Sie sind auf Seite 1von 39

 

 
 
 
 
  LANDESTHEATER
 
 
SCHWABEN
 

Theaterpädagogische Materialmappe
 
 
 

DIE VERWANDLUNG
nach der Erzählung von Franz Kafka

Claudia Schilling (Theaterpädagogin) TEL: 08331 94 59 14 FAX: 08331 94 59 33


MAIL: claudia.schilling@landestheater-schwaben.de
 
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
INHALT SCHWABEN

 
I. ZUM ORGINALTEXT....................................................................................................................................................................................6
Horrortrip eines Ungeziefers ..................................................................................................................................................................6
Die Parabel ................................................................................................................................................................................................8
Aufbau ........................................................................................................................................................................................................8
Figuren .......................................................................................................................................................................................................9
Machtapparat Familie .......................................................................................................................................................................... 11
Figurenkonstellation ............................................................................................................................................................................. 12
Grund, Sinn und Folgen der Verwandlung ....................................................................................................................................... 13
Interpretationsansätze ......................................................................................................................................................................... 14
II. ZUM AUTOR ............................................................................................................................................................................................ 17
Franz Kafka: Eine Kurzbiografie ......................................................................................................................................................... 17
Das Kafkaeske ....................................................................................................................................................................................... 17
Franz Kafka: Brief an den Vater (1919) ........................................................................................................................................... 18
Franz Kafka: Aus den Tagebüchern .................................................................................................................................................. 19
Franz Kafka: Zitate ............................................................................................................................................................................... 21
III. ZUR INSZENIERUNG ............................................................................................................................................................................. 22
Auszug aus der Textfassung .............................................................................................................................................................. 22
Die drei Instanzen der Persönlichkeit ............................................................................................................................................... 24
Das Gespenst des Kapitals ................................................................................................................................................................. 27
Leiden im flexiblen Kapitalismus ....................................................................................................................................................... 29
Chorisches Sprechen im Theater ...................................................................................................................................................... 31
Entwürfe von Julia Nussbaumer ........................................................................................................................................................ 32
IV. ZUR VOR- UND NACHBEREITUNG ..................................................................................................................................................... 34
Anregungen und Fragen für ein Gespräch mit Schülern .............................................................................................................. 36
Arbeitsaufgaben und Übungen zur Vor-und Nachbereitung mit Schülern ............................................................................... 36

2
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
SCHWABEN
★★★
Gregor Samsa erwacht eines Morgens als Ungeziefer in seinem Bett. Tag ein, Tag aus hat er bislang dafür gelebt, Geld
für den Lebensunterhalt und den Schuldenabbau seiner Familie zu verdienen. Als allein reisender Tuchhändler hat er
keine beruflich bedingten sozialen Kontakte und auch die Familie bietet ihm keinen Schutzraum, sondern nutzt ihn nur
aus. Nun hat sich sein jahrelang unterdrücktes Seelenleben einen Weg gesucht, um der unmenschlichen Arbeitswelt ein
Schnippchen zu schlagen. Gregors Käfer-Panzer ist das Abbild seiner vom Beruf deformierten und entstellten Existenz.
Seine Ich-Anteile befinden sich im Klassenkampf mit sich selbst: Soll er endlich seinen Trieben gehorchen? Soll er sich
den Regeln und Normen weiterhin beugen? Oder kann er eine vermittelnde Position einnehmen? Wer wird gewinnen -
sein Es, sein Über-Ich oder sein Ich? Und bekommt er überhaupt die Zeit, seine Probleme zu durchdenken und eine
Veränderungen zu planen?
Gregors Familie hatte bisher keine Probleme damit, parasitär von Gregors Einkünften zu leben. Als Gregor aber selber
hilfsbedürftig und zum Parasit wird, ja, eine Zeit der Ruhe und Pflege bräuchte, da durchleben seine Familienangehörigen
eine gravierende Verwandlung. Sie offenbaren sich als Tiere in Menschengestalt. Sie sind nicht bereit, ein
Familienmitglied durchzufüttern, dessen gesellschaftlicher Nutzen nicht mehr gegeben ist. Vater, Mutter und Schwester
bringen sich wieder aktiver in die Gesellschaft ein und entscheiden ohne jegliches Mitgefühl, dass der Schmarotzer in
ihrer Mitte beseitigt werden muss. Und tatsächlich stirbt Gregor an den Spätfolgen eines unter seinem Panzer
feststeckenden Apfels, den der Vater als Waffe gegen ihn benutzt hat. Sein leerer, vertrockneter Körper wird mit dem
Hausmüll entsorgt.
Zu Kafkas Zeiten bildete sich eine neue Arbeitnehmergruppe heraus, die keine eigenen Firmen oder Geschäfte besaß,
aber auch nicht handwerklich-produzierend für einen Eigentümer tätig waren, sondern ranghöher anzusiedelnde
finanzielle-organisatorische Tätigkeiten innehatte. Diese Angestellten gehörten ihrem Selbstverständnis nach zur
Mittelschicht, ohne den für die Mittelschicht prägenden Besitz, aber auch ohne das proletarische Bewusstsein oder das
Solidaritätsgefühl der Arbeiterklasse innezuhaben. Der Journalist und Soziologe Siegfried Kracauer beschrieb sie in seiner
prägenden Studie DIE ANGESTELLTEN 1930 wie folgt: „Die Masse der Angestellten unterscheidet sich vom Arbeiter-
Proletariat darin, dass sie geistig obdachlos ist. Zu den Genossen kann sie vorläufig nicht hinfinden, und das Haus der
bürgerlichen Begriffe und Gefühle, das sie bewohnt hat, ist eingestürzt, weil ihm durch die wirtschaftliche Entwicklung die
Fundamente entzogen worden sind. Sie lebt gegenwärtig ohne eine Lehre, zu der sie aufblicken, ohne ein Ziel, das sie
erfragen könnte. Fremd ragen diese bürgerlichen Ruinen mit ihren Privatgefühlen und der ganzen verschollenen
Innenarchitektur in die rationalisierte Angestelltenwelt hinein.“
Zu dieser geistig obdachlosen Gruppe gehören auch Gregor Samsa und bis heute viele von Kafkas Leserinnen und
Lesern, die sich in der kapitalistischen Weltordnung einsortiert haben und sich bis zur Unkenntlichkeit selbst ausbeuten.
Leistung und Konsum weisen uns einen Rang in der gesellschaftlichen Ordnung zu. Wenn wir versuchen auszuscheren,
werden wir in unserem Wert herabgestuft. Die Angst, dem Erfolgsdruck in unserer Gesellschaft nicht zu genügen, ist
immer präsent und bildet den Motor unserer Selbst-Ausbeutungsmaschinerie. Innerhalb der Arbeitswelt scheint es keinen
Ausweg aus dem Dilemma zu geben. Zeitlich begrenzte Ausstiege wie Elternzeit, ein Sabbatjahr oder eine
Arbeitszeitverkürzung werden immer beliebter, bedeuten aber keine grundsätzliche Verbesserung des Systems. Und
schon wird die Vorstellung attraktiv, man würde plötzlich in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt aufwachen und sich
jeglichen Zwängen entziehen.

3
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
Besetzung SCHWABEN

Inszenierung Pia Richter


Bühne und Kostüm Julia Nussbaumer
Dramaturgie Anne Verena Freybott
Regieassistenz Finn Bühr
Inspizienz Michael Schöffel

Mit Jan Arne Looss


Tobias Loth
Sandro Šutalo

Termine
Fr 26.01.2018 20:00 Vorpremiere
Sa 27.01.2018 20:00 Premiere
Sa 03.02.2018 20:00
Sa 07.04.2018 20:00
Sa 12.05.2018 20:00
Do 24.05.2018 20:00
Do 31.05.2018 20:00

Schulvorstellungen

Di 06.02.2018 10:00
Fr 09.02.2018 10:00
Do 01.03.2018 10:00
Do 22.03.2018 20:00
Fr 23.03.2018 11:00

Sa 14.04.2018 20:00
Mo 16.04.2018 11:00
Do 07.06.2018 20:00

Spieldauer: etwa 80 Minuten ohne Pause

Kartenreservierung:
08331 – 9459 16 Mo-Fr 11-18 Uhr
vorverkauf@landestheater-schwaben.de Sa 10-14 Uhr

4
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
Gastspiele SCHWABEN

Do 08.02.2018 10:00 Rosenheim Kultur und Kongresszentrum


Mi 21.02.2018 20:00 Marktoberdorf Modeon
Fr 23.02.2018 09:00 Günzburg Stadtsaal Krumbach
Fr 02.03.2018 20:00 Dillingen Stadtsaal
Mi 11.04.2018 20:00 Ravensburg Theater Ravensburg
Di 24.04.2018 19:30 Kirchheim unter Teck Stadthalle
Di 05.06.2018 20:00 Weiden Max Reger Halle

5
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
I. ZUM ORGINALTEXT SCHWABEN
★Horrortrip eines Ungeziefers 1
"Es ist kein Traum", schreibt der Erzähler in sachlichem Ton, und doch mutet es an wie ein Horrortrip: Nach einer
unruhigen Nacht erwacht der Tuchhändler Gregor Samsa eines Morgens als ungeheures "Ungeziefer" mit Panzer, Flügeln
und Fühlern. Als ekelerregender, kriechender Käfer ist der bisherige Ernährer der Familie allen bald nur noch lästig. Je
mehr er körperlich und seelisch verkümmert, desto stärker werden Vater, Mutter und Schwester.
Franz Kafkas Erzählung "Die Verwandlung" (1915) beginnt mit einem unerklärlichen und mysteriösen Vorfall und
entwickelt eine unerbittliche Plausibilität. Bis heute entziehen sich die eigentlich klaren Sätze jeder Eindeutigkeit und
lassen viel Spielraum für Interpretationen.

Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren
Ungeziefer verwandelt. (Die Verwandlung)
Die Erzählung des Prager Schriftstellers Franz Kafka (1883 - 1924) ist weltberühmt, nicht nur wegen der grausig-
fantastischen Metamorphose eines Menschen in ein Ungeziefer. Mindestens genauso erschreckend ist, wie eine
Gemeinschaft sich gegenüber einem Mitglied verhält, das nicht so "funktioniert" wie gefordert: Der Andersartige wird
überhört, übersehen, übergangen, ausgeschlossen und schließlich "entfernt". Fehlende Empathie und soziale Isolation –
das ist der erschütternd realistische Horror der Verwandlung des Gregor Samsa.
Gregor Samsa jedoch kann der neuen Situation zunächst durchaus etwas abgewinnen: Sie befreit ihn nämlich von
verhassten Verpflichtungen. Damit ist allerdings seine gesellschaftliche Ausgrenzung besiegelt – und letztlich auch sein
Tod.
Gregor ist ein junger Handlungsreisender. Ein 30-jähriger Mann, der statt auszugehen abends am elterlichen Tisch
Zugpläne studiert und sich mit Laubsägearbeiten die Zeit vertreibt. Ein Junggeselle – in Sachen Liebe ein Loser. Und
obwohl er das Vertrauen seines Arbeitgebers genießt, Geld einzutreiben, wird er wie ein Untergebener behandelt, dem
man kaum Gehör schenkt. Er leidet unter dieser Situation, doch die Samsas sind hoch verschuldet und Gregor hatte sie
in den letzten Jahren allein finanziert.
Man nahm das Geld dankbar an, er lieferte es gern ab, aber eine besondere Wärme wollte sich nicht mehr ergeben. Nur
die Schwester war ihm nahe geblieben. (Die Verwandlung)
Eltern und Schwester klopfen morgens an Gregors Tür, als dieser nicht pünktlich erscheint. Als Gregor es schließlich
schafft, aus eigener Kraft die Tür zu öffnen, sind alle schockiert. Der Vater treibt Gregor das "Riesenungeziefer" mit
Stockschlägen und Zeitungshieben in sein Zimmer zurück.
Die Symbolkraft ist vieldeutig. Offenbar war Gregor in seinem bürgerlichen Menschenleben brav – vielleicht sogar ein
Kriecher? Ungeziefer sind aber auch diejenigen Tiere, die den Menschen besonders verhasst sind und sie erschrecken.
Und sie zählen zur langen Liste der Tiere, die zur Verunglimpfung von lästigen, unbeliebten oder angeblich gefährlichen
Menschen herhalten müssen: Die Nationalsozialisten etwa schmähten Juden als "Ratten". Franz Kafka waren solche
Attacken nicht fremd. Seine Familie gehörte zu den deutschsprachigen Juden in Prag. Er erlebte Konflikte zwischen
Tschechen und Deutschen, antisemitische Ausschreitungen sowie die Abgrenzungstendenzen innerhalb der jüdischen
Gemeinschaft selbst. Denn die assimilierten Westjuden wollten mit den orthodoxen Ostjuden nichts zu tun haben. Und
von Kafkas Vater ist bekannt, dass auch er mit Tierbezeichnungen andere Menschen verächtlich gemacht und
disqualifiziert hat.
Die Expressionisten, deren Generation Kafka zugerechnet wird, identifizierten sich mit Tieren, betonten das Ursprüngliche,
Wilde, von der menschlichen Zivilisation Unverdorbene. Gleichzeitig spiegelten sie, wie Tiere von Menschen behandelt
und Menschen in ihrem Namen erniedrigt werden.
 1                                                                                                              
https://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen/franz-kafkas-die-verwandlung/-/id=660374/did=16992070/nid=660374/1sz23hg/index.html
6
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
Als Insekt kann sich Gregor zwar endlich aus Verpflichtungen ausklinken. Aber frei ist er nicht, im Gegenteil. Er ist noch
SCHWABEN
abhängiger von seiner Familie als vorher. Und alle ekeln sich.
Doch als Käfer erobert er nun neuen Raum, krabbelt an Decke und Wänden herum. Seine Versuche aber, sich
verständlich zu machen, bleiben so vergeblich wie seine Hoffnung auf Ansprache. Er wird ein stummes Tier, das Erfüllung
nur noch im Beobachten und Nachdenken, im Rückzug nach Innen und im langsamen Entschwinden aus der
menschlichen Welt gewinnen kann.
Während der Käfer Gregor in seinem dunklen verwahrlosten Zimmer liegt, öffnen die anderen in einem Anflug von
Großmut abends die Tür zum Wohnzimmer, sodass er ein bisschen zuhören kann. Doch zunehmend wird er wütend über
"die schlechte Wartung"; er ist gekränkt und verbittert. Auch die Schwester Grete, die sich zunächst noch um ihn
gekümmert hatte, zieht sich zunehmend aus der Verantwortung und schiebt eine beliebige Speise mit dem Fuß zur Tür
herein. Außerdem erfährt er, dass die Familie gar nicht bankrott ist und sehr wohl Geld auf der hohen Kante hat. Die
Samsas kommen gut ohne Gregor zurecht.
Schließlich verbündet sich die geliebte Schwester mit dem despotischen Vater – ein Verrat, wie ihn Franz Kafka ähnlich
im Verhältnis zu seiner Schwester Ottla erlebt hat. Und Grete erklärt Gregor zum "Untier" und letztlich zum Ding:
Wir müssen versuchen, es loszuwerden (…). Weg muss es, das ist das einzige Mittel, Vater. Du musst bloß den
Gedanken loszuwerden versuchen, dass es Gregor ist. (...) Wenn es Gregor wäre, er hätte längst eingesehen, dass ein
Zusammenleben von Menschen mit einem solchen Tier nicht möglich ist, und wäre freiwillig fortgegangen. (Die
Verwandlung)
Der Text, den Kafka mit 30 verfasste, fasziniert durch seinen typischen kristallklaren und gleichzeitig rätselhaften Stil. Der
große, auffallend magere Mann mit den klaren, dunklen, durchdringenden Augen schrieb nüchtern und so "skelettiert"
und pointiert wie ein Pathologe. Franz Kafka war ein Meister im Vermessen von Innen- und Außenwelt, er observierte,
studierte und sezierte, vor allem seinen Vater, zu dem er zeitlebens ein gestörtes Verhältnis hatte.
"Die Verwandlung" steht in einer Reihe von frühen Erzählungen, die Franz Kafka unter den Stichworten "Söhne" und
"Strafen" zusammenfasste. Dazu zählen "Der Verschollene" und "Das Urteil". Ihnen gemeinsam ist, dass die
unverheirateten Söhne dem normalen bürgerlichen Lebensstil nicht entsprechen und von dominanten, autoritären Vätern
in ihren Bedürfnissen unterdrückt, nicht ernst genommen, verstoßen und verurteilt werden.
Diese Missachtung ist das wirklich Grauenhafte, der Horrortrip Gregors, der sich wie so viele Andersgläubige,
Andersdenkende, Anderslebende, Andersliebende, Fremde und Entfremdete, Verunsicherte und Schikanierte als
ausgegrenzte Kreatur erleben muss. Dass er dies aber in der eigenen Familie erfährt, erhöht die Tragik noch. Denn
verweigerter Respekt, unterlassene Liebe und fehlendes Verständnis schlagen dort, wo besonders enge emotionale
Bindungen bestehen, die tiefsten Wunden. Und manchmal sind sie tödlich.
Es ist die alte Bedienerin, die morgens in sein Zimmer kommt und den reglosen ausgetrockneten Körper mit dem Besen
kitzeln will:
Als sie den wahren Sachverhalt erkannte, machte sie große Augen, pfiff vor sich hin, hielt sich aber nicht lange auf,
sondern riss die Tür des Schlafzimmers auf und rief mit lauter Stimme in das Dunkel hinein: "Sehen Sie nur mal an, es
ist krepiert; da liegt es, ganz und gar krepiert!" (Die Verwandlung)
Kafkas Erzählung über die Unmenschlichkeit endet an dem sonnigen Frühlingsmorgen nach Gregors Tod. Die Samsas
verlassen die Wohnung und fahren vor die Stadt ins Freie. Da fällt den Eltern auf, dass die Tochter zu einem schönen,
üppigen Mädchen aufgeblüht ist. Es ist also an der Zeit, einen „braven Mann“ für sie zu suchen:
Und es war ihnen wie eine Bestätigung ihrer neuen Träume und guten Absichten, als am Ziele ihrer Fahrt die Tochter als
Erste sich erhob und ihren jungen Körper dehnte. (Die Verwandlung)

7
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
SCHWABEN
★Die Parabel 2
Die Parabel gehört wie die Fabel zu den Ausprägungen bildlicher Erzählrede (vgl. Sprichwort, Gleichnis, Allegorie). Auch
die Parabel verfolgt den Zweck, eine im Bild veranschaulichte Erkenntnis (Bildebene) mit Hilfe eines Analogieschlusses
auf die Erkenntnis selbst zu übertragen (Sinnebene). Insofern besteht zwischen Fabel und Parabel eine so weitgehende
Übereinstimmung, dass eine prinzipielle Trennung gar nicht möglich ist. Ein Unterschied besteht darin, dass die Fabel in
erster Linie im Bereich von Tieren, Pflanzen, Dingen spielt. Sie muss deshalb anthropomorphisieren und die Züge ihrer
Figuren "künstlich" stilisieren, während die Parabelhandlung Beispiel und Bild vorwiegend zwischenmenschlichen
Verhältnissen entnimmt. Die Fabel verlagert den Problembereich nach "außen". Sie ist schematischer im Aufbau und in
der Wahl des Kodes und ist deshalb auch in der Deutung die einfachere Form. Die Parabel ist demgegenüber flexibler.
Die Beziehungen zwischen Bild- und Sinnebene sind differenzierter und offener. Für den Leser ergeben sich oft
verschiedene Dechiffrierungsmöglichkeiten. Denn während die Fabel als Ganzes Zug um Zug übertragen werden kann,
gilt dies für die Parabel nur punktuell. Die Kunst der indirekten Belehrung führt hier über eine relativ selbstständige
Erzählung, die ohne Erklärung, ohne ausdrücklichen Bezug, vieldeutig bleibt. Die Vielschichtigkeit des gemeinten Sinns
gilt besonders für die moderne Parabel. So führen Kafkas parabolische Erzählungen jedes Mal in Bereiche, die durch
überkommene Wahrheiten kaum erschlossen sind. Der Leser wird in seinem Selbst- und Weltverständnis nachhaltig
verunsichert.

★Aufbau 3
Die Erzählung gliedert sich in drei etwa gleich lange Kapitel, die sich zu einer Art »Stationendrama« fügen. Diese weisen
eine ähnliche Binnenstruktur auf. In jedem Teil wird geschildert, wie Gregor, das Ungeziefer, seine Isolation aufzubrechen
versucht, um in den Lebensraum der Familie zu gelangen, doch immer wieder von ihr zurückgewiesen wird. Jeder
Ausbruchsversuch zeitigt – in der Entwicklungslogik von Steigerung und Zuspitzung der Situation – als Konsequenz eine
neue Erfahrungsstufe der Ausgrenzung und Entfremdung: Gregor muss sich jedes Mal verletzt in sein Zimmer
zurückziehen. Die letzte der ihm zugefügten Verwundungen führt schließlich zu seinem Tod. In einem Epilog wird
geschildert, wie die Familie seinen Kadaver entsorgen lässt und – ein Ausdruck der neu gewonnenen Freiheit – mit der
»Elektrischen« einen Ausflug ins Freie unternimmt.

Das erste Kapitel hat den Charakter der Exposition; es dreht sich um die über Gregor hereingebrochene Metamorphose
und die aus ihr resultierenden Probleme und familiären Konflikte. Darüber hinaus erhält der Leser hier, vermittelt durch
Gregors Selbstreflexion und Rede an den Prokuristen, eine Fülle an Informationen über dessen berufliche Situation als
Handlungsreisender.

Im zweiten Kapitel wird geschildert, wie die Entfremdung Gregors zunimmt und damit einhergehend seine Ausgrenzung
aus der Familie ihren Lauf nimmt. In Form von Rückblenden werden die Beziehungen des Helden zu den Mitgliedern der
Familie deutlich.

Das dritte Kapitel hat Finalcharakter; es macht Isolation und Verfall Gregors sinnfällig. Damit kontrastiert das Leben in der
Familie. Im dem Maße, wie sich diese auf die Mängel der neuen Lebensverhältnisse eingestellt und nun in der Lage ist,
sich selbst zu versorgen, wird Gregor nur noch als Störenfried wahrgenommen, der mit seinem Namen vollends auch
seine Identität verlieren soll.

 2                                                                                                              
http://www.deutsch-ethik-geschichte.de/Dateien/deutschlit%20sek%201/Kafka/Kafka%20Parabeln.pdf
3
http://files.schulbuchzentrum-online.de/onlineanhaenge/files/die_welt_kafkas_l.pdf
8
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
SCHWABEN
★Figuren 4
Gregor
Der Leser erfährt wenig über die persönliche Biografie des Protagonisten. Einzelne Informationen aus der Vorgeschichte
ergeben nur ein unscharfes, unvollständiges Bild: Er ist introvertiert, fügsam und kontaktarm, verbringt seine knapp
bemessene Freizeit meist zu Hause. Beiläufig sind auch die Informationen, die der Leser über seinen Bildungsgang
erhält: Er hat die Volks- und Bürgerschule und später die Handelsakademie besucht. Eine Fotografie an der Wand seines
Zimmers zeigt ihn während seiner Militärzeit als Leutnant. Unverbindlich, vielleicht gehemmt, sind seine Beziehungen zu
Frauen. Detaillierter wird der Leser über  seinen beruflichen Status sowie über seine Beziehungen zur Arbeitswelt und zur
Familie informiert. Er gehört zur neuen Klasse der Angestellten. Mit der Ausübung seines anstrengenden Berufes trägt er
den Aufwand der ganzen Familie und ermöglicht ihr einen akzeptablen Lebensstandard, obwohl er die Schulden der
Eltern begleichen muss.
Mit der Metamorphose Gregors ändern sich seine Lebensverhältnisse und die Machtstrukturen. Zwar versorgt man ihn,
doch in wachsendem Maße wird er von der Familie stigmatisiert. Mit dem Ausräumen des Mobiliars aus seinem Zimmer
liquidiert sie – zumindest symbolisch – seine Biografie. Doch bis zum Schluss will Gregor dies nicht wahrhaben. Noch in
seiner letzten Stunde denkt er »mit Rührung und Liebe« an die Familie.

Der Vater
Das Erscheinungsbild des Vaters vor der Verwandlung trügt: Er scheint nach dem Zusammenbruch seines Geschäfts
finanziell abhängig von Gregor zu sein und wirkt träge und schwerfällig. Dies alles vermag aber nicht darüber hinweg zu
täuschen, dass er im Grunde genommen ein gesunder Mann ist, also durchaus, was auch der Handlungsverlauf des
Textes bestätigt arbeiten könnte. Er ist nach wie vor der Patriarch in der Familie, auch wenn er müde wirkt und hinter der
Zeitung dahinzudämmern scheint. Nicht ohne Brutalität zieht er gegen den Sohn als Eindringling zu Felde, dreimal wehrt
er die Ausbruchsversuche Gregors erfolgreich ab. Nach dem Tod Gregors fordert er die Zimmerherren auf, die Wohnung
zu verlassen und entlässt das Dienstmädchen. Äußeres Zeichen seines Selbstwertgefühls, seiner Vitalität und
Machtanspruches sind die »straffe blaue Uniform mit Goldknöpfen« sein frischer und aufmerksamer Blick und seine
peinlich genaue, leuchtende Scheitelfrisur. Gregor nimmt diese Verändrungen wahr, fast übermächtig erscheint der Vater
ihm. Als dieser »mit verbissenem Gesicht« die direkte Konfrontation mit ihm sucht, staunt Gregor »über die Riesengröße
seiner Stiefelsohlen«.

Die Mutter
In der bürgerlichen Kleinfamilie nimmt die Mutter die traditionelle Rolle der Ehefrau und Mutter wahr. Sie kümmert sich
um den Haushalt und umsorgt den Vater. Sie wird im Text als liebevoll, aber naiv und schwach dargestellt. Zwar kann sie
den Anblick nur schlecht verkraften, doch zeigt sie ihm gegenüber Einfühlungsvermögen und familiäre Solidarität, d.h. die
Bereitschaft, mit ihm weiterhin zusammen sein zu wollen. Während der Vater nach der Verwandlung Georgs in
zunehmendem Maße die Initiative ergreift, reagiert sie nur auf die neue Situation oder verkennt sie. Wenn sie sich
bedrängt fühlt und überfordert zu sein scheint, reagiert sie mit Ohnmachtsanfällen. Innerhalb der Familie versucht sie zu
vermitteln, kann sich aber nicht durchsetzen. Sie ist die Einzige in der Familie, die die Hoffnung nicht aufgibt, dass
Gregor wieder als Mensch zur Familie zurückfindet.

 4                                                                                                              
http://files.schulbuchzentrum-online.de/onlineanhaenge/files/die_welt_kafkas_l.pdf
9
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
Die Schwester SCHWABEN
Gregors Schwester Grete ist siebzehn Jahre alt. Ihre Lebensweise besteht darin, »sich nett zu
kleiden, lange zu schlafen, in der Wirtschaft mitzuhelfen, an ein paar bescheidenen Vergnügungen sich zu beteiligen und
vor allem Violine zu spielen«. Für die Eltern ist sie nichts anderes als ein verwöhntes Kind, »ein etwas nutzloses
Mädchen«, dessen Verhalten ihnen oft Ärgernis bereitet. Da sie offensichtlich über musikalisches Talent verfügt, will
Gregor ihr eine künstlerische Ausbildung ermöglichen. Fazit: Genauso parasitär wie Vater und Mutter hängt auch sie von
Gregors Arbeitskraft ab.
Nach der Verwandlung Gregors zeigen sich in ihrem Verhalten die größten Veränderungen. Zunächst hat es den
Anschein, als ob sie die Zuneigung, die Gregor ihr entgegen bringt, erwidern werde. Sie sorgt für ihn, auch wenn sie dies
im Lauf der Zeit sichtlich mehr Überwindung kostet, weil sie im Bruder nichts anderes als ein Ungeziefer sieht, das für
seinen Lebensunterhalt auch die entsprechende Nahrung benötigt. Die neuen materiellen Verhältnisse der Familie
zwingen sie förmlich in die Erwachsenenrolle, sie wird zunehmend selbstständiger. Sie nimmt eine Stellung als
Verkäuferin an, lernt am Abend Stenografie und Französisch, »um vielleicht später einmal einen besseren Posten zu
erreichen.« Dadurch reift sie vom verwöhnten Kind zur jungen Frau und wächst damit langsam in die Rolle hinein, die
Gregor vor der Verwandlung in der Familie spielte. Dabei nähert sie sich aber auch zunehmend der Position des Vaters,
berät sich mit ihm in familiären Angelegenheiten. Auch sie droht dem Bruder später mit der Faust. Schließlich geht von
ihr die Initiative aus, das Zimmer Gregors leer zu räumen, ihm seine Identität zu nehmen und ihn als Altlast zu entsorgen.
Mit Gregors Tod scheint sie, so zumindest der Eindruck der Eltern, »zu einem schönen und üppigen Mädchen
aufgeblüht«. Fortan ist sie in genealogischer Hinsicht die Hoffnungsträgerin der Familie: Vater und Mutter verständigen
sich unausgesprochen darüber, »dass es nun Zeit werde, auch einen braven Mann für sie zu suchen.«

Die Nebenfiguren in der Geschichte, der Prokurist, die drei Zimmerherren und die Dienstmädchen, sind – das zeigen
schon die anonymen Kennzeichnungen, mit denen sie in die Geschichte eingeführt werden – typisiert und funktional zu
sehen. Gelegentlich wirken sie wie Karikaturen.

Prokurist
Der Prokurist spricht im Namen des Chefs. Seine Drohungen und Unterstellungen gegenüber Gregor charakterisieren ihn
als autoritären Funktionär der Firma und machen zudem Gregors Status als kleinen Angestellten deutlich.

Zimmerherren
Ähnlich wie der Prokurist haben auch die drei Zimmerherren Einfluss auf die Lebensweise der Familie und den Status von
Gregor in ihr. So okkupieren die Zimmerherren förmlich die Wohnung der Samsas, treten buchstäblich als Herren der
Zimmer auf. Auch sonst zeigen sie autoritäre Allüren, die sich die Samsas gefallen lassen müssen. Alle drei treten immer
als Einheit auf; nur der mittlere von ihnen scheint – er fungiert als Sprachrohr der Gruppe – einen besonderen Status zu
haben. Letztlich ist er derjenige, der die Familie mit der Androhung der Kündigung und mit Regressansprüchen so in die
Enge treibt, dass sie zum Handeln gegenüber Gregor gezwungen ist.

Bedienstete
Dass mit der Verwandlung Gregors die soziale Diskriminierung der Familie einsetzt, zeigt auch das Verhalten der
Dienstmädchen. Schon nach kürzester Zeit suchen sie sich dem Haushalt der Familie zu entziehen. Nachdem die
Samsas zwei Dienstmädchen entlassen mussten, übernimmt eine »riesige knochige Bedienerin mit weißem, den Kopf
umflatterndem Haar, eine resolute alte Witwe, ihre Rolle. Sie leistet die schwerste Arbeit im Haushalt und zeigt auch
keine Abscheu vor dem Ungeziefer, hat aber – sehr zum Missfallen der Familie – die Unart, stets die Türen am frühen
Morgen derart heftig zuzuschlagen, dass kein ruhiger Schlaf mehr möglich war. Mit dem Tod Gregors hat sie für die
Samsas ihre Funktion verloren; der Vater kündigt an, die Ruhestörerin zu entlassen.

10
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
SCHWABEN
★Machtapparat Familie 5
Die Familiensituation der Samsas ist stark durch die hierarchischen Strukturen und die Interessen der Familienmitglieder
an Gregor gekennzeichnet. Die Familie zeigt ein rein materielles Interesse an Gregor, da er der Ernährer ist und die
Schulden der Eltern zu begleichen versucht. Menschliche Bedürfnisse bleiben hier auf der Strecke und spiegeln den
wirtschaftlichen Egoismus der Samsas wieder. Besonders deutlich wird diese Tatsache daran, dass eine Art
Interessensidentität zwischen Gregors Eltern und dem Prokuristen zu bestehen scheint, welcher nach Gregors
Fernbleiben von der Arbeit die Wohnung der Familie aufsucht. In der Novelle heißt es „Ich spreche hier im Namen ihrer
Eltern und ihres Chefs“
Das Fernbleiben Gregors von der Arbeit und die damit verbundene Gefährdung der Stellung beeinträchtigen somit das
materielle Interesse der Familie an Gregor und einem arbeitsfreien Einkommen, welches der Sohn bisher ohne
Beanstandungen zusicherte. Hier wird in Bezug auf die Fragestellung die Dimension der Verwandlung Gregors erstmalig
deutlich: Die Metamorphose des Protagonisten stellt einen Ausbruchsversuch aus den beruflichen Zwängen dar, eine
Metaphorik, die durch ihre Radikalität und Abruptheit die Entfremdung Gregors von sich selbst, der realen Welt und
seiner Familie in ein Verhältnis des Phantastischen realisiert.
Die Reaktion der Familie auf diese neue Situation spiegelt sich jedoch nicht in etwas Phantastischem wieder. Der Leser
findet die Verwandlung nicht in einem fiktionalen Raum wieder, sondern in einer „sinnlich wahrnehmbaren, alltäglichen
städtischen Umgebung“. Anstatt die Realität zu hinterfragen und mit dieser zu brechen, reagiert die Familie nicht auf
Gregors völlig unerwartete Verwandlung, sondern auf die veränderten Verhältnisse, die dieses Ereignis für den
Machtapparat Familie mit sich bringt. So bietet beispielsweise die Reaktion von Gregors Schwester einen Anhaltspunkt
dafür, dass nicht auf das Verhältnis zwischen Realem und Phantastischem reagiert wird, sondern auf die sich zu
verändern drohenden sozialen, familiären, beruflichen und sexuellen Verhältnisse. Im Originaltext heißt es „Und warum
weint sie denn? Weil er nicht aufstand und den Prokuristen nicht hereinließ, weil er in Gefahr war, den Posten zu
verlieren...“. Hier wird deutlich, dass nicht Gregors Gesundheitszustand der Grund für die Trauer ist, sondern der mögliche
Verlust des Status quo und der damit verbundene Lebensstandard.
Die Verwandlung wird somit also nicht als Problem an sich verstanden, sondern als ein Problem veränderter bzw.
schwankender Verhältnisse. Um die Verwandlung deshalb nicht mit einem Realitätsbruch zu verbinden wird sie einfach
Teil der literarischen Realität, das Phantastische einer Tiermetamorphose wird in Zusammenhang mit einer
durchschnittlichen Prager Kleinbürgerexistenz gebracht. Die Entfremdung Gregors von seiner Familie geschieht durch die
Verwandlung vom einen Moment auf den anderen. Im Moment der Verwandlung wird somit auch die Entmenschlichung
Gregors stückweise vorgenommen. Die erste
Institution im Leben, die ein Mensch erfährt, ist die Familie. Hier beginnt letztendlich auch die Einordnung in die
hierarchische Struktur der Familie. Das Besondere an der oftmals benutzten Begrifflichkeit des Machtapparats Familie
schlägt sich in Kafkas Novelle enorm nieder. Die Realität und Selbstwahrnehmung eines Menschen bzw. eines
Individuums hängt ausschließlich von seinem Umfeld ab. Die soziale Umwelt, hier die Familie, gibt den Charakter des
Individuums vor, sprich seine Existenzform, „Realität ist immer sozial definierte Realität“. Hierbei spielt es keine Rolle,
was man selber für eine Wahrnehmung hat, der Status der Existenz hängt einzig und alleine von der Integration bzw. der
Desintegration in den Machtapparat Familie ab. Die Entmenschlichung bzw. Entfremdung Gregors ist also direkt an die
Integration in den Familienverbund gekoppelt und wird durch die soziale Realität, welche dieser definiert, unweigerlich in
eine Richtung getrieben, nämlich den Herausfall aus dem Sozialgefüge der Familie.
Im Umkehrschluss ergibt sich jedoch hieraus eine entscheidende Tatsache: Gregor wird nicht aus dem Machtapparat
desintegriert, weil er sich verwandelt, sondern die Metamorphose findet aufgrund des Herausfalls aus eben diesem statt.
Den Einfluss, den der Machtapparat auf das einzelne Familienmitglied ausübt wird hiermit gekennzeichnet. Teil dieses
 5                                                                                                              
http://staff.germanistik.rub.de/zelle/wp-content/uploads/sites/61/2016/11/PS_2_NDL_Kafka.pdf
11
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
Gefüges zu sein bedeutet, dass man eben diesem striktSCHWABENzu unterliegen hat, die menschliche Existenz hängt somit davon
ab, ob man den Anforderungen, in diesem Fall u.a. den ökonomischen, gerecht wird. Gregors Angestelltenverhältnis bringt
hierbei eine doppelte Verpflichtung mit sich: dem ökonomischen Druck gerecht zu werden, nämlich dem Abtragen der
Schuld der Eltern und impliziert somit auch eine juristische Komponente, die mit dieser Schuld einhergeht. Kafka deutet
mit seiner Novelle und dem beschriebenen Familiengefüge das Konzept von Familie dahingehend um, dass Emotionen in
diesem Gebilde nichts zu suchen haben, es geht lediglich um Pflichterfüllung, zwischenmenschliche Sehnsüchte bleiben
hierbei völlig auf der Strecke.
Die Entfremdung Gregors geht also mit dem Herausfall aus dem Machtapparat der Familie einher. Die Integration in den
menschlichen Kreis und somit die Dazugehörigkeit zur Familie werden durch den Herausfall und die damit verbundene
Verwandlung in ein Insekt zu zwei sich ausschließenden Dingen. Er wird zum Opfer des Machtapparats und hat diesen
durch seine bedingungslose Unterwerfung erst ermöglicht. Offensichtlich wird dieser nämlich erst, nachdem Gregor seine
Position hinterfragt. Erst hier wird klar, dass er lediglich als Mittel zum Zweck benutzt worden ist. Das leitende
Strukturprinzip der Erzählung, Gregors Entfremdung von seiner Familie, findet also im Herausfall aus dem Familiengefüge
und der damit einhergehenden Verwandlung seinen Schlusspunkt.

★Figurenkonstellation 6
Gregor ↔  Vater: Der Vater ist ihm überlegen. Gregor wird zunächst von ihm (finanziell) ausgenutzt, nach der
Verwandlung hackt der Vater auf ihm rum und grenzt ihn aus. Gregor nimmt es ihm allerdings nicht übel. Zum Teil
schämt sich der Vater auch für Gregor (zu sehen an seinem Verhalten gegenüber den [Zimmerherren]).
Die Beziehung zwischen Gregor und seinem Vater erinnert stark an die Beziehung zwischen Kafka und dessen Vater.

Gregor ↔  Schwester: Das Verhältnis ist zunächst fürsorglich. Vor der Verwandlung finanziert Gregor ihr ein angenehmes
Leben und will sie auf das Konservatorium schicken (Auflehnung gegen den Vater, da nicht mit diesem abgesprochen).
Nach der Verwandlung sorgt sich seine Schwester als einzige um ihn. Erst am Ende der Erzählung ändert sich das
Verhältnis und die Schwester ist die erste, die ausspricht, dass Gregor weg muss. Von der Alliierten wird sie zu seiner
gefährlichsten Feindin.

Gregor ↔  Mutter: Die Mutter versteht Gregor vor der Verwandlung nicht. Obwohl Gregor seine Arbeit hasst ist seine
Mutter davon überzeugt, dass er diese liebt. Nach der Verwandlung sorgt sie sich zwar um ihn, setzt sich aber
gleichzeitig auch nur halbherzig für ihn ein und wird in kritischen Situationen immer ohnmächtig. Sie hat möglicherweise
gute Intentionen, ist aber viel zu schwach um irgendeine Hilfe zu sein.

Gregor ↔  Prokurist: Der Prokurist ist Gregors Vorgesetzter. Durch ihn wird Gregor beständig kontrolliert und
drangsaliert. Gregor hasst ihn.

Vater ↔ Mutter: Der Vater kontrolliert größtenteils die Mutter (patriarchalisch) bzw. die Mutter ist ihm klar unterlegen.
Die Kontrolle nimmt mit der Zeit zu.

Vater ↔  Prokurist: Der Vater verhält sich gegenüber dem Prokuristen unterwürfig. Der Vater ist dem Prokuristen also
unterlegen.

 6                                                                                                              
http://www.rither.de/a/deutsch/kafka--franz/die-verwandlung/charakterisierungen-und-personenkonstellation/
12
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
Vater ↔  [Zimmerherren]: Der Vater ist den Untermietern unterlegen, da diese Geld einbringen und jederzeit kündigen
SCHWABEN
können.

Vor der Verwandlung ist Gregor der Versorger der Familie. Dennoch ist das Verhältnis nicht wirklich herzlich. Nach der
Verwandlung wird Gregor zum „Klotz am Bein”. Er wird lästig und soll weg. Nach der Verwandlung Gregors wird die
Familie langsam „normaler”. Die Tochter entwickelt Selbstständigkeit und wird erwachsen, die Eltern gewinnen ihre
finanzielle Unabhängigkeit zurück. [Es] entwickeln sich zunächst zwei Pole: Die Schwester orientiert sich an Gregor, die
Mutter am Vater. Erst später wechselt die Schwester vollständig zur Gruppe von Vater und Mutter über.

★Grund, Sinn und Folgen der Verwandlung 7


Franz Kafka schreibt am 28. August 1913 folgenden Satz: „Ich lebe in meiner Familie, unter den besten, liebevollsten
Menschen, fremder als ein Fremder“. Dieser Satz legt nahe die Novelle Kafkas als einen autobiographischen Text zu lesen
und die Verwandlung in ein Ungeziefer als eine Art Metapher für seine eigene Stellung innerhalb der Familie zu
interpretieren. Der Grund der Verwandlung kann somit darin liegen, dass die Metamorphose als Resultat einer
„Selbstbestrafungs- und Entzugsverwandlung“ zu verstehen ist. Gregor wird im Rahmen der von Kafka dargestellten Welt
tatsächlich von seiner menschlichen Gestalt hin zu einem Ungeziefer degradiert. Die Frage die sich hierbei stellt ist die,
ob es sich hierbei um eine Flucht aus den familiären und beruflichen Zwängen handelt, ob der Protagonist gegen die
bestehenden und offensichtlichen Missstände rebelliert, oder ob eine quasi-religiöse Stigmatisierung der Grund für
Gregors Verwandlung ist.
Die Antwort auf diese Fragen findet sich insbesondere in der Schlussszene von Kafkas Novelle. Hier fährt die Familie
Samsa mit der Straßenbahn ins Grüne. Als Zeichen der Befreiung von der Last Gregors streckt sich die Schwester
demonstrativ. Vorher war sie es, die später zu Gregors größter Feindin geworden war. Hier wird die Sinnlosigkeit des
menschlichen Daseins verkörpert, die Menschen, die vorher Gregor trotz seiner Aufopferung für die Familie in den Tod
getrieben haben leben nun in Unbekümmertheit und frei von allen Belastungen weiter. Hier zeigt sich deutlich der Grund
für die Metamorphose des Protagonisten. Sie ist die direkte Folge der in den vorangegangen Kapiteln beschriebenen
unmenschlichen Lebensbedingungen, ein Vorgang, der die „verfehlte Existenz nun auch äußerlich sinnfällig macht“.
Aus Gregors innerer Unzufriedenheit und Belastung wird nur eine nach außen hin sichtbare Metapher für die
unmenschlichen Lebensbedingungen, denen er zuvor ausgesetzt war. Die Verwandlung macht deutlich, dass ein
Zusammenleben mit solchen Leuten, wie sie durch die Familie verkörpert sind, dem Menschen unmöglich ist, höchstens
dem Tier, denn dieses Leben ist Kehricht, Ungeziefer. Der Sinn der Verwandlung spiegelt sich also darin wieder, dass
aufgezeigt werden soll, wie sinnwidrig das Dasein des Gregor Samsa ist, ein aufgezwungenes noch dazu. Die
Verwandlung in ein Ungeziefer ist dabei eine Metapher für den Herausfall aus der Funktionalisierung des Machtgefüges
der Familie und der privatkapitalistischen Ökonomie. Gregor Samsa wird aus Perspektive der Gesellschaft durch seine
soziale Desintegration aus der Gesellschaft den sozialen Anforderungen und der geforderten Leistungsfähigkeit nicht
mehr gerecht und wird so vom Ernährer einer Familie zum Parasiten.
Als Folge der Verwandlung und Gregors Entfremdung von seiner Familie steht eine vom Protagonisten ungewollte
Abhängigkeit von seiner Familie. Zuvor wird in der Novelle geschildert, dass Gregor nach dem Zurückzahlen der Schulden
seiner Eltern einen Schnitt machen wollte. Entsprechend dazu passt die Szene, in der Gregors Schwester weint, nachdem
er verschlafen hat. Hier heißt es „[...]. Noch war Gregor hier und dachte nicht im geringsten daran, seine Familie zu
verlassen“. Hieraus lässt sich also ableiten, dass Gregor nach Tilgung der Schulden der Eltern ein selbstbestimmtes
Leben ohne ein Abhängigkeitsverhältnis zu seiner Familie führen wollte. Nach seiner

 7                                                                                                              
http://staff.germanistik.rub.de/zelle/wp-content/uploads/sites/61/2016/11/PS_2_NDL_Kafka.pdf
13
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
Metamorphose ist dieses Ziel jedoch unerreichbar geworden. Durch die Verwandlung verliert Gregor die Fähigkeit zur
SCHWABEN
Verständigung mit der Außenwelt und ist nicht mehr in der Lage sich selbst zu versorgen. Diese Rolle muss nun die
Familie, anfangs insbesondere seine Schwester übernehmen. So kommt es als Folge der Verwandlung dazu, dass
Gregors Abhängigkeit größer geworden ist und bis zu seinem Tod bestehen bleibt bzw. dadurch in diesen mündet.

★Interpretationsansätze 8
Die biographische Deutung
Kafkas Briefe, Tagebücher und vor allem der „Brief an den Vater“ haben zahlreiche Interpreten dazu bewogen, in der
Erzählung das gebrochene Spiegelbild von Kafkas eigener Situation und seiner persönlichen Probleme zu sehen. Hartmut
Binder weist in seinem hervorragenden „Kafka-Kommentar“ nach, dass es vielfältige Parallelen zwischen der Erzählung
„Die Verwandlung“ und Kafkas persönlicher Lebenssituation gibt. So verweist er beispielsweise auf das besondere
Verhältnis Kafkas zu seiner Schwester Ottla, das Entsprechungen in der Erzählung hat. Er zitiert Kafkas
Tagebucheintragungen aus dieser Zeit: Er, Kafka, fühle sich „mit einem Fußtritt aus der Welt geworfen“,
(...) fühle sich einen Augenblick lang „umpanzert“ und zieht Kafkas berufliche und familiäre Situation zu dieser Zeit
heran. Karlheinz Fingerhut vertieft diese Zusammenhänge, wenn er „Kafkas Schreiben als Durchdenken der
autobiographischen Situation“ deutet und die Parallelen mit Hinweisen auf Kafkas Leben präzisiert. „Die Verwandlung (...)
kann man (...) als eine Entfaltung von Kafkas Aussteigerphantasie begreifen. Gregor liebt sein durch Beruf erzwungenes
Reisen nicht. Auch Kafka ist beruflich zu Reisen gezwungen, die seinen Lebensrhythmus äußerst stören. Sein Schreiben
findet statt, wenn er sich in seinem Zimmer von der Familie abschließt. Es (das Schreiben) ist extrem störanfällig.“
Weiterhin hat Kafka kurz vor der Niederschrift der ersten Seiten der Erzählung, Anfang Oktober 1912, „die Erfahrung
gemacht, daß seine Lieblingsschwester Ottla, die sonst immer gegen den Vater zu ihm gehalten hatte, sich auf die Seite
der Familie schlug. Es ging um die unternehmerische Betreuung einer Asbestfabrik, die Kafka mit seinem Schwager Karl
Hermann betrieben und für die er von seinem Vater Geld geliehen hatte. Ottlas Verrat, die Aufforderung an den Bruder,
sich mehr im das Familienunternehmen zu kümmern, ließ ihn an Selbstmord denken“.
So eingängig diese Parallelen zunächst sind, so sollte man doch aus biografischen Ähnlichkeiten nicht folgern, dass
Kafka uns mit dieser Erzählung ein literarisches Abbild seiner eigenen Konflikte vorgelegt hat. Damit würde man Kafkas
Werk unzulässig auf die Darstellung eines individuellen Einzelfalls beschränken. Kafka selbst hat darauf
verwiesen, dass der Name Samsa kein Kryptogramm ist, obgleich der Name Samsa wie eine verschlüsselte Form seines
Namens klinge, „Samsa ist nicht restlos Kafka. Die Verwandlung ist kein Bekenntnis (...)."

Die psychoanalytische Deutung


Im Hinblick auf seine Erzählung „Das Urteil“ notiert Kafka in seinem Tagebuch fast ironisch auf die Spur verweisend:
„Gedanken an Freud natürlich“. Kafka kannte Schriften Freuds, des Begründers der Psychoanalyse, und mit Sicherheit
kann man „Die Verwandlung“ mit Freuds Lehre in Verbindung setzen. Entsprechend haben Interpreten schon früh die
ödipale Situation herausgestellt, „einem auf Haß, Angst, Respekt, Rebellion und Machtwillen gegründeten Protest des
Sohnes gegen seinen übermächtigen Vater“, dem eine erotische Fixierung an die Mutter entspricht“. Viele Interpreten
erliegen bei diesem Ansatz der Gefahr, die Erzählung gleichsam als eine Ausgestaltung Freudscher Gedanken zu sehen
und der Erzählung Freuds Begrifflichkeit überzustülpen.
Sokel nutzt den psychologischen Ansatz, wenn er in Gregors Verwandlung einen vielschichtigen Verdrängungsprozess
sieht. Gregor lehne sich unbewusst nicht nur gegen seinen Vater auf, sondern in gleicher Weise gegen seine Arbeit,
seinen Chef und die Reglementierung, der er unterliegt. Sein Unbehagen allerdings unterdrückt Gregor: „In ihrem
praktischen Resultat stellt die Verwandlung Gregors Weigerung dar, sich für die Familie weiter zu plagen. Er gibt mit der
 8                                                                                                              
Hellberg, Wolf Dieter: Lektürehilfen. Franz Kafka – die Verwandlung. Stuttgart: Klett Lerntraining, 2012.

14
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
Verwandlung sein Fassaden-Ich des überarbeiteten Handlungsreisenden
SCHWABEN auf. (...) Gregors innerer Monolog zu Beginn der
Verwandlung enthüllt, dass er schon lange tiefe Unlust- und Unzufriedenheitsgefühle gegen seine Arbeit gehegt hat. Er
fand sein Leben als Reisender höchst unbequem, unmenschlich gehetzt, ausgebeutet (...).“

Die sozialkritische Deutung


Diese Perspektive wird in der soziologischen Interpretationsrichtung weiter entwickelt. Sie sieht in Gregor das Opfer der
Ausbeutung, das sich der Verantwortung, der Überwachung und den Unterstellungen der Faulheit und der
Unterschlagung entzieht. Dabei reicht die gesellschaftliche Ausbeutung bis in die Familie hinein: Gregor wird fast wie ein
Sklave gehalten. Gregor, der Reisende, verweigert mit seiner Verwandlung alle Ansprüche, die der ihn ausbeutende Chef
an ihn als Handelsvertreter stellt: Die Redegewandtheit, die man von dem Handelsvertreter verlangt, versagt, er wird nicht
mehr verstanden; er verliert außerdem seine unerlässliche Beweglichkeit und Wendigkeit; die notwendige äußere
Vertrauenswürdigkeit ist zum abstoßenden Äußeren geworden. Man stelle sich das ungeheure Ungeziefer als
Handelsvertreter für feine Tuchwaren vor, um die groteske Verwandlung einzuschätzen.

Versuch einer Synthese: Rollenkonflikte und fehlende Kommunikation


Versuchen wir die unterschiedlichen Interpretationen zu einer Synthese zu bringen, so zeigt sich, dass kein Ansatz
gänzlich falsch ist, dass die Ansätze allerdings jeweils um wichtige Aspekte verkürzt erscheinen.
Die folgenden beiden Skizzen mögen die Vielschichtigkeit der zu interpretierenden Aspekte veranschaulichen:
Vor der Verwandlung wirkt Gregor wie der wirtschaftliche Motor der Familie, der nicht nur die Lebensbedürfnisse sichert
und die Schulden abbezahlt, sondern auch einen gewissen Standard (große Wohnung, Dienstpersonal, finanzielle
Absicherung der Familie) ermöglicht und sogar für die Schwester ein Studium ins Auge fasst. Gregor hat damit die Rolle
des Vaters übernommen und ihm, dem kränklichen Patriarchen, einen wohlverdienten Lebensabend beschert. Die
besondere Zuwendung, die er seiner Schwester zukommen lassen will, das Studium am Konservatorium, lässt ihn in der
Rolle des großzügigen Bruders erscheinen, der seiner noch kindlichen Schwester besonders zugetan ist. Die
gesellschaftliche Rolle des Ernährers hat Gregor allerdings erkauft mit der Rolle des abhängigen Angestellten, der einen
ungeliebten Beruf hat, darüber hinaus noch kontrolliert und überwacht wird. Warum übernimmt Gregor nun diese
verhasste Rolle des Abhängigen? Fühlt er sich verantwortlich? Möchte er die Familie im Griff behalten? Will er seinem
Vater beweisen, dass er mehr kann, als der Vater glaubt? Möchte er seiner Schwester als Mann imponieren? Möchte er
sich durch seine Arbeit besondere Anerkennung erkaufen, die er sonst nicht erhält? Die mangelnde Kommunikation
innerhalb der Familie über private – Schwierigkeiten oder besondere Bedürfnisse macht es schwer, eine genaue Antwort
auf diese Fragen zu geben. Aber einige Zeichen machen uns aufmerksam auf sehr unterschiedliche Rollenkonflikte, über
die nie gesprochen wird: Gregor ist, obgleich im Zentrum der Familie wohnend, einsam; weder in der Familie noch im
Bekanntenkreis findet er menschliche Zuwendung. Er ist zu einem neurotischen Einsiedler geworden, dessen Interessen
seltsam begrenzt sind: Laubsägearbeit und Fahrplanlesen. Sein Verhältnis zu Frauen reduziert sich auf zwei flüchtige
Erinnerungen und das Foto einer pelzbekleideten Frau, das sogar das widerliche Insekt noch zu schützen sucht. Zugleich
zeigt sich auch der Rollenkonflikt der Eltern, deren Beziehung zu ihrem Sohn von Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit
gekennzeichnet ist, da die Eltern über Gregors Traurigkeit und seinen Hass auf den Beruf nichts wissen.
Grete, die verwöhnte und arbeitsunlustige, dafür aber vergnügungssüchtige Schwester, die ein wenig auf der Violine
dilettiert, wird in ihrer Rolle von Gregor missverstanden: Für ihn ist sie die kleine, zu verwöhnende Prinzessin, der er ihren
großen Traum, den Besuch des Konservatoriums, ermöglichen will, um wenigsten von ihr geliebt und anerkannt zu
werden.
Die familiäre Situation nach der Verwandlung allerdings ermöglicht weitere Aufschlüsse im Hinblick auf die
Rollenkonflikte der anderen Personen. Der kränkliche, entmachtete Vater entwickelt neue Aktivitäten. Er spricht mit seiner
Familie und eröffnet ihr die wirtschaftliche Situation, die er bislang verheimlicht hat. Er verteidigt die Familie gegen
Angriffe und er nimmt wieder die Rolle des Patriarchen ein, der für alles zuständig ist. Die Schwester gewinnt zunächst

15
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
durch die Betreuung Gregors eine neue Rolle. Das Selbstbewusstsein,
SCHWABEN das sie hieraus entwickelt, eröffnet ihr eine neue
berufliche Perspektive. Das Violinenspiel verliert an Bedeutung, dabei wird deutlich, dass Gregors mangelnde Musikalität
ihn im Hinblick auf ihr Können in die Irre geführt hat; es vermag zumindest die drei Zimmerherren nur sehr kurzfristig in
den Bann zu Schlagen. Viel erfolgreicher wird Gretes Rolle als zukünftige Ehefrau sein, wie der Schluss zeigt, als Grete,
fast provokativ, „ihren jungen Körper“ dehnt. Aber auch hier verständigen die Eltern sich nur durch einen Blick über ihre
Beobachtungen, es wird nur über die wirtschaftlichen Perspektiven auf diesem Ausflug gesprochen, über ihre
menschlichen Zukunftsaussichten schweigt man wie zuvor. Damit lässt sich die Erzählung als eine Darstellung der
mangelnden Kommunikation verstehen, die Rollenkonflikte heraufbeschwört, sie eskalieren lässt und schließlich zur
tödlichen Bedrohung werden lässt. Damit wäre auch der Bogen zu Kafkas Biografie zu schlagen.

16
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
II. ZUM AUTOR SCHWABEN

★Franz Kafka: Eine Kurzbiografie 9


Jeden Satz bei Kafka hat der seiner selbst mächtige Geist geprägt, aber jeden Satz hat er auch zuvor der Zone des
Wahnsinns entrissen. Theodor Adorno: AUFZEICHNUNGEN ZU KAFKA, 1953

1883 wird Kafka in eine jüdische Kaufmannsfamilie in Prag geboren. Kafka wächst in einer großen deutschsprachigen
Enklave mitten in Prag auf, seine Familie spricht Deutsch. Deutsche Schulen, Universitäten, Theater und Zeitungen
prägen seine kulturelle Umgebung. Die Kulturstadt Prag wird zeitlebens Kafkas Lebensmittelpunkt darstellen.

Schon zu Schulzeiten interessiert sich Kafka für Literatur. Trotzdem kann er sich nicht dazu durchringen, ein
literaturwissenschaftliches Studium aufzunehmen. Sein autoritärer und geschäftstüchtiger Vater, Hermann Kafka, drängt
ihn dazu, Jura zu studieren. Unterschiedlicher könnten Vater und Sohn kaum sein: Hermann Kafka hat sich aus armen
Verhältnissen hochgearbeitet und es zu beruflichem Erfolg gebracht. Er führt ein bürgerliches Leben. Franz interessieren
solch lebensweltliche Dinge nur wenig. Verständnis dafür sucht er bei seinem Vater vergeblich.
Franz Kafkas Sensibilität und Feingeist legt ihm der Vater als Schwäche aus. Gegenüber dem Sohn verhält sich Hermann
Kafka despotisch, grob und selbstgerecht. Der Vater-Sohn Konflikt wird Franz Kafka zeitlebens verfolgen und zieht sich
leitmotivisch durch sein gesamtes literarisches Werk. Dem Wunsch nach Anerkennung vom jähzornigen Vater folgend,
schließt Franz Kafka das Jurastudium ab und promoviert. Anschließend arbeitet er erfolgreich als Jurist in einem
Versicherungsunternehmen.

Seiner Leidenschaft – der Literatur – geht er im Privaten aber weiterhin nach. Er schließt sich Autorenzirkeln in
Kaffeehäusern an, bei denen sich Prager Literaten treffen und über ihre Texte diskutieren. Hier macht Kafka
Bekanntschaft mit dem Schriftsteller Max Brod, der sein engster Freund und Vertrauter wird. Die beiden unterscheiden
sich stark. Doch Brod wird Kafka sein Leben lang unterstützen und beraten.
Brod ist es auch, der Kafka zum weiteren Schreiben und zur Veröffentlichung seiner Texte drängt. Damit ist der von
Selbstzweifeln geplagte Kafka jedoch sehr vorsichtig. Nur ein Bruchteil seiner Texte erscheint zu seinen Lebzeiten. Nach
Kafkas Tod an Tuberkulose 1924 trifft Brod eine schwerwiegende Entscheidung: Kafka wollte all seine unveröffentlichten
Manuskripte verbrannt wissen. Doch entgegen Seiner an Max Brod adressierten Verfügung entschließt sich sein bester
Freund dazu, Kafkas Texte posthum zu veröffentlichen. Keine leichte Entscheidung. Aber hätte Max Brod Kafkas Willen
befolgt, gäbe es heute einige Meisterwerke der Weltliteratur weniger.

★Das Kafkaeske
"Heute ist kafkaesk einfach ein ganz normales deutsches Wort geworden, das man benutzt, wenn einem sonst nichts
mehr einfällt." - Klaus Wagenbach (Kafka-Biograf) 10

Das Adjektiv tauchte zuerst im Englischen auf ("kafkaesque"). Der Duden kennt "kafkaesk" seit 1973 und definiert das
Wort so: "in der Art der Schilderungen Kafkas; auf unergründliche Weise bedrohlich". Es beinhaltet also zwei
Bedeutungen.

 9                                                                                                              
http://blog.zeit.de/schueler/2015/04/24/franz-kafka-ein-raetsel-das-immer-modern-bleibt/
10
https://www.br.de/themen/kultur/inhalt/literatur/kafka-kafkaesk100.html
17
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
Die eine leitet sich direkt aus der Grundstimmung der Werke Kafkas ab: Zunächst bezeichnete das Adjektiv literarische
SCHWABEN
Merkmale, wie sie typischerweise in den Texten Kafkas auftauchen. Auch Nachahmungen der Werke Kafkas wurden oft
als "kafkaesk" bezeichnet.
Die andere Bedeutung ist allgemeiner und nicht direkt an Kafkas Werke gebunden. "Kafkaesk" wurde später zunehmend
häufiger auch für Inhalte verwendet, die nicht direkt etwas mit Literatur zu tun haben: Kafkaesk konnte sein, wenn man
sich einer bürokratischen, anonymen Macht ausgeliefert fühlte. Kafkaesk konnten Situationen sein, in denen man Angst,
Entfremdung und Unsicherheit auf diffuse Weise erfuhr. Kafkaesk konnte ebenfalls für ein allgemeines Gefühl der
Sinnlosigkeit stehen, das mit innerer Verzweiflung, Absurdität und Schuld einherging. 11

★Franz Kafka: Brief an den Vater (1919) 12


Du könntest, wenn Du meine Begründung der Furcht, die ich vor Dir habe, überblickst, antworten: »Du behauptest, ich
mache es mir leicht, wenn ich mein Verhältnis zu Dir einfach durch Dein Verschulden erkläre, ich aber glaube, dass Du
trotz äußerlicher Anstrengung es Dir zumindest nicht schwerer, aber viel einträglicher machst. Zuerst lehnst auch Du
jede Schuld und Verantwortung von Dir ab, darin ist also unser Verfahren das gleiche. Während ich aber dann so offen,
wie ich es auch meine, die alleinige Schuld Dir zuschreibe, willst Du gleichzeitig »übergescheit« und »überzärtlich« sein
und auch mich von jeder Schuld freisprechen. Natürlich gelingt Dir das letztere nur scheinbar (mehr willst Du ja auch
nicht), und es ergibt sich zwischen den Zeilen trotz aller »Redensarten« von Wesen und Natur und Gegensatz und
Hilflosigkeit, dass eigentlich ich der Angreifer gewesen bin, während alles, was Du getrieben hast, nur Selbstwehr war.
Jetzt hättest Du also schon durch Deine Unaufrichtigkeit genug erreicht, denn Du hast dreierlei bewiesen, erstens dass
Du unschuldig bist, zweitens dass ich schuldig bin und drittens dass Du aus lauter Großartigkeit bereit bist, nicht nur mir
zu verzeihn, sondern, was mehr und weniger ist, auch noch zu beweisen und es selbst glauben zu wollen, dass ich,
allerdings entgegen der Wahrheit, auch unschuldig bin. Das könnte Dir jetzt schon genügen, aber es genügt Dir noch
nicht. Du hast es Dir nämlich in den Kopf gesetzt, ganz und gar von mir leben zu wollen. Ich gebe zu, dass wir
miteinander kämpfen, aber es gibt zweierlei Kampf. Den ritterlichen Kampf, wo sich die Kräfte selbständiger Gegner
messen, jeder bleibt für sich, verliert für sich, siegt für sich. Und den Kampf des Ungeziefers, welches nicht nur sticht,
sondern gleich auch zu seiner Lebenserhaltung das Blut saugt. Das ist ja der eigentliche Berufssoldat und das bist Du.
Lebensuntüchtig bist Du; um es Dir aber darin bequem, sorgenlos und ohne Selbstvorwürfe einrichten zu können, beweist
Du, dass ich alle Deine Lebenstüchtigkeit Dir genommen und in meine Taschen gesteckt habe. Was kümmert es Dich
jetzt, wenn Du lebensuntüchtig bist, ich habe ja die Verantwortung. Du aber streckst Dich ruhig aus und lässt Dich,
körperlich und geistig, von mir durchs Leben schleifen [...] Im Grunde aber hast Du hier und in allem anderen für mich
nichts anderes bewiesen, als daß alle meine Vorwürfe berechtigt waren und dass unter ihnen noch ein besonders
berechtigter Vorwurf gefehlt hat, nämlich der Vorwurf der Unaufrichtigkeit, der Liebedienerei, des Schmarotzertums.
Wenn ich nicht sehr irre, schmarotzest Du an mir auch noch mit diesem Brief als solchem.«

 11                                                                                                              
https://kocarek-gmbh.com/news/artikel/kafkaesk/
12
http://gutenberg.spiegel.de/buch/brief-an-den-vater-9770/7
18
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
SCHWABEN
★Franz Kafka: Aus den Tagebüchern 13
23. Dezember 1911
(...)
Ein Vorteil des Tagebuchführens besteht darin, daß man sich mit beruhigender Klarheit der Wandlungen bewußt wird,
denen man unaufhörlich unterliegt, die man auch im allgemeinen natürlich glaubt, ahnt und zugesteht, die man aber
unbewußt immer dann leugnet, wenn es darauf ankommt, sich aus einem solchen Zugeständnis Hoffnung oder Ruhe zu
holen. Im Tagebuch findet man Beweise dafür, daß man selbst in Zuständen, die heute unerträglich scheinen, gelebt,
herumgeschaut und Beobachtungen aufgeschrieben hat, daß also diese Rechte sich bewegt hat wie heute, wo wir zwar
durch die Möglichkeit des Überblickes über den damaligen Zustand klüger sind, darum aber desto mehr die
Unerschrockenheit unseres damaligen in lauter Unwissenheit sich dennoch erhaltenden Strebens anerkennen müssen.
(...)

2. März 1912
Wer bestätigt mir die Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit dessen, daß ich nur
Infolge meiner litterarischen Bestimmung sonst interesselos und infolge dessen herzlos bin.
(...)

8. März 1912
Vorgestern Vorwürfe wegen der Fabrik bekommen. Eine Stunde dann auf dem Kanapee über Aus-dem-Fenster-springen
nachgedacht.
(...)

14. August 1912


Brief an Rohwolt
Sehr geehrter Herr Rohwolt! Hier lege ich die kleine Prosa vor, die Sie zu sehen wünschten; sie ergibt wohl schon ein
kleines Buch. Während ich sie für diesen Zweck zusammenstellte, hatte ich manchmal die Wahl zwischen der
Beruhigung meines Verantwortungsgefühls und der Gier, unter Ihren schönen Büchern auch ein Buch zu haben. Gewiß
habe ich mich nicht immer ganz rein entschieden. Jetzt aber wäre ich natürlich glücklich wenn Ihnen die Sachen auch
nur soweit gefielen, daß Sie sie druckten. Schließlich ist auch bei größter Übung und größtem Verständnis das Schlechte
in den Sachen nicht auf den ersten Blick zu sehn. Die verbreitetste Individualität der Schriftsteller besteht ja darin, daß
jeder auf ganz besondere Weise sein Schlechtes verdeckt.
Ihr ergebener
(...)

20. August 1912


(...)
Wenn Rohwolt es zurückschickte und ich alles wieder einsperren und ungeschehen machen könnte, so daß ich bloß so
unglücklich wäre, wie früher.
(...)

 13                                                                                                              
Arnold, Heinz Ludwig(Hg.): Text + Kritik. Sonderband Franz Kafka. München: edition text + kritik, 1994
19
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
15. August 1913 SCHWABEN
Qualen im Bettgegen Morgen. Einzige Lösung im Sprung aus dem Fenster gesehn. Die Mutter kam zum Bett und fragte,
ob ich den Brief abgeschickt habe und ob es mein alter Text gewesen sei. Ich sagte, es wäre der alte Text, nur noch
verschärfter. Sie sagte, sie verstehe mich nicht. Ich antwortete, sie verstehe mich allerdings nicht und nicht etwa nur in
dieser Sache. Später fragte sie mich, ob ich dem Onkel Alfred schreiben werde, er verdiene es, daß ich ihm schreibe. Ich
fragte, wodurch er es verdiene. Er hat telegraphiert, er hat geschrieben, er meint es so gut mit Dir. »Das sind nur
Äußerlichkeiten sagte ich »er ist mir ganz fremd, er mißversteht mich vollständig, er weiß nicht, was ich will und
brauche, ich habe nichts mit ihm zu tun.« »Also keiner versteht Dich« sagte die Mutter »ich bin Dir wahrscheinlich auch
fremd, und der Vater auch. Wir alle wollen also nur Dein Schlechtes.« »Gewiß Ihr seid mir alle fremd, nur die Blutnähe
besteht, aber sie äußert sich nicht. Mein Schlechtes wollt Ihr gewiß nicht.«
Durch dieses und durch einige andere Selbstbeobachtungen bin ich dazu geführt worden, daß in meiner immer größer
werdenden inneren Bestimmtheit und Überzeugtheit Möglichkeiten liegen, in einer Ehe trotz allem bestehen zu können, ja
sie sogar zu einer für meine Bestimmung vorteilhaften Entwicklung zu führen. Es ist das allerdings ein Glaube, den ich
gewissermaßen schon auf der Fensterkante fasse.
Ich werde mich bis zur Besinnungslosigkeit von allen absperren. Mit allen mich verfeinden, mit niemandem reden. –
(...)

6. November 1913
Woher die plötzliche Zuversicht? Bliebe sie doch! Könnte ich so ein- und aus
gehn durch alle Türen als ein halbwegs aufrechter Mensch. Nur weiß ich nicht, ob ich das will.
(...)

18. November 1913


Ich werde wieder schreiben, aber wie viele Zweifel habe ich inzwischen an meinem Schreiben gehabt. Im Grunde bin ich
ein unfähiger unwissender Mensch, der wenn er nicht gezwungen, ohne jedes eigene Verdienst, den Zwang kaum
merkend, in die Schule gegangen wäre, gerade imstande wäre in einer Hundehütte zu hocken, hinauszuspringen, wenn
ihm Fraß gereicht wird und zurückzuspringen, wenn er es verschlungen hat.
(...)

19. November 1913


Mich ergreift das Lesen des Tagebuchs. Ist der Grund dessen, daß ich in der Gegenwart jetzt nicht die geringste
Sicherheit mehr habe. Alles erscheint mir als Konstruktion. Jede Bemerkung eines andern, jeder Zufällige Anblick wälzt
alles in mir, selbst Vergessenes, ganz und gar Unbedeutendes, auf eine andere Seite. Ich bin unsicherer als ich jemals
war, nur die Gewalt des Lebens fühle ich. Und sinnlos leer bin ich. Ich bin wirklich wie ein verlorenes Schaf in der Nacht
und im Gebirge oder wie ein Schaf, das diesem Schafnachläuft. So verloren zu sein und nicht die Kraft haben, es zu
beklagen.

25. März 1221


Das Tagebuch von heute an festhalten! Regelmäßig schreiben! Sich nicht aufgeben! Wenn auch keine Erlösung kommt,
so will ich doch jeden Augenblick ihrer würdig sein. Diesen Abend verbrachte ich in vollständiger Gleichgültigkeit am
Familientisch, die rechte Hand an der Sessellehne der neben mir Karten spielenden Schwester, die linke schwach im
Schooß. Von Zeit zu Zeit suchte ich meines Unglücks mir bewußt zu werden, es gelang mir kaum. –
(...)

20
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
SCHWABEN
★Franz Kafka: Zitate
„Ich glaube, man sollte überhaupt nur noch solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir
lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? […] Ein Buch muss die
Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“

„Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt, aber
verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie
mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie. Das ist das Wesen der Zauberei, die nicht schafft,
sondern ruft.“

„Was ich geleistet habe, ist nur ein Erfolg des Alleinseins.“ 14

„Liebe ist alles was unser Leben steigert, erweitert, bereichert. Nach allen Höhen und Tiefen. Die Liebe ist so
unproblematisch wie ein Fahrzeug. Problematisch sind nur die Lenker, die Fahrgäste und die Straße.“ 15

„Vorstellungen wie z. B. die, daß ich ausgestreckt auf dem Boden liege, wie ein Braten zerschnitten bin und ein solches
Fleischstück langsam mit der Hand einem Hund in die Ecke zuschiebe -, solche Vorstellungen sind die tägliche Nahrung
meines Kopfes.“ 16

                                                                                                               
14
http://franz-kafka.eu/zitate/
15
https://www.gutzitiert.de/zitat_autor_franz_kafka_691.html
16
https://www.odaha.com/sites/default/files/Breife1902-1924.pdf
21
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
III. ZUR INSZENIERUNG
SCHWABEN

In ihrer Inszenierung von Kafkas „Die Verwandlung“ bedient sich Pia Richter dreier Schauspieler. Diese stellten, in
Anlehnung an das Drei-Instanzen-Modell von Freud, verschiedene Teile der Persönlichkeit des Protagonisten Gregor
Samsa dar. Die anderen Figuren der Originalgeschichte, wie zum Beispiel Gregors Schwester Grete, werden zusätzlich
auf die drei Schauspieler verteilt.
Die Inszenierung erzählt nicht ausschließlich die Originalgeschichte. Auf drei Ebenen wird der Erzählstoff auf
unterschiedliche Weise verhandelt.
Auf der Spielerebene diskutieren die Schauspieler den Inhalt untereinander. So wird neben der Frage, worum es in „die
Verwandlung“ eigentlich geht, die Aktualität der Erzählung erörtert und ein Bezug zur eigenen Person und dem eigenen
Leben gesucht. Außerdem sprechen die Schauspieler auf der Bühne über Rollenverteilung, Kostüm und Aufbau der
Szenerie und überlegen wie was am besten dargestellt wird.
Auf der Erzählebene wird die Geschichte im Originaltext geschildert. Auf der Spielebene sehen wir außerdem immer
wieder szenische Vorgänge, in der einzelne Momente der Kafka- Geschichte gezeigt werden. Diese verschwimmt nach
und nach immer mehr mit der Erzählebene. Die Erzählenden verlieren immer mehr die Distanz zum Geschehen und
werden letztendlich vollständig zu den Figuren, die sie darstellen. In diesem Zusammenhang wechselt auch die
Erzählform vom Er/Sie-Erzähler zum Ich-Erzähler.

★Auszug aus der Textfassung


Nun, ruhig hatte er ja nicht geschlafen, aber wahrscheinlich desto fester. Was aber sollte er jetzt tun?
Der nächste Zug ging Um sieben Uhr, um den einzuholen, hätte er sich unsinnig beeilen müssen, und die Kollektion war
noch nicht eingepackt, und er fühlte sich durchaus nicht besonders frisch und beweglich. Und selbst wenn er den Zug
einholte, ein Donnerwetter des Chefs war nicht zu vermeiden, denn der Geschäftsdiener hatte beim Fünfuhrzug gewartet
und die Meldung von seiner Versäumnis längst erstattet.

ICH Wie nun, wenn ich mich krank melde?


ÜBER-ICH Das wäre äußerst peinlich und verdächtig, denn er war während seines fünfjährigen Dienstes noch
nicht einmal krank gewesen.
ICH Gewiss würde der Chef mit dem Krankenkassenarzt kommen, für den es ja überhaupt nur gesunde,
aber arbeitsscheue Menschen gibt.
ÜBER-CH Und hätte er in diesem Falle so ganz unrecht? Er fühlte sich tatsächlich, abgesehen von einer nach
dem langen Schlaf wirklich überflüssigen Schläfrigkeit, ganz wohl.
ES Und hatte sogar einen besonders kräftigen Hunger.
ÜBER-ICH Gregor, es ist dreiviertel sieben. Wolltest du nicht wegfahren, fragte die sanfte Stimme seiner Mutter.
ALLE Ja danke Mutter, ich stehe schon auf.
ICH Er erschrak, als er seine antwortende Stimme hörte, die wohl unverkennbar seine frühere war, in die
sich aber ein nicht zu unterdrückendes, schmerzliches Piepsen mischte, das die Worte nur im ersten
Augenblick in ihrer Deutlichkeit beließ, um sie im Nachklang derart zu zerstören, dass man nicht
wusste, ob man recht gehör† hatte.

22
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
ÜBER-ICH Durch das kleine Gespräch waren dieSCHWABEN
anderen Familienmitglieder darauf aufmerksam geworden, dass
Gregor wider Erwarten noch zu Hause war. Schon klopfte der Vater schwach, aber mit der Faust:
Gregor, Gregor, was ist denn? An der anderen Tür klagte leise die Schwester: Gregor, ist dir nicht
wohl? Brauchs† du etwas? Gregor, mach auf, ich beschwöre dich.
ES Er aber dachte gar nicht daran aufzumachen, sondern lobte die vom Reisen her übernommene
Vorsicht, auch zu Hause alle Türen während der Nacht zu versperren. Zunächst wollte er ruhig und
ungestört aufstehen, sich anziehen und vor allem frühstücken.
ICH Im Bett würde er mit dem Nachdenken zu keinem vernünftigen Ergebnis kommen. Schon öfter hatte
er beim Aufstehen einen durch ungeschicktes Liegen erzeugten Schmerz empfunden und die
Veränderung seiner Stimme war nichts anderes als der Vorbote einer tüchtigen Verkühlung.
UBER-ICH Nur sich nicht unnütz im Bett aufhalten.
ICH Die Decke abzuwerfen war ganz einfach; er brauchte sich nur ein wenig aufzublasen und sie fiel von
selbst.
ES Aber weiterhin wurde es schwierig, er hätte Arme und Beine gebraucht, um aufzurichten, stattdessen
aber hatte er nur die vielen Beinchen, die ununterbrochen in verschiedenster Bewegung waren und die
er überdies nicht beherrschen konnte. Wollte er eines einknicken, so war es das erste, dass sich
streckte.
ÜBER-ICH Nur sich nicht unnütz im Bett aufhalten.
ICH Zuerst wollte er mit dem unteren Teil des Körpers aus dem Bett hinauskommen, aber dieser untere
Teil, den er noch nicht gesehen hatte und von dem er sich keine rechte Vorstellung machen konnte,
erwies sich als zu schwer beweglich, es ging so langsam;
ES und als er schließlich, fast wild geworden, mit gesammelter Kraft, ohne Rücksicht, sich vorwärtsstieß,
hoffe er die Richtung falsch gewählt und schlug an den unteren Bettpfosten heftig an. Der brennende
Schmerz, den er empfand, belehrte ihn, dass gerade der untere Teil seines Körpers augenblicklich
vielleicht der empfindlichste war.
UBER-ICH Nur sich nicht unnütz im Bett aufhalten. Er versuchte daher zuerst den Oberkörper aus dem Bett zu
bekommen, und drehte vorsichtig den Kopf dem Bettrand zu. Dies gelang auch leicht, und trotz ihrer
Breite und Schwere folgte schließlich die Körpermasse der Wendung des Kopfes. Aber als er den Kopf
endlich außerhalb des Bettes in der freien Luft hielt, bekam er Angst, denn wenn er sich schließlich so
fallen ließ, musste geradezu ein Wunder geschehen, wenn der Kopf nicht verletzt werden sollte. Und
die Besinnung durfte er gerade jetzt Um keinen Preis verlieren.
ES Lieber wollte er im Bett bleiben.
ÜBER-ICH Dann sagte er sich wieder, dass er unmöglich im Bett bleiben könne und dass es das Vernüftigste sei,
alles zu opfern, wenn auch nur die kleinste Möglichkeit bestünde, sich dadurch vom Bett zu befreien.
ICH Gleichzeitig aber vergaß er nicht, sich zwischendurch daran zu erinnern, dass viel besser als
verzweifelte Entschlüsse ruhige und ruhigste Überlegung sei. Und ein Weilchen lang lag ich ruhig mit
schwachem Atem, als erwarte ich vielleicht von der völligen Stille die Wiederkehr der wirklichen und
selbstverständlichen Verhältnisse.

23
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
SCHWABEN
★Die drei Instanzen der Persönlichkeit 17

Psychodynamische Persönlichkeitsmodelle orientieren sich meistens am Persönlichkeitsmodell, das Sigmund Freud


entwickelt hat. Grundlegend dabei ist die Unterteilung der menschlichen Persönlichkeit in drei Grundinstanzen – nämlich:
ES, ICH, ÜBER-ICH –, die sich im Laufe der psychischen Entwicklung individuell formen und in einer dynamischen
Verbindung zueinanderstehen. Vor allem ES und ÜBER-ICH stehen miteinander häufig in Konflikt; das ICH hat dabei die
Aufgabe zwischen widersprüchlichen Impulsen (und dem, was die Außenwelt zulässt) zu vermitteln.

Das ES: die "älteste" Schicht der Persönlichkeit (erstes Lebensjahr)


Das ES enthält alle Anteile der Persönlichkeit, die triebhaften Charakter haben, also alle Formen von Lust und Unlust. Die
vitalen Triebe wie Hunger, Durst, aber auch soziale Bedürfnisse (z. B. nach körperlicher Nähe) sind Abwandlungen dieser
fundamentalen Triebe. Später entwickeln sich aus diesen Formen auch wesentliche Anteile des emotionalen Erlebens,
also z. B. von Ängsten.
Vielleicht sollten wir einmal über die Frage nachdenken, was "die Welt" eines Neugeborenen oder eines Kindes im ersten
Lebensjahr kennzeichnet und wie ein Neugeborenes im ersten Lebensjahr die Welt erfährt oder wahrnimmt. Wir müssen
nicht lange nachdenken, um zu erkennen, dass ein Baby in einer ganz anderen Welt lebt als ein älteres Kind oder gar ein
Erwachsener.
Aus tiefenpsychologischer Perspektive verfügt ein Neugeborenes zunächst einmal nur über die psychische Instanz des
ES. Es ist – als „extreme Frühgeburt“- vor allem durch Triebbedürfnisse, die sein Überleben sichern sollen, gesteuert.
Weil der Mensch [im Gegensatz zu vielen anderen Säugetieren] so früh geboren wird, muss er im ersten Lebensjahr
noch "nachreifen". Dies gilt nicht nur für die körperliche, sondern auch für die psychische Entwicklung. Während die
körperliche Trennung von der Mutter mit dem Durchschneiden der Nabelschnur vollzogen wird, dauert die "psychische
Trennung" beispielsweise noch wesentlich länger. Das macht den Menschen extrem lernfähig und prägbar. Das macht
ihn aber auch verletzlich.
Für die Tiefenpsychologie, vor allem für die Psychoanalyse, ist das Kind im ersten Lebensjahr ein "Bedürfnisbündel"
ohne Selbst-Bewusstsein. Es kann sich selbst als Person anfangs noch nicht von seiner sozialen Umgebung abgrenzen
und erlebt sich in einer dyadischen Einheit mit einer Bezugsperson, meist der Mutter. Es muss erst über viele soziale
Lernerfahrungen entdecken, dass es ein eigenständiges, von der Mutter und anderen Bezugspersonen abgegrenztes
Lebewesen ist. Ein Kind braucht also - neben der Befriedigung des Bedürfnisses nach Nahrung - für eine gesunde
psychische Entwicklung körperliche Nähe, sozialen Kontakt, Ansprache und ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit.
Im Mittelpunkt der Erfahrungswelt eines Neugeborenen oder eines Babys steht das Bedürfnis nach unmittelbarer
Befriedigung elementarer Bedürfnisse oder Triebe. Das Kind kann noch nicht zwischen seinen Bedürfnissen und den
Bedürfnissen der sozialen Umgebung differenzieren und kann daher kein Verständnis für Triebverzicht entwickeln. Das
heißt, in seiner psychischen Struktur dominiert das ES, Ansätze eines ICHs sind erst im Entstehen, ein ÜBER-ICH ist
überhaupt noch nicht vorhanden.
Kinder, deren soziale Bedürfnisse auf eine fundamentale Weise nicht befriedigt werden, entwickeln später teilweise
schwere, therapeutisch oft nicht mehr korrigierbare Persönlichkeitsstörungen. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn
Babys Gewalt erfahren, wenn sie keine soziale Nähe erleben oder wenn auf ihre sozialen Signale (Schreien, Lächeln, ...)
keine Antwort erfolgt. Typische Störungen der Persönlichkeitsentwicklung betreffen dann die Grenzen zwischen dem
eigenen ICH und der sozialen Umwelt. Betroffenen Menschen fehlt dann z. B. die Empathie-Fähigkeit, das heißt, sie sind
nicht in der Lage, sich in einen anderen Menschen hineinzufühlen.
Das Es folgt dem „LUSTPRINZIP“. Das heißt, es drängt auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung ohne rationale Prüfung
und ohne Rücksichtnahme auf die Grenzen der Umwelt, auf ethische Normen u. a. m. (Lustprinzip = Ich WILL)
 17                                                                                                              
https://www.brgdomath.com/psychologie/persönlichkeit-tk-6/tp-instanzenmodell-nach-freud/
24
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
SCHWABEN
Das ICH: auf dem Weg zu einer selbst-bewussten Persönlichkeit (ab dem zweiten Lebensjahr)
Im ersten Lebensjahr lernt ein Kind mehr als in jeder anderen Phase seines Lebens. Das spiegelt sich u. a. darin, dass
sich sein Gehirngewicht nahezu verdoppelt, weil sich in diesem Zeitraum so viele neue Synapsen bilden.
Rund um den ersten Geburtstag macht ein Kind überdies zwei Lernschritte, die für die Entstehung der zweiten
Persönlichkeitsinstanz, des ICHs, entscheidend sind: Es lernt zu gehen (nachdem es vorher normalerweise gekrabbelt
ist). Und es formuliert die ersten Wörter.
Psychoanalytisch betrachtet ermöglicht das Sprechen und das Gehen dem Kind die Herausbildung eines ICH-
Bewusstseins, also des Bewusstseins, eine eigenständige Persönlichkeit zu sein, die sich von ihrer sozialen Umgebung
abgrenzt.
Das Gehen ermöglicht es dem Kind, die Welt, in der es lebt, selbst zu erobern und zu entdecken. Damit ist es nicht mehr
(ausschließlich) darauf angewiesen, dass Menschen in seiner sozialen Umgebung seine Bedürfnisse erkennen und
befriedigen. Es kann sich selbst helfen. Außerdem entdeckt es, dass viele Objekte trotz ihrer äußerlichen Veränderung im
Kern gleich bleiben: Ein Tisch bleibt ein Tisch, unabhängig davon ob das Kind ihn von unten betrachtet (indem es unter
den Tisch kriecht), von der Seite (indem es sich neben den Tisch stellt), von oben (indem es auf den Tisch klettert), von
der Nähe oder von der Ferne. (Objektkonstanz). Ähnlich entdeckt es, dass die Mutter oder der Vater die gleichen
Personen bleiben, unabhängig davon ob sie sich gerade in unmittelbarer Nähe befinden oder ob sie im Nebenraum sind.
Und es entdeckt vor allem die Konstanz der eigenen Persönlichkeit.
Das Sprechen ermöglicht dem Kind, die Vielzahl der Wahrnehmungseindrücke zu ordnen und zu kategorisieren und
damit voneinander abzugrenzen. Auch das hilft ihm, zwischen sich selbst als Person und der bunten Welt, in der es lebt,
zu differenzieren. Außerdem ist das Sprechen Voraussetzung dafür, dass so etwas wie „bewusste Erinnerung“ und damit
ein bewusstes Gedächtnis und eine bewusste Identität entstehen können. Und schlussendlich ermöglicht das Sprechen
dem Kind, eigene Bedürfnisse zu artikulieren.
In der Sprache der Tiefenpsychologie heißt dies: Das ICH als eigene Persönlichkeitsinstanz entsteht. Das ICH ist die
Instanz, in der alle bewussten (und damit alle sprachlich fassbaren) Persönlichkeitsanteile organisiert sind. Das Kind lernt
sich selbst als abgegrenzte, eigenständige, mit seiner sozialen Umgebung aber in Verbindung stehende Persönlichkeit zu
erfahren.
Das Kind lernt, dass es Bedürfnisse auch aktiv selbst befriedigen kann. Es lernt aber auch, dass seine Wünsche und
Bedürfnisse nicht unbedingt die Bedürfnisse der Umgebung sein müssen, dass manche Bedürfnisse nicht oder erst
später befriedigt werden können. Das heißt, dass das Lustprinzip des ES teilweise durch das Realitätsprinzip des Ichs
ersetzt wird. (Realitätsprinzip: ICH KANN)

Das ÜBER-ICH: das Wissen um "Gut" und "Böse" (ab dem 3./4. Lebensjahr)
Im dritten und vierten Lebensjahr machen die meisten Kinder eine so genannte "Trotzphase" durch. Für Eltern ist dies oft
eine sehr anstrengende Zeit, weil das Kind seine Grenzen überschreitet, die elterliche Ordnung durcheinanderbringt, sich
Anordnungen durch lauten Protest widersetzt.
Aus tiefenpsychologischer Perspektive ist diese Entwicklungsphase sehr wichtig, weil nur so ein Bewusstsein über
Normen, über soziale Regeln, über das, was richtig und was falsch ist, entsteht. Das Kind muss die Grenzen des
Erlaubten immer wieder ausprobieren und austesten. Die ursprünglich äußerlichen Normen werden Schritt für Schritt zu
eigenen Normvorstellungen, die auch dann gelten, wenn z. B. gerade kein Erwachsener in der Nähe ist und hinschaut
(„Internalisierung“). Es wäre falsch, einem Kind in dieser Phase alles "durchgehen" zu lassen. Denn dann bleibt das Kind
zu stark auf sich selbst und seine eigenen Bedürfnisse fokussiert. Es bleibt in der ICH-Welt des zweiten Lebensjahres
verhaftet, in der sich die ganze Welt um die eigene Person dreht. Ebenso falsch wäre es aber auch, zu enge und zu rigide
Grenzen zu setzen. Am problematischsten für eine stabile Über-Ich-Entwicklung ist es allerdings, wenn die soziale
Umgebung keine nachvollziehbaren und erkennbaren Grenzen zu definieren vermag. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn ein

25
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
Elternteil heute etwas erlaubt (und vielleicht sogar noch SCHWABEN
unterstützt), was er oder sie am nächsten Tag untersagt (und
vielleicht sogar noch bestraft).
Das ÜBER-ICH, das als letzte Instanz die Persönlichkeitsstruktur ergänzt, folgt dem SOLLPRINZIP. (ICH SOLL)

Im vierten Lebensjahr ist mit den Instanzen ES, ICH und ÜBER-ICH die Grundstruktur der menschlichen Persönlichkeit
festgelegt. Das heißt, dass ein Mensch zu diesem Zeitpunkt schon so etwas wie einen "Charakter" entwickelt hat.
Die Persönlichkeitsentwicklung ist aber zu diesem Zeitpunkt selbstverständlich nicht abgeschlossen. Die einzelnen
Instanzen entwickeln sich über das gesamte Leben hindurch weiter.
Wichtig aus tiefenpsychologischer Perspektive ist aber, dass in den jeweiligen Lebensabschnitten die Fundamente für die
entsprechenden Teilbereiche der Persönlichkeit gelegt werden.

Moralische Instanz ÜBER-ICH


Forderungen Gebote Wert- und Normvorstellungen
Verbote
!

ICH
Realitätsprinzip
UMWELT
Kritischer Verstand
Kontrolle Triebverzicht und -
Reaktionen
aufschub

ES

Bedürfnisse
Libido
Lustprinzip Destrudo Reize
Forderungen
!

26
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
SCHWABEN
★Kapitalismus 18
Kapitalismus ist eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Angebot und Nachfrage bestimmen Markt und Produktion.
Das Kapital sind Maschinen, Anlagen, Fabrikhallen, Geld, Fahrzeuge und so weiter. Im Kapitalismus befindet sich das
Kapitel im Besitz von Unternehmern. Der Staat greift wenig oder gar nicht in das Wirtschaftsgeschehen ein. Die
Unternehmer können weitgehend frei arbeiten und arbeiten lassen. Der Staat schützt das Privateigentum und die
Unternehmer.
Die Zeit der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert, als die ersten Fabriken entstanden, gilt als Beginn des
Kapitalismus. Damals arbeiteten die Menschen oft unter sehr schlimmen Bedingungen in den Fabriken. Meist war der
Lohn gering, die Arbeit war schwer und Gesetze zum Schutz der Arbeiter gab es nicht. Schon bald kam es zu heftigen
Protesten gegen diese Situation. Karl Marx (1818-1883) war der schärfste Gegner des kapitalistischen Systems. Er
kritisierte, dass die Arbeiter ohne Besitz und wirtschaftlich abhängig von den Kapitalbesitzern waren, die sich um die
Situation der Arbeiter nicht scherten.
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die kapitalistischen Wirtschaftsordnungen der westlichen Industriestaaten
reformiert. Der Staat beeinflusste durch Gesetze und politische Maßnahmen das Wirtschaftsgeschehen, und die stärker
gewordenen Gewerkschaften vertraten die Interessen der Arbeiter.
Auch heute funktionieren die Wirtschaftssysteme in vielen Industrieländern nach den kapitalistischen Grundsätzen. Aber
der Staat versucht durch Gesetze dafür zu sorgen, dass die Menschen nicht mehr ausgebeutet werden und es gerechter
zugeht am Markt. Viele Fabriken sind in privater Hand oder gehören Aktiengesellschaften und großen Konzernen. Der
Staat schützt das Privateigentum. Meistens wird heute statt von "Kapitalismus" von "Marktwirtschaft" gesprochen. In
Deutschland gibt es die soziale Marktwirtschaft.

★Kapitalismuskritik 19
Als Kapitalismuskritik werden Ansichten und Theorien bezeichnet, die die mit der Industrialisierung sich ausbreitende
Wirtschaftsordnung [...] grundsätzlich oder in einzelnen Aspekten kritisieren. Kaum anders als der Kapitalismus selbst hat
die Kapitalismuskritik eine mittlerweile mehr als 200-jährige Geschichte. Die Kritik äußert sich an einzelnen Elementen
des Kapitalismus wie Geld- und Zinswirtschaft, Privateigentum an Produktionsmitteln und Profitmaximierung sowie den
ihnen zugeschriebenen Konsequenzen wie Ausbeutung und Verelendung der arbeitenden Klasse. Praktische
Kapitalismuskritik kann sich im Aufbau genossenschaftlich organisierter Unternehmen und Banken oder alternativer
Wirtschaftsbereiche äußern, sowie in der Teil- oder Vollübernahme von einzelnen Wirtschaftssegmenten durch Akteure,
die weniger individuelles Gewinnstreben als am Gemeinwohl orientierte Aufgaben und Ziele verfolgen.

★Das Gespenst des Kapitals 20


Der Lauf der Dinge wird durch das Finanzgeschehen bestimmt, und es wiegt darum um so schwerer, dass es höchst
umstritten ist, nach welchen Regeln und mit welcher Logik sich hier Ereignisse mit Ereignissen verknüpfen. Gerade die
Krisen der letzten Jahrzehnte haben die Frage veranlasst, ob sich auf den Schauplätzen der internationalen
Finanzwirtschaft ein effizientes Zusammenspiel vernünftiger Akteure oder ein Spektakel reiner Unvernunft vollzieht. E ist
jedenfalls nicht ausgemacht, ob der darin beschworene kapitalistische ‚Geist’ verlässlich und rational oder schlicht
verrückt operiert. (…) Es geht um den Versuch zu verstehen, wie die moderne Finanzökonomie eine Welt zu verstehen
versucht, die durch sie selbst hervorgebracht wurde.
                                                                                                               
18
http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/das-junge-politik-lexikon/161281/kapitalismus
19
https://educalingo.com/de/dic-de/kapitalismuskritik
20
Vogel, Joseph: Das Gespenst des Kapitals. Zürich: Diaphanes Verlag, 2010
27
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
Das ‚Gespenst des Kapitals’ ist dabei die Chiffre jener Kräfte, von denen unsere Gegenwart ihre Gesetze empfängt.
SCHWABEN
Es ist doch so, dass kapitalistische Ökonomie Schicksal geworden ist, sofern Gewinnerwartung und ökonomisches
Wachstum zur Hoffnung eines Restbestandes an irdischer Vorsehung gehört. Wie können aber Irregularitäten und
Anomalien mit einer vernünftigen Einrichtung des Systems korrespondieren?
Dürfen sie als nicht mehr als hinzunehmende Effekte einer insgesamt erfreulichen Weltordnung gesehen werden?
Sind die Übel und Pannen im System vereinbar mit dem Eindruck einer weisen Einrichtung, mit der Konsistenz
ökonomischer Glaubenssätze?

Idylle des Marktes


Seit dem Barock sind sich Naturrechtslehrer und Moralphilosophen weitgehend einig darüber, dass der Mensch nicht
mehr als politisches Tier begriffen werden kann, das direkt und umstandslos zu einem Leben in der Gesellschaft geeignet
sei. Im Unterschied zu den meisten anderen Lebewesen erweist es sich als dysfunktional, als nicht fürs Gemeinsame
gemacht. Der Mensch ist zu einem unangenehmer Zeitgenosse für seinesgleichen geworden, man kann allenfalls von
einer ungeselligen Geselligkeit sprechen. Der Mensch ist in einem verdorbenen Zustand, er ist ein von mannigfaltigen
schlimmen Begierden erfülltes Geschöpf. Dieser Mensch, wie er seit dem 17. Jahrhundert beschrieben wird, folgt seinen
Begierden, wird bewegt von Appetit und Aversion, von Anziehung und Abstoßung, so dass er seinem Bau nach aus
sozialen Defiziten und Dysfunktion besteht, und doch wird dadurch eine gesellschaftliche Ordnung ermöglicht. Es sind
nicht die maßvollen Neigungen, sondern die maßlosen, die wirklich erfinderisch sind, listig und produktiv, es sind diese
verschiedenen Leidenschaften, die sich wechselseitig in Bewegung halten, die sich gegenseitig balancieren und
kompensieren. So hält beispielsweise der Geiz des einen die Verschwendung des anderen in Schach und beide tragen
mit ihren Kniffen und Listen zum Wohl aller bei. Ein guter Politiker darf also nur mit dem Schlimmsten im Menschen
kalkulieren. Der neuzeitliche Mensch kommt also nicht bloß als rationales, sondern als besonders leidenschaftliches
Subjekt auf die Welt und kann auch noch christliche Todsünden zu neuen Aktivposten verwandeln.
Gerade weil er so asozial ist, kann man den Menschen als Faktor sozialer Ordnung verbuchen.
Wie ist das möglich? Wie kann aus so einem irrationalen Wesen Gesetzmäßigkeit produziert werden?
Durch die Mechanik der Interessen. Interessen sind letzte und unauflösliche Verhaltensatome, an deren Ende stets das
Bessere für einen selbst steht. Die Wahl des Angenehmeren, das weniger Schmerzvolle. Es kennt keinen Selbstverzicht.
Der Mensch, wie er seit der Neuzeit begriffen wird, ist funktional und dysfunktional zugleich. Statt einem System in dem
er seine Interessen zurückzustellen, damit auch sein Nachbar leben kann, wird das erstrebte Ziel verkehrt und in ein
System fruchtbarer Schädlichkeiten verkehrt.
Dies führt zu einer weiteren Frage: was macht die Effizienz diese Menschen aus? Welche Rolle spielt er in der
Ökonomie?
Der interessensgeleitete Mensch bewegt sich so sicher durch die unübersichtliche Welt, weil er blind und beschränkt
bleibt. Mit seinen blöden Maulwurfsaugen der Selbstsucht strebt er ja auch keinen Überblick an. Er erfährt die Dinge der
Welt nicht als gut oder schlecht, wahr oder falsch, sondern nach Kriterien von Gewinn und Verlust.
Er sieht ganz konsequent von der restlichen Welt ab und unterstellt bestenfalls, dass alle anderen seine Beschränktheit
teilen und Interessen in Vorteile verwandeln.
Dieser ökonomische Mensch wäre demnach Subjekt eines beschränkten Wissens, er überblickt die Abfolge von Ursache
und Wirkung nicht und produziert selbst Effekte, die er nicht kennt, nicht beabsichtigt und die seinem begrenzten
Überblick entgehen.
Gerade durch das verfolgen eigener Interessen, fördert er die Gesellschaft nachhaltiger, als wenn er wirklich etwas
beabsichtigt.
Das Leitmotiv des Liberalismus: Nichts ist schädlicher als eine Regierung, die das Gute will.
Es gilt ein mephistophelisches Programm: eine Macht, die stets das Böse will und ungewollt das Gute tut. Im Tausch und
Verkauf der Interessen findet sich schließlich das Prinzip gesellschaftlicher Vernunft

28
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
SCHWABEN
Ein Looping Effekt.
Mehr noch wird ein stets ungestilltes Begehren eingeführt, das mit einer Grenzenlosigkeit an Bedürfnissen und Begehren,
über das Fassungsvermögen des leiblichen Behälters hinausführt.
Marx nennt das die ‚abstrakte Genusssucht’ des Kapitalisten, dessen Akkumulation von Geld und Kapital sich mit keinem
konkreten Bedürfnis abgleichen lässt.
Der Kapitalismus produziert Subjekte mit Einverseelung des Mangels, sie sind Automaten des Begehrens geworden, die
wollen müssen, was sie nicht bekommen. Ein Mensch, des beschränkten Wissens und des grenzenlosen Begehrens, der
will, was er nicht kann und tut was er nicht will. Der ökonomische Mensch ist ein Staatsfeind im besonderen Sinne, ihm
widerstrebt die Einrichtung eines ‚guten Systems’, sollen doch nur die Mechanismen des freien Marktes regieren. Und
gleichzeitig ist er trotz dieser Feindschaft ein besonders gut zu regierendes Exemplar. Die Priorität von Ökonomie und
Markt, schaftt ein Milieu, in dem sich Begierden und Interessen des ökonomischen Menschen selbst regieren. Das gesetz
entspringt nicht äußerlich. Es entspringt ihrem selbstsüchtigen Herzen und regiert besser als der mächtigste Regent, als
‚unsichtbare Hand’.

All diese Überzeugungen möblieren das Gehege des ökonomischen Menschen und prägen seine liberale Idylle des
Marktes. Die freiwillige Transaktion zwischen Käufer und Verkäufer begründen das Wunder des freien Marktes, das
Preissystem übernimmt die Aufgabe ein abwesendes Zentrum zu ersetzen und im Ausgleich der Einzelinteressen eine
soziale Ordnung zu garantieren. Ohne sich lieben zu müssen, ohne sich verständigen zu müssen, funktioniert es einzig
über die Verantwortung der Akteure, die darin besteht für nichts und niemand verantwortlich zu sein.

Es herrscht liberaler Despotismus. Es verlangt die Enthemmung seiner Subjekte, die sich ganz ihren Begierden und
Interessen überlassen. Er unterläuft den Gesellschaftsvertrag und präsentiert sich als etat de nature, als Naturzustand.

★Leiden im flexiblen Kapitalismus 21  


Der Kapitalismus kann nicht nur aus der Perspektive sozialer Ungleichheit kritisiert werden. Mindestens ebenso wichtig
ist es, die Auswirkungen kapitalistischer Gesellschaften auf die vorherrschenden Formen von Subjektivität zu kritisieren.
Historisch bedeutsam waren die Sozialcharakteranalysen der Kritischen Theorie, die typische Persönlichkeitsstrukturen
im Faschismus und Fordismus beschrieben. Mit der Flexibilisierung des Kapitalismus entstehen in den gegenwärtigen
Gesellschaften neue Ausprägungen von Subjektivität, die ich als Hinweise auf einen neuen, „flexiblen Sozialcharakter“
begreife.

Entfremdung und Verdinglichung


Bereits in seinen Frühschriften hat Karl Marx mit seinem Begriff und Konzept von „Entfremdung“ darauf hingewiesen,
dass die Arbeits- und Lebensbedingungen im Kapitalismus es den Menschen nicht erlauben, ihr Leben frei zu entwerfen
und zu gestalten. Die Zwänge, denen sich die Individuen in der kapitalistischen Produktion ausgesetzt sehen, bewirken,
dass sie ihrer eigenen Tätigkeit, den Produkten ihrer Arbeit, ihren Mitmenschen und sich selbst entfremdet gegenüber
treten. Der zentrale Zwang geht dabei von der Warenförmigkeit der Arbeitskraft aus. Die Individuen sind gezwungen sich
selbst als Arbeitskraft wahrzunehmen und bestimmte eigene Fähigkeiten, nach denen eine Nachfrage auf dem
Arbeitsmarkt herrscht, auszubilden und der Aufrechterhaltung der Arbeitskraft ihre Lebensführung unterzuordnen.
Georg Lukács interpretiert den Zwang zu Konstitution und Verkauf der Arbeitskraft als Ursache von Verdinglichung.
Dadurch, dass die Individuen dazu gezwungen sind, sich selbst wie ihre Umwelt ausschliesslich als Ressource der
 21                                                                                                              
https://debatte.ch/2013/04/leiden-im-flexiblen-kapitalismus/
29
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
Kapitalverwertung zu begreifen, vollzieht sich eine Verdinglichung,
SCHWABEN die auch lebensweltliche Zusammenhänge und die
innersten Regungen der Persönlichkeit erfasst.

Wandel der Sozialcharaktere


Um die Auswirkungen der kapitalistischen Vergesellschaftlichung auf die psychischen Strukturen analysieren zu können,
versuchte man seit den 1920er Jahren am Frankfurter Institut für Sozialforschung die marxsche Theoriebildung mit der
Psychoanalyse Sigmund Freuds zu vermitteln. So begreift Erich Fromm die Freudschen Kategorien „Ich“, „Über-Ich“ und
„Es“ historisch, indem er deren Wandel im Rahmen unterschiedlicher „libidinöser Strukturen“ (Triebstrukturen)
beschreibt. Mit den ökonomischen Transformationen vollziehen sich auch Veränderungen der Kultur einer Gesellschaft
und der Psyche der Individuen. Durch Sozialisationsinstanzen wie Familie, Schule und Medien sowie „ökonomische
Auslese“ setzen sich bestimmte Formen von Individualität durch, die Erich Fromm als „Sozialcharaktere“ bezeichnet.
Diese variieren historisch mit der jeweiligen Gesellschaftsformation. Während nach Fromm für den „Faschismus“
autoritäre Sozialcharakterformen typisch sind, in denen ein selbständiges „Ich“ nur mangelhaft ausgebildet wird und
Unterwerfung unter die Mächtigen mit Aggressionen gegen die Schwachen einhergehen, sind für die westlichen
Nachkriegsgesellschaften Züge eines „Marketing- Charakters“ typisch, der sich durch Konformismus und
Beziehungslosigkeit zu sich selbst auszeichnet. Diese ermöglichen ihm nachfrageorientiert eine Persönlichkeitsfassade
zu entwerfen, die immer wieder aufs Neue an die gesellschaftlichen Erfordernisse angepasst werden kann.
Meines Erachtens deutet eine Reihe von kritischen, sozialwissenschaftlichen Theorien und Studien darauf hin, dass der
gegenwärtige Wandel der Sozialisationsbedingungen in Familie und Schule, die aktuellen Anforderungen an die
Individuen in den Arbeits- und Lebenswelten des „flexiblen Kapitalismus“ sowie die Veränderungen psychopathologischer
Phänomene zur Herausbildung eines „flexiblen Sozialcharakters“ beitragen.

Prekarisierung der Arbeit


So ist ein typisches Merkmal des gegenwärtigen Wandels der Arbeitswelt die Prekarisierung einer Vielzahl von
Lohnabhängigen durch die Schaffung von kurzfristigen Beschäftigungsverhältnissen und Arbeitsplatzunsicherheit, geringe
Entlohnung der Arbeit und Leiharbeit. Typisch sind auch permanente Restrukturierungen von Firmen und Konzernen mit
dem Ziel flacher, effizienter Hierarchien, einem Zwang zu individueller Autonomie am Arbeitsplatz und Outsourcing. Trotz
neuer formaler Freiheiten am Arbeitsplatz erhöhen sich Anpassungs- und Leistungsdruck. In projektartigen
Arbeitsverhältnissen verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit, Aspekte der privaten Lebensführung
bzw. der Individuen als Privatperson werden immer mehr auch für die Ausbildung, Aufrechterhaltung und Optimierung
von deren Arbeitskraft nutzbar gemacht und damit vereinnahmt. Damit verbunden ist die Zuweisung individueller
Verantwortung bzw. die Betonung von individueller Autonomie. In dieser Perspektive sind nicht mehr die
Arbeitsverhältnisse Schuld an Problemen am Arbeitsplatz, sondern das Fehlverhalten der Erwerbstätigen.

Prekarisierung des Intimlebens


Die Zuweisung individueller Verantwortung findet sich auch immer mehr in der Lebenswelt, so dass private Probleme
nicht mehr als Ausdruck gesellschaftlicher Lebensverhältnisse erscheinen, sondern als Versagen der Individuen, die nicht
mit ihrer Freiheit umgehen können. Es verbreiten sich auch in den Nahbeziehungen der Individuen Verhaltensweisen, die
Konsum- und Konkurrenzmustern folgen und eine „Prekarisierung des Intimlebens“ (Zygmunt Bauman) der Menschen
bewirken, indem sich Kurzfristigkeit und Unsicherheit durchsetzen. Zwar kommt es zu einer neuen sexuellen
Vielfältigkeit. Aber auf der Grundlage interaktiver Aushandlungsprozesse in sexuellen Begegnungen und Beziehungen
setzt sich auch eine neue Rationalisierung und Standardisierung des Sexuellen durch, die zu Formen von
Selbstdisziplinierung und Selbstoptimierung führt. Erwerbsarbeit wird immer wichtiger für das Selbstbild der Individuen,
während das Privatleben eine Entwertung erfährt. Zugleich findet eine Angleichung von Arbeits- und Privatleben statt,

30
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
indem unter dem Druck steigender Anforderungen am Arbeitsplatz
SCHWABEN auch die private Lebensführung nach
Effizienzgesichtspunkten rationalisiert wird.
Den untersuchten Studien zufolge werden in der Arbeitswelt wie in Partnerschaft, Familie, sexuellen Verhältnissen und
Freizeitgestaltung von den Individuen die Ausbildung von Flexibilität, Leistungsoptimierung, Selbstkontrolle,
Selbständigkeit und Selbstvermarktungsfähigkeiten erwartet. Die sich im Kontext eines „flexiblen Kapitalismus“
durchsetzenden arbeits- und lebensweltlichen Anforderungsprofile nötigen die Individuen, einen „flexiblen
Sozialcharakter“ auszubilden. Dass nicht alle Individuen in gleicher Weise diesem Anforderungskatalog gerecht werden
können, liegt auf der Hand.

Leiden an sich selbst


Mit dem „flexiblen Sozialcharakter“ wird ein „Leiden an sich selbst“ erzeugt, wie sich in ganz unterschiedlicher Weise
zeigt. Zum einen scheitern viele Individuen, die Phasen von Kindheit und Jugend mit der Ausbildung eines stabilen Selbst
abzuschließen und leiden daran. Zum zweiten bewirkt der Anpassungsdruck in Arbeits- und Lebenswelt, dass die
Individuen funktionale fragmentierte Identitäten formen, die sich psychopathologisch vor allem durch Ich- Schwäche
auszeichnen und bei denen sich Konkurrenz- und Optimierungszwänge tendenziell in Aggressionen gegen sich selbst
und Gewalt gegen andere entladen. Zum dritten leiden auch die Individuen, denen die Anpassung misslingt. Diese mögen
zwar nach wie vor mit einem stabilen Selbstgefühl versehen sein und mit kohärenten Entwürfen ihr Leben zu meistern
versuchen, dabei treffen sie allerdings in Arbeits- und Lebenswelt auf die beschriebenen „pathologischen“ Zwänge zu
Optimierung, Leistung, Flexibilität, Selbstkontrolle und Selbstvermarktung. Der „flexible Sozialcharakter“, der durch den
„flexiblen Kapitalismus“ hervorgebracht wird, ist von individuellem Leiden an solchen Flexibilitätszwängen unterlegt.

★Chorisches Sprechen im Theater 22


Chorisches Sprechen ist [...] ein szenisches Gestaltungselement. Als szenisches Gestaltungselement lässt es sich sowohl
von der griechischen Tragödie herleiten, in der der singende, tanzende Chor eine führende Rolle einnimmt, als auch mit
der Liturgie der christlichen Kirche in Zusammenhang bringen. In seinen Ursprüngen erfüllte das Chorische Sprechen
kultische Aufgaben. Im Sprechtheater der Neuzeit werden gelegentlich chorische Passagen einbezogen; das Schuldrama
und die Oper gründen auf chorischen Gestaltungsprinzipien. [...]
Zwei Richtungen des Sprechchors werden unterschieden: die ästhetischtendenzlose und die politisch-tendenziöse. [...]
Der proletarische Sprechchor ist keine Bühnenkunst, sondern politischer Ausdruck einer sich als Gemeinschaft fühlenden
gesellschaftlichen Gruppe. In der ästhetischen Form dagegen wird der Sprechchor als künstlerisches Gestaltungsmittel
aufgegriffen und zur Darstellung unterschiedlicher Stoffe und Texte eingesetzt. [...] Die charakteristischen
Gestaltungsmittel des Sprechchors liegen weniger in einer Festlegung der Satzmelodie oder Sprechtonhöhe als im
Wechsel zwischen Teilchören, zwischen Chor und Einzelsprecher, in der Variierung des Sprechausdrucks und in der
Festlegung der Phrasierung sowie der Pausen. [Es] wird kontrovers diskutiert, [...] ob sich Gefühle und Schicksal eines
Einzelnen chorisch darstellen lassen.

 22                                                                                                              
http://www.archiv-datp.de/worterbuch-chorisches-sprechen-sprechchor/
31
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
SCHWABEN
★Entwürfe von Julia Nussbaumer
BASISKOSTÜM

-weisse Boxershort mit Beschriftung: Ich, Es und Über-ich


-Transparente Hüllen, der jeweiligen Rolle zugeordnet

MASKEN/BRILLEN

32
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
SCHWABEN
GANZE ANZÜGE

MASKE
-lange zottelige Perücken

33
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
SCHWABEN
★Inszenierungsfotos

34
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
SCHWABEN

35
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
IV. ZUR VOR- UND NACHBEREITUNG
SCHWABEN

★Anregungen und Fragen für ein Gespräch mit Schülern


★ Gibt es Szenen/Momente/Figuren die Euch besonders gut gefallen haben, im Gedächtnis geblieben sind oder
berührt haben? Beschreibt warum.
★ Habt Ihr etwas nicht verstanden oder fandet etwas seltsam?

★ Wie sah der Raum aus? Wie hat sich das Bühnenbild im Laufe der Vorstellung verändert? Welche Orte sind
dadurch entstanden?
★ Wie sahen die Kostüme aus (Farbgebung, Stil, etc.)? Wie haben die Kostüme auf Euch gewirkt? Wie sehr haben
Euch die Kostüme an einen Käfer erinnert? Warum? Welchen Sinn könnte es haben, dass die Kostüme
durchsichtig sind? (Sie zeigen die Verletzlichkeit der Figuren. Hinter der Fassade des Käfers verbirgt sich nach
wie vor ein Mensch, dessen Persönlichkeit aus drei verschiedenen Teilen besteht: ES, ICH, ÜBER-ICH).
★ Welche verschiedenen Handlungsebenen habt Ihr erkannt? (die Spielerebene, die Erzählebene, die Spielebene
(szenisches Spiel))
Welche Themengebiete/Gegenstände werden in den verschiedenen Handlungsebenen thematisiert?
★ Der Protagonist Gregor Samsa wird von drei verschiedenen Schauspielern dargestellt. Welchen Zweck könnte
das haben?
★ Neben Gregor Samsa spielen die drei Schauspieler auch noch die anderen Figuren aus der Erzählung
(Schwester, Mutter, Vater, Prokurist). Wodurch werden die Figuren (neben den Kostümen) deutlich?

★Arbeitsaufgaben und Übungen zur Vor-und Nachbereitung mit Schülern


★Chorisches Sprechen
In der Inszenierung werden einzelne Elemente chorisch gesprochen/gespielt. Mit Hilfe der folgenden Übung sollen
chorische Elemente erprobt und deren Wirkung untersucht und verglichen werden.

Vorübung:
Alle stehen im Kreis. Es geht darum, den folgenden Satz im Chor auf unterschiedliche Weise zu sprechen:
A cara. A con con cara, adesso die famossa
(es ist ein Text ohne Sinn, für den es keine Übersetzung gibt! Theoretisch kann jeder andere kurze Satz genommen werden)

Der Spielleiter gibt eine Sprechweise vor (z.B. traurig, glücklich...), der Rest macht es nach, dann wird eine andere
Sprechweise vorgegeben. Später können auch die Spieler eine Sprechweise vorgeben.

36
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
Übung: SCHWABEN
Nun wird mit dem Originaltext gearbeitet.
Die folgende Übung kann im Plenum oder in Kleingruppen durchgeführt werden. Arbeiten Sie hier mit der ersten Szene
des Kafka-Textes. Ziel ist es auch hier, dass die Spieler unterschiedliche Sprechweisen (chorisch und nicht-chorisch) zu
finden.
1. Zunächst liest ein Spieler den gesamten Text vor.
2. Anschließend sprechen alle Spieler einen ausgewählten Abschnitt des Textes von circa 5 Sätzen gemeinsam und
synchron.
3. Im nächsten Schritt teilen die Spieler den Text untereinander auf und sprechen abwechselnd einen
Satz/Satzteile/einzelne Wörter in der richtigen Reihenfolge.
4. Nun wird der Text teilweise von einzelnen Spielern und teilweise im Chor gesprochen. Das muss zuvor in den
Gruppen festgelegt werden.
5. Danach sprechen die Spieler den Text im Kanon. Zum Schluss sprechen die Spieler unabgesprochen nach
eigenem Impuls Sätze/Satzteile/Wörter (gerne auch durcheinander).

Zusätzlich kann bei allen Teilaufgaben auch mit unterschiedlichen Sprechweisen gespielt werden (z.B. neutral, monoton,
mit einem bestimmten Gefühl (z.B. wütend, verwundert...), mit und ohne Pausen...)

Besprechen und vergleichen Sie anschließend die verschiedenen Wirkungsweisen.

★Schulter an Schulter
In der Inszenierung besteht die Persönlichkeit Gregor Samsas aus drei Teilen, die, obwohl sie zusammen ein ganzes
bilden, auch häufig im Konflikt miteinander stehen. Dies soll in der folgenden Übungen nachvollzogen werden. Hierbei
bilden drei Personen eine Einheit, beginnen jedoch mit der Zeit gegeneinander anzukämpfen:
Es werden Dreier-Gruppen gebildet. Die Spieler stellen sich im Dreieck Schulter an Schulter auf, dabei gibt man ein
bisschen Gewicht an die anderen ab. Zunächst nehmen sie die Personen neben sich und die Punkte, an denen sie sich
berühren, einfach nur wahr. Dann beginnt man darauf zu achten, ob das Atmen des anderen spürbar ist. Langsam
verlagern die Spieler nun ihr Gewicht auf ihre Partner. Aus dem harmonischen Anlehnen wird schnell ein Ringen der
Kräfte, bis sich die Gruppe gegenseitig mit maximalem Kraftaufwand durch den Raum zu schieben versucht, sodass eine
Art Kampfsituation entsteht. Nun soll der Kampf wieder abnehmen und die Bewegung im Raum kleiner werden, bis man
wieder zum Stillstand kommt und in der Ausgangsposition ist. Dann löst man sich ein kleines Stückchen voneinander,
spürt noch kurz in den Rücken und schaut, ob man ohne Kontakt die Personen trotzdem noch wahrnimmt, bis man sich
schließlich ganz löst.

★Engelchen und Teufelchen


Die Inszenierung arbeitet mit dem Freudschen Konzept von ES, ICH, ÜBER-ICH. Hier wird davon ausgegangen, dass die
Persönlichkeit aus drei Teilen besteht. Ein Teil folgt dem Lustprinzip und strebt nach der Erfüllung der triebhaften
Bedürfnisse, während ein anderer Teil, die moralische Instanz, dagegen ankämpft. Ein dritter Teil versucht, mit kritischem
Verstand zwischen den beiden im Konflikt zueinander stehenden Teilen zu vermitteln.

Bei der folgenden Übung werden Dreier-Gruppen gebildet. Die Spieler stellen sich in einer Reihe auf. Die beiden Äußeren
überlegen sich eine Aufgabe für den Mittleren (Die Gruppen sollten einfache Aufgaben stellen, z.B. sich auf den Boden
legen). Die beiden vertreten hierbei jeweils die moralische Instanz und das Lustprinzip und nehmen auch die Haltung ein.
37
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
Entsprechend der Instanz die sie vertreten, formulieren sie einen Satz. (z.B. „Aber wenn du dich hinlegst, wirst du doch
SCHWABEN
schmutzig“ und „Aber ich bin so müde, ich muss sofort schlafen“). Nun versuchen die beiden äußeren Spieler den
Spieler in ihre Mitte zu überzeugen, etwas zu tun bzw. nicht zu tun. Allerdings dürfen sie nur mit Worten, die sie an den
mittleren Spieler richten, überzeugen, d.h. sie dürfen sich nicht bewegen und sich nicht gegenseitig ansprechen.
Besprechen Sie anschließend im Plenum, wie es sich angefühlt hat nach einem dieser Prinzipien zu argumentieren bzw.
hin-und hergerissen zu sein. Welche Seite konnte mehr überzeugen?

★Phantasiereise und anschließende Schreibaufgabe


Anhand dieser Übung soll die Verwandlung Gregors von einem Menschen in ein Ungeziefer nachvollzogen werden. Es
geht dabei vor allem um den Moment nach dem Aufwachen, als Gregor die Veränderung nach und nach bemerkt.

Alle Spieler legen sich in einer bequemen Position auf den Boden (oder setzten sich mit geschlossenen Augen auf einen
Stuhl). Der Spielleiter liest nun den ersten Abschnitt des Originaltextes vor. Wichtig ist, in Abschnitten zu erzählen und
genügend Pausen zu lassen, sodass jeder genügend Zeit hat, die Phantasie spielen zu lassen und sich alles detailliert
auszumalen.

In der Inszenierung wird davon ausgegangen, dass Gregors Persönlichkeit nach dem Drei-Instanzen-Modell von Freud
aus drei Teilen besteht: dem ES, welches dem Lustprinzip folgt, dem ÜBER-ICH, das die Moralische Instanz darstellt, und
dem ICH, welches als Mittler zwischen den beiden anderen im Konflikt miteinander stehenden Parteien fungiert.

Nun sollen die Schüler in einer Schreibaufgabe die Rolle einer dieser drei Instanzen einnehmen und aus dieser
Perspektive über die Verwandlung in einen Käfer berichten.
Die Schüler wählen, welchen Blickwinkel sie einnehmen wollen und sollen nun alle OHNE ABZUSETZTEN oder groß
darüber nachzudenken fünf Minuten lang einen Tagebucheintrag aus dieser Sicht formulieren.
Hierfür bekommen die Schüler den folgenden Anfangssatz genannt:
„Als ich bemerkte, dass ich sechs Beine habe...“
Besprechen und vergleichen Sie anschließend die verschiedenen Perspektiven.

★Schreibaufgabe und anschließendes Standbild


„Die Verwandlung“ schildert aus Gregors Perspektive, wie er eines Morgens aufwacht und sich in ein Ungeziefer
verwandelt vorfindet. Die Reaktionen aus seinem Umfeld erfahren wir nur aus seinem Blickwinkel. Mit der folgenden
Schreibaufgabe, soll das Ereignis aus der Perspektive der anderen Figuren beleuchtet werden.

Schreibaufgabe:
Jeder Schüler wählt eine Figur (Mutter, Vater, Schwester, Prokurist) und beschreibt in der Ich-Perspektive den Moment,
als Gregors Zimmertür sich öffnet und die Figur seine Verwandlung zum ersten Mal wahrnimmt. Dies kann beispielsweise
in Form eines Tagebucheintrages geschehen.

Standbilder:
Im nächsten Schritt sollen die Schüler Gruppen bilden. Innerhalb der Gruppen sollen sie passende Körperhaltungen für je
eine Figur finden. Die Körperhaltung, die sie einnehmen, soll die Reaktion der ausgewählten Figur zeigen, wenn sie den
verwandelten Gregor das erste Mal entdeckt.

38
 

LANDESTHEATER
SCHWABEN

LANDESTHEATER
1.   In der Erzählung findet ein großer Wandel in Bezug SCHWABEN
auf die Figurenkonstellation statt. (siehe oben:
Figurenkonstellation). Dies soll durch die folgende Übung zum Ausdruck kommen:

2. Es werden Vierer-Gruppen gebildet. Die Gruppen sollen zunächst ein Standbild bauen, welches die Figurenkonstellation
der Familie Samsa vor Gregors Verwandlung darstellt. Das bedeutet, die Spieler ordnen sich unbewegt, wie auf einem
Foto an. Durch Körpersprache sollen die Beziehungen untereinander zum Ausdruck kommen. Im nächsten Schritt soll
noch ein Standbild entworfen werden, welches die Figurenkonstellation in der Familie nach Gregors Verwandlung zeigt.
Anschließend werden beide Standbilder im Plenum gezeigt. Besprechen Sie nun was jeweils in den Standbildern zu
sehen ist und wie sich die Figurenkonstellation durch die Verwandlung verändert.

★Verschiedene Handlungsebenen
In der Inszenierung wird der Erzählstoff auf drei Ebenen auf unterschiedliche Weise verhandelt.
Auf der Spielerebene diskutieren die Schauspieler den Inhalt untereinander und stellen in „Privatgesprächen“ den Bezug
zu ihrem eigenen Leben her. Auf der Erzählebene wird die Geschichte im Originaltext geschildert.
Auf der Spielebene sehen wir außerdem immer wieder szenische Vorgänge, in der einzelne Momente der Kafka-
Geschichte gezeigt werden.

In der folgenden Übung soll die Arbeit mit verschiedenen Handlungsebenen deutlich gemacht werden.
Es werden Dreier-Gruppen gebildet. Anhand des folgenden Textabschnittes sollen die Schüler überlegen, welchen Teil sie
auf welcher Ebene erzählen wollen. Was wird erzählt? Was wird gespielt? Wie kann man eine Spielerebene einfügen
(„private“ Ebene der Darsteller)?
(Als einfachere Variante kann der Spielleiter dies auch schon im Voraus festlegen).
Besprechen Sie anschließend, wie die Schüler vorgegangen sind und vergleichen Sie die unterschiedliche Wirkung, die
entsteht, wenn die Handlung auf verschiedenen Ebenen erzählt wird.

Textauszug:
„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren
Ungeziefer verwandelt.
Es war kein Traum. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen
gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum
gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch halten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang,
kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen.
Wie wäre es, wenn er noch ein wenig weiterschliefe? Dies frühzeitige Aufstehen macht einen ganz blödsinnig. Der Mensch
muss seinen Schlaf haben. Tag aus, Tag ein auf der Reise, die Sorge um die Zuganschlüsse, das Unregelmäßige,
schlechte Essen, ein immer wechselnder, nie herzlich werdender menschlicher Verkehr. Der Teufel soll das alles holen!“

39

Das könnte Ihnen auch gefallen