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Hegemonie
(1,498 words)
1. Zum Begri f
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Unter H. wird eine Erscheinungsform von Herrschaft
1. Zum Begri f
verstanden, die in unterschiedlichen Lebensbereichen
(Staat, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft) auftreten und die 2. Schlüsselbegri f der
von einer Person, einer Gruppe, einer Institution oder Neuzeit-Deutung
einem Wirtschaftsunternehmen ausgeübt werden kann. 3. Neuzeitliche
Die H. beruht auf tatsächlicher politischer, militärischer, Staatenpolitik
wirtschaftlicher oder sozialer Überlegenheit, die ihrem 4. Regierungslehre und
Inhaber in einem abgrenzbaren Bereich entscheidende politische Praxis: Bündnisse
Ein uss- und Kontrollmöglichkeiten gibt. Hegemoniale und Einungen
Herrschaft kann formal die Unabhängigkeit, Freiheit und 5. Vorstellungen universaler
Gleichberechtigung der Beherrschten durchaus bestehen Hegemonie und ihre
lassen und muss nicht notwendig rechtlich gefasst sein. Verwirklichung
Hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen der
hegemonialen und der stets rechtlich de nierten
imperialen Herrschaft.
Bis zur Mitte des 19. Jh.s war der Begri f zur Bezeichnung (informeller) Vorherrschaft eher
unüblich. Erst durch die Historiographie und Jurisprudenz seit dem ausgehenden 19. Jh. wurde
H. zu einem gebräuchlichen Begri f der politisch-sozialen Sprache, insbes. durch die
Parallelisierung zeitgenössischer politischer Entwicklungen (z. B. der Bildung eines preuß.
dominierten Dt. Reichs oder der Stellung der USA auf dem amerikan. Kontinent mit antiken
Herrschaftsmodellen [14. 331–333]. In der Folgezeit wurde H. dann auch auf Herrschaftsformen
anderer histor. Epochen angewendet.
Christoph Kampmann
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Zu einem entscheidenden, wirkmächtigen Interpretament bei der histor. Deutung der Neuzeit
wurde H. v. a. durch das Werk des Historikers Ludwig Dehio. Aus seiner Sicht war die histor.
Entwicklung der Nz., insbes. die Staatengeschichte, wesentlich durch den ständig
wiederkehrenden Gegensatz von Gleichgewicht der Kräfte und H. geprägt. In seinem 1948
erstmals publizierten, auch international außerordentlich erfolgreichen Buch Gleichgewicht
und Hegemonie beschreibt Dehio die Nz. zwischen dem 16. und dem 20. Jh. als eine Geschichte
des Kampfes gegen das Hegemonialstreben einzelner mächtiger Herrschaftsträger von Kaiser
Karl V. bis zu Adolf Hitler. Charakteristikum der Nz. sei – so in Aufnahme und Fortentwicklung
von Vorstellungen Leopold von Rankes – die Bewahrung von Gleichgewicht und Freiheit der
einzelnen Gemeinwesen gegen das beständig in unterschiedlichen Erscheinungen auftretende
»Gespenst der H.« [5. 47].
Christoph Kampmann
3. Neuzeitliche Staatenpolitik
Dehios auch aus systematischen Gründen vorgetragene Einschätzung der H. als des
eigentlichen Gegenpols zu Gleichgewicht und Freiheit wird der Staatenpolitik zwischen dem
16. und 19. Jh. nach neuerer Einschätzung nicht gerecht. Vielmehr wurde sowohl in der
politisch-diplomatischen Praxis der Außenpolitik als auch in der theoretischen politischen
Re ektion recht klar zwischen hegemonialer und imperialer Herrschaft unterschieden.
Letztere wurde seit dem 16. Jh. in der Tat als fundamentale Bedrohung der Freiheit der
einzelnen Gemeinwesen und Herrschaftsträger innerhalb der Christenheit empfunden und
abgelehnt. Alle wirklichen oder vermeintlichen Versuche mächtiger Fürsten seit Karl V., eine
solche imperiale Einherrschaft innerhalb der Christenheit zu errichten, wurden von den
Übrigen regelmäßig politisch-publizistisch mit dem streng abwertenden Begri f der
Universalmonarchie umschrieben und bekämpft [2]. Formen hegemonialer Vorherrschaft
innerhalb der Staatenpolitik wurden dagegen, auch aus der Perspektive der Beherrschten, weit
di ferenzierter betrachtet und nicht durchweg abgelehnt.
Christoph Kampmann
Dies zeigt sich zum einen in der Regierungslehre und Jurisprudenz der Frühen Nz. ( Politische
Theorie), die sich intensiv mit Formen hegemonialer Vorherrschaft beschäftigten und dabei zu
durchaus ambivalenten, keineswegs also stets negativen Bewertungen gelangten; dies galt
zunächst für Formen regional begrenzter hegemonialer Herrschaft. Besondere Bedeutung
erlangte die H. bei der theoretischen Behandlung von Einungen und Bündnissen. Nach einer
innerhalb der politischen Wissenschaft verbreiteten Au fassung war es eine entscheidende
Voraussetzung für die Stabilität eines multilateralen Bündnisses, dass es durch ein die übrigen
Bundesgenossen an Macht deutlich überragenden Bündnispartner garantiert und kontrolliert
würde, der interne Auseinandersetzungen als Schiedsrichter schlichten könne. Entsprechende
Vorstellungen der franz. Regierungslehre (u. a. Jean Bodin) wurden seit dem ausgehenden 16.
Jh. auch in den übrigen europ. Gemeinwesen breit rezipiert. In der zeitgenössischen dt. /
politischen Wissenschaft ist explizit vom »Bundesschiedsrichter« und »Bundesersten« (lat.
arbiter foederis, princeps foederis) die Rede, dessen Position im Kreis der übrigen
Bündnispartner als durchaus hegemonial beschrieben werden kann [8. 161–169]. Andererseits
warnte die Regierungslehre davor, dass Bündnisse mit einem allzu starken Partner schrittweise
von hegemonialer in imperiale, direkte Herrschaft umgewandelt werden und so zur
Inkorporation der schwächeren Vertragspartner durch den Hegemon führen könnten [15. 309
f.].
Dass die politische Wissenschaft der H. gerade im Zusammenhang mit Bünden und Einungen
so große Aufmerksamkeit schenkte und zu einer ambivalenten Bewertung kam, entsprach
durchaus der politischen Praxis. Seit dem 15. und 16. Jh. gab es zahlreiche Bünde, deren
Stabilität und Zusammenhalt wesentlich auf der hegemonialen Stellung eines Bündnispartners
beruhte. Als eines der wichtigsten solcher hegemonial strukturierter Bünde der Frühen Nz. ist
die Republik der Vereinigten Niederlande anzusehen, die um 1600 zu einer europ. Großmacht
aufstieg. Rechtlich handelte es sich um einen Bund souveräner Provinzen, deren formale
Unabhängigkeit zwischen dem 16. und dem 18. Jh. nicht angetastet wurde. Tatsächlich
garantierte die hegemoniale Stellung der politisch und wirtschaftlich weitaus stärksten Provinz
Holland seinen Zusammenhalt und seine Handlungsfähigkeit [10. 246 f.]; [14. 514–519].
Ein wichtiges Beispiel innerhalb des Heiligen Röm. Reiches ist der Schwäbische Bund (1488–
1534), in dem der Kaiser bzw. das Haus Habsburg eine dominierende, schiedsrichterliche
Position einnahm. Habsburg garantierte so den Fortbestand des Bundes, ohne dass die
Bündnispartner ihre Selbständigkeit einbüßten oder die hegemoniale Führung durch den
Kaiser in eine direkte Beherrschung der übrigen Bundesmitglieder überging [3. 40–46; 503f.].
Ein weiteres, freilich kurzlebigeres Bündnis im Reich stellte im Dreißigjährigen Krieg der
Heilbronner Bund (1632–1635) dar, der wesentlich auf der H. Schwedens über die
Bündnispartner beruhte, ohne dass die teilnehmenden Reichsstände ihre Unabhängigkeit
vollständig preisgeben mussten [9].
Die politische Praxis der Frühen Nz. kannte freilich auch Fälle, in denen entsprechende
Bündnisbeziehungen von der H. in direkte Herrschaft umgewandelt wurden. Eine solche
Entwicklung trat etwa im Verhältnis der elsäss. Reichsstände zu Frankreich in der zweiten
Hälfte des 17. Jh.s ein. Die während des Dreißigjährigen Krieges begründete franz. H. über die
elsäss. Bündnispartner mündete schließlich in deren unmittelbare Beherrschung durch die
franz. Krone und in deren formelle Eingliederung in die franz. Monarchie [13. 530–533].
Christoph Kampmann
Ein hegemonialer Anspruch wurde in der ersten Hälfte des 18. Jh.s auch für Großbritannien
erhoben: Aufgrund seiner überragenden Seemacht sei England berechtigt und verp ichtet, die
Grundlinien der europ. Staatenbeziehungen zu bestimmen und die Kräfteverhältnisse in
Europa prinzipiell zu regeln [7. 108 f.]. Freilich erlangte diese Forderung eher im gelehrten
Völkerrecht ( Emer de Vattel) sowie in der politischen Publizistik Bedeutung als bei der
konkreten Gestaltung der brit. Politik [6. 128 f.]. Die hegemoniale Position Englands stützte sich
auf das Gleichgewicht, sollte aber nach verbreiteter Au fassung auch dessen Erhaltung dienen
[1. 56 f.]; [8. 242–301]. H. und Gleichgewicht schlossen einander also keineswegs notwendig aus,
da die H. eines Gemeinwesens die formelle Unabhängigkeit der übrigen nicht automatisch
negierte.
Christoph Kampmann
Bibliography
[1] J. B , The Theory of the Balance of Power in the First Half of the 18 th Century, in: Review
of International Studies 9, 1983, 55–61
[2] F. B , Monarchia Universalis. Ein politischer Leitbegri f der frühen Nz., 1988
/
[5] L. D , Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der
neueren Staatengeschichte, 1996 (11948)
[10] G. P , The Dutch Revolt, 21985 (Der Aufstand der Niederlande, 1979)
[12] P. S , Louis XIV and the Origins of the Dutch War, 1988
[14] H. T , Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten, 1961 (11943)
Kampmann, Christoph, “Hegemonie”, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in
Verbindung mit den Fachherausgebern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Copyright © J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst
Poeschel Verlag GmbH 2005–2012. Consulted online on 14 May 2020 <http://dx-doi-org.uaccess.univie.ac.at/10.1163/2352-0248_edn_COM_278903>
First published online: 2019