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Nach der „Encyclopedia of Pentecostal and Charismatic Christianity“ aus dem Jahr
2005 waren 2000 27 % aller Christen, annähernd 537 Millionen, Anhänger der
Reformbewegung (davon 66 Millionen Pfingstler, 176 Millionen Charismatiker und 295
Millionen Neocharismatiker).
2
C. Peter Wagner, The Third Wave of the Holy Spirit (Ann Arbor: Vine Books, 1988).
122 Ingmar Kurg
5
Wörtlich: „transforming the indeterminate world … in a determinable world”; Niklas
Luhmann, Funktion der Religion (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977), 207.
124 Ingmar Kurg
6
Paul Tillich, Die Last der Religion, in: In der Tiefe ist Wahrheit (Stuttgart:
Evangelisches Verlagswerk, 1952), 91ff.
7
Ibid.
8
Ulf Ekman, A Life of Victory (Sumrall Publishing, 2000).
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Gläubigen muss derart radikal sein, dass sie die persönliche Beziehung zu Gott
nicht stört. Tillich scheint Gleiches zu wollen, wenn er von dem neuen Sein
redet, das nur dadurch erreicht werden kann, dass man sich von allem „Alten“
befreit: „Das Christentum ist die Botschaft von der neuen Schöpfung, vom
neuen Sein...“. Das bedeutet aber nicht, dass der Glaube an Christus die
Fortdauer der einmal angenommenen Form des Christseins befördere. Ganz im
Gegenteil bedeutet es die Aufgabe früherer Antworten und die Erreichung einer
neuen Existenz: „Das Christentum verkündigt nicht das Christentum, sondern
eine Neue Wirklichkeit“.9
In der Theologie der charismatischen Bewegung ist der Heilige Geist die
Quelle des vitalen Glaubenslebens. Zu ihm gelangt, wer sich als Gläubiger aus
den Begrenzungen einer beengenden Religiosität befreit. Der Mensch kasteit
sich mit einer Religion der Schriftgelehrten und verliert mit ihr die Freude am
Leben. Für ein Leben im Geist ist jedoch unbegrenzte Freiheit in den
Beziehungen mit anderne Menschen und Dingen, ist Tatkraft und die
Bereitschaft nötig, dem Ruf des Augenblicks zu folgen. Die Religion, besonders
das Christentum mit seiner religiösen Form, entzieht dem Menschen seine
Freiheit und stürzt ihn in Verzweiflung und Selbstanschuldigung. Bei der
Lektüre charismatischer Schriften wird deutlich, dass auch Christus sich gegen
das herkömmliche religiöse Leben wandte. Rick Joyner erklärt das
folgendermaßen: Religion ist alles, was Christus nicht betrifft.10 Natürlich hat er
damit nicht versucht, den Religionsbegriff zu definieren, sondern den gläubigen
Menschen dazu anzuspornen, Privatheit in der Gotteserfahrung zuzulassen.
9
Paul Tillich, Die neue Wirklichkeit (München: Deutscher Taschenbuch, 1962), 85ff.
10
Rick Joyner, A Prophetic Vision for the 21st Century. A Spiritual Map to Help You
Navigate into the Future (Nashville: Thomas Nelson Publishers, 1999).
11
Paul Tillich, Die Gegenwart des Göttlichen Geistes, in: Das Ewige im Jetzt (Stuttgart:
Evangelisches Verlagswerk, 1964), 83f.
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Religion“ und „Geist“ beschränkt. Doch finden sich Parallelen zwischen Tillichs
theologischer Methode und jener der charismatischen Bewegungung auf einer
anderen Ebene. Tillich wählte die Methode der ontologischen Frage: die
ontologische Frage nach dem Nicht-Sein und der Kraft des Seins führt zur Frage
nach Gott, da ohne sie die von der Theologie gegebene Anwort – Gott –
unverständlich ist.18 Nach der sogenannten Korrelationsmethode will Tillich
sicher gehen, dass bevor man Gott den Menschen als Antwort anbietet, die
Frage nach dem Sein gestellt wird.
Was aber ist die Frage, auf die die charismatische Bewegung antwortet? Die
charismatische Bewegung beschäftigt sich mit eben dieser Frage nach dem Sein,
doch wird sie entsprechend den menschlichen Bedürfnissen gestellt. Wenn ein
Anhänger der charismatischen Bewegung seine religiöse Qualität durch direkte
Anschauung unter Beweis stellen muss, ist für ihn von entscheidender
Bedeutung, ob er in Gott ist oder nicht.
Tillich fordert, dass vor der Antwort die Frage stehen muss. Das
charismatische Menschenbild nimmt Gestalt an, wo gefragt wird: „Wer bin
ich?“, worauf die Antwort gegeben wird: „Ich bin in Dir!“ Der Unterschied
zwischen Tillich und der charismatischen Bewegung ist, dass bei Tillich Gott
den Menschen auf einer existenziellen Gratwanderung begegnet, während er für
die Charismatiker als Ratgeber im alltäglichen Leben präsent ist. Ekman
bekräftigt: „Sobald Du dich in einer Situation befindest, ist es Gott, der sich in
dieser Situation befindet.“19
Das charismatische Menschenbild befindet sich an einer Wegscheide. Ein
Weg führt in Richtung New Age. Parallelen zum New Age gibt es von Anfang
an: sind beide Spiritualitätsformen doch als Gegegenkulturen gegen die moderne
westliche Kultur in den1960er Jahren entstanden. Dabei muss bedacht werden,
dass die monistische Ineinswerdung mit Gott im New Age aus den östlichen
Religionen übernommen wurde. Hier wird das menschliche Ich nicht verachtet.
Versucht man nicht, sich seines Ichs wie einer Illusion zu befreien, sondern
vielmehr, sich selbst zu finden und zu vervollkomnen.20 Einer der bekanntesten
Führer des New Age, Eileen Caddy, soll gesagt haben: „Lass Dein wirkliches
Sein wachsen und sich ausdehnen, bis Du zu dem wirst, was Du eigentlich bist.
Ich bin in dir und Du bist in mir. Du wirst in der Lage sein, alles zu tun und rein
gar nichts ist unmöglich, denn das ist mein Sein, das in Dir und durch Dich
wirkt. Wenn man sein Sein erkennt und annimmt, ist alles möglich.“21 Diese
deutlich dem New Age entstammende Aussage der charismatischen Bewegung
untermauert die Ideologie des positiven Denkens. Das Buch von Napoleon Hill
„Think and Grow Rich“ wurde von Geschäftsleuten wie von christlichen
Führungspersönlichkeiten zitiert.22 Diese Denkweise fällt zusammen mit der
18
Paul Tillich, Systematic Theology, vol I (New York: Harper and Row, 1967), 62.
19
Ekman, A Life of Victory.
20
Lea Altnurme, Kristlusest oma usuni (Tartu: Tartu Ülikooli kirjastus, 2006), 46.
21
Eileen Caddy, Opening Doors Within (Findhorn Press, 1986).
22
Napoleon Hill, Think and Grow Rich (New York: Hawthorn Books, 1966).
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23
Z. B. Bill Johnson, The Supernatural Power of a Transformed Mind (Shippensburg,
Pa: Destiny Image Publishers, 2006).
24
Vgl. Gott in uns. Hinführung zu Johannes Tauler (Leipzig: St. Benno, 2006). Die Nähe
der Mystik hat auch neuere charismatische Literatur bemerkt, wie z. B. Todd Bentley
von der Lakeland Erweckungsbewegung in Florida: The Reality of the Supernatural
World. Exploring Heavenly Realms and Prophetic Experiences (Shippensburg, Pa:
Destiny Image, 2008); oder John Crowder von The New Mystics Ministries: Miracle
Workers, Reformers, and the New Mystics: How to Become Part of the Supernatural
Generation (Shippensburg, Pa: Destiny Image Publishers, 2006).
Die Selbstsuche des charismatischen Menschenbildes 129
Man kann auch die religiöse Routine und die vitale Religiosität auf der Skala
zwischen Konsistenz und Kontingenz verorten. Mit welchen Fragen
beschäftigen sie sich? Eine kontingente Religiosität tut neue Möglichkeiten auf,
gibt jedoch keine Antworten. Wenn dem charismatischen Gläubigen eine
undefinierte, mystische Beziehung zu Gott und das Gefühl ausreicht, in Gott zu
sein, so ist das Ziel erreicht. Doch auch die konsistente Routine bietet dem
charismatischen Gläubigen eine Reihe praktischer Möglichkeiten und weckt
hohe Erwartungen. Die Realisierung dieser Möglichkeiten erscheint sicher,
würde doch im gegenläufigen Fall an der Glaubenskraft des charismatischen
Gläubigen gezweifelt werden. Das Verlangen nach Antworten ist so groß, dass
die hinter ihnen stehende Frage ausgeblendet wird.
Religiöse Routine vitale Religiosität
Antworten ohne Fragen Fragen ohne Antworten
Die charismatische Bewegung bewegt sich frei zwischen religiöser Routine und
vitaler Religiosität. Das zeigt sich in der charismatischen Praxis. Todd Bentleys
Massenveranstaltungen in Florida sind ein schlagendes Beispiel, wie kam es hier
zu Wundern und Spontanheilungen.25 Nach Bentley bewirkte das die
Anwesenheit von Jesus Christus. „Im Namen Jesus bist Du gesund geworden“,
ist seine Botschaft. Das ist eine rein deklarative Aussage, die es mit Sinn zu
füllen gilt. Hier geht es nicht mehr um Kontingenz, sondern um eine, dem
Geschehnis genau entsprechende Darstellung. Es ist nicht wichtig, welcher Art
die Sorgen sind, wie sie enstanden und was sie bewirkten; im Namen Jesu lösen
sich Sorgen und Nöte auf. Hier wird eine Anwort gegeben, ohne auf die Fragen
des Individuums zu hören. Wenn aber die realen Nöte nicht verschwinden, rettet
sich Hagin mit einer geschickten Kehrtwende vor peinlichen Enthüllungen:
Gottes Realität ist nicht von dieser Welt; wenn die Heilung nicht im Körper des
Menschen stattgefunden hat, so hat sie in der geistigen Sphäre stattgefunden, der
einzig wahren Realität.26 Mit dieser Erklärung dreht sich Hagin zur Kontingenz.
Für einen charismatischen Menschen ist die Konstruktion eines Selbstbildes
eine schwierige Aufgabe. Auf der einen Seite steht die Hoffnung auf eine
besondere Beziehung mit Gott, auf der anderen Seite muss diese aber stets
kontrolliert werden, damit die wunderähnlichen Ereignisse im Leben auch ohne
Widerstände eintreten können.
Die religiöse Spiritualität ändert sich im Lauf der Zeit. In den vergangenen
50 Jahren wurde die charismatische Bewegung mit der Pfingstbewegung und
ihren Nachfolgern in Verbindung gebracht. Doch pendelt das Charismatikertum
in weitem Bogen zwischen Kontingenz und Konsistens und zeigt sich in der
einen oder anderen Form auch in vielen kirchenähnlichen oder interreligiösen
Verbünden, die nicht der charismatischen Bewegung zugehören. Die direkte
Beziehung zu Gott, das emotionale, sponante und enthusiastische Christentum
ist eine natürliche Begleiterscheinung gleich welcher religiösen Ausrichtung, es
ist das erklärte Ziel von ihnen allen.
25
Siehe: http://www.youtube.com/watch?v=7uaTwUyq0s0
26
Kenneth Hagin, Biblical Ways to Receive Healing (Tulsa, Okla: Faith Library
Publications, 2003).