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Zwischen religiöser Routine und vitaler Religiosität:

Die Selbstsuche des charismatischen Menschenbildes


Ingmar Kurg, Tallinn

Die charismatische Bewegung hat in den vergangenen 50 Jahren einen


bedeutenden Aufschwung erlebt. Nach unterschiedlichen Schätzungen hat sie
weltweit 400.000.000 bis 600.000.000 Christen für sich gewinnen können.1
Nicht immer bilden die charismatischen Christen dabei eine eigenständige
Religionsgemeinschaft, häufig leben sie ihre eigene Spiritualität im Rahmen der
bestehenden Konfessionen. Das Charismatikertum zeichnet sich unter anderem
durch die Aktualität, die Vitalität und die Empfindsamkeit des religiösen
Ausdrucks aus, wobei die charismatische Bewegung keinesfalls einheitlich ist.
Häufig bilden sich größere religiöse Gruppen im Umkreis herausragender
Persönlichkeiten, die ihre Anhänger in unvorhersehbarer Weise lenken. Die
Dreiteilung der charismatischen Bewegung in Pfingstler, Charismatiker und
Neocharismatiker basiert auf der Drei-Wellen-Theorie von C. Peter Wagner,
dem Theoretiker der charismatischen Bewegung:2
Die erste Welle begann 1906 mit der Gründung der Pfingstbewegung im Zug
der sogenannten Azusa Street-Erweckung. Das vornehmliche Streben dieser
Erweckungsbewegung galt dem Erreichen einer individuellen Segnung
basierend auf der Erfahrung der Geisttaufe. Die Erweckungen in Los Angeles
und Wales waren ausschlaggebend für die Verbreitung der Pfingstgemeinden in
aller Welt.
Die zweite Welle fand in den 1960er Jahren statt. Charismatische Elemente
verbreiteten sich im gesamten westlichen Christentum, ohne vor konfessionellen
Grenzen halt zu machen, also auch innerhalb der römisch-katholischen Kirche.
Nun erlangte auch die entsprechende Terminologie größere Bekanntheit. Als
charakteristisches Kennzeichen erwies sich die Erfahrung übernatürlicher Gaben
des Heiligen Geistes: die Glossolalie (Zungenreden), Glaubensheilungen,
Wunder, Prophetien, praising the Lord.
In der dritten Welle, während der 1980er Jahre, wurde in der von John
Wimber geführten Vineyard-Bewegung die Theorie der power-Evangelisation
verbreitet. Nach ihr musste für die erfolgreiche Evangelisation die
Glaubensfähigkeit des Menschen durch die Erfahrung der vom Heiligen Geist

1
Nach der „Encyclopedia of Pentecostal and Charismatic Christianity“ aus dem Jahr
2005 waren 2000 27 % aller Christen, annähernd 537 Millionen, Anhänger der
Reformbewegung (davon 66 Millionen Pfingstler, 176 Millionen Charismatiker und 295
Millionen Neocharismatiker).
2
C. Peter Wagner, The Third Wave of the Holy Spirit (Ann Arbor: Vine Books, 1988).
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hervorgerufenen Machtäußerungen und Wunder vorbereitet werden. In dieser


Welle kam es zu immer neuen Praktiken wie spiritual warfare, spiritual
mapping, slaying in the Spirit, march for Jesus, intercessory prayer etc.
Die christliche Botschaft der Pfingstler und Charismatiker richtete sich
häufig gegen die traditionelle und institutionalisierte Gläubigkeit. Wo ein vitales
und kraftvolles Glaubensleben gepredigt wird, geschieht dies zumeist mit
entsprechender Kritik an der religiösen Routine. Damit unterstreicht die
charismatische Bewegung ihre Sonderposition und distanziert sich von anderen
Formen christlicher Spiritualität, wobei sie sich selbst als Erneuerin des
gesamten Christentums versteht. In mitunter extremer Form wurde dazu
aufgerufen, das historische Christentum zu verbessern und gegen die hier geübte
Form der Religiosität anzukämpfen. Dem traditionellen Christentum setzt man
eine spontane, enthusisastische und sich häufig emotional ausdrückende Haltung
entgegen. Hierdurch sollte sichergestellt werden, dass die religiöse Beziehung
zu Gott und die religiöse Ausdrucksweise authentisch sind und sich der Christ in
der gegenwärtigen Gesellschaft und im religiösen Milieu behaupten kann.
Inwieweit diese angestrebten Ziele erreicht werden können, soll im weiteren
analysiert werden.

1. Skala der religiösen Routine und der vitalen Religiosität


Die religiöse Routine und vitale Religiosität können auf einer Skala zwischen
Kontingenz und Konsistenz verortet werden. Eines der charakteristischsten
Kennzeichen der Religion ist ihr Kontingenzproblem und der Versuch, es zu
lösen. Religiöse Kontingenz bedeutet Zufälligkeit in ontologischer Dimension.
Religiöse Zufälligkeit besteht darin, dass die Realisierung der religiösen
Erfahrung weder garantiert noch vermieden werden kann.3 Nach Hermann
Lübbe gilt zur Charakteristik der Religion „die Anerkennung unverfügbarer
Daseinskontingenz”.4
In einer solchen Offenheit – nach Niklas Luhmann „Komplexität“ – braucht
der Mensch Reduktionsmechanismen, um seiner Existenz im System einen Sinn
zu geben und den Erfahrungen eine Ordnung zu geben. Die Religion hat dabei
eine einmalige Doppelfunktion: Zum einen gewährt sie transzendentale
Kontingenz und damit die Dynamik der religiösen Erfahrungen und
Darstellungsformen. Zum anderen löst sie Kontingenzprobleme und vermittelt
das für den Menschen Unfassbare, indem es als Konsistentes erfahrbar wird. Ein
Übermaß an Kontingenz bewirkt Unsicherheit und Ängste, doch bietet eine
konsistente Routine, die endgültige Antworten gibt, im Alltag keine
übernatürlichen Erfahrungen mehr. Die Aufgabe der Religion ist es daher, bei
der Verschlüsselung der Kontingenz ausgleichend zu wirken und Wege in beide
3
Nach Luhmann kann man den Begriff Kontingenz mit Hilfe der Begriffe
Notwendigkeit und Unmöglichkeit verstehen: „Kontingent ist etwas, was weder
notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber
auch anders möglich ist”. Er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher
Abwandlungen; Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie
(Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1994), 152.
4
Vgl. Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung (München: Wilhelm Fink Verlag,
2004), 160ff.
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Richtungen zu weisen. Die Religion muss die Erfahrungen des Alltagslebens


und der Weltanschauungen transzendieren, muss aber zugleich mit Hilfe von
Ritualen und didaktischen Mitteln nach Formen der Konkretisierung der
Traszendenz suchen, um „das Undefiniert zu definieren”, wie Luhmann es
erklärte.5
Wenn man sich auf der Skala der Religiosität im Bereich der Kontingenz
bewegt, wird man folglich religiöse Fragen stellen müssen; nur so kann es zu
einem Kontaktaustausch in der religiösen Landschaft kommen und Antworten
auf die religiösen Gesetzmäßigkeiten gefunden werden. Das sich zur Konsistenz
neigende Ende der Skala stellt den Bereich der Verwirklichung bereits
beantworteter Fragen dar, die vermittelte Kontingenz also, in der sich eine der
ureigensten Möglichkeiten der Religion ausdrückt. Wenn das kontingente Feld
lebendige Religiosität erzeugt, dann ist das konsistende Feld für den Körper der
Religion verantwortlich und ermöglicht die Fortdauer religiöser Interaktion in
der Praxis. Daher ist es natürlich und geradezu unabdinglich, dass die vitale
Religiosität, die von der Kontingenz ermöglicht wird, von der stabilisierenden
Konsistenz gestärkt wird.
Konsistenz Kontingenz
Religiöse Routine vitale Religiosität
Die heutige Kirche sollte als Verschlüsselungsinstitution der Religiosität für die
Menschen in der Lage sein, sich auf der Skala kompetent zwischen der
„Schaffung von Kontingenz“ und der „Reduktion von Kontigenz“ zu bewegen.
Hier haben wir es mit einer Ambivalenz zu tun. Wenn die religiöse Institution
erfolgreich die Kontigenz verschlüsselt hat und sie in konsistente Rituale und
Dogmen oder stabile soziale Beziehungen verschoben hat, kann sich unter den
Gläubigen Gleichgültigkeit in evangelistischen Belangen breit machen, selbst
dort, wo der gläubige Pragmatismus einem in einer lebensbejahenden und
funktionierenden Gemeinde entgegentritt. Wenn aber nichts mehr den status quo
der Gemeinschaft der Gläubigen zu destabilisieren vermag, nicht einmal die
Beziehung zur Transzendenz, dann geht der Instinkt der „religiösen Suche“
verloren. Warnte doch bereits Jesus davor, „wer da sucht, seine Seele zu
erhalten, der wird sie verlieren“ (Luk 17,33). Die im evangelistischen Sinne
kraftvolle Kirche ist „ungebändigt“ und der Welt „gefährlich“ gerade aufgrund
ihres hohen Grades an Zufälligkeit; sie ist aus ihrem Elfenbeinturm
herabgestiegen und verletzlich geworden, sie ist innovativ, semper reformanda,
empfänglich für Neuerungen; schließlich ist sie in der Lage, kritisch und schnell
auf eine zunehmende Nivellierung der Kontingenz zu reagieren. „Wer da sucht,
seine Seele zu erhalten, der wird sie verlieren; und wer sie verlieren wird, der
wird ihr zum Leben helfen.”

5
Wörtlich: „transforming the indeterminate world … in a determinable world”; Niklas
Luhmann, Funktion der Religion (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977), 207.
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2. Gegen die religöse Routine


Die charismatische Religionskritik ähnelt der Religionskritik von Paul Tillich.
„Die Last, die Jesus von uns nehmen will, ist die Last der Religion,“ äußert
Tillich, denn das neue Sein in Jesus ist „jenseits von Gesetz und Religion“.6 Die
unglückselige religiöse Situation, von der Jesus gekommen ist, die Menschen zu
befreien, besteht nach Tillich nicht in der Lösung der Frage nach der Erlösung
der Menschen – wie Paulus etwa über die Schwäche des religiösen Gebots
ausführt (Röm 3,28; Gal 3,11) –, sondern liegt in der gläubigen Praxis. „Das
religiöse Gesetz verlangt vom Menschen, dass er bestimmte Vorstellungen und
Dogmen anerkennt, dass er an traditionelle Lehren glaubt, deren Annahme die
unerlässliche Bedingung für ihn ist, von Angst, Verzweiflung und Tod geheilt
zu werden. ... [Gesetze] verlangen Beteiligung am Ritual und Gottesdienst,
Kenntnis der religiösen Überlieferung, Teilnahme an Gebet, Sakrament und
Meditation. Sie verlangen moralische Gehorsam, Selbstzucht und Askese,
Hingabe an Menschen, Dinge und Pflichten weit über unsere Kraft, absolute
Selbstkontrolle und uneingeschränkte Vollkommenheit.” Nach Tillich kann sich
der Mensch von diesem „Joch“ nicht selbst befreien, so sehr er sich auch
bemüht. Nur Jesus kann uns vom Joch der Religion befreien, er findet den unter
der Religion leidenden Menschen, er bietet sich selbst anstelle der Religion,
anstelle der christlichen Religionslehre und Moral. Jesus wirft jede Religion
über den Haufen, er steht jenseits des Christentums und des Nicht-Christentums.
„Vergesst alle christliche Lehre, vergesst eure Gewissheit und eure Zweifel,
wenn ihr den Ruf Jesu hört. Vergesst alle christliche Moral, all eure Verdienste
und eure Fehler, wenn ihr zu ihm kommt. Nichts wird von euch verlangt, keine
Gottesvorstellung, nicht, dass ihr gut seid, nicht, dass ihr moralisch seid, nicht,
dass ihr weise seid, nicht, dass ihr religiös seid, nicht, dass ihr Christen seid.“7
Tillichs Religionskritik findet Wort für Wort und Symbol für Symbol seine
Entsprechung im charismatischen Selbstbild: ein „Nein“ zur Theologie und dem
Dogma, ein „Nein“ zur Liturgie und den Riten, ein „Nein“ zu den Gebeten oder
dem Heiligungsleben, wenn sie nicht vom charismatischen Enthusiasmus
getragen werden. Die charismatische Bewegung konfrontiert das traditionelle
kirchliche Leben dort, wo die Religion am sichtbarsten wird, im alltäglichen
Glaubensleben der Christen, und das traditionelle Christentum vermag diesem
heftigen Ansturm kaum standzuhalten. Die Predigten der Charismatiker
bombadieren den in religiöse Fesseln gebundenen Kirchengänger und die
Kirche, die mit der Verbreitung einer solchen Religiosität jede lebendige
Gotteserfahrung vereitelt.
Die charismatische Bewegung verkündigt eine neue Seinsfreiheit des
Menschen; sie dient dazu, sich als zu Gott gehörig zu begreifen. Wo die
charismatische Bewegung auf das traditionelle Christentum stößt, ist es die
Aufgabe der Charismatiker den Menschen „aus den schrecklichen Erfahrungen
christlicher Traditionen“ zu befreien, wie Ulf Ekman rät.8 Die Freiheit des

6
Paul Tillich, Die Last der Religion, in: In der Tiefe ist Wahrheit (Stuttgart:
Evangelisches Verlagswerk, 1952), 91ff.
7
Ibid.
8
Ulf Ekman, A Life of Victory (Sumrall Publishing, 2000).
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Gläubigen muss derart radikal sein, dass sie die persönliche Beziehung zu Gott
nicht stört. Tillich scheint Gleiches zu wollen, wenn er von dem neuen Sein
redet, das nur dadurch erreicht werden kann, dass man sich von allem „Alten“
befreit: „Das Christentum ist die Botschaft von der neuen Schöpfung, vom
neuen Sein...“. Das bedeutet aber nicht, dass der Glaube an Christus die
Fortdauer der einmal angenommenen Form des Christseins befördere. Ganz im
Gegenteil bedeutet es die Aufgabe früherer Antworten und die Erreichung einer
neuen Existenz: „Das Christentum verkündigt nicht das Christentum, sondern
eine Neue Wirklichkeit“.9
In der Theologie der charismatischen Bewegung ist der Heilige Geist die
Quelle des vitalen Glaubenslebens. Zu ihm gelangt, wer sich als Gläubiger aus
den Begrenzungen einer beengenden Religiosität befreit. Der Mensch kasteit
sich mit einer Religion der Schriftgelehrten und verliert mit ihr die Freude am
Leben. Für ein Leben im Geist ist jedoch unbegrenzte Freiheit in den
Beziehungen mit anderne Menschen und Dingen, ist Tatkraft und die
Bereitschaft nötig, dem Ruf des Augenblicks zu folgen. Die Religion, besonders
das Christentum mit seiner religiösen Form, entzieht dem Menschen seine
Freiheit und stürzt ihn in Verzweiflung und Selbstanschuldigung. Bei der
Lektüre charismatischer Schriften wird deutlich, dass auch Christus sich gegen
das herkömmliche religiöse Leben wandte. Rick Joyner erklärt das
folgendermaßen: Religion ist alles, was Christus nicht betrifft.10 Natürlich hat er
damit nicht versucht, den Religionsbegriff zu definieren, sondern den gläubigen
Menschen dazu anzuspornen, Privatheit in der Gotteserfahrung zuzulassen.

3. Für eine vitale Religiosität


Bei Paul Tillich finden sich „charismatische“ Äußerungen über den Heiligen
Geist: „Er ist die Macht in uns… Dennoch istdie Erfahrung des Heiligen Geistes
etwas Wirkliches, ebenso wirklich wie das Erlebnis der Liebe oder das Atmen
der Luft, die uns umgibt… Wir sollten uns der Gegenwart des göttlichen Geistes
in uns und um uns bewusst werden… Denn das ist es, was Heiliger Geist
bedeutet: „die Gegenwart Gottes in unserem Geist.“ Und er fährt fort: „Gewiss
kann die Macht des göttlichen Geistes Menschen in Extasen versetzen, wie sie
nur selten erlebt werden. Sie kann zur Selbsthingabe führen, derer die meisten
von uns nicht fähig sind; sie kann Einblicke in die Tiefe des Seins eröffnen, die
den meisten von uns verschlossen bleibt.“11
Tillich fügt hier der normativen Theologie nichts wesentlich Neues hinzu,
doch äußert er sich radikaler als es für die allgemeine theologische
Betrachtungsweise üblich ist. Der Übergang von Tillichs Äußerungen zur
Anschauung der charismatischen Bewegung kann genau dingfest gemacht
werden: Während für Tillich das Wirken des Heiligen Geistes im „Geist“ des

9
Paul Tillich, Die neue Wirklichkeit (München: Deutscher Taschenbuch, 1962), 85ff.
10
Rick Joyner, A Prophetic Vision for the 21st Century. A Spiritual Map to Help You
Navigate into the Future (Nashville: Thomas Nelson Publishers, 1999).
11
Paul Tillich, Die Gegenwart des Göttlichen Geistes, in: Das Ewige im Jetzt (Stuttgart:
Evangelisches Verlagswerk, 1964), 83f.
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Menschen lediglich ein Aspekt seiner Theologie des „neuen Menschen“


darstellt,12 ist nach der charismatischen Lehre die Einkehr des Heiligen Geistes
in den Menschen die einzige Möglichkeit des gläubigen Seins. Die
Herausbildung dieser Anschauung in der charismatischen Bewegung hat lange
Wurzeln. Die klassische Pfingstbewegung hat die Einkehr des Geistes und sein
Fortleben im Menschen Geisttaufe genannt.13 In der Frühzeit der
charismatischen Bewegung hoffte man auf die Aktivierung des Geistes im
individuellen Glauben und die Erneuerung der Kirche.14 Weiter dachte man
damals nicht.
Die Anschauung der heutigen Charismatiker geht in die Richtung einer
exklusiven Anthropologie. Charakteristisch für die 1980er Jahre ist die
Erklärung von Ulf Ekman, Begründer der schwedischen Livets Ord Gemeinden,
über das Wesen des Menschen, der aus dem Zustand der Sünde in Gott neu
geboren wird. Dieses Verständnis beruht auf der Lehre der Gottesgleichheit:
„Das bedeutet, dass in Dir eine Atombombe mit ebenderselben Kraft steckt, die
Gott selbst hat. Du hast Zugang zu der ganzen Macht, die Gottes ist.“ „Gott lebt
in Dir... Gott gab Dir seine eigene Natur, Persönlichkeit und Eigenarg... Er gab
Dir seine Gesundheit, seine Reichtümer, Weisheit und Salbung.“ Ekman
argumentiert hier ählich wie die Theologen des Word of Life, von denen
Kenneth Hagin, Kenneth und Gloria Copeland am bekanntesten sind. Die
späteren charismatischen Autoren wie Mark Brazee oder John Bevere15 drückten
sich weniger radikal aus, doch ist die Konzeption von der Gottesgleichheit des
Menschen und von dem Gebrauch der den Menschen gegebenen Kraft weiterhin
präsent.16
Die Vorstellung von einem vitalen Glaubensleben ist verbunden mit der
aktiven Teilnahme des Gläubigen am göttlichen Wirkungsprozess. Der Gläubige
ist zugleich Schöpfer; er befiehlt und richtet die schöpferische Energie, die ihm
aus der Verbindung mit Gott zufließt. Auf sein Wort hin können Dinge
geschehen. Sein Glaube ist wirkungsmächtig und bezwingt Krankheiten; er
besteht den allgemeinen Problemen der Gesellschaft zum Trotz. Der Gläubige
lebt aus seinem Glauben und glaubt ihm. Die Seligkeit, die der Gläubige für sich
wählt, ist ganz individuell; sie kennt keine kollektive Dimension, doch muss die
Entscheidung zur Annahme oder Ablehnung der Seligkeit ganz für sich allein
vom „Geist“ des Menschen getroffen werden.17

4. Was ist die Frage?


Es ist nicht erkennbar, ob Tillich die Ausführungen charismatischer Autoren
beeinflusst hat, wenn man sich allein auf Ähnlichkeiten zum Thema „Geist der
12
Apg 17,28.
13
Die Lehre von der Geisttaufe ist schon seit Charles Finney (1792-1875) vorhanden.
14
Congar, Der Heilige Geist, 269.
15
http://www.woctulsa.org; http://www.messengerinternational.org
16
Charakteristisch sind Titel wie: Imitate God and Get Results (Bill Winston); How to
Live and Not Die (Norvel Heyes); Getting Your Faith off the Ground (Jose Zayas).
17
Gloria Copeland, Blessed Beyond Measure. Experience the Extraordinary Goodness of
God (Tulsa, Okla.: Harrison House, 2004).
Die Selbstsuche des charismatischen Menschenbildes 127

Religion“ und „Geist“ beschränkt. Doch finden sich Parallelen zwischen Tillichs
theologischer Methode und jener der charismatischen Bewegungung auf einer
anderen Ebene. Tillich wählte die Methode der ontologischen Frage: die
ontologische Frage nach dem Nicht-Sein und der Kraft des Seins führt zur Frage
nach Gott, da ohne sie die von der Theologie gegebene Anwort – Gott –
unverständlich ist.18 Nach der sogenannten Korrelationsmethode will Tillich
sicher gehen, dass bevor man Gott den Menschen als Antwort anbietet, die
Frage nach dem Sein gestellt wird.
Was aber ist die Frage, auf die die charismatische Bewegung antwortet? Die
charismatische Bewegung beschäftigt sich mit eben dieser Frage nach dem Sein,
doch wird sie entsprechend den menschlichen Bedürfnissen gestellt. Wenn ein
Anhänger der charismatischen Bewegung seine religiöse Qualität durch direkte
Anschauung unter Beweis stellen muss, ist für ihn von entscheidender
Bedeutung, ob er in Gott ist oder nicht.
Tillich fordert, dass vor der Antwort die Frage stehen muss. Das
charismatische Menschenbild nimmt Gestalt an, wo gefragt wird: „Wer bin
ich?“, worauf die Antwort gegeben wird: „Ich bin in Dir!“ Der Unterschied
zwischen Tillich und der charismatischen Bewegung ist, dass bei Tillich Gott
den Menschen auf einer existenziellen Gratwanderung begegnet, während er für
die Charismatiker als Ratgeber im alltäglichen Leben präsent ist. Ekman
bekräftigt: „Sobald Du dich in einer Situation befindest, ist es Gott, der sich in
dieser Situation befindet.“19
Das charismatische Menschenbild befindet sich an einer Wegscheide. Ein
Weg führt in Richtung New Age. Parallelen zum New Age gibt es von Anfang
an: sind beide Spiritualitätsformen doch als Gegegenkulturen gegen die moderne
westliche Kultur in den1960er Jahren entstanden. Dabei muss bedacht werden,
dass die monistische Ineinswerdung mit Gott im New Age aus den östlichen
Religionen übernommen wurde. Hier wird das menschliche Ich nicht verachtet.
Versucht man nicht, sich seines Ichs wie einer Illusion zu befreien, sondern
vielmehr, sich selbst zu finden und zu vervollkomnen.20 Einer der bekanntesten
Führer des New Age, Eileen Caddy, soll gesagt haben: „Lass Dein wirkliches
Sein wachsen und sich ausdehnen, bis Du zu dem wirst, was Du eigentlich bist.
Ich bin in dir und Du bist in mir. Du wirst in der Lage sein, alles zu tun und rein
gar nichts ist unmöglich, denn das ist mein Sein, das in Dir und durch Dich
wirkt. Wenn man sein Sein erkennt und annimmt, ist alles möglich.“21 Diese
deutlich dem New Age entstammende Aussage der charismatischen Bewegung
untermauert die Ideologie des positiven Denkens. Das Buch von Napoleon Hill
„Think and Grow Rich“ wurde von Geschäftsleuten wie von christlichen
Führungspersönlichkeiten zitiert.22 Diese Denkweise fällt zusammen mit der

18
Paul Tillich, Systematic Theology, vol I (New York: Harper and Row, 1967), 62.
19
Ekman, A Life of Victory.
20
Lea Altnurme, Kristlusest oma usuni (Tartu: Tartu Ülikooli kirjastus, 2006), 46.
21
Eileen Caddy, Opening Doors Within (Findhorn Press, 1986).
22
Napoleon Hill, Think and Grow Rich (New York: Hawthorn Books, 1966).
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Sehnsucht der charismatischen Bewegung, den Glauben mit Hilfe positiver


Verbalisierung mächtig werden zu lassen.23
Der andere Weg ist, sich von dem monistische vorgestellten Weltbild zu
verabschieden und zu einer monotheistischen Weltsicht zurückzukehren. Auch
im monotheistischen Paradigma kommt es zu intimen Zwiegesprächen und einer
Vereinigung von Mensch und Gott, wie es die alten und neuen christlichen
Mystiker praktizierten.24 Aus dem Blick der christlichen Mystik, besteht die
Gefahr nicht, dass die charismatische Projektion des Gottesbildes auf den
Menschen die Autonomie Gottes oder des Menschen verringern könnte. Gott
und Mensch sind miteinander im Dialog genau so, wie zwei Subjekte über ihre
Sinne miteinander in Kontakt treten. In dieser Erfahrung kann die Frage, ob „ich
in Dir” bin, positiv beantwortet werden, was den Gläubigen mit der Gegenwart
und Macht Gottes beglückt.

5. Selbstfindung zwischen religilöser Routine und vitaler Religiosität


Das Christentum zeichnete sich von Anbeginn an durch seine Suche nach dem
vollen, authentischen Leben aus. Jesu Kritik an den erstarrten religiösen
Verhältnissen traf die Pharisäer hart, und Paulus kämpfte für ein gesetzfreies
Evangelium. Die Unmittelbarkeit des geistlichen Leben wurde auch von den
Wüstenheiligen gesucht, ihr haben die Reformatoren den Weg bereitet,
Erweckungsbewegungen haben dafür die Kirchen erschüttert. Auch die Pfingst-
und die charismatische Bewegung können in der Gesamtschau der
Kirchengeschichte innovativ genannt werden.
Das charismatische Christentum strebt nach mehr Kontingenz. Damit wird
die Religionskritik an anderen Kirchen und die eigene Geistesfreiheit sich selbst
gegenüber gerechtfertigt. Die Beziehung zu Gott soll möglichst frei sein,
fürchtet man doch, die Frische des Glaubens zu verlieren, wenn der Rhythmus
des Religionslebens konsistentiell definiert wird. Inwieweit sind die Hoffnungen
und Befürchtungen der charismatischen Bewegung gerechtfertigt?
Es steht außer Frage, dass eine vitale Religiosität nicht allein auf Kritik
basieren kann. Die trennende Gegenüberstellung von vitaler Religiosität und
religiöser Routine ist übereilt, bewegt sich die religiöse Dynamik doch frei
zwischen Konsistenz und Kontingenz. Eine übergroße Kontingenz der Religion
braucht als Gegengewicht Konsistenz, und das ist auch bei den charismatische
Bewegungen nicht anders. Die Abschaffung aller formalen Merkmale bei der
Definition der Religion und ihre vollständige Reduktion auf funktionale
Merkmale, würde den Religionsbegriff entwerten.

23
Z. B. Bill Johnson, The Supernatural Power of a Transformed Mind (Shippensburg,
Pa: Destiny Image Publishers, 2006).
24
Vgl. Gott in uns. Hinführung zu Johannes Tauler (Leipzig: St. Benno, 2006). Die Nähe
der Mystik hat auch neuere charismatische Literatur bemerkt, wie z. B. Todd Bentley
von der Lakeland Erweckungsbewegung in Florida: The Reality of the Supernatural
World. Exploring Heavenly Realms and Prophetic Experiences (Shippensburg, Pa:
Destiny Image, 2008); oder John Crowder von The New Mystics Ministries: Miracle
Workers, Reformers, and the New Mystics: How to Become Part of the Supernatural
Generation (Shippensburg, Pa: Destiny Image Publishers, 2006).
Die Selbstsuche des charismatischen Menschenbildes 129

Man kann auch die religiöse Routine und die vitale Religiosität auf der Skala
zwischen Konsistenz und Kontingenz verorten. Mit welchen Fragen
beschäftigen sie sich? Eine kontingente Religiosität tut neue Möglichkeiten auf,
gibt jedoch keine Antworten. Wenn dem charismatischen Gläubigen eine
undefinierte, mystische Beziehung zu Gott und das Gefühl ausreicht, in Gott zu
sein, so ist das Ziel erreicht. Doch auch die konsistente Routine bietet dem
charismatischen Gläubigen eine Reihe praktischer Möglichkeiten und weckt
hohe Erwartungen. Die Realisierung dieser Möglichkeiten erscheint sicher,
würde doch im gegenläufigen Fall an der Glaubenskraft des charismatischen
Gläubigen gezweifelt werden. Das Verlangen nach Antworten ist so groß, dass
die hinter ihnen stehende Frage ausgeblendet wird.
Religiöse Routine vitale Religiosität
Antworten ohne Fragen Fragen ohne Antworten
Die charismatische Bewegung bewegt sich frei zwischen religiöser Routine und
vitaler Religiosität. Das zeigt sich in der charismatischen Praxis. Todd Bentleys
Massenveranstaltungen in Florida sind ein schlagendes Beispiel, wie kam es hier
zu Wundern und Spontanheilungen.25 Nach Bentley bewirkte das die
Anwesenheit von Jesus Christus. „Im Namen Jesus bist Du gesund geworden“,
ist seine Botschaft. Das ist eine rein deklarative Aussage, die es mit Sinn zu
füllen gilt. Hier geht es nicht mehr um Kontingenz, sondern um eine, dem
Geschehnis genau entsprechende Darstellung. Es ist nicht wichtig, welcher Art
die Sorgen sind, wie sie enstanden und was sie bewirkten; im Namen Jesu lösen
sich Sorgen und Nöte auf. Hier wird eine Anwort gegeben, ohne auf die Fragen
des Individuums zu hören. Wenn aber die realen Nöte nicht verschwinden, rettet
sich Hagin mit einer geschickten Kehrtwende vor peinlichen Enthüllungen:
Gottes Realität ist nicht von dieser Welt; wenn die Heilung nicht im Körper des
Menschen stattgefunden hat, so hat sie in der geistigen Sphäre stattgefunden, der
einzig wahren Realität.26 Mit dieser Erklärung dreht sich Hagin zur Kontingenz.
Für einen charismatischen Menschen ist die Konstruktion eines Selbstbildes
eine schwierige Aufgabe. Auf der einen Seite steht die Hoffnung auf eine
besondere Beziehung mit Gott, auf der anderen Seite muss diese aber stets
kontrolliert werden, damit die wunderähnlichen Ereignisse im Leben auch ohne
Widerstände eintreten können.
Die religiöse Spiritualität ändert sich im Lauf der Zeit. In den vergangenen
50 Jahren wurde die charismatische Bewegung mit der Pfingstbewegung und
ihren Nachfolgern in Verbindung gebracht. Doch pendelt das Charismatikertum
in weitem Bogen zwischen Kontingenz und Konsistens und zeigt sich in der
einen oder anderen Form auch in vielen kirchenähnlichen oder interreligiösen
Verbünden, die nicht der charismatischen Bewegung zugehören. Die direkte
Beziehung zu Gott, das emotionale, sponante und enthusiastische Christentum
ist eine natürliche Begleiterscheinung gleich welcher religiösen Ausrichtung, es
ist das erklärte Ziel von ihnen allen.

25
Siehe: http://www.youtube.com/watch?v=7uaTwUyq0s0
26
Kenneth Hagin, Biblical Ways to Receive Healing (Tulsa, Okla: Faith Library
Publications, 2003).

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