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Enzyklopädie der Neuzeit Online

Humanismus
(9,754 words)

01. Überblick
Article Table of Contents
H. bezeichnet die vor der Au lärung wichtigste und
01. Überblick
wirkungsmächtigste europ. Bildungs-Bewegung der Nz.
Sie entstand im Italien des 14. und 15. Jh.s und verbreitete 02. Begri f
sich bis zur Mitte des 16. Jh.s im ganzen Abendland. Ihr 03. Rahmenbedingungen
Ziel war ein ästhetisches: die Wiederherstellung der 04. Sprache und Geschichte
Literatur, Künste und Wissenschaften des Altertums, 05. Rekonstruktion der
vornehmlich der röm. Kultur zwischen dem 2. Jh. v. Chr. Antike
und dem 2. Jh. n. Chr., die den Humanisten als histor.
06. Humanismus und
einmaliger Höhepunkt galt. Deren Rekonstruktion werde, Religion
so ho ften sie, Sprache, Geschmack, Sitten und Moral
07. Das humanistische
ihrer eigenen Gegenwart entscheidend verbessern, ihr
Bildungskonzept
(Zusammen-)Leben schöner, humaner und gottgefälliger
08. Akteure und Medien
machen und eine neue kulturelle Blüte ermöglichen, die
die der Antike erreichen, wenn nicht gar übertre fen 09. Humanistische Literatur
werde. Ohne Kirche und Religion in Frage zu stellen, 10. Humanismus und Politik
zielte der H. v. a. auf die irdische Wirklichkeit, auf 11. Höhepunkt und
sittliches Handeln, säkulare Ethik und elegante Transformationen
Umgangsformen. 12. Das Ende des
Humanismus
Diese Paradoxie, einer als histor. erkannten Epoche
normative Autorität zuzuschreiben, modernes
Selbstgefühl auf Antikenverehrung zu gründen, durch
eine sakral überhöhte Ästhetik die Sitten veredeln zu wollen, verlieh dem H. trotz aller
traditionalen Momente moderne Züge. Obwohl er ab 1530 zusehends mit den Forderungen der
Konfessionalisierung kollidierte, blieb er bis zum Ende des 20. Jh.s eine tragende Säule europ.
Bildung.

Gerrit Walther

02. Begri f /
2.1. Allgemein

Der Begri f H. – von lat. humanitas (»Menschlichkeit« bzw. »irdische Sphäre«, im Gegensatz
zur kirchlich-theologischen) – ist eine dt. Prägung des 19. Jh.s, die in die übrigen europ.
Kultursprachen übernommen wurde (ital. umanismo, franz. humanisme, engl. humanism). In
polemischer Absicht, nämlich als positives Gegenmodell zum Philanthropismus, ndet er sich
zuerst 1808 bei F. I. Niethammer ( Neuhumanismus), als gelehrte Epochen-Bezeichnung 1859
bei G. Voigt, der ihn als »ein Stadium und eine Seite« der Renaissance de nierte, nämlich als
»die Wiedergeburt des klassischen Alterthums« und die damit einhergehende »Aufnahme des
Rein-Menschlichen in Geist und Gemüth« [54. 3 f.]. Seit Jacob Burckhardt, der das
»Humanistenwesen« in seiner Kultur der Renaissance in Italien (1860) eher beiläu g
behandelte, wird »H.« als diejenige Dimension der Renaissance behandelt, die sich auf den
Umgang mit antiker Literatur und Geschichte bezieht [13. 145–202]; [49. 171–175].

2.2. Konnotationen und Wertungen

Heute neigt die Forschung, bes. die angelsächsische, dazu, H. und Renaissance miteinander zu
identi zieren. Dies ist histor. falsch, denn die Protagonisten der Renaissance wie z. B. Niccolò
Machiavelli, Leonardo da Vinci, Paracelsus oder Galileo Galilei interessierten sich vorrangig
weder für Sprachkultur noch für die Rekonstruktion der Antike, sondern für die empirischen
Gesetze der Politik, Schönheit oder Natur. Deshalb sind sie nur mit starken Einschränkungen
als »Humanisten« (= Hum.) zu bezeichnen. Umgekehrt wäre es geradezu absurd,
humanistische (= hum.) Literaten wie Poggio Bracciolini, Erasmus von Rotterdam oder Beatus
Rhenanus als »Renaissancemenschen« charakterisieren zu wollen. Weniger sachliche als
vielmehr weltanschauliche Gründe also bedingen eine solche Gleichsetzung.

So genossen die Hum. in der Kulturgeschichts-Schreibung seit jeher Sympathien, weil sie das
bürgerliche Ideal des unabhängigen, welto fenen, engagierten Intellektuellen zu verkörpern
schienen, der als Mentor der Gesellschaft wie als Ratgeber der Regierung für das Gemeinwohl
wirkt. Verstärkt wurde dieser Eindruck seit den 1930er Jahren, als der exilierte dt.
Renaissanceforscher Hans Baron die Freiheitsideologie der Stadtrepublik (Stadtstaat) Florenz
um 1400 in die missverständliche, aber gri ge Formel »Bürger-H.« (engl. civic humanism)
fasste [11]; [39. 14, 30 f.]. Diese politische These – dass hum. Bildung das moderne
republikanische Selbstverständnis begründet habe – wird bis heute intensiv diskutiert und
macht das Modell des H. zu einem ebenso attraktiven wie kontroversen Forschungskonzept
(vgl. Renaissance; s. u. 10.).

Da im Wort H. die werthaft-moralische Bedeutung von Humanität mitklingt, wurde der Begri f
immer wieder mit scheinbar zeitlosen Werten wie Menschlichkeit, Toleranz und Pazi smus
identi ziert und zu einer universalen Bildungs-Theorie systematisiert. Dies geschah oft
emphatisch, wie z. B. im Konzept des hum. Gymnasiums, bei Bruno Bauer oder Ludwig
Feuerbach, die H. im Sinne des Hegelianismus als Einheit des Selbstbewusstseins bestimmten,
oder im »Dritten H.«, den W. Jaeger 1933 gegen Materialismus und Positivismus postulierte.
Marx und Nietzsche hingegen kritisierten die notwendige Verlogenheit eines solchen Ideals
/
unter den Bedingungen der industriellen Massengesellschaft, während v. a. in der franz.
Philosophie nach 1945 diskutiert wurde, den (durch totalitären Missbrauch diskreditierten)
»klassischen H.« durch einen »kritischen H.« zu ersetzen [34].

Angesichts solcher Debatten ist zu betonen, dass die Zeitgenossen weder das Wort H. noch
einen entsprechenden Leitbegri f besaßen. Ital. humanista (»Humanist«) kam erst im Laufe
des 15. Jh.s auf und blieb eine vage Sammelbezeichnung für alle, die Fächer der Artes liberales
unterrichteten oder studierten. Für diese Disziplinen hatte der Florentiner Kanzler C. Salutati
1369 erstmals den Begri f studia humanitatis (lat.; »Studien der menschlichen Sphäre«)
verwandt, den die Zeitgenossen aus Ciceros Rede Pro Archia (62 v. Chr.) sowie aus dem Werk
des Aulus Gellius (um 160) kannten. Schon bei diesen antiken Zeugen besaß er den Beiklang
eines rhetorisch-ethischen Bildungsprogramms für die politische Elite. Die darin kombinierten
sprachlichen, histor. und moralphilosophischen Disziplinen wurden von Hum. gelegentlich
auch als bonae bzw. optimae litterae (»gute« bzw. »beste Wissenschaften«) bezeichnet. [39. 12 
f.]; [50. 388 f.].

Die Klarheit, Geschlossenheit und weltanschauliche Richtung, die der Begri f H. suggeriert,
entsprach dem histor. Phänomen also keineswegs. Weder war H. mit einer Schule identisch
noch mit einem Stand oder einer Berufsgruppe, weder mit einer Weltanschauung noch mit
einer Wissenschaft. Weder zielte er auf Humanität oder Individualität im Sinne des 19. Jh.s
noch postulierte er Toleranz wie später die Au lärung. Weder verfolgte er ein politisches
Programm noch strebte er prinzipiell nach Verständigung, Frieden und Weltbürgertum. Eher
lässt er sich als ein emphatisch praktizierter Kanon rhetorischer und histor. Disziplinen
beschreiben, als ein spezi scher Stil des Sprechens, Schreibens und Verhaltens, als eine
Kommunikationsform, ein kultureller Code, in dem unterschiedlichste Gruppen ihre
Interessen wirkungsvoll artikulieren konnten, als eine (in sich heterogene) Bildungsbewegung.
Dieser Mangel an Bestimmtheit mag unbefriedigend erscheinen. Gleichwohl bleibt das
Konzept des H. ein unentbehrliches heuristisches Werkzeug, um die mentalen Veränderungen
der Epoche in all ihren Facetten zu fassen und in ihren Zusammenhängen zu beschreiben.

Gerrit Walther

03. Rahmenbedingungen

Die entscheidende Voraussetzung für die Entstehung des H. bot das Italien der Renaissance,
dessen Norden während des 12. und 13. Jh.s zur reichsten und urbanistisch avanciertesten
Region des damaligen Europa geworden war. Diese Rahmenbedingungen unterschieden den
»Renaissance-H.« fundamental von allen früheren »Humanismen« – von den
Bildungsbestrebungen der »Karolingischen Renaissance« um 800 ebenso wie von der »hum.«
anmutenden Antikerezeption, die um 1200, kurz vor dem Sieg des Aristotelismus, in einigen
franz. und engl. Gelehrtenzentren aufgekommen war. Diese Strömungen nämlich waren fest in
die kirchlich-feudale Kultur eingebunden geblieben. In Italien hingegen hatten die Krise von

/
Kaiser und Papst seit dem Hohen MA, das allgemeine Chaos während des Hundertjährigen
Krieges (1339–1453), Pest-Epidemien und Hungerkrisen feudale Strukturen (die hier ohnehin
nie so tief verwurzelt gewesen waren wie nördl. der Alpen) zerstört.

Anstelle großer Adliger und mächtiger Kirchenfürsten hatten sich Stadtstaaten erhoben, die
entweder von Kriegsherren – oft nichtadligen Emporkömmlingen – gelenkt wurden oder von
republikanischen Gremien, an deren Spitze reiche Bürger standen. Nicht Herkunft, sondern
Leistung legitimierte sie zur Herrschaft, denn die heftige Konkurrenz der Stadtstaaten
untereinander, ihr ab dem 15. Jh. wachsender diplomatischer Verkehr, ab 1494 dann die
gewaltsame Aufteilung Italiens unter die europ. Großmächte verlangten von den Politikern
aller ital. Gemeinwesen außergewöhnliche Fähigkeiten: nicht nur militärisches Talent, sondern
auch Überzeugungskraft, Verhandlungsgeschick, gewinnendes Auftreten, diplomatische und
demagogische Begabung sowie breite praktische Kenntnisse. Die europaweiten Aktivitäten ital.
Kau eute verlangten zudem die Entwicklung neuer, international brauchbarer Codes des
Verhaltens und der (sprachlichen wie symbolischen) Kommunikation [12]; [13]; [39].

Solche Fähigkeiten konnten aristotelische Philosophie, scholastische Logik und theologische


Spekulation kaum vermitteln. Aber auch Naturwissenschaften und Medizin erschienen –
wenigstens bis in die 1440er Jahre hinein – als müßige, für Praktiker nutzlose Beschäftigungen
[33. 103–124]. Mehr Vorteile versprach die Rechtswissenschaft, die gerade an ital. Universitäten
wie Bologna oder Padua blühte. In ihrem Umfeld war seit dem 12. Jh. die ars dictaminis (lat.;
»Urkunden-Schreibkunst«) entwickelt worden, die künftige Kanzlisten lehrte, wie man
Urkunden kritisch prüft sowie Briefe, Verträge und Testamente richtig aufsetzt und in einer
schönen Schrift xiert. Dabei gewannen auch die Artes liberales an Prestige. Aus einer
formalen Propädeutik zum Studium der höheren Fakultäten transformierten sie sich in
eigenwertige, praxisorientierte Disziplinen. Verstärkt interessierte man sich für Grammatik und
Rhetorik, weil sie Verhandlungskunst lehrten, für die Schriften antiker Philosophen, weil sie
Regeln richtigen Handelns lieferten, und für Geschichte, weil sie dazu empirische Beispiele
bereithielt, aber auch für die math. Fächer des quadrivium (vgl. Artes liberales), weil sie für
Kau eute, Architekten und Militärs praktischen Nutzen boten. So entstand, was seit 1300 zum
H. werden sollte, aus den politisch-gesellschaftlichen Erfordernissen der neuen Stadtstaaten
[26. 35–54]; [45. 11–25].

Gerrit Walther

04. Sprache und Geschichte

4.1. Eine neue Ästhetik

Zu einer Bildungsbewegung indes wurden solche pragmatischen Bestrebungen erst, als sie mit
einer neuen Ästhetik und einem neuen Geschichtsbewusstsein verschmolzen. Diese
Revolution der Wahrnehmung verband sich – obwohl es schon im 13. Jh. im Umfeld der
Universität Pavia »protohum.« Bestrebungen gegeben hatte – mit der Person des Dichters und
Intellektuellen Francesco Petrarca, den viele Zeitgenossen und die spätere Nachwelt als eine
Symbol gur des H. verehrten [52].
/
Petrarca hatte, so erinnerte er sich um 1360, schon in früher Jugend an den Werken Ciceros
etwas bewundert, was zuvor keinem Leser aufgefallen war: ihren einzigartigen sinnlichen
Wohlklang, den Reichtum und die Schönheit ihrer Sprache. Diese neue Aufmerksamkeit für die
Individualität sprachlichen Ausdrucks führte Petrarca zu einer »histor.« Konsequenz. Eine Zeit,
die Persönlichkeiten wie Cicero hervorgebracht habe, so meinte er, müsse fundamental anders,
besser und größer gewesen sein als alle folgenden Zeiten und insbes. als die eigene Gegenwart.
Dass diese für die sinnlich-ästhetische Schönheit der antiken Literatur kein Gespür besitze und
ein hässliches, unelegantes Latein verwende, überzeugte ihn davon, dass sie gegenüber der
Antike eine Zeit der Dekadenz und der Finsternis (lat. tenebrae) sei, ein »Mittelalter« (lat.
medium tempus bzw. media aetas) zwischen dem großen, erhabenen Altertum (lat. antiquitas)
und einer Zukunft, die dessen Größe wieder bemerken, würdigen und vielleicht sogar
zurückgewinnen werde [39. 19  f.]; [48. 7–63].

Den einzigen Weg zu diesem Ziel sahen Petrarca und die folgenden Hum.-Generationen darin,
alle aus dem Altertum überkommenen Werke zu sammeln, so intensiv und genau wie möglich
zu studieren und sich die in ihnen geschilderten Zustände und Taten ebenso unbedingt zum
Vorbild zu nehmen wie die Art und Weise, in der die antiken Schriftsteller sie dargestellt hatten
( Antikerezeption). So könne es gelingen, die eigene Sprache zu ähnlichem Reichtum zu
kultivieren und Persönlichkeiten heranzubilden, die imstande seien, ähnliche Taten zu
vollbringen und ähnliche Werke zu scha fen, wie es den Alten gelungen war.

4.2. Ein neues Zeitgefühl

Diese Vision war neu und revolutionär – zwar nicht in jedem einzelnen Gedanken, aber doch
in Kombination und Konsequenzen. Auch die Intellektuellen des MA hatten antike Stile und
Gattungen imitiert; sie aber hatten damit die Übermittlung von Informationen sowie ihre
Möglichkeiten verbessern wollen, Gottes Schöpfung zu erkennen und Gottes Wort zu hören
und zu verkünden. Sprache hingegen um ihrer selbst willen zu kultivieren, als eine
O fenbarung sinnlicher Schönheit, wäre ihnen abwegig, ja sündhaft vorgekommen. Nicht
minder fremd wäre ihnen die hum. Idee gewesen, die Antike als eine absolut von der
Gegenwart getrennte Vergangenheit zu sehen. Zwar hatte man auch bisher das hohe Alter
antiker Autoren hervorgehoben, es geradezu als Garanten für deren Würde und Wahrheit
betrachtet; letztlich aber hatte man die Zeiten des Aristoteles oder Cicero doch noch als Teil
der eigenen Gegenwart empfunden, als einen früheren Abschnitt jenes göttlichen Heilsplanes,
nach dem man sich damals wie jetzt auf das Jüngste Gericht zubewegte (Vier-Reiche-Lehre).

Die Antike-Konzeption der Hum. hingegen erö fnete ein neues, modernes
Geschichtsbewusstsein: Sie implizierte, dass Geschichte keine lineare Folge des immer
Gleichen sei, sondern sich in verschiedene Epochen gliedere, von denen jede durch je
besondere Lebensbedingungen und -formen, durch eine je spezi sche Kultur deutlich von
allen anderen unterschieden sei [37]. Der H. hat »die Antike« also nicht »wiederentdeckt«,
nachdem »das MA« sie vergessen hatte; er hat beide Epochen überhaupt erst gescha fen. Er
hob die Tradition auf und etablierte die Geschichte.

/
Auch die hum. Forderung nach Vollständigkeit und Authentizität der antiken Überlieferung
hätte ma. Gelehrte – Christen wie Muslime gleichermaßen – befremdet. Sie hatten die antiken
Werke weder als histor. Dokumente noch als eigenwertige Kunstwerke betrachtet, sondern als
Autoritäten. Nicht in histor. Kontextualisierung hatten sie ihre Aufgabe gesehen, sondern in
logisch-dogmatischer Aktualisierung – darin, einzelne Sätze (lat. sententiae) oder Lehren (lat.
doctrinae) herauszuziehen und ohne Rücksicht auf deren ursprünglichen Zusammenhang als
Argumente aufzubereiten.

Dem auf Ganzheit zielenden, ästhetisch-histor. Blick der Hum. hingegen musste dieser
scholastische Umgang mit antiken Texten als ein einziger Skandal erscheinen. Die zahllosen
Ungereimtheiten, Lücken, Fehler, auf die sie stießen, bewiesen ihnen, dass die bisherigen
Gelehrten die Antike strä ich vernachlässigt, mit der Borniertheit von Barbaren ignoriert oder
– so argwöhnten etwa Boccaccio oder Poggio Bracciolini – aus religiöser Engstirnigkeit gar
absichtlich verfälscht hatten. Also musste der gesamte Bestand antiker Texte und Überreste
einer kritischen Revision unterzogen und, wo möglich, in originaler Form und Gestalt
wiederhergestellt werden.

Gerrit Walther

05. Rekonstruktion der Antike

5.1. Die Suche nach Handschriften

So begann mit Petrarca eine Welle eifrigen Suchens und Sammelns antiker Handschriften. Er
selbst entdeckte 1333 in Lüttich zwei vergessene Reden Ciceros, 1345 in Verona dessen Briefe Ad
familiares (»An Verwandte und Freunde«), die ihm und der Mitwelt ein radikal neues, teils
gewinnendes, teils befremdendes Bild Ciceros vermittelten. 1421 fand Kardinal Gerardo
Landriani Ciceros Brutus und die erste vollständige Version von De oratore (»Vom Redner«).
Durch die Recherchen des Florentiner Sammlers und Mäzens Niccolò Niccoli wurden aus
Corvey und Monte Cassino die Geschichtswerke des Tacitus bescha ft. Poggio Bracciolini
erwarb bei Exkursionen, die er 1414–1418 vom Konstanzer Konzil aus unternahm, weitere
Cicero-Reden sowie Codices mit Schriften der röm. Autoren Silius Italicus, Lukrez, Manilius,
Ammianus Marcellinus, Valerius Flaccus, Statius, Petronius, v. a. aber – ein seither legendärer
Höhepunkt hum. Handschriftensuche – 1416 eine vollständige Version der zuvor nur teilweise
bekannten Institutio oratoria (»Einführung in die Redekunst«) des Quintilian, eines Textes, der
die hum. Verbindung rhetorischer und weltmännisch-moralischer Bildung gleichsam im
Nachhinein als echt antik rechtfertigte (Rhetorik) [21]; [39. 34  f.]; [42. 40 f., 48 f.].

5.2. Griechisch, orientalische Sprachen und Altertumskunde

Nicht minder wichtig für die Entwicklung des H. wurde die Kenntnis des Griechischen (
Gräzistik). Sie entstand, als der byz. Gelehrte Manuel Chrysoloras 1397 auf Einladung Coluccio
Salutatis nach Florenz kam und dort Griechisch lehrte. Seit 1408 sammelten Hum. wie sein
Schüler Guarino da Verona, der Sizilianer Giovanni Aurispa oder der Venezianer Francesco
Filelfo bei Besuchen in Konstantinopel systematisch Originaltexte griech. Klassiker, die – mit
/
Ausnahme des (nur in Übersetzungen konsultierten) Aristoteles – im ma. Westen so gut wie
unbekannt gewesen waren. Viele wurden zunächst durch kritische Übersetzungen ins
Lateinische bekannt gemacht (z. B. Thukydides durch Lorenzo Valla; Demosthenes, Plato und
Aristoteles durch Leonardo Bruni und Marsilio Ficino; die griech. Kirchenväter durch eine von
Papst Nikolaus V. bestallte Gruppe von Übersetzern). Doch spätestens mit dem Konzil von
Ferrara (1438/39), das viele byz. Gelehrte besuchten, verbreitete sich die Kenntnis des
Griechischen so weit, dass griech. Autoren von nun an fest zum hum. Kanon zählten [32. Bd. 1,
145–160]; [39. 35 f.].

Daneben wuchs, zunächst bei hum. gestimmten Theologen, das Interesse an der hebr. und
ägypt. Kultur (Hebraistik; Ägyptologie). Als radikale Kölner Dominikaner 1509 beim Kaiser den
Befehl zur Verbrennung aller jüd. Manuskripte durchsetzten, war deren Hochschätzung in
internationalen Hum.-Kreisen bereits so weit verbreitet, dass Johannes Reuchlins ö fentlicher
Protest gegen diesen Beschluss breite, erfolgreiche Unterstützung fand. Unter den Gebildeten
des Späthumanismus übertraf das Interesse an Studien der Kabbala und den vermeintlich
altägypt. O fenbarungen des Corpus Hermeticum (Hermetik) z. T. sogar das an lat. und griech.
Texten [14. 121  f.]; [22. 87–123]; [39. 139 f.].

Parallel zur Suche nach Handschriften entwickelten sich die Altertumskunde und die
Archäologie. Als »hum.« erwiesen sie sich darin, dass sie prinzipiell in den Dienst der antiken
Texte traten, diese zu beglaubigen und besser verständlich zu machen suchten. So »entdeckte«
man in Neapel das Grab des Vergil und 1413 in Padua das des Livius. In Roma instaurata (1440–
1463) trug Flavio Biondo alle antiken Schriftzeugnisse zur Topographie der Stadt Rom
zusammen, um sie in Roma triumphans (1456–1460) mit Beschreibungen aller erhaltenen
Altertümer zu ergänzen. In seiner Italia Illustrata (1456–1460) gab er eine nach den antiken
Provinzgrenzen gegliederte Landesbeschreibung, die alle Orte Italiens einschließlich ihrer
führenden Familien auf deren antike Ursprünge zurückführte und ihnen so eine verp ichtende
histor. Identität vermittelte [26. 55–76]. All diese Versuche stießen auf europaweites Interesse
und inspirierten nationale Imitationen (s. u. 10.3.)

5.3. Textkritik und Sprachgeschichte

Auch die antiken Sprachen selbst rückten zusehends in eine histor. Perspektive. Indem die
Hum. versuchten, die lat. und griech. Texte von »barbarischen« Verfälschungen zu reinigen
und in ursprünglicher Schönheit zu restituieren, erkannten sie immer klarer, wie eng deren
Stile und Formen mit den je zeitgenössischen politisch-kulturellen Zuständen
zusammenhingen. Um 1440 beschrieb Biondo in seinen Historiarum ab inclinatione
Romanorum imperii decades tres (gedruckt 1483; »Drei Dekaden der Geschichte seit dem
Niedergang des Röm. Reichs«), wie die bis dahin musterhafte Latinität seit dem 3. Jh. mit dem
Röm. Reich gesunken und mit der Einnahme Roms durch die Goten (412) für lange Zeit ganz
verfallen sei – eine Beobachtung, die G. Vasari hundert Jahre später für die röm. Architektur
und Kunst bestätigte [37. 166–170, 246–252].

/
Um die gleiche Zeit gelang es Lorenzo Valla, kraft sprach- und wortgeschichtlicher Indizien zu
beweisen, dass die »Konstantinische Schenkung« – eine Urkunde, in der Kaiser Konstantin
angeblich dem Papsttum die weltliche Herrschaft über das Westreich übertragen hatte – eine
Fälschung des 8. Jh.s war. Vallas nicht minder mutige Vergleiche zwischen dem lat. Bibeltext
des Hieronymus und dem griech. Original wurden seit 1504 zum Ausgangspunkt der
Bibeledition des Erasmus von Rotterdam und speisten später die Kritik der Reformation [39.
37–40]; [42. 59 f.].

Die Methoden, die die Hum. bei der Kritik und Restitution antiker Texte anwandten, waren
anfangs recht willkürlich und subjektiv – obwohl man versuchte, den Vorbildern der
alexandrinischen Grammatiker und des M. Terentius Varro zu folgen. Erst Polizianos
Miscellanea (1489) stellten Grundsätze der Textkritik auf und etablierten Methoden des
systematischen Vergleichs zwischen unterschiedlichen Textvarianten, zwischen lit. Quellen
und Inschriften oder zwischen röm. Autoren und deren griech. Vorbildern [39. 41]. Seine
Freunde und Nachfolger, darunter der Venezianer Ermolao Barbaro, der Spanier Antonio de
Nebrija und der Elsässer Beatus Rhenanus, verbesserten diese Verfahren und erprobten sie in
maßgeblichen Kommentaren, Grammatiken und Interpretationen, v. a. aber in kritischen
Editionen der meisten griech.-röm. Klassiker [18]. So begründete der H. die histor.-
philologische Textkritik und überhaupt die modernen Geisteswissenschaften.

5.4. Kanonisierung und Nachahmung

Durch all diese Forschungen vergrößerte und professionalisierte der H. das Wissen über die
Antike erheblich. Dies deutet auf einen epochalen Mentalitätswandel, da all die Texte, die jetzt
nach Jahrhunderten in den intellektuellen Diskurs zurückkehrten, das ganze MA hindurch im
Wesentlichen unhinterfragt zur Verfügung gestanden hatten. Erst die Hum. etablierten einen
Klassikerkanon, der von Homer bis Augustinus griech. wie lat., heidnische wie christl. Autoren
umfasste, dessen Kern aber die lat. Literatur zwischen dem 2. Jh. v. Chr. und dem 2. Jh. n. Chr.
bildete. Mit seinem neuen, ästhetisch-histor. Blick auf das Altertum schuf der H. die moderne,
universale Vision der »Antike« [39. 36].

Eben weil die Hum. die Antike als eine unwiederbringlich vergangene Epoche erkannten,
wurde ihnen deren formale Nachahmung (lat. imitatio) problematisch, ja unmöglich. Schon
1405 warnte selbst ein so leidenschaftlicher Antikenverehrer wie C. Salutati ausdrücklich davor,
die eloquentia (»Beredsamkeit«) der Alten zu überschätzen und moderne Schriftsteller wie
Petrarca gegen antike wie Cicero herabzusetzen. Stattdessen suchte man mit der Antike in
einen produktiven Wettstreit (lat. aemulatio) zu treten, nämlich mit modernen Mitteln – auch
und gerade einer an klassischen Mustern kultivierten Volkssprache – ähnliche Leistungen zu
vollbringen wie sie den Alten mit den ihrigen geglückt waren (vgl. Querelle des Anciens et des
Modernes).

Wenn Hum. gleichwohl (oft) antike Personalstile nachahmten, so geschah dies im virtuosen
Ehrgeiz, perfekt in jeder Tonlage sprechen zu können, zugleich aber auch aus politischen
Absichten. Päpstliche Sekretäre z. B., die wie Poggio Bracciolini in ciceronischem Ton über
ungebildete »Mönche« spotteten, grenzten sich schon im Kommunikationsstil ostentativ von
/
der scholastisch argumentierenden konziliaren Opposition gegen die Kurie ab. Ebenso
polemisch verfuhr Lorenzo Valla, wenn er – im Sold des mit dem Papst verfeindeten Königs
von Neapel – in seinen Elegantiae Latini sermonis (um 1440, gedr. 1471, 59 Au agen bis 1536;
»Schönheiten der lat. Rede«) den Stil des Augusteischen Zeitalters gegen den kurialen
»Ciceronianismus« zum Muster goldener Latinität erhob, oder Erasmus von Rotterdam, wenn
er 1528 in seinem Ciceronianus über pedantische Cicero-Nachahmer spottete [17]; [42. 54 f. und
104 f.].

Gerrit Walther

06. Humanismus und Religion

Trotz steter Abgrenzungen gegenüber scholastischen Traditionen stand die hum. Bewegung in
engen Verbindungen zur Kirche. Viele, anfangs sogar die Mehrzahl der Hum. waren Kleriker,
besaßen kirchliche Pfründe oder lebten als Sekretäre, Beamte oder Professoren in kirchlichen
Diensten. Einige, z. B. Robert Gaguin, ein Pionier der hum. Historiographie in Frankreich, und
sein dt. Pendant Sigmund Meisterlin gehörten Mönchsorden an. Die großen Konzilien des 15. 
Jh.s waren Di fusionszentren hum. Ideen. Päpste wie Nikolaus V. und Pius II. trugen um die
Mitte des 15. Jh.s entscheidend zur europ. Verbreitung des H. bei (s. u. 10.1.2.). In den
burgundischen Niederlanden verschmolzen dessen Impulse mit der individuellen Frömmigkeit
der Devotio moderna (vgl. Frömmigkeitskulturen) und realisierten sich in den »Fraterhäusern«
der »Brüder vom gemeinsamen Leben«. Erasmus von Rotterdam, der in diesen Kreisen
aufwuchs, widmete seine Editionstätigkeit mehr dem NT und den Kirchenvätern als
heidnischen Klassikern.

Gerade das typische Feindbild der Hum., der unkultivierte »Mönch«, der die Schriften der
Alten im Schmutz seines maroden Klosters verkommen lässt, war kein Produkt eines
prinzipiellen Antiklerikalismus, sondern ein typisches Klischee der innerkirchlichen
Reformbewegung. Noch Luthers Denken war entscheidend vom Erfurter H. geprägt. Dass die
hum. Bildung erst im Laufe des 16. Jh.s, also im Konfessionellen Zeitalter, fest in Schulen und
Universitäten institutionalisiert wurde (s. u. 11.1.), zeigt einmal mehr, wie perfekt H. und
Religion einander ergänzen konnten. Jederzeit blieb es frommen Hum. möglich, sprachliche
Schönheit zum irdischen Abglanz des Göttlichen zu sakralisieren.

Entscheidend ist gleichwohl, dass sich die spirituelle Energie des H. nicht im Glauben
entfaltete, sondern auf die weltliche Sphäre gerichtet blieb – dass der H. keine kirchliche
Reformbewegung wurde, sondern darauf beharrte, dass die diesseitige Welt erneuert und
verbessert werden müsse. In provokantem Gegensatz zur kirchlich-theologischen Sicht – der
ma. wie später der reformatorischen – betonte er nicht die sündhafte Verworfenheit des
Menschen, sondern jene Menschenwürde, die Pico della Mirandola 1486 in einer berühmten
Akademierede pries. Ohne sich gegen die Kirche zu wenden, erlaubte es der H., sie vornehm zu
ignorieren. Langfristig begünstigte seine histor.-philologische Betrachtung der Überlieferung

/
zudem eine distanzierte Sicht auch auf religiöse Autoritäten. Insofern ist der H. bei allen »ma.«
Zügen ein genuin europ. Phänomen der Säkularisierung, das in anderen Weltkulturen, etwa im
Islam, trotz mancher äußerer Ähnlichkeiten keine wirkliche Parallele besitzt.

Gerrit Walther

07. Das humanistische Bildungskonzept

Mochten hum. Philologie und Altertumskunde in der Praxis bisweilen frommer Erbauung
dienen oder auch gelehrter Selbstzweck werden – prinzipiell dienten sie dazu, zum großen Ziel
des H. beizutragen: durch die Kultur der Sprache am Beispiel der Antike die menschliche
Würde, Sittlichkeit und Schöpferkraft zu vergrößern. Dieses Ziel unterschied die Hum.
fundamental von ihren ma. Vorgängern, die Bildung entweder als fachliche Belehrung oder als
Hinführung zum wahren Glauben betrachtet hatten, aber auch von den Protagonisten der
Renaissance, die auf empirische Naturerkenntnis zielten.

Die Hum. richteten ihre Reformbemühungen auf die Sprache, weil sie ihnen als untrüglicher
Ausdruck der Anlagen und des Charakters (lat. ingenium), des geistigen und sittlichen Ranges
eines Menschen galt. Sie förderten die Kultur der Sprache, ihrer Formen, Feinheit und Eleganz
um derer selbst willen, weil sie die Wechselwirkungen zwischen sprachlicher Fähigkeit und
moralischer Güte für nahezu absolut hielten und ho ften, diese über jene vervollkommnen zu
können. Deshalb war Redekunst (lat. eloquentia) in ihrer edelsten Form, nämlich als Poesie
(poesis), das höchste Ziel, und der Dichter (poeta) das Lebensideal jedes Hum. [50. 395].

Aus den Versen der Dichter, erklärte Leonardo Bruni 1422 in De studiis et litteris (»Über Studien
und Wissenschaften«), spüre man den Anhauch des Göttlichen. Wer sie höre, bestätigte
Rudolph Agricola 1476, dessen Seele höre auf, »barbarisch« zu sein, und verfeinere sich
zusehends [4. 31  f.]. So las man die Werke von Cicero und Quintilian, Vergil und Livius, Homer
und Platon also weder der formalen Schulung noch der moralisch-religiösen Erbauung wegen.
Vielmehr suchte man sie als individuelle Partner eines persönlichen Zwiegesprächs, das die
eigenen Seelenkräfte stimulieren und die eigene Sensibilität verfeinern sollte [49. 152–167].

Gerrit Walther

08. Akteure und Medien

8.1. Studenten und Lehrer

Der H. entstand wohl in jenen studentischen Zirkeln, die sich seit dem 13. Jh. im Umfeld der
Artistenfakultäten ital. Universitäten formierten. In diesen Kreisen interessierte man sich für
Literatur und intellektuelle Experimente wie jene Provokation scholastischer Konventionen,
die die Hum. durch ihre exzentrische Aufwertung von Rhetorik und Poesie auf Kosten der
Logik und Dialektik betrieben [50. 395–399]. Wenn ihre Mitglieder nach Abschluss ihrer
Studien in ihre Heimatstädte bzw. -länder zurückkehrten, brachten sie hum. Bücher, bisweilen
auch Handschriften mit. In Amt und Würden gelangt, korrespondierten sie mit ihren oft
/
hochrangigen ehemaligen Studienkollegen – nicht selten quer durch Italien oder gar Europa –
und blieben meist auch den studia humanitatis ein Leben lang verbunden. Sie knüpften neue
Kontakte mit anderen Hum. an, tauschten Bücher und gelehrte Informationen aus. Wann
immer möglich, kehrten sie nach Italien zurück. Als Kau eute besuchten sie einander auf
Reisen. Als städtische oder fürstliche Räte schlossen sie auf Reichstagen oder
Ständeversammlungen, als Kleriker auf Konzilien Freundschaften mit ähnlich gebildeten
Standesgenossen.

Die Beispiele dt. Patrizier und Diplomaten wie Conrad Peutinger oder Willibald Pirckheimer
illustrieren, wie ein Studium in Italien Ausländer dafür begeistern konnte, die Idee des H.
durch Mäzenatentum und eigene Werke zu verbreiten. So wurden die studia humanitatis zu
einem kulturellen Band, das die europ. Elite über die Grenzen hinweg vereinigte [14. 17]; [42.
85]; [45. 25–60].

Oft scheinen charismatische Lehrerpersönlichkeiten die Häupter solcher Gruppen gewesen zu


sein. Selbst scholastisch ausgebildet, zogen sie nach Petrarcas Art von Ort zu Ort, erteilten
Privatunterricht in den artes liberales oder ließen sich von Stadtregierungen bzw. Fürsten als
Schreiber, Lehrer, Berater oder Ärzte in Sold nehmen. Im Heiligen Röm. Reich propagierten auf
diese Weise etwa Peter Luder und Conrad Celtis, die bei prominenten ital. Hum. studiert
hatten, die Ideen des H., in Frankreich der von E. Barbaro angeregte Aristoteles-Philologe
Jacques Lefèvre d’Étaples, in England Thomas Linacre, dessen Lehrer Chalkondyles und
Poliziano gewesen waren [16]; [39. 103, 112–117]; [42. 85–90]; [43. 92–122].

8.2. Schulen

Einige dieser Lehrer gründeten Schulen, in denen die Methoden hum. Unterweisung praktisch
und mit Erfolg erprobt wurden. Einer der ersten war der Paduaner Rhetorikprofessor
Gasparino Barzizza, der 1408 in seinem Haus eine Privatschule (lat. contubernium) für Söhne
vornehmer Eltern erö fnete. Seinem Vorbild folgten Guarino Guarini, der in Venedig und bis
1429 in Verona unterrichtete, und Vittorino da Feltre, der von 1423 bis zu seinem Tod 1446 in
Mantua ein elitäres Internat betrieb, in dem u. a. auch die Söhne des Fürstenhauses erzogen
wurden.

Diese Schulen boten gestufte Kurse in Grammatik, Rhetorik, Geschichte, Philosophie und
Religion, aber auch in den Fächern des quadrivium an (Artes liberales), in Naturkunde, Sport,
Stimmtechnik und gutem Benehmen. Im Zentrum des Unterrichts standen gemeinsame
Lektüren und Diskussionen der antiken Klassiker. Aus diesen freien, individuellen Gesprächen
zwischen Lehrern und Schülern, die den hum. Unterricht deutlich von den formalisierten
Dialogen des scholastischen Lehrbetriebes unterschieden, erwuchs jene individuelle
Förderung, für die die contubernia berühmt wurden. Ihre Qualität wie ihre Fürstennähe
verscha ften ihnen eine so rege Nachfrage, dass im Laufe des 15. Jh.s immer mehr Schulen zu
hum. Formen übergingen [4]; [39. 44–51].

8.3. Gelehrtenrepublik
/
Aber auch außerhalb des Unterrichtswesens entwickelten sich Diskurse über hum. Themen.
Seit etwa 1400 trafen sich in Florenz Bürger, Geistliche und Lehrer zu Gesprächen und
Vorträgen über antike Texte oder andere gelehrte Materien. Seit 1454 wurde eine Anzahl
vornehmer Teilnehmer als Akademie fest institutionalisiert. »Diese Form des regelmäßigen
wiss. Dialogs gebildeter Laien fand bald Nachfolger in Rom, Neapel, Venedig, Ofen, Krakau,
Heidelberg, Ingolstadt, Augsburg, Wien« und vielen anderen Orten Europas [50. 394].
Besondere Prominenz gewann seit 1460 der hochrangige Kreis um den Antiquar Julius
Pomponius Laetus in Rom, dessen Mitglieder zeitweise verfolgt wurden, weil die Kurie sie
oppositioneller Umtriebe verdächtigte [17]; [42. 72 f.].

Binnen weniger Jahrzehnte fand der H. so eine Klientel aus unterschiedlichsten Gruppen und
Ständen. Zu ihr gehörten neben Studenten und Dozenten der artes liberales »städtische,
königliche und päpstliche Beamte, Notare und Pädagogen, Condottieri und Könige,
Ordensleute und Kirchenfürsten, Bankiers und Großkau eute, Verleger und freie
Schriftsteller«, Buchhändler und Drucker sowie Patrizier, die die Wurzeln ihrer Familie oder
Stadt in der Antike suchten [50. 392]. Da nach Meinung der Hum. möglichst alle Menschen
gebildet sein sollten, nahmen auch Frauen aktiv an der hum. Kultur teil. Als Mäzeninnen,
Dichterinnen und Brief-Autorinnen traten dabei Fürstinnen wie Isabella d’Este, Margarete von
Navarra (Verfasserin des Heptameron, 1546–1549; gedr. 1554) oder Elisabeth I. von England
ebenso hervor wie bürgerliche Frauen wie Olympia Fulvia Morata (vgl. Geschlechterrollen,
Abb. 1) [14. 211 f.]; [41]. Das Interesse an Hebräischstudien bewirkte, dass auch jüd.
Intellektuelle, in Spanien meist conversos (vgl. Glaubens üchtlinge), an den hum.
Bestrebungen teilhaben konnten.

Die Heterogenität seiner Trägergruppen zeigt, dass sich der Erfolg des H. nicht einseitig auf
bestimmte materielle, politische oder gesellschaftliche Interessen zurückführen lässt. Attraktiv
machte ihn o fenbar tatsächlich das neue Prinzip autonomer, individueller Bildung, des
Genießens und Scha fens zweckfreier Schönheit. Diese indes kultivierte man meist nicht im
Rahmen eines Amtes oder Berufs (lat. negotium), sondern in Stunden der Muße (lat. otium). So
konnte der H. zum Code all derer werden, die Geist, Geld oder Macht genug besaßen, ein
solches Interesse für diesseitige Schönheit zu entwickeln und zu zeigen. Er war eine breite,
zugleich aber elitäre Bewegung.

Die Mitglieder dieser Gelehrtenrepublik (lat. res publica litteraria) betrieben eine kunstvoll
stilisierte, in schönen Formen geführte Kommunikation. Sie korrespondierten nach den
Vorbildern Ciceros oder Senecas. Sie p egten einen Kult der Freundschaft ( Amicitia), der das
individuelle Moment betonte, die Gemeinsamkeiten ihrer Vorlieben und Haltungen, ihre
persönliche Verbundenheit über räumliche Distanzen, Sprach-, Standes- und Altersgrenzen
hinweg. Diese ostentative Intimität mag manches von der au fälligen Reizbarkeit erklären, die
im Verkehr zwischen Hum. merkbar wird. So wie deren Freundschaften quasi erotische Töne
und Formen annehmen konnte, gerieten ihre Dispute nicht selten zu erbitterten Kontroversen,
bei denen die Gegner einander mit hämischem Spott, maßlosen Beschimpfungen und
vernichtenden Verleumdungen übergossen [19. 98  f.]. So wurde die hum. res publica litteraria
zum Laboratorium moderner Sensibilität und Soziabilität.
/
8.4. Bibliotheken und Bücher

Neue Institutionen halfen den Hum., ihren Austausch zu organisieren. Zu den wichtigsten
gehörten Bibliotheken, die, von reichen und mächtigen Gönnern gegründet, Handschriften,
Bücher und andere Hilfsmittel für die gelehrte Arbeit sammelten und bereithielten. Zu diesen
großen Bibliotheken zählten etwa die Marciana und die Laurentiana, die Cosimo bzw. Lorenzo
de' Medici seit den 1430er Jahren in Florenz einrichteten, die Vaticana, die die Päpste Nikolaus
V. und Sixtus IV. im 15. Jh. als Hochburg des Wissens und gelehrter Repräsentation neu
begründeten [23], die Bibliothek der Republik Venedig, zu der Kardinal J. Bessarion 1468 durch
Schenkung seiner 900 Codices den Grundstein legte [28. 63 f., 194–198], sowie die prachtvolle,
später der Vaticana einverleibte Bibliothek, die Federico da Montefeltro ab 1465 in seinem
Schloss in Urbino gründete (vgl. Abb. 1) [47. 152 f.]. Legendär war daneben die
Büchersammlung des Florentiners N. Niccoli, die Cosimo de' Medici 1437 aus dessen Nachlass
kaufte und dem Kloster San Marco schenkte.

Berühmte Hum.-Bibliotheken außerhalb Italiens besaßen


der engl. Herzog Humphrey of Gloucester (bis 1447), der
ungar. König Matthias Corvinus in Buda (seit 1464) und
König Franz I. von Frankreich [21. 229–249], aber auch
der Nürnberger Patrizier Hartmann Schedel sowie die
Familie Pirckheimer [26. 159–185]. Solche Institutionen
beschäftigten Bibliothekare, Kopisten, Buchbinder und
Au äufer in ganz Europa. All diese Tätigkeiten boten
Hum. Posten, Verdienstmöglichkeiten und Chancen, mit
Adligen und Gleichgesinnten in Kontakt zu kommen.

Nicht minder wurde das Streben der Hum. nach kritisch


gereinigten Klassikertexten durch den Buchdruck
gefördert, den dt. Drucker in allen europ. Ländern
einführten. In den späten 1460er Jahren nahmen in Rom
und in Venedig die ersten O zinen den Betrieb auf. Seit
dem Ende des 15. Jh.s entstanden in ganz Mitteleuropa
die seither berühmten großen Hum.-Verlage, so die Abb. 1: Pedro Berruguete,
Werkstätten der Familie Manutius in Venedig (seit 1469; Federico da Montefeltro mit
»Aldinen«, benannt nach Aldus Manutius), Koberger in seinem Sohn Guidobaldo (um
Nürnberg (seit 1470), Fichet in Paris (seit 1470), Caxton in 1477; Öl auf Holz). Der vom
Brügge (seit 1472) bzw. London (seit 1476), Amerbach und Söldnerführer zum Herzog
Froben in Basel (seit 1477 bzw. 1491/1513), Estienne aufgestiegene Herr von Urbino
(Stephanus) in Paris (seit 1504), Oporin in Basel (1541– ließ sich als Humanist
1566) und Plantin in Antwerpen (seit 1555). Nachdem porträtieren. Angetan mit allen
Ravensburger Kau eute 1473 die Druckkunst in Spanien Insignien fürstlicher Macht –
eingeführt hatten, druckte Arnao Guillén de Brocar vom Hermelin, unter dem der
zwischen 1514 und 1517 in Alcalá de Henares die Harnisch des Feldherrn sichtbar
bahnbrechende Polyglottbibel, die ein von Kardinal wird, bis zum Hosenbandorden
/
Jiménes de Cisneros eingesetztes Gelehrtengremium unterhalb des Knies –, hat sich
nach hum. Prinzipien erstellt hatte [10]; [28. 135–180]; Federico intensiv in eines der
[53]. prächtig gebundenen Werke
seiner legendären Bibliothek
Die Hum. spielten »bei der Produktion und dem Vertrieb vertieft, während sein Sohn und
sowohl von Manuskripten als auch von gedruckten Erbe das Szepter trägt. Bildung
Büchern eine bedeutende Rolle. Sie arbeiteten als am Beispiel der Alten erscheint
Kopisten, Kalligraphen und Korrektoren, als Buchdrucker so als integrales Moment
und Buchhändler und schließlich auch als Bibliothekare persönlichen Erfolges und guter
und gelehrte Herausgeber von Texten« [7. 13]. In Regierung. Dass der Fürst sich
Kooperation schufen sie planmäßig grundlegende von den Klassikern belehren
Editionen der griech. und röm. Klassiker. So wurde es lässt, wirbt für Vertrauen in sein
möglich, die bis dahin unausweichlichen Abschreibfehler Regiment. Umgekehrt adelt sein
zu vermeiden, die Ergebnisse gelehrter Textkritik in Beispiel Klassikerlektüre zur
Hunderten gleicher Exemplare zu verbreiten und – dank würdigen Tätigkeit moderner
der Verbesserungsvorschläge gelehrter Leser in ganz Führungspersönlichkeiten.
Europa – gemeinsam optimale Versionen zu erstellen [39.
53 f.].

Seit dem 16. Jh. wurden zudem immer mehr illustrierte Werke gedruckt, die – zunächst noch
recht grob und vereinfacht, bald aber zusehends feiner – das Aussehen der röm. Monumente
und Altertümer dokumentierten ( Altertumskunde). Dies war eine wesentliche Voraussetzung
für die Entstehung einer hum. Epigraphik, Gemmenkunde und Münzkunde.

Der bald orierende Buchmarkt half, die Kenntnis der standardisierten Klassiker, der antiken
Monumente und Kunstwerke wie der Schriften der Hum. selbst allgemein zu verbreiten und
damit zugleich zu »demokratisieren«. Mochten die hohen Buchpreise diese Möglichkeiten
faktisch nach wie vor begrenzen, so änderten solche Neuerungen mit der Zeit doch den Stil des
akademischen Unterrichts wie auch das Verhältnis zu Texten überhaupt. Hatte in der
scholastischen Unterweisung das gesprochene Wort dominiert, verlagerte sich der
Schwerpunkt gelehrter Tätigkeit nun ins Schriftliche. Das Projekt der Hum., verbindliche
Standards für Sprache und Stil zu etablieren, gelang, weil deren Regeln gedruckt verbreitet
werden konnten. So wandelte sich Mündlichkeit im Zeichen des H. zu gesprochener
Schriftlichkeit [50. 407].

Gerrit Walther

09. Humanistische Literatur

9.1. Dialogisches Prinzip

Dem großen Ziel der Hum., eine neue Kultur im Geiste der Antike zu scha fen, diente auch und
gerade ihre lit. Produktion [15]. Auch sie war vom Prinzip des Dialogs bestimmt; hum. Autoren
imaginierten und präsentierten sich als Persönlichkeiten, die sich in einer je konkreten
Situation an einen je konkreten Adressaten wandten, um sich ihm gegenüber auszusprechen,
/
ihn zu belehren, zu unterhalten, zu erfreuen oder anzugreifen. Um diese Redesituation
möglichst eindringlich zu gestalten, mieden Hum. – anders als später die Autoren des Barock
und schon zuvor die des Späthumanismus – gelehrte Systematik, Abstraktion, ambitionierte
Theorie und Manierismen zugunsten von Klarheit und Anschaulichkeit. In höchster
Vollendung war dieses Ideal gleich zu Beginn des H. von Petrarca aufgestellt worden: Im Sonett
hatte er eine dichterische Form gescha fen, die der Antike unbekannt, aber von antiker
Prägnanz und Geschlossenheit und somit geeignet war, einer kultivierten modernen
Subjektivität di ferenzierten Ausdruck zu verleihen [52].

9.2. Gattungen

Das dialogische Prinzip regierte vielfach aber auch schon die gelehrten Gattungen wie den
Kommentar, der einen Dialog mit dem antiken Autor wie dem modernen Leser zu führen und
zwischen beiden zu vermitteln schien. Oft war er nicht systematisch gestaltet, sondern eine
Sammlung von Scholien (»Erklärungen«), miscellanea (»vermischten Bemerkungen«),
adnotationes (»Anmerkungen«) oder observationes (»Beobachtungen«), die, anders als die
(meist anonymen) Glossen des MA, die individuelle Auseinandersetzung eines bestimmten
Gelehrten mit einem antiken Text dokumentierten. Eine Frucht des hum. Kultes der
Authentizität waren Quelleneditionen, die antike Inschriften, Fragmente oder Münzen in
originaler Gestalt überlieferten (Altertumskunde; Epigraphik; Münzkunde). Um das Altertum
lebenspraktisch zu aktualisieren, schrieben Hum. daneben vorzugsweise Biographien von
dessen großen Männern und Frauen – schon Petrarca in De viris illustribus (ab 1338; »Von
berühmten Männern«) und Boccaccio mit De claris mulieribus (um 1362, gedruckt 1439; »Von
berühmten Frauen«) – oder versuchten, durch elegante Kompilationen erhaltener antiker
Texte Lücken in der Überlieferung anderer (z. B. des Livius oder Plutarch) zu überbrücken.

Erst recht waren didaktische Werke des H. dialogisch – etwa als Brieftraktate – angelegt oder
zumindest von Widmungen und Vorreden eingeleitet, die einem bestimmten Adressaten
ö fentlich Freundschaft und Loyalität bekundeten. Das galt für Abhandlungen über Erziehung
– von P. P. Vergerios De ingenuis moribus ac liberalibus studiis (1402; »Über edle Sitten und freie
Studien«) bis zur Declamatio de pueris statim ac liberaliter instituendis (1529; »Aufruf, Knaben
früh und freizügig zu erziehen«) des Erasmus von Rotterdam oder J. L. Vives' Schriften De
institutione feminae Christianae (1523; »Über die Erziehung der christl. Frau«) und De ratione
studii puerilis (1523; »Über die Methode der Knabenbildung«). Es kennzeichnete Fürstenspiegel
wie Erasmus' Institutio principis Christiani (1516; »Erziehung des christl. Fürsten«) oder G.
Budés Institution du Prince (1519, gedr. 1547; »Fürstenerziehung«) und Stilschulen wie L. Vallas
Elegantiae latinae linguae (1437; »Feinheiten der lat. Sprache«), R. Agricolas De inventione
dialectica (1479; »Über die dialektische Er ndung«) oder jene Rhetorik-Lektionen, die A. Loschi
um 1400 in Form von Cicero-Kommentaren verfasste.

Populär waren daneben Lebensratgeber ( Moralistik), als deren unerreichter Meister Erasmus
von Rotterdam hervortrat: »Zwischen 1500 und 1520 wurden 34 Au agen zu je 1000 Stück
seiner Adagia [»Sprichwörter«] verkauft; zwischen 1518 und 1522 wurden 25 Au agen seiner
Colloquia Familiaria [»Vertraute Gespräche«] gedruckt, und Jahr für Jahr folgten erweiterte und
/
durchgesehene neue Au agen; beide aber wurden noch von seinem Ecomium Moriae [»Lob
der Torheit«] übertro fen« [53. 159]. Vorzugsweise erörterten die Hum. Fragen des guten Lebens
an konkreten Beispielen, v. a. im Medium der Historiographie (s. u. 10.3.). In Lobreden (wie
denen, die Poggio Bracciolini beim Tod Niccolò Niccolis 1437 oder Leonardo Brunis 1444
schrieb), Elogien (die der Historiker Paolo Giovio zu Hunderten verfasste) oder Biographien –
von der Visconti-Vita des Pier Candido Decembrio (1447) über die Papstviten des Bartolomeo
Platina (vor 1475, gedr. 1479) und die Künstlerbiographien des Giorgio Vasari (1547, gedr. 1550)
bis zu den Vies des Brantôme (vor 1614, posthum 1665/66) – wurden die Charaktere,
Handlungen und Haltungen berühmter Zeitgenossen im ethischen Geist Plutarchs dargestellt
und erörtert.

Gerne gab man daneben die Briefe berühmter Zeitgenossen heraus, um diese in ihrem Leben
und ihren Freundschaften als Vorbilder darzustellen. Umgekehrt dienten Satiren (wie die
Dunkelmännerbriefe, 1515) und Schmähschriften (lat. invectivae) dazu, vermeintlich falsche
Lebenshaltungen dem Spott der gebildeten Ö fentlichkeit preiszugeben [14. 125 f.]. Am Ende
des H. gelang es Montaigne, mit dem Essay eine Gattung zu entwickeln, die antike Muster in so
ra nierter Form neu arrangierte, dass sie zum adäquaten Medium moderner Selbstanalyse
werden konnte [20].

Gerrit Walther

10. Humanismus und Politik

10.1. Humanisten und Herrscher

Gefördert wurde die Verbreitung des H. nicht zuletzt durch Fürsten, Adlige und
Stadtregierungen. Diese schätzten Hum. als Räte, Ärzte, Professoren oder Prinzenerzieher,
jedenfalls als gut geschulte, fähige und meist auch loyale Helfer, die über weite Schüler- und
Freundeskreise verfügten und bereit waren, diese gleichfalls in den Dienst ihrer Gönner zu
stellen. Die Teilnahme an hum. Netzwerken erlaubte es ihren Patronen, sich von der
Mitsprache traditioneller Eliten (z. B. des Klerus oder des alten Adels) zu lösen und sich auf
informellen Wegen mit anderen (ebenfalls von Hum. beratenen) Fürsten zu verständigen.

Als Experten für Bildungspolitik wurden Hum. häu g – oft gegen den Widerstand der
etablierten Gelehrten – damit beauftragt, landesherrliche Schulen und Universitäten gemäß
den praktischen Bedürfnissen moderner Territorialstaaten zu reformieren (wie Conrad Celtis
1497 durch Kaiser Maximilian I.) oder die Gründer neuer Hochschulen (wie Kardinal Jiménez
1499 in Alcalá) zu beraten. Als scharfsinnige Interpreten des Röm. Rechts waren sie zudem oft
imstande, ihren Patronen wertvolle juristische Hilfe zu leisten – wie das berühmte Beispiel
Guillaume Budés beweist, der 1508 Annotationen zu den Pandekten publizierte und im sog.
mos gallicus zahlreiche Fortsetzer fand ( Humanismus, juristischer) [14. 125]; [20. 260  f.]. Die
Regierungen lohnten solches Engagement, indem sie Hum. bei hohen Anlässen als Festredner
auftreten ließen oder sie durch Dichter-Krönungen als vorbildliche Diener des Gemeinwesens
auszeichneten. So steigerten sie das Prestige hum. Bildung und empfahlen sie jedem, der sich
bei ihnen auszeichnen wollte.
/
Das prominenteste Beispiel solcher Förderung gaben die Päpste (Papsttum). Sie beschäftigten
Hum. als Sekretäre und begünstigten deren Forschungen über jene röm. Größe, als deren
Erben sie selbst sich fühlten [17]; [22. 47–85]. Unter den ital. Fürsten holten zunächst kleinere
wie die Este in Ferrara, die Carrara in Padua und die Gonzaga in Mantua Hum. an ihre Höfe.
Später folgten die Sforza in Mailand und König Alfons V. von Neapel, der seine H.-Patronage in
Konkurrenz mit dem Papsthof betrieb.

Von Italien aus gelangte der H. in die Regierungszentren jenseits der Alpen. Zuerst erreichte er
Frankreich, wo sich, vom päpstlichen Avignon ausstrahlend, schon Ende des 14. Jh.s am Pariser
Collège de Navarre unter Jean de Montreuil, Nicolas de Clamanges und Jean Gerson ein
origineller Früh-H. entfaltete, der 1418 jedoch in den Kriegswirren unterging und erst nach 1450,
mit der Reform der Pariser Artistenfakultät (1452) und der Wirksamkeit Guillaume Fichets am
Collège de la Sorbonne (1453–1473), wiedererstand [26. 319–376]. Schon 1418 gelangte der H. in
Gestalt Pietro Paolo Vergerios auch nach Ungarn, um hier in Johannes Vitéz, dem Erzieher und
Kanzler des Königs Matthias Corvinus, und in diesem selbst mächtige Förderer zu nden, und
von dort nach Polen, wo der exilierte röm. Hum. Filippo Buonaccorsi, genannt Callimachus
Experiens, seit 1470 zum wichtigsten Berater der Jagiellonenkönige, zum Prinzenerzieher und
zum Reformer der Krakauer Universität aufstieg [43. 164–196]; [50. 402–406].

Unterdessen hatte sich der H. auch am Kaiserhof etabliert – Kaiser Friedrich III. krönte den
Kardinalssekretär Enea Silvio Piccolomini (später Pius II.) 1442 zum poeta laureatus und nahm
ihn in seine Kanzlei auf [26. 99–141] –, bei den bayer. Wittelsbachern und am kurpfälzischen
Hof in Heidelberg. Die Kath. Könige von Kastilien und Aragón umgaben sich, wie ihre portug.
Gegenspieler, mit hum. gebildeten letrados (»Gelehrten«) [39. 122 f.]; [42. 89]. Unter den Tudors
(ab 1485) wurde der H. in England zur o ziellen Ho ultur, und auch in Skandinavien
verbreitete er sich rasch [43. 146–163]. Nicht selten waren es fürstliche Heiratsverbindungen –
1476 zwischen Matthias Corvinus und Beatrix von Aragón, 1518 zwischen Sigismund I. von
Polen und Bona Sforza, 1533 zwischen dem franz. Thronfolger Heinrich II. und Katharina de'
Medici –, die hum. Ein üsse erheblich verstärkten.

Die Kooperation mit den Mächtigen war ein wichtiges Merkmal des H. Paradoxerweise scheint
sie gerade deshalb so eng gewesen zu sein, weil die Hum. selbst keine originär politischen Ziele
verfolgten. Nicht Machtverhältnisse und -strukturen interessierten sie, sondern Taten und
Persönlichkeiten [4. 110]. Eine Gestalt wie Caesar faszinierte Petrarca und seine Nachfolger
nicht aus politischen, sondern aus psychologischen Gründen: als ein erstaunliches Beispiel
menschlicher Größe. Wenn die Hum. bisweilen republikanische Ideale äußerten, war dies oft
nur ein Echo ihrer Lieblingsautoren, etwa Ciceros oder Sallusts. So war ihr Republikanismus
(wie er sich etwa in Lobreden auf den Caesarmörder Brutus oder den Caesargegner Cato
äußerte) ebenso wie ihr Fürstenlob weniger politisches Bekenntnis als ästhetische Pose [24.
112–126]. In der Praxis nämlich hatten Petrarca, Enea Silvio, Erasmus und ihre Bewunderer
keine Skrupel, sich gleichermaßen von Kaiser und Papst, weltlichen und geistlichen Herren,
Tyrannen und Republiken protegieren zu lassen. Nicht politische Überzeugungen einten die

/
Hum., sondern der Stolz auf ein Bildungskonzept, das für schlechthin alle Stände und Parteien
wertvoll und erstrebenswert sei. Deshalb waren sie bereit, dieses in den Dienst jedweder Macht
zu stellen, die ihre kulturellen Ziele zu unterstützen versprach.

10.2. Der Hofmann

Das Ideal dieser bis zum Opportunismus pragmatischen Indi ferenz war der weltgewandte,
perfekt in und zwischen allen politischen Lagern agierende Hofmann (Cortegiano), wie
Baldassare Castiglione ihn um 1520 in ciceronischen Begri fen und Wendungen beschrieb. In
allen Materien gebildet, in keiner aber so tief und akademisch, dass deren Kenntnis zur
Pedanterie werden könnte, ein Inbegri f heiterer Selbstdisziplin, mit scheinbar müheloser
Selbstverständlichkeit (ital. sprezzatura) in jeder Situation das jeweils Richtige und
Angenehme tuend, ein perfekter, einnehmender Gesprächspartner und Diplomat, besaß dieser
vollendete Virtuose und Ästhet keine eigenen politischen Interessen, sondern war ganz
Medium – und eben deshalb fähig und befugt, im Namen und an der Stelle seines Fürsten zu
handeln [13. 280 f.]. Damit dieser als Haupt, Hüter und Vorbild einer auf solchen Talenten und
Tugenden gründenden Gesellschaft prinzipiell Gleicher glaubhaft sei, musste sein Bild in
Castigliones Entwurf zu absoluter Größe gesteigert werden. Insofern schuf der H. eine wichtige
geistige Voraussetzung für die Entstehung des Absolutismus.

Die tatsächliche Tätigkeit der Hum. in fürstlichen Diensten bestätigt Castigliones Modell.
Durchwegs setzten sie ihre lit. Begabung dazu ein, ö fentlich für ihre Gönner zu werben. Dies
konnte in Form von Festreden und Gelegenheitsdichtungen geschehen – wie denen, die
Ermolao Barbaro, Enea Silvio, Heinrich Bebel oder Conrad Celtis auf die Kaiser Friedrich III.
und Maximilian I. verfassten [3] –, aber auch mit Programmen für Gemälde und Statuen,
Repräsentationsräume, Feste und Einzüge, die den Ruhm des Herrschers verdeutlichten [33.
125–190]. Das Beispiel der Habsburger zeigt, wie fortschrittliche Herrscher Hum. mit
Genealogien, Biographien, Geschichtswerken oder Grabmälern beauftragten und sich so ihre
Familien-Memoria neu gestalten und durch die Autorität moderner Textkritik sichern ließen
[38]. Stets glori zierten die Hum. darin deren Taten als denen antiker Helden ebenbürtig und
legitimierten sie als kulturpolitische Mission.

10.3. Leitbild »Nation«

Ideale wie Feindbilder des H. wurden systematisch auf die aktuelle Politik gemünzt. Die
Gegner der Regierung – in Italien waren dies alle Invasoren, die über die Alpen oder das
Mittelmeer kamen, sonst v. a. die Osmanen – erschienen als »Barbaren«, die es zu vertreiben
galt, wie einst die Römer Gallier, Goten und Germanen bezwungen hatten. Den Herrscher und
dessen Vorgänger hingegen stilisierte man zu hum. Helden, denen es durch Tugend und
Tatkraft gelungen war, ihr Volk der »Barbarei« zu entreißen, zu höherer Kultur zu führen und
so zu einer starken, autonomen Nation zu formieren [26].

Dieses Konzept der »Nation« wurde zum wirkungsmächtigsten politischen Modell des H. Es
erwuchs zwanglos aus der Gewissheit ital. Hum., in der röm. Geschichte ihre nationale
Vergangenheit zu sehen, in deren Helden ihre nationalen Vorfahren und in der
/
Wiederherstellung antiker Texte und Monumente einen Beitrag zur Erneuerung jener Größe
und Einheit, die »Italien« in der Antike besessen hatte. Da »Nation« sich indes am Niveau der
nationalen Kultur bemaß, war sie für die Hum. kein ethnisches, sondern ein ethisch-kulturelles
Leitbild: Als »Nation« galt ihnen jede politische Gemeinschaft, deren Sprache und Kultur
derjenigen der Antike ähnelte. Dem musste (vorerst) keine politische Einheit entsprechen; sie
zu fordern, lag aber in der Konsequenz dieses Entwurfs [27].

Weil »Nation« sich somit in Sprache manifestierte, erwies sie sich nicht zuletzt in der
Fähigkeit, ihren Ruhm in klassischen Geschichtswerken zu »illustrieren«. Das Muster dieser
Gattung hatte Leonardo Bruni mit seinen Historiarum Florentini populi libri XII (1415–1429;
»Zwölf Bücher der Geschichte des Volkes von Florenz«) gescha fen. In livianischer Eleganz und
ganz ohne Rekurs auf traditionelle Mythen und Legenden hatte er geschildert, wie die Stadt
seit ihrer Gründung durch den Republikaner Sulla (also nicht den Tyrannen Caesar) als eine
Bastion der Freiheit für das toskanische Volk gegen benachbarte Tyrannen und german.
Barbaren gekämpft habe [39. 30  f.]. Nach diesem Vorbild ließen sich seit den 1480er Jahren
mehrere europ. Fürsten von ital. Hum. Geschichten ihrer Völker und Reiche verfassen, so der
poln. König Kasimir IV. seit 1484 durch Callimachus Experiens, der ungar. König Matthias
Corvinus seit 1488 durch Antonio Bon ni aus Ascoli, Ludwig XII. von Frankreich seit 1499
durch den Veroneser Paulus Aemilius, König Ferdinand von Aragón seit 1500 durch Lucius
Marinaeus Siculus und Heinrich VII. von England seit 1507 durch Polydorus Vergilius aus
Urbino. So wurden ital. Hum. zu Geburtshelfern eines nationalen Selbstbewusstseins der
europ. Kulturnationen [26].

Gerrit Walther

11. Höhepunkt und Transformationen

Im 16. Jh. prägte der H. die Eliten-Kultur in ganz Europa. Seine Werte und Formen wurden zu
Kennzeichen vornehmer Distinktion. Wer bei Hof und in führenden Kreisen verkehren und
reüssieren wollte, kam nicht umhin, Kenntnisse in den studia humanitatis zu besitzen. Überall
symbolisierte die hum. Kultur die Teilhabe an der sozialen Macht.

11.1. Institutionalisierung

Institutionell äußerte sich dieser Erfolg in hum. inspirierten Reformen von Schulen und
Universitäten, etwa in der Etablierung des Griechischen (vgl. Gräzistik) – z. B. in Salamanca
(1495), Krakau (1500), Alcalà (1513), Leipzig (1515), Paris (1517) und Wittenberg (1518) – oder des
Hebräischen (vgl. Hebraistik) – z. B. in Salamanca (1511), Heidelberg (1519) und Basel (1529) als
Lehrfächer. Wegweisende Neuerungen waren daneben die Gründung des (von Erasmus
angeregten) Collegium Trilingue in Löwen (1517) und entsprechender Lekturen für die drei
biblisch-antiken Sprachen durch König Franz I. in Paris (1530), der Säulen des späteren Collège
Royal [14. 120 f.]; [50. 405].

/
Im Heiligen Röm. Reich triumphierte der H. in den Schulreformen Philipp Melanchthons, des
Praeceptor Germaniae (»Lehrer Deutschlands«), die im Zuge der Reformation in den meisten
protest. Territorien durchgeführt wurden [43. 114]; [45. 95–106]. Prominente Beispiele waren
die sächs. Fürstenschulen, aber auch das Gymnasium des Straßburger Rektors Johannes Sturm
(1538). Endgültig wurden hier die ma. Grammatiklehrbücher abgescha ft und entschiedene
Schwerpunkte auf die lat. Dichter, Redner und Historiker gelegt [51]. Aber auch die Musik
erhielt stärkeres Gewicht [40]. Als der Jesuiten-Orden im Zuge der Katholischen Reform
ebenfalls die Schulen erneuerte, orientierte er sich in vielem am protest. Modell [33. 262–302];
[45. 135–170]; [51].

Während des Siegeszugs des H. expandierte seine gelehrte Produktion: Parallel zu den Schul-
und Universitätsreformen entstanden zahllose Klassikerausgaben und Erziehungstraktate,
dazu Wörterbücher und Grammatiken, die trotz ihrer didaktischen Bestimmung bisweilen
eminente Wirkung auf die Ausprägungen und Kodi zierungen der Volkssprachen ausübten, so
etwa E. A. de Nebrijas Introductiones Latinae (1481), die eine Vorstufe seiner Gramática
castellana (1492) darstellte. Übersetzungen griech. Werke ins Lateinische oder in die
Volkssprachen verraten eine um diese Zeit steigende Nachfrage von Laien, die sich genötigt
sahen, eine in der Jugend versäumte hum. Bildung nachzuholen.

In allen, gerade auch den nordeurop. Ländern blühten zudem Studien zu Autoren, Geschichte
und Kultur des Altertums (Altertumskunde; Archäologie). Hatte man sich dabei bislang meist
der Literatur und Geschichte zugewandt – mit so bedeutenden Ausnahmen allerdings wie dem
Mathematiker Johannes Regiomontanus –, so bemühte man sich nun vermehrt um antike
Naturwissenschaften (Medizin, Mathematik, Astronomie) und um antike Künste wie Malerei
und Musik, die spurlos verloren schienen.

11.2. Die Grenzen des antiken und italienischen Vorbilds

In diesen Tendenzen verband sich der H. mit der Renaissance; allerdings wurden bald die
Grenzen antiken Wissens merkbar. Nikolaus Kopernikus begann De revolutionibus orbium
coelestium libri IV (posthum 1543; »Vier Bücher über Himmelsbewegungen«) als Revision des
griech. Astronomen Ptolemäus, Andreas Vesalius seine De humani corporis fabrica (1543; »Über
den Bau des menschlichen Körpers«) als Korrektur des antiken Arztes Galen. Selbst der wenig
gebildete Fernández de Oviedo, Verfasser der Historia General y Natural de las Indias
(1526/1557), musste feststellen, dass der röm. Universalgelehrte Plinius in vielem geirrt hatte
[46. 65–88].

Zusehends erforschte man zudem das eigene nationale Altertum, um dieses als dem röm.
gleichrangig zu erweisen. Das galt für E. A. de Nebrijas Antigüedades de España (1499) ebenso
wie für die Bayerische Chronik des Johannes Aventinus (1533), die Teil des von Celtis initiierten
Projekts einer Germania Illustrata werden sollte. Zwar folgten solche Unternehmen ital.
Vorbildern (bes. Biondos Italia illustrata; s. o. 5.2.). Nun aber wurden sie nicht mehr von
Italienern realisiert, sondern durchwegs von Einheimischen. Die aemulatio (»Nacheiferung«),
die der ital. H. hinsichtlich der röm. Antike propagierte und verfolgte, wurde von den nördl.
Nachbarn nun gegen ihn selbst gewandt [14. 219–222]. Während brit. Antiquare die Historia
/
Anglica des Polydorus Vergilius erbittert kritisierten und durch eigene Werke zu ersetzen
suchten, weil er die Artus-Sage als unhistorisch verworfen hatte, feierte ein nationalistischer
Hum. wie Ulrich von Hutten den german. Freiheitshelden Arminius als Sieger über Augustus
[26. 415–435]; [27].

Symbolisch für die Ablösung des ital. Modells ist die Tatsache, dass seit den 1520er Jahren der
Niederländer Erasmus von Rotterdam zur europ. Symbolgestalt des H. aufrückte. Anders als
Petrarca, dessen Rolle er übernahm, richtete sich sein Blick weder auf die Poesie noch auf
irdische Schönheit. Vielmehr verfolgte er das typisch nordeurop. Ziel, die weltliche Sphäre
sanft mit der göttlichen zu verbinden, Antike und Christentum zu versöhnen – ein Thema, das
der führende franz. Humanist, Guillaume Budé, 1535 in einer Abhandlung De transitu
Hellenismi ad Christianismum (»Über den Übergang des Hellenismus zum Christentum«)
histor. erörterte [21]; [36]; [49. 29–48].

Gerrit Walther

12. Das Ende des Humanismus

Die Entthronung Italiens als führende Nation des H. hatte mehrere Ursachen: den europ. Krieg,
der das Land seit 1494 verheerte, den wirtschaftlichen Abstieg der ital. Staaten, den Verlust
ihrer politischen Unabhängigkeit und 1527 den Sacco di Roma (die wochenlange Plünderung
Roms durch die span.-dt. Truppen Karls V.), der den Traum der röm. Renaissance brutal
beendete. Mochten diese Umwälzungen dazu beitragen, die Errungenschaften des H. in ganz
Europa zu verbreiten, so beraubten sie Italien selbst der wichtigsten äußeren Faktoren, die den
Renaissance-H. ermöglicht hatten. Hier wie in den Empfängerländern änderte sich sein
Erscheinungsbild [25].

Nicht zuletzt geriet die mundane Weltsicht des H. nun überall in Kon ikt mit einer
intensivierten Religiosität. Von Anfang an hatte sie bei vielen frommen Zeitgenossen Anstoß
erregt. In Florenz etwa hatten v. a. die Dominikaner gegen die Kultur der Medici agitiert. Dass
nach deren Vertreibung 1494 der Bußprediger Girolamo Savonarola, der Abt des von diesen
selbst begünstigten Klosters San Marco, die Macht ergri f, ein religiöses Zwangsregime
errichtete und zusammen mit Gemälden und Luxusgegenständen auch hum. Schriften auf
Scheiterhaufen verbrennen ließ, bedeutete das Ende des H. in dessen einstiger Hochburg.

Wo der H. sich von Anfang an innerhalb der kirchlich-religiösen Sphäre entfaltet hatte, etwa in
Spanien, den Niederlanden wie in manchen Teilen des Alten Reichs, suchte man ihn nun erst
recht religiösen Zwecken dienstbar zu machen. Zwar übernahmen Reformatoren wie die
Pädagogen der Katholischen Reform die hum. Methoden des Unterrichts und der Philologie.
Aber nicht mehr schöne Beredsamkeit stand im Mittelpunkt ihrer Bestrebungen, sondern, so
fasste es Johannes Sturm, eine sapiens atque eloquens pietas (lat.; »eine weise, wortgewandte
Frömmigkeit«) [51. 295].

/
Indem Sprache und Antike au örten, schöner Selbstzweck zu sein, verlor der H. seinen
Charakter als freie, autonome Bildungsbewegung. Diese Verschiebungen der Perspektiven,
Interessen und Ziele hum. Tätigkeit und Lebensführung im Zeitalter des Späthumanismus
bedeuteten einen so mächtigen Mentalitätswandel, dass es kaum möglich scheint, in diesem
Phänomen den gleichen H. zu sehen wie in den entsprechenden Phänomenen des 14. und 15. 
Jh.s. Das Abebben, ja das Ende des H. war somit paradox wie dieser selbst: Es erfolgte aufgrund
seines vollkommenen Erfolgs und war von einer wahren Explosion »hum.« Forschung und
Dichtung begleitet.

So wird der H. für Historiker noch in seinem Ende zum wichtigen Indikator für einen
epochalen Wandel der abendländischen Mentalität, Kultur und Zivilisation: für den Übergang
vom MA zur Neuzeit. Diese bewahrte – und sei es oft auch nur als wirkungsmächtige Mythen –
die wiss. und emanzipatorischen Errungenschaften des H., seine Ideen von Menschenwürde,
Erziehung, Kritik und Schönheit. Indem die folgenden Generationen diese Ideale indes
notwendig ihren eigenen soziokulturellen Bedingungen, Bedürfnissen und Interessen
anpassten – z. B. durch Systematisierung, Konzentration oder Übersteigerung –, machten sie sie
zu etwas Neuem, endgültig Modernem.

Verwandte Artikel: Antikerezeption | Bildung | Epoche | Neuhumanismus | Renaissance |


Späthumanismus

Gerrit Walther

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Walther, Gerrit, “Humanismus”, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit
den Fachherausgebern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Copyright © J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag
GmbH 2005–2012. Consulted online on 14 May 2020 <http://dx-doi-org.uaccess.univie.ac.at/10.1163/2352-0248_edn_COM_282086>
First published online: 2019

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