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Den Bewegungen der Seele zustimmen

Martin Gannott

Beobachtungen auf einem Workshop mit Bert Hellinger in Hamburg vom 17.-19. Oktober 2003
Phänomeologie - Gut geschultes Beobachten
Klienten mit Angst und deren eigene mörderische Impulse
Die Rolle des Helfers neu verstehen
Einzelbeobachtungen zum Praktischen - Aufstellung und Publikum
Philosophie - Kein Helfen ohne Wahrnehmen, was ist

In neuerer Zeit hat es sich immer wieder gezeigt, dass die Arbeit mit dem Familienstellen zwar Einsicht in
die Grunddynamiken von Systemen vermitteln und Lösungen für Klientenanliegen nachvollziehbar
deutlich machen kann. Sie kommt jedoch an ihre Grenzen, wo besonders schwere Schicksale in Sippen
bis in die Gegenwart hinein nachwirken. Es geht dabei am häufigsten und schwerwiegendsten um
Verbrechen wie z.B. einen früheren Mord.

Die Wirkung solcher Ereignisse auf die Familienseele kann mit dem bisherigen Verständnis von Bindung,
Ausgleich und Ordnung allein nicht beschrieben und mit Klärung von Zuständigkeiten, Lösungssätzen
oder "Rückgaben" nicht immer angemessen gelöst werden. Das führte, während das Familienstellen voll
gültig bleibt, zu einer Weiterentwicklung der Arbeit hin zu den Bewegungen der Seele. Auch hier ist die
Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten wichtig, doch kommt der Haltung des Helfers eine noch bedeutendere
Rolle zu. Sie ist auch Ergebnis seiner persönlichen Entwicklung.

Auf dem Fortbildungs-Workshop in Hamburg demonstrierte Bert Hellinger die sich weiter entwickelnde
Arbeit und neue Einsichten in Dynamiken. Der Workshop machte für den Beobachter einige der
Voraussetzungen besonders deutlich, die notwendig sind, damit das Arbeiten mit den Bewegungen der
Seele gelingen kann. Zu ihnen gehören das Beachten der der Vorgehensweise eigenen Phänomenologie,
die Rolle des Helfers und die Bedeutung der Philosophie für die Tiefe der Arbeit.

Phänomenologie - Gut geschultes Beobachten

Jedem, der mit Aufstellungen arbeitet, ist geläufig, wie ausschlaggebend das gut geschulte Beobachten
ist. In Hamburg konnte man sehen, dass eine erweiterte Wahrnehmung zu entscheidenden
Weichenstellungen in der Arbeit mit Klienten führt. Vertraut mochte einem so noch der Anblick eines
männlichen Klienten sein, der zeigte, dass ihm der Segen des Vaters fehlte. Woran erkennbar? Das
Männliche wirkte in ihm versteckt, glanzlos und nicht ernst genommen, und mit der gezielten Nachfrage
konnte der Klient gleich selber auf die richtige Spur kommen. Komplexer hingegen schon das Beispiel
einer Amerikanerin, die bereits an ihrem Platz in eigener Weise befangen wirkte, dann gedrückt, doch
nicht eigentlich traurig, zum Klientenstuhl neben Bert schlich und danach zögerlich eine gesonderte
Regelung in der Muttersprache aushandeln wollte, all dies mit einem eigentümlichen Elan.

An der Schwelle zu welcher Wahrheit der Klientin stehen diese Wahrnehmungen? Bert arbeitete nicht mit
ihr und sagte, hier handele es sich um persönliche Schuld. Wäre man dem "Spiel" gefolgt, hätte man,
ungeachtet aller Signale, nach den Regeln der Kunst klassisch aufgestellt und sich gar von den
Rückmeldungen der Stellvertreter durch die Aufstellung führen lassen: welche Möglichkeiten wären der
Klientin (und dem Helfer) noch geblieben, sich der Wirklichkeit zu stellen? Aber vor allem, wodurch wird
dieses erweiterte Wahrnehmen möglich?

Die Phänomenologie der Aufstellungsarbeit unterscheidet sich grundlegend von derjenigen beispielsweise
der Psychoanalyse, der Prozessarbeit oder auch des NLP. Als Aufsteller phänomenologisch zu arbeiten
bedeutet offenkundig, dass man nicht nur mit den äußeren Sinnen, sondern zugleich mit der eigenen
Seele wahrnimmt, "von Seele zu Seele" gewissermaßen. Es ist also auch eine poetische
Vorgehensweise.

Das setzt voraus, dass man sich dem Wagnis der Wahrnehmung seiner eigenen Seele gestellt hat,
angefangen mit dem Nehmen seiner Eltern bis hin zum Anerkennen des Schicksals der gesamten Sippe.
Mit dieser Grundhaltung kann die Wahrnehmung wachsen für mögliche Täuschungen über sich selbst wie
auch für das, was hilft, sich daraus zu lösen. Das hat zweierlei zur Folge:

* Zum einen ist es möglich, dass das eigene Wahrnehmen im Lauf der Zeit eine zunehmende Weitung
und Verdichtung erfährt.

* Zum anderen wird diese Entwicklung dazu führen, dass man als Helfer im Stande ist, klarer die
zentrale Selbsttäuschung des Klienten im Augenblick zu erkennen, durch die dessen Sippengewissen
wirkt, und für ihn einen Impuls zu schaffen, um darüber hinaus zu gelangen.

Wie hat sich das in den Tagen des Workshops gezeigt? Es war für den Beobachter unschwer erkennbar,
dass der vorgebrachten "Rede" des Klienten eine weitaus geringere Bedeutung zukam als früher, immer
wichtiger hingegen wird das augenblicksartige Erfassen eines Wesentlichen in der Seele, das nunmehr
noch Größeres in den Blick nimmt als ein System. Dabei tritt zusehends die Kunst in den Vordergrund,
jemandem das für das Gelingen der Arbeit Wesentliche gleichsam anzusehen und es zugleich mit dem
Ton des Vorgebrachten, der "Energie", in Übereinstimmung zu bringen.

Dazu gehört zum einen, dass für den Helfer dieses Wesentliche als eine Art Vorfeldphänomen immer
früher wahrnehmbar wird, oft schon vor der "Rede" in der Runde; zum anderen, dass Klienten noch
konsequenter als bisher gehalten sind, in wenigen Sätzen - hier waren es längstens drei - zu "sagen, was
der Fall ist". Deutlich wurde, dass so der Helfer, in seiner Mitte bleibend, ein Nach-Bild des
Wahrgenommenen in sich aufsteigen lassen kann, von dem er sich leiten läßt. Einzelne lösende Sätze
während der Bewegungen ergaben sich ebenfalls aus dem gesammelt wahrgenommenen, unerwarteten
Bild des Augenblicks, nicht aus den bekannten Diagnose- bzw. ritualähnlichen Lösungsschritten einer
Aufstellung.

Die Phänomenologie der Bewegungen der Seele ist also von Anfang an verbunden mit der Wahrhaftigkeit
der Seele gegenüber. Der tiefste Vollzug dieser Wahrhaftigkeit ist es vielleicht, mit ganzem Herzen dem
eigenen Schicksal zuzustimmen und dem all derer, die zur Familienseele gehören. Weil man dadurch
nicht mehr einer Täuschung verpflichtet ist, kann das dann, zu seiner Zeit, Einfühlung in die größere Seele
möglich werden lassen.

Umgekehrt heißt das aber auch, dass, solange sich etwas Unwahrhaftiges zwischen Helfer und Klient
abspielt, sich dieser nicht seinem Schicksal stellen kann. Das stünde folglich einer gelingenden Arbeit im
Weg, die Seele wäre in diesem Fall kraftlos auf dem Rückzug. Sich dem fehlenden Einklang zu stellen,
erfordert Mut. Und es macht manchmal Angst.

Klienten mit Angst und deren eigene mörderische Impulse

In der Fortbildung waren des weiteren einige Fälle von Angstsymptomatik zu sehen, anhand derer sich
eine neuere Beobachtung Berts bestätigen ließ: Wer dauerhaft und mit Krankheitswert Angst empfindet,
hat in Wahrheit Angst vor den eigenen gewalttätigen bzw. mörderischen Impulsen, die oft aus dem
System stammen. Hierbei können Identifizierungen mit Täter- und Opferenergien eine Rolle spielen. Das
steht schon phänomenologisch in Übereinstimmung mit der häufig bei Klienten beobachteten
Aggressivität, die dem Gegenüber der Tendenz nach eine Rücksichtnahme auf die Angst aufzuzwingen
versucht und mitunter in diesem selbst, bei Verstrickung, Impulse aggressiver Hilflosigkeit, gepaart mit
einem Schuldgefühl, zu wecken vermag.

Ein eigenes Bild der "inneren" Phänomenologie, das mir während der Tage kam: Wenn ich mir einen
Menschen in Halbdistanz vorstelle und sein Bild zum Klang des Wortes "Angst" gleichsam schwingen
lasse, wird er wahrnehmbar kleiner, dichter um die Beine und ballt die Fäuste. Tatsächlich, das kann hier
nur kurz angemerkt werden, bleibt das deutsche Wort fremdsprachlich öfter unübersetzt und klingt in ganz
eigener Weise nach. So gehört auch unsere Sprache zu unserem Schicksal ...

Die Rolle des Helfers neu verstehen

Der Workshop regte vielfach zu der Frage an: Was ist ein Helfer? In manchem etwas völlig anderes als
ein Therapeut. Der Helfer betrachtet den Klienten als jemanden, der erwachsen ist und stets
handlungsfähig bleibt. Wie kommt das? Er achtet in ihm dessen Eltern, dessen Schicksal und
Bestimmung - und dessen Bewegung, wie immer sie ihn führt und vielleicht vollendet. Und er bleibt bei
seiner eigenen Bewegung. So wird Helfen zu einer kraftvollen, gelegentlich bewirkenden Begegnung en
passant zwischen gleich Großen.

Der Helfer stellt sich nicht in den Weg mit Vorstellungen oder einem Wissen, noch nicht einmal mit
solchem über das Aufstellen. Er bringt, wo möglich, eine Seelenbewegung ans Licht, vielleicht auch in
Gang, und zieht sich dann genügsam zurück. Er tut dies, anders als ein Kind, ohne Hoffen oder Bangen,
eigentlich auch nicht mit der Absicht zu heilen, wissend, dass dies klein ist vor einer größeren Bewegung.
Und er ist vorsichtig im Angesicht der Seelenkräfte, dass sie sich nicht gegen ihn wenden mögen.

Die Haltung, die ihn dabei unterstützt, ist gemäß des Workshop-Mottos "Der Friede beginnt in den
eigenen Seelen". Der Helfer ist dem Frieden freundlich, aber er "will" ihn nicht. Das macht ihn gelassen
und heiter. Er ist im Einklang damit, dass die größere Kraft, ähnlich Venus und Mars, den Frieden ebenso
steuert und fördert wie den Krieg. Auch mit unserem noch so eifrigen Unterscheiden und Urteilen hören
beide nicht auf, aufeinander bezogen zu sein. Er weiß, dass die große Seele in einer ihr eigenen
langsamen Bewegung der Versöhnung, von Zeit zu Zeit, das gegensätzlich und unversöhnlich Gewesene
zueinander führt, bis es gleich geworden ist und eins, auch wenn er selbst es nicht versteht und anders
wollte. Der kleine Friede kann sich nicht messen mit dem großen. Letzterer ist ein Geschenk.

Mancher mag bei alledem "der Helfer" hören und denken an "der Weise", manch anderer an: "der
Mitmensch".

Einzelbeobachtungen zum Praktischen - Aufstellung und Publikum

Wenn wir mit den Bewegungen der Seele arbeiten, stellen wir die Personen nicht zueinander, wie als
Konstellation einer Aufstellung, sondern voreinander. In gewisser Hinsicht werden sie vor ihr Schicksal
gestellt und vor dem, was sie daran gehindert hatte, ihm zuzustimmen. Mehr noch als bei den
Aufstellungen bisher entsteht ein gesonderter, ruhiger Raum für die Bewegungen, gleichsam abgetrennt
vom Profanen des vorläufigen Meinens. Ein Wort dafür ist "Templum".

Mir fällt immer mehr auf, dass ein anwesendes Publikum den Klienten gar nicht stört, sondern ihn im
Gegenteil bei seiner Sammlung trägt, die er braucht, um zu der beschriebenen Wahrhaftigkeit seiner
Seele zu gelangen. In einem Vieraugengespräch fällt die Täuschung leichter. Ist es bei Publikum vielleicht
so, dass die Seele sich gleichsam selbst zuschaut und zuhört? Zugleich würde dessen Anwesenheit, nach
Art eines Resonanzkörpers, das Erlebte verstärken und es voller werden lassen in der Seele des Klienten.
Das wäre auch eine Wirkung von Berts Ausführungen zwischendurch, die, zeitweilig an den Chor der
griechischen Tragödien erinnernd, offenkundig an einen solchen größeren Gruppenkörper gerichtet sind
und eine "Öffentlichkeit der Seelen" herstellen.

Philosophie - Kein Helfen ohne Wahrnehmen, was ist

Schließlich gab es auf dem Workshop zahlreiche Anregungen, über die Rolle der Philosophie für das
Helfen nachzudenken. Damit ist weniger ein akademisches Fach gemeint. Vielmehr geht es darum, sich
dem Wahrnehmen dessen, was in Aufstellungen und im Leben ist, unmittelbar auszusetzen. Dies kann
helfen, beides mit größerer Klarheit zu betrachten. So stellt man beispielsweise fest, dass unsere
Auffassungen über Zeit und Geist etwas erweitert werden, je länger man die Bewegungen der Seele auf
sich wirken läßt.

Unserem Denken sind Ordnungen vorgegeben, z.B. die Vorstellungen von Kausalität, Raum und Zeit, die
miteinander in Zusammenhang stehen. So ist die vergehende Zeit für uns an die Beobachtung von
Bewegung geknüpft und an die Vorstellung von einer Bewegung des Lebens. Die Lebenden sind in der
Zeit. Sind sie gestorben, spüren wir in der Seele, dass sie, in uns, noch da sind. Und wir spüren in der
Seele, wenn die Verstorbenen, gemäß "ihrer Zeit", nicht mehr da sind, dann ist es vorbei. Dieser Weiter-
Bewegung der Toten darf man sich nicht in den Weg stellen. Die Seele kann wachsen und zum Frieden
kommen, wenn alles nach einer Weile vorüber sein darf. Doch wohin führt die Toten die größere
Bewegung?

Als Antwort darauf zitierte Bert hier Richard Wagners "ew´ges Urvergessen". Das Zitat stammt aus dem
"Tristan", einer Oper, in deren Verlauf es zu zahlreichen schicksalhaften Ausgleichshandlungen kommt.
Tristan hatte, um Isolde im unausweichlich fällig gewordenen Tod voranzugehen, ein Duell provoziert,
wurde aber, nur verletzt und ohnmächtig, zurück nach Hause gebracht und sagt, wieder bei Sinnen:

"Ich war, / wo ich von je gewesen, / wohin auf je ich geh: / im weiten Reich / der Weltennacht. / Nur ein
Wissen / dort uns eigen:- / göttlich ew´ges / Urvergessen!"

Das ist der poetische Ausdruck dessen, was anders nur paradox zu beschreiben ist als Absinken in einen
ortlosen Ort oder in eine größere Zeit vor und nach aller Erfahrung. In diesem Urgrund-Vergessen ist alles
aufgehoben, und zwar in Fülle: vergessen, weil in der Zeit gewußt und vollendet. Unser Vollenden
geschieht in der rechten Zeit und braucht diese, solange es dauert. Danach ist die Zeit und ihre
Bewegung vorbei, es "beginnt" eine andere Bewegung, und wir werden vor einer Nicht-Mehr-Zeit wieder
zu gleichen. Vielleicht steht die große Seele im Dienste dieser Bewegung.

Ebenso bedeutsam ist es, über die Ebene des Geistes nachzudenken. Der hinter der Seele stehende, sie
steuernde und "inspirierende" Geist wurde von Bert als "unerschöpflich schöpferische Kraft" bezeichnet,
der ihr Ordnungen vorgibt. Uns ist er ein Geheimnis. Vielleicht kommt auch ihm zu, was über das
Urvergessen gesagt wurde. Dann wäre er in gewissem Sinne bestimmbar als zeitlos-allzeitig. Was je
verwirklicht wird, ist ihm von Anfang schon bekannt und, obwohl noch nicht geschehen, schon gewesen.
Das könnte bedeuten, dass dieser Bereich des Geistes Menschen zu allen Zeiten gemeinsam wäre und
vielleicht auch zugänglich sein kann.

Daraus ergäbe sich manches weiterführende für unsere Auffassung z.B. von Schicksal und Bestimmung,
und es hätte Wirkung auf unsere Haltung als Helfer und das Arbeiten "im rechten Geiste", so wie es in
Hamburg zu sehen war. Keine Heilung ohne den Geist. Der Weg dorthin führt darüber, die Bewegungen
der Seele mit zu vollziehen und ihnen zuzustimmen.

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