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0. Hinführung
Mit unserem Rückblick auf 1700 Jahre Judentum in Deutschland möchte ich Ihnen einen
kleinen Einblick verschaffen auf den immensen Reichtum jüdischer Kultur und Wissenschaft,
der in allen Epochen von der Antike bis heute wichtige Impulse für unser Denken und
Handeln lieferte. Die Diskriminierungen und Verfolgungen, unter denen Jüdinnen und Juden
immer wieder zu leiden hatten, bis hin zu einem versuchten Genozid, werden sich dabei
nicht ganz ausblenden lassen. Aber sie sollen in diesem Vortrag nicht im Vordergrund
stehen. Das Jahr 2021 ist zumindest in dieser Hinsicht ein Jahr zum Feiern, an dem wir uns an
all das Positive erinnern sollten, was mit dem Thema Judentum in Deutschland verbunden
ist.
A. DIE ANTIKE
Anlass unseres Jubiläums ist ein Dekret Kaiser Konstantins aus dem Jahre 321, das
im Codex Theodosianus überliefert ist. In ihm heißt es: „Allen Stadträten gestatten Wir durch
allgemeines Gesetz, Juden in die Kurie zu berufen.“ 2 Dass jemand in ein öffentliches Amt
berufen wurde, dafür war im Römischen Reich nicht nur Grundbesitz und ein gewisses
Ansehen der Person Voraussetzung. Man musste auch noch dem Kaiser und den
Staatsgöttern Opfer bringen. Weil für Juden dies jedoch nicht in Frage kam, konnten sie
solche Ämter bis dahin nicht begleiten. Das änderte sich nun durch dieses Dekret, das als
frühester Beleg für die Existenz einer jüdischen Gemeinde nicht nur in Deutschland, sondern
überhaupt nördlich der Alpen, gilt. Eine kontinuierliche Besiedlung lässt sich aber erst
in ottonischer Zeit, also nach der Jahrtausendwende, nachweisen. Die ersten jüdischen
Gemeinden bildeten sich entlang des Rheins. Neben Köln und Trier waren es v.a. die
sog. Schum-Städte Mainz, Worms und Speyer, in denen sich dauerhaft jüdische Leben
nachweisen lässt.3
B. DAS MITTELALTER
Im Hochmittelalter erlebte das Judentum in Deutschland dann eine erste Blütezeit. Durch die
Einwanderung jüdischer Kaufleute aus Italien und Südfrankreich wuchs die Zahl der Juden in
nur einem Jahrhundert von 5.000 auf 20.000.4 In den Städten entstanden Judenviertel, in
denen die Juden ihre eigenen Angelegenheiten wie Steuern, Kultus oder Schule selbst
verwalten durften. Diese Situation änderte sich mit dem Ersten Kreuzzug (ab 1096) unter
Papst Urban II., wo es erstmals zu Pogromen gegen jüdische Gemeinden mit ca. 2000 Toten
kam.5 Als „Kammerknechte“ waren Juden fortan nur noch geduldet, wenn sie der Obrigkeit
einen entsprechenden Obulus entrichteten, die sog. „Reichsjudensteuer“.
1
Die Idee, die deutsch-jüdische Geschichte an exemplarischen Biografien zu skizzieren, verdanke ich dem
Einführungsvortrag von M. Brumlik auf der „Gemeinsamen Fachtagung der KMK und des Zentralrats der Juden in
Deutschland“ am 18. April 2018 in Berlin.
2
Zit. nach B. Beier: Die Chronik der Deutschen, München/Gütersloh, 2007, S. 35.
3
Vgl. dazu M. Toch: Juden im mittelalterlichen Reich, Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 44, 2. Aufl., München 2003,
S.81.
4
A.a.O., S. 6 und 10.
5
A.a.O., S. 56.
Bis Mitte des 12. Jahrhunderts waren Übergriffe gegen Juden eher die Ausnahme, danach
aber nahmen sie zu. Die meisten Opfer gab es mit Abstand bei den Pestpogromen im 14.
Jhd., von denen reichsweit mindestens 400 Gemeinden betroffen waren. 6 Ab dem 4.
Laterankonzil (1215) mussten Juden einen gelben Fleck auf ihrer Kleidung tragen. Viele
berufliche Tätigkeiten waren ihnen verwehrt, so wichen sie auf Geldverleih und Handel aus.
Seitdem galten sie als Ausbeuter und Wucherer. Neben diesen sozialen Ressentiments warf
man ihnen auch vor, Hostien zu schänden und so den Mord an Jesus symbolisch noch einmal
zu verüben. Wenn irgendwo Kinder verschwanden und später dann tot aufgefunden
wurden, wurde auch das gerne den Juden in die Schuhe geschoben [Hinweis auf Bild!].
Besonders an Pessach - so der Vorwurf - sei es zu solchen „Ritualmorden“ gekommen, bei
denen das Blut christlicher Kinder für magische Zwecke missbraucht wurde.
In dieser Zeit gab es auch öfters Zwangsdisputationen, an deren Ende die Alternative stand:
Tod oder Taufe. Viele Juden kamen dem zuvor durch Selbsttötung („Kiddusch ha-Schem“)
oder durch Flucht, meist in Richtung Osteuropa. Dort entstanden im Spätmittelalter jüdische
Gemeinden, die in sprachlicher und religiöser Sicht das Erbe des aschkenasischen Judentums
bewahrten.7
In diese schwierige Zeit fällt das Leben eines jüdischen Wanderdichters, dessen Biografie
zeigt, dass Juden selbst in Zeiten der Verfolgung immer wieder wichtige Beiträge zur
deutschen Kultur leisteten.
6
A.a.O., S. 61.
7
Aschkenas hieß auf hebräisch urspr. ‚deutsch‘ im Unterschied zu sepharad = ‚spanisch‘. Die Begriffe wurden aber in der
Folge ausgeweitet.
mehr an den Höfen singen, sondern - wie Juden das seit Jahrhunderte eben tun - mit Bart
und langem Mantel, den Hut tief in der Stirn, demütig weiterziehen:
„ Keiner soll, nur weil er Jude ist, zertreten werden, solange er sich nichts hat
zuschulden kommen; und keine Religion, welche immer es auch sei, gebe ihn der
Schmach preis. Auch sollen ihre Synagogen und Häuser nicht verbrannt werden und
auch sonst kein Unrecht und ohne Grund beschädigt werden.“12
In religiöser Hinsicht waren wir zu Beginn der Neuzeit aber noch immer weit entfernt von
dem, was wir später Toleranz nennen. Das zeigt beispielsweise der sog. Pfefferkorn-Streit
Anfang des 16. Jahrhunderts, benannt nach dem getauften Juden Johannes Pfefferkorn, bei
dem die Kölner Dominikaner eine Verbrennung des Talmuds und anderer rabbinischer
Schriften forderten. Sie lagen damit ganz auf der Linie des Reformators Martin Luther, der
in seinen Spätschriften nicht nur eine Verbrennung der Schriften, sondern auch der Häuser
und Synagogen der Juden forderte. Im Pfefferkorn-Streit bezog Luther freilich noch Stellung
gegen die Bücherverbrennungen. Zwar hielt er auch damals schon die Juden für
8
Süßkind von Trimberg, Manessische Liederhandschrift, 13. Jh. Nachdichtung: Lothar Jahn 2008; zit. nach:
http://www.minnesang.com/Saenger/suesskind.html.
9
M. Toch, S. 12f.
10
M. Toch, S. S.65.
11
F. Battenberg, Bd.1, S.206.
12
F. Battenberg, Bd.1, S. 175.
Gotteslästerer, aber er war überzeugt, Gott werde ihre Ablehnung Christi „von innen“
überwinden. Als sich diese Hoffnungen auf eine Bekehrung der Juden nicht erfüllten, schlug
seine Stimmung in Hass um. Immerhin gab es eine Reihe von Humanisten, die sich in diesem
Streit gegen die Dominikaner positionierten und sich für das Recht einer freien
wissenschaftlichen Diskussion einsetzten. Zu ihnen gehörte Johannes Reuchlin, der über
erstaunliche Kenntnisse des Hebräischen und des jüdischen Schrifttums verfügte. [Hinweis
auf das Bild: gespaltene Zunge Lügner!] Obwohl der Pfefferkorn-Streit vordergründig zu
Ungunsten der Juden ausging, trug er doch zu einer zunehmenden Sensibilisierung der
Öffentlichkeit bei, die den Boden ebnete für das, was wir später Aufklärung nennen. 13
Der Weg der Juden „aus dem Ghetto in die bürgerlich Gesellschaft“, 14 die wir heute auch als
Judenemanzipation bezeichnen, ist ein langer Prozess, den wir unmöglich in allen Details
darstellen können. Eine wichtige Etappe auf diesem schmerzhaften Weg ist mit dem Namen
eines jüdischen Philosophen verbunden, den wir vielleicht noch aus dem Deutschunterricht
kennen. [Ich spreche von…]
„Da alle Menschen von ihrem Schöpfer zur ewigen Glückseligkeit bestimmt sein
müssen, so kann eine ausschließliche Religion nicht die wahre sein. - Eine
Offenbarung, die allein die seligmachende sein will, kann nicht die wahre sein, denn
sie harmoniert nicht mit den Absichten des allbarmherzigen Schöpfers.“ 18
Es ist genau diese Erkenntnis eines religiösen Pluralismus, die Lessing durch die Ringparabel
in seinem vielleicht bekanntesten Theaterstück zum Ausdruck bringt. Durch „Nathan der
Weise“ setzte der Dichter 1779 seinem jüdischen Freund, dem er vieles in philosophischer
und religionswissenschaftlicher Hinsicht verdankt, ein bleibendes Denkmal.
20
Prosanotizen. zit. nach: DHA, Band 10, S. 313.
21
Heinrich Heine: Prinzessin Sabbat, hg. und kommentiert von P. Peters, Frankfurt/M., 1997, S.112.
22
J. Habermas: Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland. In: Ders.: Eine Art Schadensabwicklung
(Kleine politische Schriften VI). Frankfurt/M. 1987, S. 52, Fn. 24.
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
Was fleißige Hände erwarben.
Es wächst hienieden Brot genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder.
Ja, Zuckererbsen für jedermann,
Sobald die Schoten platzen!
Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen.“
Nur ein paar Jahre später aber, im Nachwort zum „Romanzero“ vom September 1851,
klang Heinrich Heine schon deutlich milder, was die Religion angeht. Wie der verlorene Sohn
sei er „zurückgekehrt zu Gott“. Einem Gott, wie er schreibt, „der zu helfen vermag“, weshalb
er meinte, auch an dessen Personhaftigkeit festhalten zu müssen. Doch auch nach dieser
Wende, darauf legt der Dichter wert, sei er „frei geblieben von jeder Kirchlichkeit“. 23 Nur
wenige Monate später brachte er in seinem Testament ähnliches zum Ausdruck:
„Seit vier Jahren habe ich allem philosophischen Stolze entsagt und bin zu religiösen
Ideen und Gefühlen zurückgekehrt; ich sterbe im Glauben an einen einzigen Gott, den
ewigen Schöpfer der Welt, dessen Erbarmen ich anflehe für meine unsterbliche Seele.“
In diesen seinen letzten Jahren, als sich sein Gesundheitszustand massiv verschlechterte und
er kaum noch das Bett verlassen konnte [Hinweis auf das Bild!], schrieb er die „Hebräischen
Melodien“, in denen er sein Schicksal in der „Matrazengruft“ mit dem der Juden im Exil
verglich. Dass auch diese Lieder wie schon früher der „Rabbi von Bacharach“ Fragment
blieben, könnte Absicht gewesen sein, mutmaßt Paul Peters.24 Denn gerade im
Fragmentarischen kommt die Unerlöstheit der Welt so trefflich zu Ausdruck. Die
Diesseitigkeit, das Ernstnehmen des Materiellen, das nicht nur dem Sozialismus, sondern
eben auch dem Judentum eignet, war Heine wichtig: „Der liebe Gott hat die Welt in sechs
Tagen erschaffen, aber es ist auch eine Arbeit danach.“25
Die Person Heinrich Heines steht für etwas, was auch für viele andere Jüdinnen und Juden
der Moderne typisch ist: Gemeint ist seine „Bindung an das Judentum als Tradition, als
Kultur- und Solidargemeinschaft“, die über das Judentum als Religion weit hinaus geht. Diese
war bei ihm als Konvertit und Assimilant vielleicht „noch stärker, heftiger und intensiver als
die eines noch konfessionell Gebundenen“.26
23
Zit. nach dem Wikipedia-Art. „Heinrich Heine“ (aufger. am 27.1.2021).
24
A.a.O., S.15.
25
A.a.O., S.17.
26
P. Peters im Vorwort zu Heinrich Heine: Prinzessin Sabbat, S. 13.
Vorgeworfen wird seinen Angehörigen nun die Zugehörigkeit zur angeblich minderwertigen
Rasse der Semiten. Ganz neu war diese Argumentation übrigens nicht: Schon Luther hatte
abfällige Äußerungen über das Blut der Juden parat und im Spanien der Reconquista gab
es Blutreinheitsgesetze („Limpieza de sangre“), durch die sich die christliche Mehrheit von
den konvertierten Juden, den Marranen, abgrenzte.
Mit der sich verschärfenden sozialen Frage wird im 19 Jahrhundert ein weiteres Motiv der
Judenfeindschaft wiederbelebt, das wir schon aus dem Mittelalter kennen und das weder
religiös noch rassisch begründet ist: Der Vorwurf der jüdischen Geldgier. Weil viele Juden -
bei weitem nicht alle, vielleicht nicht einmal die Mehrheit - im Handel tätig waren, galten sie
pauschal als „Kapitalisten“. In einer seiner Frühschriften schrieb K. Marx, der wie wir
wissen selber Jude war, „der weltliche Kultus des Juden“ (ist) der Schacher … sein weltlicher
Gott (ist) das Geld“.27
Mit den beiden zuletzt genannten Vorwürfen gegenüber „den Juden“ können wir im Grunde
unmittelbar ins Dritte Reich überblenden. Denn auch die Nationalsozialisten kämpften
einerseits für die Reinerhaltung der arischen Rasse. Andererseits instrumentalisierten sie
die Wut der während der Weltwirtschaftskrise verarmten Menschen gegen die vermeintlich
Schuldigen an diesem Desaster: „die Juden“.
Doch bevor wir anhand einer weiteren Biografie einen Blick auf die finsterste Epoche der
1700 Jahre Judentum in Deutschland werfen, müssen wir ein positives Detail wenigstens
noch andeuten: Zwar ist es richtig, dass in der Weimarer Republik die reaktionären und
antimodernistischen Kräfte immer mehr an Einfluss gewinnen – und damit eben auch der
Antisemitismus. Es ist aber auch nicht abzuleugnen, dass Deutschland eine Blüte der Kunst
und Literatur erlebt, an der gerade Jüdinnen und Juden einen nicht unerheblichen Anteil
haben. Eine kurze Zeit schien es so, als könnten die „Außenseiter“ doch noch zu „Insidern“
werden.28 Jeder kennt heute noch Schriftsteller wie Elke Lasker-Schüler, Franz Werfel
oder Alfred Döblin. Unter den Komponisten machten sich Alfred Schönberg, Hans
Eisler und Kurt Weil einen Namen. Und was wäre die deutsche Geistesgeschichte ohne
Leute wie Walter Benjamin, Ernst Bloch oder Sigmund Freud? Fast noch auffälliger
war der Erfolg jüdischer Naturwissenschaftler: Von den neun Nobelpreisen, die zwischen
1918 und 1933 deutsche Forscher erhielten, gingen fünf an Juden. Der erste von ihnen war
1921 der Entdecker der Relativitätstheorie: Albert Einstein.
Eigentlich reiht sich unsere nächste Biografie ganz problemlos in diese Reihe großer Namen
ein. Nur in einer Hinsicht stellt sie eine Besonderheit dar: Es handelt sich um eine Frau. Die
Rede ist von…
31
Leo Baeck nach seiner Befreiung aus dem KZ Theresienstadt, New York 1945; zitiert in Nachum T. Gidal: Die Juden in
Deutschland von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik, München1988, S. 426.
32
Vgl. hierzu K. Sontheimer: Hanna Arendt, München 2. Aufl. 2005, S. 76ff.
Nachdenken führte sie zu der Überzeugung, dass Freiheit keine Selbstverständlichkeit ist,
sondern immer wieder neu erkämpft und durch politische Institutionen abgesichert werden
muss. Eine Lehre auch dies für uns Nachgeborenen. Neben diesem Werk erregten besonders
ihre Reportagen Aufsehen, die sie über den Prozess gegen Adolf Eichmann, Hitlers
Beauftragten zur „Endlösung der Judenfrage“, schrieb. Es war die „Banalität des Bösen“, die
„Dummheit“ und „schiere Gedankenlosigkeit“, die sie zutiefst schockierte. 33
Das geistige Ringen von Hannah Arendt ist nicht ohne ihre jüdischen Wurzeln zu verstehen,
die sie nie verleugnete. Ihr Außenseiter-Status, ihr Paria-Dasein, wie sie es nannte, war aber
nicht nur Last, sondern erlaubte ihr - ganz ähnlich wie wir das auch schon bei H. Heine
festgestellt haben - eine gewisse Unabhängigkeit im Denken und Urteilen. Sie ging nicht mit
der Masse, schwamm nicht mit dem Strom. Das machte sie zu einer moralischen Instanz in
Europa wie in den USA, wo sie 1975 einem Herzinfarkt erlag.
Eigentlich gehörte hier, ans Ende meines Vortrags noch eine fünfte Biografie, die eines
„Russen“ oder einer „Russin“. Ich hätte sogar schon einige Ideen, über wen man da
schreiben könnte: Petr Kupershmidt etwa, den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden in
Karlsruhe. Oder über den Vorsitzenden der jüdischen Kultusgemeinde der Pfalz,
Israil Epstein. Er kommt tatsächlich aus Russland, seine Geschäftsführerin, Marina Nikiforova
stammt aus der Ukraine. Zugegeben, diese Menschen sind nicht deutschlandweit bekannt,
aber jeder und jede von ihnen könnte ein Buch schreiben über das, was er bzw. sie erlebt
hat. Das weiß ich aus meiner jahrelangen Zusammenarbeit ihnen. Diese Bücher - da bin ich
sicher - wären super spannend! Keine Angst: Sie merken an meinen Konjunktiven „könnte“,
„hätte“ und „wäre“, dass ich mich an dieser Stelle zurückhalten werde. Über vieles kann man
erst mit einem gewissen historischen Abstand sprechen. Die Biografien dieser Zuwanderer
sind - zum Glück! - noch nicht abgeschlossen. Vielleicht sollten wir ihnen noch ein wenig Zeit
gönnen, „den Russen“.
Ich möchte schließen mit einem kleinen, humorvollen Beitrag von - nein, nicht von Wladimir
Kaminer; der würde hier auch passen 39 - sondern von der deutsch-russischen Schriftstellerin
Lena Gorelik. Geboren ist sie 1981 in Sankt Petersburg, nach Deutschland kam sie 1992, sie
lebt heute in München. Rund 30 Jahre nach ihrer Einwanderung schaut sie in einem Essay
zurück. Sie weiß, wovon sie spricht, wenn sie von „den Russen“ redet:
„Und dann waren wir da: diese Russen. Man sagte das so, die Russen, obwohl wir
nicht nur aus Russland, sondern auch aus der Ukraine, Moldawien, Georgien und
manch anderen Ländern kamen und auf diese Unterschiede viel Wert leg(t)en.
Mehr noch: Wir kamen, weil wir Juden waren, auch wenn das – das ist ja bekannt –
nicht für alle galt. Ja, wir brachten auch unsere Familienangehörigen mit, die zum Teil
nicht jüdisch im halachischen Sinne waren, aber umso häufiger die schlimmste
Nebenwirkung der Zugehörigkeit zum jüdischen Stamm kannten: den Antisemitismus.
[…]
39
Am bekanntesten ist Kaminers Buch „Russendisko“, in dem er seine Erfahrungen in Berlin kurz nach seiner Einwanderung
verarbeitet. Einen Überblick über den Beitrag von Schriftsteller*innen mit jüdischen Wurzeln aus der ehemal. UdSSR gibt: N.
Isterheld: Die Russen sind wieder da! Wie russischstämmige AutorInnen den deutschsprachigen Literaturbetrieb erobern,
in: Migration und Gegenwartsliteratur. Der Beitrag von Autorinnen und Autoren osteuropäischer Herkunft zur literarischen
Kultur im deutschsprachigen Raum, M. Aumüller /W. Willms (Hg.), Paderborn 2020, Gegenwartsliteratur, S. 71ff.
Und dann waren sie da: diese Russen. Die, von denen man sich erhofft hatte, dass sie
die jüdischen Gemeinden wieder erblühen lassen. Es lag dem ganzen Prozedere die
absurde und leicht größenwahnsinnige Hoffnung zugrunde, Geschichte ließe sich
übermalen mit schönen bunten Farben. […]
Und dann waren sie da: Sprachen zum großen Teil kein Wort der deutschen Sprache,
betraten zum großen Teil zum ersten Mal einen Gottesdienst in einer Synagoge.
Schlugen die Gebetbücher von der linken Seite her auf und wieder zu, weil sie die
hebräischen Zeichen nicht verstanden, tuschelten in russischer Sprache inmitten
wichtigster Gebete […] Das sollten Juden sein? Man schüttelte erst enttäuscht, dann
entrüstet den Kopf. Es lag eine leicht größenwahnsinnige Hoffnung zugrunde.
Seitdem sind 30 Jahre vergangen, über 200.000 Zuwanderer aus der ehemaligen
Sowjetunion sind als Kontingentflüchtlinge in die Bundesrepublik eingewandert.
Mittelgroße Städte, die teils nur zehn Gemeindemitglieder gezählt hatten, haben jetzt
Angebote für alle Altersgruppen: vom Kindergarten zum Seniorentanz, von
Theatergruppen zu Tora-Studierenden.
Da sind Leben, Geschichte, Opfer- und Schmerzerfahrungen, Definitionen von
Judentum aufeinandergeprallt, da sind Kämpfe entstanden, die sich in
Gemeindewahlen widerspiegelten, da wurde gefochten, gestritten, sich gewundert,
da wurden Köpfe geschüttelt, wahrscheinlich sogar Tränen geweint, kurzum: Da ist
das Leben geschehen. Das blühende Leben, eben alles, was zum Leben gehört. […]
Das jüdische Leben in Deutschland ist erblüht, es blüht womöglich nicht wie
vorgesehen. Es gibt wieder jüdische Kultur in den Gemeinden wie in der nichtjüdischen
Öffentlichkeit, Künstler jeder Sparte, Kulturtage, jüdische Kindergärten und Schulen,
an Hohen Feiertagen gar überfüllte Gottesdienste (in denen immer noch in russischer
Sprache getuschelt wird), es gibt das, was das Jüdische nicht zuletzt ausmacht: die
Lust am Disput, unterschiedliche Gruppierungen, Vorstellungen, religiöse Strömungen
und Politiken.
Es gibt Juden, die in ihrer Heimat den Begriff ‚koscher‘ nicht kannten, und nun die
Kaschrut-Regeln aller Veranstaltungen überprüfen, und es gibt jene, die deshalb in die
Gemeinden gehen, um Freunde und Bekannte zu sehen, auch um ihre Muttersprache,
das Russische, zu hören, einfach, um unter Juden zu sein. Das ist es, das jüdische,
blühende Leben, das in allen Regenbogenfarben strahlt. Und nicht nur in jenen, die
man meinte zu säen.“40
40
Diese Russen, aus: https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/diese-russen/ (abgerufen am 17.1.2021). Zur Vertiefung
sehr zu empfehlen: J. Bertram: Wer baut, bleibt. Neues jüdische Leben in Deutschland, Frankfurt/M. 2008.