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Enzyklopädie der Neuzeit Online

Geschichtsbild
(993 words)

1. Begri f
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Der moderne Begri f G. meint die Vorstellung, die ein
1. Begri f
Individuum oder Kollektiv sich vom Verlauf der
Geschichte als Ganzer bzw. von einzelnen Epochen und 2. Lebensweltliche
Sachverhalten macht. Art und Gestalt dieser Vorstellung Erfahrungen
sagen viel über die politische Mentalität sowie über die 3. Theorie
sozialen und kulturellen Wertvorstellungen einer
historischen Person oder Gruppe aus und sind daher ein
bevorzugtes Thema der internationalen Forschung zur (Frühen) Nz.

Oliver Ramonat

2. Lebensweltliche Erfahrungen

Ein G. in diesem Sinne resultiert aus konkreten lebensweltlichen Erfahrungen und wirkt als
Ideologie und Wahrnehmungs lter auf diese zurück. So ließen z. B. die Stadtstaaten im Italien
der Renaissance die Krise der das ma. G. prägenden Universalmächte Kaisertum und Papsttum
so sinnfällig werden, dass Machiavelli in seinem Principe (1532; »Der Fürst«) die Konsequenz
ziehen und bloßen Machterhalt zum Ideal autonomen politischen Handelns erklären konnte
(Machiavellismus). Das G. der Au lärungshistorie im 18. Jh. war von der Überzeugung
bestimmt, dass die Weltgeschichte auf einen de nierten Endpunkt zustrebe: auf den Sieg der
Vernunft bzw. der Moral.

Das allgemeine Entsetzen über die Terrorherrschaft, die die Französische Revolution im
Namen dieser universalen Vernunft übte (vgl. Terreur), brachte dieses G. ins Wanken. Der Sieg
über das revolutionäre Frankreich (1813–1815) schien die bis dahin erlebte Dynamik wieder aus
der Gegenwart und damit aus dem G. zu verdrängen. Erst mit der Julirevolution 1830 etablierte
sich bei der europ. Intelligenz ein G., das von einer anhaltenden, durch spontanes, kreatives
Handeln bewirkten Bewegung geprägt war. Seitdem erschien Geschichte als o fener,
dynamischer, rein immanent verlaufender Prozess, der weder Ende noch Abschluss kennt und
aus nichts als sich selbst verstanden werden kann [10]; [12]. /
Oliver Ramonat

3. Theorie

Als theoretisches Problem stellte sich den Zeitgenossen die Frage nach der Entstehung von G.
v. a. seit etwa 1790 im Zeichen von Idealismus und Historismus. Davor hatte eine Au fassung
vorgeherrscht, die als konstruktivistisch bezeichnet werden kann: Man glaubte an die
autonome Existenz histor. Fakten, die durch den Historiker bzw. Antiquar zu einem G.
geordnet werden müssten. Dessen Schöpfung erschien als eine rhetorische
Vermittlungsaufgabe. So suchten Au lärungshistoriker wie J. Ch. Gatterer oder A. L. Schlözer,
die Weltgeschichte nach äußeren, meist didaktisch-pädagogischen Maßstäben aufzubereiten,
sie z. B. in chronologische Perioden zu teilen, die leicht merkbar waren (Chronologie). Man
trennte mithin zwischen Tatsachen und Deutung; die historischen Fakten galten als
unabhängig von ihrem Sinn bzw. von ihrer Einbindung in eine Frage und Darstellung [11].

Die dt. Geschichtswissenschaft des 19. Jh.s hingegen – und in ihrer Folge die internationale
Forschung – ließ, inspiriert durch die idealistische Philosophie (v. a. Kant, Fichte, Schelling,
Friedrich Schlegel), Geschichte und G. in eins zusammenfallen. Nach Kants »kopernikanischer
Wende« in der Erkenntnistheorie seit 1781 galten das Subjekt ( Subjektivität) und seine
Denkoperationen als eigentliche Instanzen der Weltau fassung und der Objektivität. Wie das
Subjekt nichts ihm Äußerliches zu Hilfe nehmen und einen archimedischen Punkt nur in sich
selbst nden könne, so wurde die Geschichte zu einer autonomen Wissenschaft, die ihren
Zweck in sich trug (Immanenz) und alle ihr äußerlichen Setzungen abstreifte
(O fenbarungswahrheiten, Fortschritts-Glauben, pädagogisch-pragmatische Ansprüche etc.)
[2]. Seither war Geschichte nichts an sich in der Welt Vorhandenes mehr. Für avancierte
Historiker wie L. von Ranke existierte sie als ein Gegenstand der Erkenntnis nur in den
Subjekten selbst, in ihren histor. Fragen und Problemen [3]. Geschichte und G. wurden
identisch, weil Vernunft und Geschichte, Faktum und Deutung, Sinn und Geschehen,
schließlich auch Forschung und Darstellung identisch wurden.

Das Subjekt galt somit im 19. Jh. nicht mehr als Hindernis von Objektivität, sondern vielmehr
als die Bedingung ihrer Möglichkeit. Es gab kein »Vetorecht der Quellen« mehr wie für die
skeptischen Antiquare des 17. und 18. Jh.s, sondern nur mehr das des forschenden Subjekts.
Dieses ermahnte sich selbst zu gewissenhafter Arbeit, zu »objektiver Stimmung« [1]. Es konnte
nun keine Abbildung der Vergangenheit mehr geben, sondern eine intellektuelle
Durchdringung in Bezug auf ein histor. Problem. Ranke schrieb 1820, dass ihm das selbst
Durchdachte »gedrängter«, »lebendiger« erscheine als die Berichte der Zeitgenossen. Dieser
erkenntnistheoretische Befund erwies sich als unhintergehbar: Seither lassen sich die Fragen
der Historiker – und damit die G. – notwendig im Nachhinein als aus ihrer jeweiligen Zeit
stammend erkennen; anders ist die fortdauernde Objektivität der durch diese Fragen
entstandenen Darstellungen nicht mehr denkbar. Wer G. hingegen weiterhin auf äußere
Sinnsetzungen gründen will statt auf immanente Logik oder immanenten Sinn, muss, so Max
Weber, »seinen Intellekt opfern« [4. 108].

/
Die von Max Weber an dieser Stelle konstruktivistisch aufgelöste Spannung zwischen
Geschichte als objektivem Geschehensprozess (im Sinne von lat. res gestae) und G. als
subjektiver Deutung (im Sinne von memoria rerum gestarum) hat die Geschichte der nzl.
Geschichtswissenschaft weithin geprägt und die Frage nach der Objektivität des histor.
Wissens stets aufs Neue aufgeworfen.

Verwandte Artikel: Geschichte | Geschichtsbewusstsein | Geschichtswissenschaft |


Historiographie | Historismus | Objektivität

Oliver Ramonat

Bibliography

Quellen

[1] W. H , Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers, in: W. H ,


Werke in 5 Bänden, hrsg. von A. Flitner und K. Giel, Bd. 1, 1980, 585–606 (Orig. 1821)

[2] I. K , Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Bd. 11, in: I.


K , Werkausgabe, hrsg. von W. Weischedel, 1977, 33–50

[3] L. R , Geschichten der germanischen und romanischen Völker, 1824

[4] M. W , Wissenschaft als Beruf, in: M. W , Gesamtausgabe, hrsg. von W. J. Mommsen
und W. Schluchter 17, 1992, 71–111.

Sekundärliteratur

[5] G. A (Hrsg.), Die Deutschen und ihr MA. Themen und Funktionen moderner
Geschichtsbilder vom MA, 1992

[6] J. A et al. (Hrsg.), Telling the Truth about History, 1994

[7] W. H , Geschichtskultur und Wissenschaft, 1990

[8] W. H (Hrsg.), Über das Studium der Geschichte, 1990

[9] A. H , Verlust der Geschichte, in: A. H , Gesammelte Schriften, Bd. 3:


Wissenschaftsgeschichte und -theorie, Völkerrecht, Universitäts- und Schulreform, 1995, 2158–
2236 (Orig. 1959)

[10] C . J et al. (Hrsg.), Geschichtsbilder: Konstruktion, Re exion,


Transformation, 2005

[11] U. M , Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Au lärung, 1991

/
[12] U. M , Historie und Politik im Vormärz, in: U. M , Staatensystem und
Geschichtsschreibung: Ausgewählte Aufsätze zu Humanismus und Historismus, Absolutismus
und Au lärung, hrsg. von N. Hammerstein und G. Walther, 2006, 300–312

[13] E. S , Rankes Erstlingswerk oder Der Beginn der kritischen Geschichtsschreibung


über die Nz., in: E. S , Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch, 1979, 44–64

[14] O. V , Geschichte als Sinn, 1979

[15] H. W , Metahistory, 1991.

Cite this page

Ramonat, Oliver, “Geschichtsbild”, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung
mit den Fachherausgebern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Copyright © J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag
GmbH 2005–2012. Consulted online on 14 May 2020 <http://dx-doi-org.uaccess.univie.ac.at/10.1163/2352-0248_edn_COM_272184>
First published online: 2019

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