Sie sind auf Seite 1von 4

# 2022/07 dschungel

https://jungle.world/artikel/2022/07/fester-knoten

Adornos Vorlesung »Fragen der Dialektik« liegt jetzt in Buchform vor

Fester Knoten
Von Alex Struwe

Drei Vorlesungen hielt Adorno über sein Verständnis von Dialektik. Bei der
letzten, »Fragen der Dialektik« im Wintersemester 1963/1964, streikte das
Aufnahmegerät ausgerechnet bei den Sitzungen zu Marx. Nun ist sie in den
Nachgelassenen Schriften erschienen.

Wenn heutzutage die Polarisierung oder Spaltung der Gesellschaft beklagt wird, ist der
Erkenntniswert meist so gering, dass es nur ermüdet. Jede halbwegs ehrliche Analyse der
modernen bürgerlichen Gesellschaft weiß doch, dass Spaltung ihr grundlegendes Moment
ist – nenne man es nun Klassengegensätze, Ungleichheit, Diskriminierung, cleavages
oder, mit postmoderner Konnotation, einen Konflikt zwischen Hegemonie und
Anteilslosen. Unversöhnliche Gegensätze festzustellen, ist so elementar, dass es dem
Denken eigentlich spätestens seit der Erkenntniskritik eines Immanuel Kant ohnehin
eigen war. Vielmehr dürfte das Neue am Stand des Bewusstseins heute sein, dass es
bereits beim einfachen Nachvollzug dessen, wie diese Gegensätze zusammenhängen, an
seine Grenze stößt.

Adorno geht es nicht bloß darum, Dialektik auszubuchstabieren und eine


Lehre darzulegen. So harsch er den Idealismus angeht, so klar wendet er sich
auch gegen die Vereinnahmung durch die falschen Freunde der Dialektik.

Die Spaltung, die etwa durch die Pandemie zwischen den Vernünftigen und den
Leugnenden passiert sein soll, ist deshalb so unverständlich, weil sich hier keine klar
abgegrenzten Lager gegenüberstehen, sondern solche, die miteinander vermittelt sind.
Die Maßnahmenbefürworter lassen die pure Vernunft teilweise repressive Regeln
entfalten, dass sie einem Sinn von Vernunft – Freiheit – platt widersprechen. Aber jene
Freiheitsliebenden, die dem eine zum Selbstzweck verkommene Rebellion
entgegensetzen, sitzen einem Verständnis von Freiheit auf, das wiederum den Impuls der
Freiheit negiert, nämlich Vernunft. Die widersprüchlichen Positi­onen enthalten sich
gegenseitig und verweisen damit über ihren Widerspruch auf einen Zusammenhang. Um
dieser Vermittlung auf die Schliche zu kommen, so die Erkenntnis seit Hegel, braucht es
dialektisches Denken. Nicht umsonst ist es daher bis heute eine Grundfrage linker
Theorie: Wie hältst du’s mit der Dialektik?

An dieser Frage hängt eine ganze Menge praktischer Konsequenzen. Nicht zuletzt geht es
mit der Dialektik darum, ob es möglich ist, die Gesellschaft in ihrer Widersprüchlichkeit
als Gesamtzusammenhang zu begreifen. Wer das als scholastische Frage abtut, sei daran
erinnert, dass dies überhaupt erst die Voraussetzung wäre, um Gesellschaft zu verändern.
Denn andernfalls müsste man sie an dem einen oder anderen Punkt so hinnehmen, wie
sie ist. Weil sich die moderne Gesellschaft aber gerade als menschengemachte
auszeichnet, ist das dann eben Ideologie: das notwendig falsche Bewusstsein, in dem die
sozialen Verhältnisse zu handlungsleitenden Naturverhältnissen verdinglicht sind. Es geht
also um die Erkenntnis, welchen Anteil das gegenwärtige Bewusstsein daran trägt, dass
das »Ganze« so weitergeht wie bisher. Diese Frage trieb auch Theodor W. Adorno um.
Dialektik, so sagte er etwa in seiner Vorlesung zur »Einführung in die Dialektik«, sei im
Grunde der »Kampf gegen die Verdinglichung der Welt«.

Auch in dem neuen Band aus seinen Nachgelassenen Schriften mit dem Titel »Fragen der
Dialektik« nimmt er sich ihrer an. Sie umfasst eine Vorlesung, die Adorno von November
1963 bis Februar 1964 zweimal wöchentlich in insgesamt 26 Sitzungen hielt. Es ist die
letzte der drei Vorlesungen zu seinem Verständnis der Dialektik, die schließlich in die
»Negative Dialektik« mündeten, jenem »philosophischen Hauptwerk« Adornos, dessen
Gehalt bis heute so wenig erschlossen wurde, dass es ­eigentlich nur in Schlagworten
rezipiert wird: irgendwas mit Hinwendung zum Nichtidentischen, Vorrang des Objekts,
nicht verwirklichter ­Befreiung.

Adornos Vorstellung einer negativen Dialektik kann man sich in der Vorlesung noch
einmal mit studentischer Neugier zuwenden. Das bietet nicht nur den Vorteil, dass
Adornos Vortrag wesentlich zugänglicher ist als die sperrige Sprache seiner
durchkomponierten Texte, sondern auch den, dass Adorno die Dialektik hier vom Problem
aus entwickelt: Was sind die Fragen, aus denen sich dialektisches Denken, wie er sagt, als
eine Notwendigkeit ergibt? Denn wenn die Fragen »diesen Ernst auch wirklich verdienen,
dann muß in der Sache selbst ein Zwang liegen«, aus dem »der Übergang zu
dialektischem Denken (…) stringent erfolge«. Grund­legend ist die Frage, wie der
Widerspruch zwischen Besonderem und Allgemeinem zu begreifen oder gar zu
überwinden ist, in den das Denken zwangsläufig zu verfallen scheint, wenn es sich zur
Erkenntnis der Wirklichkeit bewegen möchte. Für Adorno ist daher »der Knoten zwischen
dem Allgemeinen und dem Besonderen das logische Zentralproblem des dialektischen
Ansatzes«.

In anderen Worten bedeutet das, dass man, wenn man etwa »Kapitalismus« sagt, um die
Gesellschaft auf den Begriff zu bringen, die Wirklichkeit damit noch gar nicht begriffen
hat. In jedem Begriff bleibt Adorno zufolge etwas auf der Strecke, das im Denken nicht
aufgeht, ihm widerspricht. Adorno nennt es das Nicht­identische. Weil es aber keine
Alternative zur begrifflichen Erkenntnis gibt, ist für Adorno Dialektik »nichts anderes, als
durch Denken und Reflexion zu versuchen, das rückgängig zu machen (…), was das
Denken, um überhaupt als Denken möglich zu sein, seiner Sache angetan hat«. Es muss
also auch das auszudrücken versuchen, was in der Sache liegt, aber nicht als Ding, als
Festes begriffen werden kann. Und was soll dieses Nichtidentische sein? Eine verborgene
Essenz, doch wieder eine Art geheimes Wesen der Dinge? Nein, es ist deren
Gewordensein, die gesellschaftliche Bestimmung, sprich ihre Vermittlung. Um genau das
nachzuvollziehen, müsse Dialektik daher eine »Erkenntnis qua Prozess« sein.

Die Schwierigkeit solcher Erkenntnis erklärt Adorno etwa anhand von Kants Versuch einer
Synthese von Empirismus und Rationalismus und anhand von Hegel, der den Widerspruch
im System einer gesellschaftlichen Totalität aufhob. Das seien, so sagt Adorno, bessere
oder schlechtere Lösungen des Problems auf der Höhe ihrer jeweiligen Zeit, die aber
zugleich den Kardinalfehler des bestimmenden Denkens wiederholten: der Sache Herr
werden zu wollen, indem man den Widerspruch letztlich eben doch im Denken aufzulösen
versucht. Die zugrundeliegende Annahme, dass Sache und Denken identisch sein
könnten, ist für Adorno der Schritt in den Idealismus.

Das Problem mit dem idealistischen Denken ist strenggenommen, dass es Ideologie
bleibt. Es versteht nicht, dass die Trennung zwischen Besonderem und Allgemeinem ein
­realer gesellschaftlicher Widerspruch ist, der als solcher das Denken bestimmt. Er liegt in
der Grundoperation des Denkens, der Abstraktion, mit der sich die Menschen die Natur
unterworfen haben. In der kapitalis­tischen Herrschaft des abstrakt Allgemeinen hat er
sich durch das universelle Tauschverhältnis totalisiert und betrifft nun potentiell alles.

Das ist Adornos Diagnose der total verwalteten Welt, der negativen Totalität, aus der die
Konsequenz für negative Dialektik gezogen werden müsse: Alles ist gesellschaftlich
­vermittelt, also auch mit dem Widerspruch der Gesellschaft vermittelt. Diese reale
Grundlage des Problems nicht zu reflektieren, ist der Fehler eines jeden Idealismus.

Adornos Dialektik ist somit am Materialismus geschult. Genau diese Auseinandersetzung


mit Marx fehlt aber in den Vorlesungen, da die entsprechenden Sitzungen aufgrund von
Tonbandproblemen nicht mit aufgezeichnet wurden. Das ist ärgerlich, schützt aber auch
vor der Phantasie, nun endlich einmal alle Fragen beantwortet zu bekommen. Denn
Adorno geht es nicht bloß darum, die Dialektik auszubuchstabieren und eine Lehre
darzulegen.

So harsch er den Idealismus, die positivistischen Wissenschaften und die Feindschaft


gegen das Denken im »herrschenden Geist der Zeit« angeht, so klar wendet er sich auch
gegen die Vereinnahmung durch die falschen Freunde der Dialektik. Und das meint nicht
nur, »was man aus der Dialektik im Ostbereich gemacht hat«, also die Zurückbildung zur
Herrschaftsideologie im Dialektischen Materialismus. Dialektik lässt sich auch nicht wie
eine Naturwissenschaft entfalten.

Aber das kann auch nicht bedeuten, dass sie wie eine Mystik zu behandeln wäre, die das
Zauberwort des Widerspruchs oder der Vermittlung an die Stelle der Erkenntnis setzt.
Damals wie heute wurde der Dialektik kritisch vorgehalten, sie sei selbst eine
Mystifizierung, weil sie auf das Ungreifbare im Denken ziele, sophistisch sei oder gar
irrational. In so mancher Theoriedebatte gilt der Verweis auf Dialektik tatsächlich als das
letzte Wort, als erhabene Position, die sie, nimmt man Adorno ernst, auf keinen Fall sein
kann. Mit der Dialektik fangen die Probleme erst an.

An mehreren Stellen warnt Adorno vor dem Missverständnis, man würde mit Dialektik
»nun so eine Art von Kunst erlernen«, oder vor der Vorstellung, »wenn man nun also nur
die Dialektik hat, dann hat man’s in der Tasche«. So verwendet Adorno in den Notizen zu
einer der verschollenen Vorlesungen das erste Mal seine Formulierung, Dialektik sei nur
die »Ontologie des falschen Zustands«. Das wirft die Frage auf, ob Dialektik nicht selbst
etwas sei, das zu überwinden wäre. Gäbe es in der befreiten Gesellschaft noch die
Notwendigkeit, in Widersprüchen zu denken? Und brauchte es dann nicht eigentlich eine
radikale Kritik an jenem Denken selbst, das immer auch Gefahr läuft, überall in der Welt
Widersprüche finden zu wollen?

Die Fragen der Dialektik bleiben noch immer offen. Sie sind mit der bloßen Affirmation
von Dialektik nicht beantwortet, aber sie lassen sich auch nicht einfach übergehen. Wenn
etwa der »immense geschichtsphilosophische und wahrheitstheoretische Ballast des
Dialektikbegriffs« mittlerweile mit großer Erleichterung abgeworfen scheint, wie es der
So­zialphilosoph Daniel Loick formulierte, zeugt das mehr von Verdrängung als von
Emanzipation. Insofern ist Adornos Vorlesung eine Lektion darüber, welcher Anstrengung
es bedarf, wenn man sich nicht mit dem Zustand einer Gesellschaft ­zufriedengibt, die
sich selbst nicht versteht.

Theodor W. Adorno: Nachgelassene Schriften. Abteilung IV: Vorlesungen. Band 11: Fragen
der Dialektik (1963/64). Herausgegeben von Christoph Ziermann. Suhrkamp, Berlin 2021,
515 Seiten, 58 Euro

© Jungle World Verlags GmbH

Das könnte Ihnen auch gefallen