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720 Fernando Pessoa

lisches Werk wird durch die Sammlung der »Inscripti- Orientreise schreibt er die 43 Vierzeiler von »Opiarium«
ons« beschlossen. Auch diese 14 Epitaphe sind Ausdruck (1915). das eine nachträglich eingefügte dekadentisti_
von Pessoas spezifischem Verhältnis zu Antike und zu sche Phase darstellt. Seine großen Schaffensphasen sind
den letzten Dingen. Wie im »Antinous« gibt es auch hier jedoch die sensationistisch-futuristische der langen
nur in der Kunst - dem in Stein gehauenen Epigraph - Oden (1915-1923), eine erkenntniskritisch-metaphysi_
ein Überdauern. Einem Motto gleich, das auf die Sonette sche (1923-1930) und schließlich eine lebensmüde
zurück- und auf Bernardo Soares Livro do desassossego selbstironisch· existenzialistische Phase (193 0 - 1935) :
vorauszudeuten scheint, steht die erste der Inschriften: Nach dem Orthonym ist Campos das Heteronym mit
»We pass and dream. Earth smiles.« dem umfangreichsten Werk und das einzige, dessen Per-
Der 53 Gedichte unterschiedlicher Form umfassende sönlichkeit eine komplexe Entwicklung durchläuft.
Zyklus »The Mad Fiddler« (Der wahnsinnige Spiel- Die »Ode triunfal«, 1915 (»Triumphode«), in der ers-
mann) ist eine selbstbezügliche Apotheose auf die be- ten Ausgabe des Orpheu erschienen, verkehrt das abge-
deutungsabstinenten Künste der Musik und des Tanzes, klärte Primat des subjektiven Blicks des Haupthetero-
die als Urgrund menschlichen Seins erscheinen: »Fee- nyms Alberto Caeiro zur Subversion: »Sehen ist mir eine
ling that what we are made, / Was something musical.« sexuelle Perversion«. Im Delirium einer Anthropomor-
Damit nahm Pessoa hier Ideen der symbolistischen Poe- phisierung der Maschinen, in denen Campos die ge-
tik auf. Explizit berief er sich in der geplanten Einlei- samte Kulturgeschichte wiederkehren sieht, werden spi-
tung auf den seinerzeit in Portugal nahezu unbekannten rituelle Werte durch materielle ersetzt. Sein Futurismus
I Mallarme als den »kompliziertesten und unverständ- ist jedoch durchweg idiosynkratisch und an den freien
lichsten Dichter aller Zeiten«: »Auf der Grundlage ei- Versen Walt l Whitmans geschult, dem er eine Vielzahl
ner Geistesbeschäftigung, die an den Wahnsinn grenzt, von Lobgedichten widmete. >Futurismus< war für Pessoa
brachte er in seine Dichtung den Sinn für die Geschlos- und Mario de I Sa-Carneiro ein Begriff für das absolut
senheit der Entwicklung, für bislang ungekannte Har- Moderne ihrer Dichtung, abseits von der Geschichts-
monie, die man bei einem Wahnsinnigen eigentlich schelte, Kriegsbeschwörung und dem Nationalismus
nicht feststellen dürfte.« I Marinettis.
Gemeinsam mit »The Mad Fiddler« blieben an die Höhepunkt ist die »Ode maritirna« (»Meeresode«),
100 weitere englische Gedichte, die sich mit Themen wie ebenfalls 1915 im Otpheu 2 erschienen und 1995 von Joao
der Melancholie und Verzweiflung, der Suche nach Grosso kongenial vertont. In hypotaktischen Schach-
Gott und dem Absoluten und der Wechselhaftigkeit des telungen und den Onomatopöien von Klagen und
Schicksals beschäftigen, zu Lebzeiten unveröffentlicht. Schreien entsteht eine Dialektik von minuziöser Struk-
Ausg.: e、ゥセ¦ッ@ critica de F. P., Hg. 1. Dionisio/M. Angioni, Bd. 5.1, turierung und komplexen Inhalten. Ausgehend vom
5· 3, 1997 u. 1999· Anblick eines vorbeifahrenden Dampfschiffs werden die
Lit. : C. T. F. Edlinger: A rnetäfora e 0 fenorneno nos poernas in- Emotionen und Perversionen der Piraten und ihrer Op-
gleses de F. P., 1982. D. Bunyan: The South African F. P., in: Eng- fer während der Entdeckungszeit evoziert. Das Drehen
lish in Africa 14, 1987, 67-105. A. Terlinden: The Bilingual des Steuerrads bestimmt leitmotivisch den auf- und ab-
Portuguese Poet, 1990. ,Y. F. Vieira: A pöesia inglesa de F. P. e a di-
schwingenden Pegel der Gefühle, deren Register von sa-
narnica da heteronirnia, in: Estudos Portugueses e Africanos 21,
domasochistischer Erotik, blutrünstiger Euphorie,
1993, 35-47. R. S. Junqueira: Urna rnascarada lirica ou conside-
イ。セ￶・ウ@ acerca dos sonnets de Shakespeare e dos 35 so nnets de F. P., Trauer, Selbstzweifeln, Nostalgie, Mentalitätskritik bis
in: Revista de Letras 36, 1996, 33-45. R. Brechon: L'Antinoüs de hin zu Fortschrittsbegeisterung reichen. Hier sind be-
P., in: Presence de l'antiquite grecque et rornaine au XXe siede, reits die »Anmerkungen zu einer nicht-aristotelischen
Hg. R. Poignault, 2002, 127- 132. Gerhard Wild Ästhetik« angelegt, die Campos 14 Jahre später veröf-
fentlichte. Der Künstler richtet sich nicht mehr nach der
Wirklichkeit, sondern nach den subjektiven Empfin-
dungen, welche Realität und Kunst erst erschaffen. Das
Das lyrische Werk des Älvaro de Campos
anarchische Ästhetisieren des Augenblicks führt zu ei-
(portug.) - Das unter dem modernistischen Heteronym ner totalen Verinnerlichung der Außenwelt. So entwirft
Fernando Pessoas entstandene Werk umfasst ca. 250 die »Ode maritirna« eine Gegengöttlichkeit in der Dau-
Dichtungen und Fragmente, das Manifest Ultimatum, erhaftigkeit des Sinnenrausches als Entbindung von der
Essays, Pamphlete und Prosafragmente. Die Gedichte Vergänglichkeit des Seins.
liegen in zwei kritischen Editionen, von Cleonice Be- In den Oden verwendet Campos vor allem impres-
rardinelli (1990) und Teresa Rita Lopes (1993), vor, von sionistische Assoziation:en, Parallelismus und Anapho-
denen die Letztere genauer ist. rik als Stilmittel. Provokatives Ziel ist wie auch bei Ezra
Laut Pessoa ist Campos 1890 geboren und ein in I Pound, die Unterscheidung zwischen gut geschriebe-
Schottland ausgebildeter Schiffbauingenieur. Auf einer ner Lyrik und Prosa unmöglich zu machen. Campos
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verbindet dabei Einflüsse Whitmans mit futuristischen dringlich mit den erkenntnistheoretischen Grundlagen

Elementen und Fin de sセ」ャ・MᅣウエィゥォN@ Er übernimmt einer gefühlsorientierten Ästhetik und ihren Aporien
sti-
den Gedanken der Überwindung einer Trennung von befasst. Camp os' Lyrik ist Ausdruck von Rausch und
ind
Mensch und Natur (wie sein Meister Caeiro) in einer Tragödie einer absoluten literarischen Polyphrenie, er
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Verbindung von Dekadenzdenken und Vitalismus, die selbst mit Bernardo Soares das einflussreichste und zeit-
rsi-
schon ein Anliegen I Nietzsches war. loseste der Heteronyme Pessoas.
de,
Camp os verkörpert am deutlichsten, was Pessoa un- Ausg.: A. de C.: Poesia, 2002.
15)·
ter Sensation ismus verstand: »Es gibt nichts; keine Lit.: G. Güntert: Das Gedicht ,Tab'akladen<. Eine Analyse, in:
mit
Wirklichkeit außer den Sinneserfahrungen«, und auch F. P.: Algebra der Geheimnisse, 1986. J. -F. Coelho: Microleituras
'er- de A. de c., 1987. T. R. Lopes: P. por conhecer, Bd.1, 1990. B. Bal-
Kunst ist »nur eine Umwandlung einer Empfindung in
Dinge«, letztlich sogar nur »einer Empfindung in eine trusch: Bewusstsein und Erzählungen der Moderne im Werk
:rs- F. P.s, 1997- B. Baltrusch/T. Eisermann: Einleitung, in: A. de c.:
andere Empfindung« (1916) . Campos setzt dies in sei-
ge- Ich brauche Wahrheit und Aspirin, 1997. T. R. Lopes: Este c.; C. e
nem Leitspruch »Alles auf alle nur erdenldiche Weise
ro- a tradiyäo, in: A. de c.: Poesia, 2002. Burghard Baltrusch
fühlen« um, Leitmotiv der Fragmente zur Ode »Passa-
ine
or- gern das horas«, 1916/17 (»Stundenzug«). Sie ist die große
ge- Selbstbeschreibung des Sensationisten im Übergang zu
Odas de Ricardo Reis
pi- seiner kontemplativen Phase wie auch ein Brevier hete-
lUS
ronymischer Betrachtungen eines synoptischen Pessoas. (portug.; Ricardo Reis: Oden, 1986, G.R. Lind) - Unter
ien Mit der intellektuellen »Orgie das Leben zu fühlen« wird dem Heteronym Ricardo Reis veröffentlichte Fernando
ahl Campos zur Metapher der Heteronymie selbst. Pessoa ab 1924 die ersten der insgesamt 127 Oden in den
;oa Sobald die Geschwindigkeit und Rauschhaftigkeit von ihm mitbetreuten Avantgardezeitschriften pイ・ウョセ。@
,Iut der sensationistisch-euphorischen Stimmungen nach- und Athena; eine erste postume Ausgabe erschien 1946.
ItS-
lassen, treten existenzialistische Gefühle, Melancholie Aufgrund neuerer Forschungen wurden mehrere Ver-
IUS und Nihilismus in den Vordergrund. Herausragendes suche unternommen, das Corpus der Oden in eine kon-
Beispiel ist das Gedicht »Tabacaria« (»Tabakladen «),1933 sistente Ordnung zu bringen.
セ@ « ), in der Present;a erschienen. Was sich noch für ein Sub- Dem fingierten Verfasser der Oden weist Pessoa eine
läo jekt hielt, hat sich hier in einem Wahrscheinlichkeits- individuelle Biographie zu: »Ricardo Reis wurde 1887 in
:h- konflikt zwischen den Sinneswahrnehmungen, Emotio- Porto geboren [... ], ist Arzt und lebt im Augenblick in
nd nen und rationalen Begriffen verirrt. Die desillusio- Brasilien [... ]. Er ist Jesuitenschüler, und, weil Anhänger
lk- nierte Innenschau wird zum Spiegelbild des Identitäts- der Monarchie, freiwillig außer Landes gegangen. Lati-
)m konflikts von Innen und Außen, Sein und Nichts, Füh- nist ist er dank fremder, ein halber Gräzist dank eigener
die len und Denken. Mit eschatologischer Ironie verwirft Erziehung.«
)p- Campos die Grundlagen seiner menschlichen Existenz. Der Ursprung der )dichterischen Bewusstseinsspal-
len Das Gewahrwerden, dass die Selbstreflexivität des eige- tung<, die sich in Pessoas Fiktion biographisch und poe-
lb- nen Bewusstseins ihm die Urunschuld der Wahrheit in tologisch separater Sprechinstanzen - den sogenannten
sa- der Handlung raubt, entwickelte sich parallel zu Martin Heteronymen - kristallisiert, ist in dem ästhetischen
:ie, I Heideggers Kritik der Seinsvergessenheit und Seins- Dualismus zu verorten, der in jüngerer Zeit als )doppelte
bis verlassenheit. Wo der junge Sensationist noch das »Füh- Ästhetik< bezeichnet wird: Die Gegensatzpaare )anden/
)e- len heißt schöpfen« verabsolutierte, steht beim späten moderne<, )schön/erhaben<, )naiv/sentimentalisch< und
len Campos die tragische Einsicht, dass eine Seinsgewiss- )klassisch/romantisch<, die seit der der frühen Neuzeit
öf- heit nur noch als Abstraktion Wert besitzt. den Schreibvorgang dialektisch vorantreiben, werden
ier In seinem Existenzialismus )avant la lettre< blieb in Pessoas Dichtungsauffassung analytisch ausdifferen-
in- Camp os immer selbstironisch und drama'tisch, selten ziert. Wie Pessoa in den Paginas de estetica e de teoria e
jas dringen rein lyrische Elemente in den Vordergrund. Wo critica literarias, 1967 (Ästhetik und Dichtungstheorie),
ei- T. S. I Eliots The Waste Land die Sprachlosigkeit des zer- festhielt: »Dr. Ricardo Reis wurde in meiner Seele am
irft brochenen Ichs der Moderne durch das literarische Zitat 29. Januar 1914 um 11 Uhr nachts geboren . Am Vortag
lU- ersetzt, geht Campos einen Schritt weiter: Am Ende von hatte ich bei einer ausgedehnten Diskussion über die
ier »Tabakladen«, einem der wichtigsten Gedichte der eu- Exzesse der modernen Kunst, vor allem bei ihrer Ver-
ropäischen Lyrik des 20. Jh.s, bleiben nur abstrakte wirldichung zugehört.« Tatsächlich etablierte sich die
es- Denk- und Kommunikationsstrukturen zur Milderung Poeten fiktion Ricardo Reis aus dem Gegensatz einer die
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des Wertverlustes der Ich-Identität - eine Vorwegnahme bürgerliche Ästhetik zerbrechenden Dekadenzpoesie,
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der von den Neurowissenschaften ausgelösten Debatte die mit I Baudelaires Fleurs du mal (1857) einsetzte, und
)e- um den freien Willen. Kaum eine andere Gestalt der eu- ihrer ldassizistischen Gegenbewegung, wie sie in I Ver-
lOS
ropäischen Literatur vor Paul I Valery hat sich so ein- laines Fetes galantes (1869) Gestalt erlangte: »Wir er-

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