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Dolf Sternberger Dolf Sternberger

Schriften I1,1. Drei Wurzeln der Politik

Insel Verlag

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für erreichbar hielten oder sich ihrer sogar zu erfreuen
VI. Teil
meinten, so bleibt doch charakteristisch, daß solche Ge-
wißheit erst gewonnen werden muß und daß sie erschüttert Krieg und Frieden der Begriffe
werden kann, daß die Heilsunsicherheit gleichsam ein
Klima des religiösen Daseins darstellt, das jederzeit auf-
kommen und wiederkehren kann. Dort hingegen, wo
,.Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart
Glauben und Handeln zusammenfällt, wo der Mensch wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teu-
oder. die geschichtliche Menschheit die Große Verände- feln (wenn sie nur Verstand haben) auflös-
rung in die eignen Hände nimmt, da schweigt der Zweifel. bar ... « Kant
Die atheistische, die Eschatologie ohne Gott kennt das Ge-
fühl und Bewußtsein der Heilsunsicherheit nicht, ihr ist
daher in ethischer Hinsicht eine ungedämpfte Hoffart
eigentümlich. Auch eine solche eschatologische ,Bürger-
schaft< - besser ist hier wohl das Wort ,Gesellschaft< am
Platz, es ist ohnehin in dieser Sphäre gebräuchlich - mag
geduldig in der Erwartung leben, sie mag sich in fremder
und feindlicher Welt fühlen, sie mag der ,Geschichte< eine
Art von Führungsmacht, ja Vorausbestimmung zuschrei-
ben, am Ende kann doch nur sie selbst das wesentliche
Handeln leisten - oder zu leisten versäumen. Es kommt
hinzu, daß es in solcher 'säkularen< Eschatologie vollends
und ausschließlich um die kollektive ,Erlösung< geht, daß
die Aussichten des einzelnen keine irgend relevante Rolle
spielen. Der Grund liegt nahe: hier stehen die Toten nicht
mehr auf. Vertagt sich die Große Veränderung, so können
die jeweils Lebenden nur für ihre Nachkommen, für künf-
tige Generationen, nicht für sich selber hoffen.
I. Kapitel
Vergleichungen
Von der Frage nach der Bedeutung der Wörter, die von
,polis< hergeleitet sind, war diese Untersuchung ausgegan-
gen, von der Wahrnehmung, daß der ,Politik< eine verwir-
rende Vielfalt von Bedeutungen beigelegt wird, und von
dem Bedürfnis nach Klärung. Eine gewisse Ordnung hat
sich inzwischen wohl hergestellt. Wir sehen drei unter-
scheidbare Bedeutungskomplexe: Politik als das Staatliche,
Offentliehe, Gemeinsame, als bürgerliche Verfassung, als
geordneter Zustand; Politik als subjektiver Kalkül, als
kluge Ausübung von Führung und Herrschaft, als schlaue
Planung der Mittel zum vorteilhaften Zweck des Han-
delns; Politik als Vorgang der gesellschaftlichen Ver-
änderung und als diejenige Art Tätigkeit, welche diesen
Vorgang auslöst, fördert und antreibt. Wer auf handliche
Vereinfachungen Wert legt, der mag also die institutio-
nelle, die intentionale und die prozessuale Bedeutungs-
gruppe unterscheiden. Sehr viel ist mit diesem Arrangement
indessen nicht gewonnen. Das alles war, blättert man jetzt
zurück, schon im allerersten Kapitel aufgezählt, nur eben
ungeordnet. Wir finden uns vielleicht etwas besser zu-
recht, wir haben auch das historische Alter und den
Werdegang der unterschiedlichen Bedeutungskomplexe
näher kennengelernt, aber das Eigentliche steht doch noch
aus: Wir wollen nicht bloß alles Mögliche und Vorfind-
liehe, sondern das Wahre erkunden, also die wahre Be-
deutung der ,Politik<. Offenbar gilt es eine Entscheidung
zu treffen. Eine Wissenschaft, die es dazu nicht brächte,
wäre vielleicht noch interessant, bliebe aber im letzten
gleichgültig.
Die drei Gruppen von Wortbedeutungen haben sich im
Fortgang der Untersuchung in drei Begriffe von ,Politik<
gleichsam zusammengezogen, die drei Begriffe stellten
sich, ausgearbeitet, in drei exemplarischen Theorien großer dene Logiken. Die erste hat es auf die Gemeinschaft und die
Autoren dar, und in jeder dieser Theorien wurden da Gemeinsamkeit, das gemeinsame Wohl der Bürger im Staat
und dort, mehr gelegentlich aufblitzen4 als durchgängig abgesehen, die zweite gerade nicht auf das Gemeinsame
korrespondierend, auch jeweils charakteristische histori- sondern auf das Einsame dessen, der die Position de:
sche Erscheinungen sichtbar, und zwar nicht nur vergan- Dämons erstrebt oder innehat, auf seine Herrschaft und
gene Figuren und Taten, wie im Falle des Cesare Borgia, sein überlegenes Spiel mit Gegnern, Partnern und Unter-
sondern auch Erfahrungen,' die wir selbst in unserer t~nen .(oder solchen, die Untertanen werden sollen), und
Epoche gemacht haben oder mit denen wir es noch heute die dr.tte weder auf das Gemeinsame einer Bürgerschaft
zu tun haben; in einem Fall, dem des jüngsten deutschen noch auf das Einsame der Herrschaft, weder auf das all-
Terrorismus, ist das ausdrücklich ausgeführt, anderwärts gemeine Wohl noch auf den Nutzen des oder der Herr-
eher nur angedeutet worden, sch..nden in d.ieser Welt, sondern auf die Scheidung der
Die Namen des Aristoteies, des Machiavelli und des Ge~ter und .d.e ~amm1ung der Heiligen, die in eine ganz
Augustinus bezeichnen also nicht allein drei klassische veranderte, m eme neue, anarchisch-harmonische Welt
Theorien, worin jeweils einer jener drei Begriffe sich maß- hinübergehen sollen. Unter dem Kriterium der Gleich-
geblich ausgeprägt findet, sondern zugleich drei Phäno- heit - das ja in den Interpretationen der drei klassischen
mene, drei Erfahrungsbereiche. Das ist es, was der Titel Theorien eine leitende Rolle gespielt hat - stehen die drei
'dieses Buches ausdrücken möchte: sie bezeichnen auch Begriffe einander schroff entgegen. Gleichheit erscheint als
>drei Wurzeln. derjenigen >Politik<, in die wir selbst han- konstit~tives .und normatives Prinzip überhaupt einzig in
delnd und leidend verstrickt sind. Lassen wir die e'gentüm- der Politologik, und zwar als Gleichheit nicht der Men-
lichen bedeutungsgeschichtlichen Umstände beiseite - von schen, wohl aber der freien Bürger. Die Dämonologik
diesen dreien hat ja einzig AristoteIes mit seinem Buche fordert, daß der Eine, der mit List und Gewalt seine
über die ,Politik< den Wortgebrauch selbst bestimmt, und HelTSchaft errichtet, sich von allen >gewöhnlichen Men-
das sogar für zwei Jahrtausende und für die halbe Welt, schen< unterscheide, zumal durch das transmoralische
während Machiavelli an dem Aufkommen eines ,machia- Sc~lte~ mit allen denkbaren Mitteln. Die Eschatologik
vellistischen< Begriffs von Politik selber unbeteiligt war, sc?I.eß~ch. beruht in anderem Sinn ebenfalls auf Ungleich-
und Augustinus mit der Bedeutungsgeschichte der 'poli- hett, nämlich auf der apriorischen Sonderung der Guten
tischen< Wörter gar nichts zu tun hat -, so können wir in und der Bösen.
unserer empirischen Beobachtung und in unserer histori- Eher scheinen die drei >Logiken< eine Ähnlichkeit aufzu-
schen Erfahrung die aristotelische, die machiavellistische weisen hinsichtlich eines anderen politischen Kriteriums
und die augustinisehe Politik wirklich und tatsächlich ~ämlich de~ Fri~dens. Als Merkmal, ja sogar als Ziel, läß:
identifizieren. Um so dringlicher wird es, eine Entschei- s.ch der Fnede m der Tat in allen drei Bereichen wieder-
dung zu treffen. finden. Was die Politologik und die aristotelische Theorie
Denn diese Begriffe vertragen sich nicht miteinander. Es :mgeht, so bildet der Bezirk der Polis-Bürgerschaft mit
scheint schlechthin nichts Gemeinsames zu geben. Polito- ~em Gesetz ~d ihrem Ge.richt, wer Versammlung,
logik, Dämonologik und Eschatologik sind drei verschie- ihrem Rat und Wen Ämtern .nsgesamt einen Bezirk des
Friedens. Aristotelisch bedeutet ,Politik< ja ausschließlich seiner Herrschaft. Indessen soll das Weib Fortuna schließ-
Innen-Politik; was wir heute Außenpolitik nennen, fällt lich ja bezwungen, sollen Konkurrenten durch List oder
dort in die Geschichte oder in die Strategie, aber gewiß Gewalt unschädlich gemacht, sollen die Untertanen in
nicht in die Politik. Das Wort ,Außenpolitik< stellt, aristo- loyale und dankbare Anhänger verwandelt werden: so muß
telisch betrachtet, einen Widersinn dar, das Wort ,Frie- das Ende der Geschichte doch auch hier eine Art von Frie-
denspolitik< aber wäre eine Tautologie. Das Politische ist densein.
hier das Staatliche, und das Staatliche ist das Friedliche Indem wir aber wiederum diese drei Typen von Frieden
schlechthin. Schon früher habe ich die elementare Er- miteinander vergleichen, zeigt sich, daß sie sehr unähnlich
kennwis von Hannah Arendt zitiert: .Die überzeugung sind. Es ist dreierlei Politik, und es ist auch dreierlei Frie-
von der wesentlichen Gewaltlosigkeit der Politik finden den. Der politologische Friede ist der Friede der Verfas-
wir zum ersten Male im griechischen Altertum.< Gewalt- sung, des gemeinsamen Lebens in den Institutionen, er be-
los nämlich soll in der Polis aller Streit geregelt werden, ruht auf einer ursprünglichen bürgerlichen Vereinbarung,
entweder durch Versammlungsbeschluß oder durch Ge- mag sie ausdrücklich getroffen oder in der Sitte überkom-
richtsentscheid, ferner durch die zivilisierende Umwand- men sein. Der dämonologische Friede - angenommen, der
lung in Wettstreit, durch den Wechsel in den Ämtern, eine Hertscher bringt es zu jener erstrebten Dauer der
durch die Beteiligung der Bürger am Regiment. Das heißt Herrschaft, die Machiavelli so häufig als den Lohn seiner
nichts andres, als daß der Staat mit se4ter Verfassung einen Kunst ins Feld führt - wird ein imperialer oder zum wenig-
Bezirk des Friedens bildet, und daß der Krieg - nach der sten hegemonialer Friede sein, ein Friede durch über-
Politologik - kein politisches Mittel darstellt noch dar- macht, der durch präsente Gewalt aufrechterhalten wird.
stellen kann. Daß die eschatologische ,Politik< ausdrücklich Der eschatologische Friede schließlich ist ein Zustand der
und mit aller Intensität auf Frieden zielt oder den Frieden Widerspruchslosigkeit, der Konfliktlosigkeit, worin der
erwartet, hat die Darstellung der Lehre Augustins deutlich Antagonismus der Interessen aufgehoben ist deswegen,
gemacht. Wir finden aber die Erwartung des endgültigen weil die Interessen selbst in der Großen Veränderung
Friedens nicht nur in den geistlichen, sondern ebenso in den untergegangen oder aber gänzlich einhellig geworden sind.
weltlichen, nicht nur in den geduldigen, sondern ebenso in Es sind also dreierlei Frieden: der Friede durch Regelung
den ungeduldigen Eschatologien, ebenso dort, wo das des Streits, der Friede durch Unterdrückung des Streits und
Handeln gläubig dem anderen überlassen wird, wie auch der Friede durch Erlösung vom Streit. Der Verfassungs-
dort, wo die Glaubenden selbst handeln wollen. Alle friede, der Herrschaftsfriede und der absolute oder über-
,Jüngsten Gerichte< haben unter anderem die Aufgabe, schwengliche Friede sind einander höchst unähnlich. Sie
Krieg und Gewalt ,abzuschaffen<, nämlich der Verdamm- stehen nicht einmal nur gleichsam windschief zueinander,
nis zu überliefern, wie blutig dieses Ziel auch erkauft in wechselseitiger logischer Indifferenz; vielmehr verhalten
werden mag. Zweifeln kann man, ob der Friede auch in der sie sich kritisch gegeneinander, befinden sich im Disput,
Dämonologik einen Platz hat; den ,neuen Fürsten< sah man ja im Krieg. Der Gemeinsamkeit des Namens ,Friede< ent-
eigentlich vorwiegend im Kampf entweder um die Errin- spricht keine gemeinsame Sache. Es ist auch auf diesem
gung oder um die Befestigung oder um die Ausbreitung Weg keine Versöhnung der drei Begriffe von Politik zu be-
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werksteIligen, keilte Konvergenz zu erkennen. Daher 2. Kapitel
bleibt es wohl dabei, daß eine Entscheidung getroffen Metamorphosen der Bürgerschaft
werden muß, welcher denn der wahre Begriff sei.
Ist das Wahre das Alte? Eine dogmatische Entscheidung
der Frage nach der wahren Politik würde besagen, daß ein-
zig die ,politologische< Bedeutung, einzig der aristotelische
Begriff und die aristotelische Theorie gelten solle, daß sie
festzuhalten, daß alles andere Irrtum und Verfehlung sei.
Die Wahrheit der aristotelischen ,Politik<, die Einzigkeit
der antiken Polis ist in unseren Tagen wohl von nieman-
dem entschiedener behauptet worden als von der Philo-
sophin Hannah Arendt. Dogmatisch können ihre Explika-
tionen nicht genannt werden einfach deswegen, weil sie- die
griechische Stadt zwar als ein Muster, aber als ein unnach-
ahmliches dargestellt hat. Diese Stadt gilt ihr für gänzlich
und endgültig versunken. Ihre Schriften sind in diesem
Punkt dem ,Hyperion< von Hölderlin nicht unähnlich,
man muß nur die Dichtung in Denkung übersetzen und
den Ton der Klage aussparen. Hannah Arendts Name be-
zeichnet eine ebenso radikale wie originale Erneuerung
der politischen Philosophie, nämlich des Begriffs des
Politischen, auch seines Ethos und seines Pathos, und es
ist kein anderer als der aristotelische Begriff, den sie aus
allen Konventionen, Vermischungen und Trübungen her-
ausgehoben hat.
Kaum einen klassischen Satz hat sie so häufig und so freu-
dig zitiert wie den aus dem Ersten Buch der ,Politik< des
AristoteIes, daß der Mensch von Natur ein politisches We-
sen und daß er zugleich das einzige Wesen sei, das Sprache
(Logos) habe. Und sie hat diese Doppelbestimmung in
immer neuen Wendungen zu einer einzigen zusammenge-
zogen, ihr auf diese Weise eine pralle, ganz sinnliche,
durchaus erfahrbare Bedeutung verliehen oder abgewon-
nen: .Menschen sind nur darum zur Politik begabte We-
sen, weil sie mit Sprache begabte Wesen sind., weil näm-
lieh Politik im Miteinander-Reden - und freilich auch im Wesens bestimmung und -beschreibung des Politischen
Miteinander-Handeln - bestehe. Die Phänomene der Be- eingegangen. Der Wettstreit der Worte und Taten als Puls-
ratung und der Debatte treten immer wieder dort in ihren schlag des Staates ! (Wenn ich es in dieser Weise ausdrücke,
Erörterungen hervor, wo sie im historischen wie auch im wird der gewaltige Abstand fühlbar, in dem diese politische
aktuellen Medium die Idee der Politik auftauchen sieht, so Philosophie zur heutigen Politischen Wissenschaft oder
bei den amerikanischen Verfassungsvätern, bei den rebel- auch zur Staatslehre sich befindet.) Die nähere Analyse
lierenden Studenten, so bei den Arbeiter- und Soldaten- dieses Phänomens, wie Hannah Arendt sie - ohne alle Pe-
räten, denen sie zur· Verwunderung vieler ihrer Freunde danterie, immer geführt, auch entführt von einer leiden-
und Verehrer eine elementare Sympathie entgegengebracht schaftlichen Denkphantasie - da und dort entworfen hat,
hat. Es läßt sich in ihren Schriften ganz bequem verfolgen, zeigt den Einzelnen, den Bürger der Polis, in der Doppel-
daß jene aristotelische Definition ihr wahrhaftig bei allen rolle des Akteurs und des Zuschauers, er existiert »in einem
diesen Vorgängen im Sinn liegt, wiewohl sie so ganz ande- Zuschauerraum, in dem aber jeder zugleich Zuschauer und
ren Epochen angehören, so ganz anderen Motiven ent- Mithandelnder ist«, und eben diese Art von .Publikum«,
springen, so ganz anderen Zielen zustreben, und wiewohl von Offentlichkeit, dies genau sei die Polis, dies konsti-
sie im gleichen Atemzug diese U nähnlichkeiten, zumal die tniere den .politischen Bereich« überhaupt.
radikale Unähnlichkeit der modernen und der antiken Auf den ersten Blick scheint solch ein Begriff von Politik
Lebenswelt emphatisch hervorkehrt: Es ist diese Paradoxie sehr hochgespannt, das Phänomen, das er bezeichnet,
der Wiederkehr im Unterschied, die im innersten Kern, sehr selten zu sein. Die Autorin war selber von seiner
im Herzen ihres politischen Denkens rumort, und sie ist, historischen Seltenheit überzeugt. Immerhin fand sie es
scheint mir, niemals aufgelöst worden. doch einmal in vollkommener Reinheit wieder, fand sie
Wenn geradezu von der Polis selber die Rede ist, so wer- auch denselben Gedanken in aller Klarheit noch einmal
den die Redeformen der Beratung und der Debatte zu- ausgesprochen: .Every individual is seen to be strongly
meist von einem anderen Phänomen überstrahlt, das nun actuated by adesire to be seen, heard, talked of, approved
freilich mit Aristoteles wenig, um so mehr wohl mit den and respected by the people about him, and within his
alten Dichtern, vielleicht auch den Geschichtsschreibern zu knowledge.« Das ist John Adams, der gelehrteste unter den
tun hat. Das ist der Rede-Wettstreit, der Agon der Worte. ,gründenden Vätern; der amerikanischen Union. Und
Wie denn überhaupt das Moment des Wetteifers im Reden solche »Begierde, von den Leuten ringsum gesehen, ge-
wie im Handeln, der » Begierde sich auszuzeichnen«, ein hört, beredet zu werden, ihren Beifall und ihre Achtung zu
höheres Spielmoment eigentlich, in dem Bilde, das sie sich gewinnen«, habe, sagt sie, für Adams den Rang einer poli-
von der Polis nicht nur, sondern von Politik überhaupt tischen Tugend besessen. Gewiß ist, daß sie selber so
und schlechthin gemacht hat, eine zentrale Stelle einnimmt. dachte und so empfand, unbeschwert oder doch ungestört
Wohl nie zuvor ist dieses Phänomen - das uns, was die von allem psychologischen Argwohn, auch von allem
Reden anbetrifft, am schönsten in Platons ,Gastmahl< an- christlichen, Pascalsehen Eifer, die menschliche ,Eitelkeit<
schaulich wird - philosophisch so ernst genommen worden zu besiegen, die doch unbesieglich ist. Die Innenseite der
wie hier, und vor allem ist es gewiß nie zuvor in die Triebe, Interessen und Motive geht die Offentlichkeit

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nichts an, ist ohne Belang für den öffendichen und das dargestellt und ins Bewußtsein gehoben worden.) Die
heißt für den politischen Bereich, das Scheinen ist hier das Formulierung hat indessen den Vorzug, durch die Schärfe
Sein, und die Seinslehre, die Ontologie der Politik, die hier der Ausschließung die Idee der Politik vollends aus all
ausgelegt oder ausgegraben wird, kennt keine Psycho- jenen Verquickungen, denen wir hier nachgeforscht haben,
logie. herauszureißen und herauszuschneiden: ,Politik< kommt
Wider den Anschein sind wir mit jenen Bestimmungen von Polis, die Polis ist die Vielheit ihrer Bürger, die Ge-
doch von Aristoteles nicht fern.• Denn eine Vielfalt seiner meinschaft der Freien und Gleichen, sie ist ,abgeschafft<,
Natur nach ist der Staat«, hieß es im Zweiten Buch der ,Po- sobald sie der Einheit des Staates untergeordnet, in ilrr
litik<, an der tiefsinnigen Stelle, die die entscheidende, die aufgesogen und aufgehoben wird, diese Einheit ist das
durchschlagende Kritik an Platons Einheitsstaat bildet: Ende nicht nur der Vielheit, sondern zugleich der Frei-
Wenn man den Staat in eine Familie zu verwandeln oder heit und der Gleichheit dieser Vielen, daher platons utopi-
gar nach Art einer Person zu einigen imstande wäre, »so scher Konstruktion allein darum schon ein »tyrannisch-
dürfte man es doch gar nicht tun, weil man den Staat damit gewalttätiges Element« innewohne. Der Vielheit (in diesem
aufheben würde«. (Der Satz ist hier im Zweiten Teil erör- aristotelischen Sinn, und es ist genau derjenige, den
tert worden.) In dieser Spur ist Hannah Arendt durchweg Hannah Arendt meint) korrespondiert die Freiheit, der
und urrbeirrbar geblieben - unerachtet aller ihrer philo- Einheit aber die Herrschaft. Herrschaft gehört in den Be-
sophisch-literarischen Verehrung für Platon. In allen ihren zirk des Hauses, nicht in den der Polis, sie gehört ins
einschlägigen Schriften kehrt das Moment der Vielheit, Privadeben, nicht in die Offendichkeit. Herrschaft ist im
der Pluralität, wieder als das fundamentale Konstituens genauen Wortsinn .unpolitisch - nicht der Polis zugehö-
des politischen Bereichs, aus welchem dann jenes Mitein- rig«. Wie ersichdich, hat Hannah Arendt in diesem Punkt
ander-Reden und Miteinander-Handeln wie auch jener nichts anderes getan, als die Phänomene und Begriffe frei-
Wettstreit und jene )Begierde sich auszuzeichnen< erst er- zulegen, die dem Aristoteles selbstverständlich waren - sie
wachsen. So entschieden beharrt sie auf diesem ,existentiel- freizulegen und freilich auch sie ernst zu nehmen. Daher ilrr
len< Grund und Merkmal der Vielheit und des» Umgangs entschiedenes, schockierendes, doch vollkommen konse-
mit anderen«, daß sie sich zu dem kühnen Verdikt hat hin- quentes - und durchaus aristotelisches - Diktum: ,Herr-
reißen lassen, der .größte Teil der politischen Philosophie schaft zerstört ... den politischen Raum, und das Resultat
seit Platoo lasse sich als eine Geschichte der Versuche dar- ... ist die Vernichtung der Freiheit für Herrscher und Be-
stellen, .Politik überhaupt abzuschaffen«. (Das mag für herrschte.«
Platon selbst, dazu gewiß für Hobbes und auch für Rous- Die Unterscheidung zwischen Haus und Staat als zwischen
seau gelten, aber ebenso sicher nicht für Thomas und seine Herrschaft und Freiheit ist vielleicht die bedeutendste, ein-
Schüler, für Marsilius, für Locke und für Montesquieu; es greifendste, die Aristoteles getroffen hat. Die Bürger seines
gibt eine Tradition des politischen Aristotelismus seit dem Staates sind indessen nur darum frei und untereinander
späten '3. Jahrhundert, sie hat sich mächtig ausgebreitet gleich - gleich nach der Art, Pairs von Herkunft und Ge-
und zumal im englisch-amerikanischen Bereich bleibende setzes wegen -, weil jeder im Bezirk seines Hauses der
Wirkungen gezeitigt, sie ist freilich noch niemals insgesamt Herr ist. Von dieser antiken ,Gesellschaft< ist die moderne

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durch den tiefen Graben geschieden, den die Entdeckung, kommen, Wandel und Reform gilt ihr nicht viel, nicht so-
Erklärung und Durchsetzung der Menschenrechte gezogen viel jedenfalls wie das Neubeginnen. In der Sprache unseres
hat. Darüber hegt auch Hannah Arendt nicht den gering- Lehrers Karl Jaspers zu reden, sind es die .hohen Augen-
sten Zweifel. Im Gegenteil, sie zieht diesen trennenden blicke., die sie zu erhaschen und zu begreifen sucht, nicht
Graben in Gedanken und Begriffen derart scharf nach, daß freilich die ethischen, wie Jaspers es meinte, sondern eben
man sich zuweilen fragt, was denn eigentlich für unsere die politischen, diejenigen, in denen das Politische als
eigene Welt noch zu hoffen übrig bleibe, und ob nicht U rphänomen, als Kategorie, als >Existential< auftritt, wie
,Politik< mit der Polis selber untergegangen und ver- flüchtig auch inuner. Was aber das aristotelische oder klas-
sunken sei. Dennoch hat die Denkerin, wie schon er- sizistische Moment der amerikanischen revolutionären
wähnt, wenigstens ein Ereignis der neueren Geschichte Gründung anlangt, so kann sie sich hier zum wenigsten auf
entdeckt, untersucht und nachgezeichnet, worin die ori- den großen und schlichten Revolutions-Publizisten Tho-
ginale Idee der Politik wiederzukehren schien: die ameri- mas Paine berufen, der den verblüffenden Satz geprägt hat:
kanisehe Revolution, die revolutionäre Staatsgründung, die • What Athens was in miniature, America will be in magni-
. Stiftung der Unionsverfassung oder - mit einem Wort, tude.« Er meinte die Republik der freien Bürger. Er meinte
das ihr so teuer wurde, wie es den ,gründenden Vätern< allerdings die ,repräsentative< Republik - der er die Rekon-
teuer war: die Entstehung der ,Republik<. Die Analyse die- struktion der Polis bei weitem Raum und zahlreicher Be-
ses Vorgangs steht im Mittelpunkt ihres Buches ,über die völkerung zutraute -, und von ihr wiederum will Hannah
Revolution<, und es ergibt sich, grob gesprochen, daß Arendt nicht so sehr viel wissen. Sie hält es mit dem altern-
unter allen Revolutionen am Ende allein die amerikanisehe den J efferson, der beklagte, daß man vergessen habe, die
den Preis verdiene, >Politik< restituiert oder restauriert zu Gemeinden, die autonomen kleinen Gemeinschaften über-
haben.•In keinem einzigen Fall hat sich wiederholt, was haupt, in der Verfassung zu verankern. Und es ist dieses
in der amerikanischen Revolution zum ersten Mal in Gang Versäumnis, es ist das Gewicht der Zentral-Organe und die
gekommen war. Die verfassungsgebende Tätigkeit wurde Reduktion des ,Miteinander-Handelns< auf die Mitglieder
nie wieder als die wichtigste und bedeutungsvollste aller der repräsentativen Körperschaften, die Verurteilung der
revolutionären Taten empfunden ...<. Dabei muß ange- Vielen zur Rolle einer bloßen Wählerschaft, was ihr als
merkt werden, daß die ,verfassungsgebende< nicht bloß die entscheidende Unvollkommenheit, die peinliche Ver-
eine rechtschöpfende, sondern die staatsgründende Tätig- fehung, der traurige Ausgang der amerikanischen Revolu-
keit war und daß sie als solche von der Autorin - einer Phi- tion erscheint, beinahe als ein Scheitern, aber doch nur
losophin, nicht einer Geschichtsschreiberin - noch einmal beinahe.
mit dem ganzen Pathos des Anfangs beschworen wird. Es Die griechische Stadt und die amerikanisehe Revolution
ist, als trete die ,politische< Welt (im authentischen Wort- waren jedenfalls die beiden klassischen Phänomene, die
sinn) von neuem aus dem Dunkel der Geschichte hervor, Hannah Arendt uns, in theoretischer Idealität, vor Augen
indem diese ,Republik< geschaffen wird. gebracht hat als die seltenen und daher um so kostbareren
In einem gewissen und nicht unguten Sinn blickt sie mit Exempel des Wesens der Politik. Auf der anderen Seite er-
antihistorisehen Augen in die Geschichte; Dauer, Her- scheint in ihrem CEuvre der Totalitarismus - nationalsozia-

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listischer wie auch bolschewistischer Ausprägung - als Rede gewesen ist. Das Verfassungsdenken des späten Mit-
Exempel der Antipolitik. Hier wie dort sind die histo- telalters und der frühen Neuzeit ist weithin aristotelisch
rischen Erscheinungen als einzigartig aufgefaßt, der Tota- oder aristotelistisch durchsäuert. Der radikalste politische
litarismus als einzigartig modem, ohne Beispiel in der Aristoteliker der nachscholastischen Epoche, Marsilius von
Geschichte, die antike Stadt (und nicht viel anders die ame- Padua, ist historisch auch bereits der erste praktische
rikanische Revolution) als einzigartig vergangen und >Nachahmet<; mit seinem Buch, dem >Defensor pacis<
unwiederholbar. Unerachtet des geistigen Entzückens, das (vom Jahre '324), tritt die Lehre aus der Sphäre der Schule
die Anschauung und die Analyse der Polis der Autorin - mit ihren Sentenzen und Kommentaren heraus, drängt mit
und durch ihre Vermittlung den Lesern - fühlbar bereitet, verblüffender Deutlichkeit auf aktuelle Anwendung, und
bleibt die derart erleuchtete und erleuchtende Szene wie zwar nicht etwa in Padua oder sonst einer Stadtrepublik,
hinter Glas. Eben dieser Versperrung halber, ich sagte es sondern im >regnUffi<, im großen deutschen Reich, dessen
schon, können wir in Hannah Arendts Antwort kei- Ordnung mit den Begriffen des Aristoteles beschrieben
ne dogmatische Entscheidung erblicken. Aus. demselben und gedeutet wird, mit den Begriffen des Bürgers und der
Grunde kommt ihr Begriff von Politik nicht in Verwirrung Bürgerschaft. Der Fall des Marsilius ist deswegen so faszi-
durch jene neueren Bedeutungen, von denen hier früher die nierend und so lehrreich, weil er das >wahre Alte< in der
Rede war, und nicht in Konflikt mit jenen Gegenbegrif- wunderlichsten Metamorphose zeigt: daß der gewählte
fen, die wir unter den Namen des Machiavelli und des deutsche König als erster >Bürger< (civis), die Bürgerschaft
Augustinus aufgerufen haben. Hannah Arendts Idee der (universitas civium) als Wahlkörper, der gute Staat (poli-
Politik ist die politologische, aber in einer gleichsam klas- cia) insgesamt als ein solcher der bürgerlichen Teilnahme
sizistischen Fassung. Wiederum indessen ist es ein Klassi- an der Regierung definiert wird, definiert werden konnte,
zismus, der sich von dem ästhetischen (Winckehnanns und in einem historischen Medium, das sonst als spätfeudali-
seiner Nachfolger) dadurch unterscheidet, daß die >Nach- stisch oder ständegesellschaftlich charakterisiert zu werden
ahmung der Alten< verhindert, ja, weil ohnedies vergeblich, pflegt, muß die Ansicht von der Unnachahmbarkeit und
geradezu verboten ist. Unwiederholbarkeit der wahren alten Politik erheblich ins
Wanken bringen. Man wird mir vielleicht die Wiedergabe
Nachahmung der Alten der Definition der >policia< nicht unbesehen glauben, da die
Idee der >Partizipation< an der Regierung als eine Neue-
Und doch sind die Alten, ist die politologische Politik in rung des zwanzigsten Jahrhunderts, ja der jüngsten Nach-
der Geschichte des Abendlandes tatsächlich und immer kriegs-Ära gilt. So zitiere ich sie im authentischen lateini-
wieder nachgeahmt worden. Der politische Aristotelismus schen Wortlaut: Die ,Politie<, heißt es, sei diejenige Art
beginnt seine gelehrte Laufbahn mit der Wiederentdeckung gemäßigter Regierung »in quo civis qnilibet participat ali-
der >Acht Bücher von der Politik< im dreizehnten Jahrhun- qualiter principatu vel consiliativo vicissim juxta gradum et
dert, mit ihrer Einführung in die Gemeinsprache des euro- facultatem sell condicionem ipsius ... «, Zu deutsch: » .. •
päischen Mittelalters, mit den Kommentaren der großen bei welcher der Bürger in irgendeiner Weise an der Regie-
Doctores, wovon hier im Ersten Teil des näheren die rung oder der beratenden Gewalt teilnimmt je nach Stand

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und Fähigkeit oder Vermögen«. Natürlich ist das nicht herrscht, zeugt übrigens von einem sehr genauen Verständ-
egalitär-demoktatisch zu verstehen; man kann bei ein- nis des Textes. Angesichts solcher Wanderungen oder
gehender Text-Untersuchung vielmehr schließen, daß er, Verpflanzungen eines identischen geistigen Prinzips in
soweit auch diese Bestimmung auf das >regnum< gemünzt historisch seinem Ursprung fremde Regionen wäre es viel-
ist oder angewandt werden darf, offenbar die Reichsver- leicht von Nutzen, den Goetbeschen Begriff der Metamor-
sammlungen der Fürsten, Grafen und Ritter vor Augen phose in die Erforschung und Betrachtung der Geschichte
hat, welchen auch ein gewisser repräsentativer Charakter einzuführen. Es ist der gleiche Aristoteles wiedergekehrt,
zugeschrieben wird, in dem Sinn, daß sie als der .gewichti- aber er zeigt sich verwandelt, und zwar in der Weise einer
gere Teil« (valencior pars) die gesamte Bürgerschaft stell- Metamorphose.
vertretend darstellten. Ich will jetzt in die Einzelheiten
König und Stände
dieser ersten eigentlichen >allgemeinen Staatslehre< seit dem
Altertum nicht weiter eindringen. Sie. hatte eine hochalt- Es ist hier nicht am Platze, eine Geschichte des politischen
tuelle und für den Verfasser hochbedenkliche Bedeutung: Aristotelismus zu skizzieren, die leider noch nicht ge-
die Allgemeinheit dieses ,Staates< sollte die Geistlichkeit schrieben wurde. Einige rasche Einblicke müssen genügen,
mitumfassen, also die Intervention einer eigenständigen den Fortgang der ,Nachahmungen< des klassischen Musters
Kirche ausschließen, die Theorie lieferte Waffen für den und also die Wanderung des politologischen Prinzips
Kampf des deutschen Königs mit dem Papst. Tatsächlich durch die Epochen und Gestalten der okzidentalen Ge-
hat Marsilius nach seiner Flucht von der Pariser Universi- schichte sichtbar werden zu lassen. Eine ihrer nächsten
tät am Hof König Ludwigs des Bayern Aufnahme gefun- Phasen ist dadurch gekennzeichnet, daß ein anderes Motiv
den und scheint dort eine Zeitlang die Stellung eines Be- in den Vordergrund rückt, nicht (wie bei Marsilius) das des
raters eingenommen zu haben. Dieser erneuerte und ange- Bürgers und der Bürgerschaft, sondern das der Gemischten
wandte politische Aristotelismus hat auch sogleich in die Verfassung. (Der autbentische Sinn dieser Figur ist oben
praktische Politik eingegriffen. im Zweiten Teil erläutert worden.) Die große Zeit der
Die Lehre des Marsilius ist aber in unserem gegenwärti- Reichsversammlungen, der Parliaments, der General-
gen Zusammenhang vor allem darum exemplarisch, weil sie stände, der Reichstage, auch der Konzilien (und der konzi-
im fremdesten historischen Milieu - die Ordnung und die liarischen Bewegung) erscheint, wenn man auf die leiten-
Gesellschaft des spätmittelalterlichen Reiches ist von der den Ideen blickt, wie ein Triumphzug des 'regimen politi-
antiken Stadt so weit entfernt wie von der >Demokratie< eum<, und zwar wesentlich in der Form der Gemischten
unseres eigenen Zeitalters - die alte Politologik als Wahr- Verfassung. John Fortescue, der größte englische Rechts-
heit geltend gemacht hat. Es war möglich, es war wirklich, gelehrte des '5. Jahrhunderts, erklärt in seinem Werk
und es wurde sogar wirksam. Wir sollten eine solche Er- ,De laudibus legum Angliae< rund und nett, daß England
scheinung nicht als kurioses Mißverständnis beiseite schie- eine Gemischte Verfassung habe. Im Dialog belehrt der
ben, vielmehr als eine echte Rezption oder Renaissance Kanzler den Prinzen von Wales, daß der König das Gesetz
ernst nehmen. Das ausgedehnte Referat der Politik des des Landes zu achten habe und daß dessen Wirkung sich
Aristote1es, das den ersten Teil des ,Defensor pacis< be- insgesamt darstelle als ,regimen politicum et regale<: das

399

1
heißt nichts anderes, als daß der König Gesetze nur geben Indem das Theorem des 'politischen Regiments< und zu-
oder ändern und Steuern nur erheben könne mit der Zu- mal der 'Gemischten Verfassung< dienlich wird, die jeweils
stimmung seines Reiches, wie sie sich in der Versammlung zeitgenössischen Verhältnisse zu beschreiben, entwickelt es
des Parlaments bekunde. Gewiß ist das nicht der ursprüng- auch die Kraft, die Verhältnisse zu verändern, und zwar im
liche Sinn des aristotelischen Begriffs der Gemischten Ver- konstitutionellen Sinne. Die Idee und Figur der Gemisch-
fassung: hier handelt es sich nicht um die ,Mischung< von ten Verfassung blieb im Westen maßgeblich, bis die Lehre
Oligarchie und Demokratie, sondern um die ,Mischung< von der Souveränität ihr den Garaus gemacht hat. Und es
und wechselseitige Kooperationspflicht von König und war nicht einmal Bodin, den man als den theoretischen
Reich. Abermals haben wir eine politologische Metamor- Propheten des fürstlichen Absolutismus ansehen kann,
phose vor uns. England steht damit nicht allein. Selbst in sondern es war der theoretische Prophet des demokrati-
Frankreich belebt sich die ar~totelische Lehre, und der schen Absolutismus, nämlich Jean-Jacques Rousseau, d~r
große Pariser Rechtsgelehrte und Kirchenmann Jean Ger- das Verdikt über die Gemischte Verfassung am schroffsten
son erklärt etwa 1415 ebenfalls zur .besten und heilsam- ausgesprochen hat: ihre Befürworter, schrieb er, machten
sten Verfassung. diejenige, welche Königtum, Aristo- aus dem Souverän - und als solcher figuriert nun die Na-
kratie und Demokratie in sich zusammenfasse, und das tioß, das Volk - ein phantastisches Wesen, »c'est comme
werde - in Frankreich - erreicht, indem man »aus den s'ils composaient l'homme de plusieurs corps«, es sei, als
hauptsächlichen Gebieten des Reiches je einige berufe und setzten sie den Menschen aus mehreren Körpern zusam-
anhöre, Adlige sowohl als Geistliche und Bürger (cives), men. Gleichwohl hat sich, sozusagen jenseits des Absolu-
die freimütig ihre Klagen über den Zustand ihrer Heimat tismus, die Idee der Mischung wiederhergestellt, nämlich
darlegen sollen«. Das ist das Schema der Etats Generaux; als die Idee der Teilung der Gewalten. Vordem war die
die Bürger aus den Städten waren schon hundert Jahre zu- Verfassung aus jenen mehreren Gewalten zusammenge-
vor in größerem Maßs tab mit einberufen worden. An die- setzt, sie waren in einer einzigen Verfassung gemischt und
sen beiden Autoren, dem englischen und dem französi- verknüpft, nun muß die eine souveräne Gewalt gleichsam
schen, ;;t zu sehen, wie das antike Theorem gleichsam nachträglich und artifiziell geteilt werden: in Gestalt der
aus der Schule hervortritt und tauglich wird, die eigenen Lehre von der Gewaltenteilung hat das Theorem der Ge-
Verfassungsverhältnisse zu bezeichnen, die Tendenz Zur mischten Verfassung überwintert bis auf den heutigen
'politischen< Beschränkung der Monarchie zu stärken, die Tag. Wenn ich mich nicht irre, tritt es heute, da die Souve-
Reichsversammlungen in ihrer Bedeutung hervorzuheben, ränitätsvorstellung zu verblassen und zu zerfallen scheint,
in ihrer Notwendigkeit zu legitimieren. Die Epoche steht noch einmal hervor und könnte sehr wohl helfen, den
ganz im Zeichen der >polina<, in den Reichen wie in der modernen Verfassungsstaat zu beschreiben, zu verstehen
Kirche. Die alte theologische Königstheorie tritt in den und in seiner Legitimität zu kräftigen - besser, als es die
Hintergrund, aber der König bleibt als Figur und Faktor Theorie der Demokratie mit aller ihrer Zweideutigkeit
erhalten, eingefügt in deR 'politischen< Körper, gebunden und Zweischneidigkeit vermocht hat. Aber das ist ein
an die Mitwirkung, Mitbestimmung und 'Partizipation< anderes Thema.
des Reiches in Gestalt seiner Stände.

400
Die menschenrechtliche Massengesellschaft schung<) der überkommenen Einrichtung der Parlaments-
versammlung - am Ende sogar in zwei Kammern wie im
Dieser modeme Verfassungsstaat, dieses System, das ge- alten England - mit der neuen Bürgerschaft, die aus der
meinhin und alltäglicherweise als dasjenige der westlichen Menschenrechtsbewegung hervorgegangen war, aus jenem
Demokratie oder Demokratien bezeichnet wird, dieses Axiom der narürlichen Gleichheit oder Gleichgeschaffen-
komplizierte, unübersichtliche, vielköpfige, in sich selbst heit, das die Unabhängigkeitserklärung - wiewohl seiner
von pertnanentem Streit erfüllte, höchst prekäre und zu- gewaltigen fo~irkenden Sprengkraft nicht gewahr - so
gleich höchst leistungsfähige und lebensvolle Gebilde unvergeßlich formuliert hat. Die vertneintliche ,Repräsen-
ist doch selber eine Metamorphose des alten ,regimen poli- tative Demokratie< war (und ist) in Wahrheit aus repräsen-
ticum<. Eine tief verwandelte Wiederkehr des Gleichen. tativen Körperschaften und ,demokratischen< Wählerschaf-
Die Politologik ist nicht untergegangen in jenen Zusam- ten nur eben zusammengesetzt - zu einer Dellen Gestalt
menbrüchen, welche durch die amerikanische Revolution nicht etwa von unvermischter Demokratie, wie Paioe
von '776 und die Französische Revolution von '789 mar- meinte, sondern von Gemischter Verfassung, worin die ge-
kiert werden. Die ahen gesellschaftlich-politischen Ord- wählten Repräsentanten das oligarchische, die repräsen-
nungen sind in diesen Umwälzungen eingestürzt oder in tierten Wähler das demokratische Element bilden. Gerade
ihrer Folge - wie zumal im englischen Refortnzeitalter - Hannah Arendt hat ja die amerikanisehe Revolution unter
abgetragen worden. Von der amerikanischen Verfassung allen modernen Revolutionen als diejenige ausgezeichnet,
hat ein so bedeutender Kenner der antiken Ideengeschichte die nicht bloß die Gesellschaft verändert, sondern einen
wie Kurt von Fritz geurteilt, daß erst mit ihrer Geburt die ,politischen< Anfang gesetzt, nämlich eine Verfassung ge-
praktische Wirkung der ,Politik< des Aristoteles begonnen schaffen habe. Das heißt doch nichts anderes, als daß diese
habe. Eine übertreibung stellt dieser Satz nur insofern dar, Revolution und daß ihr Erzeugnis, der nordamerikanisehe
als auch die alte Ständeverfassung, wie zuvor geschildert, Verfassungsstaat selbst, aus der politologischen Wurzel
von aristotelischen (und polybianischen) Begriffen gehal- erwachsen und der aristotelischen Erblinie zuzurechnen
ten und gerechtfertigt worden war. Das war aber eher eine ist.
wechselseitige Anziehung der gewordenen Institutionen Nein, die modeme Massengesellschaft, diese Gesellschaft
und der rezipierten Denkfiguren. Jetzt handelte es sich um der rechtlich gleichen Subjekte, deren Entstehung aus kei-
eine Neugründung, und Aristoteles stand in der Tat als ner ökonomischen noch technischen noch biologischen
einer der Lehrer-Ahnen im Hintergrunde des Verfas- Ursache erklärt werden kann, wenn nicht die Macht der
sungswerks. Den ergreifenden und skurrilen Ausspruch Idee in Rechnung gestellt wird - und es ist die Idee der
des ,radikaldemokratischen< Thomas Paine habe ich schon Menschengleichheit und des gleichen Menschenrechts -,
angeführt: .Was Athen im Kleinen war, wird Amerika im diese neue Gesellschaft liegt nicht wie ein Meer oder
Großen sein.« Er meinte die Demokratie und dachte, sie eine Wüste zwischen uns und den hohen überlieferun-
nach Art einer technischen Kraftübertragung durch das gen der Polis und der ,Res publica<. So ungeheuer die
Verfahren der >Repräsentation< zu verwirklichen. Was in Differenz in den Fundamenten des sozialen Aufbaus und
Wahrheit entstand, war eine Verknüpfung (oder eine ,Mi- der Dimension der Bevölkerungen auch anmutet, es hat

4°2
sich gleichwohl - in der Metamorphose - das politologi- nialvölker allein als rechtliche Sicherung der persönlichen
sche Lebens- und Ordnungsprinzip wiederhergestellt oder Privatsphäre gedacht, überall ging vielmehr mindestens ein
aufs neue hergestellt. In der alten Polis gab es (nach dem positives bürgerliches Recht von öffentlicher Wirksamkeit
Satz von Jakob Burckhardt) keine Menschenrechte, es mit einher, das Wahlrecht. So konnte auch die egalitäre
gab nur Bürgerrechte. Seit den menschenrechdichen Revo- Massengesellschaft, die aus diesen Prozessen hervorgegan-
lutipnen und Reformen sind diese beiden Qualifikationen, gen ist, zur Bürgerschaft werden, so ist sie es geworden.
die natur- oder schöpfungs rechtliche und die positiv- Ein schieres Menschenrecht, wie immer es natur- oder
staatsrechdiche, immer mehr ineinandergerückt, schließ- schöpfungsrechtlich begründet sein mag, bleibt so lange
lich zusammengefallen. Man kann auch sagen, der modeme ein wolkiges Versprechen, als es nicht zum Bürgerrecht
Verfassungsstaat hebe sich von der aristotelischen Polis verwandelt wird. Die vorstaatliche, also metapolitische
durch eine bedeutende Erweiterung der Bürgerschaft ab, Natur des allgemeinen Menschenrechts hat gewiß aIs
durch die Emanzipation all jener Klassen von Abhängigen, pathetisches Argument eine bedeutende Rolle in dem
die unter der Herrschaft des )despotes< im Hause zusam- historischen Prozeß gespielt, von dem hier die Rede ist,
mengefaßt waren, durch die fast gänzliche Auflösung der doch wird es reell erst als politisches. Es liegt daher ein tie-
Hausherrschaft und die weitgehende Zerstreuung der fer Sinn in dem Umstand, daß die französische National-
Hausgemeinschaft (der römischen ,fantiüa<) in die allge- versammlung von 1789 ihrer bedeutsamsten Erklärung
meine Erwerbsgesellschaft, aber auch durch die ständig jene Doppelformel zum Titel gegeben hat: »Erklärung der
sich erneuernde rechtliche und ,politische< Integration Menschen- und Bürgerrechte •. Der Sinn ist die Gleichord-
dieser emanzipierten und zerstreuten Subjekte in die le- nung der beiden Bestimmungen. Der Mensch, der nicht
bende Verfassung. An die Stelle einer Gemeinschaft von Bürger ist, hat noch kein Recht; es wird ihm erst in der
Herren (wie AristoteIes die Polis und die Politeia darge- Bürgerschaft und dank ihr, es wird ihm erst im Staate. \
stellt hat) ist vermöge dieser weltgeschichtlichen Verände- Diejenigen über- oder internationalen Instanzen, die in
rung eine Gesellschaft von gewöhnlichen Leuten, eine Europa und in dem Weltstaatenverein der ,vereinten Na-
menschliche Gesellschaft getreten. Die Geburtsfreiheit der tionen< unmittelbar über Menschenrecht und Menschen-
athenischen (oder spartanischen oder sonstigen) Bürger, rechtsverletzungen urteilen, stellen insoweit selbst Frag-
wie Aristoteles sie als gegeben zugrunde legt, ist zur allge- mente von Staatllchkeit dar. Menschenrechte gegen den
meinen Bürgerfreiheit der Verfassung geworden; ihre All- Staat als solchen (nicht gegen eine bestimmte Regierung,
gemeinheit ist keineswegs mit einem Schlag und vermöge sondern gegen den Staat) geltend zu machen heißt im Falle
bloßer Deklaration erreicht, sondern vielmehr in einer des Verfassungsstaates, sie aufs Spiel zu setzen.
Folge von Emanzipationsbewegungen teils errungen, teils
gewährt worden, welche die europäische und amerikani-
Wirtschaftsstaat und Staatswirtschaft
sehe Geschichte des '9. und des 20. Jahrhunderts erfüllen.
Niemals waren die Grundfreiheiten, war die Gleichstellung Den stärksten Einwand gegen die These von der Wieder-
der vormaligen Sklaven, untertänigen Bauern, Proletarier, kehr der Polis in der Metamorphose des modemen Ver-
der Juden, der Frauen, am Ende auch der farbigen Kolo- fassungsstaats habe ich noch nicht genannt. Die Auflösung
des Hauses (griechisch: oikos) - infolge der Emanzipation und Sozialpolitik miteingreift. (Das Wort .Wirtschafts-
der Abhängigen - hat häusliche Aufgaben an den Staat Politik< macht, anders als .political economy<, Gebrauch
übergehen lassen. Die neue Erscheinung ist präzis mit dem von derjenigen Bedeutung des Politischen, die wir die
Namen bezeichnet, den die ihr gewidmete neue Wissen- intentionale genannt haben.) Nicht selten werden in der
schaft zeitweilig geführt hat, und der den Titel eines der Organisation heutiger wesdicher Kabinette die sogenann-
berühmtesten Werke dieser Wissenschaft bildet: ich meine ten klassischen Ressorts - des Äußeren, des Inneren, der
die .Political Economy< von John Stuart Mill. (Später ist Finanzen, der Verteidigung, der Justiz, des Unterrichts-
der Name der Wissenschaft verändert worden, zuerst in überschattet, ja überwuchert von den modernen Ressorts -
•Nationalökonomie< oder ,yolkswirtschaftslehre<, dann der Wirtschaft, der Landwirtschaft und Ernährung, der
auch in >Sozialökonomie<). >Politische ökonomie< wäre, Arbeit und sozialen Versorgung; zudem sind wirtschaft-
ins Griechische rückübersetzt oder zurückgedacht, ein liche Abteilungen auch im Inneren der klassischen Aus-
monströser Widerspruch in sich selbst; wenigstens gilt das wärtigen 1I.mter herangewachsen. überdies kann sich
vom Gesichtspunkt des AristoteIes. Die Unterscheidung selbst ein Regierungs-Chef nur schwer der Beschäftigung
zwischen Haus und Staat, die ich hier immer wieder als mit den ökonomischen Angelegenheiten entziehen. Bis-
fundamental gekennzeichnet habe, wird durch eine derarti- weilen werden sogar Staatsoberhäupter als Agenten der
ge Zusammensetzung der Wörter und Verbindung der Wirtschaftsinteressen ihrer Länder tätig, und das gilt nicht
Phänomene in der Tat völlig über den Haufen geworfen. allein im Falle der vielgenannten Olfürsten.
Politik und Okonomik sind im aristotelischen System not- Der Staat ist offenbar weithin zu einer großen .Haushal-
wendig zwei gesonderte Wissenschaften, die Figuren des tung< (oOOa) geworden, und dies nicht allein im Bereich
Politikos und des Oikonomikos, des Staatsmannes und der Regierung, sondern ebenso in den mehr oder weniger
des Hausverwalters ebenso notwendig zwei unterschiedene regierungs-unabhängigen Bereichen der bürgerlichen Be-
Figuren. >Politologie< würde, so scheint es hiernach, nicht tätigung, denn unter den autonomen bürgerlichen Ver-
mehr sie selber sein, wäre sie mit Ökonomie verquickt oder einigungen nehmen die Verbände mit ausschließlich oder
belastet. Der moderne Staat und auch der Verfassungs- überwiegend wirtschafdicher Zielsetzung, also die eigent-
staat ist aber tatsächlich in hohem Grade mit Ok6nomie lichen >Interessenverbände<, nicht zwar nach ihrer Anzahl,
verquickt und belastet, unsere heutigen Regierungen haben wohl aber nach ihrem öffentlichen Gewicht überall in den
es tagtäglich mit solchen Fragen zu tun, die nach den Be- Verfassungsstaaten, und gerade in diesen, eine bedeutende,
griffen des Aristoteles Fragen der .Haushaltung< (oikono- ja maßgebliche Stelle ein. Auch werden die ökonomischen
mia) sind. und zwar nicht bloß wie von eh und je mit ihrem und sonstigen Bedingungen der Lohnarbeit jeglicher Art
eignen Haushalt, dem sogenannten ,Staatshaushalt< oder seit der Bildung von Gewerkschaften und, ihnen antwor-
Budget, sondern mit Währung, Produktion, Handel und tend, von Arbeitgeber-Organisationen - und das heißt:
Konsum und Beschäftigung, und dies alles sowohl auf seit der Auflösung der Hausherrschaft des Fabrik- oder
kurze als auf mitdere und lange Frist, also mit dem, was sonstigen Unternehmens-Eigentümers - zwischen den
allgemein .Wirtschaftspolitik< genannt wird und was in gegnerischen Parteien und kollektiven Vertragspartnern
weitere Zweige der Regierungstätigkeit, zumal die Finanz- öffentlich ausgehandelt, und auch dies stellt eine .politi-

4°7
sehe<, eine staatliche Tätigkeit dar, ganz gleich, ob Regie- takt umwandeln wollte. (1263b 30-35). Die Stelle erinnert
rungen dabei in irgend einer Weise mitwirken oder nicht. an jene frühere über Einheit und Vielheit, die hier im Zwei-
Diese Erscheinungen sind jedermann vertraut, ebendes- ten Teil nachdrücklich erörtert worden ist, aber sie hat es .
wegen ist es nötig, sie in, ihrer Eigentümlichkeit und in nun nicht melrr nur mit dem logischen oder kategorialen
ihrer eigentümlichen Modernität sichtbar zu machen, der Gegensatz zu tun, sondern zugleich mit dem empirischen
Vertrautheit zu entheben. Zwischen dem Staat des Aristo- Vethältnis zwischen' ökonomik und Politik. Und wir
teIes und dem unseren, dem heutigen westlichen über- vernehmen nicht ohne Verwunderung, daß die Unterschei-
haupt, klafft offensichtlich nicht nur ein Abgrund der dung zwischen Haus und Staat jetzt nicht ganz so schroff
Ferne und der Fremdheit, sondern zudem und vor allem und exklusiv getroffen wird wie anderwärts und zumal
ein handfester und kardinaler Widerspruch. Jener war und gleich im Beginn des ganzen Buches. Vielmehr sehen und
hieß ,politisch< auch deswegen, weil er anökonomisch war, spüren wir hier einen abwägenden Geist am Werke, der
vom Haus und von der Hauswirtschaft, das heißt von der gerade einen Weg zwischen den extremen Gegensätzen
Wirtschaft überhaupt, per definitionem abgewandt. (Ich zu suchen scheint. Zwar läßt sich aus dem Text nicht ent-
spreche nicht von tatsächlichen historischen Verhältnissen, nehmen, in welcher Weise und in welcher materiellen Hin-
sondern von der Theorie des Aristoteles.) Die Frage erhebt sicht Aristoteles eine haushaltungs artige Natur oder Tätig-
sich von neuern und ~chärfer als zuvor, ob unser Staat, der keit der Bürgerschaft hinzunehmen bereit sein will, doch
westliche Verfassungsstaat überhaupt, noch 'politisch< kann' man nicht daran zweifeln, daß er - mindestens in
(oder 'politologisch<) sei und heißen dürfe, da er in so diesem Augenblick des kritischen Nachdenkens - eine rela-
hohem Maß >ökonomisch<, das heißt hauswirtschafts-artig tive Annäherung der Sphären als erträglich konzediert hat.
geworden ist. Nur dürfe sie nicht zu weit gehen, nicht so weit, daß am
In der energischen und ausführlichen Kritik, die Aristote- Ende der Staat insgesamt zu einer einzigen Haushaltung
les im Zweiten Buch der ,Politik< an den beiden politischen werde - modern, doch kaum anachronistisch ausgedrückt:
Hauptwerken seines Lehrers platon (oder, wie er sagt, des zu einem gemeinwirtschaftlichen Unternehmen oder
Sokrates), zumal an der Konstruktion der Klasse der zu einer totalen Wirtschaftsverwaltung. (Beide Möglich-
,Wächter< und ihrer Gütergemeinschaft geübt hat, wie sie keiten werden tatsächlich erörtert und verworfen.) .Denn
in dessen Buch vom ,Staat< entwickelt war, liest man die eine Vielheit ist der Staat nach seinem Wesen« - man erin-
folgende Bemerkung: »Denn es müssen die Haushaltung nert sich des grundlegenden Satzes (1261a 18), und der
(oikia) und der Staat (polis) in gewisser Weise eine Einheit Philosophus verweist selbst in dem gegenwärtigen Zusam-
bilden, aber nicht im unbedingten Sinne, im Gegenteil menhang auf diese Bestimmung -, und zur Einheit, setzt er
wird, wenn man darin immer weiter geht, der Staat zuletzt hinzu, bilde man ihn nicht durch ökonomische Maßnah-
aufhören, ein Staat zu sein, und auch zuvor schon zwar men, sondern durch Erziehung. Wäre die Polis ganz und
noch ein solcher bleiben, aber doch, indem er nahe daran ausschließlich Oikia, so wäre sie gar keine Polis mehr. Zu
kommt, es nicht mehr zu sein, ein schlechterer Staat sein, deutsch: Staatswirtschaft tötet Politik, nämlich bürgerliche
und es wäre geradeso, wie wenn einer die Melodie in die Gemeinschaft. Denn eine Vielheit ist der Staat nach seinem
Monotonie und die rhythmische Komposition zum Einzel- Wesen, das bedeutet offensichtlich nicht nur eine Vielheit

408
von Personen und nicht nur eine Vielheit von Berufsstän- mit Hilfe der Vereine, Verbände und Partei-Organisatio-
den, sondern auch eine Vielheit von Wirtschaften. Ein nen, seiner Pluralität, seinem Streit und Wettstreit der
Richtmaß, wie man zu handeln habe, wenn der Okonomik Parteien (ja sogar der Redner, zumal vor den potentiellen
ihr relatives Recht und ihr erträglicher Anteil zugestan- Wählern) - dieses komplizierte, an allen Ecken und Enden
den, der Politik aber ihr übergreifender Vorrang erhalten vom Verderb und Zerfall bedrohte, doch der Selbstkorrek-
werden soll, hat Aristoteles nicht aufgestellt, doch legt tur und schließlich auch der Selbstverteidigung fähige
seine Formulierung, legen zumal die Gleichnisse aus der Gebilde läßt einige Wesenszüge des aristotelischen Urbilds
Musik die feinste Wachsamkeit nahe. wiedererkennen - und mir scheint, es sind die wichtigsten.
Abermals also verringert sich. der Abstand. Auch und sogar Oder, wenn ein metaphorischer Ausdruck erlaubt ist: man
in dieser heikelsten Hinsicht taucht die Möglichkeit des kann in seinem Gewebe die alten Fäden schimmern sehen.
Vergleichs auf, tritt eine Ähulichkeit im Schema hervor
zwischen dem Staat des AristoteIes und dem modemen
Verfassungsstaat, unerachtet aller himmelweiten Differenz
des historischen Milieus. Hannah Arendt - um noch einmal
an sie zu erinnern am Schluß einer Untersuchung, die von
ihrer Idee der Politik ausgegangen war, von ihrer Scheu,
das klassische Muster der Nachahmung auszusetzen, die
versunkene Stadt (des Aristoteles) gar in historischer Um-
gestaltung und heutiger Erfahrung wiederzufinden -
Hannah Arendt ist es, der wir die unerhörte Entdeckung
und die unerschrockene Benennung des Phänomens der
.Banalität des Bösen« schulden. Ist es erlaubt, bei dieser
Formel eine Anleihe zu machen? Gibt es nicht auch eine
Banalität des Guten? Die Einsicht bereitet Kummer, doch
darf er uns nicht hindern, am Guten festzuhalten.
Der moderne Verfassungsstaat mit seinen fundamentalen
persönlichen und kollektiven Freiheiten, seinen repräsen-
tativen Körperschaften und bürgerlichen Wählerschaften,
seiner unabhängigen Gerichtsbarkeit, seiner gesellschaft-
lichen Rektutierung der Führungs-Eliten, seiner festen Be-
stimmung der entscheidenden und der kontrollierenden
Instanzen und ihrer Befugnisse, seinem Wechsel in den
Ämtern, seiner stetigen öffentlichen Inforrnation und
Diskussion, seiner legitimen Möglichkeit des Wider-
spruchs, seinen mannigfachen Arten der )Partizipation<

4 10
3. Kapitel augustinischen Ktieg, den der Guten mit den Bösen, im
Die bolschewistische Kirche Schema zu wiederholen scheint; wie das >sozialistische
Lager< in feindlicher Welt sich als eine andere >civitas Dei
Dem Verfassungsstaat steht ein eschatologisches System peregrinans< entschlüsseln läßt, wie diese auf zeitweilige
gegenüber. Ich meine jetzt nicht die Plage des verbreche- Koexistenz mit den bösen Mächten sich eiuläßt, doch wei-
rischen Terrorismus, die Irrlichterei der radikalen U nge- ter auf den endlichen Sieg der >Heiligen< vertraut und auf
duld mit ihrer furchtbaren Selbst- und Eigengerechtigkeit. den übergang in das >ewige Leben< der klassenlosen Ge-
Ich meine vielmehr das System der etablierten Eschatolo- sellschaft, des· vollendeten Kommunismus; wie endlich
gik, die bolschewistische Kirche. Auch in ihrem Gesicht auch diese >Große Veränderung< in ein Reich der Freude
sind die alten Züge zu erkennen, und ich denke, daß die und des Friedens zu führen verspricht, in eine harmonische
Untersuchung des >Gottesstaats< als einer exemplarischen Anarchie, wo der Mensch, wenn nicht als Person, so doch
eschatologischen Theorie da und dort schon die Vordeu- als Gesellschaft insgesamt, von allem Konflikt >erlöst< sein
tung hat merken lassen. Es ist gewiß ein hoher Grad von werde.•Die Menschen werden sich (im Kommunismus)
kühler Erkenntnisbereitschaft gefordert, die christliche mit gewöhnen«, schrieb Lenin, .die elementaren Regeln des
der atheistischen Ausprägung, den Kirchenvater mit dem gesellschaftlichen Zusammeulebens ohne Gewalt und
Revolutionär, überhaupt die Religion mit der Ideologie in ohne Unterordnung einzuhalten.« Und das ist noch nicht
ein so enges Verhältnis gesetzt zu sehen. Doch sind die einmal alles, die Eschatologik führt noch zu ganz anderen
Ähnlichkeiten schlechterdings unverkennbar, sie drängen Schlüssen: Mit der Ausbeutung, der Not und dem Elend
sich auf. Es ist auch auf dieser Seite eine Wiederkehr in der würden, wie Lenin sich etwas beschönigend ausdrückt,
Verwandlung. Darum verbietet es sich, ein pedantisches .die Ausschreitungen., das heißt das Verbrechen über-
Verzeichnis solcher Ähnlichkeiten anzulegen. Besser ist es, haupt, »abzusterben< beginnen •. Und mit der charakteri-
durch gelegentliche Vertauschung der alten und der neuen stischen >U nbestimmtheits-Relation<, die der Prophet dem
Symbolwörter den eschatologischen Schematismus apokalyptischen Kalender einräumt, fährt er fort: • Wir
momentweise kenntlich zu machen, wie er in den beiden wissen nicht, wie rasch und in welcher Aufeinanderfolge
sonst so gegensätzllchen geistigen Sphären waltet: Wie das geschehen wird, aber wir wissen, daß sie absterben
Augustins apriorische Sonderung der Guten und Bösen werden.. Die >Stadt Gottes< allerdings, die Stadt- oder
sich in der marxistischen Zwei-Klassen-Lehre verwandelt Staatsmetapher des Kirchenvaters hat der Revolutionär
wiederfindet, hier mit ausdrücklicher und schroffster Ab- nicht aufgenommen, für ihn ist aller Staat Erdenstaat und
sage an Menschengleichheit und >Humanität< - .Der Aus- Teufels- oder Kains-Staat, einen andern gibt es nicht, dort
beuter kann nicht dem Ausgebeuteten gleich sein«, sagt in der schöneren Welt, nach der Vernichtung der Bösen
Lenin; wie die Leninsche Erwartung des imperialistischen (nicht im Weltgericht, sondern in der Weltrevolution -
Krieges oder der imperialistischen Kriege jenen augustini- aber die Weltrevolution ist doch auch das Weltgericht!)
schen Krieg der Bösen untereinander, die Marxsche wird kein Staat mehr sein, sondern reine Freiheit: .Solange
Grundvorstellung des gesellschaftlichen Antagonismus es einen Staat gibt, gibt es keine Freiheit. Wenn es Freiheit
und des daraus folgenden Klassenkampfes den anderen geben wird, wird es keinen Staat geben .•

4 '2
Man wende hier nicht ein, das sei vor sechzig Jahren ge- Fall war es zuerst und ganz entschieden die Gemeinde ins-
schrieben, der Prophetenglaube sei unter den heutigen gesamt, welcher die Verheißung galt, und es scheint erst
Führern des Sowjet-Reiches und anderer 'sozialistischer< die Ausdehnung, der Triumph der Kirche gewesen zu sein,
Staaten einigermaßen erkaltet, inzwischen habe, da das der die Heilsfrage in deutlicher Weise zu einer Angelegen-
Zeitalter des übergangs in Gestalt der Parteiherrschaft sich heit des Einzelnen werden ließ.
in die Längeziehe, das ganze System einen ,staats<-arttgen, Auch die bolschewistische Eschatologie ist - ganz entgegen
hochgradig bürokratischen und militärischen, sogar >impe- der Auffassung Lenins im Jahre 19 I 7 und ganz abweichend
rialistischen< Charakter angenommen, das Bewußtsein der von seiner eigenen Handlungsweise - seither in die Bahn
Macht, ja der Supermacht müsse das Ziel des Prozesses, das der geduldigen Erwartung eingeschwenkt. Sie stellt die Ge-
Absterben des Staates, verblassen machen. Das mag sein, duld der Gläubigen, soweit sie der >päpsilichen< Herrschaft
ist sogar nicht unwahrscheinlich, aber wir haben es jetzt nicht direkt unterliegen, sogar auf eine so harte Probe,
mit der originären Natur dieser Herrschaft zu tun, und da- daß einige westeuropäische Filialparteien, Sonderkirchen
für sind die kanonisierten Schriften Lenins maßgeblich; zu- in der Diaspora, den Wartestand oder Erwartungsstand als
dem wird man sie in den kommunistischen Parteien gewiß solchen abzubrel'hen entschlossen scheinen: das ist wohl
niemals verwerfen - und auf eine Verwerfung liefe es hin- das Motiv jener Abweichung, die ,Eurokommunismus< ge-
aus, wollte man ihre Gültigkeit als historisch begrenzt be- nannt wird. Ohne Zweifel sind aber auch die jüngsten
haupten. Der Glaube hat wohl an Intensität nachgelassen, Eruptionen eines vage )sozialistisch< gesinnten und äußerst '.
er hat auch seit geraumer Zeit keine dogmatische Produkti- ungeduldigen eschatologischen Geistes, wie sie in Gestalt
vität mehr bewiese.n, und die heutige Moskauer Führung der ,Neuen Linken< und schließlich auch des abstrakten
(wie übrigens auch diejenige in Peking) zeigt nicht mehr Terrorismus Westeuropa beunruhigen, als Reaktionen auf
denselben exegetischen und missionarischen Eifer, den das Postulat der Geduld zu verstehen. Diesen Gruppen ist
noch Nikita S. Chruschtschow daheim wie draußen in der eben, wie die Redensart sagt, der Geduldsfaden gerissen.
argen Welt an den Tag legte. Gleichwohl bleibt es bei dem Man fängt zu handeln an, hier in der Weise 'spontaner<
unverkürzten marxistisch-leninistischen Bekenntnis, es Aktionen - der Kommune-Bildungen, der ,subversiven<
gibt dazu gar keine Alternative, auch scheint die kollektive Happenings, am Ende der methodischen Schreckenstaten,
Heilsgewißheit selbstverständlich, die Stellung der einen der Kriminalität als ,Politik< -, dort, bei Carillo, Berlin-
(wenn auch nicht mehr >katholischen<, das heißt >allgemei- guer und Marchais, in der Weise der experimentellen An-
nen<) Partei als der Verwalterin der Wahrheit ganz unbe- näherung \jnd Anpassung an das verfassungskonforme Par-
zweifelt. Da die >Erlösung< hier ein gesellschafilicher Vor- teiensystem. Beides muß der Groß kirche verdächtig, der
gang ist, kann eine persönliche Heils-Unsicherheit, wie sie ,spontane< Radikalismus muß ihr ganz zuwider sein; er ist
im angustinischen Zusammenhang erörtert wurde, nicht denn auch von den kommunistischen Parteien ringsum
aufkommen: darin liegt ein merklicher Unterschied der verurteilt worden, am auffälligsten in Italien.
beiden Ausprägungen der Eschatologik, die hier zur Rede Daß aber die Orthodoxie ihrerseits ein so hohes Maß
und zum Vergleich stehen, ein merklicher Unterschied, eschatologischer Geduld - im Innern hinsichtlich der Er-
doch kein radikaler Gegensatz, denn auch im christlichen reichung des reinen Konununismus, im Äußeren, also inter-

4'5
national, hinsichtlich des Fortgangs der ,Weltrevolution< - Die Zeitalter des Obergangs
überhaupt zu verlangen, daß auch sie also in gewisser
Weise in beiden Bereichen ein ,Leben in der Erwartung< In gewissem Sinne können wir unsererseits das etabliert~
zu konstituieren und zu legitimieren vermag, hat seinen Partei-Regime der Sowjet-Union mit jenem Tausendjäh-
Grund im Glauben selbst. Wir haben hier früher (im Fünf- rigen Reich in Vergleich setzen, das Augustinus in die Ge-
ten Teil dieses Buches) die Unterscheidung getroffen zwi- schichte verlegt hat. Die Oktoberrevolution v~n 19I7
schen einer Eschatologie, deren Gläubige das Handeln könnte als die ,erste Auferstehung< gelten und die künftige
einem anderen anheimgeben, und derjenigen, bei der Glau- Weltrevolution als die zweite und endgültige. Zu ihrem
ben und Handeln gleichsam in einer Hand vereinigt sind. Unglück hat die marxistische Lehre kein analoges Theorem
Es wurde aber schon damals darauf hingewiesen, daß dies zur Verfügung. Die Devise von der .leuchtenden soziali-
kein ausschließender Gegensatz sei. Eine Art von eignern stischen Demokratie., die noch zu Stalins Zeit, und die
Handeln, so zeigte sich dort, liege auch in der Beteiligung Devise vom .Staat des ganzen Volkes., die (1961) von
der Glaubenden an den offenbarten Handlungen Gottes, Chruschtschow verkündet wurde, können kaum dies""'en
zudem sei das Leben in der Erwartung auch ein Leben der Dienste tun, wenn sie auch eine recht ähnliche Funktion
Vorbereitung, wenngleich der doppelten Paradoxie unter- zu erfüllen hatten, nämlich zu beruhigen, ohne daß dar-
worfen, daß es die Gnade verdienen und daß es trotZ der um der Endzeitgedanke getilgt wäre. übrigens war
Vorherbestimmung das Äußerste leisten soll. Hier nun, im zum wenigsten Josef W. StaIin selbst nicht ganz klar oder
Fall einer ,rein weltlichen< und ausdrücklich gott-losen nicht ganz konsequent in der Bestimmung der Epochen
Eschatologie, sieht man umgekehrt die Gläubigen, wie- des ,übergangs<; bei seinem Bericht über den Verfas-
wohl doch selber zum Handeln bestimmt, vor dem wesent- sungsentwurf von '936 verkündete er zwar einerseits
lichen Handeln zögern wie vor einer Schranke. In der Tat den .vollen Sieg des sozialistischen Systems in allen
gibt es auch hier - seit Marx - einen anderen, welc~ern Sphären der Volkswirtschaft. - und das bedeute, .daß
ein gutes Teil anheimgegeben wird, wenn ihm auch rucht die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen
der Charakter der Person eignet: es ist die Geschichte. aufgehoben. sei, und daß die SowjetgeselIschaft nun von
Ihre ,Dialektik< verlangt selber die Geduld, denn erst die ihrer Arbeiterklasse .auf den Weg zum Kommunismus.
>Reife< der Zeit, das heißt die revolutionäre Situation, er- geleitet werde -, andererseits mochte er aber auch nicht
laubt und verlangt den Eingriff des handelnden Menschen. auf die kanonische ,DiktatUr des Proletariats< verzichten,
Inzwischen ist auch er auf den Glauben verwiesen - und zumal dieses Dogma in seiner leninistischen Umwandlung
auf jenes endlose analytische Studium des historischen und Zuspitzung die fortdauernde Herrschaft der Partei
Prozesses, jenes futuristische Zeichenlesen, das Lenin als (und des Parteisekretärs) legitimierte, welche andernfalls
»streng objektive Abwägung der Klassenkräfte« bezeich- ein wenig in der Luft gehangen hätte. Er hat nur die Formel
net hat, und das seither mit einer bewundernswerten Mo- varüert: statt >Proletariat< hieß es -jetzt >Ar,beiterklasse< -
notonie von den dazu bestellten ,wissenschaftlichen< eben der Beendigung der Ausbeutung wegen.•Ich muß
Priestern betrieben wird. zugeben«, sagte er mit dem plumpen Sarkasmus, den er
den ,bürgerlichen Kritikern< gegenüber zur Verfügung

417
hatte, .daß der Entwurf der neuen Verfassung tatsächlich ten Teils), daß .die heutige Generation der Sowjetmen-
das Regime der Diktatur der Arbeiterklasse aufrechterhält, schen im Kommunismus leben« werde, ist seither -weder
ebenso wie er die jetzige führende Stellung der Kommuni- kassiert noch korrigiert worden. Sie hat mich immer an eine
stischen Partei der UdSSR unverändert heibehält; wenn die Schlagzeile erinnert, die man vor fünfzig und mehr Jahren
verehrten Kritiker dies für einen Mangel des Verfassungs- auf den Missionsplakaten jener eschatologischen Sektierer
entwurfs halten, so kann man dies nur bedauern; wir Bol- las, welche sich damals die ,Ernsten Bibelforscher<, später
schewiki aber halten dies für einen Vorzug des Verfas- die ,Zeugen Jehovahs.nannten: .Millionen heute lebender
sungsentwurfs.. Die Mitglieder des Sowjetkongresses Menschen werden nicht sterben •. Die Berechnung, die die-
brachen auch bei diesem Satz in stürmischen Beifall aus. ser Prophezeiung zugrunde lag, scheint inzwischen korri-
Fünfundzwanzig Jahre später, diesmal bei Einführung giert worden zu sein, vielleicht hat man auf einen genauen
nicht einer neuen Verfassung, sondern eines nenen Par- apokalyptischen Kalender auch ganz· verzichtet (wie
teiprogramms, hat Nikita S. Chruschtschow abermals schon Augustinus tat), die Sekte jedenfalls ist - nach einer
die Vollendung einer Teilphase des ,Obergangs<-Zeitalters Zeit der Verfolgung unter Hitler - noch am Leben. Die •
verkündet, abermals eine Verwandlung der Sowjetgesell- Kommunistische Partei der Sowjetunion wird eine Wen-
schaft und des· Sowjetstaates als vollzogen dekretiert. dung finden müssen, auch das Ausbleiben ihrer ,Parusie< zu
Jetzt besagten die Stich- und Zauberworte, die Partei sei erklären. Oder aber sie wird verkünden, der Kommunis-
eine Partei des Volkes - anstatt einer Klasse oder mehrerer mus sei tatsächlich erreicht, daß aber der Staat nicht
verbündeter Klassen -, der Staat ein Staat des ganzen Vol- absterbe, liege an der umgebenden alten Welt, der eine·
kes geworden. Damit war gelöscht, was Stalin noch hatte bewaffnete, die ,Heiligen< beschützende Macht entgegen-
stehenlassen: die Klassenbasis der Partei, somit auch die gestellt bleiben müsse.
Diktatur-Doktrin. Gleichwohl wurde die Lehre von der
,führenden Rolle< dieser Partei auch jetzt aufrechterhalten.
Imperium des Friedens
Im Licht der ursprünglichen eschatologischen Perspektive
ergab sich ein sonderbar zwiespältiger Zustand: In dem In der Tat stellt sich das Sowjetsystem ersichtlich nicht
Lande des siegreichen Sozialismus, das sich nach der nur als Kirche dar, sondern auch als ,Reich<. Es ist, mittel-
marxistischen Theorie als das am weitesten fortgeschrittene alterlich gesprochen, ~regnum< und >sacerdotium< zugleich,
ansah, sollten nun Klassenkampf und Klassenherrschaft die beiden Schwerter, das geistliche und das weltliche,
beendigt sein, war also eigentlich die klassenIose Gesell- ware;' und blieben, sind und bleiben hier in einer und
schaft erreicht, dennoch blieb nicht nur die ,führende< derselben Hand. Wie einer der bedeutendsten wissen-
Partei, sondern auch der Staat erhalten, der doch mit den schaftlichen Beobachter, nämlich Zbigniew Brzezinski, es
Klassen hätte verschwinden müssen. Man kann verstehen, ausgedrückt hat: »Das kommunistische Lager ist Imperium
daß dergleichen Theoreme den Eifer und den Hohn der . und Kirche in einem.« Er verglich diese Kombination mit
Orthodoxen in Peking herausgefordert haben. Chru- dem alten Islam, wo .die politische Führung gleichzeitig
schtschows zuversichtliche, aber unbedachte Weissagung die oberste religiöse Autorität war., und diese Analogie ist
(sie ist hier schon früher zitiert worden, am Ende des Vier- gewiß treffender, als es diejenige mit dem byzantinischen
,Cäsaropapismus< wäre, da hier die Kirche dem Reich, sonders grell erkennen läßt, »war der richtigen Politik der
nicht das Reich der Kirche untergeben oder eingefügt war. kommUnistischen Parteien und der führenden Rolle der
Es ist aber in der Sowjetunion (und den ihr folgenden Arbeiterklasse zu verdanken«. Von Truppen steht da kein
osteuropäischen Ländern) der Erste Parteisekretär, der Wort. Es ist gewiß eine Lüge, aber ihr Motiv und ihr
schließlich immer wieder die höchste Stelle in der Hier- Zweck liegen gleichsam auf 'geistlichem< Gebiet: die wirk-
archie eingenommen hat, während diejenigen Amtsträger, liche Geschichte soll und muß als Erfüllung der Prophetie
die einem westlichen Regierungs-Chef entsprächen, die dargestellt werden. Auch sonst und allgemein zeichnet sich
Leiter des ,Staats-Apparats<, soweit diese Funkrion über- die sowjetrussische Selbsteinschätzung durch ein unge-
haupt selbständig war, ebenso regelmäßig in die zweite, wöhnliches Maß von Selbstverbergung aus. Mit den wie-
etwas schattenhafte Position geglitten sind oder gedrängt derkehrenden militärischen Demonstrationen auf dem
wurden. Vollends unscheinbar wirkt das Amt des soge- Roten Platz, ja mit den militärischen Interventionen in
nannten Staatsoberhaupts, welches dem Vorsitzenden des Deutschland (1953), Ungarn (1956) und der Tschecho-
Präsidiums des Obersten Sowjets zusteht. slowakei (1968) muß das eigentümliche Friedenspathos

Selbst der handfeste ,Imperialismus< der Sowjetunion, die übereinkommen, wie es in der Benennung der Warschauer-
Serie jener Okkupationen der Roten Armee, die mit zu- Pakt-Staaten als ,Lager des Friedens< oder in den Resolu-
meist in mehreren Phasen sich vollziehenden Partei-Staats- tionen vom Weltjugendtreffen mit ihren ,Freundschafts<-
streichen kombiniert waren, ist eschatologischer Rechtfer- Rufen und -Symbolen zum Ausdruck kommt. Das sind
tigung zugänglich. Brzezinski, der die Bildung und Ent- keine praktischen Beiträge zur Befriedung der wirklichen
wicklung des Stalinschen Imperiums in Osteuropa analy- Erdenwelt, es sind die antizipierten Lobgesänge der Erlö-
siert hat, führt unter den Zielen, die der sowjetischen sten. Doch vermeint man einen Beiklang von Verletzlich-
Führung dabei vorschwebten, auch die ,ideologische< keit zu vernehmen, einen Ton von Trauer und Vorwurf,
Offensive an: » ••• jeder Gebietszuwachs der Basis des der gegen die ,Heiden< gerichtet ist, daß sie nämlich ihrer-
Sozialismus mußte als Bestätigung des Vormarsches zum seits solchen Frieden nicht kennten und nicht wollten.
sozialistischen Endziel erscheinen«. Obwohl eine derartige Auch die siegreiche Kirche Augustins - man erinnere sich
Erklärung der Besetzungs- und Bekehrungstätigkeit einer daran - mochte nicht aufhören, sich verfolgt zu fühlen.
,kämpfenden Kirche< (Ecclesia militans) uns durchaus ver-
ständlich erschiene, hat die offizielle stalinistische Ge-
schichtsdarstellung es vorgezogen, aus den Okkupationen
eine Serie von Revolutionen zu machen: »Der rasche Sieg
der Volksrnassen über die Bourgeoisie in diesen Ländern«,
heißt es in der ,Geschichte der Kommunistischen Partei der
Sowjetunion< der Stalin-Ära, und es handelt sich um die
ganze Ländermasse von Polen bis Rumänien und Jugo-
slawien, einschließlich des östlichen Deutschland, dessen
Abgrenzung die Spur der militärischen Okkupation be-

420
4. Kapitel faschistische Allianz war auf dem Verhandlungsweg nicht
Hitler zustande gekommen, Stalin mochte sich nicht beteiligen,
wollte vielmehr dem neuen >imperialistischen Krieg< (dem
Nicht nur von den zwei Begriffen von Politik, deren jüng- >bellum inter malos<) fernbleiben, bis die neue Revolution
ste Metamorphosen in den vorigen Kapiteln in einigen daraus hervorginge. Er hatte den Nationalsozialisten selbst
Elementen skizziert wurden, sondern von allen dreien gilt, den Wink gegeben. Zwar nannte er (in einer Parteitags-
daß sie sich miteinan.der nicht vertragen. Sie auf ein Ge- rede vom 10. März 1939) die >Aggressoren< - Deutschland,
meinsames zurückzuführen war mißlungen, eine Konver- Italien und Japan - bei diesem ihrem Namen, besoehuldigte
genz wollte sich in keiner Hinsicht einstellen. Synkretisti- aber die .nichtaggressiven Staaten. - das waren die West-
sche Definitionen (die in der modernen Sozialwissenschaft mächte, zumal England und Frankreich -, .keinerlei Ver-
eine beherrschende Rolle gespielt haben) können den Ernst suche zur Abwehr zu unternehmen, in gewisser Weise so-
der Entscheidung nur verwischen, die hier zu treffen ist. gar jene zu begünstigen.. Das ist die dritte mögliche
Der Streit ist unvermeidlich. Allianz, die antibolschewistische. Stalin malte sie an die
Und doch hat es eine Allianz gegeben, in der sich Verfas- Wand, die sowjetrussische Geschichtsschreibung, so ent-
sungsstaaten mit der bolschewistischen Macht verbanden, nimmt man den Angaben der Kenner, ist bis Zum heutigen
die Allianz der >Westmächte< mit der Sowjetunion im Tag davon überzeugt, daß ein solches Komplott der
Zweiten Weltkrieg. Sie ist durch Hitlers Angriff auf Ruß- >Nichtaggressiven< und der >Aggressiven<, also der Demo-
land herbeigeführt worden, sie hat zur totalen Niederlage kraten und der >Faschisten<, welche ja in marxistischen
und zur Auflösung des Deutschen Reiches geführt. Es Augen allesamt >kapitalistische< und >imperialistische<
hatten sich aber auch andere Allianzen abgezeichnet, zeit- Kräfte darstellen, beabsichtigt gewesen sei. Ein bloßes Ge-
weilig sogar realisiert, die Konstellationen haben sich in spenst ist auch dies nicht. Da war die Bemerkung von Lord
den drei, vier Jahren bis zu jenem Angriffsbefehl (vom Halifax, des englischen Außenministers unter Chamber-
22. Juni 1941) mehrmals ruckweise verschoben. Beinahe lain, das national-sozialistische Deutschland sei ein .Boll-
ließe sich sagen, daß alle überhaupt denkbaren Zweck- werk gegen den Bolschewismus« - er machte sie Hitler
bündnisse zwischen den drei Hauptgruppierungen aufge- gegenüber, bei seinem Besuch auf dem Obersalzberg, im
taucht sind. Dasjenige zwischen dem bolschewistischen November '937. Und da waren, noch im Juli 1939, gewisse
und dem Hitler-System stellt sich in jenem Nichtangriffs- vertrauliche Gespräche englischer Minister mit deutschen
und Konsultationsvertrag dar, den Ribbentrop und Molo- Unterhändlern oder deutscher Unterhändler mit engli-
tow am 23. August 1939 in Moskau unterzeichnet hatten; schen Ministern, ein ephemerer Vorgang zwar und wohl
in seinem geheimen Teil nahm er das Ende des selbständi- auch ein illusionärer, gleichwohl eine Andeutung, daß
gen Polen vorweg. N;'ch zwei Monate vor dem deutschen auch jene dritte Kombination denkbar war. Man kann sie
Angriff hatte Josef Stalin dem deutschen Botschafter den alle drei nur durch den jeweils ausgeschlossenen Dritten
Arm um die Schulter gelegt mit den Worten»Wir müssen bezeichnen, denn originäre Mfinitäten, natürliche Anlagen
Freunde bleiben ... «. Das war eine Phase der antidemo- und Neigungen lassen sich in keinem Fall auffinden. Die
kratischen Allianz zweier totalitärer Diktaturen. Die anti- >antibolschewistische< Gruppierung war nur ein flüchtiger
Schatten, die >antidemokratische< war eine folgenschwere schluß. bekanntgegeben hatte, .die Tschechoslowakei in
Episode, die >antifaschistische< brachte zuletzt die Ent- absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschla-
scheidung. Die politologischen Mächte und die eschatolo- gen«. Es ist derselbe, der bei der Münchner Vereinbarung-
gische Macht haben- wenn die vieldeutige Figuration der mit Chamberlain, Daladier und Mussolini (am 30. Septem-
Weltgeschichte in solcher Sprache der Begriffe beschrieben ber 1938) - das Versprechen gegeben hat, nach Besetzung
werden kann - den gemeinsamen Sieg davongetragen. des Sudetenlands den Bestand des übrigen tschecho-
slowakischen Staatsgebiets ebenso zu garantieren, wie die
beiden westlichen Mächte das taten, der dieses Versprechen
Gewalt und List
niemals eingelöst, wohl aber ein halbes Jahr danach diesen
über wen aber haben sie gesiegt? Und wer war eigentlich Staat liquidiert und in ein .Reichsprotektorat Böhmen und
derjenige, der sie zueinander gedrängt, daher auch das Mu- Mähren« umgewandelt hat. Der österreichs volle Sou"e-
ster des >imperialistischen Kriegs< (der Bösen) verstört hat? ränität anerkannt, auf alle Einmischung verzichtet hat
Es war der, der viele Jahre hindurch wider den .jüdisch- und anderthalb Jahre später unter Drohung den Regie-
bolschewistischen Weltfeind« gezetert, dann aber mit ihm rungswechsel erzwang, mit einem erschwindelten Hilferuf
paktiert hat, um einen Dritten zu vernichten. Es war der, den militärischen Einmarsch begründete und zwei Tage
der mit der Sowjetunion einen Nichtangriffspakt geschlos- danach inmitten eines Massenrauschs den )Anschluß< voll-
sen und sie zwei Jahre danach mit gesammelter Macht zog. Und so weiter und so fort.
angegriffen hat. Es war der, der mit eben jenem Dritten, Man erkennt ilm leicht. Es ist der andere, der neu este
nämlich Polen, nicht bloß einen Nichtangriffs-, sondern >principe nnovo<, diesmal in den Maßen des zwanzigsten
sogar einen Freundschaftsvertrag begründet hat (das war Jahrhunderts, als eine Figur nicht bloß der nationalen,
1934), um ilm fünf Jahre danach zu kündigen und dieses sondern der Weltgeschichte. >Quomodo fides a principibus
unglückliche Land zu überfallen und zu knechten. Es sit servanda< - man erinnert sich: Aus der Erfahrung
war der, der .zwei Tage ... « auf einen bevollmächtigten unserer Zeit, schrieb Machiavelli, sehe man, .daß diejeni-
Vertreter dieses Polens gewartet hat, dann aber nicht länger gen Fürsten große Dinge getan, die wenig auf ihr gegebenes
warten konnte mit dem Krieg. Es war der, der »zurück- Wort geachtet haben und durch Arglist die Köpfe der
schießen« ließ, obwohl gar niemand herübergeschossen Menschen zu berücken wußten«. Und weiter: .Ein kluger
hatte; der einzige Zwischenfall, der von Gleiwitz, war von Herrscher ... kann weder, noch soll er sein Wort halten,
Leuten Heydrichs vorgetäuscht worden - ganz entspre- wenn ihm dies Nachteile bringt, und wenn die Gründe
chend der geheim geäußerten Absicht des Oberbefehls- weggefallen sind, die ilm zu seinem Versprechen b~wogen
hahers, er werde .propagandistischen Anlaß zur Auslö- hatten.« Und schließlich: .Niemals aber werden einem
sung des Krieges geben, gleichgültig ob glaubhaft«. Es Herrscher die rechtmäßigen Gründe fehlen, seine Wort-
war der, der am 26. September 1938 im Sportpalast zu brüchigkeit zu bemänteln.« Ob Hitler den >Prineipe< wirk-
Berlin seine »letzte territoriale Forderung« verkündete, lich studiert hat, wie er Rauschning gegenüber behauptet,
nämlich das Sudetenland, obwohl er schon Monate zuvor oder ob dessen Lehren nur auf dem osmotischen Weg in
der Wehrmachtsführung semen .unabänderlichen Ent- sein Bewußtsein gelangt sind, wie neuere Autoren anneh-

42 5
men möchten, ist ganz gleichgültig: Wir sehen ihn durch- mit fast lächerlicher Buchstäblichkeit. »Grausamkeit
gängig auf derselben Spur. Es ist derselbe Parvenü der imponiert«, sagte Hitler zu Rauschning.•Ein Herrscher
Macht, derselbe Typus des Eroberers - erst heute ver- darf sich ... um den Vorwurf der Grausamkeit nicht küm-
mögen wir im Rückblick zu empfinden, wie phantastisch mern, wenn er dadurch seine Untertanen in Einigkeit und
anchronistisch im Grunde diese Eroberungswut war! -, Ergebenheit halten kann« (so hieß es im XVII. Kapitel des
und wir brauchen durchaus nicht auszusparen, daß er der- ,Fürsten<). Eine verblüffende Kuriosität ist es, daß bei Hit-
jenigen von Machiavellis Unterarten entspricht, die .durch ler sogar das alte Fürstenspiegel-Thema wiederauftaucht,
eigene Waffen und durch Tüchtigkeit. ihre Erfolge errin- ob es besser sei, geliebt oder gefürchtet zu werden: .Ob sie
gen. Daß es nicht die Städte der Romagna, sondern die uns lieben, das ist uns einerlei! Wenn sie uns nur respektie-
Länder des europäischen Kontinents waren, die er für einen ren! üb sie uns hassen, ist uns einerlei, wenn sie uns nur
Augenblick beherrscht hat, macht nur einen Unterschied fürchten«. Das kommt, als Abschlußpointe, in einer Rede
der Dimension, nicht des Wesens. Wir finden dieselbe Ver- vor, die er '937 vor dem ,Führernachwuchs< auf der ,Or-
achtung der ,gewöhnlichen Menschen<, er nennt sie die densburg< Sonthofen gehalten hat. Mit dem zweiten Ausruf
,Masse<, und eine Neuerung kann man allenfalls darin er- oder Wegwurf ahmt er freilich nicht Machiavelli nach,
blicken, daß diese verachtete Masse doch zugleich eine sondern den Soldaten-Kaiser Caligula und den preußi-
eminente Bedeutung als knetbarer Stoff, als erregbarer schen Soldaten-König; beide sollen das .Oderint, dum
Körper und schließlich als fiktives Subjekt gewinnt, als ein metuant!. geschätzt haben, die Formel selbst stammt von
durch Propaganda-Technik gleichsam ins Riesige vergrö- einem römischen Dichter. Machiavelli riet dem Herrscher,
ßerter Abguß seiner selbst, des ,Herrschers<. Cesare »auf eine Weise gefürchtet zu werden, daß er den Haß
Borgia seinerseits hielt offenbar keine Volksreden, jeden- vermeidet«. Das war für jenen zu fein gesponnen. Zudem
falls wird bei Machiavelli dergleichen nicht berichtet, es liebte er den Haß, auch den der andern.
war nicht vonnöten, durch Reden zu wirken. Der >Führer< Endlich muß von dem Prinzip der Heuchelei guter Gesin-
war der ,Principe< in derjenigen Metamorphose, die dem nungen gesprochen werden. Die Reihe der Tugenden, die
demokratischen Zeitalter gemäß war. Erwin Faul hat dafür der >Principe< sozusagen soll beherrschen können, ist zwar
(in seiner bedeutenden Dissertation) das Wort .Massen- dem alten Königs-Kodex nachgebildet - er müsse »milde,
machiavellismus« gefunden. Beinahe ließe sich die ganze treu, aufrichtig und fromm scheinen« (Kapitel XVIII), wo-
monströse 'und hybride Vorstellung vom ,Herrenvolk< von die Milde und die Frömmigkeit mit Hinblick auf unser
und von der >Herrenrasse< in ebendiesem Sinne als eine Jahrhundert wohl zu streichen sind -: aber viel mehr als
demokratische Vergrößerung des vordem individuellen auf die einzelnen Farben kommt es hier schon dem Ma-
>Herrschers< oder >Prineipe< deuten, ein Ungeheuer wie chiavelli ja darauf an, daß überhaupt ein Bild (ein ,Image<)
dieser, aber obendrein ein millionenköpfiges. Ich sage angelegt werde, das mit dem Sein und Wesen keinen Zu-
,beinahe<, denn diese Sache hat noch ganz andre Seiten, die sammenhang zu haben brauche, ja haben dürfe. Bei Hitler
aus Machiavelli nicht herzuleiten sind, auch nicht im Wege heißt es: .Die breite Masse brauche ein Idol.« Oder mit
der Analogien und Metamorphosen. charakteristischer schnöder Herablassung: »Und die Men-
Wohl aber kehren viele andere Züge wieder und zuweilen schen fühlen sich so geborgen bei dem Gedanken: die hal-
ten alle zusammen, die folgen alle dem Führer, und der lichen diplomatischen Edolg im Verhältnis zu England er-
Führer hält zu all diesen Männem, das sind unsere Idole.« rungen in Gestalt des Flottenabkommens von 1935: die
(Die Rede, welcher diese Sätze entstammen, wurde übri- Metlrode der Verhandlung - unter den neuen Bedingungen
gens am 10. November 1938 gehalten; die Synagogen- der inneren autoritären Verfassung - war aussichtsreich.
brände und die Judenjagden der beiden Vortage waren Aber er w~llte die Gewalt. Die Redensart von der .deut-
darin mit keiner Silbe erwähnt.) sehen Frage« könnte man ebensogut aus dem Satze strei-
Hierher gehören auch die zahllosen Friedensbeteuerungen. chen. Es war nicht Danzig, nicht Memel, nicht Osterreich
Eine Sammlung der ersten Reden, die Hitler nach der und nicht das Sudetenland und auch nicht die Fessel des
Machtergreifung gehalten hat, trägt den Titel: .Das junge Vertrags von Versaüles (wenn dergleichen mit der »deut-
Deutschland will Arbeit und Frieden.« Bei jener geheimen schen Frage« gemeint gewesen sein sollte), sondern es war
Besprechung in der Reichskanzlei, deren Aufzeichnung die Gewalt als solche und auf alle Fälle. Treffend hat Alan
nach dem protokollierenden Adjutanten gewöhnlich das Bullock in seinem nüchternen und klaren Buch über Hit-
.Hoßbach-Protokoll« genannt wird - sie fand gleichfalls ler (von 1953) ausgesprochen, Hitler habe »nur eine Form
an einem 10. November statt, im Jahre 1937, und die übri- menschlicher Beziehung anerkannt: die Herrschaft über
gen Teilnehmer waren der Reichskriegsminister , von andere; und nur ein Mittel: die Gewalt«.'
BIomberg, der Reichsaußenminister, von Neurath, und Man kann, im Gedanken an den ,Principe< und sein XVllI.
die drei militärischen Oberbefehlshaber, Fritsch, Raeder Kapitel, ungescheut die List als zweites Mittel hinzufügen;
und Göring -, hat Hitler seinen innersten Trieb entlrüllt. die Folge seiner außenpolitischen Coups liefert, wie oben
Man begreift dieses vielerörterte Dokument nur unvoll- dargetan, dafür die Belege. Auch von Hitler ließ sich, wie
kommen, wenn man die einzelnen Kriegs- und Kriegswirt- VOn Borgia, sagen, er sei »grandissimo simulatore«., Hitler
schaftspläne ins Auge faßt, die er den offenkundig tief hat sogar seine jahrelangen öffentlichen Friedensbeteue-
überraschten Amtsträgern mit einem Schlage vorgetragen rungen im nachhinein selber als heuchlerisch desavouiert
hat: das ist gewiß historisch eine Ungeheuerlichkeit, er- und aus dem Zwang der Lage entschuldigt, also aus dersel-
übrigt alle Kriegsschuldforschung. Doch scheint mir ein ben ,necessitit<, die auch Machiavelli zur Bedingung und Zur
Satz noch ungeheuerlicher zu sein, der wegen seiner Allge- Rechtfertigung alles Bösen anführt, das der ,neue Herr< soll
meinheit sonst nicht soviel Aufmerksamkeit gefunden hat tun können. Jene selbe Rede vom 10. November 1938 (vor
wie jene konkreten Details. Es ist die einleitende Bemer- Vertretern der Presse im Braunen Haus zu München gehal-
kung, »zur Lösung der deutschen Frage könne es nur den ten) enthält diese Erklärung und überdies die verblüffend
Weg der Gewalt geben« (und, geht es weiter, »dieser könne saloppe Wendung von der »pazifistischen Platte«, die sich
niemals risikolos sein«). Das war, ich wiederhole es, im indessen nun wohl .abgespielt« habe. Die Rede stellt zum
November 1937, es war sowohl die Verkündung der allge- guten Teil einen Appell an die Presse dar, den .bedenk-
meinen Wehrpflicht (März 193 5) als auch die Besetzung lichen. Wirkungen solcher .jahrzehntelang betriebener
des Rheinlands (März 1936), jene in Verletzung des Ver- Friedenspropaganda« abzuhelfen und .das deutsche Volk
sailler, diese des Locarno-Vertrages, ohne ernstlichen Kon- psychologisch allmählich umzustellen«, nämlich eben auf
flikt gelungen, Hitler hatte obendrein sogar einen erstaun- das Verständnis für das Mittel der Gewalt, auf den Krieg.
Unerachtet dieser authentischen Demaskierung der vor- zu haben. Hermann Rauschning schreibt ilun eine Äuße-
maligen guten Gesinnungen hat der Historiker Karl Diet- rung zu, die seither vielfach zitiert worden ist: .Ich stehe
rich Erdmann (in Gebhardts Handbuch der deutschen Ge- allem«, sagt er da im monologischen >Gespräch<) »mit einer
schichte) die Möglichkeit erwogen, daß Hitlers »leiden- ungeheuren eiskalten Vorurteilslosigkeit gegenüber«. ,yor-
schaftliche Friedensreden« doch »subjektiv ehrlich« ge- urteilslos< läßt sich hier übersetzen mit leer, unbeteiligt,
wesen sein könnten in dem Zeitpunkt, da er sie jeweils ethisch total emanzipiert, gleichsam außerhalb der Zivili-
hielt. Er spricht von der .Zwiegesichtigkeit der Hitler- sation befindlich. Und >eiskalt< heißt diese Verfassung
sehen Außenpolitik« und findet die Lösung oder den oder Beschaffenbeit, weil sie - nach Augustins Wort -
Einheitspunkt in der Schauspieler-Natur dieses >Politi- »sine caritate« ist, ohne Liehe, ohne die Wärme der Kom-
kers<, der sich jeweils mit der Rolle identifiziere, die er munikation. ,Der Mann ist eiskalt< war eine Redensart, die
gerade spiele. Das leuchtet durchaus ein, andere Autoren man während der nationalsozialistischen Herrschaft häufig
haben ähnlich geurteilt. Doch scheint die Figur des Schau- • hören konnte, an Stammtischen. Sie drückt die Bewunde-
spielers nicht völlig zulänglich, das beunruhigende Phäno- rung des subalternen Politikasters für den schieren >ma-
men zu entschlüsseln. Dieser Schauspieler spielte ja nicht chiavellistischen< Kalkül der Macht aus, für das Spiel, das
vorgegebene, sondern durchweg selbstentworfene Rollen. der Dämon mit den gewöhnlichen Menschen treibt. Es ist
Haben wir hier nicht von neuem jene Fähigkeit vor Augen, erstaunlich, daß Hitler denselben Ausdruck auf sich selbst
die Machiavelli seinem >Deuen Fürsten< zuschrieb, gleicher- angewandt hat. Ich deuke, ich brauche nicht ausdrücklich
maßen gut wie böse, also zum Beispiel auch gleichermaßen vor den Mißverständnissen zu warnen, denen der Begriff
friedfertig wie gewalttätig sein zu können? jene un- und des Dämonischen ausgesetzt ist. Der die Position des
übermenschliche Manipulation seiner selbst, die uns dort Dämons einnimmt, kann als Person wie als Kollektiv ein
(im Dritten Teil des gegenwärtigen Buches) auf die >dämo- sehr vulgärer Typus sein, ja dieser scheint sogar in be-
nologische< Spur geführt hat? Auch der >Prineipe< ließe sich sonderem Maß dafür prädestiniert, denn er hat nicht die
insoweit als ein Schauspieler beschreiben. Er war freilich >Hemmungen<, welche die moralische Kultur ausmachen.
ein literarisches Kunstprodukt. Jetzt haben wir es mit
einem Wesen zu tUD, das gelebt hat, mit einer sogenannten
Vernichtung als Erlösung
>historischen Persönlichkeit<. Ich spreche indessen nicht
von Psychologie. Wie diese >Zwiegesichtigkeit< sich von 'In der Tat also läßt sich der machiavellistische Schematis-
innen ausnimmt, mägen Psychologen untersuchen, falls mus in Hitlers Handlungsweise überall wiederfinden. Wer
sie es können. Von außen und als Phänomen betrachtet, Hitler verabscheut, sollte es schwer haben, den Autor des
läuft die >Zwiegesichtigkeit< haargenau auf diejenige Eigen- >Principe< zu bewundern - es sei denn als Schriftsteller.
schaft hinaus, die sich zuvor bei der Erörterung Machia- Dennoch reicht die Dämonologik nicht aus, das katastro-
vellis als die äußerste, als die recht eigentlich ,dämonische< phale Phänomen zu begreifen, das mit dem Namen Hitlers
Möglichkeit des emanzipierten Tyrannen gezeigt hat. bezeichnet ist. Auschwitz hat nichts mit dem Erwerb, der
übrigens scheint Hitler von dieser seiner Natur - oder: Behauptung und der Ausbreitung von Herrschaft zu tun,
Unnatur - in gewissem Sinne selbst eine Ahnung gehabt nichts mit der alten Tyrannis und nichts mit dem >neuen

43° 43 1
Fürsten<, nichts auch mit Gewalt und nichts mit List als logischen >Politik<. Diese Art des Handelns betraf, wie
Mitteln der ,Politik<. Allenfalls ließen sich die Pläne Zur jedermann weiß, vor allem die Juden. Ich will nicht die
Liquidierung der polnischen Intelligenz und hernach zur Zahlen derer wiederholen> die durch SS-Einsatzkomman-
Vernichtung der russischen Führungsschicht aus dem dos erschossen, noch derer, die in den Lagern Chelmno,
alten Tyrannenratschlag herleiten, den schon Aristoteies Belcec, Sobibor, Treblinka, Maidanek und Auschwitz ver-
wiedergegeben hat mit jener Anekdote von der stummen gast worden sind. Es soll jetzt genügen, die Wörter aufzu-
Geste des Periandros, der beim Gang durch die Felder die führen, die in Einsatzbefehlen und Vollzugsberichten
herausragenden Ähren abhieb, um dem Trasybulos zu be- verwendet, mit welchen also diese Aktionen bezeichnet
deuten, wie man mit den führenden Leuten verfahren wurden: Juden (oder auch >das Judentum< oder auch
müsse. Auch bei solcher Herleitung oder Vergleichung >das jüdisch-bolschewistische System<) sollen .evakuiert.,
allerdings wäre der persönliche in den kollektiven Tyran- »ausgeschaltet«, »ausgetilgt«, »beseitigt«, »resdos besei-
nen, der eine Herr in das >Herrenvolk< zu transponieren, .. tigt«, »liquidiert«, »sonderbehandelt«, ,.ausgerottet«, ,.ver-
indem ja, nach Himmlers berüchtigter Denkschrift .über nichtet« werden, die beteiligten Formationen haben eine
die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten«, im >Ge- .Säuberungsarbeit« oder eine .Reinigungsaktion« auszu-
neralgouvernement< künftig als .göttliches Gebot. gelehrt führen, deren Ergebnis darin bestehen soll, daß das betref-
werden sollte, »den Deutschen gehorsam zu sein«. Doch fende Gebiet als .judenrein« angesehen werden kann. Alle
wird, was hier und was in Rußland geschah, von der tradi- diese Ausdrücke sind aus den Dokumenten zu belegen.
tionellen wie von der Machiavellischen Tyranneulehre nur Die >Judenreioheit< Deutschlands, des Generalgouverne-
am äußersten Rand berührt. Hitler wollte Leningrad und ments, der andern eroberten und besetzten Länder,
Moskau .dem Erdboden gleichmachen«, damit man keine schließlich ganz Europas galt fast schon so viel wie >Rein-
Bewohner mehr zu ernähren brauche (Lagebesprechung heit des Blutes<. Bluts- oder Rasse-Reinheit aber bildet in
vom 8. Juli 1941); er wollte nicht bloß den Feind besiegen, dem Gedankenwust, der seither in der politischen und
sondern einen • Vernichtungskampf. führen (Rede vor historischen Wissenschaft gutmütig als >Hitlers Glaube<
Truppenführern am 30. März 1941); er wollte .in diesem oder >Hitlers Weltanschauung< oder, mehr soziologisch, als
Kampf ... Schonung und völkerrechtliche Rücksicht- >nationalsozialistische Ideologie< präsentiert wird, das
nahme« ausgeschaltet wissen, und zumal die politischen materialistische Surrogat von Reinheit schlechthin. Viel-
Kommissare der sowjetrussischen Armee waren, wie es in fach hat man untersucht, woher diese materialistischen,
dem >Kommissarbefehi< wörtlich hieß> .wenn im Kampf diese biologistischen Elemente stammen, aus welchen teils
oder. Widerstand ergriffen, grundsätzlich sofort mit der sehr trüben, teils hochangesehenen Quellen sie abgeleitet
Waffe zu erledigen«; und er fand an dem russischen Parti- sind. Man hat den Begriff des >Sozialdarwinismus< geprägt>
sanenkrieg noch die vorteilhafte Seite, daß er die Möglich- man hat - zu Recht - die Utopie Nietzsches von der
keit gebe, .auszurotten> was sich gegen uns stellt« (16. Juli Züchtung des übermenschen mitverantwortlich gemacht.
194 1). An alledem ist kaum zu zweifeln, und die hohen Namen
Ausrotten: das ist das Stichwort einer anderen als >nur< werden bei solcher Nachforschung unvermeidlich in nie-
tyrannischen, >Dur< machiavellistischen, ja >Dur< dämono- dere Mitleidenschaft gezogen. Weniger aufmerksam hat

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man auf den anderen Teil dieses fatalen Vorstellungs- erschienen). Nimmt man das jüngste seiner ,Erfahrungs<-
komplexes geachtet, auf das Moment der ,Reinheit<. Der Beispiele so ernst, wie es genommen werden muß, so zeugt
Schematismus der Entgegensetzung von ,Ariern< (oder deren ganze Liste, die den Kirchenvater zu endasten be-
,Germanen<) und ,Juden< als von höheren und niederen, stimmt war, unversehens und in schrecklicher Weise gegen
von gottähnlichen und tierähnlichen Wesen, von 'gutem ihn. Der Adel hat nicht das Volk, die Gebildeten haben
Blut< und 'schlechtem Blut< - und es steht ja zuletzt doch nirgends die Ungebildeten auszurotten unternommen; die
immer nur diese Zweiheit von >Rassen< zur Rede, die Griechen haben Barbaren bekriegt, auch versklavt, doch
komplizierteren Unterscheidungen der Anthropologie, nicht vernichtet; David hat Goliath im Zweikampf besiegt,
selbst einer >nordisch< voreingenommenen Rassenlehre wozu er von diesem herausgefordert war, die Israeliten
spielen im Glauben wie im Handeln keine Rolle -, diese haben Kanaan erobert, indem sie mit Waffen gegen bewaff-
fundamentale Sonderung der Guten und der Bösen hat eine nete Feinde kämpften, nicht aber haben sie ,Untermen-
weit größere Bedeutung als all jene Nebelfetzen aus der schen< (.lower breeds.) liquidiert. Wohl aber gilt von den
Wissenschaft und Philosophie des neunzehnten J ahrhun- ,Bösen< des augustinischen Erdenstaats, daß sie am Ende
derts. ihres Weges in den ewigen Feuerpfuhl geworfen werden.
Die Erinnerung an die ,Guten< und die ,Bösen< aus der Ist es abwegig, dabei an die Menschenverbrennungsöfen
Eschatologik ist geweckt. So schockierend, ja beleidigend des Dritten Reiches zu denken?
uns die Wiederkehr dieser biblisch und christlich beglau- In der Dokumentensammlung, die Leon Poliakov und Jo-
bigten und geweihten Figurationen in so ordinärem und so sef Wulf unter dem Titel ,Das Dritte Reich und die Juden<
entsetzlichem Medium anmutet, so schwer fällt es doch, veranstaltet haben, findet sich eine literarische Etüde über
sich dieser Erinnerung und dieser Vergleichung zu ent- das Thema ,Der Untermensch<, die laut Fußnote vom
ziehen. Ein britischer Kirchenhistoriker, dem eine hervor- ,Reichsführer-SS, SS-Hauptamt< herausgegeben worden
ragende Interpretation des >Gottesstaats< zu verdanken ist, ist und auch dem Nürnberger Tribunal (als Dokument
hat in diesem seinem Buch die fundamentale Zwei-Gat- NO. 1805) vorgelegen hat. Der Name ,Untermensch<
tungs-Theorie des Augustinus mit einer .allgemeinen Er- macht in der Allgemeinheit seiner Prägung offenbar, daß es
fahrung. in Zusammenhang gebracht und aus einer sich bei jenen quasi- und pseudo-wissenschafdichen Ras-
»natürlichen Tendenz« erklärt, »die Menschheit in zwei senbegriffen nur um Einkleidungen handelt.•Der Unter-
Gruppen zu klassifizieren«, und unter den illustrativen mensch., liest man da, .jene biologisch scheinbar völlig
Beispielen neben der alttestamentarischen Unterscheidung gleichgeartete Naturschöpfung mit Händen, Füßen und
zwischen Juden und Ungläubigen, neben der antiken zwi- einer Art von Gehirn, mit Augen und Mund, ist doch eine
schen Griechen und Barbaren und den verbreiteten ganz andere, eine furchtbare Kreatur, ist nur ein Wurf
Entgegensetzungen von Adel und Volk, Gebildeten und zum Menschen hin, mit menschenähnlichen Gesichts-
Ungebildeten auch diejenige von .Herrenvolk and lower zügen - geistig, seelisch jedoch tiefer stehend als jedes
breeds. angeführt. John H. S. Burleigh wußte in seiner Tier. Im Inneren dieses Menschen ein grausames Chaos
gelehrten Harmlosigkeit offenbar nicht ganz, was er sagte wilder, hemmungsloser Leidenschaften: namenloser Zer-
(obwohl er's hätte wissen können, denn sein Buch ist 1949 störungswille, primitivste Begierde, unverhüllteste Ge-

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meinheit.« Der andere, eigentliche Mensch wird als der res als das Signum der Erkennbarkeit der ,Guten< und der
Schöpfer aller Errungenschaften der Zivilisation einschließ- ,Bösen<. Mit dem Begriff der Rasse reißt des NS-Ideologe
lich der Familie, des Volkes, sogar des Staates geschildert, das Geheimnis der Prädestination an sich, das in der
als .gut und groß., ja - mit einer Anleihe bei den ,Gott- augustinischen Theologie einzig Gottes Wissen vorbehal-
gläubigen< - als .Gottes Nächster.. Sind da nicht die ten war. Keine Schuld kann die einen aus der Gesellschaft
Scherben jener älteren Lehre Zu erkennen, die Augustinus der ,Guten< verstoßen, keine Unschuld die anderen aus
ausgearbeitet hat? Die Doppelreihe der menschlichen Ge- derjenigen der ,Bösen< entlassen.
nerationen, die mit Kain und Abel anhebt, die Zweiheit Daher versteht sich Himmlers Hohn über die .braven
der ,Kinder des Fleisches< und der ,Kinder der Verhei- • Deutschen«, von denen jeder »seinen anständigen Juden«
ßung<? Haben wir dort nicht zur Kennzeichnung des irdi- habe, wiewohl alle im allgemeinen mit dem Programm
schen, fleischlichen, gewöhnlichen Menschen hundertfach der .Ausrottung des jüdischen Volkes« einverstanden
die ,Leidenschaften<, die ,Begierden<, den ,Eigenwillen< seien.• Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir«
verdammen hören? Die Vorbemerkung zu dem SS-Doku- - mit diesem ordinären Sarkasmus will er die Schwätzer
ment bei Poliakov und Wulf, die aus einer französischen geißeln, um die tätigen Ausrotter, seine SS-Männer, als
Publikation vom Jahre 1950 übernommen ist, spricht eine Helden der Entsagung dagegen herauszustreichen: • Von
ebensolche Ahnung aus: der Begriff des ,Untermenschen< euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn
sei nur zur einen Hälfte vom .biologischen Standpunkt« hundert Leichen beisammen liegen, wenn 500 da liegen
bestimmt, zur andern habe man ihn .im metaphysischen oder wenn 1000 da liegen. Dies durchgestanden zu haben,
Problem des Kampfes zwischen Himmel und Hölle zu und dabei - abgesehen von Ausnahmen menschlicher
suchen •. Mit dem .biologischen. Element ist vermutlich Schwächen - anständig geblieben zu sein, das hat uns hart
diejenige Angabe des Dokuments gemeint, ohne welche gemacht.« Die Sätze aus der Posener Rede (vom 4. Okto-
der ,Untermensch< ein ungreifbares Schemen geblieben ber 1943) sind oft zitiert worden. Man kann sie nicht ohne
wäre: .Und diese Unterwelt der Untermenschen fand tiefes Grauen lesen, die Begriffe versagen vor dem Maß der
ihren Führer- den Ewigen Juden!« moralischen Perversion, das da zutage tritt. Das Wort
So erst kann der Mensch - oder ist es der ,übermensch<?- ,anständig< kommt zweimal vor: das eine Mal wird als
den >Untermenschen< erkennen, identifizieren, greifen und apriorisches Urteil ausgesprochen, daß einem Juden die
liquidieren. Denn darin besteht das Ungeheuerliche dieser Anständigkeit nicht zugebilligt werden dürfe, weil ein Jude
eschatologischen Metamorphose, daß diese Gläubigen - nicht anständig sein könne; das andere Mal wird als aprio-
oder diese Ideologen - ohne alles Zaudern gleichsam den risches Urteil ausgesprochen, daß ein SS-Mann die An-
Schleier zerrissen haben, der (auch nach Augustins Lehre) ständigkeit nicht einbüßen könne, wie viele Morde er auch
dem Menschen die gewisse Erkenntnis in dieser Welt ver- im Zuge des Ausrottungsplans begehen möge. Man fragt
wehrte, wer denn die Auserwählten und wer die Ver- sich, wie ein solcher Täter sich betragen müsse, um bei
dammten seien. Sie wußten es, und ebendarin liegt die Be- seiner Tätigkeit nach der Meinung des ,Reichsführers<
deutung des Begriffs der Rasse. Die ,Rasse<, nämlich jede nicht mehr für ,anständig< zu gelten: Es darf ihm offenbar
der beiden, die 'arische< und die ,jüdische<, ist nichts ande- allenfalls übel werden im Anblick der Leichen - die er

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selbst herstellt -, das geht noch als • menschliche Schwä- dafür, daß die Vertilgung der Kains-Rasse genüge, die
ehe. durch; aber etwa die Waffe wegzuwerfen und davon- Ursache allen Konflikts zu entfernen und das störungs-
zulaufen, oder, eher noch umgekehrt: etwa mit Leiden- freie Regiment Abels zu errichten. Die Taten und Untaten
schaft, Begierde, Wollust zu töten anstatt der hohen waren nicht bestimmt, Erlösung erst zu ermöglichen, sie
Pflicht wegen! Das hieße, muß man vermuten, die eingebo- sollten die Erlösung sein.
rene Anständigkeit verraten und verlieren. Solcher ,An- Hider nahm wohl, wie zuvor erörtert, die Position des
stand< besteht, sofern man überhaupt nach irgendeiner Dämons ein, zudem aber hat er das Amt des WeItenrich-
Art von Leistung fragen kann, welcher dieses Prädikat ters usurpiert oder kopiert, der die einen zur Glorie führt,
zuerkannt werde, wesentlich in der unbedingten Unter- , anderen zur Strafpein verdammt. Dieser letztere Teil
die
drückung, im absoluten Einfrieren des Gewissens. Immer- war ihm der wichtigere, er machte sich an seine Ausführung
hin hat Himmler seinen Getreuen das Gefühl eines hoch- (nämlich die ,Endlösung<) in einem Augenblick, als die
esoterischen Stolzes auf diesen ihren Ausrottungs-, Vertil- Aussicht auf die Glorie sich schon verdunkelte, sein eigner
gungs-, Liquidations- und Exekutionsberuf zu vermitteln Untergang sich ankündigte.
gewußt - mit dem Satze: .Dies ist ein niemals geschriebe-
nes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer
Geschichte ... e Wir müssen, beim Versuch, diese Phäno-
mene zu erkennen, auch die Anstrengung nicht scheuen, in
die Kammern solchen ins Entsetzliche verstiegenen Be-
wußtseins einzudringen.
Kein Zweifel, es sind die ,Auserwählten<, die hier das Ge-
schäft selber zu besorgen übernommen haben, die ,Ver-
dammten< der Hölle - oder doch der Vernichtung - zu
überliefern. Kein Gericht, kein anderer Entscheid ist abzu-
warten, nicht die winzigste Differenz zwischen Glauben
und Handeln wird eingehalten oder zugestanden, die ,Reli-
gion< geht ohne Aufenthalt in Verbrechen über. Die Frage
von Geduld und Ungeduld stellt sich nicht, der Staat der
,arischen Rasse< begab sich nicht erst auf die Wander-
schaft zum fernen Ziel, er etablierte sich in dieser Zeit und
schmückte sich mit alten Titeln als ,Drittes Reich< und
,Tausendjähriges Reich<. Wenn hier Eschatologik im Spiel
ist, so ist sie verstümmelt. Diese Exekutoren ihres finsteren
Glaubens haben sich der Verdammnis mehr als der Heili-
gung, mehr der Beseitigung der ,Untermenschen< als der
Entwicklung des ,übermenschen< gewidmet. Sie hielten
5. Kapitel weil sie die Guten und die Bösen auseinanderhalten und
Entscheidung unterschiedlich behandeln will. Einzig die Politologik ist
imstande, unsere philosophische Voraussetzung zu akzep-
Noch immer ist die Frage nicht beantwortet, welches die tieren, indem sie nämlich die Menschen in Bürger zu ver-
wahre Politik sei. Es ist eine falsche Frage. Eine wahre wandeln vermag oder als Bürger aufzufassen verlangt und
Politik kann es nicht geben, nur eine gute. Besser ausge- das heißt als Gleiche. Das ist einer der Gründe, weswegen
drückt: der wahre Begriff von Politik ist der Begriff der bürgerliche Politik den Menschen ebenso möglich wie zu-
guten Politik. Welcher der drei Begriffe, die sich uns prä- träglich, weswegen sie also gute Politik ist.
sentiert haben, diesem Erfordernis entspricht, ist längst Es gibt noch andere Gründe. Vielleicht sind die anderen
entschieden. Das politisch Gute kann nur dasjenige sein, Gründe auch Konsequenzen aus dem einen und fundamen-
welches den Menschen möglich und welches den Men- talen Grund, der soeben angegeben worden ist. Eine dieser
schen zuträglich ist. Menschenmöglich ist zwar auch das Konsequenzen ist die Fähigkeit des politologisc~en· Sy-
Un-menschliche, ja das Teuflische, das haben wir erfahren stems, auch andersgeartete ·Kräfte unt~r gewissen Voraus-
und wir tun gut daran, fortan mit den inhumanen Möglich- setzungen in sich e~ubürgem. Der Verfassungsstaat
keiten der Humanität zu rechnen, in der geschehenden gibt davon handgreifliches Zeuguis: überall jedenfalls im
Geschichte wie in der philosophischen Theorie. Doch sind wesdichen Europa sind auf der Basis seuier Grundrechts-
diese Möglichkeiten' den Menschen gewiß nicht zuträg- garantien im Gewebe seiner Institutionen und auch gemäß
lich. Zuträglich scheint ihnen indessen die Aufhebung der seinen Spielregeln - denn diese drei Dinge sind es, die eine
Konflikte, die Abschaffung des Streites zwischen Mächten, authentische Verfassung ausmachen - politische Parteien
Interessen und Doktrinen, die Befreiung vom ,gesellschaft- tätig, von welchen eUrige eschatologisch, einige sogar
lichen Antagonismus<, der absolute Friede. Von ihm aber ,machiavellistisch< gefärbt sind. Jene findet man eher auf
müssen wir bekennen; daß er den Menschen nicht möglich der Linken, diese allenfalls auf der Rechten. Ich will nicht
ist. sagen, daß mit Hilfe dieser Begriffe die Parteien-Spektren
Daß in solchen Bemerkungen eine gewisse philosophische aller westeuropäischen Länder, auch nicht, daß sie in
Voraussetzung gemacht wird, kann ich nicht ableugnen. Es irgendeinem Land vollständig definiert werden könnten.
wird eine Anthropologie vorausgesetzt, eine Einsicht in die Aber auf einige Länder trifft diese Charakterisierung in
,Conditio humana<, in die Lage und Beschaffenheit der einigen Zügen sicherlich zu. Stets und überall wird diese
Menschen überhaupt. Jede solche Lehre fußt auf der Wahr- Fähigkeit des Verfassungsstaats freilich mit einem höheren
nehmung der elementaren Gleichheit der Menschen hin- oder niederen Grad von Gefährdung erkauft. Im Grunde
sichdich ihrer Lage, mag sie als natürliche oder als Schöp- hängt der glückliche Ausgang, hängt also die Bewalrrung
fungsgleichheit begriffen werden. Sie fußt darauf, und sie des Verfassungsfriedens und der Lebenstüchtigkeit des·
fordert sie zugleich. Weder die dämonologische noch die Ganzen davon ab, daß die Kooperationsbereitschaft dieser
eschatologische Politik in irgendeiner ihrer Spielarten will Parteien ihre ,ideologischen< Ansprüche übertrifft. Diese
die Menschengleichheit anerkennen, die eine, weil sie den Chance wächst im Falle der eschatologischen, also zumal
oder die Herrschenden von ihr ausnehmen, die andere, der sozialistischen Parteien in dem Maß, als ihre Zukunfts-

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erwartungen sich abkühlen, ihre Geduld erlahmt, und als und eines Staates unter Staaten, ihr Außenseiterturn, ihre
sie - über die bloß eben notwendige Koexistenz hinaus - Einzigartigkeit als ,Gottesstaat< in der Fremde erlitt eine
sich mit den anderen zu arrangieren beginnen, mögen diese tiefe Einbuße. Sie trat zuerst hervor als eine der Vereinten
auch ,bürgerlich< sein. Solcher Eingewöhnung der ,Heili- Nationen, Mitbegründerin des Weltvereins souveräner
gen< in den ,Erdenstaat< kann dieser seinerseits, kann also Staats-Subjekte, dessen Satzung dem konstitutionellen
das politologische System durch die Kraft der Freiheit Muster folgte, ein kühner Entwurf, in der Praxis seither an
fördernd entgegenkommen. Andererseits darf der Verfas- Schwäche leidend, dennoch als Erinnerung des Mögli-
sungsstaat keinen Augenblick vergessen, selbst Treue zu chen stets präsent, auch aus dem weltpolitischen Hinter-
fordern. Nur wenn er sich seines eigenen Wesens b~t grund leise wirksam.
ist, können solche Einbürgerungen glücken. Es ist aber Der Ertrag des Stalinschen Verhandelns war allerdings
allein ihm eigentümlich, daß sie überhaupt möglich sind. beträchtlich, das Partei-Imperium dehnte sich nach Westen
Ein reziprokes Verhältnis zu den anderen Systemen gibt bis in die Mitte des europäischen Kontinents aus. Was wei-
es in diesem Punkt nicht. ter geschah, ist jedermann. im Gedächtiiis: Der Eiserne Vor-
Es bleibt die Frage, ob ein vergleichbarer Friede der Be- hang ging nieder, der kalte Krieg begann, beiderseits wur-
griffe - öder vielmehr der Kräfte und Mächte, welche die den militärische Pakt-Systeme aufgebaut; doch hat der
Begriffe repräsentieren - auch im internationalen Feld und kalte Krieg bisher nicht zu einem totalen, nicht zum
Maßstab Aussicht habe. Der Zweite Weltkrieg endigte dritten Weltkrieg geführt, wie bedeutende Diagnostiker
mit der totalen Niederlage und Desavouierung jenes Fak- vor fünfundzwanzig Jahren für möglich hielten; der ver-
tors, der mit dem Namen ,Hitler< bezeichnet ist. (Die dä- deckte Kampf um Positionen, zumal außerhalb Europas,
monologische Macht wird zuletzt immer zugrunde gehen, dauert an, nicht weniger der Wettlauf von Rüstungen, aber
nicht wegen jener .außerordentlichen Bösartigkeit des die Politik der wechselseitigen Bewachung - die mit Ver-
Geschickes., die Machiavelli für Borgias Scheitern ver- lusten und Gewinnen auf beiden Seiten einherging und
antwortlich gemacht hat, sondern wegen der notwendigen einhergeht - ist aus der Phase des Kalten Kriegs in die-
Unvollständigkeit des Kalküls, der ihr Handeln leitet.) Die jenige eines kalten Friedens übergegangen, der den Namen
west-östliche Allianz, die vom Angreifer erzwungen war, ,Entspannung< trägt. Ein technologischer Wettstreit (zu-
blieb und bleibt noch immer eine höchst e.gentümliche mal in der Raumfahrt) kann eher als eine verbindende, zivi-
historische Tatsache. Die große Vormacht des Sozialismus lisierende Institution in der ,Verfassung< des ost-westli-
fand sich darin verbunden mit den führenden ,kapitalisti- chen Gesamtsystems gelten denn als ein Symptom der
schen< Staaten und zumal mit der Vormacht des ,Imperia- Feindschaft. Die Verhandlungen über Begrenzungen im
lismus<. Es war keineswegs derjenige ,imperialistische< Aufbau der gegenseitigen Droh-Potentiale haben ein
Krieg geworden, worin sich die Bösen wechselseitig zu- Milieu des Miteinanderhandelns geschaffen, mag es auch .
grunde richten, und wovon einzig die Guten den Vorteil die meiste Zeit sich als ein verbissenes Dauer-Handge-
haben sollen. Die Weissagung war verwirrt, wo nicht menge darstellen. Der Auftritt des Roten China und die
widerlegt, und so geriet schon darum die Sowjetunion große Glaubensspaltung der marxistisch-leninistischen
in die Rolle und Position einer Macht unter Mächten Religion hat die Bipolarität relativiert, eine maßvolle

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t
Kooperationsbereitschaft der Sowjetunion erzwingen hel- Theorie anlangt, sind wir verurteilt, im Widerstreit des Un-
fen. Was die chinesische Rechtgläubigkeit eigentlich be- vereinbaren fortzudenken und fortzuexistieren. Die Kon-
deutet, ob das eschatologische Moment dort noch bestim- stellation der Mächte scheint Hoffnung auf einen Modus
mend ist, wage ich nicht zu beurteilen. Innerhalb des vivendi von der paradoxen Art zu lassen, die ich soeben zu
Stalinschen Imperiums sind Reform-Tendenzen zweimal- beschreiben versucht habe. Er stellt gleichsam das Mini-
'956 in Ungarn, '968 in der Tschechoslowakei - durch mum einer ,Einbürgerung< auch des fremden Faktors dar,
militärische Intervention angehalten worden; gleichwohl und sie ist ebenso denkbar wie historisch möglich des-
sind >eigene Wege zum Sozialismus< nicht mehr a pri011 wegen, weil die Polis, wie Aristoteles sagt, nach ihrem
ketzerei-verdächtig, -das strategische Erfordernis der Soli- Wesen eine Vielheit ist. Die Politologik kennt kein Gesetz
darität im eigenen )Lager< hindert neue oder erneuerte der Geschichte. Sie setzt dem Heilsverlangen und der
Verfeindungen, mindert daher auch den Glaubenseifer. Heilsbehauptung nichts entgegen als den stetigen Versuch,
Verfolgungen im Inneren halten an, werden aber dank den Streit zu regeln. Wir befinden uns inmitten. eines ·ge-
weitreichender publizistischer Inspektion international schichtlichen Experiments.
durchsichtig, eine stetige weltweite Menschenrechts-
Debatte setzt - trotz aller Bemühungen, sich selbst ab- und
einzuschließen - dem Beharren auf der Souveränität
Grenzen.
Kurz, die vormaligen Alliierten stehen, insgesamt betrach-
tet, in einer ganz eigentümlichen Anordn~ng zueinander,
zugleich als potentielle strategische Feinde, als ökono-
misch-technologische Konkurrenten, als diplomatische
Gegner in dritten Regionen und als Verhandlungs partner
in Angelegenheiten von vitalem solidarischem Interesse bei
fast gleich starker Bremswirkung des gegenseitigen Arg-
wohns. Augenblicksweise meint man geradezu den Schim-
mer nicht zwar der Konfliktlösung, wohl aber einer ver-
fassungsartigen Verfestigung wahrzunehmen, worin
Spannung und Entspannung einander ablösen oder auch
die Waage halten; die Luft ist vom Geräusch einer öffent-
lichen Diskussion erfüllt, die >ideologischen< Attacken in
ost-westlicher Richtung sind zuzeiten nur noch schwach
zu vernehmen, weit schwächer jedenfalls als im inner-
sozialistischen Glaubensstreit.
Eine Versöhnung ist unter den Begriffen nicht denkbar,
unter den weltpolitischen Mächten nicht in Sicht. Was die

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