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PHILOSOPHISCHE MEISTERSTÜCKE

Christoph Menke

Versäumte Mathematikstunde
Zu Theodor W. Adornos Aphorismus „Lücken“

Text: genständen zuwenden, „zu deren klarer und unzwei­


Lücken. - Die Aufforderung, man solle sich der intel­ felhafter Erkenntnis unser Geist auszureichen schei­
lektuellen Redlichkeit befleißigen, läuft meist auf die ne“, samt aller Ordnung und Disposition, worauf sie
Sabotage der Gedanken heraus. Ihr Sinn ist, den sich bezieht, einen so falschen Begriff wie die ihr ent­
Schriftsteller dazu anzuhalten, alle Schritte explizit gegengesetzte und im innersten verwandte Lehre von
darzustellen, die ihn zu seiner Aussage geführt haben, der Wesensschau. Verleugnet diese das logische Recht,
und so jeden Leser zu befähigen, den Prozeß nachzu­ das trotz allem in jedem Gedanken sich geltend
vollziehen und womöglich — im akademischen Be­ macht, so nimmt jene es in seiner Unmittelbarkeit,
trieb — zu duplizieren. Das arbeitet nicht bloß mit der bezogen auf jeden einzelnen intellektuellen Akt und
liberalen Fiktion der beliebigen, allgemeinen Kom­ nicht vermittelt durch den Strom des ganzen Be­
munizierbarkeit eines jeden Gedankens und hemmt wußtseinslebens des Erkennenden. Darin aber liegt
dessen sachlich angemessenen Ausdruck, sondern ist zugleich das Eingeständnis der tiefsten Unzuläng­
falsch auch als Prinzip der Darstellung selber. Denn lichkeit. Denn wenn die redlichen Gedanken unwei­
der Wert eines Gedankens misst sich an seiner Distanz gerlich auf bloße Wiederholung, sei's des Vorfindli­
von der Kontinuität des Bekannten. Er nimmt objek­ chen, sei's der kategorialen Formen hinauslaufen, so
tiv mit der Herabsetzung dieser Distanz ab; je mehr bleibt der Gedanke, der der Beziehung zu seinem Ge­
er sich dem vorgegebenen Standard annähert, um so genstand zuliebe auf die volle Durchsichtigkeit seiner
mehr schwindet seine antithetische Funktion, und logischen Genesis verzichtet, allemal etwas schuldig.
nur in ihr, im offenbaren Verhältnis zu seinem Ge­ Er bricht das Versprechen, das mit der Form des Ur­
gensatz, nicht in seinem isolierten Dasein liegt sein teils selber gesetzt ist. Diese Unzulänglichkeit gleicht
Anspruch begründet. Texte, die ängstlich jeden der der Linie des Lebens, die verbogen, abgelenkt,
Schritt bruchlos nachzuzeichnen unternehmen, ver­ enttäuschend gegenüber ihren Prämissen verläuft und
fallen denn auch unweigerlich dem Banalen und ei­ doch einzig in diesem Verlauf, indem sie stets weniger
ner Langeweile, die sich nicht nur auf die Spannung ist, als sie sein sollte, unter den gegebenen Bedingun­
bei der Lektüre, sondern auf ihre eigene Substanz be­ gen der Existenz eine unreglementierte zu vertreten
zieht. Die Schriften Simmels etwa kranken allesamt vermag. Erfüllte Leben geradenwegs seine Bestim­
an der Unvereinbarkeit ihrer aparten Gegenstände mung, so würde es sie verfehlen. Wer alt und im Be­
mit der peinlich luziden Behandlung. Sie erweisen wußtsein des gleichsam schuldenlosen Gelingens
das Aparte als das wahre Komplement jener Durch­ stürbe, wäre insgeheim der Musterknabe, der mit un­
schnittlichkeit, die Simmel zu Unrecht für Goethes sichtbarem Ranzen auf dem Rücken alle Stadien
Geheimnis hielt. Aber weit darüber hinaus ist die For­ ohne Lücken absolviert. Jedem Gedanken jedoch, der
derung nach intellektueller Redlichkeit selber un­ nicht müßig ist, bleibt wie ein Mal die Unmöglich­
redlich. Gäbe man ihr selbst einmal die fragwürdige keit der vollen Legitimation einbeschrieben, so wie
Anweisung zu, die Darstellung solle den Denkprozeß wir im Traum davon wissen, daß es Mathematikstun­
abbilden, so wäre dieser Prozeß so wenig einer des den gibt, die wir um eines seligen Morgens im Bett
diskursiven Fortschreitens von Stufe zu Stufe, wie willen versäumten, und die nie mehr sich einholen
umgekehrt dem Erkennenden seine Einsichten vom lassen. Der Gedanke wartet darauf, dass eines Tages
Himmel fallen. Erkannt wird vielmehr in einem Ge­ die Erinnerung ans Versäumte ihn aufweckt und ihn
flecht von Vorurteilen, Anschauungen, Innervationen, in die Lehre verwandelt.
Selbstkorrekturen, Vorausnahmen und Übertreibun­
gen, kurz in der dichten, fundierten, aber keineswegs (Aus: Adorno, Theodor W.: Minima Moralia, In: Ges.
an allen Stellen transparenten Erfahrung. Von ihr gibt Schriften, Bd. 4. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997.
die Cartesianische Regel, man solle sich nur den Ge­ S. 88-90.)

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CHRISTOPH MENKE

Kommentar: dischen Sinn, ein Urteil über Recht und Unrecht zu


In der „Zueignung“ an Max Horkheimer bezeichnet fällen. Daran hat Sokrates die Philosophie als „Dis­
Adorno den „Bereich“, auf den sich die zwischen kussion“ (S. 121) ausgerichtet, und auch darauf zu
1944 und 1947 entstandene, 1951 erschienene „Mi­ „verzichten“ fordert Adorno sie auf. Dieser Verzicht
nima Moralia“ bezieht, als „die Lehre vom richtigen ist der aufs Rechtbehaltenwollen — nicht jedoch um
Leben“ (S. 7)1. Einer Lehre vom richtigen Leben der anderen, sondern der eigenen Gedanken willen.
kann die Philosophie sich jedoch nur durch „Refle­ Denn nach dem topischen Modell der juridischen
xionen aus dem beschädigten Leben“, so der Unter­ Argumentation muss, wer Recht behalten will, sich
titel des Buches, nähern. Darin sind die philosophi­ auf etwas beziehen, in dem alle übereinstimmen, und
sche Reflexion und das Leben, dem sie gilt, noch in verfällt deshalb, so Adorno, dem „Konformismus“ (S.
ein anderes Verhältnis als dem der Theorie zu ihrem 122). Methodisches Argumentieren und topische
Gegenstand gebracht. Die philosophischen Reflexio­ Rhetorik sind zwei Formen der Urteilsgläubigkeit,
nen sind solche aus dem beschädigten Leben: Sie er­ die Adorno als zwei Weisen der Selbstfesselung des
folgen aus dem beschädigten Leben heraus, denn die Gedankens durch „bloße Wiederholung“ beschreibt.
Philosophie kann keinen Ort jenseits des Lebens und Damit bricht der philosophische Gedanke, indem er
seiner Beschädigungen beanspruchen. Zugleich aber zum philosophischen Text wird: „ln einem philoso­
könnten sie gar keine Reflexionen über das beschä­ phischen Text sollten alle Sätze gleich nahe zum Mit­
digte Leben sein, sondern blieben deren bloßer Re­ telpunkt stehen“ (S. 123); der philosophische Text
flex, wenn sie nicht auch aus dem beschädigten Le­ kennt keine Begründung von Sätzen aus anderen Sät­
ben hinausführten oder doch -wiesen. Der Kritiker zen, die gewiss oder geteilt sind. Nur so kann der phi­
„tastet“ danach, „die eigene Existenz zum hinfälligen losophische Text zum Ausdruck der „dichten, fun­
Bilde einer richtigen zu machen“ (S. 30). dierten, aber keineswegs an allen Stellen transparen­
Das leistet der philosophische Gedanke nicht so sehr ten Erfahrung“ werden. Sie besteht „in einem
durch das, was er sagt, sondern wie: indem er das Ver­ Geflecht von Vorurteilen, Anschauungen, Innervatio­
sprechen bricht, „das mit der Form des Urteils selber nen, Selbstkorrekturen, Vorausnahmen und Übertrei­
gesetzt ist“. Denn dadurch „gleicht“ der philosophi­ bungen“, dem das Gewebe entspricht, die — wie
sche Gedanke nach Adorno der „Linie des Lebens“ — Adorno später in der „Negativen Dialektik“ sagen
und zwar einer Existenz, die „unter den gegebenen wird — „Konfiguration“, aus der philosophische Tex­
Bedingungen [...] eine unreglementierte zu vertreten te bestehen. Der philosophische Text verknüpft durch
vermag“. Der philosophische Gedanke enthält eine „Lücken“ — nicht um seiner selbst, seiner Schönheit
„Lehre vom richtigen Leben“ durch die Form, in der oder seines Spiels, sondern um der Offenheit der Er­
er seine Erkenntnis des „beschädigten Lebens“ fahrung willen, die von keiner Gewissheit und kei­
durchführt und darstellt. nem Einverständnis eingeholt werden kann.
Für die Bestimmung der philosophischen Form des Dass es im Bruch des philosophischen Gedankens mit
Gedankens übernimmt Adorno Hegels Bestimmung, der Urteilsform um das richtige Leben geht, hat hier­
dass die Philosophie aus einem „Gegenstoß“ zum in, in dem Begriff der Erfahrung, seinen Grund. Die­
Urteil hervorgehe. Dem gibt Adorno einen doppel­ sen Bezug aber gewinnt der philosophische Gedanke
ten Sinn. Das Versprechen der Urteilsform hat zum nicht direkt. Sondern dadurch, dass er — so Adornos
einen den logischen Sinn, dass sich jedes Urteil in ei­ Formulierung — etwas „schuldig“ bleibt. Was er schul­
nem „diskursiven Fortschreiten von Stufe zu Stufe“ dig bleibt, wissen wir schon: Es ist seine vollständige
aus einem anderen begründen lässt, das selbst den Sta­ diskursive Ausweisung. Darin, dass er sie schuldig
tus der Gewissheit beanspruchen kann. Indem der bleibt, „gleicht“ der philosophische Text der Linie ei­
philosophische Gedanke mit diesem Versprechen nes unreglementierten Lebens, „die verbogen, abge­
bricht, verzichtet er „auf die volle Durchsichtigkeit lenkt, enttäuschend gegenüber ihren Prämissen ver­
seiner logischen Genesis“. Das Versprechen der Ur­ läuft“. Gerade ein unreglementiertes, gelungenes Le­
teilsform hat (nach Adornos benachbartem Aphoris­ ben ist kein „erfülltes“ — keines, das „geradenwegs
mus „Für Nach-Sokratiker“) zum anderen den juri­ seine Bestimmung“ erfüllt. Seine Freiheit ist die zur

1 Seitenzahlen sind die der ersten Ausgabe Frankfurt/M. 1951, Nachdruck 2001. Zitate ohne Seitenangaben ent­
stammen dem vorstehend abgedruckten Aphorismus „Lücken“.

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VERSÄUMTE MATHEMATIKSTUNDE

Schuld an sich selbst, an seiner Bestimmung. Diese durch „Erinnerung ans Versäumte“. Das Versäumte
Freiheit übt der philosophische Text, und darin „tas­ sind die Mathematikstunden der Philosophie, der
tet“ er nach einem Bild des richtigen Lebens. Unterricht im „diskursiven Fortschreiten von Stufe
Nach Adornos schwieriger Schlusswendung liegt in zu Stufe“. Anders als die „Musterknaben“ der Philo­
seinem Schuldigwerden zugleich aber auch der ei­ sophie versäumen Adornos „Intellektuelle“ sie gele­
gentümliche Wahrheitsbezug des philosophischen gentlich „um eines seligen Morgens im Bett willen“.
Gedankens. Der Gedanke, dem „wie ein Mal die Un­ Aber Wahrheit, so scheint Adornos Schlusswendung
möglichkeit der vollen Legitimation einbeschrieben“ zu sagen, erlangen ihre Gedanken nicht, solange sie
ist, „warte“ darauf, so heißt es hier, aufgeweckt und sich dieser Seligkeit überlassen, sondern jäh aus ihr
„in Lehre verwandelt“ zu werden. Lehre ist immer geweckt werden. Die Wahrheit des philosophischen
wahre Lehre, Lehre des Wahren. Der philosophische Gedankens wird aus dem schlechten Gewissen der
Gedanke ist keine solche Lehre, aber er wartet darauf, Erfahrung geboren.
in sie verwandelt zu werden. Und zwar wird er das

Mitarbeiter an diesem Heft (Fortsetzung von Seite 151)


Jörg Peters, Dr. phil.; Gesamtschullehrer für Philosophie und Englisch in Oberhausen, Moderator im Schulversuch Prak­
tische Philosophie NRW
Küstermannsweg 7, 46535 Dinslaken
Johannes Rohbeck, Dr. phil.; Professor für Praktische Philosophie an der TU Dresden; Mitherausgeber dieser Zeitschrift
Jenaer Straße 24, 10717 Berlin
Christa Runtenberg, Dr. phil.;Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Universität Rostock, zu­
ständig für Fachdidaktik Philosophie
Niklotstraße 11, 18057 Rostock
Mike Sandbothe, Dr. phil. habil.; Hochschuldozent für Medienwissenschaft und Kulturtheorien digitaler Medien an der
Friedrich-Schiller-Universität Jena. Im Sommersemester 2002Vertretungsprofessur für praktische Philosophie an der Uni­
versität Essen
Universität Jena, Institut für Philosophie/Medienwissenschaften, Ernst-Abbe-Platz 8, 07740 Jena
Wolfgang Schneider, Dr. phil.; Gymnasiallehrer für Latein, Griechisch, Deutsch und Philosophie, z. Zt. in Hamburg
Buchwaldstraße 72 A, 22143 Hamburg
Renate Schröder-Werle; Gymnasiallehrerin für Philosophie, Deutsch und Geschichte, Fachleiterin am Studienseminar,
z. Zt. im Hochschuldienst, Lehraufträge für Didaktik der Philosophie an der Universität Dortmund
Institut für Philosophie, 44221 Dortmund
Andreas Siekmann, Dr. phil.; Gymnasiallehrer für Philosophie, Deutsch und ev. Religion; Lehrbeauftragter für Philoso­
phie an der Universität Bielefeld; Mitarbeiter am Curriculum des Faches „Praktische Philosophie“ und Moderator im
Schulversuch
Am Frölenberg 5, 33647 Bielefeld
Jens Soentgen, Dr. phil.; studierte Chemie, Philosophie und Politik, seit 1999 regelmäßig Gastprofessor für Philosophie in
Brasilien
WZU, Universitätsstraße 1, 86159 Augsburg
Gerhard Voigt, Dr. phil.; Gymnasiallehrer für Deutsch und Philosophie in Berlin
Ringstraße 11, 14612 Falkensee
Lutz von Werder, Dr. phil. habil.; Professor für Kreativitätsforschung an der Alice Salonion Hochschule in Berlin; Leiter
des philosophischen Cafés in der Urania und im Literaturhaus Berlin
Bamberger Str. 52, 10777 Berlin
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