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1700 Jahre Judentum in Deutschland

Eine Annäherung mit Hilfe von viereinhalb Biografien1

0. Hinführung
Mit unserem Rückblick auf 1700 Jahre Judentum in Deutschland möchte ich Ihnen einen
kleinen Einblick verschaffen auf den immensen Reichtum jüdischer Kultur und Wissenschaft,
der in allen Epochen von der Antike bis heute wichtige Impulse für unser Denken und
Handeln lieferte. Die Diskriminierungen und Verfolgungen, unter denen Jüdinnen und Juden
immer wieder zu leiden hatten, bis hin zu einem versuchten Genozid, werden sich dabei
nicht ganz ausblenden lassen. Aber sie sollen in diesem Vortrag nicht im Vordergrund
stehen. Das Jahr 2021 ist zumindest in dieser Hinsicht ein Jahr zum Feiern, an dem wir uns an
all das Positive erinnern sollten, was mit dem Thema Judentum in Deutschland verbunden
ist.

A. DIE ANTIKE
Anlass unseres Jubiläums ist ein Dekret Kaiser Konstantins aus dem Jahre 321, das
im Codex Theodosianus überliefert ist. In ihm heißt es: „Allen Stadträten gestatten Wir durch
allgemeines Gesetz, Juden in die Kurie zu berufen.“ 2 Dass jemand in ein öffentliches Amt
berufen wurde, dafür war im Römischen Reich nicht nur Grundbesitz und ein gewisses
Ansehen der Person Voraussetzung. Man musste auch noch dem Kaiser und den
Staatsgöttern Opfer bringen. Weil für Juden dies jedoch nicht in Frage kam, konnten sie
solche Ämter bis dahin nicht begleiten. Das änderte sich nun durch dieses Dekret, das als
frühester Beleg für die Existenz einer jüdischen Gemeinde nicht nur in Deutschland, sondern
überhaupt nördlich der Alpen, gilt. Eine kontinuierliche Besiedlung lässt sich aber erst
in ottonischer Zeit, also nach der Jahrtausendwende, nachweisen. Die ersten jüdischen
Gemeinden bildeten sich entlang des Rheins. Neben Köln und Trier waren es v.a. die
sog. Schum-Städte Mainz, Worms und Speyer, in denen sich dauerhaft jüdische Leben
nachweisen lässt.3

B. DAS MITTELALTER
Im Hochmittelalter erlebte das Judentum in Deutschland dann eine erste Blütezeit. Durch die
Einwanderung jüdischer Kaufleute aus Italien und Südfrankreich wuchs die Zahl der Juden in
nur einem Jahrhundert von 5.000 auf 20.000.4 In den Städten entstanden Judenviertel, in
denen die Juden ihre eigenen Angelegenheiten wie Steuern, Kultus oder Schule selbst
verwalten durften. Diese Situation änderte sich mit dem Ersten Kreuzzug (ab 1096) unter
Papst Urban II., wo es erstmals zu Pogromen gegen jüdische Gemeinden mit ca. 2000 Toten
kam.5 Als „Kammerknechte“ waren Juden fortan nur noch geduldet, wenn sie der Obrigkeit
einen entsprechenden Obulus entrichteten, die sog. „Reichsjudensteuer“.

1
Die Idee, die deutsch-jüdische Geschichte an exemplarischen Biografien zu skizzieren, verdanke ich dem
Einführungsvortrag von M. Brumlik auf der „Gemeinsamen Fachtagung der KMK und des Zentralrats der Juden in
Deutschland“ am 18. April 2018 in Berlin.
2
Zit. nach B. Beier: Die Chronik der Deutschen, München/Gütersloh, 2007, S. 35.
3
Vgl. dazu M. Toch: Juden im mittelalterlichen Reich, Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 44, 2. Aufl., München 2003,
S.81.
4
A.a.O., S. 6 und 10.
5
A.a.O., S. 56.
Bis Mitte des 12. Jahrhunderts waren Übergriffe gegen Juden eher die Ausnahme, danach
aber nahmen sie zu. Die meisten Opfer gab es mit Abstand bei den Pestpogromen im 14.
Jhd., von denen reichsweit mindestens 400 Gemeinden betroffen waren. 6 Ab dem 4.
Laterankonzil (1215) mussten Juden einen gelben Fleck auf ihrer Kleidung tragen. Viele
berufliche Tätigkeiten waren ihnen verwehrt, so wichen sie auf Geldverleih und Handel aus.
Seitdem galten sie als Ausbeuter und Wucherer. Neben diesen sozialen Ressentiments warf
man ihnen auch vor, Hostien zu schänden und so den Mord an Jesus symbolisch noch einmal
zu verüben. Wenn irgendwo Kinder verschwanden und später dann tot aufgefunden
wurden, wurde auch das gerne den Juden in die Schuhe geschoben [Hinweis auf Bild!].
Besonders an Pessach - so der Vorwurf - sei es zu solchen „Ritualmorden“ gekommen, bei
denen das Blut christlicher Kinder für magische Zwecke missbraucht wurde.
In dieser Zeit gab es auch öfters Zwangsdisputationen, an deren Ende die Alternative stand:
Tod oder Taufe. Viele Juden kamen dem zuvor durch Selbsttötung („Kiddusch ha-Schem“)
oder durch Flucht, meist in Richtung Osteuropa. Dort entstanden im Spätmittelalter jüdische
Gemeinden, die in sprachlicher und religiöser Sicht das Erbe des aschkenasischen Judentums
bewahrten.7

In diese schwierige Zeit fällt das Leben eines jüdischen Wanderdichters, dessen Biografie
zeigt, dass Juden selbst in Zeiten der Verfolgung immer wieder wichtige Beiträge zur
deutschen Kultur leisteten.

1. Süßkind von Trimberg: Wanderdichter und Sozialkritiker


In der großen Manessischen Liederhandschrift finden sich die Werke eines Sängers, der
sich selbst dreimal als Jude bezeichnet. Ob diese Zuschreibung stimmt oder ob die zwischen
1250 und 1300 entstandenen Strophen nachträglich unter einen jüdischen Namen gestellt
wurden, wird in der Forschung kontrovers diskutiert.
Trimberg liegt in der Nähe des unterfränkischen Bad Kissingen. Es ist nicht bekannt, ob dort
im Mittelalter Juden lebten. Immerhin ist Süßkind ein typisch jüdischer Name, auch zeigen
die Bilder in den Handschriften den Dichter mit dem Spitzhut der Juden. Außerdem gibt es
angeblich ein „Memorbuch“ aus dem hessischen Schlüchtern, in dem Süßkind als häufiger
Gast erwähnt wird. In diesem Ort soll er auch gestorben und auf dem jüdischen Friedhof
begraben sein. Ob der Dichter etwas zu tun hat mit einem gleichnamigen Arzt, der in
Würzburg im Dietrichspital wirkte und dort in der Nähe ein Grundstück erwarb, ist unklar.
Ob der Begriff Minnesänger auf ihn passt, wird von manchen Forschern bestritten. Erstens
konnten damals nur Ritter Minnesänger sein, was Süßkind definitiv nicht war. Außerdem
gehörte die höfische Minne, in der sich alles um die unerfüllte Liebe drehte, weniger zu
seinen Themen. Eher schon gehörte er zu den oft armen Wanderdichtern, die durch ihre
Verse das Zeitgeschehen kritisierten und die Menschen zu religiös und ethisch richtigem
Handeln aufforderten.
In seinen Liedern fordert Süßkind von den Mächtigen ein, die Leistung auch der Armen für
die Gesellschaft anzuerkennen. Immer wieder klingt durch, dass er selbst zu denen gehört,
die auf Mildtätigkeit und Großzügigkeit angewiesen sind, da sie sonst verloren sind. Wenn
das Gesetz die Schwächeren nicht beschützt, dann werden „Esel“ und „Krokodile“ sich über
sie hermachen. Eine Warnung, die auch für uns heute noch nachdenklich machen sollte. In
einer Strophe (V,2) droht der Sänger, wenn niemand auf ihn hört, werde er künftig nicht

6
A.a.O., S. 61.
7
Aschkenas hieß auf hebräisch urspr. ‚deutsch‘ im Unterschied zu sepharad = ‚spanisch‘. Die Begriffe wurden aber in der
Folge ausgeweitet.
mehr an den Höfen singen, sondern - wie Juden das seit Jahrhunderte eben tun - mit Bart
und langem Mantel, den Hut tief in der Stirn, demütig weiterziehen:

 „Ach, wie ein Narr war ich auf Fahrt,


mit meiner Kunst für Jahre.
Auf sie will keiner mehr was geben,
Ich werd' dem Hof entfliehen.
Bald trag ich einen langen Bart,
Schon sprießen mir die Haare.
Ich werd' nach alter Väter Sitte leben
Und durch die Lande ziehen.
Mein Mantel weht schon weit und lang
Tief unter meinem Hut.
Und voller Demut ist mein Gang,
Nie wieder singe ich des Hofes Sang.
Gehabt euch wohl!
Er macht sich fort, der Jud!“8

B. VOM BEGINN DER NEUZEIT BIS ZUR AUFKLÄRUNG


Aus vielen Gemeinden im Reich machten sich die Juden im Spätmittelalter tatsächlich
„fort“. Während die Zahlen um 1300 auf ca. 100.000 Juden im Reich gestiegen waren, gingen
sie bis zum Anfang des 15. Jahrhunderts wieder zurück auf etwa 40.000. 9 So gab es zu Beginn
der Neuzeit jüdische Gemeinden nur noch in ganz wenigen Städten. 10 Dem urbanen
Bürgertum gelang es zunehmend, auch ohne die jüdischen Geldgeber zu prosperieren. Mit
Hilfe der Obrigkeit entledigte man sich gerne der unerwünschten Konkurrenz. Es lassen sich
aber in dieser Epoche auch gegenläufige Tendenzen erkennen: So gab es durch die
zunehmende Zahl von städtischen, später dann auch landesfürstlichen Judenordnungen
einen gewissen „Zuwachs an Rechtssicherheit“. 11 So fanden im Codex Iuris Civilis
erstaunliche Sätze Eingang wie der folgende:

„ Keiner soll, nur weil er Jude ist, zertreten werden, solange er sich nichts hat
zuschulden kommen; und keine Religion, welche immer es auch sei, gebe ihn der
Schmach preis. Auch sollen ihre Synagogen und Häuser nicht verbrannt werden und
auch sonst kein Unrecht und ohne Grund beschädigt werden.“12

In religiöser Hinsicht waren wir zu Beginn der Neuzeit aber noch immer weit entfernt von
dem, was wir später Toleranz nennen. Das zeigt beispielsweise der sog. Pfefferkorn-Streit
Anfang des 16. Jahrhunderts, benannt nach dem getauften Juden Johannes Pfefferkorn, bei
dem die Kölner Dominikaner eine Verbrennung des Talmuds und anderer rabbinischer
Schriften forderten. Sie lagen damit ganz auf der Linie des Reformators Martin Luther, der
in seinen Spätschriften nicht nur eine Verbrennung der Schriften, sondern auch der Häuser
und Synagogen der Juden forderte. Im Pfefferkorn-Streit bezog Luther freilich noch Stellung
gegen die Bücherverbrennungen. Zwar hielt er auch damals schon die Juden für
8
Süßkind von Trimberg, Manessische Liederhandschrift, 13. Jh. Nachdichtung: Lothar Jahn 2008; zit. nach:
http://www.minnesang.com/Saenger/suesskind.html.
9
M. Toch, S. 12f.
10
M. Toch, S. S.65.
11
F. Battenberg, Bd.1, S.206.
12
F. Battenberg, Bd.1, S. 175.
Gotteslästerer, aber er war überzeugt, Gott werde ihre Ablehnung Christi „von innen“
überwinden. Als sich diese Hoffnungen auf eine Bekehrung der Juden nicht erfüllten, schlug
seine Stimmung in Hass um. Immerhin gab es eine Reihe von Humanisten, die sich in diesem
Streit gegen die Dominikaner positionierten und sich für das Recht einer freien
wissenschaftlichen Diskussion einsetzten. Zu ihnen gehörte Johannes Reuchlin, der über
erstaunliche Kenntnisse des Hebräischen und des jüdischen Schrifttums verfügte. [Hinweis
auf das Bild: gespaltene Zunge  Lügner!] Obwohl der Pfefferkorn-Streit vordergründig zu
Ungunsten der Juden ausging, trug er doch zu einer zunehmenden Sensibilisierung der
Öffentlichkeit bei, die den Boden ebnete für das, was wir später Aufklärung nennen. 13

Der Weg der Juden „aus dem Ghetto in die bürgerlich Gesellschaft“, 14 die wir heute auch als
Judenemanzipation bezeichnen, ist ein langer Prozess, den wir unmöglich in allen Details
darstellen können. Eine wichtige Etappe auf diesem schmerzhaften Weg ist mit dem Namen
eines jüdischen Philosophen verbunden, den wir vielleicht noch aus dem Deutschunterricht
kennen. [Ich spreche von…]

2. Moses Mendelssohn: Aufklärer und Philosoph15


Moses erblickte das Licht der Welt 1872 als Sohn des Elementarlehrers und
Gemeindeschreibers der jüdischen Gemeinde Mendel Heymann aus Dessau. Seine
Muttersprache war wie bei vielen Jüdinnen und Juden im Osten Jiddisch. Deutsch, Latein,
Französisch und Englisch eignete er sich im Selbststudium an. Nach dem Besuch der
Elementarschule machte er sich im Herbst 1743 auf den Weg nach Berlin, wo von den
damals rund 100.000 Einwohnern ca. 2.000 Juden waren. Mendelsohn war der erste Jude,
der sich durch seine Gelehrsamkeit auch in der nichtjüdischen deutschen Öffentlichkeit
einen Namen machte. Sein Auskommen verdiente er bei dem Seidenfabrikanten Isaak
Bernhard, bei dem er zunächst als Hauslehrer, dann als Buchhalter, Geschäftsführer und
schließlich als Teilhaber des Unternehmens beschäftigt war.
Moses war in Berlin nur geduldet, ohne jegliche Rechte und kann jederzeit aus der Stadt
gewiesen werden. Der dort residierende Friedrich II. vertrat zwar nach außen den Grundsatz,
jeder könne „nach seiner Facon selig werden“. Nach außen aber hielt er die Juden unter
straffer staatlicher Kontrolle. Michael Graetz spricht im Blick auf das Preußen jener Zeit zu
Recht von einer „argwöhnische(n) Politik der Bevormundung der Juden“. 16
Um die Juden aus ihrer Paria-Rolle zu befreien, setzte Mendelsohn auf Bildung. Es wurden
jüdische Schulen gegründet, an denen Jungen und Mädchen nach modernen pädagogischen
Methoden die Lehren des Judentums, aber auch Deutsch, Französisch, Mathematik und
Geschichte lernten. Das Alte Testament wurde erstmals ins Deutsche übersetzt.
Kurioserweise druckte man das Werk in hebräischen Buchstaben, weil viele Juden nur diese
lesen konnten. Der Preis für die Emanzipation der Juden aber war oft ihre Assimilation. Viele
Juden passten sich nicht nur kulturell, sondern auch religiös an. So traten die Kinder
Mendelssohns, mit Ausnahme seines ältesten Sohnes, alle zum Christentum über.
 Moses Mendelssohn selbst blieb beidem treu: Der Aufklärung und dem gesetzestreuen
Judentum. Beide Aspekte wurden bei ihm zusammengehalten durch eine „natürliche
Religion“, nach der es einige „ewige Wahrheiten“ gibt, die jedem Menschen einsichtig sind
13
Vgl. F. Battenberg, Bd.1, S. 180-184.
14
So der Buchtitel des Standardwerkes über die Judenemanzipation von J. Katz, Frankfurt/M. 1986.
15
In diesem Teil schöpfe ich aus einem älteren Vortrag, den ich 2004 im Rahmen einer Lehrerfortbildung in Speyer hielt: Das
Judentum und die Toleranzfrage; teilweise abgedruckt in Unterrichts-Materialien Deutsch, Sek. II, Ergänzung 27 zu ihrem
Abonnement 7291-27, (ohne Ort und Jahr) S.36ff.
16
Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd.1, S. 252
und die deshalb universal gelten. Zu ihnen gehören z.B. die Existenz und die Einheit Gottes,
aber auch die Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Neben diesen Vernunftwahrheiten
gibt es nach Mendelsohn aber noch Glaubenssätze, die ihre Geltung einem Offenbarungsakt
verdanken. Offenbarung aber wendet sich immer an eine bestimmte Menschengruppe, ist
also partikular, d.h. von Volk zu Volk und von Religion zu Religion verschieden. Diesen
offenbarten Wahrheiten fehlt die unmittelbare, intuitive Überzeugungskraft der natürlichen
Vernunftwahrheiten. Sie kennen vielleicht den Satz von Gotthold Ephraim Lessing, dass
„zufällige(n) Geschichtswahrheiten“ nie der Beweis von „notwendigen Vernunftwahrheiten“
werden können.17 In dieser Sache waren sich die beiden Denker, die sich 1753 angeblich
beim Schachspielen kennengerlernt hatten, einig. Das zeigt ein Zitat Mendelsohns, das
Lessing sicher auch hätte unterschreiben können:

„Da alle Menschen von ihrem Schöpfer zur ewigen Glückseligkeit bestimmt sein
müssen, so kann eine ausschließliche Religion nicht die wahre sein. - Eine
Offenbarung, die allein die seligmachende sein will, kann nicht die wahre sein, denn
sie harmoniert nicht mit den Absichten des allbarmherzigen Schöpfers.“ 18

Es ist genau diese Erkenntnis eines religiösen Pluralismus, die Lessing durch die Ringparabel
in seinem vielleicht bekanntesten Theaterstück zum Ausdruck bringt. Durch „Nathan der
Weise“ setzte der Dichter 1779 seinem jüdischen Freund, dem er vieles in philosophischer
und religionswissenschaftlicher Hinsicht verdankt, ein bleibendes Denkmal.

C. VON DER AUFKLÄRUNG BIS ZUM KAISERREICH


Die Aufklärung setzte sich anfangs nur bei einem kleinen Teil der jüdischen Bevölkerung
durch. Gerade in kleinen Landgemeinden fand die Haskala - so nannte man diese Strömung
damals – fast gar keine Resonanz. Allerdings entstand in den Städten eine neue Elite, die es
in Sachen Bildung durchaus mit dem traditionellen Rabbinat aufnehmen konnte. In der
sog. „Wissenschaft des Judentums“, einer der einflussreichsten intellektuellen Strömungen
des 19. Jahrhunderts, begann man sich zu öffnen für die Idee einer historisch-kritischen
Erforschung der jüdischen Quellen. Eine Tendenz, der sich auch orthodoxe Kreise auf Dauer
nicht entziehen konnten. Die innerjüdische Reformbewegung hinterließ ihre Spuren nicht
nur bei der Schriftauslegung, sondern auch bei der Gestaltung der Gottesdienste. So wurde
neben dem Hebräischen auch die Landessprache in der Liturgie zugelassen, ebenso waren
Musikinstrumente nicht länger verpönt. In Mannheim, wo es vor der Shoa noch zwei
Synagogen gab, eine liberale und eine orthodoxe, nannte man die einen die „Örgler“ und die
anderen die „Nörgler“. Nicht wenige Juden fanden, dass die Liberalen es in mancher Hinsicht
übertrieben mit ihrer Anpassung an die christliche Mehrheitsgesellschaft. Die Bar Mitzwa
nannte man nun jüdische Konfirmation, ganz radikale Vertreter des Reformjudentums
wollten gar den Schabbat auf den Sonntag verlegen. 19 Der Druck von außen, sich nun endlich
der sichtbaren Zeichen einer jüdischen Sonderexistenz zu entledigen, konkret: nun endlich
auf die angeblich veralteten und überflüssigen Zeremonialgesetze zu verzichten, wuchs. Die
Möglichkeit der Emanzipation erhöhte sukzessive den Druck zur Assimilierung. Es war wie so
oft in der Geschichte: die Minderheit wird nur dann geduldet, wenn sie nicht mehr auffällt.
Pluralismus sieht eigentlich anders aus!
17
G.E. Lessing: Beweis des Geistes und der Kraft, SW 13, S. 5,7.
18
https://www.zitate.eu/autor/moses-mendelssohn-zitate/178340 (abgerufen, 17.2.2021)
19
Einer der Vorkämpfer war Rabbiner Samuel Holdheim, dessen Vorschlag Dutzende von Gemeinden v.a. in den USA
folgten. Vgl. zu dieser Thematik: K.M. Olitxky: The Sunday-Sabbath Movement in American Reform Judaism: Strategy or
Evolution? http://americanjewisharchives.org/publications/journal/PDF/1982_34_01_00_olitzky.pdf.
Obwohl große Teile des deutschen Bürgertums die Ideen der Aufklärung verinnerlicht
hatten, ließ die Gleichstellung der Juden noch viele Jahrzehnte auf sich warten. Ein
entscheidender Impuls kam von außen: Die Französische Nationalversammlung räumte
1791 erstmals den Juden gleiche Rechte ein. Indem der Code Napoleon (1804) in
Deutschland von den mit Frankreich paktierenden Rheinbundstaaten übernommen wurde,
kamen auch deutsche Juden in den Genuss dieser Gleichstellung. 1812 schloss sich auch
Preußen an, wenngleich mit vielen Einschränkungen. Dies ist die historische Situation, in der
einer der größten deutschen Dichter aufwächst. [Die Rede ist von…]

3. Heinrich Heine: Assimilant und Revolutionär


Er war das älteste von vier Kindern des Tuchhändlers Samson Heine und seiner Frau Betty.
Sein Geburtsdatum ist in der Forschung umstritten, sicher scheint aber seine Beschneidung,
die der damalige Landesrabbiner im Februar 1798 in die Gemeindebücher eingetragen hatte.
Heine wurde zuhause im Geist der jüdischen Aufklärung erzogen. Seine Schulbildung
erhielt er einem katholischen Lyzeum in Düsseldorf, wo er einer der ersten jüdischen Schüler
war. 1819 begann der junge Heine ein Jurastudium, das er im Juli 1825 mit dem Doktor
der Rechte abschloss. Schon als Schüler hatte er zu dichten angefangen und gerade der
junge Heine beschäftige sich immer wieder intensiv mit dem Judentum. So begann er 1824
mit dem Roman „Der Rabbi von Bacherach“, der freilich Fragment blieb. Dass er sich im Jahr
darauf taufen ließ, hat nichts mit einer Abkehr vom Judentum zu tun, vielmehr wollte er mit
diesem Schritt seine Chancen auf eine Anwaltskanzlei in Hamburg verbessern. Doch die
Hoffnungen, dass der Taufschein für ihn zu einem „Entré Billet zur Europäischen Kultur“
würde,20 wie er das später formulierte, zerschlugen sich schnell wieder. Frustriert musste er
feststellen, dass er in Deutschland immer wieder wegen seiner jüdischen Herkunft
benachteiligt wurde. In einem Brief, geschrieben schon vier Jahre vor seiner Auswanderung
nach Frankreich, schrieb er, dass es ihn sehnlichst dränge, dem deutschen Vaterland
Lebewohl zu sagen. Als Grund gibt er an: „Minder die Lust des Wanderns als die Qual
persönlicher Verhältnisse (z.B. der nie abzuwaschende Jude) treibt mich von hinnen.“ 21 Hinzu
kamen seine politischen Aktivitäten, die seiner Karriere nicht minder abträglich waren wie
sein Judentum. Heine setzte sich zeitlebens für das ausgebeutete Proletariat ein und
unterhielt freundschaftliche Beziehungen zu Karl Marx und Friedrich Engels. Viele Jahre litt
er unter den Folgen der Zensur. Von seiner Heimat frustriert, zugleich aber auch fasziniert
durch die Vorgänge während der Julirevolution 1830 in Frankreich, beschloss er 1831
endgültig nach Paris umzuziehen.
In seinem vielleicht bekanntesten Stück „Deutschland ein Wintermärchen“ (1844) erkennt
man nicht nur seinen „libertären und hedonistischen Sozialismus“, 22 sondern auch seine
Religionskritik, die in diesen Jahren sein Denken prägte:
„Ein neues Lied, ein besseres Lied,
O Freunde, will ich euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.
Wir wollen auf Erden glücklich sein,
Und wollen nicht mehr darben;

20
Prosanotizen. zit. nach: DHA, Band 10, S. 313.
21
Heinrich Heine: Prinzessin Sabbat, hg. und kommentiert von P. Peters, Frankfurt/M., 1997, S.112.
22
J. Habermas: Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland. In: Ders.: Eine Art Schadensabwicklung
(Kleine politische Schriften VI). Frankfurt/M. 1987, S. 52, Fn. 24.
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
Was fleißige Hände erwarben.
Es wächst hienieden Brot genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder.
Ja, Zuckererbsen für jedermann,
Sobald die Schoten platzen!
Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen.“

Nur ein paar Jahre später aber, im Nachwort zum „Romanzero“ vom September 1851,
klang Heinrich Heine schon deutlich milder, was die Religion angeht. Wie der verlorene Sohn
sei er „zurückgekehrt zu Gott“. Einem Gott, wie er schreibt, „der zu helfen vermag“, weshalb
er meinte, auch an dessen Personhaftigkeit festhalten zu müssen. Doch auch nach dieser
Wende, darauf legt der Dichter wert, sei er „frei geblieben von jeder Kirchlichkeit“. 23 Nur
wenige Monate später brachte er in seinem Testament ähnliches zum Ausdruck:

„Seit vier Jahren habe ich allem philosophischen Stolze entsagt und bin zu religiösen
Ideen und Gefühlen zurückgekehrt; ich sterbe im Glauben an einen einzigen Gott, den
ewigen Schöpfer der Welt, dessen Erbarmen ich anflehe für meine unsterbliche Seele.“

In diesen seinen letzten Jahren, als sich sein Gesundheitszustand massiv verschlechterte und
er kaum noch das Bett verlassen konnte [Hinweis auf das Bild!], schrieb er die „Hebräischen
Melodien“, in denen er sein Schicksal in der „Matrazengruft“ mit dem der Juden im Exil
verglich. Dass auch diese Lieder wie schon früher der „Rabbi von Bacharach“ Fragment
blieben, könnte Absicht gewesen sein, mutmaßt Paul Peters.24 Denn gerade im
Fragmentarischen kommt die Unerlöstheit der Welt so trefflich zu Ausdruck. Die
Diesseitigkeit, das Ernstnehmen des Materiellen, das nicht nur dem Sozialismus, sondern
eben auch dem Judentum eignet, war Heine wichtig: „Der liebe Gott hat die Welt in sechs
Tagen erschaffen, aber es ist auch eine Arbeit danach.“25
Die Person Heinrich Heines steht für etwas, was auch für viele andere Jüdinnen und Juden
der Moderne typisch ist: Gemeint ist seine „Bindung an das Judentum als Tradition, als
Kultur- und Solidargemeinschaft“, die über das Judentum als Religion weit hinaus geht. Diese
war bei ihm als Konvertit und Assimilant vielleicht „noch stärker, heftiger und intensiver als
die eines noch konfessionell Gebundenen“.26

D. VOM KAISERREICH BIS ZUR SHOAH


Diese Entkoppelung von Judentum und Religion hat freilich auch ihre Schattenseite, ist sie
doch zugleich eine der Voraussetzungen für den modernen Rasseantisemitismus, der im 19.
Jahrhundert seine erste Blüte erlebt. Unter dem Einfluss des Darwinismus wurde die Biologie
damals zur Leitwissenschaft, was sich auch auf die Argumentation der Judenfeinde
auswirkte: Um ihren Ressentiments einen möglichst wissenschaftlichen Anstrich zu geben,
beklagten sich diese nun nicht mehr in erster Linie über das Judentum als Religion.

23
Zit. nach dem Wikipedia-Art. „Heinrich Heine“ (aufger. am 27.1.2021).
24
A.a.O., S.15.
25
A.a.O., S.17.
26
P. Peters im Vorwort zu Heinrich Heine: Prinzessin Sabbat, S. 13.
Vorgeworfen wird seinen Angehörigen nun die Zugehörigkeit zur angeblich minderwertigen
Rasse der Semiten. Ganz neu war diese Argumentation übrigens nicht: Schon Luther hatte
abfällige Äußerungen über das Blut der Juden parat und im Spanien der Reconquista gab
es Blutreinheitsgesetze („Limpieza de sangre“), durch die sich die christliche Mehrheit von
den konvertierten Juden, den Marranen, abgrenzte.
Mit der sich verschärfenden sozialen Frage wird im 19 Jahrhundert ein weiteres Motiv der
Judenfeindschaft wiederbelebt, das wir schon aus dem Mittelalter kennen und das weder
religiös noch rassisch begründet ist: Der Vorwurf der jüdischen Geldgier. Weil viele Juden -
bei weitem nicht alle, vielleicht nicht einmal die Mehrheit - im Handel tätig waren, galten sie
pauschal als „Kapitalisten“. In einer seiner Frühschriften schrieb K. Marx, der wie wir
wissen selber Jude war, „der weltliche Kultus des Juden“ (ist) der Schacher … sein weltlicher
Gott (ist) das Geld“.27
Mit den beiden zuletzt genannten Vorwürfen gegenüber „den Juden“ können wir im Grunde
unmittelbar ins Dritte Reich überblenden. Denn auch die Nationalsozialisten kämpften
einerseits für die Reinerhaltung der arischen Rasse. Andererseits instrumentalisierten sie
die Wut der während der Weltwirtschaftskrise verarmten Menschen gegen die vermeintlich
Schuldigen an diesem Desaster: „die Juden“.
Doch bevor wir anhand einer weiteren Biografie einen Blick auf die finsterste Epoche der
1700 Jahre Judentum in Deutschland werfen, müssen wir ein positives Detail wenigstens
noch andeuten: Zwar ist es richtig, dass in der Weimarer Republik die reaktionären und
antimodernistischen Kräfte immer mehr an Einfluss gewinnen – und damit eben auch der
Antisemitismus. Es ist aber auch nicht abzuleugnen, dass Deutschland eine Blüte der Kunst
und Literatur erlebt, an der gerade Jüdinnen und Juden einen nicht unerheblichen Anteil
haben. Eine kurze Zeit schien es so, als könnten die „Außenseiter“ doch noch zu „Insidern“
werden.28 Jeder kennt heute noch Schriftsteller wie Elke Lasker-Schüler, Franz Werfel
oder Alfred Döblin. Unter den Komponisten machten sich Alfred Schönberg, Hans
Eisler und Kurt Weil einen Namen. Und was wäre die deutsche Geistesgeschichte ohne
Leute wie Walter Benjamin, Ernst Bloch oder Sigmund Freud? Fast noch auffälliger
war der Erfolg jüdischer Naturwissenschaftler: Von den neun Nobelpreisen, die zwischen
1918 und 1933 deutsche Forscher erhielten, gingen fünf an Juden. Der erste von ihnen war
1921 der Entdecker der Relativitätstheorie: Albert Einstein.
Eigentlich reiht sich unsere nächste Biografie ganz problemlos in diese Reihe großer Namen
ein. Nur in einer Hinsicht stellt sie eine Besonderheit dar: Es handelt sich um eine Frau. Die
Rede ist von…

4. Hannah Arendt: Deutsche und Exilantin29


Hannah Arendt ist 1906 in Hannover geboren, aber dann in Königsberg, der Hauptstadt
Ostpreußens, aufgewachsen. Ihre Eltern gehörten zur assimilierten jüdischen Oberschicht.
Nachdem sie schon mit sieben Jahren ihren Vater verlor, ließ ihre Mutter ihr eine sehr solide
Bildung zuteilwerden. Im liberalen Judentum durften schon früh Mädchen höhere Schulen
besuchen. Das war damals unter Nichtjuden in Deutschland alles andere als
selbstverständlich. Man muss sich klar machen: Die erste jüdische Rabbinerin wurde ein
viertel Jahrhundert früher ordiniert als die erste evangelische Pfarrerin. 30 Ich erwähne das,
weil sich in vielen Köpfen das Klischee festgesetzt hat, wie schlecht das Judentum seine
27
„Zur Judenfrage“ (1844), Zit. nach: A. Barkai: „Der Kapitalist“, in: Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus, Vorurteile
und Mythen, Augsburg 1999, S. 267.
28
Vgl. Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd.4, S. 167ff.
29
Diese Biografie geht in weiten Teilen zurück auf: M. Landgraf / S. Meißner: Judentum, S.119.
30
Die Ordination von Regina Jonas fand 1935 statt, die von Elisabeth Haseloff erst 1958.
Frauen behandelt. Es mag in ultra-orthodoxen Gemeinden traurige Fälle geben wie der von
Debora Feldman, deren Buch „Unorthodox“ ein großes mediales Echo ausgelöst hat. Aber es
ist auch wichtig, sich klar zu machen, dass diese Strömungen heute nur ca. 10% des
Judentums weltweit ausmachen. In der öffentlichen Wahrnehmung sind diese frommen
Kreise leider deutlich überrepräsentiert, auch in unseren Schulbüchern. Wie kamen wir zu
diesem kleinen Exkurs? Durch die hervorragende Ausbildung von Hannah Arendt, die ein
Stück weit typisch ist für jüdische Mädchen ihrer Zeit.
Nach einem glänzenden Abitur studierte sie in Marburg, Freiburg und Heidelberg
Philosophie, Altgriechisch und evangelische Theologie. Dabei beeindruckte sie besonders die
Philosophie Martin Heideggers, mit dem sie als Studentin auch eine kurze Affäre hatte. Am
Beispiel dieses Denkers bekam Arendt schmerzlich vor Augen geführt, wie anfällig die
geistigen Eliten Deutschlands für den heraufziehenden Nationalsozialismus waren. Es war
diese Verführbarkeit des Menschen für totalitäre Ideen, an der sie sich Zeit ihres Lebens
abarbeitete.
Politisch kritischer war ihr Doktorvater Karl Jaspers, bei dem sie sich mit gerade einmal 22
Jahren mit einer Arbeit über den Kirchenvater Augustin promovieren konnte. Danach
beschäftigte sie sich ausführlich mit dem Leben der jüdischen Außenseiterin Rahel
Varnhagen, das ihr deutlich machte, dass sein Glück nur findet, wer trotz Anfeindungen zu
sich selbst steht. Diese Standfestigkeit war auch sehr bald vonnöten, denn die frisch
verheiratete Hannah Arendt musste schon wenige Monate nach der Machtergreifung Hitlers
ins Ausland fliehen. Mit knapper Not entkam sie über Umwege nach Paris. Doch wurde sie
von dort nach dem Einmarsch der Deutschen 1940 wie viele badische, saarländische und
pfälzische Jüdinnen und Juden auch in das südfranzösische Lager Gurs verschleppt. Nach
der Kapitulation Frankreichs nutzte sie das Chaos des Zusammenbruchs und floh auf
abenteuerlichen Wegen über Marseille nach New York, wo sie von 1941 bis zu ihrem
Lebensende als hoch geachtete Wissenschaftlerin und Publizistin lebte.
Nun fragen Sie sich vielleicht, warum ich eine Person ausgesucht habe, die so viele
Jahrzehnte in den USA lebte. Aber in gewisser Weise ist gerade dieses Schicksal typisch für
das Judentum in Deutschland: Die meisten der ca. 500.000 Jüdinnen und Juden, die vor der
Machtergreifung Hitlers hier lebten, wurden während der Nazizeit entweder umgebracht
oder verließen das Land. Insofern steht Hannah Arendt auch für den Bruch, den die Shoa für
das Judentum in Deutschland bedeutete. 1945 schrieb der große liberale Gelehrte Leo Baeck
im Englischen Exil die resignierten Sätze: „Für uns Juden aus Deutschland ist eine
Geschichtsepoche zu Ende gegangen. Eine solche geht zu Ende, wenn immer eine Hoffnung,
ein Glaube, eine Zuversicht endgültig zu Grabe getragen werden muss. Unser Glaube war es,
dass deutscher und jüdischer Geist auf deutschem Boden sich treffen und durch ihre
Vermählung ein Segen werden können. Dies war eine Illusion - die Epoche der Juden in
Deutschland ist ein für allemal vorbei.“31
Es gibt heute wieder ein Judentum in Deutschland, Gott sei Dank! Aber es handelt sich nicht
um das gleiche Judentum wie vor dem Dritten Reich, das muss uns auch klar sein. Bevor wir
uns weiter das Nachkriegsdeutschland anschauen, bleiben wir noch kurz bei Hanna Arendt.
Denn es gibt ein weiteres Moment in ihrer Biografie, das man als exemplarisch für das
Judentum ihrer Zeit bezeichnen könnte: Die Shoa ließ sie zeitlebens nicht mehr los.
So beschäftigte sich das erste Buch, das Hannah Arendt in ihrer neuen Heimat schrieb, mit
den Ursprüngen totaler Herrschaft (1951). 32 Ihr eigenes Schicksal, aber auch gründliches

31
Leo Baeck nach seiner Befreiung aus dem KZ Theresienstadt, New York 1945; zitiert in Nachum T. Gidal: Die Juden in
Deutschland von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik, München1988, S. 426.
32
Vgl. hierzu K. Sontheimer: Hanna Arendt, München 2. Aufl. 2005, S. 76ff.
Nachdenken führte sie zu der Überzeugung, dass Freiheit keine Selbstverständlichkeit ist,
sondern immer wieder neu erkämpft und durch politische Institutionen abgesichert werden
muss. Eine Lehre auch dies für uns Nachgeborenen. Neben diesem Werk erregten besonders
ihre Reportagen Aufsehen, die sie über den Prozess gegen Adolf Eichmann, Hitlers
Beauftragten zur „Endlösung der Judenfrage“, schrieb. Es war die „Banalität des Bösen“, die
„Dummheit“ und „schiere Gedankenlosigkeit“, die sie zutiefst schockierte. 33
Das geistige Ringen von Hannah Arendt ist nicht ohne ihre jüdischen Wurzeln zu verstehen,
die sie nie verleugnete. Ihr Außenseiter-Status, ihr Paria-Dasein, wie sie es nannte, war aber
nicht nur Last, sondern erlaubte ihr - ganz ähnlich wie wir das auch schon bei H. Heine
festgestellt haben - eine gewisse Unabhängigkeit im Denken und Urteilen. Sie ging nicht mit
der Masse, schwamm nicht mit dem Strom. Das machte sie zu einer moralischen Instanz in
Europa wie in den USA, wo sie 1975 einem Herzinfarkt erlag.

E. VON DER SHOAH BIS IN DIE 90ER- JAHRE34


Von der halben Million deutscher Jüdinnen und Juden überlebten in Deutschland nur etwa
17.000. Die mit Abstand meisten von ihnen ließ man in Ruhe, nämlich 15.000, weil sie mit
einem Nichtjuden bzw. einer Nichtjüdin verheiratet waren, nur 2.000 konnten sich vor den
Nazis verstecken. Fünf Jahre später, also um 1950 stieg die Zahl der Juden in Deutschland in
nur kurzer Zeit auf 37.000 an. Der Grund dafür waren die sog. „Displaced persons“:
Holocaust-Übelebende, die aus Ost-Europa zuwanderten. Sie kamen, weil ihre Häuser in den
ehemaligen Ghettos zerstört waren und sie dort keine Bleibe mehr hatten. Außerdem waren
alle ihre Freunde und Verwandten tot oder vermisst. Warum sollten sie also bleiben?
Außerdem konnte man als jüdische DP gewisse Privilegien erwarten, insbesondere in der
amerikanischen Besatzungszone. Schließlich herrschte in den ersten Nachkriegsjahren in
Osteuropa eine schreckliche antisemitische Atmosphäre, insbesondere in Polen.
Eigentlich war Deutschland als Land der Mörder für Jüdinnen und Juden keine Option,
dauerhaft zu bleiben. Daher wollten die meisten „Vertriebenen“ so schnell wie möglich nach
Palästina auswandern. Doch war dieser Plan nicht so einfach zu verwirklichen, da Palästina
bis 1948 das Territorium des britischen Empire war und die Engländer verfolgten bereits
während des Krieges eine sehr restriktive Einwanderungspolitik, da die Konflikte zwischen
Juden und Palästinensern zunahmen. Zwischen 1945 und 1950 lebten in Deutschland bis zu
200.000 jüdische DPs, eine unglaubliche Zahl. 35 Ihre Lebensbedingungen waren sehr
schwierig: Sie mussten zumindest anfangs in Lagern leben, wo sie hinter Stacheldraht und
auch sonst unter erbärmlichen Verhältnissen leben mussten. Nach der Staatsgründung Israel
(1948) machten sich dann viele auf den Weg ins das Land der Väter, aber immerhin rund
12.000 jüdische DPs wollten in Deutschland bleiben. 36 Diese Zahl war nicht überwältigend,
aber ihre demografischen Merkmale waren ideal für den Beginn eines neuen Lebens: Es
handelte sich hauptsächlich um junge Männer mit einem niedrigen Durchschnittsalter. Diese
heirateten zehnmal häufiger als andere Deutsche und bekamen viermal mehr Babys.
Allerdings gab es im Zusammenleben mit den schon immer hier lebenden Jüdinnen und
Juden immer wieder Spannungen: Beide Gruppen unterschieden sich in ihrer Kultur,
Sprache, Mentalität und Biographie. Die bereits schon länger hier Lebenden waren
größtenteils assimiliert und oft mit Nichtjuden affiliiert. Die Juden aus Osteuropa hingegen,
33
A.a.O., S. 195ff.
34
Dieser Teil beruht im Wesentlichen auf einem bislang unveröffentlichten Vortrag, den ich am18.03.2017 in der
Pfalzakademie in Lambrecht vor einem englischsprachigen Publikum gehalten habe: „Jews in Germany after World War II“.
35
M. Richarz: Juden in der BRD und in der DDR seit 1945, in: Jüdisches Leben in Deutschland seit 1945, M. Brumlik u,a,
(Hg.), S. 17.
36
Ebd.
die Vertriebenen, kamen oft aus einem traditionellen jüdischen Milieu, sprachen teil jiddisch
und hatten in ihren Synagogen eine andere Liturgie als die Deutschen.
Obwohl sich die meisten Juden in Deutschland also nicht unbedingt als deutsche Juden
fühlten und viele immer noch über Auswanderung nachdachten, bestand ein wachsendes
Bedürfnis. Sich landesweit zu organisieren. Dies führte zur Gründung des „Zentralrats der
Juden in Deutschland“ (1950). Die Politik der Versöhnung mit dem Staat Israel, die
Bundeskanzler Konrad Adenauer vorantrieb und die 1952 in ein Reparationsabkommen
mündete, führte auch zu einer Normalisierung des jüdischen Lebens in Deutschland.
Jüdinnen und Juden saßen nicht mehr „auf gepackten Koffern“. Diese Entwicklung führte in
den 1950er und 60er Jahren sogar zu einer gewissen Rückwanderung. Ein nicht
unbedeutender Teil von ihnen hatte einen sozialistischen Hintergrund und wollte in der DDR
beim Wiederaufbau eines neuen Deutschlands helfen. 37 Die jüdische Gemeinde in
Westdeutschland hingegen war von den 1950er bis 1970er Jahren eher geprägt durch einen
gewissen Konservatismus. Auch hängte man aus Vorsicht seine Religionszugehörigkeit nicht
unbedingt an die große Glocke. In den 1980er Jahren hatten die jüdischen Gemeinden
etwa 30.000 registrierte Mitglieder, während die Gesamtzahl der Juden auf 40.000 bis
50.000 geschätzt wurde.38
Doch im Laufe der Zeit ließ diese Zurückhaltung nach. Die im Land geborene oder
aufgewachsene Nachkriegsgeneration akklimatisierte sich immer mehr. Man gründete
eigene gemeinnützige Organisationen wie Krankenhäuser, Pflege- oder Altersheime.
Jüdische Schulen und Universitäten gab es anfangs noch wenige. Eine Ausnahme war das
„Zentrum für Jüdische Studien Heidelberg“, die 1979 vom Zentralrat der Juden gegründet
wurde. Da diese Institution anfangs zwar Religionslehrer, aber noch keine Rabbiner
ausbildete, mussten diese aus den USA, aus Israel oder aus Osteuropa „importiert“ werden.
Was in den Nachkriegsjahren im deutsch-jüdischen Leben auch fehlte, war die innere
Vielfalt früherer Generationen. Jahrzehntelang gab es in Deutschland nur
„Einheitsgemeinden“, in die jede(r) ging, egal wie fromm jemand war. Dass sich das
Judentum ausdifferenzierte zwischen Liberalen und Orthodoxen, wie das vor der Nazizeit
üblich war, dazu gab es lange Zeit nicht genug Jüdinnen und Juden in Deutschland.
Außerdem hätte eine solche Aufspaltung als Verlust der Solidarität interpretieren können -
etwas, was niemand wirklich wollte nach all dem, was passiert war.

F. VON DEN 90ER- JAHREN BIS HEUTE


Die Zahl der Juden blieb viele Jahre lang mehr oder weniger gleich. Erst in den 1990er-
Jahren, als M. Gorbatschow den „Eisernen Vorhang“ öffnete, kam Bewegung in die Szene:
Zwar gingen die meisten Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Israel, aber immerhin
rund 60.000 kamen auch nach Deutschland. Durch diese sog. „Kontingentflüchtlinge“
leben heute wieder schätzungsweise 140.000 Jüdinnen und Juden in unserem Land. Damit
hat Deutschland nach Frankreich und Großbritannien die drittgrößte jüdische Gemeinde in
Westeuropa.
Zwar stellte die Integration der Neuankömmlinge die jüdischen Gemeinden vor große
Herausforderungen. Viele von ihnen kamen mit leeren Händen und ohne solide Kenntnisse
der deutschen Sprache, was die Kommunikation mit den Alteingesessenen erschwerte. Auch
war es um das Wissen „der Russen“ über die eigene Religion eher schlecht bestellt. Denn ein
jüdisches Leben zu führen war in der ehemaligen Sowjetunion, einem atheistischen Regime,
nicht unbedingt gerne gesehen. Doch aus dem Rückblick überwiegt die Freude über diese
37
A.a.O., S. 18f.
38
A.a.O., S. 22.
Entwicklung, führte sie doch zu einer spürbaren Renaissance des jüdischen Lebens in
Deutschland. In vielen Großstädten gibt es wieder eine interessante jüdische Kultur mit
koscheren Geschäften, Cafés und Theatern. Mittlerweile gibt es auch Hochschulen in
Deutschland, wo Rabbiner ausgebildet werden: Seit 2012 das „Zentrum Jüdische Studien
Berlin-Brandenburg“, in Potsdam das liberale Abraham Geiger Kolleg, sowie Die Potsdam
School of Jewish Theology. Im Jahr 2009 wurde in Berlin auch das orthodoxe
Rabbinerseminar, das urspr. 1873 von Esriel Hildesheimer gegründet wurde, wieder eröffnet.
Last but not least sei das konservative Zacharias Frankel College in Berlin erwähnt, das es seit
2013 gibt.
Sie merken an diesen Entwicklungen: Ein Stück deutsch-jüdische Normalität kehrt zurück -
mehr fast 80 Jahre nach dem Holocaust. Die zunehmende Zahl jüdischer Menschen hat das
Leben der Gemeinden verjüngt und auch vielfältiger gemacht. Es gibt neben den
Einheitsgemeinden wieder liberale und orthodoxe Kongregationen, stellenweise auch wieder
konservative.

Eigentlich gehörte hier, ans Ende meines Vortrags noch eine fünfte Biografie, die eines
„Russen“ oder einer „Russin“. Ich hätte sogar schon einige Ideen, über wen man da
schreiben könnte: Petr Kupershmidt etwa, den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden in
Karlsruhe. Oder über den Vorsitzenden der jüdischen Kultusgemeinde der Pfalz,
Israil Epstein. Er kommt tatsächlich aus Russland, seine Geschäftsführerin, Marina Nikiforova
stammt aus der Ukraine. Zugegeben, diese Menschen sind nicht deutschlandweit bekannt,
aber jeder und jede von ihnen könnte ein Buch schreiben über das, was er bzw. sie erlebt
hat. Das weiß ich aus meiner jahrelangen Zusammenarbeit ihnen. Diese Bücher - da bin ich
sicher - wären super spannend! Keine Angst: Sie merken an meinen Konjunktiven „könnte“,
„hätte“ und „wäre“, dass ich mich an dieser Stelle zurückhalten werde. Über vieles kann man
erst mit einem gewissen historischen Abstand sprechen. Die Biografien dieser Zuwanderer
sind - zum Glück! - noch nicht abgeschlossen. Vielleicht sollten wir ihnen noch ein wenig Zeit
gönnen, „den Russen“.

Ich möchte schließen mit einem kleinen, humorvollen Beitrag von - nein, nicht von Wladimir
Kaminer; der würde hier auch passen 39 - sondern von der deutsch-russischen Schriftstellerin
Lena Gorelik. Geboren ist sie 1981 in Sankt Petersburg, nach Deutschland kam sie 1992, sie
lebt heute in München. Rund 30 Jahre nach ihrer Einwanderung schaut sie in einem Essay
zurück. Sie weiß, wovon sie spricht, wenn sie von „den Russen“ redet:

„Und dann waren wir da: diese Russen. Man sagte das so, die Russen, obwohl wir
nicht nur aus Russland, sondern auch aus der Ukraine, Moldawien, Georgien und
manch anderen Ländern kamen und auf diese Unterschiede viel Wert leg(t)en.
Mehr noch: Wir kamen, weil wir Juden waren, auch wenn das – das ist ja bekannt –
nicht für alle galt. Ja, wir brachten auch unsere Familienangehörigen mit, die zum Teil
nicht jüdisch im halachischen Sinne waren, aber umso häufiger die schlimmste
Nebenwirkung der Zugehörigkeit zum jüdischen Stamm kannten: den Antisemitismus.
[…]

39
Am bekanntesten ist Kaminers Buch „Russendisko“, in dem er seine Erfahrungen in Berlin kurz nach seiner Einwanderung
verarbeitet. Einen Überblick über den Beitrag von Schriftsteller*innen mit jüdischen Wurzeln aus der ehemal. UdSSR gibt: N.
Isterheld: Die Russen sind wieder da! Wie russischstämmige AutorInnen den deutschsprachigen Literaturbetrieb erobern,
in: Migration und Gegenwartsliteratur. Der Beitrag von Autorinnen und Autoren osteuropäischer Herkunft zur literarischen
Kultur im deutschsprachigen Raum, M. Aumüller /W. Willms (Hg.), Paderborn 2020, Gegenwartsliteratur, S. 71ff.
Und dann waren sie da: diese Russen. Die, von denen man sich erhofft hatte, dass sie
die jüdischen Gemeinden wieder erblühen lassen. Es lag dem ganzen Prozedere die
absurde und leicht größenwahnsinnige Hoffnung zugrunde, Geschichte ließe sich
übermalen mit schönen bunten Farben. […]
Und dann waren sie da: Sprachen zum großen Teil kein Wort der deutschen Sprache,
betraten zum großen Teil zum ersten Mal einen Gottesdienst in einer Synagoge.
Schlugen die Gebetbücher von der linken Seite her auf und wieder zu, weil sie die
hebräischen Zeichen nicht verstanden, tuschelten in russischer Sprache inmitten
wichtigster Gebete […] Das sollten Juden sein? Man schüttelte erst enttäuscht, dann
entrüstet den Kopf. Es lag eine leicht größenwahnsinnige Hoffnung zugrunde.
Seitdem sind 30 Jahre vergangen, über 200.000 Zuwanderer aus der ehemaligen
Sowjetunion sind als Kontingentflüchtlinge in die Bundesrepublik eingewandert.
Mittelgroße Städte, die teils nur zehn Gemeindemitglieder gezählt hatten, haben jetzt
Angebote für alle Altersgruppen: vom Kindergarten zum Seniorentanz, von
Theatergruppen zu Tora-Studierenden.
Da sind Leben, Geschichte, Opfer- und Schmerzerfahrungen, Definitionen von
Judentum aufeinandergeprallt, da sind Kämpfe entstanden, die sich in
Gemeindewahlen widerspiegelten, da wurde gefochten, gestritten, sich gewundert,
da wurden Köpfe geschüttelt, wahrscheinlich sogar Tränen geweint, kurzum: Da ist
das Leben geschehen. Das blühende Leben, eben alles, was zum Leben gehört. […]
Das jüdische Leben in Deutschland ist erblüht, es blüht womöglich nicht wie
vorgesehen. Es gibt wieder jüdische Kultur in den Gemeinden wie in der nichtjüdischen
Öffentlichkeit, Künstler jeder Sparte, Kulturtage, jüdische Kindergärten und Schulen,
an Hohen Feiertagen gar überfüllte Gottesdienste (in denen immer noch in russischer
Sprache getuschelt wird), es gibt das, was das Jüdische nicht zuletzt ausmacht: die
Lust am Disput, unterschiedliche Gruppierungen, Vorstellungen, religiöse Strömungen
und Politiken.
Es gibt Juden, die in ihrer Heimat den Begriff ‚koscher‘ nicht kannten, und nun die
Kaschrut-Regeln aller Veranstaltungen überprüfen, und es gibt jene, die deshalb in die
Gemeinden gehen, um Freunde und Bekannte zu sehen, auch um ihre Muttersprache,
das Russische, zu hören, einfach, um unter Juden zu sein. Das ist es, das jüdische,
blühende Leben, das in allen Regenbogenfarben strahlt. Und nicht nur in jenen, die
man meinte zu säen.“40

40
Diese Russen, aus: https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/diese-russen/ (abgerufen am 17.1.2021). Zur Vertiefung
sehr zu empfehlen: J. Bertram: Wer baut, bleibt. Neues jüdische Leben in Deutschland, Frankfurt/M. 2008.

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