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Enzyklopädie der Neuzeit Online

Haus, ganzes
(831 words)

1. Begri f und Konzept


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Die Wortverbindung G. H. geht als wiss. Begri f auf den
1. Begri f und Konzept
Kulturwissenschaftler und konservativen Sozialkritiker W. 
H. Riehl (1823–1897) zurück [10. 164]. Riehl interpretierte 2. Kritik
die aus zwei Generationen bestehende Kernfamilie als
Verfallserscheinung der modernen Zivilisation und
grenzte sie von dem älteren Begri f des Hauses (franz. maisonnée, ital. casa) ab, in dem nicht
nur mehrere Generationen von Blutsverwandten, sondern auch Gesinde und andere Inwohner
unter der Leitung eines Hausvaters zusammen gelebt und gewirtschaftet hätten. Der Begri f
Haus wurde im Deutschen erst im 18. Jh. von dem franz. Lehnwort Familie verdrängt. In der
Mitte des 19. Jh.s war er alltagssprachlich nicht mehr wirklich geläu g; über die häu ge
Verwendung in der Luther-Bibel (z. B. 2 Samuel 6,11: »und der Herr segnete ihn und sein ganzes
Haus«) kam ihm jedoch eine gewisse religiöse Würde zu [11]. Riehl überhöhte mit diesem
Begri f eine zur göttlich gewollten Ordnung der Gesellschaft erklärte Form des
Zusammenlebens, die bes. durch die implizierte Unterordnung des Gesindes und der Kinder
unter die Befehlsgewalt des Hausvaters und die von ihm repräsentierten Gesamtinteressen
gekennzeichnet war.

Nachdem er bereits 1939 auf die Bedeutung des Hauses für die Sozial- und
Verfassungsgeschichte des MA verwiesen hatte [1], nahm der österr. Sozialhistoriker Otto
Brunner 1956 gezielt den Begri f Riehls auf und stilisierte ihn in ähnlich sozialkonservativer
Weise zu der grundlegenden Einheit ma. und frühnzl. Gesellschaften. Auch er bezeichnete
damit nicht nur die Form der Koresidenz in einem Haushalt, sondern verband damit die
Vorstellung einer patriarchalisch-paternalistischen Gesellschaft selbständiger
mittelbäuerlicher Gutsbetriebe und einer im Rahmen der Hausväterliteratur entwickelten
Wirtschaftsethik. Das G. H. war nach Brunner »stets eine auch die menschlichen Beziehungen
im Hause miteinschließende ›Wirtschaft‹ im älteren Sinne« [2. 108].

Andreas Gestrich

2. Kritik /
Brunners Konzept, das zunächst innerhalb der bundesdt. Sozialgeschichte auf große Resonanz
gestoßen war und z. T. immer noch in seinen Grundzügen verteidigt wird, wurde in der
jüngeren Forschung als ideologisch problematisch kritisiert, weil es deutlich im Kontext
nationalsozialistischer Ständestaatsideologie und Volksgeschichtsschreibung verankert ist [3.
77–80]; [4]; [14]; die rechts- und sozialhistor. Forschung setzte sich darau in intensiv mit
Brunners Konzept auseinander [9]; [12. 88–101]; [13]. Die Rechtsgeschichte wies früh darauf
hin, dass dem Begri f des Hauses in der ma. Verfassungsgeschichte keineswegs die von Brunner
postulierte Bedeutung zukomme, sondern dass dies ein frühnzl. Ordnungsbegri f sei [5. 46 f.].
Die histor. Demographie entlarvte mit dem von Riehl begründeten »Mythos von der
vorindustriellen Großfamilie« [8. 38] auch den sozialgeschichtlichen Realitätsgehalt des »G. 
H.« als Fiktion bzw. erklärte es als einen allenfalls regional relevanten Typ bäuerlicher
Wirtschafts- und Haushaltsstruktur, der zugleich im Rahmen des Familienzyklus einer starken
inneren Dynamik unterworfen war [6]; [12. 90–92].

Die Agrargeschichte kritisierte die Annahme einer geringen Marktorientierung der


vorindustriellen Landwirtschaft sowie Brunners Bild einer statischen Agrargesellschaft mit
geringer sozialer und regionaler Mobilität [13]. Dieselbe Kritik wurde auch gegen seine
Ausweitung des Konzepts vom agrarischen auf den städtisch-handwerklichen Bereich
vorgebracht [3. 73–75]. Die Geschlechtergeschichte schließlich kritisierte Brunners
Konzentration auf die Rolle des Hausvaters und die völlige Ausblendung der Rechte und
Funktionen der Frau (Hausmutter) und nahm damit zusammenhängend auch die
Idealisierung der Schutzfunktion des Mannes und das Verschweigen der innerhäuslichen
Gewalt-Verhältnisse zum Anlass für eine weitgehende Revision des traditionellen Bildes der
Binnenstrukturen des G. H. [9]; [11]. In der Auseinandersetzung mit dem Konzept ist somit in
den letzten Jahrzehnten ein sehr di ferenziertes, neues Bild ma. und nzl. Haushalts- und
Familien-Strukturen entstanden.

Verwandte Artikel: Familie | Gesinde | Haushalt | Ländliche Gesellschaft

Andreas Gestrich

Bibliography

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Cite this page

Gestrich, Andreas, “Haus, ganzes”, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung
mit den Fachherausgebern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Copyright © J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag
GmbH 2005–2012. Consulted online on 14 May 2020 <http://dx-doi-org.uaccess.univie.ac.at/10.1163/2352-0248_edn_COM_278344>
First published online: 2019

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