daß sein Boot abgebrannt ist  –« sagte sie zögernd. »Sie glauben ni t,
daß das ein Unfall war, ni t wahr?«
»Er glaubt es ni t. Er sagt, es habe na Benzin geroen.«
»Was denken Sie, würde er tun, wenn er heraus finden würde«  – sie holte
 –, »wer es getan hat?«
tief Lu

I zute die Aseln.

»I weiß es wirkli nit. Warum fragen Sie, Joséphine? Können Sie si

vorstellen, wer das getan haben könnte?«

Hastig: »Nein. Aber wenn es jemand wüßte  – t sagen würde  –«


und ni

Sie unterbra si gequält. »Würde er … i meine … was würde –«


I saute sie an. Sie wi meinem Bli aus, rollte immer no die

Aprikose in ihrer Hand. In ihren Gedanken sah i plötzli Rauwolken

simmern.

»Sie wissen, wer es war, nit wahr?«

»Nein.«

»Hören Sie, Joséphine, wenn Sie etwas wissen  –«


»I  weiß überhaupt ni ts«, sagte sie tonlos. »I  wüns te, es wäre

anders.«

»Ist s on gut. Niemand mat Ihnen einen Vorwurf«, sagte i san.
»I weiß überhaupt nits!« wiederholte sie mit sriller Stimme.

»Wirkli nit. Außerdem hat er do gesagt, er würde von hier fortgehen,

er ist nit von hier, und er häe nie herkommen sollen und  –« Sie sni

den Satz mit einem hörbaren Zähnezusammenbeißen ab.

»I  hab ihn heute namiag gesehen«, sagte Anouk mit vollem Mund.
»Er hat mir sein Haus gezeigt.«

I saute sie neugierig an.


»Er hat mir dir gesproen?«

Sie nite eifrig.

»Na klar. Er hat gesagt, nästesmal baut er mir ein Boot, ein ritiges aus

Holz, eins, das nit untergeht. Das heißt, wenn die Bastarde es nit au

abfaeln.« Sie gibt seine Sprae treffend wieder. Seine Worte knurren und

springen in ihrem Mund. I wende mi ab, um mein Grinsen zu

verbergen.

»Sein Haus ist cool«, fuhr Anouk fort. »Er hat ein Lagerfeuer mi en auf
dem Teppi . Er hat gesagt, i darf kommen, wann i  will. Oh.«

roen hielt sie si die Hand vor den Mund. »Er hat gesagt, solange
Ers

i dir nits davon erzähle.« Sie seufzte theatralis. »Und jetzt hab i’s


dir doch erzählt, stimmt s, Maman?«

I  nahm sie laend in den Arm.


»Stimmt.«

I bemerkte, daß Joséphine höst beunruhigt war.


»I finde, du solltest nit in dieses Haus gehen, Anouk«, sagte sie. »Du

kennst diesen Mann do gar nit ritig. Vielleit ist er ja böse.«

»I glaube, sie kann ruhig zu ihm gehen«, sagte i und zwinkerte Anouk

zu. »Solange sie es mir erzählt.«

Anouk zwinkerte zurü .


Heute war eine Beerdigung  – jemand aus dem Altenheim Les Mimosas ein

Stü  flußabwärts war gestorben  –, und aus Angst oder Respekt blieben die
meisten Kunden weg. Die alte Dame war vierundneunzig, erzählt Clothilde

mir im Blumenladen, eine Verwandte von Narcisse ’ 


verstorbener Frau. I

warze Krawae zu
sah Narcisse, der als Zugeständnis an den Anlaß eine s

seinem alten Tweedjae trug, am Eingang der Kire stehen. Neben ihm

Reynaud in seinem swarzweißen Gewand, in der einen Hand ein silbernes

Kreuz, die andere gütig ausgestret, um die Trauergäste zu begrüßen. Es

kamen nur wenige. Vielleit ein Dutzend alte Frauen, von denen i keine

kannte; eine wurde von einer blonden Krankenswester in einem Rollstuhl

gesoben, einige waren so rundli wie Armande, andere hager mit der für

sehr alte Mensen typisen, beinahe dursitigen Haut, alle in

Swarz  – swarze Strümpfe und Mäntel und Häuben und Kopüer  –,

mane mit Handsuhen, andere hielten die bleien, gefalteten Händen

vor die Brust gepreßt wie die Jungfrauen auf den Gemälden von Grünewald.


I sah vor allem ihre Köpfe, als sie, di t zusammengedrängt und leise

raunend, auf die Kir e zugingen; hin und wieder ein kurzer, mißtrauiser
Bli aus swarzen funkelnden Augen, aus der Sierheit der Gruppe

riskiert, während die resolute, gutgelaunte Swester am Sluß der kleinen

Prozession den Rollstuhl sob. Sie sienen nit von Trauer überwältigt.

Die Frau im Rollstuhl hielt ein Gebetbu in einer Hand und begann mit

hoher, ziriger Stimme zu singen, als sie die Kire betraten. Die anderen

niten Reynaud stumm zu, und ein paar Frauen reiten ihm, bevor sie in

der Dunkelheit verswanden, eine swarz umrandete Karte, die er

während der Totenmesse vorlesen sollte. Der einzige Leienwagen des

Dorfes kam ein bißen zu spät. Dur die Seitenfenster des Wagens konnte

i den Sarg sehen, der mit einem swarzen Tu bedet und mit einem

Blumengebinde gesmüt war. Die dumpfen Töne der Totengloe hallten

über den Dorfplatz. Dann begann die Orgel zu spielen, traurige, lustlose

Töne, wie Kiesel, die in einen Brunnen fallen.

Joséphine, die gerade ein Ble  okoladenbaisers aus dem Ofen


mit S

genommen hae, trat in den Laden und süelte si.

»Das ist ja sauerli«, sagte sie.

I muß an das Krematorium denken, an die Orgelmusik  – die Toccata

von Ba  –, den billigen, glänzenden Sarg, den Du na Bohnerwas und
Blumen. Der Pfarrer spra  den Namen meiner Mu er 
fals aus  – Jean

Roacher. Na  zehn Minuten war alles vorbei.


Der Tod sollte ein Fest sein, hae sie gesagt. Wie ein Geburtstagsfest.

Wenn meine Zeit gekommen ist, will ich in die Luft gehen wie eine Rakete

und wie eine Sternenwolke vom Himmel regnen und hören, wie alle sagen:

Aaah!

 ihre Ase im Hafen. Auf dem


Am Abend des vierten Juli verstreute i

Pier gab es ein Feuerwerk und Zuerwae für die Kinder, Chinaböller

wurden abgefeuert, und die Lu war erfüllt von dem sarfen Geru na

Kordit, dem Du von Grillwürsten und fritierten Zwiebeln und dem

fauligen Gestank der Abfälle, die im Hafenwasser trieben. Es war das

Amerika, von dem sie immer geträumt hae, ein Riesenrummel mit

zuendem t, lauter Musik und ausgelassen singenden und si


Neonli

drängelnden Mensenmengen, die ganze glitzernde, sentimentale

Gesmalosigkeit, die sie so geliebt hae. I wartete bis zum Höhepunkt

des Feuerwerks, und als der Himmel ein einziges Meer aus Lit und Farbe

war, ließ i die Ase langsam in den Lustrom rieseln. Sie fiel in einem

blau-weiß-roten Farbenspiel. I häe gern etwas gesagt, aber anseinend

gab es nits mehr zu sagen.

»Sauerli«, wiederholte Joséphine. »I hasse Begräbnisse. I gehe nie

hin, wenn jemand beerdigt wird.«

 sagte nits, sondern saute still auf den leeren Platz hinaus und
I

lauste der Orgelmusik. Zumindest spielten sie nit die Toccata. Jetzt

wurde der Sarg in die Kire getragen. Er wirkte sehr leit, die Männer

gingen zügig und wenig ehrfurtsvoll über die Pflastersteine.

»I wünste, wir wären nit so nah bei der Kire«, sagte Joséphine

unruhig. »Was si dort abspielt, mat mi ganz nervös.«

»In China gehen die Leute in Weiß zu Beerdigungen«, sagte i. »Sie

verteilen in leutend rotes Papier gewielte Gesenke, das soll Glü

bringen. Sie zünden Feuerwerkskörper an. Sie plaudern und laen und

tanzen und weinen. Und am Ende springen alle naeinander über die Glut

des Seiterhaufens, um den aufsteigenden Rau zu segnen.«

Sie saute mi neugierig an.


»Haben Sie au  s on mal in China gelebt?«

I  s ü elte den Kopf.

»Nein. Aber wir haben in New York viele Chinesen kennengelernt. Für sie

war eine Beerdigung ein Fest, bei dem das Leben des Verstorbenen gefeiert

wurde.«

Joséphine wirkte skeptis  .

»I  kann mir ni  t vorstellen, wie man den Tod feiern kann«, sagte sie

s ließli  .

»Man feiert ni  t den Tod«, erklärte i  ihr. »Man feiert das Leben. Das

ganze Leben. Selbst sein Ende.«

I  nahm die Kanne mit der S  okolade von der Warmhaltepla 


e und

füllte zwei Tassen.

Na  einer Weile ging i  in die Kü  e, um zwei Baisers zu holen, die

no  warm und innen wei waren, und servierte sie mit Sahne und

geha  ten Haselnüssen.

»Irgendwie ist es ni   t re t, ausgere  net jetzt«, sagte Joséphine, do  sie

aß trotzdem.

Es war s  on fast Mi ag, als die Trauergäste benommen und in der Sonne

blinzelnd die Kir  e verließen. Die Pralinen und Baisers waren alle fertig,

die dunklen ha  en wir etwas länger im Ba  ofen gelassen. I  sah Reynaud

wieder am Portal stehen. Dann fuhren die alten Damen in ihrem Minibus

ab  – auf der Seite stand in leutend gelben Bustaben Les Mimosas –, und
auf dem Dorfplatz kehrte der Alltag wieder ein. Na  dem er die Trauergäste

verabs  iedet ha e, kam Narcisse in den Laden, völlig vers  witzt in seinem

engen Hemdkragen. Als 


i ihm mein Beileid ausspra   , zu te er die

S  ultern.

»I  hab sie eigentli  gar ni  t gekannt«, sagte er glei gültig. »Eine

Großtante von meiner verstorbenen Frau. Sie war s  on seit zwanzig Jahren

in dem Sterbehaus. Sie war geistig verwirrt.«

Das Sterbehaus. I  sah, wie Joséphine das Gesi  t verzog, als das Wort

ausgespro  en wurde. Im Grunde genommen ist es das, was si  hinter dem

liebli  klingenden Namen Les Mimosas verbirgt. Ein Haus, in dem man auf
den Tod wartet. Narcisse hält si an die im Volksmund gebräu  li e

Bezei  nung. Die Frau war s  on seit langem tot.


I s enkte S  okolade ein, dunkel und bi  ersüß.


»Mö ten Sie ein Stü   Ku en?«

Er überlegte einen Moment lang.

»Lieber ni  t, solange i  Trauer trage«, sagte er unsi  er. »Was für ein

Ku  en ist es denn?«

»Bavaroise mit Caramelguß.«

»Viellei  t ein kleines Stü  .«

Joséphine starrte aus dem Fenster auf den leeren Dorfplatz.

»Da ist dieser Mann s 


on wieder«, murmelte sie. »Der aus Les Marauds.

Er geht in die Kir  e.«

I s aute aus der Tür. Roux stand direkt im Eingang von St. Jérôme. Er

wirkte erregt, trat nervös von einem Fuß auf den anderen, die Arme fest um

den Körper ges  lungen, als sei ihm kalt.

Irgend etwas stimmte ni  t, dessen war i  mir plötzli  ganz si  er.

Irgend etwas S  limmes war passiert. Dann sah i  , wie Roux si  abrupt

umdrehte und wieder auf meinen Laden zukam. Er blieb kurz stehen, rieb

si  den Na  en, sah si   no einmal na  allen Seiten um und kam dann

fast auf die Tür zugerannt, wo er mit gesenktem Kopf und unglü  li

s uldbewußtem Bli  stehenblieb.

»Armande«, sagte er. »I  glaube, i  habe sie getötet.«

Einen Moment lang starrten wir ihn alle an. Er ma te eine hil flose Geste
mit den Händen, wie um s  limme Gedanken zu vers  
eu en.

»I  wollte den Priester holen. Sie hat kein Telefon, und i   da te, er

könnte viellei t  –« Er bra  ab. Vor lauter Streß spra  er so starken

Dialekt, daß seine Worte kaum zu verstehen waren, die kehligen Laute

hä  en genausogut Arabis  oder Spanis  oder verlan oder eine Mis  ung

aus allen dreien sein können.

»I  konnte sehen, daß sie  – sie hat mir gesagt, i  soll an den

Kühls  rank gehen  – da hat sie ihre Medikamente drin  –« Die Aufregung

ließ ihn erneut mi  en im Satz abbre  en. »I  hab sie ni  t angerührt. I 


hab sie no  nie angerührt. I  würde niemals  –« Er spu  te die Worte
mühsam aus, wie abgebro  ene Zähne. »Sie werden behaupten, i   hä e sie

überfallen, i   hä e sie berauben wollen. Aber das stimmt ni   t. I hab ihr

einen S   lu Brandy gegeben, und da ist sie einfa –


  «

Er verstummte. I  sah, daß er Mühe ha  e, die Fassung zu wahren.

»Ist s  on in Ordnung«, sagte i  ruhig. »Sie können mir alles unterwegs

erzählen. Joséphine kann hier im Laden bleiben. Narcisse soll vom

Blumenladen aus den Arzt rufen.«

Trotzig: »I  gehe da ni   t no mal hin. I  hab getan, was i  konnte.

I 
will ni –«

I  pa te ihn am Arm und zog ihn mit mir.

»Dafür haben wir jetzt keine Zeit. I  brau  e Ihre Hilfe.«

»Sie werden behaupten, es war meine S  uld. Die Polizei  –«


»Armande brau  t Sie. Los, kommen Sie s  on!«

Auf dem Weg na  Les Marauds erfuhr i  den Rest der Ges  i te. Roux,

der si  wegen seines Wutausbru  s am vorangegangenen Tag in meinem

Laden s  ämte, ha  e Armandes Tür o ffenstehen sehen und si  spontan

ents  lossen, sie zu besu en. Er fand sie halb bewußtlos in ihrem

S  aukelstuhl vor. Es gelang ihm, sie soweit wa  zurü eln, daß sie ein paar

Worte flüstern konnte. Medizin  … Kühlschrank  … Auf dem Kühls  rank

stand eine Flas  e Brandy. Er füllte ein Glas und flößte ihr etwas von dem
Brandy ein.

»Da ist sie einfa …   in si  zusammengesunken. I  konnte sie ni  t

mehr wa  bekommen.« Die Verzwei flung drang ihm aus allen Poren.

»Dann ist mir eingefallen, daß sie zu  erkrank ist. Wahrs  einli  hab i 
sie umgebra  t, weil i  versu  t hab, ihr zu helfen.«

»Sie haben sie ni  t umgebra  


t.« I war vom Laufen außer Atem und

ha  e Seitensti  e. »Es wird alles gut werden. 


S ließli  haben Sie

re  tzeitig Hilfe geholt.«

»Was ist, wenn sie stirbt? Wer wird mir dann no  glauben?« Panik

ma  te seine Stimme heiser.

»Beruhigen Sie si  . Der Arzt wird glei  hiersein.«


Armandes Tür steht immer no  offen,  im Türspalt
eine Katze hat si

zusammengerollt. Im Haus ist es still. Aus einem losen Stü Darinne

trop Regenwasser. I sehe, wie Roux einen kurzen, prüfenden Bli na

oben wir: Das muß ich reparieren. Er bleibt an der Tür stehen, als wartete

er darauf, hereingebeten zu werden.

Armande liegt auf dem Teppi  vor dem Kamin, das Gesi t ma  und

dunkel wie Waldpilze, die Lippen bläuli  verfärbt. Zumindest hat er sie in
Seitenlage gebra t, ein Arm stützt Kopf und Hals, um die Atemwege frei zu
halten. Sie rührt si nit, do an einem leiten Beben ihrer Lippen sehe

i, daß sie atmet. Ihre Stiarbeit liegt neben ihr, ihre Kaffeetasse ist zu

Boden gefallen, und der Kaffee hat einen kommaförmigen Fle auf dem

Teppi gebildet. Die Szene ist seltsam profan, wie ein Standbild aus einem

Stummfilm. Ihre Haut fühlt si kalt und fisig an, ihre dunklen Augäpfel

sind dur die Augenlider, die so dünn sind wie eine Crêpe, deutli zu

erkennen. Unter ihrem swarzen Ro, der bis über die Knie hogerutst

ist, sauen rote Rüsen hervor. Eine Welle des Mitgefühls überkommt

mi beim Anbli ihrer arthritisen Knie in den swarzen Strümpfen und

dem bunten Seidenunterro unter ihrem farblosen Hauskleid.

»Und?« Die Angst läßt seine Stimme gereizt klingen.

»I denke, sie wird si wieder erholen.«


In seinen dunklen Augen liegen Zweifel und Mißtrauen.

»Sie muß Insulin im Kühls rank haben«, sage i ihm. »Das wird es sein,
was sie gemeint hat. Holen Sie es, snell!«

Sie bewahrt es bei den Eiern auf. Die Tupperdose enthält ses Ampullen

Insulin und einige Einmalspritzen. Auf der anderen Seite eine Satel

Trüffel mit der Aufsri La Céleste Praline. Ansonsten hat sie kaum etwas

Eßbares im Haus; eine offene Dose Sardinen, ein Stü Pergamentpapier mit

einem Rest rillettes, ein paar Tomaten. I injiziere ihr das Insulin in die

Ellbogenvene. I beherrse die Tenik gut. Während des letzten Stadiums

der Krankheit, für die meine Muer so viele versiedene Heilmethoden

ausprobiert hae  – Akupunktur, Homöopathie, Kreative Visualisierung  –,

griffen wir sließli auf das gute alte Morphium zurü, kauen es auf

dem Swarzmarkt, wenn wir kein Rezept bekommen konnten. Obwohl


meine Mu er Drogen verabs eute, war sie zu einem Zeitpunkt, als ihr

Körper zu einem sweißtriefenden Tempel für den Swarzen Mann

geworden war und die Wolkenkratzer von New York wie eine Fata Morgana

vor ihren Augen vers wammen, dankbar für die erlösenden Spritzen.
ts in meinem Arm, ihr Kopf rollt willenlos hin und her.
Sie wiegt fast ni

Eine Spur Rouge auf ihren Wangen verleiht ihrem Gesit etwas

Clownhaes. I halte ihre kalten, steifen Hände in den meinen, massiere

ihre Finger.

»Armande. Wa en Sie auf. Armande.«


Roux beobatet mi unruhig, sein Ausdru  eine Mis ung aus

Hoffnung und Verwirrung. Ihre Finger fühlen si  in meiner Hand an wie

Slüssel an einem Ring.

»Armande«, wiederhole i  etwas s ärfer, befehlend. »Sie dürfen jetzt

ni t slafen! Sie müssen aufwaen!«


Da. Ein kaum wahrnehmbares Ziern.

» Vianne

Augenbli li war Roux auf den Knien neben uns. Sein Gesi t war

asfahl, aber seine Augen leuteten.


»Sag’s no einmal, du störrises altes Weib!« Seine Erleiterung war so

groß, daß sie smerzte. »I weiß, daß du da bist, Armande. I weiß, daß

du mi hören kannst!« Er sah mi erwartungsvoll, beinahe läelnd, an.

»Sie hat do was gesagt, oder? I hab mir das nit eingebildet, nit

wahr?«

I süelte den Kopf.


»Sie ist zäh«, sagte i. »Und Sie haben sie retzeitig gefunden, bevor sie

ins Koma gefallen ist. Lassen Sie dem Insulin Zeit zu wirken. Reden Sie

weiter mit ihr.«

»Okay.« Dann fing er an zu reden, ein biß en dureinander, atemlos,

während er ihr Gesi t


 Anzeien dafür
na absute, daß
sie das

Bewußtsein wiedererlangte. I fuhr fort, ihre Hände zu massieren, die ganz

allmähli wärmer wurden.

»Du mast uns nits vor, Armande, du alte Hexe. Du bist so stark wie

ein Pferd. Du könntest ewig leben. Außerdem hab i gerade erst dein Da
repariert. Du glaubst do  nit etwa, i häe das alles getan, damit deine
Toter ein anständiges Haus erbt, oder? I weiß, daß du mir zuhörst,

Armande. I weiß, daß du mi hören kannst. Worauf wartest du no?

Willst du, daß i mi entsuldige? Okay. I entsuldige mi.« Die

letzten Worte hae er fast gesrien, Tränen liefen ihm über die Wangen.

»Hast du gehört? I habe mi entsuldigt. I bin ein undankbarer

Bastard, und es tut mir leid. Und jetzt wa endli auf und –«

» … und ein lauter Bastard …«


Er bra mien im Satz ab. Armande late kaum merkli in si hinein.
Ihre Lippen bewegten si lautlos. Ihr Bli war wa und klar. Roux hielt

ihr Gesit san in beiden Händen.

»I hab eu einen Sreen eingejagt, was?« sagte sie mit dünner,

brüiger Stimme.

»Nein.«

»Hab i  do «, 
beharrte sie mit einem Ausdru von Genugtuung und

Übermut.

Roux wis te si mit dem Handrüen über die Augen.
»Sie haen mir meine Arbeit no nit bezahlt«, sagte er mit ziernder

Stimme. »I hae bloß Angst, i würde mein Geld nie kriegen.«

Armande gluste vergnügt. Sie kam allmähli wieder zu Kräen, und

gemeinsam hoben wir sie in ihren Saukelstuhl. Sie war immer no sehr

blaß, ihr Gesit eingesunken wie ein fauler Apfel, aber ihre Augen waren

klar. Roux saute mi an; zum erstenmal seit dem Brand lag keine

mißtrauise Wasamkeit in seinem Bli. Unsere Hände berührten si.

Einen Augenbli lang sah i sein Gesit im Mondlit vor mir, seine

nate Sulter im Gras, zarter Fliederdu stieg mir in die Nase  … Meine

Augen weiteten si vor Erstaunen. Roux muß au etwas gespürt haben,

denn er wi verlegen zurü. Hinter uns hörte i Armande leise kiern.

»I habe Narcisse gebeten, den Arzt zu rufen«, sagte i. »Er wird jeden

Augenbli hiersein.«

Armande saute mi an. Ihr Bli war eindringli, und nit zum

erstenmal fragte i mi, wie hellsitig sie sein mote.


»Dieser Totengräber kommt mir ni t ins Haus«, sagte sie. »Sie können
ihn glei wieder dorthin zurüsien, wo er hergekommen ist. I hab es

nit nötig, mir von ihm Vorsrien maen zu lassen.«

»Aber Sie sind krank«, protestierte i. »Wenn Roux nit zufällig

gekommen wäre, häen Sie sterben können.«

Sie warf mir einen spöisen Bli zu.

»Vianne«, sagte sie geduldig. »So ist das nun mal mit alten Leuten. Sie

sterben. So ist das Leben. Es passiert jeden Tag.«

»Ja, aber  –«
»Und i gehe nit in dieses Sterbehaus«, fuhr sie fort. »Das können Sie
denen von mir ausriten. Niemand kann mi zwingen, dorthin zu gehen.

I lebe seit sezig Jahren in diesem Haus, und hier werde i au

sterben.«

»Niemand wird Sie zu irgend etwas zwingen«, sagte Roux bestimmt. »Sie

haben Ihre Medizin ni t retzeitig genommen, das ist alles. Nästes Mal
werden Sie slauer sein.«
Armande läelte.

»So einfa ist das nit«, sagte sie.

Störris: »Warum nit?«

Sie zute die Aseln.

»Guillaume weiß Beseid«, erklärte sie ihm. »I  habe mi  viel und

lange mit ihm unterhalten. Er versteht das.« Sie klang jetzt fast wieder

normal, obwohl sie immer no  swa war. »I will diese Medizin nit
jeden Tag nehmen müssen«, sagte sie ruhig. »I habe keine Lust, mi an

tausend Diätvorsrien zu halten. I will nit von neen Swestern

versorgt werden, die mit mir reden, als wäre i im Kindergarten. I bin

atzig Jahre alt, verdammt no mal, und wenn i in meinem Alter nit

weiß, was i will –«

Sie unterbra si abrupt.

»Wer ist das?«

Ihr Gehör funktioniert tadellos. I  hae es au vernommen  – das

Geräus  eines Wagens, der auf dem holprigen Weg vorfuhr. Der Arzt.
»Wenn das einheilige asalber ist, sagen Sie ihm, er
dieser s

verswendet seine Zeit«, giete Armande. »Sagen Sie ihm, es geht mir gut.

Sagen Sie ihm, er soll si jemand anders zum Behandeln suen. I will

ihn nit sehen.«

I saute na draußen.

»Es sieht so aus, als häe er halb Lansquenet mitgebrat«, sagte i

ruhig. Das Auto, ein blauer Citroën, platzte fast aus den Nähten. Außer dem

Arzt, einem en


blei Mann in einem anthrazitfarbenen Anzug, sah i 
Caroline Clairmont, ihre Freundin Joline und Reynaud, die si  alle drei auf
den Rü sitz quetsten. Auf dem Beifahrersitz saß Georges Clairmont, der
sütern und verlegen dreinblite, ein Ausdru stillen Protests. I hörte,

wie die Wagentüren zugeslagen wurden, und über dem plötzli

einsetzenden Lärm vernahm i Carolines hysteris-srille Stimme.

»Ich hab’s ihr tausendmal gesagt! Stimmt’s George, ich hab’s ihr gesagt!

Keiner kann mir vorwerfen, ich hätte meine Pflichten als Tochter

vernachlässigt, ich tue alles für diese Frau, und seht euch bloß an, was sie –«

Knirs en von S rien auf den P flastersteinen, dann eine Kakophonie

von Stimmen, als die ungebetenen Gäste die Haustür ö ffnen.


»Maman? Maman? Halt dur, meine Liebe, i bin’s! I komme! Hier

entlang, Monsieur Cussonnet, hier geht’s ins  … a so, ja, Sie kennen si ja

aus, nit wahr? Meine Güte, wie o habe i ihr ins Gewissen geredet – i

habe gewußt, daß so etwas passieren würde  –«


waen Protest versut:
Georges, der einen s

»Glaubst du wirkli, wir sollten uns einmisen, Caro, Liebling? I 


meine, laß das do den Doktor maen, oder?«

Joline, kühl und herablassend:

»I  frage mi sowieso, was er hier zu suen hae –«


Reynaud, kaum hörbar:

» … häe zu mir kommen sollen …«


I spürte, wie Roux ganz steif wurde, no bevor sie den Raum betraten.
Er sah si nervös na einem Flutweg um. Do es war zu spät. Zuerst

kamen Caroline und Joline mit ihren perfekten chignons, ihren Twinsets und

Hermès-Halstü ern, t
di gefolgt von Clairmont  – dunkler Anzug und
Krawa e, ungewöhnli  für einen Arbeitstag in der Holzhandlung, oder

sollte sie ihn überredet haben, si  für den Anlaß umzuziehen?  –, dann der
Arzt, der Priester. Wie in einer Szene in einem Melodram blieben sie alle wie

versteinert in der Tür ter soiert, ausdruslos,


stehen, die Gesi

suldbewußt, kummervoll, wütend  … Roux starrte sie homütig an, eine

Hand verbunden, das feutklebrige Haar in den Augen, i stand bei der

Tür, der Saum meines orangefarbenen Ros slammbespritzt, und

Armande, blei, aber gefaßt, saß vergnügt in ihrem Saukelstuhl, ein

gefährlies Funkeln in den swarzen Augen und einen Finger gekrümmt

wie eine Hexe  …


»Aha. Die Geier sind eingetro ffen.« Ihre Stimme klang zuglei leutselig
und bedrohli. »Ihr habt es ziemli eilig gehabt, was?« Ein sarfer Bli

zu Reynaud, der im Hintergrund stand. »Sie haen wohl gedat, Sie

würden endli Ihre Chance bekommen, wie?« sagte sie giig. »Sie haben

wohl geglaubt, Sie könnten mir snell Ihren Segen erteilen, solange i

nit bei Sinnen war, hä?« Sie stieß ein ordinäres Laen aus. »Pe gehabt,

Francis. I bin no nit reif für die letzte Ölung.«

Reynaud saute verdrießli drein.

»Das ist nit zu übersehen«, sagte er. Ein kurzer Bli in meine Ritung.

»Ein Glü, daß Mademoiselle Roer so  … gesit ist  … im Umgang mit

Spritzen.« Seine Worte trieen vor Häme.

Caroline war stosteif, ihr Gesit eine gequält grinsende Fratze.

»Maman, chérie, du siehst do, was gesieht, wenn wir di dir selbst

überlassen. Du hast uns alle zu Tode geängstigt.«

Armande wirkte gelangweilt.

»Die Zeit, die uns das alles kostet! Du hast uns völlig aus der Fassung

gebra t  –« Lariflete sprang auf Armandes Knie, während Caro redete, und
die alte Frau streielte die Katze gedankenverloren. »Verstehst du jetzt,

warum wir dir immer wieder sagen  –«


»Daß i  in diesem Sterbehaus besser aufgehoben wäre?« beendete

Armande den Satz tro en. »Wirkli , Caro. Du gibst wohl niemals auf,

was? Du bist genau wie dein Vater, weißt du das? Dumm, aber hartnä ig.
Das war eine seiner liebenswürdigsten Charaktereigens aen.«
Caroline wirkte verdrossen.

»Les Mimosas ist kein Sterbehaus, sondern ein Altenheim, und wenn du

es dir nur einmal ansehen würdest  –«


»Sie flößen einem die Nahrung mit S läuen ein, und wenn man mal
zum Klo muß, wird man begleitet, damit man nit reinfällt …«

»Das ist do läerli.«

Armande late.

»Meine Liebe, in meinem Alter kann i mi läerli maen, soviel es

mir gefällt. I bin so alt, daß i mir alles leisten kann.«

»Du führst di auf wie ein Kleinkind«, sagte Caro eingesnappt. »Les

Mimosas ist ein sehr gutes, sehr exklusives Seniorenheim. Du könntest di

dort mit Leuten in deinem Alter unterhalten, an Aus flügen teilnehmen, alles
würde für di  geregelt –«
»Klingt ja phantastis.« Armande saukelte weiterhin gemäli in

ihrem Stuhl. Caro wandte si an den Arzt, der den Disput verlegen verfolgt

hae. Dem hageren, nervösen Mann sien es peinli zu sein, Zeuge dieses

Familienzwists zu werden. Er wirkte wie ein süterner Mann, der zufällig

in eine Orgie geraten war.

»Simon, sagen Sie es ihr!«

»Nun ja, i  weiß nit, ob es mir zusteht –«


»Simon ist ganz meiner Meinung«, sni Caro ihm das Wort ab. »In

deinem Zustand und in deinem Alter kannst du einfa  nit weiter allein
leben. Stell dir das bloß mal vor, du könntest jederzeit  –«
»Ja, Madame Voizin.« Jolines Stimme klang freundli  ig.
und vernün

»Sie sollten si einmal überlegen, was Caro sagt  … i meine, natürli ist

es verständlich, daß Sie Ihre Unabhängigkeit nit verlieren wollen, aber zu

Ihrem eigenen Nutzen und Frommen  …«


Armandes Augen funkelten gereizt. Einen Moment lang starrte sie Joline

sweigend an. Joline wirkte zunäst entrüstet, dann errötete sie und wi
Armandes Bli aus.

»Raus hier«, sagte Armande leise. »Alle.«

»Aber Maman  –«
»Alle«, wiederholte Armande kategoris  . »Dem  a salber hier gebe

i zwei Minuten unter vier Augen  – es s  eint, als müßte i  Sie no  mal

an Ihren hippokratis  en Eid erinnern, Monsieur Cussonnet  –, und bis i 


mit ihm fertig bin, erwarte i  , daß der Rest von eu  Geiern vers wunden

ist.« Mühsam versu  te sie, si  aus ihrem S  aukelstuhl zu erheben. I 


stützte sie am Arm, und sie 
s enkte mir ein gequältes, spitzbübis  es

Lä  eln.

»Danke, Vianne«, sagte sie san . »Ihnen au    –« Das war an Roux

geri  tet, der immer no  am anderen Ende des Zimmers stand und ein

glei  gültiges Gesi   


t ma te. »I mö  te mit Ihnen reden, wenn der

Doktor weg ist. Gehen Sie ni  t fort.«

»Mit mir?« Roux war nervös. Caro warf ihm einen unverhohlen

verä  tli en Bli  zu.

»Maman, in einer sol  en Situation, denke i  , sollte deine Familie  –«


»Wenn i   di brau  e, weiß i  , wo i   di errei en kann«, sagte

Armande spitz. »I  werde jetzt ein paar Vorkehrungen tre ffen.«


Caro sah Roux an.

»A  so?« In ihrem Ton lag blanker Abs  eu. »Vorkehrungen?« Sie

musterte ihn von Kopf bis Fuß, und i  sah, wie er lei  t zusammenzu  te.

Es war derselbe Re flex, den i  bei Joséphine beoba  


tet ha e; ein lei tes

Verkrampfen, ein Einziehen der 


S ultern, die Fäuste tief in den

Hosentas  en, wie um eine kleinere Angri ffsfläe zu bieten. Unter diesem

dur  dringend prüfenden Bli  wird jeder Makel si  tbar. Einen Augenbli 
lang sieht er si  mit ihren Augen  – s  mutzig, ungehobelt. Wie in einem

perversen Re flex spielt er die Rolle, die sie ihm zugeda  t hat: »Was zum

Teufel glotzen Sie so blöd?«

Sie s  aut ihn verblü  an und wei  t zurü  . Armande grinst.

»Wir sehen uns später«, sagt sie zu mir. »Und vielen Dank no  mal.«

Caro folgte mir si  


tli verärgert. Hin- und hergerissen zwis  en

Neugier und ihrem Widerwillen, mit mir zu reden, gab sie si   s ro ff und
herablassend. In knapper Form s ilderte i ihr, was vorgefallen war.

Reynaud stand daneben und hörte zu, sein Gesi  t so ausdru  slos wie das
der Heiligen figuren in seiner Kir  e. Georges, um Diplomatie bemüht,

lä  elte verlegen, gab hin und wieder Platitüden von si  .

Niemand bot mir an, mi   na Hause zu fahren.

Samstag, 15. März

Heute morgen bin i  no einmal bei Armande Voizin gewesen, um mit ihr

zu reden. Aber sie hat si  wieder geweigert, mi  ins Haus zu lassen. Ihr

rothaariger Wa  hund ö ffnete die Tür, knurrte mi  in seinem ungehobelten

patois an und stellte si  breit in den Türrahmen, um mi  am Eintreten zu

hindern. Es gehe Armande gut, sagt er mir. Ein biß  en Ruhe, und sie werde

si  wieder vollständig erholen. Ihr Enkel sei bei ihr, und ihre Freunde

besu  en sie jeden Tag. Letzteres sagt er mir mit einem Sarkasmus, der mir

das Mark in den Kno  en gefrieren läßt. Armande will ni  t gestört werden.

Es widerstrebt mir zutiefst, diesen Mann um etwas zu bi  en, mon père, aber

i  kenne meine P flit. Egal, wele primitiven Individuen sie ihre Freunde
nennt, egal, wieviel Spo  und Hohn sie mir entgegens  leudert, meine

P flit bleibt dieselbe. Zu trösten  – sogar dort, wo Trost abgelehnt wird  –


und auf den ri  tigen Weg zu führen. Aber es ist unmögli  , mit diesem

Mann über die Seele zu reden  – seine Augen sind so ausdru  slos und

glei  gültig wie die eines Tieres. Die zarte Seele, die heilige Flamme im

Innern des unwürdigen Fleis  es, die dur  ein Leben in Sünde zerstört

wird  … Das ist unsere heiligste P flit, Vater. Die Re  ung der Seele ist das

einzige, worum es uns geht. I  versu  e, es ihm zu erklären. Armande ist

alt, sage i  ihm. Alt und störris  . Es bleibt nur no  so wenig Zeit. Kann er

das denn ni  t einsehen? Will er zusehen, wie sie si   dur ihre Arroganz

und Na  lässigkeit umbringt?

Er zu  t die A  seln.

»Es geht ihr gut«, sagt er mit einem Bli 


, der voller Abs eu ist.

»Niemand verna lässigt sie. Sie wird si  wieder ganz erholen.«


»Das stimmt ni t«, erwidere i roff. »Sie spielt Russises
betont s

Roulee mit ihren Medikamenten. Sie weigert si, auf den Arzt zu hören.

Sie ißt Schokolade, Herrgo no mal! Haben Sie si überhaupt son mal

überlegt, was das in ihrem Zustand bedeutet? Warum  –« Sein

Gesitsausdru ist plötzli feindselig.


»Sie will Sie nit sehen.«

»Ist Ihnen das denn gleigültig? Mat es Ihnen nits aus, daß sie si

mit ihrer Völlerei umbringt?«

Er zut mit den Sultern. I spüre seinen Haß hinter der dünnen
Fassade seinbarer Gleigültigkeit. Es ist zwelos, an seinen guten Kern

zu appellieren  – er hält einfa nur Wae, so wie es ihm aufgetragen

wurde. Armande hat ihm Geld angeboten, sagt Muscat. Vielleit möte er,

daß sie stirbt. I kenne ihren perversen Charakter. Ihre Familie zu enterben

und ihr Geld sta dessen einem dahergelaufenen Fremden zu vermaen,

das würde zu ihr passen.

»I  warte«, sagte i ihm. »Wenn es sein muß, den ganzen Tag.«


Zwei Stunden lang wartete i draußen im Garten. Dann fing es an zu

regnen. I hae keinen Sirm, und meine Soutane wurde immer swerer,

je mehr sie si mit Feutigkeit vollsaugte. Mir war swindelig, und i

fühlte mi benommen. Na einer Weile wurde ein Fenster geöffnet, und

der Du na frisem Brot und Kaffee, der aus der Küe kam, mate

mi fast wahnsinnig. I sah, wie der Wahund mi verätli

betratete, und i wußte, selbst wenn i ohnmätig zusammenbräe,

würde er keinen Finger rühren, um mir zu helfen. Als i langsam den

Hügel hinaufging, spürte i seinen Bli in meinem Rüen. Von

irgendwoher jenseits des Flusses meinte i, jemanden laen zu hören.

Au bei Joséphine Muscat habe i versagt. Obwohl sie si weigert, zur

Messe zu gehen, habe i mehrmals mit ihr gesproen, aber ohne Erfolg.

Sie hat einen harten, widerspenstigen Kern entwielt, eine Art Trotz,

obwohl ihr Ton immer respektvoll und san bleibt, wenn wir miteinander

reden. Sie wagt si nie weit weg von dem Laden, La Céleste Praline, und

heute traf i sie direkt vor der Ladentür. Sie war gerade dabei, den Gehweg
zu fegen, und sie ha e ihr Haar mit einem gelben Tu zusammengebunden.
Während i auf sie zuging, hörte i sie leise vor si hin singen.

»Guten Morgen, Madame Muscat«, grüßte i sie höfli. I weiß, wenn

i sie zurügewinnen will, dann nur mit Vernun und Freundlikeit.

Später, wenn unsere Arbeit getan ist, kann sie immer no bereuen.

Sie senkte mir ein smallippiges Läeln. Sie wirkt jetzt wesentli

selbstbewußter, ihre Haltung ist aufret, sie trägt den Kopf ho, wie sie es

von Vianne Roer abgesaut hat.

»I heiße jetzt Joséphine Bonnet, Vater.«

»Nit na dem Gesetz, Madame.«

»A, das Gesetz.« Sie zute die Aseln.

»Gottes Gesetz«, sagte i nadrüli und vorwurfsvoll. »I habe für

Sie gebetet, ma fille. I habe um Ihre Erlösung gebetet.«

Darüber mußte sie laen, wenn au nit bosha.

»Dann sind Ihre Gebete erhört worden, Vater. I bin no nie in meinem

Leben so glüli gewesen.«

Sie seint unerreibar. Seit einer knappen Woe steht sie unter dem

Einfluß dieser Frau, und son höre i deren Stimme aus Joséphines

Worten. Das Laen der beiden ist unerträgli. Ihr Spo, ebenso wie

Armandes, ein Stael, der mi rasend mat. I spüre bereits, wie etwas

in mir darauf reagiert, Vater, eine Swäe, gegen die i mi gefeit

glaubte. Wenn i die chocolaterie auf der anderen Seite des Platzes

betrate, das hell erleutete Saufenster, die Kübel mit den rosa- und

orangefarbenen und roten Geranien auf den Balkonen und links und rets

über der Tür, fühle i, wie der Zweifel si in mein Herz sleit, und

mein Mund füllt si mit der Erinnerung des Dus von Sahne und Caramel

und dem berausenden Aroma von Cognac und fris gemahlenen

Kakaobohnen. Es ist der Du von Frauenhaar, von zartem Flaum im Naen

einer Frau, von reifen Aprikosen, von warmen brioches und Zimtsneen,

von Zitronentee und Maiglöen. Es ist der Du von Räuerstäben, der

si im Wind entfaltet wie das Banner des Aufruhrs. Der Stael des Teufels

stinkt nit na Swefel, so wie wir es als Kinder gelernt haben, sondern

wie ein betörendes Parfüm, vermist mit dem Du von tausend Gewürzen,
der einem den Kopf verdreht und die Sinne benebelt. Man mal stehe i 
vor der Kir e und halte meinen Kopf in den Wind, um einen Hau von
diesem Du zu erhasen. Er verfolgt mi bis in meine Träume, bis i

verswitzt und ausgehungert aus dem Slaf fahre. In meinen Träumen esse

i bergeweise Sokolade, wälze mi in Pralinen, und sie fühlen si wei

an wie menslies Fleis, wie tausend Münder auf meinem Körper, die

mi mit tausend winzigen Bissen verslingen. Unter ihrer zärtlien Gier

zu sterben ist der Gipfel der Versuung, und in solen Augenblien kann

i beinahe verstehen, warum Armande Voizin mit jedem Bissen ihr Leben

riskiert  …
 sagte beinahe.
I

I kenne meine Pflit. I slafe nur no sehr wenig, denn au für

diese Augenblie der Zügellosigkeit habe i mir Buße auferlegt. Meine

Gelenke smerzen, aber i begrüße den Smerz, der mi ablenkt.

Körperlie Freuden sind die Risse, in die der Teufel seine Wurzeln slägt.

I hüte mi vor lieblien Düen. I esse nur no eine Mahlzeit am Tag,

die nur aus den einfasten, fast gesmalosen Zutaten besteht. Wenn i

nit gerade meinen Pfliten in der Gemeinde nagehe, arbeite i auf

dem Friedhof, grabe die Beete um und jäte das Unkraut auf den Gräbern.

Der Friedhof ist in den letzten beiden Jahren ziemli verna lässigt
worden, und es s merzt mi  zu sehen, was für ein Chaos si  in dem

ehemals gep flegten Garten ausgebreitet hat. Lavendel, Majoran, Goldrute

und Salbei wu ern en Gräsern und blauen Disteln. Außerdem


zwis

irritieren mi so viele versiedene Gerüe. I möte gepflegte Beete mit

ordentlien Reihen von Blumen und Sträuern, vielleit eine

Busbaumhee um den Friedhof herum. Der üppige Pflanzenwus seint

mir unpassend, respektlos, ein wilder Überlebenskrieg, in dem die eine

Pflanze die andere ersti t, in einem vergebli en Kampf um die

a. In der Bibel steht, wir sollen uns die Erde untertan maen.
Vorherrs

Do i fühle mi nit stark genug. Was i empfinde, ist Hilflosigkeit,

denn soviel i au umgrabe und jäte und besneide, das Unkraut ist

immer sneller als i, die grüne Armee füllt die Lüen hinter meinem

Rüen, no während i arbeite, stret ihre lange, grüne Zunge heraus
zum Spo  über meine Bemühungen. Narcisse beoba  tet mi  mit

amüsierter Vera  tung.

»Sie sollten lieber anfangen zu p flanzen, Vater«, sagt er. »Füllen Sie die

Lü  en mit etwas, das Ihnen gefällt, sonst wird das Unkraut es für Sie tun.«

Natürli  hat er  re t. I habe hundert flanzen


P bei ihm bestellt,

bes  eidene Gewä  


se, die i in Reihen anordnen werde. I  mag die

weißen Begonien und die Zwerglilien und die blaßgelben Dahlien und die

Osterglo  en, die ni   t du en, aber so s öne, gekräuselte Blüten haben. Sie

sind 
hübs , aber 
sie wu ern ni  t, hat Narcisse mir versi  ert. Von

Mens  enhand gezähmte Natur.

Vianne Ro  er kommt herüber, um meine Arbeit zu beguta  ten. I 


bea  te sie ni  t. Sie trägt einen türkisfarbenen Pullover und Jeans und

kurze, weinrote Wildlederstiefel. Ihr Haar flaert im Wind wie eine

Piraten flagge.
»Sie haben einen s  önen Garten«, sagt sie. Mit einer Hand fährt sie über

die P flanzen; dann ma  t sie eine Faust und bringt den geballten Du  an

ihre Nase.

»So viele Kräuter«, sagt sie. »Zitronenmelisse und Minze und Salbei  –«
»I  kenne ihre Namen ni  t«, erwidere i  s ro ff. »I bin kein Gärtner.
Außerdem ist das alles nur Unkraut.«

»I  mag Unkraut.«

Natürli  . Der Unmut ließ meinen Puls s  neller gehen  – oder lag es am
Du  ? Als i   mi inmi  en von kniehohem Gras aufri  tete, kna  ten

meine Lendenwirbel infolge der ru  artigen Bewegung.

»Sagen Sie mir eins, Mademoiselle.«

Sie s  aute mi  
lä elnd an.

»Sagen Sie mir, was Sie damit bezwe  en, daß Sie meine

Gemeindemitglieder dazu ansta  eln, ihr Leben zu entwurzeln, ihre

Si erheit aufzugeben  –«
Sie sah mi  verblü  an.

»Entwurzeln?« Sie warf einen Bli  auf den Berg Unkraut am Wegrand.

»I   spre e von Joséphine Muscat«, raunzte i  .

»A  so.« Sie p flüte einen Zweig Lavendel. »Sie war unglüli.«


Sie s  ien anzunehmen, das würde alles erklären.

»Und jetzt, wo sie ihr Ehegelübde gebro  en, alles zurü  gelassen hat,

was sie besaß, jetzt, wo sie ihr altes Leben aufgegeben hat, glauben Sie, wird

sie glü li er sein?«

»Natürli  .«

»Eine feine Philosophie«, höhnte i  , »falls Sie nicht an die Sünde

glauben.«

Sie la  te.

»Das tue i   ni t«, erwiderte sie. »I  glaube überhaupt ni  t daran.«

»Dann bedaure i  Ihr armes Kind«, sagte i  beißend. »Ohne Go  und

ohne Moral aufzuwa  sen.«

Sie s  aute mi   na denkli  mit zusammengekni ffenen Augen an.


»Anouk weiß, was Gut und Böse ist«, entgegnete sie, und da wußte i  ,

daß i  endli  zu ihr vorgedrungen war. Ein kleiner Punkt für mi  . »Was

Go  betri –  « Sie bra  den Satz ab. »I  glaube ni  t, daß dieser weiße

Kragen Ihnen das Alleinre  t auf den Zugang zu Go  gibt«, sagte sie etwas

freundli  er. »I  denke, es ist Platz genug da für uns beide, meinen Sie

ni  t?«


I ließ mi  zu keiner Antwort herab. Ihre gespielte Toleranz ist allzu

fadens  einig.

»Wenn Sie wirkli  die Absi  t haben, Gutes zu tun«, erklärte i  ihr

würdevoll, »sollten Sie Madame Muscat zureden, si  ihre voreilige

Ents  eidung no  einmal zu überlegen. Und Armande Voizin zur Vernun 


bringen.«

»Vernun  ?« Sie tat so, als verstünde sie ni  t, aber sie wußte genau, was

i meinte.

I wiederholte no  einmal, was i  bereits diesem Wa  hund gesagt

ha  e. Armande sei alt, erklärte i  ihr. Eigensinnig und störris  . Aber

Mens  en ihrer Generation seien wenig aufgeklärt in medizinis  en Dingen.

Armande begreife ni  t, wie wi tig es ist, eine Diät einzuhalten und

Medikamente regelmäßig einzunehmen  – sie weigere si  hartnä  ig, den

Tatsa  en ins Auge zu sehen  –


»Aber Armande ist glü li und zufrieden.« Ihre Stimme klang beinahe
vernünig. »Sie will ihr Haus nit aufgeben und in ein Altenheim ziehen.

Sie will in ihren eigenen vier Wänden sterben.«

»Dazu hat sie kein Re t!« I hörte meine Stimme wie eine Peitse über
den Platz knallen. »Diese Entseidung steht ihr nit zu. Wer weiß, wie

lange sie no lebt, womögli no zehn Jahre –«

»Das kann gut sein«, sagte sie mit ironisem Unterton. »Sie ist immer

no sehr agil, geistig fit, unabhängig –«

» «
Unabhängig! Es gelang mir kaum no, meine Veratung zu

verbergen. »Und wenn sie in einem halben Jahr stoblind ist? Was mat

sie dann?«

Zum erstenmal wirkte sie verwirrt.

»I  verstehe ni t, was Sie meinen«, sagte sie s ließli. »Armandes


Augen sind do  in Ordnung, oder? I meine, sie trägt ja no nit mal

eine Brille  –«
I  sah sie durdringend an. Sie wußte es nit. »Sie haben si no
nit mit dem Arzt unterhalten, nit wahr?«

»Warum sollte i? Armande –«

I fiel ihr ins Wort. »Armande hat ein Problem«, erklärte i ihr. »Eines,

das sie systematis ignoriert. Da sehen Sie, wie eigensinnig sie tatsäli

ist. Sie weigert si, ihrer Familie und sogar si selbst gegenüber

einzugestehen  –«
»Bi e, sagen Sie’s mir.« Ihre Augen waren hart wie Aate.
I sagte es ihr.

Sonntag, 16. März

Armande tat zunä st so, als verstünde sie nit. Dann verlangte sie in
einem selbstherrlien Ton zu wissen, wer »geplappert« habe, während sie

mir gleizeitig vorwarf, i miste mi in Angelegenheiten ein, die mi


nits angingen, und i häe außerdem sowieso keine Ahnung, wovon i
spra.

»Armande«, sagte i, als sie sließli eine Atempause mate. »Reden

Sie mit mir. Erklären Sie mir, was es bedeutet. Diabetise Erkrankung der

Netzhaut  –«
Sie zute seln.
die A »Wenn dieser verdammte Doktor es s on im

ganzen Dorf rumerzählt, kann i ’s Ihnen au sagen.« Sie wirkte gereizt.
»Er behandelt mi, als könnte i nits mehr für mi selbst entseiden.«

Sie sah mi durdringend an. »Und Sie sind au nit besser, Madame«,

sagte sie. »Bemuern mi, misen si in meine Angelegenheiten ein  …

I bin kein Kind, Vianne.«

»Das weiß i.«

»Also gut.« Sie langte na ihrer Teetasse. I sah, wie vorsitig sie sie

anfaßte, si vergewisserte, daß sie sier zwisen ihren Fingern lag, bevor

sie sie anhob. Nit sie, sondern i bin blind gewesen. Der Spaziersto mit

der roten Sleife, die vorsitigen Srie, die unfertige Stiarbeit, die

Augen stets dur die versiedensten Hüte gesützt …

»Man kann mir sowieso nit helfen«, sagte Armande etwas freundlier.

»Soweit i es verstanden habe, ist es unheilbar, also geht es außer mir

niemanden etwas an.« Sie trank einen Slu von ihrem Tee und verzog das

Gesit.

»Kamille«, sagte sie troen. »Soll entgiend wirken. Smet wie

Katzenpisse.« Mit derselben Vorsit stellte sie die Tasse wieder ab.

»Das Lesen fehlt mir«, sagte sie. »I kann die Bustaben nit mehr

erkennen. Aber Luc liest mir manmal was vor. Wissen Sie no, wie er mir

an dem ersten Miwo ein Gedit von Rimbaud vorgelesen hat?«

I nite.

»Sie sagen es so, als sei es Jahre her«, bemerkte i.

»Ist es au.« Ihre Stimme klang swa, fast tonlos. »I habe

bekommen, was i nie zu hoffen gewagt hae. Mein Enkel besut mi

jeden Tag. Wir reden miteinander wie Erwasene. Er ist ein guter Junge

und so liebenswürdig, daß er si ein wenig um mi grämt.«

»Er liebt Sie, Armande«, unterbra i sie. »Wir alle lieben Sie.«
Sie la  te in si  hinein.

»Na ja, viellei   t ni t alle«, sagte sie. »Aber das ist ni  t so wi  tig. I 
habe alles, was i  mir je gewüns  t habe. Mein Haus, meine Freunde,

Luc  …« Sie sah mi  trotzig an. »I  werde mir ni  ts davon wegnehmen

lassen«, erklärte sie herausfordernd.

»I  verstehe ni   t re t. Es kann Sie do  niemand zwingen  –«


»I  rede ni  t von irgend jemandem«, unterbra  sie mi   s arf.

»Cussonnet kann mir erzählen, was er will, über Retinatransplantation und

Laserte  nik und was weiß i –  « Ihre Vera  tung für sol  e Dinge war

ni  t zu überhören. »Aber das ändert ni  ts an den Tatsa  en. Die Wahrheit

ist, daß i  blind werde, und da ist wohl ni  ts dran zu ma  en.« Sie

vers  ränkte die Arme, wie um die Endgültigkeit ihrer Worte zu

unterstrei  en.

 
»I hä e früher zu ihm gehen sollen«, sagte sie ohne Bi  erkeit. »Jetzt ist

es ni  t mehr heilbar und wird immer s  limmer. Ein halbes Jahr gibt er mir

hö  
stens, bis i völlig erblindet bin, dann kommt das Sterbehaus, ob s mir ’
gefällt 
oder ni t, bis i die Augen zuma  e.« Sie ma  te eine Pause.

»Womögli    lebe i no zehn Jahre«, sinnierte sie, als würde sie


wiederholen, was i zu Reynaud gesagt ha  e.

 ff
I ö nete den Mund, um sie zu beruhigen, um ihr zu sagen, daß es

viellei    t ni t so s limm werden würde, wie sie es si  vorstellte, s  loß

ihn jedo  wieder.

»S  
auen Sie mi ni t so an.« Armande knu  e mi  aufmunternd mit


dem Ellbogen. »Na einem fünfgängigen Menü will man Ka ffee und Likör,
’ 
stimmt s? Da hat man do keine Lust, das Festmahl mit einer S  üssel

Hafers  leim zu krönen, oder? Nur damit man no  einen Gang kriegt.«

»Armande  –«
»Unterbre en Sie mi  
ni t.« Ihre Augen leu  teten. »Was i  sagen

will, ist, man muß wissen, wann man aufzuhören hat, Vianne. Man muß

wissen, wann man den Teller wegs  ieben und den Likör bestellen muß. In

vierzehn Tagen werde i  einunda  tzig  –«


»Das ist do  kein Alter«, platzte i  heraus. »I  kann es ni  t fassen,

daß Sie einfa  so aufgeben wollen!«


Sie sah mi  an.

»Dabei sind Sie es do  gewesen, ni  t wahr, die Guillaume gesagt hat, er

soll Charly seine Würde lassen.«

»Sie sind do  kein Hund!« erwiderte i  ärgerli  .

»Nein«, sagte Armande leise. »Und i  kann selbst für mi  ents  eiden.«

New York ist eine unwirtli  e Stadt, trotz all ihrer glitzernden Verlo  ungen;

bi 
erkalt im Winter und drü  end heiß im Sommer. Na  drei Monaten hat

sogar der Lärm etwas Vertrautes, man nimmt ihn 


ni t mehr wahr;

Motorengedröhn, mens li e Stimmen, Taxihupen vers  melzen zu einer

Geräus  kulisse, die wie Nieselregen über der Stadt liegt. Sie kam aus einem

Deli mit unserem Mi  agessen in einer braunen Papiertüte in den vor der

Brust vers ränkten Armen; i  lief ihr entgegen, unsere Bli  e begegneten


si über die stark befahrene Straße hinweg, hinter ihr ein Plakat mit einer

Marlboro-Reklame; ein Mann vor rötli  en Felsen im Hintergrund  … I sah

es kommen. Ö ffnete meinen Mund, um ihr etwas zuzurufen, sie zu

warnen  … Erstarrte. Eine Sekunde lang, mehr ni  t, eine einzige Sekunde.

War es die Angst, die mir die Zunge lähmte? War es einfa  die Trägheit des

Körpers, der si  mit einer plötzli  en Gefahr konfrontiert sieht, die

Ewigkeit, die der Körper brau  t, um zu reagieren, na  dem der Gedanke

das Gehirn errei  t hat? Oder war es Ho ffnung, die Art von Ho ffnung, die

entsteht, wenn alle Träume zerplatzt sind und ni  ts geblieben ist als die

Anstrengung, die es kostet, den Ans  ein zu wahren?

Natürlich, Maman, natürlich fahren wir nach Florida. Ganz bestimmt.

Ihr Gesi  t, zu einem Lä  eln erstarrt, in ihren Augen ein viel zu helles

Leu ten, so hell wie das Feuerwerk am vierten Juli.

Was würde ich tun? Was würde ich bloß tun, wenn ich dich nicht hätte?

Ist schon gut, Maman. Wir schaffen es. Ich verspreche es dir. Verlaß dich

auf mich.

Der S warze Mann steht da und s aut ruhig zu, seine zu  enden

Mundwinkel zu einem Lä  eln verzogen, und während dieser endlosen

Sekunde begreife i  , daß es S  limmeres gibt, viel S  limmeres als den Tod.

Dann ist die Lähmung vorbei, und i  beginne zu s  reien, aber der Warnruf
kommt zu spät. Sie wendet si  mir zu, ein Lä eln bildet si  auf ihren

blei  – Was gibt’s, Liebes?  –, und der S


en Lippen   rei wird vom Kreis  en

der Bremsen verslut …

»Florida!« Es klingt wie ein Frauenname, der über die Straße hallt, die

junge Frau rennt quer dur  den Verkehr, läßt ihre Tüten mit den Einkäufen

fallen  – ein paar Lebensmi  el, eine Tüte Mil –  , ihr Gesi  t verzerrt. Es

klingt wie ein Name, als hieße die ältere Frau, die da auf der Straße stirbt,

Florida, und sie ist tot, bevor i  sie errei  e, ganz still und undramatis  , so

daß es mir beinahe peinli  ist, daß i  so ein Au  ebens darum ma  e. Eine

di  e Frau in einem rosafarbenen Trainingsanzug legt ihre fleisigen Arme


um mi  , und was i  vor allem emp finde ist Erlei  terung, wie aus einer

aufges   ni enen Eiterbeule laufen mir Tränen der Erlei  terung über die

Wangen, bi 
ere Erlei  terung darüber, daß i endli  am Ende

angekommen bin. Unversehrt am Ende angekommen, oder zumindest

beinahe unversehrt.

»Weinen Sie ni  t«, sagte Armande san  . »Sie sind es do  , ni t wahr,

die immer sagt, Glü  ist das einzige, was zählt?«

Verblü  stellte i fest, daß mein Gesi  t naß war.

»Außerdem brau   e i Ihre Hilfe.« Pragmatis  wie immer, rei  te sie

mir ein  
Tas  entu . Es du ete na  Lavendel. »I  werde an meinem

Geburtstag eine Party geben«, verkündete sie. »Lucs Idee. Kosten spielen

keine Rolle. I   mö te, daß Sie für das Bu ffet sorgen.«


»Was?« I  war verwirrt von diesem We  selbad zwis  en Tod, Festessen

und wieder Tod.

»Der letzte Gang meines Menüs«, erklärte Armande. »Bis dahin werde i 
wie ein braves Mäd  en regelmäßig meine Medizin nehmen. 
I werde

sogar diesen s  eußli  en Tee trinken. I  mö te meinen einunda  tzigsten

Geburtstag zusammen mit allen meinen Freunden feiern, Vianne. Viellei  t

lade i sogar meine bes euerte To  ter ein. Wir werden Ihr

S okoladenfest ri  tig stilvoll begehen. Und dann  …« Ein kurzes,

glei  gültiges A  selzu  en. »Ni  t jeder hat das Glü  «, bemerkte sie. »Die

Chance, alles genau zu planen, alle E  en auszufegen. Und no  was  –« sie


s aute mi   dur dringend an. »Kein Wort zu irgend jemandem«, sagte sie.
»Niemand darf etwas davon erfahren. I  werde keine Einmis  ung dulden.

Es ist meine Ents eidung, Vianne. Meine Party. I  


will ni t, daß irgend

jemand auf meiner Party anfängt zu weinen oder herumzujammern.

Verstanden?«

I ni te.

»Verspro  en?« Sie spra  mit mir wie mit einem aufsässigen Kind.

»Verspro  en.«

Zufriedenheit breitete si  auf ihrem Gesi  t aus, wie immer, wenn sie

von gutem Essen redete. Sie rieb si  die Hände.

»Dann werden wir jetzt das Menü planen.«


Dienstag, 18. März

Joséphine fiel auf, wie still i  war, während wir gemeinsam in der Kü  e

arbeiteten. Wir haben s  on dreihundert Osters  a teln fertig, sauber im

Keller gestapelt und mit bunten S  leifen versehen, aber i   mö te doppelt

so viele ma  en. Wenn wir sie alle verkaufen, werden wir einen guten

Gewinn erzielen, viellei  t genug, um uns endgültig hier niederzulassen.

Wenn ni  t  – über diese Mögli  keit denke i   ni t na , obwohl die

We erfahne mi  von ihrem Turm aus laut ausla  t. Roux hat bereits mit

der Arbeit an Anouks Da  zimmer begonnen. Das Fest ist ein Risiko, aber

unser Leben ist s  on immer von sol  en Dingen bestimmt gewesen. Und

wir s euen keine Mühe, um dem Fest zu einem Erfolg zu verhelfen. Überall

in den Na  barorten, sogar in Agen habe i  Plakate au  ängen lassen. In

der Osterwo  e wird tägli  im Radio für das Fest geworben. Es wird Musik

geben  – ein paar alte Freunde von Narcisse haben eine Kapelle gegründet  –,
Blumen und Spiele. I  habe mit einigen der Händler gespro  en, die

donnerstags immer auf dem Markt stehen, und es wird ein paar Stände auf

dem Dorfplatz geben, wo man Modes   mu und Andenken kaufen kann.

Wir werden eine Ostereiersu  e für die Kinder veranstalten, angeführt von

Anouk und ihren Freunden, und es gibt cornets surprise für jeden

Teilnehmer. Und im S  aufenster von La Céleste Praline wird eine riesige

S okoladenstatue von Eostra stehen, in der einen Hand einen Maiskolben

und in der anderen einen Korb mit Ostereiern, die an alle, die mit uns feiern,

verteilt werden. Nur no  zwei Wo  en. Von den zarten Likörpralinen, den

Rosenblä  ern aus S  okolade, den in Goldfolie verpa  ten Münzen, den

kandierten Veil  en, den Kirs  pralinen und den Mandelspli  ern ma  en

wir jeweils fünfzig Stü  und legen sie dann zum Auskühlen auf gefe  ete

Ble  e. Große Eier und Tier figuren aus Hohls  okolade werden vorsi  tig

geö ffnet und mit kleinen Pralinen und Trü ffeln gefüllt. Es gibt Nester aus
gesponnenen Karamelfäden mit Zu ereiern, auf denen eine di e
S okoladenhenne thront; gesete Hasen, mit gebrannten Mandeln

elt und in Sateln


gefüllt, stehen in Reih und Glied bereit, um eingewi

verpat zu werden; ganze Herden von Marzipantieren marsieren über die

Regalbreer. Das gesamte Haus ist erfüllt vom Du na Vanille und

Cognac und karamelisierten Äpfeln und Biersokolade.

Und nun muß au no Armandes Party vorbereitet werden. Das

Festessen wird am Karsamstagabend um neun Uhr beginnen, dem Vorabend

des S okoladenfests, und um Mi ernat will sie ihren Geburtstag feiern.

I habe eine Liste mit allem, was sie aus Agen bestellen will  – foie gras,

Champagner, Trü ffel und fris e chantrelles aus Bordeaux, Meeresfrü te
vom Fis händler in Agen. Für Kuen und Pralinen werde i selbst sorgen.
»Das wird bestimmt eine tolle Party«, meint Joséphine begeistert, als i

ihr von Armandes Vorhaben erzähle. I darf das Verspreen nit

vergessen, das i Armande gegeben habe.

»Sie sind eingeladen«, erkläre i ihr. »Das hat sie mir ausdrüli

gesagt.«

«, sagt Joséphine hoerfreut. »Alle sind so ne zu mir.«


»Das ist aber ne

Erstaunlierweise ist sie überhaupt nit verbiert, sondern stets bereit,

die Freundlikeit anderer anzunehmen. Selbst Paul-Marie hat ihren

Optimismus nit zerstören können. Wie er si aufführt, sagt sie, sei

teilweise ihre Suld. Er habe einen swaen Charakter; sie häe si viel

früher gegen ihn zur Wehr setzen müssen. Für Caro Clairmont und ihre

Freundinnen hat sie nur ein mitleidiges Lä eln übrig.


 dumme Gänse«, sagt sie bloß.
»Das sind do

Wel slites Gemüt. Sie ist jetzt vollkommen gelassen, im Frieden mit

si und der Welt. Gleizeitig stelle i fest, daß i selbst immer weniger

gelassen bin, wie aus einem perversen Widersprusgeist heraus. Und

denno beneide i sie. Es hat so wenig gebraut, um sie so zufrieden

werden zu lassen. Ein bißen Wärme, ein paar geliehene Kleider und die

Sierheit eines eigenen Zimmers … Wie eine Blume wäst sie auf das Lit

zu, ohne nazudenken oder den Prozeß ihrer Veränderung zu analysieren.

I wünste, i könnte das au.


Mir fällt das Gesprä  wieder ein, das i  am Sonntag mit Reynaud

geführt habe. Was ihn antreibt, ist mir na  wie vor ein Rätsel. Neuerdings

wirkt er beinahe verzweifelt, wenn er auf dem Friedhof arbeitet, wenn er

wie ein Wilder gräbt und ha  – t  man  mal reißt er zusammen mit dem

Unkraut die Blumen und Sträu  er glei  mit aus  –, wenn ihm der Sweiß
den Rü  en hinunterläu  , und ein dunkles Dreie  auf seiner Soutane

entsteht. Die harte Arbeit ma  t ihm keine Freude. Sein Gesi  t ist vor

Anstrengung verzerrt. Es ist, als würde er die Erde hassen, die er umgräbt,

die P flanzen, dur  die er si  kämp  . Er wirkt wie ein Geizhals, der

gezwungen ist, Berge von Gelds  einen in einen Ofen zu s aufeln; Gier,

Abs  eu und unterdrü  te Faszination liegen in seinem Bli . Und denno 


gibt er ni  t auf. Während i  ihn beoba  fl te, a ert ein vertrautes Gefühl

der Angst in mir auf, do  i bin mir ni   t si er, wovor i   


mi für te.

Er ist wie eine Mas  ine, dieser Mann, mein Feind. Wenn i  ihn ansehe,

fühle i   mi seinen prüfenden Bli  en auf seltsame Weise ausgesetzt. I 


muß meinen ganzen Mut au  ringen, um ihm in die Augen zu s  auen, ihn

anzulä  eln, mi  unbefangen zu geben  … do  etwas in meinem Innern


s reit und sträubt si  und versu  t zu fliehen. Es ist nit nur einfa das

S okoladenfest, das ihn so in Rage versetzt. Das spüre i  so deutli  , als

könnte i  seine Gedanken lesen. Es ist meine Anwesenheit hier im Dorf, die

ihn aus der Fassung bringt. Für ihn bin i  eine lebende S ande. Er

beoba  tet mi  unau ffällig während der Arbeit auf dem Friedhof; sein Bli
wandert immer wieder zu meinem Fenster und dann wieder zurü  , voll

verstohlener Genugtuung. Seit Sonntag haben wir ni  t wieder miteinander

gespro  en, und er nimmt an, er hä  e einen Pluspunkt gegen mi 


gewonnen. Armande ist ni  t wieder im Laden gewesen, und an seinen

Augen erkenne i  , daß er glaubt, er sei der Grund dafür. Soll er es ruhig

annehmen, wenn es ihn glü  li ma t.

Anouk hat mir erzählt, daß er gestern in der S  ule war. Er hat den

Kindern von der Bedeutung des Osterfests erzählt  – harmloses Zeug, und

do  läu  mir bei der Vorstellung, daß meine To  ter seinem Ein fluß
ausgesetzt ist, ein S  auer über den Rü  en  –, hat ihnen eine Ges  i te
vorgelesen, ihnen verspro en, wiederzukommen. I  fragte Anouk, ob er

mit ihr gespro en häe.


. Er hat gesagt, i darf ihn
»Na klar«, erwiderte sie vergnügt. »Er ist ne

besuen und mir die Kire ansehen, wenn i Lust hab. Dann zeigt er mir

den heiligen Franziskus und all die Tiere.«

»Und, mötest du hingehen?«


Anouk zute die Aseln.

»Mal sehen«, sagte sie.

I sage mir  – in den frühen Morgenstunden, wenn alles mögli seint


und meine Nerven kreisen wie die rostigen Sarniere der Weerfahne  –,

daß meine Ängste völlig irrational sind. Was kann er uns son anhaben?

Wie könnte er uns weh tun, wenn das in seiner Absit liegt? Er weiß nits.

Er kann nits über uns wissen. Er hat keine Mat über uns.

Natürlich hat er das, sagt die Stimme meiner Muer in mir. Er ist der

Schwarze Mann.

Anouk wälzt si  unruhig im Slaf hin und her. Feinfühlig, wie sie ist,
spürt sie, daß i wa bin, und versut, si dur einen Morast von

Träumen zu kämpfen und au aufzuwaen. I atme ganz ruhig, bis sie

wieder in Tiefslaf versinkt.

Der Swarze Mann ist nits als Einbildung, sage i mir nadrüli.

Eine Verkörperung von Ängsten, die si hinter einer Karnevalsmaske

verbergen. Ein Sauermären. Ein Saen in einem fremden Zimmer.

Sta einer Antwort entsteht das Bild erneut vor mir, hell und leutend

wie ein Transparent: Reynaud am Be eines alten Mannes, seine Lippen

bewegen si, als betete er, hinter ihm lodern Flammen wie Sonnenlit in

einem Kirenfenster. Es ist kein beruhigendes Bild. In der Haltung des

Priesters liegt etwas Raubtierhaes, die beiden geröteten Gesiter haben

eine gewisse Ähnlikeit, das dunkel glühende Lit der Flammen wirkt

bedrohli. I versue, meine psyologisen Kenntnisse zu Hilfe zu

nehmen. Der Swarze Mann symbolisiert den Tod, ein Aretyp, der meine

Angst vor dem Unbekannten widerspiegelt. Es überzeugt mi nit. Der

Teil in mir, der immer no zu meiner Muer gehört, sprit deutlier zu

mir.
Du bist meine Tochter, Vianne, sagt sie mir unerbi li. Du weißt, was es
bedeutet.

Es bedeutet, daß wir weiterziehen müssen, wenn der Wind si  dreht, daß
wir die Zukun  aus den Karten lesen, daß unser Leben eine permanente

Flu t ist …
»I bin nits Besonderes.« Unwillkürli habe i laut gesproen.

»Maman?« Anouks verslafene Stimme.

»Ss«, sage i. »Es ist no nit Morgen. Slaf no ein bißen.«

»Sing mir was vor, Maman«, murmelt sie und stret in der Dunkelheit

einen Arm na mir aus. »Sing no mal das Lied vom Wind.«

Also singe i, lause meiner eigenen Stimme, die von dem leisen

ietsen der Weerfahne begleitet wird;

V’là l’bon vent, v’là l’joli vent,

V’là l’bon vent, ma mie m’appelle,

V’là l’bon vent, v’là l’joli vent,

V’là l’bon vent, ma mie m’attend.

Na einer Weile höre i  Anouk wieder regelmäßig atmen, und i  weiß,

sie ist wieder einges lafen. Ihre Hand liegt immer no  in meiner, wei 
und s wer. Wenn Roux mit der Arbeit am Da fertig ist, wird sie wieder
ihr eigenes Zimmer haben, dann werden wir beide wieder ruhiger slafen.

Heute nat fühle i mi allzusehr an all die Hotelzimmer erinnert, in

denen meine Muer und i geslafen haben, umhüllt von der Feutigkeit

unseres eigenen Atems, die beslagenen Fenster, und draußen der stete

Lärm des Straßenverkehrs.

V’là l’bon vent, v’là l’joli vent  …


Diesmal ni t, verspre e i mir im stillen. Diesmal bleiben wir. Egal,

was passiert. Aber no  während i einslafe, fange i unwillkürli an,


zu überlegen, wie es wäre. Sehnsütig und voller Ungläubigkeit.

Mi  woch, 19. März


Neuerdings s eint im Laden von dieser Ro er weniger los zu sein.

Armande Voizin ist ni t mehr dagewesen, obwohl i  sie mehrmals im

Dorf gesehen habe. Sie hat si  wieder re t gut erholt, bewegt si  mit

fors en Srien und ist kaum auf ihren Sto  angewiesen. I  sehe sie

häu fig zusammen mit Guillaume Duplessis, der diesen mi rigen Welpen

en. Als sie erfuhr,


überallhin mitnimmt, und Luc geht sie jeden Tag besu

daß ihr Sohn Armande seit einiger Zeit heimli besut, läelte Caroline

Clairmont gequält.

»I  habe keinen Ein fluß mehr auf ihn, Vater«, jammerte sie. »Er war

immer so ein guter Junge, so ein folgsames Kind, aber jetzt  –«


Mit theatralis er Geste s lug sie si  mit den manikürten Händen vor

die Brust.

»I habe ihm  – auf die allersanfteste Art –  erklärt, er häe mir sagen
müssen, daß er seine Großmu er besut  –« Sie seufzte. »Als häe er

annehmen müssen, i  hä e etwas dagegen gehabt, der dumme Junge. I 


habe natürli nits dagegen, habe i ihm gesagt. I freue mi, daß ihr
beiden eu so gut versteht  – sließli wirst du eines Tages eine Menge

von ihr erben  … Und plötzli sreit er mi an, das Geld würde ihn nit

im geringsten interessieren, und er häe mir nits davon gesagt, weil er

genau gewußt häe, daß i ihm alles verderben würde, i sei eine

heulerise Betswester  … Das sind ihre Worte, Vater, darauf würde i

mein Leben verween  –« Sie betupe si vorsitig die Augen, ängstli

darauf bedat, ihr tadelloses Make-up nit zu versmieren.

»Was habe i nur fals gemat?« jammerte sie. »I habe alles für

diesen Jungen getan, er hat alles von mir bekommen. Daß er si jetzt so von

mir abwendet, mir alles vor die Füße wir wegen dieser Frau  …« Trotz der

Tränen war ihre Stimme hart. »Sie ist slimmer als eine Gislange«,

lamentierte sie. »Sie können si nit vorstellen, was das für eine Muer

bedeutet, Vater.«

»Oh, Sie sind ni t die einzige, die darunter leidet, daß Madame Ro er
si überall mit gutgemeinten Ratslägen einmist«, sagte i. »Sehen Sie
si do bloß einmal an, was sie alles in wenigen Woen ausgelöst hat.«

Caroline sniee.
»Gut gemeint! Sie sind wirkli  zu liebenswürdig, Vater«, höhnte sie. »Sie

ist bösartig, lassen Sie si  das von mir gesagt sein. Sie hä  e meine Mu  er

beinahe umgebra  t, sie hat meinen Sohn gegen mi  aufgehetzt  …«


I   ni te zustimmend.

»Ganz zu s  weigen davon, daß sie die Ehe der Muscats zerstört hat«,

fuhr sie fort. »I  kann mi  nur wundern, wieviel Geduld Sie immer wieder

au ringen, Vater.« Ihre Augen funkelten haßerfüllt. »Es wundert mi  , daß

Sie Ihren Ein fluß no nit genutzt haben.«


 
I zu te die A  seln.

 
»A , i bin nur ein Dorfpfarrer«, erwiderte i   . »I besitze keinen

nennenswerten Ein fluß. I kann etwas mißbilligen, aber –«


»Sie können wesentli  mehr tun, als etwas zu mißbilligen«, fau  te

Caroline. »Wir hä  en von Anfang an auf Sie hören sollen, Vater. Wir hä  en

sie nie im Dorf dulden sollen.«

I  hob die S  ultern.

»Im na  hinein ist man immer s  lauer«, sagte i  . »Wenn i   


mi re t

erinnere, sind Sie anfangs au  gern in ihren Laden gegangen.«

Sie errötete.

»Nun, wir könnten Sie unterstützen«, s lug sie vor. »Paul Muscat,

Georges, die Arnaulds, die Drous, die Prudhommes  … Wir könnten uns

zusammentun. No  mehr Verbündete su  en. Wir könnten dafür sorgen,

daß si  s ließli  alle gegen sie vers  wören.«

»Aus wel  em Grund? Die Frau hat kein Gesetz gebro  en. Es wäre ni  ts

als üble Na  rede, und am Ende hä en Sie ni  ts gewonnen.«

Caroline lä  elte böse.

»Auf jeden Fall können wir ihr großartiges Fest ruinieren«, sagte sie.

»A  ja?«

»Natürli  .« Die Wut ma  te sie häßli  . »Georges kommt mit vielen

Leuten zusammen. Er ist sehr wohlhabend. Au  Muscat hat einen gewissen

Ein fluß. Er hat mit vielen Leuten zu tun, und er besitzt Überzeugungskra  .

Im Gemeinderat zum Beispiel  …«


Das stimmt. I  muß an seinen Vater denken, den Sommer, als die

Zigeuner s  on einmal hier waren.


»Wenn sie bei dem Fest Verluste ma t – und wie i höre, hat sie bereits
ziemli  viel in die Vorbereitungen investiert  –, dann wird sie vielleit

genötigt sein  –«
»Viellei t«, erwiderte 
i freundli. »I kann mi natürli  t
ni

offiziell daran beteiligen. Es könnte einen  … un ristlien Eindru

maen.«

An ihrem Gesi tsausdru erkannte i, daß sie mi genau verstanden
ha e.
, Vater.« Ihre Stimme klingt eifrig und gehässig. Einen
»Selbstverständli

Augenbli lang empfinde i tiefe Veratung für sie, wie sie snau und

switzt wie eine läufige Hündin, aber mit Hilfe von solen

verabseuungswürdigen Werkzeugen gelingt es uns do immer wieder,

unser Werk zu tun.

Sie, mon père, müßten das am besten wissen.

Freitag, 21. März

Das Da  ist fast fertig. Der Putz ist hier und da no feut, aber das neue
Fenster, rund und mit Messingbeslägen wie ein Bullauge, ist eingebaut.

Morgen will Roux die Dielen verlegen, und wenn sie abgezogen und

versiegelt sind, können wir Anouks Be  in ihr neues Zimmer räumen. Es

gibt keine Tür, nur die Falltür und eine Leiter, die mit einem Dutzend

Sprossen zu ihr hinau fführt. Anouk ist son ganz aufgeregt. Immer wieder
steigt sie auf die Leiter, stet ihren Kopf dur die Falltür, beobatet Roux

bei der Arbeit und gibt ihm Anweisungen. Meistens jedo ist sie bei mir in

der Küe und sieht bei den Ostervorbereitungen zu. Jeannot ist au o da.

Dann sitzen sie zusammen am Küentis und reden an einem Stü. I

muß sie besteen, damit sie mi ab und zu in Ruhe lassen. Roux ist seit

Armandes Kollaps wieder ganz der alte, er pfei vergnügt vor si hin,

während er Anouks Zimmer den letzten Sliff verpaßt. Er hat seine Arbeit
sehr gut gema t, bedauert allerdings, daß er sein Werkzeug verloren hat.

Das von Clairmont gemietete sei minderwertig, sagt er. Er will si  so bald
wie mögli  wieder eigenes Werkzeug besorgen.
»In Agen gibt es eine Wer, wo man gebraute Hausboote bekommen

kann«, erzählte er mir heute bei heißer Sokolade und Eclairs. »I könnte

mir einen alten Kahn kaufen und ihn während der Wintermonate in Suß

bringen.«

»Wieviel Geld würden Sie denn dafür brau en?«


Er zute mit den Sultern.
»Erst mal vier- oder fünausend Francs. Kommt drauf an.«

»Armande würde Ihnen das Geld bestimmt leihen.«

»Nein.« In dieser Frage ist er unerbi li. »Sie hat son genug für mi
getan.« Mit dem Zeige finger fuhr er um den Rand seiner Tasse. »Außerdem
hat Narcisse mir einen Job angeboten«, sagte er. »Vorerst im Gewäshaus,

und später bei der Weinlese, dann kommen die Kartoffeln, die Bohnen,

Gurken, Auberginen  … Genug Arbeit, um mi bis November zu

besäigen.«

»Gut.« I freue mi, daß er seinen Enthusiasmus und seine Zuversit

wiedergefunden hat. Er sieht au wieder besser aus, wirkt entspannter,

ohne diesen feindseligen, mißtrauisen Bli, der sein Gesit wie ein

verwunsenes Haus übersaete. Die letzten Näte hat er auf Armandes

Bie hin in ihrem Haus verbrat.

»Für den Fall, daß i no mal so einen Anfall habe«, sagt sie ernst und

wir mir dabei hinter seinem Rüen einen seltsamen Bli zu. Ob die

Gefahr nur eingebildet ist, oder nit, i bin froh, zu wissen, daß er bei ihr

ist.

Ganz im Gegensatz zu Caro Clairmont. Sie kam am Mi wo morgen

zusammen mit Joline Drou in den Laden, angebli , um über Anouk zu

reden. Roux saß an der eke lüre seinen Mokka. Joséphine, die
und s

si immer no vor Roux zu fürten seint, war in der Küe dabei,

Pralinen zu verpaen. Anouk war no beim Frühstüen und saß an der

eke, eine gelbe Tasse chocolat au lait und ein halbes Croissant vor si.
Die beiden Frauen senkten Anouk ein honigsüßes Läeln und bedaten
Roux mit einem verätlien Bli. Roux starrte sie homütig an.

»I hoffe, wir kommen nit ungelegen.« Jolines weie, geübte Stimme

trie vor Sorge und Mitgefühl. Dahinter verbirgt si jedo nits als

Gleigültigkeit.

»Überhaupt nit. Wir sind gerade beim Frühstüen. Kann i Ihnen

etwas anbieten?«

»Nein, nein. I  frühstüe nie.«


Ein versämter Bli zu Anouk hinüber, die jedo mit ihrer Sokolade

besäigt war.

»I würde mi gern mit Ihnen unterhalten«, sagte Joline betont

freundli. »Unter vier Augen.«

»Nun, das wäre sierli kein Problem«, erwiderte i, »aber i bin

sier, daß das nit nötig ist. Können Sie mir hier nit sagen, was Sie auf

dem Herzen haben? Roux mat das bestimmt nits aus.«

Roux grinste, und Joline verzog das Gesit.

»Na ja, es ist ein bißen delikat«, sagte sie.

»Sind Sie denn sier, daß i die Ritige bin, um darüber zu reden? I

häe gedat, daß Reynaud in solen Dingen viel –«

»Nein, i möte mi mit Ihnen unterhalten«, sagte Joline steif.

»A so.« Höfli: »Worüber?«

»Es handelt si um Ihre Toter.« Sie läelte gekünstelt. »Wie Sie

wissen, bin i ihre Klassenlehrerin.«

»Das weiß i.« I senkte Roux no eine Tasse Mokka ein. »Was ist

denn los? Kommt sie nit mit? Hat sie Probleme?«

I weiß ganz genau, daß Anouk keine Probleme hat. Seit sie viereinhalb

ist, liest sie ein Bu na dem anderen. Ihr Französis ist tadellos, und seit

unserer Zeit in New York sprit sie au fließend Englis.

»Nein, nein«, versiert Joline mir eilig. »Sie ist ein sehr geseites

Mäden.« Sie saut kurz zu Anouk hinüber, aber meine Toter ist mit

ihrem Croissant besäigt. Weil sie si unbeobatet glaubt, stibitzt sie

eine Sokoladenmaus und stop sie in ihr Croissant, um ein pain au

chocolat daraus zu maen.


»Dann geht es wohl um ihr Betragen?« frage i  ohne übertriebene Sorge.

»Stört sie den Unterri  t? Ist sie ni  t folgsam? Ist sie unhö fli?«
»Nein, nein. Natürlich nit. Es ist nits dergleien.«
»Was ist es dann?«

Caro s  aut mi  säuerli  an.

» Curé Reynaud ist in dieser Wo  e mehrmals in der S  ule gewesen«,


unterri tet sie mi  . »Er hat mit den Kindern über die Bedeutung des

  ristli en Osterfests gespro  en und so weiter.«

  I ni te ermunternd. Joline s enkte mir ein mitfühlendes Lä  eln.

»Nun, Anouk s  eint«  – ein erneuter Bli in Anouks Ritung –, »nun ja,
sie stört ni  t gerade, aber sie hat ihm einige äußerst seltsame Fragen

gestellt.« Ihr Lä  eln drü  te tiefes Mißfallen aus.

» Sehr seltsame Fragen«, wiederholte sie.


»A  ja«, sagte i  
lei thin. »Sie ist s  on immer sehr neugierig gewesen.

I bin si er, daß Sie es begrüßen, wenn S üler wißbegierig sind.

Außerdem«, fügte i   s elmis  hinzu, »wollen Sie mir do  wohl ni  t

erzählen, es gäbe irgendein  ema, zu dem Monsieur Reynaud ni  t fast

jede Frage beantworten könnte.«

Joline lä  elte a ffektiert.


»Es irritiert die anderen Kinder, Madame«, sagte sie knapp.

»So?«

»Ans  einend hat Anouk ihnen erzählt, Ostern sei eigentli  gar kein

 ristli  es Fest, und die Lehre von unserem Herrn«  – sie unterbra   si

verlegen  – »und seiner Auferstehung stelle einen Rügriff dar auf eine Art
Go  des Getreides, auf eine Fru  tbarkeitsgö 
in aus heidnis  en Zeiten.«

Sie la  te gezwungen, aber ihre Stimme war kalt.

»Ja.« I  strei  elte Anouks Lo  en. »Sie ist ein sehr belesenes Mäd  en,

ni  t wahr, Nanou?«

»I  hab ihn bloß na  Eostra gefragt«, sagte Anouk tapfer. Curé


»

Reynaud sagt, keiner feiert heute mehr ihr Fest, aber i  hab gesagt, wir

s  on.«

I  verbarg mein Lä  eln hinter einer Hand.


»Wahrs  einli kann er das ni  t verstehen, Liebes«, sagte i  . »Am

besten, du stellst ihm ni  t mehr so viele Fragen, wenn ihn das irritiert.«

»Es irritiert die Kinder, Madame«, sagte Joline.

»Nein, das stimmt gar ni  t«, konterte Anouk. »Jeannot sagt, wir sollen

ein Feuer anzünden, wenn das Fest kommt, und rote und weiße Kerzen und

alles. Jeannot sagt  –«


Caroline unterbra  sie.

»Jeannot s  eint ja eine Menge gesagt zu haben«, bemerkte sie.

»Ans  einend kommt er ganz na  seiner Mu  er«, sagte i  .

Joline wirkte beleidigt.


»Sie s einen das alles ni  t besonders ernst zu nehmen«, sagte sie, wobei

ihr das Lä eln verruts  te.

I  zu te die A  seln.

»I sehe das Problem ni  t«, erwiderte i  freundli  . »Meine To  ter


beteiligt si an der Klassendiskussion. Das ist es do  , was Sie mir erzählen,

ni  t wahr?«


»Es gibt emen, die dür en eigentli  
gar ni t zur Diskussion stehen«,

fau  te Caro, und einen Moment lang sah i  unter der pastellfarbenen

Maske ihre Mu  er in ihr, herris  und tyrannis  . Daß sie mal etwas

Temperament zeigte, ma  te sie mir sympathis  er. »Man  e Dinge sind

eine Frage des Glaubens, und wenn dieses Kind eine anständige Erziehung

genießen und die grundlegenden moralischen Werte erlernen soll  –«


Verwirrt bra  sie den Satz ab.

»Aber es liegt mir fern, Ihnen erzählen zu wollen, wie man ein Kind

großzieht«, fuhr sie tonlos fort.

»Gut«, sagte i   lä elnd. »Es würde mir widerstreben, mi  mit Ihnen zu

streiten.«

Beide Frauen starrten mi  verblü und angewidert an.

»Wollen Sie wirkli  keine heiße S  okolade?«

Caros Bli  wanderte sehnsü  tig über die Auslagen, die Pralinen, Trü ffel,
Mandelspli  er und Nougatherzen, die Eclairs, Florentiner, Likörkirs  en und

gebrannten Mandeln.

»Ein Wunder, daß dieses Kind keine faulen Zähne hat«, sagte sie spitz.
Anouk grinste und zeigte ihre Zähne. Daß sie makellos weiß waren,

sien Caros Mißmut no zu vergrößern.


»Wir verswenden hier nur unsere Zeit«, sagte Caro kühl zu Joline. I

sagte nits, und Roux kierte in si hinein. In der Küe hörte i

Joséphines kleines Kofferradio dudeln. Ein paar Sekunden lang war nits zu

hören als die Musik, die bleern von den Fliesen widerhallte.

»Komm, wir gehen«, forderte Caro ihre Freundin auf. Joline wirkte

unsi er, zögerte.


»I hab gesagt, wir gehen!« Mit einer ungehaltenen Geste raus te sie

 glaube nit, daß Sie si darüber im


von dannen, Joline auf den Fersen. »I

klaren sind, was auf Sie zukommt«, giete sie zum Absied, dann waren sie

verswunden. Ihre spitzen Absätze klapperten auf den Pflastersteinen, als

sie den Platz überquerten.

Am nä sten Tag fanden wir das erste Flugbla . Jemand ha e es

zusammengeknüllt auf die Straße geworfen, und Joséphine hob es auf, als sie

den Gehweg fegte, und bra te es mit in den Laden. Eine

masinengesriebene Seite, eine Fotokopie auf rosafarbenem Papier, in der


Mie einmal gefaltet. Es war ohne Angabe des Verfassers, do der Stil

verriet, von wem der Text stammte.

Der Titel: OSTERN UND DIE RÜCKKEHR ZUM GLAUBEN.


I über flog  weitgehend dem, was die
die Zeilen. Der Inhalt entspra

Übersri nahelegte. Es ging um die Osterbotsa, um Läuterung, Sünde

und die Bedeutung von Absolution und Gebet. Do etwa in der Mie des

Blaes war eine fegedrute zweite Übersri, die meine Aufmerksamkeit

erregte.

Die neuen Erweckungsprediger: Wie sie den Osterglauben verfälschen.

Es wird immer eine kleine Minderheit geben, die versu t, unsere heiligen
Traditionen zum persönlichen Vorteil auszunutzen. Die

Grußkartenindustrie. Die Supermarktke en. Viel gefährlicher jedo  sind

jene Elemente, die versu en, längst vergessene Traditionen

wiederzubeleben und unseren Kindern unter dem De mantel harmloser

Spiele heidnische Praktiken beibringen. Zu viele unter uns betra ten diese
ädli und begegnen ihnen mit Toleranz. Warum sonst häe
Dinge als uns

unsere Gemeinde es hinnehmen sollen, daß ausgerenet am Ostersonntag

außerhalb unserer Kire ein sogenanntes Schokoladenfest stafinden soll?

Es ist ein Hohn auf alles, was Ostern bedeutet. Wir fordern Sie auf, um

unserer uns uldigen Kinder willen dieses sogenannte Fest und alle

ähnli en Veranstaltungen zu boykottieren.


KIRCHE statt SCHOKOLADE, das ist die WAHRE OSTERBOTSCHAFT!!

»Kire sta Sokolade.« I mußte laut laen. »Das ist gar kein

sleter Slogan, was?«

Joséphine saute mi besorgt an.

»I verstehe Sie nit«, sagte sie. »Das seint Sie überhaupt ni t zu

beunruhigen.«

»Warum sollte i  mi   aselzuend.


beunruhigen lassen?« fragte i

»Es ist do nur ein Flugbla. I bin mir beinahe sier, daß i weiß, von

wem das stammt.«

Sie ni te.
»Caro«, sagte sie nadrüli. »Caro und Joline. Das ist genau ihr Stil.
Dieses Gefasel über unsuldige Kinder.« Sie snaubte verätli. »Aber

die Leute hören auf sie, Vianne. Da werden es si einige no einmal

überlegen, ob sie kommen sollen oder nit. Joline ist Lehrerin hier im Dorf.

Und Caro ist Mitglied des Gemeinderats.«

»Wirkli ?« I hae gar nit gewußt, daß es einen Gemeinderat gab.
Witigtuerise Frömmler mit einer Vorliebe für jede Art von Klats.

»Was können sie denn son tun? Alle Leute verhaen lassen?«

Joséphine süelte den Kopf.

»Paul ist au im Gemeinderat«, sagte sie leise.

»Und?«

»Sie wissen ja, was er tun kann«, sagte Joséphine verzweifelt. Mir fiel auf,
daß sie unter Streß wieder in ihre alten Angewohnheiten zurüfiel. Sie

drüte ihre Daumen in ihr Brustbein wie sie es anfangs getan hae. »Er ist
verrüt, das wissen Sie do. Er ist einfa –«

Gequält bra sie den Satz ab, die Fäuste vor der Brust geballt. Wieder

hae i den Eindru, daß sie mir etwas erzählen wollte, daß sie etwas
wußte. I berührte ihre Hand, versute, ihre Gedanken zu errei en,
konnte aber ni t mehr erkennen als zuvor; Rau , grau und fe ig, vor

einem roten Himmel.

Rauch! Meine Hand klammerte si  um ihre. Rau! Jetzt wußte i, was
i  sah, konnte Einzelheiten erkennen; sein Gesit blei und

vers wommen in der Dunkelheit, sein gehässiges, triumphierendes Grinsen.


Sie saute mi sweigend an.

»Warum haben Sie es mir nit gesagt?« fragte i sließli.

»Sie können es nit beweisen«, sagte Joséphine. »Und außerdem habe i

Ihnen überhaupt nits gesagt.«

»Das brauten Sie nit. Ist das der Grund, warum Sie si vor Roux

fürten? Wegen dem, was Paul-Marie getan hat?«

Sie rete trotzig das Kinn vor.

»I fürte mi nit vor ihm.«

»Aber Sie weigern si, mit ihm zu reden. Sie trauen si nit einmal,

si im selben Raum aufzuhalten wie er. Sie können ihm nit in die Augen

sehen.«

Joséphine vers ränkte die Arme vor der Brust wie eine Frau, die ni ts
mehr zu sagen hat.

»Joséphine?« I  drehte ihr Gesi t zu mir, zwang sie, mi  anzusehen.

»Joséphine?«

»Na gut.« Ihre Stimme klingt sroff. »I hab’s gewußt, okay? I wußte,
was Paul vorhae. I hab ihm gesagt, i würde ihn verraten, wenn er

irgendwas versute, und i häe sie gewarnt. Da hat er mi verprügelt.«

Sie warf mir einen giigen Bli zu, ihr Gesit verzerrt von unvergossenen

Tränen. »I bin also ein Feigling«, sagte sie tonlos. »Jetzt wissen Sie, was

i für eine bin, i bin nit so mutig wie Sie, i bin eine Lügnerin und ein

Feigling, und i hab ihn nit aufgehalten. Jemand häe dabei umkommen

können, Roux häe sterben können, oder Zézee oder ihr Baby, und es wäre

alles meine Schuld gewesen!« Sie holte tief und mühsam Lu.

»Sagen Sie es ihm nit«, bat sie. »I könnte es nit ertragen.«

»Ich werde es ihm nit sagen«, erwiderte i san. »Das werden Sie

tun.«
Sie süelte heig den Kopf.
»Nein, das ma i nit. Das kann i nit.«

»Ist son gut, Joséphine«, beruhigte i sie. »Es war ni t Ihre S uld.
Und es ist niemand umgekommen, oder?«

Trotzig: »Das kann i  nit.«


»Roux ist nit wie Paul«, sagte i . »Er ist Ihnen ähnli er, als Sie

glauben.«

»Was soll i  ihm denn sagen?« Sie rang verzweifelt die Hände. »I 
wüns te, er würde einfa verswinden«, sagte sie wütend. »I wünste,
er würde sein Geld nehmen und woanders hingehen.«

»Nein, das stimmt ni t«, sagte i . »Außerdem wird er sowieso ni t


gehen.« I  erzählte ihr, was Roux mir über den Job bei Narcisse und das

Boot in Agen beri tet hae. »Er hat es wenigstens verdient zu erfahren,

wer ihm das angetan hat«, beharrte i . »Dann wird er begreifen, daß allein
Muscat suldig ist und daß niemand sonst im Dorf ihn haßt. Das müßten
Sie do verstehen, Joséphine. Sie wissen do selbst, wie man si in einer

solen Situation fühlt.«

Joséphine seufzte.

»Aber ni t heute«, sagte sie. »I werd’s ihm sagen, aber ein andermal.
In Ordnung?«

»Es wird ni t leiter, wenn Sie es vor si hersieben«, warnte i sie.
»Möten Sie, daß i mit Ihnen komme?«

Sie starrte mi an.

»Nun, er wird bald eine Pause einlegen müssen«, erklärte i. »Sie

könnten ihm eine Tasse Sokolade bringen.«

Sweigen. Ihr Gesit war blei und ausdruslos. Ihre Hände zierten.

I nahm einen Trüffel aus einer Sale und stete ihn in ihren halboffenen

Mund, bevor sie Zeit hae, etwas zu sagen.

»Das wird Ihnen Mut maen«, sagte i und drehte mi um, um eine

große Tasse mit Sokolade zu füllen. »Also los, beißen Sie zu.« I hörte ein

winziges Geräus, wie ein halbes Laen. I reite ihr die Tasse. »Sind Sie

bereit?«

»I glaub son«, sagte sie mit vollem Mund. »I werd’s versuen.«
I las no einmal das Flugbla, das Joséphine auf der Straße gefunden
hae. Kirche statt Schokolade. Eigentli ziemli lustig. Der Swarze

Mann hat endli seinen Sinn für Humor entdet.

Obwohl ein kräiger Wind wehte, war es warm draußen. Die Däer in

Les Marauds simmerten im Sonnenlit. Langsam spazierte i zum

Tannes hinunter und genoß die Sonne auf meinem Rüen. Die Vorboten des

Frühlings sind da, und in den Gärten und an den Straßenrändern blühen mit

einemmal Narzissen, Iris und Tulpen. Selbst die winds iefen Häuser von

Les Marauds sind mit lustigen Farbtupfern gesprenkelt, allerdings sind die

ehemals gep flegten Gärten alle verwildert; auf einem Balkon, der über den

, ein Da ist über und über mit


Fluß hinausragt, blüht ein Holunderstrau

gelbem Löwenzahn bedet, aus Mauerritzen lugen kleine Veilen.

Veredelte Gartengewäse haben si in ihre Wildformen zurüentwielt;

kleine, feinstielige Geranien wuern zwisen Sierlingsdolden, überall

haben si Mohnblumen ausgesät und dur Kreuzungen ihr ursprünglies

Rot über Orange in eine ganz blasse Malvenfarbe verwandelt. Nur wenige

Tage Sonnens ein en aus, um sie aus ihrem Winterslaf zu ween;
rei

na dem Regen riten sie si auf und reen die Köpfe dem Lit

entgegen. Man braut nur eine Handvoll von diesem angeblien Unkraut

auszurupfen, und man findet Salbei und Iris, Nelken und Lavendel zwisen

Rüben und Kreuzkraut. I ging lange genug am Ufer spazieren, um

Joséphine und Roux Zeit zu lassen, miteinander ins reine zu kommen, dann

wanderte i langsam dur die kleinen Gassen zurü, die Ruelle des Frères
de la Révolution hinauf, und dann die Avenue des Poètes, eine enge, düstere

Gasse zwis en beinahe fensterlosen Fassaden, aufgeloert nur von den von
Balkon zu Balkon gespannten Wäseleinen und hier und da einem

Blumenkasten mit wildwuernden Wien.

I traf sie gemeinsam im Laden an, eine halbleere Kanne Sokolade

zwisen si auf der eke. Joséphine hae verweinte Augen, wirkte jedo

erleitert, beinahe glüli. Roux late gerade über etwas, das sie gesagt

hae, sein Laen klang seltsam und ungewohnt, fremdartig, weil es so

selten zu hören ist. Einen Augenbli lang war i beinahe eifersütig,

date: Die beiden gehören zusammen.


Später, als Joséphine fortgegangen war, um ein paar Besorgungen zu

ma en, spra i mit Roux. Er atet sorgfältig darauf, nits Indiskretes


über sie zu sagen, do seine Augen funkeln, als wollte jeden Augenbli ein

Läeln hervorbreen. Anseinend hae er Muscat bereits im Verdat

gehabt.

»Es war gut, daß sie diesen Bastard sitzengelassen hat«, sagt er mit

unverhohlener Vera tung. »Was dieser Kerl ihr angetan hat  –« Einen

Augenbli  lang wird er verlegen, siebt seine Tasse auf der eke hin und
her. »So ein Mann hat es nit verdient, eine Frau zu haben«, brummt er.

»Der hat keine Ahnung, was für ein Glü er hat.«

»Was werden Sie tun?« frage i ihn.

Er zut die Aseln.

»Es gibt nits zu tun«, erwidert er troen. »Er wird alles leugnen. Die

Polizei interessiert si nit für den Fall. Außerdem bin i sowieso nit

darauf erpit, mit denen zu tun zu haben.«

Er geht nit weiter auf das ema ein. I nehme an, daß es in seiner

Vergangenheit Dinge gibt, die besser nit ans Lit kommen.

Seitdem haben Joséphine und er viele lange Gespräe geführt. Sie bringt

ihm Sokolade und Kuen, wenn er Pause mat, und o höre i sie

zusammen laen. Ihr furtsamer, abwesender Bli ist verswunden. Mir

fällt auf, daß sie si sorgfältiger kleidet. Heute morgen verkündete sie sogar,

sie wolle ins Café gehen, um ein paar Saen abzuholen.

»I komme mit«, slug i vor.

Joséphine süelte den Kopf.

»I saff das son allein.« Sie wirkte glüli, beinahe hogestimmt

über ihre Entseidung. »Außerdem sagt Roux, wenn i mi Paul nit

stelle  –« Sie bra verlegen ab. »I wollte einfa no mal rübergehen, das

ist alles«, sagte sie störris. Ihre Wangen waren gerötet. »I hab no

Büer, Kleider  … I will meine Saen holen, bevor Paul auf die Idee

kommt, alles wegzusmeißen.«

I nite.

»Wann wollen Sie denn rübergehen?«


e. Wenn i Glü
Ohne zu zögern: »Am Sonntag. Dann ist er in der Kir

hab, bin i wieder weg, bevor er zurükommt. I braue nit lange.«

I sah sie an.

»Sind Sie sier, daß Sie allein gehen wollen?«

Sie nite.

»Es wäre irgendwie nit ritig.«

I mußte über ihren entslossenen Gesitsausdru läeln, aber i

wußte, was sie meinte. Es war sein Territorium  – ihr Territorium  –, auf

unsitbare Weise markiert mit den Spuren ihres gemeinsamen Lebens. I


hae dort nits zu suen.

»I saff das son.« Sie läelte. »I weiß, wie i mit ihm umgehen

muß, Vianne. I hab das son öer überstanden.«

»I hoffe, daß es dazu nit kommen wird.«

»Das wird es nit.« Sie nahm meine Hand, wie um mi zu beruhigen.

»I verspree es.«

Sonntag, 23. März

Palmsonntag

Das Läuten der Gloen hallt dumpf von den geweißten Wänden der Häuser
und Läden wider. Selbst die Pflastersteine vibrieren; i spüre das leite

Beben dur meine Suhsohlen. Narcisse hat die rameaux geliefert, die

Palmsträußen, die i na der Messe verteilen werde, und die die Leute

für den Rest der Karwoe an ihren Kragen tragen oder an ihre Kruzifixe

über dem Kamin oder dem Be steen werden. I werde Ihnen au eins

mitbringen, mon père, und eine Kerze für Ihren Nais; warum sollen Sie

leer ausgehen? Die Swestern beäugen mi mit kaum verhohlener

Belustigung. Nur die Angst und ihr Respekt vor meiner Soutane hält sie
davon ab, laut über mi zu la en. Ihre rosigen S westerngesi  ter

glänzen vom heimli  


en Ki ern. Auf dem Korridor höre i  sie tus eln:

Er glaubt, der Alte könnte ihn hören  … er meint, der würde noch mal

aufwachen … nein, wirklich? … o nein! … er redet die ganze Zeit mit ihm …

einmal hab ich ihn beten hören  – und dann mäd  enha es Geki  er  –
hihihihihi!  – wie Perlen, die über den Boden kullern.
Natürli  wagen sie es ni  t, mir ins Gesi  t zu la  en. In ihren makellos

weißen Ki  eln, das Haar unter gestärkten Hauben verborgen, den Bli 
gesenkt, könnte man sie für Nonnen halten. Klosters  ülerinnen, die

respektvoll ihre Floskeln murmeln  – oui, mon père, non, mon père  –,
während sie si  heimli  amüsieren. Au  die Mitglieder meiner Gemeinde

sind ni  t mit dem re  ten Ernst bei der Sa  e  – während der Messe sind sie
unkonzentriert und können es hinterher kaum erwarten, in die chocolaterie

zu eilen  –, do heute ist alles, wie es sein soll. Sie grüßen mi mit Respekt,
beinahe fur  tsam. Narcisse ents  uldigt si  dafür, daß die Palmsträuß  en

diesmal nur aus Zedernzweigen bestehen.

»Das ist kein einheimis  er Baum, Vater«, erklärt er mit seiner

mürris  en Stimme. »Der gedeiht hier ni  t. Der Frost ma t ihn kapu .«

I  klopfe ihm väterli  auf die S  ulter.

»Kein Problem, mon fils.« Seine Rü  kehr in den S  oß der Gemeinde

stimmt mi  milde und gütig.

Caroline Clairmont nimmt meine Hand zwis  en ihre behands  uhten

Finger.

»Eine s  öne Messe.« Ihre Stimme klingt warm.

»So eine s  öne Messe«, plappert Georges ihr na  . Luc steht neben ihr

und ma  t ein verdrießli  es Gesi  t. Dahinter die Drous mit ihrem Sohn,

der in seinem Matrosenhemd verlegen dreinbli   t. I sehe Muscat ni  t

unter den Leuten, die die Kir  e verlassen, nehme jedo  an, daß er au  da

ist.

Caroline Clairmont lä  elt mi  spitzbübis  an.

»Sieht so aus, als hä  en wir es ges  a «, sagt sie mit Genugtuung. »Wir

haben s  on mehr als hundert Unters  ri en gesammelt  –«


»Das S okoladenfest.« Unwirs unterbree i sie mit leiser Stimme.
I kann mir nit leisten, das ema in der Öffentlikeit zu diskutieren. Sie

versteht den Wink nit.

»Genau!« ru sie aufgeregt aus. »Wir haben zweihundert Flugbläer

verteilt, und die Häle der Einwohner von Lansquenet hat bereits

untersrieben. Wir sind in jedem Haus gewesen  … na ja, in fast jedem

Haus.« Sie grinst. »Mit einigen Ausnahmen, natürli.«

»Verstehe«, erwidere i betont kühl. »Vielleit können wir ein andermal

darüber reden.«

Sie registriert den Rü ffel und errötet.


»Selbstverständli , Vater.«
Sie hat natürli ret. Die Aktion hat einen deutli en Erfolg gezeitigt.

Der Pralinenladen ist seit Tagen so gut wie leer. In so einer kleinen

Gemeinde hat die o ffene Mißbilligung dur  den Gemeinderat s ließli


ein größeres Gewi t als die stillsweigende Kritik der Kire. Wer wagt es
no, unter den mißbilligenden Augen des Gemeinderats in diesem Laden zu
kaufen, zu nasen und zu slemmen  … Dazu braut es mehr Mut und

mehr Widersprusgeist, als diese Hexe Roer es ihnen wert ist. Wie lange

wohnt sie überhaupt son hier? Das verirrte Lamm findet stets zur Herde

zurü, Vater. Ganz instinktiv. Sie ist nits weiter als eine kurzlebige

Abweslung für die Leute im Dorf. Aber am Ende kommen sie alle wieder

zur Besinnung. I gebe mi nit der Illusion hin, daß sie es aus Reue oder

Einsit tun  – Safe sind von Natur aus dumm  –, aber sie besitzen einen

gesunden Instinkt. Ihre Füße tragen sie na Hause, au wenn ihre

Gedanken in die Irre gehen. Mit einemmal verspüre i eine tiefe Zuneigung

zu ihnen, zu meiner Gemeinde, meiner Herde. I möte ihre Hände in

meinen fühlen, ihr warmes, dummes Fleis berühren, mi in ihrer

Bewunderung und in ihrem Vertrauen aalen.


Ist das die Antwort auf meine Gebete, Vater? Ist das die Lektion, die i

lernen mußte? Auf der Sue na Muscat lasse i meinen Bli no

einmal über die Menge sweifen. Er kommt jeden Sonntag in die Kire, er

kann do unmögli an diesem besonderen Sonntag die Messe versäumt

haben  … Do die Kire leert si, und i kann ihn immer no nit
entde en. I erinnere mi au nit, daß er die Kommunion empfangen
hat. Er wird do sierli nit gegangen sein, ohne ein paar Worte mit

mir zu weseln. Vielleit wartet er no im Innern der Kire, sage i

mir. Die Sae mit seiner Frau hat ihn sehr mitgenommen. Vielleit braut

er meinen geistlien Beistand.

Der Korb mit den Palmsträußen wird immer leerer. Jedes einzelne wird

in Weihwasser getaut und gesegnet. Jeder wird mit einem Handauflegen

verabsiedet. Luc Clairmont weit vor meiner Berührung zurü und

murmelt wütend irgend etwas vor si hin. Seiner Muer ist das offenbar

peinli, und sie läelt mir über die gebeugten Köpfe hinweg

entsuldigend zu. Immer no keine Spur von Muscat. I werfe einen Bli

in die Kire: sie ist leer, bis auf ein paar ältere Leute, die immer no vor

dem Altar knien. Der heilige Franziskus steht neben dem Eingang; umringt

von Gipstauben wirkt er seltsam vergnügt für einen Heiligen, sein

strahlendes Gesi t würde eher zu einem Verrü ten oder einem

Betrunkenen passen. Es ärgert mi  , daß jemand die Statue


plötzli

ausgerenet hier am Eingang aufgestellt hat. I finde, mein Namenspatron

müßte würdevoller sein, mehr Eindru maen. Sta dessen seint dieser

grinsende Narr mi zu verspoen, eine Hand zagha zum Segen

ausgestret, mit der anderen wiegt er eine Taube vor seinem dien Bau,

als träumte er von Taubenpastete. I versue mi zu erinnern, ob die

Statue son dort gestanden hat, als wir beide aus Lansquenet fortgegangen

sind, mon père. Wissen Sie es no? Oder ist sie vielleit verrüt worden,

womögli von Leuten, die mi verhöhnen wollen? Der heilige

Hieronymus, dem diese Kire geweiht ist, hat keinen solen Ehrenplatz: in

der düsteren Nise, wo er vor einem dunklen Ölgemälde steht, ist er kaum

zu sehen, der Marmor, aus dem die Figur gemeißelt wurde, ist vom Rau

Tausender Kerzen verfärbt. Der heilige Franziskus dagegen na wie vor so

weiß wie frise Champignons, trotz der Feutigkeit, die den guten Franz

unter der unbekümmerten Mißatung seines Kollegen langsam und

vergnügt zerbröeln läßt. I nehme mir vor, ihn so bald wie mögli an

einen ihm angemesseneren Platz versetzen zu lassen.


Muscat ist ni t e. I sue alles ab, immer no in der
in der Kir

Annahme, daß er womögli auf mi wartet, aber er ist nit zu finden.

Vielleit ist er krank, überlege i. Nur eine ernste Krankheit würde einen

so eifrigen Kirgänger wie ihn davon abhalten, am Palmsonntag die Messe

zu besuen. In der Sakristei lege i mein Meßgewand ab und slüpfe in

meine Soutane. Den Kel und die Patene sließe i sierheitshalber ein.

Zu Ihrer Zeit wäre das nit nötig gewesen, Vater, aber heutzutage muß man

si vorsehen. Landstreier und Zigeuner  – von einigen Elementen in

unserem Dorf ganz zu sweigen  – würden si dur die Aussit auf

ewige Verdammnis nit davon abhalten lassen, mit solen

Wertgegenständen ein snelles Gesä zu maen.

Mit zügigen Srien gehe i na Les Marauds hinunter. Muscat ist seit

letzter Woe ziemli wortkarg, und i bin ihm nur ein paarmal flütig

begegnet. Aber er wirkt teigig und krank, gebeugt wie ein verdrossener

Büßer, die Augen halb verborgen unter den ges wollenen Lidern. In letzter
Zeit besuen nur no wenige Leute sein Café; vielleit aus Furt vor

Muscats Jähzorn und seinem verhärmten Gesitsausdru. Am Freitag war

i selbst dort; das Café war so gut wie leer. Seit Joséphine ausgezogen ist,

ist der Boden nit mehr gefegt worden und mit Zigareenkippen und

Bonbonpapieren übersät. Überall auf den Tisen und der eke standen

leere Gläser. In der Vitrine lagen ein paar alte Sandwies und etwas Rotes,

Zusammengerolltes, das aussah wie eine vertronete Pizza. Daneben ein

Stapel von Carolines Flugbläern, mit einem smutzigen Bierglas

beswert. Neben dem salen Gestank na kalter Zigareenase ro es

na Simmel und na Erbroenem.

Muscat war betrunken.

»A , ’
Sie sind s.« Sein Ton war mürris , beinahe aggressiv. »Sie sind

wohl gekommen, um mir zu sagen, i  soll au  no  die andere Wange

hinhalten, was?« Er nahm einen tiefen Zug an der Zigare e, die halb

aufgewei t zwisen seinen Zähnen klemmte. »Sie können zufrieden mit

mir sein. I halte mi seit Tagen von der Slampe fern.«

I süelte den Kopf.

»Sie dürfen nit verbiert sein«, sagte i.


»In meinem eigenen Café kann i  sein, was i  will«, erwiderte Muscat

feindselig. »Das ist do  mein Café, ni  t wahr, Vater? I  meine, Sie wollen

ihr do  wohl ni   
t au no den Laden auf einem silbernen Table 
servieren, oder?«

I erklärte ihm, i  könne seine Gefühle verstehen. Er zog no  einmal

an seiner Zigare  e und hustete mir höhnis   la end seinen fauligen Atem

ins Gesi  t.

»Das ist gut, Vater.« Er stank wie ein Tier. »Das ist phantastis  Natürlich
.

verstehen Sie mi  . Gar keine Frage. Als Sie Ihr Gelübde abgelegt haben,

oder was au  immer, hat die Kir  e Ihnen die Eier abges   ni en. Da kann

i mir vorstellen, daß Sie ni  t wollen, daß i  meine behalte.«

»Sie sind betrunken, Muscat«, fau  


te i .

»S  arf beoba  tet, Vater«, höhnte er. »Ihnen entgeht do  wirkli 


ni  ts, was?« Er ma  te eine weit ausholende Geste mit der Hand, in der er

die Zigare  e hielt. »Sie brau   t si nur anzusehen, wie der Laden jetzt

aussieht«, sagte er heiser. »Mehr brau  t sie ni  t, um glü  li zu sein. Zu

sehen, daß sie mi  – er war den Tränen nahe, überwältigt von


ruiniert hat« 

dem typisen Selbstmitleid des Säufers  –, »zu wissen, daß sie unsere Ehe

zum Gespö des Dorfes gemat hat  –« Er stieß einen obszönen Laut aus,

halb S   lu zen, halb Rülpsen. »Zu wissen, daß sie mir das verdammte Herz

gebro  en hat.«

Er wis   te si mit dem Handrü  en über die triefende Nase.

»Glauben Sie ja ni   t, i wüßte ni  t, was si  da drüben abspielt«, sagte

er leise. »Diese S  lampe und ihre lesbis  en Freundinnen. I  weiß genau,

was die treiben.« Er wurde wieder lauter, und i   s aute mi  verlegen

na  seinen drei oder vier verbliebenen Gästen um, die ihn neugierig

anstarrten. Warnend legte i  eine Hand auf seinen Arm.

»Geben Sie die Ho ffnung ni t auf, Muscat«, sagte i  , meinen Ekel

überwindend. »Auf diese Weise können Sie sie ni  t zurü  gewinnen. Sie

dürfen ni  t vergessen, daß es in jeder Ehe Krisen gibt, aber  –«


Er s  naubte verä   tli .

»Eine Krise? Das ist es also?« Er la  te in si  hinein. »Wissen Sie was,

Vater? Geben Sie mir fünf Minuten allein mit dieser S  lampe, dann werd
i ihr die Krise son austreiben. I hole sie mir zurü, da können Sie Gi
drauf nehmen.«

Er wirkte dumm und bösartig, kaum in der Lage, seine Worte bei dem

Hai fisgrinsen zu artikulieren. I pate ihn an den Sultern und spra


jedes Wort deutli aus, in der Hoffnung, daß wenigstens ein Teil von dem,

was i sagte, zu ihm vordringen würde.

»Das werden Sie nicht«, sagte i ihm ins Gesit, ohne mi um die

stumm glotzenden Säufer hinter mir zu kümmern. »Sie werden si

anständig verhalten, Muscat, Sie werden korrekt vorgehen, wenn Sie etwas

unternehmen wollen, und Sie werden die beiden Frauen nicht anrühren!

Kapiert?«

Meine Finger bohrten si  in seine S ultern. Muscat protestierte und

warf mir Obszönitäten an den Kopf.

 warne Sie, Muscat«, sagte i. »I habe Ihnen eine Menge
»I

durgehen lassen, aber i werde es nicht hinnehmen, wenn Sie si in aller

Öffentlikeit wie ein Schläger aufführen. Haben Sie mi verstanden?«

Er brummte etwas in seinen Bart; ob es eine Drohung oder eine

Entsuldigung war, konnte i nit verstehen. Anfangs date i, er häe


gesagt, Es tut mir leid, aberim nahinein bin i mir nit sier, ob er nit

sagte, Es wird Ihnen noch leid tun. Seine Augen funkelten böse dur seine

halbvergossenen Tränen.

Leid tun. Aber wem wird es leid tun? Und was?

Als i na Les Marauds hinuntereilte, fragte i mi erneut, ob i die


Zeien fals gedeutet hae. War es ihm zuzutrauen, daß er si selbst

Gewalt antat? Sollte i, in meinem Bemühen, weiteres Unheil zu

verhindern, nit gesehen haben, daß der Mann am Rande der Verzweiflung

war? Als i vor dem Café de la République ankam, war es geslossen, do

ein paar Leute standen vor dem Haus und sauten zu einem der Fenster im

ersten Sto hinauf. I sah Caroline Clairmont und Joline Drou unter

ihnen. Au Duplessis war da, eine kleine, würdige Gestalt in seinem Filzhut

und mit dem Hund, der um ihn herumtollte. Über dem allgemeinen

Gemurmel meinte i  eine höhere, s rillere Stimme zu hören, die lauter


und leiser wurde, hin und wieder Worte zu formulieren s ien, Sätze, dann
ein S rei …
»Vater.« Caro klang atemlos, sie wirkte erhitzt. Ihr Gesi tsausdru
erinnerte mi  an die rehäugigen, ewig japsenden S önheiten auf den

Titelseiten gewisser Ho glanzmagazine auf den oberen Regalen, und der

Gedanke ließ mi  erröten.


»Was ist los?« fragte i knapp. »Muscat?«

»Es ist Joséphine«, sagte Caro aufgeregt. »Muscat hat sie oben in dem

Zimmer eingesperrt, Vater, sie s reit um Hilfe.«


No  während sie spra , drangen erneut Geräus e aus dem Fenster  –
Sreie, Flüe und lautes Poltern –, und glei darauf wurden Gegenstände
hinausgeworfen, die auf dem Pflaster zersellten. Eine Frauenstimme

kreiste in Tönen, die Glas häen zum Zerbersten bringen können – jedo

nit vor Angst, wie mir sien, sondern vor wilder, unbändiger Wut  –,

gefolgt von einem weiteren Bombardement mit Hausratutensilien. Büer,

Kleider, Sallplaen, Bilderrahmen  … die profane Artillerie häuslier

Gemütlikeit.

I rief zum Fenster hinauf.

»Muscat? Können Sie mi hören? « Muscat!

Ein leerer Vogelkäfig kam dur die Lu geflogen.

»Muscat!«

Es kam keine Antwort aus dem Haus. Die Stimmen der beiden

Kontrahenten klingen beinahe unmens li – wie die eines Trolls und einer
Harpyie  –, und einen Moment lang fühle i mi unwohl in meiner Haut,

als wäre die Welt no ein Stü weiter in den Saen gerüt und die

Dunkelheit, die uns vom Lit trennt, größer geworden. Was würde i zu

sehen bekommen, wenn i die Tür öffnete?

Eine srelie Sekunde lang kehrt die Erinnerung zurü, und i bin

wieder dreizehn und öffne die Tür zu dem alten Kirenanbau, den einige

heute immer no die Kanzlei nennen, trete von dem dämmrigen Zwielit

der Kire in tiefere Düsternis, meine Füße fast lautlos auf dem Parke, und

in meinen Ohren das seltsame Stöhnen eines unsitbaren Ungeheuers im

Nebenraum. I öffne die Tür mit wild poendem Herzen, die Fäuste
geballt, die Augen aufgerissen  … und plötzli  sehe i  vor mir das blei  e,

si  krümmende Untier, seine Umrisse irgendwie vertraut, aber auf groteske

Weise verdoppelt, zwei Gesi  ter, die mi  voller Wut und Entsetzen

anstarren –
Maman! – Père!

Absurd, i  weiß. Unmögli  , daß es einen Zusammenhang gibt. Und

denno  frage i   mi , als i  in Caro Clairmonts erhitztes, aufgeregtes

Gesi  t sehe, ob sie es au  spürt, den erotis  en Kitzel der Gewalt, den

Augenbli  der Ma  t, wenn das Strei  holz angerissen wird, der S  lag

fällt, das Benzin Feuer fängt  …


Es war ni  t nur Ihr Verrat, Vater, der mir das Mark in den Kno  en

gefrieren ließ und die Haut an den S  läfen stra  e wie das Fell auf einer

Trommel. Die Sünde  – die Sünde des Fleis  es  – war für mi  etwas

Abstraktes und zutiefst Verabs  euungswürdiges gewesen, widerwärtig, wie

die Vereinigung mit Tieren. Daß sie au  Genuß bereiten konnte, war für

mi  unfaßbar. Und do  sah i  Sie und meine Mu  er, erregt und

vers  witzt einander bearbeiten, me  


anis wie die Kolben einer Mas  ine,

ni  t ganz na t, nein, gerade die in der Hast nur halb heruntergerissenen

Kleider gaben der Szene etwas besonders Obszönes  – die Bluse o ffen, der

Ro  und die Soutane ho   ges oben  … Nein, es war ni  t das Fleis  , das

mi  abstieß, denn i   betra tete das Ges  ehen mit distanziertem Ekel. Es

war, weil i   mi erst zwei Wo  en zuvor für Sie kompromittiert ha e,

Vater, meine Seele für Sie bes  mutzt ha  e  – die Öl flase glits  ig in

meiner Hand, das erregende Gefühl der Ma  t, der Seufzer der Verzü  ung,

als die Flas  e dur  die Lu fl iegt und si  entzündet, das brennende Öl

si  verteilt und die Flammen si  auf dem erbärmli  en Hausboot hungrig

ausbreiten, an dem tro enen Segeltu   le en, das alte, tro  ene Holz

vers lingen, wollüstig und s  adenfroh über das De  züngeln  … Man

vermutete Brandsti  ung, Vater, aber niemand kam auf die Idee, Reynauds

guten, stillen Jungen zu verdä  tigen, der im Kir   en or sang und während

der Messe stets so blaß und brav in der Bank saß. Ni  t den s  euen Francis,

der no  nie ein Fenster eingeworfen ha e. Muscat, viellei  t. Der alte

Muscat und sein draufgängeris  er Sohn, ja, die konnten es getan haben.
Eine Zeitlang wurden sie im Dorf ges nien, man tuselte hinter ihrem

Rü en. Diesmal waren sie zu weit gegangen. Aber sie leugneten standha,
und sließli gab es keine Beweise. Die Opfer waren keine von uns.

Niemand sah den Zusammenhang zwisen dem Brand und den

Veränderungen im Hause Reynaud – die Eltern ließen si seiden, und der

Junge wurde auf eine Elitesule im Norden gesit  … I tat es für Sie,

Vater. Aus Liebe zu Ihnen. Das brennende Boot in dem ausgetroneten

Flußbe erleutet die braune Nat, Mensen rennen heraus, sreien,

stolpern über die ausgedörrte Erde am Ufer des Tannes, einige maen den

hoffnungslosen Versu, den letzten verbliebenen Slamm mit Eimern aus

dem Fluß zu söpfen und damit das Feuer zu lösen, während i aus

meinem Verste hinter den Büsen zusaue, mein Mund troen, mein

Bau heiß vor Freude.

I konnte nit wissen, daß in dem Boot no Leute sliefen, sage i

mir. Sturzbetrunken, so daß selbst das Feuer sie nit wet. Später habe i

von ihnen geträumt, verkohlte Gestalten, miteinander versmolzen wie

Liebende  … Monatelang fuhr i nats sreiend aus dem Slaf, sah ihre

flehend na mir ausgestreten Arme, hörte ihre Stimmen  – ein aus der
Ase gehautes Atmen  –, sah bleie Lippen, die lautlos meinen Namen

formten.

Aber Sie haben mir die Absolution erteilt, Vater. Es waren nur ein Säufer

und seine S lampe, sagten Sie mir. Wertloses Treibgut auf dem smutzigen
Fluß. Zwanzig Vaterunser und ebenso viele Ave-Maria reiten als

Bezahlung für ihr Leben. Diebe, die unsere Kire entweiht und unseren

Priester beleidigt haen, sie haen nit mehr verdient. I war ein junger

Mens mit einer großen Zukun vor mir, mit liebevollen Eltern, die si

grämen würden, die sreli unglüli wären, wenn sie wüßten  …

Außerdem, sagten Sie, häe es au ein Unglüsfall sein können. Man

konnte nie wissen, sagten Sie. Vielleit hae Go es so gewollt.

I glaubte Ihnen. Oder tat jedenfalls so. Und i bin Ihnen immer no

dankbar.

Jemand berührt meinen Arm. I  fahre ersroen zusammen. Der Bli


in den Abgrund meiner Erinnerung hat mi die Wirklikeit vergessen


lassen. Armande Voizin steht hinter mir, ihre klugen s warzen Augen

fixieren mi

. Neben ihr steht Duplessis.

»Werden Sie nun endli etwas unternehmen, Francis, oder wollen Sie es

 
zulassen, daß dieses Untier Muscat einen Mord begeht?«


Sie spri t mit klarer, kalter Stimme. Mit einer Klaue hält sie ihren Sto

umklammert, mit der anderen deutet sie wie eine Hexe auf die ges lossene

– 
Tür.


»Es ist ni t  « Meine Stimme klingt ni t wie meine eigene, sondern wie

–«
 
die eines Kindes. »Es ist ni t meine Aufgabe, einzu 

»Blödsinn!« Sie berührt meine Hand mit ihrem Sto . »I werde diesem

Wahnsinn ein Ende bereiten, Francis. Kommen Sie mit mir, oder wollen Sie

den ganzen Tag hier stehenbleiben und glotzen?«

  
Ohne auf eine Antwort zu warten, geht sie auf die Tür des Cafés zu.

   
»Sie ist abges lossen«, sage i zagha .

Sie zu t die A seln. Mit ihrem Sto s lägt sie die S eibe in der Tür

   
ein.

    
»Der S lüssel ste t im S loß«, sagt sie unwirs . »Drehen Sie ihn für

 
mi um, Guillaume.« Sobald der S lüssel si im S loß dreht, s wingt


die Tür auf. I folge Armande die Treppe hinauf. Das Ges rei und das

Gepolter sind hier lauter zu vernehmen, verstärkt dur den Hohlraum des

Treppenhauses. Muscat steht vor der Tür des oberen Zimmers, sein massiger

 
Körper füllt den halben Treppenabsatz aus. Das Zimmer ist von innen

  
verbarrikadiert; dur einen kleinen Spalt zwis en Tür und Rahmen fällt

  
ein heller Li tstreifen auf die Stufen. I sehe, wie Muscat si gegen die


blo ierte Tür wir ; man hört etwas poltern, und zufrieden grunzend s iebt


er si in das Zimmer.

  
Eine Frau s reit.

 
Sie drü t si ängstli an die gegenüberliegende Wand. Mehrere


  
Möbelstü e sind vor der Tür gestapelt  eine Kommode, ein S rank,

–,
     
Stühle  aber Muscat hat es endli do ges a , in den Raum

  
einzudringen. Das s were, s miedeeiserne Be ha e sie ni t verrü en

  
können, aber sie benutzt die Matratze als S utzs ild, hinter den sie si

kauert, einen Berg Wurfges osse gri ereit neben si . Seit die Messe
begonnen hat, hält sie s  on dur  , geht es mir voller Erstaunen dur  den

Kopf. I  sehe die Spuren ihrer Flu  t; Glass  erben auf der Treppe, die

Kerben in der Tür, den Wohnzimmertis  , den er als Rammbo  benutzt hat.

Als er si  zu mir umdreht, sehe i  in seinem Gesi  t die Spuren ihrer

Fingernägel, eine blutige S ramme an seiner S läfe, die Nase ist

ges  wollen, das Hemd zerrissen. I  entde  e fleen


Blut auf den

Treppenstufen, eine kleine La  e, eine Ruts  spur, vereinzelte Tröpf  en.

Blutige Fingerabdrü  e auf der Tür.

»Muscat!«

Meine Stimme klingt s  rill, zi  ernd.

»Muscat!«

Er starrt mi  ausdru  slos an. Seine Augen sehen aus wie winzige Lö  er

in einem Hefeteig.

Armande steht neben mir, ihren Sto  wie ein S  wert erhoben. Sie sieht

aus wie der älteste Haudegen der Welt. Sie ru  Joséphine an.

»Alles in Ordnung, meine Liebe?«

»S ff a en Sie ihn hier raus! Sagen Sie ihm, er soll abhauen!«

Muscat zeigt mir seine blutigen Hände. Er wirkt wütend und zuglei 
verwirrt und ers  
öp , wie ein Kind, das in einen Streit zwis  en zwei

größeren Jungs geraten ist.

»Sehen Sie, was i  meine, Vater?« lamentiert er. »Was hab i  Ihnen

gesagt? Sehen Sie, was i  meine?«

Armande s  iebt si an mir vorbei.

»Sie haben keine Chance, Muscat.« Sie klingt jünger und stärker als i  ,

und i  muß mi  daran erinnern, daß sie alt und krank ist. »Sie können die

Zeit ni  t zurü  drehen, Sie können ni  ts erzwingen. Kommen Sie raus,

und lassen Sie sie gehen.«

Muscat spu  t sie an und zu  t verblü  zurü  , als Armande s  nell und

gezielt wie eine Kobra zurü  spu t. Wütend wis  t er si  das Gesi  t ab.

»Du verdammte alte  –«


Guillaume stellt si  vor sie, eine s  ützende Geste, die auf absurde Weise

sinnlos wirkt. Sein Hund beginnt, wild zu klä ffen.


»Versu  en Sie bloß ni t, mi einzus  ü tern, Paul-Marie Muscat«,

fau  t Armande. »I  kann mi   no gut an die Zeit erinnern, als Sie no 


ein rotznäsiger Lümmel waren, der si  in Les Marauds vor seinem

verso ffenen Vater verste  te. Außer daß Sie fe er und häßli  er geworden

sind, haben Sie si  kaum verändert. Und jetzt lassen Sie mi  vorbei!«

Verwirrt tri  er zur Seite. Einen Augenbli  lang s  eint er mi  um Hilfe

bi  en zu wollen.


»Vater. Sagen Sie s ihr.« Seine Augen sehen aus, als hä  e ihm jemand Salz

hineingestreut. »Sie wissen do  , was i  meine. Oder?«

I  tue so, als ob i  ihn ni  t höre. Es gibt ni  ts, was uns verbindet,

diesen Mann und mi  . Wir haben ni  ts gemein. I  kann ihn rie  en, den

s  alen Gestank seines vers  witzten, ungewas  enen Hemdes, den fauligen

Bieratem. Er pa  t mi am Arm.

»Sie verstehen s  on, Vater«, wiederholt er verzweifelt. »I  hab Ihnen die

Zigeuner vom Hals ges 


a . Erinnern Sie si  
? I hab Ihnen au 
geholfen.«

Sie mag viellei  t halb blind sein, aber sie sieht alles, verdammt. Alles. I 
sehe ihren Bli  zu mir herübers  nellen.

»A  so ist das?« Sie stößt ein vulgäres La  en aus. »Zwei von einer Sorte,

was, Curé?«

»I  weiß ni t, wovon Sie reden, Muscat«, sage i   tro en. »Sie sind

sinnlos betrunken.«

–« Er ringt na Worten, sein verzerrtes Gesit ist puterrot.


»Aber Vater 

»Vater, Sie haben do selbst gesagt –«

Eisig: »I  habe überhaupt ni  ts gesagt.«

Er ö ffnet den Mund wie ein Fis  auf einer Sandbank.

»Überhaupt nichts!«

Armande und Guillaume haben Joséphine zwis  en si  genommen und

begleiten sie hinaus. Joséphine wir  mir einen seltsam dur  dringenden

Bli  zu, der mi  fast ers  re t. Ihr Gesi  t ist s  mutzig, ihre Hände sind

blutvers  miert, und do  ist sie in diesem Augenbli  auf beunruhigende

Weise s  ön. Sie sieht mi  an, als könnte sie bis in mein Innerstes bli  en.

I mö te sie bi en, mi   ni t verantwortli  zu ma  en, mö  te ihr


sagen, daß i nit so bin wie er; i bin kein Mann, sondern ein Priester,
i gehöre einer anderen Art an  … do der Gedanke ist absurd, beinahe

blasphemis.

Dann führt Armande sie die Treppe hinunter, und i bleibe allein mit

Muscat zurü. Seine Tränen benetzen meinen Hals, seine heißen Arme

halten mi umklammert. Einen Augenbli verliere i die Orientierung,

versinke zusammen mit ihm im Nebel meiner Erinnerungen. I mae mi

los, zunäst vorsitig, dann mit zunehmender Gewalt, siebe seinen

swabbeligen Bau mit den Händen von mir, bearbeite ihn mit den

Fäusten, den Ellbogen  … Und dabei sreie i gegen sein Flehen an, mit

einer Stimme, die nit meine eigene ist, einer hohen, zornigen Stimme:

»Lassen Sie mi, Sie Bastard, Sie haben alles verdorben –«

Francis, es tut mir leid, ich  –


»Père –«

»Alles ist verdorben  – alles  –, lassen Sie 


mi los!« Snaufend vor

Anstrengung gelingt es mir endli , mi  aus seiner Umklammerung zu

befreien. Von terung überwältigt renne i die Treppe hinunter,


Erlei

verstaue mir den Knöel, als i über einen Teppi stolpere, während er

hinter mir her jammert und greint wie ein verlassenes Kind  …

Später fand i Zeit, mit Caro und Georges zu spreen. Mit Muscat werde
i nit mehr reden. Außerdem geht das Gerüt, er häe alles, was er in

der Eile zusammenraffen konnte, in seinen alten Wagen gepat und si

davongemat. Das Café ist jetzt geslossen, nur die eingeslagene Seibe

in der Eingangstür erinnert no an das, was si heute vormiag dort

abgespielt hat. Als es dunkel wurde, bin i no einmal hingegangen und

habe lange vor dem Fenster gestanden. Der Himmel über Les Marauds war

kühl und s immerte grünli, nur über den Horizont zog si ein miliger
Streifen. Der Fluß war dunkel und still.

 habe Caro erklärt, daß die Kire ihre Kampagne gegen das
I

Sokoladenfest nit unterstützen wird. Daß ich sie nit unterstützen

werde. Begrei sie es denn nit? Na dem, was Muscat getan hat, hat der

Gemeinderat seine Glaubwürdigkeit verloren. Diesmal hat er si zu weit in


die Ö ffentlikeit gewagt, diesmal war er zu brutal. Genau wie i  müssen

au  sie sein Gesi  t gesehen haben, seinen wahnsinnigen, haßerfüllten

Bli  . Zu wissen, daß ein Mann seine Frau prügelt  – es insgeheim zu

wissen –, ist eine Sae. Aber die Brutalität in all ihrer Häßlikeit hautnah
mitzuerleben … Nein. Er wird es nit überleben. Caro erzählt bereits jedem,

der es hören will, sie hä  e ihn s  on immer dur  s aut, sie hä  e es von

Anfang an gewußt. Sie distanziert si  , so gut sie kann –  Wie schrecklich,

diese arme, betrogene Frau! –, ebenso, wie i  es tue. Wir haben uns zu sehr

mit ihm eingelassen, erkläre i  ihr. Wir haben ihn benutzt, wenn es uns

zupaß kam. Diesen Eindru  müssen wir s nellstens korrigieren. Zu

unserem eigenen S  utz müssen wir uns zurü  ziehen. Die andere Sa  e,

den Vorfall mit den Zigeunern, erwähne i  ihr gegenüber ni  t, do  


au

daran muß i  denken. Armande hat Verda  t ges  


öp . Sie könnte

anfangen zu reden, und sei es nur aus Gehässigkeit. Und dann diese andere

Sa e, die längst vergessen ist und einzig in ihrem Kopf no  herumspukt  …
Nein. I  fühle mi  hil flos. Slimmer no, i bin gezwungen, mi na
außen hin na   si tig zu geben und so zu tun, als hä   e i ni ts gegen das

Fest. Andernfalls wird es Gerede geben, und wer weiß, was dabei alles ans

Tagesli  t kommt? Morgen werde i  in meiner Predigt Toleranz fordern,

die Flut, die i  ins Rollen gebra  t habe, au  alten und dafür sorgen, daß sie

ihre Meinung ändern. Die verbliebenen Flugblä  er werde i  verbrennen.

Die Plakate, die von Lansquenet bis Montauban geklebt werden sollten,

müssen ebenfalls verni  tet werden. Es bri  t mir das Herz, Vater, aber was

bleibt mir übrig? Der Skandal würde mi  umbringen.

Es ist Karwo  e. Nur no  eine Wo  e bis zum Fest. Und sie hat

gewonnen, mon père. Sie hat gewonnen. Nur ein Wunder kann uns jetzt

no   re en.

Mi  woch, 26. März


Immer no  keine Spur von Muscat. Am Montag hat Joséphine si fast den
ganzen Tag nit aus dem Laden getraut, aber gestern früh besloß sie,

no einmal zum Café zu gehen. Diesmal hat Roux sie begleitet, do sie

fanden nits anderes vor als das Chaos von Sonntag. Anseinend stimmt

das Gerüt. Muscat ist verswunden.

Roux ist inzwisen fertig mit Anouks Zimmer unter dem Da und hat

bereits mit der Arbeit am Café angefangen. Er hat ein neues Sloß in die

Haustür eingebaut, den alten Linoleumboden herausgerissen und die

vergilbten Gardinen von den Fenstern genommen. Mit ein biß en Mühe,

meint er  – fris es Weiß an den Wänden, ein biß en Farbe für die alten,

abgewetzten Möbel, jede Menge Wasser und Seife  –, könne man das Café

wieder in eine helle, freundli e Gaststube verwandeln. Er hat Joséphine

angeboten, kostenlos für sie zu arbeiten, aber davon will sie ni ts wissen.

Muscat hat natürli  ihr gemeinsames Konto leergeräumt, aber sie hat no
ein bißen eigenes Geld, und sie ist davon überzeugt, daß das neue Café ein
Erfolg werden wird. Das alte, verblaßte Sild mit der Aufsri Café de la

République hat sie von Roux entfernen und an seiner Stelle ein

handgemaltes S ild mit dem neuen Namen Café des Marauds und eine rot-
weiß-gestreie Markise  – die gleie wie an meinem Laden  – anbringen

lassen. Narcisse hat die smiedeeisernen Blumenkästen mit Hängegeranien

bepflanzt, deren leutend rote Knospen si in der warmen Sonne bereits

geöffnet haben. Von ihrem Garten am Fuß des Hügels aus betratet

Armande die Veränderungen mit Wohlwollen.

»Sie ist eine tü tige Frau«, erklärt sie mir auf ihre brüske Art. »Sie wird
es s affen, jetzt, wo sie endli diesen versoffenen Ehemann losgeworden

ist.«

Roux wohnt vorübergehend in Joséphines Gästezimmer, und Luc ist, sehr

zum Verdruß seiner Mu er, zu Armande gezogen.


»Das ist kein Zuhause für di«, giet sie mit sriller Stimme. I stehe

gerade auf dem Dorfplatz, als die beiden aus der Kire kommen, Luc in

seinem Sonntagsanzug und Caro in einem ihrer zahllosen pastellfarbenen

Kostüme und einem seidenen Kop u.


Seine Antwort ist hö fli, aber unumstößli.
»N-nur bis zu ihrer P-Party«, sagt er. »Es ist n-niemand da, der si  um

sie kümmert. S-Sie könnte ließli


s no  mal so einen A-Anfall

bekommen.«

»Blödsinn!« erwidert sie wegwerfend. »I  kann dir sagen, was sie will.

Sie versu t, einen Keil zwisen uns beide zu treiben. I verbiete dir, diese
Woe bei ihr zu bleiben. Und was diese läerlie Party angeht –«

»D-Das kannst du mir nit verbieten, M-Maman.«

»Und warum nit? Du bist mein Sohn, verflixt no mal, wie kommst du

dazu, mir ins Gesit zu sagen, daß du lieber auf diese verrüte Alte hörst

als auf mi?« Tränen der Wut sießen ihr in die Augen. Ihre Stimme

ziert.

»Ist son gut, Maman.« Ohne si von ihrem eater beeindruen zu

lassen, legt er ihr einen Arm um die Sultern. »Es ist ja nit für lange. Nur

bis zur Party. I v-verspre’s dir. Du bist übrigens au eingeladen. Sie

würde si freuen, w-wenn du kämst.«

»I will aber nit hingehen!« Ihre Stimme klingt nun trotzig und

weinerli wie die eines Kindes. Er zut die Aseln.

»Dann eben nit. Aber dann erwarte au nit, daß sie h-hinterher auf

das hört, was du willst.«


Sie s aut ihn an.
»Was meinst du damit?«

»I meine, i k-könnte mit ihr reden. S-Sie überzeugen.« Er kennt seine
Muer. Er versteht sie besser, als sie ahnt. »I könnte sie zur V-Vernun

bringen«, sagt er. »Aber w-wenn du nit willst –«

»Das hab i nit gesagt.« Einem plötzlien Impuls folgend, nimmt sie

ihn in den Arm. »Du bist ein kluger Junge«, sagt sie, wieder gefaßt. »Du

affen, nit wahr?« Sie drüt ihm einen smatzenden Kuß


könntest es s

auf die Wange, was er geduldig über si ergehen läßt. »Mein guter, kluger

Junge«, wiederholt sie liebevoll, und dann maen sie si Arm in Arm auf

den Heimweg. Luc ist bereits größer als seine Muer und sieht sie an wie

ein toleranter Vater sein übermütiges Kind.

Oh, er kennt sie genau.


äigt ist, habe i kaum no Hilfe bei
Seit Joséphine mit ihrem Café bes

meinen Ostervorbereitungen; glülierweise ist das meiste erledigt, es

müssen nur no ein paar Dutzend Sateln verpat werden. I arbeite

abends in der Küe und mae die Kekse, die Trüffel, die Lebkuengloen

und die mit Zuerguß überzogenen pains d’épices. I vermisse Joséphines

Gesi im Verpaen und Dekorieren, aber Anouk hil mir, so gut sie

kann, bastelt bunte Papierkrausen und stet Seidenrosen auf zahllose

Cellophantüten.

I habe das S aufenster für die Zeit, in der i  an der Dekoration für

Sonntag arbeite, mit Silberpapier verhängt, und der Laden sieht fast wieder

so aus wie zu Anfang, als wir hierherkamen. Anouk hat die Fensters eibe
mit Ostereiern und lauter Tieren ges müt, die sie aus buntem Papier

nien
ausges hat, und in der Mi e hängt ein riesiges Plakat mit der

Aufsri:

GRAND FESTIVAL DU CHOCOLAT

Sonntag, Place St. Jérôme

Seit die Osterferien angefangen haben, wimmelt es auf dem Platz von

Kindern, die si  immer wieder die Nase am Fenster pla  drüen in der

Ho ffnung, einen Bli  auf die Vorbereitungen zu erhas en. Es sind bereits

Bestellungen im Wert von über a ausend Franc eingegangen  – einige aus


Montauban und sogar aus Agen  –, und es kommen immer mehr Kunden, so
daß der Laden kaum jemals leer ist. Caros Flugbla kampagne seint im

Sande verlaufen zu sein. Guillaume erzählt mir, Reynaud habe seiner

Gemeinde versi ert, daß das S okoladenfest im Gegensatz zu allem, was

böse Zungen behaupten, seine volle Unterstützung hat. Denno  sehe i 


ihn man mal von seinem kleinen Fenster aus herüberstarren, und dann
erblie i in seinen Augen nur Gier und Haß. I weiß, daß er mir übel

will, aber irgendwas hat ihm den Gistael genommen. I versue, etwas

aus Armande herauszubekommen. Sie weiß mehr, als sie preisgibt, aber sie

süelt nur den Kopf.


»Das ist alles so lange her«, sagt sie auswei end. »Mein Gedä tnis ist

ni t mehr das beste.« Sta  dessen will sie jede Einzelheit über das Menü

wissen, das 
i für ihre Party geplant habe. Sie ist ganz aufgeregt vor

Vorfreude und sprudelt über vor Ideen. Brandade truffée, vol-aux-vents aux

trois champignons in Wein und Sahne geko t und mit chantrelles garniert,
gegrillte langoustines mit Krautsalat, fünf versiedene Sorten

Sokoladenkuen  – all ihre Lieblingssorten  –, selbstgemates


Sokoladeneis … Ihre Augen funkeln selmis und erwartungsvoll.

»Als junges Mäden habe i nie ein Geburtstagsfest gehabt«, erklärt sie.

»Nit ein einziges Mal. Einmal bin i zu einem Ball gegangen, drüben in

Montauban, mit einem Jungen von der Küste. Hui!« Sie mate eine

eindeutige Geste. »Er war so dunkel wie Sirup und genauso süß. Es gab

Champagner und Erdbeer-Sorbet, und wir haben getanzt  …« Sie seufzte.

»Damals hä en Sie mi mal sehen sollen, Vianne. Das können Sie si
heute gar nit mehr vorstellen. Er hat gesagt, i sähe aus wie Greta Garbo,

dieser Charmeur, und wir taten beide so, als häe er es ernst gemeint.« Sie

late in si hinein. »Natürli war er kein Mann zum Heiraten«, sinnierte

sie. »Damit haben sole Männer nits im Sinn.«

I liege fast jeden Abend no lange wa, während Trüffel und Pralinen

vor meinen Augen tanzen. Anouk slä in ihrem neuen Zimmer unter dem

Da, und i träume mit offenen Augen, nie ein, wae träumend auf,

döse vor mi hin, bis meine Augenlider smerzen und das Zimmer um

mi herum swankt wie ein Siff auf hoher See. Nur no ein Tag, sage

i mir, nur no ein Tag.

Letzte Nat bin i no einmal aufgestanden und habe die Karten aus

der Satel genommen, obwohl i mir eigentli fest vorgenommen hae,

sie nit mehr anzurühren. Sie fühlten si kühl an, kühl und gla wie

Elfenbein, zeigten si in ihren bunten Farben, als i sie auffäerte, und

die vertrauten Bilder leuteten naeinander auf wie zwisen

Glasseiben gepreßte Blumen. Der Turm. Der Tod. Die Liebenden. Der Tod.

Sechs Schwerter. Der Tod. Der Eremit. Der Tod. I sage mir, es hat nits zu

bedeuten. Meine Muer glaubte an die Karten, aber was hat es ihr gebrat?

Flut, immer wieder Flut. Die Weerfahne auf dem Kirturm sweigt,
es herrst eine fast unheimlie Stille. Der Wind hat si gelegt. Die Stille
beunruhigt mi mehr als das ietsen des alten Eisens. Die Lu ist warm

und duet süß na dem herannahenden Sommer. Der Sommer kommt

snell na Lansquenet, folgt dem Märzwind auf dem Fuß, und er riet

na Zirkus; na Sägemehl und in heißem Fe brutzelndem Teig und fris

geslagenem Holz und Pferdeäpfeln. Die Stimme meiner Muer flüstert:

Zeit zum Aufbruch. Bei Armande brennt no Lit; i kann das kleine

gelbe Viere ihres Fensters, das si im Tannes widerspiegelt, von hier aus

sehen. I frage mi, was sie gerade tut. Seit jenem ersten Mal hat sie nit

mehr mit mir über ihre Pläne gesproen. Sie redet nur no von Rezepten,

erklärt mir, wie man einen Bisquitkuen flambiert und weles für in

Brandy eingelegte Kirsen das beste Verhältnis von Zuer zu Alkohol ist.

I habe in meinem medizinisen Wörterbu nagelesen, was dort über

Diabetes steht. Der Fajargon ist au eine Art Flutweg, dunkel und

hypothetis wie die Karten. Unvorstellbar, daß diese Sprae si auf

menslie Körper beziehen soll. Ihr Augenlit läßt immer mehr na,

swarze Fleen treiben über ihr Gesitsfeld, so daß alles, was sie sieht,

geset und gesprenkelt und sließli nit mehr zu erkennen ist. Dann

kommt die Dunkelheit.

I verstehe ihre Situation. Warum sollte sie weiter um ein Leben

kämpfen, das unweigerli  in der Dunkelheit endet? Ihr Vorhaben

Verschwendung zu nennen  – ein Begriff, den meine Muer na Jahren der
Einsränkung und der Ungewißheit häufig benutzte  –, ist hier sierli

unangebrat, sage i mir. Eine letzte verswenderise Geste, ein riesiges

Gelage, ein Feuerwerk und dann die totale Finsternis. Und do sreit

irgend etwas in mir: unfair!, die kindise Hoffnung auf ein Wunder. Au

das die Stimme meiner Muer. Armande weiß es besser.

Während der letzten Woen  – das Morphium beherrste sie inzwisen

Tag und Nat, und ihre Augen waren nur no glasig  – verlor sie

stundenlang den Bezug zur Wirklikeit, flaerte von Hirngespinst zu

Hirngespinst wie ein Smeerling von einer Blume zur anderen. Mane

waren liebli, Träume von Swerelosigkeit, von bunten Litern, von

ätherisen Begegnungen mit längst verstorbenen Filmstars und Wesen von


e waren sreli, düstere Angsräume. In denen
fernen Planeten. Man

war der Swarze Mann immer präsent, lauerte an Straßeneen, saß in

einem Diner am Fenster, hinter der eke in einem Kramladen. Manmal

war er ein Taxifahrer; eine Baseballmütze tief in die Augen gezogen, saß er

am Steuer in einem swarzen Londoner Taxi, das aussah wie ein

Leienwagen. Auf die Mütze war das Wort DODGERS, Drüeberger,


aufgestit, sagte sie, und deswegen sue er na ihr, na uns, na allen,

die ihm son einmal entwist waren, aber man konnte ihm nit für

immer entkommen, sagte sie und süelte wissend den Kopf, niemals für

immer. Einmal, während sie unter dem Bann eines solen

Verfolgungswahns stand, kramte sie eine gelbe Plastikmappe hervor und

zeigte sie mir. Sie war gefüllt mit Zeitungsauss nien, überwiegend aus

den späten se ziger und frühen siebziger Jahren. Die meisten waren auf

französis , andere auf italienis , deuts  oder grie is. In allen ging es

um Entführungen, um vers wundene oder mißhandelte Kinder.


»Es passiert so lei t«, sagte sie mir mit weit aufgerissenen Augen. »In

großen Städten. Es passiert so leit, daß man ein Kind wie di verliert.«
Sie zwinkerte mir ersöp zu. I streielte ihre Hand.

»Ist son in Ordnung, Maman«, sagte i. »Du hast ja immer gut auf

mi aufgepaßt. Mir ist nie etwas passiert.«

Sie zwinkerte no einmal.

»Oh, aber du bist verlorengegangen«, sagte sie läelnd. »Ver-lo-ren.«

Dann starrte sie eine Zeitlang ins Leere, das Gesit grinsend verzerrt, ihre

Finger in meiner Hand wie ein Bündel Reisig. »Ver-looo-ren«, wiederholte

sie abwesend und begann zu weinen. I  tröstete sie, so gut i konnte, und
ste te die Zeitungsartikel zurü  in die Mappe. Dabei fiel mir auf, daß in

mehreren Artikeln über denselben Fall beritet wurde, über das

winden der atzehn Monate


Vers alten Sylviane Caillou in Paris. Ihre

Muer hae sie zwei Minuten lang im Auto allein gelassen, während sie

etwas aus der Apotheke besorgte, und als sie zurü kam, war das Baby nit
mehr da. Mit dem Kind vers wunden waren die Tase mit den Windeln

und die Spielsaen, ein roter Plüselefant und ein brauner Teddybär.
Als meine Mu  er sah, wie i  den Artikel las, begann sie wieder zu


lä eln.

»I  glaube, damals warst du zwei«, sagte sie in einem vers  wöreris  en

Ton. »Oder beinahe zwei. Und sie ha e viel helleres Haar als du. Du

konntest es also ni  t gewesen sein, ni  t wahr? Außerdem war i  eine

bessere Mu  er als sie.«

»Bestimmt«, sagte i . »Du warst eine gute Mu er, eine wunderbare

Mu er. Ma  dir keine Sorgen. Du hä  


est mi nie in Gefahr gebra  t.«

Meine Mu  er wiegte si  hin und her und lä  elte.

»Lei  tsinnig«, sagte sie leise. »Einfa   lei tsinnig. Die hat so ein ne  es

kleines Mäd  en gar ni  t verdient, ni  t wahr?«

I s ü elte den Kopf. Plötzli  war mir kalt.


»I war keine s  le te Mu   er, ni t wahr, Vianne?« fragte sie wie ein

Kind.

Mir lief ein S  auer über den Rü  en. Das Zeitungspapier fühlte si  rauh

an.

»Nein«, versi  
erte i ihr. »Du warst keine s   le te Mu  er.«

»I  hab mi  gut um 
di gekümmert, stimmt’s? I  hab 
di nie

weggegeben. No   ni t mal, als dieser Priester gesagt hat  … was er gesagt

hat. Nie.«

»Nein, Maman, nie.«

Vor Kälte fühlte i   mi wie gelähmt, konnte kaum no  denken. Das

einzige, was mir dur  den Kopf ging, war der Name , dem meinen so

ähnli  , die Daten …   Und erinnerte i    


mi ni t au an diesen Bären,

diesen Elefanten, dessen Plüs  fell so abgewetzt war, daß der rote Sto ff
überall dur  s immerte, den wir unermüdli  von Paris na  Rom, von

Rom na  Wien mits  leppten?

Natürli  konnte es si  um eine ihrer Angstphantasien handeln. Ebenso

wie die S lange im Be  und die Frau im Spiegel. Es konnte eine

Selbs  
äus ung sein. So vieles im Leben meiner Mu er basierte auf

Selbs  
äus ung. Und was spielte es für eine Rolle … na  so langer Zeit?

Um drei stand i  auf. Das Be  war vers  witzt und zerwühlt; an S  laf

war ni  t mehr zu denken. I  zündete eine Kerze an und ging damit in


Joséphines leeres Zimmer. Die Karten waren an ihrem alten Platz in der

Satel meiner er;


Mu sie fühlten si  
gla und kühl an, als i  sie

herausnahm. Die Liebenden. Der Turm. Der Eremit. Der Tod. I  setzte mi
im S neidersitz auf den Holzboden und miste die Karten. Den Turm mit
den herabstürzenden Mensen, den bröelnden Mauern, konnte i

deuten. Es ist meine ständige Angst vor der Vertreibung, die Angst vor der

Straße, vor Verlust. Der Eremit mit seiner Kapuze und der Laterne erinnert

mi  an Reynaud, das blasse, verslagene Gesit halb verstet im


Saen. Den Tod kenne i sehr gut, und i strete automatis Zeige-

und Mielfinger über der Karte aus  … Sei gebannt! Aber die Liebenden? I

date an Roux und Joséphine, die si so ähnli waren, ohne es zu wissen,

und verspürte einen kurzen Sti der Eifersut. Do mit einemmal war i

davon überzeugt, daß die Karte no nit alle ihre Geheimnisse

preisgegeben hae. Im Zimmer duete es na Flieder. Vielleit war eines

von den Parfümfläsen meiner Muer nit ritig verslossen. Trotz

der morgendlien Kühle wurde mir ganz heiß. Roux? Roux.

Hastig und mit ziernden Fingern drehte i die Karte um.

No ein Tag. Was immer es sein mag, kann no einen Tag warten. I

miste die Karten erneut, aber i bin nit so versiert wie meine Muer,

und die Karten glien mir aus den Händen und fielen auf den Boden. Der

Eremit lag aufgedet. Im flaernden Kerzenlit erinnerte er mi mehr

denn je an Reynaud. Im Halbdunkel sien er bosha zu grinsen. Ich werde

einen Weg finden, verspra er mir hinterhältig. Du glaubst, du hättest

gewonnen, aber ich werde dich kriegen. I spürte seine Bosheit in den

Fingerspitzen.

Meine Mu er häe es als ein Zeien gedeutet.


, einer spontanen Eingebung folgend, die i nur halb begriff,
Plötzli

nahm i die Karte und hielt sie in die Kerzenflamme. Einen Moment lang

umspielte die Flamme das harte Papier, dann begann es Blasen zu werfen.

e Gesit verzog si zu einer Grimasse, dann wurde es swarz.


Das blei

»I werd’s dir zeigen«, flüsterte i. »Wag es, mir was anzutun, und

i –«

Plötzli loderten die Flammen bedrohli auf, und i ließ die Karte
fallen. Das Feuer verlos, und Funken und Ase stoben über die Dielen.

I war in Hostimmung.

Wer wird jetzt die Veränderungen einläuten, Mutter?

Und denno   mi nit gegen das Gefühl wehren, daß i


kann i

manipuliert wurde, daß i mi habe drängen lassen, etwas zu offenbaren,

was besser unberührt geblieben wäre. I habe do nits getan, sage i

mir. I hae keine böse Absit.

Trotzdem will es mir nit gelingen, den Gedanken zu verseuen. I

fühle mi ganz leit, körperlos wie Löwenzahnsamen. Bereit, mi mit

dem Wind davontreiben zu lassen.

Freitag, 28. März

Karfreitag

I müßte eigentli  bei meiner Herde sein, Vater. I  


weiß es. Die Lu in

der Kire ist swer vom Weihrau, es herrst Grabesstimmung, alles ist
mit swarzen und violeen Tüern verhängt, nit eine einzige Blume ist

geblieben. I müßte dort sein. Heute ist mein größter Tag, Vater, die

Feierlikeit, die Ehrfurt, die Orgel, die wie eine Unterwassergloe

dröhnt – die Gloen selbst sweigen natürli, aus Trauer über Christi Tod

am Kreuz. I selbst in Swarz und Viole, zur Begleitung der Orgel die

Choräle anstimmend. Sie sauen mi mit großen, dunklen Augen an.

Selbst die Abtrünnigen sind heute gekommen, ganz in Swarz gekleidet

und mit Pomade im Haar. Ihre Bedürftigkeit, ihre Erwartungen füllen die

Leere in mir. Einen Augenbli  lang emp finde i ete Liebe; i liebe sie
wegen ihrer Sünden, wegen ihrer Erlösung, ihrer nitigen Sorgen, ihrer

Bedeutungslosigkeit. I  weiß, daß Sie mi verstehen, denn Sie sind au

ihr Vater gewesen. In gewissem Sinne sind Sie genauso für sie gestorben wie
unser Herr Jesus. Um sie vor Ihren und ihren eigenen Sünden zu bewahren.

Sie haben es nie erfahren, ni  t wahr, Vater? Von mir jedenfalls ni  t. Aber

als i  Sie mit meiner Mu  er in der Kanzlei entde  t habe  … Ein s  werer

S  laganfall, sagte der Arzt. Der S  o muß zu groß gewesen sein. Sie

haben si  zurü  gezogen. Sie haben si   in si selbst zurü  gezogen, do 



i weiß, daß Sie mi  hören können, i  weiß, daß Sie klarer sehen als je

zuvor. Und i  weiß, daß Sie eines Tages zu uns zurü  kehren werden. I 
habe gefastet und gebetet, Vater. I  habe mi  in Demut geübt. Und

denno  fühle i   mi unwürdig. Es gibt immer no  eine Sa  e, die i 


no   ni t erledigt habe.

Na der Messe kam ein Kind auf mi  zu, Mathilde Arnauld. Sie nahm

meine Hand und flüsterte:


»Werden Sie Ihnen au   S okoladeneier bringen, Monsieur le Curé?«

»Wer soll mir S  okoladeneier bringen?« fragte i  verblü  .

»Die Glocken natürli  !« Sie ki  erte. »Die fliegenden Glo  en!«

»A  so. Die Glo  en. Natürli  .«

Einen Augenbli  lang war i  verwirrt und wußte ni  t, was i  sagen

sollte. Sie zup  e ungeduldig an meiner Soutane.

»Sie wissen do  fliegen na Rom zum Papst und wenn


, die Glocken. Sie

sie zurükommen, bringen sie Schokoladenostereier –«

Es ist zu einer fixen Idee geworden. Ein Refrain, ein geflüsterter Kehrreim,

der jedem Gedanken folgt. I  konnte meine Wut ni  t beherrs en, und ihr

erwartungsvolles Gesi t war plötzli  angstverzerrt. I  brüllte: »Wieso

kann plötzlich niemand mehr an etwas anderes als Schokolade denken?«,

und das Kind rannte weinend über den Platz davon, während der kleine

Laden mit seinem verlo end verhangenen Fenster mi  triumphierend

angrinste. Zu spät rief i  ihr na  .

Heute abend werden Kinder aus der Gemeinde die letzten Augenbli  e im

Leben unseres Herrn Jesus na  spielen, eine symbolis  e Grablegung

vollziehen und Kerzen anzünden, wenn es dunkel wird. Gewöhnli  ist dies

für mi  eines der wi  tigsten Ereignisse des Jahres, der Augenbli  , in dem

sie ganz mir gehören, meine Kinder, ganz ernst und ganz in S warz

gekleidet. Aber werden sie au  in diesem Jahr an die Leidensges  i te


denken, an die Feierli  keit der Eu aristie, oder wird ihnen vor lauter

Vorfreude s  on das Wasser im Mund zusammenlaufen? Ihre Ges  i ten  –


fliegende 
Glo en und raus  ende Feste  – sind überzeugend und

verführeris   . I bemühe mi  , unsere eigenen Verführungskünste in die

Messe ein fließen zu lassen, aber die dunkle Herrli  keit der Kir  e kommt

gegen abenteuerli  e Reisen auf fliegenden Teppien nit an.


Heute na   mi ag habe i  Armande Voizin einen Besu  abgesta  et. Sie

hat heute Geburtstag, und in ihrem Haus herrs  te reges Treiben. I  wußte

natürli , daß eine Party geplant ist, aber so etwas hä  


e i nie erwartet.

Caro hat es mir gegenüber ein- oder zweimal erwähnt  – sie hat eigentli 
keine Lust hinzugehen, aber sie ho  , die Gelegenheit nutzen zu können, um

ein für allemal Frieden mit ihrer Mu  er zu s  ließen  –, do  i für te,

au sie hat keine Ahnung, wel  e Ausmaße diese Party o ffenbar annimmt.
Vianne Ro  er war in der Kü  e und s  on den ganzen Tag dabei, das Essen

zuzubereiten. Joséphine Muscat hat die Kü e des Cafés zusätzli  zur

Verfügung gestellt, denn in Armandes Haus ist ni  t genug Platz für so

aufwendige Vorbereitungen, und als i  ankam, war eine ganze Phalanx von

Helfern dabei, Pla  en, Töpfe und Terrinen vom Café zu Armande zu tragen.

Aus dem o ffenen Fenster du  ete es köstli   na gutem Wein, und gegen

meinen Willen lief mir das Wasser im Mund zusammen. Im Garten war

Narcisse dabei, eine Art Pergola, die er zwis  en dem Haus und dem

Gartentor erri  tet ha  e, mit Blumen zu s   mü en. Der E ffekt ist

verblü ffend: Clematis, Purpurwinde, Flieder und Wi   en s einen an dem

hölzernen Gi  erwerk herunterzuranken und bilden ein buntes Blumenda  ,

das das Sonnenli  t auf san  e Weise filtert. Armande war nirgendwo zu

sehen.

Aufgewühlt vom Anbli  dieser Üppigkeit, wandte i   mi ab. Typis 


für sie, ausgere  net am Karfreitag so ein opulentes Fest zu veranstalten. All

dieser Über fluß  – Blumen, exotis  e Speisen, kistenweise Champagner, der

in Eis gepa  t bis vor die Tür geliefert wurde  – ist eine Blasphemie, ein

Hohn angesi  ts Christi Opfertod. Morgen muß i  unbedingt mit ihr

darüber reden. Als i  gerade gehen wollte, entde  


te i Guillaume
Duplessis neben dem Haus, der eine von Armandes Katzen strei elte. Er

zog hö fli seinen Hut.


»Sie helfen also au ?« fragte i.
Guillaume ni te.
»I hab versproen, mit anzupaen«, gab er zu. »Es gibt immer no 
eine Menge zu tun bis heute abend.«

»Es wundert mi , daß Sie si für so etwas einspannen lassen«, sagte i
in sarfem Ton. »Ausgerenet am Karfreitag! I finde wirkli, daß

Armande es diesmal übertreibt. Diese Verswendung – ganz abgesehen von

der Respektlosigkeit gegenüber der Kire –«

Guillaume zute die Aseln.

»Sie hat ein Ret auf eine kleine Feier«, erwiderte er san.

»I fürte eher, daß sie si mit dieser Völlerei umbringt!« raunzte i.

»I denke, sie ist alt genug, um zu tun, was ihr gefällt«, sagte Guillaume.

I saute ihn mißbilligend an. Er hat si verändert, seit er mit dieser

Roer verkehrt. Sein demütiger Bli ist verswunden, und jetzt liegt sta

dessen etwas Eigensinniges, beinahe Trotziges in seinem Gesitsaudru.

»Es gefällt mir nit, wie Armandes Familie si dauernd in ihr Leben

einmist«, fuhr er diköpfig fort. I zute mit den Sultern.

»Es wundert mi, daß ausgerenet Sie si auf ihre Seite slagen«,

sagte i.

»Es gesehen no Zeien und Wunder«, sagte Guillaume.

I wünste, er häe ret.


Freitag, 28. März

Karfreitag

Irgendwann vergaß i , was die Party zu bedeuten hae, und begann mi
zu freuen. Während Anouk unten in Les Marauds spielte, traf i die letzten

Vorkehrungen für das größte und üppigste Essen, das i je zubereitet hae,

und war nur no mit den Einzelheiten des Festmahls besäigt. I hae

drei Küen zur Verfügung; meine eigenen geräumigen Öfen im Laden, wo

i die Kuen bate, die Küe des Café des Marauds für die

Meeresfrüte und Armandes winzige Küe für die Suppen, Beilagen,

Soßen und Garnierungen. Joséphine bot Armande an, ihr Gesirr und

Beste zu leihen, aber Armande süelte läelnd den Kopf.

»Dafür ist bereits gesorgt«, erwiderte sie. Und so war es au; am frühen

Donnerstagmorgen kam ein Lieferwagen mit dem Namen einer Firma in

Limoges und bra te zwei Kisten mit Gläsern und Beste  und eine mit

Porzellan, alles in Holzwolle verpa t. Der Fahrer des Wagens grinste, als

Armande die iung untersrieb.


»Eine Ihrer Enkelinnen feiert wohl Ho zeit, was?« fragte er vergnügt.

Armande la te.
»Gut mögli«, erwiderte sie. »Gut mögli.«

Den ganzen Freitag über war sie bester Laune, wollte alles überwa en,
war dabei jedo  meistens im Weg. Wie ein ungezogenes Kind stete sie die
Finger in jede Soße, hob jeden Deel ho, bis i sließli Guillaume

an flehte, sie für ein paar Stunden zum Friseur in Agen zu entführen, damit


i in Ruhe arbeiten konnte. Als sie zurü kehrte, war sie wie verwandelt:

das Haar modis  kurz gesnien, einen verwegenen neuen Hut auf dem
Kopf, neue Handsuhe, neue Suhe. Suhe, Handsuhe und Hut waren

allesamt kirsrot, Armandes Lieblingsfarbe.



»I werde immer mutiger«, erklärte sie mir voller Genugtuung, als sie

si in ihren Saukelstuhl setzte, um das Gesehen zu verfolgen. »Bis zum


Woenende bin i vielleit soweit, daß i mi traue, mir ein rotes Kleid

zu kaufen. Stellen Sie si bloß vor, wie i damit in die Kire gehe!«

»Ruhen Sie si ein bißen aus«, sagte i streng. »Sie müssen heute

abend eine Party überstehen. I möte nit, daß Sie mien beim Dessert

einslafen.«

»Keine Sorge«, erwiderte sie, willigte jedo ein, in der späten

Namiagssonne ein Nieren zu maen, während i den Tis dete

und die anderen na Hause gingen, um si auszuruhen und für den Abend

umzuziehen. Der Eßtis ist groß, eigentli zu groß für Armandes kleines

Zimmer, und wenn i es gesit anstelle, müßten wir alle Platz daran

finden. Wir mußten zu viert anfassen, um das swere Möbel aus massivem
Eienholz hinauszutragen und unter das Da aus Blumen und Bläern zu

stellen, das Narcisse erritet hat. Die Tisdee ist aus Damast mit einer

Bordüre aus feiner Spitze und duet na dem Lavendel, auf den Armande

sie na ihrer Hozeit gelegt hat  – ein Gesenk ihrer Großmuer, das sie

no nie benutzt hat. Die Teller aus Limoges sind weiß mit kleinen, gelben

Blüten auf dem Rand; die Gläser  – drei versiedene Sorten  – sind aus

Kristall, kleine Nester voller Sonnenlit, die bunte Regenbogensprenkel auf

das weiße Tistu werfen. In die Mie des Tiss kommt eine Vase mit

Frühlingsblumen von Narcisse, neben jeden Teller eine säuberli gefaltete

Serviee. Auf den Servieen Tiskarten mit den Namen der Gäste:

Armande Voizin, Vianne Rocher, Anouk Rocher, Caroline Clairmont,

Georges Clairmont, Luc Clairmont, Guillaume Duplessis, Joséphine Bonnet,

Julien Narcisse, Michel Roux, Blanche Dumand, Cerisette Plançon.

Im ersten Augenbli   mit den letzten beiden Namen nits


konnte i

anfangen, do dann erinnerte i mi an Blane und Zézee, die immer

no flußabwärts mit ihrem Boot warteten. Mir fiel auf, daß i bisher Roux’

Namen gar nit gekannt hae, daß i davon ausgegangen war, es sei ein

Spitzname, vielleit wegen seiner roten Haare.

Die Gäste kamen gegen at. Um sieben war i kurz na Hause

gelaufen, um zu dusen und mi umzuziehen, und als i zurükam, war


das Boot bereits vor dem Haus festgema t, und Blane, Zézee und Roux
stiegen gerade aus. Blan e in einem roten Dirndl und einer Sürze aus

Spitze, Zéze e in einem alten s warzen Abendkleid, die Arme mit Henna

bemalt und einen Rubin in der Augenbraue, Roux in sauberen Jeans und

einem weißen T-Shirt. Jeder von ihnen hae ein Ges enk dabei, bunt

verpa t in Ges enkpapier oder Tapeten- und ffresten.


Sto Dann kam

Narcisse in seinem Sonntagsanzug, dann Guillaume mit einer gelben Blume

im Knop flo, dann die Clairmonts, sehr bemüht, gut gelaunt zu wirken.

Caro beäugte die fahrenden Leute mit mißtrauis en Blien, sien jedo
ents lossen, si zu amüsieren, da nun mal ein soles Opfer von ihr

verlangt wurde  … Bei Apéritifs, gesalzenen Pinienkernen und kleinen

Plätz en sahen wir Armande beim Auspa en ihrer Ges enke zu: von

Anouk ein roter Ums lag mit einem selbstgemalten Bild von einer Katze

darin, von Blan e ein Glas Honig, von Zézee mit dem Bustaben »B«
bestite Säen mit Lavendel  – »I bin nit mehr dazu gekommen,

neue Säen mit Ihren Initialen zu bestien«, erklärte sie heiter, »aber bis

zum nästen Jahr saffe i es«  –, von Roux ein gesnitztes Eienbla,

so zart, als sei es et, mit ein paar am Stiel befestigten Eieln, von Narcisse

ein Korb mit Früten und Blumen. Au die Clairmonts haben Gesenke

mitgebrat; ein Halstu  – nicht von Hèrmes, fiel mir auf, aber trotzdem

aus Seide  – und eine silberne Blumenvase; von Luc etwas Rotes, Glänzendes
in einem Ums lag aus Kreppapier, das er so gut er kann vor den Bli en
seiner Mu er verbirgt, indem er es unter einen Stapel Ges enkpapier
iebt  …
s Armande grinst und wir  mir einen vers mitzten Bli zu. Mit

einem ents uldigenden Lä eln überrei t Joséphine ihr ein kleines

goldenes Medaillon.

t neu«, sagt sie.


»Es ist ni

Armande hängt es si um den Hals, drüt Joséphine kurz ans Herz und

senkt großzügig Champagner aus. I höre die Gespräe von der Küe

aus; soviel Essen zuzubereiten ist eine knifflige Angelegenheit und erfordert

große Konzentration, aber i bekomme trotzdem einiges mit von dem, was

draußen vor si geht. Caro gibt si freundli, aufgeslossen; Joséphine

ist still; Roux und Narcisse haben ihr gemeinsames Interesse an exotisen
Obstbäumen entde t. Zéze e singt ein Volkslied mit ihrer hohen Stimme,

während sie das Baby lässig in einem Arm wiegt. Mir fällt auf, daß sogar

das Baby zur Feier des Tages mit Henna bemalt ist, so daß es mit seiner

marmorierten, goldenen Haut aussieht wie eine di e, kleine Netzmelone.


Inzwis en haben alle am Tis Platz genommen. Armande ist in

Ho stimmung und bestreitet den größten Teil des Tisgespräs. I höre


Luc in seiner angenehmen, leisen Stimme etwas von einem Bu erzählen,

das er gerade liest. Caros Stimme wird ein bißen särfer  – i vermute,

daß Armande si gerade ein weiteres Glas St. Raphaël eingesenkt hat.

»Maman, du weißt do, daß du das nit  –« höre i sie sagen, aber

Armande lat einfa nur.

»Das ist mein Geburtstagsfest«, verkündet sie fröhli. »Und i will

nit, daß auf meinem Fest irgend jemand unglüli ist, am allerwenigsten

i selbst.«

Damit ist das ema vorerst erledigt. I höre Zézee mit Georges flirten.

Roux und Narcisse fasimpeln über Pflaumen.

»Belle du Languedoc«, erklärt Narcisse ernst. »Das ist meiner Meinung

na die beste. Süß und klein, mit Blüten wie Smeerlingsflügel  –« Aber
Roux läßt si nit beirren.

»Mirabellen«, sagt er bestimmt. »Das sind die einzigen gelben P flaumen,


die anzubauen si  lohnt. Mirabellen.«
I wende mi wieder dem Ofen zu, und eine Zeitlang höre i nits
mehr.

en ist eine Leidensa von mir, und i habe es mir selbst
Ko

beigebrat. Niemand hat es mir gezeigt. Meine Muer braute Wundermiel

und Zaubertränke, und i habe ihre Kunst zu einer süßeren Alimie

veredelt. Wir sind uns nie sehr ähnli gewesen, meine Muer und i. Sie

träumte vom Fliegen, von Sternenwanderungen und geheimen Essenzen; i

brütete über Rezepten und Speisekarten, die i aus teuren Restaurants

geklaut hae, wo zu essen wir uns nie leisten konnten. Immer wieder

spöelte sie liebevoll über meine fleislien Gelüste.

»Zum Glü haben wir kein Geld«, sagte sie zu mir. »Sonst würdest du

no so fe werden wie ein Swein.« Arme Muer. Als der Krebs sie son
halb zerfressen ha e, konnte sie si  immer no  über jedes Pfund freuen,

das sie abnahm. Und während sie ihre Karten deutete und vor si  hin

 meine Sammlung Rezeptkarten und sagte die Namen


murmelte, studierte i

der exotisen Gerite auf wie Mantras, wie eine geheime Formel, die

ewiges Leben versprit. Bœuf en Daube. Champignons farcis à la grèque.

Escalopes à la Reine. Crème Caramel. Schokoladentorte. Tiramisu. In der

geheimen Kü e meiner Phantasie bereitete i sie alle zu, probierte sie aus,
kostete sie, erweiterte meine Rezeptsammlung an jedem Ort, in den wir

kamen, klebte sie in mein He  wie Fotos von alten Freunden. Sie verliehen
unserer Wanders a Bedeutung; die glänzenden Bilder, die aus den

zerfledderten Seiten meiner Kladde hervorlugten, waren wie Meilensteine

auf unserem ziellosen Weg.

Jetzt trage i  die Geri te auf wie lange vermißte Freunde. Soupe de

tomates à la gasconne, mit fris em Basilikum serviert, dazu tartelettes

méridonales mit einem hau dünnen Boden aus pâte brisée, gewürzt mit
Olivenöl und belegt mit Anovis und saigen, einheimisen Tomaten, die

zuvor zusammen mit Oliven langsam wei gedünstet wurden und dadur

einen fast unvorstellbar köstlien Gesma ergeben. I fülle lange,

slanke Gläser mit 85er Chablis. Mit betont gezierter Geste trinkt Anouk

aus ihrem Glas Limonade. Narcisse interessiert si für die Zutaten der

tartelettes und preist die alitäten der weniger gleimäßig geformten

Roussee-Tomate im Verglei zu den na nits smeenden

europäisen Standardtomaten. Roux zündet die Holzkohlengrills zu beiden

Seiten des Tises an und besprenkelt sie mit Zitronellöl, um die Insekten

fernzuhalten. I bemerke, daß Caro Armande mit mißbilligendem Bli

beobatet. I esse nur wenig. Die Küendüe, die mi den ganzen Tag

umgeben haben, sind mir in den Kopf gestiegen, i fühle mi aufgekratzt

und ungewöhnli empfindli, so daß i, als Joséphines Hand mi

während des Essens strei, zusammenfahre und beinahe aufsreie. Der

Chablis ist kühl und troen, und i trinke mehr, als i sollte. Farben

werden greller, Geräuse sriller. I höre Armande das Essen loben. I

trage den Kräutersalat auf, um den Gaumen wieder freizumaen, dann foie

gras auf warmem Toast. Mir fällt auf, daß Guillaume seinen Hund
mitgebra t hat und ihn heimli unter dem Tis mit kleinen Leerbissen
füert. Wir kommen von der Politik zum Problem mit den baskisen

Separatisten, von der ETA über die neueste Damenmode zur Frage, wie man

Rauke am besten anp flanzt, und zu den Vorzügen von wildem Salat. Dazu

fließt rei li Chablis. Dann kommt der vol-aux-vents auf den Tis , so

lei t wie eine Sommerbrise, dann Holunderblütensorbet gefolgt von einer

großen Pla e fruits de mer  – gegrillte Langusten, blaue Krabben, Garnelen,


Austern, berniques, Spinnenkrebse und die größeren Tasenkrebse, die

einem mit derselben Leitigkeit, mit der i einen Stiel Rosmarin pflüe,

einen Finger absneiden können, Strandsneen, palourdes und obenauf

ein riesiger swarzer Hummer, königli auf seinem Be aus Seetang. Die

riesige Plae glänzt farbenprätig in Rot- und Rosatönen, hellen und

dunklen Saierungen von Meeresgrün, dazwisen Perlmufarben und

Viole, Köstlikeiten wie aus der Satzkammer einer Meerjungfrau, die

romantis na Salzwasser duen wie Erinnerungen an Kindertage am

Meer. Wir verteilen Zangen für die Krebsseren, kleine Gabeln für die

Museln, Süsselen mit Zitronenseiben und Mayonnaise. Unmögli,

si angesits soler Delikatessen zurüzuhalten; sole Dinge erfordern

Aufmerksamkeit, Ungezwungenheit. Gläser und Beste glitzern im Lit

der Lampions, die an dem Gierwerk über unseren Köpfen hängen. Die

Nat duet na Blumen und Flußwasser. Armandes Finger sind so

gesit wie die einer Spitzenklöpplerin; der Teller mit den leeren Salen

vor ihr füllt si mühelos. I hole Nasub an Chablis; Augen leuten,

Gesiter glänzen rosig beim Pulen der Salentiere. Diese Leerbissen muß

man si erarbeiten, das erfordert Zeit. Joséphine wird langsam entspannter,

unterhält si sogar mit Caro, während sie mit einer Krebssere kämp.

Caros Hand rutst aus, ein feiner Strahl Salzwasser sießt ihr ins Auge.

Joséphine lat. Einen Augenbli später lat Caro mit. Au i unterhalte

mi. Der Wein ist hell und trügeris, seine berausende Wirkung wegen

seiner Weiheit kaum wahrnehmbar. Caro ist bereits leit beswipst, ihre

Wangen sind gerötet, kleine Löen lösen si aus ihrer strengen Frisur.

Georges streielt mein Knie unter dem Tis und zwinkert mir lüstern zu.

Blane erzählt vom Leben der fahrenden Leute; es gibt nit wenige Orte,
on gesehen haben, sie und i. Nizza, Wien, Turin. Zézees
die wir beide s

Baby fängt an zu weinen; sie taut einen Finger in den Chablis und läßt das

Baby daran saugen. Armande diskutiert mit Luc, der um so weniger stoert,

je mehr Wein er trinkt, über de Musset. Sließli räume i die

leergegessene Plae und die Teller mit den perlmufarbenen Abfällen ab. Es

gibt Salen mit Zitronenwasser für die Finger und Minzesalat für den

Gaumen. I sammle die Gläser ein und verteile die coupes à champagne.

Caro wirkt wieder besorgt. Auf dem Weg in die Küe höre i sie leise und

eindringli auf Armande einreden.

Armande wimmelt sie ab.

 feiern.«
»Darüber können wir später reden. Heute abend will i

Sie begrüßt den Champagner mit einem zufriedenen Jauzer.

Zum Dessert gibt es Sokoladenfondue. Der klare Tag ist wie gesaffen

dafür  – feutes Weer mat die gesmolzene Sokolade stumpf  –, mit

siebzig Prozent Biersokolade, Buer, ein wenig Mandelöl, im allerletzten

Augenbli ein Suß Sahne dazu und san über einem Reaud erhitzt.

Dann werden kleine Stüe Kuen oder Obst aufgespießt und in die

Sokoladenmisung getaut. I habe jedem Gast seine Lieblingssorte

Kuen mitgebrat, allerdings ist nur der gâteau de savoie zum Tunken

gedat. Caro erklärt, sie würde keinen Bissen mehr herunterbringen, nimmt

aber dann do zwei Stüe von der swarzweißen

Sokoladenbisquitrolle. Armande probiert von allem, ihre Wangen glühen,

und sie wird immer aufgekratzter. Joséphine erklärt Blane gerade, warum

sie ihren Mann verlassen hat. Hinter vorgehaltener Hand und mit

Sokolade an den Fingern grinst Georges mir lüstern zu. Luc zieht Anouk
auf, die auf ihrem Stuhl beinahe einslä. Der Hund beißt spieleris in ein

Tisbein. Zézee beginnt völlig unbefangen ihr Baby zu stillen. Caro

seint eine Bemerkung dazu maen zu wollen, zut jedo dann die

Aseln und verknei es si. I öffne no eine Flase Champagner.

»Geht es dir wirkli gut?« erkundigt Luc si ruhig bei Armande. »I

meine, ist dir wirkli nit slet oder so? Du hast do deine Medizin

genommen, oder?«

Armande la t.
»Du ma st dir viel zu viele Gedanken für dein Alter«, sagt sie. »Du

solltest mal Dampf ma en und deine Mu er


treiben,
die Wände ho

ansta einen alten Hund das Bellen lehren zu wollen.« Sie ist immer no in

Stimmung, wirkt aber milerweile leit ersöp. Wir sitzen son seit fast

vier Stunden am Tis. Es ist zehn vor zwölf.

»I weiß«, erwidert er läelnd. »Aber i möte no nit so bald

mein Erbe antreten.« Sie tätselt ihm die Hand und senkt ihm no ein

Glas Champagner ein. Ihre Hand ziert ein wenig, und sie versüet etwas

auf die Tisdee.

»Keine Sorge«, sagt sie fröhli. »Es ist no genug da.«

Wir runden das Mahl ab mit Sokoladeneis, Trüffeln und Espresso in

winzigen Tassen, dazu Calvados aus heißen Gläsern. Anouk verlangt ihren

canard, erwürfel mit ein paar Tropfen Calvados, und dann no
einen Zu

einen für Pantoufle. Tassen und Teller sind snell geleert. Die

Holzkohlenfeuer sind fast heruntergebrannt. I beobate Armande, die

immer no redet und lat, wenn au weniger aufgekratzt als zuvor. Ihre

Augenlider sind swer geworden, unter dem Tis hält sie Lucs Hand.

»Wie spät ist es?« fragt sie kurz darauf.

»Fast eins«, sagt Guillaume.

Sie seufzt.

, ins Be zu gehen«, verkündet sie. »I bin sließli nit


»Zeit für mi

mehr die Jüngste.« Sie erhebt si mühsam und sammelt die Gesenke ein,

die unter ihrem Stuhl liegen. I sehe, wie Guillaume sie aufmerksam

beobatet. Er weiß Beseid. Sie wir ihm einen seltsam liebevollen Bli

zu.

»Glaubt ja ni t, i würde jetzt eine Rede halten«, sagt sie gespielt

sroff. »I  kann Reden t ausstehen. I möte eu nur allen


ni

danken  – eu  allen  – und eu sagen, daß i mi wunderbar amüsiert

habe. Das war mein s önstes Geburtstagsfest. Die Leute meinen immer,

man hat keinen Spaß mehr, wenn man alt wird. Aber das ist alles ats.«
Ho rufe von Roux, Georges und Zézee. Armande nit weise. »Aber
wet mi morgen nit zu früh«, sagt sie und verzieht das Gesit. »I

glaube, seit i zwanzig war, hab i nit mehr so viel getrunken, und i
brau  e meinen S  laf.« Sie wir  mir einen kurzen Bli  zu, fast wie eine

Warnung. »I  brau e meinen S laf«, wiederholt sie wie abwesend und

ma  
t si auf den Weg ins Haus.

Caro stand auf, um sie zu stützen, aber Armande s  ü elte sie unwirs 
ab.

»Ma   ni t so einen Zirkus, Mädel«, sagte sie. »Das ist s  on immer

deine Art gewesen. Dauernd meinst du, du müßtest mi  bemu  ern.« Sie

s  aute mi  an. »Vianne kann mir helfen«, erklärte sie. »Ihr anderen könnt

bis morgen warten.«

I  bra  te sie in ihr Zimmer, während die Gäste si  langsam auf den

Heimweg ma  ten, immer no  la end und s  watzend. Caro ha  e si bei

Georges eingehakt; Luc stützte sie auf der anderen Seite. Ihre Frisur ha  e

 
si mi lerweile völlig aufgelöst, so daß sie jünger und wei  er wirkte. Als

i die Tür zu Armandes Zimmer ö ffnete, hörte i sie sagen:


…  regelret versprochen, daß sie in das Heim ziehen wird  … i
» bin ja

so erleitert …« Armande hörte es au und kierte in si hinein.

»Es muß ein Kreuz sein, so eine aufmüp fige Muer zu haben«, sagte sie.
»Bringen Sie mi  ins Be  , Vianne. Bevor i  umfalle.« I  half ihr beim

Ausziehen. Auf dem Kop  issen lag ein leinenes 


Na themd bereit. I
faltete ihre Kleider zusammen, während sie si  das Na  themd überzog.

»Ges  enke«, sagte Armande. »Legen Sie sie dort hin, wo i  sie sehen

kann.« Eine vage Geste in Ri  tung Kommode. »Hmm. Das tut gut.«

Fast wie in Trance führte i  ihre Anweisungen aus. Viellei  t ha  e i

au  mehr getrunken, als mir bewußt war, denn i  war vollkommen ruhig.

An der Anzahl der no  im Kühls  rank vorhandenen Insulinampullen ha  e

i  festgestellt, daß sie vor einigen Tagen aufgehört ha e, das Medikament

zu nehmen. I   hä e sie gern gefragt, ob sie si  ganz si  er war, ob sie

wirkli  genau wußte, was sie tat. Sta  dessen hängte i  Lucs Ges  enk  –
ein seidener S  lüpfer in verwegen leu  tendem Rot  – über die Stuhllehne,

so daß sie es gut sehen konnte. Ki  ernd stre te sie eine Hand aus, um die

Seide zu befühlen.

»Sie können jetzt gehen, Vianne.« Ihre Stimme klang san  , aber bestimmt.

»Es war wunderbar.« I  zögerte. Einen Augenbli  lang sah i  uns beide
im Spiegel über der Frisierkommode. Mit ihrer neuen Frisur sah sie aus wie

die alte Frau in meiner Vision, aber ihre Hände waren leu tend rot, und sie
läelte. Sie hae die Augen geslossen.
»Lassen Sie das Lit an, Vianne.« Es war eine endgültige Aufforderung

zu gehen. »Gute Nat.«

I gab ihr einen Kuß auf die Wange. Sie duete na Lavendel und

Sokolade. I ging in die Küe, um den Abwas zu erledigen.

Roux war no geblieben, um mir zu helfen. Die anderen Gäste waren

gegangen. Anouk slief auf dem Sofa, einen Daumen im Mund. Sweigend

spülten wir das Gesirr, und i stellte die neuen Teller und Gläser in

Armandes Srank. Ein- oder zweimal versute Roux, ein Gesprä

anzufangen, aber i konnte nit mit ihm reden; nur das Klappern des

Gesirrs durbra die Stille.

»Geht es Ihnen gut?« fragte er sließli und legte zärtli eine Hand auf

meine Sulter. Seine Haare leuteten wie Ringelblumen. I spra aus,

was mir als erstes in den Sinn kam.

 hab gerade an meine Muer gedat.« Seltsamerweise stimmte das.


»I

»Das Fest häe ihr gefallen. Sie liebte … Feuerwerke.«

Er saute mi an. Seine seltsamen blauen Augen wirkten in dem

swaen gelben Küenlit beinahe viole. I wünste, i häe ihm

von Armande erzählen können.

»I wußte gar nit, daß Sie Miel heißen«, sagte i sließli.
Er zute die Aseln.

»Namen spielen keine Rolle.«

»Sie verlieren Ihren Dialekt«, sagte i  verwundert. »Anfangs ha en Sie

so einen starken Marseiller Dialekt, aber jetzt  … « Er lä elte san.


 keine Rolle.«
»Akzente spielen au

Seine Hände umslossen mein Gesit. Wei für einen Handwerker,

blaß und wei wie Frauenhände. I fragte mi, ob all das, was er mir

über si erzählt hae, stimmte. In dem Augenbli war es mir egal. I

küßte ihn. Er ro na Farbe und Seife und Sokolade. I smete

Sokolade in seinem Mund und date an Armande. I hae

angenommen, er würde Joséphine lieben. Und au während i ihn küßte,


wußte i, daß er sie liebte, aber dies war der einzige Zauber, mit dem wir
die Nat bekämpfen konnten. Der primitivste Zauber, das Feuer, das wir in

Beltane vom Berg mitbringen, in diesem Jahr ein bißen früh. Ein kleiner

Trost zum Trotz gegen die Dunkelheit. Seine Hände tasteten unter meinem

 meinen Brüsten.
Pullover na

Einen Moment lang zögerte i . Es hat son zu viele Männer in meinem


Leben gegeben, Männer wie er, gute Männer, die i gemot, aber nit

geliebt habe. Wenn i ret hae und er und Joséphine zusammengehörten,

was würde es ihnen antun? Was würde es mir antun? Sein Mund war san,

seine Berührungen unbefangen. Von draußen drang Fliederdu dur das

offene Fenster, von der warmen Lu der Holzkohlenglut hereingetragen.

»Draußen«, flüsterte i. »Im Garten.«

Er saute zu Anouk hinüber, die no immer auf dem Sofa slief, und

nite. Gemeinsam gingen wir hinaus unter den klaren Sternenhimmel.

Die Holzkohlengrills verbreiteten immer no eine sane Wärme. Die

Blumen an Narcisse’ Pergola umhüllten uns mit ihrem Du. Wir lagen im

Gras wie Kinder. Wir verspraen uns nits, er flüsterte mir keine

Liebesswüre ins Ohr, obwohl er sehr zärtli war; beinahe leidensaslos

liebkoste er mi mit sanen Händen, erkundete meinen Körper mit seiner

Zunge. Der Himmel über seinem Kopf war so viole wie seine Augen, und

i sah das breite Band der Milstraße, das wie ein Pfad um die Welt

herumzuführen sien. I wußte, es würde das einzige Mal zwisen uns

sein, do der Gedanke verursate nur einen Hau von Melanolie. Sta

dessen überkam mi ein Gefühl der Unmielbarkeit, der Erfüllung, das

stärker war als meine Einsamkeit und mi sogar meinen Kummer über

Armande vergessen ließ. Später würde no genug Zeit zum Trauern

bleiben. Für den Augenbli simples Erstaunen; über mi selbst, wie i da

so nat im Gras lag; über den stillen Mann neben mir, über die

Unermeßlikeit über mir und die Unermeßlikeit in mir. Wir lagen no

lange dort, Roux und i, bis unser Sweiß abkühlte und kleine Insekten

über unsere Körper krabbelten. Das Blumenbeet zu unseren Füßen duete

na Lavendel und ymian. Wir hielten uns an den Händen und

betrateten die unerträgli langsamen Bewegung der Himmelskörper.


I hörte Roux ganz leise ein Lied singen:
V’là l’bon vent, v’là l’joli vent,

V’là l’bon vent, ma mie m’appelle  …


Der Wind war jetzt in meinem Inneren, zerrte an mir mit seiner alten

Unna giebigkeit. Und im Zentrum vollkommene, auf wundersame Weise

ungetrübte Stille, und das beinahe vertraute Gefühl von Veränderung  …


Au  das ist eine Art Zauber, etwas, das meine Muer nie begreifen konnte,
und denno gibt mir diese neue, wundersame, lebendige Wärme in mir

eine Gewißheit, die i no nie zuvor empfunden habe. Und endli

verstand i, warum i die Liebenden gezogen hae. Mit diesem Wissen im

Herzen sloß i die Augen und versute, von ihr zu träumen, so wie

damals während der Monate vor Anouks Geburt, träumte von einer kleinen

Fremden mit leu tend roten Wangen und funkelnden swarzen Augen.
Als i aufwate, war Roux fort, und der Wind hae si wieder gedreht.

Samstag, 29. März

Die Nacht zu Ostersonntag

 nit genug gebetet? Nit genug für unsere


Helfen Sie mir, Vater. Habe i

Sünden gelien? I habe auf beispielhae Weise Buße getan. Vom vielen

Fasten und vom Slafmangel ist mir ständig swindelig. Ist die Karwoe

nit die Zeit der Erlösung, in der alle Sünden vergeben werden? Die

silbernen Leuter stehen wieder auf dem Altar, die Kerzen brennen in

Erwartung der Auferstehung. Zum erstenmal seit Beginn der Fastenzeit

smüen Blumen die Kire. Selbst der verrüte Franziskus ist mit Lilien
gekrönt, die na natem Fleis duen. Wir haben so lange gewartet, Sie

und i. Ses Jahre sind seit Ihrem ersten Slaganfall vergangen. Son

damals haben Sie nit mit mir gesproen, sondern nur mit anderen. Dann,

letztes Jahr, der zweite Slaganfall. Man sagt mir, Sie seien unerreibar,
aber i  weiß, daß das nur Täus ung ist, ein Wartespiel. Wenn Sie bereit

sind, werden Sie aufwa en.


Heute morgen hat man Armande Voizin gefunden, Vater. Steif und immer

no  läelnd in ihrem Be ; no  eine, die uns verlorengegangen ist. I 


habe ihr die Letzte Ölung gegeben, obwohl sie es mir ni t gedankt häe.

Vielleit bin i der einzige, der in solen Dingen no Trost findet.
Sie wollte sterben, sie hae für den gestrigen Abend alles minutiös

geplant, das Essen, die Getränke, die Gäste. Sie hae ihre Familie um si

versammelt und hat sie mit dem Verspreen, si zu bessern, hinters Lit

geführt. Ihre vermaledeite Arroganz! Caro hat versproen, für zwanzig,

dreißig Messen zu bezahlen. Um für sie zu beten. Für uns zu beten. I

ziere immer no vor Wut. I kann ihr nit mit Mäßigung begegnen. Am

Dienstag ist die Beerdigung. I stelle mir vor, wie sie daliegt, in der

Krankenhauskapelle aufgebahrt, von Pfingstrosen umgeben, das Läeln

immer no auf den bleien Lippen. Aber der Gedanke erfüllt mi weder

mit Mitleid no mit Befriedigung, sondern mit srelier, hilfloser Wut.

Wir wissen natürli, wer dahinterstet. Diese Hexe Roer. Oh, Caro

hat mir alles erzählt. Sie ist der böse Ein fluß, mon père, der Parasit, der in

unseren Garten eingedrungen ist. I  häe auf meinen Instinkt hören sollen.
Häe sie vertreiben sollen, als i sie das erstemal zu Gesit bekam. Diese

Frau, die mir Knüppel zwisen die Beine wir, wo sie nur kann, die hinter

ihrem verhängten Fenster über mi lat und alle möglien Troel dazu

anstiet, die Gemeinde zu unterwandern. I bin ein Narr gewesen, Vater.

Armande Voizin ist wegen meiner Dummheit gestorben. Das Übel lebt unter

uns. Das Übel trägt ein gewinnendes Lä eln und grellbunte Farben. Als
Kind lauste i mit Entsetzen dem Mären von dem Lebkuenhaus, von

der Hexe, die kleine Kinder hereinlote und sie aufaß. Wenn i ihren

Laden sehe, mit buntem Papier verhüllt wie ein Gesenk, das darauf wartet,

ausgewielt zu werden, dann frage i mi, wie viele Leute, wie viele

Seelen sie bereits soweit verdorben hat, daß sie nit mehr erlöst werden

können. Armande Voizin. Joséphine Muscat. Paul-Marie Muscat. Julien

Narcisse. Luc Clairmont. Sie muß verjagt werden. Und ihr Gör ebenfalls.

Egal wie. Für Ne igkeiten ist es zu spät, Vater. Meine Seele ist son
gezei  net. 
I wüns  te, 
i wäre wieder zwölf. I  versu e, mi  an

meine kindli  e Grausamkeit zu erinnern, an den phantasievollen Jungen,

der i  einmal war. Der Junge, der die Flas  e geworfen und das Übel aus

der Welt ges  a hat. Aber diese Zeiten sind vorbei. I muß klug

vorgehen. I  darf mein Amt ni  t in Verruf bringen. Und do  , wenn i 


versagen sollte  …
Was würde Muscat tun? Oh, er ist so brutal, so verabs  euungswürdig.

Denno  hat er die Gefahr lange vor mir erkannt. Was würde er tun? I 
muß mir Muscat zum Vorbild nehmen, Muscat, das S  wein. Er ist brutal,

aber gerissen wie ein S  wein.

Was würde er tun?

Morgen ist das S  okoladenfest. Morgen wird si  zeigen, ob wir siegen

oder unterliegen. Zu spät, die ö ffentlie Meinung gegen sie aufzubringen.

I  darf mir ni  t das geringste zus  ulden kommen lassen. Hinter dem

verhängten Fenster warten Tausende von Süßigkeiten darauf, verkau  zu

werden. Zu  ereier, S  okoladen figuren, Osternester in Gesenks  a teln

und mit S leifen  


ges mü t, Osterhasen in glitzerndem Cellophan  …
Morgen werden hundert Kinder vom Läuten der Glo  en gewe  t werden,

do  ihr erster Gedanke wird ni  t sein Er ist auferstanden!, sondern

Schokolade! Ostereier! Aber was wäre, wenn es gar keine S  okolade und

keine Ostereier mehr gäbe?

Der Gedanke dur   zu t mi  wie ein Blitz. Einen Augenbli  lang bin

i von Freude überwältigt. Das s  laue S  wein in mir grinst und tanzt. I 
könnte in ihr Haus einbre  en, sagt es zu mir. Die Hintertür ist alt und

mors   . I könnte sie au  ebeln. Mi  mit einem Knüppel in den Laden

s   
lei en. S okolade ist zerbre   li , lei t zu zerstören. Fünf Minuten


würden ausrei en. Sie s   lä in der oberen Etage. Viellei  t würde sie es

no   ni t einmal hören. Außerdem würde i   s nell sein. Und i  würde

mir eine Maske überziehen, so daß sie, selbst wenn sie mi  sieht  … Alle

würden Muscat für den Täter halten  – ein Ra  eakt. Der Mann ist ni t

mehr hier, um die Tat abzustreiten, und außerdem  …


Vater, haben Sie si  bewegt? Einen Moment lang war i  mir si  er, daß

Ihre Hand si  bewegt hä  e, die ersten beiden Finger si  gekrümmt hä  en


wie zum Segen. Wieder dieses Zu  en, wie bei einem S  ützen, der von

vergangenem Kampfgetümmel träumt. Ein Zei  en.

Der Herr sei gelobt. Ein Zei  en.

Sonntag, 30. März

Ostersonntag, 4.00 Uhr morgens

I habe kaum ges  lafen. Ihr Fenster war bis gegen zwei Uhr erleu  tet,

und selbst na  dem es dunkel geworden war, wagte i    no ni t

loszus  lagen, aus Angst, sie könnte no   wa liegen. I  blieb in meinem

Sessel sitzen und döste no  zwei Stunden vor mi  hin, ha  e jedo  den

We  er gestellt, um ni  t zu vers  lafen. I   hä e mir keine Sorgen zu

ma  en brau  en. I  träumte so unruhig, daß i  immer wieder aus dem

S  laf fuhr. I  glaube, i  sah Armande im Traum  – die junge Armande,

obwohl i  sie damals gar ni  t gekannt habe  –, sah sie in einem roten Kleid
über die Felder jenseits von Les Marauds laufen, das lange, s  warze Haar

flog wie ein Banner im Wind. Oder viellei  t war es au  Vianne, und i 
verwe  sle die beiden. Dann träumte i  von dem Feuer in Les Marauds,

von der S  lampe und ihrem Kerl, von den roten, ausgetro  neten Ufern des

Tannes und von Ihnen, Vater, von Ihnen und meiner Mu er in der Kanzlei  …
Die ganze bi  ere Ernte jenes Sommers drang in meine Träume ein, und i 
wühlte genüßli  darin wie ein S  wein, das mit seiner gierigen S  nauze

na  Trü ffeln su  t.

Um vier erhebe i   mi aus meinem Sessel. I  habe in meinen Kleidern

ges  lafen und lege Soutane und Kragen ab. Die Kir  e hat mit dieser Sa  e

ni ts zu tun. I  ma  e Ka ffee, sehr starken Ka ffee, aber ohne Zu  er,

obwohl die Fastenzeit eigentli  beendet ist. I  sage eigentli  . In meinem

Herzen weiß i  , daß Ostern no   ni t da ist. Er ist no   ni t

auferstanden. Wenn i  heute erfolgrei  bin, dann wird er auferstehen.


I  zi ere. I  esse tro  enes Brot, um mir Mut zu ma  en. Der Ka ffee ist
heiß und bi  er. Wenn i  mein Werk vollendet habe, verspre   e i mir,

werde i  ein gutes Frühstü  zu mir nehmen; Eier, S  inken und Bröt  en

von Arnauld. Bei dem Gedanken läu  mir das Wasser im Mund zusammen.

 
I s alte das Radio ein und su  e einen Sender, der klassis  e Musik spielt.

Sheep May Safely Graze. Mein Mund verzieht si  zu einem harten,

verä   tli en Grinsen. Dies ist ni  t die Zeit für S  äferspiele. Dies ist die

Stunde des S  weins, des s  lauen S  weins. I  drehe die Musik ab.

Es ist fünf vor fünf. Wenn i  aus dem Fenster s  aue, sehe i  den ersten

hellen Streifen der Dämmerung am Horizont. I  habe rei li Zeit. Der

Küster wird um se  s kommen, die Osterglo  en zu läuten; mir bleibt mehr

als genug Zeit, um meine heimli  e Mission zu erfüllen. I  ziehe die

wollene Skimaske über, die i  mir für den Zwe  zure  tgelegt habe; im

Spiegel sehe i  verändert aus, gefährli  . Ein Saboteur. Darüber muß i 


wieder grinsen. Mein Mund wirkt hart und zynis  . Fast ho ffe i  , daß sie

mi  sieht.

5.10 Uhr.

Die Tür ist unvers  lossen. I  kann mein Glü  kaum fassen. Es zeigt,

wie si  er sie si  fühlt, wie sehr sie davon überzeugt ist, niemand könne ihr

etwas zuleide tun. I  lege den großen S  raubens  lüssel weg, mit dem i 
die Tür ha  e au   re en wollen, und nehme das s  were Kantholz  – es ist

Teil eines Fenstersturzes, Vater, der während des Krieges abgebro  en ist  –
in beide Hände. Die Tür ö ffnet si geräus  los. Eins von ihren roten

Beutel  en baumelt über mir im Türrahmen; i  nehme es herunter und

werfe es verä   tli auf den Boden. Zunä  st fehlt mir die Orientierung. Das

Haus hat si  verändert, seit es keine Bä  erei mehr ist, und im übrigen

kannte i   mi mit den hinteren Räumli  keiten sowieso ni  t so gut aus.

Nur ein ganz s   wa es Li t spiegelt si  in den ge fliesten Wänden, und i


bin froh, daß i  mir eine Tas  enlampe mitgebra  t habe. I   s alte sie

ein, und einen Moment lang werde i  regelre  t geblendet von all dem

weißen Email  – die Arbeitsfläen, die Spülbeen, die alten Baöfen, alles
glänzt und s  immert im s  malen Li  tkegel der Tas  enlampe. Es ist keine

S  okolade zu sehen. Natürli  . Das ist nur die Kü  e, wo die Pralinen und
ffel     
  
Trü hergestellt werden. I bin mir ni t si er, warum i mi


wundere, daß es hier so sauber ist; i ha e sie für eine S lampe gehalten,

  
die Pfannen und Töpfe ungespült herumstehen läßt, gebrau te Teller

 
turmho im Spülbe en stapelt, lange s warze Haare in den Essensresten.

Aber alles ist makellos sauber und ordentli ; die Kasserollen stehen na

 
Größe geordnet in den Regalen, Kupfer neben Kupfer, Email neben Email,

Porzellans üsseln stehen gri ereit, und diverse Utensilien  – große Kellen,

 
Pfannen  hängen an den geweißten Wänden. Auf dem mit


Gebrau sspuren übersäten alten Tis stehen mehrere Brotformen aus

  
Keramik. In der Mi e eine Vase mit einem Strauß halb verwelkter Dahlien,

  
die einen unheimli en S a en werfen. Aus irgendeinem Grund ma en

 
die Blumen mi wütend. Wel es Re t hat sie auf Blumen, wenn Armande

  
Voizin tot in der Kapelle liegt? Das S wein in mir wir die Blumenvase um

und grinst. I lasse ihm seinen Willen. I brau e seine Grausamkeit, um

die Aufgabe zu erfüllen, die vor mir liegt.

     
5.20 Uhr.


Die S okolade muß im Laden sein. Leise s lei e i dur die Kü e

ffne

und ö die s were Kiefernholztür, die in den vorderen Teil des Hauses

 
führt. Zu meiner Linken führt eine Treppe zu den im oberen Sto werk

 …    
gelegenen Wohnräumen. Zu meiner Re ten die eke, die Regale, die

   
Auslagen, die S a teln  I bin ers ro en über den intensiven Du von


S okolade, obwohl i mit ihm gere net habe. Die Dunkelheit s eint ihn

sei
   
no zu verstärken, so daß es mir einen Moment lang so vorkommt, als

 
der Du die Dunkelheit, die si wie di ter, brauner Staub über mi legt

 
und mir die Sinne vernebelt. Im S ein meiner Tas enlampe entstehen

     
kleine Inseln des Li ts, buntes Papier, S leifen, glitzerndes Cellophan

 
leu ten abwe selnd auf. I bin mi en in der S atzhöhle. Ein S auer der

  
Erregung läu mir über den Rü en. Hier zu sein, im Haus der Hexe, ein

…   
Eindringling, unbemerkt. Heimli , während sie s lä , ihre Sa en zu

berühren  I verspüre den unwiderstehli en Drang, mir das S aufenster

 
anzusehen, das Papier, das die Auslagen verbirgt, herunterzureißen und der


  
erste zu sein  ein absurder Wuns , da i sowieso vorhabe, alles zu

zers lagen. Aber i komme ni t dagegen an. Auf meinen Gummisohlen


 leise auf das Fenster zu, das swere Kantholz loer in der Hand.
tappe i

I habe reili Zeit. Zeit genug, um meine Neugier zu befriedigen, wenn

mir dana ist. Außerdem ist der Augenbli zu kostbar, um ihn zu

vergeuden. I will ihn vollkommen genießen.

5.30 Uhr.

tig ziehe i das Papier weg, das das Fenster verhüllt. Es löst
Ganz vorsi

si mit einem leisen Raseln, und i lege es beiseite, während i

angestrengt na Geräusen im ersten Sto lause. Alles ist still. Mit

meiner Tasenlampe beleute i die Auslagen, und einen Moment lang

vergesse i fast, warum i hier bin. Mit Staunen betrate i die

Köstlikeiten, die si vor mir auürmen, glasierte Früte und

Marzipanblumen, Berge von Pralinen in allen Formen und Farben, Hasen,

Enten, Hühner, Küken und Lämmer aus Sokolade sauen mi mit ihren
Sokoladenaugen an wie die Terracoa-Armeen aus den inesisen

Königsgräbern, und in der Mie eine Frauenfigur mit wallendem Haar,

deren wohlgeformte braune Arme eine Weizengarbe aus Sokolade halten.

Die Details sind kunstvoll ausgearbeitet, die Haare aus dunklerer

Sokolade, die Augen mit weißer Kuvertüre aufgemalt. Der


Sokoladendu ist überwältigend, füllt Gaumen und Raen mit köstlier

Süße. Die Frau mit der Weizengarbe läelt kaum merkli, als sinnierte sie

über irgendwele Geheimnisse.

Probier mich. Koste mich. Nasch mich.

Der Gesang ist lauter denn je, hier an der elle der Versu ung. I
bräu te nur die Hand auszustre en, dann könnte i  eine dieser

verbotenen Frü te nehmen und ihr geheimes Fleis kosten. Der Gedanke
läßt mi  nit mehr los.
Probier mich. Koste mich. Nasch mich.

Niemand würde je davon erfahren.

Probier mich. Koste mich. Nasch  –


Warum eigentli  nit?
5.40 Uhr.


I werde wahllos irgend etwas herausgreifen. I  darf mi  ni t von

meinem Vorhaben ablenken lassen. Eine einzige Praline  – das ist kein
Diebstahl, sondern Rettung; sie ist die einzige unter all ihren Brüdern und

Swestern, die der Zerstörung entgehen wird. Gegen meinen Willen zögert
meine Hand; wie eine Libelle swebt sie über diesem Berg von

Leerbissen. Sie liegen in Glassalen, von Deeln aus Plexiglas gesützt.

Auf den Deeln kleine Silder mit den Namen der einzelnen

Köstlikeiten in feiner Sri. Allein die Namen klingen verloend.

Bitterorangen-Krokant. Aprikosenmarzipan-Kugeln. Pariser Konfekt. Weiße

Rumtrüffel. Champagnertrüffel. Venusbrüstchen. Meine Wangen werden

ganz heiß unter meiner Maske. Wie soll man sol e Namen ausspre en,
wenn man so etwas kaufen will? Aber sie sehen so wundervoll aus im

Sein meiner Tasenlampe, weiße Halbkugeln mit einem Tupfer dunkler


Sokolade. I nehme eine davon mit Daumen und Zeigefinger. I halte sie

mir unter die Nase; sie riet na Sahne und Vanille. Niemand wird es je

erfahren. Mir wird bewußt, daß i seit meiner Kindheit keine Sokolade

mehr gegessen habe, i weiß kaum, wie viele Jahre das her ist. Und damals

war es billige Sokolade mit einem Nagesma na Zuer und Fe.

Ein- oder zweimal habe i mir im Supermarkt eine bessere Tafel

Sokolade gekau, aber sie war fünfmal so teuer wie die billige Sorte, und

i konnte mir diesen Luxus nur selten leisten. Dies hier ist etwas ganz

anderes; die zarte Sokoladenhülle, die sahnige Trüffelmasse im Inneren  …

Die Praline verströmt ein Aroma wie das Bouquet eines guten Weins, ein

Hau  von Zartbier, von frisgemahlenem Kaffee, Aroma, das si dur
die Wärme voll entfaltet und mir verführeris in die Nase steigt; sie zergeht

mir auf der Zunge wie ein Gesmassukkubus, der mi aufstöhnen läßt.

5.45 Uhr.

 sage mir, daß es auf eine weitere Praline nit ankommt, und probiere
I

no eine. Au diesmal verweile i zunäst bei den Namen. Crème-de-

Cassis-Trüffel. Nußsplitter. I wähle eine dunkle Praline aus einer Sale

mit der Aufsri Jamaikasplitter. Kandierter Ingwer in einer harten

Zuerhülle, gefüllt mit Kräuterlikör, der ein Aroma ausströmt, in dem

Sandelholz und Zimt mit Limone weeifern  … I nehme no eine Praline,

diesmal aus einer Sale mit der Aufsri Pêche au miel millefleurs. Ein

Stü Pfirsi, in Honig und Eau-de-Vie getränkt, mit einem Stüen


kandiertem P firsi auf der Sokoladenhülle. I saue auf meine Uhr. Es
bleibt immer no  Zeit.

I  weiß, i  müßte jetzt eigentli  damit beginnen, mein gere  tes Werk

zu tun. Die Auslagen im Laden, so vielfältig und verwirrend sie sein mögen,

rei  en ni  t aus, um die Hunderte von Bestellungen zu erfüllen, die bei ihr

eingegangen sind. Es muß no  einen anderen Ort geben, wo sie ihre

Präsents  a teln, ihre Vorräte au  ewahrt. Dies hier dient vor allem

Ausstellungszwe  en. I  nehme eine S  okomandel, ste 


e sie in den

Mund, um besser denken zu können. Dann ein Caramelfondant. Dann eine

Champagnertrü ffel mit einer zarten Hülle aus weißer S  okolade. Die Zeit

ist zu kurz, um jede Sorte zu probieren  …  I bräu  te fünf Minuten, um

meine Arbeit zu erledigen, viellei  t weniger. Hauptsa  fi e, i nde heraus,

wo sie ihre Vorräte au  ewahrt. I  nehme no  eine Praline, bevor i   mi

auf die Su  e ma  e. Nur no  eine.

5.55 Uhr.

Es ist wie in meinem Traum. I  wälze mi  in Pralinen. I  komme mir

vor wie in einem S  okoladenfeld, an einem S  okoladenstrand, i  aale

mi  in S  okolade, wühle in S  okolade, vers  linge alles, was in meiner

Rei  weite ist. I  habe keine Zeit, die S  ilder zu lesen; wahllos ste   e i

mir eine Praline na  der anderen in den Mund. Angesi  ts all dieser

Köstli  keiten verliert das S  wein seine S  läue, wird wieder zum S  wein,

und obwohl etwas in mir s  reit, i  soll au  ören, kann i   ni t mehr an

mi  halten. Na  dem i  einmal angefangen habe, kann i   ni t mehr

au  ören. Das hat ni  ts mit Hunger zu tun; i  zwinge alles hinunter, mit

vollen Ba  en und vollen Händen. Einen s   re li en Augenbli  lang bilde

i  mir ein, Armande sei zurü  gekehrt, um mi  heimzusu  en, um mi 


mit ihrem seltsamen S  i sal zu ver fluen; Tod dur Völlerei. I höre die
Geräus  e, die i  beim Essen ma  e, ein verzweifeltes, ekstatis  es

Stöhnen, als hä  e das S  wein in mir endli  eine Stimme gefunden.

6.00 Uhr.

Er ist auferstanden! Das Läuten der Glo  en reißt mi  aus meiner

Verzü  ung. I  sitze auf dem Boden, inmi  en von Pralinen, als hä   e i

mi  tatsä  li in ihnen gewälzt. Der Knüppel liegt neben mir, i  habe ihn
vergessen. Die hinderli  e Maske habe i  abgenommen. Das erste

Morgenli  t fällt dur  das enthüllte S  aufenster.

Er ist auferstanden! Trunken ri   


te i mi auf. In fünf Minuten werden

die ersten Gläubigen zur Messe kommen. Sie müssen mi  bereits vermißt

haben. Mit s  okoladevers  mierten Fingern greife i   na dem Knüppel.

Plötzli  weiß i  , wo sie ihre Vorräte au  ewahrt. Der alte Keller, der kühle,

tro ene Keller, wo früher die Mehlsä  e gelagert wurden. Dorthin kann i 
es s ff a en. I  weiß es.

Er ist auferstanden!

Den Knüppel in der Hand drehe i   mi um, i  habe keine Zeit mehr,

keine Zeit  …
Sie steht hinter dem Perlenvorhang und erwartet mi  bereits. I  habe

keine Ahnung, wie lange sie mi  s on beoba  tet hat. Ein kaum

wahrnehmbares Lä  eln umspielt ihre Lippen. Ganz vorsi  tig nimmt sie

mir den Knüppel aus der Hand. Zwis  en den Fingern hält sie etwas, das

aussieht wie ein verbranntes Stü  buntes Papier. Viellei  t eine Karte.

…   Und so haben sie mi  gesehen, Vater, auf den Knien in der zerstörten

Auslage ihres Fensters, das Gesi  t mit S  okolade vers  miert, die Augen

gerötet. Wie aus dem Ni   ts s ienen die Leute herbeizueilen, um ihr

beizustehen. Duplessis mit seiner Hundeleine in der Hand hielt bei der Tür

Wa  e. Die Hexe Ro  er an der Hintertür mit meinem Knüppel im Arm.

Arnauld von gegenüber, der s  on früh in seiner Ba  stube gearbeitet ha  e,

rief die Neugierigen herbei, damit sie es alle sehen konnten. Die Clairmonts

starrten mi  an wie gestrandete Karpfen. Narcisse s  ü elte seine Faust.

Und das Gelä  ter. Mein Go ! Das Gelä  ter. Und die ganze Zeit läuteten

die Glo  en über dem Platz.

Er ist auferstanden.

Montag, 31. März

Ostermontag
Als die Glo en verstummten, s ite i Reynauld fort. Die Messe las er

ni t. Sta  dessen rannte er ohne ein Wort na  Les Marauds hinunter.

Kaum jemand hat ihm eine Träne na geweint. Wir begannen einfa ein
bißen früher mit dem Fest, es gab heiße Sokolade und Kuen vor dem

Laden, während i in aller Eile den Slamassel beseitigte. Zum Glü war

es nit so slimm; ein paar Hundert Pralinen und Trüffel auf dem Boden,

aber keine Präsentsateln besädigt. Na ein paar Handgriffen sah das

Saufenster wieder aus wie neu.

Das Fest war ein voller Erfolg. Es gab Verkaufsstände für Kunsthandwerk,

Fanfaren, Narcisse ’ Kapelle  – i war überras t, wie virtuos er Saxophon

spielt  –, Jongleure, Feuers luer. Die Leute vom Fluß waren

zurü gekommen  – zumindest für den Tag  –, und ihre bunten Gestalten

belebten das Straßenbild. Einige bauten ihre eigenen Stände auf, floten
Perlen in die Haare der Mäd en, verkau en Marmelade und Honig,

bemalten Hände mit Henna oder  als Wahrsager. Roux


betätigten si

verkaue Puppen, die er aus Treibholz gesnitzt hae. Nur die Clairmonts

fehlten, aber i meinte immer wieder, Armande unter den Leuten zu sehen,

so als könne sie bei einer solen Gelegenheit einfa nit fehlen. Eine Frau

mit einem roten Halstu, ein gebeugter Rüen unter einer grauen

Kielsürze, ein mit Kirsen dekorierter Stohhut, der si zwisen den

Köpfen auf und ab bewegte. Sie sien überall zu sein. Seltsamerweise

empfand i keine Trauer. Nur die wasende Überzeugung, daß sie jeden

Augenbli auauen und die Deel von den Sateln heben würde, um

nazusehen, was si darin befand, si genüßli die Finger leen und

vor Freude über all den Spaß laut jauzen würde. Einmal meinte i sogar,

ihre Stimme zu hören, ganz dit neben mir, als i mi vorbeugte, um eine

Tüte Rumrosinen aus einem Korb zu nehmen, do als i mi umsah, war

niemand da. Meine Muer häe es verstanden.

Alle Bestellungen wurden abgeholt, und um Viertel na vier verkaue

i meine letzte Satel Pralinen. Lucie Prudhomme gewann die

Ostereiersue, aber jeder Teilnehmer erhielt ein cornet-surprise, gefüllt mit

Sokoladeneiern, Spielzeugtrompeten und Luslangen. Ein mit eten

Blumen gesmüter Wagen mate Reklame für Narcisse’ Gärtnerei. Ein


 sogar, unter den strengen Augen des heiligen
paar junge Leute trauten si

Hieronymus zu tanzen, und den ganzen Tag lang sien die Sonne.

Und denno  fühle i  mi  unwohl, als i  mi in unserem stillen Haus

mit Anouk hinsetze, um ihr aus einem Mär enbu  sage


vorzulesen. I

mir, daß es nits weiter ist als die plötzlie Leere, die unvermeidli auf

ein langersehntes Ereignis folgt. Ersöpfung vielleit, der Sre über

Reynauds Einbru im allerletzten Moment, die Sonnenhitze, die vielen

Leute  … Und au Trauer um Armande, die mi nun überkommt, da die

fröhlien Klänge verstummt sind, Kummer, vermist mit so vielen

anderen widersprülien Gefühlen, Einsamkeit, Verlust, Zweifel und ein

seltsam ruhiges Bewußtsein, daß alles seine Ritigkeit hat  … Meine liebe

Armande. Es häe dir so viel Spaß gemat. Aber du hast dein eigenes

Feuerwerk gehabt, nit wahr?

Am späten Abend kam Guillaume zu Besu, lange nadem wir alle

Spuren des Festes beseitigt haen. Anouk wollte gerade zu Be gehen, in

ihren Augen immer no ein glülies Leuten.

»Darf i reinkommen?« Sein Hund hat gelernt, auf Befehl Platz zu

maen, und wartet brav vor der Tür. Guillaume hält etwas in der Hand.

Einen Brief. »Armande hat mi gebeten, Ihnen das zu geben. Na dem

Fest.«

I nehme den Brief. In dem Umslag fühle i etwas Kleines, Hartes.


»Danke.«

 werde nit bleiben.« Er saut mi einen Augenbli lang an, dann
»I

stret er die Hand aus, eine steife, seltsam rührende Geste. Sein

Händedru ist fest und kühl. I spüre ein Brennen in den Augen; etwas

Glitzerndes fällt auf den Ärmel des alten Mannes  – seine oder meine Träne,
i weiß es nit.
»Gute Nat, Vianne.«

»Gute Nat, Guillaume.«

Der Umslag enthält ein einziges Bla Papier. Als i  es herausziehe,


fällt etwas auf den Tis  … Münzen, denke i . Die Sri ist groß und

markant.
Liebe Vianne,

danke für alles. Ich weiß, wie Sie sich fühlen müssen. Reden Sie mit

Guillaume, wenn Sie mögen – er versteht mich besser als jeder andere. Es tut

mir leid, daß ich nicht an Ihrem Fest teilnehmen konnte, aber ich habe es so

oft in meiner Phantasie erlebt, daß es nicht mehr so wichtig war. Geben Sie

Anouk einen Kuß von mir und eine von den Münzen – die andere ist für das

nächste, ich glaube, Sie wissen, was ich meine.

Ich bin müde, und ich spüre, daß der Wind sich dreht. Ich glaube, Schlaf

wird mir guttun. Und wer weiß, vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder.

Ihre Armande Voizin.

P.S. Gehen Sie lieber nicht zur Beerdigung, alle beide. Das ist Caros Party,

und ich nehme an, sie hat ein Recht darauf, wenn ihr so etwas wichtig ist.

Laden Sie lieber alle Ihre Freunde auf eine Tasse Schokolade ein. Ich liebe

euch alle. A.

Na dem i  den Brief gelesen habe, lege i  ihn weg und su  e die

Münzen. Eine liegt auf dem Tis  , die andere auf einem Stuhl; zwei

Louisdors, die golden in meiner Hand glänzen. Einer für Anouk  – und der

andere? Instinktiv lege i  eine Hand auf die warme, dunkle Stelle in mir,

auf das Geheimnis, das i  bisher no   ni t einmal mir selbst wirkli 


eingestanden habe.

Anouks Kopf lehnt san  an meiner S  ulter. S  läfrig summt sie ein Lied für

Pantoufle, während i  ihr vorlese. In den letzten Wo  en haben wir

Pantoufle wenig gesehen; er wurde von grei  areren Spielkameraden

verdrängt. Es s  eint bedeutsam, daß er jetzt zurü  kehrt, wo der Wind si 


gedreht hat. Etwas in mir spürt die Unauswei  li keit der Veränderung.

Mein liebevoll konstruiertes Bild von einem seßha  en Leben ist wie die

Sandburgen, die wir früher am Strand bauten und die von der Flut

fortgespült wurden. Selbst wenn das Meer sie ni  t errei  t, werden sie von

der Sonne ausgehöhlt, und am nä  sten Tag sind sie fast vers  wunden.

Trotzdem emp finde i Unmut, fühle i mi gekränkt. Und denno lot
mi der Karnevalswind, der warme Wind aus  … woher? Aus dem Süden?
Dem Osten? Amerika? England? Es ist nur eine Frage der Zeit. Lansquenet

und alles, was dazugehört, ers eint mir mit einemmal ein wenig

unwirkli , fängt bereits an, in der Erinnerung zu verblassen. Das

Räderwerk kommt zum Stillstand; sein Geräus  verstummt. Vielleit ist es


das, was i  von Anfang an vermutet hae, daß Reynaud und i

miteinander verke et sind, daß wir einander Gegengewit sind, daß i

ohne ihn hier keine Aufgabe habe. Was immer es sein mag, der Ort hat seine

 dessen ist Zufriedenheit eingekehrt, ein Gefühl


Bedürftigkeit verloren; sta

der Säigung, das mi nit mehr braut. Überall in den Häusern von

Lansquenet lieben si die Ehepaare, spielen die Kinder, bellen die Hunde,

plärren die Fernseher  … Ohne uns. Guillaume streielt seinen Hund und

saut si Casablanca an. Luc, allein in seinem Zimmer, liest laut und ohne

zu stoern Gedite von Rimbaud. Roux und Joséphine sind dabei, si in

ihrem frisgestrienen Haus gegenseitig zu entdeen. Radio-Gascogne

hat heute abend einen Beitrag über das Sokoladenfest gebrat und stolz

über das Festival de Lansquenet-sous-Tannes beritet. Von nun an werden

die Touristen nit mehr an Lansquenet vorbeifahren. I habe das

unsitbare Dorf auf der Landkarte eingetragen.

Der Wind riet na Meer, na Ozon und gegrilltem Fis, na der

Küste vor Juan-les-Pins, na Pfannkuen und Kokosöl und Holzkohle und

Sweiß. So viele Orte, die darauf warten, daß der Wind si dreht. So viele

bedürige Mensen. Wie lange wird es diesmal dauern? Ein halbes Jahr?

Ein Jahr? Anouk kuselt si an meine Sulter, und i halte sie in

meinem Arm, zu fest, denn sie wat halb auf und murmelt irgend etwas

Vorwurfsvolles. La Céleste Praline wird wieder eine Bäerei werden.

Vielleit au eine Confiserie-Pâtisserie mit Kits an den Wänden und in

den Regalen Lebkuen in Präsentsateln mit der Aufsri Souvenir de

Lansquenet-sous-Tannes. Zumindest haben wir Geld, mehr als genug, um

irgendwo neu anzufangen. In Nizza viellei t, oder Cannes, London oder
Paris. Anouk murmelt im Slaf. Sie spürt es au.

Und do haben wir Fortsrie gemat. Keine anonymen Hotelzimmer

mehr, kein flaerndes Neonreklamesild, keine Flut von Norden na

Süden auf Geheiß einer Tarotkarte. Endli haben wir uns dem Swarzen
Mann gestellt, Anouk und i, ihn endli als den erkannt, der er ist; einer,
der si selbst zum Narren hält, eine Karnevalsmaske. Wir können nit für

immer hierbleiben. Aber vielleit hat er uns den Weg bereitet zu einem

anderen Ort, an dem wir bleiben können. Eine Küstenstadt vielleit. Oder

ein Dorf an einem Fluß, umgeben von Maisfeldern und Weinbergen. Unsere

Namen werden si  ändern. Und au der Laden wird einen anderen Namen
haben. Truffe Enchantée, vielleit. Oder Tentations Divines, in Erinnerung

an Reynaud. Und diesmal können wir soviel von Lansquenet mitnehmen.

I halte Armandes Ges enk wer. Das


in der Hand. Die Münzen sind s

Gold simmert rötli, beinahe wie Roux’ Haar. Erneut frage i mi,

woher sie es wußte  – wie hellsitig sie gewesen ist. No ein Kind  –

diesmal nit vaterlos, sondern das Kind eines guten Mannes, au wenn er

nie davon erfahren wird. I wüßte gern, ob sie seine Haarfarbe haben wird,

seine raugrauen Augen. I bin mir beinahe sier, daß es ein Mäden

sein wird. I weiß sogar son ihren Namen.

Andere Dinge werden wir zurülassen. Der Swarze Mann ist fort.

Meine Stimme klingt jetzt anders, mutiger. Sie hat einen Ton, den i, wenn

i genau hinhöre, wiedererkenne. Eine Spur Trotz, ja beinahe

Sadenfreude. Meine Ängste sind verswunden. Au du bist

verswunden, Maman, au wenn i deine Stimme immer hören werde.

I braue mi nit mehr vor meinem Gesit im Spiegel zu fürten.

Anouk läelt im Slaf. I könnte hier bleiben, Maman. Wir haben ein

Zuhause, wir haben Freunde. Die Weerfahne vor meinem Fenster dreht

si unermüdli. Stell dir vor, wir würden sie jede Woe hören, in jeder

Jahreszeit. Stell dir vor, du würdest an einem Wintermorgen aus meinem

Fenster auen.
s Die neue Stimme in mir t,
la und es klingt fast wie

Nahausekommen. Das neue Leben in mir bewegt si zart. Anouk sprit
im Slaf, unverständlies Zeug. Ihre kleinen Hände klammern si an

meinen Arm.

»Bie.« Ihre Stimme ist dur  meinen Pullover gedämp . »Maman, sing

mir ein Lied.« Sie ö ffnet die Augen. Aus sehr weiter Entfernung gesehen, hat
die Erde dieselbe blaugrüne Farbe.

»In Ordnung.«
Sie ma  t die Augen wieder zu, und i  beginne leise zu singen:

V’là l’bon vent, v’là l’joli vent,

V’là l’bon vent, ma mie m’appelle  …

I ho ffe, daß es diesmal nur ein S la flied ist. Daß der Wind es diesmal

ni t hört. Daß er diesmal  – bitte, nur dieses eine Mal  – ohne uns

weiterziehen wird.
Danksagung
Mein Dank gilt allen, die zur Entstehung dieses Bu s beigetragen haben:

e Unterstützung, die Kinderbetreuung und


meiner Familie für die moralis

die etwas verdutzte Ermutigung; Kevin für all die mühevolle Sreibarbeit;

Anouka für das Ausleihen von Pantoufle. Außerdem danke i meiner

unbezähmbaren Agentin Sera fina Clarke, meiner Verlegerin Francesca

Liversidge, Jennifer Luithlen und Lora Fountain, und allen Mitarbeitern von

Bantam Press, die mi  so freundli aufgenommen haben. Und sließli


meinen besonderen Dank an meinen Sristellerkollegen Christopher

Fowler, der mir den Anstoß zu dieser Gesite gegeben hat.

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