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Andere politische oder sogar rechtliche Positionen wurden daraus jedoch nicht mehr
abgeleitet. Die Reichsverfassung stützte man vielmehr auf konkrete Rechtsakte, beginnend mit
der Goldenen Bulle 1356, die alle gemeinsam mit der Lehre von der Souveränität den Theorien
zum Reichsstaatsrecht als Grundlage dienten (Staatsrecht). Auch die Geltung des Gemeinen
Rechts wurde zunehmend nicht mehr aus der röm. Kaisertradition abgeleitet, sondern auf
gewohnheitsmäßige Anwendung zurückgeführt. Der seit dem 15. Jh. übliche Endzusatz
schließlich fand seine Begründung darin, dass das Kaiseramt »seit Ottonis I. Zeiten der Dt.
Nation ganz eigen geblieben ist« [7. 419], dass diese anstelle der Römer Träger der
Reichsherrschaft geworden sei [8. 114].
Trotz dieses Zusatzes ging die Zugehörigkeit zum H. R. R. D. N. über den dt. Sprachraum, dem als
solchem ohnedies keine rechtliche Bedeutung zukam, aber auch über den engeren
Reichsverband hinaus. Dieser Verband ergab sich aus verfassungsrechtlichen Einrichtungen
wie der Zugehörigkeit zu einem der Reichskreise bzw. zur Krone Böhmens und, bis 1648, zur
Schweizerischen Eidgenossenschaft sowie aus der gemeinsamen Vertretung am Reichstag. Zum
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H. R. R. D. N. gehörten zudem Gebiete im ehemaligen Königreich Burgund bzw. Arelat und v. a. in
Reichsitalien: die burgundischen und ital. Reichslehen, die weder einem Reichskreis zugehörig
noch am Reichstag vertreten waren. Diese Zugehörigkeit kam augenfällig darin zum Ausdruck,
dass es neben dem Erzkanzler für Deutschland (lat. per Germaniam) auch je einen für Italien
(per Italiam) sowie für Burgund (per Galliam) gab; die beiden Letzteren stellten allerdings
bloße Titel für die geistlichen Kurfürsten von Trier bzw. Köln dar, und nur Ersterer, der Kurfürst
von Mainz, besaß tatsächliche Bedeutung als Reichskanzler und damit als (formaler) Leiter der
Reichsho anzlei.
Dies bestätigt die Entwicklung einer synonymen Bezeichnung. Wohl infolge der rechtlich-
politischen Bedeutungslosigkeit der antik-röm. Tradition in der Nz. wie auch infolge der
Dominanz der dt. Reichsinstitutionen und des dt. Bevölkerungsanteils kamen im 18. Jh. die
Bezeichnungen »Deutsches Reich« und auch »Deutschland« auf. Joseph II. etwa wurde 1756/57
belehrt, dass das »Dt. Reich« »im dt. Kanzleistil das H. R. R. D. N.« genannt werde [7. 418 f.], einer
seiner Brüder, das »Dt. Reich ist eine beschränkte Monarchie« [13. §9], »Deutschland ist ein
zusammengesetzter Staat« [13. §27] (s. u. 2.). Hiervon wurde »Dt. Reich« zur zweiten o ziellen
Bezeichnung seit der Vereinbarung des »Dt. Fürstenbundes« 1785 über den
Reichsdeputationshauptschluss 1803 bis zur Au ösungserklärung des Alten Reiches durch
Kaiser Franz II. am 6. 8. 1806. Gerade Friedensschlüsse (z. B. Lunéville 1801) gebrauchten nun
die Bezeichnung »Dt. Reich« (franz. l'empire germanique) und zeigten damit, wie die anderen
europ. Staaten das Alte Reich kategorisierten: als dt. Staat.
Wilhelm Brauneder
2. Theoretische Erfassung
Das Reich als Staat zu begreifen war bis 1806 einhellige Meinung der einschlägigen
Wissenschaft, der dt. Reichsstaatsrechtslehre [4]. Als »Staat« galt freilich jedes Gemeinwesen,
»darinnen man Obrigkeiten und Unterthanen antri ft« [1], aber in diesem Sinne auch nur Teile
davon, wie der »Hof-Staat« (Hofrecht), oder der »Finanz-Staat« (die Finanzverwaltung). Die
Frage nach dem Charakter des Alten Reiches spitzte sich allerdings dadurch zu, dass man
diesen über den Begri f der Souveränität im Sinne des franz. Staatstheoretikers Jean Bodin als
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»die dem Staat eignende absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt«, als Position, die »keinen
Höheren über sich anerkennt«, zu de nieren versuchte (Sechs Bücher über den Staat I, Kapitel
8).
Dies führte v. a. auch vor dem politischen Hintergrund des Ringens zwischen Kaiser und
Reichsständen im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) zu mehreren Au fassungen: Jene, welche
die Souveränität als unteilbar ansahen, de nierten als ihren Träger entweder den Kaiser allein
– das Reich war nach ihnen eine Monarchie (z. B. Dietrich Reinkingk) – oder die Reichsstände
allein (den Reichstag) – es war demnach eine Aristokratie (insbes. Hyppolithus a
Lapide/Bogislaw von Chemnitz). Eine dritte Richtung verband beide Ansichten zur Lehre von
der gemischten Staatsform (eigentlich: Regierungsform; lat. status mixtus; vgl.
Staatsformenlehre), so insbes. Johannes Limnaeus.
Nun waren aber »Staat« im oben erwähnten Sinn auch die Länder. Samuel Pufendorf lehnte
daher (unter dem Pseudonym »Severinus de Monzambano«) die Fixierung allein auf die
Souveränität des Reiches wegen dessen eigenartiger, nicht in gängige Typen (etwa Monarchie,
Aristokratie) einzuordnender Konstruktion ab (irregulare aliquod corpus et monstro simile, »ein
irregulärer und einem Monstrum ähnlicher Körper«) [9. 198 f.] und verstand das H. R. R. D. N. als
einen aus sich gegenseitig beschränkenden Staaten zusammengesetzten Staat. Dies wurde zur
schon erwähnten gängigen Ansicht vom Reich als zusammengesetztem Staat mit beschränkter
Monarchie (s. o. 1.).
Wilhelm Brauneder
3. Verfassungszustand
Kennzeichnend für die Verfasstheit des Reichs war jedenfalls ein Ge echt unterschiedlicher
Rechtspositionen aufgrund verschiedener histor. gewachsener Rechtstitel (so insbes. [2]), die
auch kumuliert, geteilt, gemeinsam ausgeübt wurden, sich überlagerten, in Konkurrenz
zueinander standen, ebenso ruhen konnten. Sie gründeten sich auf Lehnsrecht, Landrecht,
Privilegien unterschiedlichster Art, auch auf Positionen des Kirchenrechts, die in evang.
Territorien auf weltliche Herrscher übergegangen waren. Sie konstituierten einerseits deren
Stellung in ihren Territorien, die Territorialherrschaft, andererseits ihre Beziehungen zu den
Reichsinstitutionen – beides konnte höchst unterschiedlich sein.
Auch die Einbindung der einzelnen Territorien in das Gefüge des H. R. R. D. N. war selbst im
engeren Reichsverband nicht gleichmäßig gestaltet. Dies zeigt deutlich die Zusammensetzung
des Reichstags aus den drei Kurien der Kurfürsten, der Reichsfürsten – untergliedert in
geistliche Herrschaft und weltliche Herrschaft – und der Reichsstädte. Eine herausgehobene
Stellung kam den Kurfürsten nicht nur dadurch zu, dass sie den Kaiser wählten, sondern sie
besaßen auch mit ihrer Landesherrschaft eine weitgehend unabhängige Position gegenüber
den Reichsinstitutionen. Dies hatte Vorbildwirkung insbes. für die größeren Monarchien, die
wie jene der Habsburger mit den Kurfürsten weitestgehend gleichziehen konnten: etwa
Unteilbarkeit des Herrschaftskomplexes, Primogenitur-Erbfolge, Exemtion von der
Reichsgerichtsbarkeit. Das Fürstenkollegium umfasste neben derart selbständigen Gebieten in
der Mehrheit solche, die überwiegend oder vollständig den Reichsinstitutionen unterstanden
(Reichshofrat, Reichsho anzlei, Reichskammergericht, Reichskreise).
Ebenso di ferenziert gestaltete sich das Mitwirken am Reichsgeschehen über den Reichstag.
Während die größeren Reichsfürsten zumindest über eine Stimme verfügten, mussten sich
kleinere wie z. B. die Reichsgrafen eine Stimme teilen; die Reichsritter waren am Reichstag gar
nicht vertreten, die Reichsstädte nur mit beschränktem Stimmrecht. Dieses Ungleichgewicht
verstärkten Ver echtungen mit ausländischen Rechtspositionen. So waren auswärtige
Monarchen in das Reich eingebunden (etwa der König von Dänemark als Herzog von Holstein
oder der König von Schweden als Herzog von Pommern) oder mit Reichsterritorien durch
Personalunionen verknüpft (so Polen mit Sachsen, Ungarn als Teil der Habsburgermonarchie).
Der Reichsdeputationshauptschluss 1803 als tiefgreifende Reform organisierte das Alte Reich
neu in groß ächigen Staaten auf Kosten der kleinen Reichsstände und veränderte damit
entscheidend dessen Charakter. So verwendete der Friede von Pressburg 1805 nicht mehr den
Ausdruck »Dt. Reich« (l'empire germanique), sondern »Dt. Staatenbund« (confédération
germanique), zumal er den süddt. Staaten Baden, Württemberg und Bayern ausdrücklich die
Souveränität zusprach. Damit hatte die Reichsverfassung einen tiefen Riss erhalten, den 1804
die Annahme des Titels eines Kaisers von Österreich durch Franz II. als Monarchen der
Habsburgermonarchie (als solcher Franz I.) verstärkte. Über den Austritt der Staaten des
Rheinbundes mündete diese Entwicklung schließlich 1806 in die Au ösung des Reiches.
Wilhelm Brauneder
Die histor. Sicht und Einschätzung des H. R. R. D. N. unterlag im Laufe der Zeit infolge
unterschiedlicher Akzentsetzungen zahlreichen Wandlungen. Seine Wiederherstellung in
modi zierter Form wurde noch am Wiener Kongress 1814/15 erörtert. Napoleon I. sah sich als
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Erneuerer des abendländischen Kaisertums Karls des Großen, unter Anerkennung des russ.
Kaisertums und des aus Zentraleuropa nahezu gänzlich verdrängten österr. Kaisertums. Dieses
wiederum führte seinerseits Elemente der Tradition der H. R. R. D. N. fort.
Die versuchte Umwandlung des Deutschen Bundes 1849 durch die Verfassung der
Paulskirchenversammlung in ein »Dt. Reich« als einen modernen konstitutionell-
monarchischen Bundesstaat gri f sichtbar auf die Reichstradition zurück. V. a. das Dt. Reich von
1870/71 sah sich als Wiederherstellung des Alten (»Ersten«) Reiches (»Zweites Reich«), und
zwar nicht nur in zeitbedingter Form, sondern auch in Überwindung des abgewerteten
Reichspartikularismus, wenngleich in Bezug auf 1848 nur im kleindt. Sinne, d. h. unter
bewusstem Verzicht auf die ehemaligen Reichsgebiete Österreichs (was aber die sog.
»Heimholung« Elsass-Lothringens 1871 nach dem dt.-franz. Krieg kompensierte).
Österreich schuf sich insbes. ab 1867 mit seiner Umformung zur Zwei-Staaten-Monarchie
Österreich-Ungarn eine eigene, auf die habsburgische Hausmacht bezogene Tradition,
wenngleich manche den Zweibund mit dem Dt. Reich von 1879 als Verwirklichung des großdt.
Gedankens verstanden, und dessen Erweiterung zum Dreibund mit Italien 1882 sogar als
Zusammenfassung des Alten Reiches. In au fallender Weise gri f auf dessen Tradition das
autoritäre (austrofaschistische) Regierungssystem Österreichs ab 1933/34 zurück, und zwar als
Hort des christl. Reichsgedankens gegen den des Nationalsozialismus.
Dieser wiederum stellte die Reichsidee bewusst in den Dienst seiner Politik, insbes. mit dem
Anschluss Österreichs und der schrittweisen Au ösung der Tschechoslowakei 1938/39, um sich
letztlich in einem ganz andersartigen Imperialismus zu verlieren. Damit allerdings war nach
1945 die Reichsidee diskreditiert. In der Forschung ab der zweiten Hälfte des 20. Jh.s rückten
allmählich bes. drei Aspekte in den Vordergrund: die föderale Struktur des Reiches (
Föderalismus), dessen rechtsstaatliche Elemente in der Gerichtsbarkeit von
Reichskammergericht und Reichshofrat und schließlich auch die z. T. übernational-europ.
Dimension.
Wilhelm Brauneder
Bibliography
Quellen
[1] Art. Staat, in: J. H (Hrsg.), Staats-Zeitungs- und Conversations-Lex., 1759, 1071
Sekundärliteratur
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[3] O. A , Heiliges Römisches Reich 1776–1806. Reichsverfassung und
Staatssouveränität, 1967
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[9] H. D (Hrsg.), Samuel von Pufendorf. Die Verfassung des Dt. Reiches (De statu imperii
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[10] H. O (Hrsg.), Heiliges Römisches Reich Dt. Nation 962–1806, Bd. 1 (Ausst.kat.),
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[11] M. P / C.-P. H (Hrsg.), Heiliges Römisches Reich Dt. Nation 962–1806, Bd. 2:
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[12] B. S -R , Das Heilige Römische Reich Dt. Nation. Vom Ende des MA bis
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[13] W. W , Das Staatsrecht des Heiligen Römischen Reiches dt. Nation (Studien und
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Brauneder, Wilhelm, “Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation”, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen
Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachherausgebern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Copyright © J.B. Metzlersche
Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH 2005–2012. Consulted online on 14 May 2020 <http://dx-doi-
org.uaccess.univie.ac.at/10.1163/2352-0248_edn_COM_279129>
First published online: 2019