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Haus, ganzes
(831 words)
Nachdem er bereits 1939 auf die Bedeutung des Hauses für die Sozial- und
Verfassungsgeschichte des MA verwiesen hatte [1], nahm der österr. Sozialhistoriker Otto
Brunner 1956 gezielt den Begri f Riehls auf und stilisierte ihn in ähnlich sozialkonservativer
Weise zu der grundlegenden Einheit ma. und frühnzl. Gesellschaften. Auch er bezeichnete
damit nicht nur die Form der Koresidenz in einem Haushalt, sondern verband damit die
Vorstellung einer patriarchalisch-paternalistischen Gesellschaft selbständiger
mittelbäuerlicher Gutsbetriebe und einer im Rahmen der Hausväterliteratur entwickelten
Wirtschaftsethik. Das G. H. war nach Brunner »stets eine auch die menschlichen Beziehungen
im Hause miteinschließende ›Wirtschaft‹ im älteren Sinne« [2. 108].
Andreas Gestrich
2. Kritik /
Brunners Konzept, das zunächst innerhalb der bundesdt. Sozialgeschichte auf große Resonanz
gestoßen war und z. T. immer noch in seinen Grundzügen verteidigt wird, wurde in der
jüngeren Forschung als ideologisch problematisch kritisiert, weil es deutlich im Kontext
nationalsozialistischer Ständestaatsideologie und Volksgeschichtsschreibung verankert ist [3.
77–80]; [4]; [14]; die rechts- und sozialhistor. Forschung setzte sich darau in intensiv mit
Brunners Konzept auseinander [9]; [12. 88–101]; [13]. Die Rechtsgeschichte wies früh darauf
hin, dass dem Begri f des Hauses in der ma. Verfassungsgeschichte keineswegs die von Brunner
postulierte Bedeutung zukomme, sondern dass dies ein frühnzl. Ordnungsbegri f sei [5. 46 f.].
Die histor. Demographie entlarvte mit dem von Riehl begründeten »Mythos von der
vorindustriellen Großfamilie« [8. 38] auch den sozialgeschichtlichen Realitätsgehalt des »G.
H.« als Fiktion bzw. erklärte es als einen allenfalls regional relevanten Typ bäuerlicher
Wirtschafts- und Haushaltsstruktur, der zugleich im Rahmen des Familienzyklus einer starken
inneren Dynamik unterworfen war [6]; [12. 90–92].
Andreas Gestrich
Bibliography
[2] O. B , Das »Ganze Haus« und die alteurop. »Ökonomik«, in: O. B , Neue Wege
der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 21968, 103–127
[3] V. G , Außer Haus. Otto Brunner und die alteurop. »Ökonomik«, in: GWU 46, 1995,
69–80
[4] R. J , Zwischen Ständestaat und Austrofaschismus. Der Beitrag Otto Brunners zur
Geschichtsschreibung, in: Tel Aviver Jb. des Instituts für dt. Geschichte 13, 1984, 337–362
/
[5] K. K , Haus und Herrschaft im frühen dt. Recht, 1968
[9] C. O , Neue Wege der Sozialgeschichte? Ein kritischer Blick auf Otto Brunners Konzept
des »ganzen Hauses«, in: GG 20, 1994, 88–98
[10] W. H. R , Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer dt. Social-Politik, Bd. 3:
Die Familie, 1904 (11855)
12
[11] L. R , Das fromme Haus. Frauen und Moral in der Reformation, 1995
Gestrich, Andreas, “Haus, ganzes”, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung
mit den Fachherausgebern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Copyright © J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag
GmbH 2005–2012. Consulted online on 14 May 2020 <http://dx-doi-org.uaccess.univie.ac.at/10.1163/2352-0248_edn_COM_278344>
First published online: 2019