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Dieses Buch gibt einen Überblick über die Entwicklung der Sozialtheorie seit 1945 und ihren heutigen

Stand, wie er so bisher nicht


vorliegt. Als Sozialtheorie wird dabei der Kern sozialwissenschaftlicher Theoriebildung bezeichnet, der sich von politischer Theorie und
Kulturtheorie deutlich abheben läßt. Nach einer ausführlichen Behandlung des Versuchs von Talcott Parsons, das Erbe der Klassiker
Max Weber und Émile Durkheim zu einer Synthese zusammenzuführen, werden die produktiven Widerstände gegen diesen Versuch (wie
Rational Choice und Symbolischer Interaktionismus) dargestellt. Danach geht es um die großen neuen Syntheseentwürfe seit etwa 1970
(Habermas, Luhmann, Giddens), aber auch um die kritische Fortführung der Modernisierungstheorie (Eisenstadt), den Strukturalismus,
Poststrukturalismus, Antistrukturalismus (Touraine), Feminismus, neue Diagnosen einer Krise der Moderne, den Neopragmatismus und
die wichtigsten Aufgaben gegenwärtiger Arbeit. Aus dem akademischen Unterricht in Deutschland und den USA hervorgegangen,
behält das Buch den Duktus von Vorlesungen bei. Es ist damit auch als Einführung für Studierende und fachfremde Leser geeignet. Es
liegt nun in einer aktualisierten und mit einem neuen Vorwort versehenen Ausgabe vor.

Hans Joas ist Max-Weber-Professor und Leiter des Max-Weber-Kollegs für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien an der
Universität Erfurt sowie Professor für Soziologie und Social Thought an der University of Chicago.
Wolfgang Knöbl ist Professor für Soziologie an der Universität Göttingen.

Von ihnen ist im Suhrkamp Verlag außerdem erschienen: Kriegsverdrängung. Ein Problem in der Geschichte der Sozialtheorie (stw
1912)
Hans Joas
Wolfgang Knöbl
Sozialtheorie
Zwanzig einführende
Vorlesungen

Aktualisierte, mit einem


neuen Vorwort versehene Ausgabe

Suhrkamp
Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013


© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2004, Berlin 2011 (Vorwort)
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und
Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des
Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
eISBN 978-3-518-73212-0

www.suhrkamp.de
3Inhalt

Vorwort zur dritten Auflage 5


Einleitung 7
Erste Vorlesung Was ist Theorie? 13
Der klassische Versuch zur Synthese:
Zweite Vorlesung 39
Talcott Parsons
Parsons auf dem Weg zum
Dritte Vorlesung 72
normativistischen Funktionalismus
Vierte Vorlesung Parsons und die Ausarbeitung des normativistischen Funktionalismus 117
Fünfte Vorlesung Neo-Utilitarismus 143
Interpretative Ansätze (1):
Sechste Vorlesung 183
Symbolischer Interaktionismus
Interpretative Ansätze (2):
Siebte Vorlesung 220
Ethnomethodologie
Achte Vorlesung Konfliktsoziologie/-theorie 251
Habermas und die Kritische
Neunte Vorlesung 284
Theorie
Habermas’ ›Theorie des
Zehnte Vorlesung 315
kommunikativen Handelns‹
Niklas Luhmanns Radikalisierung
Elfte Vorlesung 351
des Funktionalismus
Anthony Giddens’ Theorie der
Zwölfte Vorlesung 393
Strukturierung und die neuere britische Machtsoziologie
Die Erneuerung des Parsonianismus
Dreizehnte Vorlesung 430
und der Modernisierungstheorie
4Vierzehnte Vorlesung Strukturalismus und Poststrukturalismus 474
Zwischen Strukturalismus und Theorie
Fünfzehnte Vorlesung der Praxis – die Kultursoziologie 518
Pierre Bourdieus
Französische Anti-Strukturalisten
Sechzehnte Vorlesung (Cornelius Castoriadis, Alain Touraine, 558
Paul Ricœur)
Siebzehnte Vorlesung Feministische Sozialtheorien 598
Modernitätskrise? Neue Diagnosen
(Ulrich Beck, Zygmunt Bauman,
Achtzehnte Vorlesung Robert Bellah und die Debatte 639
zwischen Liberalen und
Kommunitaristen)
Neunzehnte Vorlesung Neopragmatismus 687
Zwanzigste Vorlesung Die gegenwärtige Lage 726
Literaturverzeichnis 767
Sachregister 802
Namenregister 812
5Vorwort zur dritten Auflage

Mit großer Freude nehmen wir zur Kenntnis, daß der Suhrkamp Verlag sich entschlossen hat, eine
revidierte Neuauflage unseres Buches Sozialtheorie herauszubringen. Wir fassen dies als ein
Anzeichen dafür auf, daß das Buch sein Publikum in Deutschland gefunden hat.
Die neue Auflage ist in drei Hinsichten verändert. Wir haben erstens an einigen Stellen, die sich als
mißverständlich erwiesen, unsere Formulierungen präzisiert. Wir haben zweitens der traurigen Pflicht
Genüge getan, bei allen seit dem ersten Erscheinen unseres Buches verstorbenen, in diesem Buch
behandelten Autoren das Sterbejahr einzutragen. Und wir haben drittens im Schlußkapitel eine
beträchtliche Erweiterung vorgenommen, nämlich eine lange Passage zu John W. Meyer und seiner
Stanford-Schule eingefügt (diese Erweiterung ist in der 2009 bei Cambridge University Press
erschienenen englischsprachigen Ausgabe bereits enthalten). Zweifellos wären viele zusätzliche
Erweiterungen denkbar. In fast jeder bisher erschienenen Rezension wird der Wunsch nach
zusätzlichen Darstellungen oder anderen Gewichtungen artikuliert. Wir bleiben aber dabei, die
Akzente wohlerwogen gesetzt zu haben; an eine breitere Aktualisierung des Schlußkapitels ist deshalb
erst in einigen Jahren zu denken.

Hans Joas/Wolfgang Knöbl


67Einleitung

Dieses Buch geht auf Vorlesungen zurück, die einer der beiden Autoren (Hans Joas) ursprünglich für
eine Gastprofessur an der University of Chicago 1985 konzipiert und seither regelmäßig gehalten hat.
Zuerst waren Ende der 1980er Jahre Studierende der Universität Erlangen-Nürnberg die Zuhörer,
dann mehr als ein Jahrzehnt lang Studierende der Freien Universität Berlin, außerdem in einzelnen
Semestern Studierende verschiedener amerikanischer und europäischer Universitäten. Der jüngere
Autor (Wolfgang Knöbl) war in verschiedenen Stufen seiner akademischen Karriere an der
Durchführung und ständigen Verbesserung beteiligt: als Student in Erlangen, als wissenschaftlicher
Mitarbeiter und Assistent in Berlin und New York, nun als Kollege an der Universität Göttingen.
Es bedarf keiner Erwähnung, daß sich die Konzeption dieser Vorlesungen im Laufe der Zeit
beträchtlich veränderte – und dies nicht nur wegen der selbstverständlichen Notwendigkeit ständiger
Aktualisierung, sondern auch in Reaktion auf die Bedürfnisse und Verständnisprobleme der Zuhörer
sowie die sich fortentwickelnden eigenen Theorieprojekte der Autoren. Es scheint uns jetzt aber ein
Punkt erreicht, an dem wir uns unserer Konzeption und unseres Überblicks so sicher sind, daß wir es
wagen dürfen, die Grenzen des Hörsaals zu überschreiten und an ein Lesepublikum heranzutreten. Wir
hoffen, mit diesem Überblick den Bedürfnissen der Studierenden sozialwissenschaftlicher Fächer
ebenso zu genügen wie denen fachfremder Leser, die gerne verstehen möchten, was sich seit etwa
dem Ende des Zweiten Weltkriegs international auf dem Gebiet einer Theorie des Sozialen getan hat
und tut.
Wir haben zum Zwecke der Verständlichkeit den Duktus mündlicher Vorlesungen in der Schriftform
weitgehend beibehalten. Unser Vorbild waren dabei so ausgezeichnete philosophische Werke wie
Ernst Tugendhats Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie und Manfred
Franks Vorlesungen Was ist Neostrukturalismus?. Auch auf einem Themengebiet, das dem unseren
näher liegt, gibt es ein vergleichbares Werk: Jeffrey Alexanders Twenty Lectures: Sociological
Theory since World War II. Wir folgen Alexanders Vorbild nicht nur in der Zahl der Vorlesungen,
sondern auch in der Vorschaltung eines wissenschaftstheoretischen ersten Kapitels. Wir 8stimmen mit
Alexander zudem darin überein, daß sich die Theorie-Entwicklung nach 1945 in drei große Phasen
einteilen läßt: zunächst die Zeit einer Dominanz des Werks von Talcott Parsons und einer heute als
konventionell empfundenen Modernisierungstheorie, dann die Phase eines Verlusts dieser Dominanz
und des Zerfalls in konkurrierende, sich teilweise sogar heftig befehdende und dabei auch politisch-
moralisch argumentierende »Ansätze«, vornehmlich Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre,
und seither die Entstehung eines – wie Alexander sagt – »new theoretical movement«, d. h. das
Aufsprießen ehrgeiziger Theoriesynthesen, teils auf dem Boden der konkurrierenden Ansätze, teils
aus neuartigen Motiven.
Hier endet aber unsere Übereinstimmung mit Alexander. Es ist deshalb auch nur in den ersten acht
Vorlesungen eine thematische Überlappung mit seinem Buch vorhanden. Alexanders Werk ist nämlich
völlig amerika-zentrisch und auf eine quasi-historische Rechtfertigung seines eigenen neo-
parsonianischen Syntheseversuchs ausgerichtet (zur Kritik vgl. Joas, Pragmatismus und
Gesellschaftstheorie, S. 223-249, v. a. S. 246-248). Da sich gerade auf theoretischem Gebiet aber
seit 1970 die Gewichte sehr stark in Richtung Europa verlagert haben und die ehrgeizigsten und
fruchtbarsten Versuche aus Deutschland (Habermas, Luhmann), Frankreich (Touraine, Bourdieu) und
England (Giddens, Mann) kamen, war Alexanders Darstellung schon in ihrem Erscheinungsjahr
(1987) ungenügend und ist es jetzt erst recht. Wir haben uns allerdings darum bemüht, in unserem
Buch die umgekehrte Einseitigkeit zu vermeiden. Deshalb finden sich hier die Selbstrevisionen und
Weiterentwicklungen der Modernisierungstheorie und des Parsonianismus ebenso behandelt wie die
Renaissance des Pragmatismus und die Entstehung des Kommunitarismus – alles zu beträchtlichen
Teilen intellektuelle Produkte Nordamerikas.
Der Anspruch auf Vollständigkeit, Proportionalität und Fairneß, der in diesen Bemerkungen zum
Ausdruck kommt, weist schon darauf hin, daß wir sehr wohl den Einsatz dieses Buches in der
akademischen Lehre mit im Auge haben. Dennoch ist dieses Buch kein Lehrbuch im strengen Sinn. Es
präsentiert nicht gesichertes Wissen in neutraler Form. Wie in der Philosophie gibt es in der Theorie
der Sozialwissenschaften, insbesondere wenn sie über das Empirisch-Explanatorische hinausgeht, in
dem ja auch Gewißheitsansprüche oft frustriert werden, keine Gewißheit. Und hinsichtlich der
Neu9tralität kann auf diesem Gebiet nur gelten, daß fair und umfassend argumentiert wird, nicht aber,
daß auf eine eigene theoretische Perspektive verzichtet würde. Wir scheuen deshalb Kritik und
Wertung keineswegs. Im Gegenteil verstehen wir dieses Buch durchaus als Teil unserer Arbeit an
einer gegenwartsadäquaten umfassenden Sozialtheorie – aber eben als umfassende Verständigung
über die vorhandenen Leistungen, Probleme und Aufgaben in diesem Zusammenhang.
Wir haben dieses Buch nicht so benannt wie die zugrundeliegenden Vorlesungen meist hießen,
nämlich »Moderne soziologische Theorie«. Dieser Titel paßte zwar ins Curriculum soziologischer
Studiengänge, traf aber von jeher nicht die Einbeziehung von Gedankengängen und Wissensbeständen
(wie Strukturalismus und Pragmatismus), die im wesentlichen außerhalb der Soziologie beheimatet
sind. Das Kriterium für die Berücksichtigung war immer schon ein anderes als das der disziplinären
Zugehörigkeit, nämlich das eines Beitrags zu einer Theorie des Sozialen. Da im Deutschen – im
Unterschied zum Englischen – der Begriff der »Sozialtheorie« aber ein Neologismus ist, bedarf
unsere Entscheidung der Begründung.
Eine Begriffsgeschichte der Verwendung von »social theory« im Englischen liegt uns nicht vor.
Spätestens Ende des 19. Jahrhunderts scheint der Begriff schon ohne weitere Rechtfertigung gebraucht
worden zu sein. Er ist dabei einerseits, ähnlich wie der Begriff »social thought«, ohne genauere
Bestimmung für ein Gebiet des Denkens verwendet worden, das später die Soziologie für sich
reklamierte. Somit bezeichnete er verallgemeinerte Aussagen über soziale Zusammenhänge bzw. über
Regelmäßigkeiten des sozialen Lebens. Er hat andererseits aber als Selbst- und Fremdbezeichnung
eine Art des Denkens benannt, das den »Individualismus« attackierte oder doch über diesen
hinausgehen wollte. Damit war »social theory« gegen zentrale Prämissen ökonomischen, politischen
und psychologischen Denkens in der angelsächsischen Welt gerichtet; impliziert war hier eine
spezifische theoretische Sichtweise auf kulturelle und soziale Prozesse, die freilich nicht ein für
allemal geklärt war, sondern über die es immer auch theoretische Auseinandersetzungen gab. Da ein
solcher individualismuskritischer Impuls, mithin eine je spezifische Herangehensweise an soziale
Sachverhalte, auch die Disziplin Soziologie im Prozeß ihrer Institutionalisierung wesentlich prägte,
10scheint man zunächst die Spannung zwischen den beiden Verwendungsweisen – auf der einen Seite
ein Theoriebegriff, der auf empirische Gegenstände abzielte, auf der anderen Seite einer, der die
adäquate Zugangsform zum Phänomen des Sozialen zum Thema hatte – nicht stark empfunden zu
haben.
Mit der Etablierung des Fachs und vor allem mit seiner stärkeren Professionalisierung mußte diese
Spannung aber immer klarer erkennbar werden. Von der professionell betriebenen und empirisch
ausgerichteten Soziologie aus gesehen meinte Theorie vornehmlich »empirische Theorie«, d. h. eine
hohe Generalisierungsebene explanatorischer Aussagen (vgl. die Erste Vorlesung zur näheren
Erläuterung). Normative Stellungnahmen und orientierende Sinndeutungen sollten aus einem solchen
als eng zu bezeichnenden Theorieverständnis eher herausgedrängt werden. Das Unternehmen
Theorie, nun in einem weiteren Sinn begriffen, kam aber sogar zur Zeit der Dominanz solcher
Auffassungen nie zum Stillstand. Zumindest im Sinne einer Hypothesenquelle und zum Zweck einer
historischen Selbstvergewisserung der Identität des Faches wurde eine solcherart verstandene
Theorie stets als nützlich erachtet. Und genau einem solchen Theorieverständnis werden sich unsere
Vorlesungen dann auch widmen. Dafür gibt es gute Gründe.
Denn nicht nur hat sich das Verständnis der Rolle von Theorie in den Wissenschaften generell in
den letzten Jahrzehnten beträchtlich verändert (auch dazu näher die folgende Erste Vorlesung). Es
entstanden auch in benachbarten Feldern neue Konkurrenten. So hat sich der Bereich »politische
Theorie«, in dem normative Fragen des menschlichen Zusammenlebens in wohlgeordneten, guten und
gerechten Gemeinwesen erörtert werden, fest etabliert; Arbeiten auf diesem Gebiet können häufig mit
beträchtlicher öffentlicher Aufmerksamkeit rechnen. Und aus den Kulturwissenschaften ist in
allerdings sehr vagem Umriß eine »Kulturtheorie« zumindest als Diskursfeld erwachsen, in der
ebenfalls Fragen von beträchtlichem normativen Interesse – etwa zu den Geschlechterbeziehungen
oder zu internationalen kulturellen Beziehungen – einen Ort finden. Eine sich auf ihren rein empirisch-
explanatorischen Charakter versteifende soziologische Theorie muß gegenüber diesen Konkurrenten
ins Hintertreffen geraten.
Dem gilt es entgegenzuarbeiten, weil sich ansonsten zwei negative Konsequenzen bemerkbar
machen. Zum einen führte ein zu enges 11Theorieverständnis schon im Fach Soziologie selbst zu einer
Isolierung der theoretischen und der empirischen Arbeit voneinander, die beiden Seiten nur schaden
und den Zusammenhalt des Faches sogar gefährden kann. Zum anderen geriete damit das enorme
Potential, das die soziologische Tradition seit Max Weber, Emile Durkheim und George Herbert
Mead enthält, in der breiteren Öffentlichkeit und im Gespräch der Fakultäten miteinander ins Abseits,
statt im Sinne einer überwölbenden Konzeption, die auch politische und kulturelle Dimensionen
einbezieht, ernst genommen zu werden. Mit der Bezeichnung »Sozialtheorie« wird sicher ein solcher
überwölbender Anspruch erhoben – was nicht heißt, daß unser Buch diesen völlig realisiert. Es geht
uns hier mehr um die Blickrichtung, nicht um ein abschließendes Wort.
Wegen der prekären Stellung der »Sozialtheorie« im Geflecht der akademischen Disziplinen
werden neuerdings Stimmen laut, die dafür eintreten, diese als eigene Disziplin zu
institutionalisieren; die intellektuelle Reife habe diese Disziplin in statu nascendi bereits (vgl. hierzu
das Plädoyer von Stephen Turner, »The Maturity of Social Theory«). Diese Absicht teilen wir nicht,
im Gegenteil. Eine solche Trennung würde unseres Erachtens die wechselseitige Ignoranz von
Sozialtheorie und sozialwissenschaftlicher Empirie, die wir als Gefahr empfinden, geradezu
zementieren. Ohne empirische Fundierung und Kontrolle ginge aber eben das verloren, was die
Sozialtheorie von der Philosophie einerseits, dem bloßen Meinungsaustausch andererseits
unterscheidet.
Wir haben uns für den Begriff »Sozialtheorie« auch deshalb entschieden, weil uns der mehr im
Deutschen als im Englischen übliche Begriff der »Gesellschaftstheorie« Unbehagen bereitet. Mit
diesem Begriff wurden oft gegenüber der soziologischen Theorie eher linke, »kritische« normative
Dimensionen annonciert. Doch ist, wie etwa in unserer Zwölften Vorlesung ausführlicher argumentiert
werden wird, der Begriff der Gesellschaft untergründig so sehr mit dem einer nationalstaatlich
verfaßten und territorial klar umgrenzten Ordnung verknüpft, daß er immer schon voraussetzungsreich
war und heute, da diese Voraussetzungen offen zutage liegen, endgültig problematisch geworden ist.
Auch das Verständnis nationalstaatlich verfaßter Gesellschaften muß wie das aller Gesellschaften in
einer Theorie des Sozialen allererst fundiert werden.
Unser Buch beschäftigt sich im wesentlichen mit der Entwick12lung der Sozialtheorie seit dem
Ende des Zweiten Weltkriegs. Unser Ausgangspunkt ist dabei ein Werk, das wenige Jahre vor diesem
großen historischen Einschnitt erschien, Talcott Parsons’ The Structure of Social Action von 1937.
Auf die Klassiker der soziologischen Tradition, deren großes Potential wir gerade hervorgehoben
haben, gehen wir damit nicht ausführlich ein. Wer diese kennenlernen will, muß zu anderen Büchern
greifen. Es wird aber deutlich werden, daß ihre Gedankengänge deshalb in diesem Buch keineswegs
ignoriert werden. Sie sind vielmehr ständig präsent: in Parsons’ Werk, das ja eben eine Synthese der
soziologischen Klassiker zu sein beanspruchte, und als selektiver Gesichtspunkt bei allen folgenden
Autoren. Die Klassiker heißen eben deshalb Klassiker, weil sie sich kontinuierlich als fruchtbar, ja
unerschöpflich erwiesen haben. Wer sie oder weitere Elemente ihres Werks für unausgeschöpft hält,
darf aber nicht einfach auf sie zurückgreifen; er muß den historischen Abstand selbst reflektieren und
ihr Potential in die heutige Theoriearbeit einführen. Aus der Arbeit an gegenwärtigen Problemlagen
und aus immer neuen schöpferischen Rückgriffen auf ältere Theorien erwächst die Dynamik der
»Sozialtheorie«, für die wir mit diesem Buch gerne Begeisterung wecken würden.
Wir bedanken uns sehr herzlich bei allen Freunden, Kollegen und Mitarbeitern, die eine vorläufige
Fassung des Manuskripts gelesen und kritisch kommentiert haben. Wir haben versucht, nach Kräften
den Verbesserungsvorschlägen zu entsprechen. Der Dank gilt Frank Adloff, Jens Beckert, Sibylle
Kalupner, Christoph Liell, Nora Lindner, Katja Mertin, Gabriele Mordt, Florian von Oertzen, Hans-
Joachim Schubert, Peter Wagner, Harald Wenzel, Patrick Wöhrle und Heinrich Yberg. Die größten
Verdienste erwarb sich Bettina Hollstein (Erfurt), die in außerordentlicher Präzision innere
Unstimmigkeiten aufspürte und durch ihre Vorschläge zu deren Überwindung beitrug.
13Erste Vorlesung
Was ist Theorie?

Wenn wir unsere Vorlesungsreihe zur modernen Sozialtheorie mit dem Thema »Was ist Theorie?«
beginnen, so mag das auf Verwunderung stoßen. Schließlich haben ja nicht wenige von Ihnen
Veranstaltungen zu den Klassikern der soziologischen Theorie – etwa zu Emile Durkheim, George
Herbert Mead oder Max Weber – besucht, ohne daß die Frage nach dem »Wesen« von Theorie zum
Thema gemacht worden wäre. Zu Recht wurde dort davon ausgegangen, daß Sie bereits ein intuitives
Verständnis von »Theorie« haben oder dieses bald entwickeln werden. Jedenfalls dürften Sie
spätestens jetzt in der Lage sein, die bei Weber, Mead oder Durkheim doch so unterschiedlichen
Herangehensweisen an die soziale Wirklichkeit zu charakterisieren: Weber hat bekanntlich den Staat
oder politische Phänomene unter völlig anderen Aspekten beschrieben als Durkheim, dieser hatte also
eine ganz andere theoretische Auffassung vom Wesen des Politischen als jener, obwohl sich beide
bei ihren soziologischen Beschreibungen auf den gleichen empirischen Tatbestand bezogen; Mead
hatte offensichtlich eine deutlich andere Auffassung vom sozialen Handeln als Weber, obwohl beide
zum Teil ähnliche Begriffe gebrauchten usw. usf. Alle diese Autoren machten also unterschiedliche
Theorien (Plural!) zur Grundlage ihrer soziologischen Beschreibungen. Ist man damit aber nicht
schon der Lösung der Frage nach dem »Wesen« von Theorie einen entscheidenden Schritt
nähergekommen? Wenn man nämlich all diese Theorien miteinander vergleichen, ihre
Gemeinsamkeiten herausarbeiten, also den kleinsten gemeinsamen Nenner finden würde, wäre man
dann – so die Vermutung – nicht schon bei einem adäquaten Verständnis von Theorie (Singular!)
angelangt? Durch einen solchen Vergleich hätte man ja quasi die formalen Bausteine dessen, was eine
(soziologische) Theorie ausmacht, was Sozialtheorie tatsächlich ist!
Leider erweist sich aber die hiermit anvisierte Lösung des Problems als nicht sehr fruchtbar, denn
die Soziologie ist seit ihrer Gründung im 19. Jahrhundert eine wissenschaftliche Disziplin, in der es
nie zu einem völlig stabilen Konsens über Gegenstand und Aufgaben des Fachs gekommen ist. Auch
über die zentralen Begriffe war man sich nie wirklich einig, so daß es nicht verwundern kann,
14wenn auch über das jeweils »richtige« Verständnis von Theorie heftig gestritten wurde. Kontrovers
war etwa das Verhältnis zwischen Theorie und empirischer Forschung, weil bestimmte
Sozialwissenschaftler annahmen, daß uns erst die intensive empirische Arbeit den Weg zu einer
vernünftigen sozialwissenschaftlichen Theorie ebnen würde, wohingegen andere behaupteten, daß
empirische Forschung ohne vorhergehende, umfassende theoretische Reflexionen bestenfalls sinnlose,
schlimmstenfalls aber falsche Resultate liefern würde. Höchst unterschiedliche Auffassungen
bestanden auch hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Theorien und Weltbildern: Während die
einen betonten, daß soziologische Theorie bzw. Sozialtheorie eine rein wissenschaftliche
Angelegenheit sei, fern von politisch-religiösen Weltanschauungen, wurde von anderen
hervorgehoben, daß sich die Geistes- und Sozialwissenschaften nie vollständig von derartigen
Überzeugungen lösen könnten, daß das Bild einer »reinen« Wissenschaft etwa der Soziologie also
eine Schimäre sei. Eng damit zusammen hing auch der Streit über das Verhältnis zwischen Theorie
und normativen bzw. moralischen Fragen. Während die einen meinten, daß sich Wissenschaft
prinzipiell jeglicher normativen, politischen, moralischen etc. Aussage enthalten solle, plädierten
andere für eine gesellschaftspolitisch engagierte Wissenschaft, die sich vor »Sollens-Fragen« (Wie
sollen Menschen handeln? Wie soll eine gute oder gerechte Gesellschaft aufgebaut sein? etc.) nicht
»drücken« dürfe. Die Wissenschaft und ganz besonders die Sozialwissenschaft dürfe nach dieser
Auffassung nicht so tun, als ob sie nur Forschungsresultate zur Verfügung stellte, für deren
Verwendung sie dann keine Verantwortung trüge: weil sozialwissenschaftliche Forschung durchaus
konsequenzenreich sei, könne es der Disziplin nicht gleichgültig sein, was mit den von ihr
produzierten Ergebnissen geschieht. Schließlich ist auch das Verhältnis von Theorie und
Alltagswissen heftig diskutiert worden. Während die einen die generelle Überlegenheit der
Wissenschaft, auch der Sozialwissenschaften, über das Alltagswissen postulierten, schien es anderen
so, als ob die Geistes- und Sozialwissenschaften zu sehr in jenem Alltag verwurzelt und von diesem
abhängig seien, um einen derart anmaßenden Anspruch erheben zu können. Der Theoriebegriff selbst
ist also – wie Sie sehen – höchst umstritten, und insofern würde dann der vorhin angedeutete Versuch,
aus den vorhandenen Theorien der soziologischen Klassiker den kleinsten gemeinsamen Nenner
her15auszuarbeiten, ins Leere laufen: Die Frage »Was ist Theorie?« wäre damit nicht zu beantworten,
denn eine Entscheidung in diesen eben kurz dargestellten Debatten würden Sie auch dadurch nicht
fällen können.
Aber muß man überhaupt so genau ausdiskutieren und klären, was »Theorie« eigentlich ist?
Schließlich haben Sie ja auch die soziologischen Klassiker »verstanden«, haben Sie vielleicht
diesbezügliche Seminare besucht, ohne den Theoriebegriff explizit hinterfragen zu müssen. Warum
also erst jetzt – bei der modernen soziologischen Theorie bzw. Sozialtheorie – diese
Grundsatzdebatte über das »Wesen« von Theorie? Zwei Antworten lassen sich darauf geben. Die
erste Antwort ist dabei historischer bzw. disziplingeschichtlicher Natur: Als Weber, Durkheim,
Simmel u. a., die sogenannten Gründerväter, die Disziplin »Soziologie« ins Leben riefen, war dies
oftmals ein Kampf von einzelnen um die wissenschaftliche Reputation des Faches, war es eine
Auseinandersetzung mit anderen Disziplinen, die der Soziologie ihre Legitimität bestreiten wollten.
Natürlich stritten auch Soziologen untereinander – und dies sicherlich nicht zu wenig –, doch war
dies nichts im Vergleich zu der Situation, als die Soziologie dann ab Mitte des 20. Jahrhunderts
endgültig an den Universitäten etabliert war. Die moderne Soziologie ist wie die modernen
Sozialwissenschaften insgesamt mittlerweile durch eine Vielzahl konkurrierender Theorierichtungen
charakterisiert – nicht umsonst benötigen wir noch weitere neunzehn Vorlesungen, um Ihnen diese
Vielfalt nahezubringen –, und in dieser massiven Konkurrenz der Theorien spielen
wissenschaftstheoretische Fragen eine erhebliche Rolle, Fragen also zu den Voraussetzungen und
Charakteristika von Wissenschaft und wissenschaftlicher Theoriebildung. Der Streit zwischen den
sozialwissenschaftlichen Theorierichtungen war und ist oftmals einer um das richtige Verständnis von
Theorie; insofern benötigen Sie zumindest einen gewissen Einblick in diese Fragen, um begreifen zu
können, wie und warum sich die Theorieentwicklung in den modernen Sozialwissenschaften so und
nicht anders vollzogen hat.
Die zweite Antwort ist disziplingeschichtlicher und pädagogischer Natur zugleich. Die modernen
Sozialwissenschaften sind nicht nur durch eine große Zahl konkurrierender Theorien gekennzeichnet,
sondern mittlerweile gleichzeitig auch durch eine äußerst schädliche Trennung zwischen Theorie und
Empirie. Es hat sich quasi eine Art 16Arbeitsteilung ergeben zwischen denjenigen, die sich als
Theoretiker begreifen, und denjenigen, die sich als Empiriker oder empirische Sozialforscher
verstehen. Beide Gruppierungen nehmen aufgrund dieser strikten Arbeitsteilung wechselseitig ihre
jeweiligen Ergebnisse kaum mehr wahr. Doch sind Theorie und Empirie nicht wirklich voneinander
zu trennen, und deshalb soll mit dieser Vorlesung über das »Wesen« von Theorie Gelegenheit gegeben
werden, darüber nachzudenken, was Theorie ist, welchen Stellenwert sie für die empirische
Forschung hat und wie die Empirie die Theorie ständig mitprägt. Denn den begeisterten Theoretikern
unter Ihnen – falls es sie denn geben sollte – wollen wir mit dieser Vorlesung mitteilen, daß
Sozialtheorien nie frei sind von empirischen Beobachtungen oder Annahmen und deshalb der
geringschätzige Blick auf die »fliegenbeinzählenden« Empiriker verfehlt ist. Den jetzigen oder
zukünftigen begeisterten Empirikern und (womöglich) Theorieverächtern unter Ihnen wollen wir mit
dieser Vorlesung nahebringen, daß empirische Beobachtungen – und seien sie noch so banal – nie frei
von theoretischen Aussagen sind, weshalb es nicht schaden kann, sich auch immer wieder mit Theorie
zu beschäftigen. Dies gilt auch deshalb, weil trotz des allgemeinen Geredes über den Einflußverlust
der Sozialwissenschaften nicht vergessen werden darf, daß sozialwissenschaftliche Theorien nach
wie vor enorm wirkungsmächtig sind; denken Sie an die Marxsche Theorie in der Vergangenheit,
denken Sie an die durchaus konsequenzenreichen Debatten über Globalisierung und
Individualisierung in den Feuilletons und den Politikseiten der Zeitungen der Gegenwart. Theorien
prägen nicht nur die Instrumente der empirischen Sozialforschung, sie prägen auch die zu
untersuchende soziale Welt, und schon allein deshalb wird man auch als empirisch ausgerichteter
Sozialwissenschaftler an diesen Theorien nicht einfach mit dem Argument vorbeigehen können, daß
man sich aller theoretischen Spekulationen enthalten und lieber der (empirischen) Wirklichkeit
zuwenden wolle. Nochmals: Theorie und Empirie sind zu eng miteinander verknüpft, als daß sich
eine solche Haltung rechtfertigen ließe.

Wenn es aber nun so ist, daß sich in den Sozialwissenschaften – wie oben beschrieben – nie ein
unumstrittenes Verständnis von Theorie herauskristallisiert hat, wenn das Verhältnis zwischen Theorie
und Empirie, zwischen Theorie und Weltanschauungen, zwischen Theo17rie und normativen Fragen
und zwischen Theorie und Alltagswissen nie definitiv geklärt werden konnte, ist dann die Frage nach
dem »Wesen« der Theorie nicht sinnlos? Die Antwort ist: »Nein!« Zu Resignation und Zynismus
besteht kein Anlaß, und dies aus zweierlei Gründen. Denn zum einen werden Sie sehr schnell
erkennen, daß – sollten Sie etwa Soziologie studieren – die Soziologie nicht die einzige Disziplin ist,
in der die Frage nach dem Status von Theorie diskutiert wird. Auch die anderen Sozialwissenschaften
– von der Politikwissenschaft über die Geschichtswissenschaft bis zur Volkswirtschaftslehre – stehen
vor ähnlichen Problemen, selbst wenn man dort nicht unbedingt an so prominenter Stelle über
Grundsatzfragen streitet. Und wie Sie auch noch sehen werden, sind offensichtlich auch die
anscheinend so unantastbaren Naturwissenschaften vor derartigen Auseinandersetzungen nicht gefeit.
Zum anderen läßt sich in den historisch zum Teil lange zurückreichenden Kontroversen über den
Status von Theorie durchaus ein konsensfähiges, allerdings auch mehrstufiges Verständnis
herausarbeiten. Aber dazu ist es notwendig, genau zu untersuchen, wo und bis zu welcher Stufe
Konsens über das »Wesen« von Theorie bestand, an welcher Stelle und warum dieser Konsens
aufgebrochen wurde und wo in der Geschichte dieser Kontroversen immer wieder versucht worden
ist, den ehemals aufgekündigten Konsens wiederherzustellen. Damit sind wir beim Thema!

Auf einer sehr basalen Ebene besteht zwischen unterschiedlichen Theorierichtungen und Disziplinen
zumindest darüber Konsens, daß Theorien als generalisierende, d. h. verallgemeinernde Aussagen zu
begreifen sind. Oder umgekehrt – und vielleicht verständlicher – läßt sich sagen: Jede
generalisierende Aussage ist bereits eine Theorie. Derartige Theorien verwenden wir gerade auch im
Alltagsleben – und zwar ständig! Wann immer wir den Plural benutzen, ohne tatsächlich vorher
geprüft zu haben, ob unsere Verallgemeinerung wirklich auf alle Fälle zutrifft, benutzen wir
gleichzeitig eine Theorie: »Alle Deutschen sind Nazis«, »Männer sind Machos«, »Die Mehrheit der
Soziologen redet unverständliches Zeug« etc. sind derartige Theorien. Aus unserer Beobachtung, daß
einige Deutsche tatsächlich faschistisches Gedankengut haben, daß viele Männer sich tatsächlich
frauenfeindlich verhalten und daß manche Soziologen kaum in der Lage sind, allgemeinverständliches
Deutsch zu sprechen, haben wir hier gefolgert, daß alle Deutschen so sind, daß 18alle Männer sich so
verhalten, daß die Mehrheit der Soziologen so redet. Überprüft haben wir dies natürlich nicht, wir
kennen nicht alle Deutschen, wir kennen nicht alle Männer, und auch die Mehrheit der Soziologen
haben wir nie kennengelernt. Wenn wir also derart abstrakte Aussagen wie die obigen machen, dann
tun wir nichts anderes, als eine Theorie zu benutzen. Man könnte auch sagen, daß wir damit eine
Hypothese aufstellen. Tatsächlich hat der amerikanische Logiker, Zeichentheoretiker und Philosoph
Charles Sanders Peirce (1839-1914) eindrucksvoll gezeigt, daß unsere ganze Alltagswahrnehmung
und unser Handeln auf einem einzigen Geflecht von Hypothesen (er sagt dazu: Abduktionen) beruhen,
ohne die wir überhaupt nicht sinnvoll leben könnten:
Wenn ich an diesem herrlichen Frühlingsmorgen aus dem Fenster schaue, sehe ich eine Azalee in voller Blüte. Doch nein! Das sehe ich
gar nicht; nur handelt es sich um die einzige Möglichkeit, das, was ich sehe, zu beschreiben.
Meine Beschreibung ist eine Behauptung, ein Satz, ein Faktum; was ich jedoch wahrnehme, ist weder eine Behauptung noch ein Satz
noch gar ein Faktum, sondern lediglich ein Bild, das ich mit Hilfe einer faktischen Aussage teilweise faßbar mache. Diese Aussage ist
abstrakt, während das von mir Gesehene konkret ist. Ich vollziehe eine Abduktion, sobald ich das von mir Gesehene in einem Satz
ausdrücke. In Wahrheit stellt das gesamte Gefüge unseres Wissens nicht mehr als eine dichtverwobene Schicht von reinen Hypothesen
dar (…). Nicht den kleinsten Schritt können wir in unserer Wissenserweiterung über das Stadium des leeren Starrens hinaus tun, ohne
dabei bei jedem Schritt eine Abduktion zu vollziehen. (Zit. nach Nagl, Charles Sanders Peirce, S. 108)

Theorie ist also so notwendig wie unvermeidlich, denn ohne sie wäre kein Lernen, kein konsistentes
Handeln möglich; ohne Generalisierungen und Abstraktionen wäre uns die Welt nur als ein wirrer
Flickenteppich einzelner unverbundener Erfahrungen und Sinneseindrücke zugänglich. Freilich reden
wir im Alltagsleben dabei nicht von »Theorien«; wir gebrauchen sie, ohne daß uns dies überhaupt
bewußt ist. Wissenschaftliches Arbeiten und Denken funktioniert im Prinzip aber nicht anders,
lediglich mit dem Unterschied, daß hier die Bildung und Verwendung von Theorien natürlich ganz
gezielt erfolgt: Für einzelne Probleme werden spezielle Hypothesen oder Theorien aufgestellt, wobei
man dann versucht, mehrere solcher speziellen Theorien zu einer allgemeineren Theorie
zusammenzufüh19ren, welche die jeweiligen Generalisierungen konsistent miteinander verbindet.
Aber insgesamt ist das Aufstellen von Theorien, das Aufstellen generalisierender Aussagen
wesentlicher Bestandteil des Alltagslebens wie der Wissenschaft, weil wir nur so an die
»Wirklichkeit« herankommen. Der österreichisch-englische Philosoph Karl Raimund Popper (1902-
1994) hat dies elegant, aber auch nicht sehr viel anders als Charles Sanders Peirce, folgendermaßen
ausgedrückt:
Die Theorie ist das Netz, das wir auswerfen, um »die Welt« einzufangen – sie zu rationalisieren, zu erklären und zu beherrschen. Wir
arbeiten daran, die Maschen des Netzes immer enger zu machen. (Popper, Logik der Forschung, S. 31)

Dieses Verständnis von Theorie, ihre Funktion im Hinblick auf Generalisierung, ist heute kaum mehr
umstritten.

Die ersten Kontroversen begannen historisch auf der nächsten Ebene; sie sind mittlerweile aber
ebenfalls überwunden, weil sich hier – wie gleich gezeigt werden wird – eine der Positionen als
siegreich und überlegen herausgestellt hat.
Wissenschaftliches Arbeiten hat ja nicht die Produktion von Generalisierungen irgendwelcher Art
zum Ziel. Auch Vorurteile sind Theorien: es sind ja ebenfalls generalisierende Aussagen, wenn auch
höchst problematische oder falsche, wie sich an den obigen Beispielen zum Verhalten von Deutschen,
Männern und Soziologen unschwer erkennen läßt. Wissenschaftler beanspruchen aber nun, eben nicht
Vorurteile zu produzieren, sondern aus Einzelfällen zutreffende Generalisierungen zu formulieren (die
Schlußfolgerung vom Einzelfall bzw. von Einzelfällen auf eine allgemeine Aussage wird in der
Wissenschaftstheorie auch als »Induktion« bezeichnet) bzw. aus Theorien Einzelfälle zutreffend zu
erklären (»Deduktion« – die Ableitung von Einzelfällen aus einer generalisierten Aussage). Um aber
von »zutreffend« oder »nicht-zutreffend« reden zu können, benötigt man einen Maßstab – und der kann
nur so aussehen: Theorien sind lediglich dann wissenschaftlich (und eben nicht vorurteilsbeladen),
wenn sie einer Überprüfung an der Wirklichkeit standhalten oder sich zumindest an der Wirklichkeit
überprüfen lassen.
Hier ist nun ein erster Punkt, an dem – auch historisch gesehen – der Konsens zu brechen begann.
Denn es gab unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie denn diese Überprüfung an der Wirklichkeit
20tatsächlich auszusehen habe. Naheliegend ist etwa, das wissenschaftliche Ideal in der Verifikation
zu sehen. Tatsächlich war dies lange Zeit, nämlich bis ins beginnende 20. Jahrhundert, die gängige
Vorstellung von Wissenschaftlern und Wissenschaftstheoretikern. Wenn sich theoretische Annahmen
an der Wirklichkeit zu bewähren haben, dann dürfte es am besten sein – so die damalige Vermutung –,
zunächst alle vorurteilsbehafteten Alltagswissensbestände aus der Wissenschaft auszuscheiden, um
auf absolut sicherem Boden das Gebäude des wissenschaftlichen Wissens neu aufzubauen: Genaue
Beobachtungen würden, so die Auffassung, zu verallgemeinernden Sätzen und Aussagen führen, die –
durch immer weitere Einzelbeobachtungen und Experimente bestätigt – immer sicherer würden. Diese
mithin verifizierten, also in ihrem Wahrheitsanspruch bestätigten Sätze und Aussagen würden dann
miteinander kombiniert werden, so daß langsam, aber eben auch kontinuierlich immer weitere
Bausteine verifizierten Wissens akkumuliert und integriert werden könnten. Dies würde dann zu
Gewißheit, zu – wie es hieß – »positivem« Wissen führen, was einer der Gründe dafür ist, Vertreter
dieser Wissenschaftsauffassung »Positivisten« zu nennen.
Das Problem, das sich für diese positivistische Position ergibt und auf das in aller Deutlichkeit als
erster der schon genannte Karl Raimund Popper aufmerksam gemacht hat, besteht darin, daß
Verifikation schon deshalb kein guter Maßstab für die Wissenschaftlichkeit von Aussagen sein kann,
weil eine Verifikation der meisten theoretischen Aussagen tatsächlich unmöglich ist. Wir können
nämlich – so Popper in seinem 1934 erstmals erschienenen und äußerst berühmt gewordenen Buch
Logik der Forschung – bei den meisten wissenschaftlichen Problemen nicht sicher sein, ob ein
verallgemeinernder Satz, also eine Theorie oder Hypothese, auf wirklich alle Fälle zutrifft: Die
astrophysikalische Aussage »Alle Planeten bewegen sich in ellipsenförmigen Bahnen um ihre
Sonnen« läßt sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht endgültig verifizieren, weil wir vermutlich nie
alle Sonnensysteme unseres Weltalls kennenlernen werden und deshalb vermutlich auch nie mit letzter
Gewißheit werden bestätigen können, daß sich jeder einzelne Planet tatsächlich ellipsenförmig – und
nicht anders – um seine Sonne dreht. Ähnlich verhält es sich natürlich mit dem Satz »Alle Schwäne
sind weiß«. Selbst wenn Sie schon tausende Schwäne gesichtet haben und alle tatsächlich weiß
waren, können Sie letztlich nie sicher sein, daß nicht irgend21wann doch ein schwarzer, grüner,
blauer etc. Schwan auftaucht. Allaussagen lassen sich in den allermeisten Fällen also nicht bestätigen
oder verifizieren. Oder anders formuliert: Induktive Argumente (d. h. die Schlußfolgerung von
Einzelfällen auf eine Gesamtheit) sind keine logisch gültigen oder wirklich zwingenden Argumente;
Induktion läßt sich rein logisch nicht rechtfertigen, weil ja eben nie ausgeschlossen werden kann, daß
irgendwann die eine Beobachtung auftaucht, die den für bestätigt gehaltenen allgemeinen Satz dann
doch widerlegt. Der Versuch der Positivisten, Gesetze auf elementare Beobachtungen zurückzuführen
bzw. aus elementaren Beobachtungen Gesetze abzuleiten und diese zu verifizieren, ist also zum
Scheitern verurteilt.
Genau dies war die Kritik Poppers, weswegen er dann – und dafür wurde er berühmt – ein anderes
Kriterium vorschlug, um die empirischen Wissenschaften von anderen Wissensformen – vom
Alltagswissen und der Metaphysik – abzugrenzen. »Falsifikation« war seine Devise, insofern er
betonte: »Ein empirisch-wissenschaftliches System muß an der Erfahrung scheitern können.« (Popper,
Logik der Forschung, S. 15) Poppers Position war also, daß verallgemeinernde Aussagen bzw.
wissenschaftliche Theorien zwar nicht letztgültig beweisbar oder verifizierbar seien, daß sie aber
intersubjektiv, d. h. innerhalb der Forschergemeinschaft, an der Wirklichkeit überprüft, daß sie
zurückgewiesen oder eben: falsifiziert werden können. Dies hört sich vielleicht trivial an, ist aber
tatsächlich ein raffiniertes Argument zur Begründung von »empirischer Wissenschaft« und zur
Abgrenzung von anderen Wissensformen. Denn mit seinem Hinweis auf die prinzipielle
Überprüfbarkeit und Falsifizierbarkeit wissenschaftlicher Sätze schließt Popper zum einen
sogenannte universelle »Es-gibt-Sätze« aus dem Bereich der Wissenschaft aus. Sätze wie »Es gibt
UFOs«, »Es gibt Gott«, »Es gibt Ameisen, die so groß sind wie Elefanten« lassen sich nicht
falsifizieren: Ich kann keinen Gegenbeweis antreten, daß es Gott oder UFOs oder elefantengroße
Ameisen nicht gibt, denn zumindest theoretisch wäre es denkbar, daß bei genügend langer Suche
irgendwann und irgendwo doch ein UFO, Gott oder elefantengroße Ameisen gesichtet würden.
Popper bestreitet nicht, daß derartige Aussagen sinnvoll sein können: Es ist ja offensichtlich, daß der
Satz »Es gibt Gott« für viele Menschen höchst bedeutsam und damit sinnvoll ist. Popper meint
lediglich, daß es wenig fruchtbar sei, in einen wissenschaftlichen Streit über die 22Existenz Gottes
einzutreten, eben weil ein diesbezüglicher Satz nicht endgültig widerlegt werden kann.
Zum anderen gestattet nun das Kriterium der Falsifikation, sogenannte Allsätze (»Alle Deutschen
sind Nazis«) zu überprüfen und tatsächlich zu falsifizieren, eben weil schon eine einzige Beobachtung
– die Beobachtung eines Deutschen, der kein Nazi ist – die Behauptung bzw. Theorie zum Einsturz
bringen kann. Für Popper ist also das Falsifikationskriterium sowohl der einzig fruchtbare als auch
der effizienteste Maßstab, um wissenschaftliche Aussagen von anderen zu trennen.
Damit hält nun aber eine ganz andere Dynamik in die wissenschaftliche Arbeit Einzug, als dies
noch beim alten »positivistischen« Wissenschaftsverständnis und dem dort zu findenden
Verifikationsprinzip der Fall war. Poppers über den Positivismus obsiegende Position begreift
Wissenschaft nämlich nicht als eine langsame Akkumulation des Wissens; ihr zufolge bedeutet
Wissenschaft vielmehr die ständige Überprüfung und Infragestellung unserer theoretischen
Annahmen, indem wir sie eben der Gefahr der Falsifikation aussetzen. Nur die besten Theorien
überleben in diesem (darwinistischen) Kampf der Theorien untereinander. Wissenschaft – so sagt es
Popper – ist deshalb auch kein Zustand: Sie kann weder absolutes Wissen, Wahrheit oder auch nur
Wahrscheinlichkeit erreichen; Wissenschaft ist vielmehr ein ständiges Fortschreiten, ein »Raten« im
Hinblick auf theoretische Aussagen, die ständig überprüft werden. Theorien lassen sich deshalb auch
immer nur als »vorläufig bewährt« bezeichnen:
Über den Grad der Bewährung entscheidet also nicht so sehr die Anzahl der bewährenden Fälle als vielmehr die Strenge der Prüfung,
der der betreffende Satz unterworfen werden kann und unterworfen wurde. (Popper, a.a.O., S. 213)

Vom Wissenschaftler wird deshalb nun nicht so sehr die Distanzierung vom alltagsweltlichen Wissen
und seinen Vorurteilen gefordert, sondern die Bereitschaft, seine eigene(n) Theorie(n) immer wieder
mit Blick auf mögliche falsifizierende Hinweise zu untersuchen, um eben alle nicht-überlebensfähigen
Theorien auszuscheiden. Nicht nach der Bestätigung der eigenen Theorie soll also gesucht werden;
vielmehr gilt es durch konsequente Anwendung des Falsifikationsprinzips, sich aktiv aller falschen
Gewißheiten zu entledigen! Popper formuliert es in gewohnter Prägnanz folgendermaßen: »Wer seine
23Gedanken der Widerlegung nicht aussetzt, der spielt nicht mit in dem Spiel Wissenschaft.« (A.a.O.,
S. 224)
Die Überlegenheit des Popperschen Wissenschaftsverständnisses gegenüber dem positivistischen
ist mittlerweile anerkannt; die Falsifikation hat sich nach allgemeiner Auffassung als besseres
Abgrenzungskriterium erwiesen als die Verifikation. Insofern herrscht wieder Konsens darüber, was
Theorie ist und leisten kann. Dissens besteht freilich darüber, ob mit dem Popperschen Hinweis, daß
wissenschaftliche Theorien verallgemeinernde Aussagen sind, die an der Wirklichkeit überprüfbar
und deshalb falsifizierbar sind, der Theoriebegriff tatsächlich schon ausgeschöpft ist. Vertreter des in
der Fünften Vorlesung noch zu behandelnden »Rational-Choice-Ansatzes« sind tatsächlich dieser
Meinung, insofern sie den »Theorie«-Begriff nur für solche Aussagesysteme reservieren wollen, in
denen soziale Sachverhalte ganz explizit mit Hilfe einer Allaussage, eines allgemeinen Gesetzes,
erklärt werden. »Theorie« wird hier ausschließlich als Erklärungssystem verstanden: »Jede
Erklärung beginnt mit der Frage, warum das interessierende Phänomen so existiert(e), so
funktioniert(e) oder sich in der Weise ändert(e), wie es beschrieben worden ist.« (Esser, Soziologie.
Allgemeine Grundlagen, S. 39) Zur Erklärung braucht man unter anderem eine Allaussage – und eben
nur auf solchen Allaussagen basierende Erklärungssysteme werden dann aus Sicht dieses Ansatzes als
»Theorien« bezeichnet. Andere Überlegungen und Reflexionen, die nicht unmittelbar die Aufstellung
von Gesetzesaussagen zum Ziel haben, erhalten vom Rational-Choice-Ansatz nicht den Ehrentitel
»Theorie«.
Diese Position, die mit dem Popperschen Theorieverständnis übereinstimmt, scheint auf den ersten
Blick einsichtig und kaum kritikwürdig zu sein. Eine derartige Definition von »Theorie« hat ja zudem
auch den Vorteil, einigermaßen eng und präzise zu sein, so daß man eben genau weiß, was man meint,
wenn man den Begriff »Theorie« verwendet. Freilich, so unproblematisch und selbstverständlich ist
diese Position dann doch nicht. Denn tatsächlich ergibt sich bei Popper ein einigermaßen
gravierendes Problem an der Stelle, an der es um das Verhältnis von Theorie und Empirie geht. Denn
die Anwendbarkeit des von Popper ins Spiel gebrachten Falsifikationskriteriums (wie übrigens auch
diejenige des von ihm überwundenen Kriteriums der Verifikation) basiert auf der Annahme, daß die
Ebene der empirischen Beobachtung und die Ebene der 24theoretischen Interpretation bzw. der
Erklärung klar voneinander unterscheidbar, daß also rein theoretische Aussagen an separaten, rein
empirischen Beobachtungen überprüfbar seien. Ich kann nämlich eine theoretische Aussage doch nur
dann sicher falsifizieren und widerlegen, wenn meine Beobachtungen, mit denen ich sie zu
falsifizieren versuche, korrekt und nicht zu bestreiten sind. Beobachtungen dürfen nicht selbst schon
wieder Theorien enthalten, weil ansonsten natürlich nicht ausgeschlossen werden kann, daß ich –
weil in meinen Beobachtungen möglicherweise schon eine falsche Theorie steckt – eine Aussage zu
Unrecht falsifiziere (oder auch: verifiziere). Das heißt also, eine problemlose Falsifizierung (oder
Verifizierung) wäre nur dann möglich, wenn wir unmittelbaren Zugriff auf eine direkte, theorielose
Form der Beobachtung hätten.
Nun wissen wir aber – und dies ist uns ja schon anhand des langen Peirce-Zitats eindringlich
dargelegt worden –, daß dies nicht der Fall ist. Jede Beobachtung im Alltag ist wie jede Aussage
darüber schon theoriegeleitet. Gleiches gilt natürlich auch für Beobachtungen und Aussagen in der
Wissenschaft. Empirische Beobachtungen in einer Wissenschaftlergemeinschaft müssen in einer
Beobachtersprache formuliert werden, die entweder unmittelbar auf die Alltagssprache zurückgreift
oder – falls im Beobachtungsprozeß eine explizite Fachsprache verwendet wird – deren Begriffe mit
Hilfe der Alltagssprache expliziert und definiert werden können. Und diese Alltagssprache ist eben
immer schon mit Theorie »infiziert«. Peirce hat ja gezeigt, daß jede Beobachtung eine
Verallgemeinerung und insofern eine elementare Theorie ist: Beobachtungssprachen enthalten
unvermeidlich bereits Theorien, die unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Phänomene lenken und die
Art, wie wir Phänomene wahrnehmen, mitbestimmen. Das heißt dann aber auch, daß wir Einzelfälle
nie ohne implizite Generalisierungen beschreiben können. Eine strikte Trennung zwischen Empirie
und Theorie ist somit nicht möglich – und insofern ist dann auch die auf Popper zurückgehende
Vorstellung, wonach eine problemlose Falsifikation von Theorien möglich sei, so einfach nicht
haltbar.
Wenn es also keine Polarität, keine strikte Trennung zwischen Empirie und Theorie gibt, wie ist
dann deren Verhältnis zu bestimmen? Äußerst hilfreich ist hier ein Vorschlag des amerikanischen
Soziologen Jeffrey Alexander, dessen Arbeiten wir im Verlauf der Vorlesungsreihe noch begegnen
werden (vgl. die Dreizehnte Vorlesung). 25Er hat nämlich nicht von einer »Polarität«, sondern von
einem »Kontinuum« gesprochen:
Science can be viewed as an intellectual process that occurs within the context of two distinctive environments, the empirical
observational world and the non-empirical metaphysical one. Although scientific statements may be oriented more toward one of these
environments than the other, they can never be determined exclusively by either alone. The differences between what are perceived as
sharply contrasting kinds of scientific arguments should be understood rather as representing different positions on the same
epistemological continuum. (Alexander, Theoretical Logic in Sociology, Vol. 1, S. 2)

Das wissenschaftliche Denken – so Alexander – bewegt sich also kontinuierlich zwischen den nie
ganz zu erreichenden Extrempolen der von ihm so bezeichneten »metaphysischen Umwelt« und der
»empirischen Umwelt« – ganz gemäß der Peirceschen Argumentation, daß uns ein direkter,
theorieloser Zugriff auf die Welt nicht möglich ist. Alexander hat dies mit dem unten abgebildeten
Diagramm zu skizzieren versucht (a.a.O., S. 3). Die Kernaussage ist hier, daß zwar Beobachtungen
(»observations«) relativ nahe an der Wirklichkeit sind, also an der empirischen Umwelt (»empirical
environment«), daß aber eine direkte Abbildung der Wirklichkeit nicht möglich ist, weil
Beobachtungen unter anderem mit methodologischen Annahmen, Gesetzen, Definitionen, Modellen
und sogar allgemeinen Annahmen (»general presuppositions«) verbunden sind, die sich relativ nahe
am Pol der metaphysischen Umwelt (»metaphysical environment«) bewegen. Dies aber bedeutet –
und darauf werden wir später noch zu sprechen kommen –, daß es wohl verfehlt ist, die
wissenschaftliche Arbeit auf die Aufstellung von Theorien im Sinne von Erklärungssystemen und den
Versuch ihrer Falsifikation beschränken zu wollen. Denn wenn es so ist, daß wissenschaftliches
Argumentieren sich tatsächlich in dem von Alexander skizzierten Kontinuum bewegt, dann hat
wissenschaftliches Theoretisieren zweifellos mehr Aufgaben, als dies etwa von Vertretern des vorhin
genannten »Rational-Choice«-Ansatzes behauptet wird. Spielen allgemeine Annahmen (»general
presuppositions«), Klassifizierungen (»classifications«), Konzepte (»concepts«) etc. im
Forschungsprozeß eine ebenso große Rolle wie Gesetze (»laws«) und Beobachtungen – oder
zumindest keine unwichtige Rolle! –, so ist nicht einzusehen, 26warum der Erkenntnisfortschritt
lediglich durch die Konzentration auf ebenjene Gesetze und Beobachtungen ermöglicht werden sollte.
Dann ist auch nicht nachvollziehbar, warum der Begriff der »Theorie« für Aussagensysteme, die aus
Gesetzen und Beobachtungen bestehen, reserviert bleiben muß. Und tatsächlich haben sich auch viele
Sozialwissenschaftler ein weiter gefaßtes Theorieverständnis zu eigen gemacht.
Aber kommen wir direkt zurück zu der für den Popperschen Falsifikationismus problematischen
Tatsache, daß eine strikte Trennung zwischen den Ebenen der Theorie und der Empirie nicht möglich
ist. Popper selbst – dies ist zu seiner Verteidigung zu sagen – hat diese Schwierigkeit durchaus
gesehen: »Es gibt keine reinen Beobachtungen: sie sind von Theorien durchsetzt und werden von
Problemen und von Theorien geleitet.« (Popper, Logik der Forschung, S. 76) Auch er hat also darauf
hingewiesen, daß jede Darstellung einer Beobachtung, jede Aussage über ein Vorkommnis, jeder
»Basissatz« Begriffe verwendet, die durch unmittelbare Sinnesdaten nicht bestätigt werden können.
Er war deshalb auch der Auffassung, daß jede Überprüfung einer Theorie bei irgendwelchen
Basissätzen haltmachen bzw. beginnen muß, auf deren Richtigkeit sich die Forscher durch Konvention
oder Entschluß zu einigen haben. Wissenschaft ist also für Popper nicht auf einen Felsen gebaut,
sondern in gewisser 27Weise auf (vorläufige) Dogmen, eben auf jene Konventionen oder (mehr oder
minder) willkürlichen Entschlüsse von Wissenschaftlern, Basissätze über Beobachtungen als richtig
anzuerkennen. Für Popper war dies aber kein wirkliches Problem, da er der Auffassung war, daß
diese Basissätze wiederum – falls ein Zweifel an der Richtigkeit der Sätze auftaucht – zum Problem
gemacht, also überprüft werden können.
Wie sich zeigte, gaben sich Wissenschaftstheoretiker und Wissenschaftler, die über die tatsächliche
Arbeitsweise von Wissenschaftlern selbst forschten, mit dieser Popperschen Verteidigung des
Falsifikationsverfahrens nicht zufrieden. In dieser Debatte spielte dann vor allem ein Buch eine
Rolle, das fast ebenso berühmt werden sollte wie Poppers Logik der Forschung: Die Rede ist von
Thomas S. Kuhns The Structure of Scientific Revolutions aus dem Jahre 1962 (dt.: Die Struktur
wissenschaftlicher Revolutionen). Der Amerikaner Kuhn (1922-1996), von Haus aus Physiker,
untersuchte nämlich in quasi-soziologischer Manier den Forschungsprozeß in seiner Mutterdisziplin,
wobei er vor allem die historische Entwicklung der Physik (und der Chemie) und die Art und Weise
des Zustandekommens neuer naturwissenschaftlicher Theorien ganz allgemein in den Blick nahm.
Kuhn machte dabei eine erstaunliche Entdeckung, die mit dem von Popper geforderten
Falsifikationsprinzip in keiner Weise übereinstimmte. In der Wissenschaftsgeschichte gab es zwar
unzählige Episoden, in denen tatsächlich einzelne wissenschaftliche Sätze falsifiziert wurden; was
Kuhn in seinen historisch-soziologischen Analysen beobachtete, war aber nun, daß dies in der Regel
nicht dazu führte, daß daraufhin ganze Theorien, aus denen diese Sätze abgeleitet waren, verworfen
oder durch andere ersetzt wurden. Kuhn konnte zeigen, daß es in der Geschichte der
Naturwissenschaften stets Neuentdeckungen, Erfindungen etc. gab, die bestehenden Großtheorien
fundamental widersprachen. Die Entdeckung des Sauerstoffs durch Lavoisier etwa widersprach
fundamental der damals herrschenden Phlogiston-Theorie, wonach Phlogiston eine Substanz sei, die
allen brennenden Körpern entweicht. Lavoisiers Entdeckung führte aber nicht dazu, daß die »alte«
und – wie wir heute wissen – falsche Phlogiston-Theorie sofort verworfen worden wäre. Im
Gegenteil, sie wurde spezifiziert, modifiziert, rekonstruiert, um die von Lavoisier gemachte
Entdeckung begreifbar zu machen. Lavoisiers Entdeckung wurde also nicht als Falsifikation
betrachtet, sondern 28lediglich als problematische Beobachtung, als momentanes Rätsel, als
»Anomalie« innerhalb einer an sich bewährten Theorie. Kuhn konnte eine Vielzahl solcher oder
ähnlicher Fälle aus der Wissenschaftsgeschichte dokumentieren, wobei er – und dies ist nun der
springende Punkt – darauf aufmerksam machte, daß das Festhalten an den alten Theorien durchaus
nicht Ausdruck von Dogmatismus oder Irrationalität war. Denn es gab immer wieder gute Gründe für
diesen Konservatismus: Die alten Theorien haben sich in der Vergangenheit bewährt, die Neu-
Entdeckungen lassen sich ja vielleicht durch den Ausbau der alten Theorie, durch Hilfshypothesen
etwa, doch wieder integrieren, die neue Theorie ist noch nicht wirklich ausgearbeitet und deshalb oft
fehler- oder lückenhaft, möglicherweise liegen ja auch nur Meßfehler und keine wirklichen
Falsifikationen vor usw. usf. Kurz, es gab in der Praxis der Wissenschaft oftmals überhaupt gar kein
klares Kriterium dafür, wann eine Theorie als falsifiziert zu gelten habe.
Kuhn sprach in seinem Buch ausschließlich über die Geschichte der Naturwissenschaften. Aber
ganz ähnliche Beschreibungen des Forschungsprozesses lassen sich natürlich auch in den Geistes- und
Sozialwissenschaften finden, wobei es hier sogar noch schwieriger zu sein scheint, mit einer
empirischen Beobachtung eine Theorie zu zerstören, also als ganze zu falsifizieren. Denken Sie an die
Geschichte des Marxismus. Der Marxismus als eine sozialwissenschaftliche Theorie kann natürlich –
und dies beansprucht er für sich ja auch – an der sozialen Wirklichkeit überprüft werden. Nun ist es
so, daß viele der von Marx oder Marxisten gemachten oder verteidigten theoretischen Aussagen mit
der empirischen Wirklichkeit – um es vorsichtig zu formulieren – in Konflikt geraten, daß also viele
der dort zu findenden Prognosen nicht eingetroffen sind: Die vorhergesagte Polarisierung der
Bevölkerung in eine reiche Kapitalistenklasse einerseits und ein zahlenmäßig gigantisches Proletariat
andererseits ist so nicht eingetreten; die von Marx und Engels prognostizierten sozialistischen
Revolutionen fanden nicht statt, jedenfalls nicht dort, wo sie hätten stattfinden sollen, nämlich in den
industriell fortgeschrittensten Ländern unter der Führung der Arbeiterschaft; erfolgreiche
Revolutionen gab es allenfalls an den Peripherien und dann unter maßgeblicher Beteiligung der
Bauernschaft, also eigentlich einer »falschen« Gruppe; die von Marx und Engels in Das
Kommunistische Manifest prognostizierte, angeblich durch die Ökonomie er29zwungene
Einschmelzung aller partikularen Bindungen – unter anderem sagten sie das Verschwinden der
Nationalstaaten voraus – ist ebenfalls nicht eingetreten, sondern das späte 19. und 20. Jahrhundert
war das genaue Gegenteil des von Marx und Engels angenommenen Zustandes, es war gerade das
Zeitalter des Nationalismus und der Nationalstaaten. All diese Beobachtungen hätten sich – folgt man
dem Popperschen Falsifikationsprinzip – als schlagende Widerlegungen des Marxismus herausstellen,
mithin zur endgültigen Verwerfung dieser Theorie führen müssen. Dies war jedoch nicht der Fall:
denn diejenigen, die vom Marxismus als Forschungsansatz überzeugt waren, konnten immer mit einer
Reihe von Hilfshypothesen sich selbst und offensichtlich auch andere von der Fruchtbarkeit des
marxistischen Ansatzes überzeugen: Die Proletarisierung der Mehrheit der Bevölkerung in den
hochindustrialisierten Staaten habe – so die Argumentation – deshalb nicht stattgefunden, weil es der
Kapitalismus verstanden habe, die Armut »zu Hause« durch eine verstärkte Ausbeutung der »dritten
Welt« zu lindern; dies sei auch der Grund gewesen, warum es nicht in den westlichen Ländern, in
denen die Arbeiter vom »Kapital« z. B. durch wohlfahrtsstaatliche Leistungen »gekauft« worden
seien, zu Revolutionen gekommen sei, sondern in den Ländern der verarmten und ausgebeuteten
dritten Welt; und Marx/Engels mögen zwar das Ende des Nationalstaates zu früh prognostiziert haben,
aber heute – im Zeitalter der Globalisierung – würde ja nun genau das eintreffen, was die beiden
schon immer gesagt hätten usw. Kurz, die Marxsche Theorie sei nicht falsch, sondern müßte lediglich
veränderten historischen Bedingungen angepaßt werden.
Es sei Ihnen überlassen, wie Sie selbst diese Verteidigung des Marxismus beurteilen. Wichtig ist in
diesem Zusammenhang lediglich die Einsicht, daß es in den Natur- wie Sozialwissenschaften generell
und keineswegs nur im Marxismus ziemlich viele Verteidigungslinien zu geben scheint, um sich gegen
die empirische Falsifikation einer Theorie zu wappnen. Tatsächlich erweisen sich Theorien in den
Sozialwissenschaften in gewisser Weise gegen eindeutige Falsifikationen sogar noch resistenter als in
den Naturwissenschaften. Denn bei ersteren gibt es nicht nur Streit darüber, wie eine Falsifikation
genau auszusehen hat, sondern sogar darüber, was denn eine Theorie wirklich aussagt: Während
naturwissenschaftliche Theorien zumeist relativ klar formuliert sind, taucht in den Sozial- und
30Geisteswissenschaften in wesentlich größerem Umfang das Problem auf, daß man sich nicht
wirklich einig ist über den genauen Gehalt der Theorie. Sie kennen das Phänomen vielleicht aus ihren
Seminaren zu den Klassikern der Soziologie oder aus der Lektüre von Sekundärliteratur zu diesen:
Was haben Marx, Durkheim, Weber etc. wirklich gesagt? Was ist die eigentliche, wirkliche,
endgültige Interpretation von Marxens/Durkheims/Webers etc. Theorie? Eine Theorie aber, deren
Gehalt schon umstritten ist, läßt sich logischerweise auch empirisch kaum eindeutig falsifizieren.

Aber zurück zu Kuhn und seinem Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Laut Kuhn gibt
es also jedenfalls in den Naturwissenschaften keine zwingenden logischen Argumente gegen eine
Theorie, keine unzweideutigen Falsifikationen. Und so kann es dann laut Kuhn auch nicht verwundern,
daß der Alltag des Forschens relativ unkritisch abläuft. Bestehende Theorien werden lange Zeit
unhinterfragt verwendet, eben weil man von der prinzipiellen Fruchtbarkeit des Ansatzes überzeugt
ist. Diese routinisierte Art des Forschens bezeichnet Kuhn als »normale Wissenschaft«: Rätsel,
widersprüchliche Ereignisse, problematische Experimente etc. werden im Gang »normaler
Wissenschaft« eben nicht als Falsifikationen betrachtet, sondern – um es zu wiederholen – als
Anomalien, von denen man hofft, daß sie irgendwann mit den bestehenden theoretischen Mitteln
schon behoben bzw. gelöst werden können. »Normale Wissenschaft« ist Forschung,
die fest auf einer oder mehreren wissenschaftlichen Leistungen der Vergangenheit beruht, Leistungen, die von einer bestimmten
wissenschaftlichen Gemeinschaft eine Zeitlang als Grundlagen für ihre weitere Arbeit anerkannt werden. (Kuhn, Die Struktur
wissenschaftlicher Revolutionen, S. 25)

In der Wissenschaftsgeschichte finden sich dabei – so Kuhn – auch nur sehr selten Fälle, in denen
einzelne Wissenschaftler plötzlich aufgrund eines überzeugenden Arguments oder eindrucksvollen
Experiments ein neues Theoriegebäude akzeptieren. Der tatsächliche Durchbruch wirklich neuer
Theorien erfolgt vielmehr auf eine Art, die mit rein wissenschaftlichen Kriterien oft wenig zu tun hat:
Die alten Theorien werden nämlich aufgrund der stetig angegliederten neuen Hilfshypothesen zur
Erklärung von »Anomalien« oft zu komplex, so daß das Bedürfnis nach einfacheren Theorien wächst
– und 31dieses Bedürfnis wird dann häufig durch eine Generation von jüngeren Wissenschaftlern
artikuliert, die plötzlich Abschied nehmen von der alten Theorie und in großer Zahl bereit sind, die
Neuentdeckungen und »Anomalien« mit anderen Augen zu betrachten und sich deshalb für
theoretische Innovationen zu öffnen. Dies ist dann der Moment, den Kuhn als »wissenschaftliche
Revolution« bezeichnet. Es findet – wie Kuhn auch sagt – ein Paradigmenwandel statt: Ein altes
»Paradigma« – eine alte Sichtweise der Phänomene, eine alte Großtheorie und die daran hängenden
Forschungsmethoden – wird in relativ kurzer Zeit durch ein neues »Paradigma« ersetzt, so wie in der
Vergangenheit die »ptolemäische Astronomie« durch die »kopernikanische«, die »aristotelische
Dynamik« durch die »Newtonsche«, die »Korpuskular-Optik« durch die »Wellen-Optik« ersetzt
wurde.
Entscheidend bei diesen von Kuhn beschriebenen Revolutionen im Wissenschaftsbetrieb ist, daß es
nie ein klares empirisches Kriterium gab, mit dem es möglich gewesen wäre, für jeden
Wissenschaftler einsichtig und überzeugend den notwendigen Abschied vom alten Paradigma und die
Hinwendung zu einem neuen zu begründen. Nicht die Empirie als solche führte also in der
Wissenschaftsgeschichte zur endgültigen Verwerfung einer bisher für richtig erachteten Theorie,
sondern diesbezügliche Entscheidungen waren oft geprägt von ganz banalen, »alltäglichen«
Umständen: Häufig waren es »biologische« Ursachen, die einer neuen Theorie zum Durchbruch
verhalfen – etwa wenn eine Generation von Wissenschaftlern zu alt wurde und eine neue in ihre
Fußstapfen treten konnte, die sich gegenüber theoretischen Innovationen nicht mehr sperrte. Dies
bedeutet aber auch, daß Zeiten der »normalen Wissenschaft« ebenso wie »wissenschaftliche
Revolutionen« begleitet sind von Macht- und Interessenkämpfen (zwischen Außenseitern und
etablierten Forschern, zwischen älteren und jüngeren Wissenschaftlern). Wissenschaft ist also ein
Unterfangen, das sich nicht völlig von den sozialen Phänomenen abkoppeln läßt, die auch im
Alltagsleben eine Rolle spielen.
Die alten und die neuen Theorien sind Kuhn zufolge miteinander »inkommensurabel«, sie sind
tatsächlich nicht miteinander vergleichbar, nicht gegeneinander abzugleichen: Bei wissenschaftlichen
Revolutionen wechseln sich also nicht ähnliche Theorien ab, sondern Theorien, die so verschieden
sind, daß man sie als unterschiedliche 32»Weltbilder« – diesen Begriff verwendet Kuhn auch –
bezeichnen könnte.
Wir wollen deshalb als erwiesen annehmen, daß die Gegensätze zwischen aufeinanderfolgenden Paradigmata ebenso notwendig wie
unversöhnbar sind. (…) die Annahme eines neuen Paradigmas [erfordert] oft eine neue Definition der entsprechenden Wissenschaft
(…). Manche alten Probleme können an eine andere Wissenschaft abgegeben oder für völlig ›unwissenschaftlich‹ erklärt werden.
Andere wieder, die vorher nicht existierten oder völlig unbedeutend waren, können mit einem neuen Paradigma geradezu ein Haupttypus
wichtiger wissenschaftlicher Leistungen werden. Und wie sich die Probleme ändern, so ändert sich oft auch die Norm, die eine wirklich
wissenschaftliche Lösung von einer bloßen metaphysischen Spekulation, einem Wortspiel oder einer mathematischen Spielerei
unterscheidet. Die normal-wissenschaftliche Tradition, die aus einer wissenschaftlichen Revolution hervorgeht, ist mit dem
Vorangegangenen nicht nur unvereinbar, sondern oft sogar inkommensurabel. (Kuhn, a.a.O., S. 115/116)

Wenn die Revolution erfolgreich vollzogen ist, dann tritt die Wissenschaft wieder in eine »normale«
Phase ein, dann beruht die Forschung der Wissenschaftlergemeinschaft wie ehedem auf bestimmten
unhinterfragten Regeln und Normen der Forschungspraxis, bis sich irgendwann einmal wieder eine
neue wissenschaftliche Revolution ereignet.
Kuhns wissenschaftshistorische und -soziologische Analysen zogen – und darauf machte er selbst
aufmerksam – massive wissenschaftstheoretische Konsequenzen nach sich. Denn – um es zu
wiederholen – der Wissenschaftsprozeß funktioniert mitnichten so, wie ihn Popper mit seinem
»Falsifikationsprinzip« zu normieren versuchte. Und aus Kuhns Beschreibungen läßt sich durchaus
auch folgern, daß es »gut« ist, wenn in der Wissenschaft nicht rigide nach dem Falsifikationsprinzip
verfahren wird: Denn normale Wissenschaft – eine Wissenschaft also, die in bezug auf bestimmte
theoretische Annahmen unkritisch und routinisiert verfährt – kann fruchtbare Ergebnisse bringen. Es
kann durchaus sinnvoll sein, nicht bei jeder konträren Beobachtung die Theorie zu verwerfen, weil
dies die Forschungspraxis sabotieren und unterminieren würde; es kann sinnvoll sein, der Theorie
eigentlich widersprechende Beobachtungen zunächst als bloße Anomalien zu interpretieren – eben in
der Hoffnung, daß sich die Probleme innerhalb der Theorie dann doch irgendwann lösen lassen. Denn
oftmals war dies in der Geschichte 33der Wissenschaften tatsächlich auch der Fall. Zudem konnte
Kuhn zeigen, daß nicht wenige der neuen und später erfolgreichen Theorien zu Beginn ihrer Existenz
auf der Basis damals akzeptierter Erfahrungen und Beobachtungen falsifiziert worden sind und
deshalb – hätte man sich an Poppers Falsifikationskriterium gehalten – eigentlich sofort wieder hätten
verschwinden müssen. Poppers Falsifikationskriterium – so Kuhn – ist also weder ein guter Führer
durch die Wissenschaftsgeschichte noch eine wirkliche Hilfestellung im praktischen
Forschungsprozeß.
Schließlich ist eine weitere Konsequenz aus den Kuhnschen soziologischen Analysen zur
Wissenschaftsgeschichte zu ziehen. Schon Kuhns Begriffswahl, seine Rede von
»Paradigmenwechsel« und »wissenschaftlicher Revolution« lehrt uns, daß der wissenschaftliche
Fortschritt nicht kontinuierlich vonstatten geht, sondern von ruhigen Phasen ebenso wie von abrupten
Umbrüchen durchzogen ist: Damit bezieht Kuhn Position sowohl gegen den Positivismus, dessen
Vertreter ja an den langsamen, von genauen empirischen Beobachtungen getragenen kontinuierlichen
Aufbau wissenschaftlicher Erkenntnisse glaubten, als auch gegen Popper, der die Bedeutung der
Phase »normaler« und routinisierter Wissenschaft unterschätzte. Wissenschaft – so lehrt uns Kuhn –
ist ein Prozeß, der sich den am Schreibtisch ausgedachten Rationalitätsvorgaben von
Wissenschaftstheoretikern widersetzt; in der Wissenschaft spielen zufällige Momente eine ebenso
erhebliche Rolle wie die schon erwähnten Status- und Machtkonflikte zwischen
Wissenschaftlergenerationen. (Wenn Sie einen relativ kurzen, gut geschriebenen und didaktisch
ansprechend aufbereiteten Einblick in die wissenschaftstheoretischen Debatten nehmen wollen, dann
sei Ihnen hier das Buch von A. F. Chalmers empfohlen, What is this Thing Called Science?)

Die Kuhnschen Arbeiten waren jedenfalls Ausgangspunkt einer vor allem in den 1960er und 1970er
Jahren vehement geführten wissenschaftstheoretischen Debatte um den Status von Wissenschaft.
Während die einen Kuhn dafür kritisierten, daß seine Arbeiten dem Relativismus Tür und Tor
öffneten (seine Rede von der »Inkommensurabilität« von Theorien, über deren Qualität nicht
empirisch entschieden werden könne, setze Wissenschaft mit jeder beliebigen Weltanschauung gleich,
über die sich nicht rational diskutieren lasse), begrüßten andere wiederum genau die relativistischen
Konse34quenzen, die – wie sie glaubten – aus den Kuhnschen Analysen zu ziehen seien: Der
»anarchistische« und zeitweilig äußerst modische Wissenschaftsphilosoph Paul Feyerabend (1924-
1994) sprach etwa davon, daß »die ›Objektivität‹ der Wissenschaften und des Rationalismus (…)
eine Chimäre [sei] und weder die Methode der Wissenschaften noch ihre Ergebnisse (…) ihre
bevorzugte Stellung« gegenüber anderen Wissensformen (etwa der Magie) rechtfertigten (Erkenntnis
für freie Menschen, S. 209).
Aber beide, die orthodoxen Verteidiger der Wissenschaft ebenso wie ihre anarchistischen Kritiker,
interpretierten Kuhn falsch oder zumindest sehr eigenwillig. Kuhn hatte nämlich nicht behauptet, daß
konkurrierende Paradigmen wirklich hermetisch gegeneinander abgeschlossene Ganzheiten oder
Weltbilder seien, zwischen denen man nicht rational – und zwar mit Bezug auf die empirische
Fruchtbarkeit der Paradigmen – wählen könne, sondern zu denen man sich allenfalls – wie zu
unterschiedlichen Religionen – bekennen könne. Er hatte nur argumentiert, daß in vielen Fällen kein
wirklich klares empirisches Kriterium zur Entscheidung für dieses oder jenes Paradigma vorliege.
Damit ist aber nicht gesagt, daß es überhaupt keine Argumente für die Annahme oder Ablehnung einer
Theorie gibt (vgl. zu dieser Argumentation Bernstein, Restrukturierung der Gesellschaftstheorie,
S. 153-168). Tatsächlich griff Kuhn in seiner Darstellung der Wissenschaftsgeschichte keineswegs
frontal die Rationalität des Unternehmens »Wissenschaft« an: Ihm zufolge ist der Übergang von einer
Theorie zur anderen weder eine grundlose Wahl zwischen Vokabularien noch ein mysteriöser Wandel
von einem theoretischen Diskurs zum anderen. Vielmehr gilt: Es gibt durchaus Gründe für die
Notwendigkeit der Übernahme eines neuen Paradigmas. Über einen anzustrebenden oder
abzulehnenden Paradigmenwandel kann man vernünftig diskutieren, Vor- und Nachteile der
jeweiligen Theorie können gegeneinander abgewogen werden, selbst wenn man die Hoffnung
aufgeben muß, daß es das eine »crucial experiment« gibt, mit dem sich die Entscheidung herbeiführen
läßt.
Hinzu kommt, daß Kuhns wissenschaftshistorische Analysen – auch wenn seine radikale und
durchaus problematische Ausdrucksweise von der »Inkommensurabilität« der Paradigmen dies
scheinbar auszuschließen scheint – de facto dann doch fast immer belegen, daß es zwischen
Paradigmen oftmals beträchtliche Überschneidun35gen gibt. Zwischen den Theoriegebäuden
verlaufen zahlreiche Korridore. Tatsächlich zeigt ja auch nicht nur die Geschichte der
Naturwissenschaften, sondern auch diejenige der Sozialwissenschaften, daß bestimmte empirische
Befunde sehr wohl von Vertretern unterschiedlicher Paradigmata einhellig gebilligt werden, ja daß
sogar nicht wenige theoretische Aussagen über Paradigmengrenzen hinweg auf allgemeine
Zustimmung stoßen.
Was heißt dies nun alles für die Sozialwissenschaften bzw. für die Sozialtheorie? Zwei
Konsequenzen sind aus der bisherigen wissenschaftstheoretischen Diskussion, aber vor allem aus den
Kuhnschen Analysen zu ziehen, die für die folgenden Vorlesungen von großer Bedeutung sind.
Erstens: Die Tatsache, daß sich die derzeitige Theorielandschaft in den Sozialwissenschaften als
verwirrend darstellt, die Tatsache, daß es viele unterschiedliche Sozialtheorien oder Paradigmen
gibt, die zum Teil heftig miteinander streiten, heißt nicht, daß diese Theorien bzw. ihre Theoretiker
nicht in eine vernünftige Auseinandersetzung miteinander eintreten könnten. Wir werden Ihnen in den
folgenden neunzehn Vorlesungen einen ganzen Strauß an Theorien vorstellen. Sie werden sehen – und
dies ist eine der zentralen Thesen dieser Vorlesungsreihe –, daß die jeweiligen Theoretiker
miteinander kommunizieren, daß sie sich kritisch aufeinander beziehen, so daß sich bestimmte
Überschneidungen, Ähnlichkeiten und Ergänzungen zwischen den Theorien ergeben. Die Tatsache,
daß etwa die Soziologie nicht auf einem einzigen abstrakt gewonnenen Paradigma beruht (wie dies
etwa in den Wirtschaftswissenschaften der Fall ist, wo beispielsweise ganz klar eine bestimmte
Theorierichtung dominiert oder hegemonial ist), die Tatsache also, daß in der Soziologie tatsächlich
die so oft beklagte unübersichtliche Theorienvielfalt herrscht, bedeutet eben nicht, daß das Fach in
miteinander unverbundene Ansätze zerfällt oder gar notwendig zerfallen muß. Für Sie, die Sie nun in
die Welt der modernen Sozialtheorie eingeführt werden, ergibt sich daraus zwingend eine
Schlußfolgerung. Sie werden vermutlich im Laufe Ihres Studiums nicht zu Experten für alle hier
vorgestellten Theorierichtungen werden; niemand kann das von Ihnen erwarten, zumal es auch kaum
einen Professor der Sozialwissenschaften gibt, der in all diesen Theorierichtungen wirklich
vollständig auf dem laufenden ist. Aber retten Sie sich aus dieser Unübersichtlichkeit nicht durch eine
Flucht in die erstbeste Theorie, die Ihnen zusagt. Es gibt bereits zu viele Studie36rende, die nur eine
einzige Theorie wirklich kennen und die von dieser dann so begeistert sind, daß sie alle anderen
Ansätze verächtlich links liegen lassen – ein Verhalten, das ihnen allerdings leider auch von nicht
wenigen ihrer Dozenten vorgelebt wird, die sich nicht selten auf eine – und nur auf eine Theorie! –
spezialisiert haben und alle anderen Theorien prinzipiell für »schlecht« oder unnütz erachten. Wie
gesagt, die unterschiedlichen Ansätze in der Soziologie haben sich wechselseitig durchaus etwas zu
sagen, weswegen wir Ihnen raten wollen, im Laufe Ihres Studiums in die Kommunikation mit
unterschiedlichen Theorie-Schulen einzutreten. Sie vermeiden dadurch Einseitigkeiten und
Blindheiten, die angesichts des oben festgestellten Zusammenhangs zwischen Empirie und Theorie
mit Sicherheit auch auf Ihre empirische Arbeit abfärben würden.
Die zweite Konsequenz, die aus der »Debatte« zwischen Popper und Kuhn zu ziehen ist, betrifft
unmittelbar die nachfolgenden Vorlesungen. Wenn es so ist, daß sich theoretische Fragen nicht allein
mit empirischen Mitteln entscheiden lassen, wenn es so ist, daß die Ebenen der Empirie und Theorie
nicht eindeutig voneinander zu trennen sind, wenn es so ist, daß man – wie eben Jeffrey Alexanders
oben gezeigtes Diagramm verdeutlicht – von einem Kontinuum zwischen der empirischen und der
metaphysischen Umwelt ausgehen muß, dann ist gleichzeitig auch klar, daß Theoriearbeit in den
Sozialwissenschaften mehr zu sein hat als die bloße Aufstellung und Falsifikation von Allaussagen
oder Gesetzen, wie das eigentlich nach Popper – oder nach Auffassung von Rational-Choice-
Theoretikern – der Fall sein sollte. Sozialtheorie muß sich dann auch um das kümmern, was in dem
Alexanderschen Diagramm »general presuppositions« heißt. Theoriefragen reichen also von
empirischen Generalisierungen bis zu umfassenden Deutungssystemen, in denen philosophische,
metaphysische, politische, moralische Grundhaltungen zur Welt verknüpft sind. Wer zur Welt der
Sozialwissenschaften gehören will, kann deshalb nicht umhin, sich in die argumentative
Auseinandersetzung auf all diesen Ebenen einzuschalten. Die Hoffnung, sich auf rein empirische
Theorien beschränken zu können, läßt sich nicht erfüllen. (Wir müssen hier nicht nochmals
wiederholen, daß unser Theorieverständnis natürlich nicht unumstritten ist, denn – wie gesagt –
Vertreter von Rational-Choice-Theorien würden viele der im folgenden vorzustellenden Theorien
nicht als »Theorien« bezeichnen. Wenn Sie einen direkten Einblick in die 37Kontroverse zur Frage
»Was ist (Sozial-)Theorie?« nehmen wollen, so vergleichen Sie das erste Kapitel von Jeffrey
Alexanders Buch Sociological Theory since 1945 mit den Ausführungen von Hartmut Esser, einem
führenden Rational-Choice-Theoretiker in Deutschland, in dessen Buch Soziologie. Allgemeine
Grundlagen, Kap. 3 und 4.)
Wenn wir nun einen derart breiten Theoriebegriff zugrunde legen, heißt dies dann nicht, daß die
Debatte notwendig ausufern muß, weil jeder sein eigener Theoretiker ist und damit einer beliebigen
Vermehrung der Zahl existierender Theorien nichts mehr im Wege steht? Die Antwort lautet schlicht:
»Nein!« Denn – und damit kommen wir zu unserer ersten Konsequenz zurück – tatsächlich hat sich in
den sozialwissenschaftlichen Disziplinen gezeigt, daß trotz aller Theorievielfalt relative Einigkeit
darüber besteht, was die Grund- oder Hauptfragen des Forschens sind. Und diese kann man benennen.
Wir glauben, daß sich die Theorieentwicklung der Sozialwissenschaften entlang dreier ganz
spezifischer Fragen nachvollziehen läßt. Diese lauten: »Was ist Handeln?«; »Was ist soziale
Ordnung?«; »Was bestimmt sozialen Wandel?«. Alle Theoretiker – dies gilt für die Klassiker der
soziologischen Theorie ebenso wie für moderne Sozialtheoretiker – haben sich mit diesen drei
Fragen beschäftigt, wobei hinzuzufügen ist, daß sie natürlich immer eng zusammenhängen: Denn das
Handeln von Menschen ist nie rein zufällig, sondern es bilden sich immer Ordnungen heraus, und
diese Ordnungen wandeln sich historisch! Auch wenn die Schriften der im folgenden zu
besprechenden Theoretiker deutlich unterschiedliche Akzente in bezug auf die jeweiligen Fragen
setzen – mancher war mehr an Handeln als an Ordnung interessiert, viele mehr an sozialer Stabilität
als an sozialem Wandel –, so waren diese Fragen doch immer in ihrer wechselseitigen
Verflochtenheit präsent. Was nun diese Fragen so besonders interessant macht, ist die Tatsache, daß
die Art und Weise ihrer Beantwortung fast unweigerlich zu bestimmten zeitdiagnostischen
Schlußfolgerungen führt. Denn die bei den jeweiligen Theoretikern und Theoretikerinnen zu
findenden, oftmals recht abstrakten Vorstellungen über soziales Handeln, soziale Ordnung und
sozialen Wandel schlagen sich – wie offen oder versteckt auch immer – in ganz konkreten
Einschätzungen des Zustands gegenwärtiger Gesellschaften und ihrer zukünftigen
»Entwicklungswege«, ja sogar ihrer Vergangenheiten nieder. Die Auseinandersetzung mit den drei
genannten Fragen ist also keine rein for38malistische Übung, kein Selbstzweck, sondern sie führt
mitten hinein in den Aufgabenbereich, welcher die Sozialwissenschaften für ein breites Publikum
intellektuell so interessant und attraktiv macht: in die Aufgabe, die Gegenwart moderner
Gesellschaften zu begreifen und kommende Tendenzen aufzuspüren!
Genau dies gibt uns nun die Möglichkeit, die folgenden Vorlesungen zu strukturieren. Unsere These
ist, daß sich die Entwicklung der modernen Sozialtheorie als eine ständige Suche nach Antworten auf
die drei genannten Fragen begreifen läßt und daß die sich daraus ergebende kontinuierliche Debatte in
den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts entscheidende Impulse erhielt von einem großen amerikanischen
Soziologen, auf den sich die nachfolgenden Theoretiker – implizit oder explizit, zustimmend oder
kritisch – bis heute immer wieder beziehen. Die Rede ist von Talcott Parsons, dem wir aufgrund der
Bedeutung seines Werkes für die moderne Sozialtheorie die folgenden drei Vorlesungen widmen
werden. Denn die Geschichte der Rezeption des Werkes von Talcott Parsons lehrt uns in aller
Deutlichkeit genau das, was wir oben schon angeschnitten und betont haben: Die Soziologie ist und
war keineswegs einfach in unterschiedliche Theorierichtungen zerfallen; sie stellt vielmehr eine
Disziplin dar, in der die Theorieentwicklung durch Kommunikation, durch vernünftigen Streit, durch
kontroverse Debatten vorangetrieben wurde – wobei u. a. der stetige Rückbezug auf das
Gedankengebäude von Talcott Parsons die Einheit stiftete, die wir Ihnen nun in neunzehn Vorlesungen
darstellen wollen.
Wir werden Ihnen in aller hier möglichen Ausführlichkeit zeigen, wie Parsons soziales Handeln
verstand, wie er soziale Ordnung begriff, was er zum sozialen Wandel zu sagen hatte und wie er
»seine Zeit« deutete – und wie und warum sich die anderen Theorierichtungen davon absetzten. Es
sollen Ihnen dabei auch die wichtigsten Autoren, die Gründer der jeweiligen Theorierichtungen kurz
vorgestellt werden, und Sie sollen einen Überblick darüber erhalten, auf welchen empirischen
Forschungsgebieten die jeweiligen Theorierichtungen ihre besonderen Stärken entwickeln konnten,
aber auch ihre Schwächen offenbaren mußten. Letzteres sollte gerade diejenigen unter Ihnen
interessieren, die eher empirische Interessen haben bzw. solche ausbilden werden. Denn damit wird
noch einmal verdeutlicht, was wir nun schon öfter angesprochen haben, nämlich daß Theorie und
Empirie nicht wirklich voneinander zu trennen sind.
39Zweite Vorlesung
Der klassische Versuch zur Synthese:
Talcott Parsons

In Studium oder Lektüre haben Sie sicher bereits von den Gründervätern der Soziologie, den
soziologischen Klassikern, gehört. Zu diesen zählen unbestritten der Deutsche Max Weber (1864-
1920) und der Franzose Emile Durkheim (1858-1917). Fast immer wurden und werden diesen beiden
Großen des Faches noch ihre deutschen Zeitgenossen Georg Simmel (1858-1919) und Ferdinand
Tönnies (1855-1936), häufig auch die Amerikaner George Herbert Mead (1863-1931), William Isaac
Thomas (1863-1947) oder Charles Horton Cooley (1864-1929) zur Seite gestellt. Nun läßt sich
trefflich darüber streiten, wer – und wer eben nicht – in eine solche Liste maßgeblicher Autoren, in
einen solchen »Kanon« klassischer soziologischer Theoretiker, aufgenommen werden müßte:
Besonders häufig und kontrovers diskutierte Namen sind in diesem Zusammenhang nebenbei bemerkt
diejenigen von Adam Smith (1723-1790) und vor allem von Karl Marx (1818-1883), die keine
Soziologen im engeren Sinne waren, gleichwohl aber das soziologische Denken und gerade auch die
Theoriebildung in den Sozialwissenschaften insgesamt enorm beeinflußt haben.
So interessant nun die ganze Debatte um den Klassikerstatus von bestimmten Autoren ist, so fällt
doch gleichzeitig auf, daß in ihr zumeist vergessen wird, wer denn für die Kanonbildung, für die
Aufstellung einer solchen Liste klassischer Autoren, verantwortlich war, wer ursprünglich den Kanon
in seiner noch heute gültigen Grundstruktur durchgesetzt hat. Wenn man sich diese häufig
vernachlässigte Frage stellt, dann kommt man um den Namen des Amerikaners Talcott Parsons (1902-
1979) nicht herum. Es war Parsons, der es in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, in einer für die
Soziologie weltweit äußerst schwierigen Phase, geschafft hat, die nach der Gründungszeit des Faches
diffus werdende theoretische Diskussion zu bündeln und unter anderem den Gehalt der
Durkheimschen und Weberschen Schriften zum Kernbestandteil soziologischen Denkens zu erklären.
Parsons’ erstes Hauptwerk, The Structure of Social Action (abgekürzt häufig Structure oder SSA) aus
dem Jahre 1937, war ein 40solcher Versuch der Kanonbildung, der angesichts seines sich allerdings
erst relativ spät einstellenden Erfolges in einem heute kaum mehr begreiflichen Ausmaß die weitere
Entwicklung der Soziologie bestimmt hat: Denn zu selbstverständlich erscheint heute selbst dem
halbwegs fortgeschrittenen Studierenden der Soziologie und erst recht manchem »alten Hasen« des
Faches der Klassikerstatus von Durkheim oder Weber, als daß man glaubt, noch lange darüber
nachdenken zu müssen, wie sie diesen Status überhaupt errungen haben. Es war eben Parsons, dem
dies zu verdanken ist, und das allein würde eine ausführliche Beschäftigung mit The Structure of
Social Action rechtfertigen. Aber dieses fast 800 Seiten lange, höchst anspruchsvolle und sicherlich
nicht leicht zu lesende Buch, das unverständlicherweise bis heute nicht ins Deutsche übersetzt worden
ist, war mehr als nur ein Meilenstein im Prozeß der Kanonbildung. Vielmehr bemühte sich Parsons
ganz explizit, aus den häufig bruchstückhaften und sehr von nationalen oder gar persönlichen
Kontexten geprägten Schriften jener Klassiker das Grundgerüst einer umfassenden soziologischen
Theorie zu gewinnen und das Fach im Spektrum der Sozialwissenschaften insgesamt zu verorten.
Somit gibt es genügend Anlaß, wenn wir die nun folgende Zweite Vorlesung und sogar noch Teile der
Dritten auf die Darstellung und Analyse dieses in vielerlei Hinsicht bahnbrechenden Werkes
verwenden, das unmittelbar nach seinem Erscheinen selbst in Amerika kaum gelesen, sondern erst
später von der Fachöffentlichkeit »entdeckt« wurde.

Parsons’ Lebenslauf ist nicht sonderlich spannend, sondern verkörpert eher eine typische, wenn auch
höchst erfolgreiche Akademikerkarriere, weswegen wir uns auf einige wenige biographische
Bemerkungen beschränken können (zu den Details vgl. Charles Camic, »Introduction: Talcott Parsons
before The Structure of Social Action«). Parsons wurde am 13. Dezember 1902 in Colorado Springs,
Colorado, geboren und wuchs dort in einem asketisch geprägten, protestantischen Elternhaus auf. Sein
Vater, ursprünglich kongregationalistischer Pfarrer, war Englisch-Professor und Dekan am Colorado
College, bevor die Familie 1917 nach New York City umzog, wo der junge Parsons sich auf den
bevorstehenden College-Besuch vorbereiten mußte. Seine Wahl fiel auf Amherst, wo er – was vor
allem für die theoretische Entwicklung in seiner mittleren bis späten 41Werkphase wichtig werden
sollte – sich zuerst auf Biologie konzentrierte, bevor er sich dann scheinbar endgültig für die
Wirtschaftswissenschaften entschied. Nach seinem Abschluß in Amherst im Jahre 1924 verließ er mit
Hilfe eines Stipendiums für einige Zeit die USA, um zunächst an der London School of Economics
weiterzustudieren, wo er unter anderem in engen Kontakt mit bedeutenden Vertretern der
Kulturanthropologie kam, wie etwa mit Bronislaw Malinowski. 1925 ging er nach Heidelberg, wo er
quasi noch den Geist des fünf Jahre zuvor verstorbenen Max Weber atmen konnte, der dort lange Zeit
gelebt und gelehrt und damit das lokale intellektuelle Leben nachhaltig geprägt hatte. Intensiver als
zuvor studierte Parsons an diesem Ort auch die Werke anderer großer deutscher
Sozialwissenschaftler. Seine Doktorarbeit zum Kapitalismusbegriff bei Karl Marx, Werner Sombart
und Max Weber brachte er 1927 erfolgreich zum Abschluß. Allerdings war er schon vorher wieder
nach Amherst zurückgekehrt, um dort im akademischen Jahr 1926/27 als Lehrbeauftragter für den
Bereich Wirtschaftswissenschaften tätig zu sein. Als Parsons im Herbst 1927 dann eine Stelle in
Harvard erhielt, war er fachlich noch immer nicht endgültig festgelegt. Auch dort war er in erster
Linie eingestellt worden, um den Studierenden seine Grundkenntnisse über die in Deutschland
dominierenden ökonomischen Theorien – diese waren teilweise ja auch Gegenstand seiner
Dissertation gewesen – zu vermitteln. So sollte es bis 1930 dauern, bis sich seine immer stärker
werdenden soziologischen Interessen auch in einer entsprechenden Institutsanbindung niederschlugen:
In diesem Jahr kam Parsons ans Soziologie-Department in Harvard, das soeben vom russischen
Emigranten Pitirim Sorokin (1889-1968) neu gegründet worden war. Hier hatte Parsons jedoch
aufgrund persönlicher wie fachlicher Differenzen mit Sorokin erhebliche Anlaufschwierigkeiten, so
daß er erst 1937 – nach dem Erscheinen von Structure – Associate Professor mit Aussicht auf
Festanstellung wurde. Aber ab diesem Zeitpunkt war Parsons immerhin an dem Soziologie-
Department etabliert, in dessen Umfeld er auch zeit seines akademischen Lebens verbleiben sollte. Er
stieg zu einem höchst einflußreichen Lehrer mit brillanten Schülern auf, der seit den beginnenden
1950er Jahren gleichzeitig auch noch in der Lage war, eine enorme Publikationstätigkeit zu
entwickeln. 1951 erschien The Social System als ein weiteres Hauptwerk, und in rascher Folge
kamen zahlreiche Bücher und Aufsätze auf zumeist höchstem theo42retischen Niveau heraus. Parsons
wird damit zum angesehensten und zweifelsohne auch bedeutendsten Soziologen der 1950er und 60er
Jahre, und zwar nicht nur in den USA, sondern weltweit, mit Einfluß sogar in der Sowjetunion. Ende
der 60er Jahre beginnt sein Stern jedoch zu sinken. Er wird zum Gegenstand heftiger kritischer
Attacken, weil sich gerade in der Studentenbewegung und der einflußreichen akademischen Linken
die Meinung durchsetzt, daß Parsons’ Theoriegebäude, aber auch seine eher empirisch orientierten
Schriften eine konservative, amerikazentrische Grundstruktur aufwiesen; deshalb gelte es, den
»orthodoxen« Parsonsschen Konsens in der Soziologie aufzubrechen. Unabhängig davon, daß diese
politische Charakterisierung von Parsons und seinem Werk kaum zutraf – aus Untersuchungen zu
seinem Leben wissen wir mittlerweile, daß er in den 1930er Jahren durchaus große Sympathien für
Roosevelts New Deal hatte und sich in diesem Zusammenhang vermutlich als linken Liberalen sah,
was auch die spätere intensive Beobachtung Parsons’ durch das FBI erklärt –, so wirkte sie sich auf
die Rezeption seines Werkes in den 1970er Jahren doch negativ aus. Obwohl Parsons’ Produktivität
auch in seiner späten Lebensphase nicht nachließ, wurde er mehr oder weniger als Autor behandelt,
dessen Zeit vorbei sei und der kaum mehr in die aktuelle Theorielandschaft zu passen schien.
Dies ändert sich überraschenderweise fast unmittelbar nach seinem plötzlichen Tod am 8.5.1979 in
München, wo sich Parsons anläßlich einer Vortragsreihe aufgehalten hatte. Ende der 1970er Jahre
machen sich nämlich in verschiedenen Ländern Versuche bemerkbar, die mittlerweile in der
Soziologie herrschende und von vielen als unbefriedigend empfundene Theorienvielfalt durch
anspruchsvolle Syntheseversuche zu überwinden. Und dabei sollte es sich für verschiedene
Theoretiker als attraktiv erweisen, auf dem Parsonsschen Denkgebäude aufzubauen. In den USA, aber
auch in Deutschland entsteht etwa unter dem Etikett »Neo-Funktionalismus« oder gar »Neo-
Parsonianismus« eine solche an Parsons orientierte, auf Synthese abzielende Theoriebewegung, der
wir im Rahmen dieser Vorlesungen noch begegnen werden (Dreizehnte Vorlesung). Auch in
Deutschland begannen zwei der bedeutendsten Figuren der Nachkriegssoziologie, ihre eigene
Argumentation mit zentralen Gedanken aus dem Parsonsschen Werk zu verweben: Jürgen Habermas
entwickelt sein eigenes Hauptwerk, nämlich die Theorie des kommu43nikativen Handelns (1981),
mit expliziter Bezugnahme auf Structure; und Niklas Luhmann ließ sich zwar nicht von Parsons’
Frühwerk, aber von dessen späteren Schriften entscheidend inspirieren. Auch auf diese beiden
werden wir im Rahmen der Vorlesungen noch ausführlich eingehen (Neunte bis Elfte Vorlesung). Hier
sei in bezug auf The Structure of Social Action deshalb nur folgendes festgehalten: Gerade weil es
Parsons in diesem ersten großen Buch so überaus gut gelungen war, interpretatorische Kapitel zu
maßgeblichen Figuren der Soziologie mit Ausführungen zur systematischen Theoriebildung zu
verbinden, konnte es Vorbild sein für die Entwicklung neuerer Syntheseversuche, also für die
Verknüpfung der Argumente durchaus unterschiedlicher und scheinbar sich bekämpfender Theoretiker
zur Entwicklung einer umfassenderen Großtheorie.

Damit sind wir endlich bei der Analyse jenes nun schon öfter angesprochenen und für die Geschichte
der Soziologie höchst einflußreichen Buches The Structure of Social Action angelangt, das den ein
wenig langweiligen Untertitel trägt: A Study in Social Theory with Special Reference to a Group of
Recent European Writers. Tatsächlich verweist aber dieser Untertitel schon darauf, woher dieses
Buch zu einem erheblichen Teil seine suggestive Kraft gewinnt: Denn Parsons wählt zur
Plausibilisierung seiner eigenen »social theory« eine brillante Darstellungsform, die er mit einer ganz
spezifischen Behauptung verbindet, welche unter dem Etikett »Konvergenzthese« berühmt werden
sollte. Parsons argumentiert nämlich, daß sich vier große europäische Denker, Berühmtheiten der
Sozialwissenschaften zu ihrer Zeit, in den Jahren zwischen 1890 und 1920 unbewußt und vor allem
ohne voneinander Kenntnis zu nehmen auf ein ähnliches Theoriegerüst zubewegt, daß also ihre
Arbeiten an wesentlichen, vor allem theoretisch interessanten Punkten »konvergiert« hätten. Diese
vier Autoren – der Deutsche Max Weber, der Franzose Emile Durkheim, der Engländer Alfred
Marshall (1842-1924) und der Italiener Vilfredo Pareto (1848-1923) – hätten trotz ihrer Herkunft aus
unterschiedlichen nationalen Theoriemilieus und aus durchaus konfligierenden intellektuellen
Traditionen im Laufe ihrer Werkentwicklung in wichtigen theoretischen Fragen einen gemeinsamen
Nenner gefunden: Obwohl der Ökonom Marshall und der Ökonom und Soziologe Pareto ursprünglich
der Tradition des Utilitarismus, die Soziologen Durkheim und Weber ursprünglich dem französischen
44Positivismus bzw. dem deutschen Idealismus zuzurechnen seien, hätten sie diese theoretischen
Wurzeln zunehmend modifiziert, völlig unabhängig voneinander, d. h. wechselseitig nicht beeinflußt,
eine bemerkenswert ähnliche Kritik am (sogleich zu erläuternden) Utilitarismus formuliert und sich
zumindest in Ansätzen auf die Ausarbeitung einer »voluntaristischen Handlungstheorie« zu bewegt.
Ihre Theorien hätten also »konvergiert«. Dies war Parsons’ starke Behauptung, die für unsere
weiteren Überlegungen als Ausgangspunkt dienen soll. Zunächst ist dabei nur wichtig, warum Parsons
eine derartige »Konvergenzthese« verfocht, nicht so sehr, was mit diesen zugegebenermaßen
einschüchternden Fachbegriffen genau gemeint ist. Letzteres wird später geklärt werden.
Von entscheidender Bedeutung ist hier also zunächst Parsons’ Behauptung, daß er selbst die den
Autoren gar nicht bewußte Ähnlichkeit bzw. Konvergenz gefunden und herausgearbeitet habe. Damit
wollte er zweierlei erreichen: Zum einen reklamierte er natürlich für sich die Leistung, durch eine
besonders interessante Interpretation eine neue Sichtweise auf bisher als durchaus unterschiedlich
wahrgenommene Denker eröffnet zu haben. Dies kann an sich schon eine große Errungenschaft sein.
Aber Parsons wollte mit dieser Konvergenzthese noch mehr. Sie sollte nämlich zum anderen dazu
dienen, dem Leser eine Art Beweis für die Richtigkeit seines eigenen theoretischen Unterfangens zu
liefern. Denn Parsons teilte die (angebliche) Kritik der vier genannten Denker am Utilitarismus, und
er wollte deren Einwände konstruktiv zum Aufbau einer eigenen Theorie nutzen. Und er erhob
gleichzeitig den Anspruch, auch deren positive Einsichten bewahren und sogar synthetisieren zu
können im Sinne eines neuen, nun umfassenderen Ansatzes. Eben weil alle vier Sozialwissenschaftler
– so die von Parsons beabsichtigte Stoßrichtung seiner Konvergenzthese – unabhängig voneinander
zum gleichen Ergebnis gekommen sind (heute würde man in den Naturwissenschaften sagen: eben
weil sich das Phänomen einer »multiple discovery« ereignet habe), konnte Parsons Plausibilität für
sein Argument beanspruchen, daß die Kritik am Utilitarismus eine notwendige und unhintergehbare
sei. Diese Kritik könne also keinesfalls nur persönlichen Überempfindlichkeiten entsprungen sein,
wenn so unterschiedliche Köpfe an unterschiedlichen Orten ihr Unbehagen am Utilitarismus zum
Ausdruck gebracht und gleichzeitig den Übergang hin zu einer neuen Theorie gewagt hätten:
45(…) In fact, within the broad cultural unit, Western and Central Europe at the end of the nineteenth and beginning of the twentieth
century, it would scarcely be possible to choose four men who had important ideas in common who were less likely to have been
influenced in developing this common body of ideas by factors other than the immanent development of the logic of theoretical
systems in relation to empirical facts. (Structure, S. 14)

Parsons’ Ehrgeiz bestand also darin, wichtige, wenn auch häufig noch verschwommen artikulierte
Gedanken dieser vier Autoren herauszufiltern und sie analytisch klar zu formulieren, um damit der
Soziologie – und vielleicht sogar den gesamten Sozialwissenschaften – eine feste bzw. festere
Grundlage zu geben. Seine Darstellungsweise, die Ineinanderschachtelung von langen
interpretatorischen Kapiteln zu den genannten vier Autoren einerseits und rein theoretischen
Ausführungen andererseits, war im Zusammenspiel mit jener Konvergenzthese dabei gerade auch
deshalb so brillant wie verführerisch, weil er sich mit seiner Berufung auf jene berühmten frühen
Autoren quasi »auf deren Schultern« stellte, auf die »Schultern von Riesen«. Damit deutete er ganz
explizit die Geschichte der Sozialwissenschaften (oder der Soziologie) als eine Geschichte des
wissenschaftlichen Fortschritts. Parsons hat vermutlich – und vergleichen Sie hierzu den Schluß des
obigen Zitats – folgendermaßen gedacht: »Aus der Geschichte des Utilitarismus folgt notwendig in
Form einer immanenten Denkbewegung die Kritik daran; gleichzeitig ergeben sich die ersten, wenn
auch noch unvollkommenen Versuche eines Ausbruches aus dem unhaltbar gewordenen Denksystem
des Utilitarismus (wie dies eben bei den vier Autoren zu beobachten ist), bevor dann ich, Parsons,
eine viel klarere, positiv formulierte Theorie entwickeln kann, die allerdings wahrscheinlich in
Zukunft ebenfalls verändert und immer weiter vervollkommnet werden wird.«
Die Geschichte der Sozialwissenschaften läßt sich also in der Deutung von Parsons in ähnlicher
Weise schreiben wie die Erfolgsstory der Naturwissenschaften: Auch in den Sozialwissenschaften,
und gerade in der Soziologie, ist demnach Fortschritt erkennbar, was natürlich für die Legitimität
dieser Disziplin(en) von immenser Bedeutung ist. Tatsächlich war es Parsons in The Structure of
Social Action immer auch darum gegangen, das noch relativ junge Fach der Soziologie gegen das
erdrückende Vorbild etwa der Naturwissenschaften, aber auch im Verhältnis zu den schon wesentlich
weiter entwickelten und mathematisierten Wirtschaftswissenschaften zu 46profilieren. Somit ist seine
den wissenschaftlichen Fortschritt betonende Darstellungsform sicherlich kein Zufall. Aber es wäre
ungerecht gegenüber Parsons, wollte man ihm vorwerfen, daß seine spezifische Deutung der
Geschichte des sozialwissenschaftlichen Denkens nur aus disziplin-egoistischen Gründen erfolgt sei
oder daß diese Deutung nur das Ziel gehabt habe, ihn selbst als den Vollender der Denkgebäude
dieser vier Theoretiker zu preisen. Parsons hätte es sich – hätte er nur diese Ziele verfolgt – viel
einfacher machen können!
Hier ist nämlich in Erinnerung zu rufen, daß der Amerikaner Parsons europäische Denker ins
Zentrum seiner Interpretationen gestellt hatte. Dies ist deshalb relevant, weil zum Zeitpunkt der
Veröffentlichung von Parsons’ Studie der Einfluß der europäischen Sozialwissenschaften in den USA
– sieht man von den seit 1933 verstärkt ins Land kommenden Emigranten aus Deutschland ab – relativ
gering geworden war. Hatten vor dem Ersten Weltkrieg noch fast alle berühmten amerikanischen
Wissenschaftler zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Laufbahn in Europa und vor allem in Deutschland
studiert, so begann sich dies zu ändern, weil der Erste Weltkrieg das Prestige Deutschlands erheblich
gemindert hatte. Aus der Sicht vieler Amerikaner versank sogar ganz Europa im politischen Morast;
denken Sie an den Aufstieg des italienischen Faschismus in den frühen 20er Jahren, an Hitlers
Machtübernahme 1933, an den 1936 beginnenden spanischen Bürgerkrieg oder an die Wirren der
Volksfrontregierung in Frankreich. Genau deshalb mochte es aus amerikanischer Sicht kaum
nachvollziehbar erscheinen, warum man, wie Parsons vorschlug, zur Etablierung und universitären
Festigung einer Disziplin ausgerechnet an europäische Denker – und zwar ausschließlich! –
anknüpfen solle. Genau dies aber tat Parsons, wobei angesichts der Herkunft dieser Denker
keineswegs eine große Resonanz auf einen solchen Vorschlag garantiert war. Parsons machte es sich
also alles andere als leicht. Vielmehr ging er ein erhebliches Risiko ein, als er jene Denker quasi auf
ein Podest hob, vor allem Durkheim und Weber, denen er die längsten Abschnitte in seinem Buch
widmete. Indem er dies tat, trug er nun entscheidend dazu bei, daß gerade diese beiden
Wissenschaftler zu den zentralen Figuren im heutigen Kanon der Soziologie wurden. Denn man darf
eines nicht übersehen: Es ist nicht nur zu einem großen Teil Parsons zu verdanken, daß das Werk
Durkheims und Webers so nachhaltig Eingang 47fand in die amerikanische Soziologie; es ist auch
seinem kreativen Umgang mit dem Werk dieser Autoren und seiner Form der Theoriebildung
geschuldet, daß die amerikanische Soziologie seit den späten 30er Jahren große Fortschritte im
Bereich der Theorie erlebte und auf ein neues, viel höheres Niveau gebracht wurde. Vergessen
werden darf ganz besonders nicht, daß selbst in Europa der Status von Durkheim und Weber zu
dieser Zeit keineswegs (mehr) gesichert war, ist doch die europäische Soziologie nach dem Tod nicht
weniger ihrer Gründerväter zu Beginn der 20er Jahre in eine Art Stagnationsphase geraten. Diese
Krise ergab sich gewiß zum Teil aus den politischen Verwerfungen dieser Zeit, sie hatte aber auch
intellektuelle Gründe. Es war somit Parsons, der mit seiner Konzentration auf einige wenige
europäische Klassiker weltweit wieder eine Besinnung auf die Grundlagen des Faches erzwang. Es
war Parsons, der so erfolgreich kanonbildend tätig geworden war – mit jenen schon angesprochenen
enormen Auswirkungen für die weitere Geschichte der Soziologie. Dies allein ist schon ein triftiger
Grund, warum ein Buch über moderne soziologische Theorie mit Parsons beginnen muß.
Soweit zu der von Parsons gewählten Darstellungsform in The Structure of Social Action und zu
seiner sogenannten Konvergenzthese. Die bisherigen Ausführungen haben gewissermaßen nur die
formale Struktur des Parsonsschen Werkes angerissen, aber noch nichts Konkretes über die dort zu
findenden weiteren theoretischen Argumente bzw. Interpretationen ausgesagt. Dies wird jetzt
erfolgen, und zwar in drei Schritten, wobei Sie wie versprochen Auskunft erhalten sollen über die
Bedeutung der vorhin zitierten zentralen Fachbegriffe.

Einen erheblichen Teil seiner Argumentation in Structure verwendet Parsons tatsächlich dazu, den
Utilitarismus zu kritisieren. Die Kritik an bestehenden Denksystemen, hier an jenem des Utilitarismus,
ist also wesentlicher Bestandteil des Buches. Parsons nimmt zu Recht an, daß er diese so
einflußreiche theoretische Strömung erst widerlegen muß, bevor er ernsthaft daran denken kann, ein
eigenes Theoriegebäude aufzubauen. Aus seiner Sicht mußte also der konstruktiven Arbeit zunächst
ein destruktiver Akt vorausgehen.
Was ist nun dieser »Utilitarismus«? Bei der Beantwortung dieser Frage ergeben sich sogleich
Schwierigkeiten, weil der Terminus eini48germaßen unklar ist und auch Parsons in seiner
Begriffsverwendung häufig nicht sehr präzise war. Nichtsdestotrotz müssen wir eine Klärung
herbeiführen, und Sie werden deshalb zu einem kurzen Ausflug in die Philosophiegeschichte
eingeladen.
Der »Utilitarismus« (darin steckt das lateinische Wort »utilitas« = Nutzen, Vorteil) ist zunächst die
Bezeichnung für eine Denkströmung in der englischen Philosophie des späten 18. und frühen 19.
Jahrhunderts. Dieser Ansatz ist eng mit dem Namen von Jeremy Bentham (1748-1832) verbunden, der
die utilitaristischen Grundprinzipien im Hinblick auf eine Theorie des menschlichen Handelns und
eine Theorie der Moral ausformulierte. Bentham ging davon aus, daß menschliches Handeln dem
Diktat von »pain and pleasure« unterworfen sei, daß Menschen also handeln, weil sie immer und
unter allen Umständen Schmerz vermeiden und Lust gewinnen, weil sie – um es etwas anders zu
formulieren – ihren Nutzen vermehren wollten. Daraus leitete er dann das ethische Prinzip ab, daß
sich die moralische Qualität menschlichen Handelns danach bemißt, inwieweit es zum größten Glück,
zum größten Nutzen der größten Zahl der vom Handeln betroffenen Menschen bzw. der Gesellschaft
beiträgt. Benthams hier kurz skizzierte Grundideen erwiesen sich als äußerst folgenreich vor allem
für die englische und anglo-amerikanische Geistesgeschichte, insofern er brillante Nachfolger bzw.
Interpreten hatte, die seine Ideen einer breiten Öffentlichkeit nahebrachten. Einer davon war John
Stuart Mill (1806-1873), der es im Jahre 1863 unternommen hatte, in einer »Utilitarianism« betitelten
Abhandlung die Benthamschen Argumente zu bündeln und gleichzeitig auch etwas zu modifizieren. Er
soll hier mit einem Zitat kurz zu Wort kommen, damit Sie sich besser in die Gedankenwelt von
Utilitaristen hineinversetzen können. Sie sollten sich dabei vor allem auf diejenigen im Zitat von uns
hervorgehobenen Aspekte konzentrieren, die sich auf eine Theorie des Handelns beziehen.
The creed which accepts as the foundation of morals, Utility, or the Greatest Happiness Principle, holds that actions are right in
proportion as they tend to promote happiness, wrong as they tend to produce the reverse of happiness. By happiness is intended pleasure,
and the absence of pain; by unhappiness, pain, and the privation of pleasure. To give a clear view of the moral standard set up by the
theory, much more requires to be said; in particular, what things it includes in the ideas of pain and pleasure; and to what extent 49this is
left an open question. But these supplementary explanations do not affect the theory of life on which this theory of morality is
grounded – namely, that pleasure, and freedom from pain, are the only things desirable as ends (…). (Mill, »Utilitarianism«,
S. 118; unsere Hervorh.)

Wie Bentham definiert also auch Mill menschliches Handeln als nutzenorientiert, als abwägend im
Hinblick auf die Vermeidung von Schmerz und die Erzielung von Lust. Es ist nun aber genau dieser
handlungstheoretische Aspekt des Utilitarismus, den Parsons – aus Gründen, die noch aufgezeigt
werden – vehement kritisiert.
Bevor er tatsächlich zu dieser Kritik ansetzt, macht er uns freilich darauf aufmerksam, daß eine
solche auf Nutzenorientierung hin abzielende Fassung menschlichen Handelns nicht nur Denkern wie
Bentham und J. St. Mill eigen gewesen sei, also denjenigen, die man im engeren Sinne als
Utilitaristen bezeichnen könnte und die sich selbst tatsächlich so bezeichnet haben. Parsons zufolge ist
die utilitaristische Auffassung vom menschlichen Handeln im späten 19. und im 20. Jahrhundert auch
für eine ganze Disziplin, nämlich die Wirtschaftswissenschaften, absolut prägend geworden: dies ist
schon wirkungsgeschichtlich plausibel, weil berühmte Ökonomen wie David Ricardo (1772-1823)
und William Stanley Jevons (1835-1882) tatsächlich erheblich von utilitaristischen Denkern (teils
auch persönlich) beeinflußt worden waren. Aber Parsons geht noch weiter: Er behauptet sogar, daß in
großen Teilen der englischen politischen Philosophie lange vor Bentham und Mill utilitaristische
Argumente zentral gewesen seien, wobei ihm besonders – darauf wird gleich ausführlich einzugehen
sein – Thomas Hobbes (1588-1679) als beispielhafter Denker in den Blick gerät.
Parsons’ Utilitarismus-Verständnis ist demnach problematisch, weil sein Begriff des
»Utilitarismus« in gewisser Weise zu weit gefaßt ist, also zu viele unterschiedliche
philosophiegeschichtliche Strömungen mit einem einzigen Etikett versieht. Dennoch ist seine
Vorgehensweise nachvollziehbar, sind doch wichtige Passagen von Structure als
geistesgeschichtliche Analysen zu den Wurzeln dieses Denkens zu verstehen: Parsons macht etwa auf
die frühchristlichen Vorformen dieses von ihm als »nutzenorientiert« (oder auch als
»individualistisch« bzw. »atomistisch«) bezeichneten Denkens aufmerksam, deren charakteristische
Merkmale allerdings durch den mittelalterlichen Katholizismus abgeschliffen worden seien. Erst die
Reformation hätte wieder eine Radikalisierung bewirkt mit 50der dort zu findenden Betonung nicht so
sehr der Freiheit der Individuen, sondern der Freiheit der Ziele der Individuen, ihrer »ends« (vgl.
Structure, S. 51 ff.). Hier sind laut Parsons die wirklichen Anfänge utilitaristischen Denkens zu
suchen, eines letztlich sehr einseitigen Denkens, das sich beim Thema Handeln in erster Linie dafür
interessiert, mit welchen Mitteln die jeweiligen Handlungsziele der Akteure am effizientesten erreicht
werden können. Im Mittelpunkt steht also die effiziente Nutzenerzielung. Dabei geht diese
Denktradition oftmals eine kaum zu durchdringende Verbindung mit der modernen empirischen
Wissenschaft ein, die ja ebenfalls am Beginn der Neuzeit entstanden ist: Wissenschaftlich-rationales
Experimentieren wurde mit nutzenorientiertem Handeln fast gleichgesetzt, und umgekehrt wurde das
utilitaristisch gedachte Handeln als einzig wahrhaft rationale Aktivität und damit als Handeln
schlechthin begriffen,
in so far as it pursues ends possible within the conditions of the situation, and by the means which, among those available to the actor, are
intrinsically best adapted to the end for reasons understandable and verifiable by positive empirical science. (Parsons, Structure, S. 58)

Insofern kann Parsons argumentieren – und hier wären wir bei einem weiteren bisher ungeklärten
Fachbegriff bzw. Fremdwort –, daß der Utilitarismus eine Art Unter- oder auch Nebenströmung des
»Positivismus« sei, einer laut Parsons gerade die französische Aufklärung und französische
Philosophie insgesamt kennzeichnenden Denkrichtung, nach welcher die »positive« Wissenschaft,
also das an naturwissenschaftlichen Methoden geschulte Denken, der einzig vernünftige Zugang des
Handelnden zur Realität sei (vgl. Structure, S. 60 ff. und siehe auch die Erste Vorlesung, S. 20).
Soweit zu Parsons’ Begrifflichkeit, zu seinem Utilitarismus-Verständnis und zu jenem Komplex von
Theorien, mit dem er sich auseinandersetzen will und wird. Angelpunkt dieser Auseinandersetzung ist
Thomas Hobbes, der politische Philosoph der frühen Neuzeit, der laut Parsons am klarsten die
handlungstheoretischen Prämissen des utilitaristischen Denkens ausformuliert und v. a. ihre
Konsequenzen systematisch durchdiskutiert hat, ohne freilich auf die Schwächen dieser
Handlungskonzeption aufmerksam geworden zu sein.
In Hobbes’ Hauptwerk Leviathan (1651) findet sich an entschei51dender Stelle der Argumentation
ein Gedankenexperiment, für das sich auch Parsons brennend interessiert. Hobbes fragte nämlich,
was passiert, wenn Menschen im »Naturzustand«, d. h. ohne äußere Regeln, Einschränkungen,
Gesetze usw., handeln, und zwar in einer Weise handeln, wie es der utilitaristischen Vorstellung
entspricht, nämlich nutzenorientiert, indem sie versuchen, ihre Lust größtmöglich zu steigern und
Schmerz zu vermeiden. Was geschieht also, wenn sie genau so handeln – und zwar unter Bedingungen
der Güterknappheit? (Dies ist eine einigermaßen selbstverständliche Bedingung, denn schließlich
sind ja nur im Schlaraffenland alle begehrten Güter im Überfluß vorhanden; überall sonst wird es
Konkurrenz um ebenjene Güter geben.) Hobbes’ völlig plausible Antwort war, daß unter derartigen
Umständen das Handeln der Menschen zur Allgegenwart von »force and fraud« führen müsse, zum
gewaltsamen und betrügerischen Handeln aller Menschen, eben weil in jener Konkurrenz um knappe
Güter ohne einschränkende Regeln jeder nur seinen unmittelbaren Vorteil, seinen Nutzen suchen
würde: Andere Menschen werden entweder als Mittel zur Befriedigung eigener Bedürfnisse und
Lüste eingesetzt und hierbei möglicherweise sogar mit Gewalt versklavt, oder sie werden über die
eigenen Absichten getäuscht, beim Warentausch betrogen etc. Diese gewaltsamen oder hinterlistigen
Handlungsstrategien würden schon deshalb zum Einsatz kommen, weil sie im Hinblick auf
Zielerreichung häufig sehr effizient sind und weil jeder damit rechnen muß, daß die Mitmenschen zur
Erlangung ihrer Vorteile ebenfalls zu solchen Mitteln und Strategien greifen werden. Ergebnis dieser
Situation, eines derartigen »Naturzustandes« sind dann alltägliche Gewalt und ein permanentes
Gefühl der Unsicherheit, Ruhelosigkeit, ja sogar Todesfurcht unter den Menschen. Selbst der Genuß
des Besitzes wird fraglich, eben weil alles gefährdet ist aufgrund der stets möglichen Überwältigung
des Besitzers durch andere Menschen. In einer solchen Situation, in der ein jeder ungehindert nur
seinen egoistischen Nutzen verfolgt, kann es kein Vertrauen geben; im »Naturzustand« wäre der Krieg
aller gegen alle (»bellum omnium contra omnes«) das notwendige Resultat des rein nutzenorientierten
Handelns von Menschen. Und dieser Zustand kann laut Hobbes niemanden wirklich zufriedenstellen.
Wenn nun Menschen tatsächlich so nutzenorientiert handeln würden, wie es von Hobbes in seinem
Gedankenexperiment zum 52Naturzustand dargestellt wurde, dann kann es zur Beendigung dieser
anarchischen und kriegerischen Situation, dieses unhaltbaren Zustandes nur einen Lösungsweg geben:
Dieser – so sieht es zumindest Hobbes – besteht in der Unterwerfung aller Menschen unter einen
einzigen Willen, konkret unter die Autorität eines Herrschers bzw. eines Staates, der schließlich den
Krieg aller gegen alle beenden, sein Gewaltmonopol etablieren und damit den Frieden erzwingen
wird. Hobbes ging also davon aus, daß sich die Menschen in der furchtbaren und unhaltbaren
Situation des kriegerischen Naturzustandes nur mehr dadurch zu helfen wissen, daß sie alle ihre
bisherige Macht an den Staat abgeben. Dieser Staat heißt bei Hobbes – wie auch der Titel des Buches
– »Leviathan«, ein Name, der dem Alten Testament entstammt und dort ein mächtiges Seeungeheuer
bezeichnet. Eine derart merkwürdige Namensgebung verweist schon darauf, daß Hobbes seinem
eigenen »Lösungsvorschlag«, der Herrschaft des »Leviathan«, ambivalent gegenübersteht, denn mit
diesem Ungeheuer wird zwar der Frieden hergestellt, aber doch nur um den Preis der immensen
(politischen) Ungleichheit zwischen dem Herrscher an der Spitze jenes Staates einerseits und dem
Rest der Menschen andererseits. Aber – so Hobbes – erst der Staat ermöglicht es, daß die Menschen
den anarchischen Zustand verlassen und den Gesellschaftszustand erreichen, in dem sie dann
beispielsweise überhaupt erst die Früchte ihrer Arbeit, nämlich Eigentum, in Frieden genießen
können.
Nun könnte man eine ideengeschichtliche Untersuchung darüber anstellen, warum Hobbes
überhaupt zu einem solchen Gedankenexperiment angesetzt, den »Naturzustand« so und nicht anders
beschrieben und jene Denkfigur des Leviathan eingeführt hat. Das Buch wurde gewiß in einer Zeit
massiver politischer und sozialer Verwerfungen geschrieben; es war dies in England die Zeit des
blutigen (konfessionellen) Bürgerkrieges. Man hat auch versucht, sein Werk auf die Entstehung einer
neuen Sozialstruktur durch die beginnende kapitalistische Umstrukturierung der Landwirtschaft zu
beziehen. Hobbes mag also ganz konkret an das zeitgenössische England gedacht haben, als er sein
Gedankenexperiment entwarf. Und insofern ist es nachvollziehbar, daß er die alltägliche Gewalt des
Bürgerkriegs oder – und dies ist die andere Deutung – die ungeheuren Folgen des Frühkapitalismus
nur mit einem »Ungeheuer« zähmen zu können glaubte, daß ihm also der allmächtige, der
absoluti53stische Staat als die Lösung der zeitgenössischen Probleme erschien. Hobbes’ »Lösung«
blieb aber keineswegs die einzige. Eine andere Lösungsstrategie, die in diesem Zusammenhang zu
erwähnen ist, entstammte dem ökonomischen Denken. Bei John Locke (1632-1704) und Adam Smith,
also Denkern, die unter anderem in Großbritannien die Wirtschaftswissenschaften vorbereitet bzw.
ihnen zum Durchbruch verholfen haben, findet sich nämlich das Argument, daß das nutzenorientierte
Handeln der Menschen unschädlich gemacht werden könne, wenn es in den Bereich des
Gütertausches, des Handels, quasi »umgeleitet« werde. Denn der Markt, auf dem die Marktteilnehmer
ja auch lediglich ihren größtmöglichen Nutzen verfolgen, zeichnet sich nach Locke und Smith dadurch
aus, daß dort die Tauschakte zum wechselseitigen Vorteil aller stattfänden. »Trade and barter« seien
wohltemperierte nutzenorientierte Tätigkeiten, durch die alle Teilnehmer profitierten, weshalb
überhaupt erst eine dauerhafte soziale Ordnung, eben die Ordnung des Marktes, möglich werde. Die
umfassende Durchsetzung der Marktgesellschaft, ja sogar die weitestgehende Vermarktlichung
sozialer Beziehungen soll also garantieren, daß die ansonsten frontal aufeinanderprallenden, auf
Leidenschaften bzw. ungezügelten Begierden basierenden und sich letztlich negativ auswirkenden
Nutzenkalküle in die Verfolgung rationaler Marktinteressen mit einer entsprechend harmonischen
Koordination »umgeleitet« werden: Je mehr Markt – so könnte man diese Ordnungsidee formelhaft
beschreiben – desto weniger Leidenschaften und Krieg, desto mehr rationale Interessenverfolgung
und Harmonie durch friedlichen und für alle vorteilhaften Tausch (vgl. hierzu das schöne Buch von
Albert Hirschman, The Passions and the Interests: Political Arguments for Capitalism Before its
Triumph; dt.: Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor
seinem Sieg).
Aber eine geistesgeschichtliche Deutung war überhaupt nicht Parsons’ Absicht. Parsons
interessierte sich vielmehr für die innere Logik der genannten Argumente: Gegen Lockes und Smiths
Vorstellung der Ordnungsstiftung über Markttransaktionen wandte er ein, daß diese auf der nicht näher
begründeten, »metaphysischen« Annahme einer natürlichen Interessenidentität der Marktteilnehmer
beruhe: Die klassische politische Ökonomie gehe offensichtlich davon aus, daß Marktteilnehmer
problemlos miteinander zu vereinbarende Zielsetzungen hätten und zu ihrem wechselseitigen Vorteil
54interagieren würden. Abgesehen davon, ob eine solche Annahme richtig war oder nicht (Parsons
hat sie bestritten!): Man weicht mit ihr – so Parsons – der von Hobbes in den Mittelpunkt gestellten,
zugespitzten Problemsituation von Ordnungsstiftung unter Bedingungen tatsächlich nicht miteinander
zu vereinbarender Interessen aus (vgl. Structure, 97 ff.). Das Lösungsmodell der klassischen
politischen Ökonomie verschenkt also quasi durch jene metaphysische Annahme die Chance, die von
Hobbes aufgeworfene Frage tatsächlich radikal zu durchdenken. Es kann deshalb auch nicht
verwundern, daß sich Parsons dann in erster Linie auf das ursprünglich von Hobbes vorgenommene
Gedankenexperiment konzentriert. Seine Frage war also: Wie kann es – und dies bezeichnet Parsons
als das »Hobbessche Problem« oder das »Problem der Ordnung« – unter Bedingungen des allseits
nutzenorientierten Handelns überhaupt zur Ordnungsbildung kommen?
Parsons bestreitet nun nicht, daß Staat oder Markt tatsächlich Ordnung stiften. Er ist der
Auffassung, daß soziale Ordnung ein unbezweifelbarer Tatbestand ist, daß es Ordnung gibt und somit
Ordnung kein wirklich rätselhaftes Phänomen ist. Denn tatsächlich erleben wir ja in unserem Alltag
eine Vielzahl sozialer Regelmäßigkeiten, die sogar ohne das Einwirken des Staates oder des Marktes
zustande gekommen sind: Denken Sie daran, wie gleichförmig, manche würden sogar sagen eintönig,
Tag für Tag Interaktionen in der Familie oder im Freundeskreis ablaufen, so daß man relativ sicher
sein kann, daß sie auch morgen so oder so ähnlich vonstatten gehen werden. Für Parsons war es also
sinnlos zu bestreiten, daß soziale Ordnung existiert! Er sollte nicht, wie dies häufig in der
Sekundärliteratur zu finden ist, so verstanden werden, als hätte er das Problem der sozialen Ordnung
als empirisches Problem behandelt, für das er eine Lösung vorschlagen wollte, die der von Hobbes
(»Absolutismus«) oder Locke (»Liberalismus«) überlegen sei. Dieses Mißverständnis geht auf eine
Fehldeutung des genauen Charakters von Parsons’ Argument zurück. Was Parsons vielmehr
bezweifelte, war die Behauptung, daß es stabile Ordnung (in welcher Form auch immer) unter der
Bedingung eines rein nutzenorientierten Handelns der Menschen geben könne! Parsons verwendet
hier ein an den großen deutschen Philosophen Immanuel Kant erinnerndes »transzendentales«
Argument. So wie Kant darüber nachdachte, welche Bedingungen überhaupt gegeben sein müssen,
damit etwa die Wis55senschaft der Physik so erfolgreich funktionieren kann, wie sie funktioniert
(Kant machte keine Experimente und fügte dem Theoriegebäude der Physik keine neuen Aussagen
hinzu; er versuchte nur – und dies heißt bei ihm dann »transzendental« – die Bedingungen zu erhellen,
die auf der Seite des erkennenden Subjekts gegeben sein müssen, damit etwas, hier:
naturwissenschaftliches Forschen, überhaupt möglich ist), so fragt Parsons nach den Bedingungen
der Möglichkeit sozialer Ordnung auf der Seite der handelnden Menschen. Und im Rahmen dieser
transzendentalen Überlegung versucht er zu zeigen, daß alle Autoren, deren Prämisse das
nutzenorientierte Handeln der Menschen ist, unfähig sein müssen, das Vorhandensein »normaler«
sozialer Ordnung zu erklären, also einer solchen, die nicht durch Unterwerfung (wie bei Hobbes)
oder durch Marktmechanismen (wie bei Locke und Smith) zustande gekommen ist. Ja mehr noch,
selbst die Ordnung durch Gewalt oder durch den Markt basiert schon auf Elementen, die mit dem
Modell des nutzenorientierten Handelns überhaupt nicht gefaßt werden können.
Parsons demonstriert dies ganz konkret am Hobbesschen Lösungsvorschlag zur Überwindung der
Anarchie des »Naturzustandes«. An diesem sei unklar, wie und warum plötzlich die Menschen zur
Einsicht gelangen sollen, daß sie ihre bisherigen Machtbefugnisse zu ihrem eigenen Vorteil aufgeben
und diese einem Leviathan übertragen müssen. Denn sie könnten doch folgendermaßen fragen: Wer
garantiert mir eigentlich, daß meinem Schritt auch die anderen folgen werden, daß also nicht nur ich
die Waffen (und die Macht) abgebe, sondern auch die anderen? Wieso sollen überhaupt diejenigen,
denen es momentan im Naturzustand gutgeht, die also reich und mächtig sind, sich auf einen solchen
Schritt einlassen, können sie doch immer hoffen, ihre Macht für lange Zeit zu konservieren? Mittel
dazu haben sie ja. Und überhaupt: Da mit der Schaffung des Leviathan alle außer einem die Macht
verlieren werden und nur einer massiv an Macht gewinnen wird, warum sollte man sich auf ein so
riskantes Spiel einlassen, zumal nach Errichtung dieses allmächtigen Staates zwar der so gefürchtete
Bürgerkrieg beendet sein, allerdings der nicht minder schreckliche Krieg zwischen Staaten erst so
richtig beginnen dürfte? Wie jene kollektive Einsicht in die Notwendigkeit des Leviathan, wie eine
diesbezügliche Einigung unter immer nur nutzenorientiert handelnden Menschen so plötzlich zustande
kommen soll, blieb in der Hobbesschen Theorie also my56steriös. Deshalb vertrat Parsons die
Auffassung, daß Hobbes bei seinem Lösungsvorschlag offensichtlich eine Handlungskonzeption des
Menschen zugrunde gelegt hatte, die nicht allein auf Nutzenmaximierung basierte, denn ansonsten
wäre ja die Zustimmung zur Schaffung jenes Leviathan gar nicht möglich. Hobbes’ Lösung des
Ordnungsproblems – so die These von Parsons –
involves stretching, at a critical point, the conception of rationality beyond its scope in the rest of the theory, to a point where the actors
come to realize the situation as a whole instead of pursuing their own ends in terms of their immediate situation, and then take the action
necessary to eliminate force and fraud, and, purchasing security at the sacrifice of the advantages to be gained by their future
employment. (Parsons, Structure, S. 93)

Wenn aber eine Theorie, die Handeln ausschließlich als nutzenorientiert begreift, unfähig ist, soziale
Ordnung bzw. deren Entstehung befriedigend zu erklären, dann – so Parsons’ Schlußfolgerung – muß
das utilitaristische Handlungsmodell von vornherein falsch oder zumindest unzureichend sein. Aber
bevor wir Parsons’ Argumentationsführung weiter verfolgen, halten wir hier kurz inne, um in einer
etwas abstrakteren Weise die bisherigen Gedanken von Parsons nochmals kurz zusammenzufassen.
Jede soziologisch interessierte Theorie des Handelns – und der Utilitarismus ist bzw. hat eine
solche Theorie – muß erklären können, wie soziale Ordnung zustande kommen kann. Denn: Es gibt
soziale Ordnung. Das Geschehen in unserer Gesellschaft, sogar dasjenige in England zu Hobbes’
Zeiten, verläuft und verlief durchaus nach bestimmten Regeln, weil die Ziele der
Gesellschaftsmitglieder vielfach übereinstimmen. Das aber bedeutet, daß man eben nicht die völlige
»randomness of ends« (dieser Begriff wird von Parsons häufig verwendet), die Zufälligkeit der Ziele
der Gesellschaftsmitglieder also, unterstellen darf; es ist falsch anzunehmen, daß die Menschen
jeweils nur sehr spezifische individuelle Ziele und Nutzenvorstellungen hätten, die nicht alle oder –
wenn überhaupt – nur zufällig mit denjenigen der Mitmenschen übereinstimmen. Es reicht jedenfalls
nicht aus – wie dies in den dem Utilitarismus verpflichteten Wirtschaftswissenschaften zumeist
geschieht –, nur irgendwie die Interessenidentität der Subjekte zu postulieren: Die
Wirtschaftswissenschaften haben lange Zeit darauf verzichtet, die Herkunft der Ziele und
Nutzenvorstellungen der Akteure über57haupt zum Thema zu machen. Man ging schlicht davon aus,
daß Menschen nutzenorientiert handeln, ohne genauer zu untersuchen, was denn die Handelnden
konkret zu ihrem Ziel machen bzw. zu ihrem Nutzen erklären und vor allem: warum bzw. unter
welchen Umständen sie das tun! Parsons war mit einer solchen Vorgehensweise, die bestimmte, aus
seiner Sicht zentrale Probleme schlicht ignoriert, nicht einverstanden. Seine Frage war vielmehr
folgende: Wenn Ordnung tatsächlich existiert, dann muß die Theorie des Handelns in der Lage sein,
sie zu erklären; dann muß sie darlegen, wie es sein kann, daß die im Utilitarismus nicht weiter
problematisierte »randomness of ends« in Wirklichkeit doch nicht gegeben ist und wie statt dessen im
Alltag die Koordination von Handlungszielen normalerweise problemlos erreicht wird. An diesem
Punkt – so die These von Parsons – versagt nun der Utilitarismus, weil er auf die Frage »Woher
kommen eigentlich die Ziele des Handelns, die Nutzenvorstellungen der Akteure, ihre ›ends‹?« keine
Antwort parat hat. So stellen die mit dem utilitaristischen Modell arbeitenden Theoretiker oder
Disziplinen lediglich fest, daß Wünsche, Bedürfnisse, Nutzenvorstellungen, »ends« etc. existieren.
Wie sie entstehen – die Antwort auf diese Frage wird der Psychologie oder der Biologie überlassen;
eigene Aussagen dazu werden nicht gemacht. Damit aber vergibt man gleichzeitig die Chance zu
erklären, wieso die Handlungsziele der Menschen tatsächlich so häufig übereinstimmen; denn die
Frage nach jenen Ursprüngen der »ends« könnte doch gerade hierzu einen wichtigen, wenn nicht gar
den entscheidenden Hinweis geben.
Der Utilitarismus hat also zweifellos ein schwerwiegendes theoretisches Problem. Zumindest in
seinem Umfeld wurde dies auch so gesehen. So gab es dann im Positivismus, von dem der
Utilitarismus für Parsons nur eine Variante darstellte, durchaus diesbezügliche Antwortversuche; sie
sind aber allesamt – so die Behauptung von Parsons, der zwei nicht-utilitaristische Varianten
unterscheidet – unbefriedigend. Vielmehr führen sie sogar dahin, daß sich Vorstellungen vom aktiven
menschlichen Handeln überhaupt verflüchtigen und damit das utilitaristische Modell als Modell des
Handelns zerstört wird. Warum?
a) Im »radikal-rationalistischen Positivismus« wurde dem ursprünglichen Problem, daß die Ziele,
Wünsche, Nutzenvorstellungen, »ends« der Akteure nach den Prämissen des Utilitarismus nur
58zufällig übereinstimmen können und deshalb eine langfristige Koordination der Handlungen, also
soziale Ordnung, auch nicht zu erwarten ist, damit begegnet, daß man argumentierte, alle Handelnden
verfolgten ihre Ziele mit quasi wissenschaftlichen Methoden. Nach diesem Denkmodell stimmen
hochrationale Akteure ihre Handlungsziele aufeinander ab, und gerade die Rationalität der
Zielverfolgung soll sicherstellen, daß ein Interessenausgleich stattfindet. Unabhängig davon, ob eine
solche allseitige Rationalität tatsächlich auch zu jenem Ausgleich führt, ist die Konsequenz dieses
Modells jedenfalls folgende: Die Menschen geraten laufend in Situationen, die ihnen gar keinen
echten Spielraum zum Handeln lassen. Sie passen sich ja nur immer den jeweiligen Situationen an, in
denen die rationale Wahl der Mittel immer schon feststeht. Zur Formulierung eigener Ziele – so
Parsons – sind sie damit eigentlich gar nicht fähig; sie können höchstens Fehler in der Form
wissenschaftlicher Irrtümer begehen.
But this tenet had the inevitable logical consequence of assimilating ends to the situation of action and destroying their analytical
independence, so essential to the utilitarian position. For the only possible basis of empirical knowledge of a future state of affairs is
prediction on the basis of knowledge of present and past states. Then action becomes determined entirely by its conditions, for without
the independence of ends the distinction between conditions and means becomes meaningless. Action becomes a process of rational
adaptation to these conditions. (Parsons, Structure, S. 63/64)

b) Im »radikal-anti-intellektualistischen Positivismus« dagegen versuchte man die störende


»randomness of ends« verschiedener Akteure dadurch aufzuheben, daß man im Sinne der
Milieutheorie den determinierenden Einfluß der Umwelt oder im Sinne einer erbtheoretischen
Vorstellung den Einfluß der Erbanlagen betonte. Man war dort also der Meinung, daß es
Umweltfaktoren, z. B. die städtische oder ländliche Sozialstruktur mit ihren Zwängen und
Beschränkungen oder die Erbausstattung der Menschen seien, die deren Handeln quasi
unausweichlich auf bestimmte Bahnen bzw. in eine bestimmte Ordnung zwingen. Dieses Denkmodell
ist der genaue Gegenentwurf zum »radikal-rationalistischen Positivismus«. Denn hier wird nicht
unterstellt, 59daß die Rationalität der Akteure ihr geordnetes Zusammenhandeln garantiert. Ordnung
entsteht vielmehr deshalb, weil Kräfte jenseits der rationalen Kontrolle der Akteure die Handlungen
steuern, so daß immer wieder bestimmte Handlungsmuster und damit soziale Ordnung reproduziert
werden. Das Problem ist jedoch, daß auch hier das Handlungselement in der ursprünglich
utilitaristischen Handlungstheorie verschwindet, weil die Akteure – wie manchmal in den
naturalistischen Romanen Émile Zolas – als bloße Getriebene ihrer Milieus oder gar als Opfer einer
»schlechten« Erbausstattung gezeichnet werden, die zur Wahl eigener Ziele gar nicht mehr fähig
scheinen.
In beiden Erklärungsversuchen fallen also die für das menschliche Handeln charakteristischen
Ziele, Nutzenvorstellungen, »ends« etc. mit der Situation bzw. den Bedingungen des Handelns
zusammen. Die dem Utilitarismus eigene Unfähigkeit, soziale Ordnung zu erklären, führt in den
positivistischen Lösungsversuchen dazu, daß Handeln an sich verschwindet.
So kann Parsons schließen, daß das utilitaristische Handlungsmodell insgesamt zu kurz greift, weil
mit ihm wesentliche Fragen, nämlich die Herkunft von Zielen bzw. »ends« und damit die
Koordination der Ziele und »ends« verschiedener Akteure untereinander, nicht wirklich geklärt
werden können. Der Utilitarismus muß also laut Parsons überwunden werden, wobei aus der
Diskussion der positivistischen Varianten klargeworden ist, daß der Neuaufbau einer
Handlungstheorie ein aktivisches Moment beinhalten muß. Bei der Erklärung der Koordination von
Handlungszielen muß also die wahrhaft subjektive Seite menschlichen Handelns, seine Wahlfreiheit,
eine Rolle spielen.
Die aufmerksamen Leser unter Ihnen ahnen jetzt vielleicht schon, warum vorhin im Zusammenhang
von Parsons’ Interpretation der vier Klassiker vom Versuch des Aufbaus einer »voluntaristischen
Handlungstheorie« die Rede war; denn genau diese Wahlfreiheit ist mit dem Adjektiv
»voluntaristisch« (lateinisch: »voluntas« = freier Wille, Entschluß) angesprochen, genau diese will
Parsons beim Aufbau seiner eigenen Theorie stark machen. Aber greifen wir nicht vor. Festzuhalten
bleibt, daß Parsons trotz seiner scharfen Kritik am Utilitarismus die dort zu findenden richtigen
Einsichten nicht aufgeben will. Denn Parsons sieht etwa die Leistung des Positivismus darin, daß in
dieser Theorietradition durchaus zu Recht die bedingenden 60Situationsfaktoren menschlichen
Handelns betont wurden. Dies ist ein für Parsons wichtiger Punkt. Denn darauf gründet sich auch
seine Ablehnung »idealistischer« Theorieansätze, die zwar den Willensaspekt des Handelns und die
Freiheit des Menschen betonen, darüber aber fast immer – so zumindest die Interpretation von
Parsons – die (materiellen) Bedingungen, denen Handeln unterworfen ist, vergessen. Parsons
interpretiert den Idealismus also als eine Art »Emanationismus«, eine Denkweise, der zufolge
menschliches Handeln quasi einem kollektiven Geist entströmt, nur Ausdruck einer »Volksseele«,
bestimmter Weltbilder, Ideale, Ideengebäude etc. sei. Diese Einseitigkeit gilt es ebenfalls zu
vermeiden, und so versucht Parsons energisch und wiederum in synthetischer Absicht die besten
Einsichten des Idealismus wie des Utilitarismus zu verknüpfen, um eben positiv – und nun kommt der
zweite Schritt unserer Darstellung von The Structure of Social Action – zu jener »voluntaristischen
Handlungstheorie« vorzustoßen.

Um das Ergebnis gleich vorwegzunehmen: Parsons verknüpft seine voluntaristische Theorie des
Handelns mit einer als »normativistisch« bezeichneten Theorie der sozialen Ordnung, wobei beide
Theorien aufeinander verweisen, eben weil, wie wir vorhin festgestellt haben, Handlungstheorien –
sollen sie soziologisch aussagekräftig sein – auch soziale Ordnung erklären können müssen. Deshalb
bezieht sich die Rede von »normativistisch« auf beides: Handlung und Ordnung, da es in beiden für
Parsons um die entscheidende Rolle von Normen geht.
Zunächst zur »normativistischen Ordnungstheorie«. Was heißt dies genau? Parsons meint damit,
daß jede soziale Ordnung immer in irgendeiner Form – aber je nach Umständen natürlich auch
unterschiedlich stark – auf gemeinsamen Werten und Normen beruht. Er behauptet also, daß die im
Utilitarismus unterstellte »randomness of ends« so nicht existiert, sondern durch das Vorhandensein
von geteilten Normen und Werten in vielen Fällen eingeschränkt wird. Insofern strukturieren Normen
und Werte die je individuellen Handlungsziele vor und stellen damit sicher, daß die Handlungsziele
der Akteure zueinander passen. Wie dies genau zu verstehen ist, demonstriert Parsons anhand der
Unterscheidung zwischen »normative order« und »factual order«. Beginnen wir mit letzterer. Mit ihr
bezeichnet Parsons eine Ordnung, die letztlich unbeabsichtigt 61zustande gekommen ist. Typisches
Beispiel für eine solche »factual order« wäre etwa der Verkehrsstau auf Deutschlands Straßen zur
Urlaubszeit, weil hier fast alle schnell in den Süden fahren wollen, sie sich in nicht beabsichtigter
Folge ihres ferienbedingten gleichzeitigen Urlaubsaufbruchs aber irgendwann alle »bewegungslos«
auf der Straße treffen. Das Ergebnis ist eine bestimmte Ordnung, der Verkehrsstau. Dies ist eine
faktische Ordnung, eine, die nicht vereinbart worden ist, weil man ja in der Regel nicht von zu Hause
losgefahren ist, um in den Stau zu geraten. Es besteht auch keine Vorschrift, die besagt, daß
mindestens einmal im Jahr vor München ein Riesenstau zu entstehen hat und sich genau deswegen alle
urlaubsreifen Deutschen alle Jahre wieder auf den Weg dorthin zu machen haben. Ein anderes
Beispiel, das wir schon angesprochen haben, ist die faktische Ordnung, die durch den Markt entsteht:
Die marktkonforme Preisbildung von bestimmten Gütern oder diejenige der Arbeitskraft von
Arbeitern ist von niemandem wirklich so gewollt worden, sondern diese Ordnung hat sich quasi als
Nebenfolge der ökonomischen Handlungen vieler Individuen gebildet. Eine Vereinbarung aller hieran
beteiligten Akteure war nicht im Spiel, ein Gebot, daß das halbe Pfund Butter unter 1 Euro kosten
soll, existiert nicht, obwohl die Butter in den meisten Läden tatsächlich weniger als 1 Euro kostet.
Davon zu unterscheiden ist nun die »normative order«, die normative Ordnung, die Parsons
eindeutig am meisten interessiert und die er für einen der zentralen Gegenstände der Soziologie hält.
Diese Ordnung basiert darauf, daß sich die Akteure – bewußt oder eher vorbewußt – in ihrem
Verhalten an einer gemeinsamen Norm, einer gemeinsamen Verhaltensvorschrift ausrichten. Es ist also
in irgendeiner Form und wie verschwiegen auch immer eine Vereinbarung oder ein Einverständnis
der beteiligten Akteure bezüglich der jeweiligen Ordnungsstiftung erkennbar. Wie diese zwei
unterschiedlichen Ordnungstypen zusammenhängen können, beschreibt Parsons – ausgehend von der
normativen Ordnung – folgendermaßen:
Order in this sense means that process takes place in conformity with the paths laid down in the normative system. Two further points
should, however, be noted in this connection. One is that the breakdown of any given normative order, that is a state of chaos from a
normative point of view, may well result in an order in the factual sense, that is a state of affairs susceptible of scientific analysis. Thus
the ›struggle for existence‹ is chaotic from the 62point of view of Christian ethics, but that does not in the least mean that it is not subject
to law in the scientific sense, that is to uniformities of process in the phenomena. Secondly, in spite of the logically inherent possibility that
any normative order may break down into a ›chaos‹ under certain conditions, it may still be true that the normative elements are essential
to the maintenance of the particular factual order which exists when processes are to a degree in conformity with them. Thus a social
order is always a factual order in so far as it is susceptible of scientific analysis but (…) it is one which cannot have stability without the
effective functioning of certain normative elements. (Parsons, Structure, S. 91/92)

Parsons behauptet also, daß zwar ein fundamentaler Unterschied zwischen einer faktischen und einer
normativen Ordnung existiere, daß aber eben auch das dauerhafte Bestehen einer faktischen Ordnung
nur durch das Wirken von Normen erklärt werden könne. Die schon genannten Beispiele mögen hier
als Illustrationen dienen: Der Verkehrsstau ist zwar eine durch statistische Analysen zu erschließende
soziale Ordnung (wenn soundso viele Urlauber gleichzeitig gen Süden fahren, dann besteht bei
gegebenem Verkehrsnetz eine x-prozentige Chance, daß vor München ein Verkehrsstau entsteht). Aber
dieser Stau ist eine sehr kurzfristige Ordnungskonfiguration und deshalb nicht auf Normen
angewiesen. Anders sieht es bei einer Gewaltherrschaft aus: Die gewaltsame Unterwerfung von
Menschen ist tatsächlich ein Akt, der nicht auf beidseitig geteilten Normen zwischen Herrschern und
Beherrschten basiert. Aber Gewaltherrschaft kann sich nur auf Dauer ergeben, wenn sich wenigstens
in Teilen der beherrschten Bevölkerung zumindest eine rudimentäre Akzeptanz der Herrschaft, ein
gewisses Einverständnis, einstellt. Und gleiches gilt auch für den Markt. Wir haben schon darauf
hingewiesen, daß das Funktionieren von Märkten etwas ist, das durch das scheinbar unbeabsichtigte
Sich-Verknoten des nutzenorientierten Verhaltens der Marktteilnehmer zu verstehen ist. Die
Marktteilnehmer nehmen ihre Transaktionen nicht vor, um das Funktionieren des Marktes zu
garantieren. Gleichwohl gibt es – und dies ist von Durkheim entdeckt (siehe seine Redeweise von den
nicht-vertraglichen Elementen des Vertrags) und von Parsons in verschiedenen Schriften immer
wieder gezeigt worden – in diesem Geschehen durchaus von den Marktteilnehmern geteilte Normen,
ohne die das Ganze nicht funktionieren würde. Wie Parsons in einer wenig später erschienenen
Publikation betonte, stellt das scheinbar so blanke 63eigeninteressierte Verhalten der Marktteilnehmer
noch nicht die letzte Motivationsschicht dar, sondern »darunter« sind noch andere Motive zu finden,
was man daran sehen könne, daß in unterschiedlichen Kulturen Märkte durchaus unterschiedlich
funktionierten:
Es wird daher eine der Grundthesen (…) sein, daß die »wirtschaftliche Motivierung« überhaupt keine eigentliche Kategorie der
Motivierung auf tieferer Ebene darstellt, sondern eher einen Punkt bezeichnet, an dem unterschiedliche Motivierungen auf eine
bestimmte Situation bezogen werden. Die bemerkenswerte Konstanz und Allgemeinheit der wirtschaftlichen Motivierung ist nicht das
Ergebnis einer entsprechenden Gleichförmigkeit der »menschlichen Natur«, etwa ihres Egoismus oder Hedonismus, sondern bestimmter
Grundzüge in der Struktur sozialer Handlungssysteme. Diese sind jedoch nicht völlig konstant, sondern unterliegen institutionellen
Verschiedenheiten. (Parsons, »Die Motivierung des wirtschaftlichen Handelns«, S. 139/140)

Wenn dies nun stimmt, wenn jegliche stabile soziale Ordnung gerade auch durch die Existenz von
Normen zustande kommt und funktioniert, dann – so die Schlußfolgerung von Parsons – wird natürlich
gleichzeitig eine Theorie des Handelns benötigt, in der Normen und Werte eine zentrale Rolle
spielen. Parsons vertritt also die Position, daß neben den von den Utilitaristen betonten Zielen,
Nutzenkalkulationen etc. bei der Analyse des Handelns zumindest gleichrangig auch Werte und
Normen berücksichtigt werden müssen. Diese sind von den Utilitaristen übersehen oder
fälschlicherweise wegdiskutiert worden. Denn es ist keineswegs so, daß Normen und Werte auf
Nutzenkalküle zurückgeführt oder als mit ihnen identisch betrachtet werden können, wie manche
Utilitaristen zu glauben scheinen. Dies sieht man unter anderem daran, daß es uns schlichtweg nicht
möglich ist, unsere eigenen Werte zum Gegenstand von Nutzenkalkulationen zu machen. Ich kann nicht
ernsthaft vom Wert absoluter Treue in partnerschaftlichen Beziehungen überzeugt sein, wenn ich
gleichzeitig bei jeder Gelegenheit zu einem »Abenteuer« diesen Wert in Frage stelle, weil mir ja
schließlich diese »Seitensprünge« momentan bestimmte sexuelle oder prestigemäßige
Gratifikationen, Nutzen also, bringen. Ich kann also meine eigenen Werte nicht einfach manipulieren
und umstoßen. Wenn ich dies versuchen oder es mir gar gelingen sollte, dann wären es nämlich keine
wirklichen Werte, sondern allenfalls unausgegorene Ideen, denen ich irgendwie und irgendwann
angehangen habe. Natürlich lassen sich Werte manipu64lieren: Werbefachleute und Folterknechte,
spezialisiert auf Gehirnwäsche, machen oder versuchen dies zumindest pausenlos. Aber sie
manipulieren nicht ihre eigenen Werte, von denen sie überzeugt sind, sondern die Werte anderer. Und
dies ist ein gewaltiger Unterschied! Deshalb definiert Parsons auch das Normative, also Normen und
Werte, als »a sentiment attributable to one or more actors that something is an end in itself«
(Structure, S. 75, unsere Hervorh.). Parsons spricht in bezug auf Werte, die in gewisser Weise einen
höheren Allgemeinheitsgrad und einen stärkeren persönlichen Verpflichtungscharakter haben als
Normen, von »ultimate ends«, weil es nichts gibt, wofür man bereit wäre, diese wiederum als Mittel
einzusetzen. Sie sind tatsächlich Ziele an sich, letzte Werte eben, die ich nicht in Frage stellen kann,
ohne mein Selbstbild zu zerstören: »Hier stehe ich, und kann nicht anders!«, so Luthers
eindrucksvolles Bekenntnis. Wenn dies so ist, dann folgt daraus aber auch, daß aus diesen letzten
Werten überhaupt erst Nutzenvorstellungen entspringen, daß also Nutzenkalküle auf individuellen,
manchmal aber auch gemeinsamen Wertüberzeugungen (»a sentiment attributable to one or more
actors«) aufsitzen, weil ich erst auf der Basis von Werten meinen Nutzen, meine Ziele, meine »ends«
bestimmen kann. Werte und Normen können deshalb nicht selbst Nutzenkalkulationen unterworfen
werden, weil sie konstitutiv sind für jeden Maßstab, der solchen Nutzenkalkulationen zugrunde liegt.
Parsons glaubt, das »Rätsel« gelöst zu haben, an dem der Utilitarismus gescheitert ist: Die soziale
Welt ist eben fast immer eine geordnete, weil das menschliche Handeln fundamental durch
gemeinsame Normen und Werte geprägt wird.
Parsons hat nun die seiner Meinung nach wesentlichen Aspekte menschlichen Handelns
durchdiskutiert, um ein Handlungsmodell entwerfen zu können, das utilitaristische Einsichten zwar
verwendet, aber doch auch weit über diese hinausgeht. Dieses Modell, dieses Schema, nennt er
»action frame of reference« (im Deutschen als »handlungstheoretischer Bezugsrahmen« übersetzt) –
eine Art Grundbegrifflichkeit zum Verständnis menschlichen Handelns. Danach lassen sich im von
Parsons so bezeichneten »unit act« folgende Elemente unterscheiden:
1. der Akteur/die handelnde Person,
2. das Ziel des Handelns (»end«, »goal«, »purpose« in der Sprache von Parsons),
653. die Handlungssituation, die sich noch aufgliedern läßt in die Bedingungen des Handelns
(»conditions«), jene Situationsbestandteile also, die von der handelnden Person nicht zu kontrollieren
sind, und die Mittel des Handelns (»means«), d. h. jene Situationsbestandteile, über die der Akteur
verfügen kann, und
4. die Normen und Werte des Handelns (vgl. Structure, S. 44).
Mit Rückblick auf Parsons’ Utilitarismus-Diskussion ist dabei festzustellen, daß die ersten drei
Elemente durchaus in der utilitaristischen Handlungstheorie bereits enthalten waren, daß aber als
entscheidende vierte Dimension dort ebenjene der Normen und Werte fehlte. Und diese ist – es sei
hier noch hinzugefügt – gerade deshalb so wichtig, weil das »Normative« im Gegensatz zu den vorhin
diskutierten positivistischen Lösungselementen (Milieu, Erbgut!) den freien Willen des Menschen,
seine Handlungsfähigkeit nicht zum Verschwinden bringt. Das Gegenteil ist der Fall: Ich kann mich
Normen und Werten auch widersetzen, ich kann mich zu manchen hingezogen, von manchen
abgestoßen fühlen; manche üben eine fast unwiderstehliche Macht auf mich aus, manche nicht. Das
Normative ist für Parsons das spezifisch Menschliche am Handeln und damit das Zentrum der
voluntaristischen Handlungstheorie. Graphisch läßt sich der vollständige »action frame of reference«
dann so darstellen:

Normen und Werte beeinflussen dabei auf zweierlei Weise die Richtung des Handelns: Sie wirken
selektiv auf die Handlungsmittel, da aus normativen Gründen nur manche Mittel zulässig sind und
andere eben nicht. Wenn ich bestimmten Werten und Normen anhänge, dann ist es mir eben nicht
erlaubt, alle Mittel zur Erreichung meiner Ziele einzusetzen: Wenn ich vom Wert der Ehrlichkeit
überzeugt bin, kann und werde ich nicht auf unehrliche Mittel zurückgreifen, um bestimmte Vorhaben
durchzusetzen. Aber Normen und 66Werte strukturieren auch in entscheidender Weise – wie wir
vorhin schon festgestellt haben – die Handlungsziele; sie bestimmen also dasjenige, was wir für gut
halten, denn nicht alles, was wir wünschen, wollen etc., halten wir auch automatisch für gut: So habe
ich vielleicht bestimmte sexuelle Wünsche, aber es ist keineswegs so, daß ich sie alle für
wünschenswert halte; oftmals widersetze ich mich ihnen, weil sie für mich moralisch nicht
hinnehmbar sind.
In jedem Fall macht jener Einfluß von Normen und Werten sowohl auf die Handlungsmittel wie
auch auf die Handlungsziele jene Handlungskoordination möglich, auf die soziale Ordnung
angewiesen ist, eben weil Normen und Werte ja nicht nur in erster Linie idiosynkratische, also sehr
spezielle und nur für wenige Individuen gültige »Gebilde« sind, sondern von einer bestimmten
Gruppe von Menschen geteilt werden, ihnen also gemeinsam sind.
Somit sind wir mit der Darstellung von Parsons’ Handlungsbezugsrahmen am Ende des zweiten
Schrittes angelangt, der Ihnen The Structure of Social Action nahebringen soll. Bevor wir nun den
dritten und letzten Schritt machen, wollen wir aber noch auf etwas hinweisen. Versuchen Sie, sich die
Gestalt jenes »action frame of reference« genau einzuprägen, versuchen Sie nachzuvollziehen, wie
und warum Parsons menschliches Handeln so und nicht anders verstanden hat. Dies ist deshalb
sinnvoll, weil die noch folgenden Vorlesungen anhand dieses Parsonsschen Handlungsmodells
ausgerichtet werden. Wir verwenden dieses Modell, um andere Theoretiker verständlich zu machen.
Denn man kann große Teile der Entwicklung der modernen soziologischen Theorie nur dann
verstehen, wenn man sie – so unsere These – als eine manchmal versteckt, manchmal durchaus offen
ausgetragene Auseinandersetzung mit jenem Parsonsschen Theoriemodell begreift.

Damit kommen wir nun zum dritten Schritt der Darstellung.


Es wurde vorhin behauptet, daß Parsons’ Konvergenzthese eine spezifische Deutung von
sozialwissenschaftlichen Klassikern sei und daß sie in gewisser Weise dazu diene, die Richtigkeit
von Parsons’ eigenem theoretischen Unterfangen zu »beweisen«. Nachdem Parsons auf den ersten
knapp 125 Seiten seines Werkes die Kritik am Utilitarismus und seine voluntaristische
Handlungstheorie dargelegt hat, dient ihm nun die den Rest des Buches ausmachende
Klassikerdiskussion tatsächlich dazu zu demonstrieren, daß sich diese 67Autoren schon zu ihrer Zeit
auf seine Position zu bewegt hätten. Wenn auch manchmal noch etwas verschwommen und unklar,
wären auch sie auf die Bedeutung normativer Elemente im Handeln aufmerksam geworden. Diese
umfangreichen Interpretationen lassen sich knapp so zusammenfassen:
Der englische Ökonom Alfred Marshall war zwar wesentlich an der Ausarbeitung wichtiger
theoretischer Bausteine der modernen Wirtschaftswissenschaften beteiligt, die utilitaristisches
Gedankengut stark aufgenommen haben. Doch gleichzeitig hat Marshall als einer der wenigen
Ökonomen seiner Zeit ganz bewußt nach der Genese, also nach der Entstehung von Bedürfnissen,
Nutzenvorstellungen, Wünschen etc. gefragt (Structure, S. 134) und dies nicht zu einer
außerökonomischen Frage erklärt. Marshall sah deutlich, daß ökonomisches Handeln in vielfältiger
Hinsicht an bestimmte Werte gebunden ist. Am deutlichsten wird dies an der Figur des Unternehmers,
der sicherlich auch Profit machen und seinen Nutzen mehren wolle, dessen Handeln aber auch oft auf
bestimmten, fest verankerten Werten beruhe, die man etwa mit den Begriffen der Tugendhaftigkeit und
»honesty« umschreiben könne und die selbstverständlich deshalb auch die »wants« und die Mittel zur
ihrer Befriedigung begrenzten. Ökonomisches Handeln kann deshalb nicht auf bloße
Nutzenmaximierung zurückgeführt werden. Das Vorhandensein nutzenorientierten Handelns ist
demzufolge auch kein Beweis dafür, daß in diesem Handlungsumfeld nicht auch bestimmte Werte eine
entscheidende Rolle spielen. Marshall sah also – zumindest in der Deutung von Parsons – sehr
deutlich, daß in den Wirtschaftswissenschaften die Wertdimension des Handelns zu wenig
berücksichtigt und deshalb in problematischer Weise Egoismus und nutzenorientiertes Handeln mit
rationalem Verhalten schlechthin gleichgesetzt werde, was auch zu empirisch falschen
Beschreibungen führe. Besonders deutlich wird dies Marshall zufolge an der Figur des Unternehmers,
dessen Handeln man eben nicht in ein simples Schema der Nutzenmaximierung pressen könne. Der
Unternehmer sei nicht aus reinen Klugheitsgründen, aus reiner Berechnung rational. Vielmehr zeige
sich bei ihm häufig eine ethische Verpflichtung, rational zu sein, basiere diese Rationalität und dieses
Effizienzstreben auf einer moralischen Grundlage (Structure, S. 164). Nur dadurch sei er überhaupt
in der Lage, bestimmte Investitionsrisiken einzugehen und den Erfolg der Investitionen mit großer
Ausdauer zu sichern. 68Insofern weist Marshall laut Parsons schon klar den Ausweg aus dem
klassischen Utilitarismus, deutet die Stoßrichtung seiner Arbeiten auf jene von Parsons favorisierte
»voluntaristische Handlungstheorie«, die unter anderem die Bedeutung von Werten für das Handeln
sieht und akzeptiert.
Der italienische Ökonom und Soziologe Vilfredo Pareto wich in vielerlei Hinsicht von den Ideen
Marshalls ab. Bei Marshall stellt der rationale Unternehmer die Krönung des Zivilisationsprozesses
dar. Pareto hatte im Gegensatz dazu kein evolutionistisches Geschichtsbild; er glaubte nicht ohne
weiteres an einen unilinearen Geschichtsprozeß, an den »Fortschritt«. Schon weil Pareto viel stärker
als etwa Marshall die Rolle von Konflikten, von »force and fraud« betonte, hatte er eine deutlich
pessimistischere Sicht auf die Geschichte als Marshall. Zudem waren auch ihre
wissenschaftstheoretischen Vorstellungen höchst unterschiedlich, insofern Pareto diesbezüglich
ausgefeilter argumentierte und tatsächlich eine Position verfocht, der sich im wesentlichen auch
Parsons anschließen konnte. Aber trotz aller Differenzen zwischen Marshall und Pareto gelangten
beide zu ähnlichen theoretischen Schlußfolgerungen im Hinblick auf eine Theorie des Handelns. Bei
Pareto war dies deshalb der Fall, weil er auf den Aspekt des Nicht-Logischen im (ökonomischen)
Handeln aufmerksam wurde, den er näher untersuchte. Bei diesen Analysen wurde ihm nicht nur die
Bedeutung von Instinkten klar, sondern auch die von Ritualen und von bestimmten subjektiven (nicht-
logischen) Zielen im Handeln des Menschen. Pareto verließ damit schon das utilitaristische wie auch
positivistische Gedankengebäude, von dem er seinen Ausgang genommen hatte. Und er gelangte
schließlich wie Marshall in die Nähe der Idee von »ultimate ends«.
The settlement of conflicting economic claims between individuals involves more than economic considerations because here economic
considerations are subsidiary to political, those of coercive power, so that every economic distribution is possible only within a general
framework of distributive justice. But all these distributive questions concern only the settlement of potential conflicts of individual claims
to wealth and power without indicating the basis of unity on which the structure as a whole rests. This basis of unity Pareto finds in the
last analysis to lie in the necessary existence of an ›end the society pursues‹. That is, the ultimate ends of individual action systems are
integrated to form a single common system of ultimate ends. (Parsons, Structure, S. 249 f.)

69Emile Durkheim nun kommt nicht aus einem Umfeld, das wie bei Pareto und Marshall von der
Theoriediskussion in den Wirtschaftswissenschaften bestimmt war. Laut Parsons wurzelt Durkheim in
der französischen Tradition des Positivismus, der er noch in seinem Frühwerk verpflichtet blieb, bis
er schließlich in seinen späten Schriften damit (fast vollständig) brechen sollte. Durkheim beschrieb
in seinen ersten Arbeiten gesellschaftliche Strukturen als etwas Hartes, Äußeres, das dem Individuum
entgegentritt und Zwang auf es ausübt. In diesem Zusammenhang sprach er – vor allem in seinem Buch
Die Regeln der soziologischen Methode – von »sozialen Tatsachen«, welche das Handeln in
ähnlicher Weise einschränken und prägen sollen wie materielle Faktoren, wie vielleicht sogar –
denken Sie nochmals an Parsons’ Auseinandersetzung mit dem radikal anti-intellektualistischen
Positivismus – das Erbgut. Erst allmählich gelangt Durkheim dazu, durch seine Auseinandersetzung
mit dem Begriff des Kollektivbewußtseins das Soziale vom Physischen zu trennen und dabei
unterschiedliche Formen des Zwangs auf Individuen herauszuarbeiten: Vom Zwang durch
Naturgesetze und vom sozialen Zwang durch die Gewalt und die Macht anderer hebt Durkheim
schließlich den Zwang des Gewissens deutlich ab, jenen Zwang, der das Handeln der Individuen
gerade deshalb einschränkt, weil sie sich ihren eigenen Normen und Werten und damit denen einer
Gesellschaft verpflichtet fühlen und eben dann nur so und nicht anders handeln können. Der Begriff
des Kollektivbewußtseins, mit dem sich Durkheim schon länger auseinandergesetzt hatte, und
empirische Beobachtungen erlauben ihm schließlich – so Parsons – die Einsicht in die Möglichkeit
der Verinnerlichung von gesellschaftlichen, also gemeinsamen Normen und Werten.
Now he makes the far-reaching empirical observation that since individual wants are in principle unlimited, it is an essential condition of
both social stability and individual happiness that they should be regulated in terms of norms. But here the norms thought of do not, as do
the rules of contract, merely regulate »externally«, e.g., as the conditions of entering into relations of contract – they enter directly into
the constitutions of the actors’ ends themselves. (…) The individual elements in action are no longer identified with the concrete
subjective individual, but the latter is recognized to be a compound of different elements. The element of ends as it appears in the means-
end schema is no longer by definition ›individual‹ but contains a »social« element. This is so important a step for Durkheim that in fact it
70constitutes a radical break with positivistic social theory (…). (Parsons, a.a.O., S. 382)

Während nun Durkheim aus dem Positivismus kommend sich durch seine Auseinandersetzung mit dem
Phänomen der Werte einer »voluntaristischen Handlungstheorie« genähert habe, sei der Weg von Max
Weber – so argumentiert Parsons – der entgegengesetzte gewesen. Weber entstammt Parsons zufolge
der gerade in Deutschland besonders starken idealistischen Denkströmung, weswegen er auch nie
ernsthaft in Gefahr war, die Rolle von Normen und Werten herunterzuspielen. Hier bestand vielmehr
die umgekehrte, aber ebenso fatale Möglichkeit des Vergessens der für das Handeln natürlich genauso
wichtigen Situationsbedingungen und Mittel. Weber entgeht dieser Gefahr dadurch, daß er in seiner
Handlungstypologie, die ja das wertorientierte (normative) Handeln durchaus kennt und benennt, von
Anfang an energisch gerade den (utilitaristischen) Typus des »zweckrationalen Handelns«
herausgehoben hat, womit er sich gegen alle idealistischen Versuchungen wappnete.
Thus at this early critical stage of Weber’s methodological work has appeared the concept with which this whole study started, that of
the type of rational action which involves the means-end relationship as verifiable in terms of scientific generalization. For him, also,
rationality in this sense plays a central role, methodologically as well as substantively. And it is especially interesting that its
methodological role comes out in critical opposition to an idealistic theory. (Parsons, a.a.O., S. 584/585)

Damit ist Parsons nun am Ende seines Durchgangs durch die Schriften berühmter
Sozialwissenschaftler angelangt. Seiner Meinung nach konnte er dabei zeigen, daß bei allen vier der
so unterschiedlichen Autoren der Weg hin zu einer voluntaristischen Handlungstheorie deutlich
vorgezeichnet war, daß ihre Arbeiten also konvergierten. Und Parsons hat – dies sollte auch deutlich
geworden sein – gerade mit seiner Kritik des Utilitarismus und mit seinem Hinweis auf die durch
Pareto und Marshall vorgenommene Selbstkritik der Wirtschaftswissenschaften gleichzeitig auch den
Anspruch erhoben, daß er und damit die Soziologie ein überlegenes Verständnis menschlichen
Handelns hätten, ein Verständnis, das Positivismus und Idealismus verbindet und eben auch das
ökonomische Handeln mit einschließt. So gab er dann eine folgenreiche Definition der Sozio71logie
vor, nämlich diejenige, eine Wissenschaft vom Handeln zu sein.
Damit sind wir am Ende unserer Darstellung von The Structure of Social Action angelangt. Die
nächste Vorlesung wird sich der Kritik an diesem so gewichtigen Werk widmen und fragen, welchen
theoretischen Pfad Parsons nach dem Erscheinen dieses Buches im Jahre 1937 zur weiteren
Ausarbeitung der hierin angelegten umfassenden soziologischen Theorie eingeschlagen hat.
72Dritte Vorlesung
Parsons auf dem Weg zum
normativistischen Funktionalismus

The Structure of Social Action aus dem Jahre 1937 hat gerade wegen der hohen Ambitionen, die
Parsons mit diesem Werk verbunden hatte, eine Menge Kritik auf sich gezogen (vergleichen Sie dazu
die umfassenden Überblicke bei Charles Camic, »Structure after 50 Years: The Anatomy of a
Charter« und Hans Joas, Die Kreativität des Handelns, S. 34 ff.). Manche der Einwände kamen
sofort nach Erscheinen des Buches, viele aber erst, nachdem es so richtig bekannt geworden war: Wir
haben ja schon in der letzten Vorlesung darauf hingewiesen, daß Structure am Anfang eher zögerlich
rezipiert worden war. Da aber im Laufe der Zeit die Auseinandersetzung mit Parsons zunehmend
zentral für die Klärung und Selbstverortung jeder ähnlich ehrgeizigen Theorie wurde, konnte es nicht
ausbleiben, daß auch die Kritik immer systematischer und umfassender ausformuliert wurde. Wir
werden Ihnen nun im folgenden die für die weitere Theorieentwicklung wesentlichen Kritiken
vorstellen und dann – im zweiten Teil der Vorlesung – fragen, ob und inwiefern Parsons beim Versuch
der Fortentwicklung seines Theoriegebäudes auf diese Kritiken geantwortet bzw. die erst später
erfolgten Einwände vielleicht sogar vorweggenommen hat.

Wenn man sich zunächst die Diskussion der sogenannten Konvergenzthese ansieht, so stellt man fest,
daß hier im wesentlichen folgende Probleme angesprochen wurden. Die zum Teil leidenschaftlich
geführten Auseinandersetzungen mit dieser These lassen sich nur verstehen, wenn man gleichzeitig
begreift, daß es hier nicht um ein rein historiographisches Problem geht, nach dem Motto »Wer hat die
(etwas) bessere Klassikerinterpretation?«. Vielmehr hat ja Parsons den Anspruch einer Synthese der
Klassiker erhoben! Wenn es nun sein sollte, daß in Parsons’ Rekonstruktionsversuch der Geschichte
der Soziologie gravierende Auslassungen oder gar eindeutige Fehlinterpretationen zu bemängeln
wären, dann würde dies die Plausibilität der Hauptargumente in Structure erheblich erschüttern, dann
ließe sich vor allem nicht seine Behauptung halten, daß 73sein Werk eine (legitime) Fortsetzung der
Arbeiten der Klassiker sei. Wir müssen deshalb der Kritik der Konvergenzthese einigen Raum
gewähren.
1. Neben der Behauptung, die vier »Klassiker« seien von Parsons nicht immer auch wirklich
angemessen interpretiert worden, wurde an der konkreten Gestalt der Parsonsschen Konvergenzthese
gerügt, daß hierbei von ihm nur Europäer und keine Amerikaner berücksichtigt worden seien. Dies
ist tatsächlich insofern merkwürdig, als die Soziologie als Disziplin in den USA früher als in
Deutschland, Frankreich, England oder Italien breit institutionalisiert worden war: Was die
Einrichtung von Soziologie-Lehrstühlen und die Publikation von soziologischen Fachzeitschriften
betrifft, waren die USA klarer Vorreiter. Aber gerade die amerikanische Soziologie scheint
offensichtlich für Parsons und seine theoretische Stoßrichtung völlig bedeutungslos gewesen zu sein.
Wie ist dies einzuschätzen? Nun haben wir Parsons in der letzten Vorlesung dafür gelobt, daß er in
der schwierigen Situation der 1930er Jahre so energisch europäische Sozialwissenschaftler »aufs
Podest gehoben« hat. Und diesbezüglich ist auch nichts zurückzunehmen. Doch gleichzeitig ergab sich
dadurch die unvorteilhafte Konsequenz, daß er andere Entstehungskontexte der Soziologie
vernachlässigt bzw. diese nur sehr verkürzt und damit einigermaßen verzerrt in seine Argumentation
einbezogen hat. Gerade mit Blick auf die Geistesgeschichte der USA schien er zu suggerieren, daß
dort utilitaristische, individualistische und/oder evolutionistische Denker à la Herbert Spencer
(1820-1902) die Szenerie beherrscht hätten und daß man deshalb in Amerika erst gar nicht suchen
müsse, wenn man eine weiterführende Kritik an utilitaristischen oder ähnlichen Gedankengebäuden
finden wolle. Nun hatte der Engländer Herbert Spencer, den Parsons auf den ersten drei Seiten des
ersten Kapitels von Structure diskutiert, in den USA zweifellos erheblichen Einfluß und viele
Bewunderer. Es ist aber ungerecht, die gesamte amerikanische Geistesgeschichte vor 1937 als völlig
unter dem Einfluß Spencers stehend zu beschreiben. Nicht bloß ungerecht, sondern schlicht falsch
wäre es, wenn man mit einer solchen Beschreibung insbesondere die amerikanische Soziologie,
Sozialpsychologie und Sozialphilosophie charakterisieren wollte, weil dort viele herausragende
Vertreter dieser Disziplinen wie etwa George Herbert Mead, John Dewey, Charles Horton Cooley,
William Isaac Thomas oder Robert Park 74(1864-1944) niemals dem Utilitarismus oder Spencer
auch nur nahegestanden haben. All diese Autoren erwähnt Parsons aber nicht einmal, geschweige
denn, daß er ihre höchst innovative, der Philosophie des amerikanischen Pragmatismus verpflichtete
Theorie des Handelns (siehe die Sechste Vorlesung) diskutiert, aus der er entscheidende Anregungen
hätte erhalten können. Das Denken Spencers war also keineswegs repräsentativ für die amerikanische
Soziologie, wie dies Parsons zu suggerieren scheint. Spencer war statt dessen – in der prägnanten
Formulierung R. Jackson Wilsons – »more whipping boy than master« (In Quest of Community,
S. 155) dieser Disziplin bzw. ihrer benachbarten Fächer. Parsons sah dies offensichtlich anders und
war deshalb nur allzu bereit, der amerikanischen Geistesgeschichte insgesamt jegliche Relevanz für
sein eigenes theoretisches Vorhaben abzusprechen.
Parsons sollte später diesbezügliche Mängel seiner Interpretation in Structure durchaus
zugestehen; aber auch dann wird er nur einräumen, daß lediglich der in der letzten Vorlesung schon
angesprochene Aspekt der Internalisierung von Werten durch einen Rückgriff auf jene amerikanische
Sozialpsychologie und Soziologie hätte besser bearbeitet werden können. Weitergehende
Zugeständnisse macht er nicht. Man fragt sich deshalb, wo man die Gründe für Parsons’ doch
einigermaßen hartnäckige Nichtbeachtung wesentlicher Aspekte der amerikanischen
Geistesgeschichte suchen soll. Lag hier echte Unkenntnis vor? Oder war im Hintergrund gar eine
versteckte Konkurrenz zwischen der Harvard University, an der Parsons lehrte, und der University of
Chicago, an der viele der genannten pragmatistischen Denker und Soziologen gelehrt hatten und wo
der Einfluß des Pragmatismus auch noch 1937 zu verspüren war? Wir werden darauf noch zu
sprechen kommen, wenn wir in einer der nächsten Vorlesungen die dem amerikanischen Pragmatismus
verpflichtete Theorierichtung des »Symbolischen Interaktionismus« behandeln. Dort wird Ihnen dann
die genaue Bedeutung dieses hier angesprochenen Defizits in Parsons’ Konvergenzthese noch
deutlicher werden. Denn eine solche Nichtbeachtung kann ja ein Indiz sein für eine Schwierigkeit
auch der theoretischen Konstruktion.
2. Aber selbst die Auswahl ebenjener europäischen Denker ist nicht ohne Widerspruch geblieben.
So fiel etwa auf, daß Parsons in Structure kaum ein Wort zu Georg Simmel verliert, obwohl er später
beispielsweise im Vorwort zu einer Neuauflage des Buches einge75stand, daß ursprünglich ein
längeres Simmel-Kapitel eingeplant gewesen sei und dieses 1937 sogar schon vorgelegen habe. In
diesem Zusammenhang bekennt er sich auch selbstkritisch zu der soeben angedeuteten
Vernachlässigung der amerikanischen Sozialpsychologie und Soziologie:
Along with the American social psychologists, notably Cooley, Mead and W. I. Thomas, the most important single figure neglected in the
Structure of Social Action, and to an important degree in my subsequent writings, is probably Simmel. It may be of interest that I
actually drafted a chapter on Simmel for the Structure of Social Action, but partly for reasons of space finally decided not to include it.
Simmel was more a micro- than a macrosociologist; moreover, he was not, in my opinion, a theorist on the same level as the others.
(Parsons, Structure, S. XIV, FN 10)

Parsons schreibt die Vernachlässigung Simmels, die Entscheidung also, Simmel nicht ausführlich in
Structure zu behandeln, Raumgründen bzw. dem Fehlen einer klaren theoretischen Orientierung bei
diesem Autor zu. Man kann diese Gründe akzeptieren, muß dies jedoch nicht, vor allem, was den
letztgenannten betrifft. Denn Simmel hatte durchaus ein ausgefeiltes Theoriegebäude zur Verfügung.
Dieses jedoch basierte nicht auf der Idee des Handelns von einzelnen Individuen, sondern auf der
Idee der Beziehung und Wechselwirkung zwischen Individuen. Simmel verfuhr also nicht so, daß er
wie selbstverständlich vom individuellen (nutzenorientierten) Handeln ausging und dann etwa wie
Marshall oder Pareto auf die Bedeutung von Normen und »ultimate ends« gestoßen wäre. Vielmehr
ging Simmel schon immer von der ursprünglichen Sozialität des Menschen aus, von der mit der
Geburt beginnenden Verwobenheit des jungen Menschen in soziale Zusammenhänge. Insofern sah
Simmel zwar natürlich die Bedeutung von Normen und Werten, aber ihn als einen »gewöhnlichen«
Handlungstheoretiker und seine Werkentwicklung als eine der Konvergenz hin zur voluntaristischen
Handlungstheorie zu beschreiben wäre tatsächlich schwierig gewesen. Die Einbeziehung Simmels in
Structure hätte also mit Sicherheit den »plot« von Parsons’ »story« erheblich gestört. Tatsächlich
sollte Parsons selbst dies 1979 in einem Brief an einen seiner Bewunderer, den im Laufe dieser
Vorlesungsreihe noch zu besprechenden amerikanischen Soziologen Jeffrey Alexander, dann auch
zugestehen. Auch die Nichtberücksichtigung Simmels könnte also auf eine verborgene theoretische
Problematik hindeuten!
763. Problematisch ist außerdem Parsons’ Umgang mit dem Werk von Karl Marx, dem er zwar kein
eigenes Kapitel widmet wie den anderen vier europäischen Klassikern, das er aber doch immerhin an
zwei Stellen des Buches diskutiert. Aber diese Diskussion ist viel zu kurz – und zwar v. a. deshalb,
weil Parsons interessanterweise Marx in einer Weise deutet, die diesen im Hinblick auf seinen
eigenen Versuch des Aufbaus einer voluntaristischen Handlungstheorie als eine eigentlich zentrale
Figur erscheinen läßt. Denn Parsons interpretiert Marx korrekterweise als einen Autor, der sich zum
einen vor allem im englischen Exil durch seine zunehmende Beschäftigung mit Fragen der politischen
Ökonomie klar in die Tradition des Utilitarismus gestellt, der aber zum anderen durch seine deutsche
Herkunft auch noch das idealistische Gedankengebäude eines Hegel zumindest zum Teil verinnerlicht
hatte. Gerade wenn Parsons seine eigene Handlungstheorie als eine Brücke zwischen Idealismus und
Positivismus bzw. Utilitarismus versteht (Structure, S. 486), dann wäre es doch naheliegend
gewesen, sich ausführlich mit einem Autor zu beschäftigen, der beide Seelen in seiner Brust vereinte.
(…) Marx may be considered to be understandable in terms of the logical framework of English utilitarian thought, though (…) in a
somewhat different way from most other utilitarians. Here, however, he tied his analysis into a theory of »dialectic« evolution largely of
Hegelian origin. Marx thus forms an important bridge between the positivistic and idealistic traditions of thought. (Parsons, a.a.O.)

Auch wenn Parsons zu Recht angenommen hat, daß im Marxschen Werk die jeweiligen
Theorieelemente nicht erfolgreich integriert wurden, so wäre es doch gerade im Hinblick auf seine
eigene theoretische Stoßrichtung interessant, wenn nicht gar notwendig gewesen zu ergründen, warum
es diesem weltgeschichtlich so folgenreichen Autor nicht gelungen ist, eine wirkliche Synthese
herbeizuführen. Warum ist Marx an dieser Stelle gescheitert? Darüber läßt uns Parsons im unklaren.
4. Zudem sind Zweifel angebracht, ob Parsons’ Annahme, der französische intellektuelle
Hintergrund sei vom Positivismus dominiert gewesen, tatsächlich richtig ist. Vermutlich war die
französische Geisteslandschaft wesentlich differenzierter, als Parsons zugestand, denn ansonsten
könnte man wohl kaum erklären, warum sich in Frankreich gegen Ende des 19. Jahrhunderts
Strömungen wie die 77Lebensphilosophie derart schnell ausbreiten konnten und dann in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts auch deutsche Theorietraditionen bereitwillig rezipiert wurden (vgl. dazu
die Vierzehnte Vorlesung). Parsons hätte zumindest auf die im 17. und 18. Jahrhundert so starke
Tradition der »Moralistik« (vgl. dazu Johan Heilbron, The Rise of Social Theory) und auf Alexis de
Tocqueville zurückgreifen können, um Argumente zu finden, die so ähnlich auch bei Durkheim
auftauchen und die seine eigene theoretische Stoßrichtung – die Betonung von Werten und Normen –
unterstützt hätten.
5. In gleicher Weise kann man Parsons’ Behauptung, die deutsche Geistesgeschichte sei hochgradig
»idealistisch« geprägt gewesen, kritisieren; dies nicht so sehr, weil diese Aussage völlig falsch wäre,
sondern weil man mit der Verwendung dieses Etiketts allzu schnell in Gefahr gerät, gerade die für
eine Theorie des Handelns hochinteressanten Strömungen in dieser Geschichte leichtfertig zu
übergehen. Es ist sicherlich richtig, daß in bestimmten Phasen der deutschen Geistesgeschichte häufig
vom »Volksgeist«, der »deutschen Seele« etc. die Rede gewesen ist. Vor allem im Ersten Weltkrieg
haben sich die deutschen Intellektuellen in der Benutzung solcher gegen die Kriegsgegner gerichteten
Kampfbegriffe geradezu überschlagen und dabei so argumentiert, als seien alle in Deutschland zu
findenden kulturellen Phänomene unmittelbare Verkörperungen eines »heroischen Geistes«. Insofern
war Parsons’ Charakterisierung der vorherrschenden Denktradition als einer Art »Emanationismus«
nicht völlig abwegig, einer Denkweise also, der zufolge kulturelle und soziale Phänomene nichts
anderes seien als der Ausdruck überpersönlicher Ganzheiten wie des »Geistes« eines Volkes oder
einer »Zeit«. Aber die Philosophie des deutschen Idealismus beruhte ganz wesentlich auch auf einer
Vorstellung vom menschlichen Handeln, die es erlaubt hätte, den Parsonsschen »action frame of
reference« an einer zentralen Stelle mit guten Gründen in Frage zu stellen. So rückte Johann Gottfried
Herder (1744-1803) bestimmte Formen des Handelns in den Mittelpunkt seiner Reflexionen, die mit
dem Parsonsschen begrifflichen Werkzeug nicht zu fassen sind: Beim Handeln als Sich-selbst-
Ausdrücken, beim expressiven Handeln, werden weder in rationalistischer Manier (wie sich das der
Utilitarismus vorstellt) vorgegebene Zwecke und Ziele verfolgt, noch richtet man sich (wie Parsons
betont) nach den gemeinsamen Normen einer Gemeinschaft oder Gruppe. In einer glänzenden
Interpretation jener 78deutschen »Ausdrucksanthropologie« hat der große kanadische
Sozialphilosoph Charles Taylor (geb. 1931) diese Art des Handelns folgendermaßen beschrieben:
Wenn wir uns unser Leben als die Realisierung eines Wesens oder einer Form vorstellen, bedeutet das nicht nur die Verkörperung dieser
Form in der Realität, sondern ebenso die in einer bestimmenden Weise vorgenommene Erklärung dessen, was diese Form ist. (…) die
Idee, die ein Mensch realisiert, ist nicht gänzlich im voraus bestimmt; zur gänzlichen Bestimmung wird sie erst dadurch gebracht, daß sie
im Sinne unseres Modells vervollständigt wird. Daraus erklärt sich die Herdersche Idee, daß mein Menschsein einmalig, nicht gleichartig
dem deinigen ist und daß diese einmalige Qualität nur in meinem eigenen Leben selbst offenbart wird. »Jeder Mensch hat ein eigenes
Maß, gleichsam eine eigene Stimmung aller seiner sinnlichen Gefühle zueinander.« [Herder] Damit soll nicht nur gesagt werden, daß die
Menschen verschieden sind, was kaum etwas Neues wäre, sondern daß die Unterschiede die einzigartige Form bestimmen, die zu
realisieren jeder von uns aufgerufen ist. Die Unterschiede nahmen moralische Bedeutung an, und es tauchte zum ersten Male die Frage
auf, ob denn eine gegebene Lebensform authentischer Ausdruck bestimmter Individuen oder eines bestimmten Volkes sei. (Ch.Taylor,
Hegel, S. 32)

Wichtig an diesem Zitat von Charles Taylor ist zweierlei (vgl. zum folgenden v. a. Joas, Die
Kreativität des Handelns, S. 113 ff.). Zum einen wird das Handeln von Herder und den anderen
Denkern dieser Tradition der Ausdrucksanthropologie nicht als ein rational geplantes, durch gegebene
Ziele, Nutzenvorstellungen usw. geleitetes verstanden, sondern als eines, in dem sich der Sinn des
Handelns erst im Handlungsakt selbst für den Handelnden herausschält. Zum anderen ist dieses
Handeln aber eben auch nicht von einer gesellschaftlichen Norm angeleitet; es kommt vielmehr quasi
von innen heraus, ist also mehr als bloße Normenbefolgung. Wenn Sie nun nach Beispielen aus dem
Alltag fragen, die für ein solches expressives Handeln stehen, so denken Sie zunächst am besten an
Handlungen wie die Anfertigung einer künstlerischen Zeichnung, an das Singen einer Melodie, an
ästhetische Selbstinszenierungen durch Schmücken des Körpers, an Bewegungsarten wie den Tanz
usw.: Sie werden sicherlich zugestehen, daß Sie in der Regel beim Tanzen weder (oder zumindest
nicht nur) einen vorgegebenen Zweck verfolgen wollen noch sich hierbei ausschließlich einer Norm
unterwerfen. Aber Herder wollte keinesfalls diese Vorstellung vom Handeln als Selbst-Aus79druck
der Handelnden auf ästhetische Formen beschränkt wissen. Abgestoßen von der Selbstherrlichkeit
selbsternannter »Genies«, betonte er immer deutlicher, daß Selbstverwirklichung im Handeln auch
beim Helfen, Friedenstiften usw. möglich sei.
Herders nicht-rationalistisches und nicht-normativistisches Handlungsverständnis mag also
vielleicht auf den ersten Blick merkwürdig klingen. Tatsächlich kennen Sie aber eben aus Ihrem
Alltag genügend Situationen, in denen Sie zu handeln begonnen haben, nicht weil Sie von irrationalen
Trieben geleitet worden wären, sondern weil Sie das Gefühl hatten, daß Ihnen die Handlung selbst
wichtiger war als alle dadurch zu erreichenden Ziele bzw. »ends«: Der Ausdruck des Ich stand also
im Vordergrund, nicht so sehr der Zweck der Handlung oder die Normbefolgung. Wir werden in der
Vorlesung über den Neo-Pragmatismus auf diesbezügliche Phänomene und Probleme noch näher
eingehen, wollen aber hier zunächst festhalten, daß dieses Modell expressiven Handelns mit Parsons’
»action frame of reference« schwerlich zu fassen und damit der Parsonssche Handlungsbezugsrahmen
wohl auf alle Fälle defizitär ist. Daß Parsons dies nicht bemerkte, hing unter anderem mit der
spezifischen Form seiner Konvergenzthese zusammen und der darin enthaltenen vorschnellen
Abqualifizierung ganzer nationaler geistesgeschichtlicher Traditionen. Er verkannte, daß die
Vorstellung vom »Ausdruck« eines »Volksgeistes« ursprünglich zurückging auf ein Ausdrucksmodell
des Handelns. So recht er also mit seiner Kritik am »Emanationismus« hatte, so wenig war er
berechtigt, dieses Handlungsmodell zu ignorieren.

Zusammenfassend und ganz allgemein formuliert läßt sich sagen, daß die Konstruktion der
Parsonsschen Konvergenzthese dahingehend zu kritisieren wäre, daß mit ihr eine relativ einlinige
Fortschrittsgeschichte verbunden ist. Parsons sieht jedenfalls keinen Widerspruch zwischen seiner in
Structure deutlich zum Ausdruck kommenden Bevorzugung Paretos gegenüber Marshall (Parsons
schätzt Pareto auch deshalb so sehr, weil dieser den Fortschrittsoptimismus der viktorianischen
Epoche gerade nicht geteilt hatte) bzw. zwischen seiner Kritik an evolutionistischen
Geschichtskonstruktionen à la Spencer einerseits und seiner eigenen fortschrittsgläubigen Deutung der
Geistesgeschichte andererseits. Denn fortschrittsgläubig ist diese Deutung in der Tat, suggeriert sie
doch, daß es 80einen klar erkennbaren, aufsteigenden Weg gebe, der von den soziologischen
Klassikern hin zu Parsons selbst führe (auch dies ist ja in dem Begriff »Konvergenz« mitgedacht!).
Nun mag es tatsächlich so sein, daß der Parsonssche Theorierahmen demjenigen der Klassiker
überlegen ist. Aber dies ist nicht der Punkt, auf den es uns hier ankommt. Wir warnen vielmehr davor,
die Geistesgeschichte ganz generell aus der Perspektive der »Sieger«, der siegreichen
Theoriekonstruktionen also, zu schreiben. Denn wie wir gerade am Beispiel der deutschen
Ausdrucksanthropologie um Herder gesehen haben, gab, gibt und wird es immer Theorieansätze
geben, die den Nachgeborenen etwas zu sagen haben, selbst wenn der »Fortschritt« diese Ansätze
zunächst links liegen läßt, wenn sie im Prinzip also vergessen werden. Aber aus ihnen können wir
oftmals Wesentliches lernen. Die Vorstellung, daß der »Fortschritt« in den Geisteswissenschaften in
der Lage wäre, alle in der Vergangenheit gültigen Erfahrungsgehalte menschlichen Lebens und
Handelns »mitzunehmen« und dann auch theoretisch zu fassen, scheint uns sehr merkwürdig,
jedenfalls allzu selbstbewußt zu sein. Deshalb lohnt es sich auch für Soziologen, nicht nur für
Historiker, in die Geistesgeschichte zurückzublicken, weil man dort immer wieder Neues entdecken
kann. Die gegenwärtige deutsche Soziologie beschäftigt sich vielleicht zu sehr mit der Deutung von
Klassikern und mit der Geschichte der eigenen Disziplin. Aber eine solche Beschäftigung ist an sich
durchaus legitim und sogar geboten, sofern sie dazu benutzt wird, um alte und vergessene, aber eben
deswegen immer wieder »neue« Erfahrungsbestände zur Verbesserung gegenwärtiger Theorien und
zur Lösung aktueller theoretischer Probleme heranzuziehen.

Soweit die wesentlichen, unserer Meinung nach wirklich gewichtigen Einwände gegen die Form und
den Inhalt der Parsonsschen Konvergenzthese. Andere Kritiken erscheinen uns weniger entscheidend,
wenn nicht gar deplaziert. Weil einige davon aber immer wieder vorgebracht werden, müssen wir uns
zumindest kurz mit ihnen beschäftigen.
Schon in der letzten Vorlesung war die extrem weite und umfassende Verwendung des
Utilitarismus-Begriffs bei Parsons angesprochen worden. Der Vorwurf gegenüber Parsons, er habe
den Utilitarismus falsch nachgezeichnet und manche, wenn nicht gar wesentliche der darin zu
findenden moralphilosophischen und so81zialtheoretischen Argumente ignoriert, scheint uns aber an
der Sache vorbeizugehen. Denn auch die Verfechter einer »angemessenen« Interpretation des
Utilitarismus stehen häufig vor der Schwierigkeit, diese Theorierichtung genau abzugrenzen, und in
manchen Fällen kann man schon fragen, ob die von ihnen zitierten moralphilosophischen Argumente
bzw. Autoren, mit denen die Breite und Vielfalt utilitaristischen Denkens dokumentiert werden soll,
wirklich alles utilitaristische Argumente bzw. wirklich alle Utilitaristen waren. Parsons’
Behauptung war ja lediglich, daß große Teile der neuzeitlichen angelsächsischen Philosophie ebenso
wie die klassische politische Ökonomie von utilitaristischen Argumenten durchzogen seien. Daraus
ist aber nicht zu schließen, daß alle Autoren in dieser Tradition waschechte Utilitaristen waren oder
daß alle als Utilitaristen bezeichneten Autoren ausschließlich eindeutig utilitaristische Argumente
formuliert hätten. Deshalb ist es auch nicht sinnvoll, gegen Parsons’ These (siehe z. B. die Einwände
von Charles Camic in »The Utilitarians Revisited«) etwa das Werk von Adam Smith oder anderen
anzuführen und zu zeigen, daß dort sehr differenzierte moralphilosophische Argumente auftauchen,
Argumente, die weit über das »greatest happiness-principle« Benthams hinausgehen. Parsons hätte
dies durchaus akzeptiert. Denn ihm ging es in seiner Argumentationsführung um die Logik und die
fatalen theoretischen Konsequenzen eines engen nutzenorientierten (= utilitaristischen)
Handlungsmodells, nicht in erster Linie um eine historisch adäquate Begriffsdefinition oder
Autorenklassifikation. Er wollte nicht die Geschichte des englischen Denkens in all seinen
Verwicklungen darstellen; ihm ging es vielmehr in erster Linie um die Wirtschaftswissenschaften, die
sich sicher erst nach der Mitte des 19. Jahrhunderts konsequent auf das nutzenorientierte Modell des
Handelns stützten.
Parsons wird des weiteren dahingehend kritisiert, daß er Konvergenz dort festzustellen meinte, wo
eigentlich Divergenz sichtbar war. So haben einige Kritiker (vgl. Pope/Cohen/Hazelrigg, »On the
Divergence of Weber and Durkheim: A Critique of Parsons’ Convergence Thesis«) argumentiert, daß
sich gerade in der Werkentwicklung von Durkheim und Weber ein immer stärkeres Auseinanderdriften
der Thesen und Themenfelder ergeben habe und daß allein deswegen die Parsonssche
Konvergenzbehauptung absurd und somit eher eine Divergenzthese zu verfechten sei. Aber auch dies
82ist ein Mißverständnis; denn Parsons ging es nicht um eine inhaltliche Konvergenz der vier von ihm
behandelten Autoren schlechthin, sondern um deren Konvergenz in einem ganz bestimmten Punkt,
nämlich im Hinblick auf die Entwicklung und Ausarbeitung einer voluntaristischen Handlungstheorie,
also im Hinblick auf die gleichgerichtete Bearbeitung der soziologischen Grundprobleme des
Handelns und der sozialen Ordnung.

Damit können wir die Debatte um die Konvergenzthese hinter uns lassen. Wir kommen nun zu der
Auseinandersetzung um Parsons’ »action frame of reference«, zu der Kritik also, die gegenüber
seinem Verständnis des Handelns vorgebracht wurde. Und hier lassen sich ebenfalls einige
gewichtige Einwände nennen.
1. Den ersten Einwand kennen Sie schon aufgrund der Diskussion des Herderschen
»Ausdruckshandelns«. Es sei deshalb hier nur nochmals kurz die zweifelnde Frage wiederholt, ob
sich wirklich alles Handeln in das Zweck-Mittel-Schema pressen läßt, also ob es nicht ein Handeln
jenseits der Zielerreichung und Normerfüllung gibt. Religiöse Rituale, die Kunst etc. sperren sich –
wie wir anhand der kurzen Ausführungen zu Herder gesehen haben – einer solchen Kategorisierung
(vgl. hierzu insbesondere Hans Joas, Die Kreativität des Handelns). Aber auch auf der – wenn Sie
so wollen – »entgegengesetzten« Seite des Handlungsspektrums finden sich Tätigkeiten, die man nicht
mit dem Zweck-Mittel-Schema fassen kann. Denken Sie dabei an absolut routinisierte Handlungen, an
Handlungen, die Sie vorbewußt, ohne wirklich zu überlegen, ausführen. Sie werden feststellen, daß
tatsächlich ganz viele Handlungen in Ihrem Alltag genau so ablaufen: Die Zubereitung Ihres
Frühstücks beispielsweise ist, sofern Sie dies häufig und nicht nur einmal im Jahr machen, keine
Kette von klaren Zwecksetzungen bei gegebenen Mitteln, und auch der Verweis auf Normen oder
Werte hilft hier nicht weiter. Ihre Handlungen, die Sie in der Küche verrichten (das Holen der Butter
aus dem Kühlschrank, das Brühen des Kaffees, das Decken des Tisches etc.), geschehen mit
Sicherheit nicht als eine ununterbrochene Reihe von kalkulierten Handlungsakten. Dies war vielleicht
der Fall, als Sie als Kind für Ihre Eltern zum ersten Mal das Frühstück bereitet haben und dann genau
überlegen mußten, ob zu einem Frühstück wirklich Butter, Kaffee und ein gedeckter Tisch gehören.
All dies mußten Sie dann in einzelnen Handlungen wohl83überlegt auf den Weg bringen. Wenn Sie
heute Ihr gewohntes Frühstück machen, dann sind die früheren Zwecksetzungen längst von Ihnen
»aufgesogen« worden, Sie denken nicht mehr darüber nach. Dies ist routinisiertes Handeln, eines, in
dem diese früheren Zwecke direkt im Handlungsvollzug enthalten sind, ohne daß Sie darüber
reflektieren, was Sie genau jetzt eigentlich tun und welche Ziele Sie erreichen wollen. All dies wird
wieder in der Zwölften Vorlesung über den englischen Sozialtheoretiker Anthony Giddens
aufgegriffen werden, der erkennt, daß der Parsonssche Handlungsrahmen auch diesbezüglich Mängel
aufweist.
2. Kritisiert wurde an Parsons’ »action frame of reference« auch dessen »objektivistische«
Schlagseite. Damit ist gemeint, daß Parsons nicht wirklich die kognitiven Fähigkeiten und Schwächen
der Handelnden in bezug auf ihren Umgang mit der Handlungssituation berücksichtigt. Es erscheint
bei Parsons so, als sei es völlig klar, daß die Akteure die Mittel und Bedingungen des Handelns
sehen, wie sie sind – objektiv eben. Aber das Wissen der Handelnden über die Umstände ihrer
Handlungen mag sehr verschieden sein, dies läßt sich von außen – objektiv also – nicht einfach
ermitteln, sondern hier müssen zunächst die subjektiven Sichtweisen der Handelnden untersucht
werden, bevor der Sozialwissenschaftler verläßliche Aussagen darüber machen kann, wie die
Akteure unter gegebenen Bedingungen handeln werden (vgl. Warner, »Toward a Redefinition of
Action Theory«). Und in ähnlicher Weise läßt sich in bezug auf Normen und Werte argumentieren:
Denn auch die Normen und Werte einer Gesellschaft sind nicht einfach da oder gegeben, sondern sie
sind natürlich immer von den Handelnden zu interpretieren. Wiederum gilt also, daß diese
Interpretationsleistung zu ergründen ist, damit das Handeln der Akteure verstanden werden kann; der
bloße Verweis auf »objektiv« vorfindbare Normen und Werte hilft hier nicht weiter. Dies alles sind
jedenfalls Punkte, die freilich erst später ins Zentrum der soziologischen Theoriediskussion geraten
sollten, wie Sie dann in den Vorlesungen zum Symbolischen Interaktionismus, zur Ethnomethodologie
und wiederum zum Werk von Anthony Giddens sehen werden.
3. Eng mit dem letzten Punkt hängt die kritische Frage zusammen, warum Parsons bei der
Darstellung des »unit act« zwar mit dem Verweis auf die Situation des Handelns die Voraussetzungen
jeglichen Handelns zum Thema gemacht, dessen Folgen jedoch 84ignoriert hat. Parsons tut so, als ob
mit der Erreichung des Ziels des Handelns dieses Handeln dann auch schon vorbei wäre. Aber dies
ist eine Analyseweise, durch welche der einzelne Handlungsakt quasi in vollständiger Isolation
betrachtet wird. Berücksichtigt wird dabei nicht, daß die Folgen des Handelns häufig wieder
unmittelbar auf den Handelnden zurückwirken: Es bilden sich ja nicht nur geordnete Konfigurationen
durch das jeweilige Handeln verschiedener Akteure; meine eigenen Handlungen verketten sich ja
ebenfalls, weil mein Handeln Folgen hat, auf die ich wiederum reagieren muß. Eine genauere
Auseinandersetzung mit diesen Folgen wäre also durchaus angebracht gewesen, zumal Parsons in
Structure ja ausführlich Paretos Auseinandersetzung mit der Problematik der Nebenfolgen referiert
und diskutiert hat. Merkwürdigerweise hat er die Paretoschen Erkenntnisse für die Ausformulierung
seines eigenen Handlungsbezugsrahmens aber gerade nicht herangezogen. So wird dann erst in
Parsons’ Umfeld, etwa bei dem amerikanischen Soziologen Robert Merton (1910-2003), unter
anderem die wichtige Unterscheidung zwischen »intendierten« und »unintendierten Folgen« des
Handelns eingeführt, also denen, die ich herbeiführen wollte, und denen, die ich ungewollt ausgelöst
habe. Aber selbst dieser Schritt ist vermutlich noch nicht ausreichend, weil innerhalb der Kategorie
der unintendierten Folgen noch zwischen jenen zu unterscheiden ist, die antizipiert sind, und jenen,
bei denen dies nicht zutrifft: So gibt es möglicherweise Folgen meines Handelns, die in dem strengen
Sinne unintendiert sind, daß ich sie explizit nicht will – und dies ist mir sehr bewußt; dennoch werde
ich so handeln, wie ich es geplant habe, weil mir das Erreichen der beabsichtigten Folgen meines
Handelns wichtiger erscheint als die leidigen Nebenfolgen. Ich kalkuliere in diesem Falle also meine
Nebenfolgen mit ein, da ich sie vorausgesehen habe. Aber natürlich nicht alle ungewollten
Nebenfolgen sind antizipierbar, vielleicht sogar die wenigsten. Das soziale Leben ist derart komplex,
daß oftmals eine einzelne Handlung gigantische Nebenfolgen auslöst, die zum Zeitpunkt des Handelns
buchstäblich unvorhersehbar waren. Denken Sie an das Attentat in Sarajewo 1914, als die Ermordung
des österreichischen Thronfolgers Konsequenzen nach sich zog, die den Attentätern mit Sicherheit so
nicht bewußt waren, weil niemand – auch sie selbst nicht – sich vorstellen konnte, daß dies der
Auslöser für das Gemetzel des Ersten Weltkriegs werden würde (vgl. hierzu die erhellenden
85Ausführungen bei Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, S. 60-65).
4. Im Zusammenhang mit den Handlungsfolgen stellt sich natürlich auch die Frage, inwiefern es
überhaupt sinnvoll ist, von der Handlung eines einzelnen Akteurs, von einer isolierten Handlung also,
auszugehen. Führt nicht Parsons’ Darstellung des »unit act« zu einer schiefen Perspektive, weil damit
unterstellt wird, der Handelnde würde sein Handeln quasi autonom aus sich selbst generieren? Müßte
man nicht vielmehr einen ganz anderen Blickwinkel einnehmen, einen, den wir schon im
Zusammenhang mit der kritisierten Vernachlässigung der amerikanischen Denktraditionen und
Simmels in Structure kurz angerissen haben? Simmel ging ja nicht vom einzelnen Handelnden aus,
sondern sein Ansatzpunkt war die soziale Beziehung, weil er die plausible Ansicht vertrat, daß es
erst die ursprüngliche Sozialität des Menschen ist, die das Handeln ermöglicht: Der Mensch kommt
nicht schon als Handelnder in die Welt, sondern als einer, der als hilfloses Baby bzw. Kind
eingebettet ist in ein soziales Gefüge und erst daraus Handlungsfähigkeit schöpft. Somit wäre
Sozialität der Handlungsfähigkeit vorgeschaltet, was dann insofern jeden Versuch, den isolierten
Handelnden in den Mittelpunkt der Theoriebildung zu stellen, problematisch erscheinen läßt. In
ähnlicher Weise – allerdings die sozialpsychologischen und handlungstheoretischen Aspekte noch
sehr viel raffinierter und genauer herausarbeitend – haben auch die amerikanischen Pragmatisten und
hier vor allem George Herbert Mead argumentiert, den aber Parsons – wie gesehen – bei seiner
Rekonstruktion des soziologischen Denkens ebenfalls hat »links liegen lassen«. In der Vorlesung zum
Symbolischen Interaktionismus werden Sie hierzu wesentlich mehr erfahren.
5. Kritisiert wurde an Parsons’ Handlungsbezugsrahmen auch die Unklarheit dessen, was man als
das »Normative« bezeichnen könnte. Parsons sprach in Structure von Normen und Werten, in bezug
auf letztere auch von »ultimate ends«, ohne hier wirklich zu sagen, ob und wie sich Normen und
Werte unterscheiden und wie sie eigentlich genau zusammenhängen. Wenn er von »ultimate ends«
sprach, dann differenzierte er zwar durchaus zwischen persönlichen »ultimate ends« und jenen, die
vielleicht einer ganzen Gesellschaft zu eigen sind, aber er fragte dann wiederum nicht, ob und wie
sich beide aufeinander beziehen. Ironischerweise könnte man gegen Par86sons einen ähnlichen
Einwand vorbringen, wie er ihn selbst gegen die Utilitaristen formuliert hatte: Parsons hatte gemeint,
daß die Utilitaristen es versäumt hätten, nach der Herkunft der Nutzenvorstellungen, Wünsche, »ends«
etc. zu fragen. In ähnlicher Weise muß man nun Parsons dahingehend kritisieren, daß er keine
Anstrengungen unternommen hat, nach der Entstehung von Werten, nach ihrer Herkunft zu fragen, und
dies, obwohl sie ja für seine voluntaristische Handlungstheorie so zentral sind und kein Begriff für
seine Theorie so wichtig zu sein scheint wie der der »Werte«. Wenn man Structure (und übrigens
auch die nachfolgenden Werke von Parsons) liest, dann erhält man den Eindruck, daß Werte schlicht
vorhanden seien. Aber wie muß man es sich vorstellen, daß etwas für eine Person zu einem Wert an
sich wird? Und: Wie kommt es überhaupt zu gemeinsam geteilten Werten? Parsons schweigt dazu,
und Antworten darauf muß man andernorts suchen (vgl. hierzu Joas, Die Entstehung der Werte). In
den Vorlesungen zur französischen Soziologie, hier vor allem zu Alain Touraine, und zum Neo-
Pragmatismus werden Sie ausführlicher davon hören.
6. Der letzte Kritikpunkt liegt auf einer etwas anderen Ebene als die zuvor genannten, insofern
Parsons selbst ein Defizit seiner Theorie bemerkte und auch bald zugestand. Denn in The Structure
of Social Action fehlen Aussagen darüber, was denn eigentlich der Antrieb des menschlichen
Handelns ist. Man kann ja bestimmte Ziele und Werte und sogar die erforderlichen Mittel zu ihrer
Verwirklichung haben, ohne daß man sich ernsthaft dazu aufrafft, diese Ziele nun auch tatsächlich zu
erreichen. Woher kommt also dieser Wille, diese Anstrengung, diese Energie zum Handeln? Parsons
spricht, diese Leerstelle selbst bemerkend, von »effort«, von der dynamischen Kraft, welche die
Ziele und Zwecke über ihre zunächst einmal nur gedachte Existenzweise hinausführt und Wirklichkeit
werden läßt. Er sah selbst, daß hier weitere Arbeit nötig war.

Diese sechs Kritikpunkte am Parsonsschen Handlungsbezugsrahmen sollten Sie aus zweierlei


Gründen unbedingt im Gedächtnis behalten. Zum einen war Structure natürlich nicht Parsons’ letztes
Werk, sondern eben sein erstes. Es muß sich deshalb für uns die Frage stellen, ob Parsons die
Kritikpunkte selbst gesehen und an ihnen gearbeitet hat. Für die Beurteilung seiner weiteren Arbeiten
ist dies nicht unwesentlich. Zum anderen werden Sie an der Struktur der Vorle87sung bald sehen –
dies klang ja schon durch die Nennung von zahlreichen Theorierichtungen und Theoretikern beim
Durchgang durch die sechs Punkte an –, daß sich viele der nachfolgenden Soziologen am
Parsonsschen Handlungsbezugsrahmen abgearbeitet haben und sich somit die Entwicklung der
modernen soziologischen Theorie in großen Teilen als ein Sich-Reiben am Parsonsschen
Gedankengebäude darstellen läßt.

Wir kommen nun zum zweiten Teil der Vorlesung, lassen Structure endgültig hinter uns und
konzentrieren uns auf die nachfolgenden Parsonsschen Werke. Werkgeschichtlich fällt dabei auf, daß
Parsons in einer Hinsicht tatsächlich weiter am handlungstheoretischen Bezugsrahmen feilte. So sieht
er – wie schon erwähnt – durchaus das Problem, daß er den eigentlichen Antrieb des Handelns
vernachlässigt, also nicht ausreichend analysiert hat, welche Energien den Menschen bei der
Verwirklichung von Zielen und der Umsetzung von Werten tatsächlich antreiben. Parsons beginnt
daraufhin, sich ausführlich mit der Psychoanalyse zu beschäftigen. Er unterzieht sich sogar selbst
einer Lehranalyse und greift auch auf andere, verwandte psychologische Theorien seiner Zeit zurück,
um erklären zu können, welche Antriebsmotive bereits im frühen Kindheitsalter in der Persönlichkeit
verankert werden und die jeweilige Person dann zeit ihres Lebens prägen. Diese intensive
Beschäftigung mit der Psychoanalyse schlägt sich deutlich in seinen Schriften nieder, womit er quasi
die im obigen Punkt 6 aufgeführte Kritik am ursprünglichen handlungstheoretischen Bezugsrahmen
aufnimmt und produktiv weiterverarbeitet. Unmittelbar nach 1937 stehen für ihn aber zunächst andere
Themen und Aufgaben im Vordergrund, die zumindest auf den ersten Blick weniger einen
theoretischen als einen empirischen Kern haben.
Parsons beginnt sich nämlich zum einen für die Ärzteschaft zu interessieren, wobei er über ein Jahr
lang das Verhalten von Medizinern an der Harvard Medical School studiert. Ärzte zählen mit
Rechtsanwälten u. a. zu den Vertretern der freien akademischen Berufe (engl. »professions«), und
diese Berufe haben, obwohl ihre Tradition auf vorkapitalistische Verhältnisse zurückgeht, in der
modernen (kapitalistischen) Gesellschaft nichts an Bedeutung verloren. Im Gegenteil, die Zahl der
Ärzte und Rechtsanwälte ist ständig gewachsen, und auch andere Berufe, die ähnlich strukturiert sind,
88haben an Gewicht gewonnen. Dies ist deshalb so bemerkenswert, weil Freiberufler wie Ärzte
zwar in einer kapitalistischen Gesellschaft nach Marktprinzipien bezahlt werden, aber gleichzeitig
durch die in diesem Berufsstand fest verankerte Standesethik das egoistische Marktprinzip auch
deutlich eingeschränkt wird: Der Arzt muß sich gemäß dieser Ethik als Diener und Helfer seiner
Patienten verstehen, der durchaus nicht alles machen oder verlangen darf, was unmittelbar in seinem
marktlichen bzw. finanziellen Eigeninteresse wäre. Der Arzt hat etwa auch dann zu helfen, wenn ein
in eine akute Notsituation geratener Patient nicht zahlen kann; er darf nicht unsinnige medizinische
Eingriffe vornehmen, selbst wenn sie der Patient wollte und dafür bezahlen würde etc. Für Parsons
ist dieses Phänomen der Professionen deshalb so bedeutsam, weil es aufzeigt, daß der Kapitalismus
tatsächlich nicht einer unaufhaltsamen Eigenlogik folgt, in der nur die Prinzipien des Eigennutzes
gelten und alle anderen Elemente sukzessive ausgemerzt werden. Vielmehr sieht man laut Parsons an
der Existenz der Professionen, daß sich ethische Systeme inmitten der Logik des Marktes behaupten
können; nicht alles Nicht-Marktliche »verdampft« also – wie Marx und Engels dies in ihrem
Kommunistischen Manifest prophezeit hatten und heutige Globalisierungsgegner wie -befürworter
noch immer behaupten. Man sieht, auch Parsons’ empirisch angelegte Studien haben eine theoretische
Stoßrichtung, und wenn Sie mehr darüber wissen wollen, so lesen Sie am besten den auch auf deutsch
zugänglichen Aufsatz von Parsons mit dem Titel »Die akademischen Berufe und die Sozialstruktur«
aus dem Jahre 1939 (in: Talcott Parsons, Beiträge zur soziologischen Theorie).
Der andere, eher empirisch orientierte Schwerpunkt von Parsons’ Arbeit in den späten 1930er und
frühen 1940er Jahren lag im Bereich der politischen Analyse. Parsons wurde wie viele andere
amerikanische Sozialwissenschaftler auch von der US-Regierung in die Kriegs- und
Nachkriegsplanung eingespannt, weil man schlicht Wissen über die Gesellschaft der Kriegsgegner,
die dort herrschenden Probleme, die Chancen für einen demokratischen Neuaufbau usw. benötigte.
Parsons schrieb in diesem Zusammenhang zum Teil glänzende Aufsätze und Memoranden über die
deutsche Gesellschaft in der Zeit unmittelbar vor 1933 und im Nationalsozialismus. Er analysierte
dort die Bedingungen des Aufstiegs Hitlers und fragte dabei unter anderem, ob nicht auch in den USA
der Aufstieg eines 89»amerikanischen Hitler« zu befürchten sei. Viele dieser Aufsätze wurden zur
damaligen Zeit nicht veröffentlicht, weil sie den Status von Regierungsdokumenten hatten. Heute
können Sie seine Arbeiten zum Nationalsozialismus natürlich problemlos lesen, und wir möchten Sie
in diesem Zusammenhang auf den Sammelband von Uta Gerhardt (Talcott Parsons on National
Socialism, 1993) hinweisen oder – falls Sie nur einen kurzen Einblick nehmen wollen – auf den auf
Deutsch vorliegenden Aufsatz aus dem Jahre 1942 mit dem Titel »Demokratie und Sozialstruktur in
Deutschland vor der Zeit des Nationalsozialismus« (in: Talcott Parsons, Beiträge zur soziologischen
Theorie). Selbst wenn Parsons’ Einschätzungen in vielerlei Hinsicht durch die Erkenntnisse der
heutigen Geschichtswissenschaft überholt sind und relativiert werden müssen, so waren seine
Analysen denjenigen seiner Kollegen in der damaligen amerikanischen Soziologie zumeist turmhoch
überlegen.

Man könnte nun durch unsere bisherige Darstellungsweise vermuten, daß Parsons’
Arbeitsschwerpunkte sich nach 1937 verstärkt auf empirische Probleme verlagerten oder daß er –
siehe seine Beschäftigung mit Freud und der Psychoanalyse – weiter an seinem
handlungstheoretischen Bezugsrahmen arbeitete und in erster Linie die daran erkennbaren und von uns
genannten Schwachpunkte zu beseitigen versuchte. Dies war jedoch nicht der Fall.
Parsons beginnt vielmehr – wie wir aus erst sehr viel später veröffentlichten Manuskripten wissen
(vgl. Parsons, Aktor, Situation, normative Muster. Ein Essay zur Theorie sozialen Handelns) – fast
zeitgleich mit der Abfassung von Structure über eine umfassende Theorie sozialer Ordnung
nachzudenken. Parsons hielt also den von ihm entwickelten handlungstheoretischen Bezugsrahmen im
großen und ganzen für vollständig und ausreichend. Es kam ihm deshalb nun offensichtlich eher darauf
an, eine Theorie vorzulegen, die in der Lage wäre, unterschiedliche Formen empirischer Ordnung zu
fassen und zu erklären. Wie Sie aus den Darlegungen zu The Structure of Social Action wissen, ging
Parsons ja dort von der Beobachtung aus, daß soziale Ordnung existiert und daß deshalb der
utilitaristische Handlungsbegriff falsch oder doch zumindest zu eng sei. Er entwickelte daraufhin
einen eigenen »voluntaristischen« Handlungsbegriff, der es erlauben sollte, die unbezweifelbare
Existenz sozialer Ordnung verstehbar zu machen. Diese Ordnung selbst stand für ihn 90nicht wirklich
im Mittelpunkt, sie war von ihm bis dato auch gar nicht explizit theoretisiert worden. Dies galt es
jetzt nachzuholen. Um es vorwegzunehmen, Parsons steuerte auf eine Ordnungstheorie zu, der man in
der Sekundärliteratur das ganz gut passende Etikett »normativistischer Funktionalismus« anheftete und
die in seinem zweiten Hauptwerk, nämlich in The Social System aus dem Jahre 1951, dann wirklich
ausformuliert vorlag. Aber da Ihnen dieses Etikett nicht viel sagen wird, wollen wir zunächst mit der
Erklärung des Begriffs »Funktionalismus« anfangen, damit Sie verstehen, in welche Richtung Parsons’
Ordnungstheorie wirklich ging.

»Funktionalismus« ist eine Denkweise, die soziale Phänomene dadurch beschreibt und gegebenenfalls
erklärt, daß sie auf die Funktionen hinweist, die diese Phänomene für eine größere Ganzheit erfüllen.
So kann man etwa am Beispiel der Familie zeigen, welchen (funktionalen) Beitrag sie für die größere
Gesamtgesellschaft erbringt. Und man könnte hier spontan an Beiträge wie die Erziehung junger
Menschen, die gesellschaftlich enorm wichtige Motivierung dieser jungen Menschen für das spätere
Arbeitsleben, die ebenso bedeutsame Vermittlung von gesellschaftlichen Normen durch die Eltern etc.
denken. Man könnte dann vielleicht behaupten, daß die Familie deshalb entstanden sei, weil mit ihr
wichtige Funktionen für das Gesellschaftsganze erfüllt werden konnten. Diese hier kurz an einem
ersten Beispiel skizzierte Argumentationsweise hat eine sehr lange Geschichte und tauchte im 19. und
20. Jahrhundert in unterschiedlichen Gedankengebäuden und Disziplinen immer wieder auf. Wer oder
was Parsons hinsichtlich der Übernahme funktionalistischer Denkfiguren am meisten beeinflußt hat,
ist schwer zu ermitteln. Vielleicht war der Kontakt mit Bronislaw Malinowski an der London School
of Economics Mitte der 1920er Jahre ausschlaggebend, war es doch Malinowski (1884-1942), der
die funktionale Analyse sehr stark in der Anthropologie vorangetrieben hat. Vielleicht war es das
anfängliche Biologiestudium, bei dem Parsons beispielsweise auf die Funktionen von Organen für
den Gesamtkörper und sein Überleben in einer Umwelt aufmerksam gemacht wurde. Vielleicht war
aber auch – und dies ist hier etwas provokant gemeint – seine Marxlektüre ausschlaggebend, denn
auch bei Marx finden sich funktionalistische Argumente. Für unsere Zwecke ist die Frage nach den
Einflüssen auf Parsons letztlich nicht entscheidend. 91Wir wollen statt dessen ein markantes Beispiel
funktionalistischen Argumentierens aus dem Kontext der Marxschen Theorie vorstellen, um Ihnen die
spezifische Logik funktionalistischen Denkens, dessen Besonderheiten und Schwierigkeiten
nahezubringen und um Sie daran zu hindern, Funktionalismus nur dort zu vermuten, wo ausdrücklich
davon die Rede ist.
Marx hatte in seinen Analysen zum Kapitalismus unter anderem immer wieder auf die Existenz der
sogenannten »industriellen Reservearmee«, des Heers von Arbeitslosen, aufmerksam gemacht, das
seiner Meinung nach typisch für den Kapitalismus sei. Diese Reservearmee sei für die Kapitalisten
überaus nützlich, weil dadurch die Chancen für die in Beschäftigungsverhältnissen stehenden
Arbeiter, Lohnerhöhungen durchzusetzen, geringer werden. Die Arbeiter hätten nämlich keine
wirklichen Druckmittel in der Hand, weil etwa im Falle eines Streiks eine große Anzahl
Arbeitswilliger zur Verfügung stehe, die froh wären, für einen niedrigeren Lohn zu arbeiten. Somit
wäre jeder Streik ziemlich wirkungslos. Es läßt sich also erstens behaupten, daß das Heer der
Arbeitslosen eine unabdingbare Funktion für die Struktur und die Dynamik des Kapitalismus erfüllt,
weil es dadurch den Kapitalisten möglich wird, billig zu produzieren und die Arbeiter auszubeuten.
Aber Marx geht noch weiter und behauptet an manchen Stellen seines Werkes zusätzlich zweitens, daß
es Arbeitslose gibt, weil sie letztlich dem Kapital bzw. dem Kapitalismus dienen, weil sie also
funktional für das kapitalistische System sind: er argumentiert also, daß der Kapitalismus diese
Arbeitslosen erst schafft.
Dies alles klingt auf den ersten Blick plausibel, aber bei einigem Nachdenken fällt Ihnen vielleicht
auf, daß es problematisch sein könnte, beide Behauptungen gleichzeitig zu vertreten. Macht man dies
nämlich – und dies ist typisch für viele funktionalistische Argumentationen –, dann schieben sich die
Ursachen und die Folgen eines Phänomens merkwürdig ineinander. Denn in der ersten Behauptung ist
die Arbeitslosigkeit im Prinzip die Voraussetzung oder (Mit-)Ursache für das gute Funktionieren des
kapitalistischen Systems. In der zweiten Behauptung ist die Arbeitslosigkeit hingegen die Folge des
Funktionierens des Kapitalismus. Wissenschaftslogisch ist dies höchst problematisch, da die Folgen
bzw. Wirkungen eines Phänomens erst zu einem späteren Zeitpunkt zu besichtigen sind, seine
Voraussetzung und Ursachen aber natürlich schon vor dessen 92Existenz vorhanden sein müssen.
Funktionalistische Argumente, wie das eben von Marx benutzte, sind also angesichts des
Ineinanderschiebens von Ursache und Wirkung, der Behandlung von Wirkungen als Ursachen, mit
großer Vorsicht zu genießen. Vor allem sollte man sich klarmachen, daß die Benennung der Funktionen
eines Phänomens dieses Phänomen in der Regel noch nicht erklärt. Ein simples Beispiel soll Ihnen
das zeigen. Tiere können für eine Familie und besonders für Kinder in einer Familie wichtige
Funktionen erfüllen, weil man ihnen gegenüber verantwortungsvolles Verhalten erlernt, einen
unverkrampften Zugang zur Natur gewinnt etc. Aber es muß keineswegs deshalb zur Aufnahme von
Haustieren in eine Familie kommen, und erst recht wäre es völlig absurd zu behaupten, daß
Kanarienvögel oder Schildkröten evolutionär deshalb entstanden sind, weil sie diese Funktion für die
Familie erfüllen sollten. Dieses Beispiel zeigt, daß irgendwelche Funktionen von Phänomenen
schnell benannt und »gefunden« sind, daß dies aber keineswegs etwas über die Ursache für das
Vorhandensein dieser Phänomene aussagen muß. Man muß also aufpassen, daß man nicht einfach
Funktionsbehauptungen mit Erklärungen gleichsetzt!
Wie Sie noch erfahren werden, sind aber die Sozialwissenschaften und gerade auch die Soziologie
von funktionalistischen Behauptungen bzw. Erklärungen geradezu durchzogen. Solche Behauptungen
tauchen in unterschiedlichen Kontexten auf, bei linken wie rechten Autoren, bei Marxisten und Nicht-
Marxisten. Die Verwendung des Begriffs »Funktion« ist geradezu inflationär geworden. Dabei wird
zumeist weder genau geklärt, was der genaue Beitrag eines Phänomens für ein größeres Ganzes sein
soll, noch ob oder wie mit der funktionalen Behauptung ein Erklärungsanspruch erhoben wird bzw.
werden kann. So ist es dann auch kein Wunder, daß sich in der Soziologie nur allzu häufig das findet,
was man ein »funktionalistisches Vorurteil« nennen könnte: Gemeint ist die Annahme, daß das, was
gerade passiert, immer notwendig, d. h. funktional ist für das Überleben einer größeren Ganzheit.
Wenn die Arbeitslosenzahlen steigen, dann ist das in dieser Sichtweise zweifellos funktional
notwendig für »das Kapital«, zumal dadurch – wie gesehen – die Konfliktfähigkeit der Arbeiter sinkt
und die Löhne gedrückt werden können; wenn die Arbeitslosenzahlen sinken, zeigt auch dies bei einer
solchen Betrachtungsweise wiederum nur, wie effektiv das Kapital Arbeitskraft nutzen und ausbeuten
kann und wie funktional 93deswegen das Sinken der Arbeitslosenzahlen und die parallele Zunahme
der Arbeitsplatzzahlen ist. Der Beliebigkeit der Argumentation ist also Tür und Tor geöffnet – und
von echten Erklärungen kann in diesen Fällen keine Rede sein. Wir werden auf diesen Punkt nochmals
zu sprechen kommen in der Vorlesung zu Anthony Giddens, innerhalb der Soziologie sicherlich einer
der schärfsten und klügsten Kritiker des Funktionalismus, der so weit gegangen ist, den Vorschlag zu
machen, die Soziologie solle besser einige Jahrzehnte auf den Funktionsbegriff ganz verzichten, statt
ihn in dieser losen Weise zu verwenden.
Heißt dies aber nun, daß funktionalistische Argumente an sich sinnlos oder falsch sind? Die
Antwort ist: »Nein, nicht unter allen Umständen!« Funktionalistische Argumente können nämlich
erstens eine heuristische, also eine wirklichkeitserschließende Rolle im Forschungsprozeß spielen.
Zwar ist es tatsächlich so, daß in der sozialwissenschaftlichen Literatur der Hinweis auf funktionale
Zusammenhänge selten mit dem Nachweis verbunden ist, daß diese Zusammenhänge auch wirklich
existieren. Insofern ist ein funktionalistisches Argument eben zunächst nur eine plausible Annahme.
Aber Annahmen lassen sich immerhin empirisch überprüfen! Das heißt also, funktionalistische
Argumente liefern möglicherweise Hypothesen, die sich falsifizieren lassen. Selbst wenn ein
funktionalistisches Argument keine Erklärung ist, kann es doch den Weg hin zu einer wirklichen
Erklärung weisen. Zweitens ist anzumerken, daß das für den Funktionalismus typische
Ineinanderschieben von Ursache und Wirkung dann und nur dann statthaft ist, wenn tatsächliche
Rückkoppelungsprozesse aufgezeigt werden können. Das heißt, Marx hat mit seiner Aussage, daß es
Arbeitslose gibt, weil sie letztlich dem Kapital bzw. dem Kapitalismus dienen und damit funktional
sind, dann recht, wenn er nicht nur zeigen kann, daß ein Arbeitslosenheer für Kapitalisten nützlich ist,
sondern auch, daß im Kapitalismus bestimmte Akteure – etwa die Kapitalisten – Strategien verfolgen,
die ein bestimmtes Reservoir an beschäftigungslosen Arbeitskräften tatsächlich hervorbringen oder
eine solche Tendenz zumindest stabilisieren. Es muß also – um es abstrakter zu formulieren – gezeigt
werden, welche Folgen ein bestimmtes Phänomen hat und wie diese Folgen wieder ganz konkret –
eben im Sinne einer Rückkoppelung – auf das Phänomen zurückwirken, es also gleichzeitig auch
verursachen.
94Diese Rückkopplungseffekte können dabei einfacher oder auch dynamischer Natur sein. Für
letzteres kann das Beispiel der Körpertemperatur dienen: Der menschliche Körper hat eine ganz
bestimmte Temperatur, die über Energiezufuhr, Haarkleid, Bewegung usw. konstant gehalten wird.
Steigt die Körpertemperatur durch übermäßige Bewegung, wird dem durch (kühlende)
Schweißbildung entgegengewirkt; dies kann dazu führen, daß nach Ende der Bewegungsphase die
Körpertemperatur zu stark absinkt, daß der Körper zu frieren beginnt, daß sich deshalb dann – in
wärmender Funktion – die Körperhaare aufstellen und dem Körper wieder mittels Nahrung Energie
zugeführt werden muß etc. Hier ist also ein dynamisches, sich ständig veränderndes Gleichgewicht
gegeben; es sind konkrete Rückkoppelungsprozesse zu beobachten, die es erlauben, relativ
unproblematisch eine funktionalistische Sprache zu verwenden. Die Frage stellt sich freilich, ob in
allen Kontexten und Disziplinen so unproblematisch mit funktionalistischen Argumenten hantiert
werden kann.
Jedenfalls soll der Exkurs zum Funktionalismus gezeigt haben, daß dieses Denkgebäude gerade in
den Sozialwissenschaften schnell zu fragwürdigen Schlußfolgerungen führen kann. Parsons bedient
sich nun für den Aufbau einer Theorie sozialer Ordnung dieses Funktionalismus, und wir werden
dabei fragen, ob er in der Lage war, dessen »Fallstricke« und Probleme zu vermeiden. Aber bevor
wir dies tun, noch eine letzte, damit unmittelbar zusammenhängende Bemerkung. Wir haben schon
festgestellt, daß jede Handlungstheorie auf eine Ordnungstheorie verweist, daß eine Theorie des
Handelns auch eine Theorie der Ordnung benötigt. Parsons stellt sich nun nach 1937 ganz energisch
der Aufgabe der Konzeptualisierung einer Ordnungstheorie. Aber jener Funktionalismus (und erst
recht Parsons’ »normativistischer Funktionalismus«) ist nur ein Beispiel einer solchen
Ordnungstheorie. Der Funktionalismus ist nicht die Ordnungstheorie schlechthin. Damit wollen wir
sagen, daß sich aus Parsons’ Handlungstheorie nicht zwangsläufig die Übernahme funktionalistischer
Ideen ergibt. Aber Parsons steuert bei gleichzeitiger Verwendung des Systembegriffs geradewegs auf
einen solchen Funktionalismus – unter Rückgriff auf Ideen aus der Biologie – zu, wie sich dies in
jenem schon zitierten Manuskript Aktor, Situation und normative Muster aus dem Jahre 1939 zeigt:
95In gewissem Sinn neigt ein soziales System zu einem »stabilen Gleichgewicht«, zu einer dauerhaften Erhaltung seiner selbst als System
und zur Bewahrung eines bestimmten entweder statischen oder dynamischen strukturellen Musters. In diesem Sinn ist es analog (nicht
identisch) zu einem Organismus und dessen Tendenz, kurzfristig ein physiologisches Gleichgewicht oder eine »Homöostase«
aufrechtzuerhalten und langfristig der Kurvatur des Lebenszyklus zu folgen. (S. 160)

Was genau Parsons unter einem »sozialen System« versteht, das werden wir gleich zu klären haben –
und zwar im Zusammenhang mit der Analyse von Toward a General Theory of Action und The Social
System, zwei Büchern aus dem Jahr 1951, in denen Parsons seine bis dato reifsten Formulierungen zu
jenem Funktionalismus dargelegt hat. Zunächst aber ist natürlich noch die Charakterisierung seines
Funktionalismus als eines »normativistischen« zu erläutern. Dies ist allerdings, da Sie mittlerweile ja
schon einiges über das Parsonssche Frühwerk und in diesem Zusammenhang über die große
Bedeutung von Normen und Werten für Parsons erfahren haben, nicht allzu schwer. Parsons’
Funktionalismus unterscheidet sich von anderen Funktionalismen schlicht dadurch, daß darin Werte
und Normen sowohl für das Handeln der Individuen wie für die Stabilität der sozialen Ordnung von
zentraler Bedeutung sind. Es wird tatsächlich zu Parsons’ Programm werden, daß er alle sozialen
Phänomene dahingehend untersucht, wie sie im Hinblick auf die Aufrechterhaltung und Tradierung
von Normen und Werten funktionieren. Normen und Werte sind also für Parsons’ Funktionalismus der
Ausgangspunkt, ja der oberste Bezugspunkt der Analyse, was so selbstverständlich weder für
Biologen gilt, für die das Überleben eines Organismus in einer Umwelt diesen obersten Bezugspunkt
darstellt, noch für andere sozialwissenschaftliche Funktionalisten oder gar für Marx, den man einen
»materialistischen Funktionalisten« nennen könnte. Daher paßt die Bezeichnung »normativistischer
Funktionalismus«, selbst wenn Parsons diesen Begriff so nicht verwendet und statt dessen von einer
»structural-functional« Analyseform spricht, von einem strukturfunktionalistischen Ansatz also (vgl.
The Social System, S. VII).
Wie Sie dem letzten Zitat bereits entnehmen konnten, verwendet Parsons zum Aufbau seiner
Ordnungstheorie den Systembegriff. Dort war vom »sozialen System« die Rede, was schon darauf
hindeutet, daß er auch noch andere Systeme kennt. Aber alles der Reihe nach, 96denn zuerst gilt es zu
klären, was Parsons überhaupt unter einem »System« versteht. Dabei ist es sinnvoll, hier diejenigen
seiner Gedanken genau nachzuzeichnen, die er am ausführlichsten in Toward a General Theory of
Action, einem Gemeinschaftswerk, entwickelt.

Wie Sie schon aus dem Titel von Toward a General Theory of Action ersehen können, ist für Parsons
der Ausgangspunkt zur Formulierung seiner auszuarbeitenden Ordnungstheorie die Handlungstheorie,
also sein »action frame of reference«, den Sie ja aus der letzten Vorlesung kennen und den Parsons
tatsächlich nur geringfügig modifiziert. Selbst wenn seine Terminologie anders klingt, hat sich
Parsons’ handlungstheoretische Position doch erhalten: Der Akteur handelt immer in einer bestimmten
Situation, d. h. er bezieht sich auf bestimmte Objekte, auf nicht-soziale (physische) ebenso wie auf
soziale Objekte, im letzten Fall also auf andere Personen (wobei der Handelnde sogar seine eigene
Person zum Thema machen kann) oder auf Kollektive bzw. Gruppen. Der Handelnde wählt im Prozeß
des Handelns aus, auf wen oder was er sich konzentriert, an wem oder an was er sich orientiert. Die
Handlungsorientierung eines Akteurs ist also ein Selektionsprozeß, und wenn sich diese
Handlungsorientierungen bündeln, wenn sich Regelmäßigkeiten ausbilden, dann spricht Parsons von
einem Handlungssystem (»system of action«):
The word system is used in the sense that determinate relations of interdependence exist within the complex of empirical phenomena.
The antithesis of the concept of system is random variability. However, no implication of rigidity is intended. (Parsons, Toward a General
Theory of Action, S. 5, Fn. 5)

In Structure hatte sich Parsons überwiegend mit der Frage beschäftigt, wie sich Handlungen von
verschiedenen Akteuren verknüpfen können, um die utilitaristische Problematik der »randomness of
ends« einer Lösung zuzuführen. Hier geht er nun einen Schritt weiter, indem er fragt, wie innerhalb
eines einzelnen Akteurs überhaupt stabile, regelmäßige Handlungsorientierungen zustande kommen
können. Und er »reagiert« damit gleichzeitig auf die ja schon angesprochene Kritik, daß seinem
Handlungsbezugsrahmen das motivationale Element fehle, daß er also in Structure nie geklärt habe,
was den Handelnden eigentlich antreibt. Denn Parsons macht sich seine nach 1937 einsetzende
intensivere Beschäftigung mit der Psy97chologie und der Psychoanalyse zunutze: Er beschreibt, wie
sich in der Person des Handelnden durch vergangene Lernprozesse und gerade auch frühkindliche
Erfahrungen, in denen die von Sigmund Freud (1856-1939) betonten sexuellen Aspekte der Eltern-
Kind-Beziehung eine Rolle spielen, stabile kognitive (d.i. erkenntnismäßige) und gefühlsmäßige bzw.
kathektische Handlungsorientierungen herausbilden. Die emotionalen Formen der Bindung an
Objekte wurden von Parsons mit dem Ausdruck »Kathexis« – dem Freudschen Begriff der libidinösen
»Besetzung« – gefaßt. Kognitive und kathektische Orientierungen werden dann durch evaluative, also
bewertende oder wertmäßige Orientierungen integriert.
The tendency of the organism toward integration requires the assessment and comparison of immediate cognized objects and cathectic
interests in terms of their remoter consequences for the larger unit of evaluation. Evaluation rests on standards which may be either
cognitive standards of truthfulness, appreciative standards of appropriateness, or moral standards of rightness. (Parsons, a.a.O., S. 5)

Man kann es vielleicht auch etwas einfacher ausdrücken und sagen, daß in jede Handlung sowohl
kognitive wie kathektische und schließlich – beide anderen Motive überwölbend – evaluative
Motivierungen mit einfließen und daß dies alles dann eben den »effort«, die Anstrengung und den
Willen erklärt, durch den die Handelnden zum Tun angestoßen werden.
In diesem Rahmen leuchtet ein, daß Parsons die Person als ein »Handlungssystem« (»system of
action«) begreift, denn in der Person selbst bündeln sich aufgrund der eben schon angesprochenen
Erfahrungen und Lernprozesse stabile Handlungsorientierungen in ebenjener wechselseitigen
Verflochtenheit von Kognition, Kathexis und Evaluation. Das Handeln der Person ist also nicht
zufällig, ihre Handlungsorientierungen bilden ein Muster. Insofern spricht hier Parsons vom
»personality system«, weil die Handlungen der Person aufgrund vergangener Erlebnisse eine gewisse
Konsistenz aufweisen.
This system will be called the personality, and we will define it as the organized system of the orientation and motivation of action of one
individual actor. (Parsons, a.a.O., S. 7)

Eine Bündelung von Handlungsorientierungen gibt es aber natürlich nicht nur innerhalb einer
Person, sondern – wie wir ja mittler98weile schon aus der Analyse von Structure wissen – auch
zwischen Personen. Gerade weil es Normen und Werte gibt, bilden sich stabile
Handlungsorientierungen und -erwartungen heraus, woraus sich auch ein geordneter Zusammenhang
der Handlungen verschiedener Akteure ergibt. Dies bezeichnet Parsons dann als »social system«:
The social system is (…) made up of the relationships of individuals, but it is a system which is organized around the problems inherent in
or arising from social interaction of a plurality of individual actors rather than around the problems which arise in connection with the
integration of the actions of an individual actor (…). (Parsons, ibid.)

»Personality system« und »social system« sind dabei allerdings nicht wirklich empirisch zu trennende
Phänomene, es sind keine eigenen Wirklichkeitsbereiche, sondern diese Redeweise meint, daß hier –
wie man in der Sprache der Wissenschaftstheorie sagt – eindeutig analytische Unterscheidungen
vorliegen: Je nachdem, welche Interessen ich als Forscher habe, kann ich eher das
Persönlichkeitssystem in den Blick nehmen oder das »social system«. Denn der Handelnde ist
einerseits natürlich eine Person; gleichzeitig ist er aber mit einem Teil seiner Persönlichkeit in
Interaktionszusammenhänge mit anderen Handelnden eingebettet, so daß ich es hier nicht mit zwei
tatsächlich getrennten »Gegenständen« oder »Phänomenen« zu tun habe.
Von diesen beiden Systemen unterscheidet Parsons nun noch ein weiteres System, das er allerdings
zu diesem Zeitpunkt seiner Entwicklung nicht als ein Handlungssystem versteht. Es ist dies das
»cultural system«, worunter er den geordneten Zusammenhang von kulturellen Symbolisierungen
versteht und womit er die Frage anschneidet, wie eigentlich Ideen oder Glaubenssysteme
zusammenhängen, wie expressive Symbole, Stile oder Kunstrichtungen eine einigermaßen homogene
Einheit bilden oder wie Werte einer Gesellschaft eine gewisse Kohärenz aufweisen:
(…) systems of culture have their own forms and problems of integration which are not reducible to those of either personality or social
systems or both together. The cultural tradition in its significance both as an object of orientation and as an element in the orientation of
action must be articulated both conceptually and empirically with personalities and social systems. Apart from embodiment in the
orientation systems of concrete actors, culture, though existing as a body of artifacts and as systems of symbols, is not in itself organized
as a system of action. (Parsons, ibid.)
99Und wiederum dürfte es Sie nicht erstaunen, daß genau diesem System in der Parsonsschen Theorie
insofern eine große Bedeutung zukommt, als hiermit jene Werte und Normen angesprochen sind, die
Parsons ja schon in Structure für zentral im Hinblick auf die Koordination von Handlungen erklärt
hatte. Tatsächlich sieht Parsons die Sache so, daß die Werte aus dem Kultursystem in den beiden
Handlungssystemen verankert werden müssen, und zwar durch zwei Prozesse: durch den Prozeß der
Internalisierung im Persönlichkeitssystem einerseits und durch den Prozeß der Institutionalisierung
im Sozialsystem andererseits. Da wir auf die Institutionalisierung noch weiter unten (S. 103)
ausführlicher zu sprechen kommen, hier zunächst nur einige kurze Bemerkungen zur Internalisierung,
die wir allerdings ebenfalls schon kurz gestreift haben.
Parsons hat sich also bemüht, zumindest eine Schwäche im ursprünglichen
Handlungsbezugsrahmen auszugleichen, indem er verstärkt Handlungsmotive mitberücksichtigt und
diesbezüglich kognitive, kathektische und evaluative Motive unterscheidet. Das Moment der Kathexis
hatte dabei auf die Bindung an Objekte oder die Abstoßung von bestimmten Objekten verwiesen, und
in diesem Zusammenhang hatte Parsons unter Rückgriff auf Freudsche Theorieelemente die Rolle der
Sexualität betont und gezeigt, wie die biologischen Antriebe zu spezifischen Phantasien und dann zu
Handlungsmotiven transformiert werden. Diese Antriebsenergien des Menschen verweben sich
nämlich mit kulturellen Werten: Es ist der Prozeß der »Sozialisation«, durch den es zur Verknüpfung
bzw. Verschmelzung von kathektischen und evaluativen/wertbehafteten Motiven kommt, weil
beispielsweise die Eltern Werte, Symbole und Glaubenssysteme vermitteln und die dauerhafte
Aufnahme und Übernahme dieser Werte, Symbole etc. via umgeleiteter Antriebsenergien aus dem
Bereich der frühkindlichen Sexualität erfolgt. Den Trieben werden also in der Sozialisation Werte
angelagert, wodurch sie in eine sozial verträgliche Form gegossen werden. Das Kind verinnerlicht,
also »internalisiert« dabei Normen und Werte der Gesellschaft.
Soweit zur Zentralstellung des Kultursystems hinsichtlich seiner Bedeutung für
Internalisierungsprozesse. Es kann sich nur als Teil eines Handlungssystems verwirklichen.
»Personality system«, »social system« und »cultural system« sind also – um es nochmals zu betonen –
lediglich analytische Unterscheidungen.
100Wenn man sich die bisher dargestellten Argumentationsschritte von Parsons ansieht, so erkennt
man, daß er den allgemeinen Handlungsbezugsrahmen, der ja mit Verweis auf die kognitiven,
kathektischen und evaluativen Motivierungen des Handelns etwas erweitert worden ist, im großen
und ganzen beibehalten hat: Wirklich neu ist nun, daß er an entscheidender Stelle den Systembegriff
ins Spiel bringt, von dem aus er seine Theorie der sozialen Ordnung entwickelt. All dies, selbst die
Rede von unterschiedlichen Systemen, war in jenem Gemeinschaftswerk mit dem Titel Toward a
General Theory of Action schon vorformuliert.
Eine wirklich programmatische Gestalt erhalten die diesbezüglichen Parsonsschen Überlegungen
aber erst mit Parsons’ zweitem großen Hauptwerk, das noch im gleichen Jahr veröffentlicht wurde
und den bezeichnenden Titel The Social System trägt. Parsons vertritt dort die These, daß eine
allgemeine Handlungs- und Ordnungstheorie alle drei Systeme in den Blick nehmen muß, daß dabei
aber unterschiedliche Disziplinen oder Subdisziplinen unterschiedliche Schwerpunkte zu setzen
hätten. Während es vornehmlich Aufgabe der Wissenssoziologie (vielleicht auch der Philosophie,
Theologie etc.) sei, das »cultural system« zu analysieren, und diejenige der Psychologie, sich mit dem
Persönlichkeitssystem zu beschäftigen, soll nun eben das »social system« in erster Linie von der
Soziologie bearbeitet werden. Genau die theoretischen Probleme und empirischen Phänomene, die
sich in jenem »social system« auftun bzw. zeigen, sollen Hauptgegenstand der Soziologie sein.
Über den Gegenstand der Soziologie erfahren wir aber natürlich nur etwas, wenn wir uns mit der
Frage beschäftigen, was ein »social system« konkret eigentlich ist; denn bisher haben wir von
Parsons ja nur eine sehr abstrakte Definition kennengelernt und lediglich etwas über die Abgrenzung
von den beiden anderen Systemen gehört. Parsons macht deshalb zunächst deutlich, daß die
Gesellschaft das »social system« schlechthin ist:
A social system (…), which meets all the essential functional prerequisites of long term persistence from within its own resources, will be
called a society. It is not essential to the concept of a society that it should not be in any way empirically interdependent with other
societies, but only that it should contain all the structural and functional fundamentals of an independently subsisting system. (Parsons,
The Social System, S. 19)

101Gesellschaft ist danach also das im Prinzip unabhängige, selbstgenügsame Sozialsystem, das
gleichzeitig immer auch eine hier nicht näher zu bestimmende Zahl weiterer sozialer Systeme in sich
enthält, also zwar weniger umfassende, aber gleichwohl geordnete Handlungszusammenhänge
zwischen Personen (wie z. B. Institutionen, Gruppen, Familien etc.). Demnach sind auch Gruppen,
Familien etc. soziale Systeme, wenn auch nicht so selbstgenügsam wie die »Gesellschaft«, was
gleichzeitig auch heißt, daß diese kleineren Systeme in irgendeiner Form mit der »Gesellschaft« als
dem größten Sozialsystem verwoben sind.
Parsons betont dabei, daß es zunächst darauf ankomme, die Statik sozialer Systeme ganz allgemein
zu analysieren, d. h. die Elemente zu bestimmen, aus denen sich ein »social system« zusammensetzt,
bevor dann nach der Dynamik gefragt werden kann, danach also, wie und wodurch sich soziale
Systeme eigentlich wandeln und verändern. Dieser Nachdruck auf der Statik sozialer Systeme führt
unmittelbar zur Idee der »functional prerequisites«, also zu den Bedingungen, die gegeben sein
müssen, damit ein Handlungssystem, hier das »social system«, überhaupt dauerhaft bestehen kann:
First, a social system cannot be so structured as to be radically incompatible with the conditions of functioning of its component individual
actors as biological organisms and personalities, or of the relatively stable integration of a cultural system. Secondly, in turn the social
system, on both fronts, depends on the requisite minimum of ›support‹ from each of the other systems. It must, that is, have a sufficient
accordance with the requirements of its role system, positively in the fulfillment of expectations and negatively in abstention from too
much disruptive, i. e., deviant, behavior. It must on the other hand avoid commitment to cultural patterns which either fail to define a
minimum of order or which place impossible demands on people and thereby generate deviance and conflict to a degree which is
incompatible with the minimum conditions of stability or orderly development. (Parsons, a.a.O., S. 27/28)

Auch wenn Sie hier nicht alles verstanden haben, so sollte doch klar sein, daß Parsons von einem
funktionierenden »sozialen System« dann spricht, wenn eine gewisse Stabilität und relative
Konfliktlosigkeit gegeben ist; dies ist aber nur dann der Fall, wenn im Sozialsystem die
Persönlichkeitssysteme der beteiligten Interaktionsteilnehmer genügend Motivation zum »Mitspielen«
in diesem »social 102system« entwickelt haben bzw. wenn das Kultursystem Werte und Symbole in
einer Weise zur Verfügung stellen kann, die ein geordnetes Miteinander der Interaktionsteilnehmer im
»social system« gewährleistet. Die wechselseitige Durchdringung von Persönlichkeits- und
Sozialsystem bzw. von Kultur- und Sozialsystem ist also die minimale Voraussetzung für das
Existieren eines »social system«. Darüber hinaus fügt Parsons noch an, daß jedes Sozialsystem
selbstverständlich auch seine Allokationsprobleme in den Griff bekommen (Allokation = die
Verteilung von Gütern, womit gemeint ist, daß jedes System in irgendeiner Weise materielle
Ressourcen braucht) und seine inneren Aufgaben differenzieren muß (Toward a General Theory of
Action, S. 25): So benötigt die Familie in einer modernen Gesellschaft sowohl Geld wie eine
arbeitsteilige Organisation zwischen den Familienmitgliedern, um auf Dauer und ohne
Schwierigkeiten bestehen zu können.
Wenn man nun nach den Elementen von Sozialsystemen fragt, so ist es wenig überraschend, daß
Parsons hier den einzelnen Handlungsakt und den Akteur selbst nennt (wobei letzterer auch eine
Gruppe oder ein Kollektiv sein kann). Aber er verweist noch auf ein weiteres Element, eines, das im
letzten Zitat schon auftauchte, nämlich die »soziale Rolle«:
We have, then, three different units of social systems referable to the individual actor ranging from the most elementary to the most
composite. The first is the social act, performed by an actor and oriented to one or more actors as objects. The second is the status-role
as the organized sub-systems of acts of the actor or actors occupying given reciprocal statuses and acting toward each other in terms of
given reciprocal orientations. The third is the actor himself as a social unit, the organized system of all the statuses and roles referable to
him as a social object and as the ›author‹ of a system of role-activities. (Parsons, a.a.O., S. 26)

Warum nun die sozialen Rollen, die Status-Rollen, so wichtig für Parsons werden, hängt mit jenem
mittlerweile schon hinreichend bekannten Ordnungsproblem zusammen, das im Falle des
wechselseitig aufeinander bezogenen Verhaltens mehrerer Akteure auftaucht: Wie kommt es überhaupt
zu einem wirklichen Zusammenhandeln, was ja – aus der analytischen Perspektive des
Sozialwissenschaftlers – tatsächlich hochproblematisch und alles andere als selbstverständlich ist,
selbst wenn es im Alltag kein wirkliches Problem darstellt? 103Parsons’ Antwort war bekanntlich
der Verweis auf Werte und Normen. Aber diese müssen erst spezifiziert, in klare Regeln übersetzt
und dabei in Institutionen verankert werden, damit Kommunikation und Zusammenhandeln nicht
letztlich doch scheitern. Werte müssen mittels Institutionen konkretisiert, also institutionalisiert
werden – und an dieser Stelle hat dann auch der Rollenbegriff seinen Ort, einer der Zentralbegriffe
der Soziologie der 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. Rollen sind Verhaltensmuster, Bündel
von Verhaltensvorschriften, die ich normalerweise von selbst erfülle, zu erfüllen habe und auch
erfüllen will. Dies erwarten auch meine Mitmenschen von mir, so daß bei Verhaltensenttäuschung,
also bei falschem Handeln meinerseits, Sanktionen der anderen in Form von Strafen, Mißachtung etc.
drohen. Auf Interaktion bezogen, gewährleisten Rollen – weil sie Werte ausdeuten – das geordnete
Zusammenhandeln von Menschen.
It is only by virtue of internalization of institutionalized values that a genuine motivational integration of behavior in the social structure
takes place, that the deeper »layers« of motivation become harnessed to the fulfillment of role-expectation. It is only when this has taken
place to a high degree that it is possible to say that a social system is highly integrated, and that the interests of the collectivity and the
private interests of its constituent members can be said to approach coincidence. (Parsons, a.a.O., S. 42)

Der Rollenbegriff war nun für Parsons’ Theoriebildung in dieser Zeit tatsächlich entscheidend – und
zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen wurde mit der Zentralstellung dieses Begriffs der Soziologie
eine klare Identität verliehen. Parsons konnte damit weiterführen, was er unter anderem schon in
Structure versucht hatte, nämlich die Soziologie von anderen Wissenschaften deutlich abzusetzen.
Eben weil er dem Rollenbegriff bei der Analyse von »social systems« eine so große Bedeutung
zumaß, konnte er argumentieren, daß das Soziale nicht aus der Natur abgeleitet werden könne:
Parsons grenzt sich also gegenüber der Biologie ab. Aber dies allein wäre unzureichend. Parsons
kann mit seinem Rollenbegriff zusätzlich darauf verweisen, daß sich das Soziale auch nicht
unmittelbar aus der Kultur ableiten läßt (dies war die Abgrenzungsstrategie gegenüber den
Kulturwissenschaften und zum Teil gegenüber der Kulturanthropologie) und erst recht nicht aus der
bloßen Aggregation individueller Handlungen (dies zielte gegen die Ansprüche der Psychologie). Mit
104dem Rollenbegriff ließ sich also vorzüglich die Eigenständigkeit des Sozialen und damit die
Notwendigkeit des Faches Soziologie demonstrieren.
Zum anderen verkörpert der Rollenbegriff geradezu die Grundgedanken des Parsonsschen
»normativistischen Funktionalismus«. Denn Rollen sind einerseits Spezifizierungen von Normen und
Werten; sie erfüllen andererseits zugleich die funktionalen Erfordernisse eines Systems:
Roles are, from the point of view of the functioning of the social system, the primary mechanisms through which the essential functional
prerequisites of the system are met. (Parsons, a.a.O., S. 115)

Mit dem Rollenbegriff läßt sich nämlich sehr schön illustrieren, wie und durch wen bestimmte
»Aufgaben« eines sozialen Systems geleistet werden, z. B. welchen Beitrag die Mutterrolle zum
Funktionieren des Sozialsystems Familie erbringt oder welchen die Rolle des Vaters. Welche
Funktionen erfüllen eigentlich »Spaßvögel« oder »Außenseiter« in einer Schulklasse oder
Kleingruppe? Haben sich die Rollen von Politikern in modernen Mediengesellschaften gegenüber
früher verändert und warum? Wie definiert sich die Rolle des Vorstandsvorsitzenden einer großen
Aktiengesellschaft genau, welche Funktion hat dieser für das Unternehmen zu erfüllen? All diese
Fragen konnten mit dem Rollenbegriff scheinbar mühelos angeschnitten und in einem einheitlichen
theoretischen Rahmen »bearbeitet« werden.
Parsons selbst hat seine »Rollentheorie« sicherlich nicht nur so verstanden, als müßten die Akteure
ihre Rollen quasi automatisch und ohne Eigenleistung »abspulen«. Er sprach an manchen Stellen
seines Werkes durchaus davon, daß es neben dem normenkonformen Verhalten selbstverständlich
auch eine tiefe Entfremdung der Individuen gegenüber dem System ebenso geben kann wie einen
kreativen oder variablen Umgang mit Rollenerwartungen (Toward a General Theory of Action,
S. 24). Und einige seiner Kollegen, wie etwa der schon einmal genannte Robert Merton, machten
darauf aufmerksam, daß es ganz automatisch in und zwischen Rollen einzelner Personen immer auch
Konflikte und Widersprüche gibt, die gerade auch für eine Theorie sozialen Wandels interessant sein
könnten. Aber schwerpunktmäßig waren bei Parsons doch immer die Bestandserfordernisse von
Systemen die Bezugspunkte der Analyse – 105etwas, was dann auch das Mißtrauen der sozialen
Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre gegenüber dem Parsonsschen Denken verständlich macht,
stellten diese doch ihre kritischen Fragen in erster Linie im Hinblick auf eine mögliche Überwindung
bestehender Systeme. Der Rollenbegriff hingegen eignet sich in erster Linie dazu, das Funktionieren
bestehender Strukturen zu beschreiben. Vom Systemwandel war dabei nur selten die Rede. Überhaupt
fällt auf, daß sich Parsons in seinen theoretischen Aussagen bis dahin fast ausschließlich mit sozialem
Handeln und sozialer Ordnung beschäftigt hat. Die für die Soziologie mindestens genauso wichtige
Analyse des sozialen Wandels stand bei ihm lange Zeit eher im Hintergrund. Aber darauf kommen
wir in der nächsten Vorlesung noch zu sprechen.

Jedenfalls hat es Parsons mit dieser strukturfunktionalistischen Theorie geschafft, zu einem


erheblichen Teil die empirische Forschungspraxis der Soziologie der damaligen Zeit
vorzustrukturieren. Darauf wollen wir zum Schluß dieser Vorlesung noch kurz zu sprechen kommen.
Parsons’ Funktionalismus wurde nämlich für die Soziologie, und zwar nicht nur für Parsons-
Anhänger, zum Ausgangspunkt eines weitreichenden empirischen Forschungsprogramms, das sich
besonders stark auf zwei Themenfelder konzentrierte – Themenfelder, die Parsons allerdings selbst
vorgezeichnet hatte, gab es doch in The Social System jeweils ein Kapitel zum Rollenlernen bzw. zur
Sozialisation und dann zum abweichenden Verhalten. In der Tat erlebte die Sozialisationsforschung
gerade durch die Parsonsschen Anstöße einen ungeheuren Aufschwung, was sich z. T. auch wiederum
nur vor dem Hintergrund des Selbstbehauptungswillens der Soziologie verstehen läßt, konnte doch
durch Forschungen zum Lernen sozialer Rollen ebenjene klare Abgrenzung zur Biologie und
Psychologie erreicht werden. Gerade was die Absetzung von der letzten Disziplin betrifft, wird
deutlich, daß mit der Sozialisationsforschung eine andere Thematik angeschnitten wird als in der
Entwicklungspsychologie: Denn hier steht nicht die eigenlogische Entwicklung der moralischen und
kognitiven Fähigkeiten des Kindes im Mittelpunkt, sondern eben das Einfügen einer Person in eine
soziale Ordnung – ein Prozeß zudem, der nicht mit der Kindheit abgeschlossen ist, sondern immer
wieder, und zwar bis ins hohe Alter, geleistet wird und geleistet werden muß.
Der andere Schwerpunkt war dem ersten thematisch geradezu 106entgegengesetzt, insofern man in
der Kriminalsoziologie bzw. der »Soziologie abweichenden Verhaltens« die Umstände erforscht, die
dazu führen, daß die Internalisierung von Werten bei manchen Personen eben nicht klappt, oder wie
es kommt, daß die Institutionalisierung von Werten in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen
ungenügend ist und dann als Reaktion darauf abweichendes, d.i.: nicht normengerechtes Verhalten
erfolgt. Parsons’ Theorie war hier höchst einflußreich, weil sich mit ihr das Forschungsfeld
sogenannter devianter Verhaltensweisen in theoretischer Hinsicht hervorragend strukturieren ließ.
Freilich ist ein mögliches Mißverständnis zu vermeiden. Parsons und die in seiner Tradition
arbeitenden Soziologen haben selbstverständlich lediglich behauptet, daß soziale Ordnungen von
Werten und Normen zusammengehalten werden und daß in jeder Ordnung Abweichungen davon in
irgendeiner Form zum Thema werden – mal hart bestraft, mal eher verspottet, mal kopfschüttelnd
kommentiert. Parsons und seine Kollegen haben natürlich nicht gemeint, daß Abweichung immer
bestraft werden soll! Auch wenn Kritiker des Parsonsschen Forschungsprogramms dies manchmal
anders darstellten: die funktionalistische Theorie abweichenden Verhaltens wollte jene
Handlungsformen beschreiben und (vielleicht!) erklären – ein weitergehendes politisches oder
sozialpolitisches Ziel war mit dieser Theorie sicher nicht verbunden.

Aber zurück zur reinen Theorie und damit endgültig zum Ende dieser Vorlesung. Parsons verharrte –
und dies ist Ausdruck seiner enormen Produktivität gerade in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts –
nicht auf seiner hier dargestellten theoretischen Position. Er arbeitete vielmehr an zentralen Stellen
seines von ihm selbst so genannten »struktural-funktionalen« Theoriegebäudes weiter. Dabei brachen
manche früheren Entwicklungen ab, manchmal ergaben sich auch theoretische Sackgassen, aber in
vielerlei Hinsicht radikalisierte er dann auch seine bereits in Toward a General Theory of Action und
in The Social System entwickelten Positionen. Dies aber wird Thema der nächsten Vorlesung sein.
107Vierte Vorlesung
Parsons und die Ausarbeitung
des normativistischen Funktionalismus

Nachdem Parsons in Structure 1937 die wesentlichen Grundlagen seiner Theorie des Handelns
vorgestellt und in The Social System bzw. in dem fast gleichzeitig erschienenen Gemeinschaftswerk
Toward a General Theory of Action ganz zu Beginn der 1950er Jahre energische Schritte hin zu einer
Theorie der Ordnung entwickelt hatte, zeichneten sich auch seine folgenden Arbeiten durch ein
konsequentes Weiterarbeiten an theoretischen Problemen aus. Freilich wurde sehr schnell deutlich,
daß zwischen seiner Theorie des Handelns und seiner funktionalistischen Theorie der Ordnung eine
gewisse Spannung bestand bzw. nicht klar war, wie sich beide Theorien zueinander verhalten.
Parsons konnte zwar seine Handlungstheorie weiter verfeinern und anreichern, er vermochte auch
seine funktionalistische Ordnungskonzeption mit neuen Ideen zu unterfüttern, doch die
wünschenswerte Integration beider Theoriemodelle gelang ihm letztlich nicht. Ja, gerade das
Gegenteil schien der Fall zu sein: Je länger Parsons an den jeweiligen Teiltheorien feilte, desto
offensichtlicher wurde, daß sie letztlich nicht wirklich zusammenpassen. Und so bleibt im Rückblick
auf die Parsonssche Theorieentwicklung zwischen den frühen 1950er Jahren und seinem Tode 1979
der Eindruck, daß er zwar an vielen Brennpunkten seiner Theorie(n) Fortschritte machte, daß ihm
aber eine echte Synthese, ein großer theoretischer Wurf aus einem Guß, nicht mehr gelang. Wenn wir
nun in dieser Vorlesung jenen Werkabschnitt der Parsonsschen Theorieentwicklung vorstellen, so
wird sich vermutlich bei Ihnen nicht ganz zufällig das Gefühl einschleichen, daß Sie es bei Parsons’
»mittlerem« bzw. »spätem« Werk eher mit disparaten Theoriebausteinen als mit einer einheitlichen
Theorie zu tun haben. Mindestens fünf theoretisch bedeutsame, aber eben auch sehr unterschiedliche
Themenfelder sind nämlich seit den frühen 1950er Jahren auszumachen.

1. Zunächst und zeitgleich mit The Social System – nämlich in dem bereits häufiger zitierten Toward a
General Theory of Action – entwickelte Parsons den Ehrgeiz, seine Handlungstheorie weiter
auszu108bauen, um von hier aus den direkten Weg hin zu einer Ordnungstheorie zu gehen, also
Handlungs- und Ordnungstheorie eng miteinander zu verknüpfen. Parsons hatte ja den »action frame
of reference« bis dato völlig abstrakt entwickelt und lediglich die Elemente des Handelns benannt,
ohne Aussagen darüber zu machen, in welche Richtung dieses Handeln geht bzw. gehen kann, welche
konkreten Ziele es sich setzt bzw. setzen kann etc. Wenn man so will, dann hatte Parsons in Structure
ebenso wie in seinen durch die Rezeption der Psychoanalyse beeinflußten Anschlußarbeiten fast
ausschließlich die abstrakte »Form« des Handelns zum Thema gemacht, nicht jedoch dessen »Inhalt«.
Dies ändert sich nun. Parsons stellt sich Anfang der 1950er Jahre die Aufgabe, seine bisherige
Handlungstheorie mit einer umfassenden Typologie von Handlungsorientierungen bzw.
Handlungsalternativen zu koppeln, um Aussagen darüber machen zu können, welchen Inhalt
menschliches Handeln annehmen kann bzw. welche Ziele und Orientierungen des Handelns überhaupt
denkbar sind. Parsons hatte dabei natürlich ein Vorbild, nämlich Max Webers berühmte
Handlungstypologie (vgl. Webers »Soziologische Grundbegriffe«, in: Wirtschaft und Gesellschaft),
in der zwischen dem zweckrationalen, dem wertrationalen, dem traditionalen und dem affektuellen
Handeln unterschieden wird. Eine ähnliche Systematik schwebt auch Parsons vor, und er entwirft
dazu die sogenannten »pattern variables«. Gemeint ist mit diesen »Mustervariablen« – so die
deutsche Übersetzung – oder genauer: mit dem Schema der Mustervariablen, daß sich jegliches
menschliche Handeln zwischen fünf dichotomen und untereinander variablen Wahlmöglichkeiten
bewegt, daß also der Mensch bei jedem Handlungsakt zwischen fünf dichotomen, also sich
ausschließenden Möglichkeiten wählen muß. Und nach Parsons lassen sich diese Möglichkeiten
folgendermaßen bezeichnen:
1. Affectivity – Affective neutrality
2. Self-orientation – Collectivity-orientation
3. Universalism – Particularism
4. Ascription – Achievement
5. Specificity – Diffuseness (Parsons, Toward a General Theory of Action, S. 77)

Was die erste Dichotomie betrifft, so bedeutet dies, daß ich mein Handeln danach ausrichten kann und
muß, ob die Orientierung des 109Handelns sehr stark auf Gefühle bauen soll oder eben nicht. Bei
manchen meiner Handlungen spielen Gefühle eine Rolle, bestimmen Gefühle sogar ganz entscheidend
mein Handeln. Dies dürfte etwa in meinem Privat- und Liebesleben der Fall sein. In anderen
Bereichen oder Situationen sollten Gefühle eher eine untergeordnete Rolle spielen, im Beruf etwa,
wo meine Gutachtertätigkeit in bezug auf studentische Leistungen am besten frei von allzu großen
Emotionen (»affective neutrality«!) zu halten ist. Ich muß aber in der konkreten Situation jeweils
immer entscheiden, was nun im jeweiligen Kontext in bezug auf meine Gefühle angebracht ist.
Jedes Handeln hat aber auch die Wahl zwischen »self-orientation« und »collectivity-orientation«,
womit gemeint ist, daß ich vor der Wahl stehe, ob ich lediglich meine eigenen Interessen verfolge
oder diejenigen der Gemeinschaft. Nicht immer ist es dem Menschen ja erlaubt, nur seine eigenen,
vielleicht egoistischen Ziele zu verfolgen, sondern er hat manchmal auch das Kollektiv und dessen
Ziele im Auge zu behalten.
Bei allen meinen Entscheidungen und Handlungen – und damit sind wir bei der dritten Dichotomie
– muß ich mich zudem fragen, ob ich nach Kriterien handle, die sich auf wirklich alle Menschen
beziehen, oder nach solchen, die sich lediglich auf eine bestimmte Gruppe von Menschen richten. Da
dem menschlichen Handeln laut Parsons immer eine normative Dimension innewohnt, muß ich mir
darüber im klaren sein, auf wen konkret die von mir für gültig erachteten Normen anwendbar sein
sollen. Handle ich gemäß den gleichen Maßstäben gegenüber allen Menschen, oder lege ich
gegenüber meinen Nachbarn oder Freunden bzw. Verwandten besondere Maßstäbe an? Schützt die
Regel »Du sollst nicht töten!« alle Menschen (dies wäre dann eine universalistische Regel), oder
bezieht sich diese Regel nur auf die in der Gemeinschaft Lebenden oder sogar nur auf bestimmte
Personen darin, so daß etwa das Töten von Fremden oder »Andersartigen« durchaus erlaubt wäre,
was einer partikularistischen Handlungsorientierung entspräche?
Die vierte Dichotomie verweist darauf, daß mein Handeln und Urteilen sich dahingehend
unterscheiden kann, ob ich die anderen eher aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Geburt, ihrer Schönheit etc.
beurteile, also aufgrund von Eigenschaften, für die diese nicht verantwortlich sind (»ascription« =
Zuschreibung), oder ob ich sie auf110grund ihrer eigenen Leistungen und Verdienste einschätze
(»achievement« = Leistung).
Die letzte Dichotomie schließlich ist die Wahlmöglichkeit zwischen einem Handeln, das alle
möglichen Aspekte berücksichtigt und insofern diffus ist, und einem Handeln, das sich klar einer eng
begrenzten Aufgabe verschrieben hat und deshalb spezifisch ist. Mein Handeln als Familienvater ist
diffus insofern, als die von mir erwarteten Handlungen sowohl ökonomische Aspekte (ich muß die
Familie versorgen) wie soziale (ich habe vielleicht auch Aufgaben im Hinblick auf meine Tätigkeit
als Elternbeirat in der Schule meiner Gemeinde) und auch gefühlsmäßige (ich bin ja der liebende
Vater meiner Kinder) umfassen. Meine Tätigkeit als Heizungsmonteur ist hingegen spezifischer
definiert: ich habe meine beruflichen Aufgaben genau so, wie sie definiert sind, sachlich zu erfüllen.

Im Hinblick auf dieses berühmt gewordene Parsonssche Schema der Mustervariablen sind nun zwei
Mißverständnisse unbedingt zu vermeiden.
Erstens ist die hier von Parsons vorgelegte Handlungstypologie deutlich komplexer als diejenige
Max Webers. Dies hat nichts mit einer simplen Zahlenrelation zu tun, etwa derart, daß man schlicht
auf die Tatsache verweisen könnte, daß den vier Handlungstypen Webers nun die fünf
Mustervariablen von Parsons gegenüberstehen und somit eine leichte zahlenmäßige Steigerung
erkennbar wäre. Weber kennt tatsächlich vier Typen von Handlungen, eine Handlung ist
beispielsweise entweder zweckrational oder traditional, aber nicht beides zugleich; sie ist entweder
affektuell oder wertrational, aber eben nicht beides zugleich. Die fünf Mustervariablen von Parsons
sind aber keine Handlungstypen, sondern es sind Dichotomien, aus denen zumindest theoretisch 32
Handlungstypen abgeleitet werden können, weil alle Dimensionen in diesen fünf Dichotomien im
Prinzip miteinander kombinierbar sind. (Daher stammt auch der Begriff »pattern variables«.) Die
Kombination jeder der Dimensionen mit den anderen Dimensionen ergibt 32 Handlungsmöglichkeiten
bzw. -typen, wie Sie sich ja leicht ausrechnen können. D. h. ein affektiv-neutrales Handeln kann in
den vier verbleibenden Dimensionen völlig unterschiedlich gestaltet sein, es kann gleichzeitig
selbstorientiert, universalistisch, leistungsorientiert und diffus sein oder eben eine ganz andere
Kombination dieser Variablen an111nehmen und damit eine völlig andere Ausrichtung erfahren. Nun
bedeutet die Tatsache, daß Parsons deutlich mehr Handlungstypen zur Verfügung hat als Weber, noch
nicht viel. Typologien müssen sich ja erst in der Forschungspraxis bewähren, und Parsons selbst gab
sofort zu, daß nicht alle der aus den Mustervariablen zumindest theoretisch ableitbaren
Handlungstypen auch empirisch vorfindbar sein werden. Aber immerhin hat Parsons damit doch ein
Instrumentarium zur Verfügung, mit dem er sensibler als Weber die höchst unterschiedlichen
Orientierungsmöglichkeiten menschlichen Handelns fassen kann, selbst wenn wir möglicherweise
skeptisch gegenüber seiner Behauptung sind, diese Mustervariablen seien derart erschöpfend und
systematisch angelegt, daß damit tatsächlich alle nur denkbaren Handlungsmöglichkeiten abgedeckt
werden. Sie können sich ja selbst fragen, ob Ihnen zu den bestehenden fünf Parsonsschen Dichotomien
vielleicht nicht noch eine weitere einfällt!
Zweitens, wenn Parsons davon spricht, daß jeder Handelnde im Handlungsakt eine Wahl zwischen
den fünf Dichotomien trifft oder treffen muß, so meint er dies nicht so, daß das Handeln selbst immer
hochrational verläuft und der Handelnde bei jeder Handlung quasi wie eine Rechenmaschine immer
genau die Konsequenzen der komplexen Wahl aus den fünf Dichotomien reflektiert. Parsons sagt
lediglich, daß eine Wahl vorgenommen wird – explizit oder eben implizit, bewußt oder vorbewußt.
Letzteres, die implizite bzw. vorbewußte »Wahl«, verweist aber dann schon darauf, daß sie entlang
dieser Dichotomien vorstrukturiert ist, und zwar auf der Ebene des Persönlichkeitssystems, des
Sozialsystems und des Kultursystems. Alle drei Systeme weisen schon immer unserem Handeln den
Weg, indem sie uns die absolut freie und bewußte Entscheidung hinsichtlich der Wahl der
Handlungsorientierungen quasi abnehmen. Für das Persönlichkeitssystem gilt nämlich: »(…) the
person has a set of habits of choosing, ordinarily or relative to certain types of situations, one horn or
the other of each of these dilemmas.« Auf der Ebene des Sozialsystems findet die Vorstrukturierung
deshalb statt, weil es hier ja Rollendefinitionen gibt, also »definitions of rights and duties of the
members of a collectivity which specify the actions of incumbents of roles, and which often specify
that the performer shall exhibit a habit of choosing one side or the other of each of these
dilemmas.« Und bezüglich des Kultursystems schließlich ist die Wahl auch nicht ganz frei, weil die
meisten Wertstandards, die ja erst im Han112deln umgesetzt werden, »rules and recipes for concrete
action« (Toward a General Theory of Action, S. 78; unsere Hervorh.) sind. Wir sind also durch
unsere Erziehung und durch die Kultur, in der wir leben, im Hinblick auf unsere
Handlungsorientierungen nicht völlig frei, sondern eine diesbezügliche Vorstrukturierung hat immer
schon stattgefunden.
Wie aus diesen Bemerkungen ersichtlich wird, scheint es also Parsons zu gelingen, seine durch die
Idee der »pattern variables« weiterentwickelte Handlungstheorie mit der Ordnungstheorie, wie wir
sie aus The Social System und der dortigen Rede von den drei Systemen kennen, problemlos zu
verknüpfen. Denn wie wir gerade an den obigen Zitaten gesehen haben, ist Parsons anscheinend in
der Lage, die Mustervariablen in seine drei Systeme »einzubauen«. Und Parsons kann mit seinen
Mustervariablen sogar noch mehr leisten: Diese sind nämlich – wie sich für ihn schnell zeigt – nicht
nur wichtig im Hinblick auf eine inhaltliche Füllung seiner Handlungstheorie, sondern sie
versprechen auch im Hinblick auf die Beschreibung konkreter sozialer Ordnungen die Lösung von
zentralen Problemen, welche die klassische Soziologie fast von Anfang an geplagt hatten.
Um dies zu verstehen, müssen wir kurz auf die klassische soziologische Theorie zurückkommen.
Bei verschiedenen Autoren der Gründungsphase der Soziologie war es üblich, die Kategorisierung
sozialer Ordnungstypen entlang dichotomer Begriffe vorzunehmen. Ferdinand Tönnies etwa führte in
die soziologische Sprache den Unterschied zwischen »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« ein, und
Emile Durkheim sprach – um bestimmte Gesellschaftsformen abzugrenzen – von einem Gegensatz
zwischen »mechanischer« und »organischer Solidarität«. Derartig einfache Dichotomien waren aber
nicht nur bei diesen Autoren vorfindbar. Vor allem ist hinzuzufügen, daß diese einfachen Dichotomien,
wenn schon nicht bei Durkheim und Tönnies, so aber doch bei vielen ihrer Nachfolger, zu
geschichtsphilosophischen Spekulationen führten, insofern man denken konnte, daß der
Geschichtsprozeß notwendig von Gesellschaften mit mechanischer Solidarität hin zu jenen mit
organischer Solidarität, von gemeinschaftlichen zu gesellschaftlichen Sozialformen führen würde.
Parsons nimmt sich nun ganz bewußt dieser Problematik an. Er bezieht sich direkt auf Tönnies und
versteht seine fünf Mustervariablen als eine Rekonstruktion der seiner Meinung nach allzu
vereinfachenden Tönniesschen Gemeinschafts-Ge113sellschafts-Dichotomie – und zwar derart, daß
nach einer entsprechenden graphischen Umgruppierung gegenüber dem Zitat auf S. 108 die eine Seite
der fünf Dichotomien das für »Gemeinschaften« typische Handlungsspektrum charakterisieren soll
(»affectivity«, »collectivity orientation«, »particularism«, »ascription«, »diffuseness«), die andere
dasjenige von »Gesellschaften« (»affective neutrality«, »self orientation«, »universalism«,
»achievement, »specificity«). Der Erkenntnisgewinn ist nun nicht nur der, daß es Parsons mit dem
Schema seiner Mustervariablen gelingt, wesentlich genauer zu beschreiben, was Tönnies eigentlich
mit »gemeinschaftlichen« bzw. »gesellschaftlichen« Sozialformen gemeint haben könnte. Vielmehr
bietet das Arbeiten mit den Mustervariablen die Möglichkeit, die etwa bei Tönnies und seinen
Nachfolgern zu beobachtende prinzipielle Polarität zwischen beiden Sozialformen aufzulösen, eben
weil – um es nochmals zu betonen – die Dimensionen in den fünf Dichotomien untereinander im
Prinzip vollkommen variabel sind. Soziale Ordnungen können laut Parsons hochkomplex sein, viel
komplexer, als es das Tönniessche Instrumentarium suggeriert, eben weil höchst unterschiedliche
Mischungen und Kombinationen von Handlungsorientierungen und -typen institutionalisiert sein
können. Damit ist es Parsons zumindest möglich, die latente Geschichtsphilosophie, die sich an die
Durkheimsche oder Tönniessche Begrifflichkeit häufig angeschlossen hat, hinter sich zu lassen. Denn
es ist natürlich nicht so – das ist nun der Witz des Schemas der Mustervariablen –, daß etwa
frühgeschichtliche oder traditionelle Sozialformen ausschließlich durch affektive, auf ein Kollektiv
hin ausgerichtete, partikularistische, askriptive und diffuse Handlungsorientierungen gekennzeichnet
wären, während die heutigen oder modernen sozialen Ordnungen genau das Gegenteil verkörpern
würden. Parsons’ Position, die selbst von seinen Anhängern nicht immer verstanden wurde, ist hier
eine ganz andere. Er sieht – und dies ist eben nur mit dem Schema der Mustervariablen klar erkennbar
–, daß etwa die moderne Gesellschaft als Institutionalisierung einer höchst eigentümlichen Mischung
verschiedenster Handlungsorientierungen betrachtet werden kann. Dies gilt umgekehrt natürlich auch
für traditionelle Formen des Zusammenlebens, die eben nicht nur – wie man dies durch eine
Übernahme der Tönniesschen Kategorien vermuten könnte – »gemeinschaftliche Elemente« enthalten.
Dieses eigentümliche Mischungsverhältnis läßt sich ganz 114gut am Beispiel moderner Ärzte
demonstrieren, eines Berufsstandes also, mit dem sich Parsons – wie Sie in der letzten Vorlesung
gehört haben – schon sehr früh auseinandergesetzt hat. Denn der Arzt muß in seiner beruflichen Praxis
häufig mit fast widersprüchlichen Handlungsorientierungen zurechtkommen: So ist er einerseits
verpflichtet, die Körper von Patienten als affektiv neutrale Objekte zu betrachten, die der
wissenschaftlichen Untersuchung und Behandlung zuzuführen sind – und nicht etwa als sexuelle und
gefühlsmäßig besetzte Objekte. Gleichzeitig ist der Arzt selber – in seinem Privatleben – natürlich
ein Mensch mit sexuellen Wünschen. Diese Spannung gilt es auszuhalten, was zum Teil noch dadurch
verschärft wird, daß der Arzt in seinem Beruf nicht einzig und allein wissenschaftliche Kühle und
Kompetenz ausstrahlen darf, sondern eben auch Einfühlungsvermögen, Verständnis, Emotionalität etc.
zeigen muß, um eine fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Patienten zu ermöglichen. Aber selbst wenn
man den Arzt nur in seiner beruflichen Rolle sehen würde, so folgt daraus nicht, daß sich seine
Handlungsoptionen lediglich in bezug auf die »gesellschaftliche« Seite des Schemas der
Mustervariablen erstrecken würden: Denn aus der wissenschaftlichen, kühl berechnenden, auf
spezifische Aufgaben konzentrierten und affektiv neutralen Haltung gegenüber dem Patienten folgt
keineswegs – wie man dies vermuten könnte – eine Orientierung des Handelns hin auf eine bloße
Verfolgung eigener Ziele und Zwecke. Der Ärzteberuf als Profession hat sich nämlich – wie wir auch
schon aus der letzten Vorlesung wissen – eine Standesethik gegeben, mit der gewisse Verpflichtungen
gegenüber dem Kollektiv einhergehen, beispielsweise die Pflicht, zu jeder Zeit medizinisch zu helfen,
selbst wenn dabei keine finanzielle Vergütung zu erwarten ist.
Die »pattern variables« eröffnen also die Möglichkeit, unterschiedlichste Sozialformen in ihrer
ganzen Komplexität zu beschreiben, und Parsons sieht sofort, daß mit diesem Instrumentarium auch
komparativ gearbeitet werden kann: Wie unterschiedlich und wie unterschiedlich stark haben
Gesellschaften die jeweiligen Dimensionen der »pattern variables« institutionalisiert? Wie
unterscheidet sich beispielsweise die deutsche von der amerikanischen Gesellschaft, wenn man etwa
auf die Institutionalisierung von leistungsbezogenen Handlungsorientierungen blickt? Wie genau
unterscheiden sich »primitive Gesellschaften« hinsichtlich der sozialen Verankerung und Verwendung
von universalistischen Handlungs115orientierungen und -normen von »modernen westlichen
Gesellschaften«? Parsons – und dies muß hier nochmals betont werden – war bei seinen
diesbezüglichen Aussagen im Gegensatz zu Anhängern der später noch zu behandelnden
Modernisierungstheorie, die sich zum Teil auf ihn beriefen, sehr vorsichtig: Die Dimensionen der
»pattern variables« sind eben untereinander variabel, weshalb so einfache Dichotomien der sozialen
Ordnung wie »traditionelle vs. moderne Gesellschaften«, »Gemeinschaft vs. Gesellschaft« nach
Parsons die Wirklichkeit mehr verzeichnen als erhellen. Wie gesagt, Parsons ging von komplexen
Mischungsverhältnissen institutionalisierter Handlungsorientierungen aus – und dies galt ihm zufolge
sowohl für sogenannte »einfache« wie für »moderne« westliche Gesellschaften.

Nun klingen unsere Ausführungen zu Parsons’ Mustervariablen bisher außerordentlich positiv.


Schließlich sind sie auch heute noch ein wichtiges Instrument zur Analyse der Ausrichtung des
Handelns und der Gestalt sozialer Ordnungsmuster. Parsons selbst jedoch – und die Gründe hierfür
sollen im folgenden verdeutlicht werden – war mit jenem Instrument nicht unbedingt zufrieden, vor
allem weil sich zwei miteinander zusammenhängende Probleme immer deutlicher abzeichneten. Zum
einen war es angesichts der Anzahl der in einer Gesellschaft möglichen institutionalisierten
Handlungsorientierungen – denken Sie an die vorhin genannte Zahl 32! – schwierig, ein wirklich
handhabbares Klassifikationssystem zu entwerfen, das auf einfache und überzeugende Weise die je
unterschiedlichen Gesellschaften geordnet hätte, so daß man damit problemlos empirisch und hier vor
allem vergleichend hätte arbeiten können. Die Mustervariablen waren gewissermaßen zu komplex
angelegt. Die in der späteren Modernisierungstheorie so suggestive Dichotomie zwischen
traditioneller und moderner Gesellschaft war zwar alles andere als angemessen; sie war aber
wesentlich einfacher zu handhaben, zumal mit dieser Polarität eine klare und auf den ersten Blick
einleuchtende Abgrenzung zwischen den modernen westlichen Gesellschaften und dem »Rest«
möglich wurde. Die überaus hohe Komplexität der »pattern variables« dagegenstellen zu wollen
schien fast ein aussichtsloses Unterfangen zu sein. Zum anderen waren die Mustervariablen auch in
Parsons’ eigene Ordnungstheorie dann doch nicht so einfach zu integrieren, wie es zunächst scheinen
sollte. 116Denn es war zwar leicht nachzuvollziehen, daß nur jeweils eine von Person zu Person, von
sozialem Gefüge zu sozialem Gefüge, von Kultur zu Kultur spezifische Ausprägung der »pattern
variables« die Handlungen im Persönlichkeits- und Sozialsystem bzw. die Muster im Kultursystem
vorstrukturiert. Insofern konnte man sagen, daß sich die »pattern variables« irgendwie mit der
funktionalistischen Rollentheorie ganz gut vereinbaren lassen, weil ja auch Rollen die
Handlungsoptionen von Individuen vorzeichnen. Doch wie sich der Inhalt der Mustervariablen, jene
fünf dichotomen Handlungsmöglichkeiten, auf das funktionalistische Gedankengut insgesamt bezieht,
blieb im dunkeln. Wie verhalten sich die »pattern variables« bzw. ihre Materialisierung in konkreten
Handlungen zu der Rede von den abstrakten Funktionserfordernissen der jeweiligen Systeme? Hat es
irgend etwas – und was genau? – mit den Bestandserfordernissen eines Systems zu tun, wenn das
Handeln etwa affektiv-neutral, diffus, partikularistisch etc. ist? Darauf hatte Parsons keine Antwort,
wie er in Toward a General Theory of Action auch sofort zugibt:
It should be clear that the classification of the value components of need-dispositions and of role-expectations in terms of the pattern
variables is a first step toward the construction of a dynamic theory of systems of action. To advance toward empirical significance,
these classifications will have to be related to the functional problems of on-going systems of action. (Parsons, Toward a General
Theory of Action, S. 93)

Parsons wird im Laufe seiner weiteren Werkentwicklung immer wieder versuchen, die »pattern
variables« in sein funktionalistisches Ordnungsschema einzubauen und wortreich – aber deswegen
noch keineswegs überzeugend – zu begründen suchen, wie die »pattern variables« mit jenen
Funktionserfordernissen von Handlungssystemen zusammenhängen bzw. wie sich aus diesen
Funktionserfordernissen die »pattern variables«, also genau diese fünf Handlungsdichotomien,
eigentlich ableiten lassen. Äußerst hartnäckig versuchte er zu beweisen, daß die handlungstheoretisch
angelegten Mustervariablen problemlos zu einer funktionalistischen Ordnungstheorie führten. Aber
vielleicht merkte Parsons insgeheim doch selbst, daß dies alles nicht sonderlich plausibel klang, und
so ist es verständlich, daß er in der Folgezeit seine theoretischen Anstrengungen immer mehr auf die
Ausarbeitung der Ordnungstheorie konzentrierte und 117dabei seine funktionalistischen Ideen weiter
verfeinerte und sogar radikalisierte; all dies vielleicht in dem Gefühl, daß er, nachdem der Weg von
der Handlungs- zur Ordnungstheorie nicht erfolgreich gewesen war, nun vielleicht den
entgegengesetzten Weg beschreiten müsse, den von der Ordnungstheorie zur Handlungstheorie.
Damit sind wir nun beim zweiten Schwerpunkt der Parsonsschen Theoriearbeit seit den 1950er
Jahren, einem, der nun eindeutig erst nach The Social System und nach Toward a General Theory of
Action einsetzt.
2. Parsons widmet sich also nun ganz energisch der funktionalistischen Ordnungstheorie und
versucht zu einer Systematisierung der von den jeweiligen Systemen zu erbringenden Funktionen zu
gelangen. Wie wir in der letzten Vorlesung zum Gedankengebäude des Funktionalismus schon ganz
allgemein angemerkt haben, lassen sich bei der Beobachtung von sozialen Phänomenen immer eine
ganze Reihe von Funktionen benennen, die diese im Hinblick auf ein größeres Ganzes erfüllen.
Gesetzt den Fall, daß sich diese Funktionen auch plausibilisieren lassen, kann es natürlich nicht
befriedigen, wenn je nach Fall unterschiedlich viele Funktionszuschreibungen erfolgen und
möglicherweise jeweils völlig disparate. Parsons hatte diesbezüglich – und dies ist so unverständlich
nicht – ein klares Systematisierungsbedürfnis, indem er nämlich fragte, ob sich die von Systemen zu
leistenden Funktionen in irgendeiner Weise zusammenfassen lassen. Könnte man vielleicht sogar
behaupten, daß alle sozialen Systeme eine bestimmte Anzahl von klar benennbaren Funktionen zu
erfüllen haben? Dies wäre natürlich unter Systematisierungsgesichtspunkten der Idealfall – und
Parsons meint nun, daß eine positive Antwort auf eine solche Frage tatsächlich möglich sei.
In The Social System und in Toward a General Theory of Action hatte Parsons diesbezüglich schon
einige Anlaufversuche unternommen, indem er unter anderem festgestellt hatte, daß zur
Aufrechterhaltung des Gleichgewichts in Systemen mindestens zwei Funktionen erfüllt sein müssen,
die Allokationsfunktion, d. i. das Zur-Verfügung-Stellen von Ressourcen für das jeweilige System,
und die Integrationsfunktion, also die Abstimmung der Teileinheiten im jeweiligen System
untereinander (vgl. etwa Toward a General Theory of Action, S. 108). Durch seine Zusammenarbeit
mit dem Sozialpsychologen Robert Bales (1916-2004), der bereits eine Reihe von Untersuchungen
zur Dynamik in Kleingruppen vorgelegt hatte, 118kann Parsons dies jedoch noch viel weiter führen.
Parsons gelangt im Rahmen jener Kooperation zu der Auffassung, daß tatsächlich im Bereich von
Kleingruppen hinsichtlich der zu erfüllenden Funktionen verallgemeinernde Aussagen möglich sind,
die weit über alle von ihm bisher vorgenommenen Funktionsbestimmungen hinausgehen. In einem
zusammen mit ebenjenem Robert Bales und mit Edward A. Shils (1910-1995) verfaßten
Gemeinschaftswerk aus dem Jahre 1953 (Working Papers in the Theory of Action) formuliert
Parsons dies mit direkter Bezugnahme auf die Arbeiten von Bales dann so:
(…) basing himself on broad foundations of sociological theory, one of us has been at work for some years on an intensive analysis of the
processes of interaction in small groups. This study has included the development both of methods of empirical observation and of
theoretical analysis. (…) Our present interest is not in the empirical methods, but in the theoretical scheme involved. The essential
approach was to think of the small group as a functioning system. It was held that such a system would have four main »functional
problems« which were described, respectively, as those of adaptation to conditions of the external situation, of instrumental control
over parts of the situation in the performance of goal oriented tasks, of the management and expression of sentiments and tensions of
the members, and of preserving the social integration of members with each other as a solidary collectivity. (Parsons, Working Papers
in the Theory of Action, S. 64)

Parsons und seine Co-Autoren verallgemeinern nun diese an sich schon verallgemeinerten Thesen zur
Kleingruppe nochmals und behaupten, daß jedes System – und nicht nur eine Kleingruppe – im
Prinzip vier Funktionen zu erfüllen hat, die sich – in leichter Abwandlung des obigen Zitats – mit den
Begriffen der »Adaptation« (Anpassung), des »Goal Attainment« (der Zielerreichung), der
»Integration« (des Zusammenhalts der Untereinheiten des Systems) und der »Pattern Maintenance«
(der Aufrechterhaltung der Bindung an identitätsstiftende Werte bzw. einfacher: der Strukturerhaltung
via Wertbindung) fassen lassen. Die letzte Funktion wird von Parsons auch mit dem Begriff
»Latency« belegt, weil diese Werte ja nicht sichtbar sind, sondern zumeist nur latent im Hintergrund
wirken. Damit kennen Sie nun Parsons’ berühmt gewordenes AGIL-Schema – die vier Buchstaben
repräsentieren die Anfangsbuchstaben der jeweils von jedem System zu erfüllenden Funktionen.
Parsons’ These ist also, daß sich jedes System an die äußere Umwelt 119bzw. an andere Systeme
anzupassen hat, daß jedes System bestimmte Ziele formulieren und durchsetzen muß, daß jedes
System seine Untereinheiten und Teile zu integrieren hat und daß jedes System so organisiert sein
muß, daß in ihm bestimmte Werte verbindlich gelten.
Parsons versucht auch in diesem Gemeinschaftswerk wortreich zu begründen, wie sich die »pattern
variables« zu jenem AGIL-Schema verhalten, und man kann – allerdings nur wenn man sehr viel guten
Willen zeigt – Parsons dabei vielleicht noch folgen (vgl. Working Papers in the Theory of Action,
S. 88 ff.). Klar ist aber jedenfalls, daß sich seine Argumentation hier in erster Linie nicht um den
jeweiligen Handlungsakt dreht, sondern um die Bestandserhaltungserfordernisse von Systemen. Was
wir damit sagen wollen, ist, daß sich Parsons immer stärker mit Theorieproblemen der
funktionalistischen Denkweise befaßt und ihm darüber das Handeln allmählich aus dem Blick
kommt, wenn er nicht gar – was wir noch an seinem Spätwerk sehen werden – versucht, das Handeln
selbst in funktionalistischer Manier zu beschreiben bzw. aus Systemerfordernissen abzuleiten.
Parsons definiert nun Systeme als »boundary maintaining systems«, als grenzerhaltende Systeme,
die sich gegenüber ihrer Umwelt und anderen Systemen abgrenzen. Wenn man nun makrosoziologisch
argumentiert, also etwa ganze Gesellschaften als Systeme betrachtet und das auch Vier-Funktionen-
Schema genannte AGIL-Modell auf sie anwendet, so ergibt sich daraus die Theorie funktional
differenzierter gesellschaftlicher Subsysteme oder Untersysteme. Man kann dann behaupten, daß
innerhalb des Systems (Gesamt-) Gesellschaft das Subsystem Wirtschaft die Anpassungsfunktion (A)
erfüllt, das Subsystem Politik die Zielerreichungsfunktion (G), das Subsystem der »gesellschaftlichen
Gemeinschaft«, worunter Parsons ganz allgemein das nicht-politische und nicht-ökonomische
Institutionengefüge bezeichnet, die Integrationsfunktion (I) und das Subsystem der Kultur bzw. das von
Parsons so bezeichnete »fiduciary system« die Funktion der Aufrechterhaltung der Bindung an
identitätsstiftende Werte (L).
Die interessante Pointe ist dabei, daß sich dieses Verfahren der Zuschreibung von vier Funktionen
laut Parsons auf jedes System anwenden läßt: Man kann – wie im gerade gezeigten Schema – die
Wirtschaft als ein Subsystem der Gesellschaft betrachten und fragen, 120
welche Funktionen eben die Wirtschaft für das größere Gesamtsystem der Gesellschaft zu
erbringen hat. Man kann als Wissenschaftler aber auch die Wirtschaft an sich betrachten, quasi selbst
als ein eigenständiges System, und dann wiederum fragen, welche Teilsysteme es innerhalb des
Wirtschaftssystems gibt, die für das System Wirtschaft die notwendigen vier Funktionen erfüllen. Und
dieses »Fragespiel« kann man immer weitertreiben, man kann ›hinuntergehen‹ auf die Ebene einzelner
Unternehmen, auf die Ebene von Betrieben in Unternehmen, sogar auf die Ebene von Arbeitsgruppen
in Betrieben usw. und kann dabei immer fragen, welche funktionalen Leistungen jeweils immer von
welchen Einheiten erbracht werden müssen. Wenn man also nach funktionalen Leistungen fragt, die
erfüllt werden müssen, dann stellt sich automatisch die Frage der »Systemreferenzen«, also die
Frage, auf welches System man sich eigentlich bezieht: Die Wirtschaft ist in bezug auf das System
Gesellschaft ein Teilsystem; ist meine Systemreferenz jedoch selbst die Wirtschaft, dann muß ich
wiederum von hier aus fragen, welche Teilsysteme die jeweils notwendigen vier Funktionen für das
System Wirtschaft erfüllen. Je nach Beobachterinteresse kann also ein System Teilsystem sein oder
eben nicht. In einer weiteren Veröffentlichung wird Parsons dies wenig später sehr schön
folgendermaßen ausdrücken:
An economy (…) is a special type of social system. It is a functional sub-system of the more inclusive society, differentiated from other
sub-systems 121by specialization in the society’s adaptive function. It is one of four sub-systems differentiated on a cognate basis and
must be distinguished from each of the others. It must also be distinguished from all concrete collectivities which, whatever their
functional primacy, are always multifunctional. As a social system the economy has all the properties of such a system (…).
(Parsons/Smelser, Economy and Society, S. 306/307)

Mit dem AGIL-Schema hoffte Parsons allerdings nicht nur Funktionszuschreibungen systematisieren
zu können. Gleichzeitig schien er der Meinung zu sein, daß mit diesem Schema – also mit dem
Verweis auf unterschiedliche funktionale Erfordernisse eines jeden Systems – bestimmte »lästige«
Dichotomien, welche die soziologische Theorie seit langem geplagt hatten, überwunden werden
könnten. Die Marxsche Dichotomie von Basis und Überbau und das bei Max Weber immer wieder
aufs neue analysierte Verhältnis von Interessen und Ideen sind nämlich Parsons zufolge mit diesem
Vier-Funktionen-Schema endgültig aufgehoben, gerade weil man damit wohl zeigen kann, daß soziale
Institutionen und Ordnungen immer ein komplexes Mischungsverhältnis aus unterschiedlichen
Funktionserfordernissen und dementsprechenden Prozessen darstellen und deshalb die Frage nach
dem Primat von Basis oder Überbau, von Interessen oder Ideen müßig sei. Insofern glaubte Parsons
auch, einem Vorwurf entgehen zu können, der ihn seit der Abfassung von Structure begleitet hat – der
ihn allerdings auch noch zeitlebens verfolgen sollte –, nämlich daß er einem heimlichen
Kulturdeterminismus fröne und die Normen und Werte überbetone: Mit dem AGIL-Schema schien er
zeigen zu können, daß seine Theorie tatsächlich multidimensional sei, weil sie unterschiedlichste
Faktoren und Funktionen berücksichtige.

3. Parsons wird nun in der Folgezeit an genau jener mit dem AGIL-Schema verbundenen
Ordnungstheorie weiterarbeiten und diese zunehmend verfeinern. 1956 legt er zusammen mit Neil
Smelser (geb. 1930) das schon zitierte Buch Economy and Society vor, in dem er nicht nur das Vier-
Funktionen-Schema äußerst detailliert auf ein Subsystem der Gesellschaft – nämlich die Wirtschaft –
anwendet, sondern in dem er auch auf Prozesse verweist, die zwischen diesem Subsystem und den
anderen gesellschaftlichen Subsystemen vonstatten gehen. Parsons und Smelser formulieren in bezug
auf die 122Wirtschaft also eine Art Theorie der Austauschbeziehungen: Welche Leistungen erbringt
die Wirtschaft für die anderen Subsysteme, welche »inputs« erhält wiederum die Wirtschaft von
diesen anderen Subsystemen usw.? Und all dies geschieht auch mit dem Ziel, die funktionalistische
Ordnungstheorie zu dynamisieren. Bisher hatte ja Parsons nur immer von Funktionen gesprochen; jetzt
macht er sich auf, die Prozesse aufzuzeigen, mit denen diese Funktionen erfüllt werden. Damit
versucht er einem Vorwurf zu entgehen, der ebenfalls schon lange gegen funktionalistisches Denken
vorgebracht worden war, nämlich daß es im Prinzip ein statisches Denken sei, da es
Bewegungslosigkeit festschreibe. Die Betonung von Prozessen ist für Parsons die erste »Antwort«
auf diese Kritik, wobei auch sie im Laufe seiner Werkentwicklung immer weiter verfeinert wird.
Parsons hatte in Economy and Society natürlich dem Geld als dem Zahlungsmittel moderner
Gesellschaften seine besondere Aufmerksamkeit gewidmet; zusammen mit Smelser hatte er unter
anderem untersucht, wie Geld überhaupt als ein Zahlungsmittel funktionieren kann: Beide fragten sich
in diesem Kontext, was Geld genau sei und welche Funktionen es in den Austauschprozessen
zwischen der Wirtschaft und den anderen Subsystemen der Gesellschaft erfüllt.
Aber Parsons blieb hier nicht stehen, sondern versuchte die Erkenntnisse, die er bei der Analyse
des Subsystems Wirtschaft glaubte gewonnen zu haben, auch auf die anderen Subsysteme anzuwenden.
Parsons entwickelte schnell die Idee, daß es nicht nur ein einziges Medium – das Geld – geben
müsse, sondern mehrere, wobei jedem Subsystem der Gesellschaft jeweils ein besonderes Medium
zuzuordnen sei, mit dem dieses Subsystem intern kommuniziert und die Verbindung zu den anderen
Subsystemen herstellt. Das Geldmedium als das Medium der Wirtschaft dient ihm also als
Ausgangspunkt, um Reflexionen über subsystemspezifische Medien in den Bereichen der Politik, der
gesellschaftlichen Gemeinschaft und der Kultur anzustellen. Das Endergebnis dieser Reflexionen, das
er in mehreren Aufsätzen während der 1960er Jahre vorlegt (vgl. dazu »On the Concept of Political
Power«, »On the Concept of Influence« und »On the Concept of Value-Commitments«), ist dabei, daß
seiner Meinung nach »Macht« als das Medium der Politik, »Einfluß« als dasjenige der
gesellschaftlichen Gemeinschaft und »Wertbindung« als dasjenige der Kultur zu interpretieren und zu
definieren seien. Dies ist nun wahrlich kein einfach nachzuvollziehender 123Gedankenschritt, weil
man sich natürlich aufgrund der Alltagserfahrung zwar Geld als ein Medium vorstellen kann, eine
ähnliche Vorstellung aber in bezug auf die von Parsons benannten drei anderen Begriffe schon sehr
viel schwerer fällt. Wie ist die Rede von »Macht«, »Einfluß« und »Wertbindung« als Medien genau
zu verstehen?
Parsons selbst entwickelt seine diesbezüglichen Gedanken ganz bewußt in enger Analogie zum
Medium Geld, oder anders herum: Gerade weil Geld das Medium schlechthin ist, versucht Parsons
Phänomene aufzuzeigen, die ähnlich abstrakte Eigenschaften aufweisen wie Geld, die also ähnlich
wie das Geld etwas kommunizieren oder mitteilen (so wie Preise etwas über das Verhältnis von
Angebot und Nachfrage eines marktgängigen Gutes mitteilen), die gespeichert werden können (man
muß Geld nicht sofort ausgeben, sondern man kann es aufbewahren und zu einem späteren Zeitpunkt
verwenden), die entäußert werden können (so wie ich Geld im Rahmen der Entgegennahme eines
begehrten Gutes weggeben kann) etc. Gibt es also solche Phänomene, die mit dem Medium Geld
tatsächlich vergleichbar sind? Parsons beantwortet diese Frage positiv. Um Ihnen diese Position
verständlich zu machen, versuchen wir Ihnen beispielhaft Parsons’ Einlassungen zu »Macht« als
einem Medium nahezubringen, zumal auch Kommentatoren und Kritiker der Parsonsschen
Medientheorie hier die Geldanalogie für noch einigermaßen nachvollziehbar halten, möglicherweise
im Unterschied zu den anderen von Parsons benannten Medien »Einfluß« und »Wertbindung«.
Für Parsons ist »Macht« das Mittel bzw. Medium, um Kontrolle über die Faktoren zu erringen,
die für die effektive Zielerreichung einer Gesellschaft entscheidend sind. Macht hat also mit jenem
gesellschaftlichen Subsystem zu tun, das über die Funktion der Zielerreichung definiert ist – mit der
Politik. Laut Parsons ist Macht mit den Faktoren, die jene Ziele verwirklichen, nicht identisch. Dies
folgt unmittelbar aus der Geldanalogie, weil auch Geld, also das Medium der Wirtschaft, kein
Produktionsfaktor ist (Produktionsfaktoren sind etwa Arbeit oder Kapital), sondern eben nur ein
Medium. Die vergleichbaren Faktoren im politischen Subsystem wären dann etwa das Steuerrecht,
die Öffentlichkeit etc., und sie lassen sich eben durch das Medium »Macht« kontrollieren. Mit Macht
lassen sich also bestimmte Faktoren im politischen System wie das Steuerrecht 124und die politische
Öffentlichkeit beeinflussen. Gleichzeitig wirkt Macht aber auch in die anderen Subsysteme der
Gesellschaft »hinein«, weil Macht beispielsweise anderen Subsystemen anzeigt, daß hier für die
Gesellschaft als Ganzes »leadership« zur Verfügung gestellt wird, daß das politische Personal
tatsächlich Führungsqualitäten in bezug auf die Gesamtgesellschaft hat, wodurch bestimmte
Forderungen an die anderen Subsysteme gerichtet werden können, etwa ein ausreichender
Ressourcenzufluß aus dem Wirtschaftssystem via Steuern. Aber lassen wir Parsons selbst zu Wort
kommen mit seiner Definition von »Macht«:
Power (…) is generalized capacity to secure the performance of binding obligations by units in a system of collective organization when
the obligations are legitimized with reference to their bearing on collective goals and where in case of recalcitrance there is a
presumption of enforcement by negative situational sanctions – whatever the actual agency of that enforcement. (Parsons, On the
Concept of Political Power, S. 308)

Zu dieser Definition wäre vieles anzumerken, und Sie können ja vielleicht in einer ruhigeren Stunde
Vergleiche mit der Machtdefinition Max Webers anstellen, der Macht bekanntlich als die Chance
begriffen hat, seinen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen. Wir wollen hier nur festhalten, daß
Macht von Parsons als ein »generalisiertes Kommunikationsmedium«, ein symbolisches Medium,
verstanden wird, mit Hilfe dessen höchst unterschiedliche Handlungen hervorgerufen werden können,
so wie mit Geld verschiedenste Güter und Leistungen angezeigt und plaziert werden können. Macht –
und auch dies sollte aus der obigen Definition hervorgehen – ist auch nicht mit Gewalt gleichzusetzen.
Parsons redet ja von der »presumption of enforcement«, also davon, daß eine Drohung im
Hintergrund der Machtausübung steht, daß aber diese Drohung nur in den seltensten Fällen tatsächlich
verwirklicht werden muß, sondern eben meist nur symbolisch angedeutet wird. Wenn Macht immer
gleich auf tatsächliche Gewalt zurückgreifen müßte, dann würde sie stumpf werden, auf Dauer
jedenfalls ineffizient: Keine Diktatur und erst recht keine Demokratie wird allein durch Gewalt
regiert. Würden Gewalt und Macht tatsächlich zusammenfallen, dann wäre Macht kein Medium mehr,
das etwas symbolisiert – nämlich die Fähigkeit zur effektiven Durchsetzung von Zielen und zur
Verpflichtung anderer zum Gehorsam durch die Drohung des 125Rückgriffs auf Gewaltmittel. Macht
hat also eine symbolische Qualität, gerade weil sie nicht immer sofort auf Gewalt oder andere Mittel
zurückgreift; sie symbolisiert Effektivität und die Fähigkeit zur Verpflichtung zum Gehorsam. Insofern
läßt sich dann auch sagen, daß Macht gespeichert werden kann, zumal ja eben eine Drohung, die im
Hintergrund wirkt, als solche nicht sofort in die Tat umgesetzt werden muß. Macht läßt sich also
zeitlich strecken, quasi speichern!
Wenn Sie diese Gedankengänge von Parsons nachvollziehen, verstehen Sie auch, warum sich
Parsons’ Verständnis von Macht zum Teil deutlich von anderen Machtkonzeptionen absetzt; denn für
Parsons ist der Umgang mit Macht kein reines Nullsummenspiel derart, daß derjenige, der einen
Machtzuwachs erfährt, dadurch automatisch anderen denselben »Betrag« an Macht wegnimmt. Für
Parsons läßt sich legitime Macht in einer Gesellschaft nämlich durchaus erhöhen, ohne daß bestimmte
Gruppen in der Gesellschaft notwendig an Macht verlieren. Parsons denkt hier in Analogie zur
Wirtschaft und zur Logik des Mediums Geld: So wie sich etwa der Kreditrahmen eines Schuldners
erhöht, wenn er Vertrauen in seine ökonomische Potenz vermittelt, so kann sich eben auch Macht im
politischen System erhöhen, wenn die dortigen entscheidenden Akteure erfolgreich ihre Fähigkeit zur
Zielerreichung symbolisch kommunizieren können. Umgekehrt kann es aber eben auch zur
Machtinflation kommen, dann nämlich, wenn dieses Vertrauen in die Fähigkeit der politischen
Akteure, bestimmte Faktoren zur Effizienzsteigerung und Zielerreichung zu beeinflussen, schwindet.
Soweit zu Parsons’ Geldanalogie und dem daraus sich ergebenden, in vielerlei Hinsicht interessanten,
aber eben auch durchaus gewöhnungsbedürftigen Verständnis von Macht.
In ganz ähnlicher Weise benutzt nun Parsons die Geldanalogie, um auch für die anderen
gesellschaftlichen Subsysteme, also das Subsystem der »gesellschaftlichen Gemeinschaft« und das
»Kultursystem«, die jeweiligen Medien zu bestimmen. Eben weil er Geld als eine sehr spezialisierte
Sprache, als ein generalisiertes Kommunikationsmedium begreift, ist für Parsons wiederum klar, daß
das zu findende Medium etwa der »gesellschaftlichen Gemeinschaft« ähnliche Qualitäten besitzen
muß. Freilich stößt hier die Geldanalogie auf größere Schwierigkeiten als im Subsystem der Politik;
denn die Wirtschaft ist wie die Politik ein quasi eng umgrenzter Raum, ein 126konkreter Bereich, der
nach bestimmten, klar zu benennenden Regeln funktioniert. Geld spielt in dem konkreten Feld der
Wirtschaft eine entscheidende Rolle, und für den Laien mag es durchaus plausibel sein, daß es auch
im ebenfalls recht engen Feld der Politik etwas geben muß, das ähnliche Qualitäten hat wie Geld:
Parsons verwies eben auf »Macht«, und man kann ihm dies abnehmen, selbst wenn man das
merkwürdige Gefühl hat, daß diese »Macht« doch schon sehr viel »unkonkreter« ist als Geld. Die
Sachlage verkompliziert sich freilich noch viel mehr – und Parsons sieht selbst, daß die Geldanalogie
nun immer problematischer wird –, wenn nach einem Medium gesucht wird, das für einen so diffusen
Bereich gelten soll wie das Subsystem der »gesellschaftlichen Gemeinschaft«. Denn dieses
Subsystem ist kein klar abgrenzbares Feld mehr, es ist kein lokalisierbarer Bereich wie die
Wirtschaft oder die Politik; sondern zu diesem Subsystem gehört nun alles, was nicht Wirtschaft und
nicht Politik (und natürlich auch nicht Kultur) ist. Und mit gutem Grund fragt man sich hier, ob es für
diese diffuse Gemengelage an Institutionen, Gruppen, Akteuren höchst unterschiedlicher Art
tatsächlich ein spezifisches Medium geben kann. Parsons behauptet gleichwohl genau dies, indem er
sagt, daß »Einfluß« (»influence«) ebenjenes Medium sei, das hier eine ähnliche Funktion erfülle wie
Macht und Geld in den beiden anderen bisher diskutierten Systemen.
Influence is a way of having an effect on the attitudes and opinions of others through intentional (though not necessarily rational) action –
the effect may or may not be to change the opinion or to prevent a possible change. (Parsons, »On the Concept of Influence«, S. 406)

Während Geld im Wirtschaftssystem das Konsum- und Produktionsverhalten der Akteure strukturiert,
während Macht bei Akteuren des politischen Systems Verpflichtungen aktiviert, wirkt im Subsystem
der »gesellschaftlichen Gemeinschaft« das Medium »Einfluß« laut Parsons dadurch, daß hier mittels
Gründen und Begründungen die Handlungen der Interaktionsteilnehmer aktiviert oder eben
koordiniert werden. Deshalb bezeichnet Parsons dann »Einfluß« als »symbolic medium of
persuasion«, wobei er zugleich auch noch behauptet, daß die Menge an Einfluß gleichzeitig eine
Maßzahl für das Ausmaß an Solidarität in der »societal community« darstellt. Wie man sich
allerdings konkret das Wirken von »Einfluß« vorzustellen hat, ob die Redeweise von einem Medium
»Einfluß« 127irgendeinen wirklichen Sinn ergibt und vor allem ob dadurch soziologisch interessante
Sachverhalte erschlossen werden können, daran haben sich erhebliche Zweifel geknüpft. Und
ähnliches gilt dann auch für das von Parsons benannte spezifische Medium des Kultursystems –
nämlich die »Wertbindung«, ein Medium, durch das die Integrität der kulturellen Muster einer
Gesellschaft symbolisiert werden soll. »Commitments as medium should be defined as generalized
capacity and credible promises to effect the implementation of values.« (»On the Concept of Value
Commitments«, S. 456), wobei Parsons sich vorstellt, daß innerhalb von Gesellschaften diese
Wertbindungen ebenso zirkulieren wie Geld in einem Marktsystem (a.a.O., S. 457).
Nicht nur Ihnen wird es angesichts dieser Definitionen und Aussagen vermutlich schwerfallen zu
begreifen, wie diese Medien genau wirken, zumal »evident [ist], daß Einfluß und Wertbindung noch
schlechter gemessen, entäußert und gespeichert werden können als Macht« (Jürgen Habermas,
Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II, S. 411). Vor allem wachsen die Zweifel, ob es
tatsächlich sinnvoll ist, aus Gründen der Symmetrie geradezu verzweifelt nach Medien zu suchen, die
ähnliches leisten wie das Geld im Subsystem der Wirtschaft. Es beschleicht einen nur allzu leicht der
Verdacht, daß Parsons mindestens die beiden Medien »Einfluß« und »Wertbindung« lediglich logisch
– nach dem Motto: vier unterschiedliche Subsysteme, folglich vier unterschiedliche Typen von
Medien – abgeleitet und weniger nachgewiesen hat. Tatsächlich hat sich die empirische Anwendung
dieser Medientheorie als äußerst schwierig erwiesen, und es sind nur sehr wenige Versuche
unternommen worden, mit dem Parsonsschen Theoriegebäude dann auch ernsthaft zu arbeiten (als
Ausnahme vgl. etwa Harald Wenzel, Die Abenteuer der Kommunikation).
Wie auch immer Sie selbst zur Medientheorie von Parsons stehen, wie auch immer Sie seine
Auffassung beurteilen, wonach all diese vier Medien wiederum ineinander überführbar, also wie
Währungen konvertierbar seien, klar ist jedenfalls, daß Sie ähnlichen Positionen im Lauf der
Vorlesung wiederbegegnen werden. Denn die diesbezüglichen Gedanken von Parsons sind gerade
auch in der deutschen Soziologie – wenn auch in zum Teil stark veränderter Form – durchaus
wiederaufgegriffen worden. Bei der Vorstellung des Werks von Niklas Luhmann wird Ihnen dies
deutlich werden.
128Klar ist aber auch, daß mit dem zuletzt dargestellten Argumentationsschritt Parsons’ doch eine
folgenschwere Radikalisierung oder gar Änderung seines bisherigen Denkens einhergegangen ist.
Denn zum einen ist mit dem Aufweis von Medien und der Rede von Austauschprozessen die noch in
The Social System von Parsons behauptete Sonderstellung des Kultursystems aufgegeben worden.
Dort hatte ja Parsons behauptet, daß das Kultursystem kein Handlungssystem sei. Dies ist nun
hinfällig geworden; das Kultursystem ist in der Folgezeit von Parsons als ein normales System wie
jedes andere Subsystem begriffen worden. Mit dem AGIL-Schema und der Rede von den
subsystemspezifischen Medien ging zudem einher, daß die theoretischen Erläuterungen zu den
funktionalen Erfordernissen von Systemen zunehmend in einer Sprache formuliert wurden, die sich
bewußt an die Biologie (erinnern Sie sich an die Zweite Vorlesung, in der wir darauf hingewiesen
haben, daß sich Parsons zu Beginn seines Studiums ursprünglich für das Fach Biologie
eingeschrieben hatte) bzw. an die Kybernetik, die gerade in den 1950er Jahren sowohl in der
Biologie wie in anderen Naturwissenschaften einflußreich gewordene Steuerungstheorie, anlehnt. So
sprach Parsons in bezug auf Systeme etwa von einer kybernetischen Hierarchie, um seinen
normativistischen Funktionalismus theoretisch begründen zu können: So wie etwa ein Thermostat die
Raumtemperatur dadurch regelt, daß hier Informationen gesammelt und verarbeitet werden, um die
Heizungsanlagen zu steuern, womit auch gesagt ist, daß dieses unscheinbare kleine Instrument die
eigentliche Kontrolle in einem großen Energiesystem ausübt, so sprach nun Parsons davon, daß auch
das AGIL-Schema von einer kybernetischen Hierarchie durchzogen sei: Das Steuerungszentrum von
jeglichem System befinde sich nämlich im L-Bereich, so daß sich etwa behaupten läßt, daß die Werte
einer Gesellschaft, das Kultursystem, quasi die anderen Subsysteme der Gesellschaft steuern.
Eigentlich müßte man also statt von AGIL von einem LIGA-System sprechen, eben weil die Funktion
des »Pattern Maintenance« bzw. der »Latency« derjenigen der Integration übergeordnet sei, diejenige
der Integration derjenigen der Zielerreichung und diese wiederum der Anpassung. Die Idee der
kybernetischen Hierarchie bringt also – so meinte zumindest Parsons – seine schon in Structure zu
findende These von der Zentralstellung von Werten elegant auf den Punkt.
Kritiker freilich – und der in späteren Vorlesungen zu bespre129chende Jürgen Habermas war hier
einer der prominentesten – haben von einer problematischen »systemtheoretischen Einschmelzung
handlungstheoretischer Grundbegriffe« (Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II,
S. 370) gesprochen und davon, daß Parsons seine Theorie »vom grundbegrifflichen Primat der
Handlungstheorie auf den der [funktionalistischen] Systemtheorie« (a.a.O., S. 357) umgestellt habe:
»Da das Schema der vier Grundfunktionen handlungstheoretisch entwurzelt ist (…), müssen die
analytischen Bestandteile der Handlung nun ihrerseits als Lösung von Systemproblemen begriffen
werden.« (A.a.O., S. 367) Der Versuch des Ausbaus seiner funktionalistischen Ordnungstheorie, die
dort vorgenommene immer weiter gehende theoretische Verfeinerung habe also letztlich dazu geführt,
daß Parsons das Handeln mehr und mehr aus dem Blick verlor bzw. dieses Handeln eben nur mehr
aus den Funktionserfordernissen der Systeme ableitete. Damit war aber keine wirkliche Synthese
zwischen einer Theorie des Handelns und einer Theorie der Ordnung erreicht worden, sondern
erstere wurde zugunsten der letzteren quasi zur Seite gedrückt. Zwar hat Parsons zweifellos versucht,
das AGIL-Schema an verschiedenen Stellen seines Werkes aus der Handlungstheorie herzuleiten, also
zu zeigen, wie sich der »action frame of reference« systemtheoretisch umformulieren läßt; insofern
hat Parsons auch die Verbindung zur Handlungstheorie nie wirklich abgebrochen, wie das dann später
bei Luhmann (s. Elfte Vorlesung) der Fall sein sollte. Doch gleichzeitig waren diese
Herleitungsversuche nicht besonders plausibel, so daß Habermas’ Kritik am sich im Parsonsschen
Werk durchsetzenden Primat der Systemtheorie durchaus zutreffend ist.
Diese Tendenz wurde dann in den 1970er Jahren nochmals verstärkt (vgl. Action Theory and the
Human Condition), als Parsons versuchte, das Handeln selbst mit Hilfe des Vier-Funktionen-
Schemas auf höchstem Abstraktionsniveau neu zu konzeptualisieren: Das »action system« wurde als
ein Kompositum bestehend wiederum aus vier Teilsystemen begriffen, dem »cultural system« mit der
Funktionszuweisung der »Pattern Maintenance« bzw. »Latency« (L), dem »social system« mit der
Funktionszuweisung der Integration (I), dem »Personality System« mit der Funktion der
Zielerreichung (G) und dem »Behavioral System« mit der Funktion der Anpassung (A). Und dieses
Handlungssystem wiederum wurde nur als ein Teilsystem des Systems der Conditio humana
betrachtet: In diesem 130System des menschlichen Lebens überhaupt, einem System, das natürlich
wieder vier Funktionen zu erfüllen hat, erfüllt das Handlungssystem laut Parsons die
Integrationsfunktion, das physisch-chemische System die Adaptionsfunktion, das System des
menschlichen Organismus die Zielerreichungsfunktion und das von Parsons so bezeichnete »telic
system« die Funktion der Wertbindung, indem dieses Teilsystem quasi die letzten, transzendenten oder
religiösen Werte des menschlichen Lebens zur Verfügung stellt. – Allerdings konnte Parsons bei
diesen Überlegungen auf immer weniger Gefolgschaft zählen; denn selbst vielen seiner Anhänger war
nicht mehr plausibel zu vermitteln, warum nun alle soziologisch relevanten Sachverhalte mit jenem
AGIL-Schema gefaßt werden müßten bzw. welcher Erkenntnisgewinn hieraus entstehen sollte, da
Parsons’ Zuordnung von bestimmten Funktionen an bestimmte Phänomene als einigermaßen
willkürlich und wenig plausibel empfunden wurde. (Warum erfüllt innerhalb des Systems der
Conditio humana das Handlungssystem die Integrationsfunktion? Was wird hier eigentlich integriert?)
Dies bedeutet aber nicht, daß Parsons’ Spätwerk insgesamt deswegen uninteressant oder unwichtig
gewesen wäre. Ganz im Gegenteil: Mindestens zwei Themenfelder aus dieser Schaffensperiode
lassen sich benennen, die auch heute noch von erheblicher Relevanz sind und von denen Sie
zumindest etwas gehört haben sollten.

4. Parsons hatte ja spätestens seit dem zusammen mit Neil Smelser verfaßten Band Economy and
Society aus dem Jahre 1956 das Gefühl, ein wesentliches Problem funktionalistischer Theoriebildung
erfolgreich gelöst zu haben. Denn mit der von ihm aufgezeigten Funktionsweise von Medien und
seiner Analyse der Austauschprozesse zwischen den vier gesellschaftlichen Subsystemen konnte er
behaupten, die Kritik zu kontern, wonach der Funktionalismus lediglich statische
Zustandsbeschreibungen liefere. Mit der Fokussierung auf diese Prozesse schien ja gerade die
Analyse sozialer Dynamiken eingeleitet zu werden.
Freilich mußte Parsons sehr bald erkennen, daß sich seine Kritiker diesbezüglich nicht
zufriedengaben. Denn in der Tat hatten ja Parsons und Smelser immer nur Veränderungsprozesse in
sozialen Systemen beschrieben, nie wirklich Veränderungen von sozialen Systemen. Wie sich
Gesellschaften fundamental wandeln, vor allem wie sich gesellschaftliche Veränderungsprozesse von
den ersten »pri131mitiven« bis hin zu den »modernen« westlichen Gesellschaften begreifen lassen,
dafür gab das bisherige theoretische Instrumentarium von Parsons nicht allzuviel her.
Als sich Parsons in den 1960er Jahren tatsächlich ernsthaft an den Aufbau einer Theorie des
sozialen Wandels macht, befindet er sich in einer relativ komplizierten Problem- und Ausgangslage.
Denn zum einen hatte er ganz zu Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere – nämlich auf den ersten
Seiten seines ersten Hauptwerkes The Structure of Social Action – sehr klar gegen große
evolutionistische und fortschrittsgläubig-geschichtsphilosophische Entwürfe à la Herbert Spencer
Position bezogen. Die dort zu findenden Sätze »Who now reads Spencer? (…) Spencer is dead.«
(Structure, S. 1) waren deutlicher Ausdruck dieser Position, und sie wurde im weiteren Verlauf des
Buches immer wieder artikuliert, etwa dann, wenn Parsons – wie Sie aus der Zweiten Vorlesung ja
schon wissen – Vilfredo Pareto gegenüber dem fortschrittsgläubigen Alfred Marshall den Vorzug gab,
eben weil ersterer seiner Auffassung nach im Hinblick auf den historischen Prozeß die realistischere,
eben nicht-evolutionistische Perspektive gehabt habe.
Nun gab es aber in den späten 1950er und 1960er Jahren Anlaß, eine solche strikt anti-
evolutionistische Position nochmals zu überdenken. Zum einen war es mittlerweile nicht mehr so, daß
benachbarte Wissenschaften – hier vor allem die ja eigentlich sehr empirie-nahe Sozialanthropologie
– Reflexionen über die Entwicklung von Gesellschaften rundweg ablehnten. Im Gegenteil, gerade in
der amerikanischen Sozialanthropologie machten sich seit den 1940er Jahren Strömungen bemerkbar,
die versuchten, Spencer und ähnliche »Gestalten« der damaligen Wissenschaftsgeschichte ernst zu
nehmen bzw. das Bewahrenswerte an deren Theorien zu erhalten (vgl. Knöbl, Spielräume der
Modernisierung, S. 203-212). Freilich war man sich gleichzeitig auch einig, daß in jenem
»verminten« theoretischen Gelände ein vorsichtiges Vorantasten unumgänglich war. Denn
selbstverständlich konnte man den ungebrochenen Evolutionismus Spencers und seine These, wonach
es eine notwendige und einigermaßen lineare Entwicklung der Menschheit von einfachen zu
komplexen Sozialformen gebe, nicht einfach übernehmen. Denn eine solche Konzeption atmete allzu
sichtbar den fortschrittsgläubigen und höchst ethnozentrischen Geist der Viktorianischen Epoche, in
der sich die Angelsachsen als die Krönung der Schöpfung begrif132fen. Man konnte aber dennoch –
so verschiedenste Überlegungen in der amerikanischen, aber auch internationalen
Sozialanthropologie der 1940er und 1950er Jahre – zumindest über eine Evolutionstheorie
nachdenken, ohne in evolutionistische Fallen zu geraten. Eine »Evolutionstheorie«, also eine Theorie
über die Entwicklung der Menschheit und menschlicher Gesellschaften, muß nämlich nicht notwendig
»evolutionistisch« sein. Vielleicht wird Sie hier die Terminologie »evolutionstheoretisch« vs.
»evolutionistisch« verwirren, aber mobilisieren Sie Ihr Wissen zu Charles Darwin aus dem
Biologieunterricht. Darwin und seine Nachfolger hatten und haben eine Evolutionstheorie zur
Verfügung, die Mechanismen – etwa zufällige genetische Mutationen und deren differentielle
Selektion – benennt, wodurch es erklärbar wird, daß bestimmte Lebensformen neu aufkommen und
einige davon sich durchsetzen, überleben oder gar andere verdrängen können usw. An dieser
Konstruktion haftet keine Notwendigkeit, keine – wie es in der Wissenschaftssprache oftmals heißt –
Teleologie, wonach es quasi vorbestimmt sei, in welche Richtung und auf welches Ziel hin sich die
Natur entwickelt. Ganz im Gegenteil, manche Mutationen erweisen sich als Sackgassen,
Entwicklungen können abbrechen usw. Die Darwinsche Evolutionstheorie ist also nicht
evolutionistisch.
Wenn man diese Einsicht bzw. Differenzierung für die Anthropologie und die benachbarten
Gesellschaftswissenschaften nutzbar macht, dann läßt sich folgende Frage formulieren: Kann man
Stufen der Menschheitsgeschichte benennen, ohne gleichzeitig zu behaupten, alle Völker müßten diese
Stufen sukzessive durchschreiten, und ohne zu unterstellen, daß die Entwicklung etwa von den
»primitiven« zu den »modernen« westlichen Gesellschaften sich notwendig, quasi einem Naturgesetz
folgend, ergeben habe?
Parsons stellt sich genau diese Frage, ironischerweise unter anderem auch deswegen, weil vor
allem innerhalb der amerikanischen Makrosoziologie der 1950er und 1960er Jahre aus
Versatzstücken seiner eigenen Theorie Wandlungsmodelle entstanden waren, die einen klar
evolutionistischen Einschlag hatten und die es zu korrigieren galt. Zu Beginn dieser Vorlesung ist ja
schon die sogenannte Modernisierungstheorie erwähnt worden, in der mit Hilfe von Teilen der
Parsonsschen »pattern variables« versucht wurde, soziale Wandlungsprozesse zu modellieren. Die
These war hier vielfach, daß der makrosoziologische Wandlungsprozeß von »einfachen«
133Sozialformen mit partikularistischen und askriptiven Handlungsorientierungen bzw. diffusen
Rollenerwartungen hin zu komplexen Formen mit universalistischen und leistungsorientierten
Handlungstypen bzw. spezifischen Rollenvorschriften verläuft, kurz: von »traditionalen« hin zu
»modernen« Gesellschaften (siehe Dreizehnte Vorlesung).
Wie dies schon anklang, hielt Parsons eine solche Sicht auf den gesellschaftlichen
Wandlungsprozeß für eindimensional, ging er doch gerade von einer komplexen Mischung von
unterschiedlichsten Handlungsorientierungen und Rollenerwartungen in »traditionalen« ebenso wie in
»modernen« Gesellschaften aus. Die simple Gegenüberstellung von Tradition und Moderne war aus
seiner Sicht schlichtweg verzeichnend. Dies aber bedeutete, daß er nun angesichts der Entwicklungen
in der Sozialanthropologie und der Vorherrschaft jener allzu simplen Modernisierungstheorie
aufgerufen war, eigene theoretische Vorstellungen zum Problem des sozialen Wandels zu entwickeln,
zu einem Thema also, das er bisher aufgrund seiner fast ausschließlichen Konzentration auf soziales
Handeln und soziale Ordnung vernachlässigt hatte.
Es überrascht nun nicht, daß Parsons diese Theoriearbeit wiederum unter Zuhilfenahme des Vier-
Funktionen-Schemas anging; es kann auch nicht überraschen, daß nicht wenige Leser und Kritiker
genau diese Vorgehensweise als höchst unbefriedigend und willkürlich beurteilen sollten. Dennoch
haben sich die Grundideen von Parsons, die er in zwei Büchern, nämlich Societies (1966) und The
System of Modern Societies (1971), niederlegte, als so interessant erwiesen, daß sie noch heute
Ausgangspunkt für weiterführende Reflexionen zum sozialen Wandel sind.
Parsons’ Grundidee war, sozialen Wandel als multidimensional oder genauer: als vierdimensional
zu beschreiben und zu behaupten, daß sich die Entwicklung von Gesellschaften in allen vier von ihm
grundsätzlich unterschiedenen Funktionsbereichen vollziehen kann. Die These lautete also – und hier
müssen Sie wiederum das AGIL-Schema vor Augen haben –, daß sozialer Wandel und Entwicklung
einmal im Bereich der Anpassung (A) möglich sei, was Parsons als »adaptive upgrading« bezeichnet,
womit gemeint ist, daß Gesellschaften möglicherweise zunehmend lernen, sich an die natürliche
Umwelt anzupassen, die Ressourcen besser zu nutzen etc. Im Funktionsbereich der Zielerreichung (G)
– so Parsons – sei ein 134Wandlungsprozeß möglich, den man als »Differenzierung« beschreiben
könne, womit er auf die Tatsache anspielt, daß Gesellschaften zur Bearbeitung von Problemen intern
immer komplexer werden können, daß die Arbeitsteilung fortschreitet und damit immer spezifischere
Funktionen von immer spezifischeren Institutionen erfüllt werden. Dies war ja auch von Spencer so
oder so ähnlich vertreten worden, der mit seiner Redeweise von der Entwicklung von einfachen hin
zu komplexen Sozialformen diesen Differenzierungsbegriff schon verwendet hatte, der aber im
Gegensatz zu Parsons eben nur auf Differenzierung abhob und damit lediglich eine eindimensionale
Wandlungsvorstellung hatte. Im Funktionsbereich der Integration (I) – so Parsons – könne sich eine
Wandlungstendenz bemerkbar machen, die er als »Inklusion« bezeichnet, womit er auf den Prozeß
verweist, daß Gesellschaften möglicherweise immer mehr in der Lage sind, ihre Bewohner etwa
durch die Gewährung von politischen und sozialen Staatsbürgerrechten als Vollbürger ins (politische)
Gemeinwesen zu integrieren. Wie Sie ja vermutlich wissen, war die Zuweisung von politischen
Rechten, etwa die Gewährung des Wahlrechts, ein langer und häufig umkämpfter Prozeß, der in vielen
Ländern erst in jüngster Zeit zu einem vorläufigen Ende kam – und selbst heute fehlt in vielen Ländern
der dritten Welt die Gewährung von sozialen Rechten, so daß man nicht sagen kann, daß alle
Menschen tatsächlich Bürger ihrer Gesellschaften in einem vollen Sinn sind. Gerade auch in den USA
hat es lange gedauert, bis die Rechte von Afro-Amerikanern anerkannt waren – ein Thema, mit dem
sich Parsons häufiger auseinandergesetzt hat (vgl. »Full Citizenship for the Negro American?«). Im
Funktionsbereich der »Pattern Maintenance« oder der »Latency« (L) sei schließlich – so Parsons –
ein Prozeß zu beobachten, den er als »Wertegeneralisierung« bezeichnet, weil hier partikularistische
Wertvorstellungen in universalistische transformiert worden seien, ein langer Prozeß, an dem
religiöse Umwälzungen ebenso wie politische beteiligt gewesen seien.
Parsons verbindet diese eher abstrakten Ausführungen mit konkreten inhaltlichen Thesen, indem er
bezogen auf die Weltgeschichte von einer bestimmten Abfolge von Revolutionen spricht, die hin zu
»modernen« westlichen Gesellschaftsformen geführt hätten. Auch wenn Parsons im Prinzip eine
multidimensionale Wandlungstheorie – wie oben gezeigt – verfolgt hat, wird gleichzeitig auch
deut135lich, daß es in erster Linie eben doch der Prozeß der Differenzierung ist, der diese
inhaltlichen Aussagen anleitet. Parsons geht nämlich davon aus, daß aus einem Zustand relativer
Undifferenziertheit zu Beginn menschlicher Gesellschaften sich über mehrere revolutionäre Stufen
und dann seit der Reformation in Europa stark beschleunigend eine wachsende Ausdifferenzierung
von Funktionsbereichen ergeben habe. So habe die industrielle Revolution das Subsystem der
Wirtschaft aus der »societal community« endgültig herausgelöst – oder wie Parsons auch sagt: es
habe durch die industrielle Revolution eine Ausdifferenzierung der Wirtschaft stattgefunden. Mit den
demokratischen Revolutionen, die zuerst in England, Frankreich und den USA im 17. und 18.
Jahrhundert erfolgten, habe sich die Politik und mit der Bildungsrevolution der 1950er und 1960er
Jahre vor allem in den hochentwickelten Gesellschaften Nordamerikas und Europas auch das
»fiduciary system«, das Kultursystem, ausdifferenziert.
Nun wurde gegen die hier vorgestellten Parsonsschen Thesen eine Reihe von Einwänden
vorgebracht – angefangen damit, daß wiederum die Willkür bemängelt wurde, mit welcher der
Prozeß der Differenzierung dem Funktionsbereich der Zielerreichung zugeordnet wurde, bis hin zur
Frage, ob die Bildungsrevolution wirklich so eng mit der Ausdifferenzierung des »fiduciary system«
verknüpft sei. Dieser Aspekt der Willkür wurde ja schon mehrfach an der Gesamtkonstruktion der
Parsonsschen funktionalistischen Ordnungstheorie bemängelt. Wichtiger ist uns hier freilich ein
anderer, unserer Meinung nach wesentlich schwerwiegenderer Kritikpunkt. Das Problem bei der
ganzen Parsonsschen Wandlungstheorie war nämlich, daß bei den Ausführungen zu dem
vierdimensionalen Wandlungsprozeß keine Kausalaussagen gemacht wurden, so daß mit der
Benennung dieser vier Prozesse des »adaptive upgrading«, der »inclusion«, der »value
generalization« und der »differentiation« auch keine Erklärungen verbunden sind. Wenn Sie sich etwa
den Begriff der Differenzierung ansehen – und es ist gerade dieser Begriff, der in der Nachfolge
Parsons’ für die soziologischen Wandlungstheorien im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eine
enorme Rolle spielen sollte –, so fällt Ihnen vielleicht auf, daß hier nur ein Veränderungsprozeß
beschrieben wird – »Etwas differenziert sich aus!« –, daß damit aber keine Aussagen zu den
Ursachen dieser Veränderung oder Differenzierung gemacht werden. Die Ursachen blei136ben also
im dunkeln, und viele Kritiker der Parsonsschen Theorie fragten dann auch zu Recht, wer denn, d. h.
welche Akteure, welche Gruppen etc., diese ganzen Prozesse eigentlich vorantreibt, wer also für
Differenzierung oder eben für »adaptive upgrading«, »inclusion« und »Wertegeneralisierung«
sozusagen verantwortlich zeichnet. Kritikern schien es nicht zu Unrecht zudem auch so, als ob Parsons
mit seinem evolutionstheoretischen Ansatz letztlich einen reibungslos vorwärtstreibenden
Geschichtsprozeß unterstellen würde, in dem die Konflikte und Kämpfe um die von Parsons
beschriebenen Vorgänge mehr oder minder ausgeblendet würden.
Gleichzeitig darf man aber bei aller Kritik nicht übersehen, daß es Parsons mit seiner im Prinzip
multidimensionalen Theorie des sozialen Wandels gelungen ist, bestimmte Schwächen
vorhergehender Wandlungskonzeptionen deutlich abzumildern. Seine Evolutionstheorie war nämlich
zum einen nicht-evolutionistisch: Parsons war keineswegs der Auffassung, daß alle Gesellschaften
den Weg beschreiten müßten, den die westlichen Nationen vorgezeichnet haben. Er redete zwar von
»evolutionären Universalien«, also von bisher nur im Westen vollständig verwirklichten Institutionen,
die wie die rationale Bürokratie, die Marktökonomie, das rationalistische Rechtssystem und die
demokratische Regierungsform seiner Auffassung nach in einzigartiger Weise und besser als alle
anderen institutionellen Arrangements geeignet seien, um sich an sich verändernde Umwelten
anpassen zu können. Obwohl er also letztlich von der Überlegenheit des westlichen
Gesellschaftsmodells zutiefst überzeugt war, war er aber durchaus auch der Auffassung, daß andere
Gesellschaftsformen in ihren Nischen überleben oder daß Gesellschaften bestimmte Stufen der
Evolution überspringen könnten, womit er die unilineare Geschichtsvorstellung von Spencer und
dessen viktorianischen Zeitgenossen klar hinter sich ließ. Und – dies zeichnet ihn wiederum
gegenüber Spencer und anderen Wandlungstheoretikern aus und sei hier deshalb nochmals deutlich
betont – Parsons hatte eine multidimensionale Wandlungstheorie, selbst wenn er zumindest in seinen
inhaltlichen Ausführungen Differenzierungsvorgänge gegenüber den drei anderen von ihm ins Spiel
gebrachten Prozessen deutlich stärker gewichten sollte. Immerhin war es ihm mit diesem im Prinzip
multidimensionalen Ansatz möglich, ein vielfältigeres Bild der historischen Entwicklung und der
Moderne zu zeichnen, als dies theoretische Konkurrenten 137und sogar seine vermeintlichen
Anhänger unter den Modernisierungstheoretikern taten, die mit ihrer kruden Dichotomie zwischen
traditionalen und modernen Gesellschaften die gesellschaftliche Wirklichkeit und ihre Dynamik
allzusehr vereinfachten. Daß Parsons ein wesentlich differenzierteres und der Wirklichkeit
angemesseneres Bild hatte, beweisen seine Ausführungen zu einer Thematik, der er sich in seinen
allerletzten Lebensjahren widmen sollte, der Religion. Hier zeigte sich Parsons erstaunlich hellsichtig
und erwies sich hinsichtlich der von ihm gemachten Prognosen auch als deutlich treffsicherer als
viele seiner Zeitgenossen. Darauf soll zum Schluß noch ganz kurz eingegangen werden.

5. In einem seiner letzten größeren Werke, einer Sammlung verschiedener seiner Aufsätze mit dem
Titel Action Theory and the Human Condition aus dem Jahre 1978, beschäftigte sich Parsons
intensiv mit Fragen der Religion. Und gerade aus heutiger Sicht ist es auffallend, wie lesenswert
diese Texte, die übrigens in der Sekundärliteratur zu Parsons zumeist vollkommen vernachlässigt
werden, immer noch sind.
Parsons legt nämlich zum einen eine Interpretation der Moderne und der modernen Gesellschaft
vor, die sich gegenüber einer Deutung sperrt, die von den meisten Sozialwissenschaftlern in den
1960er und 1970er Jahren vertreten wurde und sogar noch heute vertreten wird. Diese gängige
Deutung lautet etwa folgendermaßen: Der Durchbruch der Moderne, die Entstehung der modernen
Gesellschaft mit ihren Bürger- und Freiheitsrechten, mit ihren rechtsstaatlichen Garantien und
demokratischen Errungenschaften, sei im wesentlichen gegen die Religion, gegen den Katholizismus
etwa, erreicht worden; es sei erst das oftmals religionskritische oder gar atheistische Zeitalter der
Aufklärung gewesen, das gegen religiöse Unvernunft die heute gültigen demokratischen Werte habe
durchsetzen müssen und können. Und der Sieg der Aufklärung sei ein endgültiger gewesen, der zu
einem immer weiteren Zurückdrängen der Religion führen werde, zu dem also, was man als die
»Säkularisierung« der Welt bezeichnet hat, in der dann irgendwann einmal religiöse Werte
verschwunden sein werden.
Parsons nun wendet sich ganz vehement gegen diese Deutung – und selbst wenn wir hier in dieser
Vorlesung nicht die Zeit haben, den Beweis anzutreten, daß er in vielen seiner Positionen dabei
138durchaus recht hatte, sind einige Hinweise dazu angebracht. Parsons zeigt in Action Theory and
the Human Condition detailliert auf, wie sehr die jüdisch-christliche Tradition die westliche Welt
geprägt hat, auf der die Aufklärer aufbauten. Von einem frontalen Kampf der Aufklärer gegen die
Religion konnte vielfach gar nicht die Rede sein, denn etwa die Idee der »Inklusion«, der
Brüderlichkeit aller Menschen, war nichts, was dem Christentum fremd war und somit erst durch die
Französische Revolution hätte erfunden werden müssen; auch der Individualismus, den wir uns heute
angewöhnt haben, als rein säkulare Erscheinung zu deuten, hatte seine Wurzeln in bestimmten
protestantischen Sekten, wie natürlich auch schon Max Weber wußte (vgl. etwa Parsons’ Aufsätze
»Christianity« und »Durkheim on Religion Revisited« in jenem Band Action Theory and the Human
Condition). Wenn diese Parsonssche Sichtweise zutreffend sein sollte, wenn etwa auch die
Menschenrechte durchaus religiösen Ursprungs sind (vgl. Joas, »Das Leben als Gabe«), dann müßte
dies Anlaß zu Reflexionen darüber sein, ob es etwa in den weitgehend säkularisierten und sich
vielleicht auch weiter säkularisierenden Gesellschaften des modernen Europa nicht vielleicht Gründe
gibt, den noch vorhandenen Raum der Religion institutionell zu schützen, anstatt ihn weiter etwa
durch Gesetzesmaßnahmen oder juristische Entscheidungen auszuhöhlen. Die Lektüre von Parsons
kann zumindest für solche Fragen sensibilisieren.
Korrigieren kann Parsons sogar die gängige These von der unaufhaltsamen Säkularisierung der
Welt. Denn mittlerweile dürfte klar sein, daß diese These eindeutig eurozentrisch geprägt ist. Wenn
von einem Rückzug der Religion in der modernen Welt die Rede ist, dann trifft dies nämlich allenfalls
auf Europa zu, eine derartige These ist aber schon im Hinblick auf die USA vollkommen falsch, und
ähnliches gilt dann auch für andere Erdteile, in denen religiöses Leben ungebrochen eine ungeheure
Vitalität entfaltet. Es ist Parsons’ Verdienst, in verschiedenen Aufsätzen aufgezeigt zu haben, daß sich
der religiöse Impuls eben nicht abschwächt, sondern erhalten bleibt, und daß der Eindruck der
fortschreitenden Säkularisierung häufig nur auf einer falschen Perspektive beruht: In vielen Kontexten
wie z. B. in den USA verschwindet nämlich Religion nicht einfach, sondern sie wird allenfalls
transformiert, dann nämlich, wenn religiöse Werte – wie ebenjene der Brüderlichkeit und des
Individualismus – lediglich in eine säkulare Form umgegossen werden. 139Säkularisierung – so
Parsons – wird problematischerweise zumeist als ein unilinearer Niedergang der Religion bzw. als
eine Ersetzung religiöser durch säkulare Werte interpretiert. Eine andere, mindestens ebenso
plausible Deutung wird hingegen nur selten in Erwägung gezogen,
namely that the secular order may change in the direction of closer approximation of the normative models provided by a religion, or by
religion more generally. (Parsons, Action Theory and the Human Condition, S. 240)

Die hier von Parsons in den 1970er Jahren geforderte Veränderung des Blickwinkels auf den immer
wieder beschriebenen Prozeß der Säkularisierung kann jedenfalls selbst heute noch eingefahrene
Perspektiven der religionssoziologischen Forschung brechen, die nur allzuoft höchst problematische
Gegenwartsdeutungen nahelegen. Denn eines ist mittlerweile fast unumstritten: Die herkömmliche
Säkularisierungstheorie, so wie sie von vielen Sozialwissenschaftlern seit den 1960er Jahren
formuliert worden war, ist außerhalb des europäischen Kontexts grandios gescheitert. Der Rückgriff
auf das fast vergessene Spätwerk von Parsons vermag hier sicherlich einiges zu korrigieren.

Damit sind wir nun am Ende unserer drei Vorlesungen zu Parsons angelangt, zu einem Werk, das –
wie Sie vielleicht nun erahnen können – von imponierender und vielleicht seither nie wieder
erreichter theoretischer Komplexität war. Wenn Sie nochmals einen kurzen Einblick in das
Gesamtwerk nehmen wollen, so lesen Sie die präzise Darstellung von Victor Lidz, »Talcott Parsons«;
wenn Sie sich ausführlicher mit Parsons beschäftigen wollen, so bieten sich vor allem zwei Werke
an: Der vierte Band von Jeffrey Alexanders Theoretical Logic in Sociology und die mit Abstand
beste deutsche Monographie zu Parsons, nämlich Harald Wenzels Die Ordnung des Handelns.
Dies sind alles Darstellungen, die mit Parsons’ theoretischem Unterfangen sympathisieren und die
es tatsächlich verstehen, die innere Logik seines Gedankengebäudes nachzuzeichnen und
nachzuvollziehen. Wie Sie nun schon wissen, ist Parsons’ Werk aber eben auch mit sehr viel Skepsis
aufgenommen worden, und in den späten 1960er Jahren hat die Zahl der Kritiker diejenige der
Verteidiger eindeutig übertroffen. Obwohl wir Ihnen – wie angekündigt – in den folgenden
Vorlesungen ohnehin demonstrieren, auf welche 140Weise sich nachfolgende Soziologen an Parsons
abgearbeitet haben, möchten wir zusammenfassend nochmals die Hauptkritiken, einige davon auch
durchaus politisch motiviert, gegen das Parsonssche Œuvre nennen:
Der erste Punkt ist schon vielfach angeschnitten worden, und er muß – weil er auch weiterhin
immer wieder auftauchen wird – hier nicht weiter erläutert werden: Insgesamt ist es Parsons
A. offensichtlich nicht wirklich gelungen, seiner Handlungstheorie eine adäquate Ordnungstheorie
beiseite zu stellen. Der Funktionalismus war hier ungeeignet. Oder anders herum: Die Synthese
zwischen Handlungstheorie und Funktionalismus ist ihm nicht wirklich geglückt.
Parsons – so der Vorwurf – habe letztlich soziale Ordnung zum Wert an sich erklärt, zumal sein
theoretisches Instrumentarium für die Untersuchung von Konflikten ungeeignet schien. Dieser
Vorwurf beruht zum Teil auf einem Mißverständnis, denn Parsons’ Begriffe waren natürlich
analytisch, nicht normativ gemeint: Wenn Parsons von abweichendem Verhalten sprach, dann
fühlte er sich keineswegs in der Rolle eines Sozialtherapeuten, der die Gesellschaft unbedingt
vor sozialen Konflikten bewahren will. Dennoch steckt in dieser Kritik ein Körnchen Wahrheit.
Dies zeigt sich etwa darin, wie sehr Parsons’ Bild des Modernisierungsprozesses die
Vorstellung eines reibungslosen Prozesses vermittelt; von inneren Spannungen ist nur allzu
selten die Rede, wie dies dann selbst von amerikanischen oder deutschen Parsonianern wie
B. Jeffrey Alexander oder Richard Münch zugestanden wurde. Und insofern ist es nicht völlig
unverständlich, wenn die linke Studentenbewegung der 1960er Jahre Parsons als einen
Repräsentanten des herrschenden politischen und gesellschaftlichen Systems angriff, zumal
Parsons die westlichen Gesellschaften und insbesondere die USA besonders auszeichnete,
waren doch gerade in ihnen die Institutionen, die Parsons als »evolutionäre Universalien«
bezeichnet hatte, seiner Meinung nach in besonders reiner Form verwirklicht. Freilich wird
man heute, nach dem Zusammenbruch des Sozialismus, die Parsonsschen Positionen deutlich
milder beurteilen, denn tatsächlich scheint nun vielen die These von der Überlegenheit des
Rechtsstaates, der rationalen Bürokratie, der Demokratie und des Marktes gegenüber anderen
Ordnungsformen so abwegig nicht mehr zu sein.
141Schließlich wurde Parsons vehement dafür kritisiert, daß sein Einfluß und die Form seines
Wirkens zu einer gefährlichen Ablösung der Theorie von der Empirie geführt habe. Gemünzt
eben auf Talcott Parsons und dessen »grand theory« formulierte dies der amerikanische
Soziologe und dezidierte Parsons-Kritiker C.Wright Mills (1916-1962) folgendermaßen:
the systematic theory of the nature of man and of society all too readily becomes an elaborate and arid formalism in which the
splitting of concepts and their endless rearrangement become the central endeavor. (Mills, The Sociological Imagination,
S. 23)

Aber auch Autoren, die Parsons durchaus wohlgesonnen waren, schlossen sich einer solchen
Kritik an, weil sie befürchteten, daß das Basteln an derartigen Großtheorien letztendlich auch
zu einer Vernachlässigung empirischen Arbeitens führen würde, da viele der von Parsons
vorgeschlagenen Konzepte empirisch gar nicht »eingeholt« werden könnten. Es war Robert
Merton, der deshalb gegen Parsons die Erarbeitung von sogenannten »middle range theories«
C.
propagierte, also von Theorien mittlerer Reichweite, die als klar überprüfbare Hypothesen zu
konkreten soziologischen Phänomenen und Problemen verstanden wurden, um eben eine engere
Kopplung von Empirie und Theorie zu erreichen. Die dahinterstehende Kritik an Parsons war
wiederum sicherlich berechtigt; gleichwohl führte sie aber auch in die Irre: Denn natürlich sah
Parsons, daß sein Arbeiten an Konzepten und Grundbegriffen nicht immer sofort empirische
Anwendbarkeit und Verwertbarkeit versprach – aber diese Arbeit ist eben notwendig, um
überhaupt einen gehaltvollen Zugriff auf die Wirklichkeit zu ermöglichen. Ob Parsons selbst mit
seinen Konzepten dieser gehaltvolle Zugriff wirklich gelang, ist wieder eine andere Frage. Es
dürfte gleichwohl unbestritten sein, daß grundbegriffliche Arbeit notwendig ist – und aus dieser
Sicht kann die Propagierung von »middle range theories« eher als eine Flucht vor der Theorie
denn als ein Kompromiß zwischen Theorie und Empirie gedeutet werden, zumal die Arbeit der
»bodenständigen« Soziologen oftmals zu einem »mindless empiricism« führte, der nicht
weniger steril war als die abstrakten Höhenflüge Parsons’.

142Mit Parsons’ Theorie wurde jedenfalls für alle spätere Theoriearbeit ein Maßstab gesetzt. Um so
erstaunlicher ist es, wie sehr sein Einfluß ab den 1970er Jahren abnahm, so daß viele Einsichten, die
sich in seinem Werk schon fanden, von anderen gewissermaßen neu entdeckt werden mußten und dann
mit deren Namen verbunden werden. Bevor wir uns aber den späteren Versuchen zur Theorie-
Synthese zuwenden, muß es um die theoretischen Schulen gehen, welche die Parsons-Hegemonie seit
den 1950er Jahren so erfolgreich bekämpfen sollten.
143Fünfte Vorlesung
Neo-Utilitarismus

Angesichts der in den 1940er und 1950er Jahren immer stärker werdenden Dominanz der Parsons-
Schule in der amerikanischen und dann auch in der internationalen Soziologie hätte man eigentlich
vermuten können, daß die Zeit utilitaristischer Denkströmungen endgültig vorbei sei. Parsons hatte ja
mit scharfsinnigen Argumenten das Ungenügen nutzenorientierter Handlungsmodelle bewiesen;
immerhin konnte er schon in seinem ersten großen Hauptwerk, nämlich The Structure of Social
Action, zeigen, wie sich das utilitaristische Ideengebäude von innen heraus zersetzt hatte und sich
deshalb bedeutende Theoretiker aus unterschiedlichen Disziplinen von diesem Theoriemodell
abwandten. Denn – so Parsons – der Utilitarismus sei nie in der Lage gewesen, die Existenz einer
stabilen sozialen Ordnung konsequent und widerspruchsfrei zu denken. Nach diesem Kraftakt einer
ebenso umfassenden wie präzisen Kritik am Utilitarismus konnte Parsons mit einigem Recht der
Auffassung sein, daß sich alle Modelle nutzenorientierten Handelns innerhalb der Soziologie als ernst
zu nehmende theoretische Ansätze erledigt hätten. Für die Wirtschaftswissenschaften bestritt er die
Anwendbarkeit dieser Modelle nicht. Aber als integrierende Theorie der Sozialwissenschaften hielt
er sie für nicht akzeptabel.
Trotz allem erlebte der Utilitarismus Ende der 1950er Jahre eine Art Renaissance; es wurden sogar
von dieser Seite massive Gegenangriffe auf das Parsonssche Theoriegebäude gestartet. Einer der
Gründe für jene Wiederbelebung einer von vielen schon tot geglaubten Strömung war, daß das für den
Utilitarismus konstitutive und namengebende Konzept des »Nutzens« vielschichtig und damit
ausdeutbar war, so daß man bei einer etwas anderen Fassung des »Nutzens« den Einwänden von
Parsons entgehen zu können glaubte.
Tatsächlich wurde ja der Utilitarismus in den vorangegangenen Vorlesungen von uns als eine
Theorierichtung dargestellt, in welcher der Handelnde als ein Akteur begriffen wird, der immer nur
seinen eigenen unmittelbaren und egoistischen Nutzen verfolgt. Auch Parsons hat in seinem Aufweis
der inhärenten Widersprüche und Probleme des Utilitarismus diesem eine solche Auffassung
unterstellt. Dies war und ist insofern gerechtfertigt, als die frühen utilitaristi144schen Philosophen
wie etwa der schon erwähnte Jeremy Bentham tatsächlich die Mehrung der Lust und die Vermeidung
des Schmerzes zu den entscheidenden Handlungsmaximen aller Menschen erklärt hatten. Und auch
Adam Smith, der Begründer der modernen Ökonomie, hatte in wünschenswerter Deutlichkeit, wenn
auch ironisch, erklärt: »We are not ready to suspect any person of being defective in selfishness.«
(Zit. nach G. Becker, A Treatise on the Family, S. 172)
Nun muß man aber zweifellos den Begriff »Nutzen« nicht derart eng definieren, d. h. ein weiterer
Begriffsumfang ist durchaus möglich. Dies hatten übrigens auch schon einige utilitaristische Denker
des 19. Jahrhunderts erkannt, für die es um den größten Nutzen der größten Zahl von Menschen
gegangen war, und eine ähnliche Strategie wurde verfolgt, als sich jene schon angesprochene
Renaissance des Utilitarismus in der Soziologie der späten 1950er Jahre ereignete. Schließlich läßt
sich unter »nutzenorientiertem Handeln« auch die Mehrung des Nutzens eines Kollektivs verstehen
oder die Mehrung des Nutzens anderer. Insofern wäre dann natürlich der Nutzen nicht egoistisch
definiert, sondern unter »nutzenorientiertem Handeln« könnte man eben auch altruistisches Verhalten
fassen. Freilich hat diese Ausweitung der Bedeutung des Nutzenbegriffs ihre Tücken: Denn wenn man
dies macht, wenn man also altruistisches Handeln als nutzenorientiertes Handeln bezeichnet, dann
erklärt man ja den Nutzengewinn anderer Personen (der Personen also, denen man etwas Gutes tut)
zur Quelle des eigenen Handelns, oder anders – in der Sprache von Ökonomen – ausgedrückt: dann
erklärt man, daß der altruistische Geber/Spender etc. den Konsum des Empfängers/des Beschenkten
genießt. Dies hört sich zunächst unproblematisch an, weil wir ja selbst das Gefühl der Freude kennen,
wenn wir anderen Menschen eine Freude bereiten: Wir freuen uns über die Freude von Freunden,
denen wir etwas zum Geburtstag geschenkt haben, so daß wir in diesem konkreten Fall in der Tat
sagen könnten, daß wir unseren eigenen Nutzen aus dem Nutzen anderer gewinnen. Gleichwohl – und
dies ist eben die Crux einer jeden solchen Argumentationsweise – verliert das Wort »Altruismus«
vollständig seinen Sinn, wenn dieses Verhalten einzig und allein auf der wie auch immer vermittelt
erfahrenen Nutzensteigerung des Gebers/Spenders etc. basiert. Letztlich wäre nämlich dann der
Altruist nur ein verkappter, höchst raffinierter Egoist. Amitai Etzioni, einer der schärf145sten
gegenwärtigen Kritiker des Utilitarismus in seiner alten und neuen Form, macht die Absurdität einer
solchen Argumentationsweise mit folgendem Satz deutlich:
Geht man davon aus, daß nur das Streben nach Lust (und die Vermeidung von Schmerz) Menschen motivieren kann, muß man logisch
folgern, daß Heilige ihr Selbstopfer genießen; sie »müssen« Masochisten »sein«. (Etzioni, Die faire Gesellschaft, S. 63)

Damit ist nun zweifellos ein wirkliches Problem angesprochen – und in der Folgezeit hat die Einsicht
in die Schwierigkeiten mit dem Nutzenbegriff dazu geführt, daß viele Ökonomen und manche Vertreter
des utilitaristischen Ansatzes innerhalb der Soziologie den Begriff entweder seines ursprünglichen
Sinnes beraubten oder diesen ganz fallenließen:
Man nahm in den Anfängen der Geschichte der ökonomischen Analyse tatsächlich an, daß Güter in einem meßbaren, psychologischen
Sinn einen Nutzen oder etwas Nützliches darstellen. Obwohl dieses irreführende psychologische Konzept inzwischen verworfen wurde,
blieb der Begriff »Nutzen« in Verwendung. So ist er heute nur die Bezeichnung für eine Rangordnung von Optionen in Übereinstimmung
mit den individuellen Präferenzen. (Alchian/Allen 1977, zit. nach Etzioni, Die faire Gesellschaft, S. 68)

Insofern spricht die utilitaristisch argumentierende Soziologie, die von manchen Autoren auch als
»individualistische Sozialtheorie« bezeichnet wird, häufig gar nicht mehr von »Nutzen«, sondern nur
mehr von Zwecken oder Präferenzen, so daß von dem ursprünglich klar umgrenzten und
psychologisch definierten Nutzenbegriff lediglich eine formale Kategorie übrigblieb: Es wird nur
noch angenommen, daß ein Akteur zielgerichtet beliebige (egoistische, altruistische etc.) Zwecke
verfolgt, die alle einigermaßen stabil sind und vom Akteur in eine konsistente Rangordnung gebracht
werden können. Damit kann man dann tatsächlich die Probleme des immer nur psychologisch zu
definierenden Nutzenbegriffes hinter sich lassen; freilich hat man sich aber auch sofort eine neue
Schwierigkeit eingehandelt. Denn bei dieser höchst inhaltsleeren Rede von »Präferenzen« fragt man
sich unwillkürlich, was uns denn eigentlich zwingt, so faßbare und höchst unterschiedliche
Phänomene wie etwa egoistische Nutzenmaximierung einerseits und altruistische Hingabe
andererseits unter einen einzigen, noch dazu vagen Oberbegriff zu fassen. Hinzu kommt, daß uns
ebendiese Rede weder etwas darüber 146sagt, wie diese Präferenzen eigentlich entstehen noch wie
sie sich gegebenenfalls verändern können: Der alte Nutzenbegriff basierte zumindest noch auf einer –
wenn auch primitiven – Psychologie im Sinne des Abwägens von »pleasure and pain«; der Ausdruck
»Präferenzen« hingegen ist lediglich eine Hülse, die – psychologisch (mit welchem psychologischen
Ansatz?), biologisch (mit welcher Biologie?), soziologisch (mit welcher Sozialisationstheorie?) etc.
– erst noch gefüllt werden muß. Wie selbst Vertreter des neo-utilitaristischen Ansatzes zugeben:
»Until we have a robust theory of preference-formation, or a rich body of data, the persuasiveness of
explanations based upon preferences will hinge on reader’s perceptions of their intuitive appeal.«
(Friedman/Hechter, »The Contribution of Rational Choice Theory to Macrosociological Research«,
S. 203)
Unabhängig von den hier schon angedeuteten Problemen, denen sich eine utilitaristisch
argumentierende Soziologie bei all ihren Absetzungs- und Modifikationsversuchen gegenüber dem
alten Utilitarismus des 19. Jahrhunderts gegenübersehen sollte, gelang es ihr dennoch, neue Anhänger
zu gewinnen, eben weil man grundbegrifflich von der bizarren Annahme rein egoistisch agierender
Individuen Abschied nahm und sich damit zumindest auf den ersten Blick vor allem gegen die
Parsonsschen Einwände immunisieren konnte.
Bevor wir zu dieser utilitaristischen Renaissance, zu jenen von uns als Neo-Utilitarismus
bezeichneten Ansätzen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts kommen, müssen wir aber
noch eine Frage anschneiden, die sich auf den logischen Status utilitaristischer Theorien bezieht und
die schon während des 19. Jahrhunderts heftig diskutiert wurde. Die Frage läßt sich folgendermaßen
stellen: Was ist genau gemeint, wenn man innerhalb dieses Ansatzes davon spricht, daß Akteure
immer ihren Nutzen zu maximieren, ihre Zwecke zu verfolgen oder ihre Präferenzen durchzusetzen
versuchen? Ist damit nun eine anthropologische Behauptung verbunden – etwa nach dem Motto:
Menschen handeln immer, und zwar unabhängig von Zeit und Kultur, gemäß diesen Maximen? Oder
ist damit eher eine begrenztere Aussage angestrebt – etwa derart, daß man sagen will, daß Menschen
oft so handeln bzw. unter bestimmten Umständen so handeln? Oder ist damit gemeint, daß Menschen
ihre Zwecke, Präferenzen, Nutzen verfolgen sollen, selbst wenn man weiß, daß dies nicht immer oder
gar eher selten der Fall sein wird?
Blickt man auf die diesbezüglichen Debatten und Diskussionen 147seit dem 19. Jahrhundert, so
fällt auf, daß hier tatsächlich mindestens drei unterschiedliche Positionen eingenommen wurden.
Während es bei Bentham – und dies wäre die erste Position – tatsächlich so war, daß er mit Verweis
auf »pleasure and pain« eine Art Anthropologie entwarf, also behauptete, daß die psychologische
Grundausstattung der Menschen so sei, daß sie tatsächlich empirisch immer Schmerz zu vermeiden
und größtmögliche Lust zu gewinnen suchten, so waren andere Sozialwissenschaftler hier durchaus
anderer Meinung. Max Weber etwa – und dies wäre die zweite Position – hatte für die Benthamsche
Vulgärpsychologie nicht allzuviel übrig, schien sie ihm doch die Komplexität menschlicher
Entscheidungen und Handlungen unzulässig zu vereinfachen. Gleichzeitig sträubte sich Weber jedoch
nicht gegen das vorherrschende (utilitaristische) Handlungsmodell in Teilen der damaligen
Wirtschaftswissenschaften, insofern man damit das Funktionieren von Märkten auf die
nutzenmaximierenden und damit rationalen Entscheidungen von Marktteilnehmern zurückführen
konnte. Dabei vertrat er die Auffassung, daß dieses ökonomische Handlungsmodell immer weitere
Bereiche der sozialen Wirklichkeit zutreffend beschreibt: So wie auf modernen (kapitalistischen)
Märkten das tatsächliche Verhalten der Marktteilnehmer durch dieses Handlungsmodell einigermaßen
zuverlässig eingefangen würde (aber eben nicht das Verhalten auf vormodernen Märkten), so würden
im Rahmen eines fortschreitenden »Rationalisierungsprozesses« auch andere als wirtschaftliche
Kontexte von nutzenorientiert agierenden Menschen bestimmt werden, so daß hier das in der
Ökonomie verwendete Akteursmodell zunehmend adäquat die Wirklichkeit beschreibt. Weber gestand
also dem nutzenorientierten Handeln keinen anthropologischen Status zu, sondern verortete diese
Handlungsorientierung quasi historisch: Erst mit dem Einbruch des Kapitalismus würde die Idee des
nutzenmaximierenden Handelnden auch ihre Entsprechung in der Wirklichkeit finden (vgl. etwa
Weber, »Die Grenznutzlehre und das ›psychophysische Grundgesetz‹«, v. a. S. 395 f.). Wieder andere
– und dies ist die dritte Position – haben argumentiert, daß mit der Rede von der Nutzen- oder
Zweckorientierung des Menschen überhaupt keine empirische Beschreibung angestrebt werde und
auch nicht werden soll. Analysen zum nutzenorientierten Handeln sollten lediglich über die
tatsächliche Erreichbarkeit von Zielen und Zwecken informieren, sollten den Handelnden darüber
aufklären, welche Hindernisse 148möglicherweise seiner Zielerreichung entgegenstünden, sollten
ihm die besten Wege zur Zweckdurchsetzung aufzeigen. Gemäß dieser Position ist mit der Rede vom
nutzenorientierten Handeln keine empirisch zu bestätigende bzw. zu falsifizierende Theorie gemeint,
sondern damit wird ein normativ-analytisches Modell vorgelegt, das eben – weil es die
Bedingungen, Umwelten und Durchsetzungschancen rationaler Zielverfolgung untersucht –
Handlungsoptionen und Handlungsalternativen eröffnet. Erst dort, wo das reale Verhalten und
Handeln der Menschen der Rationalitätsnorm nahekommt, kann das zunächst nur normativ-analytisch
begriffene Modell dann auch empirisch ertragreich werden. Diesen Fall reklamiert etwa die
Volkswirtschaftslehre für sich, unterstellt sie doch, daß das tatsächliche Handeln von Akteuren in
Betrieben und auf Märkten mit dem unter Rationalitätsgesichtspunkten gesollten bzw. besten Handeln
weitgehend übereinstimmt.
Diese drei durchaus unterschiedlichen Positionen zum wissenschaftslogischen Status der
Theorie(n) nutzenorientierten Handelns werden auch heute noch vertreten, wobei allerdings die oben
als »anthropologisch« beschriebene Position mittlerweile stark an Einfluß verloren hat. Freilich ist
bei nicht wenigen Autoren manchmal unklar, welche Position sie nun genau einnehmen, auf welcher
Ebene sie also argumentieren, auf der empirischen oder der normativ-analytischen. Zum Teil – aber
eben tatsächlich nur zum Teil – abhängig von den eben skizzierten unterschiedlichen Auffassungen
über den wissenschaftslogischen Status des nutzenorientierten Handlungsmodells erkennt man in der
Entwicklung neo-utilitaristischer Theorien in der Soziologie, daß sich seit den 1950er Jahren hier im
Prinzip zwei Theoriestränge ergeben haben (vgl. Wiesenthal, »Rational Choice«, S. 436):
A. Die Vertreter der sogenannten »Austauschtheorien« waren diejenigen, die ganz dezidiert an die
Autoren der frühen politischen Ökonomie anknüpften und soziale Zusammenhänge als
Zusammenballung oder Aggregation individueller Handlungen begreifen wollten. So wie etwa Adam
Smith den Markt als das Resultat der ökonomischen Tauschhandlungen von Individuen dargestellt
hatte, so wollten nun die sogenannten Austauschtheoretiker gesellschaftliche Ordnung ganz allgemein
aus den wechselseitig aufeinander bezogenen, nutzenorientierten Handlungen von Personen herleiten.
149B. Die Vertreter des »Rational-Choice-Ansatzes« lehnen sich zwar ebenfalls an ein
nutzenorientiertes und vor allem in der Ökonomie verwendetes Handlungsmodell an, ihre Auffassung
zum wissenschaftslogischen Status der Theorie ist zumeist aber eher normativ-analytisch denn
empirisch. Sie untersuchen nicht in erster Linie die Konstitution sozialer Ordnung aus individuellen
Handlungen, sondern ihr Problem – und hiermit knüpfen sie an die Vertragstheoretiker der politischen
Philosophie à la Hobbes und Locke an – ist die Frage, wie sich aus dem rationalen und
nutzenorientierten Handeln von Individuen überhaupt so etwas wie Kooperation ergeben kann, wie
das Verhältnis von individueller und kollektiver Rationalität zu sehen ist und welche Beschränkungen
und Grenzen dem individuellen Wahlhandeln (»rational choice«) gesetzt sind, aber auch welche
Möglichkeiten diesem offenstehen.
Da es in den späten 1950er Jahren zuerst die sogenannten »Austauschtheoretiker« waren, welche
die Attacke auf die Theorie von Parsons ritten, wollen wir mit ihnen beginnen.

Einer der ersten Soziologen, die aus dem Lager der Neo-Utilitaristen in der amerikanischen
Nachkriegssoziologie zu verhältnismäßig großer Prominenz gelangt sind und die diese Prominenz vor
allem ihrer fulminanten Kritik am Parsonsschen Funktionalismus verdankten, ist George Caspar
Homans (1910-1989). Homans war ursprünglich selbst Parsons-Schüler und dann dessen Kollege an
der Harvard University. Einer weiteren Fachöffentlichkeit wurde er 1951 mit dem Erscheinen eines
seiner Hauptwerke, nämlich The Human Group, bekannt, einer eher deskriptiven als theoretischen
Untersuchung zum menschlichen Verhalten in kleinen Gruppen. Diese Arbeit war somit hinsichtlich
ihrer Nähe oder Ferne zu Parsons nicht wirklich aufschlußreich oder spektakulär. Homans’ Haltung
zum Parsonsschen Œuvre sollte sich aber bald ändern, so daß er spätestens seit Mitte der 1950er
Jahre mit gut plazierten Publikationen als dezidierter Parsons-Kritiker hervortrat.
Die Kritik an Parsons’ Werk und den Arbeiten seiner funktionalistischen Anhänger konzentrierte
sich dabei in erster Linie auf drei Punkte:

1. Homans monierte, daß das Parsonssche Theoriegebäude keine wirkliche Theorie sei, keine
jedenfalls, die ernsthaft beanspruchen 150könne, Sachverhalte zu erklären. Homans gestand dem
Funktionalismus lediglich zu, eine Methode zu sein, mit der sich bestimmte soziale Gegenstände und
Phänomene beschreiben ließen. Der Funktionalismus stelle lediglich Kategorien zur Verfügung,
Kategorien aber – und seien sie noch so kunstvoll miteinander verknüpft und verschränkt – stellten
noch keine Theorie dar (vgl. Homans, »Bringing Men Back In«, S. 810 f.). Diese Kritik basiert
natürlich auf einem spezifischen und – siehe unsere Erste Vorlesung – durchaus nicht unumstrittenen
Theorieverständnis. Denn für Homans sind Theorien einzig und allein Aussagesysteme, die etwas
über die Zusammenhänge von Eigenschaften und Gegenständen in der Natur bzw. der Welt behaupten:
To constitute a theory, the propositions must take the form of a deductive system. One of them, usually called the lowest-order
proposition, is the proposition to be explained, for example, the proposition that the more thoroughly a society is industrialized, the more
fully its kinship organization tends towards the nuclear family. The other propositions are either general propositions or statements of
particular given conditions. The general propositions are so called because they enter into other, perhaps many other, deductive systems
besides the one in question. Indeed, what we often call a theory is a cluster of deductive systems, sharing the same general propositions
but having different explicanda. The crucial requirement is that each system shall be deductive. That is, the lowest-order proposition
follows as a logical conclusion from the general propositions under the specified given conditions. (Homans, a.a.O., S. 811/812)

Eine Theorie ist – wie Homans später sagen wird – nichts, es sei denn sie ist eine Erklärung. Und
eine Erklärung muß gemäß obigem Zitat so angelegt sein, daß sich die komplexeren und spezifischen
Zusammenhänge (etwa diejenigen zwischen Industrialisierung und der Tendenz hin zur Kernfamilie)
aus einfacheren gesetzmäßigen Aussagen zum individuellen Verhalten (etwa zu dem von Individuen in
Familien unter gegebenen Randbedingungen) unmittelbar ableiten lassen. Sichtbar wird damit also
Homans’ wissenschaftstheoretisches Programm, nämlich die Sozialwissenschaften so anzulegen, daß
sich komplexe soziale Sachverhalte mittels Deduktion aus einfacheren kausalen Zusammenhängen
erklären lassen. Da der Funktionalismus eben dies nicht leiste, seien mit ihm keine wirklichen
Erkenntnisfortschritte zu erzielen. Der Funktionalismus – so Homans – sei letztlich eine Sackgasse, in
der die Soziologie steckenzubleiben drohe.
1512. Zudem kritisierte Homans an Parsons, daß dieser sein »Theoriegebäude« – wenn denn
überhaupt von Theorie die Rede sein kann, was Homans ja bestreitet – zu normativ angelegt habe.
Parsons habe seinen Ausgangspunkt bei der Analyse von Normen gehabt, es stand immer das
institutionell eingebundene, also durch Normen eingeschränkte, soziale Verhalten im Mittelpunkt;
nicht zufällig war ja der Begriff der Rolle zu einem Zentralbegriff der funktionalistischen Soziologie
geworden. Die Frage, wie und warum es überhaupt zur Herausbildung von Normen und Institutionen
kommt, wurde demgegenüber vernachlässigt, eben weil man annahm, daß Menschen immer schon in
institutionellen Zusammenhängen handeln. Wenn man diese Beschreibung der »Leistungen« des
Funktionalismus und die dahinterstehende Parsons-Kritik akzeptiert, wenn man also das
Zustandekommen von Institutionen und Normen überhaupt erklären will, dann – so Homans – gilt es
das Augenmerk auf »elementare« Verhaltensformen zu richten, aus denen sich die übergeordneten und
normativ geregelten Einheiten erst zusammensetzen:
Da Rollen und die sie begleitenden Sanktionen von Soziologen oft Institutionen genannt werden, und ebenso das Verhalten, sofern es
den Rollen entspricht, institutionalisiertes Verhalten, könnte man elementares Verhalten subinstitutionell nennen. Man muß sich jedoch
stets dessen bewußt bleiben, daß der institutionelle Rahmen elementaren sozialen Verhaltens niemals starr ist, und daß manches
elementare soziale Verhalten, wenn es von einer genügenden Anzahl von Leuten lang genug betrieben wird, die vorhandenen
Institutionen durchbricht und diese ersetzt. Wahrscheinlich gibt es keine Institution, die nicht im Ursprung elementares soziales Verhalten
war. (Homans, Elementarformen sozialen Verhaltens, S. 5)

Während die Funktionalisten immer die (normativen) »constraints« bzw. Zwänge für die Handelnden
betont haben, möchte Homans mit dieser Aussage auf die Möglichkeit und Tatsache normativ
unrestringierter Wahlhandlungen hinweisen, die ihrerseits erst die Entstehung von Institutionen zu
erklären vermögen.

3. Schließlich bemängelt Homans an Parsons – dies hängt freilich mit der eben genannten Kritik eng
zusammen –, daß dessen gesamte Soziologie anti-individualistisch oder kollektivistisch sei, eben
weil das Verhalten von Individuen mehr oder minder als Folge oder 152Effekt von institutionellen
Arrangements begriffen wird. Homans möchte demgegenüber den umgekehrten Weg beschreiten und
zeigen, wie Makrophänomene als Aggregation, als Bündelung individueller Wahlhandlungen und
Entscheidungen verstanden werden können und daß sie auch nur so zu verstehen sind.

All diese Kritikpunkte spiegeln sich wider in jenem so plakativen Aufsatztitel »Bringing Men Back
In«, Homans’ 1964 veröffentlichter »Presidential Address«, d. h. der Ansprache als Vorsitzender der
Amerikanischen Soziologenvereinigung (ASA) auf dem Soziologiekongreß des gleichen Jahres: Der
Funktionalismus habe Institutionen, Rollen, Werte, also Rahmenbedingungen des menschlichen
Handelns, zum Thema gemacht und diese lediglich beschrieben – es gelte aber, so Homans’ Plädoyer,
das wirkliche Verhalten von Menschen (»Men«) in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen und dieses
dann eben auch zu erklären. Aber was ist nun dieses wirkliche Verhalten der Menschen, wie faßt man
es?
Homans hatte schon in einem wichtigen programmatischen Aufsatz mit dem Titel »Social Behavior
and Exchange« aus dem Jahre 1958 und dann in seinem kurz darauf erschienenen Hauptwerk
Elementarformen sozialen Verhaltens (englisch: Social Behavior: Its Elementary Forms, 1961)
keinen Zweifel daran gelassen, daß er Antworten hierauf vor allem in der Verhaltenspsychologie und
der Ökonomie findet. Homans will Interaktionen zwischen Personen als »an exchange of goods,
material and non-material« (»Social Behavior as Exchange«, S. 597) begreifen, wobei er in typisch
utilitaristischer Manier der Auffassung ist, daß alles Handeln – und dies sei tatsächlich empirisch
nachweisbar – darauf aus sei, Kosten, Schmerz, Bestrafungen etc. zu vermeiden und Lust bzw.
Belohnungen zu maximieren. Oder anders formuliert: Das Handeln zwischen Menschen ist ein
Austausch von materiellen bzw. nicht-materiellen Gütern, die je nach Art des Gutes als Belohnung
oder Bestrafung wirken und von denen die Akteure entweder – wie im Falle der Belohnung – mehr
oder – wie im Falle der Bestrafung – weniger haben wollen. Diese Erkenntnisse zur Psychologie des
Menschen – Homans geht von einer im Prinzip gleichbleibenden und überall identischen
menschlichen Natur aus (Elementarformen sozialen Verhaltens, S. 5) – übernimmt er aus der
sogenannten behavioristischen Psychologie, deren amerikanischer Hauptvertreter der mit ihm
befreundete 153B. F. Skinner (1904-1990) war. Skinner stützte seine theoretischen Aussagen auf
Laborexperimente mit Tieren, deren Verhalten er mit Reizen zu konditionieren und damit zu
beeinflussen versuchte: Reize – im Sinne von Belohnungen oder Bestrafungen – können
Verhaltensformen von Tieren verstärken oder eben abschwächen, womit sich erklärende Aussagen
ergeben etwa derart, daß ein Tier, je öfter es für eine bestimmte Aktivität belohnt wird, desto öfter
auch sich dieser Aktivität zuwendet; je häufiger etwa eine Taube mit einem Getreidekorn dafür
belohnt wird, daß sie mit dem Schnabel auf einen bestimmten Punkt pickt, desto häufiger wird sie
auch genau dieses Verhalten zeigen und auf genau diesen Punkt picken. Zwar behauptet nun Homans
nicht, daß menschliches und tierisches Verhalten völlig identisch seien, aber immerhin doch, daß sich
beide darin gleichen, wie auf bestimmte Reize reagiert wird und welche Lernerfahrungen daraus
folgen.
Wenn wir nun von dem ausgehen, was wir über tierisches Verhalten wissen, können wir eine Reihe von Sätzen aufstellen, die wir zur
Beschreibung und Erklärung menschlichen Verhaltens, menschlichen Tausches also, für grundlegend halten. (Homans, Elementarformen
sozialen Verhaltens, S. 27)
Und tatsächlich präsentiert dann Homans eine ganze Reihe von »Wenn-dann-Sätzen«, quasi-
naturwissenschaftliche Sätze also, die beispielsweise Aussagen machen über den Zusammenhang der
Ähnlichkeit von Anreizen und der Wahrscheinlichkeit des Antwortverhaltens, über den
Zusammenhang des Wertes einer Belohnung und der Wahrscheinlichkeit eines Verhaltens, über das
auch in der Ökonomie verwendete Theorem des abnehmenden Grenznutzens (»Je öfter eine Person in
der Vergangenheit von einer anderen Person eine belohnende Aktivität erhielt, desto geringer wird für
sie der Wert jeder weiteren Einheit jener Aktivität sein.«, a.a.O., S. 47) oder über den Zusammenhang
von Frustration und Aggression (»Je krasser das Gesetz der ausgleichenden Gerechtigkeit zum
Nachteil einer Person verletzt wird, desto wahrscheinlicher wird sie das emotionale Verhalten an den
Tag legen, das wir Ärger nennen.«, a.a.O., S. 64 f.).
Homans ist bei der Formulierung dieser Sätze Neo-Utilitarist, insofern er die Prämissen der
utilitaristisch fundierten Nationalökonomie ganz überwiegend teilt, an einem Punkt jedoch das Bild
des »homo oeconomicus« korrigiert bzw. modifiziert:
154Die Schwierigkeit mit ihm [dem homo oeconomicus, d. Verf.] bestand nicht darin, daß er ›ökonomisch‹ war, daß er also seine Mittel
zum eigenen Vorteil verwendete, sondern daß er unsozial und materialistisch eingestellt und ausschließlich an Geld und materiellen Gütern
interessiert war und dafür bereitwillig selbst seine alte Mutter geopfert hätte. Was an ihm nicht stimmte, das waren seine Werte: ihm war
nur ein begrenzter Bereich von Werten erlaubt; der neue homo oeconomicus ist nicht derart eingeschränkt. Er kann alle nur denkbaren
Werte vom Altruismus bis zum Hedonismus besitzen; solange er seine Mittel nicht völlig vergeudet, ist sein Verhalten immer noch
ökonomisch. (Homans, a.a.O., S. 67)

Homans macht also einen Schritt, den wir am Anfang dieser Vorlesung schon angesprochen haben; er
differenziert bzw. erweitert den früheren engen utilitaristischen Nutzenbegriff, womit er dann eben
auch altruistisches Verhalten fassen und damit etwa den Parsonsschen Einwänden entgehen zu können
glaubt. Gleichzeitig sollte aber auch hier wieder klar sein, was Homans genau meint, wenn er von
Altruismus oder von Werten redet. Denn Werte sind für Homans lediglich Ergebnis einer früheren
Belohnungssituation, sie sind somit – eben weil neuartige Belohnungen oder eben Bestrafungen
erfolgen können – nichts Unbedingtes (»ultimate ends« bei Parsons), sondern etwas völlig
Situationsabhängiges, das dem Kalkül des Akteurs unterworfen ist. Das ist etwas ganz anderes als
das, was Parsons unter Werten verstanden hat und was wir mit unserem Luther-Beispiel (»Hier stehe
ich und kann nicht anders«) zu erläutern versuchten.
Hinter dieser Homansschen Auffassung von Werten kommt ebenso wie bei ähnlichen neo-
utilitaristischen Deutungen eine Haltung zum Vorschein, die diesen Werten Bedeutung absprechen
oder sie auf etwas anderes zurückführen will. Bei Homans selbst war dafür wohl der Glaube
ausschlaggebend, daß der sicherste und beste Weg für ein vernünftiges und funktionierendes
Zusammenleben das rückhaltlose Eingeständnis des Vorhandenseins von Interessen und eben auch
Interessenunterschieden sei: Er war davon überzeugt, daß menschliches Miteinander in
Gesellschaften am besten funktioniert, wenn die Menschen, die sich ja unvermeidlich egoistisch
verhalten, dies einander auch zugestehen und es nicht mit Moral verbrämen, weil ja gerade Heuchelei
und moralische Kritik nur zu immer weiteren und immer irrationaleren Konflikten führen würden. Bei
anderen Autoren ergibt sich zu einem nicht unerheblichen 155Teil die Attraktivität neo-
utilitaristischer Ansätze eher aus einem »Entlarvungsmotiv«. So wie der Marxismus seine
Anziehungskraft häufig dadurch gewann, daß er scheinbar zeigte, wie Ideen und Ideologien
ausschließlich bestimmte Interessen verschleiern, so durfte man sich als konsequenter Neo-Utilitarist
häufig damit brüsten, daß man die hehren moralischen Attitüden auf bloße Nutzenkalküle
zurückführen und damit entlarven könne. Eine zur Schau getragene »kultivierte Kaltschnäuzigkeit« –
wie Etzioni (Die faire Gesellschaft, S. 419) dies im Anschluß an Brennan und Buchanan treffend
nannte – konnte dem naiven Gesprächspartner überlegenes Wissen suggerieren und ermöglichte es
selbstverständlich, sich eine Stufe höher als die jeweiligen Akteure zu stellen, deren niedere Motive
man als Neo-Utilitarist schon immer durchschaute.
Soweit zu Homans’ Analysen der Elementarformen des Verhaltens, zu seinen aus der
Verhaltenspsychologie abgeleiteten Erklärungen menschlichen Handelns und zu den Hintergründen
seiner Form der Theoriebildung. Wenn Sie sich nun fragen sollten, wie sich diese Art der Soziologie
von der etwa durch B. F. Skinner vertretenen behavioristischen Psychologie unterscheidet, dann hätte
Ihnen Homans geantwortet: lediglich im Hinblick auf das zu bearbeitende, weitere Themenfeld der
Soziologie. Und tatsächlich verfolgte Homans ganz bewußt das Programm, die Soziologie auf
Aussagen aus der behavioristischen Psychologie zu reduzieren. Ganz dezidiert bezeichnete er sich
selbst als »ultimate psychological reductionist« (»Social Behavior as Exchange«, S. 597). Aufgabe
der Soziologie kann es danach nur sein, das derart psychologisch erklärte Verhalten der Individuen
dahingehend zu studieren, wie es sich beim Miteinanderhandeln mehrerer Akteure zu höheren Formen
aggregiert, oder anders herum: zu untersuchen, wie sich Mesophänomene (etwa das Verhalten in
Gruppen) oder Makrophänomene (die Strukturen von großen Organisationen) aus dem »elementaren
Verhalten« der einzelnen ergeben. Freilich ist hier sogleich anzumerken, daß der Ertrag der
diesbezüglichen makrosoziologischen Forschungen von Homans eher bescheiden ausfiel, da Homans
seinen Arbeitsschwerpunkt vielmehr überwiegend im Mikrobereich hatte. Zudem – und obwohl er die
Parsonianer dafür kritisiert hatte, daß sie Normen nur beschrieben und nicht erklärten – gelang es ihm
nicht, hier selbst Fortschritte zu machen. Aber dies ist nur ein kritischer Nebenaspekt. Die Hauptkritik
an Homans 156muß anders ansetzen und setzte auch anders an. Darauf wollen wir nun im folgenden
eingehen.

Homans’ Kritik am Parsonsschen Theorieprogramm war ja spektakulär formuliert worden, und mit
einigen seiner oben zitierten Einwände traf er sicherlich »wunde Punkte«. Tatsächlich haben wir
selbst ja auch in unserer eigenen Parsons-Kritik in den letzten Vorlesungen immer wieder moniert,
daß bestimmte Funktionszuschreibungen von Parsons häufig höchst willkürlich vorgenommen worden
sind und daß der Funktionalismus die Grenzen zwischen Beschreibung und Erklärung allzuoft
verwischte. Insofern können wir dem oben zitierten ersten Kritikpunkt von Homans durchaus
zustimmen, auch wenn wir sein eingeschränktes Theorieverständnis (Theoriearbeit bestünde danach
ja lediglich in der Formulierung von »Wenn-dann-Sätzen«) nicht teilen. Und auch bei der Kritik des
überzogenen Normativismus im Parsonsschen Werk liegt Homans nicht ganz falsch, wurde doch – wie
von uns angesprochen – v. a. beim mittleren und späten Parsons das Handeln von Akteuren aus den
Funktionserfordernissen von normativ integrierten Systemen geradezu abgeleitet. Eine
antiindividualistische Stoßrichtung aber kann man Parsons gewiß nicht unterstellen.
Eine berechtigte oder teilweise berechtigte Kritik ist die eine Seite. Etwas ganz anderes ist aber
die Frage, ob es denn Homans wirklich gelang, eine Theoriealternative anzubieten, die seine eigenen
wissenschaftlichen Ansprüche erfüllt oder die zumindest besser ist als die seiner »Gegner«. Und hier
kann man tatsächlich erhebliche Zweifel haben, ob Homans’ Unternehmen als geglückt bezeichnet
werden kann. Zu offensichtlich sind die Schwächen der ganzen Theorieanlage.
Dies fängt schon damit an, daß man Homans’ Behauptung, sein Ansatz genüge den Kriterien
naturwissenschaftlichen Forschens, sein Ansatz sei wirklich »erklärend« etc., ernsthaft in Frage
stellen muß. Denn in seinem Ansatz taucht unmittelbar das Problem der Tautologie auf, das Problem
also, daß Phänomene mit dem erklärt werden, was eigentlich zu erklären ist. Wenn wir nämlich – wie
Homans – behaupten, daß Menschen immer Belohnungen bzw. ihren Nutzen suchen, dann müssen wir
natürlich herausfinden, worin denn genau Akteure ihren Nutzen sehen, was genau sie als Belohnung
interpretieren. Wie aber machen wir das? Prinzipiell gibt es 157dafür zwei Möglichkeiten: Erstens
könnte man behaupten, daß es für alle Menschen überall auf der Welt und zu allen Zeiten bestimmte
gültige Ziele gebe. Das Problem dabei ist freilich, daß es vermutlich keine solchen konkreten Ziele
gibt, denen wirklich alle Menschen nachstreben. Die Ziele, die einem sogleich einfallen – etwa:
»Alle Menschen streben nach Mehrung ihres Reichtums« – sind empirisch eindeutig nicht universell.
Es gibt durchaus Menschen – und nicht wenige! –, die nicht nach Mehrung ihres Reichtums streben.
Diese Möglichkeit scheidet also aus, und tatsächlich behauptet heute in den Sozialwissenschaften
ernsthaft niemand mehr, daß man auf diesem Wege zur Bestimmung des Nutzens von Menschen
kommen könne. Zu unterschiedlich sind die Menschen und Kulturen.
Somit muß man also eine andere Möglichkeit suchen. Die Alternative ist nun zweitens, den
Menschen einen subjektiven Standard zuzuschreiben: Was genau sieht ein Handelnder als Nutzen bzw.
Belohnung an? Dazu müssen wir Fragen stellen, er/sie muß über Motive Auskunft geben, muß
vielleicht erzählen, was ihn/sie zum Handeln veranlassen wird. Erst dann können wir erfahren, ob der
jeweilige Mensch nutzenorientierte Überlegungen angestellt hat, die dann tatsächlich ein
entsprechendes Handeln hervorgerufen haben, oder ob nicht vielleicht ganz andere Motive im
Hintergrund waren. Wir brauchen also einen verhaltensunabhängigen Standard, um zu ermessen, ob
die These, wonach Menschen immer ihren Nutzen verfolgen, immer nach Belohnungen streben etc., so
auch stimmt. Das heißt, wir müssen vor dem Handeln wissen, was die handelnde Person in der Tat
als Nutzen ansieht. Wenn man dann das Verhalten beobachtet, dann kann man erst wirklich sehen, ob
die jeweilige untersuchte Person nutzenorientiert gehandelt hat. Jedenfalls darf man nicht aus dem
Verhalten selbst auf die Nutzen- oder Belohnungsstruktur schließen, denn in diesem Fall gerät man
unweigerlich in einen Zirkelschluß und vergibt sich alle Chancen zu wirklich kausalen Aussagen:
Denn dann mehrt, was einer tut, per definitionem seinen Nutzen. Die Theorie ist tautologisch
geworden – und damit wertlos: sie erklärt nichts mehr! Dies läßt sich an folgendem Beispiel
verdeutlichen: Wenn ich es als Sozialwissenschaftler unterlasse, vor dem zu untersuchenden Handeln
die Nutzenüberlegungen einer betreffenden Person aufzuhellen, und wenn ich gleichzeitig behaupte –
wie Homans das tut –, daß Menschen immer ihrem Nutzen folgen, dann läßt sich ein Raubüberfall auf
die Kasse einer wohltätigen 158Einrichtung tatsächlich derart beschreiben, daß der Täter hier seinen
Nutzen zu mehren versuchte, indem er sich am Geld anderer bereicherte. Das Problem dabei ist, daß
ich gemäß den Homansschen Prämissen auch die »gegenteilige« Tat genau so beschreiben und
»erklären« könnte: Mit der großzügigen Spende an die Kasse der örtlichen Arbeiterwohlfahrt wollte
der Spender ebenfalls nur seinen Nutzen mehren. Weil es ihm Wohlbehagen bereitet und damit Nutzen
bringt, sich durch eine großzügige Spende als guter Mensch zu fühlen, deswegen habe der Spender
eben so gehandelt, wie er gehandelt hat. D. h. also, was immer jemand tut, er tut es aus
Nutzenerwägungen. Eine solche Theorie erklärt buchstäblich nichts, sie kann überhaupt nicht
falsifiziert werden. Damit ist aber der naturwissenschaftliche Anspruch, den Homans erhoben hatte,
in seiner eigenen Theorie gerade nicht verwirklicht worden. Seine vehemente Kritik am fehlenden
explanatorischen Gehalt der Parsonsschen Theorie klingt vor diesem Hintergrund dann doch etwas
hohl.
Hinzu kommt, daß die Basis der Homansschen Theorie – nämlich die behavioristische
Psychologie – in ihrer eigenen Disziplin stark an Einfluß und Prestige verloren hat, weil sich die
damit zu erzielenden Erkenntnisse als begrenzt erwiesen haben: Die Annahme einer fortwährenden
Nutzenmaximierung – sei es von Tieren oder von Menschen – war letztlich nicht besonders
realitätstauglich zur Beschreibung des jeweiligen Verhaltens bzw. Handelns. In der Psychologie
haben sich andere Ansätze durchgesetzt, und selbst für die Analyse tierischen Verhaltens gibt es
überlegene Alternativen (z. B. in der »verstehenden« Verhaltensforschung von Konrad Lorenz u. a.).
Freilich ist die Schlüssel-Annahme des Utilitarismus aber auch nicht völlig verschwunden, sie
scheint zum Teil »aus-« oder »abgewandert« zu sein in die Disziplinen oder Subdisziplinen der
Soziobiologie und der Genetik. Ausgehend von der darwinistischen Idee der Auslese nimmt man dort
an, daß sich letztlich die Organismen durchsetzen werden, die ihre »reproduktive Fitneß«
maximieren, die sich gegen andere Organismen oder andere Arten behaupten, die also – in Relation
gesehen – die meisten überlebenden Nachkommen produzieren können. Insofern tauchte dann die
Rede von »egoistischen Genen« auf. Aber erstaunlich parallel zur oben geschilderten Debatte um das
Nutzenkonzept im Neo-Utilitarismus ergab sich auch in diesen Disziplinen bald die Frage, warum es
überhaupt »altruistisches« Verhalten – etwa im Bereich der Brutpflege 159oder der Fürsorge
gegenüber »Verwandten« – geben kann. Und wiederum in erstaunlicher Parallelität zur
sozialwissenschaftlichen Diskussion sah die Antwort fast strukturgleich aus, insofern man
festzustellen meinte, daß solches altruistische Verhalten immer dann entstehe, wenn es zumindest
langfristig die »reproduktive Fitneß« der Art erhöht, womit man den Altruismus wiederum »elegant«
auf den genetischen Egoismus zurückgeführt hatte. – All dies ist wenig überzeugend. Da aber der
Einfluß der Soziobiologie und der Bevölkerungsgenetik auf die Soziologie noch immer eher gering
ist, brauchen uns diese Fragen hier nicht weiter zu beschäftigen. Entscheidend ist nämlich nicht, ob
die Rede von »egoistischen Genen« wirklich sinnvoll ist. Wichtiger für die soziologische Theorie ist
in diesem Zusammenhang eher die Frage, wie sehr die Gene das menschliche Handeln tatsächlich
beeinflussen. Die bisherigen von der Soziobiologie vorgelegten Erkenntnisse deuten jedenfalls nicht
darauf hin, daß die »traditionelle« Soziologie unbedingt einer stärkeren biologisch-genetischen
Fundierung bedürfte. Der ständigen Auseinandersetzung mit der Biologie und ihren
Erklärungsansprüchen bedarf sie aber sehr wohl.
Schließlich – und dies ist nun der letzte Hinweis auf die Problematik der Homansschen Theorie –
kann man auch fragen, ob die von ihm betriebene radikale Mikrofundierung der Soziologie, seine
Rückführung komplexer soziologischer Sachverhalte auf das (von ihm rein psychologisch gedeutete)
Handeln von Individuen, wirklich so durchführbar ist. Denn allzu offensichtlich ist, daß das scheinbar
so »elementare Verhalten« in Mikrosituationen immer schon von institutionellen Vorgaben bestimmt
ist, von unterschwellig geltenden Normen und Erwartungen, von gesellschaftlich geprägten
Orientierungsmustern usw., die nicht ohne weiteres wieder auf das Handeln von Individuen
zurückzuführen sind. Franz Fühmanns Erzählung »Drei nackte Männer« – bezüglich der
soziologischen Aussage quasi das Gegenstück zu Gottfried Kellers Novelle »Kleider machen Leute«
– verdeutlicht dies sehr schön. Bei Fühmanns Beschreibung einer Situation in der Sauna wird gezeigt,
wie sich selbst im Zustand der Nacktheit, in dem es keine äußeren Anzeichen für Macht- und
Herrschaftsverhältnisse gibt – schließlich sind in der Sauna ja alle nackt und damit gleich, womit wir
»elementares Verhalten« in seiner Reinform vorliegen hätten –, die außerhalb der Sauna herrschenden
Strukturen durch subtile Herrschafts- und 160Unterordnungsrituale sofort wieder reproduzieren: Über
die Witze des Höhergestellten wird bereitwilliger gelacht – selbst unter diesen Bedingungen. Eine
radikale Mikroreduktion läßt sich also kaum durchführen, d. h., Mikrosituationen lassen sich ohne
Rückbezug auf Makrostrukturen nicht begreifen. Auch an diesem von ihm selbst erhobenen
theoretischen Anspruch scheitert also Homans: Die von ihm beschriebenen »Elementarformen«
sozialen Verhaltens sind so elementar letztlich doch nicht – zu groß ist der »Verdacht, daß auch
Tauschbeziehungen normengeleitet sind und tauschförmige Ordnungen ohne institutionelle und
normativ abgesicherte Gerüste (wie etwa die Norm: ›Verträge müssen eingehalten werden‹) keinen
Bestand haben« (Wiesenthal, »Rational Choice«, S. 436). Wenn man jedoch Institutionen für den
reibungslosen Ablauf von Tauschhandlungen immer schon voraussetzen muß, dann wird wirklich
fraglich, ob – wie Homans noch meinte – das Problem der Entstehung von Institutionen mit den
gleichen Mitteln zu lösen ist wie dasjenige des Funktionierens dieser Institutionen (ibid.).

Angesichts all dieser intellektuellen und theoretischen Schwierigkeiten ist es kein Wunder, daß die
Tausch- oder Austauschtheorie, so wie sie ursprünglich von Homans entwickelt wurde, nicht wirklich
fortgesetzt werden konnte. Dies zeigte sich etwa anhand des theoretischen Werkes von Peter M. Blau
(1918-2002), einem auch empirisch enorm produktiven Forscher vor allem im Bereich der
Organisationssoziologie und der Soziologie sozialer Ungleichheit, der aber auch weitergehende
theoretische Ambitionen hatte. Blau veröffentlichte 1964 ein solches theoretisches Werk mit dem Titel
Exchange and Power in Social Life, womit er schon im Titel das von Homans geprägte Etikett
»Austauschtheorie« explizit aufgriff, selbst wenn bzgl. dieses Ansatzes in der Soziologie oft auch von
»verhaltenstheoretischer Soziologie« gesprochen werden sollte. Zwar arbeitete Blau, der sich u. a.
auf Homans bezog, einige von dessen Prämissen noch weiter aus: auch er bezog sich auf
Austauschprozesse zwischen Individuen, und er ging sogar über Homans dahingehend hinaus, daß er
– was dieser vernachlässigt hatte – aufzeigte, wie sich aus Austauschprozessen Macht- und
Herrschaftsbeziehungen reproduzieren: »While reciprocal services create an interdependence that
balances power, unilateral dependence on services maintains an imbalance of power.« (Blau,
Exchange and Power in Social Life, S. 29; zu einer ähn161lichen Perspektive, die in etwa zur
gleichen Zeit entwickelt wurde, vgl. Richard M. Emerson, »Power-Dependence Relations«.) Doch
gleichzeitig nahm Blau auch von wesentlichen Homansschen Prämissen Abstand: eine derart radikale
Mikrofundierung bzw. Mikroreduktion, wie von Homans anvisiert, strebte er nicht mehr an, weil er
erkannte, daß sich nicht alle sozialen Strukturen auf individuelles Verhalten zurückführen lassen;
insofern verweigerte er sich dann auch konsequenterweise einem psychologischen Reduktionismus. In
diesem Sinne war er sogar bereit, die positive Bedeutung von gewissen Werten für soziale Prozesse
anzuerkennen, ohne daß dieser Wertekonsens wie bei Homans sofort wieder auf Nutzenkalküle
zurückgeführt worden wäre. Dies verweist dann auch schon darauf, daß er das Nutzen- bzw.
Belohnungstheorem wesentlich weniger radikal als Homans sah: Blau sprach sowohl von
»extrinsischen« wie auch von »intrinsischen« Gütern, also solchen, bei denen nicht eine unmittelbar
materielle Gegenleistung erfordert wird, so daß er das enge nutzenorientierte Handlungsmodell von
Homans doch deutlich hinter sich ließ: »In intrinsic love attachments (…) each individual furnishes
rewards to the other not to receive proportionate extrinsic benefits in return but to express and
confirm his own commitment and to promote the other’s growing commitment to the association.«
(Blau, Exchange and Power in Social Life, S. 77)
Aber all diese Korrekturen am ursprünglichen Homansschen Theorierahmen, so notwendig und
sinnvoll sie waren, haben letztlich auch dazu geführt, daß der Ansatz an Trennschärfe gegenüber
anderen theoretischen Strömungen, auch gegenüber dem Parsonianismus, einbüßte. Der Ansatz wurde
fast zwangsweise »verwässert«. Durch die Lektüre der Blauschen Analysen konnte man zwar
interessante Einsichten in die Merkwürdigkeiten und Formen sozialer Interaktion gewinnen. Da aber
in Exchange and Power in Social Life ein häufig angeführter Gewährsmann der Klassiker Georg
Simmel war, mußte man sich gleichzeitig immer wieder fragen, ob derartige Analysen nicht
mindestens ebensogut mit Hilfe einer anderen Theoriesprache als der des Tausches vorgenommen
werden könnten. Die bei Blau bis heute nie ganz geklärte Verquickung (vgl. Müller, Sozialstruktur
und Lebensstile, S. 71 ff.) zwischen dem auf dem Homansschen Erbe aufbauenden Bestreben nach
quasi-naturwissenschaftlicher Theoriebildung einerseits und der Hereinnahme höchst
unterschiedlicher theoretischer Aspekte und Kategorien an162dererseits (siehe etwa den ständigen
Verweis auf Simmel) war letztlich dafür verantwortlich, daß das Blausche Theorieprogramm trotz
der zahlreichen sinnvollen Korrekturen gegenüber Homans’ Ansatz keine wirkliche Fortsetzung fand.
Es fällt schwer, heutzutage noch Austauschtheoretiker zu benennen, die ernsthaft behaupten können,
sie würden ein eigenständiges und vor allem von anderen Ansätzen klar abgesetztes
Theorieprogramm verfolgen. Das Homanssche Erbe erwies sich also als eine Sackgasse – was
freilich keineswegs für das Projekt des Neo-Utilitarismus insgesamt gilt.

Spätestens Mitte der 1960er Jahre begann sich nämlich der Aufstieg einer anderen Variante des Neo-
Utilitarismus innerhalb der Soziologie abzuzeichnen, einer Theorierichtung, die man mit den Etiketten
»Rational Choice«, »Rational Action« bzw. »Theorie rationaler Wahl« versah. Der Ausgangspunkt
war ein anderer als beim Homansschen Projekt. Denn hier wurde vor allem danach gefragt, wie es
überhaupt denkbar ist, daß nutzenorientierte Individuen sich zu einer gemeinsamen Sache
zusammenschließen. Dies ist ein Anknüpfungspunkt an die Vertreter der politischen Philosophie und
des Gesellschaftsvertrages des 17. und 18. Jahrhunderts, die fragten: Welche Voraussetzungen müssen
gegeben sein, damit sich derart handelnde Individuen auf ein gemeinsames Handeln, etwa auf einen
Vertragsschluß, einlassen? Schon Parsons hatte ja diese Frage anhand des Hobbesschen Problems
diskutiert und als »Lösung« auf die Existenz von Normen und Werten verwiesen. Die Vertreter des
Neo-Utilitarismus gehen nicht diesen Weg; das Ordnungsproblem wurde von ihnen aus einer völlig
anderen Perspektive angegangen und stand zunächst auch nicht im Mittelpunkt ihrer Arbeit. Der Witz
ihrer Argumentation ist vielmehr, daß unter der modelltheoretischen – also nicht empirischen –
Annahme, daß alle Akteure nutzenorientiert handeln, demonstriert wird, welche oft paradoxen oder
kontra-intuitiven Makroprozesse oder gesamtgesellschaftlichen Folgen sich möglicherweise ergeben.
Vielleicht erscheint Ihnen dies alles sehr abstrakt, aber zum Glück können wir hier ein glänzend
geschriebenes Buch vorstellen, das relativ einfach zu lesen ist und das tatsächlich dafür
verantwortlich war, daß die oben von uns skizzierten abstrakten Fragen wieder verstärkt Eingang in
die Soziologie fanden. Die Rede ist von Mancur Olsons Buch Die Logik des kollektiven Handelns
(englisch: The Logic of Collective Action).
163Das 1965 erschienene Buch dieses amerikanischen Ökonomen (1932-1998) war deshalb so
eindrucksvoll, weil es mit einer weitverbreiteten Annahme bzgl. der Entstehung kollektiven
Handelns, also der Entstehung von Gruppen, Organisationen, Rebellionen, Revolutionen etc., brach.
Diese lautet etwa folgendermaßen: Aus gleichgerichteten Interessen, Zwecken und Zielen von
Individuen ergeben sich fast automatisch kollektive Handlungen oder Organisationsformen zur
Durchsetzung dieser Interessen. Diese auf den ersten Blick plausible Annahme ist in
unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Theorien, ganz prominent aber auch bei Marx oder im
Marxismus zu finden, etwa wenn dort unterstellt wird, daß aus dem Vorhandensein unterschiedlicher,
aber eben innerhalb der jeweiligen Klasse gleichgerichteter Interessen zwischen Proletariern auf der
einen und Kapitalisten auf der anderen Seite der organisierte Klassenkampf folgt, in dem die
vereinigten Proletarier aus einem gemeinsamen Interesse heraus die kapitalistische Ordnung zu
stürzen und die Kapitalisten diese zu verteidigen suchen.
Wer so argumentiert (zur Ehrenrettung von Marx muß man freilich sagen, daß dieser zwischen
»Klasse an sich« und »Klasse für sich« sehr wohl unterschied), wer also kollektives Handeln aus der
nutzenorientierten Verfolgung der Interessen individueller Akteure ableiten will, der hat, so Olson,
ein Problem. Denn tatsächlich läßt sich zeigen, daß – in der eindrucksvollen Beschreibung des
französischen Soziologen Raymond Boudon –
an unstructured group of persons with a common interest, aware of this interest and having the means to realise it, will in fact under a
very wide range of different conditions do nothing to promote it. Community of interest, even when quite conscious, is not in itself enough
to bring about the shared action that would advance the general interest. The logic of collective action and the logic of individual action
are two very different things. (Boudon, The Unintended Consequences of Social Action, S. 30)

Warum ist das aber der Fall, warum ist trotz anscheinend äußerst günstiger Bedingungen kollektives
Handeln unter der Annahme individueller Vorteilskalkulation so unwahrscheinlich, wenn auch nicht
ganz unmöglich? Der Grund ist einfach der, daß sich bei Kollektivgütern oder sogenannten
»öffentlichen Gütern« immer das Problem des »Trittbrettfahrers«, des »free rider«, auftut. Öffentliche
Güter oder Kollektivgüter sind solche Güter, von deren Nutzung 164niemand bzw. kaum jemand
ausgeschlossen werden kann. Beispiel für ein solches Gut ist etwa »saubere Luft«, weil dieses Gut
tatsächlich jeder nutzen kann; zu denken ist aber auch an das Gut »militärische Sicherheit«, weil
davon in einem Nationalstaat nicht nur einige, sondern im Prinzip alle profitieren. Man kann hier noch
eine ganze Reihe weiterer solcher öffentlichen Güter aufzählen wie wissenschaftliche Erkenntnisse,
das Kulturerbe eines Landes, die verkehrstechnische Infrastruktur einer Nation etc. Und bezogen auf
die Klasse der Proletarier wäre ein solches Kollektivgut etwa in der Perspektive des Marxismus die
geglückte Revolution, von der alle Proletarier (und nicht nur einige oder die Mehrheit) in
erheblichem Ausmaß profitieren. Die Bereitstellung all dieser öffentlichen Güter weist allerdings nun
eine Besonderheit auf: Sie werden nämlich zur Verfügung gestellt, ohne daß es auf den Beitrag des
einzelnen wirklich ankommt. Alle schätzen »saubere Luft«, auch ich als Bürger der Bundesrepublik
Deutschland tue dies. Gleichzeitig weiß ich aber auch, daß mein Beitrag zur Luftreinhaltung oder
eben zur Luftverschmutzung relativ gering ist. Ob ich mich umweltgerecht verhalte, ändert nichts oder
nur wenig an der Gesamtqualität der Luft in unserem Lande. Aber weil ich dies weiß, kommen nun
ganz simple Nutzenüberlegungen ins Spiel: Da ich von dem öffentlichen Gut »saubere Luft«
unabhängig von meinem eigenen Beitrag profitiere, mache ich mir nun nicht mehr die Mühe, mich
umweltgerecht zu verhalten: Ich fahre eben ein Auto, das 20 Liter Benzin auf 100 km verbraucht, weil
es mich viel zu viel Geld, Anstrengungen etc. kosten würde, auf ein umweltschonenderes Modell
umzusteigen. Gleichzeitig rechne ich aber damit, daß alle anderen sich umweltgerecht verhalten, also
die Luft schon nicht verschmutzen werden. Ich agiere somit als »Trittbrettfahrer«, nehme die Vorteile
des »öffentlichen Gutes« mit, ohne selbst etwas beizutragen, so wie der »Schwarzfahrer« in der U-
Bahn zwar den Nutzen des öffentlichen Verkehrs genießt, alle anderen dafür zahlen läßt, nur selbst
eben nicht bereit ist, Kosten zu tragen. Und in ähnlicher Weise stellt sich die Situation im Falle
gewerkschaftlichen Handelns dar: Selbstverständlich will ich als Arbeiter oder Angestellter von den
durch die Gewerkschaften durchgesetzten besseren Arbeitsbedingungen oder höheren Löhnen bzw.
Gehältern profitieren; doch gleichzeitig weiß ich, daß mein eigener Beitrag zum Erfolg
gewerkschaftlicher Strategien so gering ist, daß es auf mich persönlich gar nicht ankommt. Aus dieser
Überlegung 165folgt dann, daß es für mich zweckmäßiger und rationaler ist, mich an der
Gewerkschaftsarbeit nicht zu beteiligen und auch keine Beiträge zu zahlen. Denn auch als Nicht-
Gewerkschaftsmitglied fallen mir ja die Früchte der Arbeit der Gewerkschaften in den Schoß, weil
bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne ja für alle Beschäftigten durchgesetzt werden. Ich kann
also die Hoffnung hegen, daß mir die Früchte der Arbeit und des Risikos der anderen ohnehin zugute
kommen werden.
Der entscheidende Punkt bei all diesen Beispielen ist nun der, daß nicht nur ich so denken werde,
sondern daß auch alle anderen wahrscheinlich so denken. Daraus folgt dann das merkwürdige
Resultat, daß, obwohl alle Interesse an »sauberer Luft«, alle U-Bahn-Nutzer Interesse an einem
ausreichend finanzierten öffentlichen Verkehrswesen und alle Beschäftigten Interesse an einer starken
Gewerkschaft haben, diese Kollektivgüter, sofern alle nur nutzenorientiert handeln und keine neuen
Faktoren ins Spiel kommen, letztlich nie zur Verfügung gestellt werden. Dies ist natürlich eine
Einsicht von eminenter Bedeutung, denn die von Olson geschilderte Problematik taucht im Prinzip in
jeder Organisation auf, ist es doch ganz allgemein die Funktion von Organisationen, für ihre
Mitglieder öffentliche bzw. Kollektivgüter zur Verfügung zu stellen. Lassen wir Olson, der sich im
zitierten Buch sehr stark mit Gewerkschaften und ihren Organisationsschwierigkeiten
auseinandersetzt, zur Verdeutlichung der »Free-Rider-Problematik« selbst zu Wort kommen:
Das einzelne Mitglied einer typischen großen Organisation ist in [folgender] Lage: Seine eigenen Anstrengungen werden keinen
merklichen Einfluß auf die Situation seiner Organisation haben; er selbst jedoch kann sich jeder Verbesserung erfreuen, die von den
anderen herbeigeführt wurde, gleichgültig ob er zur Unterstützung seiner Organisation beigetragen hat oder nicht. (Olson, Die Logik
kollektiven Handelns, S. 15)

Wenn man diese Olsonsche Einsicht akzeptiert, dann ergeben sich tatsächlich neuartige
Forschungsperspektiven: Der Fokus des Forschers richtet sich damit nicht mehr nur ausschließlich auf
soziale Probleme und die daraus resultierenden, scheinbar objektiven Interessenlagen – denn Olson
hat ja gezeigt, daß aus gemeinsam erlebten sozialen Problemen und identischen Interessen noch nicht
automatisch kollektive Handlungen folgen. Gefragt wird statt dessen verstärkt danach – und diese
Aufgabe versuchte Olson selbst in seinem 166Buch anzugehen, und sie wurde dann in diesem Strang
des Neo-Utilitarismus weiterverfolgt –, warum überhaupt bestimmte Individuen zur Erreichung eines
kollektiven Gutes tätig oder aktiv werden und welche sozialen Strukturen gemeinsames Handeln für
einen gemeinsamen Zweck wahrscheinlich machen.
Olson selbst lieferte mehrere Antworten auf diese Fragen, wobei er eben herauszufinden versuchte,
welche Umstände der »Free-Rider-Problematik« in einer Organisation entgegenwirken, so daß aus
gemeinsamen Interessen auch ein gemeinsames Handeln entsteht. Denn natürlich weiß Olson, daß es
Revolutionen gab, daß Organisationen gerade in der modernen Welt eine enorme Rolle spielen, kurz:
daß kollektives Handeln in der Realität häufig genug vorkommt. Also: Welche Umstände sind
entscheidend?
1. Es gibt laut Olson einen fundamentalen Unterschied zwischen mitgliederstarken und kleinen
Gruppen. In kleinen Gruppen ist der Beitrag, den jeder einzelne zur Erreichung des Kollektivgutes,
also eines Gruppenziels, leisten kann, vergleichsweise groß – und zwar um so größer, je kleiner die
Gruppe ist. Insofern kann es hier für den einzelnen durchaus rational sein, sich mit relativ großem
Kostenaufwand für ein wertvolles Kollektivgut einzusetzen, selbst wenn er damit rechnen muß, daß
sich einige andere »drücken« werden. Denn allein der eigene Beitrag verspricht in kleinen Gruppen
schon gute Aussichten auf die Bereitstellung eines hochgeschätzten Kollektivguts:
In einer sehr kleinen Gruppe, in der jedes Mitglied einen beachtlichen Bruchteil des Gesamtgewinns erhält, einfach deshalb, weil wenige
andere in der Gruppe sind, kann daher ein Kollektivgut oft durch freiwilliges, eigennütziges Handeln der Gruppenmitglieder bereitgestellt
werden. (Olson, a.a.O., S. 32/33)

Je größer die Gruppe aber wird, desto unwahrscheinlicher wird es, daß das Handeln eines einzelnen
wesentlich zur Bereitstellung des Kollektivgutes beiträgt. Die Chance auf kollektives Handeln sinkt
damit. Hinzu kommt, daß es in kleinen Gruppen wesentlich leichter als in großen fällt, die einzelnen
Mitglieder zu »überwachen«. Das heißt, in kleinen Gruppen ist das Handeln der Individuen eher
sichtbar, man weiß immer, was der andere tut. Dies bedeutet dann aber auch, daß eine Art sozialer
Kontrolle existiert, die es »Trittbrettfahrern« einigermaßen schwermacht, so daß man hier mehr dazu
167bereit ist bzw. gezwungen wird, sich für die Bereitstellung des Kollektivgutes zu engagieren.
Aber auch für größere Gruppen gilt natürlich: Je stärker dort der potentielle »Free Rider« auffallen
würde, desto höher werden die Chancen, daß das gemeinsame Ziel verfolgt wird. Dies können
größere Organisationen beispielsweise dadurch steuern, daß sie dezentrale Einheiten bzw.
Untereinheiten schaffen, quasi-föderative Strukturen also, in denen sich die Mitglieder dann besser
wechselseitig kontrollieren oder beaufsichtigen können als in einer unstrukturierten riesigen
Institution.
2. Gruppen, Organisationen usw. sind zumeist in der Lage, die von den Mitgliedern geforderten
Beiträge mittels Zwang einzufordern. Dies ist zum Beispiel der Fall bei den staatlichen Steuern. Denn
natürlich genießen alle Bürger die mittels des staatlichen Steueraufkommens finanzierten kollektiven
Güter, von der Wasserversorgung bis hin zu den Autobahnen. Auch hier besteht eine große
Versuchung, als »Trittbrettfahrer« zu agieren und Steuern lieber nicht zu zahlen, weil die bescheidene
Steuersumme des einzelnen etwa zum Bau einer ganzen Autobahn nur sehr unwesentlich beiträgt und
alle anderen ihre Steuern schon zahlen werden. Im Endergebnis würde aber jeder so denken und
damit jeder auch das Steuerzahlen verweigern. Deshalb kann sich der Staat hier nicht auf die
Freiwilligkeit der Bürger verlassen, sondern er muß das Zahlen von Steuern überwachen und diese
gegebenenfalls mit Zwang eintreiben, Steuerbetrug mit Geldbußen oder Gefängnis bestrafen etc. In
ähnlicher Weise haben auch nicht-staatliche Organisationen bestimmte Zwangsmittel zur Verfügung
wie etwa den Ausschluß bzw. die Androhung des Ausschlusses aus der Organisation, so daß das
bereitgestellte Kollektivgut dem ehemaligen Mitglied nun nicht mehr zur Verfügung gestellt werden
würde. Oder – dies wäre der andere Weg – Organisationen versuchen zu erreichen, daß für den
Bereich, in dem sie agieren, Zwangsmitgliedschaft vorgeschrieben wird. Dies ist beispielsweise
dann der Fall, wenn es Gewerkschaften gelingt, ein sogenanntes »closed shop«-System durchzusetzen,
was bedeutet, daß in einem Betrieb nur Gewerkschaftsmitglieder arbeiten dürfen. Auch damit läßt
sich natürlich die »Trittbrettfahrer«-Problematik in den Griff bekommen, weil so die Mitgliedschaft
in einer Gewerkschaft und damit das Zahlen von Gewerkschaftsbeiträgen unmittelbar an einen
Arbeitsplatz gekoppelt ist. Olson vertritt dabei eine Auffassung, die dem bei nicht wenigen
Sozialwissenschaftlern 168vorhandenen Vorurteil, wonach Rational-Choice-Theoretiker in jeglicher
Hinsicht eingefleischte Liberale seien, deutlich widerspricht. So gesteht Olson den Gewerkschaften
das Ergreifen von Zwangsmaßnahmen durchaus zu; sie seien legitime Mittel, um sicherzustellen, daß
Gewerkschaften »ihr« Kollektivgut tatsächlich auch effektiv zur Verfügung stellen könnten. Für Olson
beruht
das gängige Credo, nach dem Gewerkschaften nicht die Macht haben sollten, Zwang auszuüben, weil sie private Vereinigungen seien und
die Ausweitung des öffentlichen Sektors unvermeidlich einen Verlust an wirtschaftlicher Freiheit mit sich bringe, auf einer irrigen
Auffassung (…). (A.a.O., S. 96)

3. In nicht wenigen Organisationen werden zudem sogenannte »sekundäre Vorteile« bzw. »selektive
Anreize« angeboten, um die Mitglieder zum Verbleib in der Organisation und zur Bereitstellung ihres
Beitrags zu motivieren. So bieten etwa Gewerkschaften ihren Mitgliedern Rechtsschutz,
Erholungsfahrten, verbilligte Bücher über gewerkschaftseigene Buchclubs etc., um das
Trittbrettfahrerproblem auf eine andere Weise in den Griff zu kriegen. Denn die durch die
Gewerkschaften ausgehandelten Lohnsteigerungen kommen allen Beschäftigten, nicht nur den
beschäftigten Gewerkschaftsmitgliedern, zugute. Dieser Quasi-Einladung zum kostenlosen
Konsumieren eines Kollektivgutes, zum »Trittbrettfahren« also, versuchen die Gewerkschaften
dadurch entgegenzuwirken, daß sie zusätzliche, nämlich nicht-öffentliche Güter anbieten, die
ausschließlich für Gewerkschaftsmitglieder reserviert sind, wie eben Rechtsschutz, vergünstigte
Bücher etc. Dadurch erhöht sich der Anreiz, in der Gewerkschaft zu verbleiben bzw. in sie
einzutreten.

Aus der Olsonschen Theorie haben sich in der Folge eine ganze Reihe von Untersuchungsthemen und
theoretisch interessanten Schlußfolgerungen ergeben. Olson selbst hatte bereits angemerkt, daß die
sogenannte pluralistische Demokratietheorie, der zufolge innerhalb eines demokratisch verfaßten
Gemeinwesens alle Gruppen mehr oder minder gleiche Chancen hätten, ihrem Anliegen Gehör zu
verschaffen, vor allem deshalb falsch sei, weil verschiedene Gruppen höchst unterschiedliche
Schwierigkeiten haben, sich dauerhaft zu organisieren. Allein schon die Gruppengröße bedinge, daß
relativ kleine Gruppen besser in der Lage sind, sich auf freiwilliger Basis zu organi169sieren – daß
es also kleinen Gruppen leichter fällt, sich in der Öffentlichkeit wirksam zu artikulieren (Olson,
a.a.O., S. 125). Diese Thematik wurde beispielsweise dahingehend fortgeführt, daß man die
unterschiedlichen Organisationsbedingungen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern untersuchte: In
einem auf Olsonschen Gedanken aufbauenden, allerdings weit darüber hinausgehenden Aufsatz (»Two
Logics of Collective Action«), der keinesfalls nur Theoreme der Rational-Choice-Theorie
verwendet, haben etwa die beiden deutschen Soziologen und Politikwissenschaftler Claus Offe (geb.
1940) und Helmut Wiesenthal (geb. 1938) auf die Tatsache verwiesen, daß das
Organisationsverhalten von Arbeitnehmern notwendig auf völlig anderen Prinzipien aufbauen muß als
dasjenige der Arbeitgeber, weil hier unterschiedliche Gruppengrößen vorliegen, aber auch
unterschiedliche Möglichkeiten der Mitgliedermobilisierung. – Mit dem bei Olson zu findenden
theoretischen Instrumentarium läßt sich auch das vom deutschen Soziologen Robert Michels (1876-
1936) formulierte »eherne Gesetz der Oligarchie« besser begreifen, wonach jegliche, auch die
demokratischste Organisation dazu tendiert, Herrschaftsstrukturen aufzubauen, durch die die
Organisationsspitzen in der Lage sind, sich den Ansprüchen und Kontrollbemühungen »normaler«
Mitglieder zu entziehen und damit diesen Mitgliedern, die laut Verfassung oder Satzung die
Organisationspolitik ja eigentlich bestimmen sollen, ihre Vorstellungen aufzudrücken. Wie ein
prominenter französischer Vertreter des Rational-Choice-Ansatzes formulierte, führt schon das
unterschiedliche Zahlenverhältnis zwischen (vielen und damit schwer zu organisierenden)
Mitgliedern und (wenigen) Organisationsfunktionären dazu, daß
when the organization representing the constituents pursues a politics that clearly diverges from their interests, they are in most
circumstances incapable of expressing their opposition to what is happening. (Boudon, The Unintended Consequences of Social
Action, S. 35)

Bei der Analyse sozialer Bewegungen und von Revolutionen wurden schließlich Teile der
Olsonschen Argumentation verwendet, um auf bestimmte beschleunigende Effekte im Bereich des
kollektiven Handelns aufmerksam zu machen. So hat der deutsche Rational-Choice-Theoretiker Karl-
Dieter Opp (geb. 1937) darauf hingewiesen (»DDR ’89. Zu den Ursachen einer spontanen
Revolution«), 170daß sich die Kostenstruktur von Individuen in revolutionären Bewegungen
dramatisch ändern kann, wenn die Bewegung erst einmal eine bestimmte Größe erreicht hat: Zwar
könnte man sagen, daß es bei einer bestimmten Größe einer revolutionären Bewegung ohnehin nicht
mehr darauf ankommt, ob ich als einzelner mitdemonstriere, mitkämpfe usw., weil mein Beitrag zum
möglichen Erfolg der Bewegung gering ist. Insofern werde ich mich rational dafür entscheiden,
»daheim zu bleiben«. Doch gleichzeitig sinken natürlich auch die Kosten für den einzelnen, an der
revolutionären Bewegung teilzunehmen, weil es in der Masse leichter ist, gegenüber dem wachsamen
Auge des Staates zu verschwinden, bzw. weil es dem Staat dann gar nicht mehr möglich ist, eine
riesenhafte Zahl von Protestierenden und Demonstranten zu bestrafen. Die Leipziger
Montagsdemonstrationen vor dem Sturz des DDR-Regimes lassen sich etwa unter diesem
Gesichtspunkt analysieren, weil die wachsende Zahl von Protestierenden sehr schnell immer weitere
Unzufriedene angezogen hat, deren Risiko einer individuellen Bestrafung durch den Staat gleichzeitig
immer weiter absank. Es konnte sich also eine Art Eigendynamik entwickeln, weil sich durch die
wachsende Zahl der Demonstranten die Kostenstruktur oppositionellen Handelns dramatisch
veränderte, die Kosten sanken und die »Gewinnchancen« – auf eine Veränderung der politischen
Situation – deutlich stiegen.

Die Fruchtbarkeit des auf Olson aufbauenden Forschungsansatzes steht also – wie hier gezeigt – außer
Zweifel. Gleichzeitig ist aber ebensowenig zu übersehen, daß in dem Ansatz selbst erhebliche
theoretische Probleme stecken. Auch innerhalb der Rational-Choice-Theorie wird dies so gesehen:
So klärt Olson bei der Nennung der drei Bedingungen, die kollektives Handeln ermöglichen sollen,
nicht, wie es der Staat überhaupt schaffen kann, Zwang auszuüben, um etwa Steuern einzutreiben,
warum und wie sich die Bürger irgendwann einmal dieser Herrschaft unterworfen haben und noch
immer unterwerfen. Olson setzt also an diesem Punkt schon immer den Staat oder irgendeine
Zwangsgewalt voraus. Und auch sein Verweis auf die »selektiven Anreize« ist so überzeugend nicht,
weil es erstens empirisch nicht richtig ist, daß etwa der materielle Wert der Anreize in irgendeiner
Form die Lang- oder Kurzlebigkeit von Organisationen bestimmt oder erklärt, und zweitens ja auch
diese Anreize 171kollektiv produziert werden müssen und sich damit sofort die Frage stellt, wer sich
eigentlich bereit findet, diese Anreize zur Verfügung zu stellen: »If selective incentives have to be
produced in order to assure production of the joint good, then they are merely another kind of joint
good, one whose production must also be regarded as costly, and, therefore, problematic.« (Hechter,
Principles of Group Solidarity, S. 35/36) Der Verweis auf selektive Anreize – so Hechter –
verschiebt also lediglich das ursprüngliche Problem, warum sich kollektives Handeln überhaupt
ergeben kann, nach hinten. Natürlich kann man diese Defizite wiederum mit Mitteln der Rational-
Choice-Theorie zu beheben suchen – genau dies macht etwa Hechter –, aber all dies verweist schon
darauf, daß die auf den ersten Blick so elegante Theorie Olsons so einfach letztlich dann doch nicht
anzuwenden ist.
Ein wesentlich schwererer Einwand betrifft freilich die Frage des Anwendungsbereichs der
Olsonschen Theorie. Olson hatte ja sein Modell des nutzenorientierten Individuums eindeutig als
analytisches verstanden, gab er doch sofort zu, daß dieses für bestimmte empirische Sachverhalte wie
philanthropische oder etwa religiöse Phänomene völlig ungeeignet sei (Olson, Die Logik kollektiven
Handelns, S. 5, Fn. 6). Freilich beanspruchte er gleichzeitig aber auch, daß für einige oder sogar
viele Bereiche der Wirklichkeit – vor allem für das Umfeld wirtschaftlicher Organisationen – sein
Modell durchaus angewandt werden könne, eben weil man dort vom nutzenorientierten Handeln der
Individuen ausgehen müsse und auch unterstellen dürfe, daß die Organisationen tatsächlich in erster
Linie den Interessen ihrer Mitglieder dienten. Es ist nun freilich umstritten, welche Bereiche man zu
jenem »Umfeld« wirtschaftlicher Organisationen zählen kann. Denn man kann durchaus fragen, ob
sich etwa – wie dies Rational-Choice-Theoretiker in Ausweitung des Olsonschen Ansatzes tun –
wirklich die Entstehung von Revolutionen sinnvoll mit diesem theoretischen Instrumentarium
untersuchen läßt. Olson hatte ja die Revolutions- und Klassenkampftheorie von Marx lediglich
kritisiert, nicht jedoch selbst versucht, Revolutionen, Rebellionen oder soziale Bewegungen zu
analysieren, was insofern ja auffallend ist, als Olsons Buch genau zur Blütezeit der sozialen Proteste
der 1960er Jahre veröffentlicht wurde (vgl. Oliver/Marwell, »Whatever happened to Critical Mass
Theory«, S. 294). Und tatsächlich ist es auch extrem schwierig, wenn nicht gar un172plausibel, diese
Phänomene unter der Prämisse ausschließlich nutzen- oder zweckorientierter Individuen zu
untersuchen. Eigentlich spricht nämlich in einem solchen Fall alles gegen die Entstehung etwa von
Revolutionen – und doch finden sie statt: Denn, um es nochmals zu wiederholen, warum sollte ich
mich an Aktionen beteiligen, in denen jegliches Handeln nicht nur Geld und natürlich Zeit, sondern
auch das Leben kosten kann, in denen mein eigener Beitrag aber zugleich ziemlich unwesentlich ist?
Ja, selbst die Teilnahme an Wahlen ist für Rational-Choice-Theoretiker ein ziemliches Rätsel. Denn
es findet sich kaum eine Erklärung dafür, warum Menschen (noch immer) so zahlreich zur Wahl
gehen, obwohl sie doch genau wissen müßten, daß ihre Stimme kaum das Wahlergebnis wesentlich
beeinflussen dürfte. Warum nehmen sie also den mühseligen Weg ins Wahllokal auf sich und
verschwenden dabei noch ihre Zeit? Rational-Choice-Theoretiker müssen in diesem Fall immer
Normen zu Hilfe nehmen (oder einen unbedingten Glauben), die sie freilich unter dem Begriff der
Präferenzen oder der Nutzenmaximierung von Individuen eher wieder verschwinden lassen. Aber
dieser Ausgangspunkt ist an sich schon höchst unplausibel, so unplausibel wie jede radikal
individualistische Herangehensweise an soziale Phänomene, wie sie ja auch von Olson bevorzugt
wird. Denn der Ökonom Olson ging – wie konsequente Rational-Choice-Theoretiker generell –
immer davon aus, daß jedes Individuum für sich isolierte und unabhängige Entscheidungen darüber
trifft, ob es zu einem Kollektivgut beiträgt oder eben nicht. Gerade empirische Untersuchungen zu
Revolutionen haben aber immer wieder gezeigt, daß hier eher Gruppen agierten, soziale Netzwerke
existierten etc., in denen Entscheidungen von Individuen gefällt und ausschlaggebend geprägt wurden.
Die Nachfolger Olsons hingegen setzen Oppositionelle, Revolutionäre etc. mit Kunden von
Versandkaufhäusern gleich, die allein zu Hause auf dem Sofa die günstigsten Angebote studieren, um
von dieser bequemen Position aus ihren Nutzen genau abzuwägen und zu maximieren. Dies ist dann
auch die Kritik des sogenannten »Ressourcenmobilisierungsansatzes« innerhalb der Revolutions- und
Bewegungsforschung an der Rational-Choice-Theorie – eine Kritik, die man zum Teil noch unter der
Rubrik »Familienstreitigkeit« verbuchen kann. Denn dieser Ansatz bricht zwar an einer nicht
unwesentlichen Stelle mit »RationalChoice«, führt allerdings in anderer Hinsicht dieses Programm
173durchaus fort: Man kann auch davon sprechen, daß dem individualistisch-rationalistischen Ansatz
von »Rational-Choice« lediglich die kollektivistisch-rationalistische Perspektive entgegengestellt
wird, der zufolge die entscheidende Frage ist, wie es den Organisatoren sozialer Bewegungen gelingt,
knappe Ressourcen wie Geld und Zeit für die Ziele der Bewegung zu mobilisieren. Die Vertreter des
Ressourcenmobilisierungsansatzes (die Amerikaner Anthony Oberschall, Doug McAdam, John D.
McCarthy, Mayer N. Zald) erkennen an, daß der Ausgangspunkt von Bewegungen und Revolten oder
Revolutionen tatsächlich immer Gruppen waren. Solche kollektiven Großereignisse sind ohne den
(auch normativen) Zusammenhalt von Gruppen nicht vorstellbar, weil ansonsten das Problem des
Trittbrettfahrens auftaucht und die politische Unzufriedenheit der einzelnen nicht in kollektives
Handeln überführt wird. Insofern brechen die Ressourcenmobilisierungstheoretiker mit dem
individualistischen Rationalismus von »Rational Choice«, sie verfahren dann jedoch auf der Basis
rationalistischer Prämissen und behaupten, daß diese relativ stabilen Gruppen oder Kollektive ihr
Handeln durchaus in Abwägung von Kosten und Nutzenerwägungen ausrichten, etwa wenn sie
versuchen, sich gegen andere Gruppen durchzusetzen, den alten Staatsapparat zu stürzen etc. Unter
den Bedingungen eines schwachen Staatsapparates, so zumindest
Ressourcenmobilisierungstheoretiker, entstehen Revolutionen
in those societies and at those times when large numbers of groups, with strong allegiance from their individual members, have rational
expectations of positive net benefit from revolutionary or protest actions (…). (Goldstone, »Is Revolution Individually Rational?«,
S. 161; unsere Hervorh.)

Aber auch diese These eines klaren Gruppenrationalismus läßt sich natürlich in Zweifel ziehen – und
wir werden in der nächsten Vorlesung zum »Symbolischen Interaktionismus« einiges dazu hören.
Zunächst interessiert uns allerdings noch, was weiter aus dem Olsonschen Forschungsprogramm
wurde.

Gleichzeitig mit dem Erstarken der Rational-Choice-Theorien kam es auch zum Aufstieg der
sogenannten Spieltheorie. Diese Theorie strategischer Spiele, deren Grundlagen Ende des Zweiten
Weltkrieges entstanden, beschäftigt sich mit Situationen, in denen das Ergebnis des Handelns eines
jeden Teilnehmers unmittelbar von den 174Erwartungen abhängt, wie sich die anderen verhalten
werden. Was genau darunter zu verstehen ist, werden wir sogleich klären. Hier sei zunächst
vorweggeschickt, daß es sich um die analytisch-abstrakte Ausarbeitung einer rationalistischen
Handlungstheorie handelt, also einer Handlungstheorie, die sich den Prämissen des Neo-Utilitarismus
verschrieben hat. Es werden mehr oder minder künstliche Handlungssituationen mit zum Teil hoch
aufwendigen mathematischen Verfahren simuliert und analysiert, um die Handlungslogik rationaler
Akteure und die Ergebnisse ihres Zusammenhandelns modelltheoretisch darzustellen. Die
Spieltheorie kann insofern an die Olsonsche Theorie anknüpfen, als die Kollektivgutproblematik hier
nur noch einmal extrem verschärft wird. Das heißt, innerhalb der Spieltheorie beschäftigt man sich
mit Situationen, in denen das jeweilige isolierte individuelle rationale Handeln – wie das ja auch
schon von Olson gezeigt worden ist – zu suboptimalen kollektiven und individuellen Ergebnissen
führt. Und umgekehrt widerlegt die Spieltheorie in gleicher Weise wie das besprochene Buch von
Olson das Vorurteil, daß man aus der Möglichkeit der Erzielung eines kollektiven Nutzens auf die
Handlungen von Individuen rückschließen kann: selbst wenn der kollektive Nutzen scheinbar offen
zutage liegt, werden rationale Akteure nicht so handeln, daß dieser kollektive Nutzen tatsächlich auch
verwirklicht wird. Auch die Spieltheorie bricht also mit den Annahmen der klassischen
ökonomischen Theorie, die immer davon ausging, daß sich die Handlungen der Individuen (auf dem
Markt) quasi automatisch (durch die Smithsche »unsichtbare Hand«) zu optimalen Ergebnissen
aufsummieren.
Die in der Spieltheorie simulierten oder konstruierten je unterschiedlichen Situationen haben
meistens eigene, manchmal höchst merkwürdige oder witzige Namen – man findet dort das
»Versicherungsspiel« (»assurance game«) ebenso wie das »chicken game« oder das
»Gefangenendilemma« (»prisoner’s dilemma«). Letzteres ist das wohl berühmteste, weshalb es auch
immer wieder von Nicht-Spieltheoretikern oder gar von den Kritikern von »Rational Choice«
diskutiert wird. Wir möchten es Ihnen hier kurz vorstellen.
Es liegt folgende Situation vor (vgl. hierzu die nachvollziehbaren und auch für Nichtmathematiker
einsichtigen Ausführungen von Boudon, The Unintended Consequences of Social Action, S. 79 f.):
Zwei Personen werden verhaftet, die derselben gemeinsam begangenen Tat beschuldigt, aber getrennt
verhört werden, so daß sie keine 175Chance haben, untereinander Informationen auszutauschen. Der
Richter bietet ihnen vor Gericht folgende Optionen an, um sie zum Geständnis zu bewegen: jeder
erhält 5 Jahre Gefängnis, wenn beide gestehen, oder 2 Jahre, wenn keiner von ihnen gesteht. Wenn
aber nur einer gesteht, der andere jedoch nicht, dann wird der Geständige freigesprochen, während
der Nicht-Geständige 10 Jahre Gefängnis bekommt.
Für die Gefangenen, nennen wir sie Müller und Schmidt, ist dies eine verzwickte und merkwürdige
Lage. Denn was auch immer Müller tut, für ihn selbst ist es immer besser zu gestehen: Denn Müller
erhält 5 Jahre (anstatt von möglichen 10), wenn Schmidt gesteht, Freispruch, wenn Schmidt nicht
gesteht. Schmidts Überlegungen gehen natürlich in die gleiche Richtung: Wenn er nicht gesteht,
riskiert er 10 Jahre (dann nämlich, wenn gleichzeitig Müller gestehen sollte), gesteht er aber, so
erhält er entweder 5 Jahre (wenn Müller ebenfalls gesteht) oder einen Freispruch (falls Müller nicht
gesteht). Obwohl oder vielmehr weil beide, Müller und Schmidt, rational handeln und gestehen, ist
das Ergebnis für sie vergleichsweise schlecht oder suboptimal. Denn beide werden zu 5 Jahren
verurteilt, wohingegen es für sie möglich gewesen wäre, durch konsequentes Leugnen mit jeweils 2
Jahren davonzukommen. Graphisch sieht dies folgendermaßen aus, wobei die Zahl vor bzw. hinter
dem Schrägstrich auf die Zahl der Gefängnisjahre verweist, die bei gewählter Strategie auf Müller
bzw. Schmidt zukommen würden:
Vielleicht mag Ihnen all dies ziemlich gekünstelt erscheinen. Tatsächlich ist es dies auch, es sind ja
simulierte Situationen. Aber derartige Simulationen können nicht nur dazu dienen, um das schon von
Olson dargestellte Kooperationsproblem viel detaillierter und genauer zu analysieren, sondern auch
dazu, um durchaus reale Konfliktsituationen zu entwirren und Handlungsoptionen aufzuzeigen, die
ansonsten einfach verborgen oder zumindest unklar bleiben wür176den. Wie derartige Analysen auch
eingesetzt werden können, um beispielsweise die wechselseitige Verflochtenheit von kollektiven
Akteuren – etwa von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Staat – und die durch deren
Handeln produzierten und manchmal irrationalen Endergebnisse aufzuhellen, dies kann man
vorbildhaft bei Fritz Scharpf (geb. 1935) nachlesen (Interaktionsformen. Akteurzentrierter
Institutionalismus in der Politikforschung), der selbst nicht dem Rational-Choice-Ansatz
zuzurechnen ist, sondern spieltheoretische Argumente lediglich als Hilfswerkzeuge der Analyse
benutzt. In ähnlicher Weise läßt sich auch der Rüstungswettlauf von Großmächten untersuchen, weil
sich bei der Entscheidung zur weiteren Aufrüstung oder eben zur Abrüstung die Akteure in eine
ähnliche Lage versetzt sehen wie die Gefangenen Schmidt und Müller vor dem Richter; ihre jeweils
durchaus rationalen Entscheidungen können zu einem Ergebnis führen, das von außen betrachtet
suboptimal, also verbesserungswürdig ist.

Einige weitere prominente und besonders brillante Vertreter der Spieltheorie bzw. von Rational
Choice möchten wir Ihnen noch vorstellen. Thomas C. Schelling (geb. 1921), lange Zeit Professor für
politische Ökonomie in Harvard und 2005 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften
ausgezeichnet, hat bereits in den frühen 1960er Jahren Aufsehen erregt, als er unter Verwendung
spieltheoretischer Überlegungen ein Buch zur militärischen Strategie vorgelegt hat. The Strategy of
Conflict (1960) analysiert in brillanter Weise die Handlungsoptionen von Staaten, die sich
gegenüberstehen und – unter höchst unterschiedlichen Umständen bzw. mit höchst unterschiedlichen
Mitteln – sich mit Krieg bedroht haben und bedrohen. Wichtiger aber für unseren Zusammenhang ist
sein 1978 erschienenes Buch Micromotives and Macrobehavior, in dem er geradezu beispielhaft an
verschiedenen Phänomenen zeigt, wie »unschuldiges« individuelles Verhalten zu höchst fragwürdigen
kollektiven Konsequenzen auf der Makroebene führen kann. Schelling demonstriert dies mit Blick auf
das Phänomen ethnischer oder »rassischer« Segregation in Städten anhand eines simplen Modells
oder Spiels, das Sie übrigens selbst auch nachvollziehen können: Sie haben ein Schachbrett mit 64
Feldern und insgesamt 44 Münzen, davon 22 10-Cent- und 22 2-Cent-Münzen. Verteilen Sie diese
Münzen zunächst nach dem Zufallsprinzip auf den Feldern des Brettes. Ihre Aufgabe besteht 177nun
darin, die Münzen derart zu verschieben oder zu plazieren, daß möglichst keine Münze des einen
Münztyps so liegt, daß sie – räumlich gesehen – in der »Minderheit« wäre, also von den Münzen des
anderen Typs majorisiert würde. Das heißt, die Münzen des einen Typs dürfen nicht so gelegt werden,
daß sie umgeben sind von Münzen des anderen Typs; es darf also zu keiner wirklichen ›Minderheit‹
in einem Bereich des Brettes kommen. Sie können diese Münzen unter Beachtung dieser Regel auf
dem Brett beliebig oft hin und her schieben, immer ergeben sich Muster mit einer hohen
Zusammenballung der Münzen des einen Typs. Übertragen auf das Phänomen ethnischer oder
»rassischer« Segregation in Städten bedeutet dies, daß Menschen, selbst wenn sie nicht rassistisch
sind und deshalb auch nicht räumlich abgegrenzt von anderen ethnischen Gruppen leben wollen, wenn
sie also nur vermeiden wollen, zu einer (zahlenmäßigen) Minderheit in ihrer unmittelbaren
Nachbarschaft zu werden, durch ihr daraufhin einsetzendes Umzugs- und Wanderungsverhalten ein
Muster aggregieren, das hochgradig segregationistisch ist. D. h., aus dem »unschuldigen« Verhalten
von Individuen können sich durch Aggregationseffekte sogenannte »perverse Effekte« ergeben,
Wirkungen, die so niemand gewollt hat. Raymond Boudon (geb. 1934) hat aus der Allgegenwart von
solchen Effekten bzw. unintendierten Handlungskonsequenzen interessante Schlußfolgerungen im
Hinblick auf eine Theorie des sozialen Wandels gezogen. Denn diese Allgegenwart nicht-gewollter
Handlungsfolgen widerspricht der in der Soziologie allzu häufig zu findenden Annahme eines
unilinearen Geschichtsprozesses ebensosehr wie sie gegenüber allen Versuchen, die Gesellschaft
wirklich zu planen, skeptisch macht (Boudon, The Unintended Consequences of Social Action,
S. 7 ff.).
Der norwegische Philosoph und Politikwissenschaftler Jon Elster (geb. 1940) beschäftigt sich
weniger mit den aggregierten Konsequenzen individuellen Handelns als mit diesem individuellen
Handeln selbst. Elster buchstabierte im Detail aus, welche unterschiedlichen Formen rationales
Handeln annehmen kann und was mit rationalen Mitteln überhaupt zu erreichen ist. So zeigte Elster in
einem mit dem bezeichnenden Titel »Unvollständige Rationalität: Odysseus und die Sirenen«
versehenen Essay (in seinem Buch Subversion der Rationalität) auf, welche
Selbstbindungsmechanismen Akteure anwenden können, um sich gegen die mögliche Irrationalität des
eigenen zukünftigen Verhaltens abzusichern. So wie sich 178Odysseus von seiner Mannschaft an den
Mast des Schiffes binden ließ, um den Gesang der Sirenen hören zu können, ohne ihrer tödlichen
Verführung zu erliegen, so entwickeln individuelle und auch kollektive Akteure Selbstbindungen:
Gesellschaften geben sich etwa Verfassungen, um bestimmte Verfahren zu regeln und um sich selbst
für die Zukunft zu binden, so daß dann nicht mehr alle Handlungsoptionen offen sind. Elster zeigte
aber auch, daß verschiedene Ziele nicht rational erreich- oder herstellbar sind: Es ist z. B. nicht
möglich, Spontaneität herzustellen. Die Aufforderung »Sei jetzt spontan!« kann keinen Erfolg haben,
weil Spontaneität höchstens ein Nebenprodukt von anderen Tätigkeiten ist, aber eben nicht selbst
gewollt werden kann, weil damit die Spontaneität zunichte gemacht werden würde. Ähnlich verhält
es sich mit dem Einschlafen, das eben gerade dann nie wirklich gelingt, wenn man es unbedingt will.
Daneben hat sich Elster als scharfer Funktionalismus-Kritiker einen Namen gemacht, der mit
unglaublichem Spürsinn bei verschiedenen durchaus prominenten Soziologen die Verwendung
sogenannter funktionalistischer Erklärungen nachgewiesen hat, die eben keine Erklärungen sind,
sondern meistens nur Vermutungen, vage Unterstellungen usw. (vgl. auch die Dritte Vorlesung). Bei
Elster macht sich allerdings auch schon eine zunehmende Skepsis hinsichtlich der Fruchtbarkeit des
Rational-Choice-Ansatzes selbst bemerkbar. In der Entwicklung seines Werkes läßt sich ein
schrittweises Entdecken der Bedeutung des Normativen beobachten, so daß man davon sprechen
kann, daß er den Weg, den auch schon einige der soziologischen Klassiker durchschritten haben – von
der Ökonomie zur Soziologie –, nochmals durchläuft. Ein gewisser Endpunkt dieses Weges zeigt sich
in Elsters Buch (Alchemies of the Mind. Rationality and the Emotions), in dem er durch den
Rückgriff auf die Soziologie und Psychologie der Emotionen die Sozialwissenschaften auf
sozialpsychologischer Grundlage aufzubauen versucht. Von dem aus der Ökonomie stammenden
Modell des nutzenorientierten Handelns ist hier nicht mehr viel übriggeblieben.
Derart »defätistische« Züge waren im Werk des großen Chicagoer Soziologen James C. Coleman
(1926-1995) nie zu finden. Coleman war der Vertreter von »Rational-Choice« in den USA; er
verband seine Überlegungen zum sozialen Handeln zudem noch mit einer interessanten
gesellschaftstheoretischen These. Coleman hat eindringlich darauf aufmerksam gemacht, daß
heutzutage korporative 179Akteure (Organisationen) die Handlungsdynamik in Gesellschaften
bestimmen und daß demgegenüber das Handeln von Individuen neu zu bewerten sei, weil diese
Individuen entweder schon immer in Organisationen eingebunden sind oder in ihrem Handeln solchen
Organisationen gegenüberstehen (vgl. Coleman, The Asymmetric Society; dt: Die asymmetrische
Gesellschaft: Vom Aufwachsen mit unpersönlichen Systemen). Theoretisch war Coleman insofern
besonders innovativ, als er sich als einer der ersten aus dem neo-utilitaristischen Lager bemühte, die
Entstehung von Normen aufzuhellen. Für Neo-Utilitaristen jeglicher Couleur waren ja Normen
immer so etwas wie ein schwer zu klärendes Phänomen, mit dem man – wenn man es nicht sogar ganz
leugnete – irgendwie rechnen mußte, das man aber mit den in dieser Theorie zulässigen bzw. zur
Verfügung stehenden Mitteln auch nicht wirklich aufklären konnte. Coleman war zumindest in der
Lage zu zeigen, wie Normen, die er als legitimierte und damit akzeptierte Kontrollrechte über
bestimmte Güter oder Handlungen definierte, unter ganz bestimmten Umständen entstehen können:
Die Bedingung, unter der sich ein Interesse an einer Norm und somit das Bedürfnis nach einer Norm entwickelt, ist, daß eine Handlung
für eine Menge anderer Personen ähnliche externe Effekte aufweist, Märkte für Kontrollrechte über die Handlung jedoch nur mit
Schwierigkeiten einzurichten sind und kein einzelner Akteur sich gewinnbringend an einem Austausch beteiligen kann, um Kontrollrechte
zu erhalten. Ein solches Interesse begründet nicht direkt eine Norm, es garantiert nicht einmal, daß eine Norm entstehen wird. Vielmehr
schafft es eine Grundlage, nämlich das Bedürfnis nach einer Norm auf seiten derjenigen, die bestimmte externe Effekte erfahren.
(Coleman, Grundlagen der Sozialtheorie, Bd. I, S. 323/324)

Allerdings konnte Coleman nicht wirklich zeigen, daß dieser Fall einer sich abzeichnenden
Normbildung tatsächlich auch der verbreitetste ist. Dazu waren die von ihm genannten Bedingungen
der Normentstehung, zu denen noch weitere hinzukommen müssen (vgl. Coleman, a.a.O., S. 344 ff.),
wohl zu restriktiv, empirisch also zu selten anzutreffen. Unabhängig davon war und ist Colemans
Einfluß aber vor allem deshalb so groß, weil er es gegen Ende seiner Karriere schaffte, in einem
dreibändigen Werk mit dem schon genannten Titel Grundlagen der Sozialtheorie (engl.: Foundations
of Social Theory) eine Art Synthese vorzulegen, die alle nennenswerten theo180retischen Probleme
der Soziologie konsequent aus der Perspektive des Rational-Choice-Ansatzes zu lösen versucht. Ein
ähnlich ehrgeiziges Unternehmen wird derzeit in Deutschland von Hartmut Esser (geb. 1943)
betrieben, der mit seinem Einführungsband Soziologie (dem dann weitere 6 Bände gleichen Titels,
die sich alle mit spezifischen theoretischen Feldern der Disziplin beschäftigen, gefolgt sind) eine
ähnliche Kodifizierung der Soziologie versucht wie seinerzeit Coleman.
Zuletzt sei hier noch auf den Chicagoer Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Gary S.
Becker (geb. 1930) verwiesen, der in wichtigen Beiträgen die Theorie des Humankapitals
weiterentwickelt und damit für die Bildungsökonomie entscheidende Anstöße gegeben hat. Becker
war aber auch derjenige, der konsequent das nutzenorientierte Handlungsmodell der Ökonomie auf
soziologische Sachverhalte anzuwenden versucht hat. Arbeiten zu Kriminalität und abweichendem
Verhalten gehörten dabei ebenso dazu wie solche über die Familie, die er aus der Perspektive der
Akteure, der Familienmitglieder, beschrieb, die sich alle miteinander, Eltern wie Kinder, in einem
Prozeß des »bargaining for sex, subsistence, and security« (Alan Ryan) befänden. Wie diese
prägnant-provozierende Formel aber auch schon andeutet, ist Becker häufig versucht, das von vielen
Rational-Choice-Theoretikern erreichte normativ-analytische Selbstverständnis dieses
Handlungsmodells wieder aufzugeben und es – wie Bentham – in höchst problematischer Weise als
eine quasi-anthropologische These mit umfassendem Gültigkeitsbereich zu fassen.

Kommen wir zum Schluß dieser Vorlesung und damit zu einer abschließendenWürdigung.
Wir haben ja davon gesprochen, daß der Strang des Neo-Utilitarismus, der sich mit dem Etikett
»Rational Choice« oder »Rational Action« charakterisieren läßt, sich von der »Austauschtheorie«
auch dadurch unterscheidet, daß das Modell des nutzenorientierten Akteurs hier als ein normativ-
analytisches verstanden wird. Das Tautologieproblem taucht also nicht so scharf auf wie etwa bei
Homans. Gleichwohl haben die genannten Theoretiker natürlich Interesse daran, dieses Modell auf
die Wirklichkeit zu übertragen, um Erklärungen zu liefern, d. h. alle haben auch ein Interesse daran,
empirisch zutreffende Theorien des Wählens und Entscheidens vorzulegen. 181Die Frage stellt sich
sodann, in welchen Bereichen denn tatsächlich in einigermaßen großer Annäherung von rational
agierenden Akteuren gesprochen werden kann. Und hier zeigen sich dann sehr schnell die Grenzen
dieses Modells. Denn fast immer und in allen nur denkbaren Kontexten läßt sich empirisch zeigen,
daß Akteure Zwängen ausgesetzt sind, die es ihnen unmöglich machen, sich dem von der Theorie
eigentlich geforderten Rationalmodell des Handelns auch nur anzunähern: Akteure haben stets
Informationsdefizite; es ist für sie häufig auch viel zu aufwendig und umständlich, sich alle
notwendigen Informationen für anstehende Entscheidungen und Wahlsituationen zu beschaffen.
Manchmal sind die vorhandenen Informationen viel zu umfangreich, so daß die Akteure all diese
Daten gar nicht mehr überblicken können, auf kognitive Verarbeitungsgrenzen stoßen etc. Diese
Problematik ist selbst im Umfeld von »Rational Choice« und der Entscheidungstheorie immer stärker
gesehen worden, und eine der Konsequenzen daraus war dann, daß verschiedene Autoren die Idee der
Nutzenmaximierung aufgegeben und statt dessen mit der Idee des »satisficing«, der hinreichenden
Befriedigung (Herbert Simon, »Theories of Decision-Making in Economics and Behavioral Science«,
S. 262), gearbeitet haben: Der Akteur, der auf eine »hinreichende Befriedigung« abzielt, ist nicht
mehr wirklich »rational«, sondern bricht seine Suche nach den geeignetsten Mitteln für eine Handlung
oder nach den besten Informationen für eine Entscheidung ab, wenn er eine Lösung gefunden hat, die
seinem Anspruchsniveau entspricht, häufig aber auch ziemlich willkürlich, um angesichts all der
Schwierigkeiten, die sich im wirklichen Leben auftun, überhaupt noch handeln zu können. Der
Handelnde wird somit dann als »mehr oder weniger rational« (»bounded rationality«) charakterisiert.
Wird dies aber erst einmal zugestanden, dann muß man sofort fragen, was hier genau »mehr oder
weniger« heißt. Wie weit ist dieser weniger rationale Akteur von jenem idealtypisch
nutzenmaximierenden Handelnden wirklich entfernt, ein wenig nur oder sehr weit? Sollte letzteres der
Fall sein, dann ist klar, daß das Modell des nutzenmaximierenden Akteurs zur empirischen Erfassung
von sozialen Phänomenen meist recht unangemessen ist (zur Kritik vgl. Etzioni, Die faire
Gesellschaft, S. 202 ff.).
Wenn dies so ist, wird es zur spannenden Frage, welche Menschen sich eigentlich wirklich wie die
nutzenmaximierenden Akteure die182ser Modelle verhalten. Es liegen zu dieser Problematik
mittlerweile empirische Untersuchungen vor (z. B. Marwell/Ames, »Economists Free Ride, Does
Anyone Else?«). Interessanterweise ist das Verhalten der meisten Gruppen von Menschen im Alltag
vom Rationalmodell des Handelns weit entfernt. Es blieb nach dieser Untersuchung eigentlich nur
eine Gruppe von Menschen übrig, für deren Verhalten das Rationalmodell eine gute empirische
Annäherung darstellte – und diese Gruppe bestand aus den Studenten der Wirtschaftswissenschaften!
Ob hier ein Selektions- oder ein Sozialisationseffekt vorliegt, ob alle Studierende dieses Fach aus
einer Affinität heraus wählen oder ob der Denkansatz ihr Verhalten formt, blieb ungeklärt. Sicher aber
ist, daß das Handlungsmodell des »Neo-Utilitarismus« viel zu begrenzt und eingeschränkt ist. Wir
werden uns deshalb in den beiden nächsten Vorlesungen Theorieansätzen widmen, die nicht nur für
eine Umkehr in Richtung des viel inhaltsreicheren Parsonsschen Handlungsmodells plädieren,
sondern Parsons sogar noch dafür kritisieren, daß sein Modell in sich zu undifferenziert und zu wenig
reichhaltig sei.
183Sechste Vorlesung
Interpretative Ansätze (1):
Symbolischer Interaktionismus

Wir werden uns in dieser und der nächsten Vorlesung mit zwei unterschiedlichen soziologischen
Theorien auseinandersetzen – dem Symbolischen Interaktionismus und der Ethnomethodologie –, die
in der Fachliteratur oftmals mit dem Oberbegriff »Interpretative Ansätze« bezeichnet und genau
deshalb gelegentlich sogar verwechselt werden. Der Begriff ist also nicht unproblematisch, bringt
aber immerhin die wichtige Einsicht auf den Punkt, daß es in der Soziologie der 1950er und 1960er
Jahre neben dem neo-utilitaristischen Paradigma der Austauschtheorie bzw. des »Rational Choice«
und neben der strukturfunktionalistischen Theorie eines Talcott Parsons durchaus weitere wichtige
Ansätze gab – Ansätze zudem von anhaltender Vitalität. Die den »Interpretativen Ansätzen«
zuzurechnenden Autoren verfechten dabei ein grundsätzlich anderes Handlungsmodell als die
Vertreter der Theorie der rationalen Wahl, aber auch ein anderes, als es von Parsons mit seiner
Betonung der normativen Aspekte des Handelns entwickelt wurde. So erklärt sich auch der wörtliche
Bedeutungsgehalt des Etiketts »Interpretative Ansätze«: Denn zum einen wird damit die Frontstellung
gegenüber Parsons und seinem Handlungsmodell zum Ausdruck gebracht, insofern die Vertreter des
»Interpretativen Paradigmas« Parsons vorwarfen, seine Rede von Normen und Werten, auf die das
Handeln immer bezogen ist, sei unterkomplex. Bestritten wird damit nicht die Bedeutung von Normen
und Werten im menschlichen Handeln. Ganz im Gegenteil! Was Parsons aber übersehen habe, sei die
Tatsache, daß Normen und Werte für den Handelnden nicht einfach abstrakt existieren und
unproblematisch im Handeln umgesetzt werden können. Vielmehr sei es so, daß Normen und Werte in
der konkreten Handlungssituation erst spezifiziert und damit interpretiert werden müßten. Parsons
habe also die Interpretationsabhängigkeit von Werten und Normen übersehen – und genau dies sei
das entscheidende Defizit seiner Theorie, aus dem sich eine ganze Reihe von problematischen
empirischen Konsequenzen ergäben.
Zum anderen verweist der Begriff »Interpretative Ansätze« dar184auf, daß die hiermit gemeinten
Theorierichtungen oftmals eng – allerdings nicht wirklich zwangsläufig! – mit ethnographischen
Forschungstraditionen und Methoden der qualitativen Sozialforschung verbunden sind. Eben weil
man annimmt, daß die Anwendung von Normen und Werten, aber auch von durchaus nicht-normativen
Zielen und Absichten in konkreten Situationen immer ein komplexer und nie ganz widerspruchsfreier
Prozeß sei, scheint es angebracht zu sein, genau und detailliert das Handlungsumfeld von Personen zu
untersuchen und damit die Handlungsoptionen der Akteure zu interpretieren, anstatt mit
umfangreichen, aber eben nur sehr groben und dadurch auch problematischen Datenmengen zu
arbeiten. Aus Sicht der Vertreter des »Interpretativen Paradigmas« ist es wenig angemessen, die etwa
in der Umfrageforschung üblichen großen Datenmengen über Einstellungen, Überzeugungen etc. zu
erheben, weil das so gewonnene Material und dessen statistische Verarbeitung wenig aussagekräftig
sind hinsichtlich des tatsächlichen Verhaltens der Menschen in spezifischen Handlungssituationen. Mit
der Bevorzugung qualitativer Methoden unterscheidet man sich somit zwar nicht von Parsons, der
sich in Methodenfragen nicht wirklich festgelegt hatte, aber immerhin doch von solchen Vertretern der
Soziologie (und gerade im Neo-Utilitarismus gibt es davon nicht wenige), die ihre theoretischen
Aussagen vorzugsweise mit quantitativen Methoden zu stützen versuchen.

Sowohl die theoretische Schule des Symbolischen Interaktionismus wie auch diejenige der
Ethnomethodologie wurden und werden also mit diesem Etikett eines »Interpretativen Ansatzes«
bezeichnet. Zwischen beiden bestehen Gemeinsamkeiten, allerdings ist gleichzeitig auch zu betonen,
daß es sich um deutlich unterscheidbare Ansätze handelt, weil ihre Wurzeln in konkurrierenden
Denkströmungen der modernen Philosophie liegen: Während die in der nächsten Vorlesung zu
behandelnde Ethnomethodologie in der Tradition der Husserlschen Phänomenologie steht, schöpft der
jetzt vorzustellende Symbolische Interaktionismus aus dem Gedankengut des amerikanischen
Pragmatismus. Diese gleich näher zu charakterisierende philosophische Strömung war bereits mit der
frühen amerikanischen Soziologie eng verbunden gewesen, insofern Autoren wie George Herbert
Mead, William Isaac Thomas, Charles Horton Cooley oder Robert Park in ihren Arbeiten unmittelbar
an diese 185Denktradition angeknüpft bzw. diese sogar mit- und ausgestaltet hatten. Wo sich der
Symbolische Interaktionismus stark an pragmatistisches Gedankengut anlehnte, war er also überhaupt
keine neue Theorie. Er war eher eine Fortsetzung der »Chicago School of Sociology«, also der
Forschungsrichtung, wie sie unter der Leitung von William I. Thomas und Robert Park etwa zwischen
1910 und 1930 an der University of Chicago überaus erfolgreich gelehrt und praktiziert wurde. Diese
zur damaligen Zeit dominante Forschungsrichtung der amerikanischen Soziologie war später durch
die in den 1940er Jahren sich abzeichnende und dann in den 1950er Jahren erreichte Hegemonie der
Parsons-Schule in den Hintergrund gedrängt worden.
Wie wir in der Dritten Vorlesung gehört haben, hatte es Parsons bei seiner Rekonstruktion der
Geschichte der Soziologie in The Structure of Social Action ja (bewußt?) unterlassen, sich mit
Vertretern dieser Richtung ernsthaft auseinanderzusetzen. Aber als dann in den 1950er und
insbesondere 1960er Jahren der Symbolische Interaktionismus als explizit mit dem Funktionalismus
konkurrierender Ansatz ins Rampenlicht der fachinternen Öffentlichkeit trat, waren es direkte Schüler
von Vertretern der ursprünglichen »Chicago School of Sociology«, die hier an vorderster Front der
Parsons-Kritik zu finden waren. Dazu später mehr. Wir haben zunächst zu klären, was es mit diesem
amerikanischen Pragmatismus und der sich daran anschließenden Forschungstradition der »Chicago
School of Sociology« überhaupt auf sich hat. Vier Punkte erscheinen uns in diesem Zusammenhang
besonders erwähnenswert:
1. Interessant an der philosophischen Tradition des amerikanischen Pragmatismus ist insbesondere,
daß sie sich als eine Philosophie des Handelns versteht. Insofern hätten sich für die
handlungstheoretischen Ambitionen des frühen Parsons eigentlich deutliche Anknüpfungspunkte
ergeben können. Tatsache ist jedoch, daß dort – und dies ist wohl auch der Grund für Parsons’
Mißachtung dieser Tradition in Structure – das Modell des Handelns vor einem völlig anderen
Hintergrund entwickelt wird. Während Parsons sich am Problem der sozialen Ordnung rieb und zur
»Lösung« die normativen Aspekte des Handelns besonders betonte, stand im amerikanischen
Pragmatismus, als dessen Hauptvertreter der schon in der Ersten Vorlesung genannte Logiker Charles
Sanders Peirce, der Philosoph John Dewey (1859-1952), der Psychologe und Philosoph 186William
James (1842-1910) und der Philosoph und Sozialpsychologe George Herbert Mead zu nennen sind,
eine ganz andere Problematik im Mittelpunkt. Für die Pragmatisten war nämlich der Zusammenhang
zwischen Handeln und Bewußtsein, also nicht derjenige zwischen Handeln und Ordnung, das
Zentralproblem, was unter anderem auch zu philosophisch neuen Einsichten führte (zum folgenden
vgl. Joas, »Von der Philosophie des Pragmatismus zu einer soziologischen Forschungstradition«). Das
gewissermaßen revolutionäre Element im amerikanischen Pragmatismus war nämlich, daß er bei der
Bearbeitung dieser Frage mit einer Grundprämisse der neuzeitlichen westlichen Philosophie brach.
Diese Philosophie hatte seit der Zeit des französischen Philosophen René Descartes (auch Cartesius:
1596-1650) das Individuum, das Denken des einzelnen, zum Ausgangspunkt des Philosophierens bzw.
jeglicher wissenschaftlichen Analyse gemacht. Das Argument hierbei war, daß man im Prinzip alles
bezweifeln könne, nur nicht die eigene Existenz, denn der Versuch des Zweifels verweist letztlich
immer auf ein zweifelndes Bewußtsein, auf ein Ich. D. h., selbst wenn ich alles bezweifeln wollte, so
könnte ich doch nicht in Abrede stellen, daß ich es bin, der denkt, daß ich es bin, der existiert:
»Cogito, ergo sum« – wie die berühmte Formulierung von Descartes lautete. Eben weil nur das
jeweilige Selbst-Bewußtsein gewiß sei, deshalb müsse dieses – so Descartes’ Schlußfolgerung – zum
Ausgangspunkt des Philosophierens gemacht werden. Oder anders herum: Das Philosophieren
benötigt eine feste Basis, und die ist mit dem Selbst-Bewußtsein, dem Ich, der Selbstgewißheit des
Ich gegeben. Von hier aus, von diesem absolut sicheren Fundament aus, müßte die Philosophie ebenso
wie die Wissenschaft ihre Arbeit beginnen, von hier aus müßten beide aufgebaut werden. Soweit zu
Descartes, zu seinem radikalen, in der philosophischen Fachliteratur so bezeichneten
»cartesianischen Zweifel« und zu seiner versuchten Grundlegung der Philosophie und der
Wissenschaften.
Diese Denkfigur Descartes’ hatte ungeheure Auswirkungen auf die europäisch-amerikanische
Kultur insgesamt; sie war – wie schon angedeutet – prägend für große Teile der neuzeitlichen
Philosophie, für diejenigen zumindest, die wie Descartes das Bewußtsein des Individuums in den
Mittelpunkt des Philosophierens stellten, die also »Bewußtseinsphilosophie« betrieben. Allerdings
stand diese Bewußtseinsphilosophie auch vor erheblichen theoretischen Schwie187rigkeiten, die die
Frage aufwarfen, ob der von Descartes exemplarisch vollzogene Denkschritt – der Rückgriff auf das
individuelle Bewußtsein und dessen unbezweifelbare Existenz – nicht selbst auch Probleme in sich
birgt. Denn der cartesianische Zweifel hatte dazu geführt, daß eben nur mehr das Ich als gewiß
betrachtet werden durfte, während die selbstverständliche Geltung der restlichen Welt – der Dinge
etwa und meiner Mitmenschen – suspendiert wurde. Aber wie kommt nun dieses abstrakte, isoliert
vorgestellte Ich wieder zur Welt, zu den Dingen, zu den anderen Subjekten? Dies war tatsächlich ein
ernstes Problem, ein Problem, das durch ebenjenen radikalen Dualismus zwischen dem Ich (der
Seele, dem Geist, dem Bewußtsein – oder was auch immer ähnliche Ausdrücke sein mögen)
einerseits und der objektiven, belebten oder unbelebten Welt andererseits hervorgerufen wurde, durch
jenen Dualismus also zwischen einer immateriellen Substanz des Geistes einerseits und dem
sichtbaren Handeln andererseits. Diesen theoretisch unbefriedigenden und problembehafteten
Dualismus suchte die Bewußtseinsphilosophie von Anfang an, immer wieder neu und immer wieder
vergeblich, zu überwinden.
Der Grund für diese Unfähigkeit – so die am Ende des 19. Jahrhunderts formulierte revolutionäre
These des amerikanischen Pragmatismus – war, daß der cartesianische Zweifel selbst ein höchst
künstlicher Gedankenschritt sei, der die Philosophie in ein falsches Fahrwasser und eben hinein in
diese Dualismen geführt habe. Das Argument der Pragmatisten war, daß der Zweifel des Descartes
ein völlig abstrakter gewesen sei, einer, der quasi in der philosophischen Studierstube ausgedacht
worden war, der jedoch im Alltag, auch im Alltag der Philosophie und der Wissenschaften,
tatsächlich so nie zum Tragen kommt und auch nicht kommen könne. Man kann nämlich nicht
willentlich zweifeln. Wer willentlich zweifelt, ist in einer bestimmten Schicht seines Bewußtseins
sehr wohl sicher, daß etwas gegeben ist. Außerdem kann man nie alles zur gleichen Zeit bezweifeln,
weil dies zu völliger Handlungsunfähigkeit und Lähmung führen würde: Wenn ich ernsthaft
bezweifeln wollte, daß die Universität eine Institution zum Zwecke der Forschung und Lehre und
nicht vielleicht zur Unterhaltung und zum Zeitvertreib, daß das Studium der Soziologie eine sinnvolle
Veranstaltung ist, daß es so etwas wie Vorlesungen überhaupt gibt, daß Studierende im Vorlesungssaal
überhaupt existieren etc., dann würde ich von der Massivität der Probleme erdrückt werden, dann
könnte ich nicht mehr han188deln angesichts aller zur gleichen Zeit auf mich einstürzenden Fragen.
Die Pragmatisten plädierten damit nicht für eine unkritische Einstellung zum überbrachten Wissen,
wohl aber für die Einnahme einer Haltung innerhalb der Philosophie, die einem »wirkliche(n) und
lebendige(n) Zweifel« entspricht (Peirce, »Die Festlegung einer Überzeugung«, S. 158; zum
cartesianischen Zweifel insgesamt vgl. seinen Essay »Einige Konsequenzen aus vier Unvermögen«),
einem Zweifel, der in konkreten Situationen, und zwar in Situationen des Handelns, wirklich auch
auftaucht. Wenn man so argumentiert, wenn man also die Sinnhaftigkeit des cartesianischen Zweifels
selbst in Zweifel zieht, dann erübrigt sich die Annahme eines einzelnen isolierten Bewußtseins als
Fixpunkt des Denkens. Insofern besteht dann auch keine Notwendigkeit mehr, ein rein abstraktes, bloß
rational denkendes, von der übrigen Welt getrenntes Ich zu unterstellen. Vielmehr kann man dann das
Ich als ein sinnliches Ich, als eines in der Welt und in der Mitwelt denken. Somit ist es u. a. dann
auch möglich, den Erkenntnisprozeß als einen kooperativen zu sehen, also einen, an dem mehrere
Individuen beteiligt sein können. Insgesamt ergeben sich also völlig andere philosophische
Problemstellungen, aber ebenso andere und neue Lösungen als bei den »Nachfolgern« von Descartes.
Denn wenn die Pragmatisten vom Zweifel in konkreten Handlungssituationen redeten und dem
cartesianischen Zweifel Berechtigung und Relevanz absprachen, so blieben sie hierbei nicht stehen.
Es eröffnete sich für sie nämlich auch die Möglichkeit, den Dualismus zu überwinden, der fast jede
Theorie des Handelns geplagt hatte, die von cartesianischen Voraussetzungen ausgegangen war –
ebenjenen Dualismus zwischen der irgendwie vorgestellten immateriellen Substanz des Geistes
einerseits und dem sichtbaren Handeln andererseits. Die Pragmatisten argumentierten, daß der Geist,
das Bewußtsein, das Denken etc. ohne das Handeln überhaupt nicht gedacht werden könnten. Oder
anders formuliert: Denken entsteht erst in problematischen Handlungssituationen, Denken und
Handeln sind unmittelbar aufeinander bezogen. Damit wird nun der cartesianische Dualismus
untergraben bzw. aufgelöst, ohne daß der idealistischen Position der Bewußtseinsphilosophie (nach
dem Motto: aus dem Geist entspringt irgendwie das Handeln) eine radikal materialistische Position
entgegengesetzt würde (etwa nach dem Muster: das Bewußtsein ist nur aus biologischen oder
physiologi189schen Prozessen herzuleiten). Für die Pragmatisten sind der Geist, das Denken, das
Bewußtsein überhaupt keine materiellen oder immateriellen Substanzen. Vielmehr werden
Bewußtsein, Denken, Geist in ihrer funktionalen Bedeutung im Hinblick auf das Handeln
verstanden: Bewußtseinsleistungen entstehen nach pragmatistischer Auffassung dann, wenn wir in
einer Situation auf ein Problem stoßen. Genau an diesem Punkt ereignet sich – Denken. Es sind
Problemsituationen, in denen der Handelnde irritiert und dadurch zwangsläufig auf neue Dinge und
Aspekte aufmerksam wird und diese dann zu ordnen und zu verstehen sucht, kurzum: zu denken
beginnt. Erst wenn der quasi-natürliche Fluß des Handelns im Alltag durch ein Problem unterbrochen
wird, werden die ehemals für selbstverständlich erachteten Situationsbestandteile neu analysiert. Ist
eine Lösung gefunden, kann sie vom Handelnden gespeichert und in zukünftigen Situationen von
ähnlichem Zuschnitt abgerufen werden.
Soweit zu den eher philosophischen Konsequenzen des pragmatistischen Denkens. Dessen
soziologische Relevanz ist hier vermutlich noch nicht recht erkennbar, mit Ausnahme vielleicht der
Tatsache, daß in dieser Theorietradition der Handelnde als ein aktives Wesen, als suchend und
problemlösend verstanden wird und nicht als ein passives Wesen, das nur beim Auftreten bestimmter
Reize zum Handeln veranlaßt wird. Reize existieren also nicht an sich, sondern Reize werden als
solche in der jeweiligen Handlungssituation definiert. Aber es waren erst die Schriften von John
Dewey und vor allem von George Herbert Mead, welche die Relevanz des pragmatistischen Denkens
für die Disziplinen der Soziologie und Sozialpsychologie vollends deutlich machen sollten.
2. Der entscheidende Punkt des Meadschen Denkens bestand nämlich darin, daß er seine Analysen
nicht auf Situationen des Handelns gegenüber der Umwelt der Menschen konzentrierte, sondern auf
Situationen interpersonalen Handelns (vgl. zu folgendem Joas, Praktische Intersubjektivität). Es gibt
ja gerade im Alltag viele Situationen, in denen ich selbst auf andere Personen einwirke, in denen also
mein Handeln beim Gegenüber etwas auslöst. Ich selbst bin sozusagen Reizquelle für andere. Wenn in
diesem interpersonalen Geschehen ein Verständigungsproblem auftritt, dann merke ich, wie ich auf
andere einwirke, insofern diese anderen ja wiederum auf mich reagieren. Man kann also sagen, daß
mein Ich in der Reaktion 190der anderen Personen auf mich selbst zurückgespiegelt wird. Insofern
legte Mead mit diesem Gedanken den Grundstein für eine Theorie des Prozesses der
Identitätsbildung, die zugleich zum Kern einer Theorie der Sozialisation werden konnte. Mit
pragmatistischen Denkmitteln konnte er die Entstehung des »Selbstbewußtseins« in Situationen der
Interaktion erhellen. Nicht der einzelne Akteur kann hier Angelpunkt der Überlegungen sein, sondern
nur der Handelnde inmitten anderer Handelnder. Mead brach also fundamental mit der Auffassung,
wonach die Sozialpsychologie bzw. die Soziologie vom einzelnen Subjekt her aufgebaut werden
könne. Er betonte statt dessen, daß die Sozial- und Geisteswissenschaften konsequent den Schritt hin
zu einer intersubjektiven Betrachtungsweise vollziehen müßten. Aber um dies auch leisten zu können,
um Intersubjektivität auch fassen zu können, war die Erarbeitung einer anthropologischen Theorie der
Kommunikation notwendig, für die Mead ebenfalls die Grundlagen legte.
3. Für Mead ist der Mensch insofern einzigartig, als er Symbole gebraucht. Symbole sind Objekte,
Gebärden, Sprachlaute, die der Mensch benutzt, um anderen etwas anzuzeigen, um etwas zu
repräsentieren. Dabei – und dies ist entscheidend – ergibt sich die Bedeutung dieser Symbole in der
Interaktion. Symbole sind also sozial definiert und deshalb auch von Kultur zu Kultur sehr
unterschiedlich. Auch Tiere verwenden Gesten, aber diese sind keine Symbole: Wenn etwa Hunde mit
den Zähnen fletschen, dann wird zwar ihre Aggressivität deutlich; aber man wird kaum sagen können,
daß der Hund beschlossen hat, seine Wut auf diese bestimmte Weise auszudrücken. Diese Gesten sind
instinktgesteuert und insofern, von einer bestimmten Prägung in frühen Entwicklungsstadien
abgesehen, immer gleich. Als Symbole verwendete menschliche Gesten funktionieren dagegen ganz
anders. Der aus- und hochgestreckte Mittelfinger der rechten Hand – Fußballexperten unter Ihnen seit
einiger Zeit auch als »der Effenberg« bekannt – ist eine in Mitteleuropa gebräuchliche Geste, deren
Bedeutung an den Rändern dieses Kulturraums schon nicht mehr ohne weiteres verstanden wird, weil
genau diese Bedeutung einer anderen körperlichen Geste zugeordnet wird. Menschen können über
Symbole eben auch nachdenken, sie bewußt einsetzen oder zu vermeiden suchen, sie modifizieren, sie
ironisch verwenden etc., all das, was in der tierischen Welt nicht möglich ist. Und es war eine von
Meads großen Leistungen, daß er 191dies genau herauspräparieren konnte, wobei für ihn gerade das
menschliche Sprachvermögen im Mittelpunkt stand. Auch Sprache ist für Mead nur ausgehend von der
»Lautgebärde«, vom Laut als Gebärde, verständlich.
4. Aufbauend auf dieser hier nur angedeuteten Theorie der Kommunikation und den grundlegenden
Reflexionen zur Möglichkeit der Entstehung des Selbstbewußtseins erarbeitete sich Mead zudem eine
höchst innovative und enorm einflußreiche Entwicklungspsychologie, die sich die Frage stellte, wie
Kinder lernen, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, und wie sie genau dadurch im Laufe der
Zeit eine eigenständige Identität ausbilden. Mead legte dar, daß sich das Selbst über mehrere Stufen
herausbildet. Zu Beginn versteht das Baby bzw. das Kleinkind noch nicht wirklich die Konsequenzen
seines eigenen Tuns. Das Kind ist anfangs noch nicht einmal in der Lage, zwischen sich selbst und der
Objektwelt zu unterscheiden. So können eigene Körperteile – etwa der Zeh am anderen Ende der
Bettdecke – wie ein fremdes Ding in der Umwelt betrachtet werden. Kleinkinder sprechen dann,
selbst wenn sie sich auf sich selbst beziehen, wie von einem fremden Objekt, etwa wenn diese
Kinder in Erzählungen nicht die Ich-Form verwenden, sondern ihren Vornamen einsetzen: Der kleine
Jürgen sagt deshalb möglicherweise nicht: »Es tut mir weh!«, sondern: »Das tut dem Jürgen weh!«
Und dies nicht deshalb, weil ihm das relativ simple Wort »mir« nicht zur Verfügung stünde, sondern
deshalb, weil er sich selbst noch ganz aus der Perspektive anderer sieht, ohne dagegen die eigene
Perspektive zu behaupten. Klein-Jürgen begreift, daß er selbst es ist, der Reaktionen der anderen auf
ihn auslöst, und er nimmt insofern wahr, wie seine Mutter, sein Vater, seine Schwester ihn sehen. Er
bekommt somit ein Bild von sich selbst, aber ein in je einzelne Fremdbilder (»me«s) zerfallendes.
Wenn es gelingt, diese verschiedenen Fremdbilder zu einem durchgängigen Selbstbild zu
synthetisieren, dann werden wir also für uns selbst zu sozialen Objekten, wir werden zu einem
Gegenstand unserer Selbstbetrachtung. Wir bilden hier also ein Selbst oder eine »(Ich)-Identität« aus.
Klein-Jürgen sieht nun in dem Namen, den er hat, sich selbst. Er hat über verschiedene
Handlungsvollzüge gelernt, sich nicht nur mit seinen unmittelbaren Bezugspersonen zu identifizieren,
sondern auch die eigene Rolle ihnen gegenüber zu erkennen. Er hat spielerisch (»play«, etwa im
»Papa-und-Mama-Spiel« oder im »Doktor-Spiel«) gelernt, sich in den 192anderen hineinzudenken,
hat an den Reaktionen des Gegenübers erfahren, was er mit seinen Handlungen in den anderen
ausgelöst hat. Er kann die Perspektive seines Vaters, seiner Mutter, seiner engsten Freunde
übernehmen, deren Rolle spielerisch einüben. Und auf einer weiteren Stufe – etwa mit Hilfe von
Spielen (»games«), in denen abstrakte Regeln befolgt werden müssen wie dem Fußballspiel – ist er
bald dann auch in der Lage, nicht nur die Rollen der Personen in seiner unmittelbaren Umgebung zu
verstehen und die Erwartungen dieser Personen an ihn selbst, sondern auch die etwas allgemeineren
Erwartungen einer größeren Gemeinschaft (der Mannschaft!) oder gar der Gesellschaft (»der
generalisierte Andere«). Eine einigermaßen klar erkennbare Identität bildet sich somit aus, eben weil
im Umgang mit verschiedensten Menschen durch deren Reaktionen das eigene Ich zurückgespiegelt
wird, weil die Perspektive vieler anderer gleichzeitig eingenommen werden kann, die Perspektive
der nahen Mutter ebenso wie die des mir relativ unbekannten rechten Verteidigers, des Polizisten
oder der Verkäuferin.
Der Handelnde kann sich also spätestens zu diesem Zeitpunkt seiner Entwicklung selbst sehen, er
kann sich selbst ganz bewußt zum Objekt machen, weil er die Rolle des anderen bzw. dessen
Perspektive einnehmen kann (»role-taking«). Das heißt aber auch, daß für Mead und alle an ihn
anschließenden Autoren das Selbst keine wirklich feste und unverrückbare Einheit darstellt, sondern
eine, die sich durch die und infolge der Interaktion mit anderen ständig definiert und gegebenenfalls
auch redefiniert. Das Selbst ist also eher ein Prozeß als eine stabile Struktur, eine ständige
Strukturierungsleistung, keine verborgene Substanz.

Soviel zu den entscheidenden Grundgedanken des amerikanischen Pragmatismus, der die im engeren
Sinne soziologischen Schriften der sogenannten »Chicago School of Sociology« stark beeinflußt hat,
auch wenn der Zusammenhang zwischen diesen eher philosophischen und sozialpsychologischen
Theoriebausteinen und der damaligen Forschungspraxis in Chicago nicht immer sofort erkennbar ist.
Sowohl der Pragmatismus wie auch die Chicago School büßten in den 1940er und 1950er Jahren
an Popularität ein, ihr ehemals großer Einfluß nahm stark ab. Es war nun vor allem ein Schüler von
George Herbert Mead, der diesem Trend entgegenarbeitete und es dann 193auch schaffte, Mitstreiter
um sich zu scharen. Die Rede ist von Herbert Blumer (1900-1987), der zwischen 1927 und 1952
Mitglied des Soziologie-Departments an der University of Chicago gewesen war, bevor er dann nach
Berkeley in Kalifornien ging. Blumer hatte sich im Department in Chicago in bewußter Anknüpfung
an das Meadsche Erbe etabliert und war zu einer Art intellektuellen Leitfigur derjenigen geworden,
denen dieses Erbe am Herzen lag. Gleichzeitig entwickelte er sich auch auf nationaler Ebene als
treibende Kraft hinter den Bemühungen, diejenigen Soziologen zu organisieren, die an die
pragmatistische Tradition anknüpfen wollten. Immerhin war er dabei so erfolgreich, daß er zwischen
1941 und 1952 als Herausgeber der einflußreichsten amerikanischen Soziologie-Zeitschrift, dem
American Journal of Sociology, fungierte und 1956 zum Vorsitzenden der amerikanischen
Soziologenvereinigung, der »American Sociological Association«, gewählt wurde.
Es war schließlich auch Blumer, der 1938 den Begriff des »Symbolischen Interaktionismus« in
einem Artikel zur Sozialpsychologie prägte. Diese zusammengesetzte Begrifflichkeit gilt es zu
erklären. »Interaktion« verweist auf die Wechselseitigkeit des Handelns, die Verschränktheit des
Handelns mehrerer, wobei »Interaktion« ursprünglich wohl die Übersetzung des Simmelschen
Begriffs der »Wechselwirkung« war. Damit ist die gerade aus den Meadschen Schriften zu
gewinnende Einsicht gemeint, daß es für die Soziologie gelte, den Menschen nicht als isoliertes
Wesen zu betrachten, sondern als eines, das immer schon in intersubjektiven Zusammenhängen agiert,
das also in ein ganzes Geflecht von Handlungen zweier oder mehrerer Personen verstrickt ist. Soweit
zu »Interaktion«. Der adjektivische Begriffsbestandteil »symbolisch« darf nun nicht mißverstanden
werden: Gemeint ist damit selbstverständlich nicht, daß Interaktionen nur symbolisch-übertragenen
Charakter hätten, daß sie quasi nicht »wirklich« oder »real« seien; gemeint ist auch nicht, daß sich
der Symbolische Interaktionismus nur um Handlungen kümmert, die hochgradig symbolisch
aufgeladen sind, wie wir dies vielleicht aus religiösen Riten kennen. Der Begriff will vielmehr sagen,
daß jene Theorie das Handeln als »symbolvermittelte« Interaktion (dies ist der angemessenere
Ausdruck, den Jürgen Habermas eingeführt hat) begreift, also als ein Handeln, das auf
Symbolsysteme wie Sprache oder Gebärden angewiesen ist. Und diese Symbolvermitteltheit
menschlichen Handelns wird deshalb besonders betont, weil sich 194daraus Schlußfolgerungen
ziehen lassen, die anderen Theorierichtungen nicht zugänglich sind.
Soweit zur Begriffsbedeutung, zu jenem von Blumer Ende der 1930er Jahre geprägten »Etikett«,
das sich freilich erst sehr langsam durchsetzte: der Begriff war noch in den folgenden zwei
Jahrzehnten wenig verbreitet, und erst in den 1960er und 1970er Jahren wurde dann eine Reihe von
Bänden und Sammelbänden, die dieses Etikett im Titel führten, publiziert, was dazu beitrug, daß die
auf Mead zurückgehende Theoriebewegung tatsächlich einen festen Namen erhielt. Zwar läßt sich die
Frage stellen, wie einheitlich diese Strömung denn überhaupt sei (Plummer, »Introduction«, 1991: S.
XII); häufig stellen Schulen oder Traditionen ja retrospektive Konstruktionen dar. Aber dieser Punkt
soll hier nicht näher interessieren. Vielmehr wollen wir uns ansehen, wie Blumer das Meadsche Erbe
aufnahm, welche Art von Soziologie er propagierte und welche Themen er und seine Mitstreiter in
der soziologischen Debatte etablieren konnten.
Blumer definierte in einer berühmt gewordenen Aufsatzsammlung aus dem Jahre 1969 (Symbolic
Interactionism. Perspective and Method), von der Teile auch ins Deutsche übersetzt sind, den
Symbolischen Interaktionismus anhand von drei einfachen Prämissen:
Die erste Prämisse besagt, daß Menschen ›Dingen‹ gegenüber auf der Grundlage der Bedeutungen handeln, die diese Dinge für sie
besitzen. (…) Die zweite Prämisse besagt, daß die Bedeutung solcher Dinge aus der sozialen Interaktion, die man mit seinem
Mitmenschen eingeht, abgeleitet ist oder aus ihr entsteht. Die dritte Prämisse besagt, daß diese Bedeutungen in einem interpretativen
Prozess, den die Person in ihrer Auseinandersetzung mit den ihr begegnenden Dingen benutzt, gehandhabt und abgeändert werden.
(Blumer, »Der methodologische Standort des Symbolischen Interaktionismus«, S. 81)

Diese drei Prämissen, die man als sozialpsychologische oder auch anthropologische Annahmen über
den Charakter menschlicher Handlungsfähigkeit und Kommunikation bezeichnen könnte, sind in der
Tat sehr einfach. Und Sie werden sich vermutlich fragen, ob man auf derart simple, ja vielleicht sogar
triviale Aussagen eine Theorie aufbauen kann, die beispielsweise mit dem komplexen Parsonsschen
Theoriegebäude ernsthaft in Konkurrenz treten könnte. Aber lassen Sie sich nicht täuschen! Was
Blumer hier benennt, sind 195ja nur Prämissen und Annahmen, noch keine ausgearbeiteten Theorien.
Würden Sie nämlich das Parsonssche Theoriegebäude – oder auch ganz andere komplex klingende
Theorien – auf solche Prämissen hin untersuchen, so würden Sie zwar vielleicht nicht auf die
gleichen, aber doch auf ähnlich einfache Aussagen stoßen. Vielleicht hätte Parsons sogar jene drei
Prämissen widerspruchslos akzeptiert! Ausgeschlossen ist dies nicht. Denn anläßlich einer zwischen
ihm und Blumer indirekt geführten Debatte über einen von Jonathan H. Turner veröffentlichten
Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel: »Parsons as a Symbolic Interactionist« (vgl. auch Blumers und
Parsons’ Repliken von 1974 bzw. 1975) hatte Parsons sich irritiert gezeigt angesichts der von den
Interaktionisten kommenden Attacken und gleichzeitig die Position vertreten, daß er das
interaktionistische Gedankengut und dessen Prämissen ja eigentlich schon immer in seine eigene
Theorie integriert habe. ›Wo‹ – so könnte man Parsons’ dortige Gedankenführung paraphrasieren –
›sind also eigentlich die theoretischen Unterschiede, wo ist die Basis der interaktionistischen
Angriffe? Denn natürlich weiß auch ich, daß Menschen Bedeutungen verleihen, daß sie
Sprachfähigkeit haben.‹ Blumers Antwort könnte man so zusammenfassen: ›Es mag ja sein, daß du,
lieber Talcott Parsons, oberflächlich mit diesen Prämissen übereinstimmst. In Wirklichkeit aber
nimmst du sie nicht genügend ernst. Denn wenn du diese Prämissen wirklich akzeptieren und
konsequent befolgen würdest, dann hättest du niemals eine solche Theorie entwerfen können, wie du
sie tatsächlich entworfen hast!‹
In der Tat folgt aus den so einfach erscheinenden drei Blumerschen Prämissen eine ganze Reihe
von weitreichenden theoretischen Konsequenzen, die zu einer völlig anderen Theorieanlage führen,
als Sie diese aus den Parsons-Vorlesungen, aber auch aus der Vorlesung zum Neo-Utilitarismus
kennen.
Beginnen wir mit der ersten Prämisse, mit der Aussage also, daß Menschen Dingen gegenüber auf
der Grundlage von Bedeutungen handeln, die diese für sie besitzen. Dahinter verbirgt sich zunächst
die einfache Beobachtung, daß menschliches Verhalten nicht bestimmt oder determiniert wird durch
das Einwirken quasi objektiv bestehender Kräfte oder Faktoren. Diese scheinbar objektiven Faktoren
und Kräfte werden nämlich schon immer vom Handelnden interpretiert, ihnen wird vom Handelnden
Bedeutung zugeschrieben. Ein Baum ist also nicht einfach ein Baum im Sinne eines mate196riellen
Gegenstandes – und nichts sonst! Für den Handelnden steht der Baum vielmehr in einem bestimmten
Kontext des Handelns. Für den Biologen etwa mag er ein praktisches Untersuchungsobjekt sein, das
gefühlsneutral analysiert werden kann und muß; für manchen hat er aber auch eine romantische
Bedeutung, weil der Baum – jene wunderschöne Eiche am Waldesrand – ihn möglicherweise an sein
erstes Rendezvous erinnert. Gegenstände determinieren also nicht das Handeln der Menschen,
»springen also die Menschen nicht an«, sondern sie erhalten umgekehrt von den Menschen
Bedeutungen, weil sie in einem bestimmten Handlungskontext stehen. Dies gilt natürlich nicht nur für
materielle Objekte, sondern auch für soziale Regeln, Normen und Werte. Auch diese determinieren
nicht das Verhalten von Menschen, weil sie von den Menschen erst interpretiert werden müssen.
D. h., eine Norm kann von Situation zu Situation völlig unterschiedlich auf den Handelnden
»einwirken«, weil es sich erst in der Situation entscheidet, wie die Handelnden diese Norm
tatsächlich ausdeuten. Daraus ist aber zu schließen, daß jede Vorstellung, der zufolge es in einer
Gesellschaft Normen gebe, die als feststehende Determinanten des Handelns wirken, an der zentralen
Tatsache der Bedeutungsverleihung durch die Akteure und ihrer Interpretationsspielräume vorbeigeht.
Genau dieser Punkt war schon in der Dritten Vorlesung bei unserer Aufzählung der Kritiken an
Parsons’ handlungstheoretischem Bezugsrahmen angesprochen worden: Der Vorwurf einer
»objektivistischen Schlagseite« zielt eben darauf ab, daß Parsons diese Bedeutungsverleihung und
generell die kognitiven Leistungen der Akteure nicht ernsthaft zum Thema gemacht hat.
Auch die zweite und die dritte Prämisse, wonach »die Bedeutung sozialer Dinge in der Interaktion
entsteht« und wonach »Bedeutungen in einem interpretativen Prozeß ständig neu produziert und
verändert werden«, sind nun nicht wirklich völlig überraschend oder spektakulär. Mit der zweiten
Prämisse will Blumer uns nur sagen, daß die Bedeutungen, die Dinge für uns haben, nicht in den
Dingen selbst zu finden sind, etwa derart, daß aus dem physischen Gegenstand Baum irgendwie auch
seine Bedeutung abzuleiten sei, daß im physischen Objekt Baum die Idee oder die Bedeutung »Baum«
enthalten wäre oder der Baum eine Art Verkörperung der Idee wäre. Bedeutungen werden aber auch
nicht – so Blumer – nur innerpsychisch, quasi individuell, konstituiert. Vielmehr bilden sich
Bedeu197tungsgehalte aus der Interaktion zwischen Menschen, auch aufgrund der Tatsache, daß wir
in eine bestimmte Kultur hineinsozialisiert werden. Wie Sie vielleicht wissen, sagt man den
Deutschen ja eine besondere Beziehung zum Wald und zu Bäumen nach – vielleicht als Folge der
Romantik. Es liegt also in Deutschland besonders nahe, Bäume mit romantischen Erlebnissen zu
umkränzen, was in einer anderen Kultur möglicherweise auf ziemliches Unverständnis stoßen würde.
Kurz gesagt, die Bedeutungsverleihung im Handeln ist zu einem erheblichen Teil kein rein
innerpsychischer und isolierter Prozeß, sondern einer, in dem intersubjektive Kontexte eine große
Rolle spielen. Aber gleichzeitig – dies ist der eigentliche Gehalt der dritten Prämisse – sagt Blumer
auch, daß sich einmal gefundene und für sicher geglaubte Bedeutungen durchaus immer wieder ändern
können. Ein Beispiel hierfür ist die Arbeit mit dem Personal Computer, den Sie routiniert bedienen
können – bis dann plötzlich ein Problem auftaucht. Bisher war der Computer für Sie vielleicht
lediglich eine andere Form von Schreibmaschine, von der Sie wie selbstverständlich annehmen
konnten, daß sie funktioniert. Nun aber streikt diese »Schreibmaschine«, und Sie müssen sich
plötzlich mit dem Computer wirklich beschäftigen, Handbücher lesen usw. Sie treten dabei in einen
Kommunikationsprozeß mit sich selbst ein, fragen sich, welcher Fehler vorliegen könnte, was Sie
deshalb als nächstes tun sollen, welche Taste Sie drücken, welches Kabel Sie in welche Buchse
stecken sollen. Und im Laufe dieser möglicherweise langwierigen und nervenaufreibenden Tätigkeit
erhält dieses Ding für sie eine neue Bedeutung, weil Sie lernen, wie es funktioniert, weil Sie es nun
»mit anderen Augen« zu sehen beginnen.
All diese Prämissen erscheinen nun ja wirklich harmlos – und Blumer erachtet sie tatsächlich auch
für selbstverständlich. Dennoch zieht er daraus Schlußfolgerungen, wie sie dem Parsonsschen
Funktionalismus und dem Neo-Utilitarismus verschlossen bleiben.
Zunächst ergibt sich daraus nämlich, daß das Fundament der Theorie des Handelns im
Symbolischen Interaktionismus ein grundsätzlich anderes ist: Der Ausgangspunkt ist nämlich immer
Interaktion – und nicht wie in Parsons’ The Structure of Social Action oder im Neo-Utilitarismus der
individuelle Handlungsakt bzw. der einzelne Akteur. Wie Blumer sagt, ist die soziale Interaktion »ein
Prozeß, der menschliches Verhalten formt, der also nicht nur ein Mittel oder einen Rahmen für die
Äußerung oder die Freisetzung menschlichen 198Verhaltens darstellt«. (Blumer, »Der
methodologische Standort des Symbolischen Interaktionismus«, S. 87) Die Handlungen anderer sind
also immer schon Bestandteil des je individuellen Handelns und nicht bloß dessen Umfeld. Blumer
spricht deswegen dann auch häufig von »joint action« anstatt vom »social act« (Blumer, Symbolic
Interactionism, S. 70), um zu verdeutlichen, wie untrennbar die Handlungen der anderen schon immer
in meine eigenen verwoben sind. »(…) a joint action cannot be resolved into a common or same type
of behavior on the part of the participants. Each participant necessarily occupies a different position,
acts from that position, and engages in a separate and distinctive act. It is the fitting together of these
acts and not their commonality that constitutes joint action.« (Ibid.)
Damit geht einher, daß Blumer und die Symbolischen Interaktionisten ein deutlich anderes Bild von
der Gestalt des Selbst haben, als dies in anderen Theorietraditionen der Fall ist – mit Auswirkungen
auf die Theorie des Handelns. Unmittelbar Meads Ideen hinsichtlich der Entstehung des
Selbstbewußtseins aufgreifend (s. o.), betonen Interaktionisten, daß der Mensch auch Gegenstand des
eigenen Handelns ist: Ich kann mich auf mich selbst beziehen – und zwar deshalb, weil ich schon
immer in Interaktionen verstrickt bin und mir mein jeweiliges Handeln durch die diesbezüglichen
Reaktionen meiner Mitmenschen auf mich selbst zurückgespiegelt wird. Ich kann somit über mich
selbst reflektieren, nachdenken: Ich kann mich über mich selbst ärgern, weil ich mich in einer
Situation ziemlich dumm benommen habe, kann in Selbstmitleid versinken, weil mich mein
Lebenspartner verlassen hat, kann mit stolzgeschwellter Brust durch die Gegend laufen, weil ich
soeben wieder eine Heldentat vollbracht habe etc. Sozialität heißt damit etwas deutlich anderes als in
der Parsonsschen Handlungstheorie. Parsons ging selbstverständlich auch davon aus, daß der Mensch
ein soziales Wesen ist: Andernfalls wäre ja die Funktionsweise von Normen und Werten nicht zu
denken, die laut Parsons in Gesellschaften institutionalisiert und im Individuum internalisiert werden.
Aber für Parsons ist gerade der Prozeß der Internalisierung ein eher einliniger Prozeß, der von der
Gesellschaft zum Individuum verläuft.
Die Interaktionisten denken hier schon vom Ansatz her anders: Für sie ist ja die Kommunikation
des Selbst mit sich entscheidend – von einer bruchlosen Internalisierung kann also keine Rede sein,
199sondern – wie bereits angedeutet – das Selbst ist in ihren Augen mehr ein Prozeß als eine feste
Struktur. Dies heißt aber auch, daß man bei der Fassung dieses prozeßhaften Selbst und seiner
Handlungen nicht einfach Konzepte verwenden kann, wie sie in der Soziologie oder der
Sozialpsychologie sonst üblich sind: Die innere Welt »cannot be caught, consequently, by reducing it
to fixed elements of organization, such as attitudes, motives, feelings and ideas; instead, it must be
seen as a process in which such elements are brought into play and are subject to what happens in
such play. The inner world must be seen as inner process and not as fixed inner psychical
composition.« (Blumer, »George Herbert Mead«, S. 149) Für eine Theorie des Handelns bedeutet
dies, daß es weder angemessen ist, von gegebenen Zielen, Wünschen, Absichten, Nutzenkalkülen
auszugehen (wie dies im Neo-Utilitarismus der Fall ist), noch von festen und unwandelbaren Normen
und Werten (wie das in der Parsonsschen Theorie gedacht wird), die dann im Handeln umgesetzt
werden. Insofern erscheint Blumer auch der Rollenbegriff, so wie er in der Parsonsschen Theorie
gebraucht wurde (s. die Vierte Vorlesung), höchst problematisch, suggeriert er doch – unter Absehung
von der Prozeßhaftigkeit des Selbst – daß es feste Rollenerwartungen gibt, die von der Person im
Alltag einfach nur erfüllt werden. Das Selbst wird durch eine solche Sichtweise zu einem bloßen
Medium, das gesellschaftliche Erwartungen lediglich exekutiert, um Handlungen zu produzieren; ein
aktivischer Part wird ihm so nicht mehr zugestanden (Blumer, Symbolic Interactionism, S. 73).
Dies führt dann unmittelbar zur nächsten Relativierung handlungstheoretischer Positionen, wie sie
in der Soziologie üblich sind. Und hier stoßen wir wieder auf einen Punkt, auf den wir Sie bei der
kritischen Einschätzung von Parsons’ Handlungsbezugsrahmen (s. Dritte Vorlesung) schon aufmerksam
gemacht haben. Wenn Blumer und die Interaktionisten den prozeßhaften Charakter des Selbst und den
indeterministischen Charakter des menschlichen Handelns betonen, so meinen sie damit natürlich
auch, daß der Mensch kein passives Wesen ist, das auf Reize bloß reagiert. Vielmehr wird der
menschliche (wie der tierische) Organismus als einer beschrieben, der aktiv agiert, der quasi ein
Suchverhalten an den Tag legt, dessen Handlungsziele sich deshalb auch schnell ändern können, wenn
neue Situationen auftauchen und neue Aufmerksamkeiten in der jeweiligen Situation erforderlich sind.
Ursprüngliche Ziele und 200Absichten können sich sehr schnell ändern, eben weil Objekte in dem für
den Menschen so typischen ständigen Interpretationsprozeß auch andauernd neue Bedeutungen
erhalten.
Damit erhält aber die etwa bei Parsons zu findende Idee, der »action frame of reference« könne auf
feststehende Mittel und Ziele nicht verzichten, eine deutliche Relativierung. Menschliches Handeln –
so Blumer – steht nicht immer schon in Zweck-Mittel-Beziehungen. Es gibt nicht nur bestimmte
separate Handlungsformen wie das Ritual, das Spiel, den Tanz usw., wo diese Einsicht klar wird –
expressive Handlungen also, auf die wir mit dem Hinweis auf Herder und die deutsche
Ausdrucksanthropologie schon in der Dritten Vorlesung aufmerksam gemacht haben. Vielmehr gilt
allgemein, daß Handelnde im Alltagsleben oft keine wirklich klaren Ziele und Absichten haben,
ebenso wie es nur selten eindeutige Normen, Vorschriften usw. gibt, die einfach nur in die Tat
umzusetzen wären. Was wir zu tun haben, ist ebenso wie das, was wir tun wollen, häufig nur sehr
undeutlich umschrieben. Letztlich ist das Handeln hochgradig unbestimmt. Handlungsverläufe
entwickeln sich deshalb erst in einem komplizierten Prozeß, der nicht im voraus festgelegt werden
kann: Handeln ist zumeist nicht determiniert, sondern kontingent.
Diese Perspektive auf das menschliche Handeln unterscheidet sich deutlich von den Sichtweisen
anderer Soziologen, die – wie viele neo-utilitaristische Theoretiker – etwa von klar vorgegebenen
Nutzenkalkülen und Präferenzen und deshalb auch rational zu wählenden Handlungsmitteln ausgehen
oder – wie Parsons – die Eindeutigkeit normativer Vorgaben unterstellen. Interaktionisten dagegen
begreifen Handeln ganz allgemein als wenig determiniert und flüssig. Der Amerikaner Anselm
Strauss (1916-1996), selbst ein berühmter Interaktionist, hat dies so auf den Punkt gebracht: »(…) die
Zukunft ist ungewiß, erst nach ihrem Eintreffen kann sie in begrenztem Maß beurteilt, bezeichnet und
gekannt werden. Das bedeutet, daß unser Handeln weitgehend tentativ und exploratorisch sein muß.
Solange ein Handlungspfad nicht gründlich begangen worden ist, bleibt sein Zielpunkt unbestimmt.
Ziele und Mittel mögen unterwegs neu formuliert werden, weil unerwartete Ergebnisse auftreten.
Verpflichtung, selbst gegenüber einem durchgängigen Lebensstil oder Lebensziel, unterliegt
fortwährender Revision (…).« (Strauss, Spiegel und Masken, S. 35) Handeln ist eben ein
201Interpretationsprozeß, ein interaktiver Interpretationsprozeß in unmittelbarer Kommunikation mit
anderen und sich selbst. Gerade deshalb ist auch die Vorstellung von gegebenen und unwandelbaren
Zielen irreführend. Wir werden darauf nochmals in der Vorlesung zum Neo-Pragmatismus zu sprechen
kommen.
Dies führt sofort zu einem weiteren Punkt. Eben weil das Handeln der Individuen nie wirklich
geradlinig verläuft und weil das Selbst als ein aktives und prozeßhaftes verstanden werden muß, ist
für Interaktionisten auch die Vorstellung von festen sozialen Beziehungen zwischen Personen und
natürlich genauso diejenige von festen und stabilen größeren Handlungsgeflechten, wie sie etwa
Institutionen oder Organisationen darstellen, durchaus problematisch. Die Beziehungen zwischen
Menschen sind nur selten vorgegeben oder von vornherein definiert. Wenn wir uns mit anderen
Menschen treffen, dann gibt es eine manchmal offen ausgetragene, manchmal verschwiegene
Auseinandersetzung über die Definition der Situation. D. h., jede Interaktion hat eine
Beziehungsebene, die nicht einfach da ist, sondern die ausgehandelt werden muß. Sie haben dies
selbst schon unzählige Male erlebt, oft sicherlich auch schmerzhaft. Denken Sie an Ihre Beziehung zu
Ihren Eltern: Manchmal haben Sie sicherlich in ihrer Kindheit versucht, mit Ihren Eltern auf gleicher
Ebene, sozusagen auf gleicher »Augenhöhe«, zu reden oder zu verhandeln. Und manchmal ist Ihnen
dies auch sicherlich gelungen, so daß man sie als gleichberechtigten, vernünftigen und fast schon
erwachsenen Menschen akzeptiert hat. Nicht selten haben Sie aber auch erfahren müssen, daß Ihr
Vater oder Ihre Mutter den Chef oder die Chefin herausgekehrt haben und Sie bei bestimmten
Diskussionen nicht als gleichberechtigter Partner anerkannt wurden. Sie haben versucht, als
gleichberechtigtes Familienmitglied aufzutreten, sind aber zurückgewiesen worden. Und solche
Situationen geschehen im Alltag ständig: Enge Freunde von Ihnen können sich Ihnen gegenüber viele
Dinge »herausnehmen«, aber nicht jeder darf das; bei manchen Ihrer Bekannten würden Sie sich das
verbitten, d. h. deren Versuch, Ihnen eine bestimmte Definition der Situation vorzuschlagen, würde
von Ihnen zurückgewiesen werden.
Daraus läßt sich schließen, daß soziale Beziehungen immer in irgendeiner Form an die
gemeinsame Anerkennung durch die Interaktionspartner gebunden sind und daß – weil das Ergebnis
dieser 202gemeinsamen Definition der Situation nicht vorhergesagt werden bzw. die gemeinsame
Situationsdefinition scheitern kann – soziale Beziehungen in ihrer Entwicklung und Gestalt offen sind.
Und gleiches gilt natürlich auch für komplexere, aus vielen Menschen bestehende
Beziehungsgeflechte wie Organisationen oder Gesellschaften. Deshalb begreifen Interaktionisten
»Gesellschaft« auch als einen Handlungsprozeß und nicht als Struktur oder System, weil damit auf
problematische Weise die Fixiertheit sozialer Beziehungen suggeriert wird. Der Symbolische
Interaktionismus »(…) sees society not as a system, whether in the form of a static, moving, or
whatever kind of equilibrium, but as a vast number of occurring joint actions, many closely linked,
many not linked at all, many prefigured and repetitious, others being carved out in new directions, and
all being pursued to serve the purposes of the participants and not the requirements of a system.«
(Blumer, Symbolic Interactionism, S. 75) Es gibt also im Symbolischen Interaktionismus das
Bestreben, bei der Erklärung und Beschreibung von Gruppenphänomenen konsequent
handlungstheoretisch zu verfahren. Insofern trifft man sich hier mit Vertretern des Neo-Utilitarismus,
die dies ebenfalls versuchen. Der Unterschied liegt freilich darin, daß das Handlungsmodell ein ganz
anderes ist, nämlich eines, das Handeln als intersubjektiv konstituiert begreift.
Natürlich muß ein Sozialwissenschaftler von Handlungsverflechtungen ausgehen – wir tun dies im
Alltag ja auch schon immer, wenn wir von Ehe, Gruppe, Organisation, Krieg usw. sprechen, also von
Phänomenen, in die definitionsgemäß mehr als nur ein einzelner Handelnder verwickelt ist. Aber es
ist wichtig daran zu denken, daß diese keine hyperstabilen Gebilde sind, sondern sich aus den
Handlungen von Akteuren aufbauen – und gerade deshalb fluide sind. Auch scheinbar stabile Formen
gemeinsamen Handelns – wie wir sie in Organisationen finden – sind häufig flüssiger, als man
annimmt, denn selbst das Handeln in vermeintlich fixierten Handlungszusammenhängen ist zu einem
gehörigen Ausmaß auf Interpretationsprozesse angewiesen.
Rather than viewing organizations in rigid, static terms, the interactionist sees organizations as living, changing forms which may outlive
the lives of their respective members and, as such, take on histories that transcend individuals, conditions and specific situations. Rather
than focusing on formal 203structural attributes, the interactionist focuses on organizations as negotiated productions that differentially
constrain their members; they are seen as moving patterns of accommodative adjustment among organized parties. Although
organizations create formal structures, every organization in its day-to-day activities is produced and created by individuals, individuals
who are subject to and constrained by the vagaries and inconsistencies of the human form. (Denzin, »Notes on the Criminogenic
Hypothesis: A Case Study of the American Liquor Industry«, S. 905)

Die Rede von der »inneren Dynamik« von Institutionen oder gar die für den Funktionalismus so
typische Rede von »Systemerfordernissen« erscheint Interaktionisten also suspekt. Denn es ist immer
das interpretierende Handeln, welches Strukturen produziert, reproduziert und verändert, und nicht
eine irgendwie geartete abstrakte Systemlogik, die eine Institution verändert oder besser an die
Umwelt anpaßt. (Zu Blumers Kritik an Parsons vgl. die Ausführungen von Colomy/Brown,
»Elaboration, Revision, Polemic, and Progress in the Second Chicago School«, S. 23 ff.)
Dies hat im Hinblick auf die Konzeptualisierung von Gesellschaften sofort eine weitere
Konsequenz: Denn Blumer und die Interaktionisten sind auch skeptisch gegenüber dem
normativistischen Element in Parsons’ Funktionalismus. Eben weil die Interaktionen der Mitglieder
einer Gesellschaft als flüssig und abhängig von ihren Interpretationsleistungen beschrieben werden,
erscheint die Vorstellung, daß Gesellschaften durch einen Konsens über bestimmte Werte
zusammengehalten werden, als problematisch. Wer so argumentiert, der übersieht, daß sich
Gesellschaften aus Interaktionen aufbauen, daß unterschiedliche Menschen verschieden vernetzt und
verbunden bzw. isoliert sind und daß deshalb »Gesellschaften« eher als Geflechte disparater
Bedeutungs- oder Erfahrungswelten – die »Welt« der Kunst, des Verbrechens, des Sports, des
Fernsehens etc. – zu beschreiben sind (vgl. Strauss, Spiegel und Masken, S. 176; Blumer, Symbolic
Interactionism, S. 76) denn als durch feste Werte integrierte Ganzheiten. Zumindest ist aber eine
solche Integration über Werte empirisch zu untersuchen, anstatt sie nur – wie in den Prämissen der
Parsonsschen Theorie – zu postulieren.
Schließlich ergibt sich aus den drei so einfachen Prämissen Blumers mindestens noch eine weitere
soziologisch höchst bedeutsame Schlußfolgerung – eine, die sich beim Problem der
Konzeptualisierung sozialen Wandels stellt. Eben weil Blumer bei seiner Beschrei204bung des
Handelns und der Betonung des wechselseitigen Definitionsprozesses in Situationen so stark auf das
Element der Interpretation abhebt, ist ihm auch klar, daß in diesen Handlungs- und
Definitionsprozessen immer wieder Unvorhergesehenes auftaucht. Handeln ist – weil es im Alltag
suchend und tastend erfolgt – immer von Ungewißheit umgeben. Wir wissen nie, wohin genau uns
unser Handeln führt, ob wir nicht vielleicht abgelenkt werden, uns neue Ziele setzen etc. Handeln
beinhaltet also ein Moment des Kreativen und damit auch der Kontingenz. Wenn dem aber so ist und
wenn gleichzeitig Gesellschaft als ein Zusammenhandeln vieler Menschen betrachtet wird, dann
ergibt sich daraus, daß jeder soziale Prozeß, ja die Geschichte insgesamt, einen kontingenten Verlauf
nimmt: »(…) uncertainty, contingency, and transformation are part and parcel of the process of joint
action. To assume that the diversified joint actions which comprise a human society are set to follow
fixed and established channels is a sheer gratuitous assumption.« (Blumer, Symbolic Interactionism,
S. 72) Blumer hat dies selbst in einer größeren, allerdings erst posthum veröffentlichten Untersuchung
zum Phänomen der Industrialisierung (Industrialization as an Agent of Social Change) klargemacht:
Industrialisierung, also der Aufbau von modernen Industrien, einer städtischen Infrastruktur,
Stromversorgung etc., determiniert nämlich keineswegs den Pfad, den eine Gesellschaft letztlich
beschreiten wird. Die Vorstellung, daß alle Gesellschaften unter dem »impact« von Industrialisierung
gleichartig reagieren werden, ist nach Blumer grundfalsch. Sie ist deshalb falsch, weil es völlig
unterschiedliche und dazu noch höchst unterschiedlich wahrgenommene Kontaktpunkte zwischen
sozialen Gruppen und wirtschaftlich-technischen »Strukturen« gibt. Je nachdem, welcher
Arbeitsmarkt durch die Industrialisierung geschaffen wird, welcher Gruppenzusammenhalt in der
vorindustriellen Gesellschaft vorhanden war, wie sehr das Land, wie sehr die Stadt in die neuen
Industriestrukturen einbezogen werden, wie stark politische Agenturen eingreifen etc., wird die
Industrialisierung von Land zu Land einen je eigenen Pfad einschlagen – mit völlig unterschiedlichen
Konsequenzen. Die in der Entwicklungssoziologie, aber auch in der funktionalistischen
Wandlungstheorie lange Zeit vorherrschende Meinung, die westlichen Gesellschaften zeigten den
Ländern der dritten Welt die Gestalt ihrer Zukunft, weil diese Länder genau den gleichen Weg zu
gehen hätten und gegenüber dem Westen nur auf205holen müßten, ist für Blumer also auch aus
theoretischen Gründen grob vereinfachend und verfälschend. Denn Wirtschaftsstrukturen treffen nicht
quasi objektiv auf jeweils vollständig unterschiedliche gesellschaftliche Gefüge; vielmehr spielt
natürlich hier das Interpretationsmoment eine entscheidende Rolle, weil es den
Gesellschaftsmitgliedern obliegt, den gesellschaftlichen Umbruchprozeß zu deuten und
dementsprechend zu handeln (vgl. hierzu auch Maines, The Faultlines of Consciousness. A View of
Interactionism in Sociology, S. 55 ff.).

Soweit zu den weitreichenden soziologischen Konsequenzen aus den genannten drei Blumerschen
Prämissen. Blumer entwickelt daraus auch ein thematisches Programm, das sich deutlich von dem
Parsonsschen absetzen soll. Denn für Blumer ist klar, daß der lange dominante Parsonssche
Funktionalismus verschiedene Themen ausgespart bzw. nur unzureichend bearbeitet hat: Gegen die
dem Funktionalismus eigene Vorliebe für die Beschreibung stabiler Systemzustände setzt Blumer die
soziologische Beschäftigung mit Phänomenen sozialen Wandels; der im Funktionalismus üblichen
Konzentration auf geordnete und immer wieder die Systeme bestätigende Abläufe setzt Blumer die
Notwendigkeit des Studiums sozialer Desorganisationsprozesse entgegen, die er gerade deswegen so
spannend findet, weil sich in ihnen immer wieder Potential für die Entstehung neuer
Handlungsweisen und Strukturen zeigt; der funktionalistischen Sichtweise auf bruchlose
Sozialisationsprozesse (Stichwort: Internalisierung) setzt Blumer die Notwendigkeit entgegen,
Sozialisationsprozesse als ein komplexes Mit- und Gegeneinander von Selbstkontrolle und sozialer
Kontrolle zu betrachten (Blumer, Symbolic Interactionism, S. 77)
Tatsächlich konzentrierte sich der Symbolische Interaktionismus in seiner Blütezeit zwischen den
späten 1950er und den beginnenden 1970er Jahren auf einige – allerdings nicht auf alle! – dieser
Themen. Dabei ergab sich eine Art Arbeitsteilung mit dem Funktionalismus, insofern man sich
überwiegend auf die Themenfelder der Sozialpsychologie, der Soziologie abweichenden Verhaltens,
der Familiensoziologie, der Medizin- und Berufssoziologie und auf das Feld des kollektiven
Verhaltens konzentrierte, während man die anderen Felder – und hier vor allem die Makrosoziologie
– weitgehend und durchaus bereitwillig dem Funktionalismus überließ. Be206obachter der
soziologischen Szene sprachen, bezogen auf diese historische Phase der Soziologie, vom
Symbolischen Interaktionismus als einer »loyalen Opposition« (Mullins/Mullins, »Symbolic
Interactionism«, S. 98), weil die Interaktionisten zwar den Funktionalismus kritisierten, sich aber
doch mit ihm in einer Art thematischer Arbeitsteilung arrangierten. Zumindest auf den von ihm selbst
ernsthaft bearbeiteten Feldern konnte sich der Symbolische Interaktionismus fest etablieren, gelang es
ihm, wirkliche Forschungstraditionen zu begründen. Hier führten die Symbolischen Interaktionisten in
vieler Hinsicht die empirischen Arbeiten der Chicagoer Schule fort.
1. Zunächst ist die Familiensoziologie zu nennen, in der Autoren wie Ralph Turner (Family
Interaction) konkret aufzeigten, daß Familienmitglieder nicht – wie von den Utilitaristen vermutet –
nutzenorientierte und diesbezüglich kalkulierende Individuen sind, aber auch nicht – wie von Parsons
unterstellt – Personen, die stabilen Rollenmustern folgen, sondern solche, die immer wieder neue
Interaktionsformen erproben, immer wieder neue Handlungswege beschreiten, in komplizierte
Aushandlungsprozesse verwickelt sind etc. Was Turner (geb. 1919) fand, waren nicht feste
Strukturen, sondern eben flüssige Prozesse der Interaktion.
2. Ein Gebiet, in dem der Symbolische Interaktionismus ebenfalls sehr stark vertreten ist, ist das
noch junge Forschungsfeld der Soziologie der Emotionen. Dieses erst seit Mitte der 1970er Jahre
existierende Gebiet ist insofern von großem Interesse, weil allgemein Emotionen als biologisch
bedingt und insofern als a-sozial angesehen wurden. Interaktionisten konnten aber zeigen, daß
Emotionen sehr stark vom sozialen Umfeld geprägt sind und – was vielleicht noch wichtiger ist –
Menschen an diesen Emotionen arbeiten. Emotionen sind als ein Prozeß der Selbst-Interaktion zu
verstehen, weil Gefühle wie Ärger, Angst oder Zorn zwar real existieren und sich körperlich in
Mimik und Gestik ausdrücken. Aber dies geschieht natürlich nicht völlig unwillkürlich, denn wir
haben darüber auch ein bestimmtes Maß an Kontrolle. Und weil wir diese haben, antizipieren wir
gleichzeitig die Reaktionen der anderen auf unsere Gefühle, die wir deshalb wiederum besser oder
anders kontrollieren wollen (vgl. Denzin, On Understanding Emotion, S. 49 ff.). Wenn dem so ist,
wenn wir also an unseren Gefühlen arbeiten, dann sind beispielsweise Untersuchungen darüber
lohnend, an welchen Orten der Ge207sellschaft, von welchen Personengruppen eine besondere
Gefühlsarbeit geleistet wird. Eine bahnbrechende Untersuchung in diesem Zusammenhang war die
Studie von Arlie Hochschild (The Managed Heart; dt.: Das gekaufte Herz. Zur Kommerzialisierung
der Gefühle) über die Kommodifizierung, d. h. über das Zur-Ware-Werden von Gefühlen bei
bestimmten Berufsgruppen. Am Beispiel von Stewardessen zeigt Hochschild (geb. 1940) auf, wie
diese berufsmäßig gedrillt werden, ihre Emotionen zu kontrollieren, um alle nur möglichen
Unverschämtheiten von Passagieren mit einem freundlichen Lächeln hinnehmen und dies auch als
»normal« ansehen zu können – eine besonders notwendige Arbeit an den Emotionen, weil
Stewardessen unglücklicherweise im engen Flugzeug nicht die Möglichkeit haben, vor Verrückten,
Betrunkenen, Sexisten etc. zu fliehen.
3. Im sozialpsychologischen Feld der Forschung zu Identitätsbildung und -entwicklung ist Anselm
Strauss einer der führenden und wohl auch bekanntesten Autoren. Er hat mit seinem schon zitierten
Mirrors and Masks. The Search for Identity (dt.: Spiegel und Masken. Die Suche nach Identität)
ein brillantes essayistisches Büchlein vorgelegt, das Gedanken Meads und Blumers aus- bzw.
weiterführt. In einer höchst sensiblen Sprache beschreibt Strauss den nie endenden Prozeß
menschlicher Identitätsbildung und -findung, weil die Vergangenheit stets neu interpretiert wird und
somit auch nie abgeschlossen ist. Sozialisation ist für Strauss ein lebenslanger Prozeß, der nicht im
Jugendalter aufhört, so daß dann nur noch marginale Veränderungen der Identität stattfinden würden.
Vielmehr zeigt Strauss den ständigen Einbruch des Neuen und Überraschenden in das Leben von
Menschen, die dadurch immer wieder gezwungen sind, sich und ihre Vergangenheit neu zu
interpretieren. Strauss richtete seine besondere Aufmerksamkeit auf Phasen des Lebens, in denen
derartige Umdefinitionen besonders kraß ins Auge fallen, ist doch das Leben selbst eine Serie von
sogenannten »Statusübergängen«, die von jedem gemeistert werden müssen – der Übergang vom
»geschlechtslosen« Kind zum Jugendlichen mit sexuellen Wünschen, der vom freizeitorientierten
Jugendlichen zum berufstätigen Erwachsenen, der vom sexuell promisken Junggesellen zum treuen
Ehemann, vom Mann zum Vater, von der Frau zur Mutter, ja selbst der vom Lebenden zum Toten.
Letzteres hat Strauss zusammen mit Barney G. Glaser unter anderem in einem berühmt gewordenen
Buch mit dem englischen Titel Awareness of Dying (dt.: Betreuung 208von Sterbenden) analysiert,
einer Untersuchung zur Interaktion zwischen Pflegepersonal, sterbenden Patienten und ihren
Angehörigen in einem Krankenhaus. Dabei treten die Täuschungsmanöver zwischen den Beteiligten
zutage, aber auch der schmerzhafte Prozeß des Aussprechens und Akzeptierens der Tatsache des
bevorstehenden Todes. Der Verlust von Handlungsmöglichkeiten wird so selbst zum Gegenstand
handlungstheoretischer Analysen.
Im benachbarten Untersuchungsfeld der Selbstdarstellung ist vor allem ein Autor zu nennen, der mit
seinen Büchern ungeheuer erfolgreich war, den man aber allenfalls zum Rande des Symbolischen
Interaktionismus zählen darf. Die Rede ist von Erving Goffman (1922-1982), der zwar Schüler von
Everett Hughes, einem berühmten Interaktionisten an der University of Chicago, war und von Herbert
Blumer 1958 nach Berkeley an die University of California geholt wurde, jedoch eher eine Ein-
Mann-Theorie vertrat – zu eigenständig und vielleicht eigenbrötlerisch war Goffmans Denken.
Goffman war ein brillanter Beobachter des Alltagslebens, der diese Brillanz schon in seinem ersten
Buch The Presentation of Self in Everyday Life (1959, dt.: Wir alle spielen Theater) zum Ausdruck
brachte, in dem er im Detail die Inszenierungs- und Darstellungstechniken von Individuen im Umgang
mit ihren Mitmenschen beschrieb. Dabei benutzte er Bühnenmetaphern, um herauszustreichen, daß
auch das Leben im Alltag häufig so kunstvoll inszeniert und so raffiniert dargeboten wird wie auf
einer wirklichen Bühne. In bezug auf die Goffmanschen Arbeiten wurde in der
sozialwissenschaftlichen Fachliteratur häufig von einem »dramaturgischen« Handlungsmodell
gesprochen, weil Goffman nicht nur hier, sondern auch in seinen folgenden Arbeiten das Handeln
nicht – wie Utilitaristen – als von Präferenzen geleitet und nutzenmaximierend beschrieb, auch nicht –
wie Parsons – als normorientiert, aber auch nicht – wie die Pragmatisten und »normalen«
Interaktionisten – als explorativ und suchend, sondern als ganz und gar in der Selbstdarstellung
aufgehend: Ziel ist es, unser Selbstbild zu erhalten, als eine bestimmte Person gegenüber anderen zu
erscheinen, weswegen wir uns inszenieren und diesem Aspekt häufig alles andere unterordnen.
In weiteren empirischen Studien untersuchte Goffman das Leben in sogenannten »totalen
Institutionen« wie psychiatrischen Kliniken (Asylums. Essays on the Social Situation of Mental
Patients and other Inmates; dt.: Asyle) und analysierte die Handlungsstrategien von 209Menschen,
deren Identität, etwa durch Behinderung oder rassische Diskriminierung, beschädigt ist und die mit
diesem Defizit umgehen und leben müssen (Stigma. Notes on the Management of Spoiled Identity;
dt.: Stigma). Erst in späteren Büchern (vor allem Frame Analysis. An Essay on the Organization of
Experience; dt.: Rahmenanalyse) beginnt Goffman seine empirischen Beobachtungen zu
systematisieren und in ein theoretisches Gerüst zu stellen. Goffmans Arbeiten waren und sind noch
immer nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland auf dem Buchmarkt ein großer Erfolg, was
unter anderem damit zusammenhing, daß er sehr leicht und eingängig, d. h. ohne große soziologische
Fachterminologie schrieb und daß er zudem mit seinen Studien etwa zur Psychiatrie exotische und
damit interessante Welten eröffnete. Die Form der Darstellung läßt gleichzeitig einen zynischen Blick
auf unser Verhalten im Alltag erkennen, den offenbar viele Leser attraktiv fanden.
Gerade zu diesem letzten Punkt gibt es auch konkurrierende Deutungen des Goffmanschen Werkes:
Während ihm vorgeworfen wurde, sein Handlungsmodell ziele nur auf die zynische Manipulation des
Gegenübers und seine Beschreibung von totalen Institutionen blende die Verhandlungsmacht von
Patienten aus und vernachlässige insofern die Prozeßhaftigkeit und Variabilität des Handelns in allen
Institutionen und Organisationen (vgl. etwa die Kritik bei Meltzer/Petras/Reynolds, Symbolic
Interactionism. Genesis, varieties and criticism, S. 107 ff.), haben andere demgegenüber darauf
hingewiesen, daß vor allem der späte Goffman eher Durkheim nahegestanden und insgeheim dessen
Betonung der Bedeutung von Ritualen für Gesellschaften aufgenommen und innovativ weitergeführt
habe. Goffman »is explicitly following Durkheim’s point that in differentiated modern society, the
gods of isolated groups have given way to worship of the one ›sacred object‹ we all have in common:
the individual self« (Collins, Three Sociological Traditions, S. 156/157). Die von ihm analysierten
Praktiken seien deshalb eher im Sinne einer wechselseitigen Gesichtswahrung und nicht eines
einseitigen strategischen »impression management« zu verstehen. Goffman habe also quasi in seinen
Mikrostudien zu den Selbstdarstellungstechniken von Personen auf die Sakralität der Person in der
Moderne verwiesen, wie sie sich auch im Glauben an die Menschenrechte äußert (zur ganzen Breite
der Goffman-Deutung vgl. den Sammelband von Hettlage/Lenz, Erving Goffman – ein soziologischer
Klassiker der zweiten Generation).
2104. Ganz besonders stark hat sich der Symbolische Interaktionismus auch auf dem Feld des
abweichenden Verhaltens etablieren können, wobei mit Konzepten gearbeitet wurde, die Sie schon
kennen. Die berühmteste und in vielerlei Hinsicht bahnbrechende Arbeit war hierbei Howard S.
Beckers Outsiders. Studies in the Sociology of Deviance (dt.: Außenseiter. Zur Soziologie
abweichenden Verhaltens), eine gleichzeitig gut lesbare und theoretisch gehaltvolle Studie zu
devianten Subkulturen und ihren »Mitgliedern«, zu Tanzmusikern und Marihuana-Konsumenten. (Die
empirischen Untersuchungen zu diesen exemplarischen Fällen entstammen den 1950er Jahren; auch
heute könnte man noch von der Subkultur der Drogenkonsumenten sprechen, man würde hierbei aber
wohl kaum an Marihuana-Konsumenten denken!) Das Innovative an Beckers Buch aus dem Jahre
1963 war zum einen die Tatsache, daß er abweichendes Verhalten nicht als einen einmaligen Akt
beschrieb, sondern als eine Verhaltenssequenz, einen Prozeß, durch den man langsam und
kontinuierlich in eine deviante Subkultur hineinwächst. Becker (geb. 1928) verwendete hierbei den
Begriff der »Karriere«, um anzudeuten, daß Devianz tatsächlich ein fließendes Hineinrutschen in ein
dann sich verfestigendes deviantes Verhalten ist. Es ist gleichzeitig ein Prozeß – und dies war die
wirklich spektakuläre und aufsehenerregende zweite Pointe von Becker –, der sich nicht nur zwischen
dem Novizen, der sich einer Subkultur nähert, und den schon in der Subkultur fest verankerten
Personen abspielt, sondern der insbesonders zwischen den Menschen in der Subkultur und den
Instanzen der sozialen Kontrolle, der Justiz oder der Polizei etwa, stattfindet. Dieser letzte Aspekt
löste deshalb sowohl eine enorme Theoriedynamik als auch eine hitzige Kontroverse aus, weil
Becker Devianz, also abweichendes Verhalten, nicht in erster Linie als ein genuines Problem der
Subkultur betrachtete, sondern als eines, das von der Gesellschaft erst zu einem Problem gemacht
wird. Becker betont, »daß gesellschaftliche Gruppen abweichendes Verhalten dadurch schaffen,
daß sie Regeln aufstellen, deren Verletzung abweichendes Verhalten konstituiert, und daß sie diese
Regeln auf bestimmte Menschen anwenden und damit diese Menschen zu Außenseitern stempeln. Von
diesem Standpunkt aus ist abweichendes Verhalten keine Qualität der Handlung, die eine Person
begeht, sondern vielmehr eine Konsequenz der Anwendung von Regeln durch andere und der
Sanktionen gegenüber einem ›Missetäter‹. Der Mensch 211mit abweichendem Verhalten ist ein
Mensch, auf den diese Bezeichnung erfolgreich angewandt worden ist; abweichendes Verhalten ist
Verhalten, das Menschen so bezeichnen.« (Außenseiter, S. 8; korrigierte Übersetzung; unsere
Hervorh.) Becker dreht quasi die herkömmliche Perspektive des Alltags (und der bisherigen
Soziologie) um: Deviantes Verhalten sei nicht per se abstoßend, »anormal«, ungewöhnlich etc.;
vielmehr werde ein beliebiges Verhalten erst durch bestimmte Gruppen oder Instanzen in der
Gesellschaft zu einem devianten gemacht. In die Etikettierung eines Verhaltens als abweichend gehen
somit Interessen und Machtverhältnisse ein. Es seien die mächtigen Gruppen in einer Gesellschaft,
die Ladendiebstahl kriminalisieren und Steuerhinterziehung gleichzeitig als Kavaliersdelikt erachten
und gesetzlich erleichtern; es seien die Mächtigen, die Heroinabhängige aus den Parks vertreiben,
aber auf den Parties der High-Society selber fleißig koksen. »Wer kann tatsächlich andere zwingen,
seine Regeln zu akzeptieren, und welches sind die Gründe ihres Erfolges? Das ist natürlich eine
Frage politischer und wirtschaftlicher Macht.« (A.a.O., S. 15) Damit war die sogenannte Labeling
(Labelling)-Theorie geboren, die ebendiesen Etikettierungsaspekt der Abweichung betonte und die
mit Namen wie John Kitsuse (1923-2003), Kai Erikson (geb. 1931) und Edwin Lemert (1912-1996)
verbunden ist (zu einigen ihrer Arbeiten vgl. das Literaturverzeichnis). Diese Theorie zog – wie Sie
sicherlich nachvollziehen können – gerade in den bewegten 1960er Jahren eine ganze Masse von
Studierenden an, die sich als machtkritisch verstanden und denen die »underdog-Perspektive« des
Labelling-Ansatzes (berühmt wurde etwa Beckers Ausspruch: »Whose side are you on«?) sehr
entgegenkam. Mittlerweile ist freilich der Glanz dieses Ansatzes der Kriminalsoziologie stark
verblaßt; zu deutlich ist geworden, daß er mit seiner fast ausschließlichen Betonung der Rolle von
Instanzen der sozialen Kontrolle nicht hinreicht, um abweichendes Verhalten zu erklären. Der andere
Aspekt der Beckerschen Theorie aber, sein Verweis auf die Prozeßhaftigkeit des Erlernens
bestimmter Verhaltensmuster, sein Begriff der »Karriere«, hat nach wie vor nichts von seiner
Wirkung, etwa in der Subkulturforschung, und von seiner Aktualität verloren. (Für einen kurzen
Überblick zum Symbolischen Interaktionismus in der Soziologie des abweichenden Verhaltens vgl.
Paul Rock, »Symbolic Interaction and Labelling Theory«.)
2125. Ein weiteres wichtiges Themenfeld, auf dem sich der Symbolische Interaktionismus
etablieren konnte, ist das Gebiet »kollektiven Verhaltens«. Blumer selbst hatte kollektives Handeln,
mit dem er sich schon in den 1930er Jahren beschäftigt hatte, als ein zentrales Phänomen einer jeden
Gesellschaft angesehen, insofern er darin auch das Potential zur Entstehung neuer sozialer Muster und
sozialer Handlungsformen zu erkennen glaubte. Schon die ältere Chicagoer Schule hatte geradezu die
Hauptaufgabe der Soziologie in der Analyse des kollektiven Verhaltens gesehen. Der
Strukturfunktionalismus dagegen hatte lange Zeit dieses Phänomen völlig ignoriert, und es waren in
den 1950er und 1960er Jahren tatsächlich Blumers Studenten, die mehr oder weniger als einzige
dieses Themenfeld bearbeiteten (vgl. Shibutani, »Herbert Blumer’s Contribution to Twentieth Century
Sociology«, S. 26). Dabei wurden unter den Begriff »collective behavior« verschiedenartigste
Phänomene gefaßt, die von der Mode über Gerüchte und Paniken bis hin zu gewaltsamen
Massenbewegungen reichen konnten. Für all diese Aspekte der sozialen Wirklichkeit hatten Blumers
Studenten ein besonderes Gespür; am wichtigsten sind wohl ihre Arbeiten zu dem Phänomen
geworden, das man heutzutage mit dem Begriff der »sozialen Bewegung« bezeichnen würde. Gerade
bei empirischen Untersuchungen zum amerikanischen Civil Rights Movement, zur internationalen
Studentenbewegung, zur Frauenbewegung, zur Umweltbewegung etc. waren Interaktionisten an
»vorderster Front« beteiligt und haben dabei eine eigenständige theoretische Perspektive entwickelt.
Das Interessante der interaktionistischen Herangehensweise an dieses Phänomen war, daß sie quer zu
den herkömmlichen sozialwissenschaftlichen Forschungstraditionen stand und gerade dadurch
Phänomene in den Blick bekam, die diesen Traditionen versagt blieben. In den 1960er Jahren
dominierten in der Soziologie zwei Theorierichtungen das Forschungsfeld der sozialen Bewegungen:
Da war zum einen der Strukturfunktionalismus, der dieses Feld erst jüngst entdeckt hatte und soziale
Bewegungen auf gesellschaftliche Spannungen zurückführte, auf »social strain«. Das Problem bei
diesem Ansatz war, daß soziale Bewegungen hier immer scharf vom sonstigen institutionellen Gefüge
der Gesellschaft unterschieden wurden und der Eindruck entstand, nur ungenügend angepaßte
Gruppen neigten zum Protest, bei sozialen Protesten und Bewegungen sei also immer irgendwie
Irrationalität im Spiel. Den anderen damals 213zentralen Ansatz, den
Ressourcenmobilisierungsansatz, kennen Sie schon aus der Fünften Vorlesung; er argumentiert
allerdings so hochgradig rationalistisch, daß es aussieht, als handle es sich bei sozialen Bewegungen
ausschließlich um einen Kampf sozialer Gruppen um Machtvorteile unter Abwägung von Risiken und
(politischen) Chancen. Beide Richtungen – so nun die Interaktionisten – mißachten aber damit, daß
kollektives Handeln nicht einfach nur ein geradliniges – sei es eher rationales oder eher irrationales –
Verhalten ist. Zudem läßt sich kollektives Verhalten nicht als bloße Aggregation individueller
Verhaltensformen verstehen. Die Interaktionisten konnten anhand von empirischen Studien zeigen, wie
sich beispielsweise in der konkreten Situation der Massenversammlung und durch diese die
Handlungsziele der Teilnehmer ändern, daß also das Verhalten der Masse einer prozessualen
Entwicklung unterliegt, einer spezifischen Dynamik, die der Vorstellung einer rationalen
Zielverfolgung absolut widerspricht. Gerade in sozialen Bewegungen entstehen kontext- und
situationsabhängig immer wieder neue Bedeutungen, die vorher in dieser Weise nie vorhanden waren
– ganz so, wie es das interaktionistische Handlungsmodell ja auch erwarten läßt. So konnte etwa bei
der Analyse der Rassenunruhen 1965 in Watts, Los Angeles, gezeigt werden, daß sich aus einem
banalen Vorfall, einer Konfrontation mit der Polizei anläßlich einer Straßenkontrolle und einem
zunächst nur sehr kleinen Menschenauflauf, sehr schnell eine neue Situationsdefinition entwickelte, in
der nun plötzlich der Verkehrsvorfall uminterpretiert wurde als typische Repressionsmaßnahme der
weißen Polizei, in der also ein auf ein lokales Ereignis bezogener Tumult plötzlich als Aufstand
gegen das »weiße System« gedeutet wurde. Keiner der ursprünglichen Teilnehmer dieses kleinen
Menschenauflaufs hatte diese Idee schon von Anfang an, sie bildete sich erst im Verlauf des
Zusammenhandelns, und in diesem Prozeß wurden dann kognitive und affektive Einstellungen und
Glaubenshaltungen transformiert. Dies ist der Moment der »Emergenz« neuer Normen (vgl. Turner,
»Kollektives Verhalten und Konflikt: Neue theoretische Bezugsrahmen«; R. Turner/Killian,
Collective Behavior, S. 21-25), insofern in einer Situation neue Bedeutungen und Verhaltensmuster
auftauchen, die Situation umdefiniert und die Realität uminterpretiert wird und es damit zu einem
Bruch mit den Routinen des Alltags kommt. Die entstehenden neuen Symbole ziehen rasch das
Interesse der Menschen auf sich – 214sie werden zum Fokus des Handelns jenseits von jeglichen
Nutzenüberlegungen, so wie der Sturm auf die Bastille in der Französischen Revolution nicht
erfolgte, weil es der strategisch wichtigste Ort der französischen Hauptstadt oder das zentrale
Gefängnis gewesen wäre, in dem die meisten politischen Gefangenen einsaßen, sondern weil die
Festung eben zum Symbol königlicher Herrschaft geworden war. Aber diese Fokussierung des
kollektiven Handelns auf Symbole kann auch nicht einfach als Zeichen von Irrationalität gedeutet
werden, denn tatsächlich folgt das Handeln doch einer gewissen Logik – abgesehen davon, daß es
nicht irrational ist, Symbole zu attackieren! Insgesamt erlaubte der interaktionistische Ansatz
innerhalb der Bewegungsforschung eine ganz andere und häufig auch realitätsangemessenere
Perspektive auf Massenphänomene, als dies »herkömmlichen« soziologischen Theorien möglich war
(vgl. zu den Spezifika dieses interaktionistischen Ansatzes in der Bewegungsforschung Snow/Davis,
»The Chicago Approach to Collective Behavior«).
6. Zu den wichtigen thematischen Bereichen des Symbolischen Interaktionismus gehört schließlich
die Berufs- und Arbeitssoziologie und dabei vor allem die Soziologie der Professionen. Hier mußte
man natürlich mit dem Funktionalismus konkurrieren, hatte ja Parsons – wie Sie aus der Dritten
Vorlesung wissen – selbst schon ganz früh sein Interesse für dieses Thema entwickelt. Man sprach
dann auch bald von der Konkurrenz zwischen dem Harvard approach (Parsons) und dem Chicago
approach innerhalb der Professionssoziologie, wobei letzterer eng mit dem Namen von Everett
Hughes (1897-1983) verbunden war. Hughes kritisierte an Parsons, daß dieser die von den
Professionen hochgehaltene Standesethik im Hinblick auf die dienende Haltung gegenüber den
Klienten, die immer wieder betonte sachliche Angemessenheit akademisch-universitären Wissens und
die ebenso beschworene Notwendigkeit der berufsständischen Selbstverwaltung zu wörtlich nehme
und eben nicht soziologisch hinterfrage. Hughes deutete diese Phänomene im Gegensatz zu Parsons
eher ideologiekritisch als Versuche der Machterhaltung und des Ausschlusses anderer Gruppen, die in
ebendieses Berufsfeld drängen und die Pfründe der etablierten Professionen bedrohen, und als Mittel
der Steigerung der Autonomie gegenüber Klienten. Ebenso interpretierte er Bemühungen von
Berufsgruppen, sich zu »echten« Professionen zu entwickeln, sich also zu »pro215fessionalisieren«,
als Suche nach mehr »independence, more recognition, a higher place, a cleaner distinction between
those in the profession and those outside, and a larger measure of autonomy in choosing colleagues
and successors. One necessary validation of such changes of status in our society is introduction of
study for the profession in question into the university.« (Hughes, On Work, Race, and the
Sociological Imagination, S. 43) Mit Eliot Freidson (1923-2003) und Andrew Abbott (geb. 1948),
deren diesbezüglich wichtigste Arbeiten Sie aus dem Literaturverzeichnis ersehen können, fand
Hughes würdige Nachfolger im Feld der Soziologie der Professionen, welche die Analyse mit dieser
parsonskritischen Stoßrichtung fortführten, wobei sich deutliche Überschneidungen mit dem in der
übernächsten Vorlesung zu besprechenden konflikttheoretischen Ansatz ergaben.

Soweit zu den traditionellen Themenfeldern des Symbolischen Interaktionismus. Es gibt freilich ein
weiteres »Feld«, in dem der Einfluß dieser Schule ebenfalls stark zu verspüren ist – und dies ist der
Bereich der soziologischen Forschungsmethoden. Die Interaktionisten erkannten aufgrund ihres
spezifischen Blickwinkels auf soziale Phänomene die Notwendigkeit, diese Wirklichkeit mit
sozialwissenschaftlichen Methoden einzufangen, die dem Charakter dieser Phänomene wirklich
angemessen sind. Schon Blumer hatte davon gesprochen, daß es in der empirischen Sozialforschung
angesichts der von den Pragmatisten erkannten Fluidität sozialer Prozesse auch besonderer Konzepte
bedarf. Blumer sprach von »sensitizing concepts« (Blumer, Symbolic Interactionism, S. 149), also
gegenstandserschließenden Begriffen im Gegensatz zu Begriffen, die nur eine Subsumtion der
Phänomene unter die Begriffe erlauben, ohne allerdings genauer auszuführen, was darunter zu
verstehen sei und wie man diese entwickle. Dies wurde dann in aufsehenerregender Weise durch
Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss in ihrem Buch The Discovery of Grounded Theory (dt.:
Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung) nachgeholt bzw. verwirklicht. Glaser/Strauss
legten ein Manifest qualitativer Sozialforschung vor, in dem sie auch anhand vieler Beispiele die
»beste Strategie« einer empirienahen, stufenweisen Generierung von Theorie darlegten. Theorie
sollte nicht – wie man dies an Parsons kritisierte – aus einem abstrakten Handlungsbezugsrahmen o.
ä. logisch deduziert werden. Vielmehr besteht der Königsweg 216einer empirisch fundierten Theorie
ihrer Auffassung zufolge in der vorsichtigen und unvoreingenommenen Annäherung an den
Untersuchungsgegenstand, der dann intensiv studiert und mit anderen Gegenständen auf Ähnlichkeiten
und Gemeinsamkeiten hin verglichen wird (der Vergleich wird in vielen Beschreibungen der
»grounded theory« vergessen!), bevor dann Kategorien gebildet und Hypothesen formuliert werden.
Eine nähere Beschäftigung mit der methodologischen Seite des Symbolischen Interaktionismus
müssen wir uns in diesen Vorlesungen zur Theorie aber versagen.

Wenn nun zum Abschluß nach den aktuellen Tendenzen im Symbolischen Interaktionismus gefragt
wird, so sind hier mindestens drei Punkte erwähnenswert. Erstens: Einige Vertreter des
Interaktionismus haben sich seit den späten 1980er Jahren verstärkt an der Diskussion um die
Postmoderne beteiligt, wobei sie insbesondere auch die Medien und ihre Rolle in der modernen
Gesellschaft intensiv analysierten. Der schon genannte Norman Denzin (geb. 1941) ist einer davon,
insofern er in verschiedenen Studien besonders den Film zum Gegenstand seiner Beschäftigung
gemacht hat – unter anderem deswegen, weil seiner Auffassung nach postmoderne Identitäten ohne
den Film (und andere Medien) nicht mehr zu denken sind, insofern Film und Fernsehen Bilder zur
Verfügung stellen, mit denen sich die Menschen identifizieren (Denzin, Images of Postmodern
Society. Social Theory and Contemporary Cinema). Zweifellos werden hier wichtige empirische
Fragen über Veränderungen der Identitätsbildung berührt. Dies gilt auch für Denzins Arbeiten zu
»Epiphanien«, lebenserschütternden Ereignissen wie Scheidung, Vergewaltigung, Statusverlust,
Konversion u.ä. Unter dem Einfluß der enormen Radikalisierung der Meadschen Einsicht in die
prinzipielle Unabgeschlossenheit der Identitätsbildung in einem Teil der postmodernen Literatur
kommt es dabei aber auch zu unhaltbaren Übertreibungen. Der Interaktionismus läuft hier Gefahr, in
den sogenannten »Cultural Studies« aufzugehen und seine professionelle Identität als
Sozialwissenschaft zu verlieren.
Vielversprechender ist der zweite neuere Trend innerhalb des Symbolischen Interaktionismus,
nämlich der weitere Ausbau der Handlungstheorie. Wiederum war es der schon genannte Anselm
Strauss, der hier entscheidende Schritte getan und 1993 in seinem Buch Continual Permutations of
Action in sehr anschaulicher Weise 217eine Vielzahl von Thesen zum sozialen Handeln formuliert hat.
Allerdings laufen viele der Entwicklungen in diesem handlungstheoretischen Feld eher innerhalb der
Philosophie und Sozialphilosophie ab, da sich dort der Pragmatismus durch eine umfassende
Renaissance als eine veritable Strömung etabliert hat. Auf diese kommen wir in der Neunzehnten
Vorlesung ausführlicher zu sprechen.
Der dritte und letzte hier von uns zu nennende neuere Trend ist in einem Bereich zu beobachten, in
dem dies von vielen kaum erwartet wurde – gemeint ist die Makrosoziologie. Die Entwicklung des
Symbolischen Interaktionismus seit den 1950er Jahren war ja geprägt durch eine Arbeitsteilung mit
dem Funktionalismus, insofern man sich inhaltlich vorwiegend auf mikrosoziologische Themen
konzentriert hatte. Zwar hatte Blumer bei seiner Auffächerung der vom Symbolischen
Interaktionismus zu behandelnden Arbeitsgebiete auch dasjenige des sozialen Wandels genannt, doch
fielen die Reaktionen seiner Mitstreiter genau darauf eher schwach aus. Blumer selbst hatte durchaus
einiges zur Industrialisierung geschrieben, aber dies war eher eine Kritik bestehender Ansätze als ein
eigenständiger und konstruktiver makrosoziologischer Versuch.
Die makrosoziologische Abstinenz der Interaktionisten war insofern merkwürdig, als ja die
»Chicago School of Sociology« ursprünglich durchaus breitere soziologische Interessen hatte.
Autoren wie Park oder Thomas waren sehr stark stadtsoziologisch orientiert und hatten bedeutende
Arbeiten über Einwanderung bzw. Migration, Ethnizität und kollektives Verhalten geschrieben. Von
diesen makrosoziologischen Themen war im Symbolischen Interaktionismus der 1950er und 1960er
Jahre eigentlich nur die Beschäftigung mit »collective behavior« übriggeblieben; »größere« Fragen
blendete man aus. Somit läßt sich behaupten, daß der Symbolische Interaktionismus zunächst lediglich
die mikrosoziologische Seite der alten »Chicago School« fortführte. Dies erlaubte dann den nicht
ganz unberechtigten Vorwurf, daß dieser Ansatz in seiner Konzentration auf die Mikroebene der direkt
miteinander agierenden Akteure zum einen ahistorisch sei und zum anderen ökonomische Aspekte und
gesellschaftliche Machtbeziehungen völlig ignoriere, daß der Theorie also ein sogenannter
»astructural bias« (Meltzer/Petras/Reynolds, Symbolic Interactionism, S. 113) innewohne.
Tatsächlich wurde dieses Problem zunächst sehr langsam angegangen; der Weg in die
Makrosoziologie sollte sich für den Symboli218schen Interaktionismus als besonders steinig
erweisen. Ausgangspunkt war die Soziologie der Professionen, da in diesem Zusammenhang auch
Organisationen wie Krankenhäuser untersucht wurden, in denen derartige Berufsgruppen tätig sind. Es
war wiederum Anselm Strauss, der in bezug auf diese Organisationen von »negotiated orders«
sprach, von Strukturen also als dem Resultat von Aushandlungsprozessen, die in jeder Organisation –
und erscheine sie auch noch so stabil und unverrückbar – stattfinden. Krankenhäuser werden
keineswegs von einem eindeutigen Organisationszweck aus strukturiert; viele Strukturen werden nur
verständlich, wenn man sie als offizielle oder inoffizielle Arrangements zwischen verschiedenen
Gruppen (Ärzten, Krankenschwestern, Krankenkassen, Patienten usw.) auffaßt. Die Denkfigur der
»negotiation«, der Verhandlung also, gab Anlaß, intensiver über das Verhältnis von Handlung und
Struktur nachzudenken: »Structure is not ›out there‹; it should not be reified. When we talk about
structure we are, or should be, referring to the structural conditions that pertain to the phenomena
under study.« (Strauss, Negotiations, S. 257) Diese organisationssoziologischen Untersuchungen
warfen zunehmend die Frage auf, ob man mit der Figur der »Verhandlung« nicht auch
Akteurskonfigurationen in größerem Maßstab, also zwischen Institutionen und Organisationen,
darstellen könne, ob man nicht vielleicht sogar ganze Gesellschaften so fassen könne: »The model of
a society that derives from the negotiated order is one characterized by a complex network of
competing groups and individuals acting to control, maintain, or improve their social conditions as
defined by their self-interests. The realization of these interests, material and ideal, are the outcomes
of negotiated situations, encounters, and relationships.« (Hall, »A Symbolic Interactionist Analysis of
Politics«, S. 45)
Am frühesten geschah dieser makrosoziologische Rückgriff auf die Idee der »negotiations« in
Norman Denzins eindrucksvollem Aufsatz zur Funktionsweise der amerikanischen
Spirituosenindustrie, »Notes on the Criminogenic Hypothesis: A Case Study of the American Liquor
Industry«, in dem Denzin den historischen Kontext ebenso geschickt einbezog wie die relevanten
kollektiven Akteure und Strukturen, also die Schnapsbrennereien, die Verteiler, die Schenken, die
Konsumenten und die Rechtsordnung. Ebenso erwähnenswert sind auch erste Versuche aus dem Lager
der Interaktionisten, politische Phänomene zu fassen, wobei hier allerdings 219eher die
Selbstdarstellungstechniken der politischen Repräsentanten als wirkliche Prozesse zwischen
politischen Akteuren unterschiedlichster Natur im Mittelpunkt standen (Hall, »A Symbolic
Interactionist Analysis of Politics«).
Immerhin ist aber deutlich erkennbar, daß sich verschiedene Autoren aus der Schule des
Symbolischen Interaktionismus energisch auf die Suche nach einer stärkeren makrosoziologischen
Anbindung ihrer Theorie begeben, wobei hier in erster Linie wieder (siehe dazu die entsprechenden
Titel im Literaturverzeichnis) Anselm Strauss, David R. Maines (geb. 1940) und Peter M. Hall zu
nennen sind, die intensiv darüber nachdachten, wie sich über die theoretische Fassung von
Beziehungs-Netzwerken, Praktiken, Konventionen etc. die Kluft zwischen dem Mikro-Bereich der
Akteure und dem Makro-Bereich der Organisationen und der Gesellschaft besser schließen läßt:
Maines’ Konzept der Meso-Struktur (»In Search of Mesostructure. Studies in the Negotiated Order«)
war und ist hier ein interessanter Ansatzpunkt. Alle drei Autoren – Strauss, Hall und Maines –
erfuhren jedenfalls, daß sie in diesem Feld alles andere als allein sind, weil das sogenannte Mikro-
Makro-Problem auch von den traditionellen (also den nicht-interaktionistischen) soziologischen
Theorien nach wie vor als schwierig zu lösen betrachtet wurde und die bisherigen
makrotheoretischen Argumentationen als unbefriedigend gelten. Und so kommt es, daß plötzlich
Autoren füreinander interessant werden, die dies nie vermutet hätten – weil man sich bis dato auf
scheinbar völlig unterschiedlichen Themenfeldern und in höchst verschiedenartigen
Theorietraditionen bewegt hat (vgl. Adler/Adler, »Everyday Life in Sociology«, S. 227 ff.). Darüber
werden Sie in den kommenden Vorlesungen etwa zum Werk von Pierre Bourdieu oder zu Anthony
Giddens noch hören, insofern diese teilweise auf Gedankengut zurückgriffen, das so oder so ähnlich
auch schon im amerikanischen Pragmatismus und im Symbolischen Interaktionismus vorhanden war.
Einer der symbolischen Interaktionisten (David Maines, »The Faultline of Consciousness«) behauptet
sogar, daß ein großer Teil der heutigen Soziologie in Richtung interaktionistischer Auffassungen
tendiere, ohne sich dessen ganz bewußt zu sein. Auch dies ist wieder eine Bestätigung unserer schon
in der Ersten Vorlesung vorgetragenen These, daß es durchaus zahlreiche Korridore zwischen den
vermeintlich so abgeschotteten theoretischen Gebäuden in der Soziologie gibt!
220Siebte Vorlesung
Interpretative Ansätze (2):
Ethnomethodologie

Wie wir in der letzten Vorlesung schon gehört haben, existiert neben dem Symbolischen
Interaktionismus noch eine weitere theoretische Schule, der man das Etikett »Interpretativer Ansatz«
angeheftet hat. Dies ist die sogenannte Ethnomethodologie, eine Richtung, die allein durch die
furchteinflößende Komplexität ihres Namens abschrecken könnte. Tatsächlich ist aber dieser Name so
kompliziert nicht, setzt er sich doch aus zwei Bestandteilen zusammen, die je für sich durchaus
verständlich sind. In dem Wort steckt nämlich zum einen der Begriff »ethnos« (= Volk), womit auf die
der Soziologie benachbarte Disziplin der Ethnologie, der Völkerkunde, angespielt wird, und zum
anderen der Begriff der »Methodologie«. Damit läßt sich schon in Ansätzen das Programm dieses
theoretischen Ansatzes erschließen. Denn mit den Methoden der Ethnologie, des Faches also, das
fremde Völker erkundet, soll nun die eigene Kultur erforscht werden, um dort die
Selbstverständlichkeiten und Eigenarten aufzudecken, deren wir uns häufig gar nicht bewußt sind –
eben weil es Selbstverständlichkeiten sind: Die Verfremdung der eigenen Kultur soll also deren
verborgene Struktur offenbaren. Darüber hinaus konnte sogar ein noch ambitionierteres Unterfangen
anvisiert werden: Denn die Ethnomethodologen machten nicht nur die unbemerkten
Struktureigenschaften ihrer eigenen Kultur zum Thema, sondern ihr Ziel war letztlich die Aufdeckung
der quasi-anthropologischen Grundstrukturen des Alltagswissens und -handelns überhaupt. Wie muß
dieses Wissen, das Wissen eines jeden Mitgliedes einer jeden Gesellschaft, strukturiert sein, damit
Handeln möglich ist? Dies war die zentrale Frage, welche die Ethnomethodologen angehen wollten –
eine Frage, die ihrer Ansicht nach von der herkömmlichen Soziologie völlig vernachlässigt worden
war.
Dieses handlungstheoretische Interesse war dabei nicht zufällig, denn der Begründer der
Ethnomethodologie – Harold Garfinkel (geb. 1917) – war Schüler von Talcott Parsons gewesen, hatte
bei diesem 1952 in Harvard promoviert und war insofern mit dessen Werk 221bestens vertraut.
Tatsächlich ließ Garfinkel auch gar keinen Zweifel daran, daß – ganz im Sinne unserer in diesem
Buch vertretenen These, wonach die moderne soziologische Theorie ihren Ausgang vom Werk Talcott
Parsons’ genommen habe – The Structure of Social Action der Ausgangspunkt seiner Theoriearbeit
und der seiner Mitstreiter gewesen sei:
Inspired by The Structure of Social Action ethnomethodology undertook the task of respecifying the production and accountability of
immortal, ordinary society. It has done so by searching for, and specifying, radical phenomena. In the pursuit of that programme, a certain
agenda of themes, announced and elaborated in The Structure of Social Action, has over the years offered a contrasting standing point
of departure to ethnomethodology’s interest in respecification. (Garfinkel, »Respecification«, S. 11)

Wie das Zitat schon andeutet, entwickelte sich aber Garfinkels theoretisches Werk in eine deutlich
andere Richtung als dasjenige Parsons’. Man kann es sogar noch schärfer formulieren: Bei dieser
Absetzungsbewegung gegenüber dem Parsonianismus in Form jener in den 1960er Jahren so
ungeheuer modisch werdenden Ethnomethodologie handelte es sich nämlich nicht mehr wie beim
Symbolischen Interaktionismus um eine »loyale Opposition« innerhalb einer vom Parsonsschen
Funktionalismus noch immer dominierten Soziologie. Vielmehr gerierten sich nicht wenige
Ethnomethodologen – und gelegentlich durchaus auch Garfinkel – als Fundamentalkritiker der
gesamten übrigen Disziplin, der sie vorwarfen, aufgrund ihrer unzulänglichen Aufhellung des
Alltagswissens der Gesellschaftsmitglieder bisher kaum etwas Substantielles zur Erforschung
sozialer Wirklichkeit beigetragen zu haben.

Aber gehen wir der Reihe nach vor, beginnen wir mit dem Frühwerk Garfinkels. Dessen Differenzen
zum Parsonsschen Werk zeigten sich schon in seiner unveröffentlichten Dissertation. In dieser
kritisierte er an Parsons, daß dieser nie wirklich beleuchtet habe, wie und mit welchen Prozeduren
Akteure ihre Handlungssituation genau definieren, welche Überlegungen in den Handlungsvollzug
einfließen und welche Voraussetzungen diesem überhaupt zugrunde liegen. Der Parsonssche »action
frame of reference« sei insofern unterkomplex, als Parsons wie selbstverständlich von Zielen und
Werten redet, ohne daß er noch untersuchen würde, auf welche Weise sich 222Akteure konkret auf
Ziele und Werte beziehen (Heritage, Garfinkel and Ethnomethodology, S. 9 f.).
Im weiteren Verlauf seiner Karriere sollte Garfinkel seine Parsons-Kritik noch verschärfen, was
unter anderem auf neue Erkenntnisse aus seinen empirischen Arbeiten zurückzuführen war. Garfinkel
war nach Abschluß seiner Dissertation in Harvard und einer Zwischenstation in Ohio nach
Kalifornien an die UCLA (University of California, Los Angeles) gegangen und hatte dort in den
1950er Jahren unter anderem in kleineren Studien das Entscheidungsverhalten von Jury-Mitgliedern
in Gerichtsprozessen untersucht. Er konnte feststellen, daß das Verhalten von Geschworenen nicht
wirklich einer vorhersagbaren Linie folgt, selbst dann nicht, wenn eine eindeutige Rechtsnorm und ein
klarer Tatbestand vorhanden sind. Man könnte ja vermuten, daß in einem solchen Fall das Urteil quasi
automatisch feststeht, gibt es doch für die Geschworenen anscheinend hier nicht viel zu überlegen.
Wie jedoch Garfinkel zeigte, war es für sie immer schwierig, eine Rechtsnorm auf einen Tatbestand
anzuwenden. Die Komplexität der Wirklichkeit des Lebens mußte stets erst einer Rechtsnorm
»angepaßt« und die Wirklichkeit angemessen interpretiert werden, zumal die Parteien im
Gerichtsverfahren zumeist völlig unterschiedliche Darstellungen des Tathergangs und der Tat gaben.
Garfinkel konnte zudem nachweisen, daß in den Entscheidungsprozeß eine Vielzahl heterogener
Überlegungen einging und daß sich die Geschworenen erst nach und nach ein Bild
»zurechtzimmerten«, um die Widersprüchlichkeiten der Aussagen der beteiligten Parteien verstehbar
zu machen. Dies ist laut Garfinkel ein Vorgang, der immer wieder neue Wendungen erfuhr. Die
Annahme, daß Geschworene – aber dies trifft natürlich nicht nur auf die von Garfinkel untersuchte
Personengruppe zu, sondern auf alle Menschen in alltäglichen Entscheidungssituationen – von
vornherein ein klares Bild davon hätten, wie die Bedingungen aussehen müssen, damit sie eine
Entscheidung fällen, ist also problematisch, wenn nicht gar falsch. Erst im nachhinein – im Rückblick
also – erscheint es häufig so, als ob schon immer eine klare Entscheidungsstrategie vorhanden
gewesen wäre.
In the material reported here, jurors did not actually have an understanding of the conditions that defined a correct decision until after the
decision had been made. Only in retrospect did they decide what they did that made their 223decisions correct ones. When the outcome
was in hand they went back to find the ›why‹, the things that led up to the outcome, and then in order to give their decisions some order,
which namely is the ›officialness‹ of the decision. (Garfinkel, Studies in Ethnomethodology, S. 114)

Die Ergebnisse dieser Untersuchungen zeigen Garfinkel, daß es der Soziologie wenig hilft, Normen
zu benennen, um zu erklären, warum sich Menschen so und nicht anders verhalten. Mit dem bloßen
Hinweis auf Normen und Regeln werden nämlich die komplexen Deliberationsprozesse, in die sich
Akteure begeben müssen, um überhaupt einer Norm folgen zu können, ausgeblendet. Gleichzeitig wird
auch verdeckt, daß in diesen Deliberationsprozessen Normen erst passend gemacht werden. Die
Untersuchungsergebnisse – so Garfinkel – deuten unter anderem an, daß das von Parsons zugrunde
gelegte handlungstheoretische Modell (und erst recht natürlich das neo-utilitaristische
Handlungsverständnis) zu unilinear sei. Von feststehenden Zielen und Werten könne im Alltagshandeln
nicht die Rede sein, insofern die einer Entscheidung zugrundeliegenden Werte und Ziele eben oft erst
im nachhinein gesetzt werden.
Man hätte nun vermuten können, daß Garfinkel bei dieser Kritik an bestimmten theoretischen
Konzeptualisierungen des Handelns argumentativen »Rat« beim amerikanischen Pragmatismus und
beim Symbolischen Interaktionismus eingeholt hätte. Denn schließlich war ja dort – wie wir in der
letzten Vorlesung gehört haben – ebenfalls ein allzu lineares Handlungsverständnis in Frage gestellt,
die Flüssigkeit sozialer Prozesse betont und deshalb der in der Parsonsschen Rollentheorie steckende
starre Normativismus z. B. von Herbert Blumer heftig kritisiert worden. Es war nicht so, daß die
Interaktionisten jegliches Rollenkonzept verwarfen – der Begriff geht ja auf Meads Analyse der
Interaktion zurück; aber sie lockerten das Parsonssche Konzept erheblich auf, insofern etwa Ralph
Turner, der die interaktionistische Rollentheorie maßgeblich prägte, Interaktion in Rollen immer als
einen »tentativen« und suchenden Prozeß beschrieben hat und eher von »role-making« als vom
bloßen Vollzug bestimmter Normenerwartungen gesprochen hat. »Roles ›exist‹ in varying degrees of
concreteness and consistency, while the individual confidently frames his behavior as if they had
unequivocal existence and clarity. The result is that in attempting from time to time to make aspects of
the roles explicit he is creating and modi224fying roles as well as merely bringing them to light; the
process is not only role-taking but role-making.« (R. Turner, »Role-Taking: Process Versus
Conformity«, S. 22)
Allerdings wurde sehr schnell klar, daß es für Garfinkel und die Ethnomethodologen mit dieser
Kritik an der Parsonsschen Rollentheorie nicht getan war, daß ihr Versuch des Neuaufbaus einer
Handlungstheorie noch »tiefer« ansetzen wollte, als dies im Symbolischen Interaktionismus
geschehen war. Denn selbst die höchst variable Rollentheorie Turners – so Aaron Cicourel (geb.
1928), ebenfalls eine der Zentralfiguren der Ethnomethodologie – vernachlässigt beispielsweise die
Frage,
wie der Handelnde bedeutsame Reize erkennt und wie es ihm gelingt, sich selbst an den Verhaltensdarstellungen des jeweils anderen so
zu orientieren (d. h. die Reize in einem sozial bedeutungsvollen Zusammenhang zu verorten), daß eine organisierte Antwort entwickelt
werden kann, die für Alter als wichtig angesehen wird. Der Handelnde muß mit Mechanismen oder Basisregeln ausgestattet sein, die es
ihm erlauben, Situationshintergründe zu identifizieren, die zu einer ›angemessenen‹ Bezugnahme auf Normen führen würden; die Normen
wären dann Oberflächenregeln und nicht grundlegend dafür, wie der Handelnde Folgerungen trifft über role-taking oder role-making.
(Cicourel, »Basisregeln und normative Regeln im Prozeß des Aushandelns von Status und Rolle«, S. 167)

Etwas anders formuliert heißt dies, daß auch der Verweis auf kreatives »role-making« uns noch nichts
darüber sagt, wie und nach welchen Regeln (Basisregeln!) die Rolle ausgestaltet wird, woran konkret
sich der Akteur dabei orientiert etc.
Dies führt uns zu den wesentlichen Differenzen zwischen dem Garfinkelschen Theorieprogramm
einerseits und demjenigen von Parsons und der übrigen Soziologie andererseits, die wir hier bereits
nennen wollen, obwohl sie erst im Verlaufe dieser Vorlesung richtig deutlich werden können.
1. Vor allem gegenüber der Parsonsschen Theorie machte Garfinkel geltend, daß dort das
Verhältnis zwischen dem Motiv einer Handlung und dem Handlungsvollzug viel zu eng und
bruchlos gedacht worden sei. Parsons tue so, als ob mit dem Vorliegen eines Motivs – etwa wenn
Normen oder Werte internalisiert worden sind, die eine bestimmte Aktivität erfordern – auch schon
unmittelbar die Ausführung der Handlung einsetzt. Dies sei aber mitnichten der Fall, wie ja Garfinkel
anhand der komplexen Deliberationsprozesse von Ge225schworenen in Entscheidungssituationen
zeigen konnte. Weil Parsons diese Prozesse vernachlässigt, bezeichnet Garfinkel die Akteure in
dessen Theorie polemisch auch als »cultural dopes« oder »judgmental dopes«:
By »cultural dope« I refer to the man-in-the-sociologist’s-society who produces the stable features of the society by acting in compliance
with preestablished and legitimate alternatives of action that the common culture provides. (Garfinkel, Studies in Ethnomethodology,
S. 68)

Das Wort von den »cultural dopes«, also von den »kulturellen Trotteln«, zielt dabei darauf, daß in der
Parsonsschen Theorie den Handelnden quasi keine wirkliche Eigeninitiative, kein eigenständiger
Umgang mit Normen und Werten zugestanden wird. Vielmehr würden sie – wie fremdgesteuert – den
vorgegebenen Normen nur blind folgen. Parsons erlaube also seinen Akteuren nicht, auf die von ihnen
internalisierten Normen und Werte zu reflektieren. Werte und Normen – so Garfinkel – würden in der
Parsonsschen Theorie de facto als feste kausale Größen beschrieben, denen die Handelnden zu
gehorchen hätten und denen sie letztlich auch folgen würden.
Ist dieser Vorwurf korrekt, dann gerät Parsons in gefährliche Nähe zu einer Position, die er in The
Structure of Social Action vehement kritisiert hatte, als er dort etwa dem Positivismus vorgeworfen
hatte, keine Handlungstheorie zu haben. Dieser – so Parsons – habe den Handelnden jegliche Freiheit
genommen, habe die Akteure entweder als vom Milieu oder als von der Erbausstattung Getriebene
dargestellt – und damit genau den Aspekt der Eigeninitiative des menschlichen Handelns verfehlt.
Garfinkel zufolge ist nun Parsons’ Handlungsmodell gegenüber demjenigen der Positivisten so
unterschiedlich nicht, denn was den Positivisten das Milieu oder die Erbausstattung, dies sind für
Parsons die Normen und Werte: In beiden Fällen würde von den Reflexions- und
Deliberationsleistungen der Handelnden abgesehen. Garfinkel bezweifelt also, daß das Parsonssche
Handlungsmodell die Wirklichkeit des Alltagshandelns einfangen kann.
Er warf deshalb auch Parsons vor, daß dieser keine wirkliche Handlungstheorie, sondern allenfalls
eine Handlungsdispositionstheorie gehabt habe, eben weil der »Raum« zwischen dem Motiv und dem
Vollzug der Handlung von Parsons nicht wirklich ausge226füllt worden sei. Garfinkel entwickelt
hingegen ein ausgesprochen intensives Interesse an der Frage, wie Handlungen tatsächlich ablaufen.
Hierzu müssen zunächst empirische Untersuchungen Erkenntnisse darüber erbringen, welches Wissen
Akteure tatsächlich haben, auf welche Wissensbestände sie also zurückgreifen können und wie sie
dieses Wissen verwenden, damit überhaupt – siehe das obige Zitat von Aaron Cicourel – ein soziales
Zusammenhandeln zustande kommen kann. In diesem Sinne war es Garfinkels Anliegen, Handelnde
als »knowledgeable actors« aufzufassen und das Handeln selbst als »endless, ongoing, contingent
accomplishment« (Garfinkel, Studies in Ethnomethodology, S. 1). Daß dies nicht nur eine
Absetzbewegung gegenüber Parsons war, sondern erst recht eine gegenüber dem Neo-Utilitarismus
und der dortigen Rede von den (festen) Nutzenkalkülen und Präferenzen, muß hier nicht nochmals
besonders herausgehoben werden. Gerade weil – siehe die Untersuchung Garfinkels zum
Entscheidungsprozeß von Geschworenen – bezweifelt werden kann, daß Handlungen so linear auf
Normen zulaufen, wie das Parsons unterstellt, ersetzten Ethnomethodologen den Parsonsschen
normativen Determinismus durch das Konzept der »normative accountability« von Akteuren: Diese
können, sofern sie in bezug auf Normen handeln, allenfalls im Rückblick eine geglättete Darstellung
(einen »account«) ihres »So-und-nicht anders-Handelns« geben, was aber eben nicht mit dem
wirklichen Handlungsverlauf gleichgesetzt werden darf. Weil sowohl der Parsonianismus wie auch
der Neo-Utilitarismus die Deliberationsprozesse und oft erst nachträglichen Sinngebungsversuche der
Akteure nicht berücksichtigen bzw. völlig ausblenden, hegen Ethnomethodologen immer auch den
Verdacht, daß die Erklärungsleistungen dieser Theorien sehr begrenzt sind (Heritage, Garfinkel and
Ethnomethodology, S. 112).
2. Parsons’ Betonung von Normen war insofern immer ungenügend, weil er nie genau
spezifizierte, wie Akteure eigentlich Normen verstehen. Parsons setzte schlicht die Verständlichkeit
der Sprache oder anderer Symbolsysteme, in die Normen eingebettet sind, voraus und ließ dabei
offen, wie gleiche Bedeutungen von Normen, v. a. ein bei verschiedenen Interaktionspartnern
identisches Verständnis von Normen, in konkreten Handlungssituationen zustande kommen. Parsons –
aber dies gilt natürlich nicht nur für ihn – hatte keine ausgefeilte Sprachtheorie, um dieses Defizit zu
beheben; vielleicht fehlte ihm sogar das Gespür dafür, als Problem zu erkennen, daß 227Normen nie
wirklich klar spezifiziert, Regeln zumeist völlig vage sind. Wie auch immer – man kann jedenfalls
laut Garfinkel nicht davon ausgehen, daß sich die Handlungskoordination mit der Internalisierung von
Normen einfach einstellen wird. Letzteres kann man sich etwa an der Norm des Grüßens klarmachen:
Es existiert in unserer Gesellschaft die Norm oder die Regel, daß man Bekannte zu grüßen und einen
Gruß gleichzeitig zu erwidern hat. Aber das Wissen über diese Norm hilft uns im Alltag recht wenig,
auch wenn wir sie noch so fest verinnerlicht haben. Denn wir müssen, um sie im Alltag tatsächlich
anwenden zu können, genau unterscheiden, wen wir wie grüßen – wem wir die Hand geben, wem
nicht, wem wir nur mit dem Kopf zunicken oder nur zuwinken, wen wir nicht grüßen wollen und wen
wir vielleicht auch nicht grüßen sollen (irgendwelche Außenseiter!), wie wir etwa bei einem
größeren Empfang enge Freunde anders und doch nicht auffällig anders als bloße Bekannte und
gänzlich Unbekannte grüßen sollen (schließlich sollen sich die Freunde ja nicht beleidigt fühlen!) etc.
Allein die Befolgung der simplen Norm des Grüßens erfordert also eine Fülle von Kenntnissen über
»Randbedingungen«, die man alle haben muß, um die Norm tatsächlich auch »leben«, also umsetzen
zu können. Parsons sagt hierzu kaum etwas, das Problem der Spezifizierung von Normen ist von ihm
nicht wirklich analysiert worden, und auch sein Rollenbegriff hilft hier nicht weiter.
3. Schließlich kritisierten Garfinkel und die Ethnomethodologen, daß Parsons das Problem der
Ordnung auf einer falschen bzw. nur auf einer relativ oberflächlichen Ebene zum Thema gemacht
habe. Ihr Argument war, daß sich das Ordnungsproblem nicht erst dann stellt, wenn
Interessenkonflikte zwischen Akteuren auftauchen. Parsons hatte bei seiner Diskussion des
Hobbesschen Problems ja argumentiert, daß man auf der Basis von strikt utilitaristischen Prämissen
soziale Ordnung nicht denken könne, daß die unregulierten Interessengegensätze in diesem Fall zum
endlosen Krieg aller gegen alle führen würden und somit erst Normen die Stabilität des
Zusammenlebens erklären. Garfinkel betonte demgegenüber, daß Ordnungsstiftung im Alltag
unabhängig von vorliegenden Interessendivergenzen immer schon geleistet wird, weil Handelnde in
Interaktionen sich stets – ohne explizit Bezug auf irgendwelche Normen zu nehmen – selbst die
Sinnhaftigkeit ihres Handelns und ihrer Welt wechselseitig bestätigen, weil sie sich sofort der
Verständlichkeit ihrer 228sprachlichen Aussagen und damit der Anschlußfähigkeit ihrer Handlungen
versichern, ohne daß hier die von Parsons immer wieder ins Spiel gebrachten Normen überhaupt
auftauchen. Schon bevor Normen überhaupt zum Thema werden, wird also zwischen den Akteuren
eine Art Vertrauen – und dies ist eben die Grundlage sozialer Ordnung – aktiv hergestellt. Man kann
es auch anders formulieren: Eben weil Normen nicht wirklich den Verlauf von Handlungen bestimmen
und strukturieren (siehe den ersten Punkt von Garfinkels Kritik an Parsons), ist auch die von Parsons
immer wieder betonte Internalisierung von Normen und Werten nicht der entscheidende Stützpfeiler
sozialer Ordnung. Vielmehr muß man auf einer viel tieferen Ebene nach den Mechanismen suchen, mit
denen Menschen sich im Alltag ihrer Wirklichkeit versichern, weil es – und vergleichen Sie hier
nochmals das obige Zitat von Aaron Cicourel – diese Mechanismen sind, auf deren Basis überhaupt
erst explizit auf Normen Bezug genommen werden kann. Die wirklichen Fundamente sozialer
Ordnung sind also anderswo zu suchen als dort, wo sie Parsons vermutet.

Diese drei Kritikpunkte an der Parsonsschen Theorie – aber sie treffen nicht nur diese Theorie,
sondern auch die meisten anderen soziologischen Ansätze – klingen vielleicht noch etwas abstrakt.
Allerdings können Sie im Verlaufe der Vorlesung nähere Aufklärung erwarten, weil wir Ihnen das
empirische Forschungsprogramm Garfinkels und der Ethnomethodologie vorstellen werden. Zunächst
aber werden wir uns nochmals kurz in theoretisches Fahrwasser begeben und fragen, auf welcher
philosophischen Basis das ethnomethodologische Theoriegebäude eigentlich errichtet wurde.
Wir hatten ja schon in der letzten Vorlesung davon gesprochen, daß beide Ansätze der sogenannten
»Interpretativen Soziologie« – sowohl die Ethnomethodologie als auch der Symbolische
Interaktionismus – auf Strömungen der modernen Philosophie zurückgehen. Während der
Interaktionismus seine theoretischen Grundlagen im amerikanischen Pragmatismus hat, schöpften
Garfinkel und die Ethnomethodologen aus der vorwiegend in Deutschland entstandenen
Phänomenologie und hier vor allem aus der Phänomenologie Edmund Husserls. Für die
Ethnomethodologen lag die Attraktivität dieser Strömung vor allem darin begründet, daß dort Ideen
zur Aufdeckung der zumeist unerkannten Selbstverständlichkeiten 229des menschlichen Handelns und
der menschlichen Wahrnehmung entwickelt worden waren, was der ethnomethodologischen
Zielsetzung – nämlich z. B. die eigene Kultur zu verfremden, um darin verborgene Strukturen
aufzufinden – natürlich sehr entgegenkam.
Das philosophische Programm des 1859 in Mähren geborenen, in Halle, Göttingen und ab 1916 in
Freiburg lehrenden und 1938 verstorbenen Edmund Husserl bestand im wesentlichen darin, die
Strukturen unseres Bewußtseins aufzuhellen, also zu untersuchen, wie Gegenstände unserem
Bewußtsein erscheinen. Dies hört sich zunächst vielleicht nicht gerade aufregend an, ist aber
tatsächlich eine spannende Sache mit weitreichenden Konsequenzen. Husserls Begründung der
Phänomenologie als einer »strengen« Wissenschaft war nämlich unter anderem eine
Auseinandersetzung mit bestimmten Axiomen der damals herrschenden naturalistischen oder
positivistischen Psychologie, die wie selbstverständlich eine Art passives Bewußtsein unterstellte,
das Sinnesdaten quasi nur verarbeitet. Übersehen wurde dabei laut Husserl die Tatsache, daß das
Bewußtsein selbst Leistungen vollbringt, die den Daten erst Sinn zuschreiben. Diese Einsicht ist
übrigens nicht so verschieden von derjenigen, über die wir schon in der Ersten Vorlesung gesprochen
haben, als wir mit einem Zitat von C. S. Peirce auf die notwendige oder unvermeidliche
Theoriegeleitetheit einer jeglichen Wahrnehmung hingewiesen haben. Wie auch immer hier die
genauen Verwandtschaftsverhältnisse zwischen unterschiedlichen philosophischen Richtungen sind,
diese von Husserl angesprochenen konstitutiven Leistungen des Bewußtseins können Sie vielleicht am
einfachsten an den sogenannten Kippfiguren erkennen, die beim Betrachter – je nach
Aufmerksamkeitsfokus – ein völlig anderes Bild, einen völlig anderen Sinn ergeben können, deren
Bedeutung also »kippt«:

230Je nachdem, wohin Sie Ihre Aufmerksamkeit richten, können Sie diese Kippfigur als einen
stilisierten Kelch oder als Abbildung zweier sich gegenseitig anblickender Gesichter sehen. D. h., in
die Wahrnehmung selbst sind schon ganz entscheidend Bewußtseinsleistungen mit eingebaut, Sie
sehen die Dinge nicht einfach voraussetzungslos. Dies tritt aber natürlich nicht nur bei solchen
experimentellen oder exotischen Arrangements auf, wie dies Kippfiguren nun mal sind. Husserl
konnte vielmehr herausarbeiten, daß unsere alltägliche Wahrnehmung fundamental auf solchen
Bewußtseinsleistungen aufbaut und darauf auch angewiesen ist. Nehmen Sie beispielsweise den Fall
des Dozenten, der in der Vorlesung oder im Seminar ein wichtiges Buch hochhält, das er Ihnen als
Literaturempfehlung ans Herz legen möchte. Sie nehmen also ein Buch wahr, obwohl Sie – und hier
zeigt sich die Faszination der Untersuchungsmethode Husserls – in Wirklichkeit natürlich gar kein
Buch »sehen«. Was Sie aus der Entfernung vielleicht sehen, ist allenfalls die Vorderseite des Buches,
Sie sehen keine Rückseite, wahrscheinlich nicht einmal die Ränder des Buches. Was Sie beobachten,
ist allenfalls eine Fläche, die irgendwie farbig gestaltet und mit einer Schrift, die Sie vielleicht lesen
können, bedruckt ist. Mehr sehen Sie nicht. Folglich »sehen« Sie auch nicht wirklich ein »Buch«,
sondern es ist Ihren weiteren Bewußtseinsleistungen zu verdanken, daß sich in Ihrer Wahrnehmung
das Bild eines Buches herauskristallisiert, eines sinnlichen Gegenstandes, der natürlich eine
Rückseite, Ränder und damit Seiten hat, den Sie betasten, mit dem Sie umgehen, ja den Sie lesen
können usw. Was Ihnen als Buch erscheint, ist also erst das Ergebnis einer Reihe von unbewußten und
automatischen Operationen und Leistungen Ihrer Psyche, wobei Ihnen zu Hilfe kommt, daß Sie früher
schon einmal ein Buch in der Hand gehabt haben, wissen, wie es aussieht, sich anfühlt usw. Husserls
Bestreben war es nun, diese Bewußtseinsleistungen aufzuhellen, die wir im Alltag – bei Husserl heißt
es: in der »natürlichen Einstellung« – schon immer vornehmen, wenn wir unsere Welt wahrnehmen
und handeln. Seine Phänomenologie machte es sich zur Aufgabe zu analysieren, wie Objekte in dieser
natürlichen Einstellung erfahren werden. Um dies aber tun zu können, muß der Phänomenologe
Abstand von dieser natürlichen Einstellung gewinnen, muß er – wie Husserl sagt – eine
»phänomenologische Reduktion« vornehmen: Während wir im Alltag das Buch einfach als solches
wahrnehmen, muß der Phänomenologe genau 231analysieren, wie wir das Buch als Buch sehen, wie
es in meinem Bewußtsein »als Buch« erscheint. Dies ist der Grund, warum die Phänomenologie
Husserls für Garfinkel so besonders interessant war. Denn so wie Husserl unsere alltäglichen
Wahrnehmungsmuster brechen und damit erhellen wollte, so war es auch Garfinkels Bestreben, unsere
Welt zu verfremden, um deren innerste Strukturen zu beleuchten und damit wiederum die Bedeutung
der »natürlichen Einstellung« zur Welt zu demonstrieren.
Das Husserlsche Programm der Phänomenologie hatte weitreichende philosophiegeschichtliche
Konsequenzen. Es prägte zu einem erheblichen Teil die deutsche Philosophie des 20. Jahrhunderts,
wobei hier an erster Stelle vielleicht die Philosophie Martin Heideggers (1889-1976) zu nennen
wäre, und es wurde über komplexe Vermittlungswege ab den 1930er Jahren in Frankreich enorm
einflußreich, insofern dort Autoren wie Jean-Paul Sartre (1905-1980) und Maurice Merleau-Ponty
(1908-1961) bestimmte phänomenologische Ideen aufgriffen und sodann mit Motiven der
Existenzphilosophie verknüpften: Der französische Existentialismus war gerade in den späten 1940er
und 1950er Jahren eine ungeheuer einflußreiche Bewegung, welche vor allem in Westeuropa viele
Intellektuelle in ihren Bann zog. Aber nicht diese Autoren waren es, die letztlich Garfinkel
beeinflussen sollten, sondern ein österreichischer Ökonom und Sozialtheoretiker, nämlich Alfred
Schütz (1899-1959), der vor Hitler aus Europa fliehen mußte und 1939 in die USA und hier nach
New York City an die New School for Social Research gekommen war. Schütz selbst war von
Anfang an sehr an handlungstheoretischen Grundfragen interessiert und hatte sich 1932 in seinem
ersten größeren Werk Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende
Soziologie intensiv mit dem Handlungsverständnis Max Webers auseinandergesetzt, das er aus einem
seiner Meinung nach allzu engen, rationalistischen Korsett befreien wollte. Mittels Husserlscher
Ideen machte es sich Schütz zur Aufgabe, genauer als Weber herauszupräparieren, wie sich für den
Handelnden Sinn konstituiert, wie Verstehen des anderen überhaupt möglich ist etc. Schütz sollte an
diesen Problemen sein ganzes Leben weiterarbeiten, wobei er auf eine Thematik und eine
Begrifflichkeit aufmerksam wurde, die schon im Spätwerk von Husserl zu finden war und die – wie
Sie in den Vorlesungen zu Jürgen Habermas noch sehen werden – spätestens in den 1970er Jahren
einen enormen Ein232fluß auf die Theoriediskussion in der deutschen Soziologie ausüben sollte.
Gemeint ist der Begriff der »Lebenswelt«.
Edmund Husserl hatte in seiner letzten größeren Schrift Die Krisis der europäischen
Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, der Veröffentlichung eines 1935
begonnenen Vortragszyklus, eine scharfe Attacke gegen das immer weitere Vordringen der
Naturwissenschaften geritten und deren sich abzeichnende Hegemonie im gesamten westlichen
Denken. In der kritischen Rekonstruktion naturwissenschaftlichen Argumentierens seit Galilei und
Descartes machte Husserl darauf aufmerksam, daß diese Naturwissenschaften ihren Ursprung in der
sinnlichen, d. h. tatsächlich wahrnehmbaren Welt gehabt hätten, daß dieser Ursprung aber von den
Naturwissenschaftlern und »ihren« Philosophen verdrängt worden sei zugunsten einer
zunehmenden Mathematisierung, mathematischen Idealisierung, Abstraktifizierung etc. der Welt,
was unter anderem dazu geführt habe, daß selbst die Psychologie zu einer Naturalisierung des
Psychischen neige (Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale
Phänomenologie, S. 69). Demgegenüber gelte es – so Husserl – die »alltägliche Lebenswelt« als
»vergessenes Sinnesfundament der Naturwissenschaft« (a.a.O., S. 52) und der gesamten anderen
Handlungskontexte phänomenologisch zu erschließen und gewissermaßen auch zu rehabilitieren. Was
Husserl mit der »alltäglichen Lebenswelt« oder auch mit der »lebensweltlichen Einstellung« meint,
ist weitgehend identisch mit dem, was wir oben als natürliche Einstellung charakterisiert haben. Die
»Lebenswelt« bezeichnet gewissermaßen das Gegenteil des Universums der (Natur-)Wissenschaften;
sie verweist gerade auf die naive Gegebenheit der Welt, der wir unhinterfragt und unreflektiert
begegnen, auf der wir unser ganzes Alltagshandeln aufbauen und die wir nur unter Anstrengungen in
Frage stellen können. Husserl formuliert es – in Entgegensetzung zur naturwissenschaftlichen
Denkform – folgendermaßen:
(…) der Seinssinn der vorgegebenen Lebenswelt ist subjektives Gebilde, ist Leistung des erfahrenden, des vorwissenschaftlichen
Lebens. In ihm baut sich der Sinn und die Seinsgeltung der Welt auf, und jeweils der Welt, welche dem jeweilig Erfahrenden wirklich gilt.
Was die ›objektiv wahre‹ Welt anlangt, die der Wissenschaft, so ist sie Gebilde höherer Stufe aufgrund des vorwissenschaftlichen
Erfahrens und Denkens bzw. seiner Geltungsleistungen. (Husserl, a.a.O., S. 75)

233Diese »Lebenswelt«, in die wir als Handelnde schon immer verstrickt sind, ist das Ergebnis des
Handelns und Erfahrens vergangener Generationen, unserer Großeltern und Eltern, die eine Welt
geschaffen haben, die für uns selbstverständlich geworden ist, die wir im Alltag zumindest in ihren
Grundstrukturen nicht hinterfragen, weil sie für unsere Handlungsvollzüge konstitutiv ist. Die
»Lebenswelt« ist quasi das Fundament all unseres Handelns und Erkennens. (Wenn Sie sich für das
Husserlsche Werk interessieren sollten, so empfehlen wir Ihnen die gut lesbare und einigermaßen
kurze Einführung von Werner Marx, Die Phänomenologie Edmund Husserls.)
Es war nun die große Leistung von Alfred Schütz (zu seinem Werk und zu seiner Person vgl.
Helmut R. Wagner, Alfred Schütz. An Intellectual Biography, und Ilja Srubar, Kosmion. Die Genese
der pragmatischen Lebenswelttheorie von Alfred Schütz und ihr anthropologischer Hintergrund),
daß er Husserls Lebenswelt-Begriff in verschiedenen Aufsätzen und dann in einem fragmentarischen
Werk, das sein Schüler, der bedeutende phänomenologische Soziologe Thomas Luckmann (geb.
1927), zu Ende führte und dann posthum veröffentlichte (Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen
der Lebenswelt), weiter ausgearbeitet und vor allem soziologisch nutzbar gemacht hat. Schütz
bemühte sich dabei um eine Aufhellung der Strukturen des Alltagswissens als des zentralen
Bestandteils jener Lebenswelt, die auch er als den »Wirklichkeitsbereich« bezeichnete, »den der
wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht
gegeben vorfindet. Mit schlicht gegeben bezeichnen wir alles, was wir als fraglos erleben, jeden
Sachverhalt, der uns bis auf weiteres unproblematisch ist.« (Schütz/Luckmann, Strukturen der
Lebenswelt, Bd. I, S. 25) Schütz arbeitete detailliert heraus, wie das Verstehen des Anderen, das
Verstehen seiner Handlungen, vonstatten geht. Menschen arbeiten hierbei mit Typisierung, schreiben
typische Motive zu, typische Identitäten, identifizieren typische Handlungen – greifen also auf
selbstverständliche soziale Deutungsmuster zurück, um sich einen Reim auf das Handeln anderer zu
machen. Verstehen ist also ein sozial höchst voraussetzungsreicher Prozeß, insofern wir auf die
Deutungsmuster zurückgreifen müssen, die uns unsere Lebenswelt zur Verfügung stellt. Auch das, was
wir nicht sofort deuten können, versuchen wir im Alltagsleben mit typisierenden Kategorien
einzufangen, zu verstehen, quasi zu normalisieren. Unser gesamter Hand234lungsvollzug im Alltag ist
darauf ausgerichtet, Zweifel an der Welt, so wie sie uns erscheint, gar nicht erst aufkommen zu lassen
– eine Einsicht, von der wir sehen werden, daß sie Garfinkel geradezu elektrisieren sollte.
Weil dies so ist, weil wir auf Typisierungen in unserem Alltagsleben immer schon angewiesen
sind, läßt sich auch behaupten, daß unser Handeln innerhalb eines bestimmten »Horizonts« des
Bekannten und Selbstverständlichen stattfindet; wir haben schlichtweg bestimmte
Wahrnehmungsmuster und Handlungsrezepte zur Verfügung, die wir in höchst unterschiedlichen und
spezifischen Kontexten anwenden können und deshalb auch nicht hinterfragen. Gleichzeitig gibt es
aber auch Situationen – Tagträume, Ekstasen, Krisenerfahrungen wie den Tod und eben auch die
theoretische Einstellung der Wissenschaften –, in denen die Selbstverständlichkeit der Lebenswelt
quasi aufgehoben wird, in denen plötzlich eine andere Wirklichkeit erscheint bzw. die Möglichkeit
einer anderen Wirklichkeit gedacht werden kann (Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Bd.
II, S. 139 ff.).
Damit legte Schütz eine Fährte, der die Ethnomethodologen folgen sollten. Garfinkel und sein
Mitstreiter Harvey Sacks (1935-1975) formulierten dies so: »In den Schriften von Schütz finden wir
zahllose Anweisungen für unsere Untersuchungen der Umstände und Verfahrensweisen praktischer
soziologischer Forschung.« (Garfinkel/Sacks, »Über formale Strukturen praktischer Handlungen«,
S. 134)
Denn zum einen lassen sich die von Husserl und insbesondere von Schütz eher vage
umschriebenen typischen Wahrnehmungsmuster und Handlungsrezepte auch empirisch aufweisen,
sogar viel besser und viel plausibler, als dies dem Philosophen Husserl und dem philosophierenden
Sozialtheoretiker Schütz möglich war. Garfinkel schlug in diesem Zusammenhang einen genialen
methodischen Trick vor, um empirisch an die von den Phänomenologen gemeinten Sachverhalte
»heranzukommen«. Seine Empirie basierte auf dem Gedanken, daß sich die selbstverständlichen
Wahrnehmungsmuster und Handlungsrezepte am besten und vor allem am unmittelbarsten dann zeigen,
wenn man sie mutwillig zerstört. Denn aus der Zerstörung von Selbstverständlichkeiten erwächst bei
den betroffenen Akteuren Verstörung, wobei dieses »Verstört-Sein« nun gleichzeitig als Indikator
dienen kann, daß hier eine selbstverständ235liche Regel des Alltagslebens gebrochen wurde.
Garfinkel formuliert das folgendermaßen:
In accounting for the persistence and continuity of the features of concerted actions, sociologists commonly select some set of stable
features of an organization of activities and ask for the variables that contribute to their stability. An alternative procedure would appear
to be more economical: to start with a system with stable features and ask what can be done to make for trouble. The operations that
one would have to perform in order to produce and sustain anomic features of perceived environments and disorganized interaction
should tell us something about how social structures are ordinarily and routinely being maintained. (Garfinkel, »A Conception of, and
Experiments with, ›Trust‹ as a Condition of Stable Concerted Actions«, S. 187)

Die von uns gleich zu besprechenden Krisenexperimente oder »breaching experiments« sollten die
»formalen Strukturen praktischer Handlungen« (Garfinkel/Sacks, »Über formale Strukturen
praktischer Handlungen«, S. 138) beleuchten, jene »grammatische(n) Strukturen« (Weingarten/Sack,
»Ethnomethodologie«, S. 15) also, die quasi noch unterhalb der von Parsons immer anvisierten Ebene
der Bezugnahme auf Normen, des Streits über Normen usw. zu finden sind.
Zum anderen entwickelten Mitstreiter von Garfinkel ein ausgeprägtes Interesse für die auch Alfred
Schütz faszinierenden »anderen Welten«, insbesondere für nicht-westliche Kulturen und die dort zu
beobachtenden anderen Rationalitäten, weil sich gerade durch den Vergleich die
Selbstverständlichkeiten der westlichen Kultur und ihrer Lebenswelt aufhellen ließen. Ein geradezu
modisches Interesse an anderen Lebens- und Rationalitätsformen machte sich breit, das alsbald in
eine hochproblematische Relativismus-Debatte einmünden sollte, nämlich in die Diskussion, ob
überhaupt wissenschaftliches Wissen eine herausgehobene Stellung gegenüber anderem Wissen
beanspruchen könne und dürfe.
Aber zunächst zu Garfinkels Krisenexperimenten. Garfinkel machte es sich und seinen Studenten
zur Aufgabe, implizite Strukturen des Alltagshandelns dadurch aufzudecken, daß man in einer
experimentellen Situation kontrollierte Abweichungen vom eigentlich zu erwartenden, vom
»normalen« Verhalten hervorrief. Wie sah dies konkret aus? Garfinkel arrangierte beispielsweise
Spiele, etwa derart, daß beim Schachspiel eine ahnungslose Versuchsperson dem 236Experimentator
gegenübersaß, der die Regeln des Schachspiels systematisch brach, falsche Züge machte, die eigenen
Figuren plötzlich verschob, die gegnerischen Figuren umstellte etc. Das Resultat war fast immer
Verwirrung bei den Versuchspersonen. Gleichzeitig war aber auch – und das ist das soziologisch
eigentlich Interessante – sofort die Tatsache erkennbar, daß die Probanden eine Normalisierung der
Situation herbeizuführen, also »normale« Erklärungen anzubieten versuchten, um sich selbst das
Verhalten des Experimentators verständlich zu machen und zugleich auch diesem das Vorhandensein
einer eigentlich normalen Situation zu suggerieren: Die Probanden bemühten sich, die ganze
Situation als einen Witz oder als Scherz aufzufassen, oder sie überlegten, ob der Experimentator mit
ihnen ein irgendwie raffiniertes, trickreiches Spiel spielt, das gar nicht »Schach« ist, sondern
vielleicht etwas ganz anderes, oder daß der Experimentator zwar Schach spielt, aber dabei –
ziemlich ungeschickt – schummelt, oder daß die ganze Veranstaltung tatsächlich ein Experiment und
damit nicht »wirklich« ist etc. Für Garfinkel ergab sich daraus die theoretische Einsicht, daß nicht nur
in der quasi-künstlichen Situation des Spiels, sondern auch im ganz gewöhnlichen Alltagshandeln
stets der fast krampfhafte Versuch gemacht wird, das ungewohnte, verstörende, nicht erlaubte
Verhalten des oder der Anderen als normal einzuordnen, »to treat the observed behavior as an
instance of a legally possible event« (Garfinkel, »A Conception of«, S. 22). Dem Gegenüber werden
immer sofort akzeptable und plausible Erklärungen für seine Abweichungen angeboten, ja förmlich
aufgedrängt. Es besteht geradezu ein Zwang zur wechselseitigen Bezugnahme auf die Sinnhaftigkeit
und Verständlichkeit unseres Handelns. Wir stellen also aktiv in unseren alltäglichen
Handlungsvollzügen Normalität immer wieder her, versichern uns damit auch der Normalität unserer
Welt, insofern wir abweichende und verstörende Ereignisse in unseren vertrauten
Interpretationsrahmen einordnen und damit erklären bzw. sogar wegerklären. Aufgrund ebendieser
aktivischen Herstellung von Normalität im Alltagsleben beschreiben Garfinkel und die
Ethnomethodologen die Realität, so wie sie uns entgegentritt, nicht als etwas automatisch Gegebenes,
sondern »als reflexive Aktivität« (Mehan/Wood, »Fünf Merkmale der Realität«, S. 29).
Ein anderes Krisenexperiment, das in der Literatur des öfteren beschrieben wurde, das Sie aber
auch problemlos selbst durchführen 237können, sagt uns etwas über die Körperlichkeit unseres
Handelns. Handeln ist ja nicht nur eine geistige Tätigkeit, sondern auch eine, bei der Gesten, Mimik
etc. und damit körperliche Aspekte eine entscheidende Rolle spielen, wie uns gerade auch Mead und
die Symbolischen Interaktionisten gelehrt haben. Für Interaktionen ist beispielsweise auch der
angemessene Körperabstand zwischen den Interaktionsteilnehmern zentral, ein Abstand, der je nach
Kultur variieren kann. Wir nehmen intuitiv und durchaus je nach Situation unterschiedlich eine
bestimmte körperliche Distanz zu unserem Gegenüber ein, wenn wir mit ihm sprechen. Und diese
Distanz läßt sich mit Krisenexperimenten ziemlich genau ausfindig machen. Es irritiert den Verkäufer
schlichtweg, wenn Sie sich ihm als Kunde soweit nähern, daß sich die beiden Nasenspitzen fast
berühren. Er wird dann unweigerlich zurückweichen, um die »normale« Distanz wiederherzustellen.
Andererseits würde es als unhöflich und absolut ungewöhnlich gelten, wenn Sie bei jedem
Alltagsgespräch darauf beharren würden, daß zwischen Ihnen und Ihrem Gegenüber immer ein
Abstand von 3,50 m herrschen muß, ohne daß eine zwingende Notwendigkeit für eine derart große
räumliche Distanz bestünde.
Gleichzeitig tauchen aber sofort Normalisierungsbemühungen in den Fällen auf, in denen die
übliche Distanz nicht eingehalten wird. Dies erleben beispielsweise Großstädter fast alltäglich, wenn
sie überfüllte Busse oder U-Bahnen benutzen. Hier wird die kulturspezifisch übliche Distanz
zwischen Körpern automatisch verletzt, gerade dann, wenn Gesichter wildfremder Menschen nur
Zentimeter voneinander entfernt sind oder wenn in diesem Getümmel die eng anliegenden Arme und
Hände möglicherweise in »bedrohliche« Nähe des Unterleibs oder der Brust des Gegenübers geraten.
Eine derart geringe Distanz ist eigentlich nur in eindeutig sexuell definierten Situationen zulässig. U-
Bahn-Fahren ist aber nun nicht eine derartige Situation, weswegen alle, die in diese schwierige
Situation kommen und tatsächlich auch keine sexuellen Absichten haben, die Situation so zu
normalisieren versuchen, daß jeglicher sexuelle Gehalt ausgeschlossen wird: Wenn Sie in der U-
Bahn nur zwei Zentimeter von der Nasenspitze einer wildfremden Person entfernt sind, dann schauen
Sie dieser nicht auch noch in die Augen, sondern richten Ihren Blick ins Nichts, blicken zur Decke
oder schließen die Augen etc.!
238Schließlich wollen wir noch ein weiteres und letztes Krisenexperiment vorstellen, eines, das
wiederum zeigt, wie sehr die Methoden Garfinkels vom Schützschen Denken geprägt und inspiriert
waren. Garfinkel wußte von Schütz und seinen Analysen, daß Menschen im alltäglichen Umgang
miteinander sich wechselseitig die ungefähre Übereinstimmung der für sie relevanten Handlungs- und
Situationsaspekte zuschreiben; d. h., wenn man jemanden trifft, mit ihm spricht usw., dann unterstellt
man gewöhnlich, daß man die je spezifischen, individuellen Aspekte der jeweiligen Biographien
hinter sich läßt und sich in der Interaktion auf einer Ebene bewegt, auf der beide Partner irgendwie
auf die gleiche Situation in der gleichen Weise Bezug nehmen können. Das hört sich komplizierter an,
als es ist, deshalb gleich zu jenem Experiment Garfinkels bzw. seiner Mitarbeiter, das diese Aussage
einigermaßen verdeutlicht:
Eine Studentin von Garfinkel (experimenter = E) brachte ihren Ehemann (subject = S) in folgende
Situation:
On Friday night my husband and I were watching television. My husband remarked that he was tired. I asked, »How are you tired?
Physically, mentally, or just bored?«
(S) »I don’t know, I guess physically, mainly.«
(E) »You mean that your muscles ache, or your bones?«
(S) »I guess so. Don’t be so technical.«
(S) (After more watching) »All these old movies have the same kind of old iron bedstead in them.«
(E) »What do you mean? Do you mean all old movies, or some of them, or just the ones you have seen?«
(S) »What’s the matter with you? You know what I mean.«
(E) »I wish you would be more specific.«
(S) »You know what I mean! Drop dead!«
(Garfinkel, Studies in Ethomethodology, S. 221)

Das Experiment verdeutlicht mindestens drei theoretisch interessante Sachverhalte.


1. Wir unterstellen in unserer Alltagskommunikation immer schon jene angesprochene
Übereinstimmung der Relevanzaspekte der Akteure. Der Ehemann gibt bei seiner Bemerkung zu
seiner eigenen Müdigkeit nur zum Ausdruck, daß er sich irgendwie müde fühlt, daß er vage
Müdigkeit verspürt, ohne daß er mit dieser Aussage ein klares Ziel verfolgt. Er gibt also damit
lediglich eine Stimmung wieder. Tatsächlich laufen viele unserer Alltagskommunikationen so ab,
239daß beide Interaktionspartner reden um der Kommunikation willen, also ohne daß einer der
Partner ein bestimmtes, klar formuliertes Ziel verfolgen würde. Die Ehefrau in ihrer Rolle als
Experimentatorin unterläuft nun ganz bewußt diese Unterstellung und nimmt die technische Einstellung
etwa einer Ärztin ein, insofern sie beschrieben haben will, was der arme Ehemann nun unter »müde«
eigentlich genau meint. In der Situation des abendlichen Fernsehens im trauten Heim ist diese
Einstellung aber völlig unangebracht, weswegen der Ehemann verständlicherweise irritiert reagiert.
2. An der oben angeführten Kommunikation wird deutlich, daß die Alltagssprache ungenau,
unpräzise, vage ist. Dies fällt besonders im zweiten Teil des Gesprächs auf, weil ja tatsächlich die
Aussage »All these old movies« mehrdeutig oder wahrscheinlich sogar falsch ist, zumindest dann,
wenn man die Sache in wissenschaftlich-theoretischer Einstellung untersuchen würde. Genau diese
Einstellung übernimmt aber wieder die Ehefrau, die damit ihren Mann hochgradig verunsichert. Darin
wird deutlich, daß wir uns wechselseitig in unserer Alltagskommunikation die Klarheit unserer
eigenen Aussagen immer schon zuschreiben. Wir unterstellen, daß unsere Aussagen einen Sinn
ergeben und daß die anderen diesen Sinn unproblematisch verstehen. Unsere Alltagswelt ist also so
strukturiert, daß wir mit der unvermeidlichen Unklarheit unserer Kommunikation problemlos leben
können. Garfinkel (Studies in Ethnomethodology, S. 38 f.) zeigte dies u. a. dadurch, daß er
Alltagskommunikationen protokollieren ließ und gleichzeitig versuchte, diese Kommunikationen in
einer exakten und eindeutigen Sprache nachzuvollziehen, in der – soweit möglich – alle
verschwiegenen Annahmen und Unterstellungen explizit gemacht werden (siehe die kursiv gedruckte
rechte Spalte in der folgenden Tabelle).
Garfinkel spricht in diesem Zusammenhang und im Anschluß an Husserl davon, daß die
Alltagssprache von »okkasionellen« bzw. »indexikalen Ausdrücken« durchzogen ist, von Wörtern
also, »deren Sinn von einem Hörer (in der doppelten Bedeutung des Wortes) ›nicht festgestellt‹
werden kann, ohne daß letzterer mit Notwendigkeit über folgendes etwas wissen oder annehmen muß:
über die Lebensgeschichte und die Absichten des Benutzers des Gelegenheitsausdruckes, über die
situativen und textlichen Umstände der Äußerung, über den vorangehenden Gesprächsverlauf oder
über die besondere tatsächliche oder potentielle Interaktionsbeziehung, die240

zwischen dem Sprecher und dem Hörer besteht«. (Garfinkel, »Das Alltagswissen über soziale und
innerhalb sozialer Strukturen«, S. 202/203)
Der Verweis auf die Indexikalität der Sprache ist implizit auch zentral für Garfinkels Kritik am
Parsonsschen Akteursmodell, dem 241zufolge Handelnde problemlos auf Normen oder Objekte
Bezug nehmen. Für Garfinkel hingegen ist jede Äußerung und jede Handlung erst der Ausgangspunkt
eines komplizierten Prozesses der Interpretation (Heritage, Garfinkel and Ethnomethodology,
S. 140), der von den Akteuren geleistet und von der Soziologie aufgehellt werden muß. Dies hat auch
Konsequenzen für die empirische Sozialforschung, da die Ethnomethodologen gegenüber allen
Methoden mißtrauisch sind, die diese unhintergehbare Indexikalität der Alltagssprache nicht
mitdenken bzw. die dazu tendieren, diese Indexikalität auszuschalten – etwa durch standardisierte
Fragebögen. Sie bezweifeln schlicht, daß diese Methoden in irgendeiner Weise die komplexen
Deutungsprozesse des Alltags einfangen können. Gleichzeitig sehen die Ethnomethodologen, daß auch
der wissenschaftliche Prozeß selbst, also jede Kommunikation zwischen Wissenschaftlern und jeder
Umgang mit erhobenen Daten, auf die Alltagssprache angewiesen ist und deshalb die scheinbare
Objektivität der Wissenschaft unvermeidlich durch diese Alltagssprache »kontaminiert« ist. Dies
aber gilt es zu reflektieren und nicht auszublenden, um nicht zu falschen Ergebnissen zu gelangen.
»Wir müssen unterstellen, daß die natürliche Einstellung des Alltagslebens nicht nur in praktischen
soziologischen Untersuchungen wirksam ist, wie sie von den Gesellschaftsmitgliedern alltäglich
betrieben werden, sondern ebenso auch in soziologischen Untersuchungen, wie sie von
Berufssoziologen durchgeführt werden. Sowenig soziologische Untersuchungen auf professionelle
Soziologen beschränkt sind, sowenig ist die natürliche Einstellung des Alltagslebens eingegrenzt auf
den ›Mann auf der Straße‹.« (Garfinkel, »Das Alltagswissen«, S. 195) Garfinkels Rede von den
»soziologischen Untersuchungen« der normalen Gesellschaftsmitglieder verweist darauf, daß es
gerade in der Ethnomethodologie Bestrebungen gab, der Wissenschaft ihren herausgehobenen
Sonderstatus gegenüber anderen »Welten« abzusprechen und die Sozialwissenschaften selbst zu
einem Thema der Forschung zu machen (Psathas, »Die Untersuchung von Alltagsstrukturen und das
ethnomethodologische Paradigma«, S. 186 ff.). Aber dazu später, wenn wir auf die bevorzugten
Forschungsfelder der Ethnomethodologie zu sprechen kommen.
3. Aus dem Kommunikationsexperiment zwischen Ehemann und Ehefrau beim abendlichen
Fernsehen – und hier vor allem aus den letzten Bemerkungen des Ehemanns – ergibt sich schließlich
auch 242die theoretisch hochinteressante Einsicht, daß wir im Alltag wirkliches Vertrauen in die
Interpretationsleistungen anderer setzen. »Vertrauen« ist für Garfinkel einer der Zentralbegriffe,
wobei dieses Phänomen unmittelbar mit dem dritten Punkt seiner Parsons-Kritik (vgl. S. 227f.)
zusammenhängt und seinen Vorwurf plausibel macht, wonach Parsons das Problem der Ordnung auf
einer falschen Ebene diskutiert habe.
Der Ehemann reagiert erzürnt und unwirsch auf die Antworten bzw. Nachfragen seiner Ehefrau.
Dies ist aber – wie Garfinkel an einer Vielzahl von anderen Krisenexperimenten nachweisen konnte –
keine spezifische Eigenschaft dieser einen Versuchsperson. Vielmehr reagieren fast alle
Versuchspersonen auf diese Weise, wenn sich im Verlauf des Experiments herausstellt, daß ihr
Vertrauen in die Normalität der Alltagswelt unterlaufen wird. Es erfolgen also Sanktionen – die
Versuchsperson wird wütend, zornig, schreit usw. –, wenn die Regeln des Alltagslebens und
Alltagswissens gebrochen, die Selbstverständlichkeiten der Alltagswelt bedroht werden. Dies ist
etwas völlig anderes als das, was geschieht, wenn etwa bestimmte Taten bestraft oder Menschen zu
(abweichenden) Tätern erst gemacht werden, wie dies in der Soziologie abweichenden Verhaltens
zum Thema wird. Denn die Ehefrau bricht ja nicht eine geschriebene oder ungeschriebene Norm, die
man jederzeit benennen könnte. Was sie verletzt und zum Einsturz bringt, ist vielmehr das Vertrauen
in die Normalität der Welt, und darauf reagiert der Ehemann wütend. Garant sozialer Ordnung ist
also die selbstverständliche Geltung unserer Alltagswelt, die durch ein hohes Maß an Vertrauen
geschützt und gestützt wird. Insofern können die Ethnomethodologen auch argumentieren, daß jene
von Parsons betonten moralischen Regeln eigentlich nur Phänomene sekundärer Natur sind, da sich
soziale Ordnung auf einer ganz anderen, nämlich viel tieferliegenden Ebene konstituiert, als dies
Parsons vermutet hat. Garfinkel hat dies selbst eindringlich dargestellt, indem er mit Bezug auf das
Verhältnis der (Parsonsschen) normativen Regulierung des Handelns und der (ethnomethodologisch
aufgehellten) selbstverständlichen, auf Vertrauen basierenden Stabilität des Alltagshandelns
behauptete, daß
the critical phenomenon is not the ›intensity of affect‹ with which the ›rule‹ is ›invested‹, or the respected or sacred or moral status of
the rule, but the 243perceived normality of environmental events as this normality is a function of the presuppositions that define the
possible events. (Garfinkel, »A Conception«, S. 198)

Der entscheidende bzw. fundierende Aspekt im Hinblick auf soziale Ordnung – so Garfinkel – ist also
nicht die etwa von Durkheim oder Parsons immer wieder betonte »Stärke« und Verbindlichkeit
moralischer Regeln, sondern die Normalität des Alltags, auf deren Basis erst auf Normen Bezug
genommen wird. Oder – um nochmals das obige Zitat von Cicourel heranzuziehen: Die Basisregeln
als die Strukturen des Alltagswissens und -handelns entscheiden erst über die Anwendbarkeit von
Normen.

Insgesamt ging es also der Ethnomethodologie von Anfang an darum, die verborgene Grammatik des
Alltagswissens und -handelns zu analysieren. Unbestritten wurden hier eine ganze Reihe wichtiger
Regeln und Basisregeln »entdeckt«, die natürlich auch für eine Theorie des Handelns und für die
Kritik bestehender soziologischer Theorien von enormer Bedeutung waren. Aber nicht allein den
theoretischen Einsichten war es zu verdanken, daß die Ethnomethodologie gerade in den 1960er
Jahren so ungeheuer modisch wurde und gerade die jüngere Generation innerhalb der Soziologie
angezogen hat. Ihre Attraktivität speiste sich auch daraus, daß man mit dieser Theorie – siehe die
Krisenexperimente – eine quasi clowneske Einstellung einnehmen, sich bewußt in den Zustand der
»Torheit« begeben konnte, weil man mit den Experimenten »auf Probleme [zielte], die vom
Standpunkt dessen, der etwas in der Welt tun will, keine Probleme sind«. (Wieder/Zimmerman,
»Regeln im Erklärungsprozeß«, S. 124) Man konnte mit Lust das Vertrauen in die Strukturen der
Alltagswelt zerstören und gleichzeitig das Bewußtsein haben, relevantes Wissen zu produzieren. Die
Nähe zum gerade in den 1960er Jahren ziemlich populären absurden Theater war dabei unverkennbar,
eben weil man hier wie dort die Irrealisierung von Regeln und Normen bewußt herbeiführte. Dabei
bestand im Fall der Ethnomethodologie immer die Gefahr, daß diese Experimente zu »Happenings«
ausarteten, wodurch der Anspruch dieser Schule, eine ernsthafte Konkurrenz in theoretischer Hinsicht
zu sein, untergraben wurde.
Diese Gefahr verstärkte sich noch durch das ausgesprochen inten244sive Interesse der
Ethnomethodologie an fremden oder andersartigen Kulturen und Rationalitäten. In der Zeit der
Hippie-Bewegung und der sogenannten Gegenkultur, in der die Welt des Drogenkonsums eine ebenso
große Faszination ausübte wie die fremde Welt der Indianer und die literarische eines Carlos
Castaneda, die fälschlicherweise für Ethnographie gehalten wurde, war dieses Interesse zeitgemäß
und wenig überraschend. Was viele Ethnomethodologen in den Bann zog, waren jedenfalls
andersartige Weltbilder, die – läßt man sich auf deren Prämissen ein – durchaus gemäß einer
konsistenten Logik funktionieren, insofern auch hier die »fremden« Akteure im Alltag ihre Normalität
immer wieder herstellen. Durch den Vergleich mit zum Teil radikal andersartigen kulturellen
Grammatiken ließ sich manche Einsicht über die Funktionsweise unserer eigenen »Welt« gewinnen
und gleichzeitig Verständnis für fremde Kulturen und deren Rationalitätsannahmen wecken.
Ethnomethodologen machten etwa – wiederum durchaus in Anknüpfung an Schützsche Ideen – darauf
aufmerksam, daß eine zentrale Prämisse unserer Kultur diejenige der Objektkonstanz ist, also die
Überzeugung, daß Objekte immer die gleichen sind, daß sie sich nicht plötzlich verändern und zu
etwas ganz anderem werden und daß sie sich – sofern es sich um unbelebte Objekte handelt – auch
nicht von selbst bewegen, verschwinden usw. (vgl. auch Mehan/Wood, »Fünf Merkmale der
Realität«). Dies ist vielleicht eine banale Einsicht, wird aber in bestimmten Situationen zu einer
interessanten Angelegenheit.
Nehmen Sie den Fall, daß Sie einen Gegenstand – sagen wir Ihre Sonnenbrille – verlegt haben. Sie
haben sie, als Sie aus dem Freien kamen und den relativ dunklen Flur Ihrer Wohnung betraten,
abgenommen und auf das Regal an der Eingangstür gelegt. 20 Minuten später wollen Sie an diesem
wunderschönen sonnigen Tag das Haus nochmals verlassen, sie gehen zum Regal – und die Brille ist
nicht mehr da, obwohl niemand sonst in der Wohnung war und ist. Sie könnten Stein und Bein
schwören, daß Sie die Brille genau dort auf das Regal gelegt haben. Aber eben dort ist sie nicht. Und
Sie beginnen die Wohnung nach dieser Brille abzusuchen, bis Sie sie nach langer Zeit auf dem
Fernseher entdecken. Ihre Reaktion wird nun in aller Regel diejenige sein, sich das Ganze zu
erklären: »Obwohl ich mir eigentlich absolut sicher war, die Brille auf das Regal gelegt zu haben,
habe ich das doch nicht getan; ich war in Gedanken wahrscheinlich ganz woanders, das passiert mir
ja öfter, ich bin ja wirklich 245manchmal schusselig, und da habe ich irgendwie unterbewußt die
Brille dann doch auf den Fernseher gelegt.« So – oder so ähnlich – wird in einem solchen Fall wohl
Ihr Gedankenstrom aussehen. Obwohl Sie am Anfang Ihrer Suche absolut sicher waren, die Brille auf
das Regal gelegt zu haben, machen Sie eines nicht: Sie überlegen nicht ernsthaft, daß Brillen sich
eigenständig bewegen, vielleicht durch irgendeinen Zauber fliegen können, manchmal das Regal und
manchmal den Fernseher als Standort bevorzugen. Wenn Sie wirklich so sicher waren über die
Ablage der Brille, wäre dies aber ein plausibler und durchaus rationaler Erklärungsversuch –
zumindest ebenso plausibel und rational wie Ihr nachträgliches und damit ziemlich wenig
überzeugendes Eingeständnis Ihrer Schusseligkeit. Eben weil wir in unserer Kultur von der
Objektkonstanz – in diesem Fall eines unbelebten Objekts – überzeugt sind, lassen wir die Annahme
nicht zu, daß Brillen fliegen können, weswegen wir eine andere Rationalisierung suchen, um das
Geschehene zu erklären.
Nun gibt es aber Kulturen, in denen die Annahme der Objektkonstanz nicht selbstverständlich ist
und in denen die vorhin beschriebene Grundsituation folgendermaßen erklärt werden könnte: Das
Verschwinden eines Gegenstandes ist dem Wirken der Götter, dem Einfluß der magischen Kräfte des
Zauberers usw. geschuldet. Tatsächlich sind in bestimmten Kulturen derartige Erklärungsstrategien zu
finden. Ethnomethodologen haben darauf verwiesen, daß dies alles andere als irrational ist, weil –
auf der Basis der Prämissen dieser Kulturen – diese Erklärungsleistungen problemlos
nachvollziehbar sind. Auch in fremden Kulturen stellen die Akteure immer wieder Normalität her,
handeln die Akteure durchaus konsistent. Und so wie wir in unserer westlichen Kultur immer schon
die Logik unseres Handelns unterstellen, so tun dies auch die Mitglieder fremder Kulturen – und zwar
in einer den jeweiligen Prämissen verpflichteten, sehr plausiblen Weise.
Dieser Gedankengang warf dann sehr schnell die Frage auf, ob eigentlich unsere westliche Kultur
höhere Rationalitätsmaßstäbe beanspruchen kann als nicht-westliche Kulturen und ob vor allem die
Wissenschaft eine höhere Rationalität für sich reklamieren darf als andere Wissensformen wie
beispielsweise die Magie. Eine ziemlich kontroverse und manchmal auch diffuse Relativismusdebatte
(vgl. etwa Kippenberg/Luchesi, Magie. Die sozialwissenschaftliche Kontroverse über das
Verstehen fremden Denkens) begann, deren 246Ertrag nicht immer klar war, zumal aus der nicht zu
leugnenden Tatsache, daß Wissen zeitlich und örtlich gebunden und damit kontextabhängig ist, oftmals
unmittelbar geschlossen wurde, daß alle Wissensformen gleichermaßen gültig bzw. überhaupt nicht
vergleichbar und damit beurteilbar seien. Dies ist aber durchaus nicht so: Man kann Wissensformen
und -bestände durchaus vergleichen und dann ein vernünftiges Urteil über sie abgeben. Dies fällt
nicht selten schwer, manchmal wird man vielleicht gar nicht zu einer klaren Entscheidung kommen
können. Aber die Situation ist hier nicht viel anders als in der Wissenschaft, wenn man – wie in der
Ersten Vorlesung beschrieben – zwischen zwei konkurrierenden Paradigmen zu wählen hat: Selbst
wenn das eine »crucial experiment« nicht existiert, so kann man doch vernünftig diskutieren und
vergleichen. In ähnlicher Weise lassen sich auch Alltagswissensbestände verschiedener Kulturen
einander gegenüberstellen.
Die Tatsache, daß nicht wenige Ethnomethodologen dies nicht so sahen, sondern oftmals
relativistische Konsequenzen aus ihren Untersuchungen zogen, und die Tatsache, daß zumindest einige
Ethnomethodologen sich allzusehr in ihrer Rolle als Wissenschafts- und vor allem Soziologiekritiker
gefielen, wirkte sich für diese Schule insgesamt nicht günstig aus. Die Ethnomethodologie verlor in
den USA und auch andernorts seit Mitte der 1970er Jahre rapide an Einfluß und scheint momentan
nicht in der Lage zu sein, der Soziologie neue Impulse zu geben. Daran ändert auch nichts, daß in
Frankreich derzeit eine gegenläufige Bewegung zu beobachten ist und diese dort lange Zeit ignorierte
Theorierichtung plötzlich ein neues Gewicht erhalten hat (vgl. Dosse, L’Empire du sens, S. 180 ff.).

Fragt man nach den Themenschwerpunkten dieser Theorie, so fällt auf, daß der Bereich der
Makrosoziologie von ihr nur wenig berührt worden ist und daß auch allgemeinere Aussagen zum
sozialen Wandel bei Autoren dieser Theorie kaum zu finden sind. Die Stärke der Ethnomethodologie
lag und liegt in der detailgenauen Beschreibung von Mikrosituationen, aus denen wichtige
Rückschlüsse für eine Theorie des Handelns gewonnen werden konnten: Es waren mittels der
Krisenexperimente vorangetriebene empirische Studien, welche es Garfinkel und seinen Mitstreitern
ermöglichten, handlungstheoretisch höchst relevante Aussagen zu formulieren. In der sogenannten
Konversationsanalyse (Harvey Sacks, Emanuel A. Schegloff) hat 247sich aus diesen Anstößen ein
empirischer Forschungszweig entwickelt, der die Mechanismen des Gesprächs, aber auch non-
verbaler Kommunikation (z. B. Blickkontakt) umfassend aufzuklären unternimmt (vgl. etwa Schegloff,
»Accounts of Conduct in Interaction: Interruption, Overlap, and Turn-Taking«). Und was die Theorie
der Ordnung betrifft, ist die ethnomethodologische Kritik an Parsons und die gleichzeitige
Hervorhebung der Selbstverständlichkeit des Alltagswissens schon angesprochen worden: Auch hier
sind wichtige Erkenntnisse in die »übrigen« soziologischen Theorieansätze eingegangen, worauf wir
unter anderem in der Zwölften Vorlesung (zu Anthony Giddens) wieder stoßen werden.
Darüber hinaus lassen sich im wesentlichen fünf Bereiche bzw. empirische Felder benennen, in
denen die Ethnomethodologie bis heute erheblichen Einfluß ausübt.
1. Gerade aufgrund der starken ethnomethodologischen Kritik an herkömmlichen
handlungstheoretischen Konzeptionen, auch aufgrund des Aufweises der Indexikalität der
Alltagssprache, ist in die allgemeine soziologische Methodendiskussion eine neue Vor- und Umsicht
eingezogen. Mittlerweile findet eine wesentlich stärkere Reflexion auf die Generierung und
Gewinnung von Daten statt, als dies vor dem Erscheinen der Ethnomethodologie auf der
soziologischen Bühne der Fall war. Nicht zuletzt ist dies einem auch heute noch zentralen Buch zu
verdanken, nämlich Aaron Cicourels Method and Measurement in Sociology (dt.: Methode und
Messung in der Soziologie), das sich intensiv mit dem Forschungsprozeß und insbesondere der
Angemessenheit bestimmter Erhebungsinstrumente beschäftigt. Für jeden, der sich etwa mit den
Problemen quantitativer Sozialforschung auseinandersetzen will, ist das 1964 erschienene Buch
Cicourels noch immer eine unverzichtbare Quelle. – Besonders anschaulich und spektakulär wurde
die Bedeutung der ethnomethodologischen Methodenkritik in Jack Douglas’ Buch The Social
Meanings of Suicide (1967) gezeigt. Douglas war im Unterschied zu Durkheims Vorgehen im
›Selbstmord-Buch‹ vornehmlich an Prozessen der Erhebung von Selbstmorddaten durch staatliche
oder kommunale Behörden interessiert. Eben weil Douglas genau demonstrierte, welche
Hintergrundannahmen, Vorurteile etc. in die Konstruktion eines »amtlichen« Selbstmordes eingehen,
konnte er deutlich machen, daß die amtlichen Statistiken nicht für »bare Münze« genommen werden
können. Dies hat natürlich Auswirkun248gen auf manche der Befunde Durkheims, insofern dieser
einer ernsthaften Auseinandersetzung über das Zustandekommen seiner Daten aus dem Weg gegangen
war und ziemlich bruchlos – und damit laut Douglas auch höchst fragwürdig – seine theoretischen
Schlußfolgerungen aus den vorhandenen amtlichen Informationen gezogen hatte. Ähnliche Vorbehalte
sind auch gegenüber Kriminalstatistiken zu machen, weil man mittlerweile – belehrt durch die
ethnomethodologische Forschung – weiß, wie die diesbezüglichen Daten tatsächlich produziert
werden. In der Auseinandersetzung mit diesen Statistiken kann man etwa auf so merkwürdige Effekte
aufmerksam werden wie den, daß mit Zunahme der Polizeipräsenz gleichzeitig auch die gemessene
Kriminalität drastisch steigt. Dies hängt nicht damit zusammen, daß tatsächlich mehr Verbrechen
begangen werden, wenn mehr Polizisten in der Nähe sind – was ja ganz unplausibel wäre –, sondern
damit, daß mehr Polizisten mehr Kriminalitätsdaten erheben, weil sie immer irgendwie tätig sind und
quasi nebenbei Delikte aufnehmen.
2. Dieser letzte Punkt leitet über zum nächsten Feld, in dem die Ethnomethodologie stark präsent
ist: Dies ist die Soziologie abweichenden Verhaltens. Hier wurde in großer Genauigkeit das
Verhalten und »Delikte produzierende« Tun von Kontrollinstanzen wie der Polizei untersucht.
Autoren wie der 1921 geborene Egon Bittner (»Police Discretion in Emergency Apprehension of
Mentally Ill Persons«) oder auch Harvey Sacks (»Notes on Police Assessment of Moral Character«)
konnten zeigen, welchen enormen Handlungsspielraum Polizisten im Alltag haben, nach welchen
höchst kontingenten Kriterien, die nichts mit Gesetzestexten zu tun haben, sie in bestimmten
Situationen aktiv werden und wie anders ihre Wahrnehmung von ganz gewöhnlichen Vorkommnissen
strukturiert ist als diejenige von Laien.
3. Aufgrund unserer vorhergehenden Ausführungen kann es nicht überraschen, daß die von Alfred
Schütz beeinflußten Autoren auch das Feld der Wissenssoziologie wesentlich geprägt haben. Nicht
die durch Garfinkel begründete Ethnomethodologie stand hier im Mittelpunkt, sondern bestimmte
Aspekte des Schützschen Werkes, die sich mit den ideologiekritischen Facetten mancher Arbeiten der
soziologischen Klassiker verbinden ließen. Hier war es vor allem ein Werk, nämlich Peter L.
Bergers/Thomas Luckmanns The Social Construction of Reality (dt.: Die gesellschaftliche
Konstruktion der 249Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie), das bahnbrechend gewirkt
hat, insofern hier in einer souveränen Weise klassische wissenssoziologische Autoren wie Karl Marx,
Max Scheler (1874-1928) oder Karl Mannheim (1893-1947) mit den Gedanken von Schütz
unterfüttert bzw. korrigiert worden sind. Das 1966 publizierte Buch vermochte gerade in den durch
eine verstärkte Marx-Rezeption gekennzeichneten 1960er Jahren wichtige Denkanstöße zu liefern im
Hinblick auf die damit einhergehende Debatte um das »Wesen« und den Gehalt von Ideologien. Wenn
auch die ideologisch-politischen Auseinandersetzungen in den westlichen Gesellschaften der 1960er
Jahre und damit implizit auch die Wissenssoziologie seither an Bedeutung verloren haben, so hat das
Werk von Berger und Luckmann, das – um es nochmals zu betonen – mit der Garfinkelschen
Forschungsausrichtung kaum etwas gemein hat, nichts von seinem Klassikerstatus eingebüßt.
4. Eng verwandt mit der Thematik des letzten Punktes ist die Wissenschaftssoziologie. Gerade weil
es sich Ethnomethodologen zur Aufgabe gemacht haben zu untersuchen, wie sich Wirklichkeit im
Vergleich unterschiedlicher »Welten« herstellt, kann es nicht verwundern, daß die Wissenschaft selbst
sehr schnell ins Zentrum der Analyse geriet. Garfinkel selbst beteiligte sich an diesbezüglichen
Untersuchungen, insofern ihn etwa die Wirklichkeit des Laboratoriums interessierte, die Art und
Weise, wie dort Fakten produziert und gedeutet werden (Lynch/Livingston/Garfinkel, »Temporal
Order in Laboratory Work«). Eine ethnographisch verfahrende Wissenschaftssoziologie konnte durch
Rückgriff auf Ideen aus der Ethnomethodologie u. a. zeigen, wie sehr auch dieser angeblich so
hochrationale Forschungsprozeß durch Strukturen des Alltagshandelns geprägt ist, wie willkürliche
Entscheidungen den Forschungsprozeß bestimmen, wie Zufälligkeiten den Verlauf der
Forschungsarbeit prägen, wie das Sehen von »Fakten« erst eingeübt werden muß, wie häufig
scheinbar klare Forschungsregeln umgeworfen oder umgebogen werden, wie auch hier – wie bei den
Geschworenen in Garfinkels frühen Studien – Forschungberichte den wirklichen Ablauf nachträglich
stilisieren und wie sehr selbst hochtechnische Experimente auf die Interaktionen von Wissenschaftlern
»angewiesen« sind, die damit gleichzeitig auch die Auswertung der Daten entscheidend mitprägen
(vgl. etwa Karin Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der
Naturwissenschaft).
2505. Auch auf die feministische Forschung und Theoriebildung hat die Ethnomethodologie einen
erheblichen Einfluß ausgeübt. Dies ist hier allerdings nicht näher zu erläutern, weil wir Ihnen darüber
in der Siebzehnten Vorlesung detaillierter berichten werden.

Damit sind wir nun am Ende unserer Vorlesungen zu den »Interpretativen Ansätzen« angelangt. Es
waren der Symbolische Interaktionismus und die Ethnomethodologie, die zusammen mit dem Neo-
Utilitarismus in den 1950er und 1960er Jahren gegen die Parsonssche Hegemonie revoltiert hatten. Es
gab aber noch eine weitere Richtung, die wir bisher nicht erwähnt haben und die ebenfalls mit der
Parsonsschen Theorie konkurrierte – die Konflikttheorie. Auf sie müssen wir in der nächsten
Vorlesung zu sprechen kommen, bevor wir dann zeitlich weitergehen können. Die 1970er Jahre
werden insoweit einen Einschnitt bringen, als dort erneut versucht werden wird, unter
Berücksichtigung all dieser Kritiken an den Willen von Parsons zur Theoriesynthese schöpferisch
anzuknüpfen und entsprechend neue großangelegte Synthesen vorzulegen. Nur so kann das Fach vor
der Zersplitterung in ein unverbundenes Nebeneinander von »Schulen« oder »Ansätzen« bewahrt
werden.
251Achte Vorlesung
Konfliktsoziologie/-theorie

Sowohl der Neo-Utilitarismus wie die interpretativen Ansätze in Gestalt des Symbolischen
Interaktionismus und der Ethnomethodologie waren Reaktionen auf die Dominanz der Parsons-Schule
in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Dabei stand jeweils in erster Linie der
Handlungsbegriff zur Debatte: Während für die Neo-Utilitaristen das Parsonssche Handlungsmodell
zu normativ und insgesamt zu komplex war, insofern dieses angeblich die explanatorische Kraft der
Soziologie eher geschwächt habe, schien den Interaktionisten wie Ethnomethodologen Parsons’
normativistisches Handlungsverständnis unzureichend und unterkomplex zu sein. Die Neo-
Utilitaristen bemühten sich deshalb um eine Wiederbelebung jener von Parsons bereits
verabschiedeten Tradition des Utilitarismus, während die Symbolischen Interaktionisten in
Kontinuität mit den von Parsons vor allem in seinem Frühwerk ignorierten Autoren des
amerikanischen Pragmatismus standen und die Ethnomethodologen durch Aufnahme
phänomenologischer Ideen neue, man könnte sagen: dissidente Wege einschlugen. Alle drei
Richtungen arbeiteten sich aber ganz überwiegend am Parsonsschen Handlungsverständnis ab,
wohingegen das Problem der sozialen Ordnung und erst recht dasjenige des sozialen Wandels sehr
viel weniger im Mittelpunkt standen.
Die Entstehung der sogenannten Konfliktsoziologie Mitte der 1950er Jahre muß vor genau diesem
Hintergrund gesehen werden; sie stellt Punkt für Punkt eine Antithese zu Parsons oder einem
bestimmten Parsons-Verständnis dar. Zahlreiche Soziologen empfanden vor allem die ordnungs- und
wandlungstheoretische Konzeption von Parsons als eine, die übermäßig stark die normativen
Elemente der sozialen Wirklichkeit herausstreicht, aus diesem Grund die Existenz stabiler sozialer
Ordnung schlicht unterstellt und damit quasi die Statik und Wohlgeordnetheit von Gesellschaften
unreflektiert als Prämisse setzt. Die Konfliktsoziologen stellten dem eine alternative Theorie
entgegen, die auf die Rolle von Machtverhältnissen und nackten Interessenkämpfen im sozialen Leben
abhob und deshalb die Dynamik und den oftmals schnellen Wandel gesellschaftlicher Ordnungen
betonte. Kurz, der soziale »Konflikt« wurde 252hier energisch in den Mittelpunkt soziologischer
Theoriebildung gestellt, womit schon grundbegrifflich das normativistische Ordnungsmodell von
Parsons unterlaufen werden sollte. Es ist nicht überraschend, daß diese Konfliktsoziologie gerade in
der Zeit der 1960er Jahre eine besondere Anziehungskraft entfaltete, als auf seiten verschiedener
sozialer Bewegungen, vor allem aber der Studentenbewegung die Kritik am westlichen und
insbesondere am amerikanischen Gesellschaftsmodell immer schärfer wurde und vor allem die
Parsonssche Theorie als eine reaktionäre Verteidigung des Zustands der amerikanischen Gesellschaft
gedeutet wurde. Gleichzeitig sei aber jetzt schon darauf hingewiesen, daß die konfliktsoziologische
Kritik an Parsons keineswegs nur aus dem linken politischen Spektrum kam.
Was auch immer die Kritiker politisch motiviert haben mochte: Parsons selbst fühlte sich durch sie
zum Teil grob mißverstanden. Er hatte ja bei seinen frühen handlungs- und ordnungstheoretischen
Analysen in Structure wie auch in seiner mittleren strukturfunktionalistischen Schaffensperiode auf
einer höheren Abstraktionsebene argumentiert: Ihm war es keineswegs darum gegangen, eine
spezifische gesellschaftliche und politische Ordnung zu verteidigen, etwa diejenige der USA. Er war
ebensoweit davon entfernt, die Existenz von gesellschaftlichen Konflikten schlicht zu leugnen. Die
Stoßrichtung seiner Argumentation – so sah er es jedenfalls selbst – war vielmehr eine im Kantschen
Sinn »transzendentale« gewesen: Er hatte grundsätzlich nach den Bedingungen der Möglichkeit von
sozialer Ordnung gefragt. Und die Antwort auf diese Frage ist völlig unabhängig davon, ob man in
einer bestimmten sozialen Wirklichkeit empirisch eher ordnungstiftende oder konfliktuelle Momente
am Werk sieht. Parsons ging von der empirischen Existenz von Ordnung aus, leugnete aber
selbstverständlich die Existenz von Konflikten nicht. Insofern mußte ihm der Angriff der
Konfliktsoziologen tatsächlich als deplaziert erscheinen, und dies um so mehr, als er sich seit den
1960er Jahren (s. die Vierte Vorlesung) auch explizit um eine Theorie sozialen Wandels bemühte. War
also die Entstehung der Konfliktsoziologie nur ein Mißverständnis, Folge einer verzerrten oder nur
sehr einseitigen Wahrnehmung der Parsonsschen Theorie? Die Antwort ist »ja« und »nein« zugleich.
Parsons hatte sicherlich recht, wenn er darauf insistierte, daß sich seine handlungs- und
ordnungstheoretischen Analysen einer unmittelbaren empiri253schen Kritik entzogen. Er hatte
tatsächlich zumeist auf einer höheren theoretischen Ebene argumentiert als viele seiner
konfliktsoziologischen Kritiker. Andererseits – und dies gaben selbst die Anhänger von Parsons
später durchaus zu – fehlte dem ganzen Parsonsschen Theorierahmen ein sensibles begriffliches
Instrumentarium zur Erfassung von Konflikten. Es war also beileibe nicht ganz falsch, wenn die
Kritiker monierten, daß Parsons’ Schriften – gerade auch seine empirischen Analysen – höchst
harmonistische Züge aufwiesen, die Existenz massiver Konflikte und Interessenkämpfe eher beiseite
schoben und damit insgesamt sozialen Wandel in einer unangemessenen Weise als kontinuierlich und
linear darstellten. Parsons’ evolutionstheoretisches Spätwerk, die dortige Auseinandersetzung mit
dem Problem des makrosozialen Wandels, vermochte diesen Vorwurf – wie wir gesehen haben – auch
nicht wirklich zu entkräften. Insofern konnte man nicht ohne Grund argwöhnen, daß schon in die
Fundamente des Parsonsschen Theoriegebäudes ein »harmonistisches Vorurteil« eingebaut bzw.
dieses Gebäude so konstruiert war, daß es schwerfällt, soziale Konflikte zu einem zentralen Thema zu
machen.

Aber nun zu dieser Konfliktsoziologie selbst, wobei hier eine gewisse begriffliche Schwierigkeit
oder Zweideutigkeit auftaucht. Unter Konfliktsoziologie kann man eine Art Bindestrich-Soziologie
verstehen: so wie sich die Familiensoziologie mit Familien, die Religionssoziologie mit Religion
beschäftigt, so beschäftigt sich dann eine so verstandene Konfliktsoziologie mit Konflikten. Das wäre
das eine Verständnis des Begriffs. Aber – und dies interessiert uns hier im Rahmen der
Vorlesungsreihe zur modernen Sozialtheorie wesentlich mehr: Mit Konfliktsoziologie ist auch ein
eigenständiger theoretischer Ansatz gemeint. Wir werden uns deshalb den Begriff »Konflikttheorie«
für diese Bedeutung vorbehalten. Diese Begriffswahl erscheint uns sinnvoll, um Sie nicht allzusehr zu
verwirren: Denn historisch sind die Ursprünge der Konflikttheorie tatsächlich in der
Konfliktsoziologie zu suchen.
Wenn oben in bezug auf das Parsonssche Theoriegebäude die Vermutung geäußert wurde, daß es dort
nicht gelungen war, das Thema Konflikt als zentral zu begreifen, so ist dies bewußt so formuliert
worden. Denn zentral waren Konflikte für Parsons und seine Schü254ler tatsächlich nie, obwohl sie
sich mit Konflikten als empirischen Phänomenen durchaus beschäftigten. Parsons nahestehende
Soziologen hatten früh begonnen, die Parsonssche Rollentheorie zu modifizieren bzw. auszubauen,
indem sie – wie Robert Merton (vgl. etwa »Continuities in the Theory of Reference Groups and
Social Structure«) – auf Intra- und Interrollenkonflikte hinwiesen, also darauf, daß in ein und
derselben Rolle oft unterschiedliche, nämlich konfligierende Verhaltenserwartungen zu erfüllen sind
(dem Kind z. B. werden von Vater und Mutter unterschiedliche Erwartungen entgegengebracht) oder
daß Personen fast immer unterschiedliche Rollen auszufüllen haben (z. B. haben Frauen häufig eine
Mutterrolle und gleichzeitig eine Rolle als Berufstätige), die miteinander nicht ohne weiteres als
kompatibel zu betrachten sind, weshalb hier Konflikte auftauchen. Aber solche Weiterentwicklungen
waren nicht als fundamentale Parsons-Kritik gemeint, zumal Merton auch sofort auf die Techniken
verwies, mit denen Handelnde diese Probleme in der Regel entschärfen oder meistern; sie bedeuteten
auch keine Schwerpunktverlagerung der strukturfunktionalistischen Theorie hin zu einer Analyse
sozialer Konflikte. Parsons’ normativistisches Theoriegebäude blieb unangetastet; man schuf quasi
nur Platz für die Untersuchung von ganz bestimmten Konflikten, eben Rollenkonflikten.
Ein beachtenswerterer Vorstoß erfolgte durch den 1913 in Berlin geborenen und 1941 in die USA
eingewanderten Lewis Coser (verstorben 2003). Coser stand Parsons und seinem theoretischen
Ansatz zwar nahe, formulierte aber 1956 in The Functions of Social Conflict (dt.: Theorie sozialer
Konflikte) durchaus auch eine präzise Kritik. Unter anderem monierte er, daß Funktionalisten wie
Parsons Konflikte überwiegend als psychologisch bedingte Phänomene, als individuelles
Fehlverhalten, ja manchmal sogar als »Krankheit« interpretiert hätten. Dies sei dadurch bedingt, daß
der Status quo einer Gesellschaft in dieser Theorietradition als eine Art Normalzustand interpretiert
werde und Abweichungen davon nur als Störungen im Sinne individueller Fehlanpassungen gedeutet
werden könnten. Gerade auch für Parsons gelte, daß dieser kaum ein ernsthaftes Interesse für
konflikthafte soziale Prozesse gezeigt habe, unter anderem weil er zu sehr Durkheimianer und zu
wenig Weberianer gewesen sei. Coser meinte damit, daß Parsons der Durkheimschen Betonung von
Werten im Hinblick auf soziale Integration zuviel zugestanden und 255demgegenüber Max Webers
richtige Einsicht bzgl. der Bedeutung des Kampfes für das gesellschaftliche Gefüge eher verdrängt
habe (vgl. Theorie sozialer Konflikte, S. 21 ff.).
Coser war politisch gesehen sicherlich links von Parsons angesiedelt und hat seine demokratisch-
sozialistischen Ideale immer wieder offen und offensiv vertreten. Aber die Kritik an Parsons’ eher
statischem Modell der sozialen Welt ist sicherlich nicht allein dieser Differenz geschuldet. Hier
scheint vielmehr ein kultureller Aspekt eine Rolle gespielt zu haben. Denn Coser war Jude und dabei
selbst von einem jüdischen Autor beeinflußt, einer der Gründerfiguren der deutschen Soziologie, der
schon zur Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert einen wesentlichen Beitrag zur Analyse von Konflikten
geleistet hatte. Die Rede ist hier von Georg Simmel, in dessen Buch Soziologie (zuerst 1908) sich ein
brillanter Essay mit dem Titel »Der Streit« findet. Simmel legte dort unter anderem eine Typologie
des Streits vor, analysierte die Folgen dieser Form der sozialen Beziehung und gab aufschlußreiche
Einblicke in die Situationen, in denen Dritte den Streit zwischen zwei Personen ausnutzen können
getreu dem Sprichwort: »Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte«. Aber nicht die einzelnen
Simmelschen Beobachtungen waren für Coser entscheidend. Wichtiger war vielmehr, daß Simmel
deutlich von jener damals (und vielleicht auch noch heute) in Deutschland dominanten Kulturtradition
abwich, die Streit, Konflikte, Auseinandersetzungen usw. immer sofort mit einem negativen Etikett
versieht. Simmel hingegen hatte zu dieser Form der sozialen Beziehung ein durchaus positives
Verhältnis, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil es eine über Jahrhunderte gewachsene rabbinische
Streitkultur gab, in der Konflikte keineswegs als Bedrohung des Gemeinwesens interpretiert wurden.
Und genau diese positive oder doch zumindest neutrale Haltung zu Streit und Konflikten nimmt nun
auch Coser ein, indem er sie in funktionalistische Argumente überführt. Es geht eben – wie Coser mit
dem englischen Titel des Buches (The Functions of Social Conflict) andeutet und im Vorwort auch
explizit sagt – um die Funktionalität sozialer Konflikte. Der Konflikt wird von Coser als eine Form
der Vergesellschaftung begriffen:
Das meint wesentlich, daß (…) keine Gruppe völlig harmonisch sein kann, sie wäre denn ohne Entwicklung und Struktur. Gruppen
verlangen Dishar256monie ebenso wie Harmonie, Auflösung wie Vereinigung; Konflikte in einer Gruppe sind nicht einfach zerstörende
Faktoren. Gruppenbildung ist das Ergebnis beider Arten von Prozessen. (Coser, Theorie sozialer Konflikte, S. 35)

Coser verwies in zum Teil starker Anlehnung an Simmel darauf, daß Konflikte »die Luft reinigen«
und dadurch eine Art Sicherheitsventil darstellen können, daß beileibe nicht jeder Konflikt auch von
Aggressionen begleitet sein muß und vor allem – dies war gerade gegen die Verengung in der
Parsonsschen Theorie gerichtet – daß die Abwesenheit von Konflikten noch nichts über die Stabilität
eines sozialen Systems aussagt, weil das Fehlen von Konflikten möglicherweise auf unterschwellige
Spannungen hindeutet, die sich dann später unkontrolliert entladen können. Anders gesagt: Ein offener
Konfliktaustrag vermag durchaus auch ein Zeichen für Stabilität zu sein (Coser, a.a.O., S. 98). Coser
geht sogar noch weiter und behauptet insbesondere in einem Nachfolgewerk mit dem Titel
Continuities in the Study of Social Conflict aus dem Jahre 1967, daß Konflikte oftmals eine
durchaus positive Wirkung auf ganze Gesellschaften haben, insofern durch sie Lernprozesse ausgelöst
und neue Regeln und Institutionen geschaffen werden können. Wenn Gesellschaften Konflikte nicht
zulassen, sind sie – so seine These – nicht lern- und langfristig auch nicht überlebensfähig.
What is important for us is the idea that conflict (…) prevents the ossification of the social system by exerting pressure for innovation
and creativity. (Coser, Continuities in the Study of Social Conflict, S. 19)

Eine solche These kann etwa am Beispiel der Umweltbewegungen plausibilisiert werden, die in den
1970er und 1980er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland auf erheblichen Widerstand stießen.
Konflikte waren damals an der Tagesordnung, manchmal sogar gewaltsame Auseinandersetzungen.
Die Konflikte wurden aber im Rahmen demokratischer Verfahren zugelassen mit dem Effekt von
Lernprozessen, die bei allen politischen Parteien dazu geführt haben, daß auch sie sich mittlerweile
die Bewahrung der Natur auf die Fahnen schreiben. Selbst wenn man die tatsächlich durchgesetzten
Umweltschutz-Maßnahmen als nicht besonders beeindruckend empfinden und nicht allen Parteien
dieselbe ökologische Glaubwürdigkeit attestieren sollte, so wird man gleichzeitig doch zugestehen
müssen, daß die gewaltsame Unterdrückung ökologischer Bewegungen in der 257DDR und die
Vorenthaltung relevanter Informationen dort ein diesbezügliches Lernen verhindert haben, mit dem
Resultat von auch noch in den 1980er Jahren ungehemmt fortschreitenden Umweltzerstörungen.
Trotz aller Kritik an Parsons verblieb die Argumentation Cosers im wesentlichen innerhalb des
Funktionalismus. Zu der Zeit, als er sein The Functions of Social Conflict veröffentlichte, zeichneten
sich freilich in der Soziologie bereits einige andere Entwicklungen ab, die zu einem radikalen Bruch
mit dem Funktionalismus führen sollten. Das Phänomen des Konflikts wurde nun gegen den
Funktionalismus gewendet, wobei Schritt für Schritt versucht wurde, die Konfliktsoziologie als einen
eigenständigen und mit dem Funktionalismus konkurrierenden theoretischen Ansatz zu etablieren.
Diese sich abzeichnende Bewegung war in den USA v. a. mit dem Namen Reinhard Bendix
verbunden. Bendix (1916-1991), wie Coser deutsch-jüdischer Herkunft, war 1938 in die USA
emigriert und hatte dort an der University of Chicago und dann in Berkeley eine höchst erfolgreiche
akademische Karriere begonnen. Während Coser seinen theoretischen Gewährsmann relativ schnell
in Simmel fand, den er in durchaus komplexer Weise mit der Parsonsschen Theorietradition zu
verbinden suchte, läßt sich die Entwicklung des Werkes von Bendix eher als ein tastendes Suchen
nach »geeigneten Autoren« und nach einer geeigneten Wandlungstheorie beschreiben. Bendix war
zweifellos von Marx beeinflußt, sah aber von Beginn an mit scharfem Blick dessen große theoretische
Schwächen und suchte diese mit den Denkmitteln von Alexis de Tocqueville (1805-1859), aber vor
allem von Max Weber zu überwinden. Charakteristisch für diese Suchbewegung hin zu einer
adäquaten Theorie des sozialen Wandels ist etwa sein Aufsatz »Social Stratification and Political
Power« aus dem Jahre 1952. Hier kritisiert er vehement das empirische Versagen der Marxschen
Theorie, das sich aus dem hoffnungslosen Versuch erklärt, alle Konflikte auf Klassenkonflikte
zurückzuführen. Für Bendix ist die Verschiedenartigkeit von Konflikten in der sozialen Welt viel zu
groß, als daß ein solcher Reduktionismus irgendwelchen Erklärungswert für sich beanspruchen
könnte. Dennoch will er mit Marx nicht vollkommen brechen; er bezeichnet den Marxismus als eine
im Grund »interessante« Theorie sozialen Wandels. Deshalb gelte es, die soziologischen Einsichten
von Marx gegen ihn selbst und seine Anhänger zu verteidigen und zu retten.
258(…) we should not (…) abandon the genuine insight which makes the Marxian theory attractive: that the many antagonisms created
in a society, and especially the conflicts inherent in its economic structure, may, but need not, give rise to collective action and that it is the
task of the analyst to discover the circumstances under which collective action does or does not arise. I believe that Marx forfeited his
genuine insight into the indeterminacy of the relationship between class situation and class action by his prophetic fervor, which prompted
him to forecast the capitalist development with a certainty often belied by his own historical sense. (Bendix, »Social Stratification and
Political Power«, S. 600)

Dieses Motiv der Rettung Marxscher Einsichten gegen Marx wird in der Konflikttheorie, auch in der
sogleich zu diskutierenden europäischen Konflikttheorie, immer wieder auftauchen. In unserem
Zusammenhang ist zunächst anzumerken, welche Konsequenzen Bendix aus dieser sich abzeichnenden
massiven Reformulierung der Marxschen Theorie zog. Weil Bendix – wie im obigen Zitat gesehen –
den engen Zusammenhang zwischen der Klassensituation und dem Klassenhandeln in Zweifel zog und
sah, daß das kollektive Handeln von Gruppen wie das politische Handeln einzelner Akteure relativ
unabhängig ist von der abstrakten Klassensituation, verwarf er die Vorstellung, der gesellschaftliche
Wandlungsprozeß könne prognostiziert werden, wie dies in der Marxschen Theorie zutiefst angelegt
ist. Vielmehr vertrat er die Auffassung, daß der historische Prozeß kontingenten Umständen
unterworfen sei, daß Konfliktgruppen und soziale Bewegungen immer wieder geprägt seien von
»local conditions, historical antecedents, the acuteness of the crisis« (a.a.O., S. 602), weshalb
ahistorische Verallgemeinerungen darüber höchst zweifelhaften Wert besitzen dürften. Bendix’ Thesen
sind eindeutig als Attacke auf das Marxsche Geschichtsverständnis zu interpretieren. Da er aber
Marx’ Einsicht in die Bedeutung von Konflikten für historische Prozesse übernimmt, kann es nicht
überraschen, daß sich in der Entwicklung seines Werkes auch eine zunehmende, wenn auch zumeist
implizit bleibende Kritik an Parsonsschen Denkfiguren abzeichnet.
Bendix’ Buch Work and Authority in Industry. Ideologies of Management in the Course of
Industrialization aus dem Jahre 1956 war ein entscheidender Schritt in diese Richtung. In dieser
historisch-vergleichenden Untersuchung zum frühen Industrialisierungsprozeß in England und im
zaristischen Rußland bzw. zur »reifen« Industrialisierung in den USA und der DDR entwarf Bendix
ein Bild, das 259so gar nicht mit Parsons’ Beschreibungen von Organisationen und auch nicht mit den
wenige Jahre später von diesem und seinen Schülern vorgelegten differenzierungs- und
evolutionstheoretischen Arbeiten übereinstimmen sollte. Denn Bendix beginnt sein Buch mit der
provokanten konflikttheoretischen Äußerung: »Wherever enterprises are set up, a few command and
many obey« (Work and Authority in Industry, S. 1), womit er schon auf der Beschreibungsebene eine
völlig andere Sichtweise als Parsons einnimmt; dieser hatte Organisationen ja immer am Leitfaden
einer wertgestützten Arbeitsteilung zum Zwecke der Effizienzsteigerung betrachtet. Und während in
der von Parsons beeinflußten Literatur zum sozialen Wandel Geschichte mehr oder minder als ein
linearer Prozeß gedeutet wurde, in dem sich moderne gesellschaftliche Strukturen quasi von selbst
aufgrund einer überlegenen Rationalität durchgesetzt hätten, beschrieb Bendix diese Vorgänge als
extrem konflikthaft: Industrialisierung war für ihn kein selbstlaufender Prozeß, sondern einer, in dem
Gruppen (Aristokratie und Bürgertum, Industrielle und Arbeiter, staatliche Bürokraten und Manager)
miteinander kämpften und dieser Kampf mit Hilfe von Ideologien verbrämt oder legitimiert wurde.
»The few, however, have seldom been satisfied to command without a higher justification (…) and
the many have seldom been docile enough not to provoke such justifications.« (Ibid.) Bendix betonte
in einem späteren Vorwort zur Neuausgabe des Buches, daß er bei seinen Analysen auf de
Tocqueville und Marx zurückgegriffen habe, daß es aber eigentlich Webers Herrschaftssoziologie
gewesen sei, der er am meisten zu verdanken habe (Work and Authority in Industry, S. XXV).
In der Tat sollte Max Weber für nicht wenige Konflikttheoretiker zu dem Bezugsautor unter den
Klassikern der Soziologie werden. Während etwa Durkheim innerhalb dieser Tradition einer heftigen
Kritik ausgesetzt war und manchmal sogar der Verachtung anheimfiel (vgl. die scharfe Kritik Cosers
in Continuities in the Study of Social Conflict, S. 153-180), schien das Werk Webers ein geeigneter
Ausgangspunkt zu sein, um sowohl den Marxismus wie den Strukturfunktionalismus attackieren zu
können. Dies war freilich ein völlig anderer Weber, als ihn Parsons etwa in Structure dem
amerikanischen Publikum vorgestellt hatte. Parsons hatte dort Weber in erster Linie in bezug auf die
Konvergenzthese interpretiert, dahingehend also, daß dessen Denken zusammen mit den aus der
utilitaristischen 260bzw. positivistischen Tradition kommenden Marshall, Pareto und Durkheim in die
Nähe einer »voluntaristischen Handlungstheorie« geführt habe, die gerade auch die Bedeutung von
Normen und Werten anerkennt (s. hierzu die Zweite Vorlesung). Gegen diese normativistische
Deutung Webers richtet sich nun explizit Bendix in seinem Max Weber. An Intellectual Portrait (dt.:
Max Weber – Das Werk). Bendix stellt in diesem 1960 erschienenen Buch den Aspekt des Kampfes in
den Mittelpunkt seiner Weber-Interpretation, mithin die Herrschaftssoziologie, und nicht – wie
Parsons – die Weltbildanalysen in der Religionssoziologie. Und mit dieser Auslegung bestreitet
Bendix gleichzeitig, daß Parsons und der Strukturfunktionalismus überhaupt berechtigt seien, Weber
als ihren Ahnherren zu bezeichnen. Bendix benutzt Weber also zu einer massiven, wenn auch implizit
bleibenden Parsons-Kritik:
Webers Bild von der Gesellschaft als einem Gleichgewicht zwischen gegenläufigen Kräften ist der Grund, warum er es ausdrücklich
ablehnte, Sozialstrukturen als Gesamtheiten zu interpretieren, zumindest im Zusammenhang mit soziologischen Untersuchungen.
Soziologie war für ihn das verstehbare Handeln von Individuen in der Gesellschaft, während Kollektivgebilde wie ein Staat, eine Nation
oder eine Familie nicht »handeln« oder »sich selbst erhalten« oder »fungieren«. (…) In Webers Betrachtungsweise erschien die
Gesellschaft als Kampfplatz konkurrierender Statusgruppen, die jeweils ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen, ihre Standesehre und
spezifischen Orientierungen gegenüber der Welt und dem Menschen besaßen. (Bendix, Max Weber – Das Werk, S. 203)

In der amerikanischen Soziologie kam es wahrscheinlich aufgrund der wirklich umfassenden


Dominanz des Parsonsschen Paradigmas mit Blick auf das Thema »sozialer Konflikt« zunächst nur zu
einer entweder funktionalismus-kompatiblen (s. Coser) oder zu einer zwar fundamentalen, aber eher
impliziten Kritik ohne wirklich ausformulierte theoretische Ambitionen: Das war im Bendixschen
Werk der Fall, aber auch z. B. im Werk eines einflußreichen akademischen Außenseiters, des linken
Gesellschaftskritikers C. Wright Mills (1916-1962), der 1956 eine wichtige macht- und
elitentheoretische Arbeit zur amerikanischen Gesellschaft vorgelegt hatte, The Power Elite. In einigen
Teilen der europäischen Soziologie hingegen, vor allem in Großbritannien und Deutschland, war man
während der 1950er Jahre gegenüber dem Parsonsschen Werk sehr viel unbefangener. Hier wurde
nach der fundamentalen Kritik an Parsons ver261sucht, eine theoretische Alternative zu entwickeln –
eben die Konflikttheorie.
Im britischen Raum waren es vor allem zwei Autoren, die die Konflikttheorie der 1950er und
1960er Jahre prägten, nämlich David Lockwood und John Rex. Lockwood (geb. 1929) ist in dieser
Zeit überwiegend durch große empirische Studien zur Klassentheorie hervorgetreten, wobei er v. a.
Webersche Kategorien zur Analyse des Bewußtseins von Angestellten und Arbeitern herangezogen
hatte. Für unseren Zusammenhang ist bedeutsamer, daß er auch einer der ersten britischen Autoren
war, die massiv Parsons’ The Social System attackierten und die mit dieser Kritik auf eine eigene,
von Parsons unabhängige theoretische Perspektive abzielten. Der 1956 erschienene und berühmt
gewordene Aufsatz »Some Remarks on ›The Social System‹« wendet sich vehement gegen die
Überbetonung des Normativen und die gleichzeitige theoretische Marginalisierung materieller
Lebenschancen und nicht-normativer Interessen im Parsonsschen Werk. Lockwood forderte
demgegenüber eine zumindest gleichgewichtige Behandlung von Normen und materiellen Interessen
und damit auch, daß dem Parsonsschen Thema der Sozialisation in mindestens ebenbürtiger Weise
auch das Marxsche Thema der Ausbeutung (von bestimmten Gruppen) mit den daraus resultierenden
sozialen Konflikten zur Seite zu stellen sei. Dabei unterstellt Lockwood durchaus nicht die
problemlose Anwendbarkeit Marxscher Kategorien. Ganz im Gegenteil: Wie schon Bendix bringt er
gegen Marx vor, daß soziale Konflikte nicht nur aus ökonomischen Strukturen resultieren. Unter
Berufung etwa auf die historischen Studien von Otto Hintze (1861-1940) und vor allem auf die
Herrschaftssoziologie Max Webers verweist er darauf, daß daneben auch militärische und politisch
begründete Machtkonflikte zu beachten seien, die sich eben nicht auf wirtschaftliche Konstellationen
zurückführen lassen. Aber unabhängig davon seien die zu modifizierenden Marxschen Einsichten
wichtig genug, um als entscheidendes Korrektiv der Parsonsschen Analysestrategie gelten zu können.
Kurz, Lockwood betont, daß der Parsonssche und der dem Marxismus entstammende
konflikttheoretische Ansatz »complementary in their emphases« seien. Deswegen fordert er eine
Kombination beider Ansätze, weil die soziale Wirklichkeit sowohl durch normative Ordnungsmuster
als auch durch machtgestützte »faktische Ordnungen« charakterisiert sei – eine Forderung, der er auch
noch in 262einem viel späteren Werk (vgl. Solidarity and Schism. ›The Problem of Disorder‹ in
Durkheimian and Marxist Sociology) nachzukommen beabsichtigt. Aber bereits 1956 hatte er
formuliert:
Every social situation consists of a normative order with which Parsons is principally concerned, and also of a factual order, or
substratum. Both are ›given‹ for individuals; both are part of the exterior and constraining social world. Sociological theory is concerned,
or should be, with the social and psychological processes whereby social structure in this dual sense conditions human motives and
actions. The existence of a normative order in no way entails that individuals will act in accordance with it; in the same way the
existence of a given factual order in no way means that certain kinds of behaviour result. (Lockwood, »Some remarks on the ›Social
System‹«, S. 139/140)

John Rex (geb. 1925) ist der andere prominente britische Vertreter der Konflikttheorie. Er stammt
ursprünglich aus Südafrika, war in den späten 1940er Jahren nach England gekommen und hatte sich
dort vor allem durch die Analyse ethnischer Konflikte einen Namen gemacht. In Key Problems of
Sociological Theory (dt.: Grundprobleme der soziologischen Theorie) bemängelte Rex 1961 an
Parsons in erster Linie dessen einseitige theoretische Entwicklung. Während »The Structure of Social
Action« als ein Werk zu loben sei, »welches als analytische Geschichte soziologischen Denkens
keine Parallele hat« (Rex, Grundprobleme der soziologischen Theorie, S. 127) und das aufgrund der
dort vorhandenen handlungstheoretischen Perspektive zumindest die Existenz von Konflikten zu
denken erlaube, habe sich Parsons spätestens seit seiner strukturfunktionalistischen Phase eine
Sichtweise angeeignet, die lediglich noch Ausnahmen (etwa deviantes Verhalten von Individuen) in
ansonsten bruch- und reibungslosen Institutionalisierungsprozessen zuläßt.
Denn obwohl man mit Parsons behaupten kann, daß normative Elemente in die in sozialen Systemen vorkommenden
Elementarhandlungen einfließen, so folgt daraus doch keinesfalls, daß soziale Systeme durch solche Elemente vollkommen integriert sind.
Auf diesen Punkt hin scheint sich jedoch Parsons’ Denken fortwährend zu bewegen, selbst in The Structure of Social Action,
offensichtlicher noch in The Social System. (Rex, Grundprobleme der soziologischen Theorie, S. 129/130)

Parsons’ Denkgebäude sei letztendlich idealistisch, weil er – und hier argumentiert Rex in großer
Nähe zu Lockwood – nicht mehr hinter263fragt, ob vielleicht stabile Ordnungen und normative
Muster selbst wieder Ausdruck von Machtkonstellationen seien, ob etwa der Glaube an die
Legitimität einer bestimmten Eigentumsordnung Resultat einer möglicherweise lange
zurückreichenden Institutionalisierung von Machtkonflikten sei. In diesem Zusammenhang verweist
Rex darauf, daß der Begriff der Legitimität von Max Weber »als eine der möglichen Grundlagen von
Herrschaft« eingeführt worden sei »und nicht als das Resultat eines Konsensus über Normen«
(a.a.O., S. 224; unsere Hervorh.). Er fragt deshalb in rhetorischer Weise und in parsonskritischer
Absicht, »ob es nicht besser wäre, die Analyse mit der Machtkonstellation oder mit dem
Interessenkonflikt, den die Machtkonstellation lösen soll, zu beginnen als mit der Annahme der
Existenz von Normen.« (A.a.O., S. 151) Aber Rex lehnt nicht vollständig die Parsonssche
Perspektive ab. Vielmehr betrachtet er wie Lockwood die parsonianische »Integrationstheorie« und
die Weber-Marxsche Konflikttheorie als komplementär, denn die zentralen, aber höchst
unterschiedlichen Problembereiche des Sozialen seien nur durch eine Kombination beider
Theorieansätze zu lösen: »In jeder Gesellschaft gibt es ein Eigentumsproblem, ein Machtproblem, ein
Problem höchster Werte und ein Religionsproblem.« (A.a.O., S. 222)
Die radikalste Kritik am Parsonianismus und die entschiedenste Verteidigung des
konflikttheoretischen Ansatzes kam aber von einem Deutschen: Ralf Dahrendorf. Dahrendorf, im
gleichen Jahr wie David Lockwood geboren (gestorben 2009) und Sohn des bedeutenden
sozialdemokratischen Politikers und antifaschistischen Widerstandskämpfers Gustav Dahrendorf,
machte innerhalb der deutschen Soziologie aufgrund seiner Brillanz eine unglaublich schnelle
Karriere, u. a. als Professor an den Universitäten in Hamburg, Tübingen und Konstanz. Da er auch als
Publizist enorm erfolgreich war, öffneten sich ihm rasch Zugänge zur Politik. Für die FDP war er ab
1969 kurzzeitig Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen, bevor er
1970 Mitglied der Kommission der Europäischen Gemeinschaft wurde. Sein Weg führte ihn dann
nach England, wo er von 1974 bis 1984 Direktor der London School of Economics war und
schließlich auch geadelt wurde, deshalb nun: Lord Dahrendorf (vgl. Ralf Dahrendorf, Über Grenzen.
Lebenserinnerungen).
Dahrendorf, der einen nicht unbeträchtlichen Teil seiner wissenschaftlichen Ausbildung an
englischen Universitäten absolviert hat264te, war schon vor Lockwood und Rex mit einer
konflikttheoretischen Kritik an Parsons’ Strukturfunktionalismus hervorgetreten. Somit läßt sich zwar
behaupten, daß die britische Konflikttheorie wesentlich auf seine Impulse zurückgeht; zugleich aber
ist Dahrendorf selbst zutiefst durch britische Denktraditionen in der Soziologie geprägt, was sich
unter anderem auch daran ablesen läßt, daß sein Werk insgesamt stärker in der englischsprachigen
Welt als in Deutschland rezipiert wurde. Dahrendorfs bedeutender Aufsatz »Struktur und Funktion.
Talcott Parsons und die Entwicklung der soziologischen Theorie« aus dem Jahre 1955 hatte
entscheidend die Lockwoodsche Auseinandersetzung mit Parsons geprägt, und so ist es nicht
verwunderlich, daß bereits bei ihm die späteren im britischen Kontext monierten Kritikpunkte
auftauchen. Mit Blick auf die Entwicklung des Parsonsschen Werkes stellte Dahrendorf fest, daß für
Parsons eigentlich keine Notwendigkeit bestanden habe, von der Handlungstheorie zu einer
funktionalistischen Ordnungstheorie überzugehen (wie Sie sich sicherlich erinnern, haben wir diese
Kritik in unserer Dritten Vorlesung aufgegriffen), zumal dies dazu führte, daß die Kausalanalyse
zwangsläufig vermieden wurde und zudem Dysfunktionen keinen systematischen Platz erhielten, was
der Parsonsschen Theorie ihren statischen Charakter verlieh. Aber zu diesem Zeitpunkt spricht
Dahrendorf noch von einer wünschenswerten Erweiterung der Parsonsschen Theorie, nicht ihrer
Widerlegung (Dahrendorf, »Struktur und Funktion«, S. 237). Sein Buch Soziale Klassen und
Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft aus dem Jahr 1957 behält diese Kompromißlinie
noch bei: Während der Strukturfunktionalismus – so Dahrendorf – durchaus in der Lage sei, die
integrativen Kräfte einer Gesellschaft zu analysieren, fehle ihm ein ähnliches Analyseinstrument zur
Erklärung bzw. Beschreibung strukturverändernder Kräfte (Soziale Klassen und Klassenkonflikt in
der industriellen Gesellschaft, S. 128 f.). Wie schon Lockwood und Rex sieht Dahrendorf die
Möglichkeit, den Parsonsschen Ansatz durch eine stark modifizierte Marxsche Klassentheorie zu
ergänzen, die allerdings von allem »metaphysischen«, d. h. geschichtsphilosophischen und
anthropologischen, aber auch polit-ökonomischen Ballast gereinigt und auf ihren soziologisch
wertvollen Kern – die Erklärung sozialer Konflikte – reduziert werden müsse, um von hier aus zu
einer Wandlungstheorie, eben zur Erklärung strukturverändernder Kräfte, vorzustoßen. Dabei ist
Dahrendorf 265der Auffassung, daß die Marxsche Klassentheorie nur überwunden werden kann,
wenn »wir den Besitz oder Nichtbesitz von fungierendem Privateigentum durch den Anteil an oder
Ausschluß von Herrschaftspositionen als Kriterium der Klassenbildung ersetzen.« (A.a.O., S. 138).
Wie für Bendix, Rex und Lockwood ist für Dahrendorf die Kontrolle von Produktionsmitteln nur ein
Sonderfall von Herrschaft; Herrschaftsbeziehungen existieren auch in anderen Zusammenhängen, und
diese lassen sich nicht notwendig auf ökonomische Strukturen reduzieren.
Aber Marx glaubte, Autorität und Macht seien Faktoren, die sich auf den Anteil an fungierendem Privateigentum zurückführen lassen. In
Wahrheit verhält es sich genau umgekehrt: Macht und Herrschaft sind irreduzible Faktoren, von denen die mit rechtlichem
Privateigentum, auch mit Gemeineigentum bezeichneten Sozialbeziehungen sich ableiten lassen. (…) Eigentum ist (…) keineswegs die
einzige Form der Herrschaft, sondern nur eine ihrer zahlreichen Gestalten. (Dahrendorf, a.a.O., S. 138/139)

Damit ist das Programm von Dahrendorf formuliert: Macht und Herrschaft sind die eigentlichen
Grundbegriffe der Soziologie, aus ihnen lassen sich die anderen Phänomene quasi ableiten, und
daraus ergibt sich dann auch der Zugang zur Analyse der gesellschaftlichen Dynamik. Denn dort, wo
es Herrschaft gibt, gibt es Herrschaftsunterworfene, die gegen den Status quo in irgendeiner Form
anzukämpfen versuchen; dort, wo es Herrschaft gibt, gibt es Konflikt, wobei Dahrendorf der
Auffassung war, daß die meisten Gesellschaften durch höchst verschiedenartige Herrschaftsverbände
und damit auch unterschiedliche Konflikte geprägt seien: »Theoretisch kann es in einer Gesellschaft
so viele konkurrierende Klassen geben wie es Herrschaftsverbände gibt.« (A.a.O., S. 195)
Mit dieser Art der Klassentheorie scheint nun Dahrendorf das entscheidende Mittel für eine
Theorie des sozialen Wandels in der Hand zu haben. Sein theoretischer Ehrgeiz kommt allerdings erst
voll zum Ausdruck in einem weiteren Essay, der den Titel: »Pfade aus Utopia. Zu einer
Neuorientierung der soziologischen Analyse« trägt. Auch wenn Dahrendorf für sein Konfliktmodell
nicht den Anspruch auf »umfassende und ausschließliche Geltung« erheben will (Dahrendorf, »Pfade
aus Utopia«, S. 262), so formuliert er 1957 dort doch eindeutig eine Alternative zum Parsonsschen
Theorieprogramm, und zwar in einer Prägnanz, die so weder bei Rex oder Lock266wood und erst
recht nicht bei Coser oder Bendix zu finden ist. Die konziliante Rede von der Möglichkeit oder gar
Notwendigkeit einer wechselseitigen Befruchtung zwischen dem Parsonsschen Ansatz und der
Konflikttheorie kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß für Dahrendorf die Konflikttheorie der
aussagekräftigere Ansatz ist und ihr die Zukunft gehöre:
Soweit ich sehen kann, brauchen wir zur Erklärung soziologischer Probleme sowohl das Gleichgewichts- als auch das Konfliktmodell der
Gesellschaft; und es mag sein, daß menschliche Gesellschaft in philosophischer Betrachtung stets zwei Gesichter von gleicher
Wirklichkeit hat: eines der Stabilität, der Harmonie und des Consensus, und eines des Wandels, des Konflikts und des Zwangs.
Strenggenommen kommt es auch nicht darauf an, ob wir uns zur Untersuchung Probleme auswählen, die nur mit dem
Gleichgewichtsmodell verstanden werden können, oder solche, zu deren Erklärung wir das Konfliktmodell brauchen. Doch habe ich den
Eindruck, daß wir angesichts der jüngeren Entwicklungen in unserer Disziplin und der oben angestellten kritischen Überlegungen gut
daran täten, uns in Zukunft nicht nur auf konkrete Probleme, sondern auf solche Probleme zu konzentrieren, die eine Erklärung unter den
Gesichtspunkten des Zwanges, Konfliktes und Wandels verlangen. (Dahrendorf, a.a.O., S. 262/263)

Damit haben wir im wesentlichen die Autoren benannt, die in den 1950er und 1960er Jahren den
konflikttheoretischen Ansatz entwickelt haben. Was auffällt gegenüber bisher behandelten Ansätzen ist
die Tatsache, daß es nicht einen Leit-Autor gab, der die Bewegung hin zur Konflikttheorie »geführt«
hätte, und auch keine autoritativen Texte, an denen schlagend die Fruchtbarkeit des neuen
»Paradigmas« hätte demonstriert werden können: Es gab keinen Talcott Parsons (wie im
Funktionalismus), keinen Harold Garfinkel (wie in der Ethnomethodologie), keinen Herbert Blumer
(wie im Symbolischen Interaktionismus) und auch kein Buch wie Mancur Olsons Die Logik
kollektiven Handelns, das für den Neo-Utilitarismus entscheidend war. Es existierte zudem auch
keine einheitliche Tradition, aus der sich der konflikttheoretische Ansatz speiste. Es ist zwar richtig,
daß es – wie oben bemerkt – unter den Klassikern der Soziologie in erster Linie Max Weber war, auf
den man sich bezog. Eine nicht unwichtige Rolle spielte aber auch Georg Simmel. Zudem arbeiteten
sich die Konflikttheoretiker an Marx ab, allerdings mit z. T. deutlich unterschiedlichen politischen
Zielsetzungen. Zwar versuchten sie allesamt, die Marxschen Einsichten mit denen We267bers zu
kombinieren bzw. die Fehler Marxens mit Weberschen Mitteln auszutreiben. Wie weit man sich aber
von Marx zu distanzieren hatte, darüber bestand durchaus erheblicher Dissens. Der relativ nahe am
Marxismus verharrende sogenannte Weber-Marxismus oder Links-Weberianismus hatte gerade in
Großbritannien eine hohe Anziehungskraft bei der politischen Linken, und in diesen etwas diffusen
Kontext sind Autoren wie Lockwood und Rex einzuordnen. Aber die Konflikttheorie war trotz aller
zumeist deutlich erkennbaren Anlehnungen an Marxsche Gedanken keinesfalls ein linkes Projekt.
Raymond Aron etwa (1905-1983), der hier nur kurz genannte große französische Soziologe der Zeit
nach dem Zweiten Weltkrieg, der seine Anregungen in erster Linie von Weber bezog und innerhalb
einer stark von Durkheim geprägten französischen Diskussionslandschaft am ehesten
konflikttheoretische Positionen einnahm, war als Publizist ein enorm scharfer Kritiker jeglicher
marxistisch angehauchten Politik und der große Gegenspieler der französischen intellektuellen Linken
um Jean-Paul Sartre. Bei Ralf Dahrendorf spielte – wie gezeigt – die explizite Bezugnahme auf Marx
zwar eine wichtige Rolle, aber auch er war mit Sicherheit kein Weber-Marxist. Marx wurde vom
sozial-liberalen Dahrendorf mit Hilfe von Weber, aber auch mit Verweis auf zum Teil dem
italienischen Faschismus nahestehende Denker wie Gaetano Mosca oder Vilfredo Pareto, die einen
wachen Blick auf die Herrschaft politischer Eliten hatten, massiv korrigiert.
Wenn man dies alles in Rechnung stellt, all diese Unterschiede zwischen den einzelnen
Theoretikern berücksichtigt, gab es dann tatsächlich so etwas wie eine einheitliche Theorie? Gab es
die Konflikttheorie überhaupt? Die Antwort ist »Ja«, zumindest in der Zeit der 1950er und 60er
Jahre, bevor diese Theorie sich transformierte bzw. in Bindestrich-Soziologien auswanderte. Aber
dazu später. Zunächst gilt es, genauer die Gemeinsamkeiten all der bisher genannten Autoren und
Theoretiker aufzuzeigen. Wir wollen dies anhand von vier Punkten tun:
1. Ausgangspunkt für die Konflikttheorie ist nicht das Problem sozialer Ordnung, sondern die Frage
nach der Erklärung sozialer Ungleichheit zwischen Personen oder Personengruppen. Nun ist das
Problem sozialer Ungleichheit natürlich keineswegs neu und hat dementsprechend viele und
bedeutende Autoren beschäftigt. Von sozialphilosophischen Schriften wie etwa denen von Jean-
Jacques 268Rousseau (1712-1778) abgesehen, gab es in der Periode der Vorgeschichte der
Soziologie bekanntlich die eher journalistischen Recherchen von Friedrich Engels Die Lage der
arbeitenden Klassen in England, die 1845 publiziert worden waren, oder kartographische
Untersuchungen zu den unterschiedlichen Lebensbedingungen in amerikanischen Städten, wie etwa
der berühmte Pittsburgh Survey, der zwischen 1909 und 1914 in sechs Bänden erschien. Dies wurde
dann in der Phase der Konstituierung der Soziologie als Disziplin fortgeführt, so daß es an Analysen
zu Ungleichheit und Armut sicherlich nicht mangelte. Was die Konflikttheorie gegenüber bloßen
Beschreibungen jedoch auszeichnete, und was sie natürlich mit dem Marxismus gemein hatte, war die
theoretisch angeleitete Frage nach den Gründen dieser Ungleichheit. Gerhard Lenski (geb. 1924), ein
Autor, der in einem großen Buch zur sozialen Schichtung (Power and Privilege. A Theory of Social
Stratification; dt.: Macht und Privileg. Eine Theorie der sozialen Schichtung) 1966 versucht hatte,
konflikttheoretische und funktionalistische Theorieansätze zu vereinen, wobei allerdings das
konflikttheoretische Element deutlich überwog, hat dieses theoretische Interesse auf eine prägnante
Formel gebracht: »Wer bekommt was und warum?« oder: »Who gets what and why«? Wie Lenski und
die Konflikttheoretiker betonen, gibt es Gründe und Ursachen dafür, warum Güter in Gesellschaften
so unterschiedlich verteilt sind. Diese Gründe sind aber andere als diejenigen, die im
Strukturfunktionalismus genannt wurden. Auch Parsons hatte sich ja durchaus mit Schichtung, also mit
sozialer Ungleichheit, beschäftigt. Seine These war dabei stets, daß etwa die unterschiedliche
Gehaltsstruktur in modernen Industriegesellschaften im großen und ganzen Ausdruck von zentralen
gesellschaftlichen Werten sei, etwa derart, daß Ärzte, weil entscheidend für den hochgeschätzten Wert
Gesundheit zuständig, dementsprechend auch hoch in der Gehalts- und Schichtungsskala angesiedelt
seien. Genau dies bestritten nun die Konflikttheoretiker mit ihrer These, daß sich soziale
Ungleichheit, die ungleiche Verteilung von Gütern in einer Gesellschaft, eben nicht aus der
normativen Struktur der Gesellschaft erklären lasse.
2. Das bringt uns zum zweiten Punkt. Die Antwort der Konflikttheoretiker auf die von Lenski
gestellte Frage lautete, daß soziale Ungleichheit letztlich eine Frage der Herrschaft sei. Lenski
argumentiert in etwa so: Weil Güter sowohl einen Status- wie einen Ge269brauchswert haben und
zudem immer knapp, also nicht im Überfluß vorhanden sind, findet in jeder Gesellschaft ein Kampf
um diese Güter statt. Da aus unterschiedlichen Gründen die einen aus diesem Kampf als Gewinner
und die anderen als Verlierer hervorgegangen sind und noch immer hervorgehen, werden
Herrschaftspositionen etabliert, welche die ungleiche Verteilung von Gütern auf Dauer absichern
sollen: Bestimmte Gruppen in einer Gesellschaft haben also ein aktives Interesse daran, Privilegien
aufrechtzuerhalten und zu verteidigen, während andere dagegen aufbegehren. Damit wäre die von
Lenski gestellte Frage: »Who gets what and why«? beantwortet, ohne daß freilich die
konflikttheoretische Position schon ausreichend bestimmt oder abgegrenzt wäre. Dies wird erst durch
die beiden folgenden Punkte möglich.
3. Wenn Konflikttheoretiker von Gütern bzw. Ressourcen reden, die mit Hilfe von
Herrschaftsbeziehungen gesichert und selbst wieder zur Eroberung von Herrschaftspositionen genutzt
werden können, so tun sie dies in einem sehr umfassenden Sinn. Konflikttheoretiker haben etwa gegen
Parsons eingewandt, daß dieser kaum über materielle Ressourcen gesprochen habe aufgrund der in
seiner Theorie sichtbaren alles überragenden Betonung von Normen und Werten. Aber auch
Marxisten hätten sich hier eine grobe Einseitigkeit zuschulden kommen lassen, insofern diese immer
nur über einen Typus von Ressourcen sprachen, nämlich ökonomische Ressourcen, konkret: über das
Eigentum an Produktionsmitteln. Konflikttheoretikern zufolge gibt es aber wesentlich mehr
»interessante« Ressourcen, um die und mit denen gekämpft und über deren Verteilung in
Herrschaftsbeziehungen entschieden wird. Von Konflikttheoretikern wurde etwa besonders auf die
Bedeutung politischer Ressourcen (z. B. Ämter) hingewiesen, weil gerade sie enormen Einfluß auf
die Gestaltung sozialer Ungleichheit haben. Auch Gewaltmittel, Waffen also, wurden von ihnen als
eigenständige Ressourcen behandelt, insofern sie Herrschaft und damit den Genuß von Privilegien
ermöglichen, ohne daß sie notwendig auf ökonomische oder politische Ressourcen zurückgeführt
werden könnten: Denn bekanntlich war die Rolle von Gewaltmitteln in der Geschichte der
Menschheit eine nicht zu unterschätzende, und es waren nicht immer die ökonomisch oder politisch
»fortgeschrittensten« Gesellschaften, welche am erfolgreichsten Krieg führten. Randall Collins, einer
der führenden späteren Konflikttheoretiker, verwies schließlich auch auf 270immaterielle
Ressourcen, etwa auf »sexuelle Gratifikationen« (s. weiter unten) und auf das Phänomen der von ihm
so genannten »emotionalen Energie«, die sich bestimmte Personen oder Gruppen aneignen können, um
dadurch ihre Herrschaft weiter zu stützen: Denken Sie in diesem Zusammenhang etwa an das in der
Militärgeschichte oftmals beschriebene Phänomen der »Moral der Truppe«, die sich u. a. durch
»geeignete« Feindbilder stärken läßt, und Sie werden dann vielleicht verstehen, daß diese
»emotionale Energie« tatsächlich eine interessante Ressource sein kann. Insgesamt haben also die
Konflikttheoretiker eine ganze Palette von Ressourcen aufgezeigt, um die in Herrschaftsbeziehungen
gerungen wird und die demzufolge ungleich verteilt sind.
4. Schließlich sind für Konflikttheoretiker Auseinandersetzungen ständige Merkmale der
menschlichen Geschichte. Sie gehen von der Allgegenwart sozialer Kämpfe aus und setzen sich damit
wieder deutlich ab vom hochintegrierten Gesellschaftsbild Parsons’, aber auch vom Marxismus,
insofern dort ja mit einem »Ende der Geschichte« und des Klassenkampfs gerechnet wird, sobald erst
einmal die sozialistische oder kommunistische Gesellschaftsform errungen sei. Letzteres halten
Konflikttheoretiker für einen durch nichts gerechtfertigten Aberglauben, der daher rührt, daß
Marxisten nur auf ökonomische Ressourcen achteten und darüber alle anderen vernachlässigten.
Selbst wenn nämlich das Eigentum an Produktionsmitteln abgeschafft und ökonomische Ressourcen
gleich verteilt sein sollten, werden – so die Konflikttheoretiker – anders gelagerte
Auseinandersetzungen (etwa zwischen den Geschlechtern, zwischen Verwaltern oder Verwalteten
usw.) keineswegs verschwinden. Natürlich werden Konflikte manchmal stillgestellt, gab und gibt es
Phasen in der Geschichte, in denen Konflikte eher selten sind. Aber diese »Ruhe« wird von
Konflikttheoretikern immer nur als ein zeitweiliger Kompromiß, als ein vorübergehender
Waffenstillstand interpretiert, weil letztendlich die unterprivilegierte Konfliktpartei die ungleiche
Ressourcen- und Güterverteilung nicht dauerhaft akzeptieren und somit der Konflikt alsbald wieder
aufbrechen wird.
Aufgrund dieser Thesen findet innerhalb der Konflikttheorie eine Umwertung oder Umdeutung
zentraler Themen der Parsonsschen Soziologie statt; die meisten sozialen Phänomene werden mit
einem »realistischen« oder »illusionslosen« Blick betrachtet, was sich in einer Gegenüberstellung
der jeweiligen Positionen sehr schön zeigen 271läßt. Während für Parsons soziale Ordnungen auf
Werten basierten, sind für Konflikttheoretiker soziale Ordnungen nur zeitweilige Kompromisse
zwischen den Konfliktparteien, die jederzeit aufgekündigt werden können; während Werte für Parsons
»ultimate ends« waren, also letzte Orientierungspunkte, die, sofern die Akteure an sie wirklich
glauben, von ihnen nicht manipuliert oder in Frage gestellt werden können, ergibt sich in
konflikttheoretischer Perspektive ein eher zynischer Blick auf diese Werte, werden sie doch eher als
Rechtfertigung sozialer Ungleichheit, als Ideologie, als Fassade interpretiert; ist politische Macht für
Parsons Ausdruck der Wertbindungen der Staatsbürger, die eben aufgrund dieser Werte bestimmten
Repräsentanten den Auftrag zum Regieren geben, so erscheint aus der Perspektive der Konflikttheorie
politische Macht lediglich als eine Möglichkeit der Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheit, der Staat
als ein Mittel zur Zementierung der Klassenstruktur; sind schließlich Rebellionen, Revolutionen und
gewaltsame Erhebungen für Parsons bedrohliche Ausnahmefälle gewesen, so erscheinen sie aus Sicht
der Konflikttheoretiker als selbstverständliche Ereignisse, nicht als irrationale Ausbrüche, sondern
als rationale Interventionen zur Veränderung der Strukturen sozialer Ungleichheit.

Diese »realistische« und von der Parsonsschen Theorie deutlich unterscheidbare theoretische
Perspektive hat nun eine ganze Reihe von Forschungsfeldern befruchtet und ihre Spuren in nicht
wenigen Bindestrich-Soziologien hinterlassen.
A) An erster Stelle ist die Bildungssoziologie zu nennen, weil hier tatsächlich ein machtsensibler
Blick neue Erkenntnisse und Einsichten in die Wirkungsweise der entsprechenden Institutionen liefern
konnte. In diesem Zusammenhang ist vor allem an die Untersuchungen von Randall Collins zu
erinnern, der – Jahrgang 1940, also jünger als Coser, Bendix, Rex, Lockwood oder Dahrendorf – das
konflikttheoretische Programm am klarsten und profiliertesten fortgeführt hat. Collins, ein Schüler
von Reinhard Bendix, hat bereits 1971 in einem brillanten Aufsatz mit dem Titel »Functional and
Conflict Theories of Educational Stratification« die Fruchtbarkeit und – seiner Meinung nach –
Überlegenheit eines konflikttheoretischen Ansatzes bei der Analyse von Bildungsinstitutionen
demonstriert. Collins zeigte, daß funktionalistisch inspirierte Deutungen und Erklärungen des in allen
modernen Industriegesellschaften be272obachtbaren Trends zu immer längeren schulischen und
universitären Ausbildungszeiten und damit immer höheren Bildungsniveaus der Beschäftigten wenig
überzeugend sind. Denn derartige Erklärungen basieren auf der höchst fraglichen Annahme einer
zunehmenden (technologisch bedingten) Nachfrage nach gut ausgebildeten Arbeitskräften. Empirisch
jedoch – so Collins – läßt sich weder nachweisen, daß die Job-Anforderungen immer komplexer
werden noch daß höher qualifizierte Arbeitskräfte tatsächlich produktiver sind als geringer
qualifizierte. Zudem werden die meisten beruflichen Fertigkeiten »on the job« erlernt und gerade
nicht auf der Schule oder Universität, was die Nachfrage-These zusätzlich unterminiert. Es bestehen
laut Collins also weder eindeutige ökonomische noch technologische Zwänge für die ständig
wachsende Zahl und das immer höher werdende Niveau von Bildungszertifikaten, oder anders gesagt:
die Wissensinhalte, die zum Erwerb bestimmter schulischer oder universitärer Zeugnisse notwendig
sind, können gesamtgesellschaftlich gesehen nicht von entscheidender Bedeutung sein. Für Collins
drängt sich deshalb die Notwendigkeit einer anderen Interpretationsschiene auf, zumal auch für das
scheinbar so egalitäre 20. Jahrhundert noch immer gilt, daß beruflicher Erfolg eng mit der sozialen
Herkunft verwoben ist. Collins behauptet, daß sich der Trend zu einer immer höheren Bildung viel
einfacher erklären läßt durch den Kampf von Statusgruppen um soziale und ökonomische Vorteile
bzw. um die Wahrung des Status quo. Wie ist das zu verstehen? Für Collins lehren Schulen in erster
Linie »vocabulary and inflection, styles of dress, aesthetic tastes, values and manners« (»Functional
and Conflict Theories«, S. 1010). Verschiedenartige Schultypen und Schulen mit unterschiedlichem
Prestige und unterschiedlicher Finanzausstattung, die vor allem für das amerikanische Schulsystem
charakteristisch sind, unterrichten dabei unterschiedliche Statusgruppen, weil nicht alle Eltern die
Möglichkeit haben, ihre Kinder auf hochrangige oder prestigeträchtige Lehranstalten zu schicken.
Damit wird aber das ohnehin vorhandene Schichtungsgefüge der Gesellschaft reproduziert, zumal
auch die Unternehmer in ihrer Einstellungspraxis die tendenziell höher stehenden Schichten
bevorzugen. »(a) schools provide either training for the elite culture, or respect for it; (b) employers
use education as a means of selection for cultural attributes.« (A.a.O., S. 1011) Das erklärt aber
bisher nur, warum es nicht gelungen ist, soziale Ungleichheiten durch Bil273dungseinrichtungen
wesentlich zu verringern. Warum – und dies war ja die Ausgangsfrage auch der funktionalistischen
Bildungssoziologen – ist aber das Bildungsniveau in der Bevölkerung ständig gewachsen? Collins’
Antwort lautet folgendermaßen: Die Unterschichten bemühen sich zwar, höhere Statusränge durch den
Erwerb von Zeugnissen zu erreichen, also mittels Bildung sozial aufzusteigen, aber dies wird durch
die Mittel- und Oberschichten dadurch gekontert, daß sie ihre eigenen Bildungsqualifikationen
erhöhen, um sich von den unteren Schichten abzusetzen: »Led by the biggest and most prestigious
organizations employers have raised their educational requirements to maintain both the prestige of
their own managerial ranks and the relative respectability of middle ranks.« (A.a.O., S. 1015) Somit
führte die Unterschichten-Mobilisierung zur Erhöhung der Aufstiegschancen mittels Bildung lediglich
zu einer Anhebung des gesamtgesellschaftlichen Qualifikationsniveaus, nicht jedoch zu einer
wesentlichen Änderung der Schichtungsstruktur und zu einer Entkoppelung von sozialer Herkunft und
beruflichem Erfolg. Collins’ Thesen wurden dann von ihm selbst in einem Buch mit dem Titel The
Credential Society. An Historical Sociology of Education and Stratification weiter spezifiziert und
historisch besser begründet. Auffallend ist in diesem Werk aus dem Jahre 1979 wie schon in dem
genannten früheren Aufsatz, wie stark die Collinsschen Thesen denjenigen des in einer späteren
Vorlesung noch zu behandelnden französischen Theoretikers Pierre Bourdieu ähneln, insofern auch
dieser zeigte, wie sehr kulturelle Güter – eben auch Bildungstitel und schulisches Wissen – zur
Abgrenzung gegenüber anderen, aufstrebenden Schichten benutzt werden können, eben zum Zwecke
der »Distinktion«, wie der Bourdieusche Ausdruck lautete.
B) Die konflikttheoretischen Einsichten wurden auch in einem benachbarten Forschungsfeld
fruchtbar gemacht, in der Soziologie der Professionen. Die Professionen waren eine Art
Lieblingsgegenstand von Talcott Parsons gewesen. Parsons hatte sich mit dieser Gruppe unter
anderem deshalb beschäftigt (s. die Dritte Vorlesung), um zu demonstrieren, daß die Entwicklung
moderner Gesellschaften eben nicht im Sinne einer zunehmenden Verdrängung normativer Aspekte
gedeutet werden kann. Sogar in dem scheinbar durch rein zweckrationale Überlegungen dominierten
Marktgeschehen, in diesem angeblich durchrationalisierten Kapitalismus, existieren 274wichtige
Nischen und Berufszweige, in denen gerade ein streng normativ reguliertes, gegen die Marktlogik
gerichtetes berufliches Verhalten existiert. Deshalb hatten Parsons und die mit ihm verbundenen
Forscher innerhalb der Professions-Soziologie bei der Beschreibung und Analyse von Professionen
stets besonders auf das Phänomen der Standesethik aufmerksam gemacht, ja diese Ethik sogar zu
einem zentralen definitorischen Bestandteil von Professionen erklärt. Dieser sogenannten Harvard-
School entgegnete die konflikttheoretisch beeinflußte sogenannte Chicago-School der Professions-
Soziologie, daß sie lediglich der offiziösen Ideologie bestimmter Berufsgruppen aufgesessen sei.
Konflikttheoretiker meinten nämlich, daß dieses von Parsons betonte und von den Berufsvertretern
selbst artikulierte Standesethos beileibe nicht einfach ein ehrlicher Ausdruck von bestimmten
Werthaltungen sei, sondern meist lediglich ein wirksames Mittel, um die eigene berufliche Position in
der Öffentlichkeit ideologisch abzusichern und Privilegien zu bewahren (s. auch die entsprechenden
Hinweise in der Vorlesung zum Symbolischen Interaktionismus). Ein wichtiges Buch in diesem
Zusammenhang war Magali Sarfatti Larsons The Rise of Professionalism. A Sociological Analysis,
das zeigte, wie sehr Professionen wie die Ärzteschaft ihr angeblich sicheres Wissen und ihre
Kompetenz nutzten, um sich als einzige »wahre« Berufsgruppe zu etablieren und sich ein
Marktmonopol zu schaffen, um Mitkonkurrenten (etwa Naturheiler, weise Frauen und Hebammen etc.)
auszuschalten, wie sehr eine fachspezifische Sprache dazu dient(e), die Patienten zu entmündigen und
damit die Macht des ärztlichen Spezialisten zu erhöhen, und schließlich wie und warum es nur
bestimmten akademischen Berufen (Ärzten und Rechtsanwälten) gelang, sich als Voll-Professionen
mit allen Privilegien zu etablieren, während dies etwa Ingenieuren versagt blieb.
C) Auch die Soziologie abweichenden Verhaltens hat von konflikttheoretischen Einsichten
erheblich profitiert, wobei hier zum Teil eine gewisse Nähe zu den vom Symbolischen
Interaktionismus und der Ethnometodologie beeinflußten Ansätzen zu erkennen ist. Die in der
Sechsten Vorlesung schon besprochene Labeling-Theorie hatte sich ja die Einsicht zu eigen gemacht,
daß machtgestützte und interessengeleitete Definitionsprozesse dafür ausschlaggebend sind, warum
bestimmte Delikte und bestimmte Täter zu Verbrechen und Verbrechern gestempelt werden und andere
eben nicht. Die Kon275flikttheoretiker betonten den Machtaspekt noch mehr als die Vertreter der
interpretativen Ansätze.
D) Konflikttheoretische Einsichten sind auch in ein Themenfeld eingeflossen, das wir schon im
Zusammenhang mit dem Neo-Utilitarismus kennengelernt haben. Der Ressourcenmobilisierungsansatz
im Forschungsfeld der sozialen Bewegungen basiert ja auf der rationalistischen Unterstellung, daß
soziale Bewegungen auf günstige politische Gelegenheitsstrukturen warten bzw. auf diese angewiesen
sind, um die Kosten für die Teilnehmer der Mobilisierung möglichst gering und die Gewinnchancen
möglichst hoch zu halten. Hier wird nun nicht dem einzelnen, sondern Gruppen oder Klassen eine
Kosten-Nutzen-Kalkulation zugeschrieben; darin steckt zugleich die konflikttheoretische Vorstellung
eines permanenten Machtkampfes zwischen Herrschenden und Beherrschten, Machthabern und von
der Macht Ausgeschlossenen, so daß es nicht verwundern kann, wenn bei bestimmten
Bewegungsforschern neo-utilitaristisches und konflikttheoretisches Gedankengut eng miteinander
verwoben sind. Deutlich zeigt sich dies etwa bei schon genannten Autoren wie John McCarthy und
Mayer N. Zald und auch bei dem bedeutenden historischen Soziologen Charles Tilly (1929-2008) (zu
einigen ihrer Arbeiten vgl. das Literaturverzeichnis).
E) Die Soziologie der Geschlechterbeziehungen, auf die wir in der Siebzehnten Vorlesung
ausführlicher eingehen werden, ist ein weiteres Gebiet, das durch konflikttheoretische
Argumentationen bereichert wurde. Einer der ersten männlichen Soziologen, der dieses Feld in den
1970er Jahren ernst genommen hat, war der nun schon öfter erwähnte Randall Collins. Dieser hatte
1975 in einem systematischen Abriß der Konfliktsoziologie (vgl. Conflict Sociology) den
Geschlechterbeziehungen einen hohen Stellenwert für gesellschaftliche Wandlungsprozesse
eingeräumt und die Ungleichheit zwischen Mann und Frau unter einem relativ neuen Blickwinkel zu
theoretisieren versucht. Collins beschrieb in einer äußerst kalten und nüchternen Sprache die Familie
als eine ganz gewöhnliche Herrschaftsstruktur, in der die Hierarchie durch brutale Macht- und
Gewaltverhältnisse aufrechterhalten wurde und – in welch transformierter Form auch immer – bis
heute aufrechterhalten wird. Menschen waren und sind laut Collins allesamt willens, Zwang
auszuüben, Gewalt anzuwenden, ihre Sexualität auszuleben usw. Nur ist diese Fähigkeit
geschlechtsspezifisch unterschiedlich verteilt. Die 276physische Stärke der Männer und die
biologisch bedingte Verletzbarkeit von Frauen (etwa während der Schwangerschaft) haben, so
Collins, dazu geführt, daß historisch gesehen die Frauen zur Beute der Männer wurden und im
Machtkampf der Männer untereinander die Frauen zum Preis für den Gewinner wurden. Die Familie
sei insgesamt letztlich das Produkt dieser Kämpfe, die Familienorganisation damit eine stabile Form
des sexuellen Besitzes, wobei es selbstverständlich große kulturelle und gesellschaftliche
Unterschiede gibt. Sexuelle Herrschaft und Gewalt ist also Collins zufolge nicht alles; denn in die
Herrschaftsstrukturen gehen auch Eigentumsverhältnisse mit ein und spielen, unter anderem,
Ideologien eine Rolle, woraus sich die historische Variabilität der Geschlechterbeziehungen erklärt:
Family organization, as stable forms of sexual possession, can be derived from conditions determining how violence is used. Political
organization is the organization of violence, hence it is a major background variable here; when the political situation restricts personal
violence and upholds a particular kind of economic situation, economic resources accruing to men and women can shift the balance of
sexual power and, hence, the pattern of sexual behavior. (Collins, Conflict Sociology, S. 230)

Aber im sexuellen Akt – so Collins – ist oft auch ein Moment des Zwanges und der Gewalt enthalten,
und dies stellt eine wesentliche Basis dafür dar, daß die gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen
Mann und Frau so ist, wie sie ist, nämlich zum Nachteil des physisch schwächeren Geschlechts.
Es ist nun nicht überraschend, daß sich auch Feministinnen durch die Collinsschen Grundideen
angesprochen fühlten, brach dieser Ansatz doch mit der funktionalistischen und oftmals auch als
patriarchalisch verstandenen Vorstellung, wonach die Familie in erster Linie »the human need for
love« erfülle und die untergeordnete Rolle der Frau in Familie und Gesellschaft lediglich
funktionalen Erfordernissen geschuldet sei: In Parsons’ Soziologie mit ihrer strikten Zuteilung der
instrumentellen Aspekte des Handelns auf die männliche und der emotional-expressiven auf die
weibliche Geschlechterrolle spiegelt sich das goldene Zeitalter der Kleinfamilie in der
amerikanischen Nachkriegszeit. Collins brach aber auch mit der »Prüderie« (Collins) der
marxistischen Tradition, insofern dort sexuelle Beziehungen immer sofort auf Eigentumsbeziehungen
reduziert wurden und damit das Moment des Sexuellen und auch der 277sexuellen Gewalt schon auf
theoretischer Ebene marginalisiert worden war. Die Collinsschen Ideen erlaubten es, herkömmliche
Theorien über »geschlechtliche Arbeitsteilung« zu modifizieren und in einer spezifisch
konflikttheoretischen Form zu ergänzen (vgl. die Zusammenarbeit von Collins mit der feministischen
Soziologin Janet Saltzman Chafetz in Collins/Chafetz u. a., »Toward an Integrated Theory of Gender
Stratification«).

Trotz der unstrittigen Fruchtbarkeit der konflikttheoretischen Perspektive auf nicht wenigen
empirischen Forschungsfeldern hat diese aber letztlich nicht den Durchbruch erzielt, den sich
Theoretiker wie etwa Dahrendorf oder Rex noch Mitte der 1960er Jahre erhofft hatten. Dies lag zu
einem erheblichen Teil an den internen Schwierigkeiten der Theorie, nämlich daran, daß die Wurzeln
dieses Ansatzes zu diffus waren, um dauerhaft Stabilität begründen zu können, und schließlich wohl
auch daran, daß es bei der Analyse von Prozessen in modernen Gesellschaften immer schwieriger
wurde, zentrale Konfliktmuster deutlich sichtbar zu machen.
Beginnen wir zunächst mit den theoretischen Schwierigkeiten bzw. mit der unmittelbar für dieses
Buch relevanten Frage, ob die Konflikttheorie gegenüber dem Parsonsschen Ansatz tatsächlich
fraglos einen theoretischen Fortschritt darstellt. Zwei zum Teil zusammenhängende Aspekte sind hier
zu beachten: Erstens, die konflikttheoretische Perspektive erscheint ja auf den ersten Blick als
besonders realitätstüchtig oder »realistisch«, insofern sie gegen Parsons die Allgegenwart von
Konflikten behauptet und dabei betont, daß gesellschaftliche Ruhephasen immer nur vorübergehende
Waffenstillstände im endlosen Kampf zwischen Gruppen und Klassen sind. Man kann hier freilich
zweifelnd fragen, ob diese Vorstellung nicht arg überzogen ist und mit ihr zentrale Einsichten der
konflikttheoretischen Bezugsautoren zu Unrecht beiseite geschoben werden. Denn bei Georg Simmel
etwa ist auch davon die Rede, wie sich ein Streit oder Konflikt in einem längerfristigen Prozeß
wandeln kann und wie er die Konfliktbeteiligten verändert: Auseinandersetzungen enden nicht nur in
zeitweiligen und mehr oder minder von allen Betroffenen »ungeliebten« Waffenstillständen, sondern
nicht selten ergeben sich Lernprozesse, wodurch der Konflikt seine ursprüngliche Virulenz verliert
und der einmal gefundene Kompromiß nun als werthaft, sinnvoll usw. erfahren wird.
278Mit dieser These soll nicht die Marxsche Hoffnung auf ein Ende der Geschichte, auf ein Ende
von Konflikten generell wiederbelebt werden; hier soll nur darauf hingewiesen werden, daß trotz
immer wieder auftauchender Konflikte die Struktur dieser Auseinandersetzungen sich verändern kann.
Simmel hatte dies erkannt, auch Coser, der Simmel folgt, hat ja davon gesprochen, daß Konflikte »die
Luft reinigen«. Radikale Konflikttheoretiker wie Dahrendorf in den 1960er Jahren scheinen diese
Einsicht allzu schnell vergessen zu haben; sie sind der Möglichkeit der Transformation von
Konflikten nicht weiter nachgegangen, obwohl auch Max Weber hierzu ganz wesentliche Dinge gesagt
hat. Schließlich war er es gewesen, der erkannte, daß in Konflikten gefundene Kompromisse eine Art
Eigenleben führen können, dann etwa, wenn diese Kompromisse systematisch »bearbeitet« werden
und sich aus ihnen Bürokratisierungs- und Verrechtlichungstendenzen entwickeln. Die Geschichte der
westlichen Welt war im 19. und 20. Jahrhundert durchzogen von heftigen Arbeitskonflikten, von
Konflikten um politische Bürgerrechte und um die Gleichstellung und Gleichberechtigung der Frau in
Ehe und Gesellschaft. Viele dieser Konflikte wurden phasenweise durchaus gewaltsam ausgetragen,
sie wurden aber eben auch mit der Zeit verrechtlicht und damit in gewisser Weise beruhigt. Und die
mit rechtlichen Mitteln gefundenen Kompromisse sind alles andere als flüchtig oder labil: Dies hängt
nicht nur damit zusammen, daß das Recht an sich träge und zumeist schwer oder nur langsam
veränderbar ist, sondern auch damit, daß die rechtliche Form des Kompromisses oftmals in weiten
Bevölkerungskreisen – und zwar auf beiden Seiten der ursprünglichen Konfliktparteien – auf
Zustimmung rechnen kann, so daß eine werthafte Bindung an die durch das Recht gefundene
Kompromißformel stattgefunden hat, aufgrund deren es nur schwer vorstellbar ist, daß die Konflikte
in der alten Form wieder aufbrechen. Damit werden soziale Konflikte in ihrem Kern transformiert; es
entwickeln sich aber auch gesellschaftliche Tendenzen (wie »Verrechtlichung«), die ohne diese
Konflikte so nicht entstanden wären.
Denken Sie hier beispielhaft an die lange Geschichte des Kampfes der Frauenbewegung. Natürlich
werden Sie in modernen westlichen Gesellschaften auch heute noch unzählige Formen von
geschlechtlicher Diskriminierung finden, werden Sie keine Schwierigkeiten haben, männliche
»Chauvinisten« zu benennen, denen die Gleich279stellung der Frau ein Dorn im Auge ist. Gleichwohl
wird man aber auch erkennen müssen, daß in weiten Bevölkerungskreisen – und eben auch bei vielen
Männern – die Idee der Gleichheit der Geschlechter selbstverständlich und werthaft besetzt geworden
ist und sich derzeit ernsthaft keine sozialen oder politischen Veränderungen vorstellen lassen, infolge
deren davon abgerückt werden könnte, so daß Frauen beispielsweise wieder in einen rechtlichen
Zustand wie im 18. Jahrhundert zurückfallen würden. Man kann also die von Collins ins Spiel
gebrachte Rolle sexueller Gewalt bei der historischen Formierung von Familien durchaus
akzeptieren; man kann zudem akzeptieren, daß Sexualität einen Gewaltaspekt mit beinhaltet, ohne
aber die Schlußfolgerung mitmachen zu müssen, daß es genau diese Faktoren sind, die entscheidend
oder letztlich die Form der geschlechtlichen Arbeitsteilung in Familie und Gesellschaft
determinieren, zumal ja auch – wie Collins selbst zugesteht – »Ideologien« das
Geschlechterverhältnis prägen. Würde man nämlich statt des abwertenden Ausdrucks »Ideologie«
denjenigen einer »werthaften Bindung« setzen, dann würde sichtbar werden, daß der Konflikt, auch
derjenige zwischen den Geschlechtern, nicht von Natur aus vorhanden und nur mittels Ideologien
kurzfristig verkleistert ist. Vielmehr würde deutlich werden, daß manche Aspekte dieses Konflikts
vielleicht dauerhaft derart in bestimmte Formen gegossen werden können, daß mit dieser Form der
Kompromißbildung die Konfliktbeteiligten – Männer wie Frauen – »leben« können, weil rechtliche
Regelungen gefunden wurden, die einer allgemeinen Zustimmung fähig sind.
Dies führt uns direkt zu einer weiteren Schwierigkeit des konflikttheoretischen Ansatzes. Denn die
Konflikttheorie war zweitens immer in Gefahr, theoretisch den Rationalismus der Handelnden zu
übersteigern und sich damit in problematischer Weise der Position des Neo-Utilitarismus bzw. der
Rational-Choice-Theorie anzunähern. Wir haben ja schon bei der Benennung einiger
Forschungsfelder, in denen die Konfliktperspektive besonders fruchtbar war, darauf hingewiesen, daß
gelegentlich eine bestimmte Symbiose zwischen beiden Ansätzen versucht wurde, etwa beim
Ressourcenmobilisierungsansatz im Bereich der Soziologie sozialer Bewegungen. Und tatsächlich
war dies insofern kein Zufall, als beide Theorierichtungen gegenüber Normen und Werten eine eher
skeptische Sichtweise an den Tag gelegt und diese zumeist nur als Verbrämung von 280Interessen
interpretiert haben. Daraus folgte dann, daß etwa politische Gebilde und Einheiten lediglich als krude
Herrschaftsstrukturen, der Staat und das Recht als bloße Mittel zur Machtsicherung gedeutet wurden
und Kultur insgesamt immer schon als bloße Ideologie, als Manipulation im Sinne der
Priestertrugstheorien der Aufklärung gedeutet wurden: So wie Religion eine geschickte Erfindung der
»Pfaffen« sei, um die Bevölkerung stillzuhalten und ihr zusätzlich noch Geld abzupressen, so ließen
sich auch das Recht, Werte und Normen, Diskurse über die Legitimität von Herrschaft etc. als
raffinierte Konstruktionen von Gruppen im ewigen Machtkampf begreifen. Empirisch ist dies alles
aber weder plausibel noch zutreffend; eine solche Position überschätzt ebensosehr das
zweckrationale Handlungspotential von Menschen (diese handeln in den seltensten Fällen so
strategisch und nutzenorientiert, wie es die Konflikttheoretiker oder die Neo-Utilitaristen
unterstellen), wie sie die Eigendynamik von Ideen und kulturellen Mustern unterschätzt, die sich
weder so einfach manipulieren noch überhaupt als simples Ergebnis früherer Manipulationsversuche
interpretieren lassen.

Diese theoretischen Schwierigkeiten waren unter anderem dafür verantwortlich, daß der
Konflikttheorie nicht jener Durchbruch gelang, den sich ihre Protagonisten ursprünglich erhofft hatten.
Ein zweiter Aspekt spielte allerdings hier ebenfalls eine nicht zu unterschätzende, vielleicht sogar die
wichtigere Rolle. Wir hatten schon angedeutet, daß es im Falle der Konflikttheorie weder zentrale
Gründungsautoren noch autoritative Texte gab, was die Herausbildung eines einheitlichen Paradigmas
problematisch machte. Hinzu kam, daß man sich im konflikttheoretischen Lager auch politisch nicht
einig war. So wäre es falsch zu behaupten (obwohl dies immer wieder getan wird), die
Konflikttheorie sei irgendwie »links« vom Parsonianismus angesiedelt gewesen. Derartig einfache
politische Zuschreibungen würden schlicht die verschiedenartigen theoretischen Motive, aus denen
heraus der konflikttheoretische Bruch mit Parsons erfolgte, verkennen. Die These vom ewigen Kampf
um die Macht kann ja auch als machiavellistische Rechtfertigung der eigenen Prinzipienlosigkeit,
Amoralität und des natürlichen Rechts des Stärkeren benutzt werden. Gerade aufgrund dieser
politischen Differenzen fiel es dem Ansatz schwerer, sich als einheitliche Theorierichtung auf Dauer
zu etablieren und seine ursprüngliche Gestalt zu wahren. So 281kann es dann letztlich nicht
verwundern, daß Coser, Bendix, Rex, Lockwood und Dahrendorf nur wenige »gleichgesinnte«
Autoren nachgefolgt sind. Tatsächlich lassen sich kaum jüngere Soziologen benennen, die seit den
1970er Jahren dieses konflikttheoretische Programm als einen eigenständigen Theorieansatz noch
vertreten hätten. Es war beinah allein Randall Collins, der dies ernsthaft versuchte – etwa in jenem
schon zitierten Buch Conflict Sociology aus dem Jahre 1975. Zwar begann Collins in dieser Zeit erst
seine Publikationstätigkeit, die bis heute mit beeindruckend vielschichtigen und thematisch
weitgestreuten Arbeiten anhält, in denen immer wieder konflikttheoretische Argumentationsmuster
auftauchen: So hat er kürzlich eine soziologische Deutung der Weltgeschichte der Philosophie
vorgelegt (The Sociology of Philosophies. A Global Theory of Intellectual Change). Insofern könnte
man durchaus davon sprechen, daß die »Fackel« der Konflikttheorie tatsächlich an die nächste
Generation weitergereicht worden ist. Aber auch Collins kam nicht darum herum, die ursprüngliche
klare konflikttheoretische Linie zu verlassen und in sein Theorieprogramm Theorieelemente von
Autoren wie Goffman einzubauen, die kaum als Grundgedanken einer Konflikttheorie zu identifizieren
sind. So gilt für ihn wie für die ganze Disziplin: »a clear and distinct conflict approach is no longer
so evident in sociology« (J. H. Turner, The Structure of Sociological Theory, S. 162).

Dieses »Versanden« eines klaren und eindeutig unterscheidbaren Konfliktansatzes hatte schließlich
auch mit gesellschaftlichen Veränderungen zu tun, durch die es immer schwerer wurde, den sozialen
Wandel entlang klar strukturierter Konfliktlinien nachzuzeichnen und darauf die Überlegenheit der
Konflikttheorie zu begründen. Dies war ja ursprünglich das Anliegen und das Programm von
Dahrendorf Mitte der 1950er Jahre gewesen, als er noch selbstbewußt behaupten konnte, daß sich
Klassenkonflikte entlang von Herrschaftsstrukturen entwickeln, daß sich also immer dort Klassen und
Klassenkonflikte aufweisen lassen, wo es Herrschaftsverbände gibt. Mehr als ein Jahrzehnt später, in
Konflikt und Freiheit aus dem Jahre 1972, ist schon Skepsis hinsichtlich des Anwendungsbereichs
der Theorie eingezogen: Nicht nur muß Dahrendorf dort eingestehen, daß seine ursprüngliche
Formulierung der Theorie nur auf ganz bestimmte Konflikte, nämlich auf jene in einem
Herrschaftsverband, zutraf und damit an ethnischen und internationalen Ausein282andersetzungen
vorbeiging (Konflikt und Freiheit, S. 15 ff.); er bekennt auch, daß selbst mit einer massiv
modifizierten konflikttheoretischen Klassentheorie sozialer Wandel in Gegenwartsgesellschaften
kaum mehr gefaßt werden kann; zu diffus ist das soziale Feld geworden, zu unübersichtlich gestalten
sich die Aktionen verschiedenartiger kollektiver und individueller Akteure mit ihren höchst variablen
Interessen, als daß sich mit einer ursprünglich dichotomen Klassentheorie, auf die ja Dahrendorf
seinen konflikttheoretischen Ansatz gebaut hatte, wirklich neue Einsichten erschließen würden:
Da viele politische Parteien in der modernen Welt nicht Interessengruppen darstellen, die aus Quasi-Gruppen gemeinsamer Interessen
und Machtpositionen hervorgegangen sind, ist die Verbindung zwischen politischen Ereignissen und ihrer sozialen Basis problematischer
geworden. Mit anderen Worten, es hat den Anschein, daß die Sozialstruktur der Interessen uns nicht mehr direkt zu den Parteien und
Konzeptionen des politischen Konfliktes hinführt; Interessen scheinen verlorenzugehen oder vielleicht befriedigt zu werden, bevor sie je in
der Arena des Gruppenantagonismus erscheinen. Marx’ Theorie durch eine allgemeinere zu ersetzen, die auf Strukturen der Macht und
nicht des Eigentums beruht und die den Rhythmus und die Richtung des Wandels erklärt, statt sie zur Annahme zu machen, mag
hinreichend gewesen sein für eine frühere Periode der politischen Entwicklung. Aber es reicht heute nicht mehr zu. Die neue Theorie
des Klassenkonfliktes muß selbst ersetzt werden, um zu erklären, was wir in der Welt rings um uns beobachten können. (Dahrendorf,
Konflikt und Freiheit, S. 85)

Es ist darum nicht verwunderlich, daß die Konflikttheorie in ihrer »Reinform« – falls überhaupt
davon gesprochen werden kann – allenfalls in einem Forschungsfeld existiert, das wir bisher noch
nicht angesprochen haben, dem wir uns aber in der Dreizehnten Vorlesung etwas näher widmen
werden, nämlich der Historischen Soziologie: Es scheint tatsächlich so zu sein, daß das
konflikttheoretische Instrumentarium in besonderer Weise geeignet ist, Makroprozesse in
vormodernen Gesellschaften oder zumindest in Gesellschaften vor der Wende zum 20. Jahrhundert zu
analysieren. Gerade weil in diesen Epochen die Zahl der zu beachtenden Akteure und Gruppen
begrenzt und die Interessen den jeweiligen Herrschaftspositionen relativ einfach zurechenbar waren,
scheint den Begriffen Macht und Konflikt ein besonderes Potential zur Aufschlüsselung historischer
Prozesse innezuwohnen (J. H. Turner, The Structure of Sociological Theory, S. 211).
Staatsbildungsprozesse, die aufgrund von Auseinan283dersetzungen zwischen Königen und Adeligen
oder zwischen Staaten vorangetrieben wurden, Klassenbildungsprozesse, d. h. die Formierung etwa
von Bauern oder Arbeitern zu kollektiven und handlungsfähigen Akteuren mit tatsächlichem Gewicht
auf der politischen Bühne, und Demokratisierungsprozesse, etwa die Kämpfe bestimmter Gruppen um
Teilhabe an politischer Macht, wurden konflikttheoretisch höchst erfolgreich analysiert, was unter
anderem neue Einsichten in die gewaltsame Entstehungsgeschichte der europäischen und
nordamerikanischen Moderne eröffnete, ein Aspekt, der in der Parsonianischen Wandlungs- und
Evolutionstheorie kaum je zum Thema gemacht worden war. Man kann deshalb sagen, daß die
Konflikttheorie der 1950er und 1960er Jahre in die Historische Soziologie »ausgewandert« ist, die
vor allem seit dem Ende der 1970er Jahre überwiegend im anglo-amerikanischen Raum einen
enormen Aufschwung erlebte.

Insgesamt aber gilt, daß die Konflikttheorie als eigenständige Theorieschule im Sinne einer
wirklichen Alternative zu den bisher besprochenen Ansätzen keinen Bestand hatte. Die
Theorieentwicklung der 1970er Jahre, also des Jahrzehnts, in dem die Konflikttheorie bereits ihren
Höhepunkt überschritten hatte, setzte nämlich an einer Thematik an, die von der Konflikttheorie nicht
weniger als von der Parsons-Schule als nicht zu lösende Schwierigkeit erfahren wurde: nämlich am
ungeklärten Zusammenhang zwischen Macht und Kultur. Gerade die Kritik an der Konflikttheorie
hatte die Notwendigkeit offenbart, bei der Analyse konfliktueller Prozesse neben der Rolle von
Macht auch diejenige von Kultur ernsthaft zu berücksichtigen. Die Frage nach der adäquaten Synthese
von Kultur und Macht sollte sich als wesentliches Motiv herausstellen, das die theoretische Debatte
in der Soziologie über diejenige zwischen Parsons und den Vertretern des interpretativen Paradigmas
einerseits und den Konflikttheoretikern andererseits hinauswies und somit die Theorieentwicklung
vorantrieb. Ende der 1970er Jahre begann die große Zeit dieser Syntheseversuche; einzelne
herausragende Vertreter der Soziologie bemühten sich darum, alles Bewahrenswerte der bisherigen
theoretischen Ansätze zu erhalten und in eine neue Theoriesynthese zu integrieren. Das Werk von
Jürgen Habermas rückte dabei sehr schnell in den Mittelpunkt der Diskussion; diesem wollen wir uns
deshalb nun in den zwei folgenden Vorlesungen widmen.
284Neunte Vorlesung
Habermas und die Kritische Theorie

Wenn man die Entwicklung der internationalen Soziologie seit Mitte der 1960er Jahre beschreiben
will, so kommt man nicht um den Umstand herum, daß sich in dieser Zeit das Zentrum der
Theorieproduktion spürbar verlagerte. War der Beginn der modernen soziologischen Theorie eng mit
dem Namen des Amerikaners Talcott Parsons verbunden, waren die konkurrierenden Ansätze des
Neo-Utilitarismus, der Ethnomethodologie, des Symbolischen Interaktionismus und – allerdings mit
großen Einschränkungen – der Konflikttheorie ebenfalls Unternehmungen, die stark durch ihren
amerikanischen Entstehungskontext geprägt wurden, so »europäisierte« sich in der Folgezeit die
soziologische Theoriearbeit in ganz erstaunlichem Ausmaß. Der Grund für diese Veränderung ist
paradoxerweise vor allem im höheren Professionalisierungsgrad der US-amerikanischen Soziologie
zu suchen: Die im Vergleich zu Europa schnellere Etablierung der Soziologie als eigenständiges und
klar profiliertes universitäres Fach hatte unter anderem zur Folge, daß sich recht früh und stärker als
im europäischen Raum Skepsis einstellte gegenüber der sich nach der Parsonsschen Hegemonie
abzeichnenden Theorienvielfalt. Diese Vielfalt wurde von vielen amerikanischen Soziologen als
Zersplitterung bzw. als schädliche (politische) Ideologisierung der Disziplin gedeutet, welche die
mühsam errungene professionelle Identität der Soziologie wieder zu untergraben drohte. Man hielt
deshalb entweder an den bestehenden, anscheinend »bewährten« Theorierichtungen fest (vor allem
am Parsonianismus und am Rational-Choice-Ansatz) und suchte diese nur noch zu verfeinern oder
allenfalls leicht zu modifizieren – oder man wandte sich ganz von großen Theorien ab und
konzentrierte sich ausschließlich auf die empirische Forschung. Kurz, Theoriearbeit wurde
zunehmend an den Rand gedrängt, was im amerikanischen Kontext um so leichter fiel, als der hohe
Grad der Professionalisierung und Spezialisierung der Disziplin auch zu einer massiven Abschottung
gegenüber anderen geisteswissenschaftlichen Fächern, in denen vergleichbare Prozesse abliefen,
geführt hatte, vor allem gegenüber der Philosophie.
Die Trennung zwischen Soziologie und Philosophie war zu die285sem Zeitpunkt im europäischen
Kontext längst noch nicht so ausgeprägt, was offensichtlich dort das Interesse an theoretischen Fragen
innerhalb der Soziologie stärker wachhielt. Europäische Soziologen nutzten jedenfalls die Chance, in
die theoretischen Lücken vorzustoßen, die ihre amerikanischen Kollegen hinterlassen hatten. Und
dabei stellte sich schon bald – wie am Ende der letzten Vorlesung betont – als drängendste Frage
heraus, ob sich die bisherige Vielfalt in der Theorielandschaft nicht durch neue Theoriesynthesen
aufheben lasse.
Jürgen Habermas gehört zu denjenigen, denen jene enge Verknüpfung philosophischer und
soziologischer Argumente eine Selbstverständlichkeit war; er wurde vielleicht gerade auch deshalb
besonders schnell und sensibel auf die Notwendigkeit und auch die Möglichkeit einer neuen
Theoriesynthese aufmerksam. Sein Hauptwerk Theorie des kommunikativen Handelns aus dem Jahre
1981 stellt einen solchen Syntheseversuch dar; mit ihm gelang Habermas der internationale
Durchbruch, so daß er mittlerweile weltweit und auch außerhalb des akademischen Lebens als einer
der großen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts anerkannt und respektiert wird. Aber der
Entwicklungsweg von Habermas bis dorthin war alles andere als einfach, weshalb wir uns in dieser
Vorlesung nach einer kurzen Skizze zu seiner Person mit seinen frühen Schriften beschäftigen werden,
während erst in der nächsten Vorlesung jenes schon erwähnte Hauptwerk im Mittelpunkt stehen soll.
Zunächst geht es darum, den Grundgedanken zu erfassen, aus dem Habermas die Konzeption seiner
Theorie entwickelte.

Habermas – wie Lockwood und Dahrendorf Jahrgang 1929 – wuchs im überwiegend katholischen
Rheinland auf, entstammt aber dem dortigen protestantischen Bürgertum. Seine Kindheit und Jugend
fielen in die Zeit der Nazi-Herrschaft, und Habermas verhehlte auch später nie, daß er als Mitglied
der Hitler-Jugend durchaus an die vorgeblichen Ideale des Regimes geglaubt hatte. Der Untergang des
sogenannten Dritten Reiches wurde von ihm als entscheidender biographischer Einschnitt erfahren.
Die Erschütterung über das Ausmaß der nicht für möglich gehaltenen Greueltaten, aber auch über die
eigene jugendliche Verführbarkeit prägte sein ganzes weiteres Leben. Ohne ihre Berücksichtigung läßt
sich Habermas’ akademisches wie publizistisches Wirken nicht angemessen verstehen, 286insofern
sich viele seiner zentralen Argumente als eine (wie auch immer vermittelte) Auseinandersetzung mit
dieser dunklen Phase der deutschen Geschichte und als Abwehrreaktion gegen totalitäre Versuchungen
jeglicher Art (ob von links oder von rechts) lesen lassen.
Habermas’ wichtigster akademischer Lehrer und zugleich sein Doktorvater war Erich Rothacker
(1888-1965), ein typischer Repräsentant der Philosophischen Anthropologie und der deutschen
Tradition der Geisteswissenschaften ganz allgemein. Diese Tatsache und seine Dissertation über den
romantisch-idealistischen Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854) weisen
darauf hin, daß Habermas’ ursprüngliche Heimat nicht die Soziologie, sondern die Philosophie war.
Da er aber in den frühen 1950er Jahren gleichzeitig schon sehr erfolgreich publizistisch tätig war und
in intellektuellen Journalen wie in Tages- und Wochenzeitungen auch zu politischen und
gesellschaftspolitischen Fragen Stellung bezog (vgl. etwa einige der Aufsätze, die 1971 in dem Band
Philosophisch-politische Profile erneut abgedruckt wurden), zeigte es sich sehr schnell, daß ihm die
Philosophie allein nicht genügte und er Anschluß an andere Disziplinen suchte. Es war deshalb
folgerichtig, daß er Mitte der 1950er Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter am berühmten Frankfurter
Institut für Sozialforschung wurde. Dieses 1923 durch Stiftungsgelder gegründete Institut mit einer
interdisziplinär-marxistischen (allerdings nicht: parteimarxistischen) Forschungsorientierung hatte in
der Nazi-Zeit aus Deutschland verlegt werden müssen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es unter
maßgeblicher Beteiligung von Max Horkheimer (1895-1973) und Theodor W. Adorno (1903-1969),
die aus der Emigration in die USA nach Deutschland zurückgekehrt waren, wiederaufgebaut.
1961 wurde Habermas – und zwar noch ohne Habilitation! – auf eine Philosophie-Professur nach
Heidelberg berufen, wo er bis 1964 lehrte. Zu Beginn dieser Heidelberger Zeit habilitierte er sich –
allerdings nicht in Frankfurt, was biographisch wie thematisch nahegelegen hätte, sondern in
Marburg, und zwar bei dem Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth (1906-1985), dem in der
Bundesrepublik Deutschland wohl einzigen prominenten und bekennenden Marxisten auf einem
Lehrstuhl. Ganz »freiwillig« war diese Habilitation in Marburg freilich nicht, denn Habermas wurde
die Habilitation in Frankfurt aufgrund von Horkheimers Aversionen 287gegen ihn mehr oder weniger
verwehrt, hielt dieser ihn doch für zu links und zu sehr mit dem Marxismus sympathisierend, was
Horkheimers Bemühungen, das Frankfurter Institut für Sozialforschung von seinen ursprünglich
marxistischen Wurzeln abzuschneiden, entgegengelaufen wäre. 1964 wurde Habermas dennoch
Nachfolger des aus Altersgründen ausgeschiedenen Horkheimer im Frankfurter Institut und
gleichzeitig – ebenfalls in der Nachfolge Horkheimers – Ordinarius für Philosophie und Soziologie
an der Universität Frankfurt (zu biographischen Details der frühen Karriere von Habermas vgl. Rolf
Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 597 ff.).
1971 verließ Habermas die Frankfurter Universität, nicht zuletzt auch deswegen, weil er sich der
sich immer weiter radikalisierenden Studentenbewegung entgegengestellt und bei ihr durch den
berühmt gewordenen Vorwurf des »Linksfaschismus« verhaßt gemacht hatte. Habermas wechselte auf
den – zumindest was die Umgebung und das Publikum betraf – ruhigeren Posten eines Direktors am
»Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt«
in Starnberg, das er zusammen mit Carl Friedrich von Weizsäcker (1912-2007) leitete. In dieser Zeit
arbeitete er an seinem magnum opus, der Theorie des kommunikativen Handelns, bevor er 1983 auf
seinen Frankfurter Lehrstuhl (dann allerdings nur noch auf den für Philosophie) zurückkehrte. Seit
1994 ist Habermas nun im Ruhestand, was aber bisher weder auf seinen nach wie vor immensen
Ausstoß an Veröffentlichungen noch auf die Häufigkeit seiner Lehraufenthalte etwa an amerikanischen
Universitäten wirklichen Einfluß gehabt hat.
Parallel zu dieser grandiosen akademischen Karriere konnte sich Habermas in Deutschland auch
immer mehr als eine zentrale Figur des öffentlichen Lebens mit großem Einfluß auf wichtige
wissenschaftliche und politische Debatten etablieren. In den 1960er Jahren war er am
Positivismusstreit in der deutschen Soziologie an zentraler Stelle beteiligt (vgl. S. 303); in den frühen
1970er Jahren erregte seine Kontroverse mit Niklas Luhmann die soziologischen Gemüter; der hitzige
sogenannte Historiker-Streit der frühen 1980er Jahre, in dem Habermas vor der Gefahr einer
nachträglichen Exkulpierung des Nationalsozialismus in Teilen der deutschen Geschichtswissenschaft
warnte, wurde von ihm ebenso mitgeprägt wie der Verlauf der derzeitigen Debatte um Bioethik und
Gen-Technologie.
Soweit einige biographische Angaben zur Person von Jürgen Ha288bermas. Die Frage, in welchen
intellektuellen Traditionen Habermas stand und steht, aus welchen Quellen die Motive für seinen
Syntheseversuch in der Theorie des kommunikativen Handelns stammen, ist damit freilich noch nicht
geklärt. Wir glauben, daß sich im wesentlichen drei solcher intellektuellen Traditionen als
Hintergrund von Habermas’ Denken ausmachen lassen.
1. Mit Sicherheit war der Marxismus eine der Quellen, aus denen sich das Habermassche Denken
speiste. Dies ist insofern bemerkenswert, als es in der Bundesrepublik Deutschland in der Zeit der
1950er und frühen 1960er Jahre, also vor der Studentenrevolte, in akademischen Kreisen eher
unüblich war, sich positiv auf den Marxismus zu beziehen. »Positive Bezugnahme« soll hier u. a. auch
heißen, daß Habermas an das Marxsche Werk in völlig anderer Weise heranging als die meisten
Konflikttheoretiker, insbesondere Dahrendorf. Während Dahrendorf am Marxschen Werk lediglich
die Theorie sozialen Wandels mit der zentralen These der Klassenkämpfe interessant fand und alle
anderen Elemente des Marxschen Denkens als metaphysische, nicht-soziologische und auch gar nicht
soziologiefähige Spekulationen verwarf (die Marxsche ökonomische Lehre vom Mehrwert wurde für
falsch erklärt und der philosophisch-anthropologische Gehalt der Marxschen Frühschriften für
nutzlos), begegnete Habermas dem Marxschen Werk wesentlich aufgeschlossener, wie v. a. sein
großer »Literaturbericht zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus« aus dem Jahre
1957 und sein Aufsatz »Zwischen Philosophie und Wissenschaft. Marxismus als Kritik« aus dem
Jahre 1960 zeigen. Habermas rezipiert dort mit enormer Sensibilität und großer Kenntnis die
international weitverzweigte Diskussion um zentrale Probleme im Marxschen Werk und nimmt diese
dann auch durchaus ernst: Er hat im Gegensatz zu Dahrendorf kein Interesse daran, das angeblich
soziologische Kernelement des Denkens von Marx gegen dessen philosophische Spekulationen
auszuspielen. Ganz im Gegenteil: Habermas sieht das im Marxismus zu findende Ineinandergreifen
wissenschaftlicher und philosophisch-normativer Argumente, von (wissenschaftlicher) Theorie und
gesellschaftsverändernder, die menschlichen Potentiale ausschöpfender Praxis, als ein besonders
attraktives Merkmal dieses Gedankengebäudes an, weil es nur durch eine derartige Verbindung
möglich sei, bestehende gesellschaftliche Verhältnisse wirksam zu kritisieren und gleichzeitig über
diese hinauszugehen. 289Mit Blick auf Dahrendorf formulierte dies Habermas – sicherlich nicht ganz
leicht verständlich – folgendermaßen:
In der jüngsten soziologischen Diskussion des Marxismus führt diese Trennung von wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen
Elementen (…) zur formalen Konstruktion von Modellen auf genau jener Ebene vergegenständlichender Abstraktion, die Marx Anlaß zu
dem Bedenken gab: daß die gesellschaftlichen Verhältnisse »als eingefaßt in von der Geschichte unabhängigen ewigen Naturgesetzen
dargestellt werden, bei welcher Gelegenheit dann ganz unterderhand bürgerliche Verhältnisse als unumstößliche Naturgesetze der
Gesellschaft in abstracto untergeschoben werden«. (Habermas, »Literaturbericht zur philosophischen Diskussion um Marx und den
Marxismus«, S. 415/416)

Konkret heißt dies, daß die Ausscheidung der philosophischen Elemente aus dem Marxschen Werk
letztlich dazu führe, die These von der Allgegenwart des Konflikts zu einer Art Naturgesetz zu
erheben. Damit fehlten dann jegliche Denkmittel, um über diesen Zustand überhaupt
hinauszugelangen; das ursprüngliche kritische Potential der Marxschen Schriften werde somit
preisgegeben, eine solcherart an Marx anknüpfende (Konflikt-)Soziologie beschreibe nur noch die
Wirklichkeit, ohne je dahin zu kommen, eine andere Wirklichkeit überhaupt denken zu können.
Dieses gegen Dahrendorf und weitere Konflikttheoretiker gerichtete Motiv einer Rettung der – wie
es damals häufig heißen sollte – »emanzipatorischen« Gehalte der Marxschen Theorie führte nun bei
Habermas keineswegs zu einer unkritischen Marxlektüre oder gar zu einem gläubig-naiven Anschluß
an vorhandene Fraktionen in dem schon seit vielen Jahrzehnten tobenden Kampf um die »richtige«
Marxdeutung. Habermas verfolgte vielmehr von Anfang an eine eigene Linie, mit der er sich vor
allem gegen zwei damals höchst einflußreiche, aber doch auch sehr verschiedenartige Marx-
Interpretationen abzusetzen versuchte.
Habermas ließ keinen Zweifel daran, daß die ursprünglich von Stalin autorisierte Lehre des
»Marxismus-Leninismus« bzw. das sowjetische Politikmodell der stalinistischen wie
poststalinistischen Epoche ein ebenso trostloses philosophisches wie gescheitertes politisches
Projekt war.
Die russische Revolution und die Etablierung des Sowjetsystems ist schließlich der Tatbestand, von dem die systematische
Diskussion des 290Marxismus und mit dem Marxismus am meisten gelähmt worden ist. Die von einem schwachen Proletariat
a) ausgelöste, von den klein- und vorbürgerlichen Bauernmassen getragene, antifeudalistische Bewegung, die unter der Regie
leninistisch geschulter Berufsrevolutionäre im Oktober 1917 die Doppelherrschaft von Parlament und Sowjets liquidierte, hatte
unmittelbar keine sozialistischen Ziele. Sie begründete aber eine Funktionärs- und Kaderherrschaft, auf die gestützt Stalin, ein
Jahrzehnt später, mit der Kollektivierung der Landwirtschaft, eine sozialistische Revolution von oben bürokratisch einleiten
konnte. (Habermas, »Zwischen Philosophie und Wissenschaft«, S. 229/230 f.)

Habermas’ Geringschätzung dieser Art der Marx-Rezeption war nur zu offenkundig, die
Abneigung gegenüber den daraus von den kommunistischen Parteikadern gezogenen politischen
Konsequenzen ebenso.
Dies bedeutete aber nicht, daß er die Marx-Interpretationen, die etwa von bestimmten
osteuropäischen Dissidenten in den 1950er Jahren vertreten wurden, deshalb teilte. Die
Arbeiten dieser Autoren, die sich vor allem auf die stark humanistisch geprägten
philosophischen Frühschriften von Marx stützten (s. weiter unten, S. 302), litten und leiden
nämlich seiner Meinung nach an einem im Vergleich zu den konflikttheoretischen Marx-
Deutungen entgegengesetzten Mangel: Denn ebensowenig wie der Marxismus als reine
b) Soziologie, als reine Wissenschaft zu begreifen sei, so sei er auch nicht angemessen als reine
Philosophie zu denken (»Literaturbericht zur philosophischen Diskussion um Marx und den
Marxismus«, S. 396 f.). Denn ein ausschließlich philosophischer Ansatz ohne die
entsprechenden politischen und ökonomischen Analysen erweist sich laut Habermas als hilflos,
eben als bloße Philosophie, die keine Anleitung für praktisches politisches Handeln zu geben
vermag. Die politisch-soziologischen Aspekte der Marxschen Schriften dürften also gleichfalls
nicht über Bord geworfen werden.
Freilich – und dies offenbart dann schon Habermas’ theoretische Vorbehalte gegenüber bisherigen
Marxismen jeglicher Deutungsart – muß gerade dieser politisch-soziologische Gehalt des
Marxismus einer massiven Revision unterzogen werden, einer Revision, deren Richtung zwar
abzuschätzen, deren Umfang aber noch nicht wirklich abzusehen ist. Klar scheint für Habermas zu
diesem Zeitpunkt nur zu sein, daß etwa die Marxsche bzw. marxistische Arbeitswerttheo291rie,
insofern sie bis dato die »wissenschaftliche Entwicklung der technischen Produktivkräfte als
mögliche Wertquelle« ignoriert hat, kaum haltbar sein dürfte (»Zwischen Philosophie und
Wissenschaft«, S. 256). Auch die klassisch-marxistische Formulierung des Verhältnisses von Basis
und Überbau sei schon deshalb nicht mehr überzeugend, weil mittlerweile der Interventions- und
Wohlfahrtsstaat massiv in den Markt eingegriffen hat und somit die »Abhängigkeit des (staatlichen)
Überbaus als nicht mehr selbstverständlich angenommen werden kann« (a.a.O., S. 228). Und
schließlich sei dem Marxismus mittlerweile die tragende Kraft des gesellschaftlichen Fortschritts im
Kapitalismus verlorengegangen, insofern das Proletariat in dem von Marx gemeinten Sinne, nämlich
als ein materiell verelendetes, zumindest in den westlichen Ländern nicht mehr vorhanden ist. In
diesem letzten Punkt zeigt sich Habermas besonders allergisch gegenüber allen, insbesondere im
Marxismus zu findenden Argumenten, welche die Existenz von Großsubjekten – siehe etwa die Rede
vom Proletariat als Beweger der Geschichte – unterstellen, ohne überhaupt empirisch zu untersuchen,
wie und ob sich überhaupt handlungsfähige kollektive Akteure herausbilden. Letztendlich – so
Habermas – läßt sich der politisch-ökonomisch-soziologische Gehalt des Marxismus nur durch
verstärkte empirische Forschung glaubhaft revidieren, wobei sich dann zeigen wird, wie viele der
ursprünglichen Marxschen Elemente eine derart erneuerte »materialistische« Theorie noch bewahren
kann:
Eine materialistische Dialektik muß an den historisch gegebenen Verhältnissen ihre Kraft aufs neue in konkreter Analyse beweisen und
darf ihnen das dialektische Schema nicht nur überstülpen. (Habermas, »Literaturbericht zur philosophischen Diskussion um Marx und den
Marxismus«, S. 454)

Die Tatsache, daß Habermas dann in der Lage war, einen produktiven Ausweg aus den
Schwierigkeiten des Marxismus zu finden, ohne dessen normativ-philosophische Impulse zu
verschenken oder zu ignorieren, hing unter anderem damit zusammen, daß er noch auf weitere
intellektuelle Großtraditionen zurückgreifen konnte, von denen ihm eine durch seinen Doktorvater
Rothacker vermittelt worden war.
2. Die Rede ist hier von der deutschen geisteswissenschaftlichen Tradition der Hermeneutik. Die
Hermeneutik ist die »Kunstlehre vom Verstehen«, wobei vor allem Texte, insbesondere autoritative
Texte, verstanden werden sollen. Dies hört sich vielleicht etwas 292mysteriös an, doch der
Hintergrund ist ein relativ einfacher. Wie Ihnen sicherlich nicht unbekannt sein dürfte, gibt es Texte,
die dem Leser enorme Schwierigkeiten bereiten bzw. deren Bedeutung nicht immer eindeutig ist. In
einem solchen Fall wird der Leser herausgefordert, die Leichtigkeit des Lesens verschwindet hinter
der Anstrengung des Verstehens, und gelegentlich muß sogar methodisch darüber nachgedacht
werden, wie und warum ein Text so und nicht anders zu verstehen ist, warum eine Interpretation
möglicherweise besser oder angemessener ist als eine andere. In der abendländischen
Geistesgeschichte ist diese Verstehensproblematik an mehreren kulturell zentralen Phänomenen zutage
getreten.
An erster und vielleicht prominentester Stelle geschah dies im Hinblick auf die »richtige«
Auslegung der Bibel. Die Bibel als der autoritative Text des Christentums ist keinesfalls leicht
zugänglich, viele Gleichnisse sind schwer verständlich, und manche Erzählungen ergeben für die
Nachgeborenen überhaupt nur wenig Sinn, erscheinen vielmehr sogar als unglaubwürdig oder
unlogisch. Hier tritt das Problem auf, wie ein solcher Text zu verstehen und auf das Leben der
Gegenwart zu beziehen ist. Denn es konnte und kann für gläubige Christen weder hinreichend sein,
den Text nur als Ausdruck einer längst vergangenen Zeit zu interpretieren, dessen Gehalt für sie
unbedeutend geworden ist; noch darf die Bibel ausschließlich aus Sicht späterer Jahrhunderte
gedeutet werden, weil damit die Sinnhaftigkeit des Glaubens früherer Generationen bestritten würde,
die Nachgeborenen für sich immer den »wahreren« Glauben reklamieren könnten, was
offensichtlicher Unsinn wäre. Wie also ist die Bibel angemessen zu verstehen, wie ist sie zu deuten?
Ein ähnliches Problem tauchte auch bei der Interpretation klassischer Dichtung auf. In einem Zeitalter,
in dem etwa in Europa die Literatur des antiken Griechenlands oder Roms den Maßstab alles
dichterischen Schaffens darstellte, mußte diese oft schwer zugängliche, weil einer fremden Welt
entstammende poetische Sprache zuerst einmal entschlüsselt werden. Auch dies stellte die Leser vor
beträchtliche, ähnlich gelagerte Probleme. Und schließlich ist hier auch das Verstehen von
Gesetzestexten, von Rechtsnormen, zu nennen, da etwa in der kontinental-europäischen
Rechtstradition immer die Schwierigkeit bestand, wie eine möglicherweise schon vor langer Zeit
formulierte, abstrakte Norm auf einen konkreten Einzelfall, auf eine konkrete Situation, bezogen
werden kann. Wieder ist die Kunstlehre des Ver293stehens in Anwendung zu bringen, wenn man sich
als Jurist zu fragen hat, was denn der Gesetzgeber gemeint haben könnte und ob der vorliegende
konkrete Fall unter dieses abstrakt formulierte Gesetz überhaupt subsumiert werden kann.
Es ist nun eine Besonderheit der Wissenschaftsgeschichte, daß die Kunstlehre des Verstehens aus
verschiedenen Gründen gerade an den deutschen Universitäten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
eine wahre Blüte erlebt hat. Man kann sogar sagen, es sei eine der Stärken der deutschen
Geisteswissenschaften dieser Zeit gewesen, daß man sich in großer Ernsthaftigkeit in verschiedenen
Disziplinen – der Theologie, der Rechtswissenschaft, der Philosophie, der Geschichtswissenschaft –
dieser Verstehensproblematik gewidmet und dabei das methodische Niveau, also das Niveau der
Reflexion über die Grundlagen und Voraussetzungen geisteswissenschaftlichen Arbeitens, auf eine bis
dato unerreichte Höhe getrieben hat. Dabei wurde die Verstehensproblematik dahingehend
ausgeweitet, daß es nicht mehr nur um das Verstehen von Texten, sondern auch um dasjenige von
Bildern, großen Taten, Alltagshandlungen usw. ging. Selbst wenn im nationalistischen Überschwang
der damaligen Zeit die Hermeneutik beispielsweise in der Geschichtswissenschaft nicht selten eine
elitäre Schlagseite erhielt, weil man allzusehr vom notwendigen Verstehen der Taten großer Männer,
etwa derjenigen von Martin Luther, von Friedrich dem Großen oder von Bismarck, sprach – was
häufig gleichzeitig auch eine fragwürdige Rechtfertigung von deren Taten einschloß –, änderte dies
nichts daran, daß auch die Soziologie sich an hermeneutischen Einsichten abarbeiten mußte. Auch die
Argumente der deutschen Gründerväter der Soziologie wie diejenigen Max Webers oder Georg
Simmels waren eng mit dieser Verstehensproblematik verbunden.
Habermas schließt hier durchaus an: Er ist in dieser hermeneutischen Tradition groß geworden und
weiß um die Bedeutung des Verstehens gerade für die Ausarbeitung einer Handlungstheorie, ist es
doch erst das Verstehen von Handlungen, das uns beispielsweise das Erstellen einer
Handlungstypologie ermöglicht. Habermas’ ganzer Argumentationsduktus ist auch in all seinen
späteren Werken zutiefst von dieser hermeneutischen Denktradition geprägt, deren Merkmal es war,
Argumente in der engen Auseinandersetzung mit früheren Autoren und deren Texten zu gewinnen:
Während Talcott Parsons v.a. in The Structure of Social Action die systematische
Aus294einandersetzung mit Autoren suchte, dann aber seine Theorie durch Bausteine aus höchst
disparaten Feldern und Gebieten – der Biologie wie der Kybernetik – zu vervollkommnen trachtete,
während die Ethnomethodologie oder der Symbolische Interaktionismus auf ganz bestimmte
philosophische Traditionen zurückgriffen und alle anderen weitgehend ignorierten, ist für das
Habermassche Werk das hermeneutische Bemühen um ein Verstehen der gesamten philosophischen
Probleme und Themen der abendländischen Geschichte charakteristisch. Habermas entwickelt seine
Position im Rahmen einer intensiven Auseinandersetzung mit einer Vielzahl zentraler philosophischer
und soziologischer Autoren. Er bemüht sich um den ständigen »Dialog« mit deren Schriften und
versucht deren theoretische Probleme und Lösungsansätze zu verstehen. Trotz einer oftmals
schneidenden Argumentationsführung ist ihm deshalb immer eine gewisse, allen Hermeneutikern
eigene Demut anzumerken: die Achtung vor den (theoretischen) Leistungen der Vorgänger, deren
Einsichten es zu bewahren gilt.
3. Eine dritte Tradition, in die sich Habermas unzweifelhaft stellte, ist eine politische: Habermas
orientierte sich von Anfang an am liberal-demokratischen Denken des Westens. Die Erfahrung der
eigenen jugendlichen Verblendung im Nationalsozialismus, seine gleichfalls scharfe Verurteilung des
Sowjetmarxismus und all seiner politischen Formen führten ihn zu einer enormen Wertschätzung
demokratischer Ideale, und zwar so, wie sie in Großbritannien, Frankreich oder den USA artikuliert
und dann auch in Institutionen gegossen worden sind. Demokratische Traditionslinien in Deutschland
betrachtete er hingegen – vermutlich biographisch bedingt – immer mit einigermaßen großem
Mißtrauen, waren sie doch letztendlich zu schwach gewesen, um vor der totalitären Versuchung zu
schützen: Die Bundesrepublik Deutschland sollte sich deshalb – so Habermas’ Vorstellung – dem
westlich-demokratischen Denken verschreiben, um unter allen Umständen eine Wiederholung jenes
schrecklichen Zivilisationsbruchs zu vermeiden. Wie sich allerdings die Wertschätzung des westlich-
demokratischen Verfassungsstaates genau mit seinem entschiedenen Rückgriff auf bestimmte Aspekte
des Marxismus, mit seinem Versuch des Aufbaus einer praktisch relevanten »materialistischen«
Theorie und mit seiner Anknüpfung an die hermeneutische Tradition vereinbaren ließ und vor allem
was dies konkret für seine politische Position bedeutete, war in den 1950er und 2951960er Jahren oft
nicht ganz klar. Zweifellos wußte aber Habermas immer die Bedeutung freier Forschung zu würdigen
und war deshalb ein wachsamer Verteidiger eines diese Forschung ermöglichenden demokratischen
Institutionensystems.

Damit haben wir die drei Großtraditionen benannt, durch die das Habermassche Denken entscheidend
beeinflußt worden ist. In der Sekundärliteratur zu Jürgen Habermas wird freilich – und dies zumeist
an erster Stelle! – eine weitere Großtradition erwähnt, die wir – so könnte es scheinen – völlig
vernachlässigt haben. Zumeist heißt es, Habermas sei ein Vertreter der Kritischen Theorie und quasi
der legitime Nachfolger von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Wir sind eher skeptisch, ob
diese Einordnung von Habermas wirklich stimmt, ob er also tatsächlich von dieser Kritischen
Theorie so sehr geprägt war, und werden dies auch im folgenden kurz begründen. Dazu müssen wir
aber zunächst erklären, was man unter »Kritischer Theorie« eigentlich versteht. Der Begriff
»Kritische Theorie« wurde 1937 von Max Horkheimer für eine bestimmte Form des Marxismus
geprägt, wie sie am schon erwähnten Frankfurter Institut für Sozialforschung theoretisch erarbeitet
worden war und auch im Exil von den Mitarbeitern des Instituts vertreten wurde. In jenem Institut
hatte man in den 1920er und 1930er Jahren eine interdisziplinäre, auch die Psychoanalyse
einbeziehende Sozialwissenschaft betrieben mit einer entschieden revolutionären, allerdings politisch
eher vagen Orientierung: Man hatte gehofft, mit den theoretischen Instrumenten des Marxismus die
politische, ökonomische und soziale Krise der westlichen Welt überwinden zu können, ohne daß man
allerdings in der Lage gewesen wäre, ein revolutionäres Subjekt wirklich zu benennen. Denn der
deutschen Arbeiterschaft, die sich entweder mit dem Reformismus der SPD zufriedengegeben oder
gar in die Arme des immer stärker werdenden Nationalsozialismus geflüchtet hatte, stand man
mißtrauisch gegenüber. Und gegenüber der stalinisierten KPD wahrte man große Distanz, weil auch
der Sowjetmarxismus die überwiegend humanistischen Ideale der Frankfurter ganz gewiß nicht zu
erfüllen vermochte.
Mit der Hitlerschen »Machtergreifung« wurde das Institut ins Ausland verlegt, seine Mitglieder
wurden zur Emigration gezwungen. Dies bedeutete allerdings nicht den Rückgang oder gar das
296Ende der Publikationstätigkeit der Mitarbeiter, zumal auch die vom Institut zwischen 1932 und
1939 herausgegebene Zeitschrift für Sozialforschung – das zentrale Publikationsorgan für die
Mitglieder des Instituts und dessen Sympathisanten – im Exil erst so richtig florierte. Eine weitere
wichtige Veröffentlichung aus etwa der gleichen Zeit war der kollektiv erstellte Forschungsbericht
Studien über Autorität und Familie aus dem Jahre 1936, eine auf noch in der Weimarer Republik
erhobenen Daten basierende, auch stark mit psychoanalytischen Deutungskategorien arbeitende
Untersuchung über die Verbreitung autoritärer Einstellungen, durch die man sich Aufschluß über die
Ursachen des Aufstiegs des Nationalsozialismus erhoffte. Das berühmteste aus dem Institutskontext
hervorgegangene Werk war freilich die von Horkheimer und Adorno gemeinsam Anfang der 1940er
Jahre verfaßte Dialektik der Aufklärung, ein philosophisches Buch mit einem zutiefst
pessimistischen, wenn nicht tragischen Unterton, das Max Webers Rationalisierungsthese auf die
Spitze trieb und von einem fast unvermeidlichen Umkippen der aufgeklärt-modernen, technisch-
rationalen Welt in die (nationalsozialistische oder kommunistische) Barbarei der Gewalt sprach.
Man wird nun unserer Auffassung nach kaum sagen können, daß Habermas von diesen Exilschriften
sonderlich geprägt oder beeinflußt war. Das pessimistische Geschichtsbild der Dialektik der
Aufklärung teilte er in dieser Form sicherlich nicht. Was sich ausmachen läßt, ist allenfalls die große
Nähe von Habermas zu den Schriften aus der Früh- und Gründungsphase des Frankfurter Instituts für
Sozialforschung, auch zu jenen Arbeiten, wie sie von unterschiedlichen Autoren in der Zeitschrift für
Sozialforschung veröffentlicht worden waren. Nur, Habermas kannte diese Frühschriften nicht
wirklich, war doch Horkheimer, als er das Institut in der (damals noch sehr konservativen)
Bundesrepublik wieder etablierte, bemüht, die marxistischen Wurzeln des Instituts zu verheimlichen:
Die Jahrgänge der »Zeitschrift« – so die wohl einigermaßen zutreffende Institutslegende – lagerten
mehr oder minder verschlossen im Keller, als Habermas dort in den späten 1950er Jahren Mitarbeiter
war. Man wird deshalb eher davon sprechen können, daß sich Habermas – zunächst ohne es zu
wissen – auf diese frühe Kritische Theorie mehr oder minder unbewußt zubewegte, als daß er durch
sie beeinflußt worden wäre. Erst im Laufe der 1960er Jahre stilisierte sich Habermas selbst zu einem
Vertreter dieser Kritischen Theorie und wurde 297gleichzeitig von anderen zur Zentralfigur der
sogenannten zweiten Generation der »Frankfurter Schule« (dies war ein anderer Begriff für die
Vertreter der Kritischen Theorie) erklärt, vor allem als die Studentenbewegung große Hoffnungen auf
diese Kritische Theorie zu setzen begann. Wirkungsgeschichtlich aber ist dies vermutlich eine
Fehldeutung. Vielmehr wird man davon ausgehen müssen, daß Habermas tatsächlich überwiegend
durch die ersten drei von uns genannten Großtraditionen beeinflußt war, was gleichzeitig auch
impliziert, daß sein Denken weit selbständiger und unabhängiger war, als dies die These von der
entscheidenden Prägung durch die Kritische Theorie suggeriert.

Auch wenn man nun von drei (und nicht: vier) Großtraditionen spricht, aus denen heraus sich das
Habermassche Denken entwickelte, so ist natürlich sofort anzumerken, daß diese Traditionen alles
andere als problemlos miteinander harmonieren oder miteinander kompatibel sind. Es wurde also
bisher allenfalls ein Spannungsfeld skizziert, und so mag der Verdacht aufkommen, daß für das
Habermassche Werk gerade aufgrund der großen Unterschiedlichkeit dieser Einflüsse ein erheblicher
Eklektizismus, also ein bloßes Nebeneinander verschiedenartiger Ideen ohne ein wirklich einigendes
Band, charakteristisch sei. Tatsächlich ist dies aber nicht der Fall, weil all diese Einflüsse durch eine
zunächst nur als vorwissenschaftliche Intuition faßbare, dann allerdings immer weiter und immer
systematischer explizierte Idee zusammengehalten oder kanalisiert wurden, die Idee nämlich von der
Besonderheit der menschlichen Sprache, von der Besonderheit der menschlichen Kommunikation.
Habermas begeisterte sich geradezu für das Wunder der Sprache, die sich von tierischen
Kommunikationsformen doch so sehr unterscheidet. Und seine Begeisterung für diese Thematik war
insofern höchst folgenreich, als sich an die Einsicht von der zentralen Bedeutung der Sprache für das
menschliche Zusammenleben eine ganze Reihe von philosophischen, historischen und auch
soziologischen Forschungsfragen anschließen ließ.
Philosophisch konnte man an die in der Geschichte des abendländischen Denkens des öfteren
artikulierte Idee anknüpfen, wonach der Sprache eine versöhnende oder auch rationalisierende Kraft
innewohne. Habermas wird sich diesen Gedanken, allerdings vor allem unter Betonung der in der
Sprache steckenden Rationali298tätspotentiale, äußerst intensiv zu eigen machen: Er wird im Laufe
seiner Werkentwicklung in großer Ausführlichkeit begründen, warum vernünftige Argumente einen
eigentümlichen Zwang auf die Diskussionsteilnehmer ausüben, warum und wie aus besseren
Argumenten Konsens und somit Handlungskoordination entsteht, die allen anderen
Koordinationsformen (etwa über Gewalt oder über Märkte) überlegen ist. – Man konnte aber auch
historisch fragen, wann, wie und über welche Wege sich dieses rationalisierende Potential der
menschlichen Kommunikation entfaltet hat, wie z. B. bestimmte Herrschaftsformen im Laufe der
Geschichte durch den Zwang des besseren Arguments ihre Legitimität verloren haben, wann und wo
politische Macht nur mehr als argumentativ gerechtfertigte (d. h. letztlich durch demokratische
Diskussionsformen legitimierte) Herrschaft akzeptiert wurde und nicht mehr als eine, die sich – etwa
durch religiöse Vorgaben – der Diskussion entzieht. Schließlich wurde mit diesen vielfältig sich
eröffnenden Fragestellungen sofort auch ein soziologisches Problem angeschnitten, das im
Mittelpunkt jener »alten« Kritischen Theorie, ja eigentlich des gesamten westlichen Marxismus und
sogar einer politisch nicht immer klar zuzuordnenden diffusen Kulturkritik gestanden hatte: Wird sich
der Kapitalismus und die ihm innewohnende oder zumindest ihm verwandte technische oder
instrumentelle Rationalität, der alles zur Ware wird und die nur in ökonomischen Zweck-Mittel-
Kategorien zu denken erlaubt, derart durchsetzen, daß alle anderen Lebensformen, alle anderen
Formen des Denkens und des Handelns, zerstört werden? Wird der vermeintlich destruktive
Siegeszug des Kapitalismus und seiner »instrumentellen« Rationalität unaufhaltsam sein? Habermas
teilte mit der Kritischen Theorie, aber auch mit durchaus in anderen politischen Lagern beheimateten
kulturkritischen Autoren jene Idee des notwendigen Widerstandes gegen den Siegeszug der
»technisch-instrumentellen« Rationalität; aber er teilte eben nicht den tragischen Grundton der dort zu
findenden Argumentation, gerade weil ihm die Sprache mit den in ihr steckenden umfassenden (also
nicht: einseitigen oder eingeschränkten) Rationalitätspotentialen als ein tatsächlich wirksames
oder zumindest mögliches Gegengewicht gegen jene »technisch-instrumentelle« Vernunft erschien.
Diese Idee von den Rationalitätspotentialen der Sprache sollte Habermas schließlich später,
nämlich Anfang der 1980er Jahre, auch die Möglichkeit eröffnen, die Ausarbeitung seiner eigenen
Theorie299synthese zu wagen, welche verspricht, die Stärken aller bisherigen soziologischen
Theorieansätze in sich zu vereinen. Bis zu dieser Synthese war es allerdings ein weiter Weg. Zunächst
– und wir beziehen uns im folgenden Teil der Vorlesung auf die 1960er Jahre – erprobte Habermas in
verschiedenen Studien die soziologische Tragfähigkeit und Fruchtbarkeit der Idee der
Kommunikation, oder anders formuliert: seine in den 1960er Jahren geschriebenen Bücher und
Aufsätze (diese Periode kann man in der Biographie von Habermas als eine Art Geniephase deuten,
in der er eine ungeheure Produktivität entfaltet und ein bedeutendes Werk nach dem anderen
veröffentlicht hatte) lassen sich trotz scheinbar höchst disparater Themenstellungen am besten am
Leitfaden dieser Idee von der Besonderheit der menschlichen Kommunikation analysieren und
verstehen, auch wenn nicht alle diese Texte zu einem für Habermas zufriedenstellenden Ergebnis
führten, einige sich vielmehr als Sackgassen herausstellen sollten.
1. Strukturwandel der Öffentlichkeit, die 1962 erschienene Habilitationsschrift, ist vielleicht
Habermas’ schönstes und lesbarstes Buch, weshalb es für den Einstieg in sein Werk besonders
geeignet ist. Es ist eine historisch-soziologische Studie über die (politisch-philosophische) Idee der
Öffentlichkeit und vor allem über deren Institutionen im bürgerlichen Zeitalter, also im 18. und 19.
Jahrhundert. Habermas beschreibt hier, wie sich zunächst im vorpolitischen Raum – in Kaffeehäusern,
in privaten Lese- und Diskussionszirkeln, in Clubs und Tischgesellschaften – eine Öffentlichkeit
herausbildet, in der frei über literarische, künstlerische, im weitesten Sinne »gesellschaftliche«
Probleme und Angelegenheiten diskutiert wird. Mit der Verbreitung von Zeitungen und Zeitschriften
beginnt sich diese Öffentlichkeit aber alsbald zu politisieren, man erhebt zunehmend Anspruch auch
auf politische Mitsprache:
Eine politisch fungierende Öffentlichkeit entsteht zuerst in England mit der Wende zum 18. Jahrhundert. Kräfte, die auf die
Entscheidungen der Staatsgewalt Einfluß nehmen wollen, appellieren an das räsonierende Publikum, um Forderungen vor diesem neuen
Forum zu legitimieren. Im Zusammenhang mit dieser Praxis bildet sich die Ständeversammlung in ein modernes Parlament um, ein
Prozeß, der sich freilich über das ganze Jahrhundert hinzieht. (Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 122)

Zumindest in der Anfangsphase (also vor der Entstehung fest strukturierter Parteien mit ihren
Berufspolitikern) ist dieses Parlament 300laut Habermas ein Ort ernsthafter Debatte, in dem mit den
Mitteln des besseren Arguments um die bessere Politik gerungen wird; es ist eine Versammlung
räsonierender Repräsentanten des Bürgertums und nicht (wie später häufig) eine Ansammlung bloßer
Interessenvertreter, die gezwungen sind, ihre Standpunkte uneinsichtig bis zuletzt zu verteidigen.
In der Reflexion über diese vorpolitischen wie politischen Institutionen der Öffentlichkeit entsteht
dann die philosophisch-politische Idee der Öffentlichkeit, die von Philosophen und Intellektuellen
deshalb für zentral erachtet wird, weil sich nur in der freiheitlichen Sphäre der Öffentlichkeit andere
Weltsichten kennenlernen lassen. Nur in der Öffentlichkeit ist es möglich, die eigenen Interessen der
vernünftigen Diskussion auszusetzen mit der Chance, daß diese Interessen sich dann auch verändern
und gegebenenfalls konsensfähig werden. Und nur in der Öffentlichkeit kann – wie schon Immanuel
Kant (1724-1804) vermutete und wie Habermas im folgenden Zitat zustimmend referiert – ein
unabhängiges Urteil über Angelegenheiten von allgemeinem Interesse gefällt werden.
Vor der Öffentlichkeit müssen sich alle politischen Handlungen auf die Grundlage der Gesetze zurückführen lassen, die ihrerseits vor der
öffentlichen Meinung als allgemeine und vernünftige Gesetze ausgewiesen sind. Im Rahmen eines durchgängig normierten Zustandes
(…) ist das Naturgesetz der Herrschaft durch die Herrschaft der Rechtsgesetze abgelöst – kann Politik grundsätzlich in Moral überführt
werden. (Habermas, a.a.O., S. 185)

Bei diesen allzu kurzen Ausführungen, in denen der Reichtum von Habermas’ historisch-
soziologischer Rekonstruktion der Idee und der Institutionen der bürgerlichen Öffentlichkeit nicht
wirklich erkennbar werden kann, sollte immerhin klargeworden sein, daß hier wieder seine
Begeisterung für das Wunder der Leistungsfähigkeit der Sprache im Hintergrund steht und daß die
Idee der Öffentlichkeit mit dem Phänomen der Sprache, mit deren Rationalitätspotential im Hinblick
auf den Austausch von Argumenten, eng verknüpft ist. Insofern liegt hier Habermas’ erster großer
Versuch vor, die gesamtgesellschaftliche oder politische Wirksamkeit und Bedeutung der Sprache zu
untersuchen.
So brillant und suggestiv das Buch auch geschrieben ist, so leidet es freilich auch an einer
erheblichen Schwäche, die Habermas später 301durchaus zugeben sollte (vgl. sein Vorwort zur
Neuausgabe des Buches im Jahre 1990). Habermas hat seine Darstellung aus einer kulturkritischen
Verfallsperspektive verfaßt, d. h., er beschreibt die institutionelle Wirklichkeit des 18. und 19.
Jahrhunderts so, als wäre dort die philosophisch-politische Idee der Öffentlichkeit tatsächlich auch
umgesetzt gewesen, während er gleichzeitig mit Verweis auf Kommerzialisierungsprozesse und auf
das Vordringen der Berufs- und Parteipolitik in der Gegenwart nur mehr eine degenerierte Form der
Öffentlichkeit zu erkennen vermag. Anders und einfacher formuliert: Unter dem Einfluß
kulturkritischer Strömungen idealisiert er zu sehr die Vergangenheit, jenes bürgerliche Zeitalter, in der
angeblich die Vernunft noch unangefochten herrschen und in Institutionen auch unverkürzt wirken
konnte. Die Gegenwart muß er dann zwangsläufig in um so düstereren Farben malen. Aber diese
hochproblematische kulturkritische Haltung wird Habermas – wie wir noch sehen werden – im Laufe
seiner Werkentwicklung immer weiter zurückdrängen, gerade auch deshalb, weil ihm die
Sprachanalyse ein Mittel in die Hand gibt, sich der suggestiven Kraft jener Kulturkritik zu entziehen.
2. Theorie und Praxis ist eine ursprünglich 1963 erschienene Aufsatzsammlung, in der der schon
erwähnte »Literaturbericht zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus« und der
gleichfalls bereits zitierte Text »Zwischen Philosophie und Wissenschaft: Marxismus als Kritik«
abgedruckt sind. Der Band versammelt daneben überwiegend theoretische und gesellschaftspolitische
Arbeiten aus den frühen 1960er Jahren und sollte vor allem auf die spätere Studentenbewegung
erheblichen Einfluß haben. In den sich unmittelbar mit dem Marxismus auseinandersetzenden
Aufsätzen begriff Habermas diesen als »empirische Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht«
(»Zwischen Philosophie und Wissenschaft«, S. 244), wobei das Adjektiv »empirisch« als Spitze
gegen den dogmatischen Marxismus-Leninismus gemeint war: Der Marxismus sollte und mußte sich
tatsächlich empirisch öffnen, sollte »wissenschaftlich falsifizierbar« werden, weil es eben unter
anderem galt, »Marx besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat« (ibid.) – eine
Ungeheuerlichkeit in den Augen derjenigen, die sich selbst als orthodoxe Gralshüter des Marxismus
sahen.
Es fällt an dieser Textsammlung auf, daß im Zentrum der Habermasschen Argumentation – siehe ja
auch den Titel des Buches – 302noch immer der Begriff der Praxis steht, ein Begriff mit einer
weitverzweigten Geschichte innerhalb der marxistischen Diskussion: er spielte eine wichtige Rolle
etwa im Denken des berühmten italienischen marxistischen Theoretikers Antonio Gramsci (1891-
1937), er war aber auch ein antistalinistischer Schlüsselbegriff intellektueller Dissidenten im
Ostblock, also solcher Denker, die – wie vor allem in Ungarn, in der Tschechoslowakei und in
Jugoslawien – mit Hilfe marxistischer Denkmittel Opposition betrieben, die also trotz der bitteren
Realität des real existierenden Sozialismus am Marxismus festhielten, an einem anderen Marxismus
freilich, als ihn die jeweiligen Parteiideologen dogmatisch festschreiben wollten. Diese Dissidenten
klammerten sich an Marx’ philosophisch-anthropologische Frühschriften und den dort zu findenden
Praxisbegriff, der – unter anderem zurückgehend auf die Philosophie von Aristoteles (384-322 v.
Chr.) – auch mit romantischen Elementen durchsetzt war: Mit »Praxis« war nicht in erster Linie
zweckrationale Tätigkeit, etwa zielgerichtete Arbeit zum Erhalt des Lebens, gemeint, sondern eine an
der Kunst abgelesene Entfaltung menschlicher Handlungspotentiale, schöpferischer Selbstausdruck
also, und ebenso die kollektiv und bewußt herbeigeführte Realisierung eines glücklichen und
vernünftigen Lebenszusammenhangs. All diese beim frühen Marx zu findenden Motive dienten
osteuropäischen Intellektuellen als Mittel einer internen Systemkritik, insofern diese Motive ja in der
trostlosen Wirklichkeit der Ostblock-Gesellschaften keine institutionelle Entsprechung fanden.
Habermas ist Anfang der 1960er Jahre ebenfalls noch auf diesen Begriff angewiesen und verwendet
ihn dementsprechend, wenn auch nur in der Bedeutung der vernünftigen Gestaltung gesellschaftlicher
Ordnung. Dies ist ein Hinweis darauf, daß zu dieser Zeit bei ihm die Intuition bezüglich der
theoretischen Bedeutung der Sprachanalyse noch zu schwach ist und ihm noch die Mittel fehlen, aus
der Analyse der Sprache heraus eine Kritikfolie für bestehende Verhältnisse zu gewinnen. Er ist also
noch keineswegs zu einer ausreichend verfeinerten und soziologisch verwendbaren Sprachtheorie
vorgedrungen, weshalb ihm vorläufig nichts anderes übrigbleibt, als die Begrifflichkeit des frühen
Marx und osteuropäischer Dissidenten zu verwenden, um das Vordringen technischer Rationalität,
wie sie im Kapitalismus oder – allerdings in ganz anderer Weise – im sowjetischen Sozialismus zu
beobachten ist, zu kritisieren:
303Die eigentliche Schwierigkeit im Verhältnis von Theorie und Praxis erwächst (…) daraus, daß wir zwischen technischer und
praktischer Gewalt nicht mehr unterscheiden können. Auch eine verwissenschaftlichte Zivilisation ist von der Beantwortung praktischer
Fragen nicht dispensiert; deshalb entsteht eine eigentümliche Gefahr, wenn der Prozeß der Verwissenschaftlichung die Grenze
technischer Fragen überschreitet, ohne sich doch von der Reflexionsstufe einer technologisch beschränkten Rationalität zu lösen. Dann
nämlich wird ein vernünftiger Konsensus der Bürger über die praktische Beherrschung ihrer Geschicke gar nicht mehr angestrebt.
(Habermas, Theorie und Praxis, S. 308/309)

Habermas moniert in diesem Zitat die Tatsache, daß die Wissenschaft und die wissenschaftlich-
technische Rationalität immer weiter vordringen und damit hochpolitische Fragen bezüglich der
vernünftigen Regelung des gesellschaftlichen Zusammenlebens – Fragen, die unter Bürgern
ausdiskutiert werden müßten – zu bloß technisch-rationalen Problemen »degradiert« werden und die
politische Diskussion damit zugunsten der Expertenherrschaft verlorenzugehen droht. Diese Kritik der
gegenwärtigen Zivilisation wird also anhand des Praxisbegriffs entwickelt – und es wird noch einige
Zeit dauern, bis er diesen fallenläßt, also auch jene Dichotomie zwischen »technischer und
praktischer Gewalt« aufgibt zugunsten der Unterscheidung zwischen »Arbeit« und »Interaktion« (s.
weiter unten), wobei mit Interaktion das sprachlich fundierte Handeln zwischen Menschen gemeint
ist.
3. Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, eine 1961 auf der Tübinger Arbeitstagung
der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im wesentlichen zwischen Theodor W. Adorno und Karl
Raimund Popper ausgetragene Auseinandersetzung, zählt nicht zu den Sternstunden der
Sozialwissenschaften in Deutschland, und zwar deshalb, weil nicht zuletzt durch den Einfluß der
Frankfurter Schule die Fronten völlig schief waren und durch diese ungeheure Wellen schlagende
Diskussion ganze Studentengenerationen auf falsche oder höchst problematische Gleise geführt
wurden (vgl. Adorno u. a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie). Im Kern ging es in
diesem Streit, an dem auch Habermas maßgeblich beteiligt war, darum, daß Adorno in scharfer Form
die (zunehmende) Verwendung von quantitativen Methoden in den Sozialwissenschaften als
problematisch ansah, insofern quantitative Methoden die soziale Welt unter dem Gesichtspunkt der
Verfügbarmachung 304faßten und am Vorbild der ebenfalls zu kritisierenden technischen
Naturbeherrschung orientiert seien, was letztlich zur Selbstversklavung des Menschen führe. Dahinter
stand bei Adorno ein Wissenschaftsverständnis, das stark normativ aufgeladen war und das
hinsichtlich der schon in der Ersten Vorlesung angesprochenen Problematik des in der Soziologie nie
wirklich geklärten Verständnisses von »Theorie« eindeutig Stellung bezog: Für Adorno ist
Theoriearbeit von normativen Fragen nie zu trennen, darf Wissenschaft nie das Ziel einer
Emanzipation des Menschen aus den Augen verlieren – eine Gefahr, die sich für ihn aber gerade aus
der Verwendung quantitativer Methoden bedrohlich ergibt. Habermas bezog – gerade was den letzten
Punkt betrifft – nicht eine derartige Extremposition: Ganz abgesehen davon, daß er entsprechende, auf
Verfügbarmachung der Natur abzielende Methoden in den Naturwissenschaften für selbstverständlich
hielt und Adornos kulturkritische Perspektive auf diese Disziplinen ohnehin nicht teilte, akzeptierte
Habermas für bestimmte Zwecke quantitative Methoden durchaus auch in den Sozialwissenschaften.
Im Grundsatz aber verteidigte er Adornos emanzipatorisches Wissenschaftsideal, womit er bei dessen
Kontrahenten Karl Raimund Popper auf offenes Unverständnis stieß. Dieser hatte immer schon darauf
beharrt, daß normative Fragen, Sollens-Fragen also, aus der wissenschaftlichen Diskussion
herauszuhalten seien; entsprechend mußte Popper die Idee einer »emanzipatorischen Wissenschaft«
fremd bleiben.
Was die Sache für viele so verwirrend machte und u. a. den destruktiven Einfluß der ganzen
Debatte bewirkte, war zum einen, daß die Gegner Adornos und Habermas’ – also u. a. Popper –
erfolgreich als Positivisten bezeichnet oder gebrandmarkt wurden, obwohl Popper alles andere als
ein Positivist, sondern derjenige war, der dem positivistischen Denkgebäude – wie in der Ersten
Vorlesung angesprochen – einen schweren Stoß versetzt hatte. Zum anderen wurde die Debatte derart
erregt geführt, als ob hier unverrückbare Positionen in einer entscheidenden, an das
Selbstverständnis der (Sozial-) Wissenschaften rührenden Frage tangiert wären. Übersehen wurde
dabei, daß der faktische Dissens in Wahrheit so groß gar nicht war, insofern sich Habermas wenige
Jahre später dem Wissenschaftsideal Poppers, wenn nicht in allen, so doch in vielen Aspekten
deutlich annäherte.
4. Erkenntnis und Interesse, ein Buch aus dem Jahre 1968, war trotz 305der darin enthaltenen
genialischen Argumentationsführung in gewisser Weise nur eine Fortführung des Positivismusstreits
und sollte sich dann auch lediglich als ein Übergangswerk erweisen, obwohl hier – dies nur nebenbei
bemerkt, aber gleichwohl wichtig für das spätere Werk von Habermas – eine umfangreiche
Diskussion des amerikanischen Pragmatismus erfolgt, also jener philosophischen Tradition, aus der
der Symbolische Interaktionismus hervorgegangen war. Habermas sucht dort eine breite
Auseinandersetzung mit dem wissenschaftstheoretischen Selbstverständnis unterschiedlichster
Disziplinen und vertritt die These, daß keine Form von Erkenntnis – auch nicht die wissenschaftliche
– als eine Reflexion im quasi-luftleeren Raum oder als ein »reines« Abbild der Welt verstanden
werden könne, sondern daß jede Erkenntnis auf tiefsitzende, nämlich anthropologische Interessen
bezogen sei – deshalb auch der Titel des Buches! Während in den Naturwissenschaften das
technische Interesse der Beherrschung der Natur sichtbar sei, würden die hermeneutischen
Wissenschaftstraditionen auf die Verbesserung der Verständigung zwischen den Menschen abzielen.
Allein die Psychoanalyse und ein materialistisch-revolutionäres Denken hätten ein emanzipatorisch-
kritisches Erkenntnisinteresse zum Hintergrund, die Befreiung von nicht-notwendiger Herrschaft und
Repression und zugleich die Interessengebundenheit jeglicher Wissenschaft und Erkenntnis auch
durchschauen. Habermas formuliert das folgendermaßen:
Der Forschungsprozeß der Naturwissenschaften ist in dem transzendentalen Rahmen instrumentalen Handelns organisiert, so daß Natur
notwendig unter dem Gesichtspunkt möglicher technischer Verfügung Erkenntnisgegenstand wird. Der Forschungsprozeß der
Geisteswissenschaften bewegt sich auf der transzendentalen Ebene kommunikativen Handelns, so daß die Explikation von
Sinnzusammenhängen notwendig unter dem Gesichtspunkt der möglichen Wahrung der Intersubjektivität der Verständigung steht. Wir
haben jene beiden transzendentalen Gesichtspunkte, weil sie die Strukturen von Arbeit und Interaktion, also Lebenszusammenhänge
widerspiegeln, als den kognitiven Ausdruck erkenntnisleitender Interessen begriffen. Zwingend ergibt sich dieser Zusammenhang von
Erkenntnis und Interesse jedoch erst aus der Selbstreflexion von Wissenschaften, die den Typus der Kritik erfüllen. (Habermas,
Erkenntnis und Interesse, S. 348)

Erkenntnis und Interesse war insofern natürlich noch eine Auseinandersetzung mit Popper, indem
dessen Wissenschaftsideal von Habermas Einseitigkeit vorgeworfen wird. Denn Poppers am
naturwis306senschaftlichen Erkenntnisprozeß ausgerichtetes Wissenschaftsverständnis blende aus,
daß die Naturwissenschaften nur eines von drei fundamentalen menschlichen Erkenntnisinteressen
repräsentierten, dem gegenüber die anderen beiden anthropologisch verankerten Interessen – wie
dasjenige an einer »Explikation von Sinnzusammenhängen« bzw. an besserer Verständigung und
dasjenige an Emanzipation und Befreiung von Gewalt – schlicht vernachlässigt würden. Habermas
beansprucht für sich (und vermutlich auch noch für die Kritische Theorie, in deren Tradition er sich
mittlerweile erfolgreich gestellt hat), ein umfassenderes Rationalitätsverständnis zu besitzen, das
zwar die technisch-instrumentelle Vernunft mit einbegreift, aber eben auch weit über diese hinausgeht.
Freilich wird sich Habermas im folgenden von einer solchen Position wieder zurückziehen,
zumindest was seine These von der Existenz eines kritisch-emanzipatorischen Erkenntnisinteresses
betrifft. Dies bedeutet, daß er kurz darauf schon seine Hoffnungen auf eine revolutionäre oder die
Revolution unterstützende Rolle von bestimmten Disziplinen (der Psychoanalyse und einer
marxismus-nahen Sozialwissenschaft) aufgegeben hat. Derart hochgesteckte Erwartungen wird er
nicht mehr hegen. Aber er wird festhalten an der Idee einer die technisch-instrumentelle
Rationalität notwendig ergänzenden anderen Form der Rationalität. Wie dies genau aussehen wird,
ist im letzten Zitat schon angedeutet. Dort ist vom Gegensatz zwischen »Arbeit und Interaktion« die
Rede, und genau mit dieser begrifflichen Dichotomie wird er den in den 1950er und 1960er Jahren
noch von ihm verwendeten Praxisbegriff verabschieden.
5. Dies wird zum ersten Mal besonders deutlich in einem Aufsatz aus dem Jahre 1967 mit dem
Titel »Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels ›Jenenser Philosophie des Geistes‹«. In diesem
Text zum frühen Hegel (1770-1831) und zu Marx versucht Habermas unter Rückgriff u. a. auf George
Herbert Meads Kommunikationstheorie und sicherlich auch auf das von Habermas allerdings nicht
zitierte Werk von Hannah Arendt (1906-1975) Vita Activa oder Vom tätigen Leben zu begründen,
warum der Bildungsprozeß der menschlichen Gattung als ein Zusammen- und auch
Gegeneinanderwirken von zwei Handlungsformen begriffen werden kann, eben von Arbeit und
Interaktion. Wie er in positiver Bezugnahme auf Hegels Einsichten ausführt: »Eine Zurückführung der
Interaktion auf Arbeit oder eine Ableitung der Arbeit aus Interaktion ist nicht mög307lich.« (»Arbeit
und Interaktion«, S. 33) Marx hingegen habe leichtfertig oder voreilig beide Handlungsformen
vermengt – mit höchst problematischen Konsequenzen für seine Theoriebildung:
(…) die genaue Analyse des ersten Teils der Deutschen Ideologie zeigt, daß Marx nicht eigentlich den Zusammenhang von Interaktion
und Arbeit expliziert, sondern unter dem unspezifischen Titel der gesellschaftlichen Praxis eins auf das andere reduziert, nämlich
kommunikatives Handeln auf instrumentales zurückführt. (…) Darum konnte auch die geniale Einsicht in den dialektischen
Zusammenhang von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen alsbald mechanistisch mißdeutet werden. (Habermas, a.a.O.,
S. 45/46)

Habermas’ Stoßrichtung in diesem Aufsatz ist hier eindeutig gegen Marx und vor allem gegen eine
Deutung des Marxismus gerichtet, die allein aus der Entwicklung der Produktivkräfte den Fortschritt
des Menschengeschlechts erhofft. Demgegenüber will er an der Nichtreduzierbarkeit jener beiden
Handlungsformen festhalten: Interaktion oder kommunikatives Handeln ist nicht mit instrumentellem
oder zweckrationalem Handeln zu verwechseln; die jeweiligen Handlungslogiken – oder wenn man
so will: die diesem Handeln zugrundeliegenden anthropologischen Interessen – seien vollkommen
unterschiedlich. Dies ist auch der Grund, warum sich Habermas – siehe nochmals das Zitat – vom
Praxisbegriff verabschieden will, bestehe doch mit diesem die Gefahr, daß die notwendige
begriffliche Differenzierung zwischen Arbeit und Interaktion verwischt oder übersehen wird.
Wenn man nun aber auf der Nichtreduzierbarkeit von Arbeit und Interaktion besteht, so hat das für
die Deutung des historischen Prozesses sofort erhebliche Konsequenzen, Konsequenzen, die den
Grundannahmen eines orthodoxen, also ökonomistisch gedeuteten Marxismus zutiefst widersprechen.
Die Entwicklung der Produktivkräfte ist allein für sich keine Garantie für gesellschaftlichen
Fortschritt. Denn:
Die Befreiung von Hunger und Mühsal konvergiert nicht notwendig mit der Befreiung von Knechtschaft und Erniedrigung, denn ein
entwicklungsautomatischer Zusammenhang zwischen Arbeit und Interaktion besteht nicht. (Habermas, a.a.O., S. 46)

Die Habermassche Unterscheidung zwischen »Arbeit« und »Interaktion« war für die Entwicklung
seines Werkes enorm folgenreich 308und wird von ihm bis heute beibehalten. Gegenüber dem
orthodoxen Marxismus, aber auch gegenüber dem den Praxisbegriff betonenden Marxismus
osteuropäischer Dissidenten war dies ein notwendiger kritischer Schritt, allerdings auch einer, der
mit gewissen theoretischen Kosten verbunden war. Denn es schloß sich daran die Frage an, wo –
nach der Habermasschen Deutung des Marxschen Arbeitsbegriffes als rein zweckrational orientiertes
Handeln – die vor allem in den Marxschen Frühschriften, gerade im Praxisbegriff aufbewahrte
Einsicht in den doch auch möglichen expressiven Charakter der Arbeit, Arbeit also als
Selbstausdruck des tätigen Menschen, geblieben sei. Die Frage war also, ob die hier mit »Arbeit«
und »Interaktion« zum Ausdruck gebrachte Handlungstypologie nicht zu vereinfachend sei.
6. Der Aufsatz »Arbeit und Interaktion« ist 1969 wiederveröffentlicht worden, und zwar in einem
Bändchen mit dem Titel Technik und Wissenschaft als »Ideologie«. Der Titelaufsatz darin ist nun
eine erste systematisch angelegte Zeitdiagnose und damit durch und durch soziologisch. Habermas
macht sich hier die schon zuvor eingeführte Unterscheidung zwischen »Arbeit« und »Interaktion«
zunutze, um auch makrosoziologische Veränderungen in modernen Gesellschaften zu analysieren. Die
Frage, die sich Habermas in jenem Aufsatz stellt, ist klar formuliert: Wie erklärt sich der
fundamentale Strukturwandel in der Selbstrechtfertigung des Kapitalismus, wie erklärt es sich, daß –
wie niemals zuvor – eine technokratische Ideologie zu der Legitimationsformel in gegenwärtigen
kapitalistischen Gesellschaften geworden sei? Zur Beantwortung dieser Frage entwickelt Habermas
einen marxistischen oder zumindest an Marxsche Gedanken angelehnten Theorierahmen, der aber
weder technologisch-deterministisch noch ökonomisch-deterministisch verfährt, der also weder den
Primat der Technologie noch den der Ökonomie im Rahmen der gesellschaftlichen Entwicklung
behauptet. Habermas bricht nämlich die Marxsche Dialektik von Produktivkräften und
Produktionsverhältnissen deshalb auf, weil er schon in »Arbeit und Interaktion« darauf verwiesen
hatte, daß im marxistischen Denken aufgrund einer undifferenzierten Begrifflichkeit diese Dialektik
mechanistisch mißverstanden wurde (siehe nochmals das erste Zitat auf S. 307). An deren Stelle rückt
nun eine andere Dialektik, nämlich diejenige zwischen den Systemen oder Subsystemen
zweckrationalen Handelns einerseits und dem über kommunikative Prozesse gesteuerten
institutionellen Rahmen einer 309Gesellschaft bzw. der Lebenswelt (zur genaueren Erläuterung dieses
Ihnen schon bei der Analyse der Ethnomethodologie vorgestellten Begriffs kommen wir noch in der
nächsten Vorlesung) andererseits; die Dichotomie der Handlungsbegriffe wiederholt sich also als
Dichotomie zwischen zwei gesellschaftlichen Sphären; Arbeit bzw. zweckrationales Handeln ist das
in Subsystemen vorherrschende Handlungsmodell, aus Interaktionen bzw. kommunikativen Akten baut
sich die Lebenswelt auf.
So möchte ich auf analytischer Ebene allgemein unterscheiden zwischen 1. dem institutionellen Rahmen einer Gesellschaft oder der
soziokulturellen Lebenswelt und 2. den Sub-Systemen zweckrationalen Handelns, die darin ›eingebettet‹ sind. Soweit Handlungen durch
den institutionellen Rahmen determiniert sind, werden sie durch sanktionierte und wechselseitig verschränkte Verhaltenserwartungen
zugleich dirigiert und erzwungen. Soweit sie durch Sub-Systeme zweckrationalen Handelns bestimmt sind, folgen sie Mustern
instrumentalen oder strategischen Handelns. (Habermas, Technik und Wissenschaft als »Ideologie«, S. 65)

Mit diesem teils aus der Phänomenologie, teils aus dem Systemfunktionalismus entliehenen
begrifflichen Instrumentarium wird also die Zeitdiagnose vorangetrieben, die dann folgendermaßen
aussieht: Habermas verweist auf den mittlerweile in allen westlichen Gesellschaften vollzogenen
Umbau staatlicher Strukturen, den Wandel vom klassischen Nachtwächterstaat, der sich auf die
Gewährung von Ordnung und Sicherheit beschränkte, hin zum modernen Interventions- und
Wohlfahrtsstaat. Damit aber kann laut Habermas der Staat nicht mehr – wie Marxisten glauben – als
reines Überbauphänomen behandelt werden: Die Kritik der Gesellschaft kann nicht mehr bloß eine
Kritik der politischen Ökonomie sein, eben weil der Staat nicht mehr nur in den Verteilungs-, sondern
inzwischen sogar unmittelbar in den Produktionsprozeß eingreift – etwa über die Forschungs- und
Technologiepolitik. Erst recht hat aber natürlich auch die klassische politische Ökonomie selbst ihre
Relevanz verloren, denn die zumindest in der Phase des Laissez-faire-Liberalismus mögliche, wenn
auch da schon wenig glaubwürdige These vom gerechten Tausch zwischen den Marktteilnehmern
(siehe dazu die Anmerkungen von Parsons in der Zweiten Vorlesung, S. 53f.) ist nun endgültig
untergraben worden, weil sowohl der Tausch wie auch die Produktion durch diesen Staat politisch
gesteu310ert werden: Von einer naturwüchsigen Marktgerechtigkeit zu sprechen sei deshalb heute
geradezu absurd geworden.
Was aber tritt in kapitalistischen Gesellschaften an die Stelle jener Basisideologie des gerechten
Tausches? Habermas behauptet, daß es der Wohlfahrtsstaat sei, der Massenloyalität sichert.
Gleichzeitig würde aber dadurch die Politik einen rein negativen, jedenfalls nicht mehr
gestalterischen Anstrich erhalten: Denn wohlfahrtsstaatliche Politik sei nur mehr auf die Beseitigung
von Dysfunktionen ausgerichtet. Hier gehe es nur mehr um die Lösung technisch-monetärer Probleme,
so daß eigentlich praktische Gehalte der Politik, etwa neue Ideen zu einer vernünftigen Gestaltung
gesellschaftlicher Verhältnisse, vollkommen ausgeblendet würden. Die Frage nach dem »guten
Leben« etwa, die Zentralfrage der klassischen politischen Philosophie, und vor allem eine öffentliche
Diskussion darüber spielten in einer solchen politischen Landschaft überhaupt keine Rolle mehr.
Politisch-praktische Fragen seien zu technologischen geworden – ein Standpunkt, den Habermas ja
schon in Theorie und Praxis (vgl. S. 303) eingenommen hatte; politische Fragen drehten sich nur
mehr um Ziele innerhalb bestehender sozialer Strukturen. Es ergebe sich somit eine Entpolitisierung
der Bevölkerung, die letztlich für das Funktionieren des wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus
konstitutiv sei, der ja gerade darauf basiere, daß die Bevölkerung das passive Objekt wohlmeinender
Maßnahmen von Experten zu sein hat.
Dies bedeutet insgesamt, daß im öffentlichen Bewußtsein durch die riesige Entfaltung des
Potentials der Produktivkräfte und durch den mittels sozialstaatlicher Interventionen tatsächlich
erreichten Wohlstand der Mehrheit der Bevölkerung die laut Habermas fundamentale Unterscheidung
zwischen »Arbeit« und »Interaktion« wegzufallen drohe, so wie sie bereits im Marxschen Werk
verwischt worden war: Denn im Bewußtsein der Menschen heute scheint die Entwicklung der
Gesellschaft vollkommen durch den technischen und eben nur den technischen Fortschritt
determiniert zu sein. Mit anderen Worten: Gerechtigkeitsfragen, Fragen nach einer vernünftigen und
vor allem lebenswerten Gesellschaft werden zugunsten von behaupteten Sachzwängen weggeschoben.
Habermas sieht hier eine Gefahr, die er in seinen späteren Werken noch genauer explizieren wird,
nämlich daß der institutionelle Rahmen der Gesellschaft, die Lebenswelt, durch die Subsysteme
zweckrationalen Handelns vollkommen an den Rand gedrängt werde, daß also
311die Struktur des einen der beiden Handlungstypen, nämlich der Funktionskreis zweckrationalen Handelns, nicht nur gegenüber dem
institutionellen Zusammenhang ein Übergewicht erhält, sondern kommunikatives Handeln nach und nach als solches absorbiert.
(Habermas, a.a.O., S. 82)

Tatsächlich beschrieb Habermas hiermit ganz gut den in der Politik wie auch bei weiten Teilen der
Bevölkerung verbreiteten »technokratischen Geist« der 1960er und 1970er Jahre, als der Glaube an
die Mach- und Gestaltbarkeit sozialer Verhältnisse im Rahmen des bestehenden sozialen Gefüges
grenzenlos zu sein schien, als die Lösung von Sachproblemen mit Politik quasi gleichgesetzt und dies
auch noch gefeiert wurde. John F. Kennedys Regierungsmannschaft mit der zahlenmäßigen Dominanz
der brillanten Experten (»the best and the brightest«) strahlte dies ebenso aus wie noch die
bundesdeutschen Kabinette unter dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt in den 1970er
Jahren, insofern man nur allzu schnell bereit war, Widerstände gegen hier entwickelte Maßnahmen auf
fehlende Sachkenntnis und Unverstand zurückzuführen.
Neben der offensichtlichen Kritik am westlichen Kapitalismus enthalten diese Aussagen aber
gleichzeitig wiederum eine marxkritische Pointe, spricht Habermas doch auch von einer notwendigen
Reformulierung des »kategorialen Rahmen(s) (…) [der] Grundannahmen des Historischen
Materialismus« (a.a.O., S. 92). Denn für Habermas ist klar, daß der Klassenkampf als Marxsche
Schlüsselkategorie keine zentrale Stellung in heutigen gesellschaftstheoretischen Analysen mehr
beanspruchen kann, eben weil der Wohlfahrtsstaat diesen Klassenkampf stillgestellt oder befriedet hat
und Klassengegensätze dadurch allenfalls noch latent vorhanden sind. Zudem sei die
Fundamentalunterscheidung zwischen »Arbeit« und »Interaktion« geeigneter als die Marxsche
Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, um die in den westlichen
Gesellschaften drohenden Gefahren einer Verwischung zwischen technischen und politisch-
praktischen Fragen angemessen zu analysieren. Um der Versuchung einer Reduktion von »Arbeit« auf
»Interaktion« und umgekehrt entgegenzuwirken, betont Habermas nochmals, daß zwischen der
Rationalisierung der Subsysteme zweckrationalen Handelns und der Rationalisierung der Ebene der
Interaktion streng unterschieden werden müsse: Eine Rationalisierung des auf Kommunikation
angewiesenen Institutionengefüges bemißt sich eben 312nicht an der zunehmenden Beherrschung der
Natur, sondern danach, ob und wieweit es Gesellschaften gelingt, eine freie Verständigung zwischen
den Gesellschaftsmitgliedern zu ermöglichen und damit die vorhandene Repressivität und Starrheit
sozialer Verhältnisse abzubauen. Das der Sprache innewohnende Vernunftpotential soll also laut
Habermas genutzt werden, um den institutionellen Umbau von Gesellschaften im Hinblick auf eine
rationalere Gestaltung sozialer Strukturen voranzutreiben. Seine Zentralidee bezüglich der Funktionen
und Aufgaben der Sprache kommt somit auch hier wieder sehr schön zum Ausdruck.
Habermas’ Aufsatz war gegen Ende der 1960er Jahre sicherlich eine kraftvolle Zeitdiagnose; doch
gleichzeitig ist unverkennbar, daß sich an sie im Rückblick mindestens zwei kritische Fragen stellen
lassen.
A. Warum verlor die technokratische Ideologie schon bald darauf, nämlich Mitte, aber spätestens
Ende der 1970er Jahre, vollständig an Bedeutung, ja brach geradezu zusammen? Natürlich darf man
von Habermas keine prophetischen Fähigkeiten erwarten; andererseits muß man sich schon fragen,
wie tiefsitzend, zentral oder notwendig diese technokratische Ideologie für den westlichen
Kapitalismus der 1960er Jahre wirklich war, wenn sie schon ein Jahrzehnt später kaum mehr Einfluß
hatte. Denn zum einen wurde der technokratische Konsens relativ bald durch die Anfang der 1970er
Jahre massiv entstehende Umwelt- und Anti-Atomkraft-Bewegung aufgekündigt, als sich gerade unter
den jüngeren und oft akademisch gebildeten Bürgern der westlichen Gesellschaften eine zunehmende
Skepsis gegenüber dem Machbarkeitswahn der etablierten Politik und Wissenschaft, ja sogar
gegenüber dem Wirtschaftswachstum als solchem breitmachte. Zum anderen wurde dieser
technokratische Konsens aber auch von einer ganz anderen Seite aufgebrochen, insofern es vor allem
in Großbritannien unter Margaret Thatcher und in den USA unter Ronald Reagan zu einer massiven
Rückkehr alter Legitimationsmuster des Kapitalismus kam: Der Wohlfahrtsstaat schien auch in den
Augen vieler englischer und amerikanischer Wähler offensichtlich nicht mehr die Lösung, sondern das
Problem zu sein, und die Idee des Marktes und des dort herrschenden, vermeintlich gerechten
Tausches schien in ungeahnter Weise ihre Überzeugungs- und Durchschlagskraft zurückzugewinnen:
Der Rückzug des Staates aus der Wirtschafts- und Sozialpolitik schien 313deshalb nur folgerichtig zu
sein. Auch dieser Trend ließ sich aus der Habermasschen Zeitdiagnose nicht erahnen oder gar
herauslesen.
B. Der zweite Einwand ist eher abstrakt-theoretischer denn politisch-diagnostischer Natur.
Habermas läßt sich nämlich dahingehend kritisch befragen, ob seine Rede von den »Subsystemen
zweckrationalen Handelns« nicht zu vieles vereinfacht. Denn tatsächlich ist die mit dem
Systembegriff suggerierte Idee einer »Ausschließlichkeit« zweckrationaler Handlungsformen, einer
wirklich durchdringenden und nur auf Zweckrationalität aufsitzenden Logik bestimmter
gesellschaftlicher Bereiche, kaum real vorstellbar. Schon Parsons hatte ja – wie wir aus der Dritten
Vorlesung wissen – darauf hingewiesen, daß Märkte auf Normen aufsitzen, und insofern erscheint es
höchst problematisch, wenn Habermas so tut, als ob etwa das Subsystem der Wirtschaft in seiner
Gesamtheit von zweckrationalen Handlungsformen geprägt sei. Jede beliebige betriebssoziologische
Studie zeigt ja, daß in Unternehmen eine Vielzahl von Handlungen vorliegen, daß
Aushandlungsprozesse (negotiations!) stattfinden, Normen, Gewohnheiten, irrationale Privilegien etc.
eine enorme Rolle spielen. All dies wird von der Habermasschen Begriffsstrategie nicht eingefangen.
– Allerdings zeigt sich Habermas diesbezüglich auch sehr schnell lernfähig. Er wird alsbald deutlich
zwischen Typen des Handelns und Typen von Handlungssystemen unterscheiden, womit er zugesteht,
daß gesellschaftliche Subsysteme nicht durch einen einzigen Handlungstypus charakterisierbar sind.
In der späteren Theorie des kommunikativen Handelns wird dies von ihm deutlich anders konzipiert
werden.

Damit haben wir nun die Entwicklung des Habermasschen Werkes bis zum Ende der 1960er Jahre
nachgezeichnet, jene durch ungeheure Produktivität gekennzeichnete Geniephase. Die Frage wird nun
sein, wohin sich das Habermassche Œuvre in den 1970er und 1980er Jahren bewegen und wie es ihm
gelingen wird, jenen schon des öfteren angedeuteten ersten großen Syntheseversuch nach der Theorie
Talcott Parsons’ zu entwickeln. Denn noch bis Ende der 1960er Jahre war der Einfluß von Habermas
letztendlich auf die Soziologie begrenzt: Man hätte ihm nicht unrecht getan, wenn man ihn zu dieser
Zeit als einen westlichen Marxisten, wenn auch als einen höchst innovativen westlichen Marxisten
klassifiziert hätte, der sich von anderen neo-marxistischen Autoren in erster Linie durch 314die
Emphase, mit der er die Eigenstruktur menschlicher Intersubjektivität für seine Argumente in
Anspruch nahm, unterschied. Für die Theoriebedürfnisse derjenigen, die mit guten Gründen den
marxistischen Traditionen insgesamt mißtrauten oder von ihnen nicht allzuviel erwarteten, war dies
allerdings zuwenig. Die Vorstellung, die Komplexität und Vieldimensionalität des Parsonsschen
Werkes, aber auch die Lebendigkeit der Diskussion zwischen Konflikttheoretikern, Symbolischen
Interaktionisten, Ethnomethodologen und Rational-Choice-Vertretern mit Hilfe eines marxistischen,
wenn auch modifiziert-marxistischen Ansatzes überwinden zu können, schien nicht gerade plausibel
zu sein. Wohin ging also Habermas’ weitere theoretische Reise, was setzte ihn instand, zu jener
einflußreichen Theoriesynthese vorzustoßen?
315Zehnte Vorlesung
Habermas’ ›Theorie des kommunikativen Handelns‹

Der entscheidende Einschnitt auf Habermas’ Weg liegt Anfang der 1970er Jahre. Habermas bricht nun
endgültig und unmißverständlich mit wesentlichen Teilen des Hegel-Marxschen Erbes und führt in
diesem Zusammenhang auch die Auseinandersetzung mit den Utopien der Studentenbewegung. In der
Folge dieses Abnabelungsprozesses von einer Tradition, die er vorher nur kritisch fortzuführen
schien, wird er eine Reihe von neuen Theorieelementen in sein Gedankengebäude einführen, die es
ihm ermöglichen, zu seiner eigenen Theoriesynthese vorzustoßen.
Habermas verabschiedet sich zum einen von der Idee, daß die Geschichte als ein Prozeß der
Bildung der Menschengattung insgesamt zu verstehen sei. Bei Marx wurde ja die Menschheit in
hegelianischer Manier quasi als ein Makro-Subjekt begriffen, das nach langen Phasen der
Entfremdung im nachkapitalistischen Zeitalter endlich zu sich selbst kommen werde. Dieses eine
Subjekt der Menschheit – so Habermas mit allem Nachdruck – existiert nicht; die Vorstellung,
wonach die späteren Generationen in ihrer Gesamtheit immer schon auf den Schultern der
vorhergehenden stehen können und eine dementsprechend bruchlose Weiterentwicklung der
Menschheit zu erwarten sei, ist eine durch nichts gerechtfertigte Idealisierung. Es ist schlicht nicht so,
daß das Wissen der Vorfahren einfach an alle Nachfahren übergeben wird, daß die Nachgeborenen
lediglich auf dem aufzubauen bräuchten, was die Altvorderen wußten und fest und unverrückbar
etabliert haben. Vielmehr muß man davon ausgehen, daß es zunächst einmal nur Individuen sind, die
lernen, und eben auch Individuen, welche (im Kontext etwa der Familie) die Erfahrungen der
Vorfahren übernehmen oder vielleicht auch zurückweisen: die Menschen haben also immer einen
neuen Anfang zu machen, sie kommen »unwissend« auf die Welt und haben sich ein je eigenes Wissen
erst anzueignen.
Dies alles hört sich vielleicht relativ unspektakulär oder sogar trivial an, aber dieser Schritt von
Habermas ist insofern von großer Bedeutung, als damit auch die bei marxistischen Denkern nicht
selten vorhandene Vorstellung zurückgewiesen wird, wonach das Wohl der späteren Generationen die
Leiden und Entbehrungen der frühe316ren Generationen der Menschheit quasi rechtfertige, also etwa
die Leiden der gegenwärtigen Generationen im Hinblick auf die zu erwartenden besseren
Lebensverhältnisse zukünftiger Generationen in Kauf genommen werden können – ein gerade für die
politische Praxis höchst gefährlicher Gedanke, der in der Geschichte der Moderne immer wieder zu
verbrecherischen Konsequenzen geführt hat. Die Menschheit – so die Habermassche Einsicht – ist
eben kein singuläres Subjekt, in dessen Bildungsprozeß die Leiden und Freuden der einzelnen
Entwicklungsperioden, Gesellschaften oder individuellen Menschen einfach gegeneinander
abgewogen werden könnten. Sozialer Wandel – so seine Schlußfolgerung – ist ohne Rückgriff auf
diesen Zentralgedanken der hegelianisch-marxistischen Geschichtsphilosophie zu fassen. Anstatt
unmittelbar nach den vermeintlichen Lernprozessen der Gattung zu suchen, beginnt Habermas sich
deshalb mit den wirklichen Lernprozessen von Individuen auseinanderzusetzen, beginnt er zu
untersuchen, wie und in welchen Dimensionen des Handelns Individuen lernen, denn Lernprozesse
setzen am je konkreten Individuum an. Dies schließt selbstverständlich nicht aus, daß es auch zu
kollektiven Lernprozessen kommen kann, daß Gruppen oder sogar ganze Gesellschaften lernen
können, aber dieses Lernen ist nur situationsbedingt als eine erfolgreiche Kombination von
individuellen Lernprozessen zu begreifen und darf nicht als ein automatisches Ergebnis des
Bildungsprozesses der Menschheit unterstellt werden.
Mit diesen Gedanken erhalten nun für Habermas Autoren eine zentrale Bedeutung, die sich mit
derartigen individuellen Lernprozessen auseinandergesetzt haben, Autoren aus dem Feld der
Entwicklungspsychologie. Vor allem der Schweizer Psychologe Jean Piaget (1896-1980) und der
amerikanische Sozialpsychologe Lawrence Kohlberg (1927-1987), die sich beide in höchst
innovativer Weise in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren mit kognitiven, aber vor allem auch mit
moralischen Lernprozessen bei Kindern und Heranwachsenden beschäftigt haben, werden für
Habermas zu den Referenzautoren schlechthin, als er sich daran macht zu fragen, wie sich die
Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie gegebenenfalls mit einer Evolutionstheorie verbinden
lassen. Können Stufen der kognitiven und moralischen Entwicklung von Individuen in irgendeiner
Weise mit Entwicklungsstufen der Menschheit parallelisiert werden? Wie verhält sich die
»Ontogenese«, die Entwicklung des 317Einzelwesens, zur »Phylogenese«, zur Stammes- und
Gattungsgeschichte, und wie hat man sich dann diesen Parallelismus – falls es ihn denn geben sollte –
genau vorzustellen? Dies ist die im folgenden Zitat nur benannte, nicht beantwortete Frage, mit der
sich Habermas in den 1970er Jahren in erster Linie beschäftigt, für die er aber – und dies ist ihm
schon relativ frühzeitig klar – auch keine vollends befriedigende Lösung vorlegen können wird.
Die identitätssichernden und sozialintegrativ wirksamen Bestandteile der Weltbilder, also die Moralsysteme und die zugehörigen
Interpretationen, folgen mit zunehmender Komplexität einem Muster, das auf ontogenetischer Ebene in der Logik der Entwicklung des
moralischen Bewußtseins eine Parallele hat. (Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 24)

Denn Habermas wird wie alle theoretisch versierten und dementsprechend vorsichtigen
Evolutionstheoretiker nur davon sprechen können, daß sich – in einer gewissen, aber eben auch nicht
näher zu klärenden Parallelität zur kognitiven und moralischen Entwicklung von Individuen – auch
eine Logik der Abfolge der Entwicklungsstufen der Menschheit ausmachen läßt. Über die
Mechanismen, also die kausalen Ursachen, die zu jeweils neuen Stufen geführt haben, läßt sich
jedoch kaum etwas sagen. Habermas unterscheidet also zwischen der Entwicklungslogik des
historischen Prozesses und dem historischen Prozeß selbst. Der Evolutions- und Sozialtheoretiker
kann nur im nachhinein die Logik der Entwicklungsgeschichte rekonstruieren; über die je konkreten
historischen Prozesse hingegen lassen sich in diesem Rahmen keine genauen Angaben machen. Die
Evolutionstheorie verfährt rekonstruktiv, nicht kausal-analytisch!
Die Evolutionstheorie bezieht sich weder auf das Ganze der Geschichte noch auf einzelne geschichtliche Vorgänge, soweit diese als
historische, nämlich erzählbare Ereignisfolgen vorgestellt werden. Vielmehr tritt das historische Material unter Bestimmungen der
sozialen Evolution. Diese ist kein Makroprozeß, der sich an einem Gattungssubjekt vollzieht. Träger der Evolution sind die Gesellschaft
und die ihr integrierten Handlungssubjekte zumal. Ablesen läßt sich die Evolution an einem rational nachzukonstruierenden Muster einer
Hierarchie von immer umfassenderen Strukturen. Wenn wir diese Strukturen von den Vorgängen trennen, mit denen die empirischen
Substrate sich verändern, brauchen wir zudem weder Einsinnigkeit noch Kontinuität, noch Notwendigkeit oder Irreversibilität des
Geschichtsverlaufs zu unterstellen. (Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, S. 248)
318Für Historiker und für alle diejenigen, die an detaillierten Prozeßanalysen interessiert sind, ist
dies natürlich ungenügend oder unbefriedigend. Aber immerhin: An die Stelle des spekulativen
hegelianischen Marxismus und dessen hochproblematischer Theorie sozialen Wandels ist eine auf
entwicklungspsychologischen Einsichten basierende Evolutionstheorie getreten, die – dies betont ja
Habermas im Zitat – zudem nicht evolutionistisch ist (vgl. unsere Bemerkungen zum Unterschied
zwischen »evolutionstheoretisch« und »evolutionistisch« in der Vierten Vorlesung, S. 132). Diese
Evolutionstheorie erhält im Habermasschen Werk jedenfalls eine zentrale strategische Bedeutung. Die
inhaltliche Stoßrichtung der Habermasschen Argumentation – unabhängig von der soeben
angeschnittenen und wohl auch nicht zu lösenden Frage, welche konkreten Mechanismen zu jener
angenommenen Parallelität zwischen Phylogenese und Ontogenese führen – wird auf die These
hinauslaufen, daß es im Bereich der Produktion bzw. im Bereich der Weltbilder kognitive bzw.
moralische Lernprozesse gegeben hat, die voneinander – entsprechend der
Fundamentalunterscheidung zwischen »Arbeit« und »Interaktion« – relativ unabhängig gewesen sind.
Das heißt: Wiederum argumentiert Habermas gegen Marx, daß eine Steigerung der Produktivkräfte
nicht automatisch auch einen moralischen Fortschritt im Hinblick auf eine vernünftigere Gestaltung
der gesellschaftlichen Verhältnisse mit sich bringt. Es ist von der Eigenlogik des moralischen
Handelns auszugehen, die den Gedanken an einen Primat der Ökonomie bei der Erklärung sozialen
Wandels verbietet. Habermas formuliert dies unter Verwendung Marxscher Begrifflichkeit – aber
gegen Marx gerichtet! – folgendermaßen:
Wir können also die Produktivkraftentfaltung als problemerzeugenden Mechanismus verstehen, der die Umwälzung der
Produktionsverhältnisse und eine evolutionäre Erneuerung der Produktionsweise zwar auslöst, aber nicht herbeiführt. (Habermas,
a.a.O., S. 161)

Zum anderen – dies ist der zweite Schritt bei der Verabschiedung des Hegel-Marxschen Erbes, der
allerdings in gewisser Weise mit dem ersten Punkt zusammenhängt – verzichtet Habermas auf jegliche
Rede von idealisierten Übersubjekten. Hier war der Gegner, gegen den sich die Argumentation
richtete, ganz klar der ungarische marxistische Theoretiker Georg Lukács (1885-1971) und dessen
Buch Geschichte und Klassenbewußtsein aus dem Jahre 1923, ein gerade auch in 319der
Studentenbewegung enorm einflußreiches Werk. Geschichte und Klassenbewußtsein war einer der
zentralen Bezugstexte linker Kulturkritik bis hinein in die 1970er Jahre, weil Lukács dort in einem
Kapitel zum »Phänomen der Verdinglichung« eindrucksvoll und suggestiv die kulturell-destruktiven
Wirkungen der kapitalistischen Warenform plausibilisierte. Höchst problematisch war freilich, daß
Lukács seine Hoffnungen auf ein Ende dieses verdinglichenden und verdinglichten Zustandes
vollkommen mit der kommunistisch-leninistischen Partei verband, die er als die Verkörperung eines
objektiven proletarischen Klassenbewußtseins begriff, welche allein den Ausweg aus den
»Antinomien des bürgerlichen Denkens« und der bürgerlichen Gesellschaft weisen kann:
Das bewußte Wollen des Reiches der Freiheit kann also nur das bewußte Tun jener Schritte bedeuten, die diesem tatsächlich
entgegenführen. (…) Es bedeutet das bewußt Sich-unterordnen jenem Gesamtwillen, der die wirkliche Freiheit wirklich ins Leben zu
rufen bestimmt ist, der heute die ersten, schweren, unsicheren und tastenden Schritte ihr gegenüber zu tun ernsthaft unternimmt. Dieser
bewußte Gesamtwille ist die kommunistische Partei. (Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, S. 480)
Das Erschreckende an dieser Denkfigur von Lukács war nicht allein, daß er sich anmaßte, das
empirische Klassenbewußtsein letztlich für null und nichtig zu erklären und ihm – weil er als
marxistischer Philosoph den Verlauf des Geschichtsprozesses offensichtlich schon immer kennt – ein
»objektiv richtiges Klassenbewußtsein« entgegenzustellen; erschreckend war auch, daß Lukács, ohne
zu zögern, dieses wahre Klassenbewußtsein und damit den Fortschritt der Menschheit mit einer
bestimmten politischen Partei identifizierte, noch dazu mit einer, deren Legitimität alles andere als
demokratisch war, eben mit der leninistischen Kaderpartei.
Habermas nun wendet sich in scharfer Form gegen jegliches, auch nur im Ansatz hieran erinnerndes
Denken, was unter den Zeitumständen insbesondere einen Kampf gegen Teile der Studentenbewegung
der späten 1960er und frühen 1970er Jahre darstellte, in denen der Leninismus überraschenderweise
Hochkonjunktur hatte und oft ein Häuflein von obskuren Figuren in aus heutiger Sicht lächerlicher,
damals aber an manchen Universitäten dominanter Weise für sich das Wissen über die
Bewegungsgesetze der Menschheitsgeschichte und die daraus folgenden (revolutionären)
Handlungsstra320tegien reklamierte. Schon in Theorie und Praxis und seinem dortigen
»Literaturbericht« zum Marxismus hatte Habermas davon gesprochen, daß die Analyse historischer
Prozesse nicht deduktiv aus einem »dialektischen Schema« abgeleitet, sondern in empirischen
Analysen ergründet werden müsse und daß dies auch für die Unterstellung der Handlungsfähigkeit
von Gruppen und Klassen gelte (siehe Neunte Vorlesung, S. 291). Das Erschrecken über die
Auswüchse der Studentenbewegung führte nun aber dazu, daß Habermas schärfer als je zuvor die
Rede von idealisierten Über-Subjekten für falsch und verwerflich erklärte. Er sah im übrigen eine
ähnliche Tendenz in der rechtshegelianischen Rede von der Verwirklichung der Nation als eines
»Auftrags der Geschichte« am Werk. Gegen die Gefahren eines linken und rechten Totalitarismus ist
seine Destruktion der Idee von Über-Subjekten also politisch gerichtet.
Mit enormer Skepsis wird Habermas von nun an sogar jeden Versuch zur systematisch-
theoretischen Fassung kollektiver Akteure beobachten – selbst in den Fällen, in denen ein solcher
empirisch gut begründet werden könnte. Für ihn verbirgt sich hinter jedem »kollektiven Akteur« das
geschichtsphilosophisch idealisierte »Über-Subjekt«. Ja, Habermas geht sogar noch weiter: Er macht
sich auf theoretischer Ebene eine Konstruktion zu eigen, die schon den Gedanken solcher Über-
Subjekte quasi unmöglich macht. Gemeint ist hier der funktionalistische Systembegriff. Habermas
hatte sich – wie vielleicht schon an einigen in der letzten Vorlesung präsentierten Zitaten ersichtlich
wurde – bereits Ende der 1960er Jahre über die Rezeption des Luhmannschen Werkes (siehe nächste
Vorlesung) den Parsonsschen Systembegriff angeeignet. Es scheint ihm – durch die Luhmannschen und
Parsonsschen Analysen belehrt – unzweifelhaft zu sein, daß jede Theorie des Handelns an gewisse
Leistungsgrenzen stoßen muß. Der dahinterstehende Gedanke ist folgender: Wie Luhmann 1968 etwa
in seinem Buch Zweckbegriff und Systemrationalität zu zeigen versucht hat (und wie wir in der
nächsten Vorlesung ausführlicher darlegen werden), sind Organisationen, Institutionen usw. nicht
einfach durch vorgegebene, rationale Zwecke zu steuern. Anders formuliert: Die Handlungsziele und
Zwecksetzungen von Akteuren, auch diejenigen von Akteuren der Leitungsebene in einer
Organisation, sind mit der konkreten Funktionsweise einer Organisation oft kaum in Einklang zu
bringen: zu diffus, zu vielfältig, zu stark sich überschneidend sind die Ziel- und Zwecksetzungen
321der vielen an einer Organisation beteiligten Akteure, als daß sich ein klarer und eindeutiger
Organisationszweck herausschälen ließe. Organisationen verfahren vielmehr nach ihrer eigenen
funktionalen Logik – unabhängig von den Handlungszwecken der Individuen. Für Habermas ist diese
Einsicht nun die Bestätigung dafür, daß sich jede größere Ansammlung von Menschen, jede
Aggregation einer großen Zahl von Personen, auf ebendiese Weise vollzieht, daß sich also aus den
konkreten Handlungsvorstellungen von Menschen gerade nicht die Funktionsweise und
Operationslogik des kollektiven Gebildes ableiten läßt. Hier wird nun laut Habermas der
Systembegriff notwendig. Das Argument der Funktionalisten, wonach der Handlungsbegriff zur
Analyse sozialer Prozesse allein nicht ausreiche, sei zu akzeptieren.
Dieses rein theoretische Argument wird nun aber von Habermas auch für politische Zwecke
genutzt, schließt er doch damit ebenfalls aus, daß sich Systeme oder Kollektive wie Subjekte
verhalten. Dies wird ganz deutlich, wenn er schreibt: »Systeme werden nicht als Subjekte vorgestellt
(…).« (Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 12) Die Rede von dem Proletariat oder der
Nation und ihren jeweiligen Missionen sei deshalb unsinnig, weil sich die mit diesen Begriffen
bezeichneten Handlungsverflechtungen nicht zu einer Ganzheit aufaddieren, die sinnvoll mit einem
wie auch immer gearteten Subjektbegriff gefaßt werden könnte. Insofern läßt sich die Einführung des
Systembegriffs im Habermasschen Werk auch als ein Abwehrversuch gegenüber totalitären
Versuchungen jeglicher Couleur deuten.
So anerkennenswert dieses politische Motiv auch sein mag, so sehr also Habermas recht hat, gegen
alle leninistischen und nationalistischen Versuchungen entschieden Position zu beziehen und in diesem
Zusammenhang vor der Verwendung von idealisierten Kollektivsubjekten zu warnen, so ist
andererseits aber doch auch kaum zu bestreiten, daß Kollektive und kollektive Akteure tatsächlich
existieren. Man kann sich deshalb fragen, ob Habermas’ entschiedenes Zusteuern auf den
funktionalistischen Systembegriff nicht etwas vorschnell war, weil er in seiner Theorie die
Konstitution kollektiver Akteure gar nicht mehr ins Auge faßt bzw. fassen kann: Die Rede von
kollektiven Akteuren hat ja nicht automatisch eine Art geschichtsphilosophischer Idealisierung zum
Hintergrund, sondern es ist jeweils empirisch zu überprüfen, ob und bis zu welchem Grad bei
322bestimmten Phänomenen von kollektiven Handlungsformen gesprochen werden kann. Habermas
geht aber aufgrund jenes Erschreckens vor den oft absurden Konsequenzen der Studentenrevolte den
Weg, sich in ähnlicher Weise wie Parsons soziale Ordnung im großen nur als funktionalistische – nur
als systemisch konstituierte – vorstellen zu wollen und zu können. Soziale Ordnung als das immer
wieder brüchige und nur zeitweise geordnete »Zusammenspiel« unterschiedlicher kollektiver und
individueller Akteure zu denken erscheint ihm kein gangbarer Weg zu sein, die Flucht in den
Funktionalismus allemal besser als die interaktionistische Einsicht in die Fluidität sozialer
Ordnungen (s. Sechste Vorlesung).
Damit ist der schwierige Weg einer Verknüpfung von Funktionalismus und Hermeneutik, von
System- und Handlungstheorie, politisch wie theoretisch vorgezeichnet; diesen Weg erprobt
Habermas in den 1970er Jahren, die man als eine Periode des Suchens begreifen könnte. Zunächst
legt Habermas Zwischenergebnisse vor, die von zeitdiagnostischen Arbeiten (Legitimationsprobleme
im Spätkapitalismus aus dem Jahre 1973) bis hin zu rein theoretischen Analysen reichen (Zur
Rekonstruktion des Historischen Materialismus von 1976, in dem er – wie schon angedeutet – den
Marxismus mit evolutionstheoretischen Mitteln zu reformulieren versucht). Viel wichtiger aber ist die
acht Jahre währende Arbeit an seinem magnum opus, der Theorie kommunikativen Handelns aus dem
Jahre 1981, mit der wir uns nun im größten Teil dieser Vorlesung beschäftigen wollen.

Die Theorie des kommunikativen Handelns, ein zweibändiges, über 1100 Seiten umfassendes Werk,
läßt sich in systematischer Hinsicht in vier Themenkomplexe zergliedern. Man kann behaupten, daß es
1. eine Theorie der Rationalität, 2. eine Theorie des Handelns, 3. eine Theorie sozialer Ordnung und
4. eine Zeitdiagnose enthält. Habermas zufolge hängen alle vier Bereiche unauflöslich und zwingend
zusammen, was sich allerdings durchaus bestreiten läßt. Aber dazu später. Zunächst ist darauf zu
verweisen, welche enormen Ambitionen Habermas hegt, wenn er darangeht, ein derart weitgestecktes
und umfassendes Themenfeld zu bearbeiten. Damit erhebt er nämlich auch den synthetischen
Anspruch, die in unterschiedliche Theorierichtungen zerfallende Soziologie durch die Aufnahme der
Ansprüche und Anliegen dieser je einzelnen Theorien zu einen. Nicht zufällig ist deshalb die Theorie
des kommunikativen Handelns eindeu323tig nach dem Vorbild von Talcott Parsons’ Structure of
Social Action konstruiert, was etwa in der philosophischen Rezeption des Habermasschen Werkes
zumeist völlig übersehen wird. Wie in Structure wechseln sich auch in Habermas’ Hauptwerk
systematisch-theoretische Teile mit interpretatorischen Kapiteln zu einzelnen Autoren ab, und wie
Parsons beschäftigt sich auch Habermas ausführlich mit Max Weber und Emile Durkheim. Im
Unterschied zu Parsons diskutiert Habermas freilich nicht mehr die stärker ökonomisch orientierten
Autoren wie Alfred Marshall oder Vilfredo Pareto; vielmehr setzt er sich mit anderen Figuren der
Sozialwissenschaften auseinander, bezeichnenderweise mit jenem von Parsons vernachlässigten
George Herbert Mead, mit den Zentralfiguren der Kritischen Theorie, also mit Max Horkheimer und
Theodor W. Adorno, und mit Parsons selbst! Der kurz zuvor verstorbene Talcott Parsons, der – wie in
der Zweiten Vorlesung angemerkt – so viel für die Etablierung eines Kanons klassischer
soziologischer Autoren getan hat, wird also damit selbst in den Rang eines Klassikers erhoben.
Während sich der erste Band der Theorie des kommunikativen Handelns mit Weber und der
Kritischen Theorie beschäftigt, untersucht der zweite das Werk von Mead, Durkheim und Parsons.
Dies ist nicht zufällig so und hat auch nichts mit einer etwaigen Chronologie der Lebensdaten oder
der Werke der Autoren zu tun. Vielmehr steht hinter dieser Anordnung eine klare, wenn auch nicht
unumstrittene These, nämlich die Behauptung, daß sich innerhalb der Soziologie ein
Paradigmenwandel abzeichne, für den Habermas mit seinem Werk energisch eintritt. Danach würde in
der soziologischen Theorie immer mehr die Schwäche einer angeblich das zweckrationale Handeln
in den Mittelpunkt rückenden Theorieanlage (Weber, Kritische Theorie) erkannt und damit
gleichzeitig die Notwendigkeit der Aufnahme eines ganz anderen Handlungsmodells eingesehen: der
Rückgriff auf jene schon bei Mead, aber in gewissem Maße auch bei Durkheim zu findende Idee der
symbolvermittelten Interaktion sei der Fluchtpunkt der gegenwärtigen Theoriedebatte. Ohne
Berücksichtigung der bei diesen Autoren zu findenden Gedanken seien, Habermas zufolge, die
Schwierigkeiten der bisherigen soziologischen Theorieansätze nicht zu überwinden. Parsons
schließlich wird als Gewährsmann dafür herangezogen, daß die Handlungstheorie, über deren
Reichweite sich Habermas ja bekanntlich äußerst skeptisch gezeigt hat, bis zu einem gewissen Grad
einer funktionali324stischen Ordnungstheorie bedürfe, selbst wenn laut Habermas der Parsonssche
Funktionalismus letztlich zu radikal sei.
Soweit zum äußeren, darstellungstechnischen Aufbau des Buches. Nun zum ersten wichtigen Thema
in der Theorie kommunikativen Handelns, zu Habermas’ Rationalitätstheorie:
1. Habermas’ Rationalitätsverständnis erschließt sich am einfachsten durch die Einsicht, daß es
sich in der Auseinandersetzung mit zwei anderen durchaus einflußreichen Konzeptionen von
Rationalität entwickelt hat. Zum einen ist nämlich Habermas’ Kritik an denjenigen Theorien nur zu
offensichtlich, die Rationalität lediglich als ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Mitteln und
Zwecken begreifen, die also Rationalität mit der optimalen Wahl geeigneter Mittel zur Realisierung
gegebener Zwecke gleichsetzen. Hier ist in erster Linie natürlich an die Rational-Choice-Perspektive
zu denken, in der – was ja schon durch die Namensgebung (rationale Wahl!) deutlich wird – genau
eine solche Rationalitätskonzeption verfochten wird. Aber gemeint ist natürlich nicht nur der
Rational-Choice-Ansatz innerhalb des Neo-Utilitarismus; gemeint sind vielmehr alle utilitaristischen
und neo-utilitaristischen Theorien, die laut Habermas eine viel zu enge Konzeption von Rationalität
verfechten, insofern für diese Theoretiker die Frage nach der Wahl der Zwecke (nicht der Mittel!)
überhaupt keine vernünftige Antwort zu erlauben scheint. Aus der Sicht dieser Denker sind Zwecke
beliebig, willkürlich, subjektiv etc., was zwangsläufig bedeutet, daß nur die Wahl der Mittel zur
Erreichung von gegebenen und nicht weiter analysierbaren Zwecken einer wissenschaftlichen oder
überhaupt einer rationalen Analyse zugänglich sei.
Die anderen Gegner, die Habermas bei der Entwicklung seines Rationalitätskonzepts im Auge hat,
auf die er sich aber nur sehr verschlüsselt bezieht, sind dort zu finden, wo eine fundamentale Kritik
der Rationalität als solcher geübt wird. Wir sind diesen schon im Fall des anarchistischen
Wissenschaftstheoretikers Paul Feyerabend begegnet (vgl. die Erste Vorlesung), der mit seiner
extremen Radikalisierung der Kuhnschen Thesen zu einem der Väter der postmodernen
Wissenschaftskritik wurde; wir werden ihnen bei der Behandlung des Poststrukturalismus (Vierzehnte
Vorlesung) erneut begegnen. Laut Habermas teilen diese das enge Rationalitätsverständnis der
Utilitaristen und Neo-Utilitaristen. Während aber die Utilitaristen der Rationalität eine bedeutende
Rolle in einem allerdings 325äußerst eng umgrenzten Bereich zugestehen – eben ausschließlich (!) im
Feld der Mittelwahl –, hätten die postmodernen Denker Rationalität vollends verabschiedet. Für sie
hätten Wissenschaft insgesamt und rationales Denken als solches keinen höheren Legitimitätsanspruch
als andere Formen des Wissens (etwa die Magie), sei Wissenschaft nichts weiter als eine andere
Form der Ideologie zur Untermauerung von Machtansprüchen.
Habermas will nun aus dieser Sackgasse heraus, er will weder den (Neo-)Utilitaristen noch den
Postmodernen folgen, weshalb er sich um die Formulierung eines umfassenderen Vernunft- und
Rationalitätsverständnisses bemüht, dem er das Etikett der »kommunikativen Rationalität« bzw. der
»kommunikativen Vernunft« gibt. Die Intuition hinter dieser Begrifflichkeit hat – und dies ist kaum
überraschend – wiederum mit Sprache zu tun und läßt sich folgendermaßen formulieren: Wir sind
nicht zu einem so engen Rationalitätsverständnis, wie es etwa im Utilitarismus zugrunde gelegt wird,
gezwungen. Denn wenn wir im Alltag miteinander reden, unterhalten wir uns über höchst
unterschiedliche Aspekte und Phänomene und haben doch gleichzeitig die Erwartung, daß Einigkeit
hergestellt, also ein vernünftiger Konsens erzielt werden kann. Die Alltagspraxis zeigt also, daß der
Vernunft offensichtlich wesentlich mehr zugetraut wird, als dies die Utilitaristen tun. Habermas beläßt
es aber nun nicht bei jener nur intuitiven Vermutung vom großen Rationalitätspotential der
Alltagspraxis und der Sprache, sondern geht unter starker Anlehnung an Erkenntnisse der
sprachanalytischen Philosophie dazu über, dieses Rationalitätspotential genauer zu analysieren. Die
sprachanalytische Philosophie, vor allem die Sprechakt-Theorie des amerikanischen Philosophen
John Searle (geb. 1932), hat im Detail Sprache und Sprecher untersucht, hat also analysiert, was wir
genau machen, wenn wir sprechen, welche Leistungen die Sprache erbringt, was genau in einer
Sprachhandlung, in einem Sprechakt, ausgedrückt wird und wie dies geschieht. Dabei wurde u. a.
deutlich, daß sich Sprechakte auf völlig unterschiedliche Aspekte der Welt beziehen können – und
genau diesen Gedanken greift Habermas auf. Er vertritt die These – und sie ist fundamental für seinen
weiten bzw. umfassenden Rationalitätsbegriff –, daß in jeder sprachlichen Äußerung, aber prinzipiell
sogar in jeder Handlung, genau drei »Geltungsansprüche« enthalten sind, daß also in jeder unserer
Äußerungen und Handlungen quasi drei unterschied326liche Bezüge zur Welt hergestellt werden, die
wir prinzipiell zu verteidigen bereit sind.
A) In jeder Äußerung beziehen wir uns auf etwas in der Welt, behaupten wir also, daß etwas so
und nicht anders ist. In der Terminologie von Jürgen Habermas heißt dies: Wir erheben einen
Geltungsanspruch auf Wahrheit. Für Utilitaristen liegt darin der einzige Ausgangspunkt der
rationalen oder wissenschaftlichen Auseinandersetzung: Wir streiten uns darüber, ob eine Aussage
über die Welt empirisch richtig ist oder eben nicht. Dieser Aspekt ist gewiß alles andere als
unwichtig. Schließlich basieren Arbeit und die Vergegenständlichung der Natur, basieren
Naturwissenschaften und Technik darauf, daß wir Aussagen über die Welt machen, aber auch
bestreiten, korrigieren, revidieren können usw. Insofern steckt in jeder instrumentellen Handlung
ebenfalls dieser Geltungsanspruch. Für Habermas ist aber die Vorstellung, daß allein dieser
Geltungsanspruch Rationalität begründen solle, daß allein über »konstative Sprechhandlungen«
rational argumentiert werden könne, ein völlig unzureichendes Verständnis von Sprache und
Handlung. Denn:
B) In jeder Äußerung und Handlung definieren wir auch eine soziale Beziehung und sagen etwas
darüber aus, ob etwas in sozialer Hinsicht angemessen und normativ richtig ist oder nicht. In
Habermas’ Diktion heißt dies dann: Wir erheben jeweils einen Geltungsanspruch auf normative
Richtigkeit. Hier wird natürlich von Habermas ein Aspekt angesprochen, den Sie schon aus unserer
Vorlesung zum Symbolischen Interaktionismus kennen, die Tatsache nämlich, daß Interaktionen
zwischen Menschen nicht einem festen und stabilen Muster folgen, sondern daß die Ebene, auf der
wir sprechen und miteinander interagieren, oft erst ausgehandelt werden muß. Manche Menschen
treten uns mit der Vorstellung gegenüber, sie könnten uns Befehle erteilen, uns herumkommandieren,
sich als Vorgesetzte aufspielen etc., wodurch sie behaupten, daß ein bestimmter normativer Rahmen,
in dem sie kommandieren und wir zu gehorchen haben, vorliegt. Wir können aber natürlich diese
implizite oder explizite Situationsdefinition zurückweisen, kurz: den Geltungsanspruch bezüglich der
normativen Richtigkeit der Handlung des Gegenübers bestreiten, also das Vorliegen einer anderen
Norm behaupten. Damit aber sind wir schon in eine Auseinandersetzung um ebendiesen
Geltungsanspruch eingetreten, eine Auseinandersetzung, die – so sieht es Habermas – prinzipiell mit
vernünftigen 327Argumenten geführt werden kann. Habermas geht aber noch weiter. Er behauptet,
daß
C) in jeder Handlung oder Äußerung auch ein Geltungsanspruch auf Wahrhaftigkeit in bezug auf
unsere Erlebnisse und Wünsche oder die Authentizität und Konsistenz unserer Handlungen
auszumachen ist. Diese sowohl aus dem Goffmanschen Werk als auch aus Theorien der Kunst
abgeleitete Einsicht meint folgendes: Menschen handeln und sprechen ja nicht nur in bezug auf die
äußere Welt und in bezug auf die Gestalt normativ geregelter sozialer Beziehungen, sondern in all
ihren (Sprech-)Handlungen kommt immer auch die Subjektivität des Sprechers bzw. des Handelnden
zum Ausdruck. Die Repräsentation des Selbst, wie dies Goffman in seinen Analysen so eindrucksvoll
zeigt, ist wesentlicher Bestandteil jeder Interaktion; wir sind bemüht, unser Handeln auch als ein
authentisches, nicht gekünsteltes oder falsches an unsere Interaktionspartner zu kommunizieren, wir
wollen uns als wahrhaftig, als »wir selbst« darstellen und all unsere Handlungen als verständlichen
und konsistenten Ausdruck unserer Identität. Auch in diesem Fall können wir darüber streiten,
inwiefern Handlungen und Äußerungen authentisch sind oder nicht, und wir tun dies auch ständig in
unserem Alltag, wenn wir etwa bezweifeln, ob unser Gegenüber uns ehrlich die Meinung gesagt hat,
wenn wir vermuten, daß er uns nur etwas vorspielt etc. In ähnlicher Weise beanspruchen – so
Habermas – auch Künstler, mit ihren Werken sich selbst auszudrücken, was wiederum in der
Kunstkritik zum Gegenstand einer argumentativen Auseinandersetzung gemacht werden kann.
Damit ist nun der im Vergleich zu anderen Rationalitätskonzeptionen weite Rahmen gespannt, in
dem laut Habermas Argumentieren möglich ist. Aber lassen wir hier Habermas selbst zu Wort
kommen:
Auch normenregulierte Handlungen und expressive Selbstdarstellungen haben, ähnlich wie konstative Sprechhandlungen, den
Charakter sinnvoller, in ihrem Kontext verständlicher Äußerungen, die mit einem kritisierbaren Geltungsanspruch verbunden sind. Statt
eines Tatsachenbezuges haben sie einen Bezug zu Normen und Erlebnissen. Der Handelnde erhebt den Anspruch, daß sein Verhalten
mit Bezug auf einen als legitim anerkannten normativen Kontext richtig oder daß die expressive Äußerung eines ihm privilegiert
zugänglichen Erlebnisses wahrhaftig ist. Auch diese Äußerungen können, wie konstative Sprechhandlungen, fehlschlagen. Auch für ihre
Rationalität 328ist die Möglichkeit der intersubjektiven Anerkennung eines kritisierbaren Geltungsanspruchs konstitutiv. Das Wissen, das
in normenregulierten Handlungen oder in expressiven Äußerungen verkörpert ist, verweist jedoch nicht auf die Existenz von
Sachverhalten, sondern auf die Sollgeltung von Normen und auf das zum Vorschein-Kommen subjektiver Erlebnisse. Mit ihnen kann sich
der Sprecher nicht auf etwas in der objektiven Welt beziehen, sondern nur auf etwas in der gemeinsamen sozialen oder in der jeweils
eigenen, subjektiven Welt. (Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. I, S. 35)

Damit ist nicht gesagt, daß in jeder Äußerung oder Handlung jeder der drei Geltungsansprüche
gleichermaßen stark erhoben wird: In manchen Handlungen ist der Aspekt kognitiver Wahrheit gewiß
wichtiger als in anderen, in naturwissenschaftlichen Labors etwa verglichen mit religiösen
Zeremonien. Dennoch spielen die anderen beiden Geltungsansprüche immer auch eine Rolle –
zumindest als Randbedingung, da etwa auch naturwissenschaftliches Arbeiten in einen normativen
Kontext eingebettet ist und man gleichzeitig von der Wahrhaftigkeit der Äußerungen der beteiligten
Naturwissenschaftler ausgehen muß. Wenn dies aber nun so ist, dann muß ein umfassender
Rationalitätsbegriff für alle diese drei hier benannten und so unterschiedlichen Geltungsansprüche
offen sein. Denn alle drei Geltungsansprüche lassen sich bestreiten, mit vernünftigen Argumenten
widerlegen. Über alle drei können also Diskussionen geführt werden – Habermas nennt sie
»Diskurse«, zumindest dann, wenn diese Diskussionen unter der idealen oder idealisierten Bedingung
einer absoluten Freiheit von externen und internen Zwängen stattfinden. Und weil über diese drei
jeweils unterschiedlichen Geltungsansprüche gestritten werden kann, sind in allen diesen Bereichen
eben auch Lernprozesse möglich. Damit liegt nun Habermas zufolge ein Rationalitätsmodell vor, das
für sich den Anspruch erheben kann, die in anderen soziologischen (Handlungs-)Theorien enthaltenen,
aber immer einseitigen Rationalitätsannahmen zu umfassen, eben zu synthetisieren!
Habermas’ Rationalitätskonzeption erwies sich als äußerst folgenreich. Wenngleich seine
Ausführungen zum dritten Geltungsanspruch, zu dem der Wahrhaftigkeit, etwas unklar blieben, weil
hier offensichtlich verschiedene Dimensionen miteinander vermischt wurden – Wahrhaftigkeit im
Alltag ist gewiß etwas anderes als Authentizität in der Kunst – so hat auf alle Fälle die scharfe
Kontu329rierung zumindest der beiden Geltungsansprüche der Wahrheit und der normativen
Richtigkeit einen enormen Widerhall gefunden. Habermas’ Diskurstheorie der Wahrheit und der
Moral war und ist zentraler Ausgangspunkt vieler gegenwärtiger Debatten in der Erkenntnis- bzw.
Wissenschaftstheorie und der Ethik. In der Neunzehnten Vorlesung, die sich mit dem Neo-
Pragmatismus beschäftigen wird, kommen wir auf einige dieser gewiß eher philosophischen als
soziologischen Fragen zurück.

2. Die Habermassche Theorie des Handelns ist ganz eng, ja quasi untrennbar mit der soeben
dargestellten Rationalitätskonzeption verknüpft. Das ist kein Wunder, da Habermas seine
Handlungstheorie aus seiner Theorie der Rationalität entwickelt. Ein solches Vorgehen hat zweifellos
den Charme großer Eleganz und Einfachheit: Typen der Rationalität werden dann nämlich – wie wir
gleich sehen werden – quasi zwanglos Typen des Handelns zugeordnet. Doch ist ein solches Vorgehen
gleichzeitig nicht unproblematisch, denn zumindest zwei kritische Fragen lassen sich daran stellen.
Die erste Frage lautet: Führt der Aufbau der Handlungstheorie aus der Theorie der Rationalität nicht
fast schon automatisch dazu, daß das Handeln in einer sehr rationalistischen Art und Weise begriffen
wird, daß also Handlungsformen übersehen oder gar bewußt vernachlässigt werden, die sich nicht
dem Rationalitätsmodell fügen? Und zweitens: Widerspricht die von Habermas gewählte
Vorgehensweise nicht zentralen Einsichten der Philosophietradition des amerikanischen Pragmatismus
bezüglich des Verhältnisses von Denken und Handeln? Dort hatte man ja (siehe die Sechste
Vorlesung) das Denken nicht als Substanz, also als Geist oder Bewußtsein begriffen, sondern als
Prozeß, der sich in Handlungssituationen ereignet. Denken wurde im amerikanischen Pragmatismus
als funktional in bezug auf Handlungsprobleme interpretiert. Weil Habermas seinen Theorieaufbau
aber mit einer Theorie der Rationalität beginnt und erst danach zu einer Theorie des Handelns
voranschreitet, scheint er diese Einsicht ignoriert zu haben.
Die Beantwortung dieser beiden Fragen steht selbstverständlich erst dann auf der Tagesordnung,
wenn wir die Habermassche Handlungstheorie auch tatsächlich kennen. Wie sieht diese nun aus?
Habermas unterscheidet im wesentlichen zwischen drei Handlungstypen, wobei allerdings die
Zuordnung zu den oben benannten drei 330Geltungsansprüchen, die in jeder Äußerung oder Handlung
erhoben werden, sehr eigenwillig, jedenfalls nicht ganz symmetrisch ist. Man hätte ja erwarten
können, daß Habermas ganz parallel zu den herausgearbeiteten Geltungsansprüchen die jeweiligen
Handlungstypen konstruiert. Und tatsächlich nimmt er auch eine solche Unterscheidung vor, wenn er
zwischen einem teleologischen Handeln, das die Manipulation der äußeren Welt zum Ziel hat, einem
normenregulierten Handeln, das auf der Angemessenheit sozialer Beziehungen basiert, und einem
dramaturgischen Handeln, bei dem das Problem der Selbstrepräsentation zentral ist, unterscheidet
(a.a.O., Bd. I, S. 126 ff.). Tatsächlich wird aber Habermas im weiteren diese Form der
symmetrischen oder parallelen Zuordnung gerade nicht zum Ausgangspunkt seiner
handlungstheoretischen Erörterungen machen. Denn seine Handlungstypologie baut letztlich ganz
wesentlich auf die Unterscheidung zwischen rationalem Handeln im engeren Sinne einerseits, wobei
er hier nochmals zwischen instrumentellem Handeln und strategischem Handeln differenziert, und
dem auf einem umfassenden Rationalitätsverständnis basierenden kommunikativen Handeln
andererseits. Warum wählt er eine derartige Vorgehensweise, und was bedeutet dies überhaupt genau?
Instrumentelles Handeln ist laut Habermas bezogen auf materielle Objekte; es ist ein Handeln, das
geeignete Mittel wählt zum Zwecke der Verfügbarmachung der Natur, der Manipulation von Dingen
usw. Dazu Habermas selbst:
Der Aktor verwirklicht einen Zweck bzw. bewirkt das Eintreten eines erwünschten Zustandes, indem er die in der gegebenen Situation
erfolgversprechenden Mittel wählt und in geeigneter Weise anwendet. Der zentrale Begriff ist die auf die Realisierung eines Zwecks
gerichtete, von Maximen geleitete und auf eine Situationsdeutung gestützte Entscheidung zwischen Handlungsalternativen. (Habermas,
a.a.O., Bd. I, S. 126)

Strategisches Handeln nun ist nicht bezogen auf materielle Objekte, sondern auf andere Subjekte,
obwohl auch hier nach dem Zweck-Mittel-Schema agiert wird. Typische Handlungssituationen sind
solche, wie sie etwa in der Spieltheorie zum Thema gemacht werden (siehe die Fünfte Vorlesung),
wenn also miteinander verflochtene Akteure ihre besten Handlungsoptionen wählen und sich dabei
wechselseitig zum bloßen Mittel zur Erreichung ihrer Zwecke machen. Das teleologische
Handlungsmodell
331wird zum strategischen Handlungsmodell erweitert, wenn in das Erfolgskalkül des Handelnden die Erwartung von Entscheidungen
mindestens eines weiteren zielgerichet handelnden Aktors eingehen kann. Dieses Handlungsmodell wird oft utilitaristisch gedeutet; dann
wird unterstellt, daß der Aktor Mittel und Zwecke unter Gesichtspunkten der Maximierung von Nutzen bzw. Nutzenerwartungen wählt
und kalkuliert. Dieses Handlungsmodell liegt den entscheidungs- und spieltheoretischen Ansätzen in Ökonomie, Soziologie und
Sozialpsychologie zugrunde. (Habermas, a.a.O., Bd. I, S. 127)

Kommunikatives Handeln wiederum ist ein solches, das sich deutlich vom instrumentellen und
strategischen Handeln abhebt, aber auch von jenem oben angesprochenen normenregulierten und
dramaturgischen Handeln. Zwar haben normenreguliertes, dramaturgisches und kommunikatives
Handeln insofern Gemeinsamkeiten, als hier im Gegensatz zu instrumentellem und strategischem
Handeln nicht von einem isolierten Aktor ausgegangen wird, der materielle Objekte oder andere
Subjekte wie Objekte nur manipuliert: Im normengeleiteten Handeln erfüllen wir ja
Verhaltenserwartungen einer Gruppe, beziehen wir uns also auf gemeinsame Normen, ebenso wie
wir im dramaturgischen Handeln unsere Erlebnisse zuschauerbezogen stilisieren (a.a.O., Bd. I,
S. 128); und eine identische, gerade nicht einen isolierten Aktor voraussetzende Situation liegt
natürlich auch dem kommunikativen Handeln zugrunde. Wodurch sich aber dieses kommunikative
Handeln von den normengeleiteten und dramaturgischen Handlungstypen unterscheidet, ist die
Tatsache, daß hier die miteinander Handelnden eine wirkliche Verständigung herbeiführen wollen.
Normenreguliertes Handeln basiert auf der selbstverständlichen Geltung von Normen,
dramaturgisches auf der zunächst für unproblematisch erachteten Form der Selbstrepräsentation. Erst
das kommunikative Handeln macht die dort nicht hinterfragten Voraussetzungen und
Selbstverständlichkeiten überhaupt zum Thema; die Handelnden diskutieren über die jeweils
erhobenen Geltungsansprüche und versuchen dabei einen Konsens herzustellen. »Die Aktoren suchen
eine Verständigung über die Handlungssituation, um ihre Handlungspläne und damit ihre Handlungen
einvernehmlich zu koordinieren.« (Ibid.)
Das kommunikative Handeln – und dies ist das Besondere und unterscheidet es somit auch vom
normengeleiteten und dramaturgischen Handeln – ist nicht teleologisch, also nicht auf ein gesetztes
Ziel hin gerichtet: Es ist weder an der Umsetzung von bestimmten 332Zwecken bei zu wählenden
Mitteln orientiert noch an dem Ziel der Befolgung von fraglos gegebenen Normen, noch an jenem der
erfolgreichen Selbststilisierung. Vielmehr ist das kommunikative Handeln dadurch ausgezeichnet,
daß es die Geltung vorgegebener Ziele suspendiert, weil es in diesem kommunikativen Handeln um
eine ehrliche Auseinandersetzung mit anderen Menschen geht, die kein festes Ziel zum Abschluß
haben kann und darf: Wenn ich mich in eine solche Auseinandersetzung mit anderen begebe, dann muß
ich damit rechnen, daß meine Ziele und Zwecke in dieser Diskussion revidiert, widerlegt,
überzeugend zurückgewiesen werden, d. h. bei dieser Form der Auseinandersetzung müssen sich alle
Gesprächspartner öffnen, sie müssen offen sein für das Ergebnis des Gesprächs: Es gibt unter diesen
Umständen einer offenen Diskussion keine vorgegebenen Zwecke, welche die jeweils Beteiligten
durchsetzen wollen. Und dies heißt: Kommunikatives Handeln, verständigungsorientiertes Handeln,
ist gerade nicht-teleologisches Handeln. Lassen wir hier nochmals Habermas selbst zu Wort kommen:
Allein das kommunikative Handlungsmodell setzt Sprache als ein Medium unverkürzter Verständigung voraus, wobei sich Sprecher und
Hörer aus dem Horizont ihrer vorinterpretierten Lebenswelt gleichzeitig auf etwas in der objektiven, sozialen und subjektiven Welt
beziehen, um gemeinsame Situationsdefinitionen auszuhandeln. (Habermas, a.a.O., Bd. I, S. 142)

Damit wird nun verständlich, warum Habermas als Gegenbegriff zum instrumentellen und
strategischen Handeln das kommunikative Handeln setzt: es ist ein Handeln, das notwendig schon
immer andere argumentationsfähige Akteure zur Voraussetzung hat und gleichzeitig nicht-teleologisch
ist. Wenn man sich dies graphisch vorstellt, so läßt sich (vgl. Habermas, a.a.O., Bd. I, S. 384) ein
Vier-Felder-Schema zeichnen, mit den Achsen »nicht-soziale Handlungssituationen« vs. »soziale
Handlungssituationen« einerseits und »erfolgsorientierte Handlungsorientierung« vs.
»verständigungsorientierte Handlungsorientierung« andererseits.
Bei einem Vergleich dieses Schemas mit dem Handlungsbezugsrahmen von Parsons fällt auf, daß
Habermas tatsächlich mit dem teleologischen Handlungsmodell bricht – eben durch seine Idee des
kommunikativen Handelns! Während Parsons Handeln sich nur als ziel- und zweckgerichtet vorstellen
konnte – natürlich unter Einbeziehung von Werten und Normen (vgl. die Zweite Vorlesung und333
unsere Kritik daran in der Dritten) –, ist bei Habermas dieses kommunikative Handeln gerade
dadurch gekennzeichnet, daß hier nicht vorgegebene Zwecke oder auch Normen anvisiert werden,
sondern diese Zwecke für die am Diskurs beteiligten Akteure zur Disposition stehen.
Und schließlich wird mit diesem Schema die hinsichtlich der Theoriebildung synthetische Absicht
von Habermas offensichtlich. Denn Habermas erhebt den Anspruch, mit seiner Handlungskonzeption
die innerhalb der Soziologie (etwa bei Parsons oder bei Goffman) entwickelten Handlungsmodelle
umfassen, die Intentionen der jeweiligen Autoren mit aufnehmen, eben deren theoretische Einsichten
synthetisieren zu können. Die Idee des kommunikativen Handelns erlaubt es Habermas, sich quasi auf
die Schultern vorhergehender Soziologen zu stellen. Die Parallele zu Parsons’ Ambitionen in The
Structure of Social Action ist also auch diesbezüglich unverkennbar, hatte doch schon Parsons für
sich behauptet, daß er mit seinem handlungstheoretischen Bezugsrahmen die bereits bei Durkheim,
Weber, Pareto und Marshall aufscheinenden Intuitionen zusammenführen und begrifflich schärfer
fassen könne. Ganz ähnlich, nämlich das eigene Vorgehen durch Klassikerinterpretationen
legitimierend, argumentiert auch Habermas: Seine diesbezüg334liche These (»Der
Paradigmenwechsel bei Mead und Durkheim: Von der Zwecktätigkeit zum kommunikativen Handeln«)
besagt, daß die Wendung zum kommunikativen Handeln, wenn auch vielleicht noch unklar oder
unvollständig, bereits in der Zeit der Gründungsphase der Soziologie erfolgt sei. Es seien vor allem
George Herbert Mead (der in der Sechsten Vorlesung besprochene Ahnherr des Symbolischen
Interaktionismus) und der späte Emile Durkheim (vor allem in seinem religionssoziologischen Werk)
gewesen, die tatsächlich die Bedeutung der Sprache oder der symbolvermittelten Interaktion erkannt
und dabei eine Rationalitäts- und auch eine Handlungskonzeption vorangetrieben hätten, die weiter
und umfassender gewesen sei als diejenige, die Max Weber zur Verfügung gestanden habe und auf die
auch noch die Kritische Theorie, also etwa Adorno und Horkheimer, aufbauen mußte, deren Thesen
zur Rationalisierung der Welt aber dadurch allesamt auch höchst einseitig ausgefallen seien.
Man kann nun diese Sicht der Geschichte der Soziologie, also Habermas’ Interpretation der
soziologischen Klassiker, in manchen Hinsichten sehr wohl in Frage stellen: Vor allem die
hyperrationalistische Deutung der Religionssoziologie Durkheims, die Habermas in die Formel von
der »Versprachlichung des Sakralen« kleidet, hat erhebliche Kritik erfahren (vgl. Joas, »Die
unglückliche Ehe zwischen Funktionalismus und Hermeneutik«). Aber um diese Aspekte kann es in
unserem Zusammenhang nicht gehen; vielmehr soll die Habermassche Handlungstypologie einer
Kritik unterzogen werden.
a) An der Graphik auf S. 333 fällt auf, daß ein Feld, nämlich das des nicht-teleologischen Umgangs
mit nicht-sozialen Objekten, leer geblieben ist. Habermas war der Überzeugung, daß es einen
derartigen Umgang nicht gebe. Dies hing auch damit zusammen, daß er – wie wir in der letzten
Vorlesung gehört haben – den Marxschen Praxisbegriff vorher schon durch jene Dichotomie von
»Arbeit« und »Interaktion« zerlegt hatte, wodurch er »Arbeit« nur mehr als zweckrationales Handeln
begreifen konnte. Damit war quasi schon vorgezeichnet, daß der Umgang mit materiellen Objekten nur
mehr in den Kategorien von Zweck und Mittel zu fassen war. Tatsächlich kann man aber nun
bestreiten, daß jeglicher Umgang mit Objekten auf diese Weise vonstatten gehen muß. Zumindest aus
dem amerikanischen Pragmatismus wäre zu lernen gewesen, daß es Handlungsformen gegenüber
Objekten gibt, die sich dem Zweck-Mittel-335Schema entziehen. Beim kindlichen Spiel, beim
spielerischen Umgang mit Dingen, ist genau dies der Fall, und auch bei der künstlerischen
Bearbeitung von Materie ist sicherlich ebenfalls keine feste Zweckbestimmung im Hintergrund. Solch
spielerischer oder ästhetischer Umgang mit den Dingen stellt für die Pragmatisten insofern nicht nur
ein Randphänomen dar, als sie die Kreativität des menschlichen Handelns darin angelegt sehen (vgl.
Joas, Die Kreativität des Handelns und die Neunzehnte Vorlesung). Habermas blendet dies völlig
aus, weshalb man ihm durchaus vorwerfen kann, daß seine scheinbar so umfassende
Handlungstypologie zu eng oder zu arm sei. Hier rächt es sich, daß die Habermassche
Handlungstypologie von der Rationalitätskonzeption her aufgebaut und nicht auf der Basis einer
vorgängigen reichhaltigen Phänomenologie unterschiedlicher Handlungsformen entwickelt wurde.
b) Habermas ist zudem so ausschließlich an der oben dargestellten Unterscheidung zwischen
kommunikativem Handeln einerseits und instrumentellem oder strategischem Handeln andererseits
interessiert, daß unerörtert bleibt, was allem Handeln gemeinsam ist, was etwa alle von ihm
diskutierten Handlungstypen gemeinsam gegenüber tierischem Verhalten auszeichnet. Einer durchaus
möglichen, ja vielleicht sogar notwendigen anthropologischen Diskussion des menschlichen Handelns
geht er damit aus dem Weg. Dies ist insofern problematisch, weil er damit die Chance vergibt, seine
rationalistisch angelegte Handlungstypologie zu korrigieren oder zu ergänzen. Die gerade in der
philosophischen Anthropologie, aber auch in vielen psychologischen oder biologischen
Untersuchungen gewonnenen Einsichten etwa in die spezifische Körperlichkeit des menschlichen
Handelns bleiben für seine Theorie damit folgenlos. Wie man diesem Aspekt jeder Handlung
durchaus Rechnung tragen kann, haben wir schon bei der Besprechung des Symbolischen
Interaktionismus und der Ethnomethodologie zumindest angedeutet. In späteren Vorlesungen (zu
Giddens, aber auch zu Bourdieu) und zum Neopragmatismus kommen wir darauf zurück.

3. Auch Habermas’ Theorie der Ordnung ist eng und unmittelbar an seine Rationalitäts- und
Handlungskonzeption angeschlossen. Habermas spricht hier von zwei Typen sozialer Ordnung, der
Ordnung der Lebenswelt auf der einen und der Ordnung der Systeme auf der anderen Seite. Die
beiden dichotomisch voneinander unterschiede336nen Ordnungstypen leitet er gewissermaßen aus
seiner soeben ausgeführten handlungstheoretischen Unterscheidung zwischen dem kommunikativen
Handeln einerseits und den instrumentellen bzw. strategischen Handlungsformen andererseits her. Wie
wir aus der letzten Vorlesung schon wissen, hatte Habermas bereits Ende der 1960er Jahre die
Begriffe »Lebenswelt« und »System« verwendet. In seinem Hauptwerk reformuliert er nun die
jeweiligen Begrifflichkeiten und setzt neue Akzente, wobei er die beiden Ordnungstypen entlang einer
Ihnen bereits bekannten, von Parsons stammenden Unterscheidung gestaltet.
Parsons hatte in The Structure of Social Action darauf aufmerksam gemacht, daß man zwischen
einer »normative order« und einer »factual order« unterscheiden könne, daß sich also Formen des
Zusammenhandelns danach unterscheiden lassen, ob die geordneten Handlungsmuster zwischen
Akteuren aufgrund von gemeinsamen Normen zustande gekommen sind oder nur zufällig aus der
Aggregation von Handlungen, die – wie der Verkehrsstau, Aktienkurse oder wie der Butterpreis auf
Märkten – in der Summe zu einem ungewollten, normativ nicht geregelten Muster gebündelt wurden.
Genau diesen Gedanken greift nun Habermas bei seinen (freilich nicht immer konsistenten)
Definitionen von System und Lebenswelt auf. Entsprechend der Parsonsschen »normative order« ist
seiner Meinung nach die Lebenswelt ein geordneter Zusammenhang, an dessen Zustandekommen die
Individuen insofern beteiligt sind, als sie sich auf gemeinsame Normen, ein gemeinsames
Einverständnis, eine gemeinsame Kultur etc. beziehen. Systeme hingegen entsprechen in ihrer Struktur
der von Parsons so genannten »factual order«, insofern hier die geordneten Muster nicht einen
bestimmten Willen der beteiligten Personen zum Ausdruck bringen, sondern die Ordnung lediglich
nicht-beabsichtigtes Ergebnis der Handlungen vieler Individuen ist: Hier bilden sich aus den
Handlungsfolgen erst Muster, so wie etwa auf dem Markt das Kauf- und Produktionsverhalten von
Marktteilnehmern erst in der Folge einen ganz bestimmten Preis ergibt. Habermas will also
die Mechanismen der Handlungskoordinierung, die die Handlungsorientierungen der Beteiligten aufeinander abstimmen, von
Mechanismen unterscheiden, die nicht-intendierte Handlungszusammenhänge über die funktionale Vernetzung von Handlungsfolgen
stabilisieren. Die Integration eines Handlungssystems wird im einen Fall durch einen normativ gesicherten 337oder kommunikativ
erzielten Konsens, im anderen Fall durch eine über das Bewußtsein der Aktoren hinausreichende nicht-normative Regelung von
Einzelentscheidungen hergestellt. Die Unterscheidung zwischen einer sozialen, an den Handlungsorientierungen ansetzenden, und der
systemischen, durch die Handlungsorientierungen hindurchgreifenden Integration der Gesellschaft nötigt zu einer entsprechenden
Differenzierung im Begriff der Gesellschaft selber. (Habermas, a.a.O., Bd. II, S. 179)

Habermas spricht also zum einen von der Sozialintegration einer Gesellschaft, wobei hier die
Gesellschaftsmitglieder über gemeinsame Handlungsorientierungen vernetzt sind – ein Sachverhalt,
der durch Verwendung des aus der Phänomenologie stammenden Lebensweltbegriffs aufzuhellen ist;
zum anderen existieren seiner Meinung nach aber eben auch systemintegrative Mechanismen der
Gesellschaft, wobei die Handlungen über Handlungsfolgen aneinandergekoppelt sind, eine
Verknüpfungsform, die laut Habermas nur der funktionalen Analyse zugänglich ist und insofern auch
den Systembegriff verlangt.
Soweit scheint die Abgrenzung zwischen diesen beiden fundamentalen Ordnungstypen klar zu sein;
nur Habermas ist offensichtlich nicht damit zufrieden, fügt er dieser Unterscheidung doch noch zwei
weitere hinzu, bei denen man sich fragen kann, wie sie zu jenen ersten, auf Handlungsfolgen und
Handlungsorientierungen abhebenden Definitionen eigentlich in Beziehung stehen. Habermas
behauptet nämlich einmal, daß sich System und Lebenswelt auch danach abgrenzen lassen, ob die
jeweiligen Interaktionspartner ko-präsent sind oder nicht: Während die systemische
Handlungskoordinierung etwa auf dem kapitalistischen Markt über Akte zustande kommt, bei denen
die relevanten Akteure – etwa der Käufer und der Produzent – einander in der Regel nicht kennen und
die dementsprechend abstrakt ausfällt, zeichnen sich lebensweltliche Integration dadurch aus, daß
sich hier Akteure unmittelbar oder zumindest relativ unmittelbar in einer konkreten
Handlungssituation gegenüberstehen, daß sie eben physisch kopräsent sind und dadurch ihre
Handlungen genau aufeinander abstimmen können.
Eine Situation ist ein durch Themen herausgehobener, durch Handlungsziele und -pläne artikulierter Ausschnitt aus lebensweltlichen
Verweisungszusammenhängen, die konzentrisch angeordnet sind und mit wachsender raumzeitlicher und sozialer Entfernung zugleich
anonymer und diffuser werden. (Habermas, a.a.O., Bd. II, S. 187)

338An anderer Stelle unterscheidet Habermas systemische und soziale Integration, aber zusätzlich
auch noch die je unterschiedliche kognitive Zugänglichkeit der beiden Integrationsformen. Während
die systemische Integration zumindest dem äußeren Beobachter, dem Wissenschaftler, mittels
funktionaler Analyse zugänglich sei, zeichne sich die Lebenswelt durch eine eigenartige Form der
Existenz aus. Der Begriff entstammt ja – wie wir aus der Siebten Vorlesung wissen – dem
phänomenologischen Diskussionszusammenhang und bezeichnet dort – wie Habermas unter
Verwendung eines Zitats von Schütz/Luckmann auch klarmacht – den »unbefragte(n) Boden aller
Gegebenheiten sowie de(n) fraglose(n) Rahmen, in dem sich mir die Probleme stellen, die ich
bewältigen muß«. (Zit. nach Habermas, a.a.O., Bd. II, S. 199.) Die Lebenswelt ist demzufolge der
reflexiv nicht vollständig zugängliche Hintergrund all unseres Handelns; sie bildet den
selbstverständlichen Kontext unseres Denkens und Wirkens und ist deshalb auch nicht in gleicher
Weise kognitiv zu erfassen wie die systemischen Mechanismen der Handlungskoordination, die im
Prinzip objektivierbar und der Erkenntnis zugänglich sind.
All diese zusätzlichen Bestimmungen, mit denen Habermas die beiden dichotomen Ordnungstypen
zu fassen versucht, deuten schon darauf hin, daß er hier an einem theoriestrategisch entscheidenden
Punkt angelangt ist, daß vielleicht aber auch gleichzeitig mit diesen vielfältigen Bestimmungen
Schwierigkeiten überdeckt werden sollen. Denn nicht immer ist ja klar, wie sich etwa
Handlungskoordination auf der Basis von Handlungsorientierungen, Handlungskoordination im
Rahmen der Kopräsenz der Akteure und Handlungskoordination aufgrund eines als selbstverständlich
erachteten (kulturellen) Hintergrundes zueinander verhalten. Alle drei Bestimmungen sollen den
sozialintegrativen Mechanismus der Lebenswelt definieren. Unklar ist aber, ob überhaupt – und
inwieweit – etwa Handlungskoordination auf Kopräsenz angewiesen ist; merkwürdig erscheint
zudem, daß nur in Systemen, nicht aber in der Lebenswelt Handlungsfolgen von großer Bedeutung
sein sollen, was doch eigentlich der Alltagserfahrung widerspricht, insofern wir ständig mit
ungeahnten Folgen unseres Handelns konfrontiert sind. Wenn dies aber der Fall ist, müßte man dann
nicht auch in Situationen der Ko-präsenz mittels der funktionalen Analyse arbeiten, die Habermas ja
eigentlich für die Untersuchung systemischer Zusammenhänge 339reservieren wollte? Und überhaupt,
warum zwingt uns die Existenz von Handlungsfolgen eigentlich zur Übernahme eines
funktionalistischen Analyserahmens, ist die Aufarbeitung unintendierter Handlungsfolgen – wie wir in
der Fünften Vorlesung gesehen haben – doch gerade eine Domäne des Neo-Utilitarismus und hier
insbesondere der Rational-Choice-Theorie, deren Wiedererstarken gerade aus einer berechtigten
Kritik am funktionalistischen Paradigma von Talcott Parsons zu erklären ist? – All dies sind
ungeklärte Punkte, die letztlich die Frage aufwerfen, ob Habermas mit der Verwendung von zwei aus
völlig unterschiedlichen Traditionen kommenden Ordnungsbegriffen – demjenigen der Lebenswelt,
der grob den interpretativen Ansätzen zuzuordnen ist, und demjenigen des Systems, der natürlich der
funktionalistischen Gedankenwelt entspringt – tatsächlich eine gelungene Mischung geglückt ist oder
ob er nicht eher eine Mesalliance herbeigeführt hat, die in unüberwindliche theoretische Probleme
führt (vgl. hierzu Joas, »Die unglückliche Ehe von Hermeneutik und Funktionalismus«).
Wie auch immer, Habermas weist nun den beiden Ordnungsbegriffen die zwei unterschiedlichen
Grundtypen des Handelns zu: Während der Lebensweltbegriff der »Komplementärbegriff zum
kommunikativen Handeln« sein soll (Habermas, a.a.O., Bd. II, S. 182), finde das Handeln in
Systemen überwiegend (wenn auch nicht ausschließlich) als instrumentelles oder strategisches statt.
An dieses Ideengebäude knüpft er noch zusätzlich die evolutionstheoretisch begründete These von der
historischen »Entkoppelung von System und Lebenswelt«. Damit meint er folgendes: Die evolutionär
frühesten Gesellschaften, also etwa »primitive« Stammesgesellschaften, lassen sich noch
ausschließlich als soziokulturelle Lebenswelten begreifen: hier war die Sozialstruktur maßgeblich
und unmittelbar durch normengeleitete Interaktion bestimmt, d. h., die Handlungskoordination
zwischen den Stammesmitgliedern erfolgte ausschließlich über Handlungsorientierungen im Zustand
der Kopräsenz; die Sprache war das zentrale und einzige Medium, durch das sich die Akteure
miteinander verständigten, eine Verselbständigung der Handlungsfolgen war noch nicht erkennbar.
Dies sei erst später, auf einer höheren Stufe der sozialen Evolution, aufgetreten, als sich mit der
Herausbildung politischer Herrschaft in Form von Staaten und dann – im Kapitalismus – mit der
Entstehung freier Märkte Ordnungen ergaben, die sich endgültig von der Rückbin340dung an
unmittelbare sprachliche Verständigung gelöst hätten. Ein – wie Habermas in enger Anlehnung an
Parsons und andere funktionalistische Theoretiker sagen wird – Ausdifferenzierungsprozeß sei
eingetreten, der dazu geführt habe, daß mittlerweile Systeme wie die Politik und die Wirtschaft
existieren, die über symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien wie Macht und Geld gesteuert
werden und die nicht mehr dem intuitiven Verständnis aller Gesellschaftsmitglieder zugänglich sind:
Die Entkoppelung von System und Lebenswelt spiegelt sich innerhalb moderner Lebenswelten zunächst als Versachlichung: das
Gesellschaftssystem sprengt definitiv den lebensweltlichen Horizont, entzieht sich dem Vorverständnis der kommunikativen Alltagspraxis
und ist nur noch dem kontraintuitiven Wissen der seit dem 18. Jahrhundert entstehenden Sozialwissenschaften zugänglich. (Habermas,
a.a.O., Bd. II, S. 258)

Die Anleihen bei Parsons sind schon terminologisch deutlich sichtbar (siehe etwa den
Differenzierungsbegriff und das Aufgreifen von dessen Medientheorie). Tatsächlich dient gerade die
hier dargestellte historische These Habermas auch als Rechtfertigung für die Aufnahme
funktionalistischer Argumente in sein Gedankengebäude: Gerade weil sich eine Verselbständigung
der Politik und des Marktes ergeben habe, seien interpretative Ansätze zur Analyse moderner
Gesellschaften ungenügend, sei auch deren Ordnungsbegriff der Lebenswelt nicht ausreichend,
weswegen eben der Systembegriff eingeführt werden müsse. Gleichzeitig könne die parallele
Verwendung des Lebenswelt- und des Systembegriffs dazu dienen, eine tragfähige Zeitdiagnose zu
erstellen und mithin auch eine kritische Perspektive auf die modernen Gesellschaften zu ermöglichen.

4. Damit kommen wir zum vierten großen Thema der Theorie des kommunikativen Handelns, der
Zeitdiagnose. Diese ist allerdings nicht mehr ganz überraschend, haben Sie doch – zumindest in
rudimentärer Form – einige ihrer Grundlinien bei der Besprechung der Habermasschen Werke der
1960er und 1970er Jahre schon kennengelernt.
Die Zeitdiagnose schließt unmittelbar an die evolutionstheoretischen Überlegungen an. Habermas
hat die gesellschaftliche Evolution als einen gestuften Prozeß der allmählichen Entkoppelung von
System und Lebenswelt dargestellt, hat beschrieben, wie sich aus sehr 341einfachen,
lebensweltlichen Gesellschaften allmählich spezialisierte Systeme ausdifferenziert haben, vor allem
der Markt und der Staat, die mittels der ihnen spezifischen Medien – Geld im einen, Macht im
anderen Fall – ihrer je eigenen Dynamik folgen. Hier wird schon deutlich, daß Habermas mit dieser
evolutionstheoretisch unterfütterten Differenzierungstheorie dem Parsonsschen Denken durchaus
nahesteht: Bekanntlich hat ja auch Parsons Differenzierung zum Haupttrend der historischen
Entwicklung erklärt. Und auch bei der Medientheorie macht Habermas ganz dezidiert und offen
Anleihen beim Parsonsschen Theoriegebäude. Habermas ist allerdings bei weitem nicht durch ein
derart massives Systematisierungsbedürfnis getrieben wie Parsons. Die fast krampfhafte Suche nach
mit Geld vergleichbaren Medien ist bei ihm nicht zu finden, ganz im Gegenteil. Habermas wägt
vorsichtig ab, in welchen gesellschaftlichen Feldern der Systembegriff zur Beschreibung
gesellschaftlicher Verhältnisse trägt und in welchen nicht. Er kommt so zur Auffassung, daß lediglich
die Wirtschaft und – in Grenzen – die Politik im Laufe der soziokulturellen Evolution aus dem
Bereich der unmittelbaren Interaktion der Gesellschaftsmitglieder ausdifferenziert wurden und dann
auf eine Art und Weise zu funktionieren begannen, die sich immer mehr von der alltäglichen
Kommunikation unterschied – eben durch die Verwendung der Medien Geld und Macht. Es sind die
Medien, welche in diesen Funktionsfeldern bzw. Bereichen die kommunikative Verständigung mehr
oder weniger ersetzen. Selbst hier ist aber Habermas gerade in bezug auf das Medium der Macht eher
zögerlich und tastend, viel vorsichtiger jedenfalls als Parsons, der Macht aufgrund des von ihm
behaupteten Abstraktionsgrades und der Leistungsfähigkeit dieses Mediums ganz selbstverständlich
mit Geld auf eine Stufe stellte. Habermas merkt hier an – und dies ist nicht nur eine Kritik an Parsons,
sondern viel deutlicher noch an Luhmann (s. nächste Vorlesung) –, daß Macht im Vergleich zu Geld
bei weitem nicht so stark von Alltagskommunikationen abgetrennt ist, vor allem nicht von der Frage
der Legitimität der Macht. Während der Gebrauch des Geldes kaum mehr normativ gerechtfertigt zu
werden braucht, muß sich die Verwendung von Macht auf Legitimität stützen:
Erst der Bezug auf legitimitätsfähige kollektive Ziele stellt in der Machtbeziehung das Gleichgewicht her, das in der
idealtypischen Tauschbeziehung von vornherein angelegt ist. Während nun die Interessenbeurteilung im Falle des
Tauschvor342gangs keiner Verständigung unter den Tauschpartnern bedarf, erfordert die Frage, was im allgemeinen Interesse liegt,
eines Konsenses unter den Mitgliedern eines Kollektivs – gleichviel ob dieser normative Konsens durch Überlieferung im voraus
gesichert ist oder durch Verständigungsprozesse erst herbeigeführt werden muß. In jedem Fall liegt die Bindung an eine sprachliche
Konsensbildung, die allein durch potentielle Gründe gedeckt ist, auf der Hand. (Habermas, a.a.O., Bd. II, S. 406)

Diese Bindung der Politik und ihres Mediums »Macht« an Alltagskommunikation unterscheidet sich
massiv von einem konsequenten Funktionalismus, wie ihn Parsons ansatzweise vertreten hatte und
wie ihn dann vor allem Luhmann noch viel radikaler ausgestalten sollte, eines Funktionalismus, dem
zufolge die jeweiligen Systeme und Subsysteme ausschließlich ihrer je eigenen Logik folgen und in
ihrem Funktionieren keinesfalls mehr zurückgebunden sind etwa an alltagsweltliche Fragen und
Probleme. Habermas will und kann diesem Radikalismus nicht folgen, hat er doch von Anfang an
eine Synthese zwischen Handlungs- und Systemtheorie angestrebt; er kann demzufolge auch nicht
zulassen, daß das Handeln und die – wie er ja in seiner Handlungs- bzw. Rationalitätstheorie
ausgeführt hat – in jeder Handlung steckenden Geltungsansprüche durch die Funktionserfordernisse
der Systeme einfach an den Rand gedrängt werden. Denn wenn Sprache und Handeln zutiefst mit
bestimmten Rationalitätsmerkmalen verbunden sind, wenn sich die Entwicklung des Menschen und
der menschlichen Gesellschaft an der Entfaltung des in der Sprache steckenden Rationalitätspotentials
bemißt, dann muß diese Rationalität auch unverkürzt zur Geltung kommen, dann darf es nicht so weit
kommen, daß diese umfassende Rationalität verdrängt wird durch jene eng begrenzte Rationalität der
»Systeme zweckrationalen Handelns«, in denen lediglich Effizienzgesichtspunkte eine Rolle spielen.
Dies verweist unmittelbar auf die Zeitdiagnose von Habermas. Er ist darum bemüht, ein
vernünftiges Verhältnis zwischen Lebenswelt und Systemen auszumachen, ein Verhältnis also, das
dem Rationalitätspotential der menschlichen Sprache ebenso entspricht, wie es die
Effizienzbedürfnisse moderner Gesellschaften berücksichtigt. Und Habermas’ zeitdiagnostische These
lautet hier, daß derzeit dieses »gesunde« Gleichgewicht gestört sei, daß die systemischen Verhältnisse
immer weiter vordringen und daß die mittels politischer wie ökonomischer Mechanismen gesteuerten
Systeme und Prozesse im343mer mehr drohen, die Lebenswelt einseitig zu beeinflussen. Habermas
spricht hier mit einer kraftvollen Metapher von der »Kolonialisierung der Lebenswelt durch die
Systeme«, also davon, daß systemische Zusammenhänge im Begriff sind, die Übermacht über
lebensweltliche zu gewinnen. Dies alles klingt gewiß sehr abstrakt; es wird Ihnen aber vielleicht
klarer, wenn wir Ihnen ganz kurz aufzeigen, welche politischen Stoßrichtungen Habermas mit seiner
These vom gegenwärtigen Verhältnis von System und Lebenswelt verfolgt.
a) Mit der Aufnahme systemtheoretischen Gedankenguts hatte Habermas ursprünglich den Zweck
verfolgt, schon auf theoretischer Ebene jeden Versuch einer Rede von Kollektivsubjekten,
insbesondere idealisierten Über-Subjekten hegelianischer oder marxistischer Provenienz, zu
verhindern. Darauf haben wir schon hingewiesen. Nicht ganz unabhängig davon ist aber gleichzeitig
zu sehen, daß die Verwendung systemtheoretischer Argumentationen auch dazu dient, um – wiederum
gegen die extreme Linke gerichtet – bestimmte »Tatsachen« hinsichtlich der Verfaßtheit moderner
Gesellschaften festzuhalten. Denn Habermas verteidigt die Notwendigkeit abgekoppelter Systeme, er
akzeptiert, daß die Wirtschaft und – zumindest in gewisser Weise – die Politik aus guten Gründen zu
eigenen Systemen ausdifferenziert sind, weil im Verlauf der soziokulturellen Evolution nur so ein
hohes Maß an Effizienz hergestellt werden konnte. Gegen die utopischen Träume der Linken
argumentiert er, daß Geld und eine rationale (politische) Verwaltung unverzichtbare
Funktionsmechanismen moderner Gesellschaften seien und daß etwa die Realisierung einer
unmittelbaren Macht der Produzenten oder die Abschaffung des Geldes enorme Effizienz- wie
Rationalitätsverluste mit sich bringen würden. Selbst wenn mit der Differenzierung jener beiden
Subsysteme Bereiche entstanden sind, die nicht mehr unmittelbar der Alltagskommunikation und ihrer
Rationalität zugänglich sind, so sind durch diese Subsysteme doch gesellschaftliche
Effizienzpotentiale freigesetzt worden, die nicht mehr aufgegeben werden können und sollen.
b) Andererseits warnt Habermas davor, den systemischen Mechanismen völlig freien Lauf zu
lassen, sie allzuweit in die Lebenswelt vordringen zu lassen. Dies geschehe etwa dann, wenn
Alltagshandeln monetarisiert wird, wenn beispielsweise die in langen Traditionen gewachsene,
selbstverständliche Nachbarschaftshilfe dahingehend verändert wird, daß man nun nur noch gegen
Geldleistungen 344tätig wird; oder wenn Familienmitglieder nur noch gegen Geld zur Mitarbeit im
Haushalt veranlaßt werden können, wenn also die entzückende Tochter, der liebenswerte Sohn nur
noch durch die Aussicht auf Taschengeld dazu ermuntert werden können, den Hund »Gassi zu führen«,
Geschirr zu spülen, den Geschwistern zu helfen oder gar das eigene Zimmer aufzuräumen. Eine
derartige Monetarisierung bestimmter Lebensbereiche wird von Habermas als eine Form der
Kolonialisierung der Lebenswelt bezeichnet, weil in diesem Fall marktliche Transaktionen die
anderen Beziehungsformen zwischen Menschen zu verdrängen drohen: Die selbstverständliche
Geltung von Normen bzw. die Aushandlungsprozesse, was gerechterweise zu gelten habe, werden
schlichtweg ersetzt oder umgangen durch das Geldmedium, das zwischen die Handlungen geschaltet
wird.
Aber eine Kolonialisierung der Lebenswelt droht Habermas zufolge nicht nur durch den Markt,
sondern auch durch den Staat. Gerade der Wohlfahrtsstaat mit seiner Tendenz zu einer detaillierten
bürokratischen und rechtlichen Regelung sozialer Verhältnisse läuft Gefahr, lebensweltliche
Interaktionen zu verdrängen, dann etwa, wenn jede Lebenslage detailgenau zur Regelung bestimmter
Versorgungsansprüche rechtlich definiert wird, darüber juristische Streitigkeiten entstehen, bei denen
letztlich nicht mehr »normale« Menschen miteinander streiten und kommunizieren, sondern Juristen
vor Gerichten, deren Entscheidungen dann durch die staatliche Administration durchgesetzt werden.
Auch hier droht die Lebenswelt an den Rand gedrängt zu werden, weil machtgestützte Eingriffe
Alltagskommunikationen zunehmend ersetzen.
Diese Diagnose einer Gefährdung der Lebenswelt enthält für Habermas gleichzeitig auch ein
erhebliches prognostisches Potential, ist er doch der Auffassung, daß sich an den Konfliktlinien
zwischen Systemen und Lebenswelt auch die spezifischen Protestpotentiale moderner Gesellschaften
zeigen – die Umweltbewegung etwa, die gegen das immer weitere Vordringen einer
naturzerstörerischen Technik protestiert, ebenso wie eine diffuse Alternativbewegung, in der ein
Unbehagen an der Hyperrationalität moderner Gesellschaften, die keinen Raum mehr lassen für
expressive Handlungsformen, artikuliert wird.
Mit dieser Zeitdiagnose beanspruchte Habermas gleichzeitig – und hier zeigt sich ein letztes Mal
sein theoriesynthetischer An345spruch –, die Diagnosen früherer Soziologen und
Gesellschaftstheoretiker zu beerben. Seiner Auffassung nach ist seine Begrifflichkeit der von Marx,
Weber oder der alten Kritischen Theorie um Adorno und Horkheimer überlegen. Durch sie sei er in
der Lage, die berechtigten Züge der Marxschen Kritik am Kapitalismus neu zu formulieren, Max
Webers Angst vor den Versachlichungstendenzen in der modernen Gesellschaft zu relativieren und die
Technikkritik der alten »Frankfurter Schule« produktiv aufzunehmen und zu verarbeiten. Oder anders
ausgedrückt: Habermas zufolge läßt sich die notwendige Kritik an den entfremdenden Aspekten der
modernen Gesellschaft in einer viel zeitgemäßeren Weise formulieren und präzisieren, womit sowohl
die traditionell linke wie auch eine politisch relativ unspezifische Kulturkritik aufgegriffen werden
können, ohne daß man ihren durchdringenden Kulturpessimismus teilen müßte. Denn Habermas hat ja
seiner Meinung nach durch seine Rationalitätstheorie einen geeigneten Maßstab konzipiert, um die
Vernünftigkeit der Differenzierungsprozesse in modernen Gesellschaften zu beurteilen, einen Maßstab
zugleich, aus dem sich die Hoffnung auf Widerstand herleitet; denn die Menschen werden sich
wehren, sollten die systemischen Mechanismen zu umstandslos in ihr Alltagsleben eingreifen.

So erfolgreich Habermas’ Zeitdiagnose schon aufgrund jener eingängigen und formelhaften Rede von
der »Kolonialisierung der Lebenswelt« war und sosehr er in den 1980er Jahren mit seinem Buch die
öffentliche Debatte um die Gegenwart und Zukunft moderner Gesellschaften auch bestimmte, es
wurden in den zahlreichen kritischen Auseinandersetzungen mit seinem Werk doch auch zahlreiche
ernsthafte Einwände formuliert, von denen wir hier nur drei ganz kurz ansprechen wollen.
Habermas hat bei seiner Zeitdiagnose fast ausschließlich das Zusammenspiel und das
problematische Verhältnis zwischen System und Lebenswelt diskutiert, ist dabei jedoch kaum
auf die möglichen internen Funktionsstörungen der Systeme eingegangen. So sind die inhärenten
Probleme der Wirtschaft, die sich etwa in immer wiederkehrenden Konjunkturzyklen,
Monopolisierungstendenzen u. a. zeigen, von ihm kaum behandelt worden, ebensowenig die
Probleme des politischen Systems, das ja – was sich gerade heute zeigt – erhebliche
A.
Schwierigkeiten hat, die 346Anforderungen aus der übrigen Gesellschaft zu erfüllen. Schon für
die beginnenden 1980er Jahre, als sich mit dem Wiedererstarken des politischen
Konservatismus in vielen westlichen Demokratien gerade der Rückzug des Staates aus der
Wirtschaft abzeichnete und ökonomische Krisen und eine hohe Dauerarbeitslosigkeit gerade die
Situation in Deutschland kennzeichneten, galt, daß die Habermassche Zeitdiagnose an diesen
Entwicklungen sicherlich vorbeizielte.
Habermas hat in seiner Zeitdiagnose nur den möglichen Entstehungsort von sozialen
Bewegungen und kollektiven Akteuren genannt und hierbei auf die Schnittstelle zwischen
Systemen und Lebenswelt hingewiesen. Unabhängig davon, daß dieser Hinweis nicht gerade
sehr spezifisch ist, weil sich mit ihm fast alle sozialen Bewegungen »ursächlich« erklären
lassen, untersucht er nicht, wie die Existenz kollektiver Akteure mit der dualistischen
Begrifflichkeit von System und Lebenswelt überhaupt zu vereinbaren ist. Oder andersherum
formuliert: Kollektive Akteure stellen ja Formen des Zusammenhandelns dar, die sich gerade
gegenüber den Begriffen der Lebenswelt und des Systems zu sperren scheinen oder die
B. zumindest mit dieser Begrifflichkeit nicht einfach einzufangen sind; nicht zufällig wurde ja der
Systembegriff gerade auch deswegen von Habermas eingeführt, um die Möglichkeit der Rede
von Makro-Subjekten abzuschneiden. Somit bleibt aber unklar, welchen systematischen
Stellenwert kollektive Akteure im Theoriegebäude von Habermas haben können, denn
empirisch dürften sie ja nicht nur als bloße Indikatoren für Störungen im Verhältnis von System
und Lebenswelt zu interpretieren sein: Man müßte schon ein merkwürdig hyperstabiles
Verständnis von Gesellschaften haben, wollte man soziale, religiöse, politische, ökonomische
Bewegungen, welche die Moderne – und nicht nur diese! – von Anfang an maßgeblich geprägt
haben, auf diese Anzeigefunktion reduzieren.
Habermas war zudem nie in der Lage, aus seiner Rationalitätstheorie empirisch nutzbare
Kriterien für das ›richtige‹ Verhältnis zwischen System und Lebenswelt zu entwickeln bzw.
anzugeben, wie und wann genau die Lebenswelt durch das Vordringen systemischer
Mechanismen gefährdet sei. Diese Unschärfe macht es ihm dann auch leicht, von Pathologien zu
C.
sprechen, von gestörten sozialen Beziehungen usw. Da aber klare, intersubjektiv
347nachvollziehbare Kriterien fehlen, ab wann genau ein systemischer Mechanismus durch
seine Effizienz gerechtfertigt oder als pathologisch sich ausbreitend zu klassifizieren ist,
erscheint Habermas’ Diagnose hier häufig wie eine bloße Setzung.
Allerdings war natürlich 1981 die theoretische Entwicklung von Jürgen Habermas keineswegs
abgeschlossen. Wie schon erwähnt, hält selbst heute noch – lange nach seiner Emeritierung – die
ungeheure Produktivität dieses beeindruckenden Theoretikers an. Wir können hier nicht alle noch
folgenden Werke auch nur nennen; deshalb beschränken wir uns auf zwei besonders einflußreiche
Bücher, die 1985 bzw. 1992 erschienen sind: Das erste, Der philosophische Diskurs der Moderne,
ist im wesentlichen eine große Auseinandersetzung mit sogenannten postmodernen und
poststrukturalistischen Denkern, v. a. eine Kritik an französischen Philosophen und Soziologen, die
unter dem Einfluß von Nietzsche (1844-1900) die Vernunftkritik derart radikalisierten, daß die
Vernunft insgesamt als Herrschaftsprojekt denunziert wird. Habermas wirft diesen Denkern vor, sie
hätten – z. T. aus berechtigter Kritik an einem zu engen Rationalitätsmodell – die Vernunft gleich in
ihrer Gänze verabschiedet, was ein voreiliger Schritt sei, weil auf diese Weise das in der Sprache
steckende Vernunftpotential nicht erkannt und gewürdigt werden könne. Wir kommen in der
Vierzehnten Vorlesung bei unserer eigenen Darstellung der hier angegriffenen Denkrichtungen auf
diese Fragen zurück. Habermas’ Buch stellt eine Art Flankenschutz für seine Theorie der
kommunikativen Rationalität und des kommunikativen Handelns gegen die postmoderne
Vernunftskepsis dar.
Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen
Rechtsstaates, das zweite hier kurz anzusprechende Buch, läßt sich ebenfalls als eine Fortsetzung der
in der »Theorie des kommunikativen Handelns« angeschnittenen Themen begreifen, mehr noch als ein
Lösungsversuch für einige der dort nicht bewältigten Probleme. Es ist in erster Linie eine
rechtsphilosophische Abhandlung, die sich mit der Frage beschäftigt, welche Rolle das Recht in
heutigen Gesellschaften spielt. Habermas hatte mit seiner dualistischen Ordnungskonzeption, die mit
den Begriffen System und Lebenswelt hantiert, nie ganz klären können, wie beide Ordnungen
untereinander integriert werden, ja wie man sich insgesamt die Integration von Gesellschaften
vorstellen kann. Natürlich hat er immer auf einem Primat der Lebenswelt beharrt, der sich seiner
Meinung 348nach schon historisch begründen läßt durch die Tatsache, daß sich die Systeme aus der
Lebenswelt ausdifferenziert haben. Es blieb aber in der Theorie des kommunikativen Handelns
höchst unklar, wie in ethnisch und kulturell fragmentierten Gesellschaften wiederum Einheit
hergestellt werden kann, denn weder ist Konsens immer schon gegeben, noch kann man sich ernsthaft
einen gesellschaftsweiten Diskurs vorstellen, in dem irgendwann ein allgemeiner Konsens hergestellt
wird. Wodurch also werden moderne Gesellschaften integriert? Der naheliegenden Lösung – durch
bestimmte Werte, also etwa durch den religiös oder auf andere Weise motivierten Glauben an die
Gültigkeit der in einer Verfassung verankerten Menschenrechte, durch den Glauben an die Gültigkeit
revolutionärer Prinzipien, durch die Überzeugung von der kulturellen oder politischen Überlegenheit
des eigenen Volkes etc. – mißtraut Habermas zutiefst, erscheinen ihm doch alle solchen Werte als
partikular, als nicht wirklich einer rationalen Diskussion zugänglich und damit letztlich auch als nicht
konsensfähig.
Er verfällt deshalb in dem genannten Buch auf den Ausweg, dem Recht diese Integrationswirkung
zuzuschreiben, weil das Recht eine strategisch zentrale Stelle zwischen System und Lebenswelt
einnimmt und seiner Meinung nach gerade deswegen integrativ wirken kann: »Weil das Recht auf
diese Weise mit Geld und administrativer Macht ebenso verzahnt ist wie mit Solidarität, verarbeitet
es in seinen Integrationsleistungen Imperative verschiedener Herkunft.« (Faktizität und Geltung,
S. 59) Die im Recht aufbewahrten umfassenden Rationalitätspotentiale der kommunikativen Vernunft
würden es zu dem geeigneten Mittel machen, um unterschiedliche Interessen in modernen
fragmentierten Gesellschaften zusammenzuzwingen. Kollektive Identität kann sich Habermas zufolge
heute nicht mehr über gemeinsame Werte verbürgen – dafür sind moderne Gesellschaften zu
differenziert, ein derartiger Einigungsprozeß auf spezifische Werte sei nicht plausibel –, sondern
allenfalls über die Gebundenheit an die Rationalität der Staatsverfassung und die darin
anschließenden rationalen juristischen Verfahren. Patriotisch und rational zugleich können wir heute –
so Habermas – nur mehr in bezug auf eine Verfassung sein, insofern wir von der Rationalität
juristischer Regelungen und Verfahren überzeugt sind – Verfassungspatriotismus, kein
Wertepatriotismus sei deswegen heute die adäquate Form der kollektiven Identität der Deutschen,
Amerikaner, Russen etc.
349Klar ist damit, daß Habermas dem Recht eine erhebliche Aufgabe aufbürdet, und man kann hier
durchaus fragen, ob er die Integrationskapazität des Rechts nicht maßlos übertreibt. Im Anschluß
daran kann man weiterfragen, ob Habermas die Idee einer Identitätsstiftung über Werte nicht
vorschnell verabschiedet hat. Wir ermuntern Sie deshalb, die letzten Seiten unserer Vierten Vorlesung
zum Spätwerk von Talcott Parsons nochmals zu lesen. Parsons unterscheidet zwar dort nicht derart
scharf Werte und (Verfassungs-) Normen voneinander, wie dies Habermas zu Recht immer vorschlägt
und praktiziert. In Weiterführung Parsonsscher Gedanken läßt sich aber diskutieren, ob die
universalistischen Menschenrechte, so wie sie in den westlichen Verfassungsstaaten festgeschrieben
sind, nicht schon historisch einem (durchaus partikularen) religiösen Entstehungshintergrund
verpflichtet sind und ob nicht diese für alle geltenden Menschenrechte mit einer wie auch immer
transformierten, aber dennoch irgendwie religiösen Aura umgeben sind.
Es bleibt deshalb in kritischer Absicht an Habermas die Frage zu stellen, ob er aufgrund seiner
Prämisse von der durchgehenden Säkularisierung der Welt (»Die Versprachlichung des Sakralen»!)
nicht vorschnell Einsichten beiseite geschoben hat, für die Parsons durchaus sensibel gewesen war.
Natürlich sind nicht alle Werte universalisierbar, vielleicht sogar die wenigsten, und ganz sicherlich
nicht der (nationalistische) Glaube an die Überlegenheit einer Nation. Aber manche Werte – auch
solche, die eine weitestmögliche Anerkennung erfahren haben – erhalten ihre bindende Kraft nicht
durch die Tatsache ihrer rationalen Begründbarkeit, sondern dadurch, daß in ihnen kollektive oder
millionenfach geteilte je individuelle Erfahrungen aufgehoben sind. Wenn man also an der
identitätsstiftenden oder konsensbegründenden Rolle des Rechts zweifelt, dann muß man sich
zumindest diesen wertphilosophischen Fragen öffnen und darf diese nicht von vornherein mit dem
Argument abschneiden, daß sich Werte nicht in Diskursen begründen lassen (vgl. dazu H. Joas, Die
Entstehung der Werte).
Habermas scheint sich freilich in jüngster Zeit selbst ganz vorsichtig – etwa in seiner Rede
anläßlich der Überreichung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels – in diese Richtung zu
bewegen. Diese Öffnung macht vorläufig aber noch deutlicher bewußt, daß in seinem Werk bisher
eine wirklich systematische und auch empirisch gestützte Auseinandersetzung mit
wertphilosophi350schen und religionstheoretischen Fragen fast völlig fehlt. In der Gegenwart
erweisen sich diese Fragen (vgl. unsere Ausführungen zum Kommunitarismus in der Achtzehnten und
zum Neo-Pragmatismus in der Neunzehnten Vorlesung) aber immer mehr als unumgänglich.

Zum Schluß noch ein Literaturtip: Wenn Sie mehr über das Hauptwerk von Jürgen Habermas erfahren
wollen, so finden Sie im von Axel Honneth und Hans Joas herausgegebenen Sammelband
Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ »Theorie des kommunikativen Handelns«
zahlreiche Aufsätze, die sich mit je unterschiedlichen Aspekten des Buches beschäftigen. Wollen Sie
Jürgen Habermas’ Theorie in der ganzen Breite kennenlernen, so empfehlen wir Ihnen als Einstieg
Kapitel 7 bis 9 von Axel Honneth, Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen
Gesellschaftstheorie und – in aller Ausführlichkeit – das Buch von Thomas McCarthy, Kritik der
Verständigungsverhältnisse. Zur Theorie von Jürgen Habermas.
351Elfte Vorlesung
Niklas Luhmanns
Radikalisierung des Funktionalismus

Niklas Luhmann war neben Jürgen Habermas die zweite Figur innerhalb der deutschen Soziologie,
die sich mit der seit den 1960er Jahren zu beobachtenden und von uns in den bisherigen Vorlesungen
beschriebenen Theorienvielfalt nicht zufriedengeben wollte und statt dessen auf eine neue eigene
Synthese zusteuerte. Freilich darf man im Falle Luhmanns das Wort »Synthese« nicht allzu wörtlich
nehmen. Denn während Habermas in einer enormen hermeneutischen Anstrengung tatsächlich die
verschiedenen theoretischen Positionen zu durchdringen und die seiner Meinung nach jeweils gültigen
Einsichten beim Aufbau seines eigenen Theoriegebäudes zu bewahren versuchte, so daß in dessen
Architektur bestimmte Elemente dieser »Ursprungstheorien« durchaus noch erkennbar blieben, war
der Weg Luhmanns ein sehr viel direkterer: Luhmann hatte nicht den hermeneutischen Zugriff, der bei
Habermas immer wieder auffällt. Vielmehr war es sein Bestreben, die Problemstellungen der in der
Soziologie miteinander konkurrierenden Theorieangebote zu unterlaufen bzw. umzuformulieren – und
zwar mit Hilfe eines gegenüber Parsons deutlich radikalisierten Funktionalismus. Luhmann bediente
sich von Anfang an der funktionalistischen Analysemethode, die er im Laufe seiner Werkentwicklung
immer weiter zu einer Art »Supertheorie« ausbaute und mit der er jenen synthetischen oder besser:
umfassenden Anspruch zu erheben versuchte. Die Entwicklung des Luhmannschen Werkes ist deshalb
im Vergleich zu derjenigen von Habermas erstaunlich geradlinig: Auch wenn Luhmann selbst und
seine Anhänger seit Anfang der 1980er Jahre von einem Theorieumbau (der noch zu behandelnden
»autopoietischen Wende«) sprachen, so ist die Grundanlage der Theorie doch stets unverändert
geblieben.

Niklas Luhmann wurde 1927 in Lüneburg geboren und entstammt somit der gleichen Generation wie
Jürgen Habermas. Auch der bürgerliche Hintergrund ist so unterschiedlich nicht: Luhmanns
Großvater väterlicherseits war Senator in Lüneburg gewesen und damit 352Angehöriger des
einflußreichen Stadtpatriziats; der Vater hatte eine kleine Brauerei und Mälzerei in Lüneburg
besessen, die Mutter war aus einer Schweizer Hoteliersfamilie gekommen. Luhmann zeigte freilich
keine Sympathien für die Nationalsozialisten und erlebte dann auch den Zusammenbruch des Regimes
und das Ende des Krieges im Jahre 1945 ganz anders als jener. Während andere diesen historischen
Umbruch auch als enormen biographischen Einschnitt und als massive Erschütterung all ihrer
bisherigen Überzeugungen erfuhren, scheint Luhmann diesbezüglich eher »befremdet« und »verstört«
gewesen zu sein; daraus sollte dann auch seine spätere, prinzipiell »distanzierte« Haltung zum
gesellschaftlich-politischen Geschehen resultieren. Als Luftwaffenhelfer mit 15 Jahren eingezogen,
geriet er gegen Kriegsende in amerikanische Gefangenschaft, die bis September 1945 dauerte und in
der er sich zudem höchst ungerecht behandelt fand. »Befreiung« hatte bei ihm nicht den emphatisch-
moralischen Stellenwert, den Habermas diesem Ereignis immer zumaß, eben weil er sich mit einer
Situation konfrontiert sah, die er für sich selbst nicht mit den Kategorien von »Schuld« oder
»Unschuld« deuten konnte. Es war vielmehr eine Erfahrung, deren Ursprung sich mit einem
theoretischen Begriff umschreiben läßt, der in seiner Theorie eine zentrale Rolle spielen sollte, dem
Begriff der »Kontingenz«: Bis zum 8. Mai 1945 galt die eine (nationalsozialistische) Ordnung,
danach eine völlig andere – alles könnte irgendwie auch anders sein und wurde in jenem Jahr 1945
tatsächlich dann auch anders. Und gerade weil dies so ist, gerade weil man von der Kontingenz
sozialer Phänomene auszugehen hat, sollte man – so Luhmanns Schlußfolgerung – mit moralischen
Kategorien sparsam umgehen. Aber zu diesen Einsichten und der diesbezüglichen theoretischen
Begrifflichkeit erst später mehr.
Zunächst gilt es, Luhmanns weiteren Lebensweg zu verfolgen. Nach einem Jurastudium in Freiburg
trat Luhmann in den gehobenen Verwaltungsdienst ein, zunächst als Assistent des Präsidenten des
Oberverwaltungsgerichts Lüneburg und danach als Referent im niedersächsischen Kultusministerium
in Hannover. Dort begannen ihn aber die Dinge schnell zu langweilen; er fühlte sich offensichtlich
unterfordert und nutzte deshalb 1960/61 die Gelegenheit, ein Stipendium für die Harvard University
wahrzunehmen, wo er dann unter anderem in engen Kontakt zu Talcott Parsons kam. Luhmann, 353der
als studierter Jurist bis dato lediglich in seiner Zeit im niedersächsischen Ministerium hobbymäßig
die soziologische Lektüre gepflegt hatte – u. a. um zu verstehen, warum ihn seine Arbeit in der
Verwaltung langweilen und unterfordern mußte –, lernte somit erst in den USA die akademische
Soziologie von innen kennen.
Daraus resultierte ein erstes brillantes Buch, in dem Luhmann seine bisherigen beruflichen
Erfahrungen auch theoretisch verarbeitete: Funktionen und Folgen formaler Organisation aus dem
Jahre 1964 war eine große organisationssoziologische Studie, die sich aus parsonianisch-
funktionalistischer Sicht extrem kritisch mit bisherigen Arbeiten in diesem Forschungsfeld
auseinandersetzte. Luhmann war trotz dieser bemerkenswerten Buchveröffentlichung allerdings zu
dieser Zeit noch keineswegs im akademischen Milieu beheimatet. Er hatte zwar 1962 Niedersachsen
verlassen und war Referent am Forschungsinstitut der Hochschule für Verwaltungswissenschaft in
Speyer geworden. Aber erst Mitte der 1960er Jahre wurde er von Helmut Schelsky (1912-1984),
dem großen konservativen Soziologen der deutschen Nachkriegszeit, massiv gefördert und in den
akademischen Betrieb der Soziologie geholt. Unterstützt von Schelsky promovierte und habilitierte
sich Luhmann 1966 in einem einzigen Jahr (!) und wurde sogleich auch an die von Schelsky
gegründete Reformuniversität Bielefeld berufen. Im Rahmen des Aufbaus dieser Universität im
allgemeinen und der soziologischen Fakultät im besonderen begab sich dann ein berühmt gewordener
kleiner Vorfall, der bezeichnend war für Luhmanns schon damals erkennbare theoretische
Ambitionen. Als Luhmann aufgefordert wurde, seine Forschungsprojekte zu benennen, war seine auf
einem Formular niedergeschriebene Antwort lapidar: »Theorie der Gesellschaft; Laufzeit: 30 Jahre;
Kosten: Keine« (zu diesen biographischen Details vgl. Luhmann, »Biographie im Interview«).
Aber Luhmann wurde noch Ende der 1960er Jahre selbst fachintern überwiegend als
Organisations- oder Rechtssoziologe wahrgenommen, nicht als Sozialtheoretiker. Dies änderte sich
erst 1971 durch die in der letzten Vorlesung kurz angedeutete sogenannte Habermas-Luhmann-
Kontroverse, die in dem Buch Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie dokumentiert wurde.
Luhmann konnte sich hier mit seinem funktionalistisch-systemtheoretischen Ansatz als der wichtigste
Gegenspieler von Jürgen Habermas und dessen »kritischer Gesellschaftstheorie« profilieren, was
dazu führte, 354daß sich in den theoriebegeisterten 1970er Jahren große Teile der deutschen
Soziologie entweder dem Habermas- oder dem Luhmann-Lager zuordneten und andere
Theorierichtungen ob dieser Polarisierung marginalisiert zu werden drohten. Damit war für Luhmann
der Durchbruch zumindest in Deutschland geschafft. Gerade auch aufgrund seiner ungewöhnlichen
Produktivität konnte er seinen Einfluß seit diesem Zeitpunkt kontinuierlich steigern, so daß dieser in
der deutschen Soziologie – nicht in der Philosophie – heutzutage sicherlich größer ist als derjenige
von Habermas. Die 1995 erfolgte Gründung der Zeitschrift Soziale Systeme, des Zentralorgans der
Luhmannianer, ist Ausdruck dieses großen Einflusses, insofern es keine einzige andere
Theorierichtung in Deutschland geschafft hat, ein ähnliches Journal zur Förderung der eigenen
Interessen zu etablieren.
Es dauerte aber bis in die 1980er Jahre, bis Luhmann auch international wirklich bekannt wurde.
Mittlerweile gibt es Länder wie Japan oder Italien, in denen zahlreiche Luhmann-Gemeinden und
Luhmann-Jünger zu finden sind, wobei sich die Rezeption Luhmanns nicht allein auf die Soziologie
beschränkt, sondern insbesondere auch auf die Rechts- und Politikwissenschaft erstreckt.
Interessanterweise ist aber sein Einfluß in der amerikanischen Soziologie immer sehr gering
geblieben, was sicherlich damit zu tun hat, daß ihm zum einen im Gegensatz zu Jürgen Habermas ein
hochbegabter »Übersetzer« wie Thomas McCarthy (geb. 1945) fehlte, der in der Lage gewesen wäre,
den deutschen Diskussionskontext dem amerikanischen Publikum nahezubringen, und daß zum andern
ganz generell die extrem abstrakte Theoriebildung Luhmanns der hochprofessionalisierten und häufig
empirisch ausgerichteten amerikanischen Soziologie eher suspekt bleiben mußte. Während in
Deutschland zudem Luhmann als Fortsetzer von Parsons und als gleichsam modernere Variante des
Strukturfunktionalismus wahrgenommen wurde, nahmen die amerikanischen Parsonianer Luhmanns
Werk eher als Abweichung von Parsons wahr und verschlossen sich ihm gegenüber.
Doch trotz dieser »amerikanischen Lücke« wurde Luhmann in den 1980er und 1990er Jahren
immer mehr zu einem modischen Denker, ja zu einer Art wissenschaftlicher Popfigur, dessen Werke
und Ideen auch von denen gerne zitiert wurden, die ihnen im einzelnen gar nicht folgen konnten. Auch
nach seiner Emeritierung von 355der Universität Bielefeld 1993 produzierte Luhmann in einer fast
fieberhaften Weise stetig weiter bis zu seinem Tode im Jahre 1998, und seither werden aus dem
Nachlaß noch immer fertige oder halbfertige Manuskripte in Buchstärke publiziert, so daß ein
Abschluß des Luhmannschen Schriftenverzeichnisses noch gar nicht abzusehen ist.

Wie bei der Diskussion des Werkes von Jürgen Habermas haben wir nun auch im Falle Luhmanns
nach den intellektuellen Traditionen zu fragen, in die dieser sich einordnete bzw. von denen er
beeinflußt wurde. Und wie im Falle von Habermas lassen sich mindestens drei solcher Strömungen
benennen.

1. Einer der entscheidenden Einflußmomente in Luhmanns intellektueller Karriere war sicherlich die
Begegnung mit Talcott Parsons, dem Luhmann viele Ideen zu verdanken hat. Allerdings war Luhmann
sicherlich nie »orthodoxer« Parsonianer, dazu war sein Denken zu selbständig. Vielmehr machte er
sich bestimmte Gedanken Parsons’ zu eigen, während er andere für das Parsonssche Denken durchaus
zentrale Argumente völlig beiseite ließ.
Luhmann interessierte sich nämlich nicht für die Parsonssche Handlungstheorie; der gesamte frühe
Parsons schien ihm nicht sonderlich zu beeindrucken. Was er dem Parsonsschen Werk entnahm, waren
die strukturfunktionalistischen bzw. systemtheoretischen Denkfiguren aus dessen mittlerer bzw. später
Schaffensperiode. Aber auch hier zeigte sich Luhmann durchaus eigenständig, insofern er die
Parsonsschen Theoriebausteine zunehmend radikalisierte und damit letztlich deutlich umformulierte.
Parsons hatte ja immer gefragt, welche Funktionen ein soziales Phänomen für eine größere Gesamt-
oder Ganzheit zu erfüllen, welche Leistungen beispielsweise die Familie für die Gesellschaft zu
erbringen hat. Ausgangspunkt war bei Parsons also eine (stabile) Systemstruktur, deren Bestand durch
bestimmte funktionale Leistungen, die der Theoretiker zu finden hatte, aufrechterhalten wurde. Dieser
strukturfunktionalistische Ansatz mit seiner charakteristischen Neigung, die Analyse der Strukturen
derjenigen der Funktionen vorzuschalten, stellte Luhmann nicht zufrieden. Er akzeptierte nämlich die
Kritiken, die gegen den Parsonsschen strukturfunktionalistischen Ansatz immer wieder vorgebracht
wurden, so unter anderem den Einwand, 356daß sich in den Sozialwissenschaften die
Bestandserfordernisse von Strukturen oder Systemen nicht genau bestimmen lassen, weil – im
Gegensatz zu biologischen Organismen – das empirische Phänomen des Todes fehlt. Für jede
Theorie, die auf diese Art und Weise von Strukturen und Systemen ihren Ausgangspunkt nimmt und
erst dann nach Funktionen fragt, stellt dieser Einwand in der Tat ein Problem dar, da die eindeutige
Identifikation von Stabilität und Existenz eines sozialen Phänomens damit ins Wanken gerät.
Luhmann beschloß deshalb, die Parsonssche Analysestrategie quasi umzudrehen und gerade das
funktionalistische Moment der Systemtheorie besonders zu betonen, womit er zu einer von Parsons
doch deutlich unterschiedenen Position vorstoßen konnte. Dies zeigte Luhmann auch terminologisch
an, als er ankündigte, daß er die Parsonssche »strukturell-funktionale« durch eine »funktional-
strukturelle« Systemtheorie ersetzen wolle.
Der Grund für die Mängel der strukturell-funktionalen Systemtheorie liegt in ihrem Prinzip selbst, darin nämlich, daß sie den
Strukturbegriff dem Funktionsbegriff vorordnet. Dadurch nimmt die strukturell-funktionale Theorie sich die Möglichkeit, Strukturen
schlechthin zu problematisieren und nach dem Sinn von Strukturbildung, ja nach dem Sinn von Systembildung überhaupt zu fragen. Eine
solche Möglichkeit ergibt sich jedoch, wenn man das Verhältnis dieser Grundbegriffe umkehrt, also den Funktionsbegriff dem
Strukturbegriff vorordnet. Eine funktional-strukturelle Theorie vermag nach der Funktion von Systemstrukturen zu fragen, ohne dabei
eine umfassende Systemstruktur als Bezugspunkt der Frage voraussetzen zu müssen. (Luhmann, »Soziologie als Theorie sozialer
Systeme«, S. 114)

Infolge dieser theoretischen Umstellung setzt sich Luhmann vom Parsonsschen Gedankengebäude
mindestens in drei untereinander verbundenen Hinsichten ab. Erstens: Gerade weil Luhmann nicht
von bestehenden Systemstrukturen ausgeht, die unter allen Umständen erhalten werden müssen, stellt
das Ordnungsproblem für ihn nicht wie für Parsons, der ja ursprünglich handlungstheoretisch
begonnen hatte, das soziologische Zentralproblem dar. Luhmanns Konzeption ist dementsprechend
auch nicht auf Werte oder Normen angewiesen, die das soziale Gefüge zusammenhalten (sollen).
Damit läßt er automatisch den normativistischen Einschlag der Parsonsschen Theorie hinter sich, der
ja – wie Sie sich erinnern werden – in dessen späterer systemfunktionalistischer Phase dazu geführt
hatte, daß den Subsystemen, welche die Funktion der »latent pat357tern maintenance« erfüllen, die
Spitze der kybernetischen Kontrollhierarchie »anvertraut« wurde. Luhmann kann den Parsonsschen
Normativismus schon aus theoretischen Gründen völlig beiseite schieben; er ist zudem auch
empirisch der Auffassung, daß in modernen Gesellschaften Normen und Werte ohnehin keine
integrative Rolle mehr spielen.
Zweitens, wenn Systeme nicht mehr über konkrete Bestandserfordernisse definiert werden und
wenn nun im Unterschied zu Parsons nicht mehr auf die integrativen Leistungen von Werten oder
Normen verwiesen werden muß oder kann, dann sind Systeme abstrakter, und zwar viel abstrakter, zu
fassen. Die Idee, wie dies genau zu geschehen hat, entnimmt Luhmann im wesentlichen der Biologie,
die beobachtet und analysiert, wie sich Organismen etwa durch ständige Regelung ihrer
Körpertemperatur in einer variablen und den Organismus prinzipiell stets bedrohenden Umwelt stabil
halten. Luhmann überträgt dieses ursprünglich biologische Modell auf soziale Ganzheiten und
definiert soziale Systeme als wechselseitig aufeinander bezogene Handlungen, die sich von anderen
Handlungen abgrenzen. Systeme, auch soziale Systeme, sondern sich von ihrer Umwelt ab, wobei
unter »Umwelt« nicht einfach die natürlich-ökologische Umgebung wie im alltäglichen
Sprachgebrauch verstanden wird, sondern all das, was nicht zum System selbst gehört.
Empirisch zu beobachten sind soziale Systeme nur, wenn man sie sich als Handlungssysteme vorstellt. (…) [Für die] funktionale
Systemtheorie, die in der Sozialwissenschaft, aber auch in der neueren Biologie, in der Technik automatischer Regelungssysteme und in
der psychologischen Persönlichkeitstheorie ans Licht drängt, (…) gilt Stabilität nicht mehr als das eigentliche Wesen eines Systems, das
andere Möglichkeiten ausschließt; sondern die Stabilisierung eines Systems wird als Problem aufgefaßt, das angesichts einer
wechselhaften, unabhängig vom System sich ändernden, rücksichtslosen Umwelt zu lösen ist und deshalb eine laufende Orientierung an
anderen Möglichkeiten unentbehrlich macht. So ist Stabilität nicht mehr als unveränderliche Substanz zu begreifen, sondern als eine
Relation zwischen System und Umwelt, als relative Invarianz der Systemstruktur und der Systemgrenzen gegenüber einer veränderlichen
Umwelt. (Luhmann, »Funktionale Methode und Systemtheorie«, S. 39)

Seine funktional-strukturelle Systemtheorie faßt Luhmann somit ganz explizit als eine
»System/Umwelt-Theorie« (ibid.), wodurch er 358seine Analyse von Organisationen nicht nur auf
deren jeweiliges Innenleben beschränken muß, sondern einen weiteren Kontext einbeziehen kann.
Dadurch ist er auch in der Lage, von einer zentralen Hypothese der traditionellen Organisationslehre
abzugehen, die besagt, daß letztendlich der innere Organisationszweck oder bestimmte interne Werte
die Abläufe in der Organisation steuern. Luhmann wird demgegenüber zeigen, daß alles viel
komplizierter ist und daß die zahlreichen Umweltbezüge von Systemen und Subsystemen eine derart
einfache Annahme nicht zulassen.
Drittens schließlich macht Luhmann darauf aufmerksam, daß die Grundprobleme sozialer Systeme
durch bestehende Strukturen nicht ein für alle mal gelöst sind, sondern immer nur vorläufig in einer
bestimmten Form relativ erfolgreich bearbeitet werden. Diese Probleme lassen sich gegebenenfalls
auch durch ganz andere Formen und Strukturen (wiederum vorläufig) lösen, womit Luhmann endgültig
Abschied nimmt von einem Bestandsfunktionalismus, wie ihn noch Parsons vertreten hatte, der
glaubte, daß sich tatsächlich feste Merkmale von Systemen ausmachen und bestimmen ließen.
Luhmann bezeichnet seinen Funktionalismus folgerichtig als Äquivalenzfunktionalismus, weil dieser
stets darauf aufmerksam macht, daß gegebenenfalls immer äquivalente, also gleichwertige Lösungen
benannt bzw. gefunden werden können, welche die Probleme von Systemen (vorläufig) lösen.
Bedingung ist dabei nur: »Die Systemstruktur muß so angelegt und institutionalisiert werden, daß sie
die Selbstvariation unter dem Gesichtspunkt einer laufenden Anpassung an die Umwelt in
notwendigem Umfang zuläßt.« (Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, S. 153)
Luhmanns Zusteuern auf eine derartige äquivalenzfunktionalistische Theorie hat dabei gleichzeitig
den Vorteil, daß sie sich einer weiteren Fundamentalkritik am herkömmlichen Funktionalismus
scheinbar entziehen kann. Wie wir ja in der Vierten Vorlesung schon angesprochen haben, dürfen
funktionalistische Argumente nicht mit Kausalaussagen verwechselt werden: Daß eine Untereinheit
eine Funktion für ein größeres Ganzes erfüllt, sagt noch nichts darüber aus, warum diese Untereinheit
überhaupt entstanden ist. Kritisiert wurde also, daß funktionalistische Theorien lediglich
Beschreibungen oder Kausalhypothesen liefern, nicht jedoch wirkliche Erklärungen.
Luhmann nun setzt sich von Anbeginn seiner Karriere offensiv 359mit diesen Vorwürfen und
Kritiken am Funktionalismus auseinander und tritt quasi mit seiner äquivalenzfunktionalistischen
Betrachtungsweise die Flucht nach vorne an. Er gibt sofort zu, daß die Funktion einer Handlung nicht
deren faktisches Vorkommen erklärt: Funktionalisten hätten deshalb – wie Luhmann bemerkt – immer
wieder versucht, mit je unterschiedlichen bestandsfunktionalistischen Argumentationsweisen
verklausulierte oder indirekte Kausalaussagen zu machen, um das Bestehen und die Stabilität eines
Systems dann doch zu »erklären«. Dies war aber laut Luhmann weder empirisch noch logisch haltbar,
weshalb nach seiner Auffassung die Funktionalisten endlich begreifen und akzeptieren sollten, daß es
gar nicht ihre Aufgabe sein könne, Kausalaussagen zu formulieren (vgl. Luhmann, »Funktion und
Kausalität«). Vielmehr gelte es, den scheinbar unvermeidlichen, aber eben problematischen bzw.
falschen kausalwissenschaftlichen Bestandsfunktionalismus durch einen Äquivalenzfunktionalismus
zu ersetzen. Der damit einhergehende endgültige Verzicht auf Kausalaussagen sei dabei kein Defizit.
Denn man muß sich – so Luhmann – ohnehin eingestehen, daß in komplexen Handlungssystemen
eindeutige Ursachen und Wirkungen kaum auszumachen, Voraussagen und Prognosen deshalb auch fast
unmöglich sind. Eben darin bestehe nun die Chance des Äquivalenzfunktionalismus, denn dieser
verweist nicht auf das faktische Vorkommen bestimmter funktionaler Leistungen, sondern auf eine
Vielzahl von Möglichkeiten, nämlich äquivalente Leistungen, durch die Systeme ihre Außengrenzen
gegenüber ihrer Umwelt stabilisieren können. Das mit dem Äquivalenzfunktionalismus einhergehende
Denken in Möglichkeitskategorien erlaubt es dem Gesellschaftstheoretiker, das Wirken einer Vielzahl
höchst unterschiedlicher Kausalbeziehungen theoretisch durchzuspielen. Die Schwäche des
Funktionalismus, nämlich nicht zu klaren Kausalaussagen fähig zu sein, wird von Luhmann also zu
einer Stärke umdefiniert. Es geht dem funktionalistisch arbeitenden Soziologen gar nicht um das
Aufspüren konkreter Ursache-Wirkungs-Beziehungen, sondern um mögliche kausale Beziehungen; die
funktionalistische Theorie ist also ein heuristisches, ein erkenntnisleitendes Verfahren, mit dem in
expansiver Weise verschiedenste Fragestellungen angegangen werden können, Fragestellungen, die
sich auf die unterschiedlich zu lösenden Stabilisierungsprobleme von Systemen in einer Umwelt
beziehen.
360Das funktionalistische Denken wird vermutlich eine Neubestimmung der menschlichen Freiheit erfordern. Die funktionalistische
Analyse legt den Handelnden nicht auf ein dauerhaft-vollkommenes Ende seines Handelns oder auf einen richtig vorgestellten Zweck
fest. Sie versucht auch nicht, das Handeln aus Ursachen nach Gesetzen zu erklären. Sie deutet es unter gewählten, abstrakten und
insofern austauschbaren Gesichtspunkten, um die Handlung als eine Möglichkeit unter anderen verständlich zu machen. (…) Nicht durch
Aufstellung und Verifikation von Hypothesen über soziale Gesetze kann die Sozialwissenschaft das Problem der Stabilität im sozialen
Leben lösen, sondern nur dadurch, daß sie es als Problem zum zentralen Bezugsgesichtspunkt ihrer Analysen macht und von daher nach
den verschiedenen funktional-äquivalenten Möglichkeiten der Stabilisierung von Verhaltenserwartungen forscht. (Luhmann, »Funktion
und Kausalität«, S. 27)

2. Ein weiterer wichtiger Einfluß auf das Luhmannsche Denken waren theoretische und empirische
Entwicklungen in der biologischen Forschung, die von Luhmann höchst interessiert rezipiert wurden.
Wir hatten ja schon gesehen, wie sehr seine funktionalistische System/Umwelt-Theorie Erkenntnisse
aus der Biologie aufgenommen hat. Aber auch in seinem späten Werk wird Luhmann immer wieder
Anleihen bei der Biologie machen.
Vielleicht noch wichtiger für Luhmann war freilich, daß er in verschiedener Hinsicht an eine sehr
deutsche ›Disziplin‹ anknüpfte – dies allerdings in höchst selektiver Weise. Gemeint ist die
sogenannte »philosophische Anthropologie«. Diese Denkrichtung versteht (verstand) sich als eine
interdisziplinär angelegte »empirische« Philosophie, die es sich zur Aufgabe macht, mit den
Erkenntnissen und Erkenntnismitteln unter anderem der Biologie, der Ethnologie und der Soziologie
die Spezifika menschlicher Existenz und menschlichen Handelns herauszuarbeiten. Diese Art des
Forschens und Denkens hat gerade im deutschen Kulturraum immer großes Interesse hervorgerufen –
und man kann in der deutschen Geistesgeschichte berühmte Vorläufer benennen, die hier
Bahnbrechendes geleistet haben (vgl. hierzu Honneth/Joas, Soziales Handeln und menschliche Natur.
Anthropologische Grundlagen der Sozialwissenschaften): Von der Herderschen
Ausdrucksanthropologie im späten 18. Jahrhundert war schon in der Dritten Vorlesung die Rede, und
für das 19. Jahrhundert müßte man die Arbeiten von Ludwig Feuerbach (1804-1872) und die
philosophisch-anthropologischen Frühschriften von Karl Marx zitieren. Im 20. Jahrhundert waren es
Den361ker wie Max Scheler und Helmuth Plessner (1892-1985), die diese philosophische
Anthropologie geradezu verkörperten. Durch sie wurde aus diesen Ansätzen eine kraftvolle Richtung
der Philosophie und einer in die breitere Öffentlichkeit wirkenden Kulturkritik. Neben diese beiden
Namen ist derjenige von Arnold Gehlen (1904-1976) zu stellen, ein brillanter, aber aufgrund seiner
Verstrickungen in den Nationalsozialismus höchst umstrittener Denker, der einflußreich extrem
konservative gesellschaftspolitische Positionen bezog und unter anderem Soziologie-Lehrstühle in
Speyer und Aachen innehatte.
Gehlens Hauptwerk, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, ursprünglich im
Jahre 1940 veröffentlicht, in der Nachkriegszeit überarbeitet und immer wieder aufgelegt, war die
Grundlegung einer philosophischen Anthropologie, die den Menschen als »Mängelwesen« begriff.
Diese Redeweise mag zunächst merkwürdig klingen; der von Gehlen damit gemeinte Sachverhalt ist
aber relativ einfach zu erklären. Gehlen verwies nämlich darauf, daß der Mensch im Gegensatz zum
Tier durch Instinkte und Triebe nicht wirklich festgelegt oder gebunden ist. Tiere reagieren durch
Instinkte oder Triebe mehr oder minder unmittelbar auf eine gegebene Situation, d. h. auf einen Reiz,
und das durch den Reiz ausgelöste Verhalten läuft dann quasi automatisch ab. Menschen nun – so
Gehlen – sind insofern Mängelwesen, als ihnen genau derartige Triebe oder Instinkte fehlen. Diese
Instinktarmut und gleichzeitige Weltoffenheit eröffnet ihnen auf der anderen Seite aber auch Chancen:
Das Verhalten des Menschen ist von der Funktion im Dienste instinktiver Triebe abgelöst, und damit
ergibt sich die Möglichkeit eines aktiven und vor allem umfassenden Lernens. »Handeln« wird so erst
möglich. Wie Gehlen sagt, ist der Mensch nicht »festgerückt«; er ist eben kein Getriebener, sondern er
muß sich selbst »feststellen« und kann und muß sich dementsprechend durch Intelligenz und durch den
Kontakt mit anderen seine Welt selbst gestalten.
Die fehlende Instinktausstattung des Menschen zwingt ihn aber auch dazu, sich
Verhaltenssicherheiten zu verschaffen: Gewohnheiten und Routinen entlasten den Menschen
hinsichtlich des für jede Handlung eigentlich immer erforderlichen Motivations- und
Kontrollaufwandes, ermöglichen den unproblematischen bzw. leichten Rückgriff auf frühere
Lernerfolge und verhindern somit seine permanente Überforderung (Gehlen, Der Mensch, S. 65 ff.).
Hier ist 362auch schon der Begriff der »Entlastung« gefallen, der für die Gehlensche
Institutionentheorie von zentraler Bedeutung werden und schließlich auch auf die Luhmannsche
Theoriebildung großen Einfluß haben sollte. Denn nicht nur individuelle Routinen und Gewohnheiten
entlasten den Menschen, sondern auch Institutionen und Traditionen. Institutionen nämlich
sind die Formen, die ein seiner Natur nach riskiertes und unstabiles, affekt-überlastetes Wesen findet, um sich gegenseitig und um sich
selbst zu ertragen, etwas, worauf man in sich und den anderen zählen und sich verlassen kann. Auf der einen Seite werden in diesen
Institutionen die Zwecke des Lebens gemeinsam angefaßt und betrieben, auf der anderen Seite orientieren sich die Menschen in ihnen zu
endgültigen Bestimmtheiten des Tuns und Lassens, mit dem außerordentlichen Gewinn einer Stabilisierung auch des Innenlebens, so daß
sie nicht bei jeder Gelegenheit sich affektiv auseinanderzusetzen oder Grundsatzentscheidungen sich abzuzwingen haben. (Gehlen,
»Mensch und Institutionen«, S. 71)

Leicht können aus derartigen Argumenten konservative Schlußfolgerungen gezogen werden. Gehlen
leitete aus seinem Argument, daß das Mängelwesen Mensch der Entlastung bedürfe und diese durch
Institutionen zu leisten sei, ein Plädoyer für einen starken Staat ab. Dies hatte ihn zum Sympathisanten
des Dritten Reiches gemacht. Jede Kritik an etablierten gesellschaftlichen Strukturen sah er als
gefährlichen Beitrag zum »Untergang des Abendlandes«. Mit dieser Haltung wurde Gehlen zu einer
Zentralfigur der deutschen konservativen Kulturkritik der 1950er und 1960er Jahre.
Luhmann nun griff wichtige Gedanken Gehlens auf. Ob dies aus ähnlichen politisch-kulturkritischen
Motiven geschah, soll dahingestellt bleiben; dies ist auch schwer zu beantworten, da der betont
distanzierte Wissenschaftler Luhmann nur selten klare politische Positionen bezog, sondern diese in
seinem Werk oft nur versteckt aufscheinen ließ. Jedenfalls verwendete Luhmann auch aus
theoretischen Gründen den Gehlenschen Begriff der Entlastung und übersetzte ihn in die Sprache der
Systemtheorie mit der seither populär gewordenen und Ihnen sicherlich auch bekannten Redewendung
von der »Reduktion von Komplexität«. Freilich erfolgte dieser Übersetzungsprozeß im Hinblick auf
Luhmanns eigenes Projekt – und dieses war von demjenigen Gehlens höchst verschieden. Denn
während Gehlen wie alle Vertreter der philosophischen Anthropologie 363den Menschen in den
Mittelpunkt seiner Reflexionen stellte, den Menschen als handelndes Wesen definierte und insofern
Handlungstheoretiker war, war Luhmann an Handeln als solchem nur wenig interessiert.
Es kann deshalb auch nicht überraschen, daß die Idee der »Entlastung« von Luhmann vornehmlich
für systemtheoretische Zwecke genutzt wurde. Luhmann verstärkte ja – wie gesehen – die
funktionalistischen Elemente innerhalb des ursprünglich Parsonsschen systemtheoretischen Gebäudes,
und der Rückgriff auf die Gehlensche Denkfigur bot ihm hierbei besondere Möglichkeiten. Denn auf
die von Luhmann gestellte, von Parsons aber nicht weiter beachtete Frage »Was ist eigentlich die
Funktion von Systemen oder Strukturen als solche, was ist also die Funktion der Strukturbildung
selbst?« antwortet nun Luhmann: »Die Reduktion von Komplexität!« Institutionen, stabile Strukturen
oder Systeme legen bestimmte Interaktionsformen fest, grenzen die Handlungsmöglichkeiten der
Interaktionsteilnehmer ein, verringern also deren prinzipiell unendlich große Zahl, und schaffen
dadurch nicht nur individuelle Verhaltenssicherheit, sondern auch ein geordnetes Zusammenhandeln
zwischen Menschen. So wie Gehlen argumentiert hatte, daß die Handlungsfähigkeit von Menschen
abhängig sei von entlastenden Routinen, Gewohnheiten und schließlich Institutionen, so argumentiert
auch Luhmann, daß »Leistungssteigerung (…) angesichts der unveränderbar geringen
Aufmerksamkeitsspanne menschlichen Erlebens nur durch Systembildungen erfolgen [kann], die
sicherstellen, daß Informationsverarbeitungen in einem sinnvollen Zusammenhang erfolgen (…)«.
(Luhmann, »Soziologische Aufklärung«, S. 77) Soziale und andere Systeme reduzieren also die
prinzipiell unendlich komplizierte Umwelt, indem sie relativ begrenzte Handlungsmöglichkeiten
festlegen und genau dadurch »Leistungssteigerung« ermöglichen. Dadurch grenzen sie sich
gleichzeitig aber auch von der Umwelt ab, also beispielsweise von anderen Systemen, die ihrerseits
wiederum nur ganz spezifische Handlungsmöglichkeiten privilegieren. Systeme – um es nochmals zu
wiederholen – verringern also die Komplexität der Umwelt, bauen in sich aber gleichzeitig wieder
komplexe Strukturen auf, wie jeder weiß, der schon einmal mit einer staatlichen Behörde oder einem
großen Industrieunternehmen zu tun hatte, deren Organisationsstrukturen in sich enorm differenziert
ausgestaltet sein können.
3643. Ein weiterer Einfluß auf Luhmann kam schließlich von der Phänomenologie Edmund
Husserls. Dieser philosophischen Tradition sind wir schon in der Siebten Vorlesung zur
Ethnomethodologie begegnet, und insofern werden Ihnen einige ihrer Grundideen schon bekannt sein.
Doch während sich die Ethnomethodologen in erster Linie für den Lebensweltbegriff des späten
Husserl interessierten, knüpfte Luhmann eher an dessen wahrnehmungspsychologische Studien an.
Husserl hatte ja ganz ähnlich wie die amerikanischen Pragmatisten gezeigt, daß Wahrnehmung kein
passiver Prozeß ist, sondern einer, der notwendig auf die aktivischen Leistungen eines Bewußtseins
angewiesen ist. In diesem Kontext wahrnehmungspsychologischer Untersuchungen verwendete
Husserl Begriffe wie »Intentionalität«, »Horizont«, »Welt« oder »Sinn«, um argumentativ zeigen zu
können, daß unser Handeln und Wahrnehmen nicht die ganze Welt zum Thema hat, sondern fokussiert
und damit immer nur auf einen Ausschnitt aus dieser Welt bezogen ist, so daß sich für uns Bedeutung
und Sinn aus einem bestimmten Wahrnehmungshorizont ergeben. Diese Einsichten und Kategorien der
Phänomenologie, die bei der Untersuchung individuellen Wahrnehmens gewonnen worden waren,
überträgt nun Luhmann auf soziale Systeme, die von ihm als Quasi-Subjekte behandelt und verstanden
werden: Systeme im allgemeinen und soziale Systeme im besonderen reduzieren – wie wir schon
gesehen haben – die Komplexität der Welt; es ist diese unendliche Komplexität der Welt, die zum
obersten Bezugspunkt funktionaler Analyse wird, weil erst durch diese Reduktion Sinn erzeugt
werden kann. Nicht mehr der Bestand von Systemen ist – wie noch bei Parsons – Ausgangspunkt
einer jeden funktionalen Analyse, sondern die Analyse hat am Problem der Komplexität der Welt
anzusetzen, weil sich nur von hier aus die Funktion von Systemen begreifen läßt. Ohne diese
Reduktionsleistung von Systemen würden wir nämlich in einem unendlichen und damit prinzipiell
unverständlichen Meer von Wahrnehmungen versinken; erst durch den Aufbau von Systemen wird
überhaupt Bedeutungsverleihung möglich, weil Systeme uns zwingen, uns auf einen vergleichsweise
kleinen und damit prinzipiell beherrschbaren Ausschnitt der Welt zu konzentrieren. In psychischen und
sozialen Systemen wird also Sinn produziert, womit auch festgelegt wird, was gedacht und gesagt
werden kann und was nicht. Im gesellschaftlichen Subsystem der Wirtschaft etwa sind (Geld-
)Zahlungen und 365»Gewinn« der entscheidende Bezugspunkt jeder Kommunikation und jedes
Handelns, nicht der ästhetische Genuß, sportliche Eleganz oder aufrechte Gesinnung. Systeme nehmen
nur einen Ausschnitt der Welt wahr, funktionieren vor dem Hintergrund eines ganz bestimmten
Horizonts der Welt und somit ganz anders als die in ihrer Umwelt sich befindenden Systeme. Systeme
– so die mehr oder minder implizite These von Luhmann – sind ähnlich strukturiert wie erkennende
Individuen bei Husserl: ihre Wahrnehmung ist immer eine nur begrenzte, und ihre interne Logik ist nur
dann zu verstehen, wenn man ihre Wahrnehmungsform von Welt versteht und die Art und Weise ihrer
Sinnproduktion.

Damit haben wir nun die drei Einflüsse benannt, die das Luhmannsche Denken entscheidend geprägt
haben. Es ist schwer zu bestimmen, ob diese homogener oder heterogener waren als diejenigen, die
wir zur Erläuterung der Habermasschen Werkentwicklung herangezogen haben. Dies ist hier aber
auch nicht von Bedeutung, denn wie bei Habermas wurden diese je unterschiedlichen Einflüsse durch
zentrale Intuitionen zusammengebunden. Luhmanns Synthese aus parsonianischen, philosophisch-
anthropologischen und phänomenologischen Grundideen erhielt ihre Überzeugungs- und
Durchschlagskraft dadurch, daß er sich Erfahrungen aus seiner Berufslaufbahn als Jurist in einem
bürokratischen Betrieb zunutze machte bzw. seine theoretischen Analysen zu je unterschiedlichen
empirischen Bereichen aus einer Perspektive vorantrieb, die an den Problemen von Verwaltungen
bzw. formalen Organisationen orientiert war. Während Habermas von den Leistungen der Sprache
begeistert war und genau deshalb ein besonderes Interesse für die rationale Kraft der freien
Diskussion und die Bedeutung der politischen Öffentlichkeit entwickelte, war Luhmann fasziniert von
den Leistungen bürokratischer Institutionen und den Verfahren, die formale Organisationen
entwickeln, um sich in einer Umwelt behaupten, von dieser abgrenzen und in großer Routine
funktionieren zu können.
Damit ist auch schon eine weitere Differenz zum Habermasschen Projekt sinnfällig. Während
Habermas mit seiner Intuition von den Leistungen der Sprache auch eine klar normative Stoßrichtung
verfolgte und mit der Idee der in der Sprache steckenden Rationalitätspotentiale eine fundierte Kritik
an bestehenden gesellschaftlichen Strukturen voranzutreiben versuchte, war Luhmanns Unterfangen
366dezidiert nicht-normativ, ja geradezu anti-normativ. Gesellschaftskritik lag ihm völlig fern, er ließ
allenfalls die Frage zu, welche Funktionen eine solche Kritik, oder noch viel allgemeiner: die
Anrufung von Werten oder Normen überhaupt in einer modernen Gesellschaft haben könne. Dieser
prinzipiell nicht-normative Standpunkt Luhmanns hängt vermutlich mit seiner schon angesprochenen,
ganz spezifischen Erfahrung der Umstände des Jahres 1945 zusammen. Aber nicht der genaue
biographische Hintergrund ist hier entscheidend. Wichtig ist vielmehr, daß in Luhmanns
Theorierahmen der Begriff der »Kontingenz« immer eine ganz entscheidende Rolle gespielt hat.
Luhmann war tatsächlich stets fasziniert von der »Kontingenz« sozialer Phänomene und Ordnungen,
von der Vorstellung, daß alles eben auch anders sein könnte, wobei »kontingent« bei Luhmann
definiert wird als das, was »weder notwendig, (…) noch unmöglich ist«, daß etwas »so, wie es ist
(war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist«. (Luhmann, Soziale Systeme, S. 153)
Luhmanns Definition stammt ursprünglich von Aristoteles und findet sich auch bei William James.
Dieser verwendete sie 1907 in seinem Buch Der Pragmatismus. Ein neuer Name für alte
Denkmethoden (vgl. insbesondere S. 182 ff.; engl.: Pragmatism), um eine bestimmte politische
Position zu markieren, nämlich einen vorsichtigen, anti-utopischen Reformismus (James spricht von
»Meliorismus«), der sich der Begrenzungen eines jeden politischen Handelns bewußt ist, dessen
Ergebnisse »kontingent« sind und deshalb nicht wirklich vorhergesagt werden können, was politisch
Verantwortliche zu einer Politik der kleinen Schritte veranlassen sollte. Luhmann spricht ebenfalls
von der radikalen Kontingenz einer jeglichen sozialen Ordnung, die immer auch eine ganz andere sein
könnte, zieht aber daraus in der für ihn typischen Weise ganz andere Schlüsse als James.
Nicht nur dient ihm diese These zur Rechtfertigung des schon oben beschriebenen Verzichts auf
klare Kausalaussagen und der Verwendung der äquivalenzfunktionalistischen Methode. Die These von
der prinzipiellen Kontingenz sozialer Phänomene prägt auch ganz entscheidend Luhmanns
Argumentationsstil: Eben weil soziale Ordnungen »weder notwendig noch unmöglich« sind, hat man
sich moralischer Urteile zu enthalten, da die Moral immer unterstellt, daß bestimmte Wirkungen
notwendig aus bestimmten Handlungen folgen. Und genau durch diese Einstellung erzielt das
Luhmannsche 367Werk auch seine literarischen Effekte; es ist diesem – und dies ist für den
»normalen« Leser mit Sicherheit ungewohnt – die systematische und konsequente Enthaltung von
moralischen Urteilen anzumerken, wodurch sich eine erhebliche Verfremdungswirkung ergibt, die
durch Luhmanns hochabstrakte Sprache, mit der er selbst trivialste Sachverhalte beschreibt, noch
weiter gesteigert wird. Luhmann weist selbst darauf hin: Es geht der Theorie
nicht um ein Anerkennungs- und Heilungsinteresse, auch nicht um ein Bestandserhaltungsinteresse, sondern zunächst und vor allem um
ein analytisches Interesse: um ein Durchbrechen des Scheins der Normalität, um ein Absehen von Erfahrungen und Gewohnheiten (…).
(Luhmann, Soziale Systeme, S. 162)

Derartige Effekte spielten auch in der Literatur eine wichtige Rolle – bei Bertolt Brecht etwa, der
Alltagserscheinungen auf der Bühne »verfremdete«, um sie in ihrer Veränderbarkeit erkennbar zu
machen. Während aber bei Brecht ein zutiefst moralischer und politischer Impetus am Werk war, ist
dies bei Luhmann gerade nicht der Fall. Die von ihm erzielten Verfremdungswirkungen erinnern
insofern eher an Formen der Ironie, wie sie von Romantikern wie E.T.A. Hoffmann oder Ludwig
Tieck verwendet wurden, um etwa das Wissen über den unvermeidlichen Zwiespalt zwischen Ideal
und Wirklichkeit literarisch zum Ausdruck zu bringen.
So wie manche romantischen Ironiker, so steht auch Luhmann gewissermaßen »über den Dingen«.
Der Sozialtheoretiker zeigt zwar, warum Menschen in der Gesellschaft an Normen, Werte, Religion
etc. glauben, er selbst ist aber weit davon entfernt, dies auch zu tun, und kann deshalb auf die von ihm
beobachteten Sachverhalte nur mit mehr oder minder milder Ironie reagieren. Luhmanns Ort innerhalb
der Gesellschaft ist nicht auszumachen; er ist gewissermaßen ein Analytiker, der nicht wirklich zu
identifizieren ist, er spricht quasi aus dem »off«. Und genau diese Positionierung macht zu einem
erheblichen Teil die Faszination des Luhmannschen Denkens aus; sie ist wohl der Grund dafür, daß
seine Theorie vor allem seit den 1980er Jahren eine so große Anhängerschaft gewonnen hat. Wie der
Marxismus und auch der Neo-Utilitarismus (vgl. die Fünfte Vorlesung) ihre jeweils unterschiedlichen
Anhängerschaften aus einem Entlarvungsmotiv heraus rekrutieren konnten, so gewann auch Luhmann
seine »Jünger« in ähnlicher Weise. Doch während 368bei Marxisten und Neo-Utilitaristen das
Wahrheitsmoment ausschlaggebend war – man versuchte ja die ökonomischen und
nutzenbezogenen/egoistischen Wirklichkeiten hinter den schönen »normativen« Fassaden aufzudecken
–, enthält sich Luhmann bewußt jeder Verortung. Der Hinweis darauf, daß alles ganz anders sein
könnte, hat zwar auch eine entlarvende Wirkung, jedoch ist die Suche nach Wahrheit gerade wegen
der Kontingenzproblematik von vornherein vergebens. Was bleibt, ist der Gestus der ironisch-
distanzierten Betrachtung, ein Standpunkt, der Überlegenheit suggeriert und deshalb in bestimmten
Zeiten besondere Attraktivität entwickeln kann. Luhmann selbst hat etwa in seinem letzten großen
Werk von dieser romantischen Ironie gesprochen, ohne freilich – typisch für ihn – ausdrücklich zu
sagen, ob er sich tatsächlich als ein solcher Ironiker begreift:
Man kann (…) immer noch wählen, ob man Darstellungsformen bevorzugt, die Betroffensein und Mitleiden zum Ausdruck bringen, was
ohne Parteinahme in der Sache selbst kaum möglich ist, oder ob man die Reflexionsform der (romantischen) Ironie bevorzugt, die das
Verwickeltsein in die Angelegenheiten malgré tout als Distanz zum Ausdruck bringt. (Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft,
S. 1129)

Angesichts dieser (indirekten) Berufung auf die romantische Ironie ist es deshalb vermutlich nicht
falsch, wenn man Luhmann als einen spezifischen Vertreter der »skeptischen« Nachkriegsgeneration
deutet, jener Generation, die Luhmanns Förderer, der schon erwähnte Helmut Schelsky, in einer
einflußreichen soziologischen Studie beschrieben hatte: Eine Generation, die – weil zu oft und
insbesondere durch den Nationalsozialismus verführt – alle großen Ideale verloren hatte und allein
schon deshalb nicht mehr bereit war, moralische und politische Schlachten zu schlagen. Luhmanns
zahlreiche Anhängerschar freilich war und ist jünger, der Kriegsgeneration jedenfalls nicht mehr
zuzuordnen. Viele entstammen vielmehr jener oftmals als zynisch bzw. hedonistisch beschriebenen
Generation der 1980er Jahre, die nach den scheinbar vergeblichen Kämpfen ihrer Eltern in den
1960er und 1970er Jahren ebenfalls den Glauben an große Ideale verloren hatte und damit ebenfalls
»skeptisch« eingestellt war.
Soweit zu Luhmanns intellektueller Herkunft und seinen zentralen Ideen. Angesichts seiner enormen
Produktivität und somit der gro369ßen Zahl der von ihm publizierten Schriften kann es im folgenden
nicht darum gehen, einen Gesamtüberblick über seine Werkentwicklung zu geben. Statt dessen soll
versucht werden, besonders wichtige Arbeiten oder solche, die einen relativ einfachen Zugang zu
Luhmanns Denken ermöglichen, kurz zu skizzieren und die wichtigsten Phasen seiner
Werkentwicklung zu benennen. Wir wollen dies im folgenden in drei Schritten tun.
A) Luhmanns in den 1960er Jahren publizierte Schriften sind überwiegend Themen aus der
Organisations-, Rechts- und politischen Soziologie gewidmet und scheinen insofern nur für ein
kleines Fachpublikum interessant zu sein. Freilich würde eine ausschließliche Konzentration auf das
von Luhmann bearbeitete empirische Material übersehen, daß sich bereits in diesen Arbeiten die
größere theoretische Perspektive Luhmanns andeutete, ja daß er bereits mit diesen Arbeiten seine
spätere Großtheorie vorbereitete. Insofern ist ein theoretisch interessierter Blick auf diese
Schaffensperiode Luhmanns geradezu zwingend.
Im wesentlichen sind drei Monographien aus dieser Zeit besonders bekannt und einflußreich
geworden: die schon genannte Untersuchung Funktionen und Folgen formaler Organisation aus dem
Jahr 1964, das 1968 publizierte Buch Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von
Zwecken in sozialen Systemen und schließlich Legitimation durch Verfahren von 1969, deren
argumentative Pointen wir im folgenden kurz herausarbeiten wollen, um Ihnen Luhmanns Denkweise
und die wesentlichen Differenzen zu anderen soziologischen Theoretikern anhand empirischer
Untersuchungsfelder nahezubringen.
Funktionen und Folgen formaler Organisation war – in einer mit empirischem Material
gesättigten Weise – im wesentlichen eine Auseinandersetzung mit zentralen Annahmen der
herkömmlichen Organisationssoziologie. Klassiker dieser Teildisziplin wie der deutsch-italienische
Soziologe Robert Michels (1876-1936) oder Max Weber haben Organisationen und vor allem
Bürokratien mit den Begriffen von Herrschaft und Gehorsam, von Zweck und Mittel zu beschreiben
und zu erklären versucht. Weber wie Michels hatten dabei eine Wahlverwandtschaft unterstellt
zwischen dem zweckrationalen Handlungsmodell, wie es unter bestimmten Umständen auf
individuelle Akteure angewandt werden kann, und den von Organisatio370nen verfolgten Zwecken.
Oder etwas anders formuliert: Michels wie Weber verstanden Bürokratien als rationale
Handlungsträger im großen, als Quasi-Maschinen, die zur Erfüllung bestimmter Zwecke programmiert
sind und auch genau so funktionieren. Max Weber hat dies etwa in seinen Politischen Schriften
entsprechend beschrieben: Die Verwaltungsbürokratie ist ein willfähriges Instrument in der Hand des
jeweiligen Ministers und hat dies auch zu sein, sie muß die Vorgaben des politisch Verantwortlichen
umsetzen. Bürokratien werden somit als hierarchische Organisationen begriffen, an deren Spitze
derjenige steht, der die Ziele formuliert und dem die Untergebenen, die Referenten,
Ministerialbeamten, Verwaltungsfachleute etc., dann zuarbeiten.
Luhmann bezweifelt nun, daß Organisationen und Bürokratien sich auf diese Art und Weise
zutreffend beschreiben lassen, und er kann hier auf vielfältige empirische Studien verweisen, welche
seit den Zeiten Michels’ und Webers veröffentlicht worden sind. Diese haben unter anderem gezeigt,
welche große Rolle sogenannte informelle Beziehungen in Bürokratien spielen, wie wichtig
beispielsweise das gute und vertrauensvolle Verhältnis zwischen Chef und Sekretärin ist, wie
bedeutsam Freundschaftsbeziehungen in Bürokratien sind oder wie nützlich »eigentlich« nicht
existente Informationskanäle zwischen verschiedenen Unterbehörden sein können: Der kleine
Dienstweg, ein kurzer informeller Anruf, löst Probleme oft viel schneller als der langsame und
beschwerliche Instanzenweg mittels Einschaltung zahlreicher, formell zuständiger Amtspersonen!
Legt man Webers idealtypische Beschreibung von formalen Organisationen und Bürokratien zugrunde,
dann wären solche informellen Prozesse lediglich als »Sand im Getriebe«, als Störungen oder
zumindest als nicht weiter wichtige Phänomene zu bezeichnen, was aber an den Realitäten
funktionierender Organisationen völlig vorbeiginge.
Diese Ergebnisse organisationssoziologischer Forschungen, die zeigen, daß die Handlungsmotive
der Organisationsmitglieder keineswegs immer mit den Zwecksetzungen der Organisationsspitze in
Einklang stehen müssen, weisen auch darauf hin, daß wichtige Annahmen der klassischen
Organisationssoziologie mit großer Vorsicht zu genießen und erhebliche Abstriche zu machen sind an
jenem Idealtypus der Bürokratie und Organisation. Diese Einsicht ist ja beispielsweise auch den
Arbeiten des Symbolischen Interak371tionismus zu entnehmen, insofern dort z. B. mit der
Begrifflichkeit der »negotiated order« die Flüssigkeit sozialer Prozesse selbst in hochgradig
geregelten Institutionen betont worden war (vgl. die Sechste Vorlesung).
Doch Luhmann will mehr. Er will nicht nur eine Ergänzung oder teilweise Revision der bisherigen
Forschung, sondern es geht ihm darum, diese klassischen Annahmen im Kern zu erschüttern und
überhaupt zu bestreiten, daß Bürokratien oder Organisationen anhand eines festgelegten
Organisationszwecks zu begreifen seien. Dies nämlich – so Luhmann – ist schlicht nicht der Fall,
Zwecksetzungen spielen für die Analyse von Organisationen keine oder nur eine untergeordnete
Rolle:
Menschen schließen sich wohl in den meisten Fällen aus bewußt erlebten Gründen oder gar zu bestimmten Zwecken zusammen: um
Bedürfnisse zu befriedigen, Probleme zu lösen. Damit wird der Grundstein für eine formale Ideologie ihres Zusammenschlusses gelegt.
Diese Gründe sind eine Sache, die Probleme, die in der Fortführung des Zusammenlebens auftreten, eine andere. Nicht alle Bedürfnisse,
die nun entstehen, nicht alle sinnvollen Impulse und Chancen lassen sich unter das Dach der Gründungsstruktur bringen, selbst dann nicht,
wenn diese hin und wieder modifiziert und angepaßt wird. Es entsteht ein soziales System, das komplexen Anforderungen genügen und
an mehreren Fronten verteidigt werden muß (…). (Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, S. 27)

Sie werden sich aus der Neunten Vorlesung daran erinnern, daß diese Argumentation auch für Jürgen
Habermas höchst einsichtig und vor allem folgenreich war, hat Habermas doch den Gedanken
akzeptiert, die Handlungstheorie sei nicht in der Lage, makrosoziologische Zusammenhänge
ausreichend zu erhellen, weil sich eben die Handlungsziele der Individuen nicht auf dieser
Aggregationsebene wiederfinden lassen. Dies war für ihn dann der entscheidende theoretische Grund,
den Systembegriff zu übernehmen und ihn in seine Theorie einzubauen.
Zur Erhaltung einer Organisation oder eines Systems ist also – so Luhmann – mehr erforderlich als
nur die Erfüllung eines irgendwann einmal definierten Zwecks. Erkennt man dies an, dann müssen
auch die Teile und Teilbereiche der jeweiligen Organisation bzw. des jeweiligen Systems mehr
erfüllen, als nur diesem vermeintlichen Zweck zu dienen (a.a.O., S. 75). Die Differenzierung des
Systems oder der Organisation in Untereinheiten und Teile leitet sich jeden372falls nicht aus dem
obersten Organisations- oder Systemzweck her. Dies würde nur zu massiven Einschränkungen der
Funktionsweise, zu einer fehlenden Anpassung an die System- oder Organisationsumwelt führen.
Denn:
Erstens können nicht alle systemnotwendigen Leistungen auf einen einzigen oder auf mehrere widerspruchsfrei zusammenhängende
Systemzwecke bezogen werden. Das würde eine perfekt geordnete, stabile Umwelt voraussetzen, die das System um seines Zweckes
willen erhält. Da diese Voraussetzung nie ganz erfüllbar ist, müssen alle Systeme neben ihrem Zweck weitere Strategien der
Selbsterhaltung entwickeln. Nur wo solche Selbsterhaltungsmechanismen vorhanden sind, hat es überhaupt Sinn, von System zu
sprechen. Zweitens können konkrete Handlungen nie exklusiv auf einen Zweck bezogen werden. Das hieße ihre Nebenfolgen
ignorieren. Handlungen haben immer vielfältige Folgen, die verschiedene Systemprobleme teils günstig, teils nachteilig berühren. Jede
faktische Handlung, jede konkrete Teilstruktur eines Systems ist in diesem Sinne multifunktional. (Luhmann, a.a.O., S. 75/76)

Wenn man auch dies akzeptiert, dann ist des weiteren zu folgern, daß Systeme »nicht nach Maßgabe
eines einzigen Kriteriums, z. B. eines Zwecks, rationalisiert werden« können, sondern eben
»multifunktional organisiert werden« müssen (a.a.O., S. 134/135). Die Organisationssoziologie hat
dem Rechnung zu tragen und darf deshalb nicht mehr von der Vorstellung der Widerspruchsfreiheit
und absoluten Stabilität als zwingenden Systemnotwendigkeiten ausgehen, sondern muß vielmehr
akzeptieren, daß Systeme gerade diese Widersprüchlichkeiten brauchen, um in einer prinzipiell nie
voll beherrschbaren Umwelt bestehen zu können (a.a.O., S. 269).

Blickt man aus der Distanz auf dieses erste große Buch Luhmanns, so fällt folgendes auf: Luhmann ist
zu dieser Zeit durchaus noch an handlungstheoretischen Fragestellungen interessiert, zumindest
diskutiert er diesbezügliche Probleme auch. So weist er darauf hin, daß es nicht nur auf der Ebene
von Organisationen oder Bürokratien berechtigte Kritik an den hierbei überwiegend verwendeten
Zweck-Mittel-Kategorien gab und gibt, sondern auch auf der Ebene der individuellen Akteure. Er
zitiert (a.a.O., S. 100, Fn. 20) bezeichnenderweise wiederum Arnold Gehlen, hier dessen Buch
Urmensch und Spätkultur, in dem Gehlen unter Bezugnahme auf den amerikanischen Pragmatismus
darlegt, daß Handeln nicht immer nur als 373Zweck- und Zielverwirklichung, sondern auch als
zwecklose Tätigkeit gedeutet werden kann, in der das Handeln zum Selbstzweck wird (siehe unsere
Parsons-Kritik in der Dritten Vorlesung und vgl. auch die Sechste Vorlesung). Dies hätte für Luhmann
Anstoß sein können, handlungstheoretisch anzusetzen, also zu fragen, ob nicht die Probleme des
Weberschen oder Michelsschen Bürokratiemodells einer schon von Haus aus problematischen
Handlungstheorie geschuldet seien, einer Handlungstheorie, die aus verschiedenen Gründen immer
Zweckrationalität prämiert hat und demgegenüber andere Formen des Handelns tendenziell als
defizitär oder nicht-theoriefähig betrachten mußte. Insofern wären dann von Weber (und Michels)
auch auf der Makroebene Ordnungsformen wie Organisationen und Bürokratien idealtypisch
entworfen worden, die genau wieder dieses zweckrationale Handeln in den Mittelpunkt stellten, die
aber damit die Realität von Prozessen in Organisationen und Bürokratien weit verfehlten. So oder so
ähnlich hat ja auch der Symbolische Interaktionismus argumentiert, als man dort mit dem »negotiated
order approach« die in der Soziologie so fest verankerte Vorstellung von hyperstabilen
Organisationen aufzubrechen versuchte: Dort sollte eine gegenüber Weber stark modifizierte, nämlich
pragmatistische Handlungstheorie dazu dienen, eine empirienähere Vorstellung vom Funktionieren
von Organisationen zu gewinnen (siehe nochmals die Sechste Vorlesung).
Luhmann geht nun genau diesen Weg nicht. Er macht sich nicht daran, die der herkömmlichen
Organisationssoziologie zugrundeliegenden, aber eben problematischen Handlungsvorstellungen zu
korrigieren, um dann ausgehend von einer verbesserten Handlungstheorie zu immer »höheren«
Aggregationsebenen aufzusteigen. Seine Strategie war vielmehr, sofort den »Übertritt« zur
Systemtheorie zu vollziehen.
Deutlicher noch als in Funktionen und Folgen formaler Organisation erfolgt Luhmanns endgültige
Verabschiedung der Handlungstheorie dann in einem weiteren berühmt gewordenen, überwiegend
organisationssoziologischen Buch aus den 1960er Jahren, nämlich in Zweckbegriff und
Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen. Titel wie Untertitel
dieses Buches sind dabei buchstäblich Programm.
In diesem Werk setzt Luhmann sich noch viel direkter und vor allem ausführlicher als in dem
soeben besprochenen Buch mit der 374handlungstheoretischen Problematik des Zweckbegriffs
auseinander. So zitiert er unter anderem John Dewey und die amerikanischen Pragmatisten, um sich
ihrer Kritik an der Vorstellung vom Handeln als eines stets zielgesteuerten und zweckbezogenen
Prozesses und ihrer Kritik am »teleologischen Handlungsmodell« (vgl. Zweckbegriff und
Systemrationalität, S. 18 ff.) anzuschließen. Dewey etwa, auf den sich schon Gehlen bezogen hatte,
begriff den Handlungsfluß des Menschen nicht kausalistisch im Sinne einer die Handlung auslösenden
Ursache, die dann den weiteren Handlungsakt automatisch determiniert. Denn dies würde – wie
später auch die Symbolischen Interaktionisten und die Ethnomethodologen immer wieder betont haben
– die Reflexivität der Akteure, ihre Deliberationsleistungen, und auch ihre Kreativität im Umgang mit
neuen Situationen völlig ausblenden (vgl. Joas, Die Kreativität des Handelns, S. 224 ff. und die
Sechste und Siebte Vorlesung).
Luhmann stimmt dem zu, macht sich aber nicht auf die Suche nach einer besseren, etwa nicht-
teleologisch gestalteten Handlungstheorie; vielmehr geht er sofort dazu über, aus einer
systemtheoretischen Perspektive zu fragen, welche Funktionen Zwecke und Werte erfüllen oder
welche Funktionen es hat, wenn Akteure behaupten, nach bestimmten Werten und Zwecken zu handeln.
Luhmann weiß oder scheint zu wissen, daß in den Natur- wie in den Sozialwissenschaften kaum klare
Kausalketten auszumachen sind. Im Hinblick auf die Anwendbarkeit des Kausalschemas behauptet er
etwa, »daß es keine exakten Vorhersagen notwendiger Wirkungen bestimmter Ursachen gibt, sondern
nur Wahrscheinlichkeiten, die sich nach der Verteilung möglicher Ursachen auf Kausalkontexte
richten, die zur faktischen Bewirkung einer Wirkung erforderlich sind«. (Zweckbegriff und
Systemrationalität, S. 26, Fn. 7) Ähnliches ließe sich auch zu Werten sagen, die in Wirklichkeit ja nie
klare Handlungsanweisungen geben und bei denen es auch nicht vorstellbar ist, daß sie das Handeln
eindeutig steuern. Warum gibt es aber dann im Alltag wie in Organisationen und Bürokratien stets die
Rede von Zwecksetzungen, von angeblich leitenden Werten? Luhmanns Antwort darauf lautet, daß
Zwecksetzungen und Werte dem Handelnden lediglich dazu dienen, Komplexität zu reduzieren.
Zwecksetzungen bzw. die dahinterstehende Vorstellung, daß Akteure tatsächlich überschaubare und
antizipierbare kausale Wirkungen erzielen könnten, strukturieren ebenso wie Wertsetzungen den
Handlungshorizont von 375Akteuren für rationale Problemlösungen. Luhmann stellt die These auf,
daß das menschliche Potential für Komplexität, das Vermögen, komplexe Sachverhalte zu erfassen und zu verarbeiten, seinen
Schwerpunkt in den unterbewußten Wahrnehmungsprozessen hat, daß dagegen alle höheren, bewußtselektiven Denkleistungen nur sehr
wenige Variabeln zugleich überblicken können. Während es mir nicht schwer fällt, zwischen zwei Obstkörben zu wählen, wenn der eine
vier, der andere fünf Apfelsinen enthält, ist die Wahl zwischen Körben mit gemischtem Obst sehr viel schwieriger, selbst wenn die
Wertdifferenz erheblich größer ist. Ich muß mich dann entweder auf eine sehr starke, dominierende Präferenz festlegen – etwa Bananen
über alles schätzen – oder einen Preisvergleich vornehmen, in jedem Falle also einen Umweg einschlagen, um zunächst Komplexität zu
reduzieren. Aus demselben Grunde verliert man den Überblick über Kausalzusammenhänge rasch, wenn man mehrere
hintereinandergeschachtelte Kausalfaktoren zugleich als Variable behandeln muß. Aus dieser Schwierigkeit hilft, ähnlich wie die
Vereinfachungen in unserem Obstkorb-Beispiel, die Unterscheidung von Ursachen und Wirkungen heraus. Denn sie ermöglicht es,
jeweils nur einen Faktor im Lichte der Konstanz der anderen zu variieren, und dann, wenn diese Überlegung abgeschlossen ist, das
gleiche Schema auf ganz oder teilweise andere Faktoren neu anzuwenden. (Luhmann, a.a.O., S. 31/32)

Ursache-Wirkungs-Annahmen haben also wie Werte die Funktion, Komplexität zu reduzieren.


Gleichzeitig ist damit aber auch gesagt, daß es für eine diesbezüglich wissenschaftstheoretisch
belehrte Wissenschaft nicht sinnvoll sein kann, mit diesen Kategorien zu arbeiten: Wenn
unbezweifelbare Kausalaussagen nicht zu machen sind, dann müssen sich die Wissenschaften ein
anderes Denken zulegen; wenn mit verschiedensten Argumenten der Handlungsbegriff verabschiedet
worden ist, weil weder der Zweck- noch der Wertbegriff besonders dienlich sind, um Handeln zu
strukturieren, dann – so Luhmanns Suggestion – ist es tatsächlich nur logisch, neue Denkwege
einzuschlagen. Und sein Vorschlag lautet natürlich, daß sich hier die Systemtheorie anbietet, seine
Systemtheorie, die zwar lediglich nach funktionalen Äquivalenten fragt, aber immerhin auch noch die
Funktion von Zweck- und Wertsetzungen und diejenige von Kausalbehauptungen klären kann.
Der Titel des Buches ist also folgendermaßen zu verstehen: Zweckrationalität versus
Systemrationalität: Die wissenschaftstheoretischen und anderen Schwächen der (teleologischen)
Handlungstheorie mit 376ihrer Rede von Zwecken zwingen – so Luhmann – zum Übergang zur
Systemtheorie. Und wie wir noch sehen werden: Im Verlauf seiner Werkentwicklung und des weiteren
Ausbaus seiner Systemtheorie wird Luhmann dann dahin gelangen, daß er das Handeln selbst den
Leistungen von Systemen zurechnet. Die Rede von Handeln, von Handelnden oder Akteuren habe nur
den Sinn, Kommunikationen zu strukturieren und Kommunikationen einem bestimmten personalen
oder sozialen System zuzuordnen. Im unendlichen Kommunikationsstrom hilft die Rede von
Handlungen, den Kontext zu strukturieren, die Gegenwart von der Vergangenheit abzugrenzen.
»Handlung« wird somit für Luhmann zu einem Anwendungsfall der Systemtheorie.

Luhmanns bis dato entwickelte und hier skizzierte Systemtheorie ist trotz aller Parsonsschen Einflüsse
deutlich anders angelegt als die des großen amerikanischen Soziologen. Dies kommt in den 1960er
Jahren nirgendwo deutlicher zum Ausdruck als in dem dritten hier zu besprechenden Buch, nämlich
Legitimation durch Verfahren. Selbst Parsons’ späte Systemtheorie war ja von einer Wertintegration
von Gesellschaften ausgegangen, hatte doch Parsons mit seiner Redeweise von der »kybernetischen
Kontrollhierarchie« (siehe die Vierte Vorlesung) davon gesprochen, daß soziale Systeme oder
Gesellschaften letztlich durch Werte integriert und über die Funktion der »latent pattern maintenance«
zusammengehalten werden. Parsons’ normativistische Theorie ging also durchgehend von einem
benennbaren Steuerungszentrum von Gesellschaften aus.
All dies ändert sich bei Luhmann vollständig. Luhmann macht nun Ernst mit der Behauptung, daß
moderne Gesellschaften funktional differenziert sind, daß also die Funktionsbereiche der
Wissenschaft, der Wirtschaft, der Politik etc. alle ihrer eigenen Logik folgen, ohne daß diese Bereiche
noch durch ein übergeordnetes System oder Werte hierarchisch geordnet wären. Das heißt nicht, daß
es heutzutage keine Reste einer »stratifikatorischen« oder anderen Differenzierungsform mehr gäbe:
Es existieren auch heute noch Klassen, Unterschiede zwischen Arm und Reich, zwischen den Zentren
einer Gesellschaft und ihren Rändern etc. Aber die Teilung moderner Gesellschaften in
unterschiedliche Funktionsbereiche ist derart dominant und durchdringend geworden, daß sich kein
klares »Oben« und »Unten«, kein ordnendes Prinzip mehr ausmachen läßt.
377Luhmann demonstriert diese Auffassung sehr deutlich bei seiner Analyse der demokratischen
Politik und des Rechtssystems. Laut Luhmann sind demokratische Wahlen oder Gerichtsverfahren
nicht an einen obersten Wert zurückgebunden, nicht an Wahrheit oder Gerechtigkeit, so daß sich sagen
ließe, die Legitimität des politischen Systems oder des Gerichtswesens hänge davon ab, daß mittels
Wahlen eine wahre oder richtige Politik gefunden oder mittels der Prozeßordnung gerechte Urteile
gefällt, daß also bestimmte Werte eingehalten oder durchgesetzt würden. Dies war die Vorstellung
von Parsons, und eine ähnliche Annahme findet sich auch bei Jürgen Habermas, der dem normativ
begründeten Recht – und nur dem Recht – in seinen jüngsten rechtsphilosophischen Schriften eine
enorme Integrationswirkung zuschreibt (vgl. die letzte Vorlesung). Luhmann hingegen bricht mit dieser
traditionsreichen Annahme vollständig; Wahrheit und Gerechtigkeit beispielsweise sind für ihn
Begriffe, die keine faßbare Realität mehr beschreiben:
Inzwischen hat (…) das neuzeitliche Denken den Wahrheitsbegriff im Zusammenhang mit der Entwicklung der Wissenschaften präzisiert
und an sehr strenge methodische Voraussetzungen gebunden, hat damit den Naturrechtsgedanken zersetzt und hat das Recht positiviert,
das heißt auf Entscheidungsverfahren umgegründet. Nach alldem ist schwer zu sehen, wie anders als durch ein Vorurteil die Auffassung
festgehalten werden könnte, daß wahre Erkenntnis und wahre Gerechtigkeit das Ziel und damit das Wesen rechtlich geregelter
Verfahren seien, und wenn, wie ein solches Ziel erreicht werden könnte. (Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 20; unsere
Hervorh.)

Natürlich ist auch heutzutage noch viel von Wahrheit oder Gerechtigkeit die Rede, doch für Luhmann
erfüllt auch diese Rede wiederum nur bestimmte Funktionen, die entlastend im Sinne einer Reduktion
von Komplexität wirken. Tatsächlich wird aber Legitimität heutzutage nicht mehr dadurch erreicht,
daß die Bürger wirklich an derart hehre Werte glauben und erwarten, daß richtige oder wahre
Entscheidungen gefällt werden. Legitimität wird heute im politischen oder im Rechtssystem selbst
hergestellt, und zwar dadurch, daß Menschen an freien Wahlen oder an Gerichtsprozessen
partizipieren und allein durch diese Verfahrensteilnahme das Gefühl haben, daß sie die Entscheidung
irgendwie akzeptieren können, was auch immer der konkrete Inhalt der Entscheidung sein wird.
Ver378fahren wie Wahlen oder Gerichtsprozesse arbeiten also Wahrheits- oder Gerechtigkeitsfragen
derart klein, daß es letztlich nur mehr um die psychologische Akzeptanz der jeweiligen Prozeduren
bei den jeweils Betroffenen geht. Und diese Akzeptanz wird dadurch erreicht, daß Menschen im
politischen oder juristischen System in jeweils unterschiedliche Rollen einbezogen werden, daß sie
dort ihre Rollen zu spielen haben und schon allein deshalb zu einem Akzeptieren der Verfahrensregeln
gedrängt werden. Luhmann beschreibt dies im Falle des Gerichtsverfahrens folgendermaßen:
Indem die streitenden Beteiligten, um einen Erfolg zu erreichen, sich bestimmten Verhaltensregeln unterwerfen und ihr Verhalten dem
sich entwickelnden Verfahrenssystem einfügen, erkennen sie sich wechselseitig in ihren Rollen als Parteien an. Das ist möglich, weil
damit über die Entscheidung selbst noch nicht vorentschieden wird. Jede Partei gibt der anderen gleichsam einen Freibrief für
Gegnerschaft, ohne daß dadurch der Ausgang des Konflikts beeinflußt würde. Insofern ist das Prinzip der Gleichheit der Parteien ein
wesentliches Verfahrensprinzip. (Luhmann, a.a.O., S. 103/104)
Mit Wahrheits- oder Gerechtigkeitsfragen – so Luhmann – hat dies nichts mehr zu tun! Es ist die
Verfahrensteilnahme, die über die Legitimität von Entscheidungen und damit von Subsystemen im
ganzen bestimmt; eine Rückbindung der Entscheidungen an gesamtgesellschaftlich geteilte Werte oder
Normen sei weder möglich noch denkbar. Damit aber hat Luhmann jeglichen Normativismus, auch
den der Parsonsschen Systemtheorie, über Bord geworfen und allen gesellschaftskritischen Analysen,
die notwendigerweise mit Begriffen wie Wahrheit oder Gerechtigkeit arbeiten müssen, eine deutliche
Absage erteilt. Allein die Logik der Subsysteme und ihrer je spezifischen Verfahren und Prozeduren
entscheidet letztlich über ihre Stabilität und Dynamik; es sind im Prinzip zwar umweltabhängige, aber
vor allem eigendynamische Subsysteme, die sich von außen weder durch Zweck- oder Wertsetzungen
steuern lassen noch von solchen externen Werten abhängig sind. Diesen Gedanken der Eigendynamik
und -logik der jeweiligen gesellschaftlichen Subsysteme wird Luhmann in der Folgezeit immer weiter
radikalisieren und auch theoretisch neu fundieren.
B) In den 1970er und frühen 1980er Jahren demonstrierte Luhmann weiterhin seine enorme
Produktivität durch die Publikation zahlreicher Bücher zu höchst unterschiedlichen theoretischen und
379empirischen Problemfeldern. Die Rechts-, Organisations- und Verwaltungssoziologie blieb im
Zentrum des Luhmannschen Interesses, doch auch kleine theoretische Bücher zu Vertrauen von 1968,
Macht aus dem Jahre 1975 und eine 1981 publizierte größere Arbeit zur Politische(n) Theorie des
Wohlfahrtsstaates wurden einflußreich. Und Luhmann begann um diese Zeit seine schließlich
mehrere Bände umfassenden wissenssoziologischen Studien zu Gesellschaftsstruktur und Semantik,
in denen er darstellte, wie sich in der modernen, nicht mehr hierarchisch strukturierten, sondern
funktional differenzierten Gesellschaft auch die Bedeutung von zentralen Begriffen, eben die
Semantik, änderte: Entstanden ist in diesem Zusammenhang etwa 1982 die Untersuchung zum
Aufkommen der romantischen »Liebessemantik« (Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität).
Trotz aller Produktivität wird man aber gleichwohl sagen können, daß sich der Luhmannsche
Ansatz im wesentlichen nicht änderte. Die Theorie blieb die gleiche, sie wurde nur auf neue Felder
angewandt, wobei Kritiker einwarfen, daß – eben weil der Theorierahmen immer schon feststand –
die Ergebnisse dieser Untersuchungen, so interessant sie auch immer im Detail sein mochten, wenig
Überraschendes boten.
Eine theoretische Neuerung zeichnete sich erst Anfang der 1980er Jahre ab, besonders deutlich in
Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, dem Luhmannschen Hauptwerk aus dem Jahr
1984, das wohl auch als eine Antwort auf Jürgen Habermas’ drei Jahre zuvor publizierte Theorie des
kommunikativen Handelns gedacht war. Die Wende, die Luhmann hier vollzieht, ist in einem präzisen
Sinn keine Wende, sondern lediglich eine weitere Radikalisierung des systemtheoretischen Denkens.
Luhmann löst sich zum einen von der noch bei Parsons und früher bei ihm selbst vorhandenen
Vorstellung, wonach die Rede von »Systemen« lediglich analytisch gemeint sei, also vom
analysierenden Soziologen nur verwendet werde, um mit diesem theoretischen Instrumentarium einen
besseren oder adäquateren Zugriff auf die Wirklichkeit zu erhalten. Sein neues Verständnis von
Systemen ist nun realistisch, d. h. er nimmt an, daß soziale Phänomene tatsächlich systemischen
Charakters sind, wie er dies unmißverständlich in den ersten Sätzen des ersten Kapitels von Soziale
Systeme zum Ausdruck bringt:
380Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, daß es Systeme gibt. Sie beginnen also nicht mit einem erkenntnistheoretischen
Zweifel. Sie beziehen auch nicht die Rückzugsposition einer ›lediglich analytischen Relevanz‹ der Systemtheorie. Erst recht soll die
Engstinterpretation der Systemtheorie als eine bloße Methode der Wirklichkeitsanalyse vermieden werden. Selbstverständlich darf man
Aussagen nicht mit ihren eigenen Gegenständen verwechseln; man muß sich bewußt sein, daß Aussagen nur Aussagen und
wissenschaftliche Aussagen nur wissenschaftliche Aussagen sind. Aber sie beziehen sich, jedenfalls im Falle der Systemtheorie, auf die
wirkliche Welt. Der Systembegriff bezeichnet also etwas, was wirklich ein System ist, und läßt sich damit auf eine Verantwortung für
Bewährung seiner Aussagen an der Wirklichkeit ein. (Luhmann, Soziale Systeme, S. 30)

Was mit dem letzten Satz, mit dem Verweis auf die Bewährung der Systemtheorie an der Wirklichkeit,
genau gemeint sein soll, vor allem wie man herausbekommt, ob etwas wirklich ein System ist, bleibt
einigermaßen unklar und erinnert eher an eine dogmatische Setzung. Aber Luhmann macht nun diesen
Schritt und behauptet damit gleichzeitig, alle bisherigen theoretischen Problemstellungen in der
Soziologie durch seine Systemtheorie umfassen zu können. Er nimmt also den Syntheseanspruch ganz
in die Systemtheorie mit hinein. Die Systemtheorie – so Luhmann selbstbewußt – wird zur
»Supertheorie (…) mit universalistischen (und das heißt auch: sich selbst und ihre Gegner
einbeziehenden) Ansprüchen« (a.a.O., S. 19).
Zum anderen stellt Luhmann seine Systemtheorie – auch nach eigener Aussage – auf neue Füße. Er
merkt an, daß sich das systemtheoretische Denken, das nun schon seit einigen Jahrzehnten vor allem in
den Naturwissenschaften erfolgreich etabliert sei, ständig fortentwickelt habe, weshalb es an der Zeit
sei, daß auch die Sozialwissenschaften diesen Erkenntnisfortschritt mitvollzögen. Luhmann
unterscheidet zwischen drei Phasen des systemtheoretischen Denkens (vgl. Soziale Systeme,
S. 20 ff.): Die erste, noch sehr unreife Phase war gekennzeichnet durch ein Denken, das Systeme als
ein Verhältnis zwischen Teil und Ganzem begriff. Diese Fassung des Systembegriffs, die Rede davon,
daß das Ganze irgendwie mehr sei als die Summe seiner Teile, erwies sich aber aus verschiedenen
Gründen als unproduktiv und ungenau, weswegen der nächste Schritt in der Entwicklung der
Systemtheorie darin bestand, nicht mehr die Teil-Ganzes-Problematik in den Mittelpunkt zu stellen,
sondern das 381System-Umwelt-Problem. Systeme, so die Vorstellung, grenzen sich von ihrer
Umwelt ab, sind aber gleichzeitig so offen, daß sie sich ihrer Umwelt anpassen können. Wie Sie
vermutlich bemerkt haben, ist dies eine Position, der Luhmann selbst angehangen hat, als er noch in
den 1960er und 70er Jahren die »Anpassungsleistungen« von Systemen an ihre Umwelt besonders
hervorgehoben hatte. Nun aber haben sich – laut Luhmann – in der Systemtheorie, und hier vor allem
in der Biologie und Neurophysiologie, neuere Entwicklungen ergeben, die das bisherige System-
Umwelt-Modell in Frage stellen und statt dessen eine Theorie selbstreferentieller Systeme
nahelegen. Was ist damit gemeint?
Sehr vereinfacht ausgedrückt wird aus dieser Perspektive darauf hingewiesen, daß sich lebende
Organismen besser begreifen lassen, wenn man nicht ihren Austausch mit der Umwelt in den
Mittelpunkt stellt, sondern die operationale Geschlossenheit dieser Organismen: Diese mögen zwar
physikalisch offen sein, indem sie bestimmte Stoffe aus der Umwelt aufnehmen; die Verarbeitung der
Stoffe erfolgt aber entlang einer rein systeminternen Logik, ebenso wie die Informationen, die in
diesem Organismus fließen, der Logik des Organismus folgen und nicht umweltabhängig sind.
Besonders einsichtig und plastisch wurde dies durch die neurophysiologischen Untersuchungen von
zwei lateinamerikanischen Wissenschaftlern, Humberto R. Maturana (geb. 1928) und Francisco J.
Varela (1946-2001), auf die sich Luhmann hauptsächlich beziehen sollte. Maturana und Varela
machten bei Analysen zur Farbwahrnehmung die erstaunliche Entdeckung, daß zwischen den
Aktivitäten von bestimmten Nervenzellen im Auge, die hinter der Netzhaut sitzen, und den
physikalischen Eigenschaften des Lichts offensichtlich keine eindeutigen Zusammenhänge
auszumachen sind. Es gibt also hier keine klaren Kausalverhältnisse zwischen Lichtquelle und
Nervensystem (ausführlicher dazu Kneer/Nassehi, Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme,
S. 47 ff. und Irrgang, Lehrbuch der evolutionären Erkenntnistheorie, S. 147 ff.). Ist dies tatsächlich
der Fall, so könnte man wie Maturana/Varela schließen, daß das Nervensystem ein geschlossenes
System ist, d. h., Nervensysteme oder wahrnehmende Organismen fertigen kein identisches Abbild
der Umwelt an, sondern konstruieren durch ihre eigene Operationslogik eine je eigene Welt.
Lebende Organismen funktionieren als selbsterzeugende und sich allein auf sich selbst beziehende
Systeme. Maturana/Varela spre382chen von autopoietischen (autos = selbst; poiein = machen)
Systemen, Systemen, die organisationell geschlossen und damit autonom sind, zumindest autonom in
dem Sinne, daß die Komponenten eines Systems im System selbst reproduziert werden. Natürlich
besteht Kontakt zur Umwelt, besteht – wie die Fachterminologie lautet – eine »strukturelle
Koppelung«. Doch aus der Umwelt werden keine systemrelevanten Bestandteile zugeführt: Systeme
werden von außen lediglich irritiert, sie antworten aber auf diese Irritation mit ihrer je eigenen Logik
und Arbeitsweise. Des weiteren lassen sich die Eigenschaften von lebenden Systemen auch nicht über
ihre Bestandteile bestimmen, sondern nur über die Organisation dieser Bestandteile, d. h. über die
zwischen den Bestandteilen stattfindenden Prozesse. So ist das Nervensystem nicht über die
Neuronen zu bestimmen, sondern über die Art und Weise der Informationsvermittlung zwischen den
Neuronen, die auf ihre je eigene Weise auf die Irritationen, die ihnen etwa die Netzhaut vermittelt,
reagieren.
Luhmann wendet nun diese Erkenntnisse aus der Biologie und Neurophysiologie auch auf soziale
Systeme an – ohne Rücksicht darauf, daß sich Maturana/Varela gegen eine solche Anwendung ihrer
Theorie in den Sozialwissenschaften skeptisch gezeigt haben! Psychische und – für die Soziologie
natürlich besonders interessant – soziale Systeme werden von Luhmann als autopoietische Systeme
begriffen. Was er mit dieser »autopoietischen Wende« erreichen will, formuliert er folgendermaßen:
In der allgemeinen Systemtheorie provoziert dieser zweite Wechsel des Paradigmas [derjenige von der System-Umwelt-Theorie zur
Theorie selbstreferentieller Systeme, die Verf.] bemerkenswerte Umlagerungen – so von Interesse an Design und Kontrolle zu Interesse
an Autonomie und Umweltsensibilität, von Planung zu Evolution, von struktureller Stabilität zu dynamischer Stabilität. (Luhmann, Soziale
Systeme, S. 27)

Luhmann drückt hiermit aus, daß er seinen Funktionalismus nochmals radikalisieren, daß er vor allem
die Idee der funktionalen Differenzierung bis zum Extrem treiben will. Und tatsächlich – wir werden
darauf noch genauer zu sprechen kommen – dient ihm das neue theoretische Instrumentarium dazu,
jede Vorstellung einer gesellschaftlichen Ganzheit vollständig aufzugeben. Die funktional
differenzierten Subsysteme, etwa das Wissenschaftssystem, das Wirtschaftssystem, das
Religionssystem, das Kunstsystem, das Rechts-, 383Erziehungs- und politische System, folgen in
seiner Sichtweise nur mehr ihrer je eigenen Logik. Sie funktionieren gemäß ihrem eigenen Code (hier
gibt es natürlich deutliche Parallelen zu Parsons’ Theorie symbolisch generalisierter
Kommunikationsmedien, vgl. die Vierte Vorlesung), sind je spezifisch programmiert und deshalb von
außen nicht steuer- und kontrollierbar. Diese Subsysteme können lediglich von außen irritiert werden.
Was sie mit diesen Irritationen machen, ist dem jeweiligen Programm des Subsystems geschuldet.
Damit erübrigen sich auch alle Ideen von gesamtgesellschaftlicher Planung (»von Planung zu
Evolution«!). Luhmann läßt sich in seinem Steuerungspessimismus durch niemanden übertreffen und
macht sich über den Sinn von Eingriffsversuchen der Politik in die Wirtschaft lustig, aber gleiches gilt
für ihn tendenziell auch im Falle staatlicher Interventionen ins Wissenschaftssystem, ins Rechtssystem
etc.
Wie bei den Hopi-Indianern der Regentanz scheint das Reden von Ankurbelung der Wirtschaft, Sicherung des Standorts Deutschland,
Beschaffung von Arbeitsplätzen eine wichtige Funktion zu erfüllen; jedenfalls die, den Eindruck zu verbreiten, daß etwas getan wird und
nicht einfach abgewartet wird, bis die Dinge sich von selber wenden. (Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 113)

Klar ist für Luhmann also, daß alles Reden und alle Taten von politischer Seite die Wirtschaft nicht
beeindrucken oder beeinflussen werden. »Wirtschaft wird in der Wirtschaft gemacht« – diesem Credo
eines ehemaligen liberalen deutschen Wirtschaftsministers könnte sich Luhmann ohne weiteres
anschließen, nur daß er hinzufügen würde, daß gleiches eben auch für die Kunst, die Wissenschaft
etc. gilt: Kunst wird im Kunstsystem, Wissenschaft im Wissenschaftssystem gemacht. Moderne
Gesellschaften sind eben funktional differenziert, die jeweiligen Funktionsbereiche nicht mehr
hierarchisch zu strukturieren und deshalb Planungs- oder Kontrollvorstellungen – so Luhmann – von
vornherein völlig verfehlt. Systeme und Subsysteme evoluieren, sie sind nicht planbar! Dies ist
offensichtlich auch eine besondere Art der Zeitdiagnose, auf die wir im letzten Abschnitt der
Vorlesung noch näher eingehen werden.
Nun ist Luhmanns Ansatz in bezug auf die These vom Primat funktionaler Differenzierung in
modernen Gesellschaften seit der sogenannten »autopoietischen Wende« sicherlich radikaler
gewor384den; doch auf der anderen Seite brachte diese theoretische Neuerung für Luhmann
offensichtlich nicht die Notwendigkeit mit sich, seine vergangenen Beschreibungen von
Gesellschaften oder gesellschaftlichen Teilbereichen wesentlich zu revidieren oder gar zu verwerfen.
Insofern läßt sich die autopoietische Wende nur als ein weiteres Drehen an der Schraube des
Funktionalismus bezeichnen.
Interessant für unseren Zusammenhang ist aber eine theoretische Konsequenz der autopoietischen
Wende, die Luhmann selbst anspricht, nämlich die »radikale Verzeitlichung des Elementbegriffs«:
Die Theorie der sich selbst herstellenden, autopoietischen Systeme kann in den Bereich der Handlungssysteme nur überführt werden,
wenn man davon ausgeht, daß die Elemente, aus denen das System besteht, keine Dauer haben können, also unaufhörlich durch das
System dieser Elemente selbst reproduziert werden müssen. (Luhmann, Soziale Systeme, S. 28)

Und tatsächlich macht Luhmann bei der Übertragung des autopoietischen Modells auf soziale
Zusammenhänge mit dieser Verzeitlichung der Elemente Ernst. Luhmann, der bei Systemen zwischen
Maschinen, Organismen, psychischen Systemen und sozialen Systemen unterscheidet, wobei er sich
überwiegend mit letzteren als dem Gegenstand der Soziologie beschäftigt, betont in aller Schärfe, daß
die Systemtheorie mit dem (von ihm »alteuropäisch« genannten) Subjektbegriff bricht und auch
brechen muß und statt dessen andere Elemente in den Mittelpunkt der durch Maturana/Varela
inspirierten Theoriebildung gestellt werden müssen, Elemente, »die eben keine Dauer haben können,
also unaufhörlich durch das System dieser Elemente selbst reproduziert werden müssen« (s. obiges
Zitat!). Für Luhmann bedeutet dies, daß soziale Systeme nicht aus Menschen aufgebaut sind und sich
auch nicht aus Handlungen zusammensetzen, sondern aus Kommunikationen. Kommunikationen sind
die elementaren Einheiten sozialer Systeme, in Kommunikationen wird Sinn produziert und immer
wieder auf Sinn Bezug genommen. Der Mensch – wie Luhmann im Bemühen um möglichst große
Schock- und Verfremdungswirkung sagt – ist nicht Teil des Gesellschaftssystems, und nicht Menschen
kommunizieren, sondern Kommunikationen (Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 29 f.;
103 ff.). Kommunikation ist zwar auf psychische Systeme angewiesen, also auf das Bewußtsein von
Menschen, aber wir können eben nicht in den anderen Menschen hineinschauen, weshalb 385sich
Kommunikation immer nur auf Kommuniziertes beziehen kann.
Dies hat zur Folge, daß sich soziale (wie psychische) Systeme nicht durch feste Einheiten
definieren, sondern durch die ständige Neuproduktion von Sinn, wobei auch die Theorie der
Systemdifferenzierung sich auf die Form der jeweiligen Kommunikation bezieht und nicht auf die
Zugehörigkeit von Menschen oder Handlungen: Das Wissenschaftssystem etwa bildet deshalb eine
Einheit und kann sich deshalb immer wieder selbst reproduzieren, weil auf Wahrheit Bezug
genommen wird, weil es gemäß der Unterscheidung von »wahr« und »falsch« funktioniert. In der
Wissenschaft wird immer wieder auf wahre oder falsche Aussagen verwiesen, wird die Richtigkeit
von Hypothesen geprüft, und genau dies kennzeichnet dann das System Wissenschaft, weil hier eine
ganz besondere Form der Kommunikation stattfindet, ein ganz besonderer »binärer Code« verwendet
wird. Das Wissenschaftssystem ist also nicht deshalb eine Einheit, weil ihm bestimmte Menschen
angehören – bekanntlich sind Wissenschaftler ja mehr als nur Wissenschaftler, sie sind ja gleichzeitig
auch politische, wirtschaftende, rechtsuchende, künstlerisch veranlagte Bürger etc.! An konkreten
Personen läßt sich ein System – so Luhmann – deshalb nicht festmachen, ebensowenig wie an
konkreten Handlungen, weil ein und dieselbe Handlung in verschiedensten Kontexten, in
künstlerischen wie in wissenschaftlichen auftauchen kann, es aber auf den Code ankommt, welcher
Sinn damit produziert wird.
Man kann nicht Menschen den Funktionssystemen derart zuordnen, daß jeder von ihnen nur einem System angehört, also nur am Recht,
aber nicht an der Wirtschaft, nur an der Politik, aber nicht am Erziehungssystem teilnimmt. Das führt letztlich zu der Konsequenz, daß
man nicht mehr behaupten kann, die Gesellschaft bestehe aus Menschen; denn die Menschen lassen sich offensichtlich in keinem
Teilsystem der Gesellschaft, also nirgendwo in der Gesellschaft mehr unterbringen. (Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft,
S. 744)

Soziale Systeme, und die umfassendsten sozialen Systeme sind Gesellschaften, werden laut Luhmann
also durch kontinuierliche Ströme von Kommunikationen definiert. Nur dort, wo Kommunikation
endet, endet auch Gesellschaft, weshalb heute im Zeitalter einer weltumspannenden Kommunikation
mittlerweile von Weltgesell386schaft gesprochen werden muß. In der Moderne scheint ihm der
Nationalstaat als Ausgangspunkt zur Analyse sozialer Prozesse völlig veraltet zu sein.
Kommunikation und Sinn sind also die elementaren Zentralbegriffe der Luhmannschen Soziologie,
nicht »Akteure« oder »Handeln«. Die Rede von »Handlung« oder »Subjekt« ist für Luhmann nur ein
Zurechenbarkeits- oder Zuschreibungsphänomen: Psychische Systeme reden von Handlungen, also
von klar abgegrenzten Prozessen, die einem Individuum zuzurechnen seien, um Komplexität zu
reduzieren. Aber Luhmann »weiß« natürlich, daß Handlungen an sich nicht wirklich existieren,
zumindest nicht als eine brauchbare Beschreibung realer Prozesse:
Handlungen werden durch Zurechnungsprozesse konstitutiert. Sie kommen dadurch zustande, daß Selektionen, aus welchen Gründen, in
welchen Kontexten und mit Hilfe welcher Semantiken (»Absicht«, »Motiv«, »Interesse«) immer, auf Systeme zugerechnet werden. Daß
dieser Handlungsbegriff keine ausreichende Kausalerklärung des Handelns vermittelt, schon weil er Psychisches außer Acht läßt, liegt
auf der Hand. (Luhmann, Soziale Systeme, S. 228)

Die letzten Reste einer auch nur möglichen handlungstheoretischen Fragestellung wurden somit
ausgemerzt, und Luhmann kann nun – zumindest auf der Basis seiner systemtheoretischen Prämissen –
behaupten, daß seine funktionalistische Supertheorie tatsächlich in der Lage ist, die bisherigen
Wissensbestände und Erkenntnisse der soziologischen Theorie zu umfassen.

C) Wir haben schon angesprochen, daß Luhmanns radikale These der funktionalen Differenzierung
moderner Gesellschaften und sein ebenso radikaler Steuerungspessimismus Ausdruck einer
bestimmten Zeitdiagnose sind, Ausdruck einer distanzierten Beobachterhaltung, welche den Glauben
an die Veränderbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse längst aufgegeben hat und nur noch ironisch auf
die vergeblichen Bemühungen irgendwelcher sozial engagierter Aktivisten schauen kann.
Luhmann hat nur selten dieses zeitdiagnostische Moment seiner Schriften ausführlicher entfaltet,
und deshalb ist es hier zum Abschluß der Vorlesung sinnvoll, sich kurz mit einem schmaleren Band
aus dem Jahre 1986 auseinanderzusetzen, in dem er dies tatsächlich 387offen tut. Gemeint ist
Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen
einstellen? Dieses Buch ist – wie der Titel schon andeutet – eine Reaktion auf die
Umweltschutzbewegung, die seit den 1970er Jahren stetig an Bedeutung gewonnen und spätestens mit
der Gründung der Partei der »Grünen« in Deutschland einen erheblichen politischen oder
gesellschaftspolitischen Einfluß erzielt hat. Und es ist einigermaßen aufschlußreich zu sehen, wie die
Reaktion Luhmanns darauf ausfiel.
Luhmann beginnt sein Buch – und dies macht es auch für Soziologieanfänger zu dem zugänglichsten
seiner Werke – mit einer einigermaßen kompakten und leicht verständlichen Einführung in seine
Theorie. Er legt noch einmal dar, daß moderne Gesellschaften (sofern man heute überhaupt von
isolierten Nationalgesellschaften reden kann) aus unterschiedlichen Teilsystemen bestehen – der
Politik, der Wirtschaft, des Rechts, der Wissenschaft, der Religion, der Erziehung (all diesen
Subsystemen wird Luhmann übrigens in den 1980er bzw. 1990er Jahren eigene, zumeist sehr
umfangreiche Bücher widmen) –, die alle quasi eine eigene Sprache sprechen, einen »binären Code«
benutzen, mit dem Informationen im System prozessiert werden. Die Wirtschaft etwa, unter der
Luhmann »die Gesamtheit derjenigen Operationen [versteht], die über Geldzahlungen abgewickelt
werden« (S. 101), arbeitet mit dem Code Haben/Nichthaben bzw. Zahlen/Nichtzahlen; die
Wissenschaft mit dem Code wahr/falsch, das heutige politische System mit dem Code
Regierung/Opposition usw. Keinem dieser Teilsysteme ist es gegeben, die Leitung über die jeweils
anderen Teilsysteme zu übernehmen, es existiert kein Code, der den anderen irgendwie übergeordnet
wäre.
Natürlich läßt sich etwa nach dem Verhältnis von Wirtschaft und Politik fragen, nach dem von
Kunst und Religion, von Wissenschaft und Recht. Aber man darf dabei nicht annehmen, daß ein
Subsystem die anderen steuern oder anleiten könnte. Die Wirtschaft kann auf die Politik nur mittels
des Codes Zahlen/Nichtzahlen reagieren, eine andere Sprache steht dort nicht zur Verfügung; die
Kunst kann auf religiöse Einflußnahmen nur mit Hilfe des ästhetischen Codes reagieren, und die
Religion auf juristische Einflußnahmen nur mit Hilfe des Codes Transzendenz/Immanenz. Die
jeweiligen Codes sind nicht bruchlos ineinander übersetzbar!
Nun ist diese Luhmannsche Perspektive sicherlich interessant. Wie schon in Parsons’ Systemtheorie
ist sie eine Forschungsheuri388stik, die den Blick dafür schärft, nach welcher spezifischen Logik die
jeweiligen gesellschaftlichen Teilsysteme funktionieren und welcher Art gegebenenfalls die
Austauschprozesse zwischen den Teilsystemen sind, falls es diese überhaupt gibt. Damit besitzt man
vermutlich – und schon Parsons hat dies ja in bezug auf sein AGIL-Schema für sich behauptet – ein
wesentlich realistischeres Sensorium zur Analyse gesellschaftlicher Prozesse, als es etwa das krude
Marxsche Basis-Überbau-Theorem bietet.
Allerdings sperrt sich Luhmann durch seine Theorieanlage, nämlich die These, daß soziale (Teil-
)Systeme autopoietische Systeme sind, die ausschließlich nach ihrer eigenen Systemlogik
funktionieren und von außen nur irritiert, aber nicht gesteuert werden können, gegen jede Hoffnung auf
Planung und Steuerung. Die Teilsysteme können sich wechselseitig nur beobachten und die
Einflußversuche von außen nur immer in ihre jeweils eigene Sprache übersetzen – mehr aber auch
nicht! Diese Beschränkungen gelten auch für das politische System, das die prinzipielle
Unzugänglichkeit anderer Systeme immer wieder zu spüren bekommt – nach dem schon bekannten
Motto: Wirtschaft wird in der Wirtschaft gemacht! Die Frage stellt sich, ob eine solch radikale
Annahme wirklich realistisch ist.
Aber zunächst zu der im Untertitel des Buches von Luhmann gestellten Frage: Können sich moderne
Gesellschaften auf ökologische Gefährdungen einstellen, etwa auf die Gefahren der Atomkraft, wie
sie durch Tschernobyl so augenfällig wurden? Luhmanns Antwort ist – dies wird Sie sicherlich nicht
mehr sonderlich überraschen –: »Nein«! Seine Begründung ist so einfach wie aufschlußreich: In
modernen, hochdifferenzierten Gesellschaften existiert schlichtweg kein Ort mehr, von dem aus es
Personen oder Gruppen möglich wäre, auf das Ganze zu blicken, so daß sie berechtigt wären, »die«
Gesellschaft vor Gefährdungen zu warnen, oder gar in der Lage wären, sie vor diesen Gefahren zu
schützen. Der Versuch, einen gesamtgesellschaftlichen Willen zu entwickeln – auch einen in bezug auf
die Vermeidung angeblich ökologischer Gefährdungen – sei schlicht lächerlich und zum Scheitern
verurteilt.
Aus dieser Perspektive heraus interpretiert er dann auch – für einen Vertreter romantischer Ironie
doch in überraschender Deutlichkeit und Schärfe – die Umweltschutzbewegung, wenn er von der
»blasierte(n) moralische(n) Selbstgerechtigkeit (…) der grünen Bewegung« (Luhmann, Ökologische
Kommunikation, S. 235) spricht.
389Dabei sieht Luhmann durchaus die Gefährdungen moderner Gesellschaften. In seinem letzten,
noch zu Lebzeiten publizierten großen Werk heißt es:
Noch halten sich die faktischen Folgen einer übermäßigen Ausbeutung der Umwelt in Grenzen; aber es gehört nicht viel Phantasie dazu
sich vorzustellen, daß es so nicht weitergehen kann. (Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 805)

Aber der Steuerungspessimismus Luhmanns ist radikal. Natürlich werden irgendwelche Maßnahmen
zum Umweltschutz ergriffen, bestimmte Emissionswerte festgelegt, Atomkraftwerke abgeschaltet etc.
Man soll aber nur nicht glauben, daß man von außen dieses politische System wirklich beeinflussen
oder steuern kann, so daß dann wirklich »effektive« Maßnahmen ergriffen würden; allenfalls läßt es
sich irritieren und reagiert dann auf diese Irritationen mit einer je eigenen Kommunikationslogik. Für
Luhmann heißt das: »Den neuen sozialen Bewegungen fehlt Theorie« – natürlich die Luhmannsche
Systemtheorie und damit die Einsicht in den Primat funktionaler Differenzierung. Und genau daraus
ergibt sich auch seine Geringschätzung dieser Bewegungen:
Vorherrschend findet man daher eine recht schlichte und konkrete Fixierung von Zielen und Postulaten, eine entsprechende
Unterscheidung von Anhängern und Gegnern und eine entsprechende moralische Bewertung. (Luhmann, Ökologische Kommunikation,
S. 234)

Gerade die moralischen Haltungen erscheinen ihm unerträglich; es gibt in der funktional
differenzierten modernen Gesellschaft keinen Standpunkt mehr, der das Ganze repräsentieren könnte,
und deswegen ist Moralisieren hier völlig fehl am Platz, zumal gerade im Umweltbereich
Kausalketten schier unergründlich und Fragen von Schuld und Unschuld deshalb kaum zu entscheiden
sind. Das moralische Podest der Umweltschützer ist nicht anders zu bewerten als der
ausländerfeindliche Protest (vgl. Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 850, Fn. 451): Beides sind
dumme, überhebliche Positionen in den Augen Luhmanns. Derartige Proteste und Bewegungen können
in bezug auf die für die moderne Gesellschaft so konstitutive funktionale Differenzierung nur
schädlich sein. Luhmann scheint hier die Position der personifizierten modernen Gesellschaft
einnehmen zu wollen, die den Akteuren – wie den etablierten politischen Parteien 390– entweder Lob
spendet oder diese – wie die unerträglich moralisierenden »Grünen« – tadelt. Warum Luhmann trotz
dieser nicht mehr ironischen, sondern durchaus zynischen oder auch fatalistischen Position (»als ob
man durch Stillegung der Atomkraftwerke oder durch Verfassungsreformen mit Veränderung von
Mehrheitsregeln die ökologische Lage der modernen Gesellschaft nettorational verbessern könnte«,
Ökologische Kommunikation, S. 248) gerade in Teilen der deutschen grünen Bewegung und bei den
dortigen Intellektuellen zu einer Art Modeautor geworden ist, läßt sich nur schwer begreifen und
vermutlich nur vor dem Hintergrund der komplexen historischen Genese dieser
Umweltschutzbewegung verstehen.
Wie auch immer, Luhmanns Kritik an den Ökologen nähert sich im Gestus der traditionellen
konservativen Intellektuellenschelte, in der es auch der schon genannte Luhmann-Förderer, Helmut
Schelsky, zur Meisterschaft gebracht hat, etwa in seiner berühmt gewordenen, ziemlich ressentiment-
geladenen und manchmal reaktionär geratenen Polemik mit dem Titel Die Arbeit tun die anderen.
Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen aus dem Jahre 1975, zu der Luhmann
übrigens meint, daß sie eine »bemerkenswert kritische Reflexion« und es deshalb unklar sei, warum
sie als »konservativ« gelte (Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1108, Fn. 382).
Luhmanns Kritik an der ökologischen Bewegung ist aber (über die politische Einschätzung kann
man ja völlig unterschiedlicher Meinung sein) überwiegend aus theoretischen Gründen
problematisch, weil er die (ökologische) Warnung vor spezifischen Formen funktionaler
Differenzierung mit Kritik an funktionaler Differenzierung als solcher vermengt. Luhmann tut damit
so, als ob die warnenden Hinweise auf ökologische Gefährdungen der modernen Industriegesellschaft
in erster Linie von denjenigen kämen, die am liebsten den Weg zurück in eine vormoderne, nicht
funktional differenzierte Gesellschaft gehen wollten. Dies ist aber nicht nur empirisch falsch, weil der
Protest von höchst unterschiedlichen Gruppen getragen wurde und noch immer wird, sondern
schneidet auch auf theoretischer Ebene die Möglichkeit ab, über eine anders verfaßte, eine anders
differenzierte Gesellschaft überhaupt nur nachzudenken. Schon in bestehenden westlichen
Industriegesellschaften zeigen sich im Ländervergleich massive Unterschiede hinsichtlich der
Institutionalisierungsform sozialer Differenzierung: Das wirtschaftliche, 391religiöse, politische,
rechtliche etc. Institutionengefüge weist eben von Land zu Land große Unterschiede auf. Dies aber hat
wohl Gründe, und deshalb liegt die Annahme nahe, daß es von Gesellschaft zu Gesellschaft
unterschiedliche Auseinandersetzungen um Formen der Differenzierung in der Vergangenheit gegeben
hat und in der Zukunft auch immer wieder geben wird. Über diese Formen der Differenzierung wird
im politischen bzw. demokratischen Prozeß entschieden, sie werden nicht vom (Luhmannschen)
Gesellschaftstheoretiker festgelegt. Dies wurde von Hans Joas auf die Formel einer
»Demokratisierung der Differenzierungsfrage« gebracht. Insofern scheint auch Luhmanns radikaler
Steuerungspessimismus überzogen; Kämpfe um die Form von Institutionen lassen sich bezüglich ihres
Ergebnisses tatsächlich nicht vorhersagen, doch von bloßen »Irritationen« zu reden, dürfte viel zu
wenig sein, weil sich in diesen Auseinandersetzungen durchaus Konfliktfronten ausmachen lassen und
auch »Sieger« und »Verlierer« in diesem Kampf um ein je spezifisches Institutionengefüge. Daß eine
andere, nämlich genau dies berücksichtigende theoretische Sichtweise gerade auch in bezug auf die
Deutung ökologischer Bewegungen durchaus möglich ist, werden wir im Verlaufe dieses
Vorlesungszyklus’ näher erläutern, wenn wir das Werk von Alain Touraine und von Ulrich Beck
besprechen.

Zum Schluß wollen wir Ihnen noch drei Literaturempfehlungen an die Hand geben: Es gibt zahlreiche
Einführungsbände in das Luhmannsche Werk bzw. in die Systemtheorie, die jedoch meistens einen
gravierenden Nachteil haben: Sie sind fast ausschließlich aus systemtheoretischer Perspektive
geschrieben und verzichten deshalb oftmals vollkommen auf Kritik oder zumindest Relativierungen
des dargestellten theoretischen Gebäudes. Dennoch seien drei Bändchen besonders herausgehoben:
Detlef Horster, Niklas Luhmann ist nicht nur wegen seines knappen Einführungscharakters
empfehlenswert, sondern auch deshalb, weil sich darin ein interessantes biographisches Interview
findet, das wenige Jahre vor Luhmanns Tod geführt wurde; Georg Kneers/Armin Nassehis Niklas
Luhmanns Theorie sozialer Systeme ist vielleicht die kompakteste Einführung in Luhmanns Werk,
wohingegen Helmut Willkes Systemtheorie. Eine Einführung in die Grundprobleme eine – wie der
Titel schon andeutet – umfassendere Einführung in das systemtheoretische Denken ganz allgemein
bietet.
392Damit wären wir am Ende der Luhmann-Vorlesung angelangt und hätten auch die beiden großen
Syntheseversuche, die in den 1970er und 1980er Jahren in Deutschland gewagt wurden, hinter uns
gelassen. Wie aber schon angedeutet, hat gegenüber der vormals durch »Amerika« geprägten
Disziplin nicht die deutsche Soziologie, sondern die westeuropäische Soziologie insgesamt in dieser
Zeit die Führung in der soziologischen Theorieproduktion übernommen. Syntheseversuche fanden
also auch andernorts statt, beispielsweise in Großbritannien, wo vor allem ein Autor seit den 1970er
Jahren die Debatte zu dominieren begann, nämlich Anthony Giddens.
393Zwölfte Vorlesung
Anthony Giddens’ Theorie der Strukturierung
und die neuere britische Machtsoziologie

Während es in den vergangenen Vorlesungen zu den beiden deutschen »Großtheoretikern«


unumgänglich war, sich etwas ausführlicher mit deren Biographien auseinanderzusetzen, weil nur so
die zentralen Gedanken ihrer jeweiligen Theoriegebäude erschlossen werden konnten, ist dies in
bezug auf Anthony Giddens nicht unbedingt der Fall. Giddens’ Syntheseversuch läßt sich auch ohne
lebensgeschichtlichen Exkurs ganz gut vor dem Hintergrund der Tendenzen erklären, die sich seit den
1960er Jahren insbesondere innerhalb der britischen Soziologie zeigten. In diesem Zusammenhang
rückt die schon in der Achten Vorlesung behandelte Konflikttheorie in den Mittelpunkt, wobei für
Giddens insbesondere zwei ihrer Weiterentwicklungen von Bedeutung werden sollten.
1. Die britische Konflikttheorie der 1950er und frühen 1960er Jahre war stark mit den Namen John
Rex und David Lockwood verbunden gewesen, die – im Gegensatz zum wesentlich radikaleren Ralf
Dahrendorf – nie vollständig mit dem Parsonsschen Theorieansatz gebrochen hatten, sondern die
Konflikttheorie lediglich als gleichberechtigten Ansatz neben dem Parsonsschen Funktionalismus
etabliert sehen wollten. Ein solches bloßes »Nebeneinander« konnte freilich selbst die Protagonisten
der Konflikttheorie nie ganz befriedigen, und zumindest beim theoretisch ambitionierteren Lockwood
war das Bemühen erkennbar, die starre Gegenüberstellung von macht- und konflikttheoretischen
Ansätzen auf der einen Seite und funktionalistischen (und auch interpretativen) Ansätzen auf der
anderen Seite aufzubrechen, also eine Art Synthese zu wagen. Insofern wurden hier schon Vorarbeiten
geleistet, die zu jenen »großen« Syntheseversuchen der späteren Zeit – bei Habermas, Luhmann und
eben Giddens – führen konnten.
In vielerlei Hinsicht wegweisend war dabei David Lockwoods Aufsatz »Soziale Integration und
Systemintegration« (»Social Integration and System Integration«) aus dem Jahre 1964. Lockwood, der
– um es nochmals zu betonen – einer Weber-Marxschen Tradition entstammt, analysiert hier
unterschiedliche funktionalistische 394und konflikttheoretische Ansätze im Hinblick auf ihre jeweils
halt- und fruchtbaren theoretischen Aussagen, um dann durch Prägung einer eigenen Begrifflichkeit zu
einem einigermaßen kohärenten Theorierahmen vorzudringen. Lockwoods Position ist dabei, wie
schon in den 1950er Jahren, daß Funktionalismus und Konflikttheorie nicht als sich wechselseitig
negierende Alternativen betrachtet werden dürfen: Norm – Konsensus – Ordnung seien nicht völlig in
Kontrast zu setzen zu Macht – Entfremdung – Konflikt, sondern beide Komplexe seien in der sozialen
Welt immer in einer ganz spezifischen, allerdings von Gesellschaft zu Gesellschaft höchst
unterschiedlichen Weise verbunden und verwoben. Einer Theorie, die wie die Dahrendorfsche (und
zum Teil auch die Rexsche) einseitig auf Macht, Konflikt und Entfremdung setzt, würden zentrale
Aspekte der sozialen Wirklichkeit entgehen, weil sich Konflikte abgelöst von der Form und
Entwicklung von Wertsystemen kaum adäquat analysieren lassen: »Denn die Art des Wertsystems ist
bei gegebener Herrschaftsstruktur von entscheidender Bedeutung für die Entstehung, Intensität und
Richtung potentieller Konflikte.« (»Soziale Integration und Systemintegration«, S. 127) Damit wird
schon – wie das später auch bei Habermas der Fall sein wird – das Verhältnis von Macht und Kultur,
von zweckrationalem Mitteleinsatz und anderen Rationalitätsformen in den Mittelpunkt gerückt, wird
also ein zentrales theoretisches Ziel vorgezeichnet, auf das sich die meisten späteren
Theoriesynthesen hinbewegen sollten.
Eine allzu radikale Konflikttheorie ist aber laut Lockwood nicht nur defizitär, weil sie das
Verhältnis von Kultur und Macht ausblendet. Sie ist auch deshalb problematisch, weil ihre Aussagen
zum sozialen Wandel zu wenig systematisch sind und nicht berücksichtigt wird, daß zwar sozialer
Wandel häufig mit Konflikt verbunden ist, aber nicht alle Konflikte – nicht einmal alle massiven
Konflikte – zwangsläufig zu sozialem Wandel führen. »Konflikt kann in einem sozialen System
endemisch und intensiv sein, ohne einen grundlegenden Strukturwandel zu verursachen.« (A.a.O.,
S. 128) Manche Konflikte führen tatsächlich zu sozialem Wandel im Sinne einer Veränderung der
institutionellen Struktur einer Gesellschaft, andere hingegen nicht. Offensichtlich muß man also
zwischen zwei Problemkomplexen deutlich unterscheiden: Es ist eine Frage, ob Handelnde oder
Gruppen bzw. Klassen in einer Gesellschaft miteinander ringen und kämpfen; es ist eine andere
Frage, ob sich dadurch 395tatsächlich auch die Struktur dieser Gesellschaft verändert. Diese
Überlegung veranlaßt Lockwood zur Einführung eines Ihnen schon bekannten Begriffspaares,
desjenigen von Sozial- und Systemintegration, eine Terminologie, die ja Habermas, wenn auch in
abgeänderter Bedeutung, später ebenfalls verwenden sollte. Laut Lockwood ist zu unterscheiden
zwischen den Beziehungen der Handelnden in einem System (Sozialintegration) und der Beziehung
der Teile eines Systems (Systemintegration). Es kann nämlich durchaus sein, daß es in einer
Gesellschaft viele Widersprüche oder Systemprobleme gibt, die sich aber auf der Handlungsebene
nicht notwendig widerspiegeln oder ausdrücken – es gibt dann eben keine sichtbaren Proteste, keine
offenen Konflikte, keinen Klassenkampf etc. Umgekehrt kann es in einer Gesellschaft durchaus
Proteste und Konflikte geben, ohne daß diese zu einer Veränderung der Beziehungen der Teilsysteme
einer Gesellschaft, ihrer Gesamtstruktur, führen. In dieser Lockwoodschen Unterscheidung zwischen
Sozial- und Systemintegration spiegeln sich offensichtlich die politischen Erfahrungen
westeuropäischer Linker, daß Wirtschaftskrisen nicht notwendig zur Intensivierung der
Klassenkämpfe führen, umgekehrt aber sich eine solche Intensivierung in Zeiten ökonomischer
Prosperität durchaus ereignen kann.
Der radikalen Konflikttheorie – so Lockwood – fehle letztlich diese Einsicht, insofern sie lediglich
an manifesten Konflikten und nicht am Phänomen der Systemintegration interessiert sei: Konflikte
werden von ihr quasi nur auf der Oberfläche diskutiert, d. h. ohne zu fragen, ob und wie diese
Konflikte einen wirklichen Systemwandel herbeiführen bzw. ob und wie durch diese Konflikte die
Teile eines Gesellschaftssystems berührt oder in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Verwendung
des Systembegriffs und die Übernahme funktionalistischer Gedanken erscheinen Lockwood im
Hinblick auf die Analyse moderner Gesellschaften nicht nur möglich, sondern sogar zwingend
geboten. Nur eine gleichzeitige Behandlung der Probleme von Sozial- und Systemintegration erlaube
die Konstruktion einer aussagekräftigen Gesellschaftstheorie. Dies ist auch der Ansatzpunkt der
Lockwoodschen Kritik am Parsonsschen (normativistischen) Funktionalismus, insofern dieser
aufgrund des absoluten Primats der normativen (Sozial-)Integration eigentlich keine Spannungen
zwischen Systemteilen kenne, weil alle Institutionen und Subsysteme nur Verkörperungen von
gesellschaftsweit geteilten 396Wertkomplexen seien und insofern – in Marxschen Termini – ein
Widerspruch zwischen der institutionellen Ordnung und ihrer »materiellen Basis« gar nicht gedacht
werden könne. Parsons – so der Vorwurf Lockwoods – verkleistere also die möglichen Probleme der
Systemintegration von Gesellschaften durch die alles durchdringende Idee einer normativen
Integration.
In jenem hier kurz referierten und zu Recht berühmt gewordenen Lockwoodschen Aufsatz ist also
schon die Spur hin zu einer Theoriesynthese gelegt worden. Ein echter Durchbruch bis dorthin
gelingt Lockwood selbst jedoch nicht, dazu ist vermutlich – trotz aller von ihm artikulierten Marx-
Kritik – seine Verankerung im Marxschen Denken zu groß. So betont Lockwood immer wieder, daß in
der Marxschen Theorie der Gedanke des komplexen Zusammenspiels von Sozial- und
Systemintegration angelegt sei. Seine theoretischen und philosophischen Mittel reichen jedoch nicht
aus, um diese Einsicht zu bewahren und sich gleichzeitig – wie Habermas – von zentralen Aspekten
des Marxschen Ansatzes zu lösen, vor allem von jenen utilitaristischen und ökonomistischen
Denkfiguren im Marxschen Werk, die es ziemlich aussichtslos erscheinen lassen, von hier aus zu einer
synthetischen Fassung des Verhältnisses von Macht und Kultur zu gelangen. Und dennoch: Lockwoods
Gedanken konnten weitergeführt werden – und dies geschah im britischen Kontext vor allem durch
Anthony Giddens, der freilich die Begrifflichkeit »Sozial- vs. Systemintegration« ganz anders
interpretieren wird, so daß vom ursprünglich Lockwoodschen und später dann auch Habermasschen
Bedeutungsgehalt kaum mehr etwas übrigbleibt.
2. Giddens’ Werkentwicklung ist nicht nur vor dem Hintergrund jenes ersten unvollkommenen, aber
durchaus inspirierenden Lockwoodschen Syntheseversuchs zu sehen, sondern auch vor dem
Hintergrund einer in Großbritannien in den 1970er Jahren aufblühenden historisch argumentierenden
Machtsoziologie, einer – wie schon am Ende der Achten Vorlesung angesprochen – in die Historische
Soziologie »abwandernden« Konfliktsoziologie.
Warum diese historisch orientierte Macht- oder Konfliktsoziologie gerade in Großbritannien zu
boomen begann (ähnlich wie in den USA, aber ganz im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland),
hat mindestens drei Gründe. Erstens befruchteten dort nicht-orthodoxe marxistische
Geschichtswissenschaftler und Intellektuelle wie Edward P. Thompson (1924-1993), Eric
Hobsbawm (geb. 1917) 397oder Perry Anderson (geb. 1938) mit ihren zum Teil sehr stark
soziologisierenden Reflexionen und materialreichen historischen Arbeiten auch die Soziologie, die
sich dadurch angespornt fühlte, ihre aktuellen Analysen stärker historisch anzubinden. Gerade die
schon existierende Weber-Marxistische Strömung innerhalb der Soziologie, zu der ja auch Rex oder
Lockwood zu rechnen waren, öffnete sich daraufhin in ganz erstaunlichem Ausmaß historischen
Themen. Zweitens war in Großbritannien der Einfluß von Norbert Elias viel früher zu verspüren als
in der Bundesrepublik Deutschland. Elias (1897-1990), in der Zeit des Nationalsozialismus aus
Deutschland vertrieben, dessen großes historisch-soziologisches Buch Über den Prozeß der
Zivilisation (1939) in der Bundesrepublik erst in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre so richtig
bekannt wurde, hatte sich nach einer typischen Emigrantenodyssee durch mehrere Länder schließlich
1954 in Großbritannien als Dozent an der University of Leicester etabliert, wo er vor allem durch
seine Lehrtätigkeit einen beachtlichen Einfluß auf die britische Soziologie ausübte. Seine historische
Makrosoziologie mit der zentralen These der disziplinierenden Wirkung von Staatsbildungsprozessen,
also von Makroprozessen, die selbst die privatesten Gefühle der Menschen ganz entscheidend prägen
im Sinne einer zunehmend verinnerlichten Selbstkontrolle, mußte natürlich anregend sein für eine
Soziologie, die sich mit Macht und sozialen Konflikten beschäftigte. Drittens florierte in
Großbritannien bereits in den 1950er und 1960er Jahren eine stark theoretisch und historisch
ausgerichtete soziologische Forschung zur Entwicklung des (britischen) Wohlfahrtsstaates, die mit
den Namen von Richard M. Titmuss (1907-1973) und Thomas H. Marshall (1893-1982) verbunden
war. Auch daran konnten diejenigen Soziologen anknüpfen, die historisch-soziologische Interessen
hatten.
Geprägt durch dieses geistige Klima, etablierten sich in jenem historisch-soziologischen Feld seit
den 1970er Jahren einige jüngere Soziologen, zu denen auch Anthony Giddens Kontakt haben sollte.
An erster Stelle ist hier Michael Mann (geb. 1942) zu nennen, der mit dem extrem ehrgeizigen Projekt
einer auf mehrere Bände angelegten soziologischen Universalgeschichte (The Sources of Social
Power; dt.: Geschichte der Macht) Furore machte, schon nach dem Erscheinen des ersten Bandes im
Jahre 1986 mehrere attraktive Angebote amerikanischer Universitäten bekam und mittlerweile an
398der University of California, Los Angeles, lehrt. Mann, der sich als Links-Weberianer
kennzeichnen läßt und insofern von Anfang an gegenüber dem Parsonianismus und dem Marxismus
gleichermaßen skeptisch war, weil er weder an die Integration ganzer Gesellschaften durch Werte
noch an die prinzipiell revolutionäre Rolle der Arbeiterbewegung glaubte, begann in den 1970er
Jahren als Klassentheoretiker und publizierte in diesem Zusammenhang mehrere Arbeiten zum
Arbeiterbewußtsein und zur Rolle der Intellektuellen in westlichen Gesellschaften. Sehr schnell
jedoch – und zwar schon Ende der 1970er Jahre – verlagerte sich sein Interesse hin zur Geschichte,
schien es ihm doch so zu sein, daß sich allein mittels der historisch-soziologischen Analyse einige
scheinbar selbstverständliche, nichtsdestotrotz aber hochproblematische und schädliche Prämissen
soziologischen Denkens hinterfragen ließen. Mindestens drei solcher von Mann vorangetriebener
Revisionen herkömmlicher soziologischer Standpunkte lassen sich benennen (vgl. zum folgenden
Haferkamp/Knöbl, »Die Logistik der Macht«):
A) Michael Mann war einer der Autoren, die ganz radikal den holistischen Gesellschaftsbegriff
aufzulösen versuchten. Die Soziologie hatte seit ihrer Gründungsphase diesen Begriff zu einer
zentralen Kategorie der Analyse gemacht, ohne dabei zu bedenken, daß die Vorstellung von
›Gesellschaft‹ als einer abgeschlossenen Einheit eng verbunden war mit dem sich gerade im 19.
Jahrhundert verfestigenden Nationalstaat. D. h., der Begriff des Nationalstaats wurde mit der
Gesellschaft gleichgesetzt, obwohl in vormoderner Zeit oder außerhalb Nordamerikas und Europas
derartig abgeschlossene Einheiten schlicht nicht existierten, weil es keine streng überwachten
Grenzen gab oder – wie im frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation – eine
kleinräumige politische Vielfalt vorherrschte, die mit der Idee einer abgeschlossenen, gar ›national-
kulturellen‹ Einheit keinesfalls gefaßt werden konnte. Der Gesellschaftsbegriff ist in solchen
Kontexten unbrauchbar. Michael Mann zieht daraus die Konsequenz, daß er den Menschen nicht als
»gesellschaftliches«, sondern als »soziales Wesen« definiert, um den Gesellschaftsbegriff als einen
Grundbegriff der Soziologie zu verabschieden.
B) An die Stelle des holistischen Gesellschaftsbegriffs tritt nun bei Michael Mann die Rede von
sich nur teilweise überlappenden Machtnetzwerken: Menschen – so die zentrale These Manns –
bewe399gen sich in je unterschiedlichen Netzwerken (er benennt vier solcher Machtnetzwerke:
ideologische, ökonomische, militärische und politische) bzw. werden durch diese Netzwerke zu
einem mehr oder minder geordneten Zusammenhandeln »gezwungen«. Mit dieser These verfolgt er
mindestens drei theoriestrategische Ziele: Mann wendet sich damit erstens gegen den Marxismus, der
stets und wie verklausuliert auch immer vom prinzipiellen Primat der Ökonomie ausgegangen ist.
Dies ist für Mann nicht hinnehmbar: Ganz in der Tradition der Konflikttheorie betont er die Existenz
mehrerer Typen von Ressourcen oder Machtquellen, um die es Konflikte geben kann; dabei ist
jeweils empirisch zu entscheiden, welche der vier Machtquellen in einem bestimmten historischen
Moment gegebenenfalls dominiert. Sodann öffnet Mann die Soziologie unmittelbar der historischen
Analyse, weil sich sofort folgende Fragen aufdrängen: Mit welchen Mitteln konnten in der Geschichte
Menschen ökonomisch, politisch, militärisch und ideologisch organisiert werden? Wie haben sich
diese Machtnetzwerke entwickelt? Hat es eine Zunahme der Organisationskapazitäten gegeben? Mann
erweist sich gerade in diesem Zusammenhang als ein Meister der historisch-soziologischen Analyse,
etwa wenn er zeigt, durch welche Kommunikations- und Transportmittel es möglich war, Menschen in
stabile Netzwerke einzubinden, und an welchen geschichtlichen Wegkreuzungen solche
Einbindungsversuche immer wieder versagten. Schließlich verhindert Mann durch die Rede von den
sich nur teilweise überlappenden Machtquellen den Rückfall in das holistische Gesellschaftsdenken,
weil sich dadurch die Einsicht eröffnet, daß manche Machtnetzwerke eine große Reichweite haben
können, manche aber nur eine kleine. Man kann also nicht ohne weiteres unterstellen – wie dies die
Rede von (nationalstaatlich verfaßten) »Gesellschaften« tut –, daß die Ausdehnung politischer,
ökonomischer, ideologischer und militärischer Machtnetzwerke stets deckungsgleich war und ist.
Damit ist gleichzeitig auch ein Tor geöffnet für aktuelle politisch-soziologische Debatten, etwa für
diejenige über die vielzitierte »Globalisierung«, weil sich mit Manns Machtnetzwerktheorie durchaus
differenziert beurteilen läßt, welche Netzwerke heute tatsächlich global sind und welche nicht.
C) Michael Mann war gerade aufgrund seiner Beschäftigung mit der Historie auf die Bedeutung
von Kriegen für die Formierung von »Gesellschaften«, insbesondere der modernen westlichen
»Gesell400schaften«, aufmerksam geworden. Die Herrscher bzw. die staatlichen Administrationen
spielten bei der Gestaltung der »innergesellschaftlichen« Verhältnisse immer eine zentrale Rolle, und
dies vor allem deshalb, weil Staaten häufig Kriege führten und die dazu notwendigen
Steuererhebungen immens ins soziale Gefüge eingriffen. Mann wendet sich damit gegen die in der
Soziologie verbreitete »endogene« Betrachtung historischer Prozesse, der zufolge sich Gesellschaften
überwiegend oder gar ausschließlich aufgrund einer bestimmten inneren Logik (wie dies in der
Parsonsschen Evolutionstheorie unterstellt wird) oder aufgrund des Fortschritts der Produktivkräfte
(wie dies der Marxismus behauptet) aus sich selbst heraus entwickeln. Statt dessen kann er zeigen,
daß häufig exogene Kräfte, etwa das abrupte Einwirken von militärischer Gewalt, unter anderem die
Form der Klassenbildung und damit die »gesellschaftliche« Gesamtstruktur entscheidend prägten.
Dies mag zunächst vielleicht übertrieben erscheinen, aber nicht zu Unrecht hat der namhafte deutsche
Historiker Thomas Nipperdey (1927-1992) seine dreibändige Deutsche Geschichte (1800-1918) mit
dem Satz begonnen: »Am Anfang war Napoleon.« (S. 11) Damit macht er darauf aufmerksam, daß die
deutsche Geschichte des frühen 19. Jahrhunderts nicht zu verstehen ist, wenn man nicht die Rolle des
napoleonischen Herrschaftsapparates und seiner Armeen berücksichtigt, weil erst in Reaktion darauf
eine beispiellose Mobilisierung und Veränderung – eine »Modernisierung« – der deutschen
»Gesellschaft« begann. Mit seiner Betonung der Rolle von Staaten und der durch sie ausgelösten
Kriege leistete Mann auch Vorarbeiten für die Revision eines in der Soziologie verbreiteten allzu
linearen Geschichtsbildes und einer vor allem allzu harmonistischen Deutung der Moderne, wie sie
lange Zeit im Umkreis von Talcott Parsons, aber sicherlich nicht nur dort, vorgeherrscht hatte, wie sie
dann aber in manchen der Zeitdiagnosen der 1980er und 1990er Jahre (vgl. Achtzehnte Vorlesung)
entschieden verworfen werden sollte.

Neben Michael Mann konnte sich in England etwa zur selben Zeit auch der mit ihm befreundete John
A. Hall (geb. 1949) einen Namen in der historisch-komparativen und stark konflikttheoretisch
argumentierenden Forschung machen. Hall hatte 1985 mit Powers and Liberties. The Causes and
Consequences of the Rise of the West ein höchst elegantes zivilisationsvergleichendes Buch
geschrieben und 401sich in der Folgezeit aus soziologischer Sicht u. a. mit Fragen der internationalen
Diplomatie, mit Krieg und Frieden auseinandergesetzt (vgl. etwa Coercion and Consent. Studies in
the Modern State). Er zielte mit vielen seiner Argumente in die gleiche Richtung wie Michael Mann,
insofern auch er die militärische Rolle des Staates bei der Genese der Moderne besonders in den
Mittelpunkt rückte.
Giddens kann an diese Autoren anschließen und dabei viele ihrer Denkfiguren übernehmen.
Freilich geschieht dies nicht umstandslos, denn Giddens sieht sehr schnell, daß die etwa von Mann
und Hall vorangetriebene Makrosoziologie unter handlungstheoretischen Defiziten leidet. Die von
Lockwood ins Visier genommene Synthese von Macht und Kultur läßt sich durch sie nicht erreichen.
Um es ganz vereinfacht auszudrücken: Mann und Hall sind fast ausschließlich Konflikt- und
Machttheoretiker und kaum Kulturtheoretiker. Bei Michael Mann etwa werden ökonomische
Machtnetzwerke nur neben ideologische (d.i. kulturelle) gestellt, ohne daß weiter gefragt wird,
welches Verhältnis zwischen den beiden besteht, ob z. B. die Ökonomie als solche, d. h. ohne
ideologisch-kulturelle Einbettung, überhaupt existieren kann. Damit hatte sich ja nicht nur Max Weber,
sondern auch Talcott Parsons – wie in der Zweiten und Dritten Vorlesung beschrieben – immer
wieder beschäftigt; dennoch erfährt dieses Thema aber weder im Mannschen noch im Hallschen
Theorierahmen eine angemessene Behandlung. Giddens sieht die Notwendigkeit einer Korrektur
dieser Ansätze, einer Korrektur, die nur auf der Basis umfassender handlungstheoretischer
Reflexionen erreicht werden kann. Und er wird diese handlungstheoretische Verwurzelung seiner
Argumentation bei seinen ordnungstheoretischen Überlegungen nicht »vergessen«, wird also viel
konsequenter sein als Habermas, der seiner Meinung nach – und dies entspricht unserer Kritik – bei
der Suche nach einer geeigneten Ordnungstheorie gerade unter dem Einfluß Luhmanns und Parsons’
viel zu schnell auf funktionalistische und damit akteurlose Pfade geraten ist.

Soweit zu den Einflüssen auf Giddens bzw. zum disziplinären Kontext, in dem seine Arbeiten
entstanden sind. Bevor wir uns nun daran machen, Giddens’ theoretische Position näher zu
untersuchen, zunächst einige ganz kurze Bemerkungen zu seiner Laufbahn, damit Sie sich diese
herausragende Figur der gegenwärtigen britischen Sozialwissenschaften etwas plastischer vorstellen
können. 402Giddens, der wichtige Phasen seiner akademischen Karriere an der englischen
Eliteuniversität Cambridge durchlief und bis vor kurzem Direktor der berühmten London School of
Economics war, wurde 1938 geboren, womit er etwa 10 Jahre jünger ist als seine deutschen
»Konkurrenten« Habermas und Luhmann. Wie diese entwickelte er schon in jungen Jahren eine
erstaunliche wissenschaftliche Produktivität. Er begann zunächst als innovativer Interpret der
soziologischen Klassiker Durkheim und Weber und legte in diesem Zusammenhang 1971 ein im
englischen Sprachraum relativ einflußreiches Lehrbuch mit dem Titel Capitalism and Modern Social
Theory vor. Von Anbeginn an suchte er zudem die Auseinandersetzung mit Talcott Parsons’ Theorie
und mit dessen Interpretation der Geschichte der Soziologie, wie wir sie in der Zweiten Vorlesung zu
The Structure of Social Action schon kennengelernt haben. Giddens wandte sich scharf gegen
Parsons’ normativistische Ordnungstheorie und die Deutung, wonach das klassische soziologische
Denken in einer rein innertheoretischen Auseinandersetzung mit dem Utilitarismus entstanden sei.
Giddens verfocht eine politische Interpretation und begriff die entstehende Soziologie – auch
aufgrund ihrer zeitdiagnostischen Beiträge – als eine Antwort auf die Krise des Liberalismus im
ausgehenden 19. Jahrhundert (vgl. etwa seinen Aufsatz »Classical Social Theory and the Origins of
Modern Sociology« aus dem Jahr 1976).
Neben diesen Arbeiten zur Geschichte der Soziologie legte er aber schon 1973 ein international
enorm einflußreich gewordenes Buch zu The Class Structure of the Advanced Societies (dt.: Die
Klassenstruktur fortgeschrittener Gesellschaften) vor, in dem er sich mit der Marxschen und der
Weberschen Klassentheorie auseinandersetzt und im Anschluß daran eine Analyse der Klassenstruktur
sowohl kapitalistischer wie staatssozialistischer Gesellschaften wagt. Dabei geht er insbesondere auf
die Entwicklungstendenzen der Arbeiter- und Mittelklassen ein. Giddens präsentiert sich in diesem
Buch als ein linker Gesellschaftstheoretiker, der aber nicht orthodox an Marxschen Gedanken »klebt«,
sondern Marxsche und Webersche Gedanken – im Sinne des schon genannten Weber-Marxismus –
produktiv zu verbinden sucht. In diesem Buch taucht auch schon ein Begriff auf, der durch Giddens
später berühmt werden sollte, der Begriff der »Strukturierung« (»structuration«). Giddens
bezeichnete damit den Sachverhalt, daß man historisch-empirisch nur ganz selten von festen
Klas403sen und Klassengrenzen sprechen kann, sondern meist variable »Stufen« der Klassenbildung
vorliegen, die von der Produktionsweise einer Gesellschaft ebenso beeinflußt werden wie von der
sich möglicherweise verändernden intergenerationellen Mobilität (vgl. Die Klassenstruktur
fortgeschrittener Gesellschaften, S. 128 ff.). Dieser Begriff der Strukturierung, den Giddens
zunächst nur im Rahmen der Klassentheorie verwendet hat, wird von ihm in den späten 1970er und
frühen 1980er Jahren ganz allgemein auf soziale Prozesse bezogen und handlungstheoretisch
unterfüttert, um die zumeist statische Begrifflichkeit in der Soziologie aufzubrechen. Giddens redet
nicht mehr von (festen) Strukturen, sondern eben von Strukturierung, um darauf hinzuweisen, daß in
Gesellschaften stets dynamische Prozesse am Werk sind, daß also die scheinbar so festen Strukturen
entstehen und vergehen und kontinuierlich durch die Akteure verändert werden. Er greift hier einen
Gedanken auf, der höchst einflußreich Anfang der 1960er Jahre von dem marxistischen englischen
Sozialhistoriker E. P. Thompson verbreitet worden ist, ein Gedanke, der schon im Titel seines
berühmtesten Werks The Making of the English Working Class steckt. Thompson sprach ganz bewußt
vom »Machen« und nicht von der »Entstehung« der Arbeiterklasse, um anzudeuten, daß die
Klassenbildung ein Prozeß ist, der von den Akteuren aktiv vorangetrieben wird und nicht quasi von
selbst abläuft. Der Marxist Thompson wandte sich damit gegen marxistische Klassentheoretiker,
welche die Strukturen (die Produktionsverhältnisse) derart in den Vordergrund rückten, daß sie
darüber die handelnden Subjekte aus den Augen verloren. Giddens folgt in dieser Hinsicht der
Thompsonschen Stoßrichtung, verallgemeinert aber die dort in bezug auf Klassenbildungsprozesse
gewonnenen Einsichten; die konsequent handlungstheoretische Idee der Gemachtheit und Machbarkeit
von Strukturen erweitert er generell zur Idee der von Akteuren bewußt oder unbewußt immer wieder
vorangetriebenen Strukturierung. Dies ist so ziemlich das genaue Gegenteil der Ihnen schon
bekannten Luhmannschen, aber auch der in der Vierzehnten Vorlesung zu behandelnden
strukturalistischen Auffassung von Systemen und Strukturen.
Seit Mitte der 1970er Jahre beginnt Giddens die verschiedenen theoretischen Strömungen innerhalb
der Soziologie breit zu rezipieren und kritisch zu kommentieren, die Ethnomethodologie ebenso wie
den Symbolischen Interaktionismus (vgl. etwa New Rules of 404Sociological Method aus dem Jahre
1976; dt.: Interpretative Soziologie. Eine kritische Einführung), den Strukturalismus ebenso wie die
deutsche Kritische Theorie (vgl. etwa Central Problems in Social Theory. Action, structure and
contradiction in social analysis von 1979). Anfang der 1980er Jahre veröffentlicht er eine auf
mehrere Bände angelegte, aber letztlich nicht wirklich vollendete Auseinandersetzung mit dem
Historischen Materialismus (A Contemporary Critique of Historical Materialism. Vol. 1: Power,
property and the state), in der besonders deutlich wird, wie stark Giddens durch die in
Großbritannien gerade im Entstehen begriffene historisch-soziologische Macht- und Konflikttheorie
geprägt ist.
Seine große Produktivität auf scheinbar allzu vielen Gebieten und die schon angesprochene
Rezeption höchst disparater theoretischer Ansätze brachten ihm spätestens seit Ende der 1970er Jahre
den Ruf eines bloßen Kommentators und theoretischen Eklektizisten ein, dessen Werk die innere
Einheit und Konsistenz fehle. Giddens war allerdings in der Lage, diesen Vorwurf überzeugend zu
entkräften, nämlich durch die Publikation eines großen systematischen Buches: 1984, also drei Jahre
nach Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns und zeitgleich mit Luhmanns Soziale
Systeme, erschien The Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration (dt.: Die
Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung). In diesem Buch
unternahm es Giddens, die von ihm rezipierten unterschiedlichen Theorien zu einem kohärenten
Rahmen zu verschweißen, so daß wir uns bei der folgenden Analyse seiner Theorie größtenteils auf
dieses systematische Hauptwerk stützen können.
Schon ein Jahr später erschien der zweite Band seiner Auseinandersetzung mit dem Historischen
Materialismus, The Nation-State and Violence, ein gewichtiges historisch-soziologisches Werk, das
eine Deutung der Moderne vorantreibt, in der politische Macht eine entscheidende Rolle spielt und
dem Krieg besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird.
1989 legt Giddens – ungewöhnlich für einen hochrangigen Theoretiker – ein 800 Seiten starkes
Lehrbuch der Soziologie vor (Sociology). Es erscheinen dann Anfang der 1990er Jahre eine ganze
Reihe kleinerer Bücher zur Moderne-Diskussion (The Consequences of Modernity, dt.:
Konsequenzen der Moderne) und zur Identität in modernen Gesellschaften (Modernity and Self-
Identity. Self and Society in 405the Late Modern Age und Transformation of Intimacy, 1992; dt.:
Wandel der Intimität. Sexualität, Liebe und Erotik in modernen Gesellschaften), die ein breiteres
Publikum erreichen, aber bei weitem nicht mehr die systematische Bedeutung der Arbeiten aus der
Mitte der 1980er Jahre aufweisen: Der amerikanische Soziologe Jeffrey Alexander prägte
diesbezüglich das etwas böse Wort von »Giddens light«. Tatsächlich wechselte Giddens immer mehr
in die Politikberatung. Tony Blair nahestehend, wurde er zum Programmatiker des sogenannten
»Dritten Weges« einer erneuerten europäischen Sozialdemokratie, der mit verschiedenen
Veröffentlichungen die politische Linie einer nicht mehr staatsgläubigen gemäßigten Linken zu
begleiten versuchte (vgl. etwa Beyond Left and Right. The Future of Radical Politics aus dem Jahr
1994; dt.: Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie und The Third Way.
The Renewal of Social Democracy von 1998; dt.: Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen
Demokratie). Man wird wohl sagen können, daß Giddens’ Schritt in die Politikberatung zwar seinen
Bekanntheitsgrad gerade auch international nochmals deutlich gesteigert hat, nicht aber unbedingt
seine wissenschaftliche Reputation. Zu eindeutig pamphletistisch, zu parteilich waren seine letzten
Veröffentlichungen, deren soziologischer Gehalt zudem deutlich zu wünschen übrigließ. Dennoch
bleiben seine vor allem Mitte der 1980er Jahre vorgelegten Bücher Meilensteine in der Entwicklung
einer synthetischen Sozialtheorie. (Auf die späteren Schriften und ihre zeitdiagnostischen Aspekte
kommen wir in der Achtzehnten Vorlesung zurück.)

Damit nun zu seinem systematischen Hauptwerk Die Konstitution der Gesellschaft. Wir wollen im
folgenden, um Wiederholungen gegenüber den bisherigen Vorlesungen zu vermeiden, nur diejenigen
Giddensschen Argumente präsentieren, mit denen er über bisher besprochene theoretische Positionen
deutlich hinausgeht. Handlungstheoretisch sind hierbei mindestens sechs Punkte besonders
erwähnenswert (vgl. zum folgenden Joas, »Eine soziologische Transformation der Praxisphilosophie.
Giddens’ Theorie der Strukturierung«):
1. Giddens’ Rezeption der Ethnomethodologie und des Symbolischen Interaktionismus in den
1970er Jahren zeigt insofern Wirkung, als er viele der dort entwickelten Ideen übernimmt bzw.
modifiziert. Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, daß er 406sich vehement schon gegen
die erste Grundannahme im Parsonsschen Handlungsbezugsrahmen wendet. Parsons ist ja vom
einzelnen Handlungsakt (»unit act«) ausgegangen und hat von hier aus versucht, die Elemente einer
jeden Handlung zu bestimmen. Giddens hält dies für einen falschen Ansatzpunkt, der allerdings z. B.
von der analytischen Philosophie und von einer ganzen Reihe anderer sozial- und
geisteswissenschaftlicher Strömungen ebenfalls übernommen wird. Seiner Auffassung nach ist
nämlich Handeln nicht zusammengesetzt aus atomistischen Einzelhandlungen, so daß etwa eine
abgeschlossene Handlung durch die nächste abgelöst würde und dementsprechend derart isolierte
Einzelhandlungen je für sich analysiert werden könnten. Giddens behauptet vielmehr – und hier kann
er sich phänomenologische wie pragmatistisch-interaktionistische Einsichten zunutze machen –, daß
man sich Handeln holistisch als einen ununterbrochenen Handlungsstrom vorstellen muß.
Menschliches Handeln vollzieht sich ebenso wie menschliches Erkennen als eine durée, als ein kontinuierlicher Verhaltensstrom.
Zweckgerichtetes Handeln ist nicht aus einem Aggregat oder einer Serie separater Intentionen, Gründe und Motive zusammengesetzt.
(…) »Handeln« setzt sich nicht aus einzelnen diskreten, voneinander klar geschiedenen ›Handlungen‹ zusammen: »Handlungen« als
solche werden nur durch ein diskursives Moment der Aufmerksamkeit auf die durée durchlebter Erfahrung konstituiert. (Giddens, Die
Konstitution der Gesellschaft, S. 53/54)

Nur im Rückblick, so die These von Giddens, können wir einzelne Akte durch eine geistige
Anstrengung isolieren und dann von (abgeschlossenen) Handlungen sprechen. Handeln im Vollzug
verläuft aber nicht so. Vielmehr muß man von einem kontinuierlichen Handlungsfluß ausgehen, von
einer – und hier verwendet er den Begriff des französischen Lebensphilosophen Henri Bergson
(1859-1941) – »reinen Dauer« (durée).
Mit dem Ziel der Abwehr einer hyperrationalistischen Philosophie und Psychologie hatte Bergson
diesen Begriff 1889 schon in seiner Doktorarbeit zur Charakterisierung unserer Bewußtseinsvorgänge
verwandt, um Momente zu bezeichnen, bei denen »unser Ich sich dem Leben überläßt, wenn es sich
dessen enthält, zwischen dem gegenwärtigen und den vorhergehenden Zuständen eine Scheidung zu
vollziehen«. (Bergson, Zeit und Freiheit, S. 77) Bergson, der mit manchen Aspekten seines Werkes
auch Edmund Husserl, den Be407gründer der Phänomenologie und philosophischen Ahnherrn der
Ethnomethodologie, und William James, einen der Begründer des Pragmatismus, beeinflußte, begriff
unser Bewußtsein nicht als eine Aneinanderreihung von isolierten Gedanken, sondern als einen
Erlebnisstrom, in dem Gedankeninhalte ineinander übergehen und miteinander verschmelzen, derart
»wie es geschieht, wenn wir uns die Töne einer Melodie, die sozusagen miteinander verschmelzen,
ins Gedächtnis rufen. Könnte man nicht sagen, daß, wenn diese Töne auch aufeinanderfolgen, wir sie
dennoch ineinander apperzipieren (…)?« (A.a.O., S. 77/78; unsere Hervorh.) Insbesondere
interessierte sich Bergson für die Verzerrung, die unser subjektives Zeitbewußtsein erfährt, wenn es
»verräumlicht«, d. h. einem objektivistischen Schema, der physikalischen Zeit nämlich, unterworfen
wird. Das Thema »Zeit« im Sinne subjektiv erfahrener Zeitlichkeit wurde nach ihm und durch ihn zu
einem Topos der Kulturkritik nach 1900 – in der Literatur (Marcel Proust) wie in der Philosophie
(Martin Heidegger). Giddens übernimmt diesen Gedanken – siehe das obige Zitat –, bezieht ihn aber
zusätzlich auf das Handeln: Gerade weil Bergson recht hatte, als er Bewußtseinszustände als
»durée«, als Fluß der reinen Dauer beschrieb, der sich nur durch geistige Anstrengung immer wieder
durch- und unterbrechen läßt, ist die Einschränkung dieses Gedankens auf Bewußtseinsvorgänge laut
Giddens unzureichend. Denn auch das Handeln muß so begriffen werden: Handeln ist eben keine
Aneinanderreihung von Akten, sondern ein kontinuierlicher Fluß, der nur zeitweilig aufgehalten wird,
wenn Hindernisse auftauchen, und der sich nur in rückblickender Reflexion in einzelne Handlungsakte
zergliedern läßt.
2. Giddens bricht – in ähnlicher Weise wie die Ethnomethodologie und der Symbolische
Interaktionismus – mit der Vorstellung, wonach dem Handeln klare Ziele vorgeordnet seien. Auch
dieser Gedanke ist natürlich gegen den Parsonsschen Handlungsbezugsrahmen gerichtet. Aber ein
derart teleologisch geprägtes Handlungsverständnis findet sich beileibe nicht nur dort. Parsons hatte
ja Handeln unter dem Aspekt der Zielverwirklichung beschrieben: Handelnde setzen sich Ziele, die
sie unter Berücksichtigung von Situationsbedingungen, vorhandenen Mitteln und insbesondere
bestehenden Normen und Werten in Angriff nehmen. Giddens hingegen betont, daß ein Großteil
menschlichen Handelns ohne vorgängige Herausbildung einer Absicht geschieht. Intentionalität ist
also 408nicht etwas, das handlungsextern ist, derart, daß zunächst ein Ziel gesetzt und dann erst
gehandelt wird, um dieses Ziel zu erreichen. Vielmehr bilden sich die Ziele oft erst im Handeln; erst
im Handeln wird sich der Akteur der aufsteigenden Absichten bewußt, die allerdings immer wieder
während des Handelns revidiert werden (können). Für Giddens bedeutet demzufolge Intentionalität
etwas anderes als in der herkömmlichen Handlungstheorie: Er versteht unter Intentionalität die
Fähigkeit zur reflexiven Selbstkontrolle im Prozeß des Handelns selbst, was er als »reflexive
Steuerung des Handelns« (Die Konstitution der Gesellschaft, S. 53, engl.: »reflexive monitoring of
action«) bezeichnet. Im Handeln werden nicht einfach einmal gesetzte Ziele und Intentionen
verwirklicht. Vielmehr schauen sich – so Giddens – die Menschen ständig über die eigene Schulter,
beobachten sich also, und verändern in diesem Prozeß ihre Ziele und Handlungsvollzüge. Im
metaphorischen Ausdruck »monitoring« wird dies anschaulich. Handeln ist also in Wirklichkeit ein
viel komplexerer Prozeß, als es die üblicherweise behauptete zeitliche Abfolge »Zielsetzung –
Handlung – Zielerreichung« suggeriert.
Vermutlich ist diese These der Vorgängigkeit des Handelns vor der Intention einer der Gründe
dafür, warum Giddens auf den Aufbau einer Handlungstypologie verzichtet. Es ist ja geradezu
auffallend, daß er – der sich ja immer wieder ganz explizit mit dem frühen Parsons, aber durchaus
auch mit Habermas auseinandergesetzt hat – auf einen solchen Versuch ganz bewußt verzichtet: Das
Handeln erscheint ihm offensichtlich als ein viel zu flüssiger Prozeß, als daß es sinnvoll wäre, diesen
Prozeß durch eine Typologie quasi stillzustellen. Allerdings bringt dieser Verzicht auf eine
systematische Reflexion über die unterschiedlichen »Pfade«, die das Handeln einschlagen kann, auch
Gefahren mit sich, die sich etwa in seinen makrosoziologischen Analysen zeigen. Aufgrund des
Fehlens einer ausgefeilten Handlungstypologie wird er gelegentlich zu einer allzu eindimensionalen
machttheoretischen Argumentationsweise verführt, die dem Aspekt der Eigenständigkeit der Kultur
kaum mehr Raum zu gewähren scheint (vgl. weiter unten S. 425).
3. Giddens weicht in einem weiteren, allerdings durchaus verwandten Punkt von »herkömmlichen«
Handlungsmodellen ab. Er behauptet nicht nur die häufige Vorgängigkeit des Handelns vor der
Herausbildung einer eindeutigen Intention; er stellt auch ein allzu rationalistisches
Handlungsverständnis in Frage, das eine bewußte 409Steuerung des Handelns durch die Akteure
unterstellt. Giddens vertritt demgegenüber die Auffassung, daß das Alltagsleben stark durch
Routinen, also durch vorbewußte Mechanismen, geleitet ist. Handeln – so Giddens’ These – bewegt
sich zu einem erheblichen Teil schon immer in Routinen und muß sich auch darin bewegen. Es ist sein
Anliegen, den Begriff der Routine von negativem Beigeschmack zu befreien und von der Vorstellung
eines absoluten Gegensatzes zwischen einem autonomen, sich völlig durchschauenden Handeln auf
der einen Seite und einem dumpfen, routinisiert ablaufenden, trägen Verhalten auf der anderen Seite
wegzukommen. Er will die Vorstellung aufbrechen, wonach »autonomes Handeln« und »Routine« ein
sich wechselseitig ausschließendes Gegensatzpaar wären. Dies zeigt er am eindruckvollsten (vgl. Die
Konstitution der Gesellschaft, S. 111-116) in seinem Verweis auf extreme Krisensituationen.
Berichte über KZ-Häftlinge beschreiben, wie der durch die Haftbedingungen erzwungene
vollkommene Zusammenbruch der gewohnten Alltagsroutinen bei nicht wenigen Häftlingen zu einer
völligen Paralysierung jeglicher Handlungsfähigkeit geführt habe, die nicht allein durch die brutalen
physischen Bedingungen der KZ-Haft zu erklären war. Der psychologische Schock eines solchen
Routinebruchs hat die ohnehin schon großen physischen Leiden nochmals massiv verstärkt, so daß der
Tod manchmal ebensosehr auf die psychischen wie auf die physischen Leiden zurückzuführen war:
Die Auflösung und der vorsätzliche Angriff auf die normalen Routinen des Lebens erzeugen ein hohes Maß an Angst; sie ›entkleiden‹
den Menschen seiner anerzogenen Reaktionen, die mit der Sicherheit der Körperbeherrschung und einem vorhersehbaren Rahmen des
gesellschaftlichen Lebens verbunden sind. Ein derartiges Aufwallen von Angst drückt sich in regressiven Verhaltensweisen aus und
erschüttert die Fundamente des grundlegenden Sicherheitssystems, das sich auf das anderen entgegengebrachte Vertrauen gründet. (…)
Im Gegensatz dazu findet sich im normalen gesellschaftlichen Alltagsleben (…) eine Seinsgewißheit, die sich auf die Möglichkeit der
autonomen Kontrolle des eigenen Körpers innerhalb vorhersehbarer Routinen und Begegnungen gründet. (Giddens, a.a.O., S. 63/64)

Das heißt also, daß Routinen und Handlungsautonomie nicht voneinander zu trennen sind: nur
dadurch, daß Routinen aufrechterhalten werden, bleibt auch die Möglichkeit zum Handeln gewahrt.
Routinen haben also nicht nur oder gar überwiegend einen einschränkenden, sondern vielmehr einen
ermöglichenden Aspekt. 410Auch wenn Giddens dies nicht sonderlich betont oder ausweist, befindet
er sich hier doch in großer Nähe zum amerikanischen Pragmatismus, also zur philosophischen
Bezugsschule des Symbolischen Interaktionismus, insofern auch die Pragmatisten immer wieder auf
die Rolle von »habits«, von Gewohnheiten also, für die Handlungsfähigkeit von Menschen
hingewiesen haben.
4. Diese Betonung des Routinecharakters menschlichen Verhaltens führt ihn sogleich zu einem
weiteren Punkt, der in den meisten Handlungstheorien übergangen wird. Wenn wir nämlich von
Routinen reden, von »habits«, dann kommen wir fast unweigerlich – siehe das letzte Zitat – auch auf
die Körperlichkeit des Menschen und des menschlichen Handelns zu sprechen. Denn wir wissen ja,
daß viele unserer alltäglichen Handlungsvollzüge aus quasi automatisierten Körperbewegungen
bestehen. Wir haben irgendwann einmal als Kinder gelernt, unsere Schuhbänder zu knoten. Wenn wir
als Erwachsene diese Tätigkeit verrichten, dann denken wir nicht mehr daran, wie denn eigentlich
genau eine Schleife zu machen ist. Nicht wir, unsere Hände fertigen die Schleife – diese Tätigkeit ist
uns in »Fleisch und Blut übergegangen«, wie der Volksmund richtig sagt. Und derartige Aktivitäten
gibt es im Alltag viele: Sie müssen nur kurz darüber nachdenken, und Sie werden recht bald eine
ganze Liste davon zusammengestellt haben, vom Radfahren bis zur koordinierten Tätigkeit der Finger
am Keyboard des Computers. Giddens behauptet nun, daß es falsch sei, bloße Bewegungen des
Körpers vom »eigentlichen« Handeln abzugrenzen in dem Sinne, daß von »Handeln« nur dann die
Rede sein könne, wenn die dabei involvierten Körperbewegungen bewußt kontrolliert würden. Er
betont vielmehr, daß erst die Verschlungenheit und untrennbare Verwobenheit von vorbewußter
Körperkontrolle und Handeln einen gesunden und funktionsfähigen Menschen ausmachen.
Untersuchungen zu hirngeschädigten Patienten zeigten, daß diese oft zu einem routinisierten Umgang
mit dem eigenen Körper nicht in der Lage sind; d. h., sie müssen etwa in bewußter Konzentration
ihrem Arm befehlen, sich auszustrecken, um einen Gegenstand zu greifen. Diese Patienten müssen
ihren Körper in den alltäglichsten Bewegungen bewußt steuern und dabei beträchtliche Energien
aufwenden, die ein gesunder Mensch nicht benötigt. Gesunde Menschen haben in der Regel kein
solches »instrumentelles« Verhältnis zu ihrem Körper, sie sind vielmehr Körper; Handeln findet bei
ihnen immer schon auf 411der Basis von routinisierten Körperbewegungen statt, Handeln und
routinisierte Körperbewegungen sind unmittelbar verbunden. Wie der amerikanische Pragmatismus
(vgl. die Sechste Vorlesung) wendet sich Giddens damit gegen den Dualismus zwischen Körper und
Geist, zwischen »bloßer« Bewegung und »eigentlichem« Handeln, insofern er in einer geradezu
ironischen Pointe zeigt, daß dieser Dualismus für die Probleme hirngeschädigter Menschen eine
zutreffende Beschreibung ist, aber eben nicht für das alltägliche menschliche Handeln. Daran knüpft
sich sofort ein weiterer Punkt an.
5. Weil Giddens durch den Begriff der Routine auf das Thema des menschlichen Körpers gestoßen
ist, ist er auch wesentlich stärker als andere Handlungstheoretiker bereit, die Zentralität des Körpers
für menschliche Interaktionen anzuerkennen. Giddens betont etwa, daß der menschliche Körper
keine Einheit ist, weil anthropologische und soziologische Untersuchungen mannigfach demonstriert
hätten, welche überragende Bedeutung das Gesicht des Menschen als Mittel des Ausdrucks und der
Kommunikation gegenüber anderen Körperteilen besitzt. Zugleich wird anhand sprachlicher
Wendungen wie »sein Gesicht verlieren« oder »sein Gesicht wahren« deutlich, daß Mimik, Gestik,
Ausdrucksverhalten usw., insofern diese auf die Gesichtszüge angewiesen sind, unter anderem auch
moralische Implikationen haben, daß es also in jeder Hinsicht falsch wäre, solche Körperreaktionen
nur als unwesentliche Bestandteile von Kommunikation zu behandeln. Giddens hat viel vom
amerikanischen Soziologen Erving Goffman (siehe die Sechste Vorlesung) übernommen, der enorme
Sensibilität gegenüber dem Ausdrucksverhalten des Menschen an den Tag gelegt und in seinen
Untersuchungen immer wieder auf die Zentralität auch der körperlichen Präsentation des Selbst
hingewiesen hat. Giddens macht sich die Goffmanschen Einsichten zu eigen und wendet sich damit
mehr oder minder explizit gegen Theoretiker wie Habermas, die Kommunikation im wesentlichen auf
sprachliche Äußerungen reduzieren. Kommunikationsvorgänge – so Giddens – laufen nicht zwischen
intelligenten Maschinen, die bestimmte Geltungsansprüche in den Raum stellen, ab. Vielmehr ist
zumindest in direkter Kommunikation immer schon Sprache mit Körperlichkeit, also mit Gestik und
Mimik, unmittelbar verwoben; der Bedeutungsgehalt der Interaktion geht nicht bruchlos in Sprache
auf! Deswegen ist in der Giddensschen Theorie auch der Begriff der »Kopräsenz« von zentraler
412Bedeutung, weil die Akteure – wenn sie sich im Gespräch oder überhaupt in Interaktion
miteinander befinden – nicht nur als vergeistigte Wesen auftreten, sondern ihre Körperlichkeit immer
schon einbringen. »Kopräsenz«, das Bewußtsein, gesehen zu werden und zu wissen, daß das eigene
Sehen ebenfalls vom Gegenüber beobachtet wird, ist für Giddens die Grunderfahrung menschlicher
Intersubjektivität, die elementare Erfahrung, gegenüber der andere Formen der Kommunikation und
Interaktion einen eher abgeleiteten Status besitzen.
6. Schließlich macht Giddens – im Gegensatz zu Parsons – ganz dezidiert auf die kognitiven
Dimensionen des Handelns aufmerksam. Parsons’ »action frame« hatte ja insofern immer eine
merkwürdig objektivistische Schlagseite, als dort nicht weiter hinterfragt wurde, wie die Akteure die
Bedingungen des Handelns wahrnehmen. Parsons unterstellte, daß alle Akteure sie so wahrnehmen,
wie sie eben sind. Giddens führt nun ganz explizit die Unterscheidung zwischen erkannten und
unerkannten Bedingungen des Handelns ein, charakterisiert also die Handelnden wie Garfinkel und
die Ethnomethodologen als »knowledgeable actors«, die auf bestimmte, allerdings je unterschiedliche
Wissensbestände im Alltag zurückgreifen können. Und Giddens differenziert auch – siehe die Dritte
Vorlesung – zwischen verschiedenen Formen unintendierter Folgen menschlichen Handelns (Die
Konstitution der Gesellschaft, S. 60 ff.). Dabei verwendet er aber die Tatsache der Existenz
unintendierter Handlungsfolgen nicht wie manche Funktionalisten (z. B. Robert Merton) als ein
Argument für die Übernahme einer funktionalistischen Ordnungstheorie: Diese hatten ja zum Teil
deshalb für den Funktionalismus optiert, weil sich – so ihre Behauptung – die Existenz solcher
massiv auftretender, nicht-beabsichtigter Nebenfolgen nur noch als eine subjektlose Reproduktion
immer gleicher Muster begreifen lasse; der Markt etwa lasse sich nicht mehr auf die intentionalen
Handlungen der beteiligten Akteure zurückführen, sondern die undurchdringliche Mischung
intentionaler Handlungen mit ihren unzähligen Nebenfolgen sei nur mehr mit Hilfe des Systembegriffs
sinnvoll zu fassen. Für Giddens aber – ebenso wie für Rational-Choice-Theoretiker – ist dies kein
überzeugendes Argument. Er zieht radikal andere Konsequenzen als die Funktionalisten oder
Systemtheoretiker: Gerade die Tatsache unvermeidlicher nicht-gewollter Nebenfolgen jedes
Handelns sprengt nämlich – so Giddens 413– die angebliche Funktionalität sogenannter Systeme.
Eben weil immer wieder neue Nebenfolgen auftauchen, ist die Rede von stabilen Systemzuständen
und damit jede funktionalistische Ordnungstheorie hochproblematisch. Natürlich kann man
Strukturen identifizieren, aber diese sind ständig im Fluß, sind nie gleich, sondern werden – ganz im
Sinne des Gedankens der Strukturierung – immer wieder neu und immer wieder anders durch die
Akteure produziert. Giddens spricht deshalb von der »Dualität der Struktur« (»duality of structure«),
insofern Strukturen zwar einschränkend wirken, das Handeln aber auch erst ermöglichen, und insofern
sie zwar scheinbar festgefügt sind und durch die Handelnden nur reproduziert werden, sich aber
durch die Akteure auch immer wieder transformieren.

Soweit zur Giddensschen Handlungstheorie und ihren Spezifika. Mit dem letzten von uns genannten
Merkmal sind wir nun aber auch schon an dem Punkt angelangt, von einer Theorie der Handlung zu
einer Theorie der Ordnung überzugehen, also zu fragen, mit welchen Begrifflichkeiten sich die
Verflechtungen von Handlungen mehrerer bzw. vieler Menschen fassen lassen. Die Besonderheiten
der Giddensschen Ordnungstheorie sind folgende:
A) Giddens ist – wie schon angedeutet – Anti-Funktionalist, und zwar in einer radikalen Weise. Er
hatte sich schon in den 1970er und frühen 1980er Jahren intensiv mit dem Funktionalismus
auseinandergesetzt und sich dabei die wissenschaftstheoretischen Argumente gegen diese Art des
Denkens zu eigen gemacht (siehe unsere Dritte Vorlesung). Er teilt die Kritik, wonach beim
Funktionalismus ein merkwürdiges Ineinanderschieben von Ursachen und Wirkungen vorliege und in
dieser Theorie Kausalverhältnisse suggeriert würden, die tatsächlich nicht vorhanden sind (Giddens,
»Commentary on the Debate«). Aber er verläßt sich bei seiner Kritik nicht allein auf die
Wissenschaftstheorie, sondern bietet auch empirische Argumente auf. So ist der Funktionalismus
seiner Meinung nach deshalb falsch, weil er die Festigkeit sozialer Beziehungen und die
diesbezügliche Machtlosigkeit der Akteure unterstellt. Giddens’ Idee der Strukturierung basiert
gerade auf der gegenteiligen Beobachtung, nämlich darauf, daß die Akteure die Strukturen nicht nur
reproduzieren, sondern auch produzieren und verändern. Die funktionalistische Rede von Systemen –
so seine Kritik – unterstelle eine höchst fragwürdige Hyperstabilität sozialer Strukturen, eine
Annahme, die 414durch nichts gerechtfertigt erscheine und zudem die Analyse historischer
Wandlungsprozesse unnötig erschwere.
Das heißt aber nicht, daß Giddens den Begriff des »Systems« und dessen Verwendung in den
Sozialwissenschaften vollkommen ablehnen würde. Giddens sieht sehr wohl, daß es in der sozialen
Welt durchaus auch höchst stabile Handlungsmuster gibt, daß Akteure oder sogar Generationen von
Akteuren immer wieder die gleichen Handlungen vollziehen und dadurch Gebilde von hoher
Festigkeit schaffen, welche die Verwendung des Systembegriffs nahelegen und rechtfertigen. Daraus
ist allerdings nicht zu schließen, daß alle sozialen Gebilde und Prozesse von derartiger Stabilität
sind. Im Gegensatz zu Parsons, der einen analytischen Systembegriff verwendete, und zu Luhmann,
der in essentialistischer Weise schlicht unterstellte, daß es Systeme gibt, und deshalb ohne weitere
Rückversicherungen mit seinem funktionalistisch-systemtheoretischen Instrumentarium hantieren
konnte, hat Giddens ein empirisches Verständnis von Systemen: Der Systembegriff ist danach nur
verwendbar, wenn auch die empirischen Bedingungen so sind, daß man bei der Betrachtung eines
sozialen Phänomens von einem hohen »Grad der Systemhaftigkeit« ausgehen kann. D. h. nur dann,
wenn man wirklich genau und zweifelsfrei beobachtet, daß sich aus dem Zusammenhandeln
Konsequenzen ergeben, die über Rückkopplungsschleifen wieder auf die Anfangsbedingungen des
Handelns der Akteure zurückwirken und dann immer wieder die gleichen Handlungsformen auslösen,
kann man wirklich von einem »System« sprechen. Derartige Systeme sind in der sozialen
Wirklichkeit eher selten zu finden. Aber selbst dann gilt:
Soziale Systeme weisen, was den Grad ihrer »Systemhaftigkeit« anlangt, eine große Variationsbreite auf; bei ihnen findet sich kaum jenes
Maß an interner Einheitlichkeit, wie dies für physikalische und biologische Systeme typisch ist. (Giddens, Die Konstitution der
Gesellschaft, S. 432)

Wenn nun der Übergang zu einer funktionalistischen bzw. systemtheoretisch angeleiteten


Ordnungstheorie für Giddens nicht möglich ist, wenn er an verschiedenen Stellen seines Werkes
Habermas etwa dafür kritisiert, daß er an einer bestimmten Stelle seiner Theoriearchitektur viel zu
kritiklos eine funktionalistische Ordnungstheorie übernommen und seiner alternativen
ordnungstheoretischen Konzeption der »Lebenswelt« zur Seite gestellt habe, so ergibt sich
415natürlich sofort die Frage, welchen ordnungstheoretischen »Ersatz« Giddens selbst für den
Funktionalismus anbieten kann. Es ist sein »Markenzeichen«, daß er sich tatsächlich bemüht, in
großer Konsequenz die Theorie sozialer Ordnung aus der Handlungstheorie heraus zu entwickeln, daß
er also gerade nicht versucht, die Handlungstheorie durch eine subjektlose Systemtheorie zu ergänzen
bzw. sogar zu ersetzen. Vor derartigen Versuchungen schützt ihn sein Machtbegriff, ein Begriff
freilich, dessen Bedeutung bei ihm weder dem Alltagsverständnis noch demjenigen vieler anderer
Soziologen entspricht.
B) Giddens bindet den Machtbegriff – dies sei vorausgeschickt – unmittelbar an den
Handlungsbegriff. Dies ist – wie wir sogleich sehen werden – keine selbstverständliche
Vorgehensweise; sie liegt aber auf der konsequent handlungstheoretischen Giddensschen
Argumentationslinie. Denn wenn man von einzelnen Akteuren und ihren Handlungen ausgehen und von
hier aus zu immer komplexeren Einheiten »aufsteigen« will, dann wird man fast unwillkürlich auf das
Phänomen der Macht aufmerksam, weil man mit Macht mehrere bzw. viele Akteure verbinden oder
einbinden kann. Dies hört sich zunächst sehr abstrakt an; wir werden deshalb Schritt für Schritt
vorgehen, um Ihnen die Giddenssche Denkweise nahezubringen.
Zunächst ist anzumerken, daß Giddens den Machtbegriff Max Webers für unzureichend hält. Weber
(Wirtschaft und Gesellschaft, S. 28) hatte Macht folgendermaßen definiert: »Macht bedeutet jede
Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben
durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.« Dies bedeutet, daß Weber – in
spieltheoretischen Begriffen ausgedrückt – Macht im Sinne eines Nullsummenspiels betrachtete: Die
Summe von Macht ist immer gleich; was der eine an Macht verliert, gewinnt der andere – und
umgekehrt. Für die mit einem solchen Machtbegriff arbeitenden Sozialwissenschaftler ergibt sich
daraus fast zwangsläufig ein besonders intensives und manchmal fast ausschließliches Interesse an
der Machtverteilung. In der Geschichte der Soziologie ist eine solche Definition allerdings auf Kritik
gestoßen, weil man einen derartigen Machtbegriff als unzureichend empfunden hat. Am deutlichsten
ist dieses Unbehagen von Talcott Parsons artikuliert worden, der ja – wie Sie aus der Vierten
Vorlesung wissen – Macht als eine Art Medium begriffen 416hat. Unabhängig davon, ob man diese
Terminologie für geglückt hält oder nicht, hat Parsons wohl zu Recht behauptet, daß Macht auch
akkumuliert oder produziert werden könne, ohne daß einer der an einer Machtbeziehung
Beteiligten hierbei notwendig verlieren müßte. Macht könne sich nämlich wie Kapital vermehren,
etwa dadurch, daß Menschen in einer Gruppe kooperieren und somit wesentlich mehr erreichen, als
dies einem einzelnen möglich wäre: In diesem Fall werde Macht also produziert, habe sich Macht
akkumuliert, ohne daß man »Verlierer« benennen könne!
Giddens greift diesen Parsonsschen Gedanken auf, der sich so ähnlich auch in der politischen
Philosophie – etwa bei Hannah Arendt (vgl. etwa »Macht und Gewalt«, 1970) – findet, und
entwickelt ein besonderes Interesse gerade für die Produktion von Macht. Dabei betont er – und dies
ist ein genuin Giddensscher Schritt –, daß jedes Handeln mit Macht verbunden ist. Dies zeige sich
schon etymologisch, insofern in bestimmten Sprachen eine Identität besteht zwischen den Wörtern, die
»Macht« bezeichnen, und denjenigen, die ein »Tun« bedeuten. Im Französischen heißt »pouvoir«
sowohl »Macht« wie »(tun) können«; im Englischen verweist »power« sowohl auf »Macht« wie auf
körperliche »Kraft« und »Fähigkeiten«. »Handeln« und »Macht haben« – so Giddens – bedeuten also
gleichermaßen: in der Lage zu sein, »in die Welt einzugreifen« (Die Konstitution der Gesellschaft,
S. 65).
Handeln hängt von der Fähigkeit des Individuums ab, ›einen Unterschied herzustellen‹ zu einem vorher existierenden Zustand oder
Ereignisablauf, d. h. irgendeine Form von Macht auszuüben. Ein Handelnder hört auf, ein solcher zu sein, wenn er oder sie die Fähigkeit
verliert, einen solchen »Unterschied herzustellen«, d. h. also eine Art Macht auszuüben (…) [wir können] auch sagen, daß Handeln
Macht im Sinne eines umgestaltenden Vermögens logisch einschließt. Im weitesten Sinne der Bedeutung von »Macht« ist Macht logisch
der Subjektivität, der Konstitution der reflexiven Steuerung des Verhaltens vorausgesetzt. (Giddens, a.a.O., S. 66; teilweise unsere
Übersetzung)

Aus dieser Gleichsetzung von Handeln und Macht ergibt sich ebenfalls, daß Situationen absoluter
Machtlosigkeit eigentlich kaum vorstellbar sind. Giddens formuliert damit eine Einsicht, die in vielen
soziologischen Analysen zu Macht und Herrschaft verlorenzugehen droht, nämlich die Tatsache, daß
auch die Untergebenen und 417Machtunterworfenen durchaus erhebliche Handlungsspielräume haben
und die Herrscher auf die Kooperation der Beherrschten angewiesen sind, falls sie ihre Ziele
verwirklichen wollen. Insofern haben immer auch die Beherrschten Macht; sie können durch ihr
Handeln »einen Unterschied herstellen«, also den Herrscher, der von ihnen zu einem gewissen Grad
abhängig ist, zumindest in die eine oder andere Richtung drängen. Insofern sind auch die
Kontrollmöglichkeiten der Herrscher nie absolut, und Giddens spricht zu Recht von einer »Dialektik
der Kontrolle« bzw. »Dialektik der Herrschaft«, um zum Ausdruck zu bringen, daß »in festgefügten
Machtbeziehungen die weniger Mächtigen Ressourcen in einer solchen Weise handhaben, daß sie
über die Mächtigeren Herrschaft ausüben« (a.a.O., S. 429).
Man wird diesen Gedanken, der übrigens auch in der Literatur und der Philosophie immer eine
besondere Rolle gespielt hat – denken Sie hierbei an Diderots Altersroman »Jacques der Fatalist und
sein Herr« oder an die von Hegel in der »Phänomenologie des Geistes« beschriebene Dialektik
zwischen Herr und Knecht –, sicherlich nicht überziehen dürfen, weil man in bezug auf totale
Institutionen wie das Gefängnis und erst recht das Konzentrationslager vermutlich mit dem Gedanken
der Macht der Beherrschten, der Häftlinge also, sehr schnell zu normativ problematischen
Situationsbeschreibungen verführt werden kann. Auf der anderen Seite wissen wir aber aus den
Analysen Goffmans und der Symbolischen Interaktionisten, daß das Leben in Institutionen, selbst in
totalen Institutionen, immer zumindest in Teilen »ausgehandelt« ist (»negotiated order«! – vgl.
nochmals die Sechste Vorlesung), daß also an der konkreten Ausgestaltung von Institutionen und an
den in ihnen ablaufenden Prozessen immer zwei Parteien beteiligt sind, also auch die Beherrschten
zumindest über einen begrenzten Handlungsspielraum, eben »Macht«, verfügen.
Es kann nun nicht überraschen, daß Giddens – ganz in der Tradition der Konflikttheorie und in
ähnlicher Weise wie Michael Mann – Macht nicht etwa nur ökonomisch fundiert sieht. Giddens
verwendet vielmehr einen multidimensionalen Machtbegriff und erkennt somit an, daß
Machtpositionen auf unterschiedlichen Ressourcen (er unterscheidet idealtypisch zwischen
»allokativen« und »autoritativen Ressourcen«) beruhen können, selbstverständlich auf ökonomischen,
aber eben auch auf politischen und militärischen, 418und nicht zu vergessen auf Wissensressourcen.
Gerade der letzte Punkt, der sicherlich sehr viel dem Werk des französischen Theoretikers Michel
Foucault verdankt (siehe Vierzehnte Vorlesung), wird von Giddens besonders stark hervorgehoben,
weil er mit Foucault Wissen und Wissensbestände, Formen des Redens und Sprechens etc. nicht als
neutral oder »unschuldig« betrachtet, sondern als Möglichkeiten, Beziehungen zwischen Menschen zu
strukturieren, und zwar durchaus auch ungleich zu strukturieren.
Soweit zu den noch ganz abstrakt gebliebenen Linien der Giddensschen Auffassung von »Macht«.
Wir haben aber vorhin betont, daß der Machtbegriff unter anderem deshalb so definiert und mit dem
Handeln gleichgesetzt wurde, weil Giddens aus konsequent handlungstheoretischer Perspektive
einen ordnungstheoretischen Rahmen zu entwickeln versuchte. Was hat es nun damit genau auf sich?
Giddens geht dieses Problem in einer Weise an, die in mancherlei Hinsicht gewöhnungsbedürftig
ist, weil er aus der herkömmlichen Art des Theoretisierens, so wie wir sie in den vorangegangenen
Vorlesungen kennengelernt haben, ausbricht, gleichzeitig aber Begriffe verwendet, die Sie zwar aus
diesen Vorlesungen schon kennen, deren Bedeutung jedoch oft vollkommen verändert wird. Dies gilt
insbesondere für das schon bei Habermas und Lockwood erwähnte Begriffspaar »Sozial-« vs.
»Systemintegration«, eine für die Giddenssche Ordnungstheorie ganz entscheidende Begrifflichkeit.
Während zwischen Habermas und Lockwood, so unterschiedlich ihre diesbezüglichen Definitionen
auch sein mögen, zumindest Einigkeit darüber besteht, daß diese beiden Aspekte mit
unterschiedlichen theoretischen Instrumentarien zu erfassen sind – Fragen der Sozialintegration mit
handlungstheoretischen Instrumenten, Fragen der Systemintegration mit funktionalistischen
Instrumenten –, sperrt sich Giddens gegen einen solchen theoretischen Dualismus. Es ist seiner
Meinung nach nicht notwendig, beim Aufbau eines ordnungstheoretischen Rahmens auf
funktionalistische Analysemittel zurückzugreifen. Vielmehr kann man konsequent handlungstheoretisch
argumentieren, wenn man sich nur die Einsichten in den Zusammenhang von Handeln und Macht
richtig zunutze macht.
Giddens hatte ja seinen Handlungsbegriff im Gegensatz zu anderen Handlungstheoretikern – und
hier vor allem im Gegensatz zu Habermas – sehr stark mit der Körperlichkeit des Menschen verknüpft
und unter Berücksichtigung der Einsichten Goffmans insbe419sondere Ausdrucksverhalten, Mimik
und Selbstrepräsentation betont. Daher spricht er der unmittelbaren »face-to-face«-Interaktion eine
besondere Bedeutung zu, weil hier diese Körperlichkeit unmittelbar zur Wirkung kommt. Unter
»sozialer Integration« versteht Giddens die Vernetzung von Handlungen anwesender und sich somit
wechselseitig beobachtender Akteure, also die Vernetzung von Handlungen unter Bedingungen der
Kopräsenz. In diesem thematischen Kontext schließt sich Giddens weitestgehend den
ordnungstheoretischen Ideen der Ethnomethodologie und des Symbolischen Interaktionismus an. Er
hält es nicht für nötig, wie Parsons auf Normen zu verweisen oder wie Habermas auf die Abgleichung
von Geltungsansprüchen, um ein stabiles Miteinander im Zustand der Kopräsenz erklären zu können.
Derartige ordnungstheoretische Ideen erscheinen ihm entweder als oberflächlich (wie im Falle von
Parsons) oder als rationalistisch (wie im Falle von Habermas). Er betont hingegen, daß Ordnung auf
einer tieferen Ebene gestiftet wird, und zwar durch die Verständlichkeit der symbolischen
Äußerungen (sowohl der sprachlichen wie der körperlichen) und durch das Vertrauen in die
Vernünftigkeit der Alltagswelt (siehe nochmals unsere Ausführungen zu den ordnungstheoretischen
Argumenten der Ethnomethodologen in der Siebten Vorlesung).
Interessant und wirklich innovativ wird es nun erst im Falle der Verknüpfung von Handlungen über
raum-zeitliche Distanzen hinweg – von Handlungen also, in denen die Akteure eben nicht kopräsent
sind. Hier tritt das von Giddens so bezeichnete Problem der »Systemintegration« auf. Dabei kann er
nun nicht mehr auf herkömmliche ordnungstheoretische Ideen zurückgreifen, weil einerseits die
überwiegend mikrosoziologisch ausgerichteten Ethnomethodologen und Interaktionisten diesbezüglich
nur wenig überzeugende Lösungen zur Verfügung gestellt, andererseits Habermas und erst recht
natürlich »genuine« Systemtheoretiker das hochproblematische und von ihm deshalb abgelehnte
funktionalistische Instrumentarium verwendet haben. Wie verfährt nun Giddens?
Raum und Zeit spielen für die Giddenssche Unterscheidung zwischen »Sozial-« und
»Systemintegration« eine entscheidende Rolle. Aber selbst wenn die Art der Vernetzung eine jeweils
andere ist, weil Akteure unter Bedingungen der Kopräsenz anders agieren (müssen) als unter
Bedingungen der Abwesenheit, erzwingt dies nicht einen Abschied von der Handlungstheorie. Ganz
im Gegenteil – und hier 420folgt Giddens Überlegungen Michael Manns: Man muß nur historisch
untersuchen, wie sich die Handlungskapazitäten von Menschen oder Gruppen über die Zeit verändert
haben, welche Technologien entstanden sind, um Menschen auch über große raum-zeitliche Distanzen
hinweg zu vernetzen, welche Machtkapazitäten – dabei kommt nun die Idee der Machtproduktion
bzw. -akkumulation ins Spiel – sich in unterschiedlichen Kulturen diesbezüglich entwickelt haben.
Der mit dem Handeln verknüpfte Begriff der Macht ist durchaus ausreichend, um makrosoziologische
Zusammenhänge aufzuklären; man braucht hierzu – so Giddens – keine funktionalistischen
Argumentationsmuster.
Dieser Ansatz von Giddens wird besonders anschaulich in dem schon zitierten Buch The Nation-
State and Violence ausgearbeitet, das ein Jahr nach der Konstitution der Gesellschaft erschienen ist.
In dieser stark historisch argumentierenden Arbeit analysiert Giddens beispielsweise die technischen
und technologischen Voraussetzungen der frühen Staatsbildung etwa in Mesopotamien, wobei er
besonderes Gewicht auf die Rolle der Aufzeichnung bzw. der Schrift legt, die es erst ermöglicht
haben, Herrschaft auf Dauer zu sichern. Die Erfindung der Schrift war seiner Auffassung zufolge eine
Grundvoraussetzung der machtgestützten Einbindung großer Menschenmassen, weil nur durch
gespeicherte Informationen staatliche Administrationen funktionieren konnten.
Writing provides a means of coding information, which can be used to expand the range of administrative control exercised by a state
apparatus over both objects and persons. As a mnemonic device, even the simplest form of the marking of signs makes possible the
regular ordering of events and activities which could not be organized otherwise. Storage of information allows both for the standardizing
of a certain range of happenings and, at the same time, allows them to be more effectively co-ordinated. A list is a formula that tallies
objects or persons and can order them relative to one another. This is perhaps the most elementary sense in which writing, even in its
simplest guise, enhances time-space distanciation, that is, makes possible the stretching of social relations across broader spans of time
and space than can be accomplished in oral cultures. (Giddens, The Nation-State and Violence, S. 44/45)

Mit schriftlich fixierter Information wird also ein gehöriges Maß an »Überwachung« (»surveillance«)
– ein Begriff, den Giddens von Foucault übernimmt – möglich, wird Staatsbildung überhaupt erst
denkbar. Und die Entwicklung von Informationsspeicherung und 421-verarbeitung hat – gemäß der
Einsicht, daß Wissen Macht bedeutet – auch in der weiteren Geschichte immer wieder eine
entscheidende Rolle gespielt: Wie Giddens in bezug auf die Entwicklung des neuzeitlichen
europäischen Staates zeigt, ermöglichte beispielsweise der Buchdruck hier wiederum einen enormen
Fortschritt hinsichtlich der Produktion von Macht. Die Herrscher im sich herausbildenden
absolutistischen Staat waren nun wie nie zuvor in der Lage, Informationen zu sammeln, diese auch zu
steuern und in bis dato einzigartiger Weise zentralisierte Verwaltungen aufzubauen, um ihre
Untertanen zu beherrschen. Im Zeitalter der Nationalstaaten ist dies dann – auf der Basis einer im
wesentlichen bereits bekannten Technologie – nur noch weiter verfeinert worden.
In diesem Zusammenhang kann man sich natürlich fragen, welche Folgen die Ausbreitung der
Computertechnologie für das Machtgefüge in heutigen Staaten hat. Giddens selbst geht hierauf nicht
systematisch ein, aber er würde – gemäß seiner These von der »Dialektik der Herrschaft« – wohl
kaum von einer einseitigen Steigerung der Herrschaft sprechen wollen. Denn wenngleich in
absolutistischer Zeit und in der Epoche der Nationalstaaten sicherlich die Macht des zentralisierten
Staates zunahm, wuchsen doch auch gleichzeitig die Fähigkeiten von religiösen oder politischen
Gruppen (denken Sie an die englischen Dissenters oder die herrschaftskritischen Intellektuellenzirkel
in der Zeit der europäischen Aufklärung), die sich ebenfalls die Macht des gedruckten Wortes zu
eigen machen und damit Gegenmacht produzieren konnten. In ähnlicher Weise wird man auch heute
eine »Dialektik« zwischen einer computergestützten Macht der staatlichen Administrationen und einer
auf dem Internet basierenden, nie ganz zu kontrollierenden Gegenmacht der sozialen Gruppen
beobachten können.
Man kann also – so Giddens – die Vernetzung von Handlungen vieler Menschen über Raum und
Zeit hinweg durchaus auf Grundlage handlungstheoretischer Überlegungen beschreiben. Man benötigt
dafür auch keine akteurlose Ordnungstheorie, wie sie der Funktionalismus anbietet. Ja, man darf eine
solche funktionalistische Ordnungstheorie gerade nicht verwenden, weil man durch sie die
Flüssigkeit sozialer Strukturen verkennen würde und die Tatsache der Dialektik der Herrschaft und
Kontrolle, die nichts anderes darstellt als einen stets prekären Aushandlungsprozeß zwischen
verschiedenen Akteuren und Akteursgruppen. Mit der Vorstellung von fest422gefügten Strukturen und
Systemen ist diese Tatsache schlicht nicht zu vereinbaren.
C) Die gerade erfolgten Erläuterungen zur weitreichenden raum-zeitlichen Verkettung von
Handlungen, die Verknüpfung von Mikro- und Makrostrukturen mit Hilfe des Machtbegriffs,
bezeichnen eine ordnungstheoretische Besonderheit, durch die sich Giddens ganz klar etwa von
Parsonsschen Vorstellungen absetzt. Denn die makrosoziale Ordnung wird nicht erst durch die
Befriedung von Interessenkonflikten mittels Normen und Werten herbeigeführt. Das Ordnungsproblem
stellt sich für Giddens bereits auf einer basaleren Ebene. Darin ähnelt sein Denken dem Garfinkels
und Luhmanns. Als etwas unglücklich kann man es allerdings empfinden, daß Giddens in seinem
Plädoyer für die Berücksichtigung der zeitlichen Dimension sozialer Prozesse das subjektive Erleben
von Zeit und die objektive Zeitlichkeit von Prozessen (etwa die Unterschiedlichkeit städtischer
Verkehrsströme zu verschiedenen Tageszeiten) begrifflich durcheinanderwirft. Wie auch immer: Auf
dieser Grundlage richtet Giddens ganz ähnlich wie Michael Mann sein besonderes Augenmerk auf die
technologischen Mechanismen und Ressourcen, auf die Transport- und Kommunikationsmittel, durch
die es überhaupt möglich wird, große Menschenmassen aneinanderzubinden. Normen sind
demgegenüber eine zwar nicht unwichtige, aber doch sekundäre Angelegenheit, weil erst unter der
Voraussetzung einer weitreichenden (dabei von bestimmten Technologien abhängigen) Vernetzung der
Menschen untereinander Normen oder Werte geteilt werden können: Erst auf der Basis bestimmter
Machtkapazitäten wird es möglich, daß sich Werte, Ideologien, kulturelle Muster etc. verbreiten, so
daß davon nicht nur einige wenige Menschen und Gruppen, sondern tatsächlich
Bevölkerungsmehrheiten berührt werden.
Konsequenterweise verabschiedet Giddens dann wie Mann den Gesellschaftsbegriff als Zentral-
oder Grundbegriff der Soziologie, weil es erst historisch-empirisch zu untersuchen gelte, wie sich
aufgrund von Transport- und Kommunikationsmitteln stabile Netzwerke zwischen Menschen bildeten,
ob sich unterschiedliche Netzwerke überlappten, so daß wirklich auch räumlich scharf abgegrenzte
soziale Gebilde entstanden etc. Wie Mann warnt er davor zu unterstellen, daß vormoderne politische
Gebilde in irgendeiner Weise ähnlich dem modernen Nationalstaat verfaßt waren, der sich u. a. durch
423seine relativ homogene Kultur, seine überwachten Außengrenzen etc. auszeichnet. Frühere Reiche
und Herrschaftsgebilde sahen ganz anders aus; von einer relativ homogenen Kultur konnte schon
deswegen nicht die Rede sein, weil überhaupt die Kommunikationsmittel fehlten, um eine solche
Kultur unter vielen Menschen zu verbreiten, und auch klar gezogene Grenzen waren nicht vorhanden,
insofern vormoderne Reiche an ihren Rändern eher »ausfransten«, also die Machtnetzwerke an der
Peripherie – weit ab vom Zentrum des Kernlandes – zunehmend schwächer wurden. Natürlich gab es
auch in der Antike etwa in Gestalt der Stadtstaaten politische Gebilde, in denen Macht hoch
konzentriert war. Aber der Übergang vom absolutistischen Staat hin zum modernen Nationalstaat
brachte nochmals eine enorme Steigerung an Machtkapazitäten mit sich, bedingt auch durch die
Entwicklung der Märkte, durch die industrielle Technik, durch die zunehmenden administrativen
Kapazitäten des Staates, d. h. seine Fähigkeit zur Verwaltung und Überwachung einer großen Zahl von
Menschen, und vor allem durch das Zusammenspiel all dieser Faktoren:
(…) the modern state, as nation-state, becomes in many respects the pre-eminent form of power container, as a territorially bounded
(although internally highly regionalized) administrative unity. (Giddens, a.a.O., S. 13)

Die Rede von »Gesellschaft« und die implizite Ineinssetzung von Gesellschaft mit dem modernen
Nationalstaat – so Giddens – verwischt nur die Frage, welche Spezifika diesen Nationalstaat
wirklich auszeichnen und ihn gegenüber früheren »Vergesellschaftungsformen« radikal abheben.
Aber Giddens will in diesem Zusammenhang nicht nur den Begriff der »Gesellschaft«
verabschieden; er will und muß auch Abschied nehmen von der Vorstellung einer einheitlichen und
alles durchdringenden Logik, der Prozesse in Makrogebilden angeblich unterliegen. Bezogen auf
moderne (westliche) Nationalstaaten hält er etwa die marxistische Deutung moderner westlicher
»Gesellschaften« als »kapitalistische Gesellschaften« schlicht deswegen für falsch, weil diese
Charakterisierung so tut, als ob es im sozialen Leben nur eine Machtressource gäbe, von der alle
anderen abhingen – nämlich die Ökonomie. Es ist ihm zufolge aber empirisch unzulässig, das
Funktionieren dieser modernen Nationalstaaten ausschließlich entlang einer ökonomischen Logik
begreifen und damit alle anderen 424Machtformen auf ebendiese Logik reduzieren zu wollen.
Vielmehr ist Giddens der Auffassung, daß die Moderne und mithin die Nationalstaaten durch ein
Spannungsfeld unterschiedlicher institutioneller Komplexe gekennzeichnet waren und sind. Gemäß
seiner Differenzierung zwischen mehreren Machtformen, die auf je verschiedenen Ressourcen und
Regeln basieren, unterscheidet er zwischen den Komplexen »capitalism, industrialism and state
system« (a.a.O., S. 287 ff.): Die kapitalistische Dynamik war sicherlich ein wesentlicher
Ausgangspunkt der Entstehung der Moderne, doch die kapitalistische Dynamik war und ist eine
andere als die technologische, die zur industriellen Moderne geführt hat, was sich daran zeigt, daß
Industrialisierung im Machtbereich der Sowjetunion auch unter nicht-kapitalistischen Vorzeichen
stattfinden konnte. Das Nationalstaatensystem wiederum läßt sich weder auf den Industrialismus noch
auf den Kapitalismus zurückführen, sondern entwickelte eine eigene, eigentlich zweifache Dynamik.
Zum einen ergab sich spätestens seit der Französischen Revolution im sich herausbildenden
europäischen Konzert von Nationalstaaten (Plural!) eine ungeheure militärische Dynamik, welche
diese Moderne in ihrem Innersten geprägt hat. Giddens hat – hier erneut ähnlich wie Michael Mann –
ein wesentlich stärkeres Sensorium für die Rolle von makrosozialer Gewalt entwickelt, als dies bei
Habermas oder Luhmann der Fall ist, in deren Theorien dieser Aspekt so gut wie keine Rolle spielt –
eine gerade im Hinblick auf deutsche Theoretiker merkwürdige Beobachtung, bedenkt man, welche
enorme Rolle staatliche Gewalt für die Geschichte »ihrer« Gesellschaft gespielt hat. Zum anderen
entwickelten auch die administrativen Apparate mit ihren Überwachungstechniken, die nicht zuletzt
auch die totalitären Herrschaftsformen des 20. Jahrhunderts möglich gemacht haben, eine eigene
Dynamik, und zwar wiederum eine, die weder auf industrielle noch auf kapitalistische oder
militärische Prozesse reduziert werden kann.
Gegen diese Gefahr der Überwältigung der bürgerlichen Gesellschaft durch einen allmächtigen
Staat setzten sich dann – so Giddens – Individuen und Gruppen immer wieder zur Wehr, so daß
Demokratisierungsbewegungen in erster Linie als Folge der administrativen Durchdringung sozialer
Beziehungen durch den modernen Nationalstaat begriffen werden können. Freilich läßt sich hier
kritisch fragen, ob Demokratie allein aus einer Dialektik von Macht und Gegenmacht zu begreifen ist.
Schließlich – und hier erweist es 425sich als problematisch, daß Giddens auf die Ausformulierung
einer Handlungstypologie verzichtet hat – haben Ideen von Gleichberechtigung, Gleichheit,
politischer Mitsprache, Fairneß etc. sicherlich auch ihre kulturellen Wurzeln und sind
Demokratisierungsprozesse zwar von Machtkonstellationen abhängig, aber allein durch sie nicht
hinreichend zu erklären. An dieser Stelle zeigt sich, daß Giddens’ Synthese von Macht und Kultur
vermutlich nur halb geglückt ist, daß sein Analysefokus – bei aller handlungstheoretischer Raffinesse
– zu sehr auf den Machtaspekt des Handelns und zu wenig auf dessen kulturelle Einbettung gerichtet
ist.
Und dennoch: Auch wenn Giddens bei der Verwendung des für seine Makrosoziologie so
wichtigen Begriffs der »surveillance«, also der Überwachung, starke Anleihen bei Foucault macht, ist
er doch gleichzeitig – und dies ist ihm zugute zu halten – immer wieder bemüht, die akteurlose
Theoriekonzeption Foucaults zurückzuweisen. Foucaults Analysen, auf die wir erst in der Vierzehnten
Vorlesung zu sprechen kommen werden, haben nämlich zum einen nie die Akteure benannt, welche die
Machttechniken nutzen oder vorantreiben; d. h. bei Foucault »geisterte« die Macht durch die
Geschichte, war aber nicht dingfest zu machen und zuzuordnen, was für konsequente
Handlungstheoretiker wie Giddens nicht hinnehmbar ist. Zum anderen war Foucault in seinen
Machtanalysen immer in Versuchung, die Wirksamkeit von Macht massiv zu übertreiben, weil er –
zumindest bis zu seinem Spätwerk – kein wirkliches theoretisches Interesse an den Akteuren und
ihren Handlungen hatte. Aus Sicht Foucaults war und ist der Körper nur Gegenstand von
Machttechniken, ein durch Macht- und Disziplinartechniken ge- und durchformtes Objekt, dem keine
wirkliche Autonomie zukommt. Giddens hingegen geht nicht so weit; Akteure haben für ihn stets
Handlungsfähigkeit, können deshalb auch immer – ganz im Sinne der »Dialektik der Herrschaft« –
aufbegehren, protestieren und kämpfen (vgl. Die Konstitution der Gesellschaft, S. 315). Giddens
bringt diesen Gegensatz zu Foucault auf die griffige Formel, die »Körper« Foucaults hätten keine
»Gesichter« – nichts in ihnen blicke zurück und zeige die irreduzible »Subjektivität« der »Objekte«.
An dieser Stelle wird nochmals die Differenz zwischen Giddens und Luhmann deutlich. Vielleicht
ist Ihnen aufgefallen, daß Giddens’ Rede von den Spannungen zwischen den institutionellen
426Komplexen eine gewisse Ähnlichkeit zu Luhmanns radikaler These von der funktionalen
Differenzierung moderner Gesellschaften besitzt, wonach die einzelnen Subsysteme nur ihrer eigenen
Logik folgen, ein gemeinsamer Code oder eine gemeinsame Sprache nicht mehr existiert und sie
deshalb nur mehr gestört oder irritiert werden können. Der Unterschied zwischen den beiden
Theoretikern besteht freilich darin, daß Giddens eine derart radikale Scheidung der institutionellen
oder (sub-)systemischen Komplexe empirisch nicht für plausibel hält und zudem – und dies ist das
Entscheidende – die Grenzziehung zwischen den Komplexen zu einer Angelegenheit der Akteure
macht: Es sind die Akteure, welche – wie bewußt oder unbewußt, wie hellsichtig oder fehlgeleitet
auch immer – die innere Logik der institutionellen Komplexe und ihre Grenzen zueinander bestimmen.

Damit kommen wir zum Schluß dieser Vorlesung und gleichzeitig zu Giddens’ Vorstellungen von
sozialem Wandel. Wir hatten schon bei der Diskussion seiner Ordnungstheorie darauf hingewiesen,
daß Giddens eine radikal anti-funktionalistische Konzeption vertritt. Nun hat sich – vermutlich nicht
zufällig – gerade das funktionalistische Denken im Hinblick auf wandlungstheoretische Konzepte sehr
stark von der Evolutionstheorie inspirieren lassen, von der es allerdings – ganz abgesehen davon, in
welchen Disziplinen sie weiterentwickelt wurde – höchst unterschiedliche Versionen gibt. Parsons
etwa ließ sich in seinen evolutionstheoretischen Überlegungen (siehe die Vierte Vorlesung) von der
Idee eines angeblichen Hauptprozesses der »Differenzierung« leiten, selbst wenn er gemäß seinem
Vier-Funktionen-Schema noch andere Wandlungsaspekte benannte wie »adaptive upgrading«
(»Erhöhung der Anpassungskapazität«), »value generalization« (»Wertegeneralisierung«) und
»inclusion« (»Inklusion«). Es ist wohl nicht ungerecht zu behaupten, daß die nachfolgenden
soziologischen Evolutionstheorien dem nichts Wesentliches mehr hinzufügten; ja man kann sogar
fragen, ob etwa die evolutionstheoretischen Thesen Luhmanns zum sozialen Wandel gegenüber dem
Parsonsschen Niveau nicht einen Rückschritt bedeuten, weil Luhmanns massives und ausschließliches
Insistieren auf dem Thema der funktionalen Differenzierung die genannten anderen Aspekte der
Parsonsschen Theorie eher wieder ausblendet. Zudem bleibt bei Luhmann höchst unklar, wer oder
was denn ei427gentlich die funktionale Differenzierung vorantreiben soll – außer jener merkwürdig
diffus beschriebenen Eigenlogik der innersystemischen Kommunikation.
Weil Giddens radikal mit dem Funktionalismus bricht und allenfalls einen empirischen
Systembegriff zuläßt und immer wieder behauptet, daß die erkannten und unerkannten, gewollten und
ungewollten Nebenfolgen von Handlungen die Funktionalität fast eines jeden Systems sprengen, hält
er dementsprechend wenig von der Idee einer von endogenen Mechanismen vorangetriebenen
»Entwicklung« von (sozialen) Systemen. Er ist sich bewußt, daß Akteure »knowledgeable actors«
sind, die auf spezifische Weise und immer wieder neu je unterschiedliche Machtressourcen zur
Erreichung ihrer Ziele nutzen. Insofern ist er gegenüber der Vorstellung skeptisch, daß sich
Geschichte in eine lineare (evolutionistische) Erzählung pressen ließe. Denn gerade aufgrund der
Findigkeit der Akteure und vor allem der nie abzusehenden Nebenfolgen ihres Handelns wird es in
der Geschichte immer wieder Zäsuren und Neuanfänge geben, von denen aus vielleicht – für eine
bestimmte Zeit – eine kontinuierliche Entwicklung beobachtet werden kann. Aber da das Auftreten
radikaler Diskontinuitäten immer möglich ist, verficht Giddens ein als »episodisch« bezeichnetes
Geschichts- und Wandlungsverständnis: Es lassen sich ihm zufolge allenfalls Episoden oder Epochen
einigermaßen klar und kohärent umreißen, aber nicht die Geschichte der Menschheit als Ganzes im
Sinne einer evolutionstheoretisch angeleiteten einheitlichen Erzählung. Weder lassen sich bestimmte
»master processes« (wie Differenzierung) noch eindeutige Kausalitäten (wie der Klassenkampf im
Marxismus) ausmachen, die diese komplexe menschliche Geschichte zureichend erfassen könnten.
Es gibt keinen Schlüssel, der uns (…) den Zugang zu den Geheimnissen der menschlichen und sozialen Entwicklung eröffnen könnte, daß
er diese auf ein einheitliches Schema reduziert, oder der in einer solchen Perspektive die wichtigsten Übergänge zwischen verschiedenen
Gesellschaftsformen zu erklären vermöchte. (Giddens, a.a.O., S. 300)

Sozialer Wandel ist also ein viel zu verschlungener Prozeß, als daß er mit einfachen Formeln zu
beschreiben, geschweige denn zu erklären wäre. Dies gilt auch für den Prozeß der Globalisierung,
wie er seit den frühen 1990er Jahren in Öffentlichkeit und Fachwissenschaft massiv diskutiert wird.
Giddens versteht – in Übereinstimmung mit seiner 428theoretischen Konzeption – Globalisierung
nicht vornehmlich als einen ökonomischen, sondern vielmehr als einen multidimensionalen Prozeß,
der mit Raum-Zeit-Kategorien zu erfassen sei.
(…) the concept of globalisation is best understood as expressing fundamental aspects of time-space distanciation. Globalisation concerns
the intersection of presence and absence, the interlacing of social events and social relations ›at distance‹ with local contextualities. We
should grasp the global spread of modernity in terms of an ongoing relation between distanciation and the chronic mutability of local
circumstances and local engagements. (Giddens, Modernity and Self-Identity, S. 21/22)

Nicht nur globale ökonomische Strukturen, die auf lokale Kontexte treffen, verändern die Welt und die
Wahrnehmung dieser Welt durch die Betroffenen. Auch Migranten und Flüchtlinge, der Ferntourismus
und die Medien bringen Kontexte zusammen, die früher einigermaßen »zuverlässig« getrennt waren –
mit unübersehbaren Folgen auch für die personale Identität der Menschen. Daraus ergeben sich dann
für Giddens weitere zeitdiagnostische Überlegungen, die wir allerdings – weil hier eine
unübersehbare Nähe zum deutschen Soziologen Ulrich Beck besteht – erst in der Achtzehnten
Vorlesung behandeln werden.
Insgesamt wird man sich dem Erkenntnisgewinn von Giddens’ »episodischem« Geschichts- und
Wandlungsverständnis gegenüber den oft allzu linearen Konstruktionen evolutionstheoretischer Art
nicht verschließen können, zumal auch die von Mann und Giddens immer wieder betonte Rolle von
massiver Makrogewalt sicherlich ein zusätzliches Argument für die diskontinuierlichen Momente im
historischen Prozeß liefert. Gleichzeitig kann man allerdings auch kritisch fragen, ob Giddens’
generelle Kritik an Evolutionstheorien nicht überzogen ist, insofern Menschen sich ja selbst immer
wieder ihrer Geschichte versichern und einen Sinn in ihr Gewordensein zu bringen versuchen. Sie
deuten »die Vergangenheit im Licht einer vorentworfenen Zukunft zum Zweck der Interpretation und
Kontrolle der Gegenwart« (Joas, »Eine soziologische Transformation der Praxisphilosophie«,
S. 219), so daß geschichtliche Kontinuität nicht nur von Soziologen oder Theoretikern erfunden,
sondern tatsächlich auch von den Subjekten »gemacht« wird.
Bei allem Abschied von der Suche nach der einen die Geschichte erklärenden Formel kommen wir
nicht umhin, verschiedene Ver429gangenheiten in eine Geschichte zu integrieren (vgl. dazu die
Sechzehnte Vorlesung zu Ricœur).

Mit der Darstellung der theoretischen Syntheseversuche von Habermas, Luhmann und Giddens haben
wir nun die einflußreichsten Arbeiten dieser Art aus den 1970er und 1980er Jahren dargestellt. Auf
weitere theoretische Versuche aus diesem Zeitraum und auf spätere Entwicklungen gehen wir im
folgenden ein. Zuvor aber widmen wir uns – in der nächsten Vorlesung – dem Neo-Parsonianismus.
Die unter dieses Etikett einzuordnenden Autoren lehnen sich entweder sehr eng an das »alte«
Parsonssche Theoriegerüst an, glauben also trotz aller Kritik an Parsons, mit dessen Werk schon den
im Prinzip »richtigen« Theorieansatz gefunden zu haben. Oder sie spezialisieren sich auf Themen aus
der Makrosoziologie in einer Weise, die zwar eine systematische Reflexion auf eine Theorie des
sozialen Wandels und allenfalls noch eine Theorie der sozialen Ordnung zuläßt, aber die Arbeit an
der Theorie des Handelns als nicht mehr so dringend erscheinen läßt, wie dies bei Parsons und dann
eben bei Habermas, Giddens und auch Luhmann der Fall war. Eine gegenwärtige Theoriesynthese
darf aber hinter die Errungenschaften dieser drei Theoretiker gewiß nicht mehr zurückfallen. Diese
Einsicht sollten Sie sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, wenn wir Ihnen in den folgenden
Vorlesungen noch weitere Theorieansätze vorstellen – Ansätze, die Sie daraufhin überprüfen sollten,
ob sie mit dem synthetischen Anspruch der soeben behandelten Autoren konkurrieren können.
430Dreizehnte Vorlesung
Die Erneuerung des Parsonianismus und
der Modernisierungstheorie

Wenn wir Ihnen in den letzten vier Vorlesungen die wichtigsten Syntheseversuche vorgestellt haben,
die in den 1970er und 1980er Jahren unternommen worden sind, um unterschiedliche theoretische
Traditionen miteinander zu verknüpfen und erneut zu einer Großtheorie à la Parsons vorzustoßen, so
darf Sie dies keineswegs zu falschen Schlußfolgerungen verleiten. Aus unserer Behauptung, daß sich
der Schwerpunkt der Theorieproduktion seit etwa 1970 nach Europa verlagert habe, ist jedenfalls
nicht zu folgern, daß die amerikanische Soziologie in theoretischer Hinsicht nach diesem Zeitpunkt
überhaupt keine Rolle mehr gespielt hätte. Und aus der Beobachtung, daß Parsons scharf von Neo-
Utilitaristen, Symbolischen Interaktionisten, Ethnomethodologen und Konflikttheoretikern kritisiert
worden war, ist nicht zu schließen, daß das Parsonssche Denkgebäude in den 1970er und 80er Jahren
jegliche Anziehungskraft verloren hätte. Vielmehr zeigte sich, daß sein extrem umfangreiches,
vielschichtiges, wenn auch nicht immer konsistentes Werk erheblichen Spielraum für unterschiedliche
Ausdeutungen bot, was auch hieß, daß sich Parsons-Schüler eigenständige, vom Denken des
»Meisters« mehr oder weniger unabhängige Wege bahnen konnten. Vor allem die Parsonssche
Theorie sozialen Wandels bot Anlaß für umfangreiche Revisionen. Parsons selbst hatte zwar seine
wandlungstheoretischen Vorstellungen stetig weiterentwickelt (siehe unsere Vierte Vorlesung). Er war
dabei jedoch, gerade weil er in seinen evolutionstheoretischen Überlegungen immer abstrakter
argumentierte, auch an Grenzen gestoßen. Zumindest diejenigen Soziologen, die ernsthaft empirisch
arbeiten wollten, konnten mit der historischen Vagheit derartiger Konstruktionen zumeist nur wenig
anfangen.
Hier war der Ansatzpunkt der sogenannten Modernisierungstheorie, deren Gestalt zwar ohne das
Parsonssche Werk nicht zu verstehen ist, die jedoch andererseits mit ebendiesem Werk auch an
durchaus zentralen Stellen im Widerspruch stand. Was war nun genau diese Modernisierungstheorie?
Ganz vereinfacht (vgl. zum 431folgenden Knöbl, Spielräume der Modernisierung, S. 32 f.) läßt sich
sagen, daß sie eine Theorie sozialen Wandels war, die versuchte, historisch-vergleichend die
Entwicklungsgeschichte von Gesellschaften zu fassen. Man nahm dabei an, daß
Modernisierung ein globaler Prozeß ist, der mit der industriellen Revolution seit Mitte des 18.
1. Jahrhunderts (oder vielleicht sogar schon früher) in Europa begann, nun aber zunehmend alle
Gesellschaften betrifft und insgesamt irreversibel ist;
die historische Entwicklung, d. h. der Modernisierungsprozeß, von sogenannten traditionalen hin
2. zu modernen Gesellschaften verläuft, womit gleichzeitig eine scharfe Antithese zwischen
Moderne und Tradition unterstellt wird;
in den traditionalen Gesellschaften und Ländern der Dritten Welt persönliche Einstellungen, Werte
und Rollenstrukturen dominieren, die – in ganz enger Anlehnung an die Parsonsschen
3. Mustervariablen (s. unsere Dritte Vorlesung) – durch Begriffe wie »ascription«, »particularism«
und »functional diffuseness« umschrieben werden können und als ökonomische und politische
Entwicklungshindernisse zu interpretieren sind;
im Gegensatz dazu sich die modernen Gesellschaften des europäischen und nordamerikanischen
4. Kulturraumes über leistungsbezogene und universalistische Werte und funktional-spezifische
Rollenmuster definieren;
der soziale Wandel zur Moderne hin in den verschiedenen Ländern relativ uniform und linear
5.
stattfinden wird.
Noch einfacher gesagt: Ziel der Modernisierungstheorie war es, eine historische Erklärung der
Entstehung kapitalistischen Wirtschaftens und demokratischer Politik in Westeuropa und Nordamerika
zu liefern und gleichzeitig die Bedingungen für ökonomisches Wachstum und Demokratisierung in
anderen Teilen der Welt aufzuhellen. Das ganze Theoriedesign war dabei so angelegt, daß eine
gegenüber dem Marxismus konkurrenzfähige Makrotheorie entstehen sollte: Dem starren
marxistischen Basis-Überbau-Konzept wurde in der Modernisierungstheorie mit den
»Mustervariablen« ein wesentlich flexibleres theoretisches Instrumentarium entgegengesetzt. Diese
waren von Haus aus multidimensional gestaltet, so daß es möglich wurde, das Zusammenspiel der
großen Komplexe Wirtschaft – Politik – Kultur in einer nicht-reduktionistischen Weise zu erfassen: Im
Gegensatz zum Ökonomismus des Marxschen Ansatzes 432wurde hier keine grundbegrifflich-
theoretische Vorentscheidung über die kausale Priorität von Wirtschaft, Politik oder Kultur getroffen.
Eine derartige Theorieanlage war in den 1950er und frühen 1960er Jahren aus mehreren Gründen
attraktiv.
A) Für die Soziologie im engeren Sinne war dies ein Ansatz, der im Unterschied zu den eher
abstrakten Parsonsschen Schriften konkret genug war, um damit wirklich empirisch arbeiten zu
können. Zudem waren in den 1950er Jahren Parsons’ Überlegungen zum sozialen Wandel noch nicht
wirklich ausgegoren; seine Evolutionstheorie wurde ja erst in den 1960er Jahren entwickelt. Der
Charme der Modernisierungstheorie bestand also zunächst einmal darin, daß mit ihr zum ersten Mal
eine universale und gleichzeitig leicht handhabbare Wandlungstheorie vorlag, die mindestens so viel
Plausibilität wie der Marxismus für sich reklamieren konnte.
B) Attraktiv war zudem, daß man als Modernisierungstheoretiker mittels des Rückgriffs auf die
Parsonsschen Mustervariablen behaupten konnte, das Erbe der soziologischen Klassiker zu wahren.
Denn wie erinnerlich hatte Parsons ja selbst seine »pattern variables« geschaffen, um die bei den
soziologischen Gründervätern häufig zu findenden dichotomischen Begrifflichkeiten (»Gemeinschaft«
vs. »Gesellschaft«, »mechanische« vs. »organische Solidarität« etc.) genauer aufzuschlüsseln und in
ihrer widersprüchlichen Vielfalt transparent zu machen. Wenn Modernisierungstheoretiker auf
ebendiese Parsonsschen Mustervariablen zurückgriffen, dann konnten sie scheinbar legitimerweise
beanspruchen, auch die zweifellos noch immer gültigen Erkenntnisse der Klassiker in die »neue«
Theorie hinübergerettet zu haben. Übersehen wurde dabei freilich, daß Parsons seine
Mustervariablen letztlich formuliert hatte, um jene Dichotomien aufzuheben, weil er glaubte, daß die
Klassiker zwar durchaus etwas Richtiges erkannt hätten, daß aber die soziale Wirklichkeit viel zu
komplex sei, um sie mit so einfachen Gegensatzpaaren zu fassen. Wenn nun die
Modernisierungstheoretiker davon sprachen, daß sich die Geschichte als ein Prozeß von
»traditionalen« hin zu »modernen« Gesellschaften beschreiben lasse, wobei askriptive,
partikularistische und funktional diffuse Einstellungen und Rollenstrukturen durch leistungsbezogene,
universalistische und funktional spezifische ersetzt würden, so gerieten sie wieder in die gleichen
Dichotomien, die Parsons eigentlich vermeiden wollte. 433Aber diese Differenzen zu Parsons
wurden in der Regel verkleistert: zu verführerisch, ja elegant schien die Modernisierungstheorie zu
sein, als daß man derart spitzfindige Einwände hätte gelten lassen. Aus ihrer eigenen Perspektive
standen die meisten Modernisierungstheoretiker durchaus fest in der Parsonsschen Tradition – eine
Meinung, die auch deshalb lange Zeit so unangefochten blieb, weil Parsons nicht allzuviel tat, um sich
gegenüber dieser Modernisierungstheorie explizit abzugrenzen.
C) Für die Sozialwissenschaften insgesamt, nicht nur für die Soziologie im engeren Sinne, war die
Modernisierungstheorie deshalb so interessant, weil sie als ein interdisziplinärer Ansatz konzipiert
war. Und in der Tat schien jene spezifische Fassung der »pattern variables« für Historiker,
Politikwissenschaftler, Ökonomen, Psychologen und Soziologen gleichermaßen nützlich und
inspirierend zu sein. Die Modernisierungstheorie enthielt also das Versprechen einer wirklich
fächerübergreifenden sozialwissenschaftlichen Forschungspraxis.
D) Versprochen wurde nicht zuletzt auch Praxisnähe, weil man glaubte, mit den Erkenntnissen der
Theorie auch die Entwicklungsprozesse außerhalb des Westens anleiten zu können.
In der Tat war die Modernisierungstheorie in einem ganz bestimmten »praktischen« Kontext
entstanden, nämlich als eine Art Reaktion auf die Versuche der US-amerikanischen Regierung unter
Präsident Truman, den Einfluß der Sowjetunion in den Ländern der später so bezeichneten »dritten
Welt« zurückzudrängen. Die amerikanische Administration hatte in diesem Zusammenhang 1949 ein
großes Programm zur Stabilisierung dieser Länder vorgelegt, die ökonomisch unterstützt werden
sollten, damit sie nicht – soweit nicht schon geschehen – unter kommunistischen Einfluß gerieten.
Eine Art Marshall-Plan auf globaler Ebene wurde ins Leben gerufen, d. h., den armen
außereuropäischen Nationen sollte mit amerikanischem Geld und Know-how geholfen werden,
wirtschaftlich auf die Beine zu kommen. Dabei stellte sich schnell heraus, daß die Arbeit von
Entwicklungshelfern und -experten in Lateinamerika, Asien und Afrika so einfach, wie man sich das
zunächst vorgestellt hatte, nicht war. Vielfach scheiterten gutgemeinte Hilfeversuche an sprachlichen,
mehr noch aber an kulturellen oder sozialen Barrieren, die man irgendwie überwinden mußte, ohne
genau zu wissen, wie. An dieser Stelle wurden dann sozialwissenschaftliche Experten
ein434geschaltet; es kam zu Debatten über die Ursachen von Entwicklungsblockaden, und sehr
schnell kristallisierten sich bestimmte theoretische Argumentationsmuster, die auf das Parsonssche
Theoriegebäude zurückgriffen, als besonders durchschlagskräftig heraus. Eine dynamische
Entwicklungsvorstellung, basierend auf den »pattern variables«, wurde zu dem theoretischen Modell,
von dem man glaubte, daß es am besten geeignet sei, soziale Wandlungsprozesse zu beschreiben, ja zu
erklären. Mit dieser theoretischen Interpretation begann auch sofort eine umfangreiche
interdisziplinäre Forschung, die den Blick über den westlichen Tellerrand hob und nun in Gegenden
schaute, die systematisch zu erforschen noch wenige Jahre zuvor fast undenkbar war. Max Weber und
Emile Durkheim hatten sich zwar durchaus mit außereuropäischen Themen beschäftigt, etwa mit der
Wirtschaftsethik der Weltreligionen oder den Weltbildern der australischen und nordamerikanischen
Urbevölkerungen, dabei aber völlig auf die empirische Forschung von Nicht-Soziologen
zurückgegriffen. Mit der Modernisierungstheorie änderte sich dies nun. Die Sozialwissenschaften, die
Soziologie insbesondere, öffneten sich kulturell wie geographisch, was zudem Praxisrelevanz
versprach: Denn die mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung betriebene Analyse der
Entwicklungshindernisse in den »armen« Ländern sollte gleichzeitig auch den Schlüssel liefern zu
deren Überwindung.
So entstanden gegen Ende der 1950er Jahre und zu Beginn der 1960er eine Reihe von gewichtigen
Arbeiten, die zu den Hauptwerken der Modernisierungstheorie und der Nachkriegssoziologie
schlechthin zu zählen sind: Robert Bellahs Tokugawa Religion aus dem Jahre 1957, Daniel Lerners
The Passing of Traditional Society. Modernizing the Middle East von 1958, Seymour Martin
Lipsets (1922-2006) Political Man von 1959, Neil J. Smelsers 1959 publiziertes Social Change in
the Industrial Revolution, Walt Rostows (1916-2003) The Stages of Economic Growth von 1960,
David McClellands (1917-1998) The Achieving Society aus dem Jahre 1961 oder Gabriel Almonds
(1911-2003) und Sidney Verbas (geb. 1932) The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy
in Five Nations von 1963 – Werke aus der Soziologie und der Politikwissenschaft, aus der Ökonomie
und der Psychologie, die ihre Argumente – natürlich mit Abweichungen im Detail – ungefähr so
formulierten, wie dies mit den obengenannten fünf Punkten charakterisiert worden ist.
435Damit Sie sich diese bisher ziemlich abstrakt gebliebenen Ausführungen etwas besser
vorstellen können, wollen wir Ihnen kurz exemplarisch die Arbeit Daniel Lerners (1917-1980)
vorstellen, der zum einen den Begriff der »Modernisierung« schon im Titel seines Buches verwendete
und damit viel zur Verbreitung dieses Begriffes beitrug und der zum anderen ein relativ einfaches,
manche würden auch sagen: allzu einfaches Theoriemodell vertrat.
Nach Lerner ist das Leben in modernen Gesellschaften durchaus voraussetzungsreich. Um
überhaupt aktiv am Geschehen einer modernen Gesellschaft teilhaben zu können, bedarf es einer
hohen psychischen Mobilität der jeweiligen Bevölkerung (The Passing of Traditional Society,
S. 202), einer spezifischen Gefühlslage, die Lerner als »Empathie« bezeichnet. Darunter versteht er
die Fähigkeit, nach abstrakten Kriterien zu denken und zu handeln, um den für traditionale
Gesellschaften so typischen engen persönlichen und familiären Horizont überschreiten zu können.
Moderne Gesellschaften funktionieren nach bestimmten Prinzipien, und weil dies so ist, muß die für
traditionale Gesellschaften anscheinend so typische Schicksalsergebenheit der Menschen ebenso
durchbrochen werden, wie die engen und hemmenden Bindungen an zumeist patriarchalische
Familien- und Verwandtschaftsstrukturen zu überwinden sind. Nur durch »Empathie« – so Lerner –
könne man sich den Zwängen der traditionalen Gesellschaft entziehen und sich als aktives Mitglied
einer modernen Gesellschaft begreifen:
Traditional society is nonparticipant – it deploys people by kinship into communities isolated from each other and from a center; without
an urban-rural division of labor, it develops few needs requiring economic interdependence; lacking the bonds of interdependence,
people’s horizons are limited by locale and their decisions involve only other known people in known situations. Hence, there is no need
for a transpersonal common doctrine formulated in terms of shared secondary symbols – a national »ideology« which enables persons
unknown to each other to engage in political controversy or achieve »consensus« by comparing their opinions. (Lerner, a.a.O., S. 50)

Lerner arbeitete also im Detail die psychischen oder psychologischen Eigenschaften des modernen
oder für die Moderne aufgeschlossenen Menschen heraus. Was er in den 1950er Jahren nun in den
Regionen des Nahen Ostens vorzufinden glaubte, waren insgesamt zwar relativ statische traditionale
Gesellschaften, die jedoch 436gleichzeitig Ansatzpunkte für einen modernen Dynamismus aufwiesen.
Derartige dynamische Kerne sind laut Lerner überwiegend in großstädtischen Ballungsräumen oder in
deren Nähe zu finden. Hier seien die Voraussetzungen für die Entstehung jener (modernen)
psychischen Mobilität tatsächlich gegeben. Denn – und dies war nun Lerners ziemlich schlichte These
– nur dort, wo Massenmedien (Zeitungen, Radio usw.) in ausreichendem Maße genutzt werden, also
im Einflußbereich der Großstädte mit ihrer medialen Infrastruktur, würden auch empathieförderndes
Wissen und entsprechende Rollenmodelle gefördert. Die Schrift- und Lesefähigkeit sei ein, wenn
nicht das entscheidende Mittel, um die psychische Mobilität der Bevölkerung zu erhöhen. Wie Lerner
behauptete, würden im Verlauf des Entwicklungsprozesses, insbesondere in Großstädten, die
mündlichen und direkten Kommunikationsformen zunehmend durch moderne Massenmedien ergänzt
und z. T. ersetzt, so daß das Vordringen dieser Medien sowohl ein Index wie auch ein kausaler Faktor
für die psychische Veränderung der Gesellschaftsmitglieder und den Wandel einer ganzen
Gesellschaft sei (a.a.O., S. 196).
Auch wenn die Lernersche Modernisierungstheorie relativ einfach »gestrickt« war und andere
Autoren hier möglicherweise differenzierter argumentieren: Die Idee einer historischen Entwicklung
von »traditional« zu »modern« verfaßten Gesellschaften war für die Arbeiten aller
Modernisierungstheoretiker konstitutiv, zumal diese Denkfigur auch die Fortschrittshoffnung
implizierte, im engen Zusammenspiel zwischen Theorie und Praxis die Entwicklung nicht-
europäischer Länder anleiten zu können.
Allerdings hatte das modernisierungstheoretische Paradigma, so wie es oben mit den genannten
fünf Merkmalen charakterisiert wurde, kein allzu langes Leben. Letztlich betrug seine Blütezeit nur
etwa fünfzehn Jahre. Bereits Ende der 1960er Jahre wurde nämlich die Kritik an ihm so stark, daß
andere makrosoziologische Paradigmen an Bedeutung gewannen (siehe weiter unten), welche die
Vorrangstellung der Modernisierungstheorie im Feld der Beschreibung und Erklärung großflächiger
gesellschaftlicher Wandlungsprozesse beendeten. Warum nun die Modernisierungstheorie so schnell
in die Kritik geriet und deshalb auch an den Rand gedrängt wurde, darüber gibt es unterschiedliche
Interpretationen. Die vielleicht gängigste stammt von dem in dieser Vorlesung noch ausführlicher zu
behandelnden Parsons-Schüler Jeffrey Alexander (»Modern, 437Anti, Post, and Neo: How Social
Theories Have Tried to Understand the ›New World‹ of ›Our Time‹«). Er behauptete, daß die
Modernisierungstheorie quasi dem Zeitgeist geopfert worden sei. Sie sei an sich intakt und
wandlungsfähig gewesen, doch hätte sich mit der Studentenrevolte der späten 1960er Jahre eine
Politisierung der Sozialwissenschaften eingestellt, durch welche die Modernisierungstheorie jegliche
Attraktivität für die jüngere Generation verlor. In der Tat verkörperte die Modernisierungstheorie ein
klares Bild der »Moderne«; sie stellte das Institutionen- und Wertesystem, wie es in unterschiedlichen
Ausprägungen in der europäisch-nordamerikanischen Welt ausgebildet worden war, als
erstrebenswert dar. Dementsprechend wurde unter »Modernisierung« der sogenannten dritten Welt ein
Prozeß verstanden, der in irgendeiner Weise nahe an diesen »modernen« Institutionen- und
Wertekomplex heranführen würde und sollte. Genau diese Vorstellung geriet aber nun – so Alexander
– ins Visier der linken Studentenbewegung und schien in dem sich an den sozialwissenschaftlichen
Fakultäten der (nordamerikanischen) Universitäten ausbreitenden politischen Klima nicht mehr
opportun zu sein. Denn die Demonstrationen und Proteste gegen den Vietnamkrieg und den US-
amerikanischen Imperialismus, gegen die Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung im eigenen Land
usw. schienen doch zu zeigen, daß dieses US-amerikanische oder westliche System keinesfalls als
normatives Vorbild für die dritte Welt herhalten könne. Damit war aber die normative Stoßrichtung
der Modernisierungstheorie diskreditiert: Sie wurde von den überwiegend linken Intellektuellen in
der brodelnden Atmosphäre der späten 1960er und 1970er Jahre als ein ethnozentrisches Gebilde
interpretiert und deswegen mitleidlos als eine Theorie kritisiert, die bemüht sei, das höchst
fragwürdige und problematische System des Westens nun auch den anderen Nationen aufzudrängen.
Die Modernisierungstheorie verfiel dem Imperialismusverdacht, und gerade deshalb habe sich, so
Alexander, ein Großteil der jungen und jüngeren Sozialwissenschaftler dem makrosoziologischen
Konkurrenten der Modernisierungstheorie, nämlich dem Marxismus, zugewandt, der als Kritik der
Grundlagen der (eigenen) westlichen Gesellschaften attraktiv wurde. Die Modernisierungstheorie –
so Alexanders Fazit – wurde dem linken Zeitgeist geopfert. Tatsächlich seien aber die Schwächen
dieser Theorie nicht so groß gewesen, daß sie eine solch radikale Abkehr erzwungen hätten. Die
Modernisie438rungstheorie könnte deswegen laut Alexander heute durchaus mit Gewinn
wiederbelebt werden!
Freilich sind bezüglich des »Todes« der Modernisierungstheorie am Ausgang der 1960er Jahre
auch andere Deutungen möglich – verbunden mit einem anderen Urteil hinsichtlich der
Erneuerungsfähigkeit dieser Theorie (vgl. Knöbl, Spielräume der Modernisierung). Nach einer
alternativen Deutung wurde die Modernisierungstheorie nicht von außen, von jenem linken Zeitgeist,
»ermordet«, sondern – so die zur Alexanderschen Darstellung konkurrierende These – die Theorie
löste sich von innen auf! Die Modernisierungstheorie war auf zu wenig stabile Fundamente gebaut; es
gab in ihr Schwachstellen, die sich nicht beheben ließen, Schwachstellen auch deshalb, weil die
Theorie zwar einige begriffliche Instrumente der Parsonsschen Theorie übernahm, insgesamt aber die
Komplexität des Parsonsschen Gedankengebäudes zerstörte und ein bei Parsons so nicht zu findendes,
allzu vereinfachtes Bild von gesellschaftlichen Wandlungsprozessen entwickelte. Mehrere Punkte
erwiesen sich nämlich in dieser Modernisierungstheorie von Anfang an als problematisch. Die
Gegenüberstellung von »traditionalen« und »modernen« Gesellschaften vermochte zwar auf den
ersten Blick zu überzeugen, verdeckte freilich das Problem, daß die Modernisierungstheorie ja eine
Theorie des sozialen Wandels sein wollte und keine, die nur unterschiedliche gesellschaftliche
Zustände typologisierend in ihrer Statik beschreibt. Wer oder was treibt also den sozialen Wandel
von der Tradition zur Moderne voran? Wie sind hier die genauen Kausalzusammenhänge? Es zeigte
sich, daß die Modernisierungstheorie auf diese Fragen keine wirklichen Antworten besaß. Denn der
Verweis auf technologische Entwicklungen – etwa die Lernersche Vorstellung, die Massenmedien
würden die traditionalen Strukturen der alten Gesellschaften aufbrechen und zur Verbreitung neuer,
nämlich moderner Wertmuster führen, die dann auch eine ökonomische Dynamik einleiten würden –
erzwang ja sofort die Frage, wie und durch wen denn diese technologischen Neuerungen verbreitet
werden. Diese sind ja selbst von ökonomischen Voraussetzungen abhängig (ohne wirtschaftliche
Wachstumsprozesse wird auch der Verbreitungs- und Nutzungsgrad von Massenmedien immer nur
sehr beschränkt bleiben), so daß sich sehr schnell die Problematik eines tautologischen
Erklärungsmodells ergab. Der wirtschaftliche Wandel wurde letztlich bei Lerner durch den Einfluß
von Medien er439klärt, die selbst aber ihre Wirkung nur durch wirtschaftliche Wandlungsprozesse
entfalten können. Die Erklärung war somit zirkulär, d. h., man erklärte das Explanans (das
Erklärende) mit dem Explanandum (dem zu Erklärenden) und umgekehrt.
Innerhalb der modernisierungstheoretischen Diskussion führte dies zu der Einsicht, daß Verweise
auf technologische Entwicklungstrends nicht genügen können, wenn man für die Theorie echte
Erklärungsansprüche erhebt. Man bemühte sich deshalb, klarere Kausalaussagen zu machen, etwa
derart, daß man versuchte, die Träger der Modernisierung zu benennen, gesellschaftliche Gruppen
also, die tatsächlich die Modernisierung einer Gesellschaft vorantreiben. Auch hier ergaben sich
freilich Schwierigkeiten, denn häufig ließen sich eindeutige Aussagen diesbezüglich nicht machen:
Politische Eliten etwa waren keineswegs immer gewillt, den Pfad in die westliche Moderne
einzuschlagen, sondern lehnten sich allzu häufig an die in Moskau oder Peking verwirklichten und
propagierten sozialistischen Gesellschaftsmodelle an. Die Mittelschichten, hier vor allem Techniker
und andere wissenschaftliche Experten, schienen zwar diejenige Gruppierung zu sein, der am ehesten
ein Interesse für ein westliches Gesellschaftsmodell unterstellt werden konnte, doch waren sie in den
Ländern der dritten Welt zahlenmäßig meist so schwach, daß sie nicht ernsthaft als wirkungsmächtige
Träger der Modernisierung in Frage kamen. Weil man – vermutlich zu Recht – auch den ländlichen
Bevölkerungsmassen nicht wirklich einen Impuls zum Aufbau einer am Westen orientierten
Gesellschaftsform zutrauen mochte, war es innerhalb der Modernisierungstheorie höchst unklar, wer
bzw. welche konkreten Gruppen denn eigentlich diese als unausweichlich erachtete Modernisierung
vorantreiben könnten. Die Kausalfrage »Wer will die Modernisierung, und wer kann sie
durchsetzen?« blieb also ungeklärt, was die Durchschlagskraft und die Plausibilität der Theorie nicht
gerade erhöhte.
Schließlich wurde auch bald die zentrale Annahme der Modernisierungstheorie fraglich, nämlich
die klare Scheidung zwischen traditionalen und modernen Strukturen. Wenn man nämlich genauer
hinblickte, dann war es keineswegs so, daß etwa in westlichen Gesellschaften »traditionale«
Merkmale vollkommen verschwunden waren. Von der Vitalität religiöser Traditionen in den USA als
der scheinbar modernsten westlichen Gesellschaft und dem dortigen Verfassungspatriotismus, also
der Berufung auf eine zweihundert440jährige politische und rechtliche Tradition, bis hin zum
Fortleben monarchischer Strukturen in europäischen Ländern wie Großbritannien konnte man auf
zahlreiche Phänomene verweisen, die sich nicht einfach und unzweideutig als »modern« bezeichnen
ließen. Wenn es aber tatsächlich schwierig ist, das »Moderne« vom »Traditionalen« klar zu
scheiden, dann wird automatisch auch die modernisierungstheoretische Wandlungsthese – »vom
Traditionalen zum Modernen« – problematisch. Letztlich sollte es sich rächen, daß man innerhalb
dieser Modernisierungstheorie die Parsonsschen »pattern variables« historisch dynamisiert hatte.
Parsons hatte ja seine Mustervariablen entwickelt, um die oftmals verwirrende Komplexität von
Gesellschaften einzufangen, in denen z. B. funktional spezifische Rollenmuster durchaus neben
partikularistischen Werten weiterbestehen können. Diese Einsicht verdrängten die meisten
Modernisierungstheoretiker, indem sie die eine Hälfte der Parsonsschen Mustervariablen (vgl.
S. 108) der Tradition zuschlugen (partikularistisch, funktional diffus, askriptiv etc.), die andere Hälfte
(universalistisch, funktional spezifisch, leistungsbezogen etc.) der Moderne. Aus der Parsonsschen
Komplexität wurde wieder eine dichotomische Konstruktion, die dann auch noch auf den historischen
Prozeß projiziert wurde, so daß jene allzu simple Wandlungsthese »von der Tradition zur Moderne«
herauskam.
All diese Schwierigkeiten der Modernisierungstheorie führten schließlich dazu, daß die interne
Kritik an diesem Paradigma Ende der 1960er Jahre immer stärker wurde und sich die Theorie von
innen her auflöste und zersetzte. Sie wurde also – so die zu Alexanders Interpretation konkurrierende
Deutung – nicht einfach durch den »Zeitgeist« beerdigt; vielmehr begruben die Theoretiker ihre
eigene Theorie, weil sie sich in dieser Einfachheit als nicht haltbar erwies.
Diese letzte Deutung wird nun dadurch gestützt, daß gerade diejenigen Autoren im Umkreis der
Modernisierungstheorie eine besondere Wirkung auf die spätere soziologische Theorieentwicklung
ausüben konnten, die nicht zu einer bloßen Vereinfachung des Parsonsschen Ansatzes hindrängten,
sondern im Gegenteil die Komplexität der Parsonsschen Argumentation aufnahmen. Tatsächlich hatte
Parsons einige bedeutende Schüler, die genau dies versuchten: Obwohl sie nicht auf die Entwicklung
einer derart abstrakten Universaltheorie, wie sie von Parsons vorgelegt worden war, abzielten,
441sondern theoretische und empirische Interessen zugleich verfolgten, entzogen sie sich doch nicht
den Parsonsschen Einsichten hinsichtlich der komplexen Verschränktheit je unterschiedlicher
(»traditionaler« und »moderner«) Strukturen in fast allen Gesellschaften. Dabei gelangten dann einige
von ihnen auf neue theoretische Pfade, die sie weit vom ursprünglichen Parsonianismus und erst recht
von der Modernisierungstheorie wegführen sollten.

An erster Stelle ist hier Edward A. Shils zu nennen, der zwar keine monumentalen theoretischen
Werke veröffentlicht hat, dafür aber wichtige kleinere Studien und Aufsätze, die in empirischer wie
theoretischer Hinsicht Weichen für die internationale Theoriedebatte stellten. Shils, ein Gelehrter von
enormer Belesenheit, der an der University of Chicago, aber auch an englischen Eliteuniversitäten
wirkte und dort viele, weit über die Disziplin der Soziologie hinausreichende intellektuelle Zirkel
beeinflußte, ist schließlich sogar literarisch verewigt worden, und zwar vom
Literaturnobelpreisträger Saul Bellow, der ihn in seinem Roman Ravelstein unter dem Namen
»Rakhmiel Kogon« auftreten läßt (vgl. Bellow, Ravelstein, S. 153 ff.). Aber natürlich interessiert uns
hier nicht die Person von Shils in erster Linie, sondern das soziologische Werk. Wie Sie sich
vielleicht erinnern, war Shils Anfang der 1950er Jahre Koautor von Parsons gewesen, und zwar bei
so wichtigen Arbeiten wie Toward a General Theory of Action, 1951 und Working Papers in the
Theory of Action, 1953. Doch gleichzeitig war unübersehbar, daß Shils eine wesentlich stärkere
empirische Orientierung als Parsons hatte, was ihn schließlich zu neuen theoretischen Einsichten
führen sollte.
Shils ist sehr früh durch eine militärsoziologische Studie (vgl. seinen zusammen mit Morris
Janowitz, 1919-1988, verfaßten Aufsatz »Cohesion and Disintegration in the Wehrmacht in World
War II« aus dem Jahre 1948) berühmt geworden, die zudem die gerade in den 1950er Jahren
aufblühende Kleingruppenforschung inspirieren sollte. Für unseren Zusammenhang wichtiger ist aber,
daß er sich schon in diesen Jahren stark mit wissenssoziologischen Fragen, unter anderem auch mit
einer Soziologie der Intellektuellen, befaßt hatte, was ihn dann auch befähigte, einige Defizite der
Modernisierungstheorie zu beheben. Denn Shils war einer jener Autoren, die erkannten, daß die
Modernisierungstheorie einer konsequenten handlungstheoretischen Fundierung bedarf, wenn sie
ernsthaft die Ursa442chen der Modernisierung fassen wollte. Sein Vorschlag war, sich stärker mit den
Eliten der Entwicklungsländer und vor allem mit den dortigen Intellektuellen zu beschäftigen (vgl.
Shils, »The Intellectuals in the Political Development of the New States«), weil hier ein großes,
wenn nicht entscheidendes Innovationspotential zu finden sei. Auch wenn dieser Ansatzpunkt nicht zu
wirklich eindeutigen Ergebnissen führte, weil die Beschäftigung mit Intellektuellen sehr schnell
zeigte, daß ihr Verhalten so einfach, wie man es aus modernisierungstheoretischer Perspektive
erwarten mochte, nicht zu prognostizieren war, so trug Shils erheblich zur Entwicklung und
schließlich auch Modifizierung der ursprünglichen Modernisierungstheorie bei (vgl. zum folgenden
Knöbl, Spielräume der Modernisierung, S. 228 ff.).
Shils blieb aber hier nicht stehen, sondern versuchte sich durch eigenständige theoretische
Anstrengungen aus den grundlegenden Schwierigkeiten zu befreien, in welche die
Modernisierungstheoretiker, aber auch Parsons selbst hineingeraten war. Implizite Leitthese seiner
Arbeit war dabei, daß das sowohl in der Modernisierungstheorie wie bei Parsons zu findende
Verständnis von Kultur unzureichend und genau darin die Wurzel ihrer Schwierigkeiten zu finden
sei. Stark beeinflußt von Max Weber und auch von einigen Autoren, die der früheren Chicago School
of Sociology (vgl. die Sechste Vorlesung) zuzurechnen waren und die er zum Teil noch persönlich
kennengelernt hatte, bestand nun Shils’ erster Schritt darin, nach dem Zusammenhang von Kultur und
Macht zu fragen. In diesem Zusammenhang begann er, sich systematisch mit dem Weberschen
Charisma-Begriff auseinanderzusetzen – und zwar mit Durkheimschen Denkmitteln!
Shils vertrat in Anlehnung an Durkheim (aber auch in Anlehnung an Parsons, siehe die Vierte
Vorlesung) die These, daß in jeder Gesellschaft, also auch in der modernen, bestimmte Vorstellungen
über das Heilige existieren. Es kann deshalb keineswegs davon ausgegangen werden, daß in der
Moderne ein umfassender Säkularisierungsprozeß stattfinde und stattfinden werde, der zur Auflösung
alles Heiligen führen müßte, wie dies etwa Weber und natürlich auch die Modernisierungstheoretiker
glaubten und glauben:
All societies regard as sacred certain standards of judgment, certain rules of conduct and thought, and certain arrangements of action.
They vary only in the intensity and self-consciousness of their acknowledgment, the scope 443which they allow to the sacred, and the
extent of participation in them. (Shils, »Tradition and Liberty: Antinomy and Interdependence«, S. 156)

Zwar würde sich im Modernisierungsprozeß zweifellos die Bezugnahme auf das Heilige verändern,
doch wäre ein solcher Wandel eher mit dem Begriff der Sublimierung als mit dem des Verschwindens
zu bezeichnen. Zur Präzisierung und Plausibilisierung dieser These führt Shils den Durkheimschen
Begriff des Heiligen mit dem Weberschen Begriff des Charismas zusammen, indem die Zuschreibung
von heiligen Qualitäten an bestimmte Dinge oder Personen mit derjenigen von charismatischen
Qualitäten gleichgesetzt wird. Die These der Allgegenwart des Charismatischen und damit des
Heiligen in Gesellschaften wird dabei von Shils mit Hilfe anthropologischer Überlegungen
begründet: Er konstatiert ein bei allen Menschen zu beobachtendes Bedürfnis nach Ordnung (»need
for order«), das letztlich charismatische Zuschreibungen – und zwar in jeder Gesellschaft –
begründet. Wer die Macht zur Ordnungsstiftung und -wahrung hat, dem wird Charisma zugeschrieben.
Ihm oder ihr wird eine Art heiliger Respekt gezollt, was wiederum dazu führt, daß die Macht zur
Ordnungswahrung effizienter genutzt werden kann.
The generator or author of order arouses the charismatic responsiveness. Whether it be God’s law or natural law or scientific law or
positive law or the society as a whole, or even a particular corporate body or institution like an army, whatever embodies, expresses, or
symbolizes the essence of an ordered cosmos or any significant sector thereof awakens the disposition of awe and reverence, the
charismatic disposition. Men need an order within which they can locate themselves, an order providing coherence, continuity, and
justice. (Shils, »Charisma, Order, and Status«, S. 125/126)

Während Weber den Charisma-Begriff überwiegend auf Personen angewandt wissen wollte, bezieht
Shils – wie obiges Zitat zeigt – den Begriff auch auf politische Rollen, auf Institutionen, auf Symbole
und sogar bestimmte Schichten. Die Pointe eines solchen Vorgehens liegt darin, daß er Webers
Charisma-Begriff damit seines überwiegend disruptiven und nicht-alltäglichen Charakters beraubt
und statt dessen Charisma bzw. das Heilige zu normalen »Phänomenen« des Alltags macht, zu
Phänomenen, die gesellschaftsstabilisierende Funktionen erfüllen und z. T. eben gerade dadurch die
Routinen einer 444Gesellschaft erhalten. Berühmt wurde in diesem Zusammenhang seine Studie
über das britische Krönungszeremoniell anläßlich der Thronbesteigung Königin Elisabeths II. im Jahr
1952 (vgl. Shils/Young, »The Meaning of the Coronation«). Charisma wird von Shils also nicht unter
dem Aspekt der Auflösung, sondern gerade unter dem der Stabilisierung von Ordnung interpretiert.
Mit dieser Grundidee verfolgt Shils zwei Ziele: Zum einen will er überzeugender als der
Strukturfunktionalismus die Entstehung und Dauerhaftigkeit von Bindungen an kollektive Werte
erklären: Parsons und erst recht die Modernisierungstheoretiker hatten zur Beantwortung der Frage,
wie und warum Werte für die Gesellschaftsmitglieder überhaupt verbindlich werden und dann auch
dauerhaft akzeptiert werden können, relativ wenig beigetragen. Zum anderen will Shils von der
klassischen Modernisierungstheorie abrücken, die Traditionen einfach aus modernen Gesellschaften
hinausdefinierte. Shils war der Auffassung, daß sich eine solche Trennung von Tradition und Moderne
nicht vornehmen läßt, und genau deshalb führte er seine Thesen über das Heilige bzw. über das
Charisma mit dem Begriff der Tradition zusammen: Handlungen oder Phänomene – so Shils – werden
dann mit der Aura der Tradition umgeben, wenn sie von den Gesellschaftsmitgliedern mit bestimmten
charismatischen oder heiligen Qualitäten in Verbindung gebracht werden:
The unreflective reception of tradition is not an amoral, vegetative acceptance. There is an active, outgoing, positive tendency in the
reception of tradition. The availability of a traditional rule or standard of judgement guides and stimulates a spontaneous moral tendency
in man, a need to be in contact with the ultimately true and right, a sensitivity to the sacred, which reach out and seek the guidance and
discipline of tradition. (Shils, »Tradition and Liberty: Antinomy and Interdependence«, S. 155)

Nicht die bloße Wiederholung von bestimmten Handlungen begründet also die Vitalität einer
Tradition, sondern die stets vorhandene Einbettung in ein um das Heilige bzw. Charismatische
zentriertes Bedeutungsgefüge. Da solche heiligen Bedeutungen Shils zufolge auch in der Moderne
nicht verschwinden, sondern höchstens sublimiert werden, folgt daraus, daß auch Traditionen nicht
einfach vergehen. Traditionen – so Shils – sind nicht einfach der bloße Ballast der Vergangenheit. Sie
leben fort. Selbst moderne demokratische Gesellschaften sind auf sie angewiesen – denken Sie
445hier etwa an staatliche Feiertage, Rituale wie feierliche Amtseinführungen, Eide auf die
Verfassung etc.!
Wenn auch Traditionen in der Moderne nicht einfach verschwinden, so sind sie doch auf eine
aktive Aneignung und Fortsetzung angewiesen. Hier setzt nun Shils’ elitentheoretische Argumentation
ein, insofern er behauptet, daß dieses bei allen Menschen zu findende Bedürfnis nach Ordnung, das
die Zuschreibung von charismatischen Qualitäten erklärt, in der Regel von gesellschaftlichen Eliten
bedient werde. Eliten – so die Shilssche These – seien die konkreten Träger der Traditionsaneignung
und -fortsetzung. Sie garantierten durch ihre Macht- und Autoritätspositionen die politische, soziale
und kulturelle Ordnung, weswegen ihnen Charisma zugeschrieben werde und weshalb es gerade
ihnen gelinge, Traditionen lebendig zu erhalten: »Great power announces itself by its power over
order; it discovers order, creates order, maintains it, or destroys it. Power is indeed the central,
order-related event.« (Shils, »Charisma, Order, and Status«, S. 128) In diesem Zusammenhang führt
Shils auch das Begriffspaar von »center« und »periphery« ein, das er kultursoziologisch und nicht –
wie andere Autoren – wirtschaftsgeographisch oder politökonomisch faßt. Die damit verbundene
These lautet, daß für jede Gesellschaft ein maßgebliches Wertesystem gültig sei und daß deshalb auch
für jede Gesellschaft ein zentrales, von Eliten getragenes Institutionensystem benannt werden könne:
Dieses »Zentrum« umfaßt die Ordnung der Symbole, Werte und Glaubensvorstellungen, die in einer
Gesellschaft maßgeblich sind (Shils, »Center and Periphery«, S. 93), und strahlt gleichzeitig aus auf
die »Peripherie« als die nicht zum Zentrum gehörende Region einer Gesellschaft. Die charismatische
Qualität von Eliten ist so stark, die von ihnen geschaffenen kulturellen Leistungen sind so
beeindruckend, daß damit auch »abgelegene« Gebiete in Bann gezogen werden.
Mit dieser theoretischen Wendung ist nun Shils innerhalb des Parsonianismus einen entscheidenden
Schritt vorwärtsgekommen. Selbst wenn er es nicht schaffte, aus seinen Überlegungen ein konsistentes
Forschungsprogramm zu entwickeln, so machte er doch den Weg für ein solches frei. Denn weil Shils
mit jener neuartigen Begrifflichkeit von Charisma und Tradition, aber auch von »Center« und
»Periphery« arbeitete, mußte er »Kultur« nicht mehr wie der frühe Parsons als einen bloßen
(handlungsfreien) Sinnzusammen446hang begreifen, der irgendwie ort- und gestaltlos über den
Akteuren »schwebt« (s. unsere Dritte Vorlesung), oder wie der späte Parsons als ein ebenso
akteurloses »kybernetisches System« (s. unsere Vierte Vorlesung). Vielmehr war nun innerhalb des
Parsonianismus die Chance gegeben, Kultur handlungstheoretisch zu analysieren, hatte doch Shils
auf konkrete Akteure und die zentrale Bedeutung der von ihnen geschaffenen kulturellen Leistungen
verwiesen (zu Shils vgl. auch Stephen Turner, »The Significance of Shils«). Es sollte dann nicht
zufällig ein Schüler von Shils sein, dem es gelang, dessen Gedanken weiterzuführen und sukzessive
ein gigantisches Forschungsprogramm zu entwickeln, das weit über den Parsonianismus und erst recht
über die Modernisierungstheorie hinausführte und auch aktuell enormen Einfluß hat.

Dieser Schüler war Shmuel N. Eisenstadt (1923-2010). Geboren in Polen, kam Eisenstadt 1935 nach
Palästina, ins heutige Israel. In Jerusalem wurde er Assistent des berühmten Soziologen und
Religionsphilosophen Martin Buber (1878-1965), der – aus Deutschland emigriert – seit 1938 an der
Hebräischen Universität in Jerusalem einen Lehrstuhl für Sozialphilosophie und allgemeine
Soziologie innehatte. Eisenstadt suchte schon in ganz jungen Jahren den Kontakt zu den Großen der
damaligen Soziologie, um eine internationale Anbindung der relativ isolierten israelischen Soziologie
zu erreichen. So begegnete er an der London School of Economics Edward Shils und in Harvard
Talcott Parsons, die ihn nachdrücklich »formen« und in die höchst lebhaften Debatten um die
Entwicklung des Strukturfunktionalismus und der Modernisierungstheorie einbeziehen sollten.
Eisenstadt ging aber letztlich seinen eigenen Weg. Zwar war er über seine Lehrer Shils und Parsons
zweifellos tief durch den Funktionalismus geprägt. Doch gleichzeitig gelang es ihm in einem
langwierigen Prozeß, der Jahrzehnte andauern sollte und selbst heute noch nicht ganz abgeschlossen
zu sein scheint, sich von den Prämissen des ursprünglichen Funktionalismus zu lösen und diesen
kontinuierlich zu revidieren, so daß er zu einer Theorieanlage vorstieß, die tatsächlich kaum mehr
als funktionalistisch zu bezeichnen ist. Zugespitzt könnte man sagen, daß Eisenstadt letztendlich die
Einflußsphäre des Funktionalismus verlassen hat, weil ihm die Schwächen dieses theoretischen
Modells zunehmend deutlich geworden sind. Dabei war gewiß die lebenslange Wirkung des frühen
Kontakts 447zur Philosophie Martin Bubers und ihrer Betonung der Kreativität menschlichen
Handelns wichtig, wie Eisenstadt selbst in einem autobiographischen Rückblick versichert (vgl. die
Einleitung zu Eisenstadt, Power, Trust, and Meaning).
Eisenstadt ist aber kein reiner Theoretiker. Die von ihm vorangetriebene kontinuierliche und
konsequente Selbstrevision des Funktionalismus erfolgte stets im Zusammenhang mit empirischen
Analysen, wobei er sich – und dies ist neben all seinen theoretischen Errungenschaften sicherlich der
eindrucksvollste Aspekt seines Werks – das Max Webersche Forschungsprogramm einer
vergleichenden Untersuchung der Weltreligionen und ihres Einflusses auf soziale Wandlungsprozesse
zu eigen machte. Wir werden zu diesen empirischen Untersuchungen später noch kommen, möchten
Ihnen aber zunächst die theoretischen Neuerungen vorstellen, die Eisenstadt in kritischer Absicht
gegenüber Parsons und vor allem gegenüber der herkömmlichen Modernisierungstheorie vornahm,
wobei Ihnen einige seiner Kritikpunkte aus unseren vorangegangenen Vorlesungen schon bekannt sein
dürften.
1. Eisenstadt akzeptierte die Shilssche handlungstheoretische Öffnung des Funktionalismus.
Parsons’ Weg, den Funktionalismus hin zu einer Systemtheorie zu radikalisieren, in der Akteure kaum
mehr vorkommen bzw. als Analyseeinheiten nicht mehr interessant sind, weil sie nur noch
Systemerfordernisse zu vollziehen haben, schien ihm ebenso wie Shils der falsche zu sein. Die
Theorie – so Eisenstadt – müsse Akteure notwendig in die Analyse mit einbeziehen, und für die
Untersuchung makrosoziologischer Zusammenhänge seien deshalb kollektive Akteure von
besonderem Interesse. In Eisenstadts Arbeiten spielten dann immer auch städtische Honoratioren,
religiöse Führer mit ihren Anhängern, Bürokratien, Armeen usw. eine große Rolle, und wie bei Shils
geht es bei Eisenstadt darum, die entscheidenden Akteure zu identifizieren, welche sozialen Wandel
oder spezieller: Modernisierungsprozesse vorantreiben. Wie schon Shils richtet Eisenstadt seine
besondere Aufmerksamkeit auf Eliten.
2. Die unmittelbare Konsequenz dieser starken Einbeziehung von Akteuren ist, daß bei Eisenstadt
nicht mehr wie bei Parsons von Austauschprozessen zwischen Systemen oder Subsystemen die Rede
ist. Vielmehr werden die Austauschprozesse als Handlungen und insbesondere als Kämpfe zwischen
Machtträgern um (knappe) Ressour448cen interpretiert. Durch dieses konflikttheoretische Argument
ist ein zentrales Element des funktionalistischen Gedankengebäudes – nämlich die
Gleichgewichtsunterstellung – verabschiedet, was Eisenstadt noch durch weitere Überlegungen
nachdrücklich unterstreicht.
3. Wenn nämlich der Analyseschwerpunkt schon auf Akteuren liegt, dann ist nicht einzusehen,
warum nur »systeminterne« Akteure berücksichtigt werden sollen. Tatsächlich öffnet sich Eisenstadt
der Einsicht, daß soziale Prozesse nur dann angemessen untersucht werden können, wenn man das
Wirken sogenannter exogener Einflüsse und Konstellationen in Rechnung stellt. Gesellschaften sind ja
keine wirklich isolierten Einheiten, die völlig autonom und autark wären, sondern sie sind immer
schon in Kontakt mit anderen Gesellschaften, kommunizieren, treiben Handel mit diesen, bekriegen
sich etc. Wenn dem aber so ist, dann wird es schwierig, wie der Funktionalismus mit einem
Gesellschaftsmodell zu arbeiten, das wie selbstverständlich von »der« Gesellschaft als dem obersten
und letzten Bezugssystem der Analyse spricht. Dann wird plötzlich auch fraglich, ob man angesichts
der stetig wachsenden »internationalen« Einbindung von »Gesellschaften« sinnvollerweise von einem
gesellschaftlichen Gleichgewicht sprechen kann, das sich überwiegend durch die internen
Systembedingungen und -faktoren darstellen läßt. Eisenstadt versucht deshalb energisch, vor allem
die kulturellen Verflechtungen zwischen Gesellschaften herauszuarbeiten, was wiederum ein
wesentlich dynamischeres Verständnis von »Gesellschaft« mit sich bringt, als dies im herkömmlichen
Funktionalismus üblich war.
4. Diese Einbeziehung höchst unterschiedlicher »interner« wie »externer« Einflüsse und Akteure
erzwang gleichzeitig einen wachen Blick auf die je unterschiedlichen Folgen bzw. Ergebnisse von
Institutionalisierungs- und Integrationsprozessen. Während im Parsonsschen Funktionalismus nie
ernsthaft darüber diskutiert wurde, wie bestimmte Werte institutionalisiert werden, und auch die
Integration von Gesellschaften und deren Stabilität eher gesetzt als untersucht wurden, war dies für
Eisenstadt schlicht ungenügend. Gerade weil er bei der Analyse sozialer Prozesse ein solches
Gewicht auf die Existenz von (kollektiven) Akteuren legte, wurde ihm sehr schnell bewußt, daß die
Institutionalisierung von Werten mitnichten ein einfacher und problemloser Vorgang ist. Werte sind
der Ausdeutung 449fähig – und Akteure kämpfen für ihre Deutungen, weshalb es auch stets einen
Kampf um die richtige oder wahre Institutionalisierung von Werten gibt. Dementsprechend sind auch
Gesellschaften nicht ein für allemal über ein bestimmtes Wertesystem integriert, sondern es besteht
immer die Möglichkeit, daß gefundene Integrationsformen in Frage gestellt werden, weil
oppositionelle Gruppen andere Deutungen von Werten vorantreiben und damit auch auf einen anderen
Institutionalisierungsmodus dieser Werte pochen.
Damit wird das soziologische Theorem der Differenzierung – zumindest in seiner herkömmlichen
Verwendung – massiv in Frage gestellt. Der Differenzierungsbegriff war ja im
Strukturfunktionalismus (wieder-)eingeführt worden, um die Konturen gesellschaftlichen Wandels zu
beschreiben: Die Annahme dabei war, daß es einen quasi unaufhaltsamen linearen Prozeß der
Differenzierung gebe, der von einfachen Einheiten zu einer Vielzahl von immer spezialisierteren
Einheiten führe, die wiederum erfolgreich zu einer komplexen Einheit integriert würden mit dem
Ergebnis der Effizienzsteigerung des Gesamtsystems (vgl. unsere Vierte Vorlesung). Eisenstadt wehrt
sich nun massiv gegen ein solches Verständnis von Differenzierung. Eben weil Institutionalisierungs-
und Integrationsprozesse ergebnisoffen sind, ist es seiner Meinung nach alles andere als
selbstverständlich, daß die Institutionalisierung von Werten und die Integration von Gesellschaften
tatsächlich gelingen. Es mag zwar einen Prozeß der Differenzierung geben, aber weil
Differenzierungsprozesse von Akteuren vorangetrieben werden, sind die Folgen und Formen von
Differenzierung – im Gegensatz zu den Annahmen von Funktionalisten und
Modernisierungstheoretikern – nicht theoretisch ableitbar. Und schon gar nicht gibt es eine Garantie,
daß Differenzierungsprozesse erfolgreich enden! Eisenstadt stellte deshalb in direktem Kontrast zum
(Parsonsschen) Funktionalismus und zur Modernisierungstheorie eine berühmt gewordene Typologie
von Differenzierungsfolgen vor, die ein adäquateres Verständnis sozialer Prozesse erlauben soll. Er
betont, daß a) institutionelle Lösungen scheitern können, daß b) stets auch eine Regression auf ein
niedrigeres Differenzierungsniveau möglich ist (De-Differenzierung!), daß Differenzierung also nicht
unter der Prämisse des Fortschritts gedacht werden darf, daß c) eine partielle Differenzierung nicht
ausgeschlossen werden kann, daß sich also nur Teilbereiche einer Gesellschaft ausdifferenzieren,
andere hingegen nicht, was fast zwangs450läufig zu »Ungleichzeitigkeiten« in der sozialen
Entwicklung führt, und daß schließlich d) Differenzierungsprozesse natürlich auch erfolgreich sein
können, wenn Institutionen entstehen, die in der Lage sind, die ausdifferenzierten neuen Einheiten zu
integrieren (vgl. Eisenstadt, »Sozialer Wandel, Differenzierung und Evolution«, S. 79 ff.). Aber
dieser erfolgreiche Fall der Differenzierung ist eben beileibe nicht der Regelfall!
5. Gerade weil dies so ist, muß man die in der Modernisierungstheorie und in manchen
soziologischen Evolutionstheorien vorhandene Unterstellung einer unilinearen Entwicklung bzw.
eines stetigen Fortschritts aufgeben. Der historische Prozeß ist abhängig von bestimmten
Konfliktkonstellationen zwischen Akteuren, und eine erfolgreiche Differenzierung kann und darf nicht
einfach vorausgesetzt werden: Fortschritt ist alles andere als garantiert. Ebensowenig kann man
davon ausgehen, daß die Geschichte verschiedener Gesellschaften konvergiert – etwa im westlichen
Gesellschaftsmodell. Es darf Eisenstadt zufolge nicht einfach angenommen werden, daß sich überall
ähnliche Konfliktkonstellationen, noch dazu mit ähnlichen Ergebnissen, einstellen, wie dies wohl
diejenigen annehmen, die glauben, daß die Entwicklungsländer über kurz oder lang auf den
westlichen Pfad der Modernisierung einschwenken werden. Gerade weil es Konflikte zwischen
verschiedenen Gruppen und auch exogene Faktoren gibt, muß man mit Kontingenzen rechnen, mit
unvorhersehbaren Prozessen, die immer wieder die unterstellte Linearität und Konvergenz ad
absurdum führen.
6. Deshalb wird man feststellen müssen, daß die Moderne, so wie sie in Europa und dann in
Nordamerika »geboren« wurde, ebenfalls nur aus einer bestimmten kontingenten Konstellation heraus
entstanden ist, daß also eine Entwicklung eingeleitet wurde, die keinesfalls notwendig war. Dies legt
dem Bewohner des Westens einen bescheideneren Blick auf die eigene Vergangenheit nahe, zerstört
die Selbstgewißheit und die Überlegenheitsgefühle gegenüber anderen Kulturen und Zivilisationen
und macht auch die Dichotomie zwischen Tradition und Moderne höchst fragwürdig. Denn man kann
dann ernsthaft überlegen, ob angesichts der eingestandenen Kontingenzen die westliche Moderne
nicht selbst die Schaffung einer ganz bestimmten Tradition war, die Erfindung – so deutet es
schließlich Eisenstadt – eines ganz spezifischen kulturellen »Codes«, mit dem sich der
westeuropäische und nordamerikanische Raum seit der 451Neuzeit von anderen Zivilisationen
absetzen konnte, ohne allerdings die Zuversicht haben zu dürfen, daß ihm andere Regionen so ohne
weiteres dabei folgen werden. Nach Eisenstadt mußte und muß man in der Vergangenheit wie in
Gegenwart und Zukunft mit unterschiedlichen Traditionen rechnen, von denen die westliche Moderne
eben nur eine unter mehreren ist – eine Einsicht, die nun diametral gegen die zentrale Annahme der
Modernisierungstheorie gerichtet ist.
Soweit zu den theoretischen Neuerungen Eisenstadts, die aber abstrakt erscheinen müssen, wenn
man nicht gleichzeitig etwas über seine Arbeitsgegenstände und -weise erfährt, zumal sich
Eisenstadts Denken – wie gesagt – nicht rein theorieimmanent entwickelt hat, sondern in der
Auseinandersetzung mit empirischen Problemen.
Eisenstadt, obwohl zu dieser Zeit aufgrund seiner schon zahlreichen, auch internationalen
Publikationen beileibe kein Unbekannter mehr, ist 1963 erstmals ins wirklich helle Rampenlicht der
internationalen soziologischen Öffentlichkeit getreten, und zwar mit einem enorm ehrgeizigen Buch,
The Political Systems of Empires, einer vergleichenden Untersuchung bürokratischer Großreiche –
u. a. über das alte Ägypten, das Inka-Reich, das alte chinesische Kaiserreich, über Byzanz und auch
über den europäischen Absolutismus. Was an dieser Arbeit so ins Auge fiel, waren nicht allein die
darin zu findenden theoretischen Revisionen gegenüber dem Parsonianismus und der
Modernisierungstheorie: hier konnte man schon im Kern seine angesprochene starke Konzentration
auf politische Kämpfe zwischen unterschiedlichen Akteuren, zwischen religiösen Gruppen,
Herrschern, Bürokratien etc. ausmachen. Aufsehenerregend war vor allem der ungeheure Umfang des
von Eisenstadt verarbeiteten Materials, der Vergleich zwischen Phänomenen aus höchst
unterschiedlichen Zeiten und Regionen und die Tatsache, daß sich hier ein Autor aus dem Umfeld der
Modernisierungstheorie mit weit zurückliegenden Epochen beschäftigte, was in der klassischen
Modernisierungstheorie eher selten der Fall war. Dort hatte man sich überwiegend mit der »jüngsten«
Vergangenheit auseinandergesetzt, bestenfalls mit der europäischen Geschichte seit der Reformation,
weil man ja innerhalb der Modernisierungstheorie unmittelbar praxisrelevant zu sein glaubte und
deshalb derartig weit zurückreichende historische Reflexionen als unnötig erschienen. Bei Eisenstadt
war dies völlig anders. Auch er wollte natürlich »aktuelle« 452Ergebnisse produzieren. Aber er
machte doch gleichzeitig klar, daß ihm die Geschichte mehr als nur ein lästiges Vorspiel zur
gegenwartsbezogenen Soziologie ist. Sein Ausgangspunkt war, daß in einer weit zurückliegenden
Vergangenheit entscheidende Weichenstellungen erfolgt sind, die es komparativ zu verstehen gilt,
wenn man Anfang und Verlauf der zwischen den Kontinenten so unterschiedlich verlaufenen
Modernisierungsgeschichte begreifen will.
Erst mit einem solchen weit ausholenden Rückgriff auf historische Epochen konnten sich neue
Perspektiven eröffnen, wie dies auch Parsons mit seiner Evolutionstheorie anbahnte (vgl. unsere
Vierte Vorlesung), wenngleich Eisenstadt selbst – und dies ist wichtig – diese theoretische Wendung
von Parsons nicht mitmachen sollte. Denn sein Ziel war es gerade, eine nicht-evolutionistische
Theorie sozialen Wandels zu entwickeln, welche sowohl die Schwächen der klassischen
Modernisierungs- wie der soziologischen Evolutionstheorien hinter sich läßt, eine Theorie also, die
handlungstheoretisch ansetzt, mit Konflikten zwischen Akteuren und also mit kontingenten Prozessen
rechnet! Es dauerte aber mehr als ein Jahrzehnt, bis Eisenstadt ein ihn selbst zufriedenstellendes
theoretisches Design gefunden hatte. Zu Hilfe kam ihm dabei eine Mitte der 1970er Jahre in
religionswissenschaftlichen und -geschichtlichen Kreisen wieder auftauchende Debatte um einen
schon relativ alten Gedanken, nämlich um die vom deutschen Philosophen Karl Jaspers (1883-1969)
vorgetragene These von der sogenannten »Achsenzeit«.
Jaspers hatte sich 1949 in seiner geschichtsphilosophischen Untersuchung Vom Ursprung und Ziel
der Geschichte die Frage gestellt, ob sich Geschichte als Einheit denken und sich eine Struktur der
Weltgeschichte entwerfen läßt, die unabhängig vom Beobachterstandpunkt Gültigkeit beanspruchen
könnte. Während noch Hegel wie selbstverständlich die christliche Offenbarung als Ausgangspunkt
und Achse der Weltgeschichte begriff, scheint dies im 20. Jahrhundert, in einem gegenüber den
Gefahren des Ethnozentrismus aufgeklärteren Zeitalter, nicht mehr möglich: Jaspers betonte zu Recht,
daß »eine zu findende Achse der Weltgeschichte eben für alle Menschen, nicht nur für Christen, gültig
sein müßte« (Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, S. 14). So unwahrscheinlich das Auffinden
einer solchen nicht-ethnozentrischen Achse auch erscheinen mag, so überraschend ist es, daß Jaspers
dem Leser eine solche offenbar »anbieten« konnte. Er verwies nämlich auf die nicht unbe453kannte
empirische Tatsache, daß alle großen Weltreligionen, übrigens auch die antike griechische
Philosophie, in der Zeit zwischen 800 und 200 v. Christus ihren Ursprung hatten bzw. auf diesen
Zeitraum, den er »Achsenzeit« nennt, zurückgeführt werden können:
In dieser Zeit drängt sich Außerordentliches zusammen. In China lebten Konfuzius und Laotse, entstanden alle Richtungen der
chinesischen Philosophie (…), – in Indien entstanden die Upanischaden, lebte Buddha, wurden alle philosophischen Möglichkeiten bis zur
Skepsis und bis zum Materialismus, bis zur Sophistik und zum Nihilismus, wie in China, entwickelt, – in Iran lehrte Zarathustra das
fordernde Weltbild zwischen Gut und Böse, – in Palästina traten die Propheten auf von Elias über Jesaias und Jeremias bis zu
Deuterojesaias, – Griechenland sah Homer, die Philosophen – Parmenides, Heraklit, Plato – und die Tragiker, Thukydides und
Archimedes. (Jaspers, a.a.O., S. 14/15)

Diese parallelen und weitgehend unabhängig voneinander stattfindenden, also nicht wechselseitig
beeinflußten geistigen Prozesse, die in den Hochkulturen des Orient-Okzidents, Indiens und Chinas
zum Tragen kamen, lösten – so Jaspers – ein mythisches Zeitalter ab und leiteten ein Zeitalter der
systematischen Reflexion auf die Grundbedingungen menschlicher Existenz ein. Wie dieser
Parallelismus der Entwicklungen zustande kam, kann und will auch Jaspers nicht klären. Wichtig
erscheint ihm vielmehr, daß eine wechselseitige Verständigung zwischen diesen
Achsenzeitzivilisationen möglich ist, weil zwar kein gemeinsamer Ursprung, aber immerhin eine
ganz ähnliche Problemstellung vorliege (a.a.O., S. 20).
Jaspers umschreibt nur sehr undeutlich, worin genau diese Problemstellung – abgesehen von einer
beginnenden intensiveren Reflexion auf die Bedingungen des Menschseins – bestanden habe. Als in
den 1970er Jahren die Idee der Achsenzeit wiederaufgegriffen wird, hat sich allerdings unter den
beteiligten Religionshistorikern und Theologen eine Art Konsens darüber herausgeschält, daß sich
die all diese Religionen und Philosophien überwölbende Gemeinsamkeit am besten mit dem Begriff
der Transzendenz fassen lasse. Anders formuliert: Man war der Auffassung, daß das Denken in
transzendenten Kategorien das Charakteristikum dieser Achsenzeitkulturen (gewesen) sei. Was aber
ist mit »Transzendenz« genau gemeint?
454Gemeint ist damit die Tatsache, daß es in jenen Religionen und Philosophien zu einer scharfen
quasi-räumlichen Trennung zwischen dem Weltlichen und dem Göttlichen kam und daß Vorstellungen
entwickelt wurden, wonach es ein jenseitiges, eben transzendentes Reich gebe. Während zuvor, im
mythischen Zeitalter, das Göttliche in der Welt und Teil der Welt war, also keine wirkliche Trennung
zwischen dem Göttlichen und dem Irdischen stattgefunden hatte und die Geister und Götter direkt
beeinflußt und manipuliert werden konnten, weil sie eben Teil der Welt waren oder das Reich der
Götter zumindest nicht viel anders funktionierte als die irdische Welt, tut sich mit den neuen
Erlösungsreligionen und Philosophien der Achsenzeit eine erhebliche Kluft auf zwischen beiden
Sphären. Das Göttliche – so der zentrale Gedanke – ist das Eigentliche, das Wahre, das ganz Andere,
dem gegenüber das Irdische nur defizitär sein kann.
Wenn man so denkt, dann stellt sich nicht nur eine bloße Differenz ein. Es ergibt sich vielmehr eine
unerhörte Spannung zwischen dem »Mundanen« (dem Weltlichen) und dem »Transzendenten«, eine
Spannung mit erheblichen Konsequenzen! Denn mit diesem Gedanken ist beispielsweise eine Art
Gotteskönigtum nicht mehr vereinbar. Der Herrscher kann nicht mehr gottgleich sein, weil die Götter
einen anderen Ort haben. Mehr noch, von nun an kann der Herrscher tendenziell gezwungen werden,
sich vor den göttlichen Postulaten zu rechtfertigen. Der Herrscher ist von dieser Welt – und er hat sich
vor der wahren jenseitigen Welt zu rechtfertigen. Eine neue Form der (Herrschafts-)Kritik wird
möglich, die eine völlig neuartige Dynamik in den historischen Prozeß bringt, weil man immer darauf
hinweisen kann, daß der Herrscher den göttlichen Geboten nicht genügt. Gleichzeitig wird es nun
auch möglich, in viel radikalerer und verbissenerer Weise über den richtigen Gott oder die richtige
Auslegung der göttlichen Gebote zu streiten, was über kurz oder lang zu Konflikten und auch zur
Differenzierung zwischen unterschiedlichen ethnischen und religiösen Kollektiven führen sollte.
Intellektuelle – Priester, Propheten etc. – spielen nun eine wesentlich wichtigere Rolle als noch vor
der Achsenzeit, weil sie u. a. die schwierige Aufgabe haben, den eigentlich unzugänglichen Willen
der Götter zu interpretieren, einen Willen, der nicht mehr so einfach mit irdischen Kategorien zu
fassen ist. Mit dem Gedanken der Transzendenz öffnete sich quasi die Geschichte, d. h., es wurden
455völlig neue Konfliktfelder denkbar. Etwas abstrakter formuliert, ließe sich sagen: Mit dem
Gedanken der Transzendenz ist auch der Gedanke der fundamentalen Rekonstruktionsbedürftigkeit
weltlicher Ordnung aufgetaucht. Von nun an kann gesellschaftliche Ordnung entlang der göttlichen
Vorgaben als veränderungswürdig begriffen werden; erstmals werden auch gezielte Umwälzungen
denkmöglich! Durch die Wirkungsmächtigkeit von Ideen, die in der Achsenzeit ihren Ursprung haben,
ist also eine neue gesellschaftliche Dynamik aufgetreten.
Eisenstadt macht sich – und hier ist vor allem sein ursprünglich 1978 erschienenes Buch
Revolution and the Transformation of Societies. A Comparative Study of Civilizations (dt.:
Revolution und die Transformation von Gesellschaften. Eine vergleichende Untersuchung
verschiedener Kulturen) zentral – diese Einsichten zunutze. Er sieht in einer spezifischen Fassung der
Jaspersschen Thesen die Ausgangsbasis für ein höchst ambitioniertes Forschungs- und
Theorieprojekt, das Analysen sozialen Wandels völlig neue Perspektiven eröffnen soll. Eisenstadts
These nämlich lautet, daß die in all diesen Achsenzeitreligionen vorhandene Spannung zwischen dem
Mundanen und dem Transzendenten je unterschiedlich aufgelöst worden ist, mit der Folge, daß
unterschiedliche Wandlungsgeschwindigkeiten in den jeweiligen Achsenzeitzivilisationen zu
konstatieren sind. Kurz: Eisenstadt glaubt eine Typologie der Spannungsauflösung entwerfen zu
können. Wie muß man sich dies nun vorstellen?
Eisenstadts Argument lautet folgendermaßen: In manchen Zivilisationen ließ sich die Spannung
säkular auflösen, wie dies etwa im Konfuzianismus (und z. T. im klassischen Griechenland und im
antiken Rom) durch die Entwicklung einer Metaphysik und einer Ethik geschah, die letztlich zu einer
Bewahrung und Stabilisierung gesellschaftlicher Verhältnisse führt:
Die kosmische Harmonie (…) läßt sich, so die Stoßrichtung der konfuzianischen Lehre, vor allem durch Kultivierung der sozialen,
politischen und kulturellen Ordnung erreichen. Diese Lehre zielte deshalb auf die Kultivierung des ›Säkularen als Sakralem‹ und der
›menschlichen Gemeinschaft als heiligem Ritus‹ (…). Dies bedeutet in der Praxis, daß der schickliche Vollzug weltlicher Pflichten
innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Ordnungen (Familie, Verwandtschaft, Staat) der Lösung der Spannung dient, die damit zum
Gegenstand individueller Verantwortung wird. (Eisenstadt, »Innerweltliche Transzendenz und die Strukturierung der Welt«, S. 384)

456Erlösung wird in dieser säkularen Aufhebung der Spannung zwischen dem Transzendenten und
Mundanen überwiegend als eine innerweltliche begriffen. Das heißt, die Menschen suchen ihr
religiöses Heil durch die Kultivierung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Ordnung. Anders
formuliert: Man dient dem göttlichen Willen am besten dadurch, daß man in der Welt seine jeweils
zugeordneten Aufgaben bewerkstelligt und sich in die gesellschaftliche Ordnung einfügt und nicht
etwa durch Rückzug ins Eremitendasein dieser Welt aus dem Weg geht.
Es war aber auch eine religiöse Auflösung der Spannung möglich, wobei Eisenstadt zwischen der
buddhistischen und hinduistischen Variante, in denen das transzendente Reich in unpersönlichen
Begriffen gefaßt wurde, und einer monotheistischen Variante, in der ein personifizierter Gott
außerhalb des Universums steht, unterscheidet (Eisenstadt, »Cultural traditions and political
dynamics«, S. 163/164). In der ersten Variante wurde Erlösung fast ausschließlich als außerweltliche
verstanden, d. h., das Handeln der Buddhisten und Hinduisten orientierte sich derart stark an einer
jenseitigen Ordnung, daß für sie die Umgestaltung der Welt nicht zum eigentlichen Ziel ihrer
Anstrengungen werden konnte. Die monotheistischen Religionen, d. h. das Judentum, das Christentum
und der Islam, schwankten hingegen zwischen einem rein außerweltlichen und einem rein
innerweltlichen Konzept der Erlösung; aber wenn eine innerweltliche Erlösungsidee sich
durchsetzte, dann bestand ein großes Bedürfnis hinsichtlich der Umgestaltung der Welt.
Das hört sich nun alles sehr kompliziert an und ist es wohl auch. Lassen Sie uns deshalb kurz
innehalten und zusammenfassen. Die zentrale Eisenstadtsche These war, daß mit der sogenannten
Achsenzeit das Potential für eine enorme Beschleunigung des historischen Prozesses geschaffen
wurde – bedingt durch die Spannung zwischen dem Mundanen und Transzendenten. Allerdings, wie
sehr »beschleunigt« wurde, dies hing von der Form der Spannungsauflösung ab: So dürfte es
einsichtig sein, daß eine rein außerweltliche Orientierung wie im Buddhismus und Hinduismus nur
wenige Anreize für eine Umgestaltung von Politik und Gesellschaft bot und bietet. Deshalb verficht
Eisenstadt nun die weitere These, daß die Zivilisationen, die aufgrund ihrer religiösen Verfaßtheit
eine innerweltliche Orientierung der Gläubigen ermöglichten, insbesondere wenn diese auf eine
Veränderung, nicht Kultivierung der Gesell457schaft zielt, das größte Potential für umfassende und
schnelle Wandlungsprozesse haben.
Die Rede von »beschleunigten« oder »schnellen« Wandlungsprozessen – so kann man vielleicht
einwenden – ist ziemlich merkwürdig. Was heißt das überhaupt? Kann man soziale
Wandlungsgeschwindigkeiten denn so einfach messen? Und was sind die Maßstäbe? Tatsächlich hat
Eisenstadt keinen wirklichen solchen Maßstab; er kann also nicht in einem naturwissenschaftlichen
Sinne »messen«. Aber er kann seine These von den unterschiedlichen Wandlungsgeschwindigkeiten
zumindest plausibilisieren. Er macht nämlich auf einen Umstand aufmerksam, der nur demjenigen
auffallen kann und wird, der ein wahrhaft universales historisches Wissen hat – wie zum Beispiel
Eisenstadt! Er stellt nämlich fest, daß »Revolutionen«, die ja als Ereignisse schnellen und
umfassenden sozialen Wandels definiert werden, keineswegs überall aufgetreten sind. Vielmehr seien
»Große Revolutionen« nur in Achsenzeitzivilisationen möglich gewesen bzw. auch nur dort versucht
oder gedacht worden.

»Große Revolutionen« (und hier ist typischerweise an die amerikanische, die Französische oder die
russische Revolution zu denken) hatten und haben – so Eisenstadt – immer auch einen rudimentären
ideengeschichtlichen Hintergrund, einen Hintergrund, der mit der achsenzeitlichen Vorstellung der
fundamentalen Rekonstruktionsbedürftigkeit der Welt verknüpft war und ist. In nicht-achsenzeitlichen
Zivilisationen – und dies sollte die Geschichte Japans zeigen – waren die geistesgeschichtlichen
Grundlagen hierfür schlicht nicht vorhanden, und somit fehlte es einflußreichen Akteuren an derartig
großen Zielen. So hat Japan trotz eines enorm schnellen wirtschaftlichen Wandels im 19. Jahrhundert,
der scheinbar alle Möglichkeiten für revolutionäre Erhebungen oder zumindest Revolutionsversuche
bot, keine wirklichen Revolutionen gekannt, ja nicht einmal die entsprechenden ideologischen Muster
dafür entwickelt. Auch der sogenannten Meiji-Restauration oder Meiji-Revolution in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts fehlten die ideologischen und symbolischen Elemente, die messianischen
und universalistischen Züge, wie sie den »Großen Revolutionen« in der nordamerikanischen und
europäischen Moderne eigen waren, wie sie aber tendenziell in allen achsenzeitlichen Zivilisationen
zu beobachten waren (vgl. Eisenstadt, »La Convergence des Sociétés Modernes«, S. 137 ff.).
458Selbst wenn in allen achsenzeitlichen Zivilisationen die ideologischen Grundlagen für
Revolutionen vorhanden waren, so bedeutete dies natürlich nicht, daß Revolutionen auch tatsächlich
überall dort stattfanden. Dies hing immer von spezifischen Akteurskonstellationen ab und natürlich
auch – und hier kommen wir wieder auf die religiösen Unterschiede zwischen achsenzeitlichen
Religionen zu sprechen – von der je spezifischen Auflösung der Spannung zwischen dem Mundanen
und dem Transzendenten. Bezogen auf letzteres hieß dies, daß die Form der Spannungsauflösung
zwischen dem Mundanen und dem Transzendenten die Idee eines totalen Umsturzes besonders
»nahelegen« oder eher in den Hintergrund schieben konnte. Es ist deshalb – so Eisenstadt – kein
Zufall, daß gerade in den von monotheistischen Religionen geprägten Zivilisationen, in denen
innerweltliche Handlungsorientierungen verbreitet waren, die ersten »Großen Revolutionen«
auftraten. Denn der auf eine Veränderung der Welt bezogene Aktivismus war für ein revolutionäres
Projekt eine wesentlich günstigere Voraussetzung als eine weltabgewandte oder weltbewahrende
Haltung: Konkret heißt das, daß es im Judentum, Christentum und Islam wichtige Strömungen gab,
welche zur Formulierung radikaler weltlicher Ziele in der Lage und willens waren.
Warum sich bei den innerweltlich orientierten Religionen wiederum das Christentum – und nicht
etwa der Islam, der ja aufgrund seiner Wurzeln auch zu den Achsenzeitreligionen zu zählen ist – als
günstiges Umfeld für Revolutionen erwies, hing mit den konkreten Akteurskonstellationen, also den
besonderen strukturellen Bedingungen zusammen. Obgleich im Islam starke messianische Züge
durchaus beobachtet wurden und ganz aktuell beobachtet werden können, führten die Umstände seiner
politischen und geographischen Ausbreitung, d. h. seine Ausdehnung über die arabische Halbinsel
hinaus, zu einer schwachen Stellung der Städte und ihres Bürgertums. Dadurch fehlten wesentliche
Faktoren, welche die revolutionäre Dynamik im neuzeitlichen Europa oder in Nordamerika erst
ermöglicht hatten. Es war also der christliche Kulturkreis, der nicht nur die Ideen für eine besonders
hohe gesellschaftliche Dynamik bereitstellen sollte, sondern diese auch aufgrund bestimmter
struktureller Konstellationen verwirklichen konnte. In der europäischen Neuzeit fand eine
revolutionäre Beschleunigung statt, die dann auch – über verschiedene Zwischenschritte – zur noch
andauernden Weltherrschaft der westlichen Zivilisation führen sollte.
459Soweit zu Eisenstadts Theoriedesign. Zentral ist – um dies zu wiederholen – seine These, daß
die jeweiligen Religionen und die durch sie begründeten Zivilisationen eine eigene
Wandlungsgeschwindigkeit besitzen, die sich unter anderem aus einer spezifischen Auflösung der
transzendenten Spannungen ergibt. Eisenstadt glaubt nicht wie noch Max Weber, daß es magischen
bzw. traditionalen Elementen in nicht-westlichen Zivilisationen, also einer mangelnden
Durchrationalisierung der dortigen Religionen, geschuldet sei, wenn diese sich langsamer
entwickelten und schließlich dem Westen hinterherhinkten. Er verwirft eine solche ethnozentrische
Vorstellung und betont statt dessen, daß Rationalitätspotentiale in allen Religionen vorhanden waren
und sind. Sie wurden nur je unterschiedlich genutzt, um jene Spannung zwischen dem Transzendenten
und dem Mundanen aufzulösen. Jede Zivilisation hat diesbezüglich ihre eigenen Traditionen
entwickelt, und in Europa und Nordamerika führte dies zu einer Konstellation, in der die sogenannte
(westliche) »Moderne« entstand.
Eisenstadts Rede von der westlichen »Moderne« hat nun mit derjenigen, wie sie
Modernisierungstheoretiker verwende(te)n, nicht mehr viel gemein: Diese Moderne hat ihre tiefen
Wurzeln in der jüdisch-christlichen Tradition der Achsenzeit, einer Tradition, die wiederum im 18.
Jahrhundert nochmals deutlich verändert wurde, als bestimmte Akteurskonstellationen zu
Revolutionen führten, welche eine neue, wiederum nochmals dynamisierte Ausgangslage schufen. Die
westliche Moderne war also Eisenstadt zufolge kein irgendwie notwendiges Produkt eines
historischen Prinzips. Vielmehr hatte sie kontingente Ursprünge, was auch bedeutet, daß andere
Zivilisationen in ihrem weiteren Entwicklungsweg sich wohl kaum so einfach uns anschließen
dürften. Sie haben ihre eigenen Traditionen, oder besser: ihre eigenen Modernen (Plural!). Für
Eisenstadt ergibt die Dichotomisierung von Tradition und Moderne keinen Sinn mehr. Alle heutigen
nicht-westlichen Zivilisationen sind modern, sie haben sich spätestens durch die seit der Neuzeit
stattfindende europäische Expansion massiv verändert, sind durch den Zusammenstoß mit Europa
entscheidend geprägt worden. Die anderen Zivilisationen haben die aus dem Westen kommenden
Wandlungsimpulse mit ihren eigenen Traditionen be- und verarbeitet und dabei mit dem Westen
konkurrierende, aber andere Modernen entwickelt, weswegen Eisenstadt dann auch konsequent von
»multiple modernities« spricht!
460Was hier alles so klingt, als wäre es eine bloße theoretische Ableitung, ist von Eisenstadt mit
»dicken Büchern« belegt worden. Seine enorme Belesenheit hat es ihm ermöglicht, gewaltige Mengen
historischen Materials zu »verdauen« und historische Prozesse in zahlreichen Regionen der Welt zu
durchdringen. Das vielleicht eindrucksvollste Zeugnis dieser Arbeitsweise ist sein 1996 vorgelegtes
monumentales Werk Japanese Civilization. A Comparative View. Eisenstadt hat sich buchstäblich in
der Literatur zu Japan »vergraben«, um zu erklären, warum es dieses Land, das keine Achsenzeit
erlebt, das auch keine achsenzeitliche Religion adoptiert hat, spätestens im 19. Jahrhundert dann doch
schaffen konnte, ökonomischen Anschluß an den Westen zu gewinnen und mit diesem Westen ernsthaft
zu konkurrieren, obwohl es aufgrund seines nicht-achsenzeitlichen Ursprungs keine revolutionären
Projekte entwickelt hat und allein deshalb schon in vielerlei Hinsicht so ganz anders als der Westen
ist.
Wenn Sie sich genauer mit Eisenstadts Arbeitsweise und gleichzeitig mit der Breite seiner
historisch-soziologischen Interessen vertraut machen wollen, so lesen Sie zur Einführung eines seiner
kleineren Werke, etwa Die Vielfalt der Moderne. Hier können Sie Eisenstadts Analysen der
Geschichten Europas, der USA und Japans in kondensierter Form kennenlernen. Gleichzeitig liefert
Ihnen dieser Band aus dem Jahre 2000 auch eine auf seine Achsenzeitthese zugeschnittene Erklärung
für das Auftauchen von verschiedensten religiösen Fundamentalismen (denken Sie hierbei wieder an
die messianischen Züge der Achsenzeitzivilisationen!) in der unmittelbaren Gegenwart, ein
Phänomen, mit dem sich Eisenstadt gerade in jüngster Zeit stark beschäftigt hat.
Eisenstadts theoretische Reflexionen beruhen – wie gesehen – auf einem bewunderungswürdigen
empirischen Wissen über verschiedenste geographische und zeitliche Kontexte. Angesichts der Breite
dieser Forschungsorientierung läßt sich sagen, daß er in der Gegenwart wohl die einzige Figur ist, die
ernsthaft beanspruchen könnte, sich als Nachfolger Max Webers zu bezeichnen. Dennoch bleiben
kritische Fragen an das Eisenstadtsche Werk, von denen wir wenigstens vier in aller Kürze benennen
wollen:
Eisenstadt hat in verschiedenen Publikationen seit den 1960er Jahren darauf hingewiesen, daß
unterschiedliche – interne und externe – Akteure und Einflüsse für die Analyse von
gesellschaft461lichen Wandlungsprozessen herangezogen werden müssen. Die Frage stellt sich
aber, ob Eisenstadts »achsenzeitliche Wende« nicht doch wieder zu einer eher endogenen
1.
Betrachtungsweise geführt hat. Zwar leugnet Eisenstadt natürlich nicht Einflüsse von außen: Da
aber die zivilisatorische Dynamik aus einer je spezifischen internen geistesgeschichtlichen
oder religiösen Lage erklärt wird, besteht die Gefahr, daß äußere Einflüsse abgewertet werden.
Unmittelbar damit hängt auch gleich der nächste Punkt zusammen.
Wir haben bei der Darstellung des Eisenstadtschen Werkes unmerklich den Begriff der
Zivilisation eingeführt, den auch Eisenstadt selbst verwendet. Allerdings ist dieser Begriff nur
sehr schwer zu definieren. Eisenstadt betont kulturelle Merkmale: Zivilisationen sind ihm
zufolge durch eine ganz spezifische religiöse oder philosophische Problematik charakterisiert.
2. Man kann jedoch kritisch fragen, wie einheitlich und homogen diese Zivilisationen tatsächlich
waren und ob sie sich wirklich klar voneinander abgrenzen lassen. Die Kritik, die schon
Anthony Giddens gegenüber Vorstellungen von abgeschlossenen »Gesellschaften« formuliert hat
(vgl. die vorige Vorlesung), läßt sich natürlich in ähnlicher Weise auf den Zivilisationsbegriff
richten. Daraus folgt dann weiter: Wenn Zivilisationen so einheitlich nicht waren und sind, dann
ist letztlich auch die Rede von zivilisationsspezifischen Wandlungsdynamiken problematisch.
Eisenstadt hat sich bei der Untersuchung der achsenzeitlichen Umbrüche notwendig auf Eliten
konzentriert, notwendig deshalb, weil die historischen Quellen dieser Zeit das Leben der
Bevölkerungsmehrheit meistens unberücksichtigt lassen. Die elitentheoretische
Herangehensweise der Eisenstadtschen Argumentation wird aber auch in der Neuzeit von ihm
weitergeführt. Wie schon sein Lehrer Shils konzentriert er sich auf Ideologien, geistige Produkte
also, die von Eliten formuliert und hinterlassen worden sind. Kritisch kann man auch hier
fragen, ob man durch die Einbeziehung der Werte und Handlungen breiterer
3.
Bevölkerungsschichten nicht vielleicht doch zu anderen Ergebnissen bei der Beurteilung
historischer Prozesse kommen würde. Revolutionen – so läßt sich beispielsweise gegen
Eisenstadt argumentieren – entstanden nicht selten aus nichtigen Anlässen, und sie wurden oft im
Prozeß des Umbruchs selbst oder gar erst hinterher mit symbolischen Bedeutungen aufgeladen,
die sich im nachhinein dann 462allzu einfach – aber eben problematisch – als schon
vorhandenes, latentes »revolutionäres Projekt« deuten und bestimmten Intellektuellen
zuschreiben lassen.
Eisenstadts Konzentration auf die Achsenzeit und die dortigen ideologischen Umbrüche birgt
tendenziell die Gefahr, die strukturellen Bedingungen für soziale Wandlungsformen im
allgemeinen oder für Modernisierungsprozesse im besonderen herunterzuspielen. Zwar
argumentiert er durchaus strukturell, wenn er etwa immer wieder ganz nachdrücklich auf
Akteurs- und Elitenkonstellationen hinweist. Doch andererseits ist auffällig, daß Phänomene
4. wie der Kolonialismus und die mit ihm verbundene nackte Gewaltanwendung gegenüber den
Völkern Afrikas, Südamerikas, Australiens oder Asiens keine wirkliche Rolle in seinen
Analysen spielt. Es macht wohl einen Unterschied, ob »Modernisierung« unter Bedingungen der
Selbstbestimmung oder fremder Gewalt stattfand. Wie sich die achsenzeitliche Problematik zu
jenen strukturellen Gegebenheiten verhält, darüber ist in Eisenstadts Werk nur wenig zu
erfahren.

Wir haben uns in der bisherigen Darstellung der Erneuerung des Parsonianismus und der
Modernisierungstheorie auf das Werk von Edward A. Shils und Shmuel N. Eisenstadt beschränkt, und
angesichts der theoretischen Bedeutung dieser Autoren ist dies sicherlich auch gerechtfertigt. Aus
dieser Vorgehensweise dürfen allerdings keine falschen Schlüsse gezogen werden – zwei davon
wollen wir ansprechen, weil sie vielleicht naheliegend sind.
Erstens: Parsons hatte natürlich viel mehr bedeutende Schüler als Shils und Eisenstadt. Eine in der
Parsons-Tradition stehende amerikanische Soziologie war seit den 1950er Jahren mit den Namen
einiger Autoren verbunden, die auch heute noch einen sehr guten Klang haben. Wir wollen Ihnen hier
stellvertretend nur zwei nennen: Robert Bellah (geb. 1927) war ein enger Mitarbeiter von Parsons
und beschäftigte sich in den 1950er Jahren bereits intensiv mit Modernisierungsprozessen in Japan.
Wir haben sein Buch Tokugawa Religion von 1957 bereits zitiert und es als einen klassischen Text
der Modernisierungstheorie bezeichnet. Gleichzeitig stand aber Bellah der komplexen Parsonsschen
Argumentationsweise wesentlich näher als die meisten anderen Modernisierungstheoretiker, die mit
jener relativ simplen Dichotomie zwischen Tradition und Moderne arbeiteten.
463Tokugawa Religion war in erster Linie eine bahnbrechende historische Untersuchung zu
bestimmten Wertmustern in Japan, die es ermöglicht haben, daß sich dieses asiatische Land schon
Ende des 19. Jahrhunderts auf einem erfolgreichen Aufholweg gegenüber dem Westen befand. Bellah
nahm hier eine Webersche Fragestellung auf und suchte in Japan, also außerhalb des europäisch-
amerikanischen Kulturkreises, nach funktionalen Äquivalenten zur protestantischen Ethik mit ihren
dynamischen Konsequenzen. Seine Studie war aber noch aus einem weiteren Grunde bedeutsam. Sie
zeigte nämlich, daß die in Japan abgelaufenen Industrialisierungsprozesse einen völlig andersartigen
Charakter hatten als etwa in den USA. Während in der US-amerikanischen Industriegesellschaft das
Primat der ökonomischen Werte galt, schien dies in der japanischen Modernisierung gerade nicht der
Fall gewesen zu sein. Hier spielte die Politik eine entscheidende Rolle, und die ökonomischen Werte
wurden den politischen untergeordnet. Konkret hieß dies, daß der Industrialisierungs- und
Modernisierungsprozeß durch politische Eliten durchgesetzt wurde, und zwar auf eine Art und Weise,
die den westlichen Betrachtern, insbesondere den angelsächsischen, fremd erscheinen mußte: Der
japanische Aufbruch in die Moderne fand statt auf der Basis einer engen partikularistischen Bindung
aller gesellschaftlichen Eliten an die Kaiserfamilie und effizienzorientierter militärischer Werte, die
gerade im 19. Jahrhundert eine starke gesellschaftliche Verbreitung erfahren hatten. Mit dieser
Feststellung hinterfragte Bellah die von fast allen Modernisierungstheoretikern unterstellte saubere
Trennung der beiden Hälften der »pattern variables«. Partikularistische Wertorientierungen – wie
dieses Beispiel zeigt – lassen sich nicht so ohne weiteres der Tradition zuschlagen. Damit war
gleichzeitig die These einer eindimensionalen Richtung des Modernisierungsprozesses problematisch
geworden. Modernisierung – so Bellah – führt nicht einfach nur zu einer unhinterfragten Dominanz
rationaler oder säkularer Werte. Das heißt auch, daß z. B. Religion im Modernisierungsprozeß nicht
einfach verschwindet, sondern – und hier argumentiert Bellah ähnlich wie Parsons und Shils – neue
Formen und neue Orte finden wird. Bellah vertritt also keine einfache Säkularisierungsthese wie
viele Modernisierungstheoretiker, sondern eine Theorie der »religiösen Evolution«.
Gerade diese letzte These von der anhaltenden Kraft des Religiösen auch in der modernen
Gesellschaft sollte Bellah in den 1960er 464und 1970er Jahren vor allem am »Gegenstand« der USA
weiter ausführen, insofern er demonstrierte, wie dort in ungebrochener Weise – von den
Gründervätern Amerikas im 18. Jahrhundert bis zu John F. Kennedy im 20. Jahrhundert – das
Politische von religiösen Motiven begleitet war. Der von Rousseau übernommene Begriff der
»Zivilreligion« (»civil religion«) diente ihm dazu, dieses Phänomen der Religion in einer post-
traditionalen Welt näher zu fassen (vgl. Bellah, Beyond Belief). Die amerikanische Identität – so
Bellah – habe noch immer zutiefst religiöse Wurzeln, und nichts deute darauf hin, daß sich dies in
nennenswertem Umfang ändere. Robert Bellah hat in den 1980er und 1990er Jahren zentrale Beiträge
zur empirischen Zeitdiagnose aus diesen Annahmen entwickelt. Auf diese kommen wir in der
Achtzehnten Vorlesung ausführlicher zu sprechen.
Neil Smelser ist der andere hier von uns zu nennende Parsonianer, der eine gewichtige Rolle bei
der Weiterentwicklung oder Öffnung des Parsonianismus gespielt hat. Bereits als Student (zusammen
mit Parsons) Autor des schon in unserer Vierten Vorlesung zitierten Werkes Economy and Society,
war Smelser in der Folgezeit immer wieder daran beteiligt, bestimmte Weichenstellungen in der
Parsonsschen Theorieentwicklung vorzuzeichnen bzw. Defizite im Strukturfunktionalismus zu
beseitigen. Smelser hatte ja 1959 in Social Change in the Industrial Revolution (siehe wiederum die
Vierte Vorlesung) wesentlich dazu beigetragen, den Differenzierungsbegriff in der modernen
Soziologie heimisch zu machen, auf dem dann die Parsonssche Evolutionstheorie aufbauen sollte und
den in der Folgezeit alle Funktionalisten bis hin zu Luhmann zu einem ihrer Zentralbegriffe wählten.
Smelser arbeitete sich am Differenzierungsbegriff immer wieder ab, revidierte im Laufe seines
Schaffens allerdings seine ursprünglich sehr einfachen Vorstellungen, so daß er diesbezüglich heute
nicht mehr von einem unilinearen Prozeß ausgeht. Auch wenn er nach wie vor behauptet:
»differentiation remains a commanding feature of a contemporary society« (Smelser, Problematics of
Sociology, S. 54), so hat er doch in verschiedenen Untersuchungen nachdrücklich gezeigt, daß
Differenzierungsvorgänge psychische, politische, soziale etc. Kosten verursachen und deswegen auch
blockiert werden können (vgl. sein Social Paralysis and Social Change). Damit ist er im Prinzip auf
eine Eisenstadtsche Position eingeschwenkt.
Theoretische Defizite im Parsonianismus beseitigte Smelser insofern, als er sich als einer der
ersten Funktionalisten mit dem Phäno465men des kollektiven Handelns und insbesondere mit sozialen
Bewegungen auseinandersetzte. Parsons hatte keine diesbezügliche Theorie und schien auch eine
solche offensichtlich nicht zu benötigen, da er sich ja immer stärker auf eine akteurlose
Systemtheorie, die auf Austauschbeziehungen zwischen Subsystemen abhob, zubewegte. Wie schon
Eisenstadt betonte Smelser demgegenüber wesentlich stärker die handlungstheoretischen Aspekte im
Strukturfunktionalismus und interessierte sich gerade deswegen für kollektive Akteure, weil sie für
die Erklärung von Makroprozessen ganz offensichtlich besonders bedeutsam sind. Sein Buch Theory
of Collective Behavior aus dem Jahre 1962 war dann der Versuch, kollektives Handeln weder unter
der Prämisse der völligen Irrationalität noch derjenigen der völligen Rationalität der einzelnen
Akteure zu deuten. Auch wenn das von Smelser entwickelte Modell alles andere als stimmig war
(vgl. zur Kritik Hans Joas, Die Kreativität des Handelns, S. 298 ff.), so öffnete Smelser mit dieser
Arbeit dem Funktionalismus doch neue Forschungsgebiete.
Zweitens: Wenn wir im Rahmen dieser Vorlesung zur Erneuerung des Parsonianismus gerade das
Eisenstadtsche Werk besonders hervorgehoben haben, so ist damit nicht gesagt, daß es bereits in den
1970er und frühen 1980er Jahren schon auffallend viel Aufmerksamkeit erfahren hätte. Zumindest in
den 1970er Jahren war es das Schicksal aller derjenigen, die sich in irgendeiner Nähe zu Parsons
befanden, daß sie sich eher am Rande als im Zentrum der internationalen soziologischen Diskussion
bewegen mußten. Dies war – wie schon erwähnt – vor allem der Tatsache geschuldet, daß die
evolutionstheoretischen Überlegungen von Parsons oder auch an Parsons anschließende, aber
eigentlich neuartige Ansätze wie der von Eisenstadt seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre unter
Ideologieverdacht standen, wie ungerecht dieses Urteil auch immer sein mochte. Man identifizierte
Parsons umstandslos mit einer relativ einfach gestrickten Modernisierungstheorie, so daß der
Ethnozentrismus-Vorwurf auch noch an seinen Schülern »kleben« blieb. Dies führte dazu, daß die
meisten makrosoziologisch interessierten Autoren seit den 1960er Jahren nach anderen Ansätzen
suchten, insbesondere nach solchen, die sich in jeglicher Hinsicht möglichst weit entfernt von jener so
diskreditierten Modernisierungstheorie befanden. Denn nicht nur die interne Konstruktion der
klassischen Modernisierungstheorie erwies sich als problematisch, wie dies ja auch Eisen466stadt
durch seine kontinuierliche Revision dieser Theorie zum Ausdruck brachte. Auch in praktischer
Hinsicht war die Modernisierungstheorie ganz offensichtlich gescheitert: Denn die Hoffnungen, die
man in sie gelegt hatte, erfüllten sich nicht. Eine wirkliche Entwicklung der Länder der dritten Welt
gelang in den wenigsten Fällen. Eher schien das Gegenteil der Fall zu sein: Viele dieser Länder fielen
gegenüber dem Westen immer weiter zurück, so daß die Frage aufkam, ob nicht die Not der dritten
Welt auf Ausbeutungsverhältnisse und damit auf den Westen zurückzuführen sei. Was der Westen den
Dritte-Welt-Ländern antue, sei – so die bereits in den 1960er Jahren vor allem von linken, auf
Südamerika spezialisierten Ökonomen und Soziologen diskutierte These – keine Hilfe zur
Entwicklung, sondern zur kontinuierlichen Unterentwicklung. Wie diese Sozialwissenschaftler
behaupteten, wurden die südamerikanischen Gesellschaften aufgrund ungünstiger, vom Westen
diktierter Handelsbedingungen und unter Mithilfe einer reichen, aber zahlenmäßig winzigen
einheimischen Bourgeoisie, die davon höchst profitabel lebte, systematisch ausgeplündert. Besonders
berühmt wurde in diesem Zusammenhang ein Werk von zwei brasilianischen Soziologen, Fernando H.
Cardoso (Jahrgang 1931 und Staatspräsident Brasiliens 1995-2002) und Enzo Faletto (1935-2003),
mit dem Titel Dependencia y desarrollo en América Latina (Abhängigkeit und Entwicklung in
Lateinamerika) aus dem Jahre 1969. Eines der Hauptwörter im Titel, nämlich »Dependencia«, gab
dann einem größeren Theorieprogramm seinen Namen, der sogenannten Dependencia-Theorie oder
Dependenz-Theorie. Auch in ihr arbeitete man mit dem Begriffspaar »Zentrum« und »Peripherie«,
allerdings waren diese Begriffe im Unterschied zu denen im Shilsschen und Eisenstadtschen Werk
nicht kulturtheoretisch im Hinblick auf eine Gesellschaft oder eine Zivilisation gefaßt, sondern
überwiegend ökonomisch definiert und auf die gesamte Welt(wirtschaft) bezogen: Das Zentrum –
und damit waren im wesentlichen die Länder des Westens gemeint – beute die Peripherie, eben die
dritte Welt, aus.
In den 1970er Jahren wurde dieser Ansatz unter immer stärkerer Verwendung marxistischer
Analyseinstrumente weiter radikalisiert. Diese Theoriebewegung war vor allem mit dem Namen des
Amerikaners Immanuel Wallerstein (Jahrgang 1930) verbunden, ursprünglich Spezialist für
afrikanische Geschichte und Politik. Wallerstein unternahm mit seiner von ihm so genannten
»Weltsystemtheorie« den 467enorm ehrgeizigen Versuch, eine Geschichte der Welt seit der Zeit der
europäischen Expansion im 15. Jahrhundert zu schreiben. Ausgehend von der Vorstellung, daß die
Weltwirtschaft von einigen Weltstädten aus zentral gelenkt wurde und wird, weil man dort die Geld-
und Handelsströme kontrolliert – von Sevilla und Amsterdam zu Beginn dieser Periode über London
im 18./19. Jahrhundert und schließlich New York City in der Gegenwart –, beschrieb Wallerstein
auch das Staatensystem als fundamental abhängig von den wirtschaftlichen Strukturen. Dies
ermöglichte es ihm dann, mit einem einzigen theoretischen Universalschlüssel die Welt in »Zentrum«,
»Semi-Peripherie« und »Peripherie« einzuteilen und von hier aus makrosoziologische
Wandlungsprozesse zu beschreiben und zu erklären (vgl. Wallerstein, The Modern World-System, 3
Bde.; für einen kurzen Überblick vgl. Wallerstein, Der historische Kapitalismus).
Auch wenn der Reduktionismus des Wallersteinschen Modells offensichtlich und viele seiner
Erklärungen fragwürdig waren, weil alle historischen Phänomene letztlich auf ungleiche ökonomische
Austauschprozesse zurückgeführt wurden, waren die Weltsystemtheorie und ähnliche Ansätze in den
1970er und frühen 1980er Jahren die wohl einflußreichsten makrosoziologischen Paradigmen in der
Weltsoziologie: Zu offensichtlich war das empirische Versagen der Modernisierungstheorie gewesen,
während gleichzeitig der marxistische Hinweis auf krasse Ausbeutungsverhältnisse scheinbar
wesentlich plausibler das Scheitern von »Entwicklung« erklären konnte. Unter dieser
weitverbreiteten Auffassung »litten« dann auch die Erneuerungsversuche im Parsonianismus. Die
internationale makrosoziologische Debatte war eindeutig von der Dependenztheorie oder der
Wallersteinschen Weltsystemtheorie dominiert, denen gegenüber etwa Eisenstadt einen sehr schweren
Stand hatte. Parsons und alle (Nach-)Parsonianer waren daher in der Defensive.

Die Gründe, warum es dann doch spätestens seit Mitte der 1980er Jahre zu einem Umschwung kam,
sind vielfältig. Zu verweisen ist erstens darauf, daß zumindest der parteioffizielle Marxismus schon
aufgrund des Niedergangs der Sowjetunion und seiner Satellitenstaaten in eine kaum mehr zu
verschleiernde Krise geraten war. Aber auch der Westmarxismus à la Wallerstein und mit ihm die
Dependenztheorie hatten mit Erklärungsnöten zu kämpfen, weil sich zweitens mit dem ökonomischen
Aufstieg der sogenannten asiatischen 468Tigerstaaten wie Südkorea oder Taiwan offensichtlich
Länder entwickelten, die diesem Theoriedesign zufolge dazu nicht in der Lage hätten sein dürfen.
Dies führte drittens dann dazu, daß sogar die eigentlich schon verabschiedete
Modernisierungstheorie einen Aufschwung (eine Art Wiedergeburt) erlebte und noch immer erlebt,
weil sich doch die Überlegenheit des westlichen Werte- und Institutionensystems gezeigt habe – so
argumentierten in den 1990er Jahren zumindest implizit Autoren wie der Amerikaner Edward A.
Tiryakian (Jahrgang 1929), ein weiterer wichtiger Parsons-Schüler (»Modernisation: Exhumetur in
Pace«), und der Deutsche Wolfgang Zapf (Jahrgang 1937; »Die Modernisierungstheorie und
unterschiedliche Pfade der Entwicklung«). Und viertens schließlich wurde Parsons selbst in der
internationalen Soziologie wiederentdeckt. Zumindest Teile seines umfangreichen und heterogenen
Theoriegebäudes wurden von Autoren für bedeutend und brauchbar erklärt, von denen viele dies
nicht erwartet hätten, etwa von Jürgen Habermas, wie Ihnen aus der Zehnten Vorlesung in Erinnerung
ist.
All dies führte dazu, daß plötzlich die Parsonianer wieder verstärkt ins Zentrum der
Theoriedebatten rückten. Eine neue Generation von Soziologen, deutlich jünger als Parsons, Shils,
Eisenstadt, Bellah oder Smelser, machte sich daran, den Parsonianismus von seinen Grundlagen her
zu erneuern. In Deutschland war und ist diese Theoriebewegung am stärksten mit dem Namen von
Richard Münch (geb. 1945) verbunden. Münch, derzeit Soziologieprofessor in Bamberg,
veröffentlichte 1982 mit dem Buch Theorie des Handelns. Zur Rekonstruktion der Beiträge von
Talcott Parsons, Emile Durkheim und Max Weber eine Art Konkurrenzprodukt zu Jürgen Habermas’
Theorie des kommunikativen Handelns. Wesentliche Pointe des Münchschen Klassikervergleichs
war freilich, daß dabei Talcott Parsons als der eindeutig überlegene Theoretiker hervorging, weil er
im Rückgriff auf Kant eine »voluntaristische Theorie des Handelns« entwickelt habe, die aufgrund
ihres umfassenden Zugriffs kaum revisionsbedürftig sei. Gerade weil Parsons einem kantianischen
Impuls folgte, sei er in der Lage gewesen, alle Reduktionismen zu vermeiden, die partiell immer
wieder bei Durkheim und Weber, aber erst recht bei zeitgenössischen Theoretikern aufgetreten seien.
Auch wenn die These vom kantianischen Kern des Parsonsschen Werks nicht unumstritten ist (bei der
Parsons-Exegese haben Autoren wie Charles Camic, geb. 1951, wesentlich stärker den
wirtschafts469wissenschaftlichen Kontext des Parsonsschen Frühwerks betont, während Harald
Wenzel, geb. 1955, eher auf die Einflüsse des amerikanischen Philosophen Alfred North Whitehead
hinwies), leistete Münch einen wesentlichen Beitrag zur Rekonstruktion des Parsonsschen Denkens.
Freilich ist die Art und Weise dieser Rekonstruktion nur vor dem Hintergrund seiner
Auseinandersetzung mit dem Werk von Niklas Luhmann zu verstehen. Münch zufolge habe Luhmann
das Parsonssche Erbe verspielt und den Funktionalismus in eine falsche Richtung gedrängt. Weil
Luhmann den Funktionalismus durch seine Behauptung von der Differenzierung der Subsysteme, die
sich wechselseitig nur noch stören könnten, aber sich nichts mehr zu »sagen« hätten, unnötig
radikalisiert habe, sei die ursprünglich Parsonssche Einsicht von der »Interpenetration« der
Subsysteme verlorengegangen. Zwar sei es in der Moderne tatsächlich zu einer weitgehenden
Ausdifferenzierung der Subsysteme gekommen. Es sei aber das Kennzeichen dieser (westlichen)
Moderne, daß sich die Subsysteme gerade nicht vollständig voneinander abgekoppelt hätten:
Kulturelle Muster und Werte würden immer wieder in je unterschiedliche Systeme hineinwirken. Vor
allem für die okzidentale Entwicklung sei eine wechselseitige Durchdringung von Ethik und Welt
charakteristisch gewesen. Daran habe sich bis heute wenig geändert. Münch beharrt also im
Gegensatz zu Luhmann – aber in Übereinstimmung mit Parsons – auf der auch heute noch gültigen
These der normativen Integration von Gesellschaften. Diese starke normative Komponente im
Münchschen Theoriegebäude kam dann auch deutlich in seinen nachfolgenden Arbeiten zum
Ausdruck, in denen seine Bestimmungen der Moderne und seine Ländervergleiche zwischen England
und USA bzw. Frankreich und Deutschland fast kulturdeterministische Züge annahmen (Die Struktur
der Moderne. Grundmuster und differentielle Gestaltung des institutionellen Aufbaus der
modernen Gesellschaften und Die Kultur der Moderne, 2 Bde.). In den letzten Jahren hat Münch
auch zahlreiche zeitdiagnostische Studien vorgelegt.
Kritischer und distanzierter gegenüber dem Parsonsschen Werk hat sich der Amerikaner Jeffrey C.
Alexander (Jahrgang 1947) positioniert. Er trat 1983 mit einem »Paukenschlag« an die Öffentlichkeit,
und zwar durch die Publikation eines vierbändigen Werkes mit dem Titel Theoretical Logic in
Sociology. Darin analysierte er die Ansätze von Marx, Durkheim und Weber und lobte ganz ähnlich
470wie Münch das Parsonssche Werk als überlegene Theoriesynthese. Freilich wies Alexander
wesentlich stärker als Münch darauf hin, daß Parsons nicht selten seine eigenen theoretischen
Einsichten »vergessen« habe: Seine im Prinzip multidimensionale Theorieanlage sei vielfach
idealistisch verengt worden (beispielsweise durch die Ausblendung der materiellen Faktoren des
Handelns), er habe sich außerdem oft dazu verführen lassen, seine theoretischen Modelle schlicht mit
der Wirklichkeit gleichzusetzen, und in seinen evolutionstheoretischen Analysen sei die
amerikanische Gesellschaft als eine Art Endpunkt der Geschichte dargestellt worden. Alexanders
Kritik an Parsons war also durchaus scharf. Gleichzeitig initiierte er jedoch eine Art
»Sammlungsbewegung« unter den verbliebenen Funktionalisten und Parsonianern und kreierte dazu
das Etikett »Neo-Funktionalismus«. Was hatte es damit auf sich? Alexander zufolge müßten zwar die
handlungstheoretischen Elemente in Parsons’ funktionalistischem Theoriegebäude gestärkt werden,
aber diese Theorie sei im Prinzip intakt. Ja, überraschender noch, es seien spätestens in den 1970er
Jahren eine ganze Reihe von Soziologen herangereift, deren Arbeitsweise genau mit einem solchen
erneuerten, handlungstheoretisch modifizierten Parsonianismus zu vereinbaren sei. Der
Funktionalismus – so Alexander im Jahre 1985 – sei also keineswegs tot, er lebe vielmehr, auch
wenn sich das Theoriedesign leicht verändert habe, so daß es angebracht sei, vom »Neo-
Funktionalismus« zu sprechen. Diese Neo-Funktionalisten, zu denen Alexander allerdings ziemlich
großzügig eine höchst heterogene Menge von Autoren zählt (Eisenstadt, Smelser und Bellah tauchen
hier ebenso auf wie Luhmann und sogar Habermas, vgl. »Introduction«, S. 16), würden mindestens
fünf zentrale Thesen teilen: 1. Gesellschaft werde als analysierbares System oder Muster verstanden.
2. Der Analysefokus liege mehr auf dem Handeln als auf der Struktur. 3. Die These von der
Integration von Gesellschaften sei eine theoretische Annahme, keine empirische Aussage. 4. Auf der
Parsonsschen Unterscheidung zwischen Persönlichkeit, Kultur und Gesellschaft sei zu beharren, weil
nur so Reduktionismen verhindert würden und zugleich das spannungsgeladene Verhältnis zwischen
diesen drei Bereichen verstanden werden könne. 5. Differenzierung sei ein entscheidender Modus des
sozialen Wandels (a.a.O., S. 9/10; vgl. auch Alexander/Colomy, »Toward Neo-Functionalism«).
471Gerade der letzte Punkt schien für die »Neo-Funktionalisten« – oder zumindest für diejenigen,
die das Alexandersche Etikett für sich akzeptierten – besondere Bedeutung zu haben, weshalb in der
Literatur manchmal auch von »Differenzierungstheoretikern« gesprochen wird. Denn die ganz
wesentlich aus dem Strukturfunktionalismus und der Modernisierungstheorie stammende
Differenzierungstheorie sollte als das entscheidende Instrument zur Beschreibung und Erklärung
sozialen Wandels beibehalten werden, was freilich eine ziemlich radikale Abkehr von den
ursprünglichen Differenzierungsvorstellungen nach sich zog. Weil man empirisch neue Erkenntnisse
hatte, ging man nicht mehr nur von positiven Differenzierungseffekten aus, sondern auch von
negativen, man diskutierte blockierte Differenzierungen ebenso wie De-Differenzierungen usw. (vgl.
Colomy, »Recent Developments in the Functionalist Approach to Change«). Bekanntlich hatte ja auch
schon Eisenstadt in den 1960er Jahren dies so gesehen. Allerdings, so positiv diese Übernahme
Eisenstadtscher Einsichten auch sein mochte, eine kritische Frage an die Neo-Funktionalisten und
(neuen) Differenzierungstheoretiker lag nahe: Welchen Sinn hat eigentlich die Rede von
»Differenzierungstheorie«, wenn gleichzeitig ständig von Ausnahmen in diesem »master process« der
Differenzierung gesprochen wird? Wenn es denn stimmt, daß historische Prozesse nicht auf ein Ziel
zulaufen, sondern stets kontingente Phänomene auftreten usw., warum muß man dann all dies
überhaupt mit dem Begriff der Differenzierung fassen? Die Differenzierungstheorie als Kernstück der
neo-funktionalistischen Theorie scheint also relativ wenig aussagekräftig zu sein, weil sie so gut wie
nichts mehr ausschließt (vgl. Joas, Kreativität des Handelns, S. 326 ff.). Gleichermaßen läßt sich
fragen, was eigentlich der Begriff »Funktionalismus« im Etikett »Neo-Funktionalismus« noch genau
bedeuten soll. Auch dieser ist ziemlich inhaltsleer geworden, weil von Systemen und Funktionen bei
vielen der als »neo-funktionalistisch« bezeichneten Autoren kaum mehr die Rede ist. Genau deshalb
haben funktionalistische »Traditionalisten« unter den »Neo-Funktionalisten« wie etwa Bernard
Barber (»Neofunctionalism and the Theory of the Social System«) eine stärkere Berücksichtigung des
Systembegriffs gefordert, weil doch nur so funktionale Analysen vernünftig machbar seien. Freilich
vergebens! Denn gerade über den Systembegriff gibt es in der neo-funktionalistischen »Bewegung«
keinen Konsens, so 472daß man die Einheitlichkeit des »Neo-Funktionalismus« getrost anzweifeln
darf.
Damit soll nicht gesagt werden, daß bei der Erneuerung des Parsonianismus nicht wichtige
Einsichten gewonnen und bedeutsame Entwicklungen eingeleitet worden wären. Zu bestreiten ist aber,
daß aus dem Erbe des Parsonsschen Werkes wiederum ein kohärenter Theorierahmen
hervorgegangen sei, der sich sinnvoll mit einem einzigen Etikett fassen ließe. Es gibt – so würden wir
behaupten – keinen »Neo-Funktionalismus«, es gibt allenfalls einzelne Autoren, die sich (wobei hier
gewiß Eisenstadt an erster Stelle zu nennen wäre) bei der Erneuerung des Parsonianismus verdient
gemacht haben, dies aber auf höchst unterschiedliche Weise!
Auch Alexander scheint dies mittlerweile so zu sehen. Er verzichtet nun ausdrücklich auf die
Selbstbezeichnung »Neofunktionalist«, wie auch der Titel eines seiner jüngeren Werke aus dem Jahre
1998 andeutet: Neofunctionalism and after. Tatsächlich liegt Alexanders eigene Bedeutung nicht in
seinen aufsehenerregenden, aber problematischen Begriffsprägungen begründet, sondern darin, daß er
wie andere auch das Parsonssche Werk an einer zentralen Stelle geöffnet hat: Vor allem seit den
1990er Jahren hat er intensiv kulturtheoretische Analysen unterschiedlichster Art rezipiert, um ein
wesentliches Defizit der Parsonsschen Theorie zu beheben. Denn Parsons hat »Kultur« in
übertriebener Homogenität ohne irgendeine innere Spannung beschrieben. Seine Beschreibungen
einzelner Kulturen basieren auch nicht auf empirischen »dichten Beschreibungen« (»thick
descriptions«, wie der Parsons-Schüler und Kulturanthropologe Clifford Geertz [1923-2006] sagt),
sondern stellen eher analytische Konstrukte dar. Alexanders Projekt ist es nun, von Kulturhistorikern
und Kulturanthropologen wie ebenjenem Clifford Geertz und Victor Turner (1920-1983) zu lernen
und vor allem methodisch an kulturelle Wandlungsprozesse heranzukommen. Er will zeigen, daß
kulturelle Diskurse ganz häufig entlang binärer Codes (»Freund – Feind«, »rein – unrein« etc.)
strukturiert sind und gerade aufgrund dieser Binarität ihre Dynamik entfalten (vgl. »Kultur und
politische Krise: ›Watergate‹ und die Soziologie« oder »Citizen and Enemy as Symbolic
Classification: On the Polarizing Discourse of Civil Society«; zu Alexanders Ansatz vgl. Wenzel,
»Einleitung: Neofunktionalismus und theoretisches Dilemma«). Damit versucht Alexander – mit der
gleichen Intention wie Shils und Eisenstadt, allerdings 473nicht ganz in derselben Weise (vgl.
S. 442ff.) –, die »Kultur« als den zentralen Aspekt der Parsonsschen Theorie, der bei Parsons selbst
merkwürdigerweise weitgehend unanalysiert geblieben ist, näher aufzuschlüsseln. Im Unterschied zu
Shils geht es ihm wieder mehr um die disruptiven Seiten des Charismas oder des Sakralen und die
Offenheit der Situationen, in denen dieses zum Tragen kommt; im Unterschied zu Eisenstadt richtet er
sein Augenmerk weniger auf historische Prozesse von großer Tiefe und mehr auf die jüngere
Vergangenheit und Gegenwart, insbesondere die Bedingungen einer funktionierenden Zivilgesellschaft
und der Verarbeitung des Holocaust in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Es sind nicht zuletzt
Alexanders Arbeiten, die darauf hindeuten, daß das Parsonssche Werk noch immer fruchtbar ist für
ein direktes Anknüpfen und auch in Zukunft – unter welchem Etikett auch immer – seine Interpreten
und Fortsetzer finden wird.
Trotz der Berücksichtigung der Schriften des israelischen Soziologen Shmuel Eisenstadt und seines
deutschen Kollegen Richard Münch war diese Vorlesung stark auf amerikanische theoretische
Traditionen bezogen. Wir gehen nun für die nächsten drei Vorlesungen in einen anderen nationalen
Kontext, ja fast könnte man sagen: in eine andere Welt – wir gehen nach Frankreich!
474Vierzehnte Vorlesung
Strukturalismus und Poststrukturalismus

Wenn Sie unsere bisherigen Vorlesungen nochmals Revue passieren lassen, so kann sich der Eindruck
aufdrängen, daß die Entwicklung der modernen soziologischen Theorie ganz überwiegend eine
amerikanische, britische und deutsche Angelegenheit gewesen sei und andere Nationen hierbei nur
eine Nebenrolle gespielt hätten. Dies entspricht jedoch nicht den Tatsachen. Unsere Darstellung hatte
ihren (geographischen) Schwerpunkt vor allem deshalb, weil sich die genannten nationalen
Soziologietraditionen wechselseitig intensiv wahrnahmen und zumeist schnell aufeinander reagierten,
was es uns ermöglichte, in den bisherigen dreizehn Vorlesungen einigermaßen chronologisch
vorzugehen: »Am Anfang war Parsons, dann kamen die überwiegend amerikanischen Parsons-
Kritiker und darauf dann die europäischen Syntheseversuche durch Habermas, Luhmann und Giddens,
die sich wiederum wechselseitig kritisierten, sowie einige kritische Fortsetzungen des Parsonsschen
Erbes« – so lautete der »plot« unserer bisherigen Geschichte.
Die einfache Eleganz dieses »plots« ist aber im Rahmen unserer Vorlesungen nicht ganz
durchzuhalten – zumindest dann nicht, wenn man den französischen Beitrag zur Entwicklung der
modernen soziologischen Theorie so ernst nimmt, wie er es verdient. Denn die Sozial- und
Geisteswissenschaften in Frankreich bildeten bis Ende der 1960er Jahre eine Art Kontinent, der sich
selbst zu genügen schien. Dies hing damit zusammen, daß es in Frankreich starke und fruchtbare
intellektuelle Traditionen gab und gibt, welche die Grundlagen für eine sehr eigenständige, um nicht
zu sagen: isolierte nationale Entwicklung legten. Besonders deutlich wurde dies in der Soziologie.
Hier dominierte das Werk Emile Durkheims in einer Weise, die so in anderen Ländern nicht
beobachtet werden konnte. Die französische Soziologie war vor dem Epochenbruch des Ersten
Weltkrieges mit der Durkheim-Schule fast identisch, weil es Durkheim bis zu seinem Tode 1917 nicht
nur geschafft hatte, die soziologische Diskussion zu prägen, sondern auch sehr viele einflußreiche
akademische Positionen mit seinen Schülern zu besetzen. Durkheim war als Institutionenbauer enorm
erfolgreich, so daß es fast allein ihm zu verdanken ist, wenn die Soziologie als anerkanntes Fach im
475universitären Fächerkanon Frankreichs so schnell Fuß fassen konnte. Max Weber hatte zu seiner
Zeit in Deutschland innerhalb der Sozialwissenschaften keineswegs eine ähnlich unangefochtene
intellektuelle Stellung inne, wie es heute fast automatisch suggeriert wird, wenn wir von ihm als dem
deutschen Klassiker der Soziologie sprechen – ganz abgesehen davon, daß die Institutionalisierung
der Soziologie in Form der Einrichtung eigenständiger Lehrstühle viel später als in Frankreich
erfolgte. In den USA etablierte sich das Fach unter der Federführung des Soziologie- und
Anthropologie-Departments an der University of Chicago zwar fast zeitgleich wie in Frankreich.
Aber es gab in Chicago nicht die herausragende, alles dominierende Figur, wie dies Durkheim für die
gesamte französische Soziologie darstellte. Die Chicagoer Schule war eher ein Netzwerk, die
Durkheim-Schule eher ein hierarchisch geführtes Unternehmen.
Durkheim und die Durkheimianer waren also bis zum Ersten Weltkrieg zwar nicht ohne
Konkurrenz, aber doch unbestritten die (positiven wie negativen) Bezugspunkte einer jeden
soziologischen Diskussion in Frankreich, und zumindest das intellektuelle Erbe Durkheims und seiner
Nachfolger ist dort bis heute derart präsent, daß selbst ganz aktuelle Theoriedebatten innerhalb der
Soziologie ohne eine entsprechende Verortung im Kontext der Durkheim-Interpretationen nicht zu
verstehen sind. Es gilt deshalb, in einem kurzen Rückblick die Entwicklung der französischen
Soziologie im 20. Jahrhundert nachzuzeichnen, bevor wir uns dem Thema dieser Vorlesung – dem
französischen Strukturalismus und Poststrukturalismus – widmen können. Denn auch diese Theorien
entstammen einem intellektuellen Raum, der zutiefst durch die Nachwirkungen des Durkheimschen
Werkes gekennzeichnet war.

Auch wenn Durkheims Ideen vom späten 19. Jahrhundert bis zur heutigen Zeit in Frankreich lebendig
geblieben sind, so erfuhr die Durkheim-Schule selbstverständlich mit dem Ableben des »Meisters«
doch auch einen gewissen Bedeutungsverlust, der durch »äußere« Umstände noch verstärkt wurde.
Denn Teile des Durkheimschen Erfolgs bei der Etablierung einer aus seinen Ideen erwachsenden
soziologischen Forschungsrichtung wurden schlicht durch den Ersten Weltkrieg zunichte gemacht,
insofern nicht wenige seiner erfolgreichen Studenten auf den Schlachtfeldern fielen. Zwar wurde die
Schule von einzelnen herausragenden Figuren auch nach 4761918 weitergeführt, doch die meisten der
verbliebenen Durkheim-Schüler waren nicht in der Lage, produktive Anstöße, vor allem solche
theoretischer Art, zu geben. Zu jenen »herausragenden Figuren« zählten insbesondere Marcel Mauss
(1872-1950) und Maurice Halbwachs (1877-1945), die als direkte Durkheim-Schüler dessen Erbe
weiterführten; auch an Georges Bataille (1897-1962) und Roger Caillois (1913-1978) ist hier zu
erinnern, die am 1937 gegründeten und kurzlebigen Collège de Sociologie bestimmte Motive der
Religionssoziologie Durkheims mit dem Surrealismus zu einem z. T. auch literarisch
hochinteressanten Theoriegemenge »verrührten« und zu denen dann auch deutsche Intellektuelle wie
Walter Benjamin (1892-1940) und Hans Mayer (1907-2001) Kontakt hatten (vgl. Mayer, Ein
Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen, Bd. 1, S. 236 ff.). Insgesamt aber läßt sich doch behaupten,
daß es der Durkheim-Schule und damit der gesamten französischen Soziologie in den 1920er Jahren
so erging wie der Chicago School of Sociology und auch der deutschen Soziologie: Die innovativen
Impulse gingen langsam verloren, die Ansätze wurden insgesamt steriler.
Neu und überaus bemerkenswert in der intellektuellen Landschaft Frankreichs – und dies betraf
zunächst nicht so sehr die Soziologie als die Philosophie – war allerdings die in der
Zwischenkriegszeit einsetzende Rezeption »deutschen Denkens«, wobei in großem Umfang – u. a.
vermittelt über den russischen Emigranten Alexandre Kojève (1902-1968) – Hegel und Marx, aber
auch Freud und phänomenologische Denker wie Husserl und Heidegger neu bzw. erstmals gelesen
wurden. Für die Soziologie wurde besonders die Aneignung des Werkes von Max Weber durch
Raymond Aron folgenreich; der schon in der Achten Vorlesung erwähnte Aron wurde nach dem Krieg
zu einem der führenden Publizisten Frankreichs und zu einem bedeutenden Soziologen des Krieges
und der internationalen Beziehungen. Im Kontext einer relativ weitgefächerten, sehr stark durch das
deutsche Denken geprägten philosophischen (und teilweise soziologischen) Debatte reiften dann eine
Reihe von jungen Intellektuellen heran, welche seit den beginnenden 1940er Jahren, also noch in den
Zeiten der deutschen Okkupation, das französische Denken ganz massiv zu prägen begannen. Jean-
Paul Sartres Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie von 1943 war
das philosophische Manifest einer Bewegung, die nach dem Ende der Besatzung und des Vichy-
Regimes unter dem Etikett »Exi477stentialismus« so richtig aufblühte und die intellektuellen Debatten
Frankreichs in den späten 1940er und 1950er Jahren beherrschte. Sartres frühes philosophisches
Hauptwerk war unter den Bedingungen der Fremdherrschaft und der alltäglichen Kollaboration mit
den Nazis ein verzweifelter Ruf nach Authentizität und Verantwortung, nach einer Moral des
einzelnen, besonders des isolierten Intellektuellen in einer repressiven Welt. Es war – wie dies die
Sartre-Biographin Annie Cohen-Solal (Sartre, S. 303) ausdrücken sollte – die »Verkündung des
absoluten Primats der Subjektivität gegenüber der Welt« und damit »ein zutiefst kartesianisches
Werk.«
Ausgehend von dieser Grundposition trieb Sartre nach 1945 in Zusammenarbeit und zum Teil auch
in Auseinandersetzung mit anderen brillanten Philosophen wie Maurice Merleau-Ponty die
philosophische Debatte voran. Parallel dazu wurde ein Lebensgefühl geweckt, das nicht allein durch
Sartres eigene literarische Werke, sondern auch durch die Romane seiner Gattin Simone de Beauvoir
(1908-1986) und des mit ihm bis zu einem politisch begründeten spektakulären Bruch lange Zeit
befreundeten Literaturnobelpreisträgers Albert Camus (1913-1960) ein breites Publikum ansprach.
Dieses große Leserinteresse für den Existentialismus wurde auch deswegen immer wieder entfacht,
weil sich immer wieder politische Kontroversen entwickelten, insofern sich Sartre zeitweise zur
Kommunistischen Partei Frankreichs bekannte und dabei völlig unklar war, wie sich sein
theoretischer Subjektivismus mit der Mitgliedschaft in einer stalinistischen Kaderpartei vereinbaren
lassen sollte (vgl. Kurzweil, The Age of Structuralism, S. 2 ff.).
Dieses Konglomerat aus Phänomenologie, Existentialismus und Linksradikalismus konnte das
intellektuelle Leben Frankreichs bis in die 1950er Jahre hinein dominieren, begann aber dann an
Einfluß zu verlieren, zumal sich – und damit kommen wir nun erstmals auf das eigentliche Thema
dieser Vorlesung zu sprechen – mit dem »Strukturalismus« eine machtvolle Gegenbewegung
herauskristallisierte. Warum der Existentialismus gegenüber dem Strukturalismus so rapide an
Bedeutung verlor, ist nicht ganz eindeutig auszumachen. Politische Gründe allein spielten sicherlich
nicht die entscheidende Rolle: Auch wenn das verwirrende politische Engagement Sartres – mal
innerhalb, mal außerhalb der KP – viele Anhänger verstört haben mag: die späteren Strukturalisten
unterschieden sich diesbezüglich in nichts, denn auch viele von ihnen waren stark auf 478seiten der
Linken engagiert oder sogar doktrinäre Einpeitscher der Kommunistischen Partei Frankreichs. So
wird man vielleicht doch einem philosophisch-wissenschaftlichen Erklärungsversuch folgen müssen,
wie ihn vor einiger Zeit Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron (»Soziologie und Philosophie in
Frankreich seit 1945: Tod und Wiederauferstehung einer Philosophie ohne Subjekt«) angeboten
haben: Danach schwankten die französische Philosophie und Soziologie in ihren jeweiligen
Entwicklungsgeschichten stets zwischen einem übersteigerten Subjektivismus und einem
übersteigerten Anti-Subjektivismus bzw. Objektivismus, weshalb der Aufstieg des Strukturalismus
lediglich als eine quasi turnusmäßige Reaktion auf den Subjektivismus der Glanzzeit Sartres gesehen
werden muß. Denn der Strukturalismus war – und hier sind wir schon bei einer ersten
Charakterisierung, die wir später noch vertiefen wollen – eine massive Kritik an den im Sartreschen
Werk zu findenden Vorstellungen über die individuellen Wahlmöglichkeiten des Subjekts, die
autonome Handlungsfähigkeit des Individuums oder die stets bedrohte, aber immer bestehende
Chance der menschlichen Selbstverwirklichung. Und es war eine Kritik, die um so leichter fiel, als
sich Sartre lange Zeit wenig um eine Öffnung der Philosophie zu den einzelnen Disziplinen der
Human- und Sozialwissenschaften bemüht hatte. Dies galt besonders für neu und verstärkt sich
entwickelnde Fächer. Der Linguistik etwa stand er ebenso fremd bis ablehnend gegenüber wie der
Freudschen Psychoanalyse, wie dies schon in Das Sein und das Nichts (v. a. S. 879 ff. und 956 ff.)
nur allzu deutlich zum Ausdruck kam. Denjenigen, die in der Philosophie nach neuen Wegen und
Anbindungen suchten, erschien dies als ungenügend, und so kann es denn auch nicht überraschen,
wenn der Bruch mit Sartre und seiner Art des Philosophierens oftmals aktiv gesucht wurde (vgl.
Dosse, Geschichte des Strukturalismus, Bd. I, S. 29). Erst in Reaktion darauf versuchte auch Sartre,
die Sozialwissenschaften stärker in sein Denken zu integrieren.

Aber lassen Sie uns langsam beginnen. Wenn wir vom »Strukturalismus« sprechen, dann fällt
natürlich sofort auf, daß darin ein Begriff steckt, den Sie bereits kennen, da er in den vergangenen
Vorlesungen schon des öfteren gefallen ist, nämlich der Begriff der »Struktur«. Tatsächlich sagt dieser
Wortbestandteil Wesentliches über die Absichten der unter dieses Etikett fallenden Theoretiker:
479The structuralists are distinguished first and foremost by their ardent, powerfully held conviction that there is structure underlying all
human behavior and mental functioning, and by their belief that this structure can be discovered through orderly analysis, that it has
cohesiveness and meaning (…). (Gardner, The Quest for Mind, S. 10)

Allerdings, besonders spezifisch scheint diese im Zitat zum Ausdruck kommende Charakterisierung
auf den ersten Blick nicht zu sein. Würden unter das Etikett »Strukturalisten« nicht auch Theoretiker
wie Parsons, Luhmann, Habermas oder Giddens fallen, die ja ebenfalls mit dem Strukturbegriff
hantiert haben? Die Antwort lautet: »Nein!«, denn Strukturalisten haben ein ganz spezifisches
Verständnis von Struktur.
Parsons – und mit ihm die meisten bisher behandelten Theoretiker – haben sich nicht die Mühe
gemacht, den Strukturbegriff genauer zu klären. Wenn etwa Parsons von »Struktur« sprach, dann war
damit zumeist nicht mehr gemeint als irgendwie ein Bauplan, ein Muster von Teilen, von Teilen also,
die sich zu einem größeren Ganzen zusammenfügen. Und in ähnlich diffuser Weise ist dann der Begriff
in der Soziologie allgemein verwendet worden. Er war und ist zumeist ein Allerweltsbegriff, der für
unterschiedlichste Zwecke verwendet, in allen möglichen Zusammenhängen eingesetzt und genau
deshalb auch selten spezifisch definiert wird: »Stadtstrukturen«, »Strukturen der Lebenswelt«,
»Verkehrsstrukturen«, »Organisationsstrukturen« etc. – alles Begriffe, bei denen der Wortbestandteil
»Struktur« wohl kaum dasselbe bezeichnen dürfte.
Strukturalisten haben demgegenüber ein spezifischeres Verständnis von Strukturen, das sich in
unterschiedlichen (geistes-)wissenschaftlichen Disziplinen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
bei der Beschäftigung mit den Eigenheiten der menschlichen Sprache und des menschlichen Denkens
herausgeschält und entwickelt hat (vgl. Caws, Structuralism. The Art of the Intelligible, S. 11 ff.).
Den eigentlichen, jedenfalls wirksamsten Anstoß für die strukturalistische Bewegung in den
Sozialwissenschaften gaben jedenfalls die Linguisten. Und hier ist zuallererst der Name Ferdinand
de Saussure (1857-1913) zu nennen, der mit seinen postum publizierten Vorlesungen (vgl. seinen
1916 veröffentlichten Cours de linguistique générale; dt.: Grundfragen der allgemeinen
Sprachwissenschaft) innerhalb der Sprachwissenschaften eine Art Revolution des Denkens auslöste,
480die dann auch den französischen Strukturalismus der 1950er und 1960er Jahre und damit die
Sozialwissenschaften in Frankreich zutiefst prägen sollte. Was war nun das Revolutionäre der
Saussureschen Überlegungen, welche Veränderungen hat dieser in Genf wirkende
Sprachwissenschaftler angestoßen, und warum konnte dieses Denken Jahrzehnte später eine derart
große und fächerübergreifende Anhängerschaft gewinnen? Wir müssen uns zunächst dem
Saussureschen Werk zuwenden, wenn wir den darauf aufbauenden sozialwissenschaftlichen
Strukturalismus verstehen wollen.
Die Erforschung der menschlichen Sprache hatte erst im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert eine
systematische und kontinuierliche Form angenommen, wobei ganz überwiegend historisch verfahren
wurde. Sprachwissenschaft wurde vielfach mit historischer Philologie gleichgesetzt, d. h., man war
zuallererst daran interessiert, sprachliche Erscheinungen in den historischen Prozeß einzuordnen, also
zu untersuchen, wie sich Worte mit der Zeit verändert, etwa lateinische Wörter dem Deutschen
angeglichen haben, in welchen Schritten beispielsweise aus dem Althochdeutschen das
Mittelhochdeutsche und dann das Neuhochdeutsche wurde oder wie sich Mutter- und Tochtersprachen
auseinander entwickelt haben. Gerade unter dem Einfluß der (deutschen) Romantik arbeitete man mit
Leitkonzepten wie »Sprachfamilien« oder sprachlichen »Stammbäumen«, um eben die historischen
Wandlungen von Sprache(n) abbilden und als einen organischen Veränderungsprozeß darstellen zu
können.
Saussure und mehr noch seine späteren Bewunderer und Interpreten brachen nun radikal mit einer
solchen historischen Philologie und mit der Vorstellung, daß die historische Sprachbetrachtung
Hauptgegenstand der Linguistik sei. Sie konzentrierten sich vielmehr – wie die Erforscher nicht
schriftlich dokumentierter Sprachen, etwa der der Indianer, schon vorher – auf die Frage, wie eine
einzelne Sprache intern aufgebaut sei und dementsprechend in ihrer stabilen Zuständlichkeit
beschrieben werden könne. Ein, wenn nicht der entscheidende Schritt für diesen neuartigen
Analysefokus war die von Saussure gemachte Unterscheidung zwischen der Rede / dem Sprechen der
Individuen (»la parole«) und der Sprache als einem abstrakten (sozialen) System (»la langue«),
wobei letztere zum eigentlichen Gegenstand seiner Linguistik werden sollte. Die Sprache
481ist ein Schatz, den die Praxis des Sprechens in den Personen, die der gleichen Sprachgemeinschaft angehören, niedergelegt hat, ein
grammatikalisches System, das virtuell in jedem Gehirn existiert, oder vielmehr in den Gehirnen einer Gesamtheit von Individuen; denn die
Sprache ist in keinem derselben vollständig, vollkommen existiert sie nur in der Masse. (Saussure, Grundfragen der allgemeinen
Sprachwissenschaft, S. 16)

Welche Überlegungen steckten hinter dieser für Sie vielleicht gar nicht sonderlich plausiblen
Saussureschen Unterscheidung zwischen »la parole« und »la langue«? Saussure dachte in etwa
folgendermaßen: Wenn ich rede, also einen oder mehrere Laute äußere, dann ist dies ein einmaliges
Ereignis. Denn die Wiederholung des Lautes »Baum« durch mich ergibt nie ein absolut identisches
physikalisches Muster, was man ja durch Schallmeßgeräte nachweisen kann. Dies ist erst recht der
Fall, wenn unterschiedliche Personen das Wort »Baum« aussprechen. Angesichts dieser prinzipiell
immer vorhandenen physikalischen Verschiedenartigkeit eines Lautes stellt sich die Frage, woher wir
wissen, daß mit diesen je unterschiedlichen Schallwellen ein und dasselbe Wort »Baum« gemeint ist?
Einfach dadurch – so Saussure –, daß wir als Hörer eine Art Hypothese aufstellen, durch die wir
einen aktuellen physikalischen Laut mit einem ideellen Lautbild (dem Bezeichnenden oder
Signifikanten) in Zusammenhang bringen, von dem wir gleichzeitig wissen, daß mit ihm eine
Vorstellung von einem Stamm mit Ästen und Blättern bzw. Nadeln verbunden ist (hier spricht
Saussure vom Bezeichneten bzw. vom Signifikat). Die Verbindung von Vorstellung und Lautbild, also
von Signifikat und Signifikant, nennt Saussure nun »Zeichen« (a.a.O., 134 ff.). Ein Zeichen ist also ein
immaterielles Gebilde, bestehend aus einem Signifikanten und einem (begrifflichen) Signifikat, wobei
das Signifikat auf die Idee des Baumes verweist und umgekehrt der Signifikant wieder auf das
Lautbild.
Bei der notwendigen Erläuterung der Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat wendet sich
nun Saussure massiv gegen das sogenannte Repräsentationsmodell der Sprache, gegen die
Vorstellung einer quasi-natürlichen Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat. Aus dem Klang
eines Wortes – so Saussure – kann ich nämlich keinesfalls seine Bedeutung erschließen. Umgekehrt
gibt es auch keine präexistenten Ideen, aus denen der Klang eines Wortes quasi natürlich erwachsen
würde. Saussure ist vielmehr der Auffas482sung, daß der Signifikant gegenüber dem Signifikat (dem
Begriff) völlig unabhängig, oder allgemeiner: daß der Signifikant dem Begriff beliebig oder
willkürlich zugeordnet sei! Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Die zweisilbige Lautäußerung
»Fahrzeug« hat nichts mit der begrifflichen Vorstellung eines sich auf Rädern bewegenden
Gegenstandes zu tun, was man schon daran sieht, daß in anderen Sprachen wie dem Englischen der
Lautkomplex zur Bezeichnung der gleichen Begrifflichkeit ein ganz anderer ist (»vehicle« etc.).
Welcher Signifikant dabei welchem Signifikat zugeordnet wird, hängt natürlich nicht vom einzelnen
Sprecher ab, sondern ist eine Frage der Konvention: Sprachen haben eine Geschichte; irgendwann hat
sich ein bestimmtes Zeichen mit einer bestimmten Bedeutung »eingebürgert« – Sprache ist, wie
Saussure immer wieder betont, sozialer Natur!
Die Sprache ist von allen sozialen Einrichtungen diejenige, welche am wenigsten zur Initiative Gelegenheit gibt. Sie gehört unmittelbar mit
dem sozialen Leben der Masse zusammen, und diese ist natürlicherweise schwerfällig und hat vor allem eine konservierende Wirkung.
(Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 86)

Die Immaterialität des Zeichens und die Tatsache, daß Sprache ein System von Zeichen ist, die auf
Konventionen basieren, rechtfertigen nun die von Saussure vorgenommene Trennung zwischen
Sprache (»la langue«) und dem je individuellen Sprechen (»la parole«). Sprache existiert ja ganz
offensichtlich unabhängig von individuellen Sprechern; sie weist vielmehr der Rede erst ihre
Funktion zu. Denn nur dadurch, daß Sprache ein stabiles, wenn auch immaterielles Zeichensystem ist
(Saussure wird sagen, daß die Sprache eine Form und keine Substanz sei), können wir den
Lautäußerungen in ihrer je unterschiedlichen physikalischen Ausprägung eine feste Bedeutung geben,
können wir immer wieder sprechen und uns sicher sein, daß wir gleiche Bedeutungen produzieren.
Die Schlußfolgerung, die Saussure aus all diesen Vorüberlegungen zieht, vor allem aus der
Behauptung der beliebigen Zuordnung des Signifikanten zum Signifikat, ist nun, daß sich sprachliche
Zeichen nicht durch sich selbst definieren, sondern nur im Zusammenhang mit anderen Zeichen
bestimmt werden können. Dies gilt für Wörter ebenso wie für Laute: In Wortfeldern einer bestimmten
Sprache, die etwa zwischen »glauben«, »meinen«, »wissen«, »vermu483ten«, »denken«
unterscheidet, weist ein Wort dem anderen seine Bedeutung zu, denn wenn ein Wort fehlen würde,
dann »würde sein ganzer Inhalt seinen Konkurrenten zufallen« (a.a.O., S. 138). Nur dadurch also, daß
wir Alternativen zum Wort »glauben« haben, wird diesem Wort eine ganz spezifische Bedeutung
zugewiesen, denn »glauben« hat dann eine leicht andere Bedeutung als »wissen« oder »denken«.
Der gleiche Aspekt läßt sich noch deutlicher an einem Beispiel aus der Phonologie darstellen: Der
Mensch hat einen Artikulationsapparat (Stimmbänder, Zunge, Lippen etc.), der zu einer schier
unendlichen Vielfalt von Lauten fähig wäre. Tatsächlich nutzt aber jede Sprache nur einen geringen
Teil aller möglichen Lautbilder: Manche Sprachen nutzen nasale Lautbilder, manche mehr das
stimmlose als das stimmhafte »s«; das »th« ist im Deutschen unbekannt, was jedem erwachsenen
Deutschen schmerzlich ins Bewußtsein gerät, wenn er in der Volkshochschule Englisch lernt und dann
über diesen schwierig auszusprechenden Laut stolpert; und offensichtlich haben – darauf deuten
zumindest viele »Chinesenwitze« hin – Menschen aus dem »Reich der Mitte« Probleme, das deutsche
»r« richtig auszusprechen, weil ihnen die Opposition zwischen »l« und »r« nicht geläufig ist. Insofern
läßt sich sagen, daß die Struktur einer Sprache eine gewisse Logik aufweist, weil in bestimmten
Sprachen nur bestimmte Lautkombinationen möglich sind, andere dagegen nicht, weil nur bestimmte
Differenzen erkannt werden, andere nicht. Auch die phonologische Eigenheit einer Sprache erschließt
sich also nicht durch eine Untersuchung einzelner Laute, sondern nur durch eine Analyse der
Differenzen und der Kombinatorik der einzelnen Phoneme (der einzelnen bedeutungstragenden
Lautpartikel; a.a.O., S. 142).
Bedeutungen von Wörtern und einzelnen Lautbildern ergeben sich demnach nicht durch das Zeichen
an sich, sondern durch in einzelnen Sprachen jeweils unterschiedlich bestimmte Differenzen zwischen
den Wörtern einer bestimmten Wortgruppe oder den Oppositionen zwischen Lauten. Wir müssen
Wörter (und Laute) unterscheiden, um sie überhaupt erst bestimmen zu können! Ein Wort/Laut hat nur
in Abgrenzung, in der Differenz zu anderen Wörtern/Lauten eine Bedeutung. Um Sprache zu
verstehen, muß man deshalb relational, in Kategorien von Beziehungen denken, womit wir schon
beim Begriff der Struktur wären, auch wenn Saussure 484selbst, der lieber von einem »System der
Sprache« redete, diesen Begriff so nicht verwendete.

Mit der These der Beliebigkeit der Beziehung zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat (und
damit der Beliebigkeit des Zeichens insgesamt) und mit der Aussage, daß Sprache ein Zeichensystem
sei, das sich nur durch die Analyse der Relationen zwischen den Zeichen aufschlüsseln lasse, schien
sich nun – und dies erklärt zum Teil die Begeisterung, mit der man den Saussureschen Ideen innerhalb
und außerhalb der Linguistik folgen sollte – eine Möglichkeit zu ergeben, die Linguistik (bzw. dann
die Sozialwissenschaften) auf strikt wissenschaftliche Bahnen zu lenken. Denn unter diesen Prämissen
läßt sich Sprache, eben weil man nicht auf die immer problematische und umstrittene
Bedeutungsgebung von Subjekten achten muß, sondern nur auf die Relationen von Signifikanten, die
erst Bedeutungen konstituieren, in höchst objektiver und wissenschaftlicher Weise untersuchen. Allein
durch die objektive Analyse der Kombination der Signifikanten läßt sich – so die Annahme – die den
Sprechern oder Subjekten unbewußte Struktur der Sprache darstellen, läßt sich zeigen, wie sich
überhaupt erst Bedeutungen konstituieren. Oder anders formuliert: Saussures Ansatz betonte die
Vorrangigkeit eines objektiv zu beschreibenden, untergründigen Systems, dessen Analyse zwar zu den
Bedeutungen führt, die selbst aber nur Oberflächenerscheinungen und von daher nur von sekundärer
Relevanz sind – eine Position, gegen die sich Sartre in seiner Auseinandersetzung mit der Linguistik
immer vehement gewehrt hatte (vgl. nochmals Das Sein und das Nichts, z. B. S. 880).
Mit den Saussureschen Anstößen schien sich – diese Konsequenz wurde allerdings erst später
gezogen – die Sprachwissenschaft zu einer »harten«, nahe an den Naturwissenschaften angesiedelten
Disziplin wandeln zu können. Denn die Linguistik mußte – falls die Saussureschen Prämissen
stimmten – nicht mehr historische Wissenschaft sein mit allen Deutungsproblemen, denen Historiker
und Geisteswissenschaftler immer ausgesetzt sind, sondern sie konnte scheinbar objektives, ja quasi-
naturwissenschaftliches Wissen produzieren. Oder allgemeiner ausgedrückt: Die Linguistik schien
nicht mehr hermeneutisch verfahren zu müssen! Die Hermeneutik (vgl. unsere Neunte Vorlesung,
S. 291ff.) gründet ja auf der Einsicht, daß symbolische Ordnungen nur durch Deutungen
aufzuschlüsseln 485sind, die allerdings – aufgrund der unvermeidlichen Tatsache von stetigen
Neuinterpretationen – nie zu einem endgültigen Ergebnis und damit zu einem Ende des
Interpretationsprozesses führen. Die strukturale Linguistik schien dieses hermeneutische »Problem«
der Unabgeschlossenheit der Deutung umgehen zu können, glaubte man doch, sprachliche Systeme
objektiv und damit endgültig zu »erklären«. Ein wissenschaftlicher Traum schien sich zu
verwirklichen, dem zufolge sich die Strukturen der Sprache bis ins Detail durchdringen und damit die
Prozesse der Entstehung von Bedeutung aufschlüsseln lassen – und zwar ohne daß man das
eigentlich bedeutungsverleihende (Sprach-)Subjekt analysieren müßte. Der Weg schien geebnet, um
– und hier sind wir wieder bei der oben dargebotenen Interpretation, wonach das französische
Geistesleben stets zwischen einem radikalen Subjektivismus und einem radikalen Anti-
Subjektivismus schwankte – das (sinngebende) Subjekt »loszuwerden« (Dosse, Geschichte des
Strukturalismus, Band I, S. 89).

Die Saussuresche (strukturale) Methode fand sehr schnell Anhänger; sie wurde von Linguisten in
anderen Ländern – allerdings mit gewissen Modifikationen – aufgegriffen und weckte insgesamt ein
breites Interesse auch für nicht-sprachliche Zeichensysteme. Denn Sprache ist ja nur ein
Zeichensystem unter anderen, und warum sollten andere derartige Systeme (das
Taubstummenalphabet, symbolische Riten, Höflichkeitsformen, militärische Signale) nicht mit einem
ähnlichen wissenschaftlichen Instrumentarium durchdrungen werden? Schließlich hatte schon
Saussure genau diese Ansicht vertreten und eine allgemeine Lehre von den Zeichen (die er
»Semeologie« oder Semiologie nannte, vgl. Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft,
S. 19) anvisiert! So konnte es nur eine Frage der Zeit sein, bis auch Sozialwissenschaftler – fasziniert
von dieser Art des Denkens – genau diese Idee aufgriffen und die strukturale Methode auch auf nicht-
sprachliche Zeichensysteme, eben geregelte gesellschaftliche Verhältnisse, anwandten.
Hierbei wurde vor allem eine Figur für Frankreich zentral und später auch als »Vater des
Strukturalismus« bezeichnet, nämlich der Ethnologe und Soziologe Claude Lévi-Strauss. Er übertrug
das Denkmodell der strukturalen Linguistik auf die Ethnologie bzw. Soziologie und entwickelte ein
Verständnis von »Strukturen«, wie es in dieser Form in den Sozialwissenschaften neuartig war, ein
Ver486ständnis, das Ihnen vielleicht klarer wird, wenn Sie das obige Zitat von S. 479 nochmals
genauer lesen. Dort hieß es: Es gehe den Strukturalisten um Strukturen, die allem Verhalten und allen
mentalen Funktionen (»all human behavior and mental functioning«) zugrunde liegen. Lévi-Strauss
verfolgte genau dieses Programm und machte sich in enorm ambitionierter Weise auf die Suche nach
den unbewußten Strukturen des menschlichen Geistes und der menschlichen Kultur.

Claude Lévi-Strauss (1908-2009) wurde in Brüssel geboren und wuchs dort in einer jüdisch-
französischen Intellektuellenfamilie auf. Er studierte an der Sorbonne Philosophie und Recht, wandte
sich jedoch bald der Ethnologie und Soziologie zu, woraufhin ihm dann eher zufällig ein Posten als
Professor für Soziologie an der Universität in São Paulo, Brasilien, angeboten wurde. Lévi-Strauss
nahm dieses Angebot 1934 an und organisierte nach Beendigung seiner Lehrtätigkeit in den Jahren
1938-39 eine Expedition nach Zentralbrasilien, auf der sich ihm die Gelegenheit zu Feldstudien über
die Nambikwara- und Tupi-Kawahib-Indianer bot. 1939 kehrte er wieder nach Frankreich zurück, um
seinen Wehrdienst abzuleisten, mußte das Land aber nach dem Sieg Nazi-Deutschlands im Frühjahr
1941 wieder verlassen. Er ging nach New York, wo er unter anderem in Kontakt mit bedeutenden
amerikanischen Anthropologen wie Franz Boas (1858-1942) kam und Freundschaft schloß mit einem
aus Rußland stammenden berühmt werdenden Linguisten, Roman Jakobson (1896-1982), der als
erster das Wort »Strukturalismus« benutzte und ihn in ein neues Wissensgebiet, nämlich die
strukturale Linguistik, einführte. Zwischen 1945 und 1947 war Lévi-Strauss dann Kulturattaché beim
französischen Botschafter in Washington, bevor er – auf seine brasilianischen Feldforschungen
zurückgreifend – Ende der 1940er Jahre mit zwei ethnologischen Büchern an die Öffentlichkeit trat,
so 1949 mit Les structures élémentaires de la parenté (dt.: Die elementaren Strukturen der
Verwandtschaft), dem Geburtsdokument der strukturalen Anthropologie. Mit weiteren gewichtigen
Veröffentlichungen – unter anderem einem höchst einflußreichen und auch literarisch brillanten
Reisebericht aus dem Jahre 1955 über seine Brasilien-Erfahrungen mit dem Titel Tristes Tropiques
(dt.: Traurige Tropen) – erklomm er schnell die wissenschaftliche Karriereleiter und wurde
schließlich 1959 auf den 487Lehrstuhl für Sozialanthropologie am berühmten Collège de France, der
französischen Bildungsinstitution schlechthin, berufen. Es folgen eine Reihe von weiteren wichtigen
Veröffentlichungen, von denen nicht wenige eine erhebliche Ausstrahlung auf die benachbarten
Sozialwissenschaften haben sollten, und vielfältige Ehrungen, so unter anderem die Wahl zum
Mitglied der Académie française im Jahre 1973, bevor Lévi-Strauss dann 1982 am Collège de
France emeritiert wurde.

Liest man das erste große und bald berühmt gewordene Buch von Lévi-Strauss, Die elementaren
Strukturen der Verwandtschaft, so kann man selbst heute noch nachvollziehen, welches Beben dieses
Werk in Teilen der französischen Sozialwissenschaften ausgelöst haben muß. Als eine Mischung aus
philosophischer Reflexion über das Verhältnis von Kultur und Natur, detailgenauen ethnographischen
Beschreibungen hochkomplexer Verwandtschaftsstrukturen und elegantem strukturalistischen
Theorieangebot, das diese Komplexität zu durchdringen beansprucht, übt dieser Text noch immer eine
eigenartige Faszination aus, selbst wenn man weiß, daß so manche der von Lévi-Strauss vorgelegten
Thesen seither von Ethnologen überzeugend zurückgewiesen worden sind.
Schon der Titel des Buches ist in gewisser Weise eine Provokation, zumindest zeugt er nicht gerade
von einem mangelnden Selbstbewußtsein des Verfassers. Denn wie Sie vielleicht bemerkt haben, ist
er an Durkheims berühmtes Spätwerk Die elementaren Formen des religiösen Lebens angelehnt.
Dabei gibt sich Lévi-Strauss durchaus nicht als orthodoxer Durkheimianer. Im Gegenteil, die
Durkheimsche Interpretation des Inzesttabus etwa wird von ihm dezidiert zurückgewiesen. Lévi-
Strauss greift aber den Text eines berühmten Durkheim-Schülers auf, des schon genannten Marcel
Mauss, dessen Schrift Essai sur le don (1923/24; dt.: Die Gabe. Form und Funktion des
Austausches in archaischen Gesellschaften) auf die überragende Bedeutung des Gabentausches für
das Funktionieren von Gesellschaften hingewiesen hatte. Das Geben, Annehmen und Erwidern von
Geschenken waren laut Mauss, übrigens ein Neffe Durkheims, die wichtigsten Mechanismen, durch
welche in archaischen Gesellschaften Solidarität gestiftet werden konnte. Denn Schenken – in
welcher Form auch immer – sei eine Möglichkeit, um Gegenseitigkeit herzustellen, weil aus
Geschenken Erwartungen und Verpflich488tungen resultieren, die Menschen dann aneinander binden.
Wie konnte sich nun Lévi-Strauss diesen Gedanken von Marcel Mauss zunutze machen, da er doch mit
einem scheinbar völlig anderen Thema beschäftigt war, den Verwandtschaftsstrukturen?
Lévi-Strauss’ Argumentation verläuft über zwei Schritte. Zunächst behauptet er, der Unterschied
zwischen Natur und Kultur liege darin, daß in der Natur Regeln und Normen fehlen: Erst die
Schaffung von (sprachlich vermittelten) Regeln und Normen ermögliche die Kulturentwicklung, erst
durch Normen und Regeln werde der Mensch zum Kulturwesen. »Das Fehlen von Regeln scheint uns
das zuverlässigste Kriterium zu sein, um einen natürlichen Prozeß von einem kulturellen Prozeß zu
unterscheiden.« (Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, S. 51) Lévi-Strauss wird deshalb
sagen, daß alles, was beim Menschen universal ist, zum Bereich der Natur gehört, und alles, was
einer je spezifischen Norm oder Regel unterliegt, zur Kultur. Die Rolle der Kultur bestehe darin,
Zufall durch (geregelte) Organisation zu ersetzen und damit die Existenz der Gruppe als Gruppe zu
sichern (a.a.O., S. 81). Mit dieser an sich so klaren und auch nachvollziehbaren Aussage stößt man
jedoch – wie Lévi-Strauss erkennt – auf ein Problem, wenn man sich einem Phänomen nähert, das die
Anthropologen und auch Durkheim seit jeher fasziniert hat, nämlich dem Inzestverbot. Denn dieses ist
gewiß einerseits eine Regel, die in dieser Striktheit im Tierreich nicht zu beobachten ist, andererseits
laut Lévi-Strauss universal, d. h. in jeder Kultur vorhanden:
Es handelt sich hier also um ein Phänomen, das sowohl das Hauptmerkmal der Natur als auch das – zum vorhergehenden theoretisch im
Widerspruch stehende – Hauptmerkmal der Tatsachen der Kultur aufweist. Das Inzestverbot besitzt sowohl die Universalität der Triebe
und Instinkte als auch den zwingenden Charakter der Gesetze und Institutionen. Woher kommt es also, und welches ist seine Stellung und
seine Bedeutung? (Lévi-Strauss, a.a.O., S. 55)

An dieser Stelle macht sich Lévi-Strauss den bei Marcel Mauss zu findenden Gedanken über die
Austauschverhältnisse in archaischen Gesellschaften zunutze. Denn das Inzestverbot, also das Verbot
von Heiraten innerhalb einer bestimmten Verwandtschaftsgruppe, bedeutet positiv doch gleichzeitig,
daß »nach außen« geheiratet wird. Es wird also ein Mann oder eine Frau an eine andere Gruppe
weiter489gegeben, sie müssen dort einheiraten, weil das Inzestverbot die Heirat innerhalb der
Gruppe nicht gestattet. Das Inzestverbot ist somit ein Zwang zur »Exogamie« und garantiert, daß
Menschen zwischen Gruppen »getauscht« werden! Lévi-Strauss meint deshalb, daß
Verwandtschaftsstrukturen, die ja auf jenem universalen Inzestverbot aufbauen, in ähnlicher Weise
gedeutet werden können wie die Gabe bzw. der ökonomische Austausch. Immer wird Gegenseitigkeit
gestiftet, ein Band der Solidarität hergestellt, zumal auch deshalb, weil Menschen und besonders
Frauen durch ihre Arbeitskraft ein ökonomisches Gut darstellen: Indem die Männer auf die Frauen in
ihrer Gruppe verzichten, eröffnen sie sich gleichzeitig einen umfassenderen »Heiratspool«. D. h., sie
können auf den Zustrom »auswärtiger« Frauen und damit Arbeitskraft hoffen und zugleich
Solidaritäts- und Gegenseitigkeitsbeziehungen zu anderen Gruppen herstellen. Bei bestimmten,
besonders klaren Verwandtschaftsstrukturen, die dem sogenannten »verallgemeinerten Tausch«
entsprechen, sieht das dann so aus:
Der verallgemeinerte Tausch begründet ein System mit befristeten Operationen. A tritt eine Tochter oder Schwester an B ab, der eine
Tochter an C abtritt, der wiederum eine Tochter an A abtritt. Dies ist die einfachste Formel. Im verallgemeinerten Tausch ist also immer
(und zwar um so mehr, je zahlreichere Zwischenglieder der Zyklus erheischt, und wenn sich dem Hauptzyklus sekundäre Zyklen
hinzugesellen) ein Element des Vertrauens im Spiel. Man muß darauf vertrauen, daß der Zyklus sich schließen wird und daß eine
abgetretene Frau letztlich, obwohl mit Verzögerung, durch eine erhaltene Frau wettgemacht wird. (Lévi-Strauss, a.a.O., S. 373)

Das Inzesttabu und die Exogamieregel weisen also für Gruppen eine klare Funktionalität auf. Weil sie
Verbindungen zwischen verschiedenen Gruppen herstellen, wirken sie auch integrierend. Lévi-Strauss
behauptet damit gleichzeitig, daß die Heirat buchstäblich als eine Form des Tausches anzusehen ist:
Weil die Heirat Tausch ist, weil die Heirat der Archetypus des Tauschs ist, kann die Analyse des Tauschs zum Verständnis jener
Solidarität beitragen, welche die Gabe mit der Gegengabe und eine Heirat mit anderen Heiraten vereint. (Lévi-Strauss, a.a.O., S. 645)

Ja mehr noch, das Verwandtschaftssystem sei wie das von Marcel Mauss analysierte System des
Gabentausches ein Zeichensystem, das wie die Sprache untersucht werden könne – mit den im
Prinzip glei490chen Methoden, wie sie die strukturale Linguistik zuerst entwickelt habe. Lévi-Strauss
beansprucht damit zugleich, die von Gesellschaft zu Gesellschaft völlig unterschiedlichen
Verwandtschaftsstrukturen auf elementare Prinzipien zurückzuführen, so wie Saussure versucht hatte,
die Komplexität der menschlichen Rede durch Aufweis der ideellen Struktur der Sprache (»la
langue«) durchsichtig zu machen. Ja, Lévi-Strauss geht sogar noch weiter: Alle diese Zeichensysteme
– seien es nun Sprachen, Verwandtschaftssysteme oder Systeme des archaischen Gabentausches –
würden letztlich einer bestimmten Logik folgen, die dem menschlichen Geist inhärent sei! Wenn wir
dieser Logik auf die Spur kämen, dann hätten wir Lévi-Strauss zufolge auch den Schlüssel zur
Analyse von Symbolisierungen jeglicher Art. Er war der Überzeugung,
daß eine innere Logik die unbewußte Arbeit des menschlichen Geistes leitet, sogar in denjenigen seiner Schöpfungen, die man lange Zeit
für die willkürlichsten gehalten hat, und daß sich die Methoden, die auf ihn anzuwenden sind, nicht wesentlich von denen unterscheiden,
die gewöhnlich dem Studium der physikalischen Welt vorbehalten werden. (Lévi-Strauss, a.a.O., S. 317)
Wie der menschliche Geist nach seiner Auffassung funktioniert, das macht Lévi-Strauss schon in den
Elementaren Strukturen der Verwandtschaft deutlich, auch wenn dieser Aspekt erst in seinem
späteren Werk so richtig zum Ausdruck kommen sollte. Der menschliche Geist sei nämlich »binär«
strukturiert, er »arbeite« mit Oppositionen – eine Auffassung, die Lévi-Strauss von seinem Freund,
dem Linguisten Roman Jakobson, übernommen hat. Dieser hatte die gegenüber dem Saussureschen
Werk modifizierte These vertreten, daß sich die Sprache nicht nur durch eine klar zu bestimmende
Struktur auszeichne, sondern daß diese eine binäre Struktur sei: Sprache könne man aufschlüsseln,
insofern sie sich durch Oppositionen auszeichne, durch Oppositionen zwischen Konsonanten und
Vokalen, die dumpf oder spitz, laut oder leise usw. sind und in den jeweiligen Sprachen nach ganz
bestimmten Regeln einander gegenübergestellt werden. Letztlich – so die Schlußfolgerung von Lévi-
Strauss – würden auch soziale Zeichensysteme wie das Verwandtschaftssystem und dasjenige des
Gabentausches auf dieser Opposition beruhen, wie sich etwa durch die Unterscheidung zwischen
»innen« und »außen« (bei der Endogamie bzw. Exogamie) 491oder zwischen Geben und Nehmen
(beim Gabentausch und der darauf beruhenden Reziprozität) zeigen würde. Lévi-Strauss meinte
deshalb, daß man zwar vielleicht nicht sagen könne, daß
»die menschlichen Gemeinschaften die Tendenz haben, automatisch und unbewußt nach strengen mathematischen Regeln in absolut
symmetrische Elemente zu zerfallen« (James G. Frazer), aber man wird vielleicht einräumen müssen, daß die Dualität, die Alternanz,
der Gegensatz und die Symmetrie, ob sie sich nun in genau umrissenen oder in verschwommenen Formen zeigen, nicht so sehr
Phänomene sind, die es zu erklären gilt, als vielmehr die fundamentalen und unmittelbaren Gegebenheiten der geistigen und
sozialen Realität, und daß man in ihnen die Ausgangspunkte jeglichen Erklärungsversuchs zu sehen hat. (Lévi-Strauss, a.a.O.,
S. 215; unsere Hervorh.)

Die Dualität als Grundstruktur der Verwandtschaftsbeziehungen sei zwar funktional für Gruppen, aber
sie sei nicht deshalb in der Realität zu beobachten, weil sie funktional ist, sondern weil sie die
›Grundstruktur des menschlichen Geistes‹ (a.a.O., S. 136) zum Ausdruck bringe. Es seien die
Strukturen des Geistes, welche unbewußt die Geschichte der Menschen in bestimmte Bahnen lenkten.
Natürlich gebe es kontingente, also nicht vorhersehbare Ereignisse in der Geschichte der Menschheit,
etwa Wanderungen von Indianerstämmen, hervorgerufen durch Katastrophen, politische
Verwerfungen, ökonomische Notlagen etc.: »Das allgemeine Ergebnis jedoch beweist die Existenz
von Integrationskräften, die nicht von derartigen Bedingungen abhängen und unter deren Einfluß
die Geschichte zum System tendiert.« (a.a.O., S. 138; unsere Hervorh.)
Lévi-Strauss wird diese Analyseform im Lauf der Zeit weiterentwickeln, vor allem die Idee der
binären Struktur aller menschlichen Kulturformen auch an anderen »Gegenständen«, nicht nur dem
Verwandtschaftssystem, erproben. Mehrere seit Mitte der 1960er Jahre erscheinende Bände mit dem
Titel »Mythologica« widmen sich beispielsweise der strukturalen Analyse von Mythen, wobei schon
der Untertitel des ersten Bandes, Das Rohe und das Gekochte, auf die These der Binarität des
menschlichen Geistes verweist, hier insbesondere auf den Gedanken, daß die »Küche« eine wichtige
Trennlinie von Natur und Kultur sei.
Aber nicht die Ergebnisse dieser extrem schwierigen Bücher, die selbst immer mehr nach
ästhetischen Prinzipien komponiert und wie Mythen angelegt werden, sollen uns hier interessieren.
Wir wol492len vielmehr nochmals auf den theoretischen Hintergrund von Lévi-Strauss’
Gedankenwelt zurückkommen, der Ihnen verdeutlichen soll, warum das strukturalistische Denken eine
solche Faszination auf die Zeitgenossen ausüben konnte.
Lévi-Strauss hat sicherlich auf die französische Geisteswelt auch durch die »romantischen« Motive
gewirkt, die in seinen Werken immer wieder zum Vorschein kommen. Er hat nie seine Bewunderung
für Jean-Jacques Rousseau verleugnet und gerade in seinen späteren Werken das archaische oder
»das wilde Denken« (so hieß auch der deutsche Titel eines seiner Bücher) zu einer Art (besseren)
Alternative zur westlich-wissenschaftlichen Rationalität erklärt (vgl. zu den romantischen Elementen
im Lévi-Strausschen Werk Axel Honneth, »Ein strukturalistischer Rousseau. Zur Anthropologie von
Claude Lévi-Strauss«). Dies allein sicherte ihm die Aufmerksamkeit derjenigen Intellektuellen, die an
dieser westlichen Zivilisation und ihren zum Teil problematischen Folgen litten. Traurige Tropen
etwa – jener schon erwähnte literarische Reisebericht – ermöglichte in der weltpolitischen Epoche
der Entkolonialisierung und eines zunehmend schlechten Gewissens wegen des Kolonialismus in
ausdrucksstarken Bildern den Blick in eine andere, bald untergehende archaische Welt, die vielen
Intellektuellen als eine Art Utopieersatz dienen konnte. Aber diese romantischen Aspekte in Lévi-
Strauss’ Werk waren nur die eine Seite. Daneben war auch eine – scheinbar damit kontrastierende –
szientifische Seite unverkennbar.
Lévi-Strauss betonte nämlich immer wieder, daß zu seinen Wurzeln und Vorbildern die strukturale
Linguistik und auch Marx zählten: Das Studium der Sprache, so wie es etwa Saussure gefordert habe
(vgl. Strukturale Anthropologie II, S. 18), und das Werk Marx’ hätten ihm die Bedeutung der
untergründigen Strukturen nahegebracht, die es zu begreifen gelte, damit Oberflächenphänomene
überhaupt erklärt werden könnten. »Untergründig« heißt in bezug auf die Sozialwissenschaften, daß
Strukturalisten wie Lévi-Strauss nach Strukturen suchen, die den Menschen nicht bewußt sind.
Daraus folge dann unmittelbar, daß man Kultur auch ohne Rückgriff auf die Subjekte und deren
Deutungen erklären könne. Ja, man müsse dies sogar: Wie Lévi-Strauss immer wieder hervorhebt,
widersprechen die Vorstellungen der Eingeborenen hinsichtlich des Funktionierens ihrer Gesellschaft
nur allzu häufig der tatsächlichen Organisationsweise (vgl. etwa Strukturale Anthropologie I,
S. 146). 493Dies sei aber kein Problem, denn die Ethnologie definiere sich genau über dieses
Aufdecken unbewußter Strukturen, ja gewinne gerade »ihre Originalität aus der unbewußten Natur der
kollektiven Phänomene« (a.a.O., S. 32). Und genau dieses Aufspüren des Unbewußten durch die
strukturale Analyse sichere die Wissenschaftlichkeit der Ethnologie. Es gelte also für die Ethnologie
und Soziologie, sich an der strukturalen Linguistik zu orientieren, die es innerhalb der Sozial- und
Geisteswissenschaften bisher am ehesten geschafft habe, sich den Naturwissenschaften anzunähern:
(…) von allen Sozial- und Humanwissenschaften läßt sich allein die Linguistik auf die gleiche Ebene wie die exakten und
Naturwissenschaften stellen. Und zwar aus drei Gründen: a) sie hat einen universellen Gegenstand, nämlich die artikulierte Sprache, die
keiner menschlichen Gruppe fehlt; b) ihre Methode ist homogen; anders gesagt, sie bleibt sich gleich, auf welche besondere Sprache sie
auch angewandt wird: sei sie modern oder archaisch, ›primitiv‹ oder zivilisiert; c) diese Methode basiert auf einigen Grundprinzipien,
deren Gültigkeit die Spezialisten einhellig (trotz nebensächlicher Divergenzen) anerkennen. (Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie II,
S. 336)

Es war dieser (natur-)wissenschaftliche Impuls, der wesentlich mehr noch als die romantischen
Motive die Attraktivität des Lévi-Straussschen Strukturalismus ausmachte. Lévi-Strauss traf
offensichtlich einen Nerv des damaligen französischen Geisteslebens, als er mit dieser Theorie gegen
die »unwissenschaftliche« Phänomenologie und den Existentialismus polemisierte, die alle von der
Erfahrung des Individuums ausgingen und – befangen in der »Illusion der Subjektivität« – meinten,
damit irgend etwas erklären zu können. Lévi-Strauss dagegen war der Auffassung, »daß man, um zum
Realen zu gelangen, zunächst die Erfahrung verwerfen muß, um sie später in einer objektiven, von
jeder Sentimentalität gereinigten Synthese wieder zu integrieren« (Traurige Tropen, S. 51). Sartres
Existentialismus kritisiert er deshalb als eine Art extremen Cartesianismus, der nur vom eigenen Ich
her denkt und gerade deswegen in einer Reihe von Vorurteilen gefangen bleibt (Das wilde Denken,
S. 282 ff.). Mit dieser kritischen Charakterisierung des Sartreschen Werks liegt Lévi-Strauss nicht
ganz schief. Aber seine Lösung der Probleme der Sartreschen Philosophie besteht nicht in der
Hinwendung zu Theoretikern oder Theorien der Inter-Subjektivität, sondern – genau jenen
Pendelschlag zum schon erwähnten Anti-Subjektivismus vollziehend – in 494der Leugnung jeglicher
Subjektivität zugunsten der Suche nach objektiven Strukturen des Geistes, Strukturen also, die
durch die Subjekte hindurch, ohne ihr Zutun, wirken und die menschliche Gesellschaft und ihr Werden
determinieren. Ein Denken war geboren, das echte, bisher nicht für möglich gehaltene
Wissenschaftlichkeit bei der Analyse verschiedenster Bereiche des sozialen Lebens versprach. Die in
Lévi-Strauss’ Arbeiten propagierte Idee intentionsfreier Zeichensysteme verströmte die Aura strikter
Objektivität und stellte die volle Verwissenschaftlichung der Humanwissenschaften in Aussicht. Seine
Ideen wurden daher dankbar aufgegriffen: Wenn es möglich war, Verwandtschaftssysteme,
ökonomische Systeme und Mythen als Zeichensysteme zu begreifen, warum sollte es dann nicht auch
möglich sein, die strukturale Methode auf alle sozialen Phänomene anzuwenden? Konnten nicht
sämtliche sozialwissenschaftlichen Disziplinen auf die strukturale Analysemethode verpflichtet
werden?
Tatsächlich wurde dies versucht, als die strukturalistische Bewegung Mitte der 1960er Jahre ihren
Höhepunkt erreichte. Die Strukturalisten schafften es – zumindest was ihre Öffentlichkeitswirksamkeit
betraf – die Nichtstrukturalisten zunehmend zu verdrängen, und zwar derart, daß zugegebenermaßen
starke Strukturalismus-Kritiker wie Alain Touraine davon sprachen, daß Paris in den 1960er Jahren
von den Strukturalisten »besetzt« worden sei. Wenn dies auch übertrieben erscheinen mag, so ist doch
auffallend, daß der Strukturalismus allgegenwärtig zu sein schien. In der Psychoanalyse war der
Aufstieg Jacques Lacans (1901-1981) und seiner Schüler zu beobachten, welche die Freudsche
Theorie einer besonderen, nämlich strukturalistischen Lesart unterzogen; in Philosophie, Soziologie
und Politikwissenschaft machten sich Theoretiker wie Louis Althusser (1918-1990) und Nicos
Poulantzas (1936-1979) daran, das Werk Marx’ neu zu interpretieren und dabei alle ihres Erachtens
nicht-wissenschaftlichen Elemente auszuscheiden, indem sie – dies traf besonders auf den ersteren zu
– den späteren, angeblich wissenschaftlichen, nämlich strukturell argumentierenden Marx der Kritik
der politischen Ökonomie gegen den philosophierenden und anthropologisierenden frühen Marx
ausspielten. Roland Barthes (1915-1980) wurde der große und sensible strukturalistische
Kulturtheoretiker, der die Massenkultur Frankreichs analysierte (Mythologies von 1957; dt.: Mythen
des Alltags); und das strukturalistische Denken wurde schließlich sogar in der
Geschichtswissenschaft heimisch, nämlich in 495Gestalt des uns sogleich beschäftigenden
(historisierenden) Philosophen Michel Foucault. Die Ausstrahlung dieser Figuren auf das
Geistesleben Frankreichs war enorm, sie dominierten den französischen Diskussionskontext und
wurden mit der Zeit auch zu Intellektuellen von Weltgeltung, dann nämlich, als – mit einiger
Verspätung – der Strukturalismus in andere Länder »überschwappte«. Allerdings, die Blütezeit dieses
»ursprünglichen« oder »klassischen« Strukturalismus währte nicht allzu lange. Spätestens Ende der
1970er Jahre begann sein Stern zu sinken, was auch mit den persönlichen Tragödien der genannten
Personen verknüpft war: Poulantzas beging 1979 durch einen Sprung aus dem Fenster Selbstmord;
Barthes wurde von einem Auto überfahren und starb im März 1980; Althusser erwürgte im November
1980 seine Ehefrau und wurde in die Psychiatrie eingeliefert; Lacan – an einer Störung des
Sprachzentrums erkrankt – starb im September 1981. Und Foucault erlag 1984 dem HIV-Virus. Das
gleichzeitige tragische Schicksal dieser Personen vermittelt den Eindruck des endgültigen Endes der
strukturalistischen Epoche (vgl. Dosse, Geschichte des Strukturalismus, Bd. I, S. 11 f.).
Blickt man auf das intellektuelle Erbe dieser Denker zurück, so wird man – zumindest was die
Sozialwissenschaften anbetrifft – rasch auf die riesige Diskrepanz zwischen diesem und der
vormaligen Euphorie, die der Strukturalismus ausgelöst hatte, aufmerksam. Denn das Erbe des
Strukturalismus ist so beeindruckend nicht. Im Gegenteil: Der Marxismus hatte in Frankreich schon
seit der intensiven Debatte über die Verbrechen des »Gulag« an Boden verloren und ist heute durch
die politische Zäsur von 1989 entscheidend geschwächt; dort wo er noch intellektuell lebendig ist, hat
er allerdings eine Form angenommen, die kaum etwas mit den Ideen von Poulantzas oder gar
Althussers zu tun hat; die Barthesschen Kulturanalysen waren zwar häufig brillant, aber zu
essayistisch und zu verspielt, als daß sie den systematischeren Ansprüchen einer Kultursoziologie
hätten gerecht werden können; und die von Lacan vorangetriebene strukturalistische Interpretation der
Psychoanalyse hat nur die äußersten Bereiche der Sozialwissenschaften gestreift, zumal selbst
innerhalb der Psychoanalyse große Zweifel an der Seriosität des Lacanschen Unternehmens blieben
(»Lacancan« – so der beißende Spott seiner Kritiker über seine oft kaum verständlichen Schriften).
496Anders verhält sich dies freilich mit dem Erbe Michel Foucaults (1926-1984), dem wir uns
jetzt widmen werden, insofern hier zweifellos ein für viele Disziplinen, auch die Soziologie, höchst
folgenreiches Werk vorliegt. Foucaults Auftreten auf der »strukturalistischen Bühne« war insofern
bemerkenswert, als sich hier ein stark geschichtswissenschaftlich orientierter Philosoph der
strukturalistischen Argumentationsweise annahm. Selbst wenn von Lévi-Strauss immer wieder betont
wurde, daß die strukturale Anthropologie durchaus auch ein Gespür für geschichtliche Prozesse habe
oder haben solle, so war doch gleichzeitig klar, daß sein eigentliches Analyseinteresse den
unveränderlichen Strukturen galt – und damit der Gesellschaft in einem stabilen, quasi eingefrorenen
Zustand. Die »synchrone«, also auf den Moment bezogene Analyse war gegenüber der »diachronen«,
der historischen, eindeutig die bevorzugte – so wie schon Saussure sich von der historischen
Philologie abgesetzt und mit seiner strukturalen Linguistik die synchrone Betrachtungsweise in den
Mittelpunkt gerückt hatte. Wenn nun Foucault daranging, die eigene französische bzw. abendländische
Kultur historisch detaillierten Untersuchungen zu unterziehen, so stellte dies aus strukturalistischer
Sicht Neuland dar.
Freilich ist es einigermaßen schwierig, Foucault als einen »klassischen« Strukturalisten à la Lévi-
Strauss zu bezeichnen. Foucault übernahm zweifelsohne einige strukturalistische Gedanken. Er
verwendete aber auch in erheblichem Ausmaß neue theoretische Elemente, die in dieser Form dem
»Vater des Strukturalismus« nicht geläufig waren, was nicht wenige von Foucaults Interpreten dazu
veranlaßte, ihn als Poststrukturalisten zu titulieren. Auf derartige begriffliche Schubladen soll es uns
hier jedoch (noch) nicht ankommen. Ein Aspekt ist gleichwohl in diesem Zusammenhang
erwähnenswert: Foucault teilte nicht die Ambitionen von Lévi-Strauss, die universalen
Grundstrukturen des menschlichen Geistes ausfindig zu machen. Die szientifische Suche nach den
quasi-letztbegründenden Strukturen ist in seinem Werk nicht zu finden. Dies hing unter anderem auch
damit zusammen, daß Foucault stark von Nietzsche und den an Nietzsche anschließenden Autoren
beeinflußt war, die nicht bereit waren, die Geschichte des Abendlandes als eine des Fortschritts zu
begreifen, und die eine enorme Skepsis gegenüber der Vorstellung einer universellen, überall gültigen
Rationalität entwickelt hatten. Foucault war fasziniert von den »dunklen« Philoso497phen und
Schriftstellern der europäischen Moderne, welche nicht die fortschrittsoptimistischen Postulate der
Aufklärung feierten, sondern als Anti-Aufklärer immer darum bemüht waren, die angebliche
Rationalität dieser Aufklärung zu hinterfragen. Schon allein die Anlehnung an diese anti-
aufklärerische Denktradition verhinderte, daß Foucault sich dem szientifischen Projekt von Lévi-
Strauss ganz und gar hätte verschreiben können.
Wer sich der Gedankenwelt Foucaults nähern will, der beginnt am besten mit seinem ersten großen
Werk, mit Histoire de la folie aus dem Jahre 1961 (dt.: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte
des Wahns im Zeitalter der Vernunft). Dieses extrem detailgesättigte Buch, für das Foucault Archive
in zahlreichen europäischen Ländern durchforstet hat, ist eine Analyse des abendländischen Umgangs
mit dem Wahnsinn und des Denkens über den Wahnsinn von der Zeit der Renaissance bis zum
beginnenden 19. Jahrhundert. Foucaults Analysen strahlten schon deshalb eine schier
unwiderstehliche Faszination (auch auf Sozialwissenschaftler) aus, weil er suggerierte, daß unsere
europäische Zivilisation zutiefst durch eine Dialektik zwischen Vernunft und Unvernunft bzw.
Wahnsinn gekennzeichnet, ja daß der Wahnsinn nur die andere Seite der Vernunft, vielleicht sogar die
eigentliche Wahrheit der Vernunft sei. Zumindest deutet laut Foucault die in der Geschichte des
Abendlandes ständig wiederkehrende intensive Beschäftigung mit dem Wahnsinn darauf hin, daß hier
eine Wahrheit zu entdecken sei, der sich die Vernunft verschlossen habe.
Der abendländische Mensch hat seit dem frühen Mittelalter eine Beziehung zu etwas, das er vage benennt mit: Wahnsinn, Demenz,
Unvernunft. Vielleicht verdankt die abendländische Vernunft einiges von ihrer Komplexität gerade dieser Daseinsform (…). Auf jeden
Fall stellt das Verhältnis von Vernunft und Unvernunft für die Kultur des Abendlandes eine der Dimensionen ihrer Ursprünglichkeit dar.
(Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, S. 9)

Foucault beschreibt in seinem Buch, wie im Zeitalter der Renaissance der Irre oder Wahnsinnige noch
in die Gesellschaft integriert, jedenfalls nicht von dieser separiert war. Der Wahnsinn war in dieser
Epoche ein Phänomen, dem man im Alltag begegnen konnte. In dem von ihm so benannten Zeitalter
der »Klassik« beginnt sich jedoch die Form des Umgangs mit den Wahnsinnigen zu ändern: 498Das
16. Jahrhundert ist durch die Erfindung der Hospitäler gekennzeichnet, in die die Irren ebenso
eingesperrt werden wie die Armen, physisch Kranken, Kriminellen usw. Eine umfassende
Internierungspraxis hält Einzug, durch die der Wahnsinnige (und mit ihm die anderen potentiellen
Insassen) separiert, d. h. von der Gesellschaft ausgeschlossen wird. Erst am Ende des 18.
Jahrhunderts läßt sich dann auch eine Trennung der Wahnsinnigen vom Rest der Internierten
beobachten, eine Trennung des »Elends von der Unvernunft«: Es entstehen die Irrenhäuser, die
Psychiatrien, in denen die Irren erstmals den Ärzten übergeben und in denen sie – abgetrennt von
allen anderen – zum Objekt allein der Medizin werden.
Diesen historischen Prozeß seit der Renaissance charakterisiert Foucault als einen Versuch der
Zähmung des Wahnsinns – einen Versuch, der aber keinesfalls im Sinne eines aufklärerischen
Fortschrittsbegriffs zu denken sei. Für Foucault hat die im 19. und 20. Jahrhundert erreichte alleinige
medizinische Zuständigkeit für den Wahnsinn dazu geführt, daß der Wahnsinn zu einem bloßen Objekt
wurde, daß uns die Wahrheit des Wahnsinns – wie sie zumindest noch im Zeitalter der Renaissance
erkannt werden konnte, als der Wahnsinnige in die Gesellschaft integriert war – verlorenging, daß uns
der Wahnsinn »entfremdet« wurde (a.a.O., S. 461). Foucault mißtraut zutiefst den Selbstdeutungen der
Reformer, auf die sich auch diejenigen immer beziehen, die an den wissenschaftlichen Fortschritt
glauben: Wenn am Ende des 18. Jahrhunderts die Siechen, Kriminellen und Armen von den
Wahnsinnigen getrennt wurden, dann stand Foucault zufolge dahinter nicht irgendein humanistisches
Motiv, das auf eine adäquatere und menschlichere Behandlung der Wahnsinnigen abzielte; das Motiv
war allein, die Elenden vor dem Wahnsinn zu schützen, wodurch die Wahnsinnigen um so stärker an
die Internierungspraxis der Irrenhäuser und Psychiatrien gekettet wurden.
Es ist wichtig, vielleicht entscheidend für den Platz, den der Wahnsinn in der modernen Zivilisation einnehmen soll, daß der homo
medicus nicht von der Welt der Internierung als Schiedsrichter hinzugezogen worden ist, um die Trennung zwischen Verbrechen und
Wahnsinn, zwischen Übel und Krankheit vorzunehmen, sondern eher als Wächter, um die anderen vor der konfusen Gefahr zu schützen,
die durch die Mauern der Internierung schwitzte. (Foucault, a.a.O., S. 363)

499Historisch ist Foucaults Rekonstruktion übrigens durchaus zweifelhaft. Eine alternative Deutung
seines Quellenmaterials könnte etwa besagen, daß der Wahnsinnige solange toleriert wurde, als er
nicht als Mensch wie du und ich, sondern quasi als Angehöriger einer anderen Gattung gedacht
wurde. Die Asylierung wäre dann ein erster – zu überwindender – Schritt der Inklusion oder
Integration auch der Wahnsinnigen.
Wie auch immer, Foucault setzt in der Folgezeit sein aufklärungskritisches oder -skeptisches
Projekt mit verschiedenen historischen Studien fort, wobei besonders seine Geschichte der Strafjustiz
bemerkenswert ist, die 1975 unter dem Titel Surveiller et punir. La naissance de la prison (dt.:
Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses) erschien. Foucault beginnt dieses Buch mit
der jeden Leser wohl aufwühlenden Schilderung der brutalen öffentlichen Marter und Hinrichtung des
Vater- und Königsmörders Damiens im Jahre 1757 in Paris. Dieser Beginn hat für Foucault eine
programmatische Bedeutung, zeigt er doch im folgenden, wie sich die Strafpraktiken in den
anschließenden Jahrzehnten massiv verändert haben. Immer mehr wurde nicht der Körper zum
Zielpunkt der Strafe, sondern das Verhalten oder der Geist des Verurteilten: Körperliche Strafen
traten zurück, die (seltener werdende) Todesstrafe wurde zunehmend unter Ausschluß der
Öffentlichkeit vollzogen. Was statt dessen in den Vordergrund trat, war der Versuch, den einzelnen
Gefangenen zu disziplinieren, ihn zuzurichten, seinen Körper und Geist zu drillen. Signum dieses
neuen Verständnisses von Strafe war die Geburt des modernen Gefängnisses. Kerker usw. gab es
natürlich »schon immer«. Neu an den »modernen« Gefängnissen war aber nun, daß sie
architektonisch und organisatorisch so aufgebaut waren, daß in ihnen die Gefangenen jederzeit
überwacht werden konnten bzw. daß die Gefangenen das Gefühl haben mußten, ständig überwacht zu
werden. Diese Idee der Überwachung und Disziplinierung kam Foucault zufolge am deutlichsten in
den Entwürfen eines Mannes zum Ausdruck, den Sie schon aus unserer Zweiten Vorlesung kennen.
Der Utilitarist Jeremy Bentham war nämlich auch einer der großen Strafreformer seiner Zeit, der eine
Änderung der Straftechniken propagierte und in diesem Zusammenhang Pläne für Gefängnisse
entwarf, in denen die Zellen der isolierten Gefangenen so angelegt waren, daß die Wächter jederzeit
das Tun und Treiben dieser Gefangenen von einem zentralen Punkt aus beobach500ten konnten. Eine
ständige und lückenlose Überwachung sollte die Gefangenen neu formen und disziplinieren, um sie an
die Normen der Gesellschaft anzupassen – eine bis heute lebendig gebliebene Idee!
Benthams »Panopticon«, d. h. ein Gefängnis, in dem die Zellen kreisförmig angelegt sind und alle
vom zentralen Platz des Wärters aus eingesehen werden können (vgl. hierzu Überwachen und
Strafen, S. 256 ff.), und die damit einhergehenden neuen Strafformen werden aber nun – und dies ist
wiederum für Foucault charakteristisch und macht die eigentliche Pointe des Buches aus – nicht im
Sinne eines Fortschritts oder einer Humanisierung gedeutet. Gerade wenn man die neuen, im Prinzip
gewaltlosen Straftechniken der von Foucault dargebotenen Marter- und Hinrichtungsszene zu Beginn
des Buches gegenüberstellt, wäre eine solche Deutung ja nicht abwegig. Aber genau so argumentiert
Foucault nicht: Der Übergang von der Folter- und Marterjustiz zum Gefängnis stellt für Foucault
lediglich einen Umbau der Machttechniken dar. Es geht zwar nicht mehr um die Zerstörung des
Körpers, aber dafür um so mehr um die Effektivierung und Steigerung der Macht über den Körper
und den Geist. Die Entstehung des Gefängnisses ist dabei nur ein Element im Ensemble völlig neuer
Macht- und Disziplinartechniken, wie sie in der Neuzeit entstanden sind: Den Heeresreformen zu
Beginn der Neuzeit, die erstmals einen systematischen Drill der Soldaten mit sich brachten, damit sie
ihre Flinten schnell laden und trotz gegnerischen Feuers die Linie bzw. Kampfformation halten
konnten, folgte der gleiche Drill des Körpers der Arbeiter in den Manufakturen und Fabriken. Die
Geburt des Gefängnisses war und ist somit nur ein weiterer Schritt in der Geschichte der Macht.
Entscheidend ist nun – und wir haben im Kapitel zu Anthony Giddens bereits darauf hingewiesen –,
daß Foucaults Machtbegriff kein zentralistischer ist. Foucault hat nicht die Vorstellung, daß irgendwo
ein besonders mächtiger Mensch sitzt, der Befehle erteilen und damit Macht über die Soldaten,
Arbeiter oder Verurteilten ausüben würde. Macht – so Foucault – hat vielmehr keinen Ort, sie ist
dezentral, still, unscheinbar, aber allgegenwärtig. Mit diesem Gedanken traf Foucault die Stimmung
vieler Intellektueller nach der gescheiterten Revolte von 1968 sehr genau. Foucault hat die Eigenart
seines Machtbegriffs in einer späteren Veröffentlichung in seiner recht dunklen Sprache so
ausgedrückt:
501Die Möglichkeitsbedingung der Macht (…) liegt nicht in der ursprünglichen Existenz eines Mittelpunktes, nicht in einer Sonne der
Souveränität, von der abgeleitete oder niedere Formen ausstrahlen; sondern in dem bebenden Sockel der Kraftverhältnisse, die durch ihre
Ungleichheit unablässig Machtzustände erzeugen, die immer lokal und instabil sind. Allgegenwart der Macht: nicht weil sie das Privileg
hat, unter ihrer unerschütterlichen Einheit alles zu versammeln, sondern weil sie sich in jedem Augenblick und an jedem Punkt – oder
vielmehr in jeder Beziehung zwischen Punkt und Punkt – erzeugt. Nicht weil sie alles umfaßt, sondern weil sie von überall kommt, ist die
Macht überall. (…) die Macht ist nicht eine Institution, ist nicht eine Struktur, ist nicht eine Mächtigkeit einiger Mächtiger. Die Macht ist
der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt. (Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und
Wahrheit 1, S. 114)

Diese Macht ist auch deswegen so allgegenwärtig und gleichzeitig ortlos, weil – und hier kommen
wir zu einem weiteren Spezifikum der Foucaultschen Machttheorie – Macht unmittelbar auch an
»Diskurse« gebunden ist, an bestimmte Formen des Sprechens, auch des wissenschaftlichen Redens
und Sprechens. Das bedeutet im Umkehrschluß für Foucault, der sich hier ganz auf Nietzsche beruft,
daß Wissenschaft und die Suche nach Wahrheit immer auch Macht produzieren. Diese Ihnen vielleicht
nicht ganz plausibel erscheinende These bringt Foucault am deutlichsten im ersten Band seiner gegen
Ende seines Lebens begonnenen »Geschichte der Sexualität« zum Ausdruck. Foucault, der diesen
Band charakteristischerweise mit La volonté de savoir (dt.: Der Wille zum Wissen) betitelt hat,
wendet sich hier in erster Linie gegen die aufklärerische und vor allem linke Repressionshypothese,
wonach die Sexualität im »finsteren«, durch eine verklemmte christliche Moral gequälten Mittelalter
verdrängt und unterdrückt worden sei und es erst durch die moderne Medizin, die Psychoanalyse usw.
gelungen sei, die Sexualität zu befreien. Foucaults Sicht auf diese Prozesse ist eine ganz andere: Es
mag zwar richtig sein, daß in der Neuzeit die soziale Repression der Sexualität durch Verbot und
Zensur abgenommen habe, aber dies bedeute nicht, daß damit auch weniger reguliert worden sei.
Ganz im Gegenteil. Foucault registriert im 18. und 19. Jahrhundert eine ungeheure Zunahme von
Diskursen über den »Sex«; der Sex wird biologisch, medizinisch, moralphilosophisch,
psychoanalytisch, theologisch etc. durchdrungen. Jede Form der Sexualität wird peinlich genau
regi502striert und beschrieben. Der »Sex« wird von den Wissenschaften bis ins kleinste Detail
durchleuchtet, und unter ihrem Einfluß bespiegeln sich auch die Menschen im Hinblick auf ihre
sexuellen Wünsche und Begierden. Der Glaube, daß es hierbei um die »Befreiung« des Menschen
gehe oder daß dies zumindest ein ungewollter Effekt all dieser Diskurse sei, ist laut Foucault naiv
(Der Wille zum Wissen, S. 190). Es werde damit vielmehr eine neue Form von Macht produziert, für
die allerdings nicht eine zentrale Steuerungsinstanz verantwortlich zu machen sei. Die sich stetig
ausweitenden Diskurse führten vielmehr ungewollt zu einer Disziplinierung und Zurichtung der
Menschen, zu einer Verinnerlichung von Macht, der alle folgen, ohne daß einer befehlen müßte.
Wissenschaft als die Suche nach Wahrheit sei ein Wille zum Wissen mit unübersehbaren
Machtwirkungen; Wahrheit – so die allgemeine These von Foucault – ist von Macht nicht zu trennen.
Foucaults Untersuchungen konzentrierten sich deshalb ganz konsequent immer wieder auf folgende
Fragen: »Welche Rechtsregeln setzen die Machtbeziehungen ins Werk, um Wahrheitsdiskurse zu
produzieren? Oder anders: Welcher Machttyp ist in der Lage, Wahrheitsdiskurse zu produzieren,
denen in einer Gesellschaft wie der unsrigen derart mächtige Wirkungen verliehen werden?«
(Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, S. 38)
Die weitere und nochmals provokantere These, die Foucault daraus ableitet, ist die Behauptung,
daß diese wissenschaftlichen Diskurse eigentlich erst das »Subjekt« konstituiert hätten. Durch die
unendliche Durchdringung des Menschen habe sich erst der Begriff des Subjekts gebildet: Das
Subjekt sei – mit anderen Worten – ein Effekt der Macht oder genauer ein Effekt spezifischer
Machttechniken, die sich seit der Neuzeit und insbesondere im 18. und 19. Jahrhundert
herausgebildet und den Menschen immer genauer durchleuchtet hätten. Das menschliche Subjekt sei
also nichts, was schon immer da gewesen sei und immer da sein werde. Es sei vielmehr historisch
konstituiert worden mittels bestimmter Machtformen und könne – wenn sich die dominanten
Machtformen ändern sollten – genauso wieder verschwinden. So ist dann auch jene vielzitierte
Passage vom »Ende des Menschen« bzw. vom »Tod des Subjekts« aus einem von Foucaults großen
Büchern aus der Mitte der 1960er Jahre – aus Les Mots et les Choses. Archéologie des sciences
humaines (dt.: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften) – zu deuten:
503Eines ist auf jeden Fall gewiß: der Mensch ist nicht das älteste und auch nicht das konstanteste Problem, das sich dem menschlichen
Wissen gestellt hat. Wenn man eine ziemlich kurze Zeitspanne und einen begrenzten geographischen Ausschnitt herausnimmt – die
europäische Kultur seit dem sechzehnten Jahrhundert –, kann man sicher sein, daß der Mensch eine junge Erfindung ist. (…) Der
Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende.
(Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 462)

Diese These vom »Ende des Menschen« – und hier zeigt sich zum ersten Mal ganz deutlich das
strukturalistische Erbe Foucaults – war in erster Linie eine massive Kritik an der (französischen)
Phänomenologie, an Sartre, ja an der Subjektphilosophie überhaupt (vgl. Eribon, Michel Foucault.
Eine Biographie, S. 244 oder Dreyfus/Rabinow, Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik,
S. 69 ff.): Das Subjekt könne und dürfe keinesfalls als Ausgangspunkt der philosophischen Analyse
genommen werden, weil es lediglich das Produkt der Machtbeziehungen einer bestimmten
historischen Phase sei. Der Anti-Subjektivismus des Strukturalismus wird also hier von Foucault auf
eine ganz neue Art und Weise, nämlich historisch, legitimiert!
Strukturalistisch an Foucaults Denken ist auch seine Vorliebe für die synchronische Betrachtung
von Phänomenen; ein echtes Interesse für die Diachronie ist – erstaunlich für einen so stark mit
historischem Material arbeitenden Philosophen – bei ihm nicht wirklich zu erkennen. Foucault war,
wie er selbst im deutschen Vorwort zu Die Ordnung der Dinge (S. 14) andeutet, an der Frage
historischer Kausalität nicht wirklich interessiert. Natürlich kann er die kausale Frage nie ganz
umgehen, aber ihn interessiert in erster Linie die Gestalt der Diskursformationen, nicht ihre
Entstehung und Entwicklung. So erfolgen etwa bei der Analyse der »Geburt des Gefängnisses« stets
irgendwelche kurzen Hinweise auf einen möglichen Zusammenhang mit dem entstehenden
Kapitalismus, aber im Prinzip bleibt es dem Leser überlassen, über die genauen Kausalverhältnisse
nachzudenken. Die Allgegenwart der Macht und ihre Ortlosigkeit scheinen Fragen nach der Kausalität
zu unterlaufen.
Welches Motiv hinter dieser bewußten Ausklammerung kausaler Fragen steckt, wird deutlich, wenn
man sich den im obigen Zitat und im Untertitel der Ordnung der Dinge auftauchenden Begriff der
»Archäologie« genauer ansieht. Mit diesem Begriff scheint Foucault 504ja anzudeuten, daß es ihm
darum geht zu untersuchen, wann genau der Mensch als Gegenstand des Wissens in der Geschichte
aufgetaucht sei. Impliziert ist dabei auch eine anti-evolutionistische Stoßrichtung! Zwar beschäftigt
sich der »Archäologe« der Humanwissenschaften mit seinen historischen Quellen, um die dunklen
und verborgenen Seiten unserer Moderne auszugraben und sichtbar werden zu lassen, also jene
Voraussetzungen unseres heutigen Denkens, die verdrängt wurden, damit um so klarer das strahlende
Bild der aufgeklärten Neuzeit mit ihrem Fortschrittsoptimismus aufleuchten konnte. Dieses Aufdecken
von Verdrängungen geschieht aber nicht in therapeutischer Absicht, etwa mit dem Ziel zu heilen, um
dem heutigen Menschen ein besseres Verständnis seiner Gewordenheit zu vermitteln. Das Gegenteil
ist der Fall. Diskurse – so Foucault – wechseln sich ab, anscheinend ziel- und richtungslos. Sie liegen
wie die Reste von Kulturen in verschiedenen Schichten des Erdreiches übereinander, ohne daß ein
Zusammenhang zwischen ihnen bestehen muß. In einem Universum, in dem sich die Macht nicht
lokalisieren läßt, ist auch über die Genese von Diskursen nicht viel zu sagen; und schon gar nicht darf
vermutet werden, daß sich die Diskurse ineinander überführen ließen, daß sie aufeinander aufbauen
würden, so daß die Geschichte als »Entwicklung« betrachtet werden könnte. Die Geschichte ist
vielmehr ein blindes Spiel von Machtwirkungen, in dem weder der Fortschrittsgedanke noch die
Suche nach irgendeinem anderen Sinn ihren Platz haben. Die Methode, mit der Foucault diese Macht-
Wissen-Komplexe aufdecken will, bezeichnet er, hierin Nietzsche folgend, als »Genealogie«. Dieser
Begriff bezeichnet ein historisches Erinnern, dem es gerade nicht um die Verstärkung von
Wertbindungen, sondern um Entlarvung und Zerstörung geht.
Tatsächlich ist Foucaults Diskursbegriff, der sich im übrigen vom Habermasschen (vgl. die Zehnte
Vorlesung) fundamental unterscheidet, im Prinzip synchronisch angelegt: Die Parallelen zur
strukturalen Linguistik sind unübersehbar. Im Foucaultschen Frühwerk ist unter »Diskurs« nicht mehr
als eine Systematik von Aussagen zu verstehen, Aussagen, die aufeinander bezogen sind und ein
geordnetes Muster bilden. Im Verlaufe seines Werkes »reichert« Foucault diesen Begriff zwar immer
mehr an, so daß unter einem »Diskurs« sowohl ein Geflecht von Aussagen wie auch eines von
Machttechniken in ganz bestimmten Institutionen (der Justiz, im Krankenwesen 505etc.) verstanden
wird. Immer aber bleibt relativ unklar, wodurch sich diese »Diskurse« verändern. So wie schon
Lévi-Strauss nicht fragte, woher die Strukturen des Geistes kommen, so wird auch Foucault
systematisch die Frage umgehen, wie man sich eigentlich die Genese von Diskursen vorzustellen hat.
Der »Ursprung« dieser Diskurse wird von Foucault nur insofern erläutert, als er auf eine nicht mehr
weiter zu klärende Tiefenschicht, die sogenannte »Episteme«, verweist, die jeder Epoche zugeordnet
sei: Jedes Zeitalter sei durch dieses tiefsitzende Wissensraster charakterisiert, auf dessen Basis sich
die epochenspezifischen Diskurse formierten. So wie das Sprechen eine Funktion der Sprache sei
(Saussure), die Verwandtschaftssysteme eine Funktion der Grundstrukturen des menschlichen Geistes
(Lévi-Strauss), so sind Foucault zufolge die Diskurse und die damit verbundenen Machtwirkungen nur
zu begreifen als Funktion jener Tiefenschicht der Episteme, die zwar epochentypisch, allerdings einer
echten historischen Betrachtung nicht wirklich zugänglich ist. Sartre, der von den Strukturalisten und
implizit auch von Foucault so vielfach Gescholtene, meinte dazu durchaus treffend:
(…) Foucault erklärt uns nicht, was ja gerade das Interessanteste wäre: nämlich wie jedes Denken von diesen Bedingungen aus
strukturiert wird und wie die Menschen von einem Denken zum anderen übergehen. Dazu müßte er die Praxis ins Spiel bringen, also die
Geschichte, und eben das lehnt er ab. Seine Perspektive bleibt zwar historisch. Er unterscheidet zwischen Epochen, eine vorher und eine
nachher. Aber er ersetzt das Kino durch die laterna magica, die Bewegung durch eine Abfolge von Unbewegtheiten. (Zit. nach Eribon,
Michel Foucault, S. 254)

Blickt man auf die Anfänge und die mittlere Phase des Foucaultschen Schaffens, so fällt eine
zunehmende Radikalisierung seiner Positionen ins Auge: Obwohl er in jenem frühen Werk Wahnsinn
und Gesellschaft zwar dezidiert jeglichen Fortschrittsoptimismus zurückgewiesen hatte, spielte er
doch gleichzeitig auch mit dem Gedanken der Erkennbarkeit einer im Prinzip »integren« Wahrheit –
nichts anderes sollte ja wohl seine Beschreibung des »Anderen« der Vernunft besagen. In der
Folgezeit verstärkt sich allerdings sein (nietzscheanischer) Machtuniversalismus immer mehr – selbst
die Wahrheit ist dann untrennbar mit Macht verbunden und damit diskreditiert. Den Netzen der Macht
zu entkommen ist schlicht nicht mehr möglich, auch die Wahrheit bietet keine Befreiung mehr.
506Es bleibt zu fragen, ob eine solch radikale Position plausibel und auch theoretisch fruchtbar ist
(zu einer etwas anders gelagerten Kritik vgl. das Kapitel zu Anthony Giddens). Zweifel scheinen
angebracht, Zweifel, die offensichtlich auch den »späten« Foucault – so zumindest unsere Deutung –
befallen haben. Denn selbst wenn man viele der theoretischen Prämissen Foucaults teilen und viele
seiner historischen Deutungen akzeptieren würde, ist es – so könnte man fragen – denn wirklich so,
daß wir von Macht eingesponnen sind? Ist es fruchtbar, etwa die Kämpfe um Menschenrechte nur als
Machtdiskurse zu beschreiben und jeglichen Gedanken an »Befreiung« zu einer bloßen Schimäre zu
erklären? Wie ist eine solche theoretische Position überhaupt mit dem politischen Engagement
Foucaults in Zusammenhang zu bringen, der selbst zwar nicht mehr an einen großen Befreiungskampf
glaubte, aber dafür höchst aktiv in viele kleine politische und soziale Kämpfe involviert war (vgl. die
Foucault-Biographie von Eribon)?
Man kann nun der Auffassung sein (vgl. auch Dosse, Geschichte des Strukturalismus, Bd. II,
S. 410 ff.), daß sich Foucault am Ende seines Lebens genau diese oder zumindest ähnliche Fragen
gestellt hat: Das von ihm geplante, auf mehrere Bände angelegte Werk zur Geschichte der Sexualität,
das er nicht mehr vollenden konnte, weist nämlich eine Auffälligkeit auf. Während der erste Band Der
Wille zum Wissen (1976) fast zeitgleich erschien mit dem schon dargestellten Überwachen und
Strafen (1975) und in der Argumentation den dort zu findenden Machtuniversalismus nur mehr auf ein
neues Gebiet – eben das der Sexualität – anwendet, ist der Ton in den beiden nachfolgenden und
letzten Bänden schon ein ganz anderer. Band 2 und 3 der Geschichte der Sexualität (L’usage des
plaisirs, dt.: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, und Le souci de soi, dt.: Die
Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3) erschienen fast acht Jahre nach dem ersten Band – eine
lange Zeitspanne, in der sich offensichtlich auch ein Positionswandel abgespielt hat. Denn Foucault
beginnt nun plötzlich vom »Subjekt«, vom »Selbst«, zu reden – und zwar in einer Weise, die in nichts
mehr an die frühere, eher zynische Betrachtungsweise erinnert, obwohl Foucault sich nicht
selbstkritisch zu dieser Veränderung äußert. Vielmehr beschreibt er hier, wie sich in der Zeit
zwischen dem 4. vorchristlichen Jahrhundert in Griechenland und den ersten Jahrhunderten nach
Christus in Rom die Sexualität als ein moralischer Bereich konstituiert hat. 507Moralen – so Foucault
– bestehen einerseits aus Vorschriften und Codes und andererseits aus Subjektivierungsformen, aus
Praktiken des Selbst, also Formen der Selbsteinwirkung wie beispielsweise der Asketik (vgl. Der
Gebrauch der Lüste, S. 41 ff.). Mit großer Sympathie verfolgt er die Art und Weise, wie sich in der
griechisch-römischen Antike im Vergleich zum späteren rigideren Christentum das Moralsubjekt
konstituiert hat und wie Sexualität gelebt wurde. Ein zynischer Machtuniversalismus ist hier nicht
mehr zu erkennen, was schon im großartigen Titel des letzten Bandes Die Sorge um sich deutlich zum
Ausdruck kommt, einem Band, in dem Foucault nicht nur sorgfältig zwischen unterschiedlichen
Formen des Individualismus unterscheidet (a.a.O., S. 59), sondern in dem er auch beschreibt, wie mit
der Intensivierung der Sorge um sich in der Philosophie der Stoa gleichzeitig auch eine »Aufwertung
des anderen« einhergeht (a.a.O., S. 195). Im Kontrast zu seinen früheren Büchern redet Foucault hier
von Subjekten, und zwar von solchen, die für sich eine Art authentischen Seins entdeckt haben, also
von Subjekten, die sich nicht als bloße Effekte von Machttechniken beschreiben lassen!

Unabhängig davon, wie man diesen letzten überraschenden Schwenk in der Werkentwicklung
Foucaults beurteilt, der gleichzeitig erhebliche Zweifel an der Plausibilität und Fruchtbarkeit jenes
dezidierten Machtuniversalismus im Großteil seines Werkes wecken muß: Das Foucaultsche Erbe für
die Sozialtheorie ist trotz aller Schwierigkeiten beträchtlich. Foucault hat uns durch seine neuartige
Fassung des Machtbegriffs dafür sensibilisiert, daß auch Sprache Machtwirkungen erzeugt, denen
sich eine machtsensible Sozialwissenschaft zu stellen hat. Insofern führt Foucault den Trend einer
genaueren Fassung von Machtverhältnissen fort, der schon von Talcott Parsons begonnen worden ist.
Letzterer hatte ja den rein negativen, auf der Idee eines Nullsummenspiels basierenden Weberschen
Machtbegriff (vgl. unsere Vierte und Zwölfte Vorlesung) dahingehend erweitert, daß er auf die
produktiven Wirkungen der Macht aufmerksam machte. Was bei Parsons freilich ausgeklammert blieb,
war die Einsicht, daß Macht zwar produktiv sein kann, aber deswegen nicht minder repressiv ist.
Foucault nun hat gezeigt, daß beispielsweise die Wissenschaften zu einer ungeheuren Steigerung des
Wissens geführt haben, daß aber mit ihren (positiven) Machtwirkungen gleichzeitig 508auch
erhebliche Disziplinierungs- und Zurichtungsmechanismen verbunden waren. Jeder Diskurs, auch der
wissenschaftliche, schließt immer auch jemanden oder etwas aus und betont dafür etwas anderes.
Genau darauf basiert dann seine Machtwirkung. Man muß diese Einsicht nicht spektakulär in eine
fundamentale Wissenschaftskritik, die mit einem ebenso fundamentalen Relativismus einhergeht,
überführen, wie dies Foucault angeregt und viele seiner Anhänger dann tatsächlich nachvollzogen
haben. Denn auch eine weniger auf Schockwirkung bedachte Deutung seiner Thesen mindert nicht
seine große Bedeutung für die Soziologie: Er hat einer ganzen Generation von Sozialwissenschaftlern
einen neuen Blickwinkel eröffnet, durch ihn wurden u. a. gerade auch feministische Theoretikerinnen
auf Machtmechanismen aufmerksam, die zwar nichts mit brutaler und unmittelbarer Gewalt zu tun
haben, aber aufgrund ihrer Verborgenheit deswegen nicht weniger wirksam sein können (vgl. die
Siebzehnte Vorlesung).
Noch eine weitere »Sensibilisierungsleistung« ist Foucault zuzurechnen. Bei aller Kritik an seiner
totalisierenden Deutung der Neuzeit: Seine Arbeiten bildeten ein notwendiges Gegengewicht zu allzu
fortschrittsorientierten Geschichtsdeutungen und optimistischen Gegenwartsdiagnosen, die der
Soziologie und insbesondere der Modernisierungstheorie bis dato eigen waren. Foucault hat – wenn
auch auf eine umstrittene Weise – wie kein anderer vor ihm, auch nicht Adorno, auf die »dunklen«
Seiten der Moderne aufmerksam gemacht und damit für eine Interpretation dieser Moderne Raum
geschaffen, die mit der Selbstgewißheit eines stetigen Fortschritts bricht.

Damit kommen wir zum zweiten Thema unserer Vorlesung, dem sogenannten Poststrukturalismus oder
auch Neostrukturalismus. Obwohl das Phänomen wiederum in Frankreich seinen Ausgang nahm, sind
diese beiden Begriffe in Frankreich nicht üblich; sie wurden vielmehr in Deutschland, stärker noch in
den USA geprägt. Gleichwohl ist es aber durchaus möglich, französische Autoren mit einem
derartigen Etikett zu bezeichnen, die – aus der Tradition des Strukturalismus kommend – sich von
diesem Ansatz abgewandt und eine neue Theorieorientierung entwickelt haben. Schon Foucault ist
von einigen Interpreten – siehe oben – als Poststrukturalist bezeichnet worden, einfach deshalb, weil
er im Vergleich zu Lévi-Strauss völlig 509neue Elemente (die Bezugnahme auf Nietzsche und die
damit einhergehende Skepsis gegenüber der abendländischen Rationalität) mit ins Spiel gebracht
hatte. Außerdem kümmerte sich Foucault kaum um den Strukturbegriff, weswegen er auch als
»Strukturalist ohne Strukturen« bezeichnet worden war. Aber bei Foucault war zweifellos immer eine
große wissenschaftliche Ernsthaftigkeit erkennbar gewesen, als er seine historischen Untersuchungen
vorantrieb und die Quellen befragte.
Bei denjenigen, die nun ohne größere Klassifizierungsprobleme als Poststrukturalisten bezeichnet
werden können, war und ist diese Ernsthaftigkeit so ohne weiteres nicht mehr erkennbar. Sie sind
Poststrukturalisten, weil sie den wissenschaftlichen Strukturbegriff und die szientifischen Ideale etwa
eines Lévi-Strauss verabschiedet haben. Bei ihnen verliert sich das wissenschaftliche Pathos, und es
bildet sich ein ironisches Verhältnis zum ehemals gehegten Traum einer Verwissenschaftlichung der
Humanwissenschaften heraus. Skepsis gegenüber dem szientifischen Projekt ist an der Tagesordnung,
die Wissenschaftlichkeit wird zunehmend durch einen spielerischen Umgang mit Texten ersetzt.
In der Philosophie sollte diese Bewegung, die allerdings erst in den späten 1970er Jahren voll zum
Tragen kam, bereits Mitte der 1960er Jahre einsetzen; sie war dort stark mit den Namen Jacques
Derrida (1930-2004) und Jean-François Lyotard (1924-1998) verbunden. Warum dieser Abschied
vom Strukturbegriff eines Saussure oder Lévi-Strauss stattfand, das wird am besten in einer Kritik
des Philosophen Derrida deutlich, die dieser bereits Mitte der 1960er Jahre in L’Écriture et la
Difference gegenüber Lévi-Strauss formuliert hatte (dt.: Die Schrift und die Differenz, vgl.
insbesondere S. 422- 442). Derrida war eher von der Phänomenologie Husserls und Heideggers
geprägt, versuchte aber den Strukturalismus auf dessen eigenem Terrain zu übertrumpfen. Sein
Ausgangspunkt war folgende Analyse: Die Rede von Strukturen erzwingt immer auch die Frage nach
der Einheit dieser Strukturen, denn eine jede Struktur erhält ihre Kohärenz nur durch Bezug auf ein
Sinnzentrum. Anders formuliert: Nur wenn eine zentrale Idee existiert, läßt sich bestimmen, was
Struktur ist, was also im Gegensatz etwa zu Oberflächenphänomenen tatsächlich zur Struktur gehört.
Ohne eine irgendwie ordnungstiftende Vorstellung ist die Rede von »Struktur« ziemlich leer. Was ist
also das Zentrum der Struktur, wer oder was stiftet die Ein510heit? Die klassischen Strukturalisten
wie Lévi-Strauss legten zwar dar, daß es selbstverständlich nicht das Subjekt ist, das die Einheit der
Struktur schafft. Wer oder was die Einheit der Struktur stiftet, blieb aber bei ihnen unklar. Daß es
jedoch eine solche Einheit gibt, ja geben muß, dies schien ihnen unbezweifelbar. Hier setzt nun
Derridas kritische Argumentation ein, indem er auf den internen Widerspruch einer solchen Position
aufmerksam macht. Denn wenn es so etwas wie ein Sinnzentrum tatsächlich gäbe, dann würde –
denken Sie daran, daß sich Sinn und Bedeutung entsprechend linguistischer Einsichten nur durch
Differenzen einstellen – ein solcher Sinn nur durch die Differenz zu anderen Teilen der Struktur
zustande kommen. Wenn dies aber so ist, dann kann dieses angeblich so herausgehobene Sinnzentrum
so zentral nicht sein, weil es unmittelbarer Bestandteil der Struktur ist. Es liegt also laut Derrida ein
Paradox vor. Deshalb ist die Vorstellung einer einheitstiftenden Substanz ihm zufolge eine
metaphysische Vorstellung, die es zu verabschieden gilt. Und daraus folgt weiter, daß die Struktur
mangels eines Zentrums alles andere als fest oder immer identisch ist. Es bedeutet, wie es Manfred
Frank (geb. 1945) in der Ausdeutung der Derridaschen Position schön formulierte:
Jeder Sinn und jede Bedeutung und jede Weltansicht sind im Fluß, nichts ist dem Spiel der Differenzen entzogen, es gibt keine an und für
sich und für alle Zeit geltende Interpretation des Seins und der Welt. (Frank, Was ist Neostrukturalismus?, S. 85)

Damit aber sind nun alle ehemals gehegten Hoffnungen des »klassischen« Strukturalismus, durch
Aufweis einer feststehenden, objektiven Struktur die stetige Unsicherheit der (historischen) Deutung
und Interpretation zu umgehen, zerstört worden. Strukturen sind nur dezentriert zu denken, auch sie
sind also interpretationsbedürftig, weswegen es – so Derrida – eine endgültige Interpretation von
Texten (und sozialen Regeln) nicht geben kann. In seinen Worten: »Die Abwesenheit eines
transzendentalen Signifikats erweitert das Feld und das Spiel des Bezeichnens ins Unendliche.« (Die
Schrift und die Differenz, S. 424) Das Lesen eines Textes, die Interpretation eines geregelten
sozialen Zusammenhangs ist damit kein Finden und Auffinden eines Sinnes mehr, sondern ein
Erfinden, ein ständiges Neuschaffen, weil endgültige Interpretationen nicht existieren. Derrida hat
seither eine Vielzahl philosophischer Texte einer manch511mal aufschlußreichen, manchmal
willkürlichen, meist in überhitzter Rhetorik vorgetragenen Neulektüre unterzogen. Es ist ein durchaus
ironisches Phänomen, daß der Objektivismus des Strukturalismus zu einem solchen Subjektivismus
der Deutungspraxis führen konnte.
Auch für die hermeneutische Philosophie ist die Einsicht in die Subjektivität des Deutens
charakteristisch. Im Gegensatz zur Position Derridas und derjenigen seiner Nachfolger blieb dort aber
die Annahme eines Dialoges zwischen deutendem Subjekt und zu deutendem Text erhalten.
Ausgangspunkt der poststrukturalistischen Philosophie, die zu verzweigt ist, als daß wir Ihnen hier
einen wirklichen Überblick geben könnten (vgl. hierzu das brillante Buch von Manfred Frank, Was ist
Neostrukturalismus?), sind aber die Thesen Derridas. Wie Sie vielleicht aus unserer kurzen
Darstellung ableiten können, erwuchsen aus der innerphilosophischen poststrukturalistischen Debatte
auch Herausforderungen für die Sozialwissenschaften, vor allem insofern, als mit der These von der
Existenz multipler »Selbste«, die keine Einheitlichkeit mehr kennten, sondern im Spiel der Zeichen
ihre Identitäten ständig wechselten, traditionelle sozialisationstheoretische und sozialpsychologische
Positionen frontal angegriffen wurden. Denn so wie Texte keine endgültige und einheitliche
Interpretation mehr erlaubten, so wird auch für Menschen behauptet, daß ihnen keine festen Identitäten
mehr zugeordnet werden und daß sie ihre eigene Existenz nur mehr als ein Spiel mit ständig
wechselnden Identitäten begreifen könnten. Empirisch spricht freilich wenig für diese Behauptungen
(vgl. hierzu kritisch Joas, »Kreativität und Autonomie. Die soziologische Identitätskonzeption und
ihre postmoderne Herausforderung«).
Für die Sozialtheorie insgesamt von noch größerer Bedeutung war das Werk des Philosophen Jean-
François Lyotard, insofern seine Schriften wesentlich stärker auf eine Zeitdiagnose zielten, als dies
bei Derrida der Fall war. Berühmt wurde vor allem Lyotards Schrift Das postmoderne Wissen, eine
1979 erschienene Auftragsarbeit zur Zukunft des Wissens, die er für die Provinzregierung von Quebec
verfaßt hatte. Lyotard stellt dort einige interessante Überlegungen an zu den politischen Auswirkungen
neuer Informations- und Kommunikationstechnologien und ihren Folgen für eine demokratische
Gesellschaft. Aber nicht das war das eigentlich Interessante an diesem »Bericht«; schließlich hatte
man Ähnliches auch schon von anderen 512Autoren gehört, die noch dazu soziologisch und
politikwissenschaftlich besser informiert waren als Lyotard. Die eigentliche Durchschlagskraft des
Buches, die eigentliche Ursache seiner Berühmtheit, lag in der These vom sogenannten »Ende der
Metaerzählungen«. Während die Moderne laut Lyotard noch dadurch gekennzeichnet war, daß die
Wissenschaft als ein unumstrittener, nicht hinterfragter Bezugspunkt jeder Diskussion galt, sei heute –
im Zeitalter der Postmoderne – die Wissenschaft nur mehr ein Sprachspiel unter anderen und könne
nicht mehr Legitimität für sich beanspruchen als andere Diskurse. »Das Wissen ist gerade in seiner
gegenwärtigen Form mit der Wissenschaft nicht identisch.« (Lyotard, Das postmoderne Wissen,
S. 63) Es gebe eben keinen eindeutigen Bezugspunkt mehr, keinen alles übergreifenden Diskurs, der
quasi als letzte Instanz alle anderen Diskurse überwölben und zusammenhalten würde. Die
Wissenschaft selbst müsse sich in der Postmoderne mit Verweis auf andere, nicht-wissenschaftliche
Diskurse – auf nicht-wissenschaftliche »Erzählungen« – rechtfertigen, eine Tendenz, die seit der am
Ende des 19. Jahrhunderts massiv auftretenden Vernunftkritik – denken Sie hierbei wieder an
Nietzsche! – immer stärker geworden sei (a.a.O., S. 116). Vom Tod oder dem Ende der obersten
Erzählungen, jener Metaerzählungen, die allen einzelnen Erzählungen erst ihren Ort in einer großen
umfassenden Geschichtsdeutung geben, seien aber nicht nur die Wissenschaften betroffen, sondern
auch solche Glaubenssysteme wie der Marxismus (wobei anzumerken ist, daß Lyotard in den 1950er
Jahren selbst Marxist gewesen war) oder ästhetische Theorien, die eine Art fortschreitende Logik der
Kunstentwicklung postulieren, wie sie etwa im Begriff der »Avantgarde« zum Ausdruck kommt. Der
Begriff der Postmoderne, der unterschiedlichste und zum Teil lange zurückreichende Wurzeln besitzt
– vgl. etwa Welsch, Unsere postmoderne Moderne –, hat seit den frühen 1970er Jahren besonders in
der Architektur Einzug gehalten, weil Beobachtern eine Fortentwicklung der Baustile nicht mehr
möglich schien, sondern alle früheren Stile nur noch in einer ironischen Art und Weise kombiniert
werden konnten. Ein künstlerisches Fortschreiten in einem emphatischen Sinne schien – so die
weitverbreitete Ansicht unter Architekturtheoretikern und auch -praktikern – nicht mehr denkbar.
Das Provozierende an Lyotards Thesen von der unhintergehbaren Pluralität der Sprachspiele war
nun, daß er diesen »Tod der Meta513erzählung« durchaus nicht als Verfallsgeschichte beschrieb,
sondern als ein Aufbrechen neuer Möglichkeiten. Die Menschen in der Postmoderne – so Lyotard –
wissen um das Ende der Metaerzählungen, aber sie bedauern dieses Ende keineswegs:
Die Sehnsucht nach der verlorenen Erzählung ist für den Großteil der Menschen selbst verloren. Daraus folgt keineswegs, daß sie der
Barbarei ausgeliefert wären. Was sie daran hindert, ist ihr Wissen, daß die Legitimierung von nirgendwo anders herkommen kann als von
ihrer sprachlichen Praxis und ihrer kommunikationellen Interaktion. Vor allem anderen Glauben hat sie die Wissenschaft, die ›in ihren
Bart lächelt‹, die rauhe Nüchternheit des Realismus gelehrt. (Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 122)

Politisch zielte diese Aussage Lyotards auf eine Bejahung unterschiedlichster gleichberechtigter
Sprachspiele, Handlungsformen, Werte und Lebensweisen in einer Gesellschaft, was etwa von der
Schwulen- und der Frauenbewegung äußerst positiv aufgenommen wurde und unter anderem auch die
Multikulturalismus-Debatten in westlichen Gesellschaften stark stimulierte. Soziologisch-
philosophisch war Lyotards Argumentation ein Angriff auf Parsons und Habermas zugleich, insofern
beide – dieser durch Verweis auf Werte, jener mit Verweis auf einen rational zu erzielenden Konsens
– an alten Einheitsvorstellungen festhielten. Lyotards These von der unweigerlichen Pluralität all
dieser »Sprachspiele« (ein Begriff des Philosophen Ludwig Wittgenstein, 1889-1951) erinnert Sie
vielleicht an die in der allerersten Vorlesung dargestellte Debatte um Thomas Kuhns Paradigmen-
Begriff und seine Rede von der »Inkommensurabilität« der Paradigmen. Lyotard verschärfte den Ton
beträchtlich, insofern er jegliches Streben nach Einheit und Konsens als totalitär oder gar terroristisch
bezeichnete. Auch Habermas’ herrschaftsfrei gedachte Diskurstheorie sei letztlich repressiv, weil sie
die nun einmal vorhandene Vielfalt der Sprachspiele durch die fragwürdige Metaerzählung von den
Rationalitätspotentialen der Sprache, die angeblich einen Konsens ermöglichen, zu zerstören
beabsichtige (a.a.O., S. 175 ff.). Die Postmoderne – so Lyotards Fazit – sei aber zutiefst plural, und
zwar in jeglicher Hinsicht (zur Kritik dieser Thesen vgl. Benhabib, »Kritik des ›postmodernen
Wissens‹ – eine Auseinandersetzung mit Jean François Lyotard«).
Lyotards ursprünglich philosophische These von der unhintergehbaren Pluralität der Sprachspiele
und Lebensformen eröffnete eine 514ausgreifende gesellschaftstheoretische und zeitdiagnostische
Diskussion. Dabei kristallisierten sich in der soziologischen Debatte um die sogenannte Postmoderne
radikale und weniger radikale Positionen heraus, verständliche und nachvollziehbare, aber auch
unverständliche und kaum plausible. Es dürfte begreiflich sein, daß sowohl mit Derridas wie mit
Lyotards Thesen die Gefahr eines Verschleifens wissenschaftlicher Standards gegeben war: Denn
wenn es keine festen Bedeutungen und Interpretationen mehr geben kann, gleichzeitig die
Wissenschaft nur mehr ein Sprachspiel unter vielen darstellen soll, dann ist der Schritt zum
Ineinanderschieben von Wissenschaft und Fiktion, von Hoch- und Populärkultur nicht mehr weit,
zumal man sich unter den genannten Prämissen um eine methodische Prüfung empirischer Belege nicht
mehr kümmern muß. Und diesem Verschleifen wissenschaftlicher Standards sind eine ganze Reihe
von Autoren erlegen, wobei hier vielleicht an erster Stelle der Soziologe Jean Baudrillard (1929-
2007) zu nennen ist, der mit seinen waghalsigen Thesen mittlerweile auch zu einer Berühmtheit in den
Feuilleton-Seiten der internationalen Presse wurde. So wartete sein Buch von 1976 L’ Échange
symbolique et la mort (dt.: Der symbolische Tausch und der Tod) u. a. mit der These vom Ende der
Produktion auf, der zufolge es angeblich keinen Unterschied zwischen Arbeit und Nichtarbeit,
Produktion und Konsumtion mehr gebe. Im Spiel der Zeichen hätten sich bereits heute alle klaren
Unterscheidungen verwischt, die sozialen und politischen Kategorien würden längst nicht mehr das
bezeichnen, wofür sie geschaffen wurden, so daß die Gegenwart durch eine Simulation der
Wirklichkeit gekennzeichnet sei und ein Reales überhaupt nicht mehr existiere (Agonie des Realen
lautet der Titel eines seiner auf Deutsch erschienen Bücher!). Dies hinderte ihn allerdings nicht,
gleichzeitig mit Thesen zu glänzen, denen ihre Herkunft aus einer irgendwie marxistisch inspirierten
Kulturkritik nur allzu deutlich anzumerken war, was erklärt, warum sich nicht wenige Ex-Marxisten
zu dieser Art des Denkens bekehren ließen: »Das Stadium, in dem der Kapitalprozeß aufhört, ein
Produktionsprozeß zu sein, ist zugleich das des Verschwindens der Fabrik: die Gesamtheit der
Gesellschaft nimmt das Aussehen einer Fabrik an.« (Der symbolische Tausch und der Tod, S. 35)
Man fragt sich hier, was man mehr bestaunen soll: Die Schlicht- und Falschheit der Aussage oder die
Souveränität, mit der Baudrillard als Soziologe die durchaus differenzierten Erkenntnisse 515der
empirischen Sozialforschung ignoriert. Einen zeitweiligen »Höhepunkt« erreichte Baudrillards
Schaffen dann in seinem Buch über Amerika von 1987. Im Vorfeld des Golfkrieges von 1991 erklärte
Baudrillard schließlich, daß dieser Krieg nicht stattfinden werde; als er dann ausbrach, sah er keinen
Grund zur Selbstkritik. Mit seiner These, der Krieg habe sich nur in der Simulation abgespielt, traf er
zwar erneut ein wichtiges Element der Perzeption dieses Ereignisses; er drückte dieses aber in einer
so übertriebenen Weise aus, daß ihm damit zwar die Aufmerksamkeit der Medien sicher war, aber
selbst bisherige Anhänger abspenstig wurden.
Die Postmoderne-Diskussion führte also nicht selten in gefährliches Fahrwasser. Allerdings war
dies durchaus nicht immer der Fall. Anregende und lesenswerte Arbeiten entstanden beispielsweise
im marxistischen Kontext, insofern Autoren wie der 1935 geborene Geograph David Harvey (The
Condition of Postmodernity) und der 1934 geborene Kulturtheoretiker Frederic Jameson
(Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism) den Postmoderne-Diskurs mit einer
marxistischen Kultursoziologie verknüpften. Außerhalb marxistischer Debatten wurde die
Postmoderne-Diskussion vielleicht am systematischsten von Zygmunt Bauman aufgegriffen (siehe
auch die Achtzehnte Vorlesung), der Lyotards Thesen von der Pluralität der Lebensformen und
Sprachspiele vor dem Hintergrund der Debatten um den Holocaust neu diskutierte: Weil ganz
offensichtlich nicht alle Lebensformen in gleicher Weise zu akzeptieren sind (diejenige von
überzeugten Nazis etwa, die bestrebt sind, »Andersartige« zu vernichten), lenkte Bauman die
Diskussion bewußt wieder in ein Fahrwasser, in dem mit großem Ernst über ein Ethos der Toleranz
diskutiert und ein sachhaltigerer Begriff der Differenz erarbeitet werden sollte. Innerhalb der
Philosophie – allerdings mit starker Ausstrahlung auch auf Teile der Soziologie – wurden die Thesen
postmoderner Theoretiker vom Neo-Pragmatisten Richard Rorty aufgegriffen, der wieder energisch
das Thema der Subjektivität ins Spiel brachte, ein Thema, das innerhalb der poststrukturalistisch
geprägten Debatte um die Postmoderne lange und durchaus bewußt vernachlässigt worden war (siehe
die Neunzehnte Vorlesung).

Blickt man zurück auf den Strukturalismus und Poststrukturalismus, so wird man feststellen müssen,
daß sie in bezug auf die Sozialwissenschaften in erster Linie durch ihr zeitdiagnostisches Potential
516gewirkt haben, hier vor allem über das Werk Foucaults und Lyotards. Systematische Aussagen
zum sozialen Wandel sind diesen Theorien schon aufgrund ihrer Anlage nicht »entsprungen«. Und
auch für eine Theorie des Handelns ist logischerweise bei Ansätzen, die sich die Dezentrierung des
Subjekts zur Aufgabe gemacht haben und einen radikalen Anti-Subjektivismus postulieren, wenig zu
finden. So sind der Strukturalismus und Poststrukturalismus tatsächlich nur sehr schwer in eine
Geschichte der Soziologie einzuordnen. Sie entziehen sich in gewisser Weise unserer These, wonach
die Entwicklung der soziologischen Theorie entlang der Begriffe soziales Handeln – soziale Ordnung
– sozialer Wandel beschrieben werden könne. Beide Theorieansätze standen und stehen vielleicht
gerade deswegen auch am Rande der internationalen Theoriediskussion in den Sozialwissenschaften
und nicht in ihrem Zentrum. Sie haben allerdings die Geisteswissenschaften im engeren Sinn,
insbesondere die Literaturwissenschaft, zeitweise praktisch dominiert. Offensichtlich muß man aus
den Beschränkungen des strukturalistischen und poststrukturalistischen Ansatzes heraustreten, um
Anschlußfähigkeit in der Soziologie zu gewinnen. Genau das tat Pierre Bourdieu, dem wir uns in der
folgenden Vorlesung widmen werden, indem er – aus dem strukturalistischen Kontext Frankreichs
stammend – wieder stärker handlungstheoretische Elemente betonte.

Zum Schluß wollen wir Ihnen noch einige Literaturhinweise zu dieser Vorlesung geben: Wenn Sie
einen enorm detailreichen und informiert geschriebenen Überblick über die strukturalistische
»Revolution« in Frankreich erhalten wollen, dann ist François Dosses zweibändige Geschichte des
Strukturalismus unverzichtbar. Manfred Franks Was ist Neostrukturalismus? ist eine eindrucksvolle
Vorlesungsreihe zu post- oder neostrukturalistischen Denkern von Lévi-Strauss über Foucault zu
Derrida. Sie werden hier von einem brillanten Philosophen an die Hand genommen, damit Sie sich im
Dickicht der zum Teil hochkomplexen und oftmals verwirrenden poststrukturalistischen Debatten
nicht verlaufen. Wenn Sie sich einen kritischen Überblick über das Werk des für die Sozialtheorie
wichtigsten der hier behandelten Autoren verschaffen wollen, nämlich über dasjenige Michel
Foucaults, dann greifen Sie am besten zu den entsprechenden Kapiteln in Axel Honneths Kritik der
Macht oder zu dem Buch von Hubert Dreyfus/Paul Rabinow, Michel Foucault. Beyond
517Structuralism and Hermeneutics (dt.: Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik). Die
Biographien von Didier Eribon (Michel Foucault (1926-1984); dt.: Michel Foucault. Eine
Biographie) und von James Miller (The Passion of Michel Foucault) schließlich erlauben Ihnen
einen Blick in das Leben und die Lebensumstände dieses außergewöhnlichen Autors.
518Fünfzehnte Vorlesung
Zwischen Strukturalismus und
Theorie der Praxis – die Kultursoziologie
Pierre Bourdieus

In dieser Vorlesung beschäftigen wir uns mit einem Autor, der in ähnlicher Weise wie Habermas,
Luhmann oder Giddens schon früh auf ein synthetisches Theorieprojekt zugesteuert war und der
gerade deshalb seit den 1970er Jahren zu einem der international einflußreichsten Soziologen wurde.
Die Rede ist von Pierre Bourdieu, dessen Werk zutiefst vom nationalen intellektuellen Milieu geprägt
ist, in dem es entstand – in seinem Fall vom intellektuellen Milieu Frankreichs der späten 1940er und
1950er Jahre und den damaligen Auseinandersetzungen zwischen Phänomenologen und
Strukturalisten. Aber nicht diese national-kulturelle Prägung unterscheidet die Bourdieuschen
Arbeiten von denjenigen der anderen in diesem Vorlesungszyklus behandelten »Großtheoretiker«:
Schließlich haben wir ja gesehen, wie sehr etwa auch Habermas oder Giddens den jeweiligen
wissenschaftlichen oder politischen Kontexten ihres Landes verpflichtet waren. Was Bourdieus
Arbeitsweise von derjenigen seiner deutschen und britischen »Konkurrenten« abhob, war eine
wesentlich stärkere Koppelung von Theorie und Empirie: Bourdieu war zuallererst Empiriker, der
aus seiner empirischen Arbeit heraus seine theoretischen Begriffe entwickelte und immer weiter
verfeinerte – mit allen Vor- und Nachteilen, die eine solche Art der Theoriegenerierung mit sich
brachte, auf die wir noch zu sprechen kommen werden. Bourdieu ist daher nicht in erster Linie als
Theoretiker zu verstehen, sondern als ein Kultursoziologe, dem es mit seinen empirischen Arbeiten
gelang, systematische Anstöße für die Theoriediskussion zu geben.
Pierre Bourdieu wurde 1930 geboren und gehört damit der gleichen Generation an wie Habermas
oder Luhmann. Für das Verständnis des Bourdieuschen Werkes ist der Hinweis überaus wichtig, daß
er aus einfachen Verhältnissen und zudem aus der tiefsten französischen Provinz kam – eine Herkunft,
die Bourdieu selbst immer wieder betonte: »Ich habe den größten Teil meiner Jugend in einem
kleinen, abgelegenen Dorf im Südwesten Frankreichs verbracht. 519Und ich habe den Anforderungen
der Bildungsinstitutionen nur durch den Verzicht auf vieles von dem genügen können, was ich
ursprünglich erfahren und erworben hatte, und das war nicht nur ein bestimmter Akzent (…).«
(Bourdieu/Wacquant, Reflexive Anthropologie, S. 240) Trotz offensichtlich ungünstiger
Ausgangsbedingungen sollte sich aber Bourdieu den Eintritt in die höchsten französischen
Bildungsinstitutionen erkämpfen, was durch seine Berufung ins berühmte Collège de France im Jahre
1982 auch für eine breite Öffentlichkeit sichtbar wurde. Diese klassische Aufsteigerkarriere, die
Tatsache, daß Bourdieu ursprünglich nicht aus einem privilegierten Bildungshintergrund schöpfen
konnte, diente ihm zur Legitimation seines mitleidlosen Blicks auf das französische Erziehungs- und
Universitätssystem und auf die Intellektuellen insgesamt, die er im Laufe seiner Karriere in
zahlreichen Untersuchungen immer wieder zum Thema machen sollte. Er nahm also die klassische
soziologische Denkfigur des Außenseiters, des »marginal man«, in Anspruch, um für sich besondere,
und vor allem: besonders kritische Einsichten in das Funktionieren der »normalen« Gesellschaft zu
reklamieren.
In Frankreich trägt einem die Tatsache, daß man aus einer entlegenen Provinz kommt, vor allem wenn sie südlich der Loire liegt,
bestimmte Merkmale ein, die durchaus Ähnlichkeiten mit der Kolonialsituation aufweisen. Die subjektive wie objektive
Außenseiterposition, die daraus resultiert, fördert ein ganz besonderes Verhältnis zu den zentralen Institutionen der französischen
Gesellschaft und vor allem zur intellektuellen Welt. Es gibt mehr oder weniger subtile Formen von sozialem Rassismus, die eine
bestimmte Form von Hellsichtigkeit geradezu provozieren müssen (…). (Bourdieu, a.a.O., S. 244)

Allerdings war Bourdieus Weg zu einer Soziologie der französischen Kulturinstitutionen und zur
Soziologie ganz allgemein durchaus nicht geradlinig oder selbstverständlich – ein Sachverhalt, dem
wir ja auch schon in den Biographien anderer großer Sozialtheoretiker, etwa denen von Habermas
oder Luhmann, begegnet sind, die ja ebenfalls nicht sofort auf eine soziologische Laufbahn festgelegt
waren. Bourdieu studierte als Hochbegabter an der École Normale Supérieure in Paris zunächst
Philosophie, die prestigeträchtigste Disziplin im französischen Fächerkanon. Er schien sich zunächst
auch darauf konzentrieren zu wollen, weil er danach – üblich zur Vorbe520reitung einer
geisteswissenschaftlichen Universitätskarriere in Frankreich – auch kurze Zeit als Philosophielehrer
in der französischen Provinz tätig war. Aber Bourdieu zeigte sich von der Philosophie zunehmend
enttäuscht und entwickelte statt dessen verstärkt ethnologische Interessen, so daß er als Autodidakt
zum empirisch arbeitenden Ethnologen und schließlich zum Soziologen wurde. Die Abkehr von der
Philosophie und die Hinwendung zur Ethnologie bzw. Soziologie hingen teilweise damit zusammen,
daß in dieser Zeit der Stern von Lévi-Strauss aufzugehen begann: Durch den Anspruch der strengen
Wissenschaftlichkeit schickte sich die strukturalistische Anthropologie an, den traditionellen Vorrang
der Philosophie im Fächerkanon anzugreifen. Bourdieu fühlte sich zu dieser neu aufsteigenden,
vielversprechenden Disziplin hingezogen, wobei er durchaus auch vom anti-philosophischen Affekt
des Strukturalismus (siehe die letzte Vorlesung) erfaßt wurde, der in seinem Werk immer wieder zu
finden ist, wenn er etwa gegen die bloß theoretische Vernunft der Philosophie zu Felde zieht.
Der Weg zur Ethnologie und Soziologie war aber auch durch äußere Lebensumstände bedingt,
insofern Bourdieu in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre als Wehrpflichtiger in Algerien stationiert
war und dort unter den sicherlich extrem schwierigen Bedingungen des Algerienkrieges Material für
sein erstes Buch, eine Soziologie Algeriens (Sociologie de l’Algérie, 1958), sammeln konnte – eine
Art intellektueller Verarbeitung seiner Erfahrungen in jener französischen Kolonie (vgl. dazu Derek
Robbins, The Work of Pierre Bourdieu, S. 10 ff.). In diesem Kontext betrieb er auch Feldforschungen
bei den Kabylen, einem Berbervolk im Norden Algeriens, was zur Veröffentlichung einer Reihe von
ethnologischen Schriften und Aufsätzen führte, die – gebündelt und später erweitert – als Buch mit
dem deutschen Titel Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der
kabylischen Gesellschaft erschienen. Dieses im Französischen 1972 publizierte und dann für die
deutsche (und englische) Übersetzung stark ergänzte Werk wurde deshalb so enorm einflußreich und
berühmt, weil hier Bourdieu den Weg des Lévi-Straussschen Strukturalismus, in dessen Fußstapfen er
sich ursprünglich gestellt hatte, verließ und gleichzeitig eine eigene Begrifflichkeit entwickelte, die
das Versprechen auf eine wahrhaft synthetische Theoriebildung enthielt.
Fast gleichzeitig mit diesen eher ethnologischen Studien beginnt 521Bourdieu seine dort
gewonnenen theoretischen Einsichten für die soziologische Analyse der französischen Gesellschaft
nutzbar zu machen, vor allem ihres Kultur-, Bildungs- und Klassensystems. Das Marxsche Werk war
dabei im Hinblick auf die verfolgte gesellschaftskritische Stoßrichtung in vielerlei Hinsicht sein Vor-
und Leitbild: In den 1960er Jahren erscheinen in diesem Zusammenhang eine ganze Reihe von Essays,
die später z. T. auch in Form von Aufsatzbänden ins Deutsche übersetzt werden, wobei hier in erster
Linie Zur Soziologie der symbolischen Formen, Die Illusion der Chancengleichheit und Eine
illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie zu nennen wären. Bourdieu (und
seine Koautoren) versuchen in diesen Studien, die klassenmäßig höchst unterschiedliche
Wahrnehmung von Kunst und Kultur zu beschreiben und zu verdeutlichen, daß der Klassenkampf auch
mittels jener je unterschiedlichen Aneignung von Kunst und Kultur geführt wird: Klassen grenzen sich
von anderen durch ein völlig anderes Kunst- und Kulturverständnis ab und reproduzieren so mehr
oder minder ungewollt die Klassenstrukturen der (französischen) Gesellschaft. Diese These wurde
von Bourdieu besonders spektakulär in seinem vielleicht berühmtesten kultursoziologischen Werk
ausgeführt, nämlich in La distinction. Critique sociale du jugement (1979; dt.: Die feinen
Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft).
Die in der Folgezeit erscheinenden Werke ergänzen bzw. vervollständigen nur mehr die bereits früh
angelegte Forschungs- und Theorieorientierung von Bourdieu. Kultursoziologisch bedeutsam
geworden sind vor allem zwei große Untersuchungen: Homo Academicus aus dem Jahre 1984, eine
Analyse des französischen Universitätssystems und insbesondere seiner Krise am Ende der 1960er
Jahre, und Les règles de l’art (dt.: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen
Feldes) aus dem Jahre 1992, eine historisch-soziologische Untersuchung der Herausbildung einer
autonomen Kunstszene im Frankreich der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Daneben publizierte
Bourdieu aber immer auch Werke, mit denen er seine theoretischen Ambitionen untermauerte, wobei
hier in erster Linie Le sens pratique (1980; dt.: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft)
und Méditations pascaliennes aus dem Jahre 1997 (dt.: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen
Vernunft) zu nennen wären. Aber selbst bei diesen eher theoretischen Arbeiten wird man sagen
können, daß er die bereits in Entwurf einer Theorie der Praxis 522vorgelegte Begrifflichkeit nur
punktuell ausbaut, sie aber vor allem gegen Angriffe verteidigt. Eine Theorieentwicklung ist hingegen
kaum mehr erkennbar: Bourdieus Theoriegebäude unterscheidet sich von demjenigen der anderen
bisher behandelten Großtheoretiker also dadurch, daß – um die Sprache des Baugewerbes
weiterzuverwenden – nicht nur die Grundmauern, sondern auch der Rohbau und sogar das Dach sehr
schnell entstanden waren, die spätere Theoriearbeit sich somit nur mehr auf die Fassade und die
Inneneinrichtung beziehen mußte. Die Theorie ist also, seit sie in den 1960er Jahren entwickelt
worden war, nicht mehr entscheidend verändert worden.
Lediglich die Person Bourdieus bzw. seine Rolle schienen sich im Laufe der Zeit wesentlich zu
wandeln. Zwar war Bourdieu politisch immer auf seiten der Linken aktiv, doch geschah dies im
Vergleich zur Tätigkeit anderer französischer Intellektueller zumeist wenig spektakulär, oft im
verborgenen, von einer breiten Öffentlichkeit nicht wirklich wahrgenommen. Dieses hintergründige
Wirken hing auch mit seiner immer wieder geäußerten Kritik an den französischen Großintellektuellen
à la Jean-Paul Sartre zusammen, die ihre Fachkompetenzen oft deutlich überschritten und sich somit
eine Allzuständigkeit und öffentliche Verantwortung anmaßten, die ihnen nicht zustand. Solche
Zurückhaltung gab Bourdieu jedoch spätestens in den 1990er Jahren auf, als er – bis zu seinem Tod
im Jahre 2002 – zunehmend zu einer Symbolfigur der Globalisierungskritiker und damit fast
automatisch zu eben dem Großintellektuellen wurde, der er eigentlich nie hatte sein wollen. Das 1993
publizierte Buch La Misère du Monde (dt.: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen
alltäglichen Leidens an der Gesellschaft) war als eine Art empirischer Aufweis der negativen
Auswirkungen der Globalisierung in unterschiedlichen Lebensbereichen und Kulturen gedacht. Man
wird Bourdieu also zugute halten müssen, daß er bis zuletzt eine rein pamphletistische Rolle
vermieden hat. Dazu war seine empirische Forschungsausrichtung zu stark wie auch seine an
Durkheim erinnernde Ambition, die Soziologie im Fächerkanon Frankreichs zu stärken und gerade
von der Philosophie und der Sozialphilosophie abzugrenzen, zu ausgeprägt. Bourdieu war – durchaus
machtbewußt – immer auch am institutionellen Ausbau einer von ihm präferierten empirischen
soziologischen Forschungsrichtung interessiert, was er auch als Herausgeber der 1975 von ihm
gegründeten und auch einem breiteren Publikum zugänglichen 523Zeitschrift Actes de la recherche en
sciences sociales demonstrierte. (Zu Bourdieus intellektueller Biographie vgl. das mit ihm geführte
Interview in Rede und Antwort, S. 15-49.)

Wir werden bei der Darstellung der Bourdieuschen Theorie folgendermaßen vorgehen: Zunächst
werden wir uns genauer mit jenem frühen, besonders auch theoretisch relevanten Werk, nämlich
Entwurf einer Theorie der Praxis, beschäftigen, weil sich hier bereits die Grundzüge seiner
Argumentationsweise finden. Auch wenn wir immer wieder Präzisierungen und Erläuterungen aus
späteren Werken heranziehen, geht es uns darum, Ihnen verständlich zu machen, warum und mit
welchen Ideen Bourdieu schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt bestimmte Problemstellungen angeht
(1). Sodann werden wir uns – immer wieder Bezug nehmend auf dieses frühe Werk und Ihnen dabei
gleichzeitig die Bourdieusche Begrifflichkeit vorstellend – in durchaus kritischer Absicht der Frage
widmen, welches handlungstheoretische Modell Bourdieu verficht und welche Probleme dabei
auftauchen (2). Danach werden wir die Gesamtarchitektonik der Bourdieuschen Theorie präsentieren
und nach neuralgischen Punkten in der Statik suchen (3), bevor wir dann so plastisch und gleichzeitig
so kurz wie möglich einige charakteristische Aspekte der kultursoziologischen Arbeiten Bourdieus
vorstellen (4) und die Wirkung seines Werkes beleuchten (5).

1. Wir beginnen also mit jener schon genannten frühen Untersuchung zur kabylischen Gesellschaft, die
einen programmatischen, allerdings durchaus erläuterungsbedürftigen Titel trägt, eben: Entwurf einer
Theorie der Praxis. Bourdieu – dies klang ja schon in den Ausführungen zu seiner intellektuellen
Biographie an – war in den 1950er Jahren in den Sog der Lévi-Straussschen Anthropologie geraten
und hatte seine ethnologische Feldforschung in der Kabylei mit den im Strukturalismus üblichen
Themenschwerpunkten begonnen: Untersuchungen der Verwandtschaftsmuster, des Heiratsverhaltens
und der Mythologie sollten Aufschluß über die Logik der in der dortigen Gesellschaft ablaufenden
Prozesse geben, über die Art und Weise, wie sich diese Gesellschaft auf der Basis bestimmter Regeln
immer wieder selbst reproduziert. Die von Bourdieu vorangetriebenen Forschungen führten jedoch
nicht zu den erwarteten Ergebnissen, vor allem nicht zur Bestätigung der strukturalistischen
524Prämisse von der Konstanz der (Heirats-, Austausch-, Kommunikations-) Regeln, entlang deren
sich die Menschen angeblich immer bewegen. Bourdieu stellte statt dessen fest, daß Regeln von den
Akteuren ziemlich beliebig gegeneinander ausgespielt werden, so daß kaum mehr von einer
Regelbefolgung die Rede sein kann, oder daß einer Regel nur gefolgt wird, um handfeste Interessen
zu verschleiern. Besonders deutlich macht er letzteres im Anfangskapitel des Buches, in dem er sich
dem Phänomen der »Ehre« widmet: Ehre spielt in der kabylischen Gesellschaft – aber natürlich nicht
nur dort – eine extrem wichtige Rolle; sie scheint sich nicht mit schnöden ökonomischen Interessen in
Verbindung bringen zu lassen, weil »ehrbares Verhalten« einem an Profit orientierten Handeln
geradezu entgegengesetzt ist. Nur der hat Ehre, der nicht gierig ist und den man nicht kaufen kann!
Und gerade in der kabylischen Gesellschaft sind die Rituale besonders ausgeprägt, mit denen
demonstriert wird, daß man ehrbar handelt und eine ehrbare Person ist. Bourdieu zeigt nun aber, daß
diese Rituale der Ehre (Profit-)Interessen häufig nur verschleiern, daß also die Akteure genau eine
solche Verknüpfung zwischen Ehre und Interesse wenn nicht sehen, so doch zumindest unbewußt
herstellen: Man hält sich an die Rituale der Ehre, gerade weil man damit auch seine Interessen
fördert.
Es ist üblich, daß der Verkäufer bei Abschluß eines größeren Geschäfts, z. B. beim Verkauf eines Ochsen, dem Käufer einen Teil der
Summe, die er gerade bekommen hat, ostentativ zurückgibt, ›damit dieser Fleisch für seine Kinder kaufen kann‹. Und der Vater der
Braut handelte ebenso, wenn er, meist nach erbittertem ›Feilschen‹, das Wittum erhielt (…): Je größer der zurückgegebene Teil war,
desto mehr Ehre erwarb man sich, als wollte man dadurch, daß man die Transaktion durch eine großzügige Geste krönt, das Feilschen in
einen Ehrenaustausch verwandeln; und dieser Handel konnte wiederum nur darum so offen als erbittertes Feilschen erscheinen, weil das
Streben nach dem größtmöglichen materiellen Profit sich dabei unter dem Mantel des Ehrenwettstreits, d. h. dem Streben nach dem
größtmöglichen symbolischen Profit verbarg. (Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 46)

Hinter den Ritualen der Ehre stehen also durchaus handfeste Interessen, die man jedoch übersieht,
wenn man wie die strukturalistischen Ethnologen nur die Logik der Regeln beschreibt. Hinzu kommt,
daß genau aus diesem Grunde Regeln beileibe nicht so starr sind und bei weitem nicht die
verhaltensdeterminierende Wirkung 525haben, wie dies orthodox-strukturalistische Autoren
unterstellen. Wie Bourdieu beobachten konnte, werden Regeln, die nicht mit den Interessen der
Akteure übereinstimmen, häufig auch gebrochen, so daß er zu folgender Schlußfolgerung gelangt:
Dem Handeln der Menschen wohnt in bezug auf Regeln und Muster, Rituale und Vorschriften
offensichtlich ein Moment der »Unvorhersagbarkeit« (Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 31) inne,
welches die ganze strukturalistische Regel-Terminologie und die dahinter stehenden Prämissen in
Frage stellt. Bourdieu setzt dagegen die Einsicht, daß Regelbefolgung immer mit einem konfliktuellen
Moment verbunden ist: Wenn nicht gar Regeln – was durchaus vorkommt – völlig ignoriert werden,
so hat doch zumindest jeder regelgeleitete Tauschakt, jedes regelgeleitete Gespräch, jede
regelgeleitete Heirat auch den Sinn, die Interessen der Beteiligten zu wahren oder durchzusetzen bzw.
die soziale Stellung der Interaktionspartner zu verbessern. Regeln werden also bewußt von den
Akteuren instrumentalisiert:
Da jeder Austausch eine mehr oder weniger verschleierte Herausforderung in sich trägt, ist die Logik von Herausforderung und
Erwiderung nur die äußerste Grenze, zu der jede Kommunikationshandlung, ganz besonders der Austausch von Geschenken,
hintendiert. Aber die Versuchung, den anderen herauszufordern und das letzte Wort haben zu wollen, findet ihr Gegengewicht in der
Notwendigkeit, mit den anderen zu kommunizieren. Den anderen gar zu sehr auf die Probe zu stellen bringt das Risiko mit sich, den
Austausch dadurch zu unterbrechen. Die Kommunikation vollzieht sich also in dem Kompromiß zwischen Vertrag und Konflikt.
(Bourdieu, a.a.O., S. 29; unsere Hervorh.)

Bourdieu wirft dem Strukturalismus vor, diese Interessenbezogenheit des Handelns gesellschaftlicher
Akteure vollkommen außer acht gelassen zu haben zugunsten einer höchst idealisierten Beschreibung
der Regeln und kulturellen Muster. Menschen – so Bourdieu – manipulieren durchaus auch Regeln
und Muster; sie sind nicht nur passive Objekte von sozialen Klassifikationssystemen. Gerade weil
Akteure ihre Interessen verfolgen, ist von der stetigen Differenz zwischen »Offiziellem und
Usuellem« (a.a.O., S. 89) und zwischen (theoretisch) konstruiertem Modell und der Praxis der
Akteure auszugehen. Die gesellschaftlichen Regeln ausfindig zu machen sei vielleicht ganz hilfreich,
es reiche aber bei weitem nicht aus, um damit an die Praxis der Akteure heranzukommen:
526(…) die logischen Beziehungen, die der Ethnologe aufstellt, [verhalten sich] zu den Gebrauchsbeziehungen, d. h. den (im doppelten
Sinne des Wortes) »praktischen« Beziehungen – sie werden fortlaufend praktiziert und, wie man sagt, unterhalten und gepflegt – wie der
geometrische Raum einer Landkarte als imaginäre Darstellung aller theoretisch möglichen Straßen und Wegstrecken zu dem Netz der
tatsächlich instand gehaltenen, begangenen, gebahnten und darum leicht einzuschlagenden Wege. (Bourdieu, a.a.O., S. 82)

Letztlich ist dies eine massive Kritik am Strukturalismus (und der Titel des Buches Entwurf einer
Theorie der Praxis deutet genau darauf hin!), zumal sich Bourdieu auch dagegen sperrt, das für den
Strukturalismus so inspirierende Saussuresche Paradigma der Sprachanalyse auf die soziale Welt zu
übertragen (a.a.O., S. 155). Damit zieht er natürlich gleichzeitig die theoretische wie empirische
Fruchtbarkeit der strukturalistischen Ethnologie und Soziologie von Lévi-Strauss in Zweifel.
Die Saussuresche Konstruktion erlaubt nur so weit die strukturellen Eigenschaften der Botschaft als solche, d. h. als System zu
konstituieren, als sie sich einen jeweiligen unpersönlichen und austauschbaren, also beliebigen Sender und Empfänger vorgibt und dabei
von den funktionellen Eigenschaften abstrahiert, die eine jede Botschaft der spezifischen Verwendung innerhalb einer besonderen, sozial
strukturierten Interaktion verdankt. (…) Kurz, sobald von der Struktur der Sprache auf die Funktionen, die sie erfüllt, d. h. auf die
Verwendungen, die die Individuen real von ihr machen, übergegangen wird, zeigt sich deutlich, daß die bloße Kenntnis des Codes allein
die praktisch vollzogenen Interaktionen nur mangelhaft zu beherrschen gestattet (…). (Bourdieu, a.a.O., S. 155/156)

Gerade ein genauerer Blick auf die tatsächliche Praxis der »Untersuchungsobjekte« zeigt also laut
Bourdieu die Unangemessenheit bzw. das Ungenügen der strukturalistischen Analyse. Um es mit
etwas abstrakteren Begriffen zu fassen: Bourdieu führt in seinen ursprünglich strukturalistischen
Theorierahmen handlungstheoretische Momente ein, nämlich das nicht regelkonforme,
interessenbezogene Verhalten der Akteure. Dieser Schritt sollte das strukturalistische Paradigma
deutlich verändern. Wie er an anderer Stelle später sagte, wandte er sich insbesondere gegen die
»befremdliche Handlungstheorie« des Strukturalismus, »die den Handelnden dadurch zum
Verschwinden bringt, daß sie ihn auf die Rolle des Trägers einer Struktur reduziert« (Die Regeln der
Kunst, S. 285/286).
527Dennoch erfolgt kein vollständiger Bruch mit dem Strukturalismus: Bourdieu bleibt zeit seines
Lebens der strukturalistischen Denkweise verbunden, was sich auch darin dokumentiert, daß er seinen
eigenen Ansatz als »genetischen« oder »konstruktivistischen Strukturalismus« bezeichnet (vgl. etwa
Rede und Antwort, S. 135). Worin freilich genau diese Verbundenheit besteht, wird erst im Lauf der
Bourdieuschen Werkentwicklung deutlich. Dies ist natürlich der überwiegend empirischen
Ausrichtung der Bourdieuschen Arbeit geschuldet, die es nicht immer notwendig erscheinen läßt, die
eigene Begrifflichkeit gegenüber anderen theoretischen Ansätzen zu positionieren und zu profilieren.
So finden sich erst in seinem nächsten größeren theoretischen Werk (Sozialer Sinn, S. 12) klare
Hinweise auf die Art und Weise seiner strukturalistischen »Prägung«, wenn er etwa den
Strukturalismus dafür lobt, daß »er das relationale Denken in die Sozialwissenschaften eingeführt«
und »mit dem substantialistischen Denken« gebrochen habe. Bourdieus Denken lehnt sich an den
Strukturalismus (und manchmal auch an den Funktionalismus) an. Für ihn ist daher nicht der einzelne
Akteur der entscheidende Ansatzpunkt der Analyse, sondern ausschlaggebend sind die Beziehungen
der Akteure zueinander bzw. die Beziehungen der Positionen in einem System oder – wie er sagen
wird – in einem »Feld«. »Felder« sind – um eine Definition Bourdieus zu zitieren – Räume,
die ihre Struktur durch Positionen (oder Stellen) bekommen, deren Eigenschaften wiederum von ihrer Position in diesen Räumen
abhängen und unabhängig von den (partiell durch sie bedingten) Merkmalen ihrer Inhaber untersucht werden können. Es gibt allgemeine
Gesetze von Feldern: So ungleiche Felder wie das Feld der Politik, das Feld der Philosophie, das Feld der Religion haben invariante
Funktionsgesetze (…) Immer wenn man ein neues Feld untersucht, das Feld der Philologie im 19. Jahrhundert oder der Mode heute oder
der Religion im Mittelalter, entdeckt man besondere, nur für ein bestimmtes Feld charakteristische Merkmale und erweitert doch
gleichzeitig das Wissen über die universalen Mechanismen von Feldern (…). (Bourdieu, Soziologische Fragen, S. 107)

Es ist ihm zufolge nicht sinnvoll, das Verhalten einzelner Akteure isoliert zu analysieren, wie dies
viele Handlungstheoretiker unreflektiert tun, wenn nicht gleichzeitig die Position des jeweiligen
Akteurs in einem solchen »Feld« bestimmt wird, in dem die Handlung erst ihre Bedeutung erhält.
»Felder« bieten Möglichkeiten des Handelns, 528aber eben nur bestimmte Möglichkeiten, was nichts
anderes heißt, als daß andere Handlungsmöglichkeiten ausgeschlossen werden, daß die Akteure also
Zwängen unterliegen: Die Logik des Handelns im religiösen Feld ist notwendig eine andere als
beispielsweise diejenige im künstlerischen, weil auch die Zwänge je unterschiedliche sind. Diese
Zwänge und Grenzen prägen die Handlungsdispositionen der Akteure – der Propheten wie der
Gläubigen, der Künstler wie des Publikums –, weshalb es wenig ergiebig sein dürfte, nur die
biographischen Hintergründe eines Handelnden, eines Propheten, eines Künstlers, eines Autors zu
untersuchen, um religiöse oder künstlerische Phänomene zu erklären (vgl. Meditationen, S. 148 f.).
Aus diesem Grund redet Bourdieu ganz bewußt nicht von »Subjekten«, sondern allenfalls von
Akteuren. Akteure sind für ihn – und dies habe der Strukturalismus übersehen – »eminent aktiv und
handlungstüchtig«! Aber Foucaults provozierende strukturalistische Rede vom »baldigen Ende des
Menschen« bzw. vom »Tod des Subjekts« habe insofern ihre Berechtigung, als damit nur die
(strukturalistische) Einsicht in die entscheidende Bedeutung der Relationen und Beziehungen (in
Feldern) formuliert und die etwa bei Sartre und vielen anderen Philosophen und Soziologen zu
findende Idee eines sich selbst schöpfenden autonomen Subjekts mit guten Gründen zurückgewiesen
werde (vgl. das Vorwort zu Praktische Vernunft, S. 7 ff.). Diese strukturalistische »Erkenntnis« wird
Bourdieu mit großer Vehemenz immer wieder verteidigen, und darauf basieren auch seine Attacken
gegen bestimmte soziologische oder philosophische Strömungen, welche – wie es bei ihm heißt – die
»biographische Illusion« nähren. Bourdieus Kritik an Vorstellungen, wonach die Biographie eine
Schöpfung des Menschen und das Leben ein Ganzes sei, das sich quasi aus den frühesten
Bestrebungen eines Subjekts ergebe und dann im Laufe des Lebens zur Reife gelange, ist
erbarmungslos. Bourdieu weist statt dessen immer wieder darauf hin, daß sich »Sinn und sozialer
Stellenwert biographischer Ereignisse« nicht aus dem Subjekt heraus konstituieren, sondern aus der
»Platzwahl« und dem »Platzwechsel« der Akteure in einem sozialen Raum, der den biographischen
Ereignissen erst die Bedeutung zuweist, die sie letztlich für den Akteur dann haben (Die Regeln der
Kunst, S. 409 f.; vgl. auch Praktische Vernunft, S. 75 ff.). Menschen sind somit nicht »Subjekte«,
sondern Akteure in einem sie selbst zutiefst prägenden Feld!
529Aber wir wollen bei der Besprechung des Bourdieuschen Werkes nicht zu weit vorgreifen,
sondern uns wieder auf jenes frühe Buch Entwurf einer Theorie der Praxis konzentrieren. Auch
wenn dieser Text an manchen Stellen noch wenig prägnant formuliert war und eine deutlichere
Klärung der Bourdieuschen Position erst später erfolgte, lag damit Bourdieus synthetischer Anspruch
schon auf dem Tisch. Denn er machte dort unmißverständlich klar, daß jede handlungstheoretische
Position allein ungenügend sei: weder der Symbolische Interaktionismus noch phänomenologische
Strömungen innerhalb der Soziologie wie die Ethnomethodologie seien in der Lage, die eigentlich
interessanten soziologischen Sachverhalte zu entschlüsseln. Viel zu umstandslos begäben sich seiner
Auffassung nach diese Ansätze an die Stelle des Akteurs; sie übernähmen dessen naiven Blick auf die
Gegebenheit der Welt und vergäßen dabei, wie entscheidend die jeweiligen Positionen der Akteure
zueinander sind und in welchem Feld sie sich bewegen. Zur Stärkung seiner »objektivistischen«
Position macht Bourdieu nicht nur Anleihen beim Strukturalismus, der ihm in mancherlei Hinsicht als
zu idealistisch erscheint; er greift auch auf den »handfest« materialistischen Marxismus zurück, wenn
er etwa auf die Produktionsbedingungen verweist, auf deren Basis Heiratsrituale stattfinden und ohne
welche diese nicht zu verstehen seien:
Es reicht nicht aus, die naiven Formen des Funktionalismus lächerlich zu machen, um dann zu meinen, sich der Frage nach den
praktischen Funktionen der Praxis entledigt zu haben. Sicherlich bliebe einem das Ritual der kabylischen Heirat unverständlich, ginge man
aus von einer universellen Definition der Funktionen der Heirat, verstanden als ein Verfahren, das die Reproduktion der Gruppe in den
durch sie gebilligten Formen gewährleistet. Aber wir würden allem Anschein zuwider noch weniger verstehen, gingen wir von einer
strukturalen Analyse aus, die von den spezifischen Funktionen der rituellen Praktiken absieht oder die es unterläßt, nach den
ökonomischen und gesellschaftlichen Produktionsbedingungen der generativen Dispositionen und jener Praktiken sowie nach der
kollektiven Definition der praktischen Funktionen, in deren Diensten diese funktionieren, zu fragen. (Bourdieu, Entwurf einer Theorie
der Praxis, S. 257; unsere Hervorh.)

Kritisch gegenüber einer von ihm als subjektivistisch bezeichneten Handlungstheorie behauptet
Bourdieu letztlich den Vorrang einer objektivistischen Analyseform, bei der die Strukturen eines
sozialen Feldes durch den soziologischen Beobachter bestimmt werden – Struk530turen, die den
Akteuren Zwänge auferlegen, deren diese sich selbst zumeist nicht bewußt sind. Loic Wacquant, ein
Bourdieu eng verbundener Soziologe, hat dies folgendermaßen formuliert und dabei Vergleiche
zwischen dem »Objektivismus« der Durkheimschen Analysemethode und derjenigen Bourdieus
gezogen:
Die Anwendung von Durkheims erstem Prinzip der ›soziologischen Methode‹, nämlich die systematische Ausschaltung aller Vorbegriffe,
muß der Analyse des praktischen Begreifens der Welt aus subjektivistischer Sicht vorausgehen, variiert doch die Sichtweise der Akteure
selber systematisch in Abhängigkeit von dem Punkt, auf dem sie sich im objektiven sozialen Raum befinden. (Bourdieu/Wacquant,
Reflexive Anthropologie, S. 29/30)
Gleichzeitig ist aber für Bourdieu der (objektivistisch) verfahrende Strukturalismus allein
ungenügend, ebenso wie der gleichfalls objektivistische, d. h. die Sichtweisen der Akteure
ignorierende Funktionalismus. An der Handlungsfähigkeit und Handlungsmächtigkeit der Akteure soll
sein soziologischer Ansatz nicht vorbeigehen. Das aber bedeutet: Bourdieu will und muß – und er
formuliert es explizit in diesen Begriffen – zwischen der Skylla der »Phänomenologie« bzw. des
»Subjektivismus« und der Charybdis des »Objektivismus« hindurchsegeln. Alle diese Arten der
Erkenntnis sind ihm zufolge für sich allein defizitär, weshalb er einen dritten Modus der
soziologischen Erkenntnis anstreben will, den er – in diesem frühen Buch zumindest – den
»praxeologischen« nennt, einen Modus, der über den »Objektivismus« hinausgeht und die Handlungen
der Akteure ernst nimmt. Dies kann nur gelingen, wenn gezeigt wird, daß eine »dialektische
Beziehung [besteht] zwischen diesen objektiven Strukturen [der Felder] und den strukturierten
Dispositionen [der Handelnden]« (Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 147), daß sich also Handeln
und Strukturen in ihrem Wechselverhältnis bedingen.
Aufmerksamen Lesern des letzten Zitats wird vielleicht aufgefallen sein, daß hier etwas angestrebt
wird, was wir auch bei der Vorlesung zu Anthony Giddens schon kennengelernt haben: Bourdieu redet
ebenfalls von »Strukturierung« bzw. »strukturieren«. Auch wenn diese aktivische Begrifflichkeit nicht
die systematische Bedeutung wie bei Giddens erhalten sollte (zum Teil auch deshalb, weil Bourdieu
eben kein »reiner« Sozialtheoretiker war und die Ausarbeitung einer Art Sozialontologie, wie wir
das bei Giddens gesehen haben, vermutlich sogar entschieden abgelehnt hätte), so ist doch 531klar,
daß Bourdieu damit auf eine Position zustrebt, welche im Gegensatz zu Funktionalisten und
Strukturalisten von der »Gemachtheit« der Strukturen und ihrer stetigen Reproduktion durch die
Akteure ausgeht. Gleichzeitig betont er – im Unterschied zu einer angeblich von reinen
Handlungstheoretikern vertretenen Auffassung – aber auch die Wirkungsmächtigkeit und kausale
Qualität dieser Strukturen.

2. Bisher ist der theoretische Ansatz Bourdieus nur vage bestimmt worden; seine von uns referierten
Aussagen stellen eher Absichtsbekundungen dar, die den Anspruch auf eine Theoriesynthese mehr
reklamieren als einlösen. Wenn Bourdieu sagt, daß er weder »phänomenologisch« noch
»objektivistisch« verfahren will, so ist ja sein Programm vorerst nur negativ bestimmt. Die Frage
stellt sich nun, wie er die handlungstheoretischen Elemente – die Akteursebene – in seinen Ansatz
einbaut, wie er sich konkret das Handeln der Akteure vorstellt, die jenen Strukturierungsprozeß
vorantreiben, der selbst wieder das Handeln der Akteure strukturiert. Es liegt nahe, nach der
Bourdieuschen Beziehung zum Utilitarismus und dessen Handlungstheorie zu fragen, vor allem
deshalb, weil Bourdieu so häufig von den »Interessen« der Akteure spricht. Und tatsächlich ist von
verschiedenen Interpreten (vgl. insbesondere A. Honneth, »Die zerrissene Welt der symbolischen
Formen«) die These vertreten worden, daß Bourdieus Ansatz eine Amalgamierung von
Strukturalismus und Utilitarismus darstelle, eine These bzw. Deutung seines Werkes, die Bourdieu –
betrachtet man seine Reaktionen darauf – wohl wie keine andere getroffen und die er immer wieder
vehement zurückgewiesen hat. In der Tat hat sich Bourdieu in vielen Schriften als ein vehementer
Kritiker des Utilitarismus und des Rational-Choice-Ansatzes gezeigt – und wichtige Aspekte seines
Werkes sind tatsächlich so gestaltet, daß sie nur schwer mit den Grundannahmen utilitaristischer oder
neo-utilitaristischer Argumentationen vereinbar wären. Gleichwohl erübrigt sich damit nicht die
Frage, ob nicht andere, vielleicht ebenso wichtige Aspekte dieses Werkes eben doch an den
Utilitarismus erinnern. Was also – vgl. hierzu nochmals die Fünfte Vorlesung – unterscheidet die
Bourdieuschen Akteure von denjenigen, wie sie modellhaft im Utilitarismus gedacht werden?
Der erste Bourdieusche Kritikpunkt gegenüber dem utilitaristischen Denken ist bereits angedeutet
worden; gerade weil dieses 532Denken den isolierten Akteur in den Mittelpunkt stellt, wird ebenjene
relationale Analyseweise ignoriert, die laut Bourdieu erst die entscheidenden Einsichten in das
Funktionieren der sozialen Welt eröffnet. Diese Kritik soll dabei nicht allein utilitaristische Theorien,
sondern im Prinzip alle handlungstheoretisch verfahrenden Ansätze treffen. Spezifischer ist deshalb
erst die zweite Kritik: Bourdieu bemängelt an utilitaristischen Ansätzen, daß sie systematisch die
Frage der Herkunft von Nutzenkalkülen und Interessen außer acht lassen. »Da die Theorie des
rationalen Handelns die Existenz eines universalen präkonstituierten Interesses voraussetzt, stellt sich
für sie die Frage nach der sozialen Genese der verschiedenen Formen von Interesse gar nicht erst.«
(Bourdieu/Wacquant, Reflexive Anthropologie, S. 158) Zudem hat Bourdieu in seinen ethnologischen
Untersuchungen immer wieder zeigen können, daß die im modernen westlichen Kapitalismus
typischen rational-ökonomischen Kalküle in anderen Gesellschaften so überhaupt nicht zu finden sind.
Utilitaristen – so Bourdieu – universalisieren also ein in den modernen kapitalistischen
Gesellschaften entstandenes Handlungskalkül zur anthropologischen Disposition des Menschen
schlechthin. Entscheidender bzw. typischer als diese durchaus bekannte Kritik ist der dritte Einwand
Bourdieus, der Vorwurf, daß Utilitaristen die Logik der Theorie mit der Logik der Praxis
verwechselten:
Der Aktor, wie diese Theorie ihn versteht, ist nichts weiter als die imaginäre Projektion des akademisch denkenden Subjekts auf den
Akteur, eine Art Ungeheuer mit dem Kopf eines Denkers, der seine Praxis logisch-reflexiv denkt, und dem Körper eines Mannes, der
sich handelnd einläßt. Diese imaginäre Anthropologie möchte das Handeln, ob ökonomisch oder nicht, auf die Grundlage der bewußten
Entscheidung eines von allen ökonomischen und sozialen Konditionierungen freien Aktors stellen. (Bourdieu, a.a.O., S. 156)

Mit diesem Zitat spricht Bourdieu zuallererst an, daß der Utilitarismus eine falsche Vorstellung von
tatsächlichen Handlungsabläufen habe, die eben in den meisten Fällen nicht völlig rational und
reflexiv gestaltet sind. Eine solche vom Utilitarismus unterstellte Rationalität und Reflexivität sei nur
unter besonderen Umständen – etwa im geschützten Raum der Wissenschaft – möglich, ist unter den
üblichen Bedingungen der Praxis aber eher selten. Handeln ziele zwar auf die Verwirklichung von
Interessen, nur selten aber im Sinne 533einer bewußten Verfolgung dieser Interessen. Bourdieu
vertritt hier eine ähnliche Position wie Anthony Giddens und befindet sich damit gleichzeitig in der
Nähe des amerikanischen Pragmatismus (vgl. dessen Begriff des »habit«). Das Handeln – so
Bourdieu – folgt zumeist einer praktischen Logik, die oft von Routineanforderungen geprägt ist und
die deshalb die von den Rational-Choice-Theoretikern geforderte Reflexionsfähigkeit gar nicht erst
braucht. In unseren Körper prägen sich, bedingt durch die Sozialisation, frühere Erfahrungen usw.,
bestimmte Handlungsdispositionen ein, die zumeist ohne Bewußtsein abgerufen werden können und
dann die Form des Handelns vorbestimmen. Diese Idee faßt Bourdieu mit dem ursprünglich bei
Husserl gefundenen Begriff des »Habitus«, ein zentraler Terminus in seiner Theorie, den er schon
früh entwickelt hat und mit dessen Hilfe er sich immer wieder von anderen Theorierichtungen
absetzen wird.
In Entwurf einer Theorie der Praxis bestimmt er den Habitus als ein »System dauerhafter und
versetzbarer Dispositionen« folgendermaßen: Der Habitus,
der, alle vergangenen Erfahrungen integrierend, wie eine Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix funktioniert, [gestattet es] dank
der analogischen Übertragung von Schemata, die Probleme gleicher Form zu lösen (…) und [ermöglicht es] dank der von jenen
Resultaten selbst dialektisch geschaffenen Korrekturen der erhaltenen Resultate (…) unendlich differenzierte Aufgaben zu erfüllen.
(Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 169)

Das hört sich kompliziert an, ist aber eigentlich leicht zu erklären: Bourdieu geht davon aus, daß wir
von Kindheit an in der Familie, in der Schule, in der Arbeitswelt bestimmte Denk-, Wahrnehmungs-
und Handlungsschemata antrainiert bekommen, die es uns erlauben, in der Regel problemlos auf
unterschiedliche Situationen zu reagieren, praktische Aufgaben zu lösen etc. Unsere
Körperbewegungen, unser Geschmack, unsere banalsten Deutungen der Welt werden schon frühzeitig
geformt und bestimmen dann in entscheidendem Ausmaß unsere weiteren Handlungsmöglichkeiten.
Zwar weisen die vom Habitus hervorgebrachten praktischen Handlungen, spezifischen Weisen zu gehen, zu sprechen, wahrzunehmen,
die Geschmäcker und Abneigungen alle Merkmale instinktiven Verhaltens und im besonderen des Automatismus auf; aber es ist nicht
minder richtig, daß ein Moment partiellen, lückenhaften, diskontinuierlichen Bewußtseins stets mit 534den Handlungen und Praktiken
einhergeht, sei es in Form jenes Mindestmaßes an Wachsamkeit, das zur Steuerung des Ablaufs der Automatismen unerläßlich ist (…).
(Bourdieu, a.a.O., S. 207)

Die Rede von »Automatismen« bedeutet dabei nicht, daß Menschen auf Situationen immer auf die
gleiche Art, wie Automaten also, reagieren. Im Gegenteil, sie sind zu Neuerungen und Abwandlungen
vorhergehender Lösungen fähig, weil sie ihre Denk- und Handlungsschemata variabel anwenden und
dabei – wie Bourdieu sagt – »intentionslose Erfindungen« vorantreiben können. Wir besitzen einen
gewissen Spielraum des Verhaltens, in dem wir uns kreativ und innovativ bewegen! Aber
andererseits ist uns der Sprung aus diesem habituellen Verhalten, der vollkommene Ausbruch daraus,
nicht möglich, weil dieser Habitus Teil unserer Lebensgeschichte und unserer Identität ist. Für den
aufmerksamen Leser ergibt sich hier die Verbindungslinie zu Bourdieus kultursoziologischen und
klassentheoretischen Untersuchungen: Denn es ist klar, daß es in einer Gesellschaft nicht den Habitus
gibt, sondern daß in unterschiedlichen Klassen unterschiedliche Wahrnehmungs-, Denk- und
Handlungsformen antrainiert werden, wodurch sich Klassen gerade auch in ihrer Unterschiedlichkeit
stets reproduzieren. Aber dieser Aspekt soll uns hier noch nicht interessieren. Wichtiger ist vielmehr,
daß sich Bourdieu mit dem Habitus-Begriff von den bewußtseinsphilosophischen und
hochrationalistischen Annahmen des Utilitarismus und Neo-Utilitarismus zu lösen versucht, soweit
diese dort tatsächlich vertreten werden.
Wenn nun – wie gezeigt – Bourdieus explizite Abgrenzung gegenüber dem Utilitarismus eindeutig
ist und sich in seinem Theoriegebäude Elemente finden, die sich mit dem utilitaristischen Denken
schlicht nicht vereinbaren lassen, warum ist dann immer wieder der Vorwurf der »Utilitarismus-
Nähe« erhoben worden – und dies nicht nur von böswilligen Interpreten oder oberflächlichen Lesern?
Der Grund liegt darin, daß Bourdieu zwar sicherlich das Denken in ökonomischen Nutzenkategorien
kritisiert hat, daß die Form seiner Kritik aber für eine klare Distanzierung von utilitaristischen
Strömungen nicht ausreicht.
Denn auch der Utilitarismus ist, wie Sie in der Fünften Vorlesung gesehen haben, in sich ziemlich
differenziert, insofern die sogenannten Neo-Utilitaristen mit einigen Annahmen des alten Utilitarismus
535aufgeräumt haben. Die Neo-Utilitaristen haben etwa den Nutzenbegriff verabschiedet und durch
den neutraleren Begriff der »Präferenz« ersetzt, eben aus der Einsicht heraus, daß sich nur die
wenigsten Handlungen aus rein (ökonomischen) Nutzenkalkülen erklären lassen. Bourdieus Kritik am
»ursprünglichen« Utilitarismus geht zwar noch weiter, indem er durch den Habitusbegriff vor allem
das Modell des bewußt-rational handelnden Akteurs hinter sich läßt. Doch gleichzeitig hält er wie
alle Utilitaristen daran fest, daß Menschen (ob bewußt oder unbewußt) stets ihren Interessen – oder
Präferenzen – folgen. Menschen werden Bourdieu zufolge in ein »Feld« hineinsozialisiert und lernen
dort, sich angemessen zu verhalten; sie begreifen die Spielregeln und verinnerlichen die »Strategien«,
die für das erfolgreiche Spielen des Spiels unabdingbar sind. Und diese »Strategien« – ein von
Bourdieu immer wieder gebrauchter Terminus, obwohl er sich der Problematik dieses
(utilitaristischen) Begriffs angesichts seiner Utilitarismus-Kritik durchaus bewußt ist (vgl.
Bourdieu/Wacquant, Reflexive Anthropologie, S. 162) – zielen darauf ab, die Position des Spielers
im jeweiligen Feld zu verbessern oder zumindest seinen Status quo zu wahren.
Daß die Geschichte des Feldes die Geschichte des Kampfes um das Monopol auf Durchsetzung legitimer Wahrnehmungs- und
Bewertungskategorien ist: diese Aussage ist noch unzureichend; es ist vielmehr der Kampf selbst, der die Geschichte des Feldes
ausmacht; durch den Kampf tritt es in die Zeit ein. (Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 253)

Der Kampf um die Durchsetzung der Interessen der Akteure ist also Antriebsmoment des historischen
Wandels der Felder. Dabei müssen die im Feld verwendeten Strategien nicht allein auf ökonomische
Vorteile zielen – Bourdieu würde eine solche ökonomistische oder primitiv-utilitaristische
Sichtweise strikt ablehnen. Was er aber sagt, ist: Die Strategien zielen auf die Güter, für die es sich
im jeweiligen Feld zu spielen lohnt. Das kann – wie im Feld der Ökonomie – der finanzielle Profit
sein; in anderen Feldern hingegen sind die Strategien auf den Zuwachs an Reputation oder Ehre
ausgerichtet (was nicht unbedingt oder unmittelbar in finanzielle Vorteile umgesetzt werden kann).
Immer aber wird es darum gehen, die im jeweiligen Feld relevanten Interessen durchzusetzen – gegen
andere!
In dieser Argumentationsweise zeigt sich zweifellos eine mit utilitaristischen Versatzstücken
unterlegte Prämisse, die wir schon inner536halb der Konflikttheorie kennengelernt haben und auf die
auch Bourdieu durchaus explizit verweist: »Die soziale Welt ist ein Ort ständiger Kämpfe um den
Sinn dieser Welt.« (Bourdieu/Wacquant, Reflexive Anthropologie, S. 101) Der Begriff des
»Kampfes« taucht in seinem Werk ebenso häufig auf wie der der »Strategie«, und in gleicher Weise
wie im Utilitarismus und der Konflikttheorie blitzt nicht selten eine zynische Freude an der
Beobachtung des doch irgendwie scheinheiligen Verhaltens der Untersuchungsobjekte auf, deren
subjektive Motive man keinesfalls glauben darf:
Die einträglichsten Strategien sind meist die, welche außerhalb jeder Berechnung und in der Illusion der ›eigentlichsten‹ Aufrichtigkeit
von einem objektiv an objektive Strukturen angepaßten Habitus erzeugt werden: diese Strategien ohne strategische Berechnung werfen
für jene, die kaum noch als ihre Urheber bezeichnet werden können, einen bedeutenden Nebengewinn ab, nämlich die soziale
Anerkennung, die für den Schein der Uneigennützigkeit gewährt wird. (Bourdieu, Sozialer Sinn, S. 116, Fn. 1)
Tatsächlich wird diese enge Verknüpfung zwischen utilitaristischen, konflikttheoretischen und auch
marxistischen Argumentationsmustern bei einem weiteren Bourdieuschen Zentralbegriff noch
deutlicher bemerkbar, nämlich dem Begriff des »Kapitals«, der die Begriffe »Feld« und »Habitus«
ergänzt bzw. vervollständigt.
Die Bourdieusche Kapital-Begrifflichkeit verdankt sich folgendem Problem: Bourdieu muß
erklären, um welche Güter die Akteure in den jeweiligen Feldern kämpfen, zu welchem Einsatz sie
also ihre jeweiligen Handlungsstrategien verwenden. Die Vorstellung des (primitiven) Utilitarismus,
wonach das soziale Leben ausschließlich als ein Kampf um (ökonomische) Güter zu verstehen ist,
lehnt er ab. Aus dem gleichen Grund kritisiert er auch den Marxismus, da dieser ebenfalls nur den
Kampf um ökonomische Güter in den Mittelpunkt gestellt und demgegenüber andere Formen der
Auseinandersetzung ignoriert oder vernachlässigt habe (vgl. etwa Sozialer Raum und ›Klassen‹,
S. 9).
Bourdieu geht nun den logischen Schritt, den in ähnlicher Weise vor ihm auch schon die
Konflikttheoretiker gegangen sind: Er will darstellen, daß es in sozialen Kämpfen um mehr als nur
um finanziellen Nutzen und ökonomisches Kapital geht. Aber die Art und Weise dieses Schrittes
erfolgte nun eigentümlicherweise so, daß – wiederum ähnlich wie in der Konflikttheorie (vgl. die
Achte Vorlesung) – kein voll537ständiger Bruch mit utilitaristischen oder marxistischen
Vorstellungen stattfand. Denn Bourdieu verwendet zur genaueren Bestimmung des Einsatzes, um den
es in sozialen Kämpfen geht, den aus der »bürgerlichen« wie aus der marxistischen Ökonomie
stammenden Begriff des Kapitals; er weitet aber dessen Bedeutung aus und unterscheidet zwischen
unterschiedlichen Kapitalformen. In Entwurf einer Theorie der Praxis kritisiert er den Marxismus
dahingehend, daß dieser aufgrund seiner Konzentration auf ökonomisches Kapital vollkommen das
vernachlässigt habe, was Bourdieu als »symbolisches Kapital« bezeichnet. Bourdieu formuliert es in
einer sehr an den Utilitarismus erinnernden Sprache folgendermaßen: Marx habe eigentlich nur
unmittelbare ökonomische Interessen gekannt und in seinem Theoriegebäude zugelassen und alle
anderen Formen von Interessen in den Bereich der »Irrationalität des Gefühls oder der Leidenschaft«
abgeschoben (Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 344). Es gelte aber vielmehr, das ökonomische
Kalkül auf alle Güter (Utilitaristen und Konflikttheoretiker hätten hier gesagt: auf alle Ressourcen!)
anzuwenden:
(…) entgegen den naiv idyllischen Vorstellungen über die ›vorkapitalistischen‹ Gesellschaften (oder über die ›kulturelle‹ Sphäre in
kapitalistischen Gesellschaften) richten sich die praktischen Handlungen auch dann noch am ökonomischen Kalkül aus, wenn sie, da sie
sich der Logik des Interessenkalküls (im eingeschränkten Sinne) entziehen und an nichtmateriellen und schwer zu quantifizierbaren
Einsätzen orientieren, den Anschein von Interesselosigkeit vermitteln. (Bourdieu, a.a.O., S. 345)

Der Marxismus – so Bourdieu – läßt völlig außer acht, daß sich mit auf den ersten Blick irrationalen,
weil nicht unmittelbar an finanziellen Gewinnen orientierten Handlungen auch erhebliche andere
Gewinne einstreichen lassen, Gewinne, die Bourdieu als »symbolische Gewinne« bezeichnet und die
ihn dazu bringen, zusätzlich zum ökonomischen Kapital auch vom »symbolischen Kapital« zu reden:
Durch bestimmte Taten – etwa großzügige Geschenke, verschwenderische Verhaltensweisen etc. –
lassen sich allemal Distinktionsgewinne erreichen; man symbolisiert mit diesen Taten die eigene
(herausragende) Stellung, die eigene Macht, das eigene Prestige etc., durch die man sich von
Rangniedrigeren unterscheidet. Dieses symbolische Kapital ist insofern für die Klassenhierarchie
einer Gesellschaft interessant, als es unter bestimmten Bedingungen in »echtes« 538Kapital
umgetauscht werden kann. Das hohe Prestige einer Person, der gute Ruf einer Familie, der
demonstrativ zur Schau gestellte Reichtum eines großen Mannes eröffnen häufig Möglichkeiten, um
auch an ökonomisches Kapital zu gelangen, nach dem Motto: Wer (symbolisches) Kapital hat, dem
wird (ökonomisches) Kapital gegeben. Symbolisches Kapital stellt insofern nichts (ökonomisch)
Irrationales dar, sondern die Anhäufung von symbolischem Kapital ist auch eine geschickte Strategie,
um Chancen auf ökonomisches Kapital zu wahren. Diese symbolische Kapitalform ist eine Art
»Kredit an Vertrauen«, auf dessen Basis sich immer wieder ökonomische Chancen ergeben. Insofern
kann Bourdieu sagen, daß symbolisches Kapital eine »transformierte und darin verschleierte Form
›ökonomischen‹ (…) Kapitals« darstellt (a.a.O., S. 357).
Nur unter der Voraussetzung, daß man eine totale Aufrechnung der symbolischen Gewinne vornimmt und in eins damit die
Undifferenziertheit der symbolischen und materiellen Bestandteile des Patrimoniums im Gedächtnis behält, läßt sich die ökonomische
Rationalität von Verhaltensweisen begreifen, die der Ökonomismus ansonsten als absurd abtut: Demgemäß stellt sich etwa der
Entschluß, nach der Ernte ein zweites Gespann Ochsen zu kaufen unter dem Vorwand, sie zum Dreschen zu benötigen – vielmehr eine
Art kundzutun, daß die Ernte reich ausfiel –, um sich dann gezwungen zu sehen, sie mangels Futter vor der Feldbestellung im Herbst
wieder zu verkaufen – also gerade dann, wenn sie in technischer Hinsicht gebraucht würden –, als eine ökonomische Verirrung nur dem
dar, der alle materiellen und symbolischen Gewinne außer acht läßt, die eine solche, wie auch immer fiktive und trügerische, Vermehrung
des symbolischen Kapitals der Familie in einer bestimmten Periode verschaffen kann, zu Ende des Sommers nämlich, wenn die
Heiratsverhandlungen eingeleitet werden. Dieser strategische Bluff ist insofern vollkommen rational, als die Heirat eine Gelegenheit zur
(im weiteren Sinne) ökonomischen Zirkulation bietet, von der sich eine unvollständige Vorstellung macht, wer nur die materiellen Güter in
Rechnung stellt (…). (Bourdieu, a.a.O., S. 352)

Diese hohe Bedeutung des symbolischen Kapitals ist aber nicht – wie dieses auf die kabylische
Gesellschaft bezogene Zitat vermuten lassen könnte – auf »primitive« oder vorkapitalistische
Gesellschaften beschränkt! Zwar ist es richtig, daß vorkapitalistische Ökonomien – wie Bourdieu
sagt – »Orte symbolischer Gewalt schlechthin« seien, insofern dort nackte Ausbeutungsverhältnisse,
auch große materielle Ungleichheiten immer symbolisch verdeckt und damit 539verschleiert (oder
umgekehrt: mit physischer Gewalt brutal durchgesetzt) wurden und werden. Dies habe sich – und hier
argumentiert Bourdieu in großer Nähe zu Marx – im Kapitalismus insoweit geändert, als die dortige
Herrschaftspraxis nicht mehr auf symbolische Verschleierungen angewiesen ist, sondern ganz anders
(etwa durch die Ideologie des gerechten Tausches zwischen Ware, Geld und Arbeitskraft) legitimiert
werden kann. Dies bedeute aber nicht, daß symbolisches Kapital in modernen Gesellschaften keine
Rolle mehr spiele. Ganz im Gegenteil. Es wird zum kultursoziologischen Programm Bourdieus, mit
nüchternem und manchmal zynischem Blick dieses »symbolische Kapital« in modernen
Gesellschaften – vor allem in der modernen französischen Gesellschaft – zu sezieren. Auch bei der
Analyse moderner Gesellschaften ist es also nach seiner Auffassung nicht statthaft, allein auf
ökonomische Kapitalformen zu blicken und demgegenüber das symbolische Kapital der Menschen zu
vernachlässigen.
Bourdieu wird in der Folgezeit, wenn er die ethnologischen Untersuchungen mehr oder minder
hinter sich läßt und sich immer stärker der Analyse der französischen Gesellschaft zuwendet,
versuchen, diesen noch relativ schwammigen Begriff des »symbolischen Kapitals« genauer zu klären.
In diesem Zusammenhang führt er dann – zusätzlich zum ökonomischen Kapital – die Unterscheidung
zwischen »kulturellem« und »sozialem Kapital« ein; und manchmal redet er auch noch vom
»politischen Kapital«, so daß Beobachter und Kritiker schon von einer »Inflationierung« des
Kapitalbegriffs in seiner Theorie gesprochen haben. Wir brauchen all diese Ergänzungen und
Differenzierungen nicht im einzelnen nachzuvollziehen. Es genügt der Hinweis, daß Bourdieu in den
bekanntesten seiner Werke zwischen ökonomischen, symbolischen, kulturellen und sozialen
Kapitalformen unterscheidet. Da die Bedeutung des Begriffs »ökonomisches Kapital« einigermaßen
klar sein dürfte, wollen wir ganz kurz die drei anderen Kapitalbegriffe klären:
Unter den Begriff »kulturelles Kapital« faßt er sowohl Kunstwerke, Bücher oder
Musikinstrumente, sofern dieses Kapital in gegenständlicher Form vorliegt, als auch kulturelle
– Fähigkeiten und kulturelles Wissen, sofern es von den Akteuren durch frühere
Sozialisationsprozesse »aufgesogen« wurde, und schließlich auch Titel (wie Doktortitel,
Studienabschlüsse etc.), weil diese quasi den Erwerb kulturellen Wissens demonstrieren.
»Soziales Kapital« oder »Sozialkapital« sind demgegenüber die Ressourcen, durch die man
die Mitgliedschaft in oder die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die Herkunft aus einer bestimm-
ten (angesehenen) Familie, den Besuch einer bestimmten Eliteschule oder -universität
540– dokumentiert; es verweist auf Netzwerke im Sinne sozialer Beziehungen, auf die man zur
Durchsetzung bestimmter Ziele zurückgreifen kann, auf das, was man umgangssprachlich als
»Vitamin B« bezeichnet (vgl. hierzu seinen Aufsatz »Ökonomisches Kapital, kulturelles
Kapital, soziales Kapital«).
»Symbolisches Kapital« ist eine Art Oberbegriff, der sich durch das Zusammenwirken von
ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitalsorten ergibt: alle drei »ursprünglichen«
– Kapitalsorten begründen insgesamt das Ansehen, den guten Ruf, das Renommee, das Prestige
einer Person in einer Gesellschaft und bestimmen somit seinen Rang in der Hierarchie (vgl.
Sozialer Raum und »Klassen«, S. 11).
Mit diesen Kapital-Begriffen ist es laut Bourdieu nun möglich, die Klassenstruktur einer Gesellschaft
zu modellieren. Man muß sich seiner Meinung nach bewußt sein, daß die Kapitalformen zum Teil
getauscht oder ineinander umgewechselt, also auch umgerechnet werden können. D. h., bei der
Bestimmung der Position einer Person im Klassengefüge einer Gesellschaft ist es notwendig, sowohl
das dieser Person zur Verfügung stehende Kapitalvolumen wie auch die diesbezügliche
Kapitalstruktur (die darstellt, aus welchen Kapitalformen sich das Gesamtkapital dieser Person
zusammensetzt) zu untersuchen. Um ein Beispiel zu geben: Universitätsprofessoren wären im
allgemeinen hinsichtlich ihres ökonomischen Kapitals in die mittleren Ränge einer modernen
Gesellschaft einzuordnen, besitzen aber gleichzeitig ein extrem hohes kulturelles Kapital (haben viele
Titel, besitzen nicht nur viele Bücher, sondern haben viele davon sogar gelesen) und nicht selten
relativ viele soziale Beziehungen zu verschiedensten Personenkreisen, so daß die Beurteilung ihrer
gesellschaftlichen Stellung eine mehrdimensionale Darstellungsweise erfordert. Zur Verdeutlichung
der Bourdieuschen Analyseweise zeigen wir Ihnen ein ganz auf der Basis des Bourdieuschen
Theorierahmens entwickeltes, aber vereinfachtes Klassenmodell, wie es Klaus Eder
(»Klassentheorie als Gesellschaftstheorie«, S. 21, Fn. 6) – dabei nur kulturelle und ökonomische
Kapitalformen berücksichtigend – für 541die (alte) Bundesrepublik entworfen hat. Dabei soll die
Vertikale das absolute Volumen verfügbaren Kapitals, die Horizontale die relativen Anteile beider
Kapitalsorten bezeichnen.

Das Kapitalvolumen von Ärzten und Angehörigen der Freien Berufe ist dieser Darstellung zufolge
ziemlich ähnlich, freilich ist die Kapitalzusammensetzung eine völlig andere: während Ärzte ein
vergleichsweise geringes ökonomisches Kapital haben, ist ihr kulturelles Kapital gegenüber den
Freiberuflern aus der Wirtschaft relativ hoch. Landwirte haben in der Regel weder besonders hohes
ökonomisches noch kulturelles Kapital, während bei Kunsthandwerkern wieder die hohe Diskrepanz
zwischen relativ hohem kulturellen Kapital und relativ geringem ökonomischen Kapital auffällt usw.
Natürlich könnte man jetzt trefflich darüber streiten, ob etwa das kulturelle Kapital von
Kunsthandwerkern und Universitätsprofessoren im Verhältnis zueinander »richtig« bestimmt worden
ist. Und man müßte 542sich die methodische Vorgehensweise der Kapitalbestimmung, die diesem
Diagramm zugrunde lag, schon genauer ansehen. Dies ist aber hier nicht der Punkt.
Es sollte nur deutlich werden, daß sich mit derartig differenzierten sozialstrukturellen Analysen
nicht nur eine aussagekräftigere und vor allem zeitgemäßere Klassentheorie vorlegen läßt als
diejenige, zu der der orthodoxe Marxismus imstande war. Mit der Einführung von unterschiedlichen
Kapitalbegriffen wird insbesondere auch die so offensichtliche kultursoziologische Leerstelle im
Marxismus gefüllt – mithin ein wichtiger Grund, warum die Bourdieusche Theorie für Ex-Marxisten
so interessant erschien: Die Verwendung einer differenzierten Kapital-Begrifflichkeit ermöglichte
eine gewisse Distanzierung von Marx, ohne daß man sich auf wirklich neue Theoriegebiete hätte
begeben müssen!
Aber gleichzeitig – und damit zurück zu unserer Ausgangsfrage, die sich ja auf die utilitaristischen
Spuren im Bourdieuschen Theoriegebäude bezogen hatte – verstärkt der aus der Ökonomie
stammende Kapitalbegriff den schon aufgezeigten utilitaristischen (und konflikttheoretischen) »touch«
der Bourdieuschen Theorie, insofern das Feld der Kultur mit der im Prinzip gleichen Begrifflichkeit
beschrieben wird wie dasjenige der Ökonomie. Denn in beiden Sphären spielen die Interessen der
Akteure die entscheidende Rolle, lediglich die Kapitalsorten und damit die Formen des Einsatzes
unterscheiden sich; es geht jedes Mal um Gewinne und Verluste, um diesbezügliche Kämpfe und
Auseinandersetzungen. Das Handlungsmodell Bourdieus – gekoppelt mit seinem Begriff des Habitus
– ist immer das gleiche und unterscheidet sich im Prinzip nicht in den jeweiligen Feldern.
Die Handlungstheorie, die ich (mit dem Begriff Habitus) vorschlage, besagt letzten Endes, daß die meisten Handlungen der Menschen
etwas ganz anderes als die Intention zum Prinzip haben, nämlich erworbene Dispositionen, die dafür verantwortlich sind, daß man das
Handeln als zweckgerichtet interpretieren kann und muß, ohne deshalb von einer bewußten Zweckgerichtetheit als dem Prinzip des
Handelns ausgehen zu können (…). (Bourdieu, Praktische Vernunft, S. 167/168; unsere Hervorh.)

So ist es dann auch nicht überraschend, daß Bourdieu seine »großtheoretischen« Ambitionen in einer
Sprache formuliert, die ihre Herkunft aus einer ökonomistischen bzw. utilitaristischen Tradition kaum
verhüllt. Übergeordnetes und langfristiges Ziel seiner Arbeit sei 543es – wie er es ausdrücken sollte
–, eine »allgemeine Theorie der Ökonomie der Praktiken« (Regeln der Kunst, S. 293; unsere
Hervorh.) vorzulegen, also eine Theorie aufzustellen, welche in der Lage wäre, die Logik des
interessenbedingten Kampfes um je spezifische Kapitalsorten in höchst unterschiedlichen Feldern
umfassend zu deuten.
Diese utilitaristischen Anklänge in der Handlungstheorie führen dazu, daß auch »überindividuelle«
oder kollektive Phänomene nur mehr unter utilitaristischen Prämissen beschrieben werden: »Kultur«
ist für Bourdieu nur ein Spiel, in dem unterschiedliche Klassen ihre eigenen ästhetischen
Anschauungen durchsetzen und sich dabei von anderen Klassen abgrenzen wollen (Zur Soziologie
symbolischer Formen, S. 72), und »Öffentlichkeit«, dieser etwa von Dewey und Habermas so
hochgeschätzte Gedanke eines zwanglosen und pluralistischen Austausches politischer Argumente, ist
für Bourdieu hauptsächlich eine im 18. und 19. Jahrhundert strategisch eingeführte Idee der
gehobenen Beamtenschicht, mit der diese gegen ihre Konkurrenten – etwa den Adel – zu Felde zog
(Praktische Vernunft, S. 40). Es geht aus der Sicht Bourdieus in diesen Fällen – aber keineswegs nur
dort – stets um Kapitalgewinne, wobei »Kapital« Unterschiedliches bedeuten kann: Entsprechend der
in bestimmten Feldern vorliegenden Spielregeln verfolgen Akteure ihre darauf bezogenen Interessen,
selbst wenn diese Interessen den Handelnden – weil sie habitualisiert sind – nicht immer bewußt
sind. Aus diesem Grunde verwendet Bourdieu vor allem in seinem späteren Werk für den Begriff des
»Interesses« auch denjenigen der »illusio« (von ludere = spielen), um klarzumachen, daß mit
»Interessen« nicht nur (bewußte) ökonomische Interessen gemeint sind.
Heute ziehe ich den Begriff illusio vor, da ich ja immer von spezifischen Interessen spreche, die beim Funktionieren von historisch
eingrenzbaren Feldern zugleich vorausgesetzt und produziert werden. Paradoxerweise hat das Wort Interesse geradezu reflexartig den
Vorwurf des Ökonomismus ausgelöst, obwohl sich meine ganze Arbeit, und zwar von Anfang an, gegen eine solche Reduktion aller
Praxisformen auf das Ökonomische richtet. In Wirklichkeit steht der Begriff, wie ich ihn gebrauche, im Dienste eines bewußten,
vorläufigen Reduktionismus, der es mir gestattet, das materialistische Denken in die Sphäre der Kultur hineinzutragen, aus der es
historisch ausgetrieben wurde, als der moderne Kunstbegriff erfunden wurde und das Feld der kulturellen Produktion seine Autonomie
erlangte (…). (Bourdieu/Wacquant, Reflexive Anthropologie, S. 148)

544Mit der Rede von »illusio« glaubt Bourdieu, sich ausreichend und endgültig vom Utilitarismus
distanziert zu haben. Gleichzeitig ist er der Auffassung, von einer Handlungstypologie absehen zu
können, wie sie etwa Jürgen Habermas mit seiner Unterscheidung zwischen zweckrationalem und
kommunikativem Handeln vorgelegt hat. Eine derartige Unterscheidung – so Bourdieu – würde nur
die Existenz unterschiedlicher Formen nicht-materiellen Profits in disparaten Feldern ignorieren: Es
gibt ihm zufolge nicht unterschiedliche Formen des Handelns, sondern nur unterschiedliche Sorten des
Kapitals, die von den Akteuren in den jeweiligen Feldern möglichst geschickt zu akkumulieren sind.
Die Habermassche Handlungstypologie sei nur eine idealistische Verschleierung dieser Tatsache.
Allerdings übersieht Bourdieu trotz aller Kritik am Utilitarismus, daß genau dies auch die Position
von Neo-Utilitaristen war und ist, die ja gleichfalls nicht von unterschiedlichen Handlungsformen
sprechen, sondern nur davon, daß Akteure je unterschiedliche Präferenzen durchzusetzen versuchen.
Auch sie erklären eine Handlungstypologie für unsinnig oder nutzlos, weil Handeln an sich höchst
einfach zu erklären sei, insofern es beim Handeln immer um die Verwirklichung von Präferenzen
gehe.
Aber nicht allein Bourdieus immer wieder aufscheinende Nähe zum (Neo-)Utilitarismus ist
bemerkenswert. Interessant ist hier auch die Tatsache, daß Bourdieus Position auch in sich nicht ganz
stimmig zu sein scheint. Denn selbst wenn wir seine »Habitus-Theorie« akzeptieren würden – eine
Theorie, die ja nicht behauptet, daß Handeln vollkommen determiniert sei –, bestünde noch das
Problem, jenen Handlungsspielraum der Akteure zu erklären, also die Flexibilität des Handelns
innerhalb der durch den Habitus gesetzten Grenzen. Wie werden die jeweiligen »Interessen« in
einem Feld, das einen bestimmten Habitus erfordert, konkret von den Akteuren umgesetzt? Hier wäre
es ja immerhin denkbar, daß normative, affektive etc. Handlungsformen innerhalb jener durch den
Habitus eröffneten Variationsmöglichkeiten des Handelns eine Rolle spielen. Zur Aufhellung genau
dieses Handlungsspektrums wäre aber eine Handlungstypologie enorm hilfreich oder gar nötig, weil
man sich nur so vor einem allzu engen, möglicherweise wieder utilitaristischen Handlungsverständnis
schützen könnte. Genau darum kümmert sich Bourdieu aber nicht! Die diesbezügliche Problematik
scheint ihm schlicht nicht präsent zu sein, so daß hier eine Leerstelle 545in seiner Theorie gesehen
werden kann. Dies zeigt sich auch daran, daß Bourdieu etwa bei seinen Untersuchungen zur Kunst nur
die jeweiligen Etablierungs- und Distinktionsbemühungen von Literaten und Malern und die Zwänge,
denen sie ausgesetzt sind, beleuchtet, zu deren künstlerischer Kreativität aber eigentümlich stumm
bleibt. Damit soll nicht gesagt sein, daß sich diese Kreativität ohne Bezug auf die Logik der
jeweiligen »Felder« beschreiben läßt: Hier hat Bourdieus Kritik an idealistischen Vorstellungen
hinsichtlich der Selbstschöpfung des Künstlers durchaus ihre Berechtigung. Wenn aber der Habitus
nicht als deterministisch verstanden werden darf, dann muß sich der Theoretiker zumindest auch
diesen nicht-determinierten Aspekten des Handelns zuwenden, dem, was man als die »Kreativität
des Handelns« bezeichnen könnte.

3. Damit haben wir nun – in kritischer Absicht – die theoretischen Prämissen Bourdieus dargestellt
und auch seine Grundbegriffe mehr oder minder isoliert voneinander präsentiert, die da heißen: Feld
– Habitus – Kapital. Es wird nun darum gehen, Ihnen den Zusammenhang dieser drei Begriffe im
Denken Bourdieus und damit dessen theoretisches Gebäude in seiner Gesamtheit nahezubringen und
gleichzeitig die für die »Statik« dieses Gebäudes problematischen Punkte zu benennen.
Als logischer Ausgangspunkt der Bourdieuschen Theorie läßt sich der Feld-Begriff bzw. Bourdieus
Rede von Feldern (Plural!) ausmachen. Die soziale Wirklichkeit setzt sich aus verschiedenen Feldern
zusammen, in denen je unterschiedliche Spielregeln herrschen, die die Handelnden zu befolgen haben,
wenn sie in diesem Feld um die hier zu erzielenden Profite – nämlich je spezifische Kapitalformen –
erfolgreich spielen wollen. Um es zu wiederholen: Das Feld der Wissenschaft gehorcht anderen
Regeln als dasjenige der Politik, der Bildung oder des Sports. Dies erinnert in gewisser Weise an
Theoreme der Differenzierung und insbesondere an die Luhmannsche Systemtheorie. Tatsächlich ist
Bourdieu hier relativ nahe an dem bei Luhmann und seinen Anhängern verteidigten Gedanken, daß die
soziale Welt in unterschiedliche Sphären zerfallen ist, deren Einheitlichkeit sich in der Moderne nicht
mehr ohne weiteres herstellen läßt. Und auch die diesbezüglichen Probleme teilt Bourdieu mit dieser
Theorie: Er kann nämlich nicht überzeugend Auskunft darüber geben, wie viele Felder es gibt
(Bourdieu scheint von einer großen 546Zahl von Feldern auszugehen, die seiner Meinung nach nur
empirisch-historisch zu bestimmen seien, wobei aber seine Hinweise zu dieser Bestimmung nicht
sonderlich weiterhelfen und seine eigenen Forschungen sich nur auf einige wenige Ausschnitte der
sozialen Welt beziehen, vgl. Rede und Antwort, S. 112) und wo genau die Grenzen zwischen den
Feldern zu ziehen sind. Differenzierungstheoretiker und ganz besonders Luhmann haben
diesbezüglich ausführliche theoretische Überlegungen angestellt, wenn auch diese nie ganz
zufriedenstellen konnten. Bourdieu hingegen ist erst sehr spät in seiner Karriere daran gegangen, seine
Rede von »Feldern« theoretisch zu unterfüttern. Seine Bemerkungen zu den genannten Problemen sind
eher spärlich und bei weitem nicht so systematisch, wie dies etwa im Luhmannschen Werk der Fall
ist. Immerhin ist aber soviel klar: Bourdieus »Feldtheorie« läßt sich mindestens in zwei Hinsichten
von den Annahmen der Luhmannschen Systemtheorie unterscheiden. Erstens stellt Bourdieu im
Gegensatz zu Luhmann den Kampf in den Mittelpunkt, d. h. seine Felder werden konflikttheoretisch
analysiert – ein Punkt, der Luhmann bei seiner Analyse von »Systemen« nie interessiert hat:
Man kann zwar zum Beispiel im literarischen oder künstlerischen Feld die für einen Raum von Möglichkeiten konstitutiven
Stellungnahmen als System behandeln, doch bilden diese Stellungnahmen dennoch ein System von Unterschieden, von distinkten,
antagonistischen Eigenschaften, das sich nicht gemäß seiner eigenen internen Dynamik entwickelt (wie das Prinzip der Selbstreferenz
impliziert), sondern durch interne Konflikte im Feld der Produktion. Das Feld ist ein Ort von Kräfte- und nicht nur Sinnverhältnissen und
von Kämpfen um die Veränderung dieser Verhältnisse, und folglich ein Ort des permanenten Wandels. Die Kohärenz, die in einem
gegebenen Zustand des Feldes zu beobachten ist, seine scheinbare Ausrichtung auf eine einheitliche Funktion (…) sind ein Produkt von
Konflikt und Konkurrenz und kein Produkt irgendeiner immanenten Eigenentwicklung der Struktur. (Bourdieu/Wacquant, Reflexive
Anthropologie, S. 134/135)

Zweitens geht Bourdieu im Gegensatz zu Luhmann nicht davon aus, daß es eine absolut radikale
Trennung der Felder gibt und daß deshalb überhaupt keine Einheitlichkeit mehr herzustellen sei. Es ist
vielleicht nicht zufällig so, daß der Franzose Bourdieu – der Bürger eines hochzentralisierten Landes
also – gerade dem Staat eine Art Meta-Funktion zuschrieb. Der Staat wurde von ihm als ein »Meta-
Feld« begriffen, der durch seine Fähigkeit, zwingende Normen zu 547schaffen, noch immer in der
Lage sei, zwischen den Feldern eine Art »Schiedsrichterrolle« zu spielen (Meditationen, S. 164; vgl.
auch Praktische Vernunft, S. 50). Auch mit dieser These setzte er sich deutlich von radikalen
Differenzierungstheoretikern und v. a. auch von Luhmann ab, ohne allerdings – und dies ist zu betonen
– einer normativen Integration von Gesellschaften das Wort zu reden, wie dies bei Parsons oder
Münch der Fall war oder ist.
In den einzelnen Feldern wird nun durch die dort herrschenden Spielregeln ein besonderer Habitus
geprägt, dem sich diejenigen unweigerlich anpassen bzw. anzupassen haben, die in das jeweilige Feld
eintreten. Wissenschaftler, Politiker, Sportler etc. haben einen spezifischen Habitus, der an ihrer Art
des Redens, des Gestikulierens, des Urteilens, des Gehens etc. ablesbar ist. Damit ist nun nicht
gemeint, daß alle Politiker in gleicher Weise reden, gestikulieren, urteilen etc., womit ihr Verhalten
absolut determiniert wäre. Bourdieu wehr sich – wie bereits gesehen – gegen den oft erhobenen
Determinismus-Vorwurf (vgl. etwa Luc Ferry/Alain Renaut, Antihumanistisches Denken, S. 160-191)
und betont statt dessen immer wieder, daß Akteure einen bestimmten Habitus nur mit einer gewissen,
wenn auch hohen Wahrscheinlichkeit übernehmen und daß dieser Habitus auch
Variationsmöglichkeiten im Verhalten erlaubt:
Da der Habitus eine unbegrenzte Fähigkeit ist, in völliger (kontrollierter) Freiheit Hervorbringungen – Gedanken, Wahrnehmungen,
Äußerungen, Handlungen – zu erzeugen, die stets in den historischen und sozialen Grenzen seiner eigenen Erzeugung liegen, steht die
konditionierte und bedingte Freiheit, die er bietet, der unvorhergesehenen Neuschöpfung ebenso fern wie der simplen mechanischen
Reproduktion ursprünglicher Konditionierungen. (Bourdieu, Sozialer Sinn, S. 103)

Trotz aller Variabilität sind aber das feldspezifische Handeln und auch die Felder als ganze
einigermaßen stabil. Dies gilt deshalb, weil der Habitus als Wahrnehmungs-, Denk- und
Handlungsschema – hier übernimmt Bourdieu ethnomethodologische Einsichten – dahin tendiert, sich
immer wieder zu bestätigen bzw. zu reproduzieren. Da der Habitus in den Körper des Menschen
eingegangen und zur Identität des Menschen geworden ist, haben die Menschen die (unbewußte)
Neigung, diese Identität zu wahren: Wir wollen unsere vertraute Welt immer wieder bestätigt sehen
und haben kein Interesse an der Zerstörung dieses Vertrauens in die Sinnhaftigkeit der
548Alltagswelt. Dies bedeutet, daß der Habitus eine »systematische ›Auswahl‹ (…) zwischen Orten,
Ereignissen, Personen des Umgangs trifft (…) [und sich so] vor Krisen und kritischer Befragung
[schützt]« (a.a.O., S. 114). Daraus folgt, daß durch die in den Feldern ausgebildeten Habitusformen
die Felder immer wieder in ihrer ursprünglichen Gestalt bestätigt werden, daß also ein Prozeß der
immer gleichen Strukturierung stattfindet.
Da der Habitus (…) Produkt einer Geschichte ist, sind die Instrumente der Konstruktion des Sozialen, die er in das praktische Erkennen
der Welt und in das Handeln einbringt, sozial konstruiert, das heißt strukturiert durch die Welt, die sie wiederum strukturieren. (Bourdieu,
Meditationen, S. 189)

Der Habitus ist aber nicht nur Ausdruck »ausdifferenzierter« gesellschaftlicher Felder, wie man dies
aus einer eher systemtheoretischen Perspektive sagen würde. Habitusformen sind auch Produkte
bestimmter Klassenlagen, bestimmter sozialer Milieus, die genau diese Klassenlagen und sozialen
Milieus reproduzieren:
Der Begriff Habitus hat unter anderem die Funktion, die stilistische Einheitlichkeit zu erklären, die die Praktiken und Güter eines
einzelnen Akteurs oder einer Klasse von Akteuren miteinander verbindet (…). Der Habitus ist das generative und vereinheitlichende
Prinzip, das die intrinsischen und relationalen Merkmale einer Position in einen einheitlichen Lebensstil rückübersetzt. (Bourdieu,
Praktische Vernunft, S. 21)

Bourdieus kontinuierliche Beschäftigung mit Fragen des (französischen) Bildungssystems hatte unter
anderem das Ziel zu beweisen, daß sich dieser klassenmäßige Habitus auch durch ein scheinbar
meritokratisches Erziehungswesen kaum aufbrechen läßt. Ja, das Gegenteil ist seiner Auffassung nach
der Fall. Das Bildungswesen verstärke immer wieder diese klassenspezifischen Verhaltensformen,
weshalb es zur ständigen Reproduktion sozialer Ungleichheit beitrage (vgl. Die Illusion der
Chancengleichheit) – eine These, die wir schon in ganz ähnlicher Form in der Achten Vorlesung
beim Konflikttheoretiker Randall Collins kennengelernt haben.
Diese mit dem Habitus-Konzept verbundene Argumentationsfigur einer fast identischen
Reproduktion sozialer Strukturen wirft natürlich die Frage auf, wie sich Bourdieu dann überhaupt
sozialen Wandel vorstellt – dies auch deshalb, weil er beispielsweise nicht sehr viel von der These
der Wirkungs- bzw. Veränderungsmächtigkeit 549von Ideen bzw. Ideologien hält. Offensichtlich wird
dies, wenn das klassische soziologische Konzept der »Legitimität von Herrschaft« zur Sprache
kommt. Für Bourdieu ist diese auf Max Weber zurückgehende Denkfigur schon im Ansatz
problematisch, weil sie – etwa im Konzept der rational-legalen Herrschaft – einen irgendwie
bewußten Diskurs über die Rechtmäßigkeit von Herrschaft suggeriert. Herrschaft funktioniert aber in
den Augen Bourdieus ganz anders. Ihm zufolge werden Menschen von klein auf an die
Selbstverständlichkeit von Herrschaftsstrukturen gewöhnt. In Institutionen wie Kindergärten, Schulen,
Fabriken wird vor allem den unteren Klassen eine selbstverständliche Hinnahme sozialer
Ungleichheit »eingeimpft«, die es ihnen kaum erlaubt, diskursiv Herrschaftsstrukturen zum Thema zu
machen (vgl. Praktische Vernunft, S. 119 f.). Herrschaft wird dann auch nicht durch Ideologien oder
legitimierende Diskurse aufrechterhalten, mit denen große Teile der Bevölkerung ohnehin nichts
anzufangen wüßten, sondern durch die ständige Einübung von Gefügigkeit gegenüber existierenden
Machtungleichheiten.
Wenn ich allmählich dahin gelangt bin, das Wort »Ideologie« aus meinem Wortschatz zu verbannen, so nicht nur wegen seiner
Mehrdeutigkeit und der dadurch verursachten Mißverständnisse, sondern vor allem, weil es an den Bereich der Ideen und der
Einwirkung von Ideen auf Ideen denken läßt und einen der stärksten Mechanismen zur Aufrechterhaltung der symbolischen Ordnung in
Vergessenheit bringt, die doppelte Naturalisierung nämlich, die daraus hervorgeht, daß das Soziale sich den Dingen und den Körpern
(denen der Herrschenden wie denen der Beherrschten, je nach Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, sozialer Stellung oder anderen
Unterscheidungsfaktoren) einprägt und zur Ausübung symbolischer Gewalt führt. Täglich benutzte Begriffe wie ›natürliche Vornehmheit‹
oder ›Begabung‹ zeigen, daß die Arbeit an der Legitimation der bestehenden Ordnung dadurch außerordentlich erleichtert wird, daß sie
sich in der sozialen Welt fast von selbst vollzieht. (Bourdieu, Meditationen, S. 232/233)

Eine derartige Position macht allerdings die Frage nach dem wandlungstheoretischen Potential der
Bourdieuschen Theorie um so dringlicher, und sie hat Bourdieu unter anderem den Vorwurf eines
(negativen) Hyperfunktionalismus eingebracht, weil sich – folgt man seiner Theorie – die (normativ
problematischen) ungleichen Machtstrukturen trotz ständig stattfindender Kämpfe in den Feldern wie
von selbst immer wieder reproduzieren und stabilisieren, 550was ein Aufbrechen einer solchen
Situation kaum denkbar erscheinen läßt. Bourdieus Gedankengebäude bietet somit nur wenige
Ansatzpunkte für eine Theorie des sozialen Wandels. In den Regeln der Kunst (S. 379) etwa finden
sich Bemerkungen, daß Wandlungsprozesse im Felde der Literatur und der Malerei am ehesten von
denen zu erwarten seien, die neu in ein Feld eintreten, also von der jüngeren Generation. Bourdieu
konnte dies auch anhand von Flaubert und Baudelaire historisch nachweisen, indem er zeigte, wie
diese als Neuankömmlinge im literarischen Feld für sich eine neue Form der Ästhetik begründeten
und durchsetzten und damit dieses Feld erheblich umstrukturierten. Aber für eine wirkliche Theorie
sozialen Wandels, gar für eine allgemeine Wandlungstheorie ist dies doch recht wenig. Bourdieu hat
statt dessen darauf verwiesen, daß jedes Feld wegen der in ihm jeweils zur Disposition stehenden
Kapitalformen jeweils unterschiedliche Wandlungsmodelle benötigt. Da sich aber seine
Untersuchungen eben nur auf einige wenige Felder konzentriert haben, sind allgemeine
Wandlungsaussagen in seinem Werk zwangsläufig ausgeblieben.

4. Das zeitdiagnostische Potential von Bourdieus Theorie zeigt sich am ehesten in seinen hier nicht
näher zu besprechenden globalisierungskritischen, aber auch in seinen kultursoziologischen
Schriften, wovon insbesondere Die feinen Unterschiede aus dem Jahre 1979 berühmt werden sollten.
Das konzeptionell-theoretische Programm für diese Art der Untersuchung war aber schon viel früher
formuliert worden und kommt vielleicht am eindrucksvollsten in folgender Passage zum Ausdruck:
In der Tat erscheinen die unter ökonomischen Gesichtspunkten unterprivilegiertesten Gruppen und am härtesten betroffenen Klassen in
diesem Spiel von Verbreitung und Distinktion, das das eigentlich kulturelle Spiel ist und sich objektiv nach der Klassenstruktur
organisiert, nur als Kontrastmittel, d. h. als der zur Hervorhebung der anderen notwendige Gegensatz, bzw. als ›Natur‹. Das Spiel der
symbolischen Unterscheidungen spielt sich also innerhalb des engen Raumes ab, dessen Grenzen die ökonomischen Zwänge diktieren,
und bleibt, von daher gesehen, ein Spiel der Privilegierten privilegierter Gesellschaften, die es sich leisten können, sich die wahren
Gegensätze, nämlich die von Herrschaft, unter Gegensätzen der Manier zu verschleiern. (Bourdieu, Zur Soziologie symbolischer
Formen, S. 72/73; unsere Hervorh.)

551Kultur – so die zitierte Behauptung Bourdieus – ist also ein Spiel der Distinktion, in dem sich
unter anderem auch Klassenunterschiede zum Ausdruck bringen bzw. erst sichtbar konstituieren. Sie
wird von Bourdieu – analog zu seinem Begriff des kulturellen Kapitals, der ja vieles umfaßt, nämlich
Gegenstände wie Gemälde und Bücher, Wissen und Fertigkeiten und sogar Titel – äußerst weit
definiert und bezieht sich auch auf ästhetische Urteile. In Die feinen Unterschiede geht es ihm in
erster Linie um die provozierende Behauptung, daß auch unsere scheinbar persönlichsten Ansichten –
Meinungen über den Geschmack des Essens, über die ästhetische Qualität eines Musikstücks, über
die »Tragbarkeit« von Kleidungsstücken etc. – von einem Klassenhabitus bestimmt werden. Die
These lautet schlicht, daß der »Geschmack«, das ästhetische Urteil, auch den klassifiziert, der die
Klassifikation vornimmt, weil Geschmack und ästhetische Urteile vorhandene ökonomische
Möglichkeiten oder ökonomische Zwänge widerspiegeln.
Das Provozierende und Faszinierende zugleich ist dabei nicht allein, daß wir verstört sind, wenn
Bourdieu geradezu lustvoll unsere erhabensten Gefühle und Empfindungen dadurch in Zweifel zieht,
daß er sie auf scheinbar ganz banale oder profane Sachverhalte zurückführt. Eine ähnliche
Schockwirkung hatte auch Emile Durkheims Buch Der Selbstmord, da dort die scheinbar freieste
aller freien Entscheidungen – der Entschluß, aus dem Leben zu scheiden – als gesellschaftlich
bedingtes Phänomen interpretiert wurde. Eine derartige Argumentation widerspricht zutiefst unserer
Selbstauffassung als selbstbestimmte Wesen und hat genau deshalb jene verstörende Wirkung zur
Folge. Bourdieus Arbeiten, insbesondere Die feinen Unterschiede, sind aber noch aus einem
weiteren Grunde so provokativ: Letztlich macht er sich nämlich auch daran, die Ästhetik – also die
Lehre vom Schönen und Wahren (in der Kunst) – mit dem banalen Alltagsgeschmack gleichzusetzen
oder zumindest diesem anzunähern. Bourdieu will zeigen, daß das, was von der ästhetischen Theorie
als große Musik, als große Malerei, als große Literatur gefeiert wird, tatsächlich nichts anderes ist
als eine aus bestimmten ökonomischen Lagen entspringende Form der Anschauung. Hohe Kunst war
und ist laut Bourdieu immer auch ein Produkt der Klassenauseinandersetzung; die herrschenden
Klassen haben es geschafft, ihre ästhetischen Anschauungen als »legitime« Kunst zu definieren und
dabei gleichzeitig die klassenmäßige Bedingtheit dieser Ästhetik 552zu verschleiern bzw. zum
Verschwinden zu bringen. Sein Programm einer »anti-kantianischen ›Ästhetik‹« zielt daher darauf ab,
zu entschleiern, zu entmystifizieren.
In diesem Zusammenhang macht er dann die Dichotomie zwischen einem sogenannten »Luxus-« und
einem sogenannten »Notwendigkeitsgeschmack« auf. Der Notwendigkeitsgeschmack sei typisch für
die unteren Schichten und Klassen einer Gesellschaft, ein Geschmack, der mit den unmittelbaren
materiellen Sorgen des Lebens zusammenhängt, mit der alltäglichen Mangelerfahrung, mit dem Gefühl
der ökonomischen Unsicherheit etc. Unter diesen Umständen sei es unmöglich, viel Zeit und Arbeit
für die Verfeinerung des Verhaltens aufzuwenden. Dementsprechend seien auch die ästhetischen
Anschauungen wie die Lebensgewohnheiten der unteren Schichten völlig anders als diejenigen der
herrschenden Klassen, was schon an der Art der Essensaufnahme deutlich werde.
Der neuen Verhaltensmaxime der Mäßigung um der Schlankheit willen, deren Grad der Anerkennung mit steigender sozialer Stufenleiter
wächst, setzt der Bauer und nicht zuletzt der Arbeiter seine Moral des guten Lebens gegenüber. Einer der gut zu leben vermag: das ist
nicht nur, wer gut essen und trinken mag. Das ist der, dem es gegeben ist, in eine generöse und familiäre, will heißen in eine schlichte und
freie Beziehung zu treten, die durch gemeinschaftliches Essen und Trinken begünstigt und zugleich symbolisiert wird, in der alle
Zurückhaltung und alles Zögern, Aufweis der Distanz durch die Weigerung, sich zu beteiligen und gehenzulassen, wie von selbst
verschwindet. (Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 292/293)

Aber natürlich kennzeichne nicht nur die Form der Essensaufnahme diesen
Notwendigkeitsgeschmack; auch das, was gegessen wird, unterscheide sich fundamental von den
Ernährungsgewohnheiten der herrschenden Klassen. Mit großem statistischen Aufwand und mit
sensiblen Beobachtungen demonstriert Bourdieu, wie unterschiedlich die Eßkultur ist, wobei er
immer wieder darauf hinweist, daß die oberen Klassen manchmal bewußt, viel häufiger aber auch
unbewußt stets dahin tendieren, sich durch Verfeinerung der Mahlzeiten von der Eßkultur der
Unterschichten abzugrenzen, um jene »feinen Unterschiede« auszubilden. Der Luxusgeschmack der
Oberschichten sei immer auch ein Versuch der Abgrenzung, der Distinktion, wodurch die
Klassenunterschiede und -grenzen immer wieder reproduziert werden. Intellektuelle, Unternehmer,
Journalisten etc. 553gehen wie selbstverständlich chinesisch, vietnamesisch, burmesisch essen,
etwas, was einem Arbeiter, selbst wenn er es sich leisten könnte, nicht im Traum einfallen würde,
weil seine Vorstellungen von einem guten Essen ganz andere sind. (Natürlich stellt jede solche
Beobachtung eine historische Momentaufnahme dar). Wer in die Oberschicht hineingeboren wird,
dem wird ein Eßgeschmack und ein diesbezüglicher Habitus ansozialisiert, durch den er sich fast
automatisch deutlich von Personen anderen Standes abgrenzt. Nicht nur die Tischsitten unterscheiden
den »Aristokraten« vom »Plebejer«, sondern auch sein scheinbar ureigenster Geschmack – das war in
der Vergangenheit so, und das ist laut Bourdieu in der Gegenwart immer noch so.
Auch bei der klassenmäßig je unterschiedlichen Rezeption von Kunst läßt sich ein ähnliches
Muster erkennen. Der Luxusgeschmack und die diesbezügliche Ästhetik sind – weil von
ökonomischen Zwängen entlastet – zweckfrei und scheinbar interesselos, weshalb Angehörige der
Oberschichten von sich aus wesentlich mehr mit abstrakter Kunst – mit Braque, Delaunay,
Malewitsch oder Duchamp – anfangen können als die unteren Klassen, denen interessenfreie
Zusammenhänge fremd sind und die Kunst deshalb auch in engem Zusammenhang mit praktischen
Lebensvollzügen sehen: Sie empfinden ein Gemälde beispielsweise von Braque als unverständlich
oder häßlich und sind deshalb allemal mehr geneigt, eine Spitzweg-Reproduktion oder eine von
Caspar David Friedrich in ihr Wohnzimmer zu hängen als einen Delaunay. »Das soll Kunst sein?« –
diese Frage liegt dem Arbeiter und Kleinbürger bei der Betrachtung eines Malewitsch-Bildes immer
schon auf der Zunge, wohingegen die kunstsinnigen Intellektuellen ein Bild vielleicht gerade deshalb
als besonders interessant und ausdrucksstark anerkennen, weil es nicht leicht zugänglich ist und man
dadurch – das würde Bourdieu unterstellen – Distinktionsgewinne machen kann, um die
Kunstbanausen »hinter sich zu lassen«. Ähnliches läßt sich auch für den Bereich der Musik
feststellen; sofern Arbeiter überhaupt klassische Musik hören, dann eher Smetanas »Moldau« als den
wenig melodischen »Lärm« eines Schostakowitsch.
Bourdieu wird nicht müde, ähnliche Muster auch in den Bereichen des Sports, der politischen
Meinung, des Films, der Kleidung oder der Freizeitgestaltung aufzuspüren. Dabei zeigt sich für ihn
stets: Es sind die herrschenden Klassen, die in den jeweiligen kulturel554len Feldern die Legitimität
einer bestimmten Tätigkeit definieren; sie sind es, die durch ihr Distinktionsbedürfnis etwa die
neuesten Formen der Avantgardekunst zur eigentlichen Kunst erklären, wohingegen alles Frühere in
den Geruch des Seichten, des nicht wirklich Kunstvollen gerät, vor allem dann, wenn sich die unteren
Klassen anschicken, sich diese nun »veralteten« Kunstformen anzueignen.
Insgesamt führen diese Untersuchungen Bourdieus zu der These, daß der in einer bestimmten
Klasse erworbene Habitus – als Ensemble von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata –
einen bestimmten »Lebensstil« definiert, durch den sich die Klassen »kulturell« voneinander
abgrenzen. Die je unterschiedlichen Lebensstile in einer Gesellschaft deuten auf die symbolischen
Auseinandersetzungen über die Distinktionsbemühungen zwischen Klassen hin. Und genau diese gilt
es laut Bourdieu zu verstehen, weil sich nur so die Klassenstruktur einer Gesellschaft und ihre
Dynamik angemessen darstellen lassen, etwas, zu dem der orthodoxe Marxismus aufgrund seiner
kulturtheoretischen Leer- oder Blindstelle nie in der Lage war.
Mit dieser kultursoziologischen Beschreibung ist insofern eine zeitdiagnostische Feststellung
verbunden, als Bourdieus Sicht auf die immer wieder vonstatten gehende Reproduktion
klassenmäßiger Ungleichheit anscheinend wenig Aussichten auf eine Besserung der Zustände zuläßt.
Dies steht zumindest in einem gewissen Widerspruch zu der zu Beginn der Vorlesung angesprochenen
Rolle Bourdieus als öffentlicher Kritiker des französischen Bildungswesens und der Globalisierung;
denn man kann ja fragen, wie dieses Engagement mit seiner Diagnose der augenscheinlichen
Unveränderbarkeit und Härte sozialer Strukturen zu vereinbaren sei. Er selbst glaubt diesen
»Widerspruch« allerdings durch den Hinweis darauf auflösen zu können, daß eben Freiheit nur dann
möglich sei, wenn man die Strukturierungsgesetze einer Gesellschaft kennt und anerkennt. »Die
Soziologie befreit, indem sie von der Illusion der Freiheit befreit.« (Bourdieu, zit. nach Dosse,
Geschichte des Strukturalismus, Bd. II, S. 89) Tatsächlich kann ja der stetige Hinweis auf die
angebliche »Willensfreiheit« des Menschen Teil eines Machtdiskurses sein, falls dieser entweder die
Grenzen der eigenen Handlungsmöglichkeiten oder diejenigen der »anderen« ignoriert;
möglicherweise ist umgekehrt die Behauptung der Determiniertheit sozialer Verhältnisse
Ausgangspunkt für einen Befreiungsdiskurs. Und ge555nau einen solchen Befreiungsdiskurs zu führen,
hat Bourdieu für sein wissenschaftliches Wirken immer reklamiert. Er hat vor allem in seinem letzten
Lebensjahrzehnt versucht, linke Intellektuelle zu mobilisieren, um eine Gegenmacht gegen die aus
seiner Sicht immer weiter vordringende und bedrohliche Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse
und gegen die Hegemonie des laissez-faire-liberalen Denkens zu bilden. Wer solche Aktivitäten
entwickelt, der kann kein ganz pessimistisches Weltbild haben, dessen Zeitdiagnose muß trotz aller
Verweise auf die stetige Reproduktion sozialer Ungleichheitsmuster auch einen Aspekt der Hoffnung
mit beinhalten.
Damit sind wir nun am Ende der Darstellung der Bourdieuschen Theorie angelangt, die Ihnen – und
hier eine Literaturempfehlung – auch ganz gut der Band von Markus Schwingel, Pierre Bourdieu zur
Einführung (mehrere Auflagen), nahebringt. Es verbleibt nun nur noch die Aufgabe, kurz nach dem
Einfluß der Bourdieuschen Theorie zu fragen.

5. Bourdieus Werke sind breit rezipiert worden und haben nicht nur innerhalb der Soziologie eine
erhebliche Ausstrahlungskraft gehabt, wobei hier vor allem die politische Soziologie und die
Soziologie sozialer Ungleichheit von Bourdieuschen Gedanken in besonderem Maße profitiert
haben. In Frankreich beispielsweise hatte Bourdieu eine ganze Reihe von Mitarbeitern um sich
geschart, die seinen Forschungsansatz weiterentwickelten oder auf neue Themengebiete übertrugen.
Hier sind in erster Linie historisch-soziologische Untersuchungen zu bestimmten Schichten und
Berufsgruppen zu nennen, wobei wir stellvertretend auf Luc Boltanskis 1982 erschienenes Buch Les
cadres. La formation d’un groupe social (dt.: Die Führungskräfte. Die Entstehung einer sozialen
Gruppe) verweisen wollen. – In Deutschland hat vor allem die Ungleichheitsforschung auf die
Bourdieusche Theorie Bezug genommen und sich insbesondere auf den Begriff des Lebensstils
konzentriert (vgl. zum Überblick den von Klaus Eder herausgegebenen Sammelband Klassenlage,
Lebensstil und kulturelle Praxis aus dem Jahre 1989 und Hans-Peter Müller, Sozialstruktur und
Lebensstile von 1992). Allerdings hat die diesbezügliche Bourdieu-Rezeption manchmal
merkwürdige Kapriolen geschlagen, insofern das (allerdings nicht allein auf Bourdieuschen
Gedanken beruhende) Lebensstil-Konzept hierzulande immer mehr von der klassentheoretischen
Argumentation abgelöst wurde. Es 556schien dann so, als ob sich die Menschen einen Lebensstil
quasi frei wählen könnten, was zur Unterstellung führte, daß genau aus diesem Grund »wirkliche«
Klassen in der deutschen Gesellschaft kaum mehr auszumachen seien (vgl. etwa Gerhard Schulze, Die
Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart aus dem Jahre 1992), eine
Argumentationsfigur, die der Bourdieuschen Denkweise wohl ziemlich fremd war. – Blickt man auf
den amerikanischen Kontinent, so hat hier besonders die 1992 veröffentlichte Studie der
Frankokanadierin Michèle Lamont (Money, Morals, and Manners. The Culture of the French and
the American Upper-Middle Class) Aufsehen erregt, eine im Geiste Bourdieus durchgeführte
vergleichende Sozialstrukturstudie, die aber über Bourdieu insofern hinausging, als sie auch die bei
diesem zumeist vernachlässigten moralischen Diskurse der Klassen ernst nahm und nicht sofort auf
andere Faktoren reduzierte. Lamont (Jahrgang 1957) konnte dabei eindrucksvoll herausarbeiten, wie
sehr sich doch die Bilder und Vorstellungen von einem moralisch guten Leben und Verhalten in den
jeweiligen oberen Mittelschichten der amerikanischen und der französischen Gesellschaft
unterscheiden und wie sehr auch moralische Haltungen sich eignen, um Grenzen zwischen Klassen
deutlich zu machen.
Fast ebenso durchschlagend war der Einfluß Bourdieus aber auch in der Geschichtswissenschaft,
weil man mit Konzepten wie »Kapital«, »Feld« oder »Habitus« offensichtlich bestehende
Theoriedefizite beseitigen konnte. Exemplarisch sei hier ein Werk genannt, das sicherlich von der
Theorie Bourdieus beeinflußt ist und auch einen von Bourdieu immer wieder bearbeiteten Gegenstand
zum Thema hat, den wir in der Vorlesung nicht näher behandeln konnten: Gemeint ist das leicht
zugängliche Buch von Christophe Charle, Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19.
Jahrhundert, das anschaulich herausarbeitet, wie sich das Bild der Intellektuellen in jenem Zeitalter
konstituierte und welche je unterschiedlichen Strategien die Intellektuellen verfolgten, um sich
gegenüber »Konkurrenten« abzusetzen und von Staat und Kirche zu emanzipieren.

Die intellektuelle Landschaft Frankreichs war und ist aber keineswegs ausschließlich durch
strukturalistische, poststrukturalistische oder eben »genetisch-strukturalistische« (Bourdieu) Ansätze
bestimmt. In Frankreich konnten sich vielmehr auch Soziologen und Philosophen etablieren, die sich
geradezu als militante Anti-Strukturalisten 557verstanden und nicht zuletzt deshalb international
besonders einflußreich wurden. Ihnen und ihren Arbeiten wollen wir uns nun in der folgenden
Vorlesung zuwenden.
558Sechzehnte Vorlesung
Französische Anti-Strukturalisten
(Cornelius Castoriadis, Alain Touraine,
Paul Ricœur)

Wie schon in der Vierzehnten Vorlesung angesprochen, dominierte der Strukturalismus das
französische Geistesleben seit den 1950er Jahren, woran auch der sich Ende der 1970er Jahre
abzeichnende Bedeutungsverlust des »klassischen« Strukturalismus nicht viel änderte. Denn die
schnell berühmt werdenden sogenannten post- oder neostrukturalistischen Autoren blieben zumindest
in Teilen dem strukturalistischen Erbe durchaus verpflichtet. Dies machte es nicht-strukturalistischen
Geistes- und Sozialwissenschaftlern enorm schwierig, sich innerhalb Frankreichs Gehör zu
verschaffen, zumal eine derartige Position zumeist als »Subjektivismus« kritisiert oder gar denunziert
wurde. Mit einiger Verbitterung charakterisierten denn auch die Autoren, mit denen wir uns in dieser
Vorlesung beschäftigen werden, jene Zeit der strukturalistischen Hegemonie: Cornelius Castoriadis
etwa sprach von einer »linguistischen Epidemie«, die durch ihr »seichtes Pseudo-Modell der
Sprache« (Castoriadis, Durchs Labyrinth. Seele, Vernunft, Gesellschaft, S. 107) das klare Denken
schwierig gemacht habe. Diese »Herrschaft« der Strukturalisten führte dazu, daß einzelne nicht-
strukturalistische französische Denker außerhalb Frankreichs lange Zeit einflußreicher waren als in
ihrer Heimat, eben weil ihre Werke dort nicht auf so massive (strukturalistische)
Rezeptionshindernisse stießen. Erst in jüngster Zeit beginnt sich dies zu ändern, ist die intellektuelle
Öffentlichkeit Frankreichs bereit, die Bedeutung jener anti-strukturalistischen Denker ernsthaft zu
würdigen (vgl. auch die Zwanzigste Vorlesung).
Wir beginnen unseren Überblick über die wichtigen französischen anti-strukturalistischen
Sozialtheoretiker und Soziologen mit einem Autor, der disziplinär nicht zu verorten ist und nicht
einmal gebürtiger Franzose war, der aber ganz entscheidend die theoretische Auseinandersetzung mit
dem Strukturalismus und auch mit dem Marxismus angeführt hat und vor allem in dieser Hinsicht zu
einer zentralen Figur im französischen Geistesleben mit einer Ausstrahlung weit darüber hinaus
wurde: Wir beginnen mit Cornelius Castoriadis.
559Castoriadis wurde 1922 in Konstantinopel geboren, wuchs aber, da die Familie aus der Türkei
vertrieben wurde, in Athen auf – und zwar in Zeiten höchster politischer Instabilität (vgl. zum
folgenden Marcel van der Linden, »Socialisme ou Barbarie«). Noch unter der Diktatur des Generals
Ioannis Metaxas trat er der Jugendorganisation der griechischen kommunistischen Partei bei, die er
jedoch bald verließ, als sich die Kommunisten, um gegen die im April 1941 erfolgte nazideutsche
Besatzung Griechenlands effektiven Widerstand leisten zu können, zur Zusammenarbeit mit den
Bürgerlichen entschlossen. Castoriadis trat aus Protest gegen dieses Bündnis einer trotzkistischen
Widerstandsgruppe bei, die natürlich von den Deutschen ebenfalls verfolgt wurde, dann aber auch –
nach dem Ende der deutschen Herrschaft – von Stalins Kommunisten selbst, als diese 1944 zeitweise
an die Macht kamen und mit zahlreichen Morden und Hinrichtungen rücksichtslos gegen die
Trotzkisten vorgingen.
Castoriadis, der noch in Athen Recht, Ökonomie und Philosophie zu studieren begonnen hat, geht
1945, also mitten im griechischen Bürgerkrieg (1944-1949), zum Philosophiestudium nach Paris und
taucht in jene schon in der Vierzehnten Vorlesung beschriebene intellektuelle Atmosphäre ein, die
durch leidenschaftliche Debatten um den Marxismus und den Existentialismus gekennzeichnet war. In
einer weiteren politischen Kehre wendet er sich in dieser Zeit auch schnell vom Trotzkismus ab, nicht
aber vom linken revolutionären Projekt als solchem, weshalb er 1949 eine unabhängige politische
Gruppe gründet, die eine heute legendäre Zeitschrift herausgibt, Socialisme ou Barbarie. Die
Zeitschrift dieses Kreises, dem spätere, zum Teil schon erwähnte intellektuelle Berühmtheiten wie
z. B. Claude Lefort, Jean-François Lyotard oder Edgar Morin (geb. 1921) angehören, widmet sich vor
allem der Frage, wie sich revolutionäre Gruppen organisieren könnten, ohne dem scheinbar in der
Geschichte immer wieder zu beobachtenden Prozeß der Bürokratisierung mit seinen schrecklichen
Konsequenzen anheimzufallen, wie sie besonders in und nach der russischen Revolution beobachtet
werden konnten.
Im bürgerlichen Beruf als Ökonom arbeitend, veröffentlicht Castoriadis in jener Zeitschrift unter
wechselnden Pseudonymen (als Ausländer war ihm politische Betätigung verboten) zahlreiche
Arbeiten zum Marxismus, zum Kapitalismus und zum sowjetischen Herrschaftssystem, wobei sich bei
ihm Ende der 1950er Jahre eine 560immer schärfer werdende Marx-Kritik bemerkbar macht und
spätestens ab 1963 der endgültige Bruch mit den zentralen Grundgedanken des Historischen
Materialismus nicht mehr zu übersehen ist. Auch wenn die Zeitschrift nicht zuletzt aufgrund
konfligierender Positionen im Hinblick auf die Haltung zum Marxismus schon 1965 eingestellt wird,
so sollte sie doch ihre größte Wirkung erst in der Zukunft entfalten: Denn nicht wenige der
entscheidenden Akteure des Pariser Mai 1968 – so etwa Daniel Cohn-Bendit – waren vom
revolutionären Duktus dieser Zeitschrift beeinflußt (vgl. van der Linden, »Socialisme ou Barbarie«,
S. 1; siehe auch Gilcher-Holtey, ›Die Phantasie an die Macht‹. Mai 68 in Frankreich, S. 47 ff.).
Nach dem Ende von Socialisme ou Barbarie beginnt Castoriadis eine Ausbildung als
Psychoanalytiker. Obwohl er diesen Beruf dann ernsthaft ausübt und seine Publikationen sich
zunehmend auf das Themenfeld der Psychoanalyse erstrecken, hindert ihn dies nicht daran, seine
gesellschaftstheoretischen Ambitionen weiterzuverfolgen. Im Gegenteil, gerade aufgrund seiner
vielfältigen disziplinären Bezüge gelingt es ihm vermutlich mehr als anderen Autoren, aus dem
Scherbenhaufen des westlichen Marxismus etwas Neues zu entwickeln, wie sein 1975 erschienenes
Hauptwerk L’Institution imaginaire de la société (dt.: Gesellschaft als imaginäre Institution.
Entwurf einer politischen Philosophie) eindrucksvoll zeigt. Danach folgen zahlreiche Aufsatzbände
(auf deutsch liegt u. a. das schon zitierte Durchs Labyrinth vor), welche die nicht versiegende
Produktivität von Castoriadis belegen. Als Castoriadis 1997 stirbt, hinterläßt er zahlreiche
unveröffentlichte Manuskripte, so daß auch postum eine ganze Reihe von Publikationen erschienen
sind und noch weitere erwartet werden.

Wenn man das Castoriadissche Werk betrachtet, dann läßt es sich nur schwer einem der bisher
behandelten theoretischen Ansätze zuordnen. Hierfür ist es zu eigenständig. Castoriadis’ theoretische
Position kann man deshalb am einfachsten negativ charakterisieren, indem man diejenigen Theorien
benennt, gegen die er am heftigsten polemisierte. Um es mit drei Schlagworten auf den Punkt zu
bringen: Castoriadis war Anti-Strukturalist, Anti-Funktionalist und Anti-Marxist, wobei seine
Kritiken an diesen Theorierichtungen jeweils eine hochgradig originelle Stoßrichtung aufwiesen.
561A) Es ist natürlich nicht allzu überraschend, daß sich Castoriadis besonders intensiv mit dem
Strukturalismus auseinandersetzte, weil dies angesichts der schon erwähnten Hegemonie dieser
Theorie in Frankreich praktisch unvermeidbar war. Castoriadis war stark beeinflußt vom Denken
Maurice Merleau-Pontys, also von einem der Phänomenologie zuzurechnenden Denker, der sich
besonders für die Körperlichkeit des Menschen und die Intersubjektivität des Ichs interessierte.
Wesentlich stärker als Sartre setzte dieser sich vor allem in seinem Spätwerk mit strukturalistischen
Ideen und insbesondere mit dem Phänomen der Sprache auseinander. Nicht zuletzt unter dem Einfluß
Merleau-Pontys formuliert Castoriadis seine Strukturalismus-Kritik. Dabei akzeptiert er zwar die
zentrale strukturalistische These der Arbitrarität des Zeichens; er bleibt aber dabei nicht stehen,
sondern führt in seine Zeichentheorie Elemente ein, die strukturalistischen Grundgedanken
fundamental widersprechen.
Castoriadis ist der Auffassung, daß Zeichensysteme wie z. B. Sprachen die Welt organisieren und
sich damit auch auf die Welt beziehen. Natürlich ist Sprache keine Abbildung der Welt; sie
repräsentiert auch nicht die Welt, so wie sie ist, was wir schon daran sehen, daß verschiedene
Sprachen unterschiedliche Auffassungen von Welt hervorbringen. Gleichwohl heißt dies nicht, daß
Sprache vollkommen frei von Realitätsbezügen und damit willkürlich wäre. Merleau-Ponty zitierend
behauptet Castoriadis, daß Sprache vom »Sosein der Welt von innen her bearbeitet« wird
(Castoriadis, Durchs Labyrinth, S. 111). Castoriadis will also wegkommen von dem für den
Strukturalismus so typischen zweiseitigen Zeichenbegriff, also von der Vorstellung, daß Bedeutungen
sich allein aus der Anordnung von Signifikanten untereinander entschlüsseln lassen, daß Signifikate
also ausschließlich Funktionen der Beziehungen von Signifikanten sind. Statt dessen will er vorstoßen
zu einem dreiseitigen Zeichenbegriff, der auch den »Referenten«, also die Welt, auf die sich die
Zeichen beziehen, mit berücksichtigt.
Die ganz unbestreitbare Relativität des Kulturellen und Sprachlichen kann ohne unmittelbaren Rekurs auf die dunkle und unsagbare
Nicht-Relativität der Sache selber gar nicht hervortreten. Die Sprache existiert, ebenso wie das Denken, auch dank zahlloser und
außerordentlicher Tatsachen wie dieser: Es gibt Bäume. Es gibt eine Erde. Es gibt Sterne. Es gibt Tage und Nächte. Die Bäume gehören
zur Erde. Die Sterne gehören zur Nacht. In diesem Sinne (…) spricht das Seiende durch die Sprache. (Castoriadis, a.a.O., S. 112)

562Mit der Einbeziehung des Referenten in seine Zeichentheorie ergibt sich zwangsläufig eine
Abkehr vom Strukturalismus. Denn damit wird aus Sicht von Castoriadis klar, daß Zeichen nicht in
erster Linie Objekte in der Welt sind, sondern »Zeichenobjekte«, d. h. sie beziehen sich auf etwas in
der Realität. Wenn die Zeichen die Realität aber nicht einfach nur widerspiegeln, dann kann dies nur
bedeuten, daß sie »geschöpft«, erfunden, »instituiert« wurden. »Das Zeichen als Zeichen kann nichts
anderes sein als instituierte Figur, Form und Norm, eine Schöpfung des gesellschaftlichen
Imaginären.« (Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 422)
Jene Arbitrarität des Zeichens ist also Zeugnis der Kreativität einer Gesellschaft, es ist Ausdruck
dieser Kreativität, daß sie diese und keine anderen Zeichen zur Benennung eines Gegenstands oder
Sachverhalts festgelegt hat. Damit aber hat Castoriadis in seiner Zeichentheorie an zentraler Stelle
den Subjektbegriff, den Begriff eines kollektiven Subjekts, nämlich der Gesellschaft, eingeführt.
Wenn Zeichensysteme wie z. B. Sprachen Ausdruck gesellschaftlicher Kreativität sind und
Sprachen gleichzeitig die Welt strukturieren, erklärt sich auch, warum je unterschiedliche
Gesellschaften und Kulturen mit Hilfe der Sprache unterschiedliche Welten organisieren. Wie
Castoriadis sagt, bringt jede Sprache, jede Kultur in kreativer Weise bestimmte Sinnkerne, also
zentrale Bedeutungen, hervor, um die herum das Sprechen, Denken und Handeln organisiert ist. Und
diese zentralen Bedeutungen werden Teil der jeweiligen kulturellen Welt, sie werden eine eigene
Wirklichkeit.
Ob es sich um Vorstellungen wie mana, tabu, dikè, chréon, sacer oder Gott handelt, um Begriffe wie polis, res publica, Staatsbürger,
Partei, einai, Vernunft, Geschichte oder auch chic, cute, gemütlich – auf solchen Entitäten beruht alles, von ihnen hängt alles ab,
obwohl man sie weder fotografieren noch logisch definieren kann. Solche Begriffe bilden ein Ganzes, ergeben eine Gestalt, machen aus
der Gesamtheit einer jeweiligen Kultur (…) ihren irrealen und allzu realen Referenten. (Castoriadis, Durchs Labyrinth, S. 116)

Mit dieser These von der gesellschaftlichen Instituierung von Zeichensystemen macht Castoriadis
»sozusagen im Rücken des Strukturalismus die sinnstiftenden Leistungen der Subjektivität wieder
erkennbar« (Joas, Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, S. 156). Dies ist aber nicht so zu
verstehen, als würde Castoriadis mit seiner Rede von der »gesellschaftlichen Instituierung«
ausschließlich auf Pro563zesse kollektiver Subjektivität zielen. Ganz im Gegenteil. Er ist der
Auffassung, daß die Sprache gerade auch auf die Kreativität des Individuums verweist. Sprache engt
seiner Auffassung zufolge das sprechende Subjekt nicht ein und liefert es nicht einem Zwangssystem
aus, so daß man in typisch strukturalistischer Manier sagen müßte: »Das Subjekt wird gesprochen.«
Vielmehr ist »die Sprache ein Terrain, in dem es [das Subjekt] sich ohne feste Grenzen bewegen kann.
Das setzt allerdings voraus, daß sich in diesem Terrain ›jemand‹ bewegt. Das heißt, wir können das
Sein der Sprache nicht ohne das Sein des sprechenden Subjekts denken.« (Castoriadis, Durchs
Labyrinth, S. 117/118) Neue Bedeutungen tauchen nur deshalb auf, und alte, scheinbar längst
vergessene Signifikate werden nur deshalb zum Leben wiedererweckt, weil Sprache durch Subjekte
gesprochen und dabei auch stets verändert wird. Mit der auch schon bei Merleau-Ponty zu findenden
Betonung der Bedeutung des Subjekts für das Verständnis der Sprache, ja mit der Betonung der Rolle
individueller und gesellschaftlicher Kreativität überhaupt bereitet Castoriadis einen fundamentalen
Angriff auf all diejenigen Theorien vor, die nur allzu schnell die Geschichtlichkeit menschlicher
Existenz in den Hintergrund gerückt und sich damit ein adäquates Verständnis sozialen Wandels und
der Eigenart der sozialen Welt verbaut haben. Damit sind wir bei seiner Funktionalismus-Kritik.

B) Castoriadis’ erstes Argument gegen den Funktionalismus ist ein methodologisches und relativ
konventionell: Da es im Unterschied zum funktionalistischen Denken in der Biologie oder der
Medizin schlichtweg nicht möglich ist, gesellschaftliche Bedürfnisse eindeutig zu identifizieren,
lassen sich laut Castoriadis auch die Institutionen zur Erfüllung dieser Bedürfnisse nicht bestimmen.
Eine Gesellschaft kann nur existieren, wenn eine Reihe von Funktionen ständig erfüllt wird (Produktion, Gebären, Erziehung, Besorgung
kollektiver Angelegenheiten, Regelung von Streitigkeiten und dergleichen), doch sie ist darauf nicht reduzierbar, sowenig ihr die Art und
Weise, in der sie ihre Probleme anpackt, ein für allemal von ihrer ›Natur‹ vorgeschrieben ist. Sie erfindet und bestimmt neue
Möglichkeiten zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse und neue Bedürfnisse. (Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 199)

Der letzte Satz dieses Zitats führt schon über die herkömmliche Funktionalismus-Kritik hinaus.
Castoriadis macht nämlich darauf 564aufmerksam, daß die Welt der Institutionen stets untrennbar mit
dem Symbolischen verwoben ist. Zwar lassen sich Institutionen nicht auf das Symbolische selbst
zurückführen, aber Institutionen existieren nur im Symbolischen (a.a.O., S. 200). Die Leistung von
Institutionen besteht darin,
Symbole (Signifikanten) mit Signifikaten (Vorstellungen, Ordnungen, Geboten oder Anreizen, etwas zu tun oder zu lassen, Konsequenzen
– also Bedeutungen im weitesten Sinn) zu verknüpfen und ihnen als solchen Geltung zu verschaffen, das heißt diese Verknüpfung
innerhalb der jeweiligen Gesellschaft oder Gruppe mehr oder weniger obligatorisch zu machen. (Ibid.)

Genau an dieser symbolischen Dimension von Institutionen scheitere nun der Funktionalismus;
Symbolsysteme folgen keiner funktionalistischen Logik, weil ein Symbol zwar nicht ohne Bezug zur
Realität auskommt, es sich in seiner Gestalt aber auch nicht mit Naturnotwendigkeit aus seinem
Realitätsbezug heraus aufdrängt (a.a.O., S. 202). Da Symbolismen also nicht irgendwelchen realen
Prozessen entsprechen, können sie auch keine diesbezüglichen Funktionen erfüllen. Sie sind vielmehr
Ausdruck der Kreativität einer Gesellschaft, die immer wieder neue Symbole schafft, ältere Symbole
umdeutet, Symbole verknüpft etc. Letztlich bedeutet dies natürlich, daß das Symbolische nicht
determiniert ist und damit auch Institutionen nicht determiniert sind. Da das funktionalistische
Denken aber eine solche Determination unterstelle, leugne es die Kreativität von Gesellschaften
hinsichtlich ihrer mit Symbolen verwobenen Institutionen. Anstatt unsinnigerweise zu versuchen,
Institutionen auf »gegebene« Bedürfnisse zurückzuführen, muß es Castoriadis zufolge Aufgabe der
Sozialwissenschaften sein zu untersuchen, wie Bedürfnisse kulturell bzw. gesellschaftlich definiert
und welche Institutionen zur Befriedigung dieser Bedürfnisse geschaffen werden.
Dies alles hört sich wenig spektakulär an, hat aber erhebliche Konsequenzen, u. a. für eine Kritik
an bestimmten Prämissen des Marxismus. Denn wenn Institutionen immer mit dem Symbolischen
verwoben sind und wenn gleichzeitig alle gesellschaftlichen Beziehungen durch Institutionen definiert
sind, dann bedeutet dies, daß auch ökonomische Beziehungen, also auch die sogenannte »Basis«,
instituiert sind (a.a.O., S. 214 f.). Daraus folgt aber unmittelbar, daß es nichts »außerhalb der
Gesellschaft« gibt, das die gesell565schaftlichen Strukturen festlegen würde. Der für den Marxismus
typische Versuch, die Ökonomie als quasi-naturalen Faktor auszuzeichnen, der das Gesellschaftliche
prägt, läuft damit ins Leere: Denn wenn die Ökonomie selbst ein kulturell variables Produkt
gesellschaftlicher Kreativität ist, ist die im Marxismus so typische Redeweise von der
»letztinstanzlichen« Determinationskraft der Ökonomie unsinnig. Damit sind wir schon mitten in der
Castoriadisschen Marxismus-Kritik.

C) Castoriadis hatte die Grundzüge dieser Kritik schon in den Jahren 1964/65 in der Zeitschrift
Socialisme ou Barbarie formuliert, sie wurde aber – weiter ausgearbeitet – in seinem Hauptwerk
Gesellschaft als imaginäre Institution nochmals veröffentlicht, und zwar im ersten Teil des Buches
unter der Überschrift »Marxismus und revolutionäre Theorie«. Castoriadis wählt dort eine
eigentümliche Herangehensweise. Er stellt nämlich den Marxismus bzw. den Historischen
Materialismus in verschiedenen seiner Lesarten vor und weist dann nach, daß alle diese
Interpretationen und Deutungen letztlich theoretisch nicht haltbar sind.
So findet sich im Werk von Marx und Engels, aber auch bei vielen ihrer Interpreten ein
Argumentationsstrang, den man als eine technologisch-deterministische Version des Historischen
Materialismus bezeichnen könnte. Diese behauptet, daß man »das Funktionieren einer jeden
Gesellschaft aus dem Stand ihrer Technik – und den Übergang von einer Gesellschaft zu einer anderen
– aus der Entwicklung ebendieser Technik erklären« könne (a.a.O., S. 113). Dieser Vorstellung – so
Castoriadis – liegt die Prämisse einer Autonomie der Technik und Technologieentwicklung zugrunde,
wiederum also die Idee eines außergesellschaftlichen, von kulturellen Bedeutungen freien
Erklärungsfaktors. Castoriadis bestreitet nun aber ganz entschieden, daß es tatsächlich eine derartige
innere Tendenz der Technik zu einer autonomen Entwicklung gibt und daß Technik als eine Art erster
Beweger aufgefaßt werden könnte. Sein Argument ist dabei folgendes: Der technologische
Determinismus unterstellt, daß Natur nichts weiter sei »als ein Reservoir, das zur Ausbeutung durch
den Menschen bereitsteht« (a.a.O., S. 37). Eine derartige Auffassung von Natur ist aber nichts
anderes als eine nicht haltbare Verallgemeinerung unseres heutigen, westlichen Verständnisses von
Natur. Denn nicht alle Gesellschaften hätten ein derartiges instru566mentelles Verhältnis zu ihrer
Umwelt entwickelt, ebensowenig wie Wissenschaft in allen Gesellschaften nur als Mittel zur
Ausbeutung der Umwelt konzipiert worden sei.
Während der griechischen Antike ist die Anwendung der Technik auf die Produktion ohne Zweifel hinter den Möglichkeiten
zurückgeblieben, die die Entwicklung der Wissenschaft bereits erreicht hatte; ein Umstand, der von den gesellschaftlichen und kulturellen
Bedingungen der griechischen Welt sowie wahrscheinlich von der Haltung der Griechen zur Natur, zur Arbeit und zum Wissen nicht
getrennt werden kann. (Castoriadis, a.a.O., S. 37)

Es hängt also von der Einstellung einer Gesellschaft zur Natur ab, ob Technik zur Verfügbarmachung
von Natur benutzt wird und ob dies auch zu ununterbrochenem technischen und möglicherweise
sozialen Wandel führt. Castoriadis zufolge ist der moderne Kapitalismus ein kultureller Entwurf, der
eng verknüpft ist mit einer solchen Vorstellung der Beherrschung der Natur. Marx und Engels und vor
allem die technologisch-deterministisch argumentierenden Vertreter des Marxismus hätten diese erst
mit dem Kapitalismus aufkommende Vorstellung fälschlicherweise verallgemeinert, auf alle
historischen Epochen bezogen und damit zu einem sozialen Gesetz verdinglicht. Dies sei aber
historisch schlicht falsch. Auch Technologien sind sozial konstituiert; sie sind »gewählt«, abhängig
von der symbolischen Kreativität einer Gesellschaft und damit hinsichtlich ihrer Anwendung kulturell
variabel.
In Marx’ bzw. Engels’ Gedankengebäude finden sich aber auch utilitaristische Motive, wobei
diese wiederum häufig Verbindungen mit dem technologischen Determinismus eingehen. Unterstellt
wird hier, daß die Entwicklung der Produktivkräfte der Motor der Geschichte sei. Dabei werde ein
»unveränderliche(r) Motivationstyp für menschliches Handeln, grob gesprochen: ökonomische
Motive« (a.a.O., S. 45), zugrunde gelegt, der zu einer rastlosen Nutzbarmachung und Ausbeutung von
Mensch und Natur führe. Castoriadis ist auch hier wieder der Auffassung, daß die anthropologische
und historische Forschung zu den je unterschiedlichen Formen des menschlichen Wirtschaftens die
Annahme einer solchen überhistorischen Motivationskonstanz längst widerlegt habe. Wer ernsthaft
eine solche utilitaristische Version des Historischen Materialismus vertrete, der würde die
»Bewegung und Organisationsform der 567gegenwärtigen Gesellschaft (…) auf das Ganze der
Geschichte ausdehnen« (a.a.O., S. 47).
Eine dritte Lesart des Marxismus besteht nun darin, zu argumentieren, daß Marx in erster Linie
versucht habe, die kapitalistische Ökonomie als ein geschlossenes System zu konzipieren und dieses
mit seiner Arbeitswerttheorie begreifbar zu machen. Marx war ja überzeugt gewesen, den
Wertausdruck von Gütern entschlüsselt zu haben, behauptete er doch, daß sich die Tauschrelation
zwischen Gütern danach bestimme, welche Menge an gesellschaftlicher Arbeit zur Produktion dieser
Güter aufgewendet wird. Diese an sich so bestechende Idee erweist sich aber nur dann als
praktikabel, wenn man Arbeit hinsichtlich ihrer Quantität und Qualität vergleichen kann: Kann man
dies aber? Und wenn ja, wie?
In ihrer tatsächlichen Wirklichkeit als »konkrete Arbeit« (des Schneiders, Maurers usw.) ist die Arbeit heterogen, und das Quantum
Arbeit ›in‹ einem Meter Leinwand, die von einer Maschine stammt, ist verschieden von dem Quantum »konkreter« Arbeit ›in‹ einem
Meter Stoff, der an einem alten Webstuhl hergestellt wurde. Es muß sich somit – es geht gar nicht anders – um eine andere Arbeit
handeln, um eine Arbeit, die eigentlich niemand je gesehen noch getan hat (…): um »einfache abstrakte« und »gesellschaftlich
notwendige« Arbeit. (Castoriadis, Durchs Labyrinth, S. 222)

Marx verfiel also auf die Idee, die Existenz »einfacher abstrakter« oder »gesellschaftlich
notwendiger« Arbeit zu postulieren, um behaupten zu können, daß es einen Vergleichsmaßstab für
Arbeit und damit eine Möglichkeit der Bestimmung der Tauschrelationen zwischen Gütern gibt.
Castoriadis jedoch hält diese ganze Marxsche Operation schlicht für unsinnig. Denn niemand weiß,
was konkret unter »gesellschaftlich notwendiger« Arbeit zu verstehen ist. Die »durchschnittlich«
benötigte Arbeitszeit für ein Gut liefert auch keinen Maßstab, weil dies entweder unterstellen würde,
daß es keinen technologischen Wandel gibt oder »daß die Konkurrenz zwischen den Produzenten die
effektiven Arbeitszeiten beständig und tatsächlich auf ihren Mittelwert« zurückführt (a.a.O., S. 226),
was allerdings nur unter der absolut unrealistischen Annahme vollkommener Konkurrenz und damit
idealer Märkte denkbar wäre. Welcher Maßstab ist dann geeignet, die gesellschaftlich notwendige
Arbeit zu definieren? Bei Marx findet sich keine klare Antwort. Auch der Versuch, »einfache« oder
»abstrakte« Arbeit zu definieren, führt nicht 568weiter, schon deswegen, weil Arbeit Castoriadis
zufolge ganz offensichtlich keine Ware wie alle anderen ist. Die »Produktion« von Arbeit spielt sich
unter völlig anderen Bedingungen ab als diejenige von Gütern – und genau dies habe Marx übersehen
bzw. wollte er nicht sehen:
(…) wenn der Preis von Flugzeugpiloten höher ist als der »Wert« dieser Arbeitskraft, dann ist es absurd anzunehmen, (…) die
Hilfsarbeiter gingen nun daran, sich zu qualifizieren und könnten das in genügend großer Zahl tun, um den »Preis« auf seinen »Wert«
herabzudrücken. Im Fluchtpunkt der kapitalistischen Entwicklung, so wie Marx sie vorwegnimmt, wird diese Frage offensichtlich nicht
beantwortet, sondern ausgelöscht: Wenn der Kapitalismus tatsächlich alle Arbeiten in nicht-qualifizierte Arbeiten in der großen Industrie
verwandelte, dann gäbe es nichts anderes mehr als »einfache« Arbeit (…) So liegt der Fall aber nicht. (Castoriadis, a.a.O., S. 230/231)

Der Wert der Arbeitskraft läßt sich aber schon deshalb nicht fixieren, weil weder die
Subsistenzbedürfnisse des Arbeiters genau bestimmbar sind (a.a.O., S. 268) noch bei den
Kapitalisten gesichertes Wissen darüber vorliegt, welchen Nutzen sie aus dem Kauf von Arbeitskraft
ziehen: Schließlich können sie den technologischen Wandel ebensowenig vorhersehen wie die
mögliche Kooperationsbereitschaft oder Renitenz der Arbeiter (Castoriadis, Gesellschaft als
imaginäre Institution, S. 30 f.). Wenn sich aber schon der Wert der Arbeitskraft nicht sicher
bestimmen läßt, weil die Festlegung des Preises dieser Arbeitskraft eine Frage der Aushandlung, des
Konflikts und der Bewertung ist, dann sind die anderen von Marx formulierten angeblichen
»Bewegungsgesetze« der kapitalistischen Ökonomie eben keine Gesetze, sondern nur
Beschreibungen, die in einer spezifischen historischen Situation zutreffen können – oder auch nicht!
Marx selbst – so Castoriadis – habe die Unstimmigkeiten in seiner Arbeitswerttheorie wohl
gesehen. Seine Beschreibungen der Spezifik des Kapitalismus hätten immer zwischen drei nicht zu
vereinbarenden Interpretationen geschwankt, zwischen der ersten Deutung, daß erst der Kapitalismus
die Menschen und die von ihnen verrichtete Arbeit zu gleichartigen Einheiten gemacht habe, der
zweiten Deutung, daß der Kapitalismus nur zum Vorschein bringe, was ohnehin immer gleich, aber bis
dato verborgen war, und der dritten Deutung, daß der Kapitalismus eigentlich ungleichen Dingen nur
den An569schein des Gleichen gegeben habe (Durchs Labyrinth, S. 233). Alle drei Deutungen
könnten aber keinesfalls gleichzeitig zutreffen.

Castoriadis schließt also seinen Durchgang durch die je verschiedenen Deutungsmöglichkeiten des
Marxismus bzw. des Historischen Materialismus mit der Behauptung, daß keine davon ernsthaft
haltbar und deshalb die Marxsche Theorie gänzlich zu verwerfen sei. Diese entschiedene Marx-Kritik
ist theoretisch wesentlich radikaler als die von Habermas, sie führt aber im Unterschied zu jener
nicht dazu, daß Castoriadis Abschied von der Idee der Revolution bzw. eines radikalen Projekts der
»gesellschaftlichen Autonomie« nimmt. Dies hat nicht zuletzt mit den Spezifika der Castoriadisschen
Handlungstheorie zu tun, die auf eine völlig andere Grundlage gebaut ist als die Habermassche. Wie
ist dies zu verstehen?
Zunächst zur unterschiedlichen Form der Marx-Kritik. Habermas hatte ja, wie wir in der Neunten
Vorlesung gesehen haben, Marx’ ökonomische Theorie zumindest dahingehend akzeptiert, daß er ihre
Anwendbarkeit auf den liberalen Kapitalismus (des 18. und 19. Jahrhunderts) zugestand. Erst durch
die im 20. Jahrhundert immer umfangreicher werdenden Staatsinterventionen und durch die
zunehmende Verwissenschaftlichung der industriellen Produktion sei das Marxsche Wertgesetz
hinfällig geworden. Dies war für Habermas unter anderem einer der Gründe, warum er das
Marxsche »Produktionsparadigma« als veraltet bezeichnete und durch seine Theorie des
kommunikativen Handelns ersetzen wollte.
Castoriadis hingegen erklärt die Marxsche ökonomische Theorie für grundsätzlich falsch; sie zielte
auch an der Wirklichkeit der ökonomischen Verhältnisse im 19. Jahrhundert vorbei. D. h., das
»Produktionsparadigma« war seiner Meinung nach immer schon falsch, weil Marx zumindest in
wesentlichen Teilen seines Werkes einer falschen oder einseitigen Handlungstheorie anhing und damit
automatisch die Kreativität von Individuen und Gesellschaften weitgehend ausblendete. Auf der
anderen Seite freilich hielt Castoriadis – und dies ist nun ganz entscheidend und markiert die
Differenz zu Habermas – stärker an bestimmten Marxschen Einsichten fest. Habermas hatte ja
geglaubt, zu einer plausiblen Handlungstheorie nur vordringen zu können, wenn er – losgelöst von
Marx – in geduldiger Kritik an bestehenden soziologischen Handlungstheorien (wie dem Utilitarismus
oder der normativistischen Theorie Parsons’) und 570unter Rückgriff auf die im anglo-
amerikanischen Raum mittlerweile entwickelte Theorie der Sprechakte seine eigene
Handlungstheorie aufbaut. Diese Vorgehensweise hatte dazu geführt, daß der bei Marx zu findende
Begriff der »Praxis« bzw. der kreativen oder schöpferischen Tätigkeit, da er weder in den
bestehenden soziologischen Handlungstheorien noch in den Sprachphilosophien und -theorien
auftauchte, gänzlich zur Seite geschoben wurde.
Castoriadis will nun genau dies nicht. Er will sich diesen vor allem im Marxschen Frühwerk zu
findenden Praxisbegriff bewahren und seinen Bedeutungsgehalt zum eigentlichen Zentrum seiner
Theorie machen. Dazu scheint es ihm notwendig zu sein, diesen Begriff historisch zurückzuverfolgen
– bis hin zu Aristoteles, in dessen Werk dieser Begriff eine zentrale Rolle spielt. Während also
Habermas versuchte, den Verkürzungen eines utilitaristischen oder normativistischen
Handlungsbegriffs durch den Aufbau einer Theorie des kommunikativen Handelns entgegenzutreten,
macht dies Castoriadis mit dem Begriff der Praxis: Denn Praxis ist für ihn wie für Aristoteles
ebenfalls nicht-teleologisches Handeln, es folgt nicht dem Zweck-Mittel-Schema oder vorgegebenen
Normen. Praktisches Handeln heißt sich öffnen für die Zukunft und damit für die Ungewißheit, heißt
etwas Neues schaffen, ausbrechen aus einer rationalen oder normativ fixierten Ordnung.
Ob es darum geht, ein Buch, ein Kind oder eine Revolution zu machen – »machen« heißt immer, sich auf eine künftige Situation hin
entwerfen, die sich von allen Seiten dem Unbekannten öffnet und über die man also nicht vorab denkend verfügen kann. (Castoriadis,
Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 150)

Castoriadis schließt sich also der aristotelischen Theorietradition an, die in der Philosophie des 20.
Jahrhunderts trotz einiger bedeutender Vertreter (Michael Oakeshott, 1901-1990; Alasdair MacIntyre,
geb. 1929; am bekanntesten wohl Hannah Arendt) eine eher untergeordnete Rolle spielte, in jüngster
Zeit aber zunehmend wieder einen Aufschwung zu erleben scheint (vgl. etwa die Ausführungen zu
Martha Nussbaum in der nächsten Vorlesung). Diese Tradition hat ihre Handlungstheorie vornehmlich
an Formen situativen Handelns geschult, am erzieherischen oder politischen Handeln etwa, insofern
es im Bereich der Erziehung oder der Politik weder um abrufbares technisches Wissen noch um klar
vorgeschriebene Handlungsnor571men geht und zudem die Bedingungen des Handelns nicht alle voll
durchschaubar sind. In diesen Bereichen müssen sich die Handelnden also ganz selbstverständlich
dem Neuen und Unbekannten öffnen.
Castoriadis wird nun stärker als alle anderen Autoren in dieser aristotelischen Tradition, stärker
selbst als Hannah Arendt und natürlich erst recht stärker als Habermas, die schöpferischen und
kreativen Aspekte menschlichen Handelns betonen. Wenn man den Vergleich zwischen Habermas und
Castoriadis auf eine kurze Formel bringen wollte, so ließe sich sagen, daß ersterer den Ausbruch aus
der Zwangsjacke des utilitaristisch bzw. normativistisch gedachten Handlungsmodells mit dem
Begriff der »Kommunikation« sucht, letzterer mit demjenigen der »Imagination«, insofern es diese
schöpferische Einbildungskraft ist, die Castoriadis zufolge menschliches Handeln, menschliche
Praxis anleitet.
Castoriadis lädt also den Aristotelismus mit einer starken Konzeption von schöpferischer
Einbildungskraft auf, was sich in seinem Hauptwerk, nämlich Gesellschaft als imaginäre Institution,
eindrucksvoll zeigt. Darin schildert er mit großer argumentativer Durchschlagskraft die immer wieder
aufbrechende Kreativität von Gesellschaften: Weil sich Institutionen nicht auf Funktionalitäten
zurückführen lassen und das Feld des Symbolischen schlicht nicht determiniert ist, werden immer
wieder neue Symbole »geschöpft«, tauchen immer wieder neue Bedeutungen auf, welche zu neuen
Institutionen führen und damit den gesellschaftlichen Wandel in unvorhersehbare Richtungen treiben.
Dieser Gedanke der Entstehung neuer Symbolisierungen und damit neuer Institutionen ist fast
notwendig verknüpft mit einer spezifischen anthropologischen Bestimmung des Menschen. Denn in
der Tat: Man muß sich ja fragen, wie solche neuen Symbolisierungen überhaupt zustande kommen
können! Castoriadis’ Antwort darauf lautet folgendermaßen:
Der Mensch ist, auch wenn er es nicht weiß, ein philosophisches Tier, das sich die Fragen der Philosophie gestellt hat, lange bevor die
Philosophie als Reflexion ausformuliert wurde, und er ist ein poetisches Tier, insofern er sich diese Fragen im Imaginären beantwortet.
(Castoriadis, a.a.O., S. 253)

Das Imaginäre, jene schöpferische Einbildungskraft, jene »Fähigkeit, ein Bild hervorzurufen« (a.a.O.,
S. 218), ist also Resultat der Funktionsweise der menschlichen Psyche. Mit dem »Imaginären« ist
572ein Erfundenes gemeint – »gleichviel, ob es sich dabei um eine ›reine‹ Erfindung (›eine völlig
erfundene Geschichte‹) oder um ein Gleiten handelt, eine Sinnverschiebung, bei der vorliegende
Symbole mit anderen als ihren ›normalen‹, rechtmäßigen Bedeutungen beladen werden« (a.a.O.,
S. 217/218). Das Imaginäre muß sich dabei durch das Symbolische, durch Sprache, durch kulturell
vorgegebene Zeichen etc. ausdrücken, was auch die Eigenart des Symbolischen erklärt: Symbolisches
verweist zwar immer auf etwas Reales; es ist aber gleichzeitig mit imaginären Elementen verwoben.
Und genau deshalb, also weil das Imaginäre das Symbolische benutzt, es immer wieder auch
verändert, mit seinen Bedeutungen spielt etc., ist dieses Symbolische einem stetigen
Veränderungsprozeß unterworfen. Dies bedeutet aber gleichzeitig: Weil Institutionen mit
Symbolisierungen aufgeladen sind, steht die gesellschaftliche Welt nie still. Diese Einsicht führt
Castoriadis zu einer fundamentalen Kritik bestehender sozialwissenschaftlicher Theorieansätze (nicht
nur des Marxismus) und zu überraschenden Deutungen zahlreicher geschichtlich-gesellschaftlicher
Phänomene, wobei er sich hauptsächlich auf fünf Themenfelder konzentriert hat.
a) Castoriadis baut seine zunächst vornehmlich aus der Kritik des Marxismus gewonnenen
Einsichten zu einer Ontologie des Unbestimmten aus, also zu einer nicht-deterministischen Lehre
vom Sein. Eben weil das Symbolische auf jenen ursprünglichen menschlichen Fähigkeiten zur
Imagination beruht, weil also Bedeutungen untrennbar mit jenem irreduziblen Aspekt der Imagination
verwoben sind, lassen sich Bedeutungen auch nicht auf Ursachen zurückführen. Der geschichtlich-
gesellschaftliche Raum besteht aus Bedeutungsverkettungen, die sich nicht vollständig aus
Kausalketten herleiten lassen (a.a.O., S. 80). Anders – und vielleicht noch radikaler formuliert –
bedeutet dies: Geschichte und Gesellschaft enthalten wesentlich auch Nicht-Kausales.
Das Nicht-Kausale (…) erscheint nicht nur als »unvorhersehbares«, sondern als schöpferisches Verhalten (der Individuen, Gruppen,
Klassen, ganzer Gesellschaften); nicht bloß als Abweichung von einem bestehenden, sondern als Setzung eines neuen Verhaltenstyps;
als Institution einer neuen gesellschaftlichen Regel, Erfindung eines neuen Gegenstands oder einer neuen Form. Kurz, das Nicht-
Kausale erscheint als etwas aus der bisherigen Situation nicht Ableitbares, als ein Schluß, der seine Prämissen übersteigt
beziehungsweise neue aufstellt. (Castoriadis, a.a.O., S. 77)

573Hintergrund einer solchen Äußerung ist natürlich die Castoriadissche Frage, ob man sich
überhaupt kreatives Handeln vorstellen könne, wenn die Welt ein in sich geschlossener, durch
unendliche Kausalketten determinierter Raum wäre. Er bestreitet dies und folgert daraus, daß alle
sozialwissenschaftlichen Theorien, die auf einer solchen kausalwissenschaftlichen Ontologie der
Bestimmtheit aufbauen, sich gerade dieser schöpferischen Aspekte des individuellen Handelns und
damit auch der gesellschaftlichen Kreativität verschließen.
Ohne ein produktives, schöpferisches oder – wie wir es genannt haben – radikales Imaginäres, wie es sich in der untrennbaren
Einheit von geschichtlichem Tun und gleichzeitiger Herausbildung eines Bedeutungsuniversums offenbart, ist Geschichte weder möglich
noch begreifbar. Wenn es in der Geschichte jene Dimension gibt, die die idealistischen Philosophen Freiheit genannt haben und die besser
Indeterminiertheit heißen sollte (…), dann liegt sie im Tun. Denn das Tun setzt etwas anderes, hat es mit etwas anderem zu tun als bloß
Bestehendem. Dem Tun wohnen Bedeutungen inne, die weder nur Abbild des Wahrgenommenen noch einfach Verlängerung und
Sublimierung animalischer Strebungen noch streng rationale Bearbeitung des Gegebenen sind. (Castoriadis, a.a.O., S. 251)

Diese Einsichten führen Castoriadis dann zu einer höchst eigenartigen Metapher und auch zu
weitreichenden Schlußfolgerungen: Seiner Auffassung nach erhebt sich die geschichtlich-
gesellschaftliche Welt auf einer flüssigen, keinesfalls festen und nie wirklich zu fixierenden
Grundlage. Castoriadis redet in Anlehnung an die Sprache der Vulkanologen von »Magma«. Auf
diesem flüssigen Urgestein unendlich schillernder Bedeutungen mit ihren ebenso unzähligen
möglichen Verweisungszusammenhängen organisieren und instituieren sich Gesellschaften, die mittels
Sprache und Handlungen bestimmte Bedeutungen fixieren, und zwar jede Gesellschaft in ihrer je
spezifischen Weise. Symbolgefüge entstehen, die da heißen können »Gott«, »Sünde«, »Tabu«,
»Geld«, »Nation« oder »Kapital«. Sie scheinen unverrückbar zu sein, geradezu unzerstörbare Felsen,
weshalb sich um sie herum über lange Zeit die gesellschaftlichen Bedeutungen und Handlungen
gruppieren. Aber – und dies wird von Castoriadis immer wieder betont: Weil Sprache und Handeln
die Möglichkeit eröffnen, Gegebenes zu überwinden, neue Bedeutungen oder neue Handlungsformen
zu erfinden und diese wiederum zu instituieren (a.a.O., S. 450 f.), steht Gesellschaft nie still. Dies gilt
574auch für jene so unangreifbaren, felsartigen Symbolgefüge wie die obengenannten. Gesellschaft
muß also als eine Art Wechselspiel zwischen Instituiertem und Instituierendem verstanden werden;
nur so läßt sich ihre immer wieder aufbrechende Kreativität begreifen.
b) Castoriadis leitet aus dieser Einsicht auch eine klare normative Position ab, bei welcher die
nicht weiter zu begründende Idee der Autonomie im Mittelpunkt steht (a.a.O., S. 170). Negativ
formuliert heißt das: Gesellschaften sind dann nicht-autonom bzw. entfremdet, wenn sie »im
Imaginären der Institutionen nicht mehr ihr eigenes Produkt zu erkennen« (a.a.O., S. 226) vermögen.
Solche Gesellschaften behaupten von sich, sie seien auf außersoziale Säulen wie etwa »Gott«,
»Natur«, eine überzeitliche »Vernunft« usw. gebaut, und versuchen dadurch Institutionen, Bedeutungen
und Symbole ein für allemal zu fixieren und damit ihrer eigenen Gestaltungs- und Handlungsfähigkeit
zu entziehen. Anders formuliert: Eine heteronome Gesellschaft lehnt ihre eigene Verantwortung
bezüglich der Instituierung des Neuen ab. Dabei identifiziert allerdings Castoriadis sowohl auf
individueller wie auf kollektiver Ebene religiösen Glauben vorschnell mit Heteronomie. Die Frage,
ob sich menschliche Autonomie nicht gerade auch im Glauben äußern und damit von einer Hybris des
Schöpferischen abgrenzen kann, wird von ihm, dem militanten Atheisten, im Unterschied zu Touraine
und insbesondere Ricœur (s. u.) nicht gestellt.
Castoriadis interessiert sich nun ganz besonders für jene historischen Epochen, in denen
gesellschaftliche Autonomie Wirklichkeit oder – um es vorsichtiger zu formulieren – zumindest
deutlich erkennbare Möglichkeit wurde. Ihm zufolge war dies in der Geschichte der Menschheit nicht
allzuoft der Fall, nämlich einmal im antiken Griechenland und zum anderen in der westlichen
Moderne. Gerade der Entstehung der griechischen Philosophie und der seiner Meinung nach eng mit
ihr zusammenhängenden Demokratie hat er mehrere wichtige Studien gewidmet (vgl. Castoriadis, »La
Polis grecque et la création de la démocratie«; dt.: »Die griechische Polis und die Schaffung der
Demokratie«; und »Aeschylean Anthropogony and Sophoclean Self-Creation of Anthropos«). Seiner
Auffassung nach hat sich zum ersten Mal im 5. Jahrhundert v. Chr. eine Gesellschaft, das griechische
Volk, selbst als Souverän begriffen und zur autonomen Lenkung und Gestaltung der eigenen
Angelegenheiten bereit erklärt. Ein Prozeß der Selbstinstituierung von Gesell575schaft fand statt,
d. h. eine Abkehr von den Vorschriften der Götter und eine Hinterfragung aller bisher bestehenden
Autoritäten mit dem Ziel der bewußten Schöpfung einer Gesellschaft. Um es etwas paradox zu
formulieren: Es war im antiken Griechenland, als zum ersten Mal die Institutionalisierung der
Institutionalisierung, also der Wille zur beständigen Hinterfragung des Alten und der damit
einhergehenden Schaffung des Neuen, gedacht und zum Teil verwirklicht wurde, jene – wie
Castoriadis es sieht – Grundidee einer jeden Demokratie.
Castoriadis’ radikales Ideal von Autonomie und Demokratie führt fast zwangsläufig zu einer
normativen Auszeichnung bestimmter Politikformen, und zwar in deutlicher Differenz beispielsweise
zu Habermasschen Positionen (vgl. zum folgenden Arnason, Praxis und Interpretation, S. 236 ff. und
Kalyvas, »The Politics of Autonomy and the Challenge of Deliberation: Castoriadis Contra
Habermas«). Habermas etwa hatte nie ernsthaft die Genese von Normen und Werten, sondern immer
nur die Frage ihrer Legitimation im politischen Prozeß zum Thema gemacht. Folgerichtig vertritt er
eine demokratietheoretische Vorstellung, wonach die wesentlichen Entscheidungen im nach
bestimmten Verfahren geregelten politischen System gefällt werden sollten, wenn auch unter
Kontrolle einer kritischen Öffentlichkeit. Politik leitet dieser Vorstellung zufolge dann eher
inkrementellen, also schrittweisen Wandel an. Castoriadis hingegen hat durch seine Begeisterung für
das Phänomen gesellschaftlicher Kreativität ein radikaleres Politikverständnis. Seine Sympathien für
radikale Transformationen und revolutionäre Brüche, in denen die Selbstaktivierung der Gesellschaft
besonders zum Ausdruck kommt, sind unübersehbar. Damit begegnen wir aber einem
bemerkenswerten Sachverhalt: Trotz einer im Vergleich zu Habermas wesentlich schärferen, weil
immanent ansetzenden Marx-Kritik will Castoriadis im Unterschied zu Habermas das revolutionäre
Projekt nicht fallenlassen. Er kann zwar keine konkreten Träger dieses revolutionären Projekts
benennen, aber die Denkmöglichkeit revolutionären Handelns will er sich ebensowenig nehmen
lassen wie die Forderung nach einer radikalen ökonomischen Gleichheit der Menschen, die er
unbekümmert um die bisherigen Erfahrungen mit solch utopischen Projekten bis zuletzt erhob.
Castoriadis weigert sich, auf eine aus seiner Sicht letztlich liberale (Habermassche)
Demokratietheorie ohne utopische Gehalte einzuschwenken, weil 576dies für ihn auch heißen würde,
den radikalen Gedanken der Autonomie aufzugeben. Aber welche politische Programmatik für die
Gegenwart sich daraus eigentlich ergeben soll, blieb in seinen Arbeiten erstaunlich vage. Die
politischen Umbrüche von 1989 in Ostmitteleuropa haben zwar bestätigt, daß das Neue in der
Geschichte immer wieder aufbricht, sie haben aber keineswegs zu Institutionen geführt, die von
Castoriadis als Ausdruck einer anderen Moderne akzeptiert würden. Die Neuheit der politischen
Institutionen Europas wiederum verband sich bisher ebenfalls nicht mit utopischen Sehnsüchten.
c) Auch wenn Castoriadis also am revolutionären Projekt festhält, die Marxsche Vorstellung von
der (sozialistischen) Revolution als dem Ende der Geschichte lehnt er selbstverständlich ab – eben
weil sich Geschichte aufgrund der schöpferischen Einbildungskraft des Menschen prinzipiell nie
stillstellen läßt. Aus dem gleichen Grund sind aber seiner Meinung nach auch nicht-marxistische
Prognosen zu langfristigen Entwicklungsverläufen zum Scheitern verurteilt. Dies gilt gerade für
solche soziologischen Gedankenkonstrukte wie die an Weber anknüpfende Rationalisierungstheorie
und die mit ihr zum Teil verwandte Modernisierungstheorie (vgl. die Dreizehnte Vorlesung). In
ähnlicher Weise wie auch Eisenstadt behauptet hat, daß unterschiedliche Zivilisationen mit ihren
eigenen kulturellen Programmen auf die Herausforderungen des Westens reagiert haben, weshalb eine
Konvergenz der geschichtlichen Entwicklungen dieser je unterschiedlichen Zivilisationen nicht zu
erwarten ist, behauptet dies auch Castoriadis, selbst wenn seine diesbezüglichen Begründungen und
Erläuterungen andere sind. Castoriadis greift nicht auf die Idee der Achsenzeit und die These von der
Lebendigkeit religiöser Traditionen zurück, um die »Vielfalt der Moderne« plausibel zu machen. Für
ihn folgt diese Vielfalt schon aus der Nichtvorhersagbarkeit der Geschichte und aus der Tatsache, daß
der geschichtlich-gesellschaftliche Raum auch aus Nicht-Kausalem besteht und sich das Imaginäre
zwar an vorhandene Symbolisierungen anlehnt, aber mit ihnen ›spielt‹ und sie verändert. Es ist die
gesellschaftliche Kreativität, welche allzu langfristige lineare Entwicklungen unterbindet und Brüche
hervortreten läßt, mithin auch eine umfassende Entwicklungskonvergenz unwahrscheinlich macht (vgl.
Castoriadis, »Reflections on ›Rationality‹ and ›Development‹«).
577Wenn nun aber all diese Ideen von einer einheitlichen »Rationalisierung« und
»Modernisierung« so widersinnig waren und sind, warum haben sie eine derart große Verbreitung
und Anhängerschaft gefunden? Für Castoriadis sind diese vorwiegend im Westen entstandenen Ideen
imaginäre Bedeutungskomplexe und in dieser Form Ausdruck eines der Heteronomie geschuldeten
Versuchs, die Geschichte stillzustellen, nämlich zu behaupten, sie wäre quasi determiniert und durch
die schöpferischen Handlungsmöglichkeiten des Menschen nicht veränderbar.
d) Ein weiteres Phänomen der Heteronomie, allerdings eines mit unübertroffen schrecklichen
Konsequenzen, war Castoriadis zufolge der Totalitarismus (vgl. »Les destinées du totalitarisme«).
Castoriadis hat sich schon aufgrund seiner eigenen Biographie immer wieder mit dem sowjetischen
Herrschaftssystem auseinandergesetzt und es als einen durch seine Radikalität kaum zu überbietenden
Versuch der Fixierung von Geschichte gedeutet, also einen Versuch, der auf der imaginären Idee einer
vollkommenen Kontrolle des historischen Wandels basiert. Die Idee der notwendigen Abfolge einer
kapitalistischen und dann sozialistischen Entwicklung führte laut Castoriadis fast zwangsläufig zur
massenmörderischen Unterdrückung von Gegentendenzen – von der paranoiden Ausrottung aller
Links- und Rechtsabweichler bis hin zur Vernichtung nicht »vorgesehener« Klassen wie der Kulaken.
Auch wenn diese Interpretation zum Teil deutlich philosophisch überhöht und Castoriadis’ Urteile
über die Sowjetunion – siehe seine in den 1960er und 1970er Jahren vorgetragenen Behauptungen
von deren militärischer Überlegenheit über den Westen – nicht immer zutreffend waren, so gelang es
ihm doch, tief in die seit den 1970er Jahren in Frankreich vehement einsetzende
sozialwissenschaftliche und philosophische Diskussion um den Totalitarismus einzugreifen (vgl.
David Bosshart, Politische Intellektualität und totalitäre Erfahrung. Hauptströmungen der
französischen Totalitarismuskritik), eine Diskussion, die wohl zum Schaden der
Sozialwissenschaften in Deutschland hier kaum geführt wurde und auch an den führenden deutschen
Theoretikern wie Habermas oder Luhmann weitgehend vorbeilief.
e) Am umfassendsten und detailliertesten hat Castoriadis seine These von der Irreduzibilität des
Imaginären nicht auf gesellschaftlicher, sondern auf individueller Ebene ausgearbeitet, und zwar mit
zahlreichen Beiträgen zur Psychoanalyse. Hier soll nur kurz ange578deutet werden, daß er seine
diesbezüglichen Positionen häufig als Gegenentwurf zur strukturalistischen Psychoanalyse Jacques
Lacans verstand. Bemerkenswert vor allem vor dem Hintergrund der Freudschen Psychoanalyse und
soziologischer Sozialisationstheorien ist an seiner Position, daß er einem überrationalistischen
Verständnis von Subjektwerdung entgegentrat und behauptete, daß so, wie es der Gesellschaft
unmöglich sei, sich vollkommen zu durchschauen, dies auch für das Individuum gelte. Das Unbewußte
läßt sich nicht beseitigen, nicht vollständig aufhellen. Er war deshalb der Auffassung, daß die
Freudsche Forderung: »Wo Es war, soll Ich werden«, ergänzt werden müsse durch eine zweite
Forderung: »Wo Ich bin, soll Es auftauchen.« (Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution,
S. 177) Diese Verknüpfung zweier Forderungen drückt zugleich sein Verständnis von moralischer
Autonomie aus. Denn danach ist diese nicht, wie das etwa in der Kantschen Moralphilosophie
behauptet wird, dann gegeben, wenn ich moralische Fragen unter Absehung von meinen Neigungen
reflektieren kann, sondern erst dann, wenn ich meine Triebe und Wünsche als meine eigenen erkenne
und anerkenne:
Das Begehren, die Triebe, auch das bin ich, auch Eros und Thanatos, und die Aufgabe ist nicht nur die, den Trieben zum Bewußtsein zu
verhelfen, sondern auch ihnen einen Raum zu verschaffen, wo sie sich äußern und realisieren können. Autonom ist ein Subjekt, das mit
Grund schließen kann: Das ist wahr, und: Das ist mein Begehren. (Castoriadis, a.a.O., S. 177/178)

Eine solche Position setzt freilich die Zentralthese von Castoriadis voraus, nämlich diejenige von der
Ursprünglichkeit und Nicht-Reduzierbarkeit der imaginären Leistungen des Ich. Denn genau diese
Leistungen ermöglichen es, sowohl gegenüber der Realität wie auch gegenüber den eigenen Trieben
Distanz zu wahren: »Ich kann lernen, Aussagen über die Wirklichkeit als wahr zu akzeptieren, auch
wenn sie meinen Wünschen widersprechen. Ebenso kann ich lernen, meine Triebe als solche
anzuerkennen, auch wenn ich ihnen nicht folgen will.« (Joas, Pragmatismus und
Gesellschaftstheorie, S. 162) Genau dies besagt ebenjenes letzte Castoriadis-Zitat – und verweist
zugleich darauf, daß mir die Wirklichkeit wie die Triebe nicht direkt, sondern nur über meine
imaginären Leistungen zugänglich sind.
Auch hier werden wir also wieder auf ein Thema verwiesen, wel579ches das gesamte
Castoriadissche Werk durchzieht – das schöpferische Potential von Individuen und Gesellschaften,
das die meisten sozialtheoretischen Ansätze – mit Ausnahme des Pragmatismus – wenn nicht
ignoriert, so doch immer nur am Rande behandelt haben.

Man wird wohl kaum sagen können, daß Alain Touraine, der neben Pierre Bourdieu vielleicht
prominenteste Soziologe Frankreichs im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, ein ähnlich umfassendes,
auf mehrere Disziplinen bezogenes und philosophisch derart ambitioniertes Projekt wie Castoriadis
verfolgt hätte. Touraines Anliegen war demgegenüber bescheidener, schon weil er sich ausschließlich
im Feld der Soziologie verortete. Aber Touraine, zum Teil von Castoriadis direkt beeinflußt und auch
aus ähnlichen philosophischen Quellen schöpfend wie dieser, gelang und gelingt es, in
unterschiedlichen Schaffensphasen immer wieder beeindruckende Anstöße für die Sozialtheorie zu
liefern.
Das Frühwerk des 1925 geborenen Soziologen schien eine klare empirische Ausrichtung zu haben.
Sein frühestes Forschungsgebiet war nämlich die Industriesoziologie, zu deren renommiertesten
französischen Vertretern er alsbald zählen sollte. Tatsächlich betrieb er, der unter anderem auch bei
Parsons in Harvard studiert hatte, diese Industriesoziologie aber mit einer klaren theoretischen
Stoßrichtung, wodurch er schnell zu einer dezidierten Parsons-Kritik vorstieß: Denn wie seine
Forschungen in Betrieben zeigten, wurden dort Entscheidungen nicht im Sinne einer bloßen
Anwendung von Normen und Werten getroffen, wie dies gemäß dem Parsonsschen normativistischen
Paradigma zu erwarten gewesen wäre. Vielmehr konnte er zeigen, daß die Beschäftigten bestehende
Werte und kulturelle Muster als Ressourcen für im Betrieb ablaufende Machtkämpfe benutzten. Im
Unterschied zu Bourdieu führte ihn diese Beobachtung aber nicht zu einer quasi-utilitaristischen
Deutung von Kultur. Touraine machte sich vielmehr zur Aufgabe, ein Problem zu lösen, das im
Parsonsschen Werk nie geklärt worden war, nämlich das Problem der Entstehung kultureller
Orientierungen.
In seiner ersten großen rein theoretischen Studie, Sociologie de l’action von 1965 (dt.: Soziologie
als Handlungswissenschaft), kritisiert er zwar Parsons auch aus einer konflikttheoretischen
Perspektive, insofern er moniert, daß Parsons viel zu sehr die konsensuellen Aspekte sozialer
Ordnung betont. Aber im Unterschied zu Konflikt580theoretikern ist Touraine nicht bereit, die Rolle
von Werten und Normen bei der Analyse sozialer Prozesse beiseite zu schieben. Wie er betont, sind
im menschlichen Handeln zweck- und wertrationale Aspekte unmittelbar miteinander verbunden. Dies
gilt auch für Handeln im Konfliktfall, denn selbst in Klassenkämpfen wird nicht nur um rein
materielle Angelegenheiten, sondern auch um normative Ansprüche gerungen. Letzteres war natürlich
auch eine Kritik am ökonomistischen Determinismus marxistischer Ansätze und vor allem an den
innerhalb der Kommunistischen Partei Frankreichs bevorzugten politischen Analysen, die jegliche
kreative Dimension individuellen und kollektiven Handelns ignorierten.
Gerade auf diese kreative Dimension kam es Touraine aber an – beeinflußt nicht zuletzt durch Jean-
Paul Sartre, dessen Philosophie der Freiheit für Touraine einen der Ansatzpunkte bildete, um den
Einseitigkeiten des Marxismus, aber auch dem kulturalistischen Determinismus parsonianischer
Ansätze zu entgehen. Seine Soziologie sollte eine »der Freiheit [sein], eine, die immer auf der Suche
nach Bewegung ist, durch welche die Formen des sozialen Lebens zugleich konstituiert und bekämpft,
organisiert und verworfen werden« (Sociologie de l’action, S. 123; unsere Übersetzung). Der
Rückgriff auf Sartresche Grundpositionen brachte freilich ein Problem mit sich: Sartres hochgradig
individualistische oder gar anarchistische Philosophie machte es schwierig, überhaupt Sozialität zu
denken, und deshalb mußte es Touraines Bestreben sein, quasi eine Synthese zwischen Sartreschen
und Parsonsschen Gedanken herzustellen: er mußte die Freiheit und Kreativität menschlichen
Handelns betonen, ohne die Existenz von Normen und Werten zu leugnen, da ja nur durch sie die
Stabilität sozialer Beziehungen überhaupt erklärbar wird.
Der entscheidende, wenn auch nicht unproblematische Schritt hin zu einer solchen Synthese bestand
nun darin, daß Touraine das wertegenerierende und kreative Handeln nicht in erster Linie auf
Individuen bezog. Vielmehr setzte er, um von vornherein die anarchistischen Tendenzen der
Sartreschen Philosophie zu vermeiden, Handeln mit einem gesamtgesellschaftlich verstandenen
Arbeitsbegriff gleich: Handeln als Arbeit »der Gesellschaft«. Mit einem solchen kollektivistischen
Handlungsbegriff unterstellte Touraine natürlich nicht, daß »Gesellschaft« als ein homogenes Ganzes
oder gar als ein einheitlicher Akteur zu betrachten sei. Er weist nur auf den 581historisch neuen
Sachverhalt hin, daß mit der Entstehung moderner Gesellschaften gleichzeitig enorme
Steuerungskapazitäten freigesetzt wurden, die es erstmals erlauben, daß sich diese Gesellschaften als
selbst produzierte verstehen, und daß sie ihre eigenen Werke und Produktionsverhältnisse als selbst
geschaffene wiedererkennen können. Damit seien sie erstmals in der Geschichte in der Lage, Normen
und Werte nicht mehr als gegeben hinzunehmen, sondern diese in einem konflikthaften Prozeß selbst
zu schaffen und zu institutionalisieren: »Soziales Handeln ist die Schöpfung eines Universums
kultureller Werke durch menschliche Arbeit; diese Schöpfung kann nur eine kollektive sein (…)«.
(a.a.O., S. 60; unsere Übersetzung)
In diesem Satz kommt schon ein Gedanke zum Ausdruck, den Touraine zum Titel eines seiner
Hauptwerke der 1970er Jahre machen wird, nämlich die Idee der Selbst-Produktion der Gesellschaft
(Production de la société von 1973). Die diesbezügliche These, die Touraine seit Ende der 1960er
Jahre in verschiedenen Büchern präsentiert und immer weiter ausgearbeitet hat (z. B. La société post-
industrielle aus dem Jahre 1969), lautet, daß in »postindustriellen«, immer stärker durch Wissen und
die Wissenschaften charakterisierten Gesellschaften eine zunehmende Einwirkungsfähigkeit dieser
Gesellschaften auf sich selbst zu diagnostizieren sei. Bemerkenswert ist hier nicht in erster Linie, daß
Touraine die Rolle des Wissens für sozialen Wandel und die von Bildungsqualifikationen für die
Struktur einer neu entstehenden Gesellschaftsform hervorhebt. Dies hat in ganz ähnlicher Weise auch
ein berühmter amerikanischer Soziologe getan, nämlich Daniel Bell (geb. 1919), der mit seinem 1973
publizierten Buch The Coming of Post-Industrial Society (dt.: Die nachindustrielle Gesellschaft)
auf die zeitdiagnostische Debatte der 1970er Jahre einen fast noch stärkeren Einfluß als Touraine
nehmen konnte. Viel wichtiger ist, daß Touraine neben den zeitdiagnostischen mindestens ebensosehr
normative Absichten verfolgt, wobei die Ähnlichkeiten zur Position von Castoriadis nicht zu
übersehen sind. Denn das, was Castoriadis als die Selbstinstituierung von Gesellschaft beschrieben
und als ein Zeichen ihrer Autonomie interpretiert hat, wird von Touraine soziologisch fundiert: Die
Möglichkeit zur Autonomie – so ließe sich in der Sprache von Castoriadis sagen – mag zwar von
bestimmten kulturellen Voraussetzungen abhängen; sie ist aber erst zu verwirklichen, wenn die Mittel
dafür auch gegeben sind, ebenjene durch die Wissenschaften gegebene Selbst582einwirkungsfähigkeit
oder – wie Touraine es nennt – »Historizität« der (postindustriellen) Gesellschaft.
Hinter dieser Hoffnung auf die durch das Wissen und die Wissenschaften zu ermöglichende
Veränderung von Gesellschaften stand bei Touraine nicht etwa ein positivistischer Glaube an den
wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Touraine ist kein Sozialtechnologe, und erst recht war er
nicht der Meinung, daß sich etwa Werte wissenschaftlich beweisen ließen. Was er vielmehr
anvisierte – und hier zeigte sich wieder die Nähe zu Castoriadis –, war vielmehr der Bruch mit der
zeitgenössischen kapitalistischen Gesellschaftsform; ihn beflügelte die Hoffnung, daß neue
gesellschaftliche und kulturelle Modelle gefunden würden, welche die alte, auf den bloßen
Produktionsfortschritt bauende kapitalistische Industriegesellschaft ablösen würden. Ihm ging es also
darum, die zentralen Konfliktlinien und Widersprüche gegenwärtiger kapitalistischer Gesellschaften
ausfindig zu machen, die Ansatzpunkte liefern könnten für kollektive Akteure, denen es um die
Schöpfung und Durchsetzung neuer gesellschaftlicher und kultureller Modelle geht.
Spricht man von kollektiven Akteuren, dann kommt natürlich sofort die traditionelle
Arbeiterbewegung in den Sinn. Aber gerade in bezug auf sie hatte Touraine schnell alle Hoffnungen
aufgegeben: Denn weder die Erfahrungen mit den sozialistischen oder kommunistischen Parteien in
Frankreich noch diejenigen mit den Parteien im sowjetischen oder chinesischen Machtbereich
konnten den Gedanken an eine wirklich autonome gesellschaftliche Zukunft nähren. Dafür rückten die
sogenannten »Neuen sozialen Bewegungen« in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen. Denn gerade
die 1960er und 1970er Jahre waren eine Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs: mit der Studenten-,
der Frauen-, der Umweltbewegung erschienen neue kollektive Akteure auf der gesellschaftlichen und
politischen Bühne, die tatsächlich die Tourainesche Hoffnung zu nähren schienen. Waren dies nicht
die Bewegungen, welche die Ziele der alten Arbeiterbewegung hinter sich lassen und statt dessen ein
neues kulturelles Modell propagieren würden, eines der demokratischen Kontrolle der Produktion
und des Wissens und damit der bewußten Steuerung des gesellschaftlichen Wandels?
Touraine machte sich sofort daran, in verschiedenen empirischen Studien diese neu auftretenden
sozialen Bewegungen zu untersuchen. Mit seinen Analysen zur Studenten-, Ökologie- und Anti-
583Kernkraftbewegung, aber auch mit Forschungen zu regionalistischen Bewegungen in Frankreich,
zu Solidarność in Polen und zu anderen sozialen Bewegungen in Lateinamerika wurde er zu einem der
führenden Autoren im Feld der Soziologie sozialer Bewegungen, wobei er 1978 mit La voix et le
regard sein diesbezügliches Hauptwerk vorlegte. Diese Arbeiten demonstrieren, wie wenig man
»Institutionalisierung« als einen konfliktfreien, selbstverständlich gelingenden Prozeß auffassen darf,
wie dies Parsons vorgegeben hatte. Es wird vielmehr um jede Definition von Werten und jede
Verkörperung der Werte in Institutionen zwischen den gesellschaftlichen Akteuren gerungen. Freilich
waren Touraines Untersuchungen vor allem aufgrund seiner Methoden durchaus umstritten: Denn bei
diesen ging es nicht allein um eine distanzierte Beobachtung von vorfindbaren
Bewegungsphänomenen, sondern mittels der so bezeichneten Methode der »soziologischen
Intervention« griffen die Forscher auch aktiv ins soziale Geschehen ein, und zwar mit dem Ziel, die
»Untersuchten« zu einer Ausformulierung oder gar Zuspitzung der im Raum stehenden Konflikte zu
bewegen. Damit – und dies war der Hauptkritikpunkt an dieser Methode – war natürlich die Gefahr
gegeben, daß die Forscher den »Untersuchungsobjekten« externe und theoretisch definierte Konflikte
aufoktroyierten.
Was auch immer die Ergebnisse der Touraineschen Untersuchungen im Bereich der sozialen
Bewegungen waren, sie endeten für ihn mit einer Enttäuschung. Touraine war ja in den 1960er Jahren
angetreten, um die Hauptkonfliktlinie postindustrieller Gesellschaften ausfindig zu machen und dabei
diejenige soziale Bewegung zu identifizieren, die jenes neue kulturelle Modell der Gesellschaft
verkörpern und dabei die alte Arbeiterbewegung als Akteur quasi ablösen würde. Eine solche
einheitliche Bewegung freilich fand sich nicht. Touraine mußte – wenn auch äußerst zögerlich –
eingestehen, daß der eine zentrale Konflikt der postindustriellen Gesellschaft nicht auszumachen ist,
sondern daß man in postindustriellen Gesellschaften eher eine Fragmentierung und Zersplitterung des
Konfliktfeldes beobachten kann. Die so unterschiedlichen »Neuen sozialen Bewegungen« haben sich
nicht zu jener einen gemeinsamen Formation zusammengeschlossen. Dies hing auch mit ihrer
problematischen Rekrutierungsbasis zusammen. Denn die Gruppe der freien und akademischen
Berufe, die in den 1970er und 1980er Jahren tatsächlich ein wesentliches sozialstrukturelles
Rekrutierungsreservoir für 584diese neuen sozialen Bewegungen darstellte, hat sich spätestens seit
den 1980er Jahren als wesentlich weniger homogen und »zuverlässig« erwiesen, als Touraine dies
ursprünglich erhofft hatte.

Touraine zeigte sich aber überaus lernfähig. Er wandte sich nämlich in der Folgezeit zunehmend von
der Soziologie sozialer Bewegungen ab und konzentrierte sich seit den 1990er Jahren immer stärker
auf eine historisch fundierte Diagnose der Moderne. Auch dabei sollte freilich – und hier zeigt sich
wieder seine durch Sartre und Castoriadis geprägte anti-strukturalistische Stoßrichtung – jenes vom
Strukturalismus und Poststrukturalismus so perhorreszierte »Subjekt« im Mittelpunkt seiner
Betrachtungen stehen. Interessant ist dies auch insofern, als sich die theoretischen Differenzen mit
dem Strukturalismus auch auf dem politischen Kampffeld widerspiegelten. Touraine ist nämlich
gleichzeitig mit dem stark durch den Strukturalismus geprägten Pierre Bourdieu (siehe die letzte
Vorlesung) zu einem der wichtigsten öffentlichen Intellektuellen Frankreichs in den letzten beiden
Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts geworden, wobei er allerdings zumeist scharf von Bourdieu
unterschiedene politische Positionen einnahm, was sich gerade auch in den 1990er Jahren zeigte.
Denn während Bourdieu in dieser Zeit als Kritiker der Globalisierung firmierte und aus dieser
Position heraus auch die großen Streiks des Jahres 1995 in Frankreich unterstützte, in denen
vornehmlich Staatsbedienstete auf der Verteidigung ihrer Privilegien beharrten, machte sich Touraine
diesbezüglich die Rede Michel Croziers (geb. 1922) von der »blockierten Gesellschaft« zu eigen.
Touraine näherte sich nämlich – z. T. in großer Übereinstimmung mit der Politik des
Sozialistenführers Lionel Jospin, der zwischen 1997 und 2001 auch französischer Premierminister
war – seit den späten 1980er Jahren bestimmten liberalen Positionen an, eine Annäherung, die von
Bourdieu (wie von Castoriadis) immer strikt abgelehnt worden war. Auch auf dem Feld der
Außenpolitik zeigten sich diese Differenzen, insofern Touraine im Unterschied zu Bourdieu klarer
Befürworter der NATO-Intervention im Kosovo im Jahre 1999 war.
Zurück zu Touraines historisch fundierten und wiederum anti-strukturalistisch angelegten
Zeitdiagnosen. Mit Critique de la Modernité legte er 1992 ein Buch vor, das sich an verschiedenen,
in den späten 1980er Jahren entstandenen geistesgeschichtlichen Werken zur 585Gestalt der Moderne
abarbeitete, z. B. an Sources of the Self (1989), dem großen Werk des kanadischen Philosophen und
Politikwissenschaftlers Charles Taylor, der in einem souveränen Überblick über das abendländische
Denken die Quellen moderner Identität und damit die Grundlagen unserer heutigen moralischen
Urteilsfähigkeit ausfindig zu machen versuchte. Touraines Buch verfolgt ein von den Ambitionen her
ähnlich groß angelegtes Projekt, aber seine Frage ist eine deutlich andere als diejenige Taylors:
Touraine sucht eher nach den Friktionen der Moderne, also nach den politisch strittigen Fragen und
den Konflikten in dieser Epoche und vor allem nach den diese Auseinandersetzungen begleitenden
Sozialphilosophien und Gesellschaftsentwürfen. In diesem Zusammenhang entwickelt er eine These,
in der seine subjekttheoretische Position deutlich wird.
Nach Touraines Deutung war die Moderne immer gekennzeichnet durch eine unaufhebbare
Spannung zwischen Rationalität und Kreativität, zwischen Rationalisierung und
»Subjektivierung«. Das von ihm so benannte »klassische« Zeitalter der Moderne, das mit den Werken
Rousseaus und Kants seinen Höhepunkt erreichte, stellte insofern eine neue Epoche dar, als mit ihr
die ehemals religiös begründete These von der Einheit von Mensch und Universum abgelöst wurde
(Critique de la Modernité, S. 46). Weil nun in dieser klassischen Moderne die traditionellen
religiösen Antworten nicht mehr möglich schienen, traten in philosophischen Kontexten Argumente,
die mit Begriffen wie »Vernunft« oder »Gesellschaft« arbeiteten, an ihre Stelle. Die Frage der Einheit
von Mensch und Universum wurde also laut Touraine entweder – wie bei Kant – mit Verweis auf eine
transsubjektive Vernunft oder – wie bei Rousseau – mit Verweis auf eine harmonisch-rationale
Gesellschaft beantwortet. Auch wenn von einigen Kritikern schon damals gefragt wurde, ob derartige
philosophische Konstruktionen der Subjektivität des Menschen und seinem kreativen
Handlungspotential tatsächlich gerecht werden, ob sich also Menschen so bruchlos in Gesellschaften
einbetten bzw. mit den Kategorien der Vernunft fassen lassen, schienen sie im 18. Jahrhundert doch
immerhin eine relativ große Plausibilität beanspruchen zu können.
Die diesbezügliche Plausibilität hielt aber nicht vor, zumal auch mit der im 19. Jahrhundert voll
durchschlagenden kapitalistischen Industrialisierung die ehemals festen gesellschaftlichen Strukturen
immer brüchiger wurden. Die vormals wahrgenommene Einheit586lichkeit zerfiel nun endgültig,
selbst wenn Theoretiker wie Marx oder Durkheim dies nicht wahrhaben wollten und mit je
unterschiedlichen Begriffen wie dem der »Totalität« und der »Revolution« oder dem der
»organischen Solidarität« diese Einheit noch einmal zu retten versuchten – krampfhaft und vergeblich
aus der Sicht Touraines! Vergeblich deshalb, weil sich die Dekomposition der Moderne nur allzu
deutlich zeigte. Denn mit der Nation und dem Nationalismus und den allein auf Profit bedachten
Großunternehmen und ihren Strategien entstanden zum einen kollektive Phänomene bzw. korporative
Akteure, welche sich den bisherigen Vorstellungen gesellschaftlicher Rationalität widersetzten. Zum
anderen deuteten sich auf individueller Ebene Wandlungen an, weil die vormals unterstellte gelassene
Rationalität des Bürgers einerseits dem beunruhigenden, tendenziell vernunftwidrigen Diskurs der
Sexualität und andererseits dem der Werbung zum Zwecke des Massenkonsums ausgesetzt wurde. Die
für die »klassische Moderne« so typische Vorstellung einer Einheit von individueller und
gesellschaftlicher Rationalität zerfiel also und somit auch diejenige einer Einheit von sozialem
Fortschritt und individueller Befreiung (a.a.O., S. 155). Parsons’ Soziologie der 1950er und 1960er
Jahre wird von Touraine als ein letzter, aber historisch längst überholter Versuch gedeutet, eine
harmonische, in sich stimmige Moderne zu konzipieren und der Disziplin als Idealbild vorzustellen
(vgl. auch Touraines Aufsatz »La théorie sociologique entre l’acteur et les structures«).
Touraines Rekonstruktion der geistesgeschichtlichen Grundlagen der Moderne will verdeutlichen,
daß das Subjekt seit Anbeginn der Moderne allen »Integrationsversuchen« erfolgreich widerstanden
hat bzw. daß es nie gelungen ist, dieses Subjekt einer zeitlosen Vernunft oder einer harmonischen
Gesellschaft einzuordnen, und daß demzufolge auch in Zukunft ähnliche Versuche scheitern werden.
Aber was versteht Touraine nun unter diesem so widerspenstigen »Subjekt«, was versteht er unter
»Subjektivierung«? Wie er unter anderem in nachfolgenden Büchern (Qu’est-ce que la démocratie?
von 1994 und Pourrons-nous vivre ensemble? aus dem Jahr 1997) verdeutlicht, läßt sich das
»Subjekt« nur negativ definieren. Denn das Individuum wird ihm zufolge nicht dadurch zum Subjekt,
daß es im Rahmen der Modernisierung einfach aus traditionalen Bindungen entlassen wird. Im
Unterschied zu Theoretikern der Individualisierung (vgl. die Achtzehnte Vorlesung) setzt Touraine den
Subjekt587begriff nicht mit demjenigen eines vereinzelten und überwiegend auf sich selbst bezogenen
Individuums gleich. Vielmehr ist für ihn – und wiederum knüpft er hier an bestimmte Sartresche
Motive an – Subjektwerdung in erster Linie Kampf, und zwar Kampf um autonome
Handlungsmöglichkeiten. Da diese Kämpfe in der Geschichte der Moderne selten diejenigen
einzelner Individuen waren, sondern Kämpfe Gleichgesinnter im Rahmen verschiedener kultureller
Bewegungen, setzt Touraine den Subjektbegriff manchmal sogar mit demjenigen der sozialen
Bewegung gleich (Critique de la modernité, S. 273). Das heißt natürlich nicht, daß dieses Subjekt
bruchlos in diesen Bewegungen und kollektiven Identitäten aufginge. Ganz im Gegenteil:
Subjektivierung vollzieht sich Touraine zufolge als Widerstand und Kampf gegen
Entsubjektivierungstendenzen in totalitären Herrschaftsgebilden, in sozialen Ordnungen, in denen die
reine Zweckrationalität vorzuherrschen scheint, und in erstickenden Gemeinschaften. Aber ebenso
wie die Absetzung von Theoretikern der Individualisierung unübersehbar ist, kommt hier auch die
Distanzierung vom Subjektverständnis des Symbolischen Interaktionismus und den im Umkreis von
Habermas verfochtenen Kommunikations- und Sozialisationstheorien zum Ausdruck. Wiederum mit
einer stark an Sartre erinnernden Note beharrt Touraine darauf, daß das Subjekt eine nicht-soziale
Dimension beinhaltet, also nicht als ein aus sozialen Beziehungen Herzuleitendes behandelt werden
darf, was unter anderem auch seine Fähigkeit zum Widerstand begründet:
Viele weisen der Kommunikation eine ursprüngliche Bedeutung zu. Im Unterschied dazu glaube ich, daß die Beziehung zu sich selbst die
Beziehung zu anderen bedingt; es gibt ein nicht-soziales Prinzip, welches die sozialen Beziehungen bestimmt. Nach einer langen Periode,
während der man das Soziale immer nur durch das Soziale zu erklären versucht hat, erkennen wir nun wieder an, daß das Soziale auf
dem Nicht-Sozialen aufsitzt und sich nur durch den Ort definiert, der ihm zugestanden oder verweigert wird von jenem nicht-sozialen
Prinzip, welches das Subjekt ist. (Touraine, Pourrons-nous vivre ensemble?, S. 89; unsere Übersetzung)

Gerade weil Touraine von der radikalen Verschiedenheit von Individuen ausgeht, weigert er sich, am
Habermasschen Bild einer idealen Kommunikationsgemeinschaft festzuhalten, einem Bild, das ihm
viel zu harmonistisch erscheint. Selbstverständlich ist das Subjekt 588mit Vernunft ausgestattet – das
bestreitet auch Touraine nicht; aber es ist auch »Freiheit, Befreiung und Verweigerung« (a.a.O.,
S. 80). Alle Versuche, diese Aspekte menschlichen Handelns und den Antagonismus menschlicher
Kommunikation durch ein harmonistisches Sozialisations- und Kommunikationsmodell auszublenden,
verfehlen – so Touraine – die Eigenheiten des Subjekts. Nicht zuletzt deshalb weist er der Erfahrung
der Sexualität (und nicht nur der kindlichen Sexualität) eine entscheidende Rolle bei der
Identitätsbildung zu, eine Erfahrung, die sich ja der vollkommenen Versprachlichung und der
bruchlosen Erfassung mit den Mitteln der Vernunft widersetzt; und nicht zufällig weist Touraine auch
auf transzendente Erfahrungen hin, weil diese ein Subjekt aufscheinen lassen, das in seinem Kern eine
nicht-soziale, nicht sozialisierte und daher gegenüber gesellschaftlichen Zumutungen widerständige
Haltung zeigt bzw. zeigen kann (a.a.O., S. 113 f.).
Touraines Rekonstruktion der Moderne und seine diesbezügliche These, wonach Modernisierung
als eine stetige Spannung zwischen Rationalisierung und Subjektivierung zu begreifen sei, führen ihn
zu Einsichten, von denen mindestens vier aufgrund ihrer Differenzen zu anderen theoretischen
Ansätzen erwähnenswert sind:
a) In ähnlicher Weise wie Giddens und Eisenstadt, aber im Unterschied etwa zu Habermas versucht
Touraine nicht, die Moderne normativ gegenüber anderen Epochen auszuzeichnen, indem er etwa der
westlichen Moderne ein umfassenderes Rationalitätspotential zuschriebe als anderen Epochen oder
Zivilisationen. Für ihn ist die oben beschriebene Dekomposition der »klassischen Moderne« immer
noch ein Prozeß in dieser Moderne, weswegen Phänomene wie der Nationalismus oder der von ihm
ebenso wie von Castoriadis immer wieder in den Mittelpunkt gerückte Totalitarismus ebenso zu ihren
Bestandteilen zu zählen sind wie die Demokratie. Touraine wehrt sich also dagegen, nationalistische
Ausbrüche, Kriege und die Entstehung von Diktaturen als nicht weiter beachtenswerte Betriebsunfälle
eines zu gesamtgesellschaftlicher Rationalität hinstrebenden Geschichtsprozesses zu sehen, welcher
die letzten Reste von Barbarei noch abstreifen wird.
Aus einem ähnlichen Grund versucht er auch nicht, die Moderne institutionell zu definieren, sie
also mit Hilfe des Begriffs der Differenzierung zum Beispiel auf Marktwirtschaft, autonomes
Rechtssystem, spezialisierte staatliche Administrationen und demokratische 589Organe festzulegen.
Damit bleibt die Analyse offen für unterschiedliche Pfade in die Moderne, was notwendig ist, wenn
man nicht den europäisch-amerikanischen Entwicklungsweg als den einzig möglichen auszeichnen
will. Das für Europa und Nordamerika so glückliche derzeitige Zusammenfallen von Nationalstaat,
Marktwirtschaft und Demokratie wird vermutlich in absehbarer Zukunft in anderen Teilen der Welt
ohne Entsprechung bleiben, obwohl über die Zugehörigkeit dieser Regionen zur Moderne kein
Zweifel bestehen dürfte. Dieser Einsicht will sich Touraine nicht verschließen!
b) Touraine hat seine jahrzehntelang gehegte Vorstellung einer Gesellschaft, in der eine zentrale
Konfliktlinie existiert, welche die Klassenkonflikte der alten industriellen Gesellschaft ablöst und an
der eine große neue soziale Bewegung ansetzt, um ein neues Gesellschaftsmodell zu etablieren,
mittlerweile aufgegeben. Die Fragmentierung moderner Gesellschaften ist mittlerweile offensichtlich
zu groß, als daß er noch den einen zentralen Konflikt erwarten würde. Demzufolge sind
Ambivalenzen anstatt klarer Konfliktlinien seiner Auffassung nach das Signum der Moderne, so daß
man nur noch auf die vielfältigen Kämpfe der Subjekte an verschiedenen Fronten, gegen verschiedene
Gegner, hinweisen kann. Damit nähert sich Touraine einer Position, die so ähnlich auch bei Zygmunt
Bauman (s. unsere Achtzehnte Vorlesung) zu finden ist.
c) Gerade aufgrund der Betonung jenes Kampfes der Subjekte gegen alle Formen der
Entsubjektivierung und der damit einhergehenden Hervorhebung der Bedeutung transzendenter
Erfahrungen hat Touraine etwa im Unterschied zu Theoretikern wie Habermas oder Castoriadis ein
deutlich ambivalenteres Verhältnis zu Säkularisierungsprozessen. Für Touraine ist Säkularisierung
jedenfalls kein fundamentales Kennzeichen oder Merkmal der Moderne (Critique de la modernité,
S. 356). Selbst wenn er religiösen Bewegungen eine deutliche Skepsis entgegenbringt und in ihnen
immer auch die Gefahr einer Überwältigung des Subjekts verkörpert sieht, so betont er doch
gleichzeitig, daß der Glaube an Gott und religiöse Vergemeinschaftungsformen nicht per se
modernisierungswidrige Phänomene seien – eine Position, die in vielen Teilen der Welt ja auch mit
empirischer Bestätigung rechnen kann und die eingesteht, daß die Säkularisierungstheorie in ihrer
globalen Formulierung grandios gescheitert ist, nur auf Westeuropa (einigermaßen) zutrifft und schon
im nordamerikanischen Raum versagt.
590d) Bemerkenswert sind schließlich auch Touraines demokratietheoretische Überlegungen, weil
er hier an mehreren »Fronten« der Sozialtheorie kämpft. Denn Touraine hat – und dies wäre die erste
»Front« – als Theoretiker der »Neuen sozialen Bewegungen«, in denen ja immer auch Wünsche nach
direkter Demokratie artikuliert wurden, in seinem Spätwerk eine bemerkenswert große Skepsis
gegenüber solchen Forderungen entwickelt und vor allem eine ablehnende Haltung gegenüber dem
revolutionären Projekt – ein Punkt, an dem die Differenz zu Castoriadis unübersehbar ist. Diese
Wendung gegen die direkte Demokratie ist dabei nur verständlich vor dem Hintergrund seiner
subjekttheoretischen Überlegungen. Denn seiner Überzeugung nach ist die direkte Demokratie immer
in Gefahr, die Illusion einer bruchlosen Einbindung des Individuums in die Gemeinschaft bzw.
Gesellschaft zu erzeugen, weil alle politischen Entscheidungen direkt und unmittelbar aus dem Volk
heraus, das heißt ohne »schädliche« Zwischenschaltung von Repräsentanten erfolgen: Die Idee eines
einheitlichen Volkskörpers liegt dann nahe. Aber genau hier lauert Touraine zufolge die Gefahr einer
Unterwerfung des Subjekts unter »gesellschaftliche Notwendigkeiten«, weshalb derartige
Vorstellungen tendenziell totalitär seien. Demokratie – so Touraine – definiere sich zwar über das
Gleichheits- und Mehrheitsprinzip, aber eben auch über eine Garantie von unmittelbar geltenden
Bürgerrechten und eine klare Begrenzung der Staatsmacht (Qu’est-ce que la démocratie?, S. 115).
In dieser Hinsicht zeigt sich deshalb Touraine als ein eher konventioneller Liberaler, weil er für die
repräsentative Demokratie plädiert und sich für eine deutliche Trennung zwischen Zivilgesellschaft
und Politik ausspricht (a.a.O., S. 65), also für eine Autonomie der Parteien und des Staates gegenüber
unmittelbarem politischen Druck und für einen Schutz der Individuen vor vollständiger Politisierung
ihres Lebens. Seiner Auffassung nach sollten also die strukturellen Differenzierungen der westlich-
liberalen Moderne durchaus erhalten bleiben.
Aus diesem Grund erteilt er auch dem revolutionären Projekt, so wie es Castoriadis vertreten hat,
eine Absage. Touraine bezieht hier Position zugunsten von Claude Lefort (geb. 1924), dem »alten«
Mitstreiter von Castoriadis in der Zeitschrift Socialisme ou Barbarie, der zu einem der innovativsten
politischen Philosophen Frankreichs wurde und sich schon früh in politischer Hinsicht von
Castoriadis abgesetzt und gegen die rationalistische Idee der Revolution ausge591sprochen hatte,
weil er eine wirkliche Selbsttransparenz des Sozialen für unmöglich und die Gefahr des Umschlagens
der Revolution in den Totalitarismus deshalb für allzu wahrscheinlich hielt (vgl. Lefort, »Interpreting
Revolution within the French Revolution«). Nach Lefort basiert die Idee der Revolution auf der
»fantastic assertion that the postulates of thought, discourse and will coincide with self-being and
with the being of society, history and humanity« (a.a.O., S. 106). Touraine schließt sich der
Ablehnung einer solchen phantastischen Vorstellung schon deshalb an, weil er – wie gesehen – die
Spannung zwischen Subjekt und Gesellschaft schlicht für unvermeidlich und auch durch das
revolutionäre Projekt nicht zu beseitigen hält.
So klar hier Touraine eine liberale politische Position einzunehmen scheint, ist er gleichzeitig doch
– dies wäre die zweite »Front« – alles andere als ein naiver Liberaler, insofern er immer wieder für
einen aktiven Staat plädiert, der die Handlungsfähigkeit von Gruppen zu stärken habe, damit diese in
sozialen Auseinandersetzungen bestehen können. Seine Subjektvorstellung ist auch keine
privatistische; sie geht vielmehr davon aus, daß sich die Identitäten von Individuen und ihre
Interessen erst in sozialen und politischen Kämpfen herauskristallisieren.
Aber Touraine ficht mit seinen demokratietheoretischen Vorstellungen noch an einer dritten
»Front«, was sich an der Differenz zu Jürgen Habermas’ diesbezüglichen Positionen zeigt. Zwar ist
Touraine wie Habermas gleichermaßen skeptisch gegenüber der kommunitaristischen Rede von der
Notwendigkeit relativ stabiler gemeinschaftlicher Bindungen für das Funktionieren von Demokratie
(vgl. zum Kommunitarismus die Achtzehnte Vorlesung), schon weil dies die radikale Differenz der
Individuen herunterspiele und die Gefahr der Unterwerfung des Subjekts mit sich bringe. Aber
Touraine kritisiert gleichzeitig die für Habermas so zentrale Vorstellung, daß Demokratie nur als ein
universalistisches Projekt gedacht werden könne. Im Unterschied dazu versteht Touraine Demokratie
als eine Lebensform, die untrennbar durch universalistische und partikularistische Züge
charakterisiert ist (a.a.O., S. 28). Denn wenn sich Subjektivierung – Touraine zufolge – auch und
gerade im Kampf von Kollektiven vollzieht, dann ist partikularistischen Bewegungen wesentlich
weniger Mißtrauen entgegenzubringen, als Habermas dies lehrt. Deutlich wird dies in der Beurteilung
des Nationalismus. 592Während Habermas, hoffend, fordernd und selbstgewiß zugleich, vom
unausweichlichen Übergang zu postnationalen Vergesellschaftungsformen spricht (Habermas, Die
postnationale Konstellation und Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie,
S. 8), fällt Touraine eine Verurteilung von Nationalismen und Ethnisierungsprozessen schwerer
(Touraine, Pourrons-nous vivre ensemble?, 243 ff.). Die Ambivalenzen des Nationalismus sind
Touraine wohl bewußt, und seine Verurteilung der Schattenseiten des Nationalismus ist
unmißverständlich, zumal nationalistische Bewegungen oft genug das Subjekt unterjocht haben.
Jedoch weiß Touraine auch, daß Ethnisierungsprozesse politische Lernprozesse sein können und daß
sich mit Ethnisierungsprozessen auch Chancen für politische Partizipation und damit für
Subjektwerdung bieten. Ethnisierungsprozesse sind deshalb für ihn nicht automatisch etwa mit dem
Umschlag in Rassismus verbunden, weshalb für Touraine Demokratie weder empirisch noch normativ
als ein ausschließlich universalistisches Projekt definiert werden muß.
Touraines theoretische Umorientierung in den 1990er Jahren ist sicherlich beeindruckend; seine
subjekttheoretischen Thesen ebenso wie seine darauf aufbauenden zeitdiagnostischen Analysen sind
ein wichtiges Korrektiv gegenüber anderen sozialtheoretischen Ansätzen. Freilich zieht sich eine
theoretische Schwäche durch das gesamte Tourainesche Werk. Touraine hat in seiner Forschung zu
sozialen Bewegungen immer wesentlich mehr Interesse für flüssige soziale Prozesse gezeigt als für
feste Institutionen, die es ja zweifellos auch gibt. Und dieses relative Desinteresse an Institutionen
überwindet er auch in den für ihn so produktiven und innovativen 1990er Jahren nicht. Touraine
spricht zwar von Subjektivierung und davon, daß sich die Subjekte an staatlichen Apparaten und
Märkten abarbeiten, ihnen Widerstand entgegenbringen usw. Aber diese »Apparate« und Märkte
untersucht er nicht wirklich näher, sondern charakterisiert sie häufig bloß mit der sehr unpräzisen
Redeweise vom »Anti-Subjekt«. Damit aber begeht er nicht nur die empirische Nachlässigkeit,
diejenigen Elemente aus der Analyse auszuklammern, welche für die von ihm immer wieder in den
Mittelpunkt gerückten Subjektivierungsprozesse mitentscheidend sind. Er begeht zusätzlich den
theoretischen Fehler, jene »Apparate« und Institutionen zu hypostasieren, und zwar in einer ähnlichen
Weise, wie 593dies Jürgen Habermas mit seinem Systembegriff getan hat. Wenn man aber, wie dies
Touraine immer angestrebt hat, die These von der Flüssigkeit sozialer Prozesse ernst nimmt, dann
darf man nicht nur für soziale Bewegungen Interesse aufbringen, sondern muß auch ein solches für die
Wandlungsprozesse in den scheinbar so stabilen Institutionen entwickeln. Hier dürfte die zentrale
Schwäche seiner Analysen liegen.

Zum Schluß dieser Vorlesung möchten wir noch in aller Kürze auf einen französischen Denker
eingehen, der lange Zeit gerade im Geistesleben Frankreichs eher ein Schattendasein geführt hat, der
aber – obwohl Philosoph – aufgrund seiner grundlagentheoretischen Arbeiten auch für die
soziologische Theorie bzw. Sozialtheorie eine zunehmend wichtige Rolle spielen dürfte: Die Rede ist
von Paul Ricœur (1913-2005). Ricœur, der – ähnlich wie Maurice Merleau-Ponty – seine frühesten
philosophischen Wurzeln im sogenannten »christlichen Existentialismus« der 1930er Jahre in
Frankreich hatte und sich dann in deutscher Kriegsgefangenschaft sehr stark vor allem mit der
Husserlschen Philosophie beschäftigte, galt spätestens Ende der 1950er Jahre als aufgehender Stern
am französischen Philosophenhimmel. Allerdings erfuhr er durch den aufstrebenden Strukturalismus
Mitte der 1960er Jahre eine schnelle Marginalisierung. Ricœur hatte sich zwar mit strukturalistischen
Themen beschäftigt, vor allem mit Symbolsystemen und der Sprache; er legte auch einige der
bedeutendsten Kritiken des Strukturalismus vor, aber sein theoretischer Bezugsrahmen wurde nicht
der Strukturalismus, sondern eine stark phänomenologisch inspirierte Hermeneutik. Eine solche
Theorieorientierung aber galt in den 1960er Jahren als hoffnungslos veraltet. Diese intellektuelle
Marginalisierung führte zusammen mit den hochschulpolitischen Unruhen nach 1968, die in einer
gewaltsamen Attacke linksradikaler Studierender auf ihn gipfelten, dazu, daß Ricœur ins Ausland
ging und 1970 einen Ruf an die Divinity School der University of Chicago annahm als Nachfolger des
1965 verstorbenen großen protestantischen Theologen Paul Tillich (vgl. Joas, »Gott in Frankreich«;
Dosse, Paul Ricœur. Les sens d’une vie).
Breite und Umfang des Ricœurschen Werkes sprengen den Rahmen dieser auf Sozialtheorie
gerichteten Vorlesungen. Seine Schriften reichen von einer frühen Phänomenologie des Wollens über
eine 594Symbolik des Bösen und eine Hermeneutik des Textes bis hin zur Beschäftigung mit Freud
(vgl. seine 1965 publizierte, bekannte Studie De l’interprétation, essai sur Freud; dt.: Die
Interpretation. Ein Versuch über Freud) und einer dreibändigen Studie Temps et récit von 1983 (dt.:
Zeit und Erzählung). Wichtig in unserem Zusammenhang ist vor allem sein 1990 vorgelegtes
Hauptwerk Soi-même comme un autre (dt.: Das Selbst als ein Anderer), in dem Ricœur mittels einer
breiten Auseinandersetzung sowohl mit der Phänomenologie wie mit der englischsprachigen
analytischen Philosophie den Begriff der Identität zu klären versucht und schließlich darauf aufbauend
zu weitreichenden ethischen Überlegungen vorstößt.
Mit seiner Hermeneutik des Selbst will er also einen Begriff klären, der an sich höchst schwierig
oder verschwommen erscheint. Was meinen wir, wenn wir als Alltagsmenschen von »Selbst«
sprechen, was meinen Philosophen, Psychologen und Soziologen eigentlich genau, wenn sie von
»Identität« reden? Heißt das, daß die Menschen immer die gleichen bleiben, daß sie sich nicht
verändern? Wohl kaum, da wir doch stets lernen, uns entwickeln usw. Aber was ist dann damit
gemeint? Nicht wenige philosophische Ansätze, vor allem aber die analytische Philosophie, scheinen,
obwohl sie von »Identität« oder vom »Selbst« sprechen, schlicht unberücksichtigt zu lassen, daß »die
Person, über die man spricht, und daß der Handelnde, vom dem die Handlung abhängt, eine
Geschichte haben, daß sie ihre eigene Geschichte sind« (Ricœur, Das Selbst als ein Anderer,
S. 141). Ricœur ist der Auffassung, daß man das dahintersteckende Problem nur dann lösen kann,
wenn man sorgfältige terminologische Unterscheidungen vornimmt, wenn man gebräuchliche oder
gängige Begriffe wie »selfhood«, »ipséité«, »Identität« quasi nochmals zerlegt, um zu genaueren
Bestimmungen vorzudringen. Er schlägt schließlich vor, zwischen »Selbigkeit« bzw. »Idem-Identität«
(»mêmeté«) und »Selbstheit« bzw. »Ipse-Identität« (»ipséité«) zu unterscheiden: Mit den ersten
Begriffen ist die bloße Identifizierbarkeit einer Person über die Zeit hinweg gemeint, während
»Selbstheit« oder eben »Ipse-Identität« auf die selbstgestiftete Kontinuität der Person trotz ihrer
Veränderung verweist. Anders formuliert heißt dies: Wenn ich von einer Person sage, daß sie
dieselbige sei, ist damit nicht behauptet, daß damit ein unwandelbarer Kern der Persönlichkeit
impliziert ist (a.a.O., S. 11). Ricœur ist vielmehr der Auffassung, daß sich »Selbstheit« narrativ
herstellt, daß wir als Personen 595uns oder anderen erzählen, wer wir sind und wie wir zu dem
wurden, was wir sind.
Die als Figur der Erzählung begriffene Person ist keine von ihren »Erfahrungen« verschiedene Entität. Ganz im Gegenteil: Sie hat Anteil
an dem der erzählten Geschichte eigentümlichen Regelsystem dynamischer Einheit. Die Erzählung konstruiert die Identität der Figur, die
man ihre narrative Identität nennen darf, indem sie die Identität der erzählten Geschichte konstruiert. Es ist die Identität der Geschichte,
die die Identität der Figur bewirkt. (Ricœur, a.a.O., S. 182)

Da die Ereignisse im Leben eines Menschen nie enden, ist die Erzählung aber auch nie
abgeschlossen. Ricœur spricht von der »narrative(n) Unabgeschlossenheit« des Lebens, aber auch
von der »Verstrickung der Lebensgeschichten untereinander« und schließlich auch von der »Dialektik
von Wiedererinnern und Antizipation« (a.a.O., S. 198). Mit diesem in großer Ernsthaftigkeit
durchgeführten Argumentationsgang ist Ricœur nicht nur ein wichtiger Kritiker aller postmodernen
Positionen, welche quasi die freie Wählbarkeit von Identitäten und die völlige Fragmentierung des
(postmodernen) Selbst behaupten – Positionen, die aus Ricœurs Sicht nur aufgrund der Mißachtung
der von ihm vorgeschlagenen Begriffsdifferenzierungen eingenommen werden konnten. Er erinnert uns
auch daran, daß die »Erzählung« zur Bildung der Ipse-Identität und damit zum Leben gehört und eine
ursprünglich menschliche Erfahrung ist, die auch für die Ethik unmittelbare Folgerungen haben muß,
denn: »Wie könnte schließlich ein Handlungssubjekt seinem eigenen, als Ganzes genommenem Leben
eine ethische Qualifikation verleihen, wenn dieses Leben nicht zusammengefaßt wäre, und wie könnte
es zusammengefaßt sein, wenn nicht genau in Form einer Erzählung?« (a.a.O., S. 194)
Ricœur bietet in der achten und neunten Abhandlung seines Buches eine imponierend dichte und
umfassende Auseinandersetzung mit gegenwärtigen ethischen Entwürfen und dringt dabei zu einer
eigenen Stellungnahme vor, die in bewundernswerter Weise die Balance hält zwischen Moralen einer
universalistischen Gerechtigkeit à la Kant, Rawls und Habermas (vgl. auch die Siebzehnte und
Achtzehnte Vorlesung) und einer Ethik der konkreten Sittlichkeit in Anlehnung an Aristoteles und
Hegel. Ricœur weiß sehr wohl von den Schwächen universalistischer Gerechtigkeitskonzeptionen,
596insofern sie die konkrete Lebenspraxis der Menschen allzu leicht außer acht lassen. Aber er
schwenkt keinesfalls umstandslos in das Lager der »Sittlichkeitstheoretiker« ein, denn – wie er
wunderschön an einer Stelle formuliert:
Ohne Durchgang durch die Konflikte, die eine von Moralitätsprinzipien geleitete Praxis erschüttern, würden wir den Verführungen eines
moralischen Situationismus verfallen, der uns wehrlos der Willkür ausliefern würde. (Ricœur, a.a.O., S. 292)

Wir brauchen also – so Ricœur – die Kantschen Universalisierungsregeln durchaus, um zu praktisch


stimmigen Schlüssen zu kommen; wir können auf die Ideen von Rawls und Habermas nicht verzichten,
auch wenn sie für sich allein unzulänglich sind. Aber die Wahl ist nicht: Universalistische Moral
versus Sittlichkeit bzw. abstrakte Argumentation versus Konvention – dies sind für Ricœur falsche
Dichotomien! Er spricht lieber von einer »Dialektik zwischen Argumentation und Überzeugung«
(a.a.O., S. 347), eine terminologische Wahl, die vor allem an den Stellen überaus einsichtig wird, an
denen er sich mit der Habermasschen Diskursethik auseinandersetzt. Denn Habermas – so Ricœur –
unterstellt in seiner Diskursethik einen bloßen Austausch von Argumenten mit dem Ziel, das »beste
Argument zu extrahieren« und die anderen zu eliminieren, übersieht wie alle universalistischen
Moraltheoretiker aber dabei, daß in der Diskurssituation über Lebensangelegenheiten diskutiert
wird: Argumente sind nicht bloße Widersacher von Konventionen und Traditionen, sondern kritische
Instanzen innerhalb von Überzeugungen und nur narrativ zu artikulierenden Lebensangelegenheiten
(a.a.O., S. 348). Und diese letzteren sind auch nicht auszuschalten:
Was die Überzeugung zu einem unausschaltbaren Partner macht, ist die Tatsache, daß sie Stellungnahmen zum Ausdruck bringt, aus
denen Bedeutungen, Interpretationen, Einschätzungen hinsichtlich der vielfältigen Güter entspringen, die die Stufenleiter der Praxis
abstecken: angefangen von den Praktiken und ihren immanenten Gütern über die Lebenspläne, die Lebensgeschichten bis zu der
Vorstellung, die die Menschen einzeln oder gemeinsam von einem erfüllten Leben haben. (Ricœur, a.a.O., S. 349)

Die Habermassche Diskurstheorie ist also – gerade weil sie den engen Zusammenhang zwischen
Argumenten und Lebensangelegenheiten verkennt – ethisch zu abstrakt. Interessant in unserem
Zusammenhang ist hier nicht nur, daß sich bei Ricœur eine ähnliche 597Absetzung von der
Habermasschen Diskursethik und damit auch von den damit implizierten demokratietheoretischen
Überlegungen ergibt, wie wir sie schon bei Touraine kennengelernt haben – eine
Absetzungsbewegung, die allerdings mit völlig anderen theoretischen Mitteln als bei Touraine
vollzogen wurde. Noch eindrucksvoller ist, wie konsequent und – weil durch die intensive
Auseinandersetzung mit der analytischen Philosophie geschult – präzise Ricœur auf eine Synthese von
Aristotelismus und Kantianismus in der Ethik zusteuert und dadurch auf elegante Weise Probleme
meistert, die in der sehr stark von amerikanischem Boden ausgehenden Debatte über Liberalismus
und Kommunitarismus (vgl. die Achtzehnte Vorlesung) teilweise als unüberwindbar angesehen
wurden.
Auch wenn Ricœur sich selbst nur auf methodologische Fragen der Geschichtswissenschaft näher
eingelassen hat und denkbar weit von herkömmlichen soziologischen Fragestellungen entfernt scheint:
Seine Thesen über das Interpretieren, über den Zusammenhang von Identitätsbildung und Erzählung
sowie zur Ethik sind im Hinblick auf allgemeine sozialtheoretische Debatten überaus fruchtbar – und
gerade vor dem Hintergrund des unübersehbaren Bedeutungsverlusts strukuralistischen und
poststrukturalistischen Denkens in Frankreich (aber nicht nur dort) ist es kein Wunder, daß diese
»Anschlußfähigkeit« Ricœurscher Überlegungen zunehmend auch innerhalb der Sozialwissenschaften
entdeckt wird.
598Siebzehnte Vorlesung
Feministische Sozialtheorien

Wenn wir nun über feministische Sozialtheorien sprechen, so deutet schon der Plural im Titel unseres
Vorhabens an, daß wir dabei unmittelbar mit einem zentralen Darstellungsproblem konfrontiert sind –
der Tatsache nämlich, daß es die feministische Sozialtheorie gar nicht gibt, sondern allenfalls eine
Vielfalt feministischer Sozialtheorien. Die Theorienlandschaft innerhalb des Feminismus ist deshalb
so enorm vielgestaltig, weil die feministischen Theoretikerinnen, deren konkrete Ziele und Projekte
ohnehin selbstverständlich nicht immer übereinstimmen, für ihre Argumente auf höchst
unterschiedliche Theoriebausteine zurückgreifen. Ganz überwiegend handelt es sich dabei um
Theorien, die Sie in dieser Vorlesungsreihe schon kennengelernt haben. Zwar gibt es nur wenige
Feministinnen, die direkt an Parsonssche Ideen anschließen, aber es gibt beispielsweise eine ganze
Reihe, die sich konflikttheoretischer Argumente bedienen. Und die derzeit stärksten und
einflußreichsten Strömungen in der feministischen Debatte lassen sich auf ethnomethodologische,
poststrukturalistische und habermasianische Positionen zurückbeziehen. Zusätzlich ist ein starker
Einfluß der Psychoanalyse unverkennbar.
Es stellt sich also die Frage, ob in diesem so heterogenen Theorienfeld des Feminismus überhaupt
ein gemeinsamer Nenner zu finden ist, zumal feministische Debatten nicht allein innerhalb der
Soziologie geführt werden, sondern auch in der Psychologie, der Ethnologie, der
Geschichtswissenschaft, der Philosophie und der politischen Theorie; dabei spielen Fächergrenzen
keine allzu große Rolle (vgl. etwa Will Kymlicka, Politische Philosophie heute. Eine Einführung,
S. 200 ff.). Die Frage ist sicherlich zentral, da sie auf die Gefahr einer Zerfaserung der feministischen
Diskussion verweist. Tatsächlich scheint es aber Übereinstimmung darüber zu geben, daß die
Gemeinsamkeit feministischer Theorien in einem geteilten normativen bzw. politischen Ziel besteht,
das sich auf den historischen Ursprung feministischer Theoriebildung zurückführen läßt, nämlich auf
deren Herkunft aus der Frauenbewegung. Ziel aller feministischen Ansätze – so wird zumeist
argumentiert – sei letztlich eine Kritik von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, welche Frauen
dis599kriminieren oder unterdrücken, und damit die Befreiung der Frau aus diesen Verhältnissen. Ein
Zitat der Philosophin Alison M. Jaggar (geb. 1942) macht dies deutlich: »Innerhalb des
gegenwärtigen sozialen Kontextes, in dem Frauen weiterhin systematisch eine untergeordnete Stellung
einnehmen, muß ein feministischer Ansatz der Ethik eine Handlungsanweisung anbieten, die dazu
tendiert, diese Unterordnung umzustürzen, statt sie zu verstärken.« (Jaggar, »Feministische Ethik«,
S. 196; vgl. auch Pauer-Studer, »Moraltheorie und Geschlechterdifferenz«, S. 35 ff.). Für die
Sozialtheorie oder die politische Theorie läßt sich gewiß dasselbe behaupten.
Dieser normativ-politische Impetus der feministischen Theorie(n) bietet somit eine Handhabe, um
diese Ansätze von der vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten so modisch gewordenen Disziplin
der Geschlechterforschung (den »gender studies«) abzugrenzen (vgl. Regina Becker-Schmidt/Gudrun-
Axeli Knapp, Feministische Theorien, S. 7): Feministische Ansätze ebenso wie die
Geschlechterforschung teilen das gemeinsame wissenschaftliche Interesse an der (historischen und
gegenwärtigen) Ausgestaltung der sozialen und politischen Beziehungen zwischen den Geschlechtern.
Geschlechterforschung kann jedoch »neutral« betrieben werden: Eine Untersuchung der Formen der
Inszenierung von Männlichkeit beispielsweise muß nicht notwendig in kritischer Absicht erfolgen.
Anders stellt sich die Aufgabe hingegen für Feministinnen dar: Für sie ist und bleibt die Kritik am
bestehenden gesellschaftlichen Arrangement der Geschlechter zentral.
Allerdings – und dies ist sogleich zu betonen – kann die gemeinsame normativ-politische
Stoßrichtung feministischer Theorien nicht darüber hinwegtäuschen, daß dieses Ziel mit höchst
unterschiedlichen begrifflichen und theoretischen Instrumenten verfolgt wird, was das gemeinsame
Band wieder zu zerschneiden droht. Darin besteht die Schwierigkeit einer jeden Darstellung
feministischer Sozialtheorie(n), eine Schwierigkeit, die sich im Rahmen der Thematik unserer
Vorlesungsreihe noch verstärkt. Wir hatten ja behauptet, daß sozialtheoretische Ansätze immer durch
die zentrale Beschäftigung mit Problemen des Handelns, der sozialen Ordnung, des sozialen Wandels
und zumeist auch durch den Willen zur Zeitdiagnose charakterisiert seien. Nun genügen aber natürlich
nicht alle feministischen Analysen unseren Kriterien der »Theorie«, ebensowenig wie von uns
beispielsweise soziologische Arbeiten zur Klassenstruktur, zur Staats600theorie oder zur ethnischen
Verfaßtheit moderner Gesellschaft zum Kernbereich der modernen Sozialtheorie gezählt worden sind.
Analysen zur Benachteiligung und Diskriminierung von Frauen in (modernen) Gesellschaften sind
also unserer Auffassung nach nicht per se Beiträge zur feministischen Sozialtheorie. Diese
Auffassung zwingt uns dazu, bestimmte Bereiche der feministischen Diskussion genauso zu
vernachlässigen, wie wir Forschungsbereiche und -themen der Mainstream-Soziologie zur Seite
geschoben haben, um uns auf diejenigen Beiträge zu konzentrieren, die mit den in dieser
Vorlesungsreihe präsentierten anderen theoretischen Arbeiten in sinnvoller Weise in Beziehung zu
setzen sind. Es versteht sich von selbst, daß wir mit dieser Auswahlentscheidung keine erschöpfende
Analyse feministischer Arbeiten vornehmen können.
Wir gliedern unsere Vorlesung in drei Teile: Wir werden zunächst in einem kurzen historischen
Abriß darlegen, warum unserer Auffassung nach eine genuine feministische Sozialtheorie ein relativ
junges Produkt ist (1). Danach werden wir uns fragen, welche Debatten über das »Wesen« von
Weiblichkeit die 1970er und 1980er Jahre bestimmt haben (2) und warum – dies wird der letzte und
mit Abstand längste Teil der Vorlesung sein – diese Ansätze dann einer intensiven Diskussion des
Verhältnisses von »sex« und »gender«, also des Verhältnisses vom »biologischen« zum »sozialen
Geschlecht«, Platz gemacht haben und welche theoretischen Positionen hierbei eine Rolle spielen (3).

1. Wie schon angedeutet, wurzeln die feministischen Sozialtheorien in der Frauenbewegung. Die
organisierte Frauenbewegung ist nun schon über 200 Jahre alt, und selbstverständlich wurden im
Rahmen des Kampfes der Frauen um Gleichberechtigung immer auch theoretische Konzepte
formuliert, die in diesem Kampf eine unterstützende Rolle spielen sollten (für die deutsche
Frauenbewegung vgl. etwa Ute Gerhard, Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung;
zur amerikanischen Frauenbewegung vgl. Janet Zollinger Giele, Two Paths to Women’s Equality.
Temperance, Suffrage, and the Origins of Modern Feminism; einen historisch fundierten Vergleich
national unterschiedlicher Feminismen liefert Christine Bolt, The Women’s Movements in the United
States and Britain from the 1790s to the 1920s). Dennoch wird man wohl sagen können, daß eine
systematische feministische Theoriebildung frühestens in den 6011960er Jahren begann. Das hatte
natürlich vorwiegend damit zu tun, daß erst die Bildungsreformen dieser Zeit einer nennenswerten
Anzahl von Frauen den Zugang zur Universität ermöglichten. Interessanterweise war aber nicht die
Erfahrung an den Hochschulen an sich für die rasche Entwicklung eines feministischen Bewußtseins
und die daraus resultierende Theorienproduktion entscheidend, sondern das Verhalten der männlich
dominierten Studentenbewegung in den späten 1960er Jahren, die sich »einen Dreck um die dämliche
Frauenbewegung gekümmert hat« (Firestone, Frauenbefreiung und sexuelle Revolution, S. 39). Viele
Aktivistinnen mußten lernen, daß ihr Anliegen – nämlich Gleichberechtigung auf allen Gebieten des
Lebens – in einer überwiegend durch Marxsche Argumente geprägten Diskussionslandschaft schlicht
ignoriert wurde, weil das ungleiche Verhältnis von Mann und Frau stets nur als ein
»Nebenwiderspruch« des Kapitalismus interpretiert wurde, dessen Bedeutung sich mit der des
»Hauptwiderspruchs« von Lohnarbeit und Kapital angeblich nicht vergleichen ließ. Eine derartige
Argumentationsfigur diente vielen männlichen Vertretern der Studentenbewegung und der Neuen
Linken als bequeme Legitimationsgrundlage, sich genauso sexistisch zu verhalten wie ihre Gegner im
sogenannten »bürgerlichen Lager«. Dies führte dann dazu, daß sich eine organisatorische wie
theoretische Abkoppelung oder Abnabelung vieler politisch engagierter Frauen von dieser Neuen
Linken einstellte, insofern ihnen klar wurde, daß neue Wege beschritten werden müßten – nicht zuletzt
im Feld der sozialwissenschaftlichen Forschung und der Theoriebildung.
Dieser Abnabelungsprozeß nahm verschiedene Formen an. Eine ganze Reihe von Autorinnen
machte sich daran, überwiegend auf empirischem Weg die Folgen des Geschlechterverhältnisses in
unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen herauszuarbeiten. Sie zeigten etwa, wie ungleich der
Arbeitsmarkt strukturiert ist, wie und warum die fast ausschließlich von Frauen verrichtete
Hausarbeit keine gesellschaftliche Anerkennung und schon gar keine Entlohnung erfährt, wie und
welche wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen die Frauen an Heim und Kind gebunden haben und noch
immer binden, welche Mechanismen noch heute eine adäquate politische Repräsentation der Frauen
verhindern usw. Theoretisch ambitionierte Feministinnen gingen allerdings sehr schnell dazu über,
auch die Voraussetzungen des Geschlechterverhältnisses zu analysieren 602und zu fragen, ob und
inwiefern bestehende sozialwissenschaftliche Theorien in der Lage sind, hier Erkenntnisfortschritte
zu ermöglichen. Allerdings konnten die hierbei beschrittenen Wege außerordentlich unterschiedlich
sein. Shulamith Firestone (geb. 1945), eine Aktivistin, polemisierte in ihrem schon zitierten Buch
Frauenbewegung und sexuelle Revolution (urspr. engl.: The Dialectic of Sex aus dem Jahre 1970)
gegen die marxistisch orientierte Studentenbewegung und den dort vorhandenen ökonomischen
Reduktionismus, indem sie auf die biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau verwies. Sie
kennzeichnete den Konflikt zwischen den Geschlechtern als einen Grundkonflikt, der fundamentaler
sei als der Klassenkampf, und erklärte aus ihm auch gleichzeitig den Sexismus der Männer. Susan
Brownmiller (geb. 1935), eine Journalistin, wies 1975 in Against our will: Men, Women and Rape
(dt.: Gegen unseren Willen. Vergewaltigung und Männerherrschaft) auf die Fähigkeit und den
Willen der Männer zur Ausübung von Gewalt und vor allem sexueller Gewalt hin und behauptete, daß
durch sexuelle Gewalt »alle Männer alle Frauen in permanenter Angst halten« (S. 22) und damit in
eine untergeordnete soziale Position zwingen. Andere Autorinnen versuchten dagegen, einem solchen
radikalen Biologismus zu entgehen. Dies schien ihnen vor allem deshalb notwendig zu sein, weil
derartige Erklärungsversuche kaum geeignet seien, die enormen kulturellen Unterschiede im stets
ungleichen Verhältnis der Geschlechter adäquat zu beleuchten, jene – wie es die Anthropologin Gayle
Rubin ausdrückte – »endless variety and monotonous similarity« (»The Traffic in Women«, S. 10).
Hier war dann doch wieder eine Möglichkeit gegeben, sich auf Marx oder mehr noch auf Engels
zurückzubeziehen, insofern die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in ihren unterschiedlichen
Formen eine Erklärung der ebenfalls variablen Formen geschlechtsspezifischer Ungleichheit liefern
sollte. Dieser Auffassung zufolge prägen der Kapitalismus und die patriarchale Familie
gleichermaßen das Geschlechterverhältnis, sind (männliche) Erwerbsarbeit und (weibliche)
Hausarbeit eng miteinander verwoben, wodurch die Ungleichheit zwischen Mann und Frau immer
wieder reproduziert, also die Macht der Männer aufrechterhalten wird (vgl. Walby, Theorizing
Patriarchy). Allerdings, mit dem Bedeutungsverlust des Marxismus in den 1980er Jahren verloren
auch diese Ansätze an Einfluß, nicht anders als das in unterschiedlichsten theoretischen Ansätzen
(nicht nur im 603marxistischen Feminismus) verwendete Konzept des Patriarchats, der
Männerherrschaft also: Dieser noch in den 1970er und frühen 1980er Jahren als Zentralkonzept des
Feminismus verstandene Begriff erwies sich offensichtlich als zu unspezifisch, um differenzierte
empirische Analysen vorantreiben zu können, weswegen er zunehmend in den Hintergrund gedrängt
wurde (vgl. Gudrun-Axeli Knapp, »Macht und Geschlecht«, S. 298). Wie schon Gayle Rubin
frühzeitig feststellte:
(…) it is important – even in the face of a depressive history – to maintain a distinction between the human capacity and necessity to
create a sexual world, and the empirically oppressive ways in which sexual worlds have been organized. Patriarchy subsumes both
meanings into the same term. (Rubin, »The Traffic in Women«, S. 168)

Im Gefolge dieser begrifflichen Umorientierung innerhalb der feministischen Sozialtheorie


kristallisierten sich seit den 1970er und 1980er Jahren eine stärkere mikrosoziologische Orientierung
heraus und eine stärkere Theoretisierung des Geschlechterverhältnisses insgesamt, weshalb es dann
auch vielen Feministinnen gelang, wieder engeren Anschluß an die »herkömmliche« Sozialtheorie zu
gewinnen. Nicht mehr die »großen« historischen und vielleicht auch nie wirklich zu klärenden
Ursachen des »schiefen« Geschlechterverhältnisses wurden in den 1980er Jahren zunehmend in den
Mittelpunkt der feministischen Diskussion gestellt, sondern die Frage, was Gleichheit zwischen den
Geschlechtern eigentlich heißt bzw. heißen kann, wie eine entsprechende Förderung von Frauen
aussehen muß, um die für Frauen diskriminierenden Konsequenzen des Geschlechterunterschieds zu
reduzieren, woran sich die Unterschiede zwischen Mann und Frau aktuell festmachen und wie sie sich
tagtäglich wieder reproduzieren. Anders formuliert heißt dies: Während biologistisch
argumentierende Autorinnen immer wieder die unverrückbare Differenz zwischen den Geschlechtern
betont und Anhängerinnen der Patriarchats-These immer wieder die historisch tief verwurzelte und
kaum aufzuhebende Dominanz des Mannes beschworen hatten, wurde nun zunehmend gefragt, wie
dieser Unterschied der Geschlechter ganz konkret im Alltagsleben stets neu hergestellt und konstruiert
wird. Damit war klar, daß zumindest am Rande immer Fragen angeschnitten wurden, die auch zu den
Kernproblemen der »traditionellen« Sozialtheorie zu zählen sind: Was ist 604(männliches und
weibliches) Handeln, was ist ein männliches oder weibliches Subjekt, wie und wodurch reproduziert
sich die Ordnung der Geschlechter etc.? Es ist deshalb unsere These, daß die feministische(n)
Sozialtheorie(n), zumindest insofern sie Bestandteil des Kanons der modernen Sozialtheorie sind und
sein wollen, erst relativ jungen Ursprungs sind: Ihre Wurzeln reichen nicht weiter als 30 Jahre zurück.
Wir beginnen unsere Darstellung entsprechend in den 1970er und 1980er Jahren mit den theoretischen
Ansätzen, welche die Debatte bis heute bestimmen.

2. Die feministische Debatte bewegte sich in dieser Zeit immer zwischen zwei Polen, zwei höchst
unterschiedlichen Typen der Argumentation. Eine in der Literatur manchmal als »maximalistisch«
bezeichnete Position betonte eher die Unterschiede zwischen Mann und Frau, wobei dies natürlich
nicht notwendig unter Rückgriff auf biologische Argumente erfolgen mußte, sondern – und dies war
zunehmend der Fall – auch durch Verweis auf geschlechtsspezifische psychologische
Entwicklungsprozesse gestützt werden konnte. »These scholars typically believe that differences are
deeply rooted and result in different approaches to the world, in some cases creating a distinctive
›culture‹ of women. Such differences, they think, benefit society and ought to be recognized and
rewarded.« (Epstein, Deceptive Distinctions, S. 25) Die sogenannte »minimalistische Position«
beharrte hingegen auf der großen Ähnlichkeit der Geschlechter und auf der Tatsache, daß bestehende
Geschlechterunterschiede nicht unverrückbar seien, sondern historisch variabel und damit sozial
konstruiert (ibid.).
In den 1970er und 1980er Jahren wurden die oben angedeuteten neuen Perspektiven auf das
Geschlechterverhältnis zunächst überwiegend in unterschiedlichen Zweigen der Psychologie bzw. in
einer stark mit psychologischen Argumenten arbeitenden Soziologie entwickelt, wobei es die
»maximalistischen Positionen« waren, welche die größte Aufmerksamkeit erfuhren. Hier sind in
erster Linie zwei Autorinnen zu nennen, deren Werke erhebliche Ausstrahlungskraft auf die
angrenzenden Sozialwissenschaften hatten.
Aus einer psychoanalytischen Perspektive hat die amerikanische Soziologin Nancy Chodorow
(geb. 1944) zu erklären versucht, warum sich bei Frauen immer wieder eine psychologische Dynamik
einstellt, die zur Aufrechterhaltung des Geschlechterverhältnisses 605und damit zur sozialen
Unterordnung der Frau führt. Ihrer These zufolge (vgl. The Reproduction of Mothering:
Psychoanalysis and the Sociology of Gender aus dem Jahre 1978; dt.: Das Erbe der Mütter.
Psychoanalyse und Soziologie der Geschlechter) spielen die frühesten Beziehungen von Mädchen zu
ihren Müttern eine entscheidende Rolle. Ausgangspunkt für Chodorow war die Annahme, daß die
Ausbildung der Geschlechtsidentität bei beiden Geschlechtern schon zu einem relativ frühen
Zeitpunkt erfolgt, so daß spätestens im Alter von fünf Jahren eine Art unwandelbarer Kern der
Persönlichkeit gegeben ist. Stimmt diese in der Psychoanalyse weithin vertretene These und ist es
gleichzeitig richtig, daß zumindest in westlichen Gesellschaften überwiegend die Mütter die
Hauptbezugspersonen der Kinder beiderlei Geschlechts sind, dann ist nach Chodorow auch klar, daß
die Form der Bildung der Geschlechtsidentität bei beiden Geschlechtern sehr unterschiedlich
vonstatten gehen muß:
Die früheste Form der Individuation, die primäre Konstruktion des Ich und seiner inneren Objektwelt, die ersten Konflikte und ersten
unbewußten Selbstdefinitionen, die ersten Bedrohungen der Individuation und die ersten Ängste, aus denen Abwehrformen entstehen –
sie alle sind bei Knaben und Mädchen unterschiedlich, weil sich der Charakter ihrer frühen Mutterbeziehung unterscheidet. (Chodorow,
Das Erbe der Mütter, S. 217)

Während Mädchen ihre Geschlechtsidentität in sehr engem Bezug zur Mutter ausbilden und sich dabei
mit der Mutter und ihren Handlungsformen identifizieren, erleben sich die Knaben als Gegenpol zur
Mutter, verorten sie sich in der Absetzung von der Mutter. Wie Chodorow darlegte, führt dies dann
dazu, daß sich die männliche Entwicklung sehr viel stärker unter dem Gesichtspunkt der
Individuation, der Ausbildung scharfer, ja überscharfer Ich-Grenzen vollzieht. Mädchen hingegen
würden sehr viel stärker eine Individualität ausprägen, die zur »Empathie« mit anderen neigt und
damit die Fähigkeit erzeugt, auf die Bedürfnisse und Gefühle anderer einzugehen. Daraus erklärte sich
auch, warum Männer mehr Probleme mit Beziehungen zu anderen Menschen haben, wohingegen
gerade Frauen rigiden Formen der Individuation eher fremd gegenüberstehen (a.a.O., S. 217 ff.).
Chodorows Analysen waren zum einen gegen die zutiefst »männlich« geprägten theoretischen
Prämissen der Psychoanalyse gerichtet, welche – zurückgehend auf Freud – die Entwicklung des
männ606lichen Kindes zur Norm erhoben, der gegenüber die weibliche Form der Ausbildung einer
Ich-Identität nur als defizitär erscheinen konnte (vgl. v. a. Kap. 9 ihres Buches). Zum anderen aber
wollte Chodorow auch erklären, warum sich die Geschlechterverhältnisse gerade in ihrer
Ungleichheit immer wieder reproduzieren. Die frühesten Beziehungen der Mädchen zur Mutter und
die Form der Ausbildung ihrer Geschlechtsidentität brächten immer wieder einen Handlungstypus
hervor, der als »muttern« (»mothering«) bezeichnet werden kann und der sich in vielerlei Hinsicht
vom Handeln der Männer unterscheidet, insofern er sehr stark beziehungsorientiert ist. Mit diesen
Thesen war auch eine normative Position markiert. Denn Chodorow und ihre Anhängerinnen und
Anhänger waren weder der Auffassung, daß weibliche Formen der Identitätsbildung und des
Handelns prinzipiell defizitär seien (a.a.O., S. 256), noch der Meinung, daß das typische
Familienverhältnis im Amerika ihrer Gegenwart mit der besonders starken Betonung des »mothering«
die einzig mögliche oder gar ideale Form der Elternschaft darstelle, zumal dieses »Muttern« ja
gerade die Ungleichheit der Geschlechter verstärke:
Die gegenwärtigen Probleme mit der Mütterlichkeit entstehen aus den potentiellen inneren Widersprüchen der Familie und der sozialen
Organisation der Geschlechter – zwischen dem Muttern der Frauen und ihren heterosexuellen Verpflichtungen, zwischen dem Muttern
der Frauen und der Individuation der Töchter und zwischen emotionaler Verbundenheit und einem Männlichkeitsgefühl bei Söhnen.
Veränderungen von außerhalb, speziell aus dem wirtschaftlichen Bereich, haben diese Widersprüche verschärft. (Chodorow, a.a.O.,
S. 274)

Durch eine andere Form der Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau (eine verstärkte Berufstätigkeit
der Frau und eine intensivierte Familienarbeit des Mannes) sei es – so Chodorow – möglich, die
bisherigen Formen der Bildung von Geschlechtsidentität zumindest abzuschwächen, weil in diesem
Falle die Mütter nicht mehr die ausschließlichen Bezugspersonen der Kinder wären. Unter solchen
Umständen bestehe eine große Chance, die stetige »Reproduktion des Mutterns« mit all ihren
negativen Konsequenzen für die Autonomie von Frauen zu unterbrechen.
Eine ähnliche normative Stoßrichtung verfolgte auch Carol Gilligan, deren Werk In a different
voice aus dem Jahre 1982 (dt.: Die 607andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau) sogar
noch einflußreicher wurde als dasjenige Chodorows. Die Psychologin Gilligan (geb. 1936 und
ebenfalls Amerikanerin) verfolgte einen ganz anderen theoretisch-psychologischen Ansatz als die mit
der Psychoanalyse arbeitende Soziologin Chodorow. Gilligan war nämlich Mitarbeiterin eines der
berühmtesten Entwicklungspsychologen ihrer Zeit, Lawrence Kohlberg, der durch seine Thesen die
Nachbardisziplinen stark beeinflußt hatte. Gilligans Kohlberg-kritische Untersuchungsergebnisse
mußten damit fast zwangsläufig unmittelbare Reaktionen etwa aus der Moralphilosophie und der
Soziologie herausfordern, stellte doch Gilligan zentrale Postulate dieser Fächer in Frage.
Kohlberg, dessen Werk unter anderem auch dasjenige von Jürgen Habermas geprägt hat (vgl. die
Zehnte Vorlesung), entwickelte im Anschluß an Arbeiten von Jean Piaget eine Theorie über die
Moralentwicklung des Kindes und des Erwachsenen und behauptete, daß seine empirischen
Untersuchungen einen mehrstufigen Entwicklungsprozeß bei der Ausbildung des moralischen
Bewußtseins nahelegen. Er unterschied zwischen drei Moralniveaus (einem präkonventionellen,
einem konventionellen und einem postkonventionellen), wobei er jedes Niveau nochmals in zwei (uns
hier nicht näher interessierende) Unterstufen teilte. Auf dem präkonventionellen Niveau würden die
Handelnden nur deshalb bestimmte moralische Regeln befolgen, weil sie aus einer egozentrischen
Perspektive lediglich Bestrafung vermeiden wollten. »Gut« ist in diesem Fall, was den Handelnden
nützt bzw. was ihnen hilft, Bestrafungen zu vermeiden. Ein konventionell-moralisches Argumentieren
und Handeln liegt vor, wenn ich z. B. meine moralische Verpflichtung darin sehe, die Erwartungen
meiner Mitmenschen zu erfüllen, etwa weil ich ihnen gegenüber »ein guter Kerl« sein und ihre
Zuneigung erreichen will oder weil ich dem Wohle des Ganzen, dessen Teil ich bin, dienen will. Eine
postkonventionelle Stufe ist erst dann erreicht, wenn nach universalen ethischen Prinzipien gehandelt
wird, wenn also beim moralischen Handeln ein Standpunkt eingenommen wird, der sich unabhängig
von partikularen Beziehungen und Gemeinschaften formulieren, also auf der Basis von für alle
Menschen gültigen und akzeptablen Regeln finden läßt (vgl. Kohlberg, »Moralstufen und
Moralerwerb«, S. 126 ff.).
608Kohlberg war nun der Auffassung, daß die Moralentwicklung einer ganz bestimmten Logik
folgt, und zwar derart, daß die Menschen im Laufe ihrer Sozialisation diese drei Niveaus bzw. sechs
Stufen sukzessive durchlaufen, daß also ein Aufstieg erfolgt von der präkonventionellen über die
konventionelle zur postkonventionellen Moral mit ihren jeweiligen Unterstufen. Freilich, nicht alle
Menschen erreichen laut Kohlberg das höchste Moralniveau bzw. die höchste Moralstufe; nur
wenigen Erwachsenen wird es gelingen, ihre Argumente und Handlungen konsequent entlang
postkonventioneller, also universalistischer ethischer bzw. moralischer Prinzipien auszurichten. Das
Brisante an diesen Kohlbergschen Untersuchungen war nun – und dies war Gilligans Entdeckung und
Kritik zugleich –, daß offensichtlich Frauen kaum je das postkonventionelle Moralniveau erreichten,
daß sie im Unterschied zu den Männern fast immer auf dem Niveau der konventionellen Moral
verblieben, also der dritten und – schon viel seltener – der vierten Unterstufe der Moralentwicklung:
Unter denjenigen, die gemessen an Kohlbergs Skala in ihrer moralischen Entwicklung defizitär zu sein scheinen, stechen vor allem die
Frauen heraus, deren Urteile dem dritten Stadium seines sechsstufigen Schemas zu entsprechen scheinen. In diesem Stadium wird die
Moral in zwischenmenschlichen Begriffen definiert, und Gutsein wird mit Helfen und Anderen-eine-Freude-Machen gleichgesetzt. Diese
Konzeption des Guten bestimmt nach Auffassung Kohlbergs (…) insofern das Leben erwachsener Frauen, als sich dieses im eigenen
Heim abspielt. Kohlberg (…) implizier[t], daß Frauen nur dann, wenn sie die traditionelle Arena männlicher Aktivität betreten, die
Unzulänglichkeit dieser moralischen Perspektive erkennen und wie Männer zu höheren Stadien fortschreiten werden, in denen
Beziehungen Regeln untergeordnet werden (viertes Stadium) und Regeln universellen Prinzipien der Gerechtigkeit (fünftes und sechstes
Stadium).
Doch hierin liegt ein Paradox, denn genau die Züge, die traditionell die »Güte« der Frauen ausmachten, ihre Fürsorge für andere und ihre
Einfühlsamkeit in deren Bedürfnisse, sind dieselben, die sie als defizitär in ihrer moralischen Entwicklung ausweisen. (Gilligan, Die
andere Stimme, S. 29)

In ähnlicher Weise, wie das Chodorow in bezug auf die traditionelle Psychoanalyse tat, schloß nun
Gilligan aus dieser Tatsache, daß das theoretische Modell der Kohlbergschen
Entwicklungspsychologie aus einem zutiefst männlichen Blickwinkel heraus konstruiert worden sei
und daß mit ihm deshalb die weibliche Form der Moralent609wicklung verfehlt werde. Ihre These
lautete, daß ein unvoreingenommenes Studium der Moralentwicklung von Frauen ein anderes
Ergebnis zeitigen würde. Ihren eigenen empirischen Untersuchungen zufolge würden Frauen mit
moralischen Problemen in einer ganz anderen Weise umgehen, als dies Männer tun, weswegen ihr
moralischer Entwicklungsweg auch anders zu interpretieren sei. Während Männer in der Regel nach
abstrakten Prinzipien denken und handeln, würden Frauen eher kontextbezogen und narrativ urteilen,
was Kohlberg in seinem Untersuchungsdesign nie berücksichtigt habe. Diese kontextbezogene und
narrative Weise des Urteilens bei Frauen würde zu einer Ausbildung von Moral führen, »bei der es
um care (Fürsorge, Pflege, Zuwendung) geht«. Während weibliche Moralvorstellungen »das Gefühl
für Verantwortung und Beziehungen in den Mittelpunkt« stellten, würden Männer eher einer abstrakten
Moral der »Fairness« zuneigen, die auf »Rechten und Spielregeln« basiert (a.a.O., S. 30).
Gilligan kritisierte also ihren Lehrer Kohlberg dahingehend, daß dieser ein Modell der
Moralentwicklung vorgelegt habe, das implizit auf einem männlichen Moralverständnis aufruhe,
nämlich auf einer Moral abstrakter Rechte bzw. einer Ethik der Gerechtigkeit. Insofern war es dann
wenig überraschend, daß Frauen kaum jemals die höchsten Stufen des Kohlbergschen
Entwicklungsschemas erreichten, daß sie sich also zumeist als unfähig oder unwillig zeigten, nach
abstrakten und universalistischen Regeln zu handeln und zu argumentieren. Dem Kohlbergschen
Ansatz stellte Gilligan nun ein Modell gegenüber, das der weiblichen Entwicklung angemessener sein
sollte, ein Stufenmodell der Fürsorglichkeit, basierend auf einer kontextsensiblen und eben nicht
abstrakten »Ethik der Anteilnahme« (a.a.O., S. 95). Dieses Modell hatte zudem – und das war der
normativ-politische Impetus ihrer Argumentation – Implikationen für die Ausgestaltung
gesellschaftlicher Institutionen, insofern diese auch immer den anders gearteten Moralvorstellungen
von Frauen zu genügen hätten.
Diese scharfe Kontrastierung einer männlichen Ethik der Gerechtigkeit und einer weiblichen Ethik
der Fürsorge bzw. Anteilnahme löste eine enorme Debatte innerhalb und außerhalb der feministischen
Bewegung aus. Feministinnen selbst haben Gilligan scharf kritisiert und ihr unter anderem
vorgeworfen, daß die von ihr propagierte Moral der Fürsorge eine Variante der Sklavenmoral im
610Sinne Nietzsches sei. Kritisch gefragt wurde also, ob dieser Standpunkt nicht derjenige einer
liberalen Feministin sei, der Machtverhältnisse schlicht fremd seien: »Women are said to value care.
Perhaps women value care because men have valued women according to the care they give. Women
are said to think in relational terms. Perhaps women think in relational terms because women’s social
existence is defined in relation to men. The liberal idealism of these works is revealed in the ways
they do not take social determination and the realities of power seriously.« (MacKinnon, Toward a
Feminist Theory of the State, S. 51/52; vgl. zu dieser Auseinandersetzung Benhabib, Selbst im
Kontext, S. 215 f.) Ein Teil dieser sehr scharfen Vorwürfe war unfair, weil Gilligan immer betont
hatte, daß mit einer Moral der Fürsorge gerade nicht eine der Selbstaufgabe und Selbstverleugnung
gemeint sei. Gegen ihre Untersuchungen wurden aber eine ganze Reihe von plausiblen Einwänden
erhoben, wiederum nicht zuletzt von Feministinnen: Kritisiert wurde die unzureichende empirische
Basis ihrer Untersuchungen bzw. die Fehldeutung dieser Basis, insofern sich in der frühkindlichen
Entwicklung keineswegs so gravierende Geschlechtsunterschiede zeigten, wie dies Gilligan
unterstellte. Was Gilligan als eine weibliche Fürsorgemoral bezeichne, sei lediglich die historische
Ausprägung einer bestimmten Rollenmoral, die sich auch mit der zunehmenden Gleichberechtigung
der Frau ändern könne (Nunner-Winkler, »Gibt es eine weibliche Moral?«). In bestimmten situativen
Zusammenhängen neigten auch Männer durchaus zu kontextbezogenen und narrativen Überlegungen.
Und kritisiert wurde schließlich die Tatsache, daß – in ähnlicher Weise wie in Chodorows Werk – bei
Gilligan die soziale und historische Tatsache der Geschlechterdifferenz letztlich unerklärt bleibe,
d. h. daß diese schlicht gesetzt sei (Benhabib, Selbst im Kontext, S. 214).
Aber unbestritten ist, daß trotz aller kritikwürdigen Punkte die von Gilligan angestoßene Debatte
enorme Räume geöffnet und auch in den moralphilosophischen und soziologischen Diskussionskontext
hineingewirkt hat. Denn schnell wurde klar, daß universalistische Moraltheorien, welche dem
postkonventionellen Niveau des Kohlbergschen Entwicklungsschemas entsprechen, unter erheblichen
Defiziten leiden. Solche Theorien, die darauf abzielen, kontextfreie Regeln zur Lösung von
moralischen Fragen zur Verfügung zu stellen, um sie für alle Menschen – nicht nur für eine bestimmte
611Gruppe – akzeptabel zu machen, haben nämlich den Nachteil, daß es mit ihnen kaum möglich ist,
Probleme wie diejenigen der Konsequenzen persönlicher Bindungen, des Wesens von Freundschaft
und Sympathie, ja des guten Lebens insgesamt anzugehen (vgl. Pauer-Studer, »Moraltheorie und
Geschlechterdifferenz«, S. 44). Alle derartigen universalistischen Theorien in der Nachfolge Kants,
sei es nun die Habermassche Diskursethik oder sei es die Moralphilosophie eines John Rawls (vgl.
die nächste Vorlesung), haben mit diesen Leerstellen in ihren Theorien zu kämpfen, ziehen also gerade
deswegen Kritik auf sich. »Kant irrte, wenn er annahm, daß ich als rein rational Handelnder durch
mein einsames Nachdenken zu einem Schluß gelangen könnte, der für alle überall und zu jeder Zeit
annehmbar wäre. Die moralischen Aktoren in Kants Moraltheorie gleichen Geometern, die, jeder in
einem anderen Raum, mit sich selbst argumentieren und dennoch alle auf dieselbe Lösung des
Problems kommen.« (Benhabib, Selbst im Kontext, S. 182) Habermas’ Diskursethik, der zufolge sich
Geltungsansprüche normativer Richtigkeit einer intersubjektiven und herrschaftsfreien Überprüfung
zu unterziehen hätten (vgl. unsere Zehnte Vorlesung), hat derartige Probleme vermieden, insofern sie
ja von vornherein dialogisch angelegt ist und gerade kein einsames Subjekt unterstellt. Aber auch
diese Ethik basiert auf einem sehr eingeengten Verständnis des Moralischen und Politischen und auf
einer umstrittenen Unterscheidung zwischen Normen und Werten, dem Rechten und dem Guten,
wodurch viele Fragen wie die obengenannten als undiskutierbar bzw. als nicht-moralische oder nicht-
politische Fragen ausgeschlossen werden: Denn die drängendsten (moralischen) Fragen kommen
häufig aus jenem sehr persönlichen, kontextbezogenen Bereich (a.a.O., S. 201), und gerade sie sind
mit der ursprünglichen Anlage der Habermasschen Diskursethik nicht zu behandeln, weil sie dem
Bereich der Werte oder des guten Lebens zuzuordnen sind und damit nicht unter universalistischen
Gesichtspunkten diskutiert werden können. Selbst wenn man der Habermasschen Unterscheidung
zwischen dem Guten und Rechten, Werten und Normen beipflichtet, würde dies gleichwohl eine
unbefriedigende Situation hinterlassen, denn eine Moraltheorie, welche zu derart drängenden
moralisch-persönlichen Fragen prinzipiell nichts sagen kann oder will, läßt sich nur als defizitär
bezeichnen. Und tatsächlich waren Gilligans Arbeiten für Moraltheoretiker, übrigens 612auch für
Habermas (vgl. Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, S. 187 ff.), Anlaß, intensiver über
das Verhältnis zwischen einer Fürsorgemoral und einer Gerechtigkeitsmoral nachzudenken und zu
fragen, ob die eine auf die andere angewiesen ist bzw. ob es – wie Seyla Benhabib (geb. 1950)
meinte – in der Entwicklung des Kindes eine Gleichursprünglichkeit von Fürsorge und Gerechtigkeit
gebe.
(…) in dieser Hinsicht haben Habermas und Kohlberg eine zentrale Erkenntnis Gilligans und anderer Feministinnen voreilig beiseite
geschoben: daß wir nämlich Kinder sind, bevor wir erwachsen werden, und wir uns ohne die Pflege, Fürsorge, Anteilnahme und
Rücksicht, die uns andere angedeihen lassen, nicht zu moralisch kompetenten, unabhängigen Individuen entwickeln können. (Benhabib,
a.a.O., S. 206)

Gilligans Arbeiten können also auch ganz anders gedeutet werden als im Sinne eines naiven liberalen
Feminismus. Ihren Forschungen wohnt zweifellos ein kritisches Potential inne, insofern sie den
(männlichen) Subtext bestimmter Moraltheorien ans Licht gebracht haben. Die theoretischen (wenn
auch nicht notwendig: politischen) Impulse Gilligans überschneiden sich hier mit denjenigen, die
auch kommunitaristische Denker antreiben (siehe die nächste Vorlesung). Und sie waren und sind
durchaus zu vereinbaren mit Bemühungen feministischer Theoretikerinnen, die – ganz prominent die
an der University of Chicago lehrende brillante Philosophin Martha Nussbaum (geb. 1947) – unter
Rückgriff auf die aristotelische Philosophie die hyperrationalistische Konstruktion der meisten
moralphilosophischen Gedankengebäude kritisieren, insofern dort entgegen aller Alltagserfahrung
Gefühle lediglich als irrational gedeutet und damit ignoriert werden. Die Feministin Nussbaum meint
damit nicht, daß man Gefühle aufwerten müsse, weil Frauen – so das Klischee – von Natur aus (also
biologisch bedingt) gefühlsbetonter seien als Männer. Nussbaums Position ist eine ganz andere:
Gefühle sind fundamental vom sozialen Kontext geprägt, d. h. sie sind soziale Konstruktionen. Man
wird deshalb auch – und dies ist wenig überraschend – feststellen können, daß in einer Gesellschaft
ohne Gleichberechtigung der Geschlechter Gefühle geschlechtsspezifisch ungleich verteilt sind,
insofern Gefühle häufig Reaktionen auf Situationen der Unsicherheit und Abhängigkeit sind, denen
Frauen aus historischen Gründen immer stärker ausgesetzt gewesen sind als 613Männer. Aber – und
dies ist nun eine entscheidende philosophische und soziologische These Nussbaums – mit der
Behauptung einer ungleichen Verteilung von Gefühlen wird nicht gleichzeitig auch eine größere
Irrationalität von Frauen unterstellt. Denn selbst wenn in unserer heutigen westlichen Gesellschaft
Frauen gefühlsbetonter sein sollten als Männer, gilt gleichwohl: Gefühle sind nicht einfach leere
irrationale Wesenheiten, sondern meist mit Urteilen über einen bestimmten Gegenstand verbunden.
Gefühle sind also nicht das Irrationale schlechthin, sondern Weisen, die Welt zu sehen (Nussbaum,
Gerechtigkeit oder Das gute Leben, S. 137 ff.). Die Moralphilosophie und auch die Soziologie – so
Nussbaums Schlußfolgerung, die mit den Thesen von Gilligan durchaus zu vereinbaren ist – erwiesen
sich keinen Gefallen, wenn sie bestimmte Phänomene des Alltagslebens aufgrund eines allzu
schnellen und letztlich nicht begründeten Irrationalitätsverdachts aus der Reflexion ausschließen. Es
sei gerade die Chance der feministischen Theorie, gegen die abstrakten oder formalen Prämissen
einer zumeist männlich dominierten philosophischen und soziologischen Diskussion neue Aspekte ins
Spiel zu bringen, die der sozialen Wirklichkeit (nicht nur von Frauen) besser gerecht werden.

3. Soweit zu den durch Chodorow und Gilligan in den 1970er und frühen 1980er Jahren ausgelösten
Debatten. So einflußreich ihre Arbeiten auch waren, man wird gleichwohl sagen können, daß
spätestens in den 1980er Jahren eine ganz andere Forschungstradition dominant wurde, welche die
»maximalistische Position« radikal hinterfragte und nun – unter Verwendung eines ganz bestimmten
theoretischen Instrumentariums – eher auf eine minimalistische Position zusteuerte, also auf eine,
welche die große Ähnlichkeit zwischen den Geschlechtern betonte. Dabei rückte die im englischen
Sprachraum gebräuchliche Unterscheidung zwischen »sex« und »gender« in den Mittelpunkt, wobei
»sex« (mit Bezug auf eine zwischen Mann und Frau unterschiedliche Anatomie, Physiologie sowie
hormonelle und genetische Ausstattung) auf das biologisch bestimmte und bestimmbare Geschlecht
verweise und »gender« auf den sozial und kulturell erworbenen Geschlechtsstatus.
Diese Unterscheidung, die sich im Deutschen am besten mit den Begriffen »biologisches« vs.
»soziales Geschlecht« übersetzen läßt, war von Feministinnen und Frauenforscherinnen vor allem
deswe614gen angemahnt worden, um den typisch männlichen Argumentationsmustern bezüglich der
(unterlegenen) »Natur der Frau« entgegenzutreten und um darauf zu beharren, daß die Unterschiede
zwischen den Geschlechtern ein Ergebnis historisch gewachsener Unterdrückungs- und
Diskriminierungseffekte seien und kein Resultat eines irgendwie natürlichen oder biologischen
Unterschieds: Die Biologie – so die These – determiniert nicht den »Geschlechtscharakter«.
Gender ist eine relationale Kategorie; sie soll die Konstruktion einer bestimmten Art der Differenz zwischen menschlichen Wesen
erhellen. Feministische Theoretikerinnen der psychoanalytischen wie der postmodernen, liberalen oder kritischen Richtung verbindet die
Annahme, daß sich die Festlegung der Geschlechterdifferenz in einem gesellschaftlich und geschichtlich bedingten Prozeß vollzieht, das
heißt, daß Geschlechtsidentität nicht »von Natur aus« gegeben ist. (Benhabib, Selbst im Kontext, S. 210/211)

Die lebhaftesten theoretischen Debatten innerhalb des Feminismus zielten seit den 1980er Jahren
zunehmend darauf ab, »Essentialismen« wie die auch bei Gilligan noch zu findende Rede von einer
»universale(n) Substanz namens Weiblichkeit« (a.a.O., S. 212) aufzulösen. Die theoretische Debatte
schien wegzuführen von einer Betonung der Differenz der Geschlechter hin zum Aufweis der sozialen
und historischen Konstruktion des Geschlechterunterschieds (Gildemeister/Wetterer, »Wie
Geschlechter gemacht werden«, S. 201). Dies bedeutete zunächst, daß an der Unterscheidung
zwischen »sex« und »gender« festgehalten werden sollte, um die historischen und kulturellen
Ursachen der je besonderen Form der Ausbildung weiblicher Identität bezeichnen zu können. Im Lauf
der Zeit erschien es aber sogar möglich, die Diskussion derart radikal zuzuspitzen, daß die
Unterscheidung zwischen »sex« und »gender« vollkommen eingezogen wurde, und zwar nun »von der
anderen Seite« her: Man konnte auch argumentieren, daß »sex« vs. »gender«, »biologisches« vs.
»soziales Geschlecht«, eine trügerische Unterscheidung sei, weil selbst das sogenannte »biologische
Geschlecht« nicht wirklich »biologisch« oder »natürlich« sei, sondern ebenfalls eine Konstruktion.
Es gibt – glaubt man dieser überraschenden These – schlicht kein naturhaft-biologisches Geschlecht!
Auch die an diese These anschließenden Debatten führten freilich nicht zu einer einheitlichen
615feministischen Theorie, sondern wiederum zu höchst konträren Interpretationen und normativ-
politischen Schlußfolgerungen.

3.1 Einen fulminanten und vor allem theoretisch höchst innovativen Anfang nahm diese Debatte mit
dem Buch zweier amerikanischer Soziologinnen, nämlich mit Suzanne J. Kesslers (geb. 1946) und
Wendy McKennas (geb. 1945) Gender. An Ethnomethodological Approach aus dem Jahre 1978.
Dieses Buch stellte nicht nur klar, daß »gender« eine »soziale Konstruktion« sei, was zur damaligen
Zeit sicherlich keine revolutionär neue Einsicht mehr war. Es machte vor allem auch deutlich, daß
bisher kaum untersucht worden war, wie Menschen als männlich oder weiblich klassifiziert werden.
Selbst diejenigen also, welche die Unterscheidung zwischen »sex« und »gender« betont hatten, haben
laut Kessler/McKenna nie ernsthaft analysiert, was genau vor sich geht, wenn Menschen anderen
Menschen ein soziales Geschlecht zuschreiben, auf welcher Basis also »gender attribution« erfolgt.
Occasionally (…) we do see people whose gender is not obvious (…). It is then that we begin to consciously look for gender cues as to
what they ›really‹ are. What do these cues consist of? In asking people how they tell men from women, their answer almost always
includes »genitals«. But, since in initial interactions genitals are rarely available for inspection, this clearly is not the evidence actually
used (…). (Kessler/McKenna, Gender, S. VIII)

In solchen nicht-offensichtlichen Fällen wird deutlich, daß im zwischenmenschlichen Handeln ein


ständiger und recht komplizierter Prozeß stattfindet, als dessen Ergebnis den beteiligten Personen ein
bestimmtes »gender« zugeschrieben wird, und zwar aufgrund von Tatsachen, die wenig mit
biologischen Merkmalen zu tun haben müssen. Was als selbstverständlich und unproblematisch
erscheint, ist also – so die Autorinnen – ein höchst voraussetzungsvoller sozialer Vorgang. Aber nicht
nur die Etikettierung einer anderen Person ist komplex, auch das »Leben« oder »Ausagieren« einer
bestimmten Geschlechtsidentität ist es, was etwa am Phänomen des Transsexualismus besonders
deutlich wird. Denn Frausein/Mannsein hängt hier offensichtlich nicht von einem gegebenen
physischen Faktum ab, sondern davon, daß die jeweilige Person, deren anatomisches Geschlecht
gegebenenfalls chirurgisch verändert wurde, sich ständig und mit aufwendigen Mitteln als Frau oder
Mann darstellen muß. 616»Gender« ist ein »practical accomplishment»(a.a.O., S. 163) oder – wie es
innerhalb der Ethnomethodologie später heißen sollte: »Doing gender means creating differences
between girls and boys and women and men, differences that are not natural, essential, or biological.«
(West/Zimmerman, »Doing Gender«, 1987, S. 137; unsere Hervorh.)
Die so argumentierenden Autorinnen und Autoren konnten auf Untersuchungen zurückgreifen, die
der »Begründer« des ethnomethodologischen Ansatzes bereits in den 1950er Jahren vorgelegt hatte.
In Garfinkels Buch Studies in Ethnomethodology (vgl. die Siebte Vorlesung) findet sich eine lange
und hochinteressante Studie (»Passing and the managed achievement of sex status in an ›intersexed‹
person, part 1«) über die transsexuelle »Agnes«, eine Person, die bis zu ihrem siebzehnten
Lebensjahr als Junge betrachtet wurde, zumal auch die diesbezüglichen biologischen
Geschlechtsmerkmale ganz »normal« waren, die sich jedoch als Mädchen bzw. Frau fühlte,
dementsprechend leben wollte und in Konsequenz dessen sich einer operativen
Geschlechtsumwandlung unterzog. Garfinkel beschrieb an diesem Fall detailliert, welche
Schwierigkeiten diese Person hatte, ihr neues Geschlecht zu leben, wie sie lernen mußte, eine Frau zu
sein, und wie und warum »Passing«, also der Übertritt von einer Geschlechtsidentität zu einer
anderen, eine kontinuierliche und stets immer wieder neu zu bewerkstelligende Aufgabe darstellt,
eben weil »gender« in allen Alltagsangelegenheiten von enormer Bedeutung ist. Transsexuelle wie
Agnes – so Garfinkel – müssen sich ständig so präsentieren, daß niemand ihr »ursprüngliches«
Geschlecht entdeckt. Wie Garfinkel und insbesondere Kessler/McKenna darlegten, ist nicht das
relativ seltene Phänomen des Transsexualismus als solches besonders interessant; Untersuchungen
zum Verhalten Transsexueller sind vielmehr von allgemeinem theoretischen Interesse, geben sie
doch Aufschluß darüber, wie von jeder Frau und jedem Mann »gender« gewöhnlich zugeschrieben
und gelebt wird bzw. gelebt werden muß:
It must be kept in mind, however, that we are studying transsexuals not because they create gender attributions in a particular unusual
way, but because, on the contrary, they create gender in the most ordinary of ways, as we all do. (Kessler/McKenna, Gender,
S. 127/128)

Bis hierhin hört sich dies vielleicht noch nicht sonderlich neu oder provokativ an, so daß man sagen
könnte, daß mit diesem ethnome617thodologischen Forschungsansatz lediglich ein genauerer Blick
auf ein altes Phänomen geworfen und nun detaillierter als zuvor erhellt wurde, wie »gender« sozial
konstruiert wird. Tatsächlich implizierten aber die Untersuchungen von Kessler/McKenna wesentlich
mehr – und die Autorinnen machten dies auch überaus deutlich. Denn wenn man davon ausgeht, daß
»gender« konstruiert ist, dann stellt sich natürlich auch die Frage, wie soziale Realität konstruiert
wird, so daß dabei zumindest in unserer Gesellschaft immer zwei – und nur zwei! – Geschlechter
entstehen. »(…) what kinds of rules do we apply to what kinds of displays, such that in every
concrete instance we produce a sense that there are only men and women, and that this is an objective
fact, not dependent on the particular instance?« (a.a.O., S. 5/6). Wenn gleichzeitig die These stimmt,
daß die Zuschreibung von »gender« ein sozialer Prozeß ist, der nicht unmittelbar vom biologischen
Geschlecht abhängig ist, wären dann nicht Gender-Zuschreibungen denkbar, die nicht dichotom
verfahren, also nicht zwischen Mann und Frau, Junge und Mädchen unterscheiden? Und tatsächlich
verweisen die Autorinnen auf kulturanthropologische Studien, in denen gezeigt wurde, daß
Geschlecht nicht immer dichotom gedacht werden muß: Während in westlichen Gesellschaften die
Biologie als Basis für die Zuschreibung von Geschlecht gilt, also unbefragt unterstellt wird, daß das
soziale Geschlecht seinen Ursprung im biologischen Geschlecht habe, daß Männer also männliche
Geschlechtsteile, Frauen weibliche Geschlechtsteile hätten und haben müßten, sei dies in anderen
Kulturen durchaus nicht so. Dort sei beobachtet worden, daß die Zuschreibung »Mann« an eine
»biologische« Frau erfolgen kann, sofern diese nur ein besonders männliches Rollenverhalten zeige:
Anatomische, physiologische und ähnliche Tatsachen spielten hier keine Rolle. Und ebenso sei
beobachtet worden, daß es Kulturen gebe, in denen nicht notwendigerweise von zwei Geschlechtern
ausgegangen werde, sondern von dreien oder mehr!
To say that gender identity is universal is probably true in the sense that all people know what category they belong to, but may be
incorrect if we mean knowing whether they are male or female. (Kessler/McKenna , a.a.O., S. 37)

Ist dies sicherlich schon eine provokante These, fügen Kessler/McKenna noch eine weitere hinzu.
Denn sie fragen – für die damalige Zeit fast ketzerisch –, ob nicht auch die biologische Bestimmung
618des Menschen als Mann oder Frau durch die moderne Wissenschaft mit viel größeren Problemen
behaftet ist, als gemeinhin zugegeben wird. Was also ist, wenn »sex«, also das »biologische
Geschlecht«, ebenso unklar und verschwommen ist wie »gender«? Tatsächlich gibt es nämlich keine
völlig klaren wissenschaftlichen Kriterien zur Geschlechtsbestimmung. Weder die Anatomie noch die
hormonelle »Verfassung« eines Menschen noch sein genetischer Code bieten eindeutige
Abgrenzungskriterien: So wurde in Untersuchungen zu Zwitterbildungen bei Babys bzw. Kindern
festgestellt, daß es für die ärztlichen Spezialisten »von der Größe des Penis abhing, ob ein Kind mit
XY-Chromosomen und anomalen Genitalien als Junge oder als Mädchen kategorisiert wurde. War der
Penis sehr klein, wurde das Kind als Mädchen kategorisiert und bekam auf operativem Wege eine
künstliche Vagina.« (Lorber, Gender-Paradoxien, S. 86; ähnlich auch Hagemann-White, »Wir werden
nicht zweigeschlechtlich geboren …«, S. 228). Es gab (und gibt) offensichtlich kein klares
biologisches Merkmal, so daß die doch ziemlich subjektive Einschätzung bezüglich der Größe eines
Penis über scheinbar objektive Kriterien – etwa den genetischen Code – immer wieder obsiegte.
Diese Beobachtung kann gerade für ethnomethodologisch argumentierende Wissenschaftler und
Wissenschaftlerinnen so überraschend nicht sein, hat doch die Ethnomethodologie (siehe die Siebte
Vorlesung) sehr stark die wissenschaftssoziologische Forschung geprägt und in ihren Untersuchungen
immer wieder aufgezeigt, wie sehr auch die naturwissenschaftliche Laborarbeit von
Alltagsvorstellungen durchdrungen ist. Genau darauf verweisen Kessler/McKenna, wenn sie betonen,
daß auch die biologische und medizinische Forschung auf den kulturellen Vorannahmen einer
Gesellschaft fußt und deshalb mit stets neuen Anstrengungen – (bisher) aber erfolglos – versucht, die
fragwürdige These zu untermauern, daß es zwei und eben nur zwei Geschlechter gebe
(Kessler/McKenna, Gender, S. 77).
Die Argumentation von Kessler/McKenna tendierte also dazu, der eigentlich für viele
Feministinnen zentralen »sex/gender«-Unterscheidung mit der radikalen oder überraschenden These
zu begegnen, daß auch das scheinbar so klar bestimmbare »biologische Geschlecht« so eindeutig
nicht ist, sondern daß auch hier ganz offensichtlich soziale Konstruktionen am Werk sind. In der
Literatur wird dies gelegentlich als »Null-Hypothese« bezeichnet, die Carol Hagemann-White (geb.
1942) folgendermaßen definierte:
619Offener für die Vielfalt der Frauenleben, radikaler in ihrer Sicht für die patriarchale Unterdrückung scheint mir nach wie vor die
»Null-Hypothese« zu sein: daß es keine notwendige, naturhaft vorgeschriebene Zweigeschlechtlichkeit gibt, sondern nur verschiedene
kulturelle Konstruktionen von Geschlecht. Wissen wir doch, daß die Entdifferenzierung und Plastizität der Menschheit groß genug ist, um
eventuell vorhandene hormonelle oder in der Körperbeschaffenheit liegende Gegebenheiten zu überspielen. (Hagemann-White, »Wir
werden nicht zweigeschlechtlich geboren…«, S. 230)

Kessler/McKenna verbanden nun diese »Null-Hypothese« mit einem klaren normativ-politischen


Programm. Denn ihrer Auffassung nach führt die in unserer Gesellschaft so typische Annahme der
Existenz von genau zwei dichotomen Geschlechtern fast unweigerlich zu einer Hierarchisierung
zwischen den Geschlechtern, einem Prozeß, in dem die Frauen aufgrund schon lange bestehender
Machtverhältnisse sofort in die untergeordnete soziale Position gezwungen werden. Wenn
Dichotomisierung eng mit Hierarchisierung verbunden ist und »androzentrische« Konsequenzen nach
sich zieht, dann habe feministische Theorie genau die Aufgabe, zu demonstrieren, daß die
Dichotomisierung zwischen den Geschlechtern keine Naturnotwendigkeit ist. Erst die Aufhebung
dieser Geschlechterdichotomisierung werde langfristig die Chance eröffnen, hier gleichberechtigte
Relationen zwischen Personen herzustellen:
Where there are dichotomies it is difficult to avoid evaluating one in relation to the other, a firm foundation for discrimination and
oppression. Unless and until gender, in all of its manifestations including the physical, is seen as a social construction, action that will
radically change our incorrigible propositions cannot occur. People must be confronted with the reality of other possibilities, as well as the
possibility of other realities. (Kessler/McKenna, Gender, S. 164)

An die Arbeit von Kessler/McKenna schloß sich vor allem in der englischsprachigen Welt eine
umfangreiche Grundlagendiskussion über das Verhältnis von »sex« und »gender« an, eine Debatte,
die schnell dominant werden konnte, weil die britische und amerikanische Sozialanthropologie mit
ihren Untersuchungen zu – aus westlicher Sicht – »merkwürdigen« Geschlechtsidentitäten in fremden
Kulturen quasi schon das Feld bereitet hatten. In anderen Ländern 620kam die Debatte nicht so
schnell in Gang (vgl. dazu Becker-Schmidt/Knapp, Feministische Theorien zur Einführung, S. 9 ff.),
in Deutschland immerhin erst in den frühen 1990er Jahren, wobei hier vor allem ein Artikel von
Regine Gildemeister (geb. 1949) und Angelika Wetterer einschlägig wurde. In »Wie Geschlechter
gemacht werden« griffen sie 1992 die bisher überwiegend im englischsprachigen Raum geführte
Debatte auf. Ganz ähnlich wie Kessler und McKenna, denen sie aufgrund ihrer
ethnomethodologischen Orientierung ohnehin nahestanden, wiesen sie darauf hin, daß die
Unterscheidung zwischen »sex« und »gender« nur eine Scheinlösung sei, insofern hiermit der
Biologismus nur verlagert werde: Zwar würde eine solche Unterscheidung nicht mehr eine soziale
Substanz »Weiblichkeit« unterstellen, aber von einer solchen biologischen Substanz ausgehen, was
jedoch problematisch sei, weil keine klaren biologischen Kriterien zur eindeutigen
Geschlechtsbestimmung vorlägen. Zudem beinhalte auch die angenommene Dichotomie zwischen
Mann und Frau einen latenten Biologismus, weil auch hier gelte, daß die Biologie kein wirklich guter
Ratgeber für dichotome Konstruktionen sei (Gildemeister/Wetterer, »Wie Geschlechter gemacht
werden«, S. 205 ff.).
Wenn dem so ist, wenn also den Thesen von Kessler/McKenna zuzustimmen ist, dann hat das – so
die Schlußfolgerung von Gildemeister/Wetterer – eine Reihe von soziologisch-theoretischen
Konsequenzen. Denn in diesem Fall kann man auch nicht mehr davon ausgehen, daß es in der
Geschichte irgendwie eine vorsoziale Kategorie »Frau« gegeben habe, welche die Ursache einer
historisch irgendwann einmal erfolgten und dann stetig weitergetriebenen geschlechtsspezifischen
Differenzierung gewesen sei. Der angeblich physisch schwächere Körper der Frau, ihre
Verletzlichkeit während der Schwangerschaft etc. können dann nicht als quasi natürliche
Ausgangspunkte für die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung dienen. Denn wenn Natur und Kultur
gleich ursprünglich sind, dann kann man ebensogut argumentieren, daß die Gebärfähigkeit der Frauen
ihren (untergeordneten) Status begründete wie umgekehrt, daß es kulturelle und soziale Prozesse
waren, welche die Gebärfähigkeit der Frau zum Zeichen ihres untergeordneten sozialen Status
machten. Wer die (natürliche) Gebärfähigkeit der Frauen zur Ursache geschlechtsspezifischer
Arbeitsteilung erklärt, unterschlage jedenfalls,
621daß eine so komplexe hypothetische Konstruktion, wie sie die »Vermutung der Möglichkeit des Gebärens« darstellt, bereits das
Ergebnis einer Abstraktion und Klassifikation ist, die sich nur entschlüsseln läßt, wenn man nach der kulturellen Bedeutung fragt, die
körperlichen Merkmalen im Zuge genau der sozialen Differenzierung zukommen, die sie erklären sollen. (Gildemeister/Wetterer , a.a.O.,
S. 216)

Auch wenn Gildemeister und Wetterer sehr stark in der ursprünglich von Kessler/McKenna
vorgegebenen Argumentationsschiene verbleiben und nur die theoretischen Konsequenzen eines
solchen Ansatzes sorgfältiger ausdiskutieren als die beiden amerikanischen Autorinnen, machen sie
doch gleichzeitig auf eine relativ unangenehme politische Konsequenz ihres Theorierahmens
aufmerksam. Es wird nämlich auch ihnen immer unklarer, welches politische Ziel – mit Ausnahme der
eher vagen Hoffnung auf eine Aufhebung dichotomer Unterscheidungen, die auch schon
Kessler/McKenna artikuliert haben – eigentlich ein feministischer Ansatz verfolgt, der eine derart
radikale anti-essentialistische Position behauptet. Denn eine gezielte Frauenförderung ist damit nur
schwer zu vereinbaren; es stellt sich zumindest ein erhebliches Problem ein, weil jede Formulierung
einer Politik der Frauenförderung ja zunächst einmal bestimmen muß, wer Frau ist und wer nicht.
Damit wird aber – wie Gildemeister/Wetterer feststellen – nur eine Reifizierung und Neu-
Dramatisierung der alten bzw. traditionalen Geschlechterunterscheidung erreicht, die man ja
eigentlich überwinden wollte – ein Paradox, aus dem »auf der handlungstheoretischen Ebene ein
Ausweg nicht absehbar« ist (a.a.O., S. 249).
Tatsächlich waren es derartige politische Aporien, welche die Kritik an diesem
ethnomethodologischen Ansatz innerhalb des Feminismus inspirierten. Denn nicht nur die Vagheit des
politischen Programms wurde kritisiert; gefragt wurde auch, ob selbst diese vagen Hoffnungen in
irgendeiner Weise gerechtfertigt seien. Denn man kann ja die bei Kessler/McKenna und auch bei
Gildemeister/Wetterer zu findende These, wonach Dichotomien fast automatisch zu
Hierarchisierungen führen, durchaus in Frage stellen. Und vor allem: Gilt umgekehrt, daß eine
Auflösung der Dichotomie mit der Rede von mehreren möglichen Geschlechtern tatsächlich
hierarchisches Denken zum Verschwinden bringt? Die Erfahrungen mit dem Rassismus legen darauf
eher eine negative Antwort nahe, weil bei622spielsweise Rassisten nicht notwendig nur zwei
unterschiedliche Hautfarben kennen, sondern zwischen »Tönungen« der Hautfarbe genau zu
unterscheiden wissen, um ihre Vorurteile ausleben zu können. In diesem Feld zumindest zeigt sich,
»dass eine Vervielfältigung von Kategorien nicht vor Hierarchisierungen schützt, sondern daß sie die
Zahl der Differenzierungs- und Hierarchisierungsmöglichkeiten erhöht« (Becker-Schmidt/Knapp,
Feministische Theorien zur Einführung, S. 80). Es ist deshalb durchaus möglich, daß im Bereich des
Geschlechterverhältnisses ähnliche Mechanismen greifen und die erhofften egalisierenden Tendenzen
aus der Auflösung der Geschlechterdichotomie ausbleiben.
Kritisiert wurden an diesem ethnomethodologisch inspirierten Feminismus aber auch interne
theoretische Schwächen, die schon beim »Vater« der Ethnomethodologie, Harold Garfinkel,
aufgetreten waren, nämlich die fehlende Analyse institutioneller Kontexte. Die fast ausschließliche
Beschäftigung mit den Grundvoraussetzungen jeglicher Interaktion habe – so die Kritik – dazu geführt,
daß Institutionen als einigermaßen feste und geregelte Ordnungen kaum eine Rolle spielten, was auf
ein meso- und insbesondere makrosoziologisches Defizit hinweise. Genau dies wurde dann auch von
Feministinnen kritisiert, die den ethnomethodologisch argumentierenden Autorinnen vorwarfen, sie
hätten die institutionellen Kontexte, in denen sich die Geschlechterdifferenz herstellt, weitgehend
vernachlässigt (Heintz/Nadai, »Geschlecht und Kontext«, S. 77). Denn es müsse ja empirisch
untersucht werden, wann und unter welchen konkreten institutionellen Umständen und
Verhältnissen die Geschlechterdifferenz dramatisiert oder vielleicht auch entdramatisiert wird! In
welchen institutionellen Kontexten spielt Zweigeschlechtlichkeit eine große Rolle, in welchen eine
eher kleine? Es müsse also empirisch von einer Variation der Geschlechterdifferenz je nach Kontext
ausgegangen werden, so daß nicht nur die Analyse von »doing gender« auf der soziologischen
Tagesordnung stehen dürfe, sondern auch »undoing gender« untersucht werden müsse (vgl. auch schon
Hirschauer, »Die soziale Fortpflanzung der Zweigeschlechtlichkeit«):
Denn wenn Geschlechtszugehörigkeit tatsächlich ein »achievement« (…) ist, dann ist ein undoing gender (…) zumindest theoretisch
denkbar. Undoing gender ist dabei eine ebenso komplexe Darstellungsleistung wie die Inszenie623rung von Geschlecht, und ebenso wie
diese keineswegs geschlechtsneutral. (Heintz/Nadai, »Geschlecht und Kontext«, S. 82)

Um diese Dialektik von«doing« und »undoing gender« sinnvoll analysieren zu können, müßte freilich
– so die These von Heintz und Nadai – makrosoziologische Grundlagenarbeit geleistet werden, was
aber angesichts der derzeitigen Vorherrschaft mikrosoziologisch orientierter »Gender-Forschung« und
eines ähnlich orientierten sozialtheoretischen Feminismus vor allem in Deutschland kaum zu erwarten
sei (a.a.O., S. 79).

3.2 Diese Skepsis im Hinblick auf die Chancen einer umfassenden makrosoziologischen Öffnung des
Feminismus ist nicht ganz unberechtigt, gibt es doch einen weiteren, international enorm
einflußreichen Zweig feministischer Theoriebildung, der mit der poststrukturalistisch geprägten
philosophischen Debatte um die Postmoderne verflochten ist. Auch in dieser Denktradition spielen
makrosoziologische Analysen nur eine untergeordnete Rolle, insofern eher auf
grundlagentheoretischer Ebene über das Verhältnis von »sex« und »gender« reflektiert wird, nun aber
eben unter Zuhilfenahme zum Teil ganz anderer Referenzautoren. Woher die Anziehungskraft der
Debatte um die sogenannte Postmoderne für Teile der feministischen Bewegung rührt, ist vielleicht
nicht sofort einsichtig, läßt sich aber anhand der hier dargestellten Argumentationsschritte
nachvollziehen, selbst wenn diese auch innerhalb des Feminismus zum Teil heftig umstritten sind.
Innerhalb der feministischen Theorie wurde von Anfang an diskutiert, ob die zum Teil grotesk
verzerrten Ergebnisse der Wissenschaft, die in vielen Fällen ohne Probleme die physische, soziale,
intellektuelle etc. Minderwertigkeit der Frau »beweisen« konnte, lediglich Ausdruck einer völlig
falschen Wissenschaftspraxis waren oder gar Ergebnis einer letztlich nicht haltbaren Idee von
Wissenschaft (vgl. dazu Sandra Harding, »Feminism, Science, and the Anti-Enlightenment
Critiques«). Im ersten Fall konnte man als Feministin hoffen, daß mit dem Vordringen von Frauen in
die zentralen Bastionen der Wissenschaft einer solchen falschen Praxis das Wasser abgegraben und
dann doch objektiveres Wissen zur Verfügung gestellt werden würde. Was aber, wenn die zweite
These stimmt, wenn also das in der europäischen Aufklärung geborene Projekt »Wissen624schaft«,
das angeblich überzeitliche Wahrheiten produziert oder zumindest produzieren will, schlechthin
fragwürdig ist? Diese zweite hier angedeutete wissenschaftstheoretische Position erhielt ihre
entscheidenden Impulse einerseits aus den Debatten um den Kuhnschen Paradigmen-Begriff (vgl.
unsere Erste Vorlesung), in denen radikale Kritiker wie Paul Feyerabend die wissenschaftliche
Rationalität als solche verabschieden wollten, und andererseits aus den Foucaultschen Analysen (vgl.
die Vierzehnte Vorlesung), denen zufolge (wissenschaftliche) Wahrheit unmittelbar mit Macht
verknüpft ist und schon allein deshalb keine »Objektivität« beanspruchen kann. Genau diese
Argumente sind ja dann auch von Theoretikern der Postmoderne wie Lyotard verwendet worden, der
das Ende aller Metaerzählungen – also auch das Ende der Wissenschaft – verkündete. Insofern kann
es also nicht verwundern, wenn gerade postmoderne Argumente von Teilen der feministischen
Sozialtheorie begeistert aufgegriffen wurden, schienen sie doch die eingängigsten Erklärungen für das
Bestehen einer frauenfeindlichen Wissenschaft liefern zu können.
Besonders vehement und radikal ist eine notwendige Verbindung zwischen Postmoderne und
Feminismus von Jane Flax postuliert worden. Sie will das ganze Projekt der europäischen Aufklärung
verabschieden, weil auch Kants berühmtes Motto zur »Beantwortung der Frage: Was ist
Aufklärung?«, nämlich »Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen«,
verdächtig sei, auf androzentrischen Prämissen zu beruhen. Dies nicht nur deshalb, weil
»enlightenment philosophers such as Kant did not intend to include women within the population of
those capable of attaining freedom from traditional forms of authority« (Flax, »Postmodernism and
Gender Relations in Feminist Theory«, S. 42), sondern auch weil Kants erkenntnistheoretische
Position auf einer bestimmten männlichen Form der Subjektkonstitution und des Selbstbewußtseins
beruhe, die dahin tendiere, andere Formen des Denkens und der Rationalität auszuschließen:
In fact, feminists, like other postmodernists, have begun to suspect that all such transcendental claims reflect and reify the experience of
a few persons – mostly white, Western males. These transhistoric claims seem plausible to us in part because they reflect important
aspects of the experience of those who dominate our social world. (a.a.O., S. 43)

625Auch wenn Flax sich der relativistischen Gefahren bewußt ist, die eine zu enge Verbindung von
Postmoderne und Feminismus hervorruft – wenn Wahrheit oder Wissenschaft nur ein Machtspiel ist,
wodurch unterscheidet sich dann feministische Theorie von den anderen Machtspielen? –, so
behauptet sie doch, daß die feministische Theorie zum Lager der aufklärungskritischen postmodernen
Kritik zu zählen sei (a.a.O., S. 42). Weil es kein transhistorisches Wissen und keine solchen
Wahrheiten gebe, weil Wissen immer kontextbezogen und Subjektwerdung keine monologische und
isolierte, sondern eine relationale Angelegenheit sei, deshalb müsse auch die feministische Theorie
zugeben, daß sie nicht in der Lage sei, endgültige Wahrheiten zu produzieren (a.a.O., S. 48). Dies sei
zwar nicht einfach zu akzeptieren, aber der Weg zurück zur »Moderne« sei verbaut, denn zu
problematisch seien die zentralen Prämissen der europäischen Aufklärung, welche die Grundlagen
der Moderne gelegt habe.
The notion that reason is divorced from »merely contingent« existence still predominates in contemporary Western thought and now
appears to mask the embeddedness and dependence of the self upon social relations, as well as the partiality and historical specificity of
this self’s existence. (Flax, a.a.O., S. 43)

Die Frage ist natürlich, ob eine derartige Interpretation der Aufklärung im besonderen und der
abendländischen Philosophiegeschichte im allgemeinen nicht höchst einseitig ist, weil damit eine
ganze Reihe von Strömungen ignoriert werden, die genau die von Flax beklagten Einseitigkeiten
vermeiden wollten und auch vermieden. Bekanntlich haben ja nicht alle Philosophien der Moderne
den Ausgangspunkt des radikalen cartesianischen Zweifels akzeptiert, haben nicht alle
Sozialphilosophien der Moderne ihren Ausgangspunkt vom isolierten Subjekt genommen und nicht
alle Erkenntnistheorien der Moderne Anspruch auf die Fähigkeit zur Produktion überzeitlicher
Wahrheiten erhoben. Dieser Einwand gegen die Flaxsche Gedankenführung ist sicherlich eminent
wichtig, aber an dieser Stelle von uns nicht zu behandeln. Entscheidend ist vielmehr, daß die
Grundzüge der Flaxschen Argumentation vielfach geteilt wurden; und keine Autorin hat sie
einflußreicher artikuliert als die amerikanische Philosophin und Rhetorik-Professorin Judith Butler.
Butler (geb. 1956) gelang der internationale Durchbruch 1990 626mit dem Buch Gender Trouble
(dt.: Das Unbehagen der Geschlechter«), mit dem sie aufgrund der Radikalität der dort zu findenden
Thesen zu einer Art Kultfigur des Feminismus wurde. Butler ließ schon zu Beginn dieses Buches
keinen Zweifel daran, wen sie zu ihren Referenzautoren zählt, nämlich die Vernunftkritiker Nietzsche
und Foucault (Das Unbehagen der Geschlechter, S. 9). Damit stellte sie die Weichen für ihre
weitere Argumentation, insofern es ihr wie Foucault in seinem frühen und mittleren Werk darauf
ankam, den Begriff des Subjekts zu »dekonstruieren«. Butler macht dies sofort ganz klar, wenn sie die
Frage nach dem Subjekt des Feminismus stellt und dabei argumentiert, daß es die Kategorie »Frau«
schlicht nicht gebe, weil Geschlechtsidentität immer nur in einem kulturell höchst variablen
politischen Kontext gebildet werde und damit fließend sei (a.a.O., S. 18) – eine Position, die gerade
auch deshalb so plausibel schien, weil die Differenzen zwischen weißen Mittelschichtfrauen aus dem
Westen und Frauen aus anderen Klassen, Ethnien und Weltregionen dazu führten, daß diese nur selten
gleiche Interessen und Probleme hätten. Die Frauenbewegung sei mittlerweile zu differenziert, zu
international, als daß es sinnvoll wäre, noch von »den Frauen« zu sprechen.
Mit der Betonung der Kontextualität der Geschlechtsidentität unterscheidet sich Butler zunächst nur
marginal von ethnomethodologisch argumentierenden Autorinnen wie Kessler/McKenna: Denn auch
sie behauptet, daß »sex«, also das »biologische Geschlecht«, keine vordiskursive, anatomische
Gegebenheit sei, sondern eine »gendered category« (a.a.O., S. 24) und daß letztlich das anatomische
Geschlecht der Geschlechtsidentität keinerlei Grenzen setze (a.a.O., S. 166 f.). Vom herkömmlichen
ethnomethodologischen Feminismus setzt sie sich jedoch durch zwei Thesen ab. Erstens: Sie
behauptet – allerdings ohne allzu große empirische Evidenz –, daß es erst das heterosexuelle
Begehren sei, das in Gesellschaften die Fixierung auf zwei Geschlechter hervorruft:
Die heterosexuelle Fixierung des Begehrens erfordert und instituiert die Produktion von diskreten, asymmetrischen Gegensätzen
zwischen »weiblich« und »männlich«, die als expressive Attribute des biologischen »Männchen« (male) und »Weibchen« (female)
verstanden werden. (Butler, a.a.O., S. 38)
Einleuchtend scheint dies nicht gerade zu sein, weil ja möglicherweise auch Homosexuelle in ihrem
Begehren scharf zwischen zwei 627Geschlechtern differenzieren. Aber letztlich geht es Butler nicht
in erster Linie um eine Rehabilitierung oder Privilegierung der homosexuellen Identität gegenüber der
heterosexuellen, sondern um die Auflösung des Begriffs und der Tatsache einer stabilen (personalen)
Identität überhaupt. Dies unterscheidet sie auch in einem weiteren Punkt vom ethnomethodologischen
Feminismus. Denn sie behauptet zweitens, daß der Identitätsbegriff irreführend und der Subjektbegriff
nicht haltbar sei und damit auch alle Philosophien, die mit einem solchen Subjektbegriff arbeiteten:
Es gibt – so Butler – schlichtweg kein festes Subjekt, weil Subjekte nicht an sich »sind«, sondern
durch Sprache und Sprachspiele konstituiert werden, wie sie dies in einem späteren Werk
ausführlicher darlegt:
Meine These ist (…), daß das Sprechen sich stets in gewissem Sinne unserer Kontrolle entzieht. (…) Diese Ablösung des Sprechakts
vom souveränen Subjekt begründet einen anderen Begriff der Handlungsmacht und letztlich der Verantwortung, der stärker in Rechnung
stellt, daß die Sprache das Subjekt konstituiert und daß sich das, was das Subjekt erschafft, zugleich von etwas anderem herleitet. (…)
Wer handelt (d. h. gerade nicht das souveräne Subjekt), handelt genau in dem Maße, wie er oder sie als Handelnde und damit innerhalb
eines sprachlichen Feldes konstituiert ist, das von Anbeginn an durch Beschränkungen, die zugleich Möglichkeiten eröffnen, eingegrenzt
wird. (Butler, Haß spricht, S. 29)

Hinter der Sprache – so Butler – findet sich kein Subjekt, wir werden im wesentlichen gesprochen.
Mit dieser These, die später allerdings von ihr teilweise zurückgenommen wird (vgl. Butler, Psyche
der Macht, v. a. S. 7-34), radikalisiert Butler nochmals die ethnomethodologische Position. Denn
während dort gezeigt wurde, welche Anstrengungen etwa transsexuelle Personen aufbieten müssen,
um ihre Geschlechtsidentität immer wieder neu zu behaupten, wie sehr »gender identity« ein
schwieriges »accomplishment« und wie zentral die Kategorie »Geschlecht« für die Alltagsinteraktion
ist, scheint sich für Butler die Frage der Geschlechtsidentität in ein relativ unstrukturiertes Spiel mit
letztlich sprachlich konstruierten Identitäten aufzulösen (zur Kritik vgl. Schröter, FeMale, S. 42). Die
Kategorie Frau etwa ist
selbst ein prozessualer Begriff, ein Werden und Konstruieren (…), von dem man nie rechtmäßig sagen kann, daß es gerade beginnt oder
zu Ende geht. Als fortdauernde diskursive Praxis ist dieser Prozeß vielmehr stets offen für 628Eingriffe und neue Bedeutungen. (Butler,
Das Unbehagen der Geschlechter, S. 60)

Daraus leitet sich auch das politische Projekt des Butlerschen Feminismus ab. Zwar gebe es kein
vordiskursives Ich oder Subjekt; dies bedeutet aber laut Butler nicht, daß deswegen keine
Handlungsmöglichkeiten bestünden. Im Gegenteil: Gerade weil der Überschuß sprachlicher
Bedeutungen eine endgültige Fixierung von Identitäten verhindert, könnten immer neue Bedeutungen
generiert werden und sind stets neue Interpretationen der sprachlichen Zeichen möglich. Identität wird
von ihr nur mehr als eine Art variabler Praxis, und zwar als »Bezeichnungspraxis« verstanden
(a.a.O., S. 212).
Paradoxerweise eröffnet das neue Verständnis der Identität als Effekt, also als produziertes oder generiertes Phänomen, Möglichkeiten
der »Handlung«, die durch jene Positionen, die die Identitätskategorien als grundlegend und feststehend auffassen, insgeheim verhindert
werden. Ein Effekt zu sein bedeutet für eine Identität weder, daß sie schicksalhaft determiniert ist, noch, daß sie völlig künstlich und
arbiträr ist. (Butler, a.a.O., S. 215)

Auch wenn hier wiederum höchst unklar ist, durch wen oder was sich eigentlich diese
Bezeichnungspraktiken verändern (der Begriff der »Praxis« erfordert ja wohl ein Subjekt oder
zumindest ein aktivisches Tun), so formuliert Butler doch das politische Ziel des Feminismus relativ
unumwunden: Aufgabe des Feminismus müsse es sein, durch parodistische Strategien die in unserer
Gesellschaft fest etablierte Zweigeschlechtlichkeit zu unterlaufen, die »Geschlechter-Binarität in
Verwirrung« zu bringen. Es kann also nicht Aufgabe des Feminismus und seiner Theoretikerinnen
sein, Bündnisse zu schmieden, weil dies stets in die Gefahr führen würde, die Substanz »Frau«
festzuschreiben und damit die wünschenswerte Vielfalt, Brüchigkeit und Flüssigkeit von Identitäten zu
negieren (a.a.O., S. 34 f.); es darf auch nicht Ziel von Feministinnen sein, staatliche Instanzen auf ihre
Seite zu ziehen, um etwa ein Verbot von Pornographie durchzusetzen: Butlers Mißtrauen gegenüber
dem Staat ist hier viel zu groß! Die einzig mögliche Strategie scheint für sie zu sein, durch
Ironisierung und Parodierung von sprachlichen und nicht-sprachlichen Praktiken die bestehende
Institution der Zweigeschlechtlichkeit zu unterminieren. In bezug auf das von vielen Feministinnen
geforderte, von ihr aber abgelehnte Pornographieverbot formuliert sie das so: »An Stelle einer
staatlich gestützten Zensur geht es um einen 629gesellschaftlichen und kulturellen Sprachkampf, in
dem sich die Handlungsmacht von der Verletzung herleitet und ihr gerade dadurch entgegentritt.«
(Butler, Haß spricht, S. 64) So wie sich der rassistische Diskurs durch Ironisierung unterlaufen läßt,
so ist dies in ähnlicher Weise auch mit sexistischen Äußerungen denkbar, eben weil sich Bedeutungen
– auch rassistische oder sexistische – nicht ein für allemal fixieren lassen. Der Sprachkampf ist für
Butler letztlich das Mittel, um das feministische Projekt zu einem erfolgreichen Ende, d. h. zu einer
vollkommenen Auflösung der Zweigeschlechtlichkeit zu führen, so daß es dann – wie auch Butler
hofft – keine Hierarchisierungen mehr geben wird: Denn ohne feste Identitäten seien auch dauerhafte
Hierarchien kaum denkbar!
Butlers feministisches Projekt hat enorme Breitenwirkung entfaltet, zumal sich aus Butlers Theorie
eine »faszinierende Welt von sozialen Geschlechterentwürfen (…) vor den LeserInnen aus[breitet],
die Träume von Entgrenzung und geheimen Wünschen nährt. Exotische Universen erstehen aus den
Texten, die Ideen fremder Freiheiten beschwören und die Einschränkungen des eigenen Daseins
überwindbar erscheinen lassen.« (Schröter, FeMale, S. 10).
Allerdings hat die Butlersche Position auch scharfe Kritik erfahren, wobei v. a. folgende drei
Argumente vorgebracht wurden. Erstens: Bezweifelt wurde unter anderem die Angemessenheit des
Ausgangspunktes von Butlers Projekt, nämlich ihre starken Anleihen bei Michel Foucault, dessen
Werk ja für den Gesamtduktus ihrer Argumentation eine herausragende Rolle spielt. Es scheint zwar
auf den ersten Blick durchaus vernünftig zu sein, wenn sich Feministinnen auf Foucault berufen, der
wie wenige andere die Wirkungsweisen von Macht durchleuchtet hat. Freilich ist Foucaults
Machtverständnis – eben weil ihm zufolge Macht keinen Ort hat, überall und deshalb auch nirgends zu
lokalisieren ist – gleichzeitig zu diffus, um konkrete Analysen von Machtverhältnissen zu erlauben,
die für den »Befreiungskampf« von konkreten Gruppen von Wert wären: »(…) his account makes
room only for abstract individuals, not women, men, or workers.« (Hartsock, »Foucault on Power: A
Theory for Women?«, S. 169) Dies hängt natürlich auch mit Foucaults Verständnis von Subjektivität
zusammen, hatte Foucault bekanntlich den Tod des (handlungsfähigen) Subjekts erklärt (siehe die
Vierzehnte Vorlesung). Ist es nun sinnvoll – so die kritische Frage an bestimmte Theoretikerinnen des
Feminismus, unter anderem 630auch an Butler –, ausgerechnet jenen Denker zum »Schutzheiligen«
(Knapp, »Macht und Geschlecht«, S. 288) der Bewegung zu erklären, der mit seinem
Machtuniversalismus nicht nur alle Differenzierungen zwischen Macht, Gewalt, legitimer Herrschaft
und Autorität verwischt und damit auf eine begründete normative Kritik bestehender
gesellschaftlicher Verhältnisse verzichtet hat (Fraser, Widerspenstige Praktiken, S. 52 f.), sondern
der auch noch die Handlungsfähigkeit von Subjekten, also eine zentrale Voraussetzung einer jeden
sozialen Bewegung, wie natürlich auch der Frauenbewegung, in Frage stellt? Seyla Benhabib hat
deshalb bestritten, daß radikale Foucaultsche oder postmoderne Ansätze tatsächlich mit dem
feministischen Anliegen in Einklang zu bringen sind, gerade weil postmoderne Theoretikerinnen und
Theoretiker das normative Anliegen der Frauenbewegung unterlaufen. Ohne die Möglichkeit zur
normativen Kritik und ohne Rückgriff auf ein handlungsfähiges Subjekt würde sich das feministische
Theorieprojekt selbst zerstören (Benhabib, Selbst im Kontext, S. 231 ff.). Genau darauf zielt auch die
Kritik an Butlers Foucaultschen, Nietzscheanischen und postmodernistischen Prämissen: Eben weil
sie, in dieser Theorietradition stehend, ein autonomes handlungsfähiges Subjekt verabschiedet,
verstricke sie sich in theoretische Probleme, die auch ihr politisches Projekt – die Hoffnung auf einen
Sprachkampf mit den Mitteln der Parodie und der Ironie – zu einem höchst fragwürdigen werden
lassen. Denn wie schon oben kurz angeschnitten: Die Frage, wer zur Parodie, zur Ironie fähig ist,
wird von ihr nicht beantwortet und kann von ihr auch gar nicht beantwortet werden aufgrund ihrer
Weigerung, von handlungsfähigen Subjekten zu reden. Zwar hat Butler in ihren jüngeren Werken
versucht, diesem Einwand durch eine stärkere Auseinandersetzung mit dem Subjekt-Begriff
entgegenzuarbeiten (vgl. Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung): Sie spricht dort
immerhin auch von Subjekten. Aber ihre subjekttheoretischen Ausführungen, die sie offensichtlich nur
aus dem Spätwerk Foucaults (vgl. unsere Vierzehnte Vorlesung) abzuleiten vermag, sind im Vergleich
mit der reichhaltigen psychologischen und soziologischen Literatur zur Identitätsbildung derart dünn
und formalistisch, daß wichtige Fragen in ihrem Theorieansatz auch weiterhin ungeklärt bleiben:
Was ermöglicht es dem Selbst, die kulturabhängigen Geschlechter-Codes »abzuwandeln«? Widerstand gegen hegemoniale Diskurse zu
leisten? Wel631che psychischen, geistigen oder sonstigen Schöpfungs- und Widerstandpotentiale müssen wir den Subjekten zuschreiben,
die solche Abwandlungen ja erst ermöglichen? (Benhabib, Selbst im Kontext, S. 241)

Damit hängt zweitens auch die Kritik an der Diffusität des Butlerschen politischen Projekts
zusammen. Ihr Bestreben – so der Vorwurf – sei es offensichtlich nur, immer wieder Diskurse zu
untersuchen, ohne je die Rückbindung dieser Diskurse an objektivierte und institutionelle
Machtverhältnisse mit einzubeziehen (Knapp, »Macht und Geschlecht«, S. 305). Eben weil
institutionalisierte Machtstrukturen ausgeblendet würden, könne Butler unumwunden ihre Hoffnungen
auf den Sprachkampf richten, der mit den Mitteln der Ironie und Parodie zu führen sei. Es stelle sich
aber doch die Frage, ob Sprache tatsächlich alles sei. Martha Nussbaum, eine der schärfsten
Kritikerinnen Butlers, hat dies folgendermaßen ausgedrückt:
Bei Butler wird Widerstand immer als persönlicher Akt gedacht, als mehr oder weniger private Angelegenheit, die das nicht-ironische,
organisierte öffentliche Handeln für rechtlichen oder institutionellen Wandel ausschließt.
Ist das nicht so, als würde man einer Sklavin erklären, daß die Institution der Sklaverei unerschütterlich ist, daß es aber Wege gibt, sie zu
verhöhnen und zu unterlaufen, und daß sie ihre persönliche Freiheit in diesen Akten sorgsam begrenzter Auflehnung finden kann. Es lässt
sich doch nicht leugnen, daß die Institution der Sklaverei verändert werden kann und verändert worden ist – sicherlich nicht von Leuten,
die einen Butlerschen Blick hatten. Sie wurde von Menschen verändert, denen parodistische Performanzen nicht genügten, die für soziale
Umwälzungen kämpften und darin zum Teil auch erfolgreich waren. Weiterhin ist nicht zu leugnen, daß die institutionellen Strukturen, die
die Lebensbedingungen von Frauen prägen, sich gewandelt haben. (Nussbaum, »Judith Butlers modischer Defätismus«, S. 463/464)

Die Kritik ist also, daß Butlers ganzes Theoriegebäude nicht nur blind ist gegenüber den politischen
Handlungsmöglichkeiten der Frauenbewegung, sondern auch die vergangenen Erfolge des Feminismus
nicht erklären kann.
Drittens schließlich – und auch dies hängt recht eng mit den beiden schon genannten Kritikpunkten
zusammen – wurde gegenüber Butler auch der Vorwurf des linguistischen oder sprachlichen
Idealismus laut (vgl. Becker-Schmidt/Knapp, Feministische Theorien zur Einführung, S. 89),
insofern ihr radikaler Konstruktivismus ausschließe, daß überhaupt irgend etwas außerhalb der
Sprache exi632stiere: So wie die ethnomethodologisch argumentierenden Autorinnen hatte ja auch
Butler behauptet, daß »sex« eine »gendered category« sei und daß es deshalb keine feste Basis für
eine biologische Unterscheidung zwischen Mann und Frau gebe. Diese Dichotomie sei lediglich
Produkt des heterosexuellen Begehrens und damit prinzipiell änderbar. Geschlecht und
Geschlechtsidentität hätten lediglich einen sprachlich konstruierten Charakter und seien deshalb auch
sprachlich – mittels Ironie und Parodie – stets wieder zu unterlaufen.
Nicht nur in kritischer Wendung gegen Butler, sondern beispielsweise auch gegen
Kessler/McKenna läßt sich aber fragen, ob dem wirklich so ist. Sind tatsächlich alle Phänomene
sprachlich oder sozial konstruiert und konstruierbar? Hilge Landweer (geb. 1956) etwa hat sich
gegen einen derartig radikalen Konstruktivismus gewandt, eine Kritik, die übrigens auch von Martha
Nussbaum, wenn auch mit anderen Argumenten, geteilt wird. Landweers Behauptung ist, daß jede
Kultur Kategorisierungen bezüglich des Geschlechts von Menschen vornimmt. Soweit stimmt sie mit
ethnomethodologischen Feministinnen und auch mit Butler überein. Allerdings – und hier beginnt sie
sich von diesen Positionen zu unterscheiden – geschieht die Ausbildung der Geschlechtscharaktere
ihrer Meinung nach in engem Zusammenhang mit der generativen Zweigliedrigkeit von Menschen.
Sie behauptet damit, daß die Fähigkeit zum Gebären für jede Kultur von zentraler Bedeutung und auch
Ausgangspunkt für die Definition von »Frausein« sei. »Daraus folgt zwar keine naturale
Determination von Geschlechtscharakteren, wohl aber die Unhintergehbarkeit der Anknüpfung an die
generative Zweigliederung auch für die Strukturierung der kulturell variablen Geschlechterbegriffe.«
(Landweer, »Generativität und Geschlecht«, S. 151) Landweers These ist also, daß nicht alles
beliebig konstruierbar sei, sondern daß es in Gesellschaften bestimmte Erfahrungen wie Tod oder
Geburt gebe, die zu »Aufhängern« für bestimmte soziale Konstruktionen werden. Diese Erfahrungen
können nicht einfach hintergangen oder aufgelöst werden. Landweer hält somit die Butlersche
Annahme, daß »erst der Diskurs die Geschlechterdifferenz schaffe«, für genauso naiv und falsch wie
die essentialistische Auffassung, wonach es angeblich »eindeutig identifizierbare natürliche
Geschlechtsunterschiede gebe« (a.a.O., S. 156). Butler parallelisiert – Landweer zufolge – in
unzulässiger Weise sprachliche Zei633chen, die – wie wir von de Saussure wissen – arbiträr und
willkürlich sind, mit körperlichen Zeichen oder Merkmalen. Aber Geschlechtszeichen seien nun mal
nicht völlig arbiträr, weil es so etwas wie eine leiblich-affektive Betroffenheit gibt – die Fähigkeit
zum Gebären etwa –, mit der kulturelle Phantasien und sprachliche Ausdrücke zu »rechnen« haben:
Es ist eben nicht so, daß quasi geschlechtslose Agenten in eine Situation eintreten, in der erst das jeweilige Spiel der Zeichen
Positionierungen anhand von Gleich- und Verschiedengeschlechtlichkeit hervorbringt. (…) Leibliche Affektivität kann dargestellt,
präsentiert, demonstriert werden und ist insofern symbolisch. Selbstverständlich kann man die Entstehung von Gefühlen und deren
Ausdruck auf soziale Situationen zurückführen. Leiblich-affektive Betroffenheit ist aber dennoch ein Phänomen sui generis, das als
Voraussetzung für Symbolisierungsprozesse eingeht in die »Herstellung« von Sozialität. (Landweer, a.a.O., S. 162)

Butler – so die Kritik – ignoriere beharrlich diese Einsicht. Sie schließe aus der richtigen Annahme,
wonach jede Rede von »Natur«, »Materie« oder »Körper« ein sprachlicher Vorgang ist, also
derartige Begriffe eine symbolische Repräsentation darstellen, daß es außerhalb des sprachlichen
Systems nichts gebe: Wenn man aber von der sprachlichen oder diskursiven Konstruktion der Welt
redet, so ist das nur dann sinnvoll, wenn man zumindest eine Realität jenseits der Sprache unterstellt
(a.a.O., S. 164). Dies ist auch für feministische Projekte und Theorien eine Einsicht von großer
Bedeutung, für Theorien, in denen doch der weibliche Körper immer von eminenter Bedeutung war
und ist. Martha Nussbaum hat dies gegen Butler so formuliert:
Und dennoch ist es viel zu simpel zu sagen, der Körper sei nichts anderes als ein Produkt der Machtverhältnisse. Wir hätten die Körper
von Vögeln oder Löwen oder Dinosauriern haben können, aber wir haben sie nicht, und diese Realität prägt unsere Optionen. Die Kultur
kann einige, jedoch nicht sämtliche Aspekte unserer physischen Existenz formen und umformen. Wenn ein Mensch an Hunger und Durst
leidet, so beobachtete Sextus Empiricus vor langer Zeit, dann ist es nicht möglich, ihn auf argumentativem Wege vom Gegenteil zu
überzeugen. Das ist auch für den Feminismus ein wichtiges Faktum, da die Nahrungsbedürfnisse von Frauen (insbesondere wenn sie
schwanger sind oder stillen) einen wesentlichen feministischen Themenkomplex darstellen. Auch in Hinsicht auf die physischen
Geschlechtsunterschiede ist es sicherlich zu einfach, sie zur Gänze als kultu634rell erzeugt abzutun (…). (Nussbaum, »Judith Butlers
modischer Defätismus«, S. 460)

Kritisch hinterfragt wird hier also, ob sich die feministische Theorie einen Gefallen tut, wenn sie
derart radikal wie Butler einen postmodernistischen und linguistischen Pfad einschlägt.

3.3 Diese Kritik wird von der letzten hier vorzustellenden feministischen Theorierichtung geteilt, von
Autorinnen, die nicht bereit sind, in postmodernistischer Manier das Erbe der Aufklärung zu
verwerfen, die zudem die makrostrukturellen Defizite der ethnomethodologischen und Butlerschen
Arbeiten sehen und denen schließlich die politische Naivität dieser Ansätze ein Dorn im Auge ist.
Wie Regina Becker-Schmidt (geb. 1937) und Gudrun-Axeli Knapp (geb. 1944) dargelegt haben
(Feministische Theorien zur Einführung, S. 146 f.), sind aufgrund der intensiven
grundlagentheoretischen Diskussion des »sex/gender«-Verhältnisses in der internationalen
feministischen Debatte kaum mehr ernsthafte Versuche unternommen worden, die philosophischen und
mikrosoziologischen Arbeiten mit meso- und makrostrukturellen Analysen zu verknüpfen, wodurch
das Erklärungspotential feministischer Theorie entscheidend geschwächt werde. Denn sowohl
gegenüber dem ethnomethodologisch orientierten Feminismus wie gegenüber Butler ist zu Recht
eingewandt worden, daß dort unklar sei, in welcher Form »doing« bzw. »undoing gender« von
übergeordneten institutionellen Kontexten abhängig sei und wie sich Sprache zu diesen Kontexten
verhalte. Insofern kann es nicht überraschen, wenn Feministinnen versuchen, an »traditionelleren«
soziologischen Theorierahmen festzuhalten, diese jedoch im Sinne des feministischen Projekts
umzuformulieren. So haben etwa die Arbeiten von Jürgen Habermas eine besondere Aufmerksamkeit
erfahren, weil man in ihnen nicht nur ein konkretes kritisches Moment aufgehoben glaubt, das
postmodernen Theoretikerinnen und Ethnomethodologen gänzlich zu fehlen scheint, sondern weil auch
bestimmte Konzepte der Habermasschen Theorie wie z. B. dasjenige der Öffentlichkeit geeignet
scheinen, politisches Handeln im gesamtgesellschaftlichen Kontext zu analysieren. In diesem
Zusammenhang sind im wesentlichen zwei Theoretikerinnen zu nennen, nämlich Seyla Benhabib, eine
1950 in Istanbul geborene und an der Yale University lehrende Philosophin 635und
Politikwissenschaftlerin, die schon des öfteren in dieser Vorlesung zitiert wurde, und die ebenfalls
bereits genannte Nancy Fraser (geb. 1947), mit der wir uns zum Abschluß dieser Vorlesung kurz
beschäftigen wollen.
Fraser, auch Philosophin und Politikwissenschaftlerin und ebenfalls wie Benhabib in den USA
lehrend, steht dem Habermasschen Theorieprojekt in vielerlei Hinsicht durchaus positiv gegenüber,
weil der Habermassche Theorierahmen, wie er etwa in der Theorie des kommunikativen Handelns
entwickelt worden ist (vgl. unsere Zehnte Vorlesung), sowohl eine makrosoziologische
Forschungsperspektive wie eine normativ gehaltvolle Argumentation erlaubt. Dennoch – so Fraser –
sind gerade aus feministischer Sicht die Schwächen des Habermasschen Werkes nicht zu übersehen.
Dies fange schon damit an, daß die Habermassche Unterscheidung zwischen System und Lebenswelt,
zwischen sozial und systemisch integrierten Handlungsbereichen, in dieser Rigidität nicht einleuchte.
Auch wir hatten ja in unserer zweiten Habermas-Vorlesung auf die dort zu findende
grundlagentheoretische Problematik aufmerksam gemacht. Frasers feministische Stoßrichtung ist
jedoch eine etwas andere: Sie kritisiert vor allem, daß Habermas Macht und die Analyse von Macht
in erster Linie auf bürokratische Zusammenhänge, auf den Bereich des politischen Systems also,
beschränkt habe und damit schon grundbegrifflich kaum mehr offen sei für die Tatsache, daß auch
Familien von (patriarchaler) Macht durchdrungen sind und unter anderem auch ökonomische
Aufgaben zu erledigen haben. »Habermas würde besser daran tun, verschiedene Arten der Macht zu
unterscheiden, zum Beispiel häuslich-patriarchale Macht einerseits und bürokratisch-patriarchale
Macht andererseits – von verschiedenen anderen Arten und Kombinationen dazwischen ganz zu
schweigen, die unerwähnt bleiben.« (Fraser, Widerspenstige Praktiken, S. 184/185) Letztlich
reproduziere Habermas – so die These Frasers – die altbekannte Trennung zwischen der häuslichen
oder privaten Sphäre einerseits, in der das Aufziehen von Kindern zur Domäne der Frauen erklärt
wird, und der männlichen Sphäre der (politischen) Öffentlichkeit andererseits nur in einer neuen
Lesart, wodurch er aber gerade nicht zum Thema machen kann, daß diese Trennung schon auf einem
ungleichen Verhältnis zwischen den Geschlechtern beruht (a.a.O., S. 186).
Dennoch gesteht Fraser der Habermasschen Theorie ein »genuin 636kritisches Potential« zu
(a.a.O., S. 187). Es könne aber nur dann vollends ausgeschöpft werden, wenn das von ihr so genannte
»Gesellschaftliche« anders als bei Habermas verstanden werde. Diese Sphäre des Gesellschaftlichen
– so Fraser – könne nicht mehr mit der »traditionellen, öffentlichen Sphäre des politischen Diskurses,
wie sie von Jürgen Habermas definiert wird« (a.a.O., S. 241), gleichgesetzt werden. Das
»Gesellschaftliche« sei vielmehr der Ort des Diskurses über alle problematischen Bedürfnisse,
wobei dieser prinzipiell offene Handlungsraum die Familie, die Ökonomie oder den Staat
durchschneide, also mit diesen Bereichen nicht identisch sei. Auch die »privaten« Bedürfnisse sind
laut Fraser der gesellschaftlichen Debatte nicht entzogen. Und so ist es nur folgerichtig, daß Fraser im
Unterschied zu Habermas mindestens zwei Haupttypen von Institutionen ausmacht, welche Diskurse
tendenziell entpolitisieren, den Markt und die Familie. Habermas – so legt Fraser nahe – konnte mit
seinem Kategorienrahmen immer nur die entpolitisierende Wirkung des Marktes analysieren, nicht
jedoch die Tatsache, daß die herkömmliche Familie ebenfalls einen solchen Effekt ausübt, insofern
gerade durch sie die Bedürfnisse von Frauen unterdrückt würden. Insofern habe Habermas auch nicht
gesehen, daß der Bereich der Öffentlichkeit – das, was Fraser eben als das »Gesellschaftliche«
bezeichnet – eigentlich wesentlich weiter oder umfassender definiert werden müßte. Habermas
unterstelle nämlich implizit, daß die Bedeutung des Politischen, also des in der Öffentlichkeit zu
Verhandelnden, immer schon feststehe (bzw. in der Vergangenheit festgestanden habe und dann durch
ideologische Mechanismen verdrängt worden sei). Er könne dann auch die neuen sozialen
Bewegungen – mithin auch die Frauenbewegung – nur dadurch erklären, daß er auf das Eindringen
systemischer Imperative in die Lebenswelten verweist. Aber diese Kausalannahme sei schlicht
falsch, zumindest im Falle des Feminismus (a.a.O., S. 205). Denn die Frauenbewegung entstand nicht
aus einer Situation der Verteidigung der Lebenswelt gegen die Systeme, sondern deshalb, weil Frauen
Rechte einforderten und die vormals privatisierten Verhältnisse in der patriarchalen Familie zu einem
Politikum machten. Habermas ignoriere in bezug auf die Frauenfrage also, daß nicht nur die rechtliche
Gleichstellung von Mann und Frau, sondern auch die Frage nach der Verantwortung für die
Kinderaufzucht, der Bezahlung oder Entlohnung von Hausarbeit etc. eine eminent politische
637Angelegenheit sei. Das »Gesellschaftliche« ist laut Fraser somit auch ein Ort des Kampfes um die
Bedeutung des Politischen, des Kampfes um neue Rechte, nicht nur eine Auseinandersetzung über
bestehende politische Optionen oder Rechtsinterpretationen.
Um es kurz zu machen, ich reihe mich bei denen ein, die es vorziehen, berechtigte Bedürfnisansprüche in soziale Rechte zu überführen.
Wie viele radikale Kritikerinnen der bestehenden Programme sehe ich mich zur Opposition gegen die Formen des Paternalismus
verpflichtet, die entstehen, wenn Bedürfnisansprüche von Rechtsansprüchen getrennt werden. Und anders als kommunitaristische,
sozialistische und feministische Kritikerinnen glaube ich nicht, daß die auf Rechte bezogene Rede inhärent individualistisch, bürgerlich-
liberal und androzentrisch ist – die Rede nimmt diese Eigenschaften nur an, wenn Gesellschaften die falschen Rechte etablieren. (Fraser,
a.a.O., S. 283)

Frasers sozialistisch geprägter Feminismus, der viele Anleihen bei der Habermasschen Theorie
macht, ist erkennbar anders strukturiert als derjenige, der von ethnomethodologisch argumentierenden
Autorinnen oder von Butler vertreten wird. Deutlich zum Ausdruck kommt hier sowohl die
aufklärerische Perspektive wie auch die normativ-politische Programmatik, die auf die Einforderung
von sozialen Rechten für Frauen und auf den Kampf von Frauen für diese Rechte setzt. Bei Fraser ist
nicht von einem diffusen Spiel der Macht und ihrer Allgegenwart die Rede, von dann nur noch
möglicher Ironie und Parodie, sondern von konkreten Machtstrukturen, welche die Artikulation von
(weiblichen) Bedürfnissen verhindern und gegen die es anzukämpfen gilt. Damit wird auch wieder
deutlich, daß die Impulse des Feminismus ohne die gründliche Auseinandersetzung mit allgemeinen
Ansätzen der modernen Sozialtheorie nicht fruchtbar werden können.

Zum Schluß wollen wir Ihnen noch einige Buchempfehlungen geben: Einen knappen und gut
verständlichen Überblick über feministische Theoriedebatten bietet der Band von Regina Becker-
Schmidt und Gudrun-Axeli Knapp, Feministische Theorien zur Einführung, der 2001 in der zweiten
Auflage erschienen ist, das 1. Kapitel von Susanne Schröters Buch FeMale. Über Grenzverläufe
zwischen den Geschlechtern von 2002, das aus einer eher anthropologischen Perspektive die
neuralgischen Punkte der Diskussion um das Verhält638nis von »sex« und »gender« untersucht, und
Herta Nagl-Docekals grundlagentheoretische Arbeit Feministische Philosophie. Ergebnisse,
Probleme, Perspektiven (2000).
639Achtzehnte Vorlesung
Modernitätskrise? Neue Diagnosen
(Ulrich Beck, Zygmunt Bauman,
Robert Bellah und die Debatte zwischen
Liberalen und Kommunitaristen)

Seit den 1980er Jahren ließ sich in den Sozialwissenschaften international eine deutliche
Intensivierung des Diskurses über die Moderne beobachten. Diese Debatten wurden zum Teil durch
die Kritik postmoderner Theoretiker angestoßen. In einem bestimmten Sinn war es die Diagnose von
der »Postmoderne«, die zur Reflexion auf die »Moderne« führte. Die Behauptung der Postmoderne-
Theoretiker, das Rationalitätsverständnis der Moderne sei unvermeidlich mit Machtaspekten
verknüpft und könne deshalb keineswegs Anspruch auf Universalität erheben, mußte Widerspruch
auslösen. Wie wir am Ende der Zehnten Vorlesung gesehen haben, wehrten sich Autoren wie Jürgen
Habermas (Der philosophische Diskurs der Moderne) gegen eine solche Unterstellung, weshalb sich
genau an dieser Stelle eine weitverzweigte philosophische Auseinandersetzung über die Grundlagen
der Moderne entzündete. Aber der Diskurs über die Moderne wurde nicht allein mit philosophischen
Argumenten geführt. Vielmehr wurden gleichzeitig auch genuin sozialwissenschaftliche Fragen
aufgeworfen, insofern in modernen Gesellschaften neue Probleme auftauchten oder (alte) Probleme
stärker als je zuvor bewußt wurden. Die Soziologie jedenfalls meldete sich mit einer Reihe von
spektakulären Zeitdiagnosen zu Wort, die nicht nur fachintern diskutiert wurden, sondern ein breites
Publikum ansprachen und bewiesen, daß die Soziologie trotz allen Geredes von der Krise dieser
Disziplin doch noch immer höchst Interessantes zur Analyse von Gegenwartsgesellschaften beitragen
kann. Wir werden uns in dieser Vorlesung im wesentlichen mit drei Autoren beschäftigen, die in den
achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts kraftvolle Zeitdiagnosen vorgelegt haben, die bis heute
nachwirken.

1. Als Ulrich Beck (geb. 1944) im Jahre 1986 sein Buch Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine
andere Moderne vorlegte, war nicht absehbar, daß hier ein sensationeller Bucherfolg entstehen
sollte. Beck war 640damals ein renommierter, aber keineswegs über die Fachgrenzen hinaus
bekannter Soziologieprofessor aus Bamberg, der bis dato verschiedene Arbeiten zur
Wissenschaftstheorie und Berufssoziologie veröffentlicht hatte, die zwar innerhalb der Disziplin
wohlwollend aufgenommen worden waren, aber darüber hinaus keine weitere Aufmerksamkeit auf
sich gezogen hatten. 1986 gelang es ihm aber, verschiedenste empirische Befunde über
Entwicklungstendenzen moderner Industriegesellschaften zu synthetisieren und zu einer Zeitdiagnose
zu verdichten, die aufgrund eines historischen Ereignisses dann auch ihre besondere Plausibilität
erhielt: Der Atomreaktorunfall in Tschernobyl ebenfalls im Jahre 1986 mit seinen Tausenden von
Opfern und der Verstrahlung von riesigen Gebieten schien Becks in diesem Buch entwickelte These,
wonach wir heute nicht mehr in einer Klassengesellschaft, sondern in einer »Risikogesellschaft«
leben, geradezu zu beweisen. Mit der Verwendung einer Sprache, die den zumeist abstrakt-
soziologischen Jargon vieler seiner Kollegen vermied und zudem die Betroffenheit und das
Engagement des Autors nicht verdeckte, konnte Beck eine enorm große Leserschaft erreichen.
Titel und vor allem Untertitel des Buches (»Der Weg in eine andere Moderne«) verweisen schon
auf ein immer wiederkehrendes Argumentationsmuster Becks, nämlich die Behauptung des Epochen-
oder Kontinuitätsbruchs, selbst wenn Beck diese starke These häufig wieder abzuschwächen oder zu
relativieren versucht: Vormals bestehende Strukturen seien heute so nicht mehr zu beobachten,
vormals zentrale soziale und politische Prozesse hätten nun ihre Bedeutung verloren und neuen
Dynamiken Platz gemacht. Eine derartige rhetorische Figur, der wir ja beispielsweise auch schon im
Werk von Jean-François Lyotard mit der dort zu findenden Behauptung eines Endes der Legitimität
der »Meta-Erzählungen« begegnet sind, muß natürlich gut begründet werden. Beck tut dies im
wesentlichen mit Verweis auf drei neuartige gesamtgesellschaftliche Tendenzen, die er auch
entsprechend in den drei Hauptteilen seines Buches abhandelt. a) Die heutige Gesellschaft sei eine
»Risikogesellschaft«, in der angesichts industriell produzierter Großrisiken die Konflikte und
Strukturen der alten Klassengesellschaft ihre Bedeutung verloren hätten; b) sie sei zudem eine
Gesellschaft, in der durch einen massiven Individualisierungsschub frühere ständisch geprägte
Sozialmilieus verschwunden seien; und sie sei c) eine Gesellschaft, in 641der im Zeichen der
sogenannten »reflexiven Modernisierung« das ehemals gültige Verhältnis von Politik und
Wissenschaft drastisch verändert werde. Mit diesen drei zeitdiagnostischen Beobachtungen werden
wir uns nun näher beschäftigen.
a) Zunächst zur These von der »Risikogesellschaft«, zu dem Teil von Becks Argumentation, der –
bedingt durch Tschernobyl – vielleicht die größte Aufmerksamkeit erfahren hat. Becks starke
Behauptung ist hier, daß die Klassengesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit den dort zu
beobachtenden Tendenzen und Trends heute nicht mehr existiert, zumindest nicht mehr in der Weise,
daß Beschreibungen und Analysen der für Klassengesellschaften so typischen Konflikte und Prozesse
uns heute noch Wesentliches über Gegenwartsgesellschaften mitteilen könnten. Seine Diagnose lautet,
daß wir nun in einer »Risikogesellschaft« leben, in der alte (Klassen-)Konflikte angesichts massiver
Risiken von neuen Konfliktfronten überlagert werden. Die neuen Risiken, die in allen
Industriegesellschaften produziert werden, betreffen nicht nur eine bestimmte Klasse oder Schicht,
sondern tendenziell alle Menschen. Ein individueller Schutz vor derartigen Risiken und
Gefährdungen sei unmöglich geworden; nur ein klassen- und sogar nationenübergreifendes Handeln
sei geeignet, ihnen zu begegnen. Denn Tschernobyl hat Parteifunktionäre ebenso verstrahlt wie
Kolchosbauern, die Strahlenbelastung war nicht auf die Ukraine beschränkt, sondern sie war auch
mehr als tausend Kilometer entfernt in West- und Nordeuropa festzustellen; Chemieunfälle bedrohen
nicht nur die Arbeiter in der jeweiligen Produktionsanlage, sondern auch die Anwohner in einem
relativ weiten Umkreis, wobei die chemischen Substanzen keinen Unterschied zwischen arm und
reich machen; und einer verschmutzten Luft kann niemand dauerhaft entkommen, denn sie wird
irgendwann auch einmal die Luftkurorte der Wohlhabenden erreichen.
Risiken und industrielle Gefährdungen durchschneiden also Beck zufolge das Klassengefüge; die
Betroffenheit bzw. Nicht-Betroffenheit von Risiken polarisiert eine Gesellschaft bei weitem nicht so
stark, wie das der Besitz bzw. Nicht-Besitz von Gütern und Produktionsmitteln in der Vergangenheit
getan hat. Deshalb lautet Becks These, daß das bisherige sozialwissenschaftliche Instrumentarium zur
Analyse von Klassengesellschaften mittlerweile hinfällig geworden sei.
642Auf eine Formel gebracht: Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch. Mit der Ausdehnung von Modernisierungsrisiken – mit der
Gefährdung der Natur, der Gesundheit, der Ernährung etc. – relativieren sich die sozialen Unterschiede und Grenzen. Daraus werden
immer noch sehr verschiedene Konsequenzen gezogen. Objektiv entfalten jedoch Risiken innerhalb ihrer Reichweite und unter den von
ihnen Betroffenen eine egalisierende Wirkung. Darin liegt gerade ihre neuartige politische Kraft. In diesem Sinne sind
Risikogesellschaften gerade keine Klassengesellschaften; ihre Gefährdungslagen lassen sich nicht als Klassenlagen begreifen, ihre
Konflikte nicht als Klassenkonflikte. (Beck, Risikogesellschaft, S. 48)

Wie sieht nun diese »neuartige politische Kraft« aus, die aus industriellen Großrisiken folgen soll?
Beck macht zur Beantwortung dieser Frage auf die Besonderheit von derartigen industriell
produzierten Risiken aufmerksam. Während es in der frühkapitalistischen Gesellschaft des 18. und
19. Jahrhunderts relativ einfach war, sich der Probleme dieser Gesellschaftsform bewußt zu werden,
weil das Elend sichtbar, Armut wahrnehmbar und Ausbeutung erkennbar war, ist dies im Falle von
industriellen Risiken durchaus nicht der Fall. Die heutigen Gefahren sind nicht wirklich faßbar: wir
spüren atomare Strahlung nicht, wir wissen als Verbraucher in der Regel nichts über die chemische
Belastung der verzehrten Lebensmittel, und wir kennen als Laien nicht die Nebenfolgen des Anbaus
genveränderter Pflanzen. Beck macht darauf aufmerksam, daß wir die heutigen Gefährdungen zumeist
nur mit Hilfe wissenschaftlichen Wissens überhaupt wahrnehmen können. Wir selber sind dazu gar
nicht mehr in der Lage, was aber auch bedeutet, daß wir entweder auf Gedeih und Verderb den
Aussagen von Wissenschaftlern vertrauen oder selbst zu wissenschaftlich gebildeten Laien werden
müssen, wenn wir das Definitionsmonopol der bislang tonangebenden Wissenschaftler brechen
wollen. Denn nur durch eigene wissenschaftliche Expertise läßt sich die Behauptung, daß bestimmte
chemische Stoffe ungefährlich, bestimmte Grenzwerte für Schadstoffbelastungen vernünftig und
bestimmte Strahlendosen »nach menschlichem Ermessen« unbedenklich seien, überhaupt bestreiten.
Die wissenschaftliche Wahrnehmung von Risiken basiert dabei immer auf hochkomplexen kausalen
Interpretationen; bei Risikoanalysen spielen immer Definitionsprozesse eine große Rolle. Dies
bedeutet aber auch, daß die von der tonangebenden Wissenschaft vorgelegten Definitionen häufig
umstritten sind, was sich schon 643allein daran zeigt, daß sich wissenschaftliche Gutachten häufig
widersprechen. Der Laie ist dann ob dieses Expertenstreits ziemlich ratlos. Beck faßt diese
Beobachtung in der plakativen Formel zusammen, daß in der Risikogesellschaft das Bewußtsein – das
Wissen – das Sein bestimmt (a.a.O., S. 70): denn wir sind im Gegensatz zur Klassengesellschaft eben
nicht mehr unmittelbar von Gefahren betroffen, sondern wir können paradoxerweise über diese
Gefahren nur mittels fremden wissenschaftlichen Wissens aufgeklärt werden. Beck suggeriert, daß
sich dadurch ein Alltagsbewußtsein der Menschen herauszukristallisieren beginnt, das in dieser Form
noch nie gegeben war:
Um Risiken überhaupt als Risiken wahrzunehmen und zum Bezugspunkt des eigenen Denkens und Handelns zu machen, müssen
prinzipiell unsichtbare Kausalitätsbeziehungen zwischen sachlich, zeitlich und räumlich meist weit auseinanderliegenden Bedingungen
sowie mehr oder weniger spekulative Projektionen geglaubt, geradezu gegen immer mögliche Gegeneinwände immunisiert werden. Das
aber heißt: Das Unsichtbare, mehr noch: das, was sich der Wahrnehmung prinzipiell entzieht, das nur theoretisch Verknüpfte, Kalkulierte
wird im zivilisatorischen Krisenbewußtsein unproblematischer Bestand des persönlichen Denkens und Wahrnehmens, Erlebens. Die
»Erfahrungslogik« des Alltagsdenkens wird gleichsam umgedreht. Man steigt nicht mehr nur von Eigenerfahrungen zu Allgemeinurteilen
auf, sondern eigenerfahrungsloses Allgemeinwissen wird zum bestimmenden Zentrum der Eigenerfahrung. (A.a.O., S. 96)

Die von Risiken oder Gefährdungen Betroffenen sind Beck zufolge bezüglich ihrer Betroffenheit
unzuständig, eben weil man auf naturwissenschaftliche Analysen angewiesen ist. Die
Naturwissenschaften werden dadurch einem massiven Politisierungsprozeß unterworfen. Sie stellen
ja nicht mehr nur Tatsachen fest, sondern sie entscheiden beispielsweise durch die Festlegung von
Grenzwerten über Betroffenheiten. Dies aber hat laut Beck höchst brisante Konsequenzen. Denn die
Öffentlichkeit verlangt angesichts der Massivität drohender Gefahren bei der Festsetzung von
Grenzwerten einerseits absolute Irrtumslosigkeit, sie stellt aber andererseits immer wieder Irrtümer
von Wissenschaftlern fest, was zwangsläufig das Mißtrauen gegenüber der Rationalität dieser
Naturwissenschaften erhöht. Zunehmend deutlich wird: Die Naturwissenschaften suggerieren
Kontrolle und Vorhersage, sind aber genau dazu letztlich nicht in der Lage, weil die von ihnen
produzierten Nebenfolgen nicht beherrsch644bar und die Kausalketten zu umfangreich und komplex
sind, um eindeutige Aussagen zu machen: Wer kann schon sagen, ob ein bestimmter Stoff tatsächlich
Krebs auslöst, wenn wir im Alltag gleichzeitig mit zahllosen anderen Stoffen in Kontakt kommen,
über deren Effekte die Wissenschaft noch nichts weiß, geschweige denn daß sie deren
Wechselwirkung mit anderen Stoffen einschätzen könnte? Aber nicht nur der naturwissenschaftliche
Nimbus der Fähigkeit zur Kontrolle und Vorhersage beginnt massiv untergraben zu werden; auch
juristisch-moralische Konzepte wie »Verantwortlichkeit« erweisen sich in der Risikogesellschaft als
problematisch, weil man in der großtechnischen, arbeitsteiligen Produktion, die sehr stark mit
staatlichen Verwaltungen verflochten ist, kaum mehr den Schuldigen ausmachen kann, falls eine
Katastrophe tatsächlich eintritt.
Beck ist nun der Auffassung, daß diese vor allem aus der grünen Bewegung heraus artikulierte
Kritik an den Naturwissenschaften nicht unberechtigt ist, im Gegenteil: Die zum Vorschein
kommenden Probleme verweisen vielmehr auf ein viel tiefer liegendes Dilemma. Denn die
angewandten Wissenschaften und hier vor allem die Naturwissenschaften waren und sind noch immer
eng mit der Idee der Produktivitätssteigerung verbunden: Es wird in erster Linie geforscht, um
bessere Produkte herzustellen, rationellere Arbeitsvorgänge zu ermöglichen etc. Damit sind die
Naturwissenschaften in die Logik der Reichtumsverteilung einbezogen, und zwar derart, daß die
durch diese Reichtumsverteilung und -produktion auch entstehenden Risiken und Nebenfolgen immer
erst nachträglich in den Blick geraten. Es liegt Beck zufolge im Bereich der Wissenschaften eine
»ökonomische Einäugigkeit« vor, die zu einer systematisch bedingten Risikoblindheit führt. Es sei
deshalb auch falsch, beim Auftreten etwa ökologischer Katastrophen von bloßen »Unfällen« zu
sprechen; vielmehr würden diese Katastrophen durch die Funktionsweise der naturwissenschaftlich
angeleiteten Produktion systematisch erzeugt.
Die Wissenschaften sind so, wie sie verfaßt sind – in ihrer überspezialisierten Arbeitsteiligkeit, in ihrem Methoden- und
Theorieverständnis, in ihrer fremdbestimmten Praxisabstinenz –, gar nicht in der Lage, auf die Zivilisationsrisiken angemessen zu
reagieren, da sie an deren Entstehen und Wachstum hervorragend beteiligt sind. Sie werden vielmehr – teils mit dem guten Gewissen
»reiner Wissenschaftlichkeit«, teils mit wachsenden Gewissensbis645sen – zum legitimatorischen Schirmherren einer weltweiten
industriellen Verschmutzung und Vergiftung von Luft, Wasser, Nahrungsmitteln usw. sowie dem damit verbundenen allgemeinen
Siechtum und Sterben von Pflanze, Tier und Mensch. (Beck, a.a.O., S. 78)

Das Wissen über diese Zusammenhänge führt dann dazu, daß die Menschen sich in der
Risikogesellschaft wissenschaftskritisch und wissenschaftsgläubig zugleich verhalten. Dabei sind die
daraus folgenden politischen Konsequenzen noch gar nicht absehbar. Beck spielt mehrere Szenarien
durch, die sich in der Risikogesellschaft ergeben könnten. Wegen der kaum zu leugnenden, aber auch
nicht eindeutig zu interpretierenden Modernisierungsrisiken spricht er einerseits von der möglichen
Heraufkunft »zivilisatorischer Glaubenskämpfe« (a.a.O., S. 53), weil Verteidiger und Kritiker der
gegenwärtigen Industriegesellschaft und ihrer Wissenschaft(en) über den »richtigen Weg der
Moderne« streiten werden. Ein Zeitalter könnte sich ankündigen, das »in manchem den religiösen
Glaubenskämpfen des Mittelalters eher als den Klassenkonflikten des 19. und beginnenden 20.
Jahrhunderts« (ibid.) ähnelt, zumal auch die bloße Angst vor nicht zu lokalisierenden Risiken eine
immer bedeutendere Rolle zu spielen scheint. Die Allgegenwart des Risikos und das tatsächliche
Eintreten von Großkatastrophen könnte dabei zu einer »dirigistische(n) Politik des
Ausnahmezustandes« (a.a.O., S. 104) führen, zu einem »wissenschaftlich-bürokratischen
Autoritarismus« (a.a.O., S. 106).
Andererseits ist Beck kein Schwarzmaler. In seinem Buch finden sich auch optimistische Töne, die
letztlich sogar überwiegen. Denn er hält es für möglich, daß das zunehmende öffentliche Bewußtsein
von Risiken den Weg zu eher positiv zu bewertenden Vergesellschaftungsformen ebnen könnte. Beck
spricht davon, daß angesichts allseitiger Risiken möglicherweise die Schranken zwischen allzu
spezialisierten Zuständigkeiten fallen könnten, daß sich also eine Entdifferenzierung oder zumindest:
eine andere Differenzierungsform beispielsweise zwischen Wissenschaft und Politik ergeben könnte.
Damit wäre dann eine neue ökologische Moral in Sicht, welche nicht mehr auf einzelne
Gesellschaften beschränkt bleibt, sondern sich angesichts globaler Risiken auf die ganze Welt
beziehen könnte. Bei Beck scheint also auch die »Utopie der Weltgesellschaft« auf, die erst durch den
Abschied von der Klassengesellschaft möglich geworden ist:
646Auch wenn das Bewußtsein und die politischen Organisationsformen hierfür (noch) fehlen, kann man doch sagen, daß die
Risikogesellschaft in der Gefährdungsdynamik, die in ihr freigesetzt wird, die nationalstaatlichen Grenzen ebenso wie die Grenzen von
Bündnissystemen und Wirtschaftsblöcken unterläuft. Während Klassengesellschaften nationalstaatlich organisierbar sind, lassen
Risikogesellschaften objektive »Gefährdungsgemeinsamkeiten« entstehen, die letztlich nur im Rahmen der Weltgesellschaft aufgefangen
werden können. (Beck, a.a.O., S. 63)

b) Unmittelbar an diese Ausführungen zu den Besonderheiten der Risikogesellschaft schließt sich im


Buch ein weiterer langer zeitdiagnostischer Teil an, in dem Beck seine »Individualisierungsthese«
entfaltet, eine These, die allerdings – und dies wäre eine erste Kritik – kaum wirklich eng mit seinen
Ausführungen zur Risikogesellschaft verknüpft ist, sieht man von der Tatsache ab, daß auch
Individualisierungsprozesse – wie die industriellen Großrisiken – die Strukturen der
Klassengesellschaft auflösen und zum »Abschied von Klasse und Schicht« beitragen. Mit seiner
Individualisierungsthese variiert Beck jedenfalls ein altes soziologisches Thema, nämlich dasjenige
vom (scheinbaren) Zerfall alter Gemeinschaftsbindungen. Seine auf die heutigen westlichen
Industriegesellschaften bezogene Feststellung lautet, daß mittlerweile ein »Kapitalismus ohne
Klassen« existiere »mit allen damit verbundenen Strukturen und Problemen sozialer Ungleichheit«
(a.a.O., S. 117), ein Kapitalismus, in dem für die Menschen das Basteln einer individuellen
Biographie zur entscheidenden und nicht immer einfach zu bewältigenden Aufgabe wird. Denn
die Bindung an soziale Klassen [tritt] eigentümlich in den Hintergrund. Ständisch geprägte Sozialmilieus und klassenkulturelle
Lebensformen verblassen. Es entstehen der Tendenz nach individualisierte Existenzformen und Existenzlagen, die die Menschen dazu
zwingen, sich selbst – um des eigenen materiellen Überlebens willen – zum Zentrum ihrer eigenen Lebensplanungen und Lebensführung
zu machen. Individualisierung läuft in diesem Sinne auf die Aufhebung der lebensweltlichen Grundlagen eines Denkens in traditionalen
Kategorien von Großgruppengesellschaften hinaus – also sozialen Klassen, Ständen oder Schichten. (Beck, a.a.O., S. 117)

Ursache dieser Auflösung ehemals verfestigter Milieus und Lebensformen war unter anderem der
Ausbau des Wohlfahrtsstaates nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen westlichen
Gesellschaften und die ebenfalls in diesen Ländern seit den 1960er Jahren zu beobachtende
Bildungsexpansion, durch die breite Schichten kollek647tiv aufsteigen konnten. Beck spricht in
diesem Zusammenhang von einem »Fahrstuhleffekt«, durch den ein »kollektives Mehr an Einkommen,
Bildung, Mobilität, Recht, Wissenschaft, Massenkonsum« erreicht wurde mit der Folge der
»Individualisierung und Diversifizierung von Lebenslagen und Lebensstilen« (a.a.O., S. 122).
Aber nicht nur sozio-ökonomisch läßt sich dieser Individualisierungsschub ausmachen; auch im
familiären und verwandtschaftlichen Bereich zeigten sich – so Beck – neue Formen des Miteinanders,
insofern die Ehe nur mehr als vorübergehende Zweisamkeit begriffen werde (a.a.O., S. 192). Auch
Verwandtschaftsbeziehungen würden nur noch selektiv – nach Sympathie etwa – gepflegt. Ehe und
Verwandtschaft seien keine unwandelbaren Institutionen mehr, sondern auch in sie sei individuelle
Wahlfreiheit eingezogen. Die diesbezüglichen Rollen seien nicht mehr vorgegeben, sondern sie
würden stets – und durchaus konfliktuell und mit für die Beziehung nicht selten nachteiligen
Konsequenzen – ausgehandelt.
Mit fortschreitender Modernisierung vermehren sich in allen gesellschaftlichen Handlungsfeldern die Entscheidungen und
Entscheidungszwänge. Mit leichter Übertreibung kann man sagen: anything goes. Wer wann den Abwasch macht, die Schreihälse
wickelt, den Einkauf besorgt und den Staubsauger herumschiebt, wird ebenso unklar, wie wer die Brötchen verdient, die Mobilität
bestimmt, und warum eigentlich die schönen Nachtseiten des Bettes immer mit dem qua Standesamt hierfür vorgesehenen, angetrauten
Alltagsgegenüber genossen werden sollen dürfen. Ehe läßt sich von Sexualität trennen und die noch einmal von Elternschaft, die
Elternschaft läßt sich durch Scheidung multiplizieren und das Ganze durch das Zusammen- oder Getrenntleben dividieren und mit
mehreren Wohnsitzmöglichkeiten und der immer vorhandenen Revidierbarkeit potenzieren. (Beck, a.a.O., S. 190)

Beck sieht diese Individualisierungsschübe freilich nicht ausschließlich positiv; er weiß zwar die
gegenüber früheren Zeiten enorm potenzierten Wahl- und Freiheitsmöglichkeiten der Individuen zu
schätzen. Aber der Verfall von Milieus und festen Lebensformen bringt auch Unsicherheiten mit sich,
die dann individuell zu bewältigen sind, was beispielsweise Frauen besonders schmerzlich erfahren,
die im Scheidungsfall und bei gleichzeitig geringer Berufsqualifikation häufig in die Armut abrutschen
(a.a.O., S. 197).

c) Der dritte Teil von Becks Buch ist schließlich dem Verhältnis von Politik und Wissenschaft in der
»Risikogesellschaft« gewidmet, wo648bei er hier Punkte ausführlicher behandelt, die schon im ersten
Teil seiner Ausführungen angerissen worden waren, und zugleich den Begriff der »reflexiven
Modernisierung« näher erläutert. Beck formuliert hier nochmals eine fulminante, wenn auch recht
einseitige Kritik (natur)wissenschaftlicher Rationalität und Forschungspraxis, indem er der in den
1980er Jahren in Deutschland starken Umweltschutzbewegung folgt und ihre Argumente aufgreift und
noch zuspitzt. Für Beck ist diese in der Gesellschaft zu findende Rationalitätsskepsis und -kritik
allerdings kein Zeichen eines Endes der Moderne, wie dies etwa Lyotard behauptet hat. Beck ist
vielmehr der Meinung, daß die Moderne in eine neue Epoche eingetreten ist, in der ihre Prinzipien
deutlicher als bisher zum Vorschein kommen. Eine Moderne entstehe, die nicht mehr »halbiert« sei.
Denn während die Industriegesellschaft in ihrer naiven Wissenschaftsgläubigkeit die »einfache
Moderne« verkörpert habe, zeige die (berechtigte) Wissenschaftskritik die Heraufkunft einer neuen
Moderne, einer »reflexiven Moderne« an: Die Technik- und Wissenschaftskritik stehe »nicht im
Widerspruch zur Moderne, sondern [sei] Ausdruck ihrer konsequenten Weiterentwicklung über den
Entwurf der Industriegesellschaft hinaus« (a.a.O., S. 15). Die durch die industriellen Gesellschaften
produzierten Nebenfolgen und Risiken fallen beim Auftreten von Großkatastrophen auf diese
Gesellschaften zurück. Aber der Umgang mit Gefährdungen in der Risikogesellschaft, ja erst das
Bewußtwerden von Risiken eröffneten nun zum ersten Mal die Chance, daß diese Moderne ihre
eigenen Grundlagen kritisch hinterfragt und reflektiert – mit unübersehbaren Konsequenzen für den
politischen Prozeß. In einem späteren Buch hat dies Beck so formuliert: Der Begriff der »reflexiven
Modernisierung«
knüpft zwar an die Traditionen der Selbstreflexion und Selbstkritik der Moderne an, meint jedoch mehr und anderes, nämlich den im Kern
simplen (…) Grundsachverhalt, daß industrielle Modernisierung in den hochentwickelten Ländern industrielle Modernisierung in ihren
Rahmenbedingungen und Grundlagen verändert. Modernisierung – nicht mehr nur zweckrational und linear, sondern gebrochen, als
Regierung der Nebenfolge gedacht – wird zum Motor der Gesellschaftsgeschichte. (Beck, Die Erfindung des Politischen, S. 12/13)

Wie schon angedeutet ist Becks Zusammenführung dieser drei Argumentationsstränge auf eine
überwältigende Resonanz gestoßen. 649Man las Risikogesellschaft nicht nur in Deutschland als
höchst treffende Beschreibung der Probleme westlicher Industriegesellschaften, so daß der
Risikobegriff innerhalb der Soziologie und Sozialtheorie einer umfassenden Analyse unterzogen und
Becks Individualisierungsthese weithin begeistert aufgenommen wurde.
Becks individualisierungstheoretische Aussagen liefen eng mit denjenigen von Anthony Giddens
zusammen, der in seinen in den 1990er Jahren veröffentlichten Büchern zur Moderne insbesondere
die Veränderung intimer Beziehungen betonte. Giddens konstatierte in Modernity and Self-Identity
von 1991 und vor allem in Transformation of Intimacy aus dem Jahre 1992 diesbezüglich ebenfalls
einen Epochenbruch (er spricht von »Hochmoderne« oder – wohl schon beeinflußt von Beck – von
»zweiter Moderne«) und wies auf die neuartige Rolle des Expertenwissens für die Form von Zweier-
und Familienbeziehungen hin. Dabei unterschied er historisch zwischen drei Perioden der Gestaltung
von Intimität: Während in vormodernen Zeiten Liebe in erster Linie als sexuelle Leidenschaft
verstanden wurde, die man wie selbstverständlich zumeist außerhalb der Ehe suchte, änderte sich
dies mit Anbruch der Moderne. Spätestens mit dem Aufkommen der romantischen Liebesvorstellung
begaben sich die Liebenden im Falle der Eheschließung in eine lebenslange emotional dichte
Beziehung, wobei allerdings die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und damit eine schroffe
Unterscheidung der Geschlechterrollen für selbstverständlich erachtet wurden. Erst heute, in der
»Hochmoderne« und in Zeiten der partnerschaftlichen Liebe, kommt es laut Giddens zu einer
Enttraditionalisierung der Geschlechterrollen und aller familialen Beziehungsmuster. Ganz ähnlich
wie Beck argumentiert auch Giddens, daß heutige Beziehungen stets ausgehandelt würden.
Gleichzeitig habe sich eine individuelle Anspruchshaltung gegenüber der Befriedigung eigener
emotionaler und sexueller Wünsche entwickelt, die zu einer ständigen Suche nach einer
»endgültigen«, letztlich aber wohl kaum vollständig zu erreichenden Erfüllung geführt hat, einer
Suche, bei der man sich zunehmend auch durch Expertenwissen leiten läßt. Das Zurateziehen von
Therapeuten, von quasi-therapeutischen Handbüchern zu Erziehungsfragen und zu Problemen der
Sexualität ist laut Giddens ebenso selbstverständlich geworden wie das Lesen von Ratgebern zur
Ausbildung einer beeindruckenden »Persönlichkeit«.
650Gewiß auch aufgrund dieses gemeinsamen Interesses an Fragen der Individualisierung holte
Giddens als Direktor der London School of Economics in den 1990er Jahren Ulrich Beck an diese
Institution. Giddens erklärte Becks Zeitdiagnose zu einem soziologischen Schlüsselwerk der
Gegenwart. Es begann eine relativ intensive Zusammenarbeit, die sich auch auf weitere
Themengebiete bezog. So hatte sich Giddens bereits Ende der 1980er Jahre der
Globalisierungsproblematik zugewandt, die er nicht ausschließlich als ökonomisches, sondern auch
als kulturelles Phänomen verstanden wissen wollte (siehe die Zwölfte Vorlesung). Die gleiche
Stoßrichtung verfolgt auch Beck 1997 in dem Buch Was ist Globalisierung?, in dem er deren
Chancen und Gefährdungen abwägt, ohne sich bei der Bewertung von Globalisierungsphänomenen
allzu eindeutig festzulegen. Diese im Grundton letztlich doch immer optimistisch wirkende
Argumentation traf sehr gut den »Zeitgeist« der 1990er Jahre. Ohne allzu große Übertreibung wird
man deshalb sagen können, daß Beck und Giddens mit ihren Thesen zu einem erheblichen Teil die
feuilletonistische Debatte um Risiken in modernen Gesellschaften, um Individualisierungsphänomene
und um Globalisierungsfolgen mitbestimmten, selbst wenn die Kritik aus der Soziologie an ihnen
beträchtlich war. Ulrich Beck, mittlerweile Professor an der Universität München und der London
School of Economics, gelang es jedenfalls, eine von ihm herausgegebene Buchreihe im Suhrkamp
Verlag zu etablieren, die unter dem Titel »Edition Zweite Moderne« einer breiten Leserschaft Autoren
nahebringt, die seinen eigenen Thesen und denjenigen von Giddens nahestehen.

In kritischer Würdigung der Beckschen Schriften wird man sicherlich feststellen können, daß seine
Analysen zu großtechnologischen Risiken enorm fruchtbar waren, daß sein Werk (vgl. auch
Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit von 1988) in bester aufklärerischer Manier der
Disziplin der Soziologie, aber auch einem breiten Publikum die diesbezügliche Problematik
moderner Industriegesellschaften nahegebracht hat. Becks Ansatz ist gleichzeitig auch als eine
wertvolle, durchaus theoretisch angeleitete Kritik an Vertretern der Differenzierungstheorie zu sehen,
zumindest derjenigen Variante, welche die Differenzierungsform gegenwärtiger westlicher
Gesellschaft als quasi unvermeidlich ausgibt. Da Beck genuin handlungstheoretisch argumentiert, ist
seinem Werk weder der zynisch-fata651listische Blick eines Niklas Luhmann eigen noch derjenige
von Schwarzmalern und Geschichtspessimisten. Beck nimmt für seine Diagnose der
Gegenwartsgesellschaften immer auch eine aus dem Hegel/Marxschen Erbe stammende
Argumentationsfigur zu Hilfe, die besagt, daß sich aus Krisen immer wieder Handlungsmöglichkeiten
und produktive Lösungen ergeben können. Seine These war und ist, daß die Großtechnologie ihre
eigenen Gegner produziert, welche die Chancen auf eine bessere Zukunft wahren. Der mit dieser
Hoffnung verbundene Begriff ist derjenige der »Subpolitik«, eine Politik »von unten«, die sich gegen
etablierte Politikstile und -formen, gegen eine nebenfolgenblinde Forschungspraxis, gegen eine
Entmündigung des Bürgers durch großtechnische Apparate richtet:
Wer auf die Politik von oben starrt und wartet, übersieht die Selbstorganisation des Politischen, die – zumindest der Möglichkeit nach –
viele, alle Felder der Gesellschaft »subpolitisch« in Bewegung versetzen kann. (Beck, Die Erfindung des Politischen, S. 156)

Gerade weil die industrielle Modernisierung immer wieder ungeahnte Nebenfolgen produziert, weil
in ihr Nebenfolgen wie Risiken und Gefahren, Individualisierung und Globalisierung »zum Motor der
Gesellschaftsgeschichte« (a.a.O., S. 13; 71) geworden sind, kann auch immer wieder Kritik an dieser
Form der Vergesellschaftung erwartet werden und damit der Versuch des Umsteuerns. Modernisierung
ist für Beck kein linearer Prozeß. Sie kann vielmehr nur mehr »gebrochen« (a.a.O., S. 13) gedacht
werden. Dies ist nicht nur eine Kritik an dem allzu fortschrittsgläubigen und einlinigen
Geschichtsbild so mancher »traditioneller« Modernisierungs- und Evolutionstheoretiker. Beck sieht
nämlich durchaus, daß die Zukunft ungewiß ist, daß sich also die produzierten Nebenfolgen der
industriellen Gesellschaft auch als nicht-beherrschbar erweisen könnten und damit ein Weg in
Richtung normativ höchst problematischer »Gegenmodernen« denkbar ist. Es ist auch eine dezidierte
Kritik an der Differenzierungstheorie Niklas Luhmanns, wenn Beck wohl zu Recht unterstellt, daß die
konkrete Form, welche eine Differenzierung annimmt, von (kollektiven) Akteuren abhängt. Beck ist in
die Reihe sogenannter »Konstitutionstheoretiker« wie Giddens, Touraine oder auch Eisenstadt zu
stellen, die »gesellschaftliche Prozesse aus dem Handeln der Gesellschaftsmitglieder zu begreifen
versuchen und dabei auf die Unterstellung transhistorischer Entwick652lungstrends« (Joas, Die
Kreativität des Handelns, S. 337) verzichten. Beck macht sehr deutlich, daß in der »reflexiven« oder
»zweiten Moderne« die Differenzierung selbst zum Problem geworden ist, daß hier die Akteure um
die für sie angemessene Form der Differenzierung kämpfen, u. a. auch für eine Differenzierung, in der
sich die Subsysteme nicht – wie Luhmann dies beschrieben hat – vollkommen voneinander
abschotten. Man kann deshalb davon sprechen, daß bei ihm eine »Demokratisierung der
Differenzierungsfrage« ins Blickfeld kommt. Deshalb werden in seiner Theorie die
Fragestellungen funktionaler Differenzierung (…) ersetzt durch die Fragestellungen funktionaler Koordination, Vernetzung,
Abstimmung, Synthese etc. Wieder: das und unterläuft das entweder-oder – auch im Reiche der Systemtheorie. Differenzierung selbst
wird zum gesellschaftlichen Problem. Die Art der Abgrenzung der Handlungssysteme wird durch die damit erzeugten Folgen
problematisch. Warum werden Wissenschaft und Wirtschaft, Wirtschaft und Politik, Politik und Wissenschaft so gegeneinander
abgegrenzt und können in Aufgaben und Kompetenzen nicht anders verzahnt und »geschnitten« werden? Wie können Teilsysteme
zugleich funktional autonom und koordiniert gedacht und organisiert werden? (Beck, Die Erfindung des Politischen, S. 78)

Dennoch stößt man bei aller Bewunderung für die Schärfe des Beckschen Blicks und die auch in
diesem letzten Zitat wieder aufscheinende Griffigkeit seiner zeitdiagnostischen Formulierungen
immer wieder auf argumentative Schwächen in seinen Schriften. Mindestens vier kritische Einwände
bzw. Fragen sind hier zu erwähnen.
1) Die Rhetorik des Epochenbruchs hat zwar eine gewisse Faszination, sie verführt aber – wie
dies bei Beck, aber auch bei Giddens der Fall ist – zu allzu groben Kontrastierungen. So fragt man
sich, ob die »erste Moderne« tatsächlich derart starr in verfestigten Sozialmilieus und Lebensformen
verharrte, wie dies Beck beschreibt, um den Gegensatz zur »zweiten Moderne« hervorzuheben. Und
umgekehrt stellt sich die Frage, ob sich heute wirklich alle Milieus aufgelöst haben und die
Individualisierung tatsächlich so weit fortgeschritten ist, wie dies Beck behauptet. Gibt es bei der
Gestaltung individueller Lebensentwürfe nicht vielleicht noch immer (und weiterhin) große
Unterschiede zwischen den Schichten und Klassen, was darauf hinweisen würde, daß die Strukturen
der »alten« Klassengesellschaft doch nicht völlig verschwunden sind? Letztlich führt diese strikte
653Trennung zwischen Epochen zu einer alten und höchst problematischen Argumentationsfigur, die
auch schon die »alte« Modernisierungstheorie geplagt hat. Was in dieser »alten«
Modernisierungstheorie die Dichotomie zwischen »traditional« und »modern« war, taucht nun in
einer neuen Form auf, nämlich in der Dichotomie zwischen »Moderne« und »Hochmoderne«, »erster«
und »zweiter Moderne« usw. Kritiker (vgl. Alexander, »Critical Reflections on ›Reflexive
Modernization‹«) monierten deshalb, daß die Beck-/Giddenssche Theorie der »reflexiven Moderne«
durch ihre kruden Dichotomisierungen tatsächlich keine neue Theorie sei, sondern die »alte«
Modernisierungstheorie in neuem Gewande.
2) Auch Becks Charakterisierung der (Welt-) Risikogesellschaft und der darin ablaufenden neuen
politischen Dynamiken ist einer ähnlichen Kritik ausgesetzt. Sind Risiken wirklich so egalisierend,
daß demgegenüber klassenspezifische Probleme keine Rolle mehr spielen? Oder war die
Zeitdiagnose des Jahres 1986 nicht allzusehr auf eine ganz spezifische Situation in der
Bundesrepublik Deutschland zugeschnitten, als man vor der Wiedervereinigung und noch zu Zeiten
eines relativ stabilen Wohlfahrtsstaates glauben konnte, daß sozio-ökonomische Probleme und die
daraus resultierenden politischen Prozesse eine immer geringere Rolle spielen würden?
3) Becks Individualisierungsthese erscheint paradoxerweise deshalb so griffig, weil er den in der
Soziologie diskutierten Individualisierungsbegriff ziemlich undifferenziert verwendet. Der Begriff
der »Individualisierung« hat ja viele Bedeutungsfacetten; er kann auf die sozialstrukturelle
Herauslösung von Individuen aus traditionalen Vergesellschaftungsformen ebenso verweisen wie auf
die Vereinzelung und Vereinsamung von Personen oder auf einen zunehmenden Autonomiegewinn
bzw. eine zunehmende Handlungsfähigkeit von Menschen. Dies sind nur drei Bedeutungsaspekte von
mehreren, die im Individualisierungsbegriff stecken, und alle drei gehen nicht notwendig miteinander
einher: Aus der Herauslösung aus traditionalen Vergesellschaftungsformen folgt nicht notwendig auch
eine Vereinzelung, ebensowenig wie die Vereinzelung automatisch einen Zugewinn an individueller
Autonomie bedeutet (vgl. etwa Honneth, Desintegration, S. 24 ff.). Weil Beck aber nicht scharf
zwischen diesen Bedeutungsebenen trennt, »schillert« auch seine Individualisierungsthese. Die
diesbezügliche Zeitdiagnose ist zwar suggestiv, aber letztlich doch unklarer, als dies auf den ersten
Blick erscheint, weil 654der Leser nicht genau weiß, was genau mit »Individualisierung« gemeint ist.
4) Kritisch moniert wurde schon der fehlende Zusammenhang zwischen Becks Diagnose von der
»Risikogesellschaft« und seiner Individualisierungsthese. Dies fällt besonders dann ins Auge, wenn
Beck seine Hoffnungen auf eine bessere Moderne mit Verweis auf subpolitische Formen des
Handelns artikuliert und – ähnlich wie Touraine in den späten 1970er Jahren – die Professionen und
Experten zu den Trägern der Subpolitik erklärt (vgl. Beck, Die Erfindung des Politischen, S. 242).
Hier fragt man sich, wie in Berufsfeldern, deren Angehörige geradezu den von Beck beschriebenen
Individualismus verkörpern, kollektives Handeln möglich sein soll. Natürlich kann nicht
ausgeschlossen werden, daß ein solches Handeln tatsächlich erfolgt, aber Beck gibt keine Auskunft
darüber, wie genau sich Individualisierung zu (chancenreichen) Formen des diesbezüglichen Protests
verhält. Damit erweist sich die Becksche Zeitdiagnose als problematischer und unklarer, als dies
weithin in der feuilletonistischen Öffentlichkeit gesehen wurde und wird, in der die Beckschen
Aussagen recht häufig als empirisch gesicherte Befunde interpretiert werden (zu einer Bilanz der
theoretischen und empirischen Einwände gegen Beck vgl. Richard Münch, »Die ›Zweite Moderne‹:
Realität oder Fiktion?«).

2. Wenn wir uns nun Zygmunt Bauman zuwenden, der in den späten 1980er und dann vor allem in den
1990er Jahren durch seine zeitdiagnostischen Schriften Furore gemacht hat, dann scheinen wir uns
zunächst auf vertrautem Terrain zu bewegen. Denn gerade in seinen jüngsten Arbeiten wird man nicht
wenige Argumente finden, die an bestimmte Aspekte der soeben behandelten Schriften von Giddens
und Beck erinnern, an jene Individualisierungsthese etwa, wenn Bauman behauptet, daß wir von einer
»durch und durch individualisierten Welt auszugehen« (vgl. Bauman, Unbehagen in der
Postmoderne, S. 361) haben. Diese Nähe ist nicht allzu verwunderlich, hat doch der enge Kontakt mit
Giddens auch das Baumansche Werk geprägt. Allerdings würde man die Bedeutung von Baumans
Schriften verkennen, wenn man sie lediglich als eine weitere Variante einer
individualisierungstheoretisch angeleiteten Zeitdiagnose beschreiben würde. Der Ausgangspunkt für
Bauman ist nämlich ein anderer, und wir sind diesem in dieser Form innerhalb unserer
Vor655lesungen erstaunlicherweise bisher noch nicht begegnet: Bauman war nämlich einer der ersten
sozialwissenschaftlichen Autoren, welcher den Holocaust zum Ausgangspunkt von Überlegungen zur
Gestalt der Moderne machte und von hier aus seine zeitdiagnostischen und ethischen Standpunkte
entwickelte.
Zygmunt Bauman wurde 1925 als Sohn jüdisch-polnischer Eltern geboren, floh nach dem deutschen
Überfall auf Polen nach Osten in die Sowjetunion und zog 1945 dann als sowjetischer Soldat in
Berlin ein. Nach dem Krieg machte er in Polen als marxistischer Soziologe eine akademische
Karriere; 1968 wurde er im Rahmen einer antisemitischen Kampagne der polnischen Kommunisten
aus dem Lehramt entfernt. Er ging dann für eine kurze Zeit nach Israel und lehrte in Tel Aviv, bevor es
ihn endgültig nach Großbritannien, an die University of Leeds, verschlug, wo er sich als Experte für
Marxismus und Hermeneutik in der britischen Soziologie einen Namen machte. Erst relativ spät,
nämlich seit Mitte der 1980er Jahre, begann er im engeren Sinne zeitdiagnostische Schriften zu
veröffentlichen: 1989 erschien mit Modernity and the Holocaust (dt.: Dialektik der Ordnung. Die
Moderne und der Holocaust) das Buch, das ihn plötzlich einer breiten internationalen Öffentlichkeit
bekannt machte. Danach publizierte er eine ganze Reihe weiterer Schriften, deren Argumente zum Teil
auf jener Untersuchung zum Mord an den europäischen Juden aufbauten, wobei es Bauman gelang, in
der Debatte um die sogenannte Postmoderne ernsthafte(re) ethische Fragen aufzuwerfen, als dies bis
dato geschehen war.
Baumans aufsehenerregende Interpretation des Holocaust besagt, daß dieser nicht ein »deutsches
Verbrechen« gewesen sei in dem Sinne, daß es ausschließlich die besonderen und einzigartigen
sozialen und politischen Bedingungen in Deutschland waren, welche den industriellen Massenmord
möglich gemacht hätten. Er verweist auch nicht wie wenig später etwa Daniel Goldhagen (Hitlers
willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust) auf angeblich tiefverwurzelte
antisemitische Charakterzüge der Deutschen; ebensowenig und in Abweichung von klassischen
Theoretikern der Frankfurter Schule wie Theodor W. Adorno zieht er für die Erklärung des
Nationalsozialismus das Vorhandensein einer Vielzahl autoritärer Persönlichkeiten in Deutschland
heran, welche den Holocaust möglich gemacht hätten: »Persönliche Merkmale hemmen nur selten
Grausamkeit, wenn der gesamte Kontext der Interaktion so beschaf656fen ist, daß er Grausamkeit
induziert.« (Bauman, Dialektik der Ordnung, S. 168) Schließlich leitet er den Holocaust auch nicht
aus der Dynamik des Kapitalismus ab, wie dies in vielen marxistischen Erklärungsversuchen geschah
und noch immer geschieht.
Baumans These zielt weiter – und ist insofern brisanter. Er behauptet, daß der Holocaust ganz eng
mit der modernen Zivilisation verbunden war. Er sei kein Unfall in der Moderne gewesen, kein
fremdes Element, sondern mit ihr zutiefst verwoben, ja ohne diese Moderne gar nicht denkbar. »Der
Holocaust ist ein Nebenprodukt des modernen Strebens nach einer umfassend geplanten und
gesteuerten Welt und kann auftreten, wenn dieses Streben aus dem Ruder läuft.« (A.a.O., S. 108)
Insofern sei auch nicht der Jahrhunderte, ja Jahrtausende alte Antisemitismus der Auslöser des
Holocaust gewesen. Bauman verweist zu Recht darauf, daß der Antisemitismus nicht notwendig zu
Gewalt und erst recht nicht zu jener unfaßbaren Gewalt in der Mitte des 20. Jahrhunderts führen
muß(te).
Isoliert betrachtet, bietet der Antisemitismus keine hinreichende Erklärung für den Holocaust (Ressentiments bieten generell keine
hinreichende Erklärung für Genozid). Wenn es zutrifft, daß antisemitische Tendenzen für die Planung und Durchführung des Holocaust
eine wichtige Rolle spielten, ja sogar unersetzlich waren, so ist mit gleichem Recht zu konstatieren, daß die antisemitische Haltung der
Urheber und Planer des Massenmords in wesentlichen Punkten von den antijüdischen Emotionen der Vollstrecker, Kollaborateure und
willfährigen Mitwisser abwich. Damit der Holocaust möglich wurde, mußte ein (wie auch immer geprägter) Antisemitismus zuvor mit
Faktoren ganz anderer Provenienz verschmolzen werden. (Bauman, a.a.O., S. 47; unsere Hervorh.)

Diese Faktoren glaubt Bauman benennen zu können: Der Holocaust war ihm zufolge das Ergebnis
bürokratischer Prozeduren, und diese Prozeduren wiederum waren Ausdruck eines in der Moderne
immer sichtbarer werdenden Strebens nach Eindeutigkeit, Klarheit und Ordnung, eines Strebens, das
– sobald die bürokratischen Mittel dazu gegeben waren – grausame Wirklichkeit werden konnte.
Paradoxerweise waren nämlich die Ermordung der europäischen Juden ebenso wie die Millionen von
Toten in den Stalinschen Lagern letzte Konsequenz der Vision einer besseren, reineren, eindeutigeren
Gesellschaft. Wie Bauman sagt, war der diesbezügliche Massenmord »kein Werk der Zerstörung,
sondern ein schöpferisches Werk. Die bessere Welt, effizienter, moralischer, schöner, der die
Vernichtung 657diente, war der Kommunismus oder die rassisch reine, arische Welt, eine
harmonische, konfliktfreie Welt, leicht zu lenken, geordnet und kontrollierbar.« (A.a.O., S. 107)
Warum besonders die Juden ins Visier moderner »Lenker« und »Kontrolleure« gerieten, hing mit
ihrer Stellung in den europäischen Gesellschaften zusammen. Ausgestoßen und nie integriert,
verkörperten sie geradezu Undurchsichtigkeit und Unbestimmbarkeit – und dies in Gesellschaften, die
gerade seit Anbruch der Moderne nach ebenjener Durchsichtigkeit und Bestimmtheit strebten (a.a.O.,
S. 71). Der Rassismus war Ausdruck dieses modernen Strebens, insofern er die verwissenschaftlichte
Version des Versuchs, Reinheit und Unreinheit zu bestimmen, darstellte; ihm lag die Idee einer
perfekten Gesellschaft zugrunde, eine radikale Idee, die erst infolge der europäischen Aufklärung so
gedacht werden konnte. Denn erst die Aufklärung hatte die ungehinderte Objektivier- und
Gestaltbarkeit der Natur inthronisiert und damit die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß das
Unbehagen an jenen »unreinen« und unbestimmbaren Menschen und Bevölkerungsgruppen einer
aktiven und systematischen Lösung, der sogenannten »Endlösung«, also dem bürokratisch
organisierten Massenmord, zugeführt werden konnte (a.a.O., S. 83 ff.). Bauman macht sich hier die in
der Geschichtswissenschaft so bezeichnete »funktionalistische« oder »strukturalistische«
Interpretation der Nazi-Herrschaft und des Holocaust zueigen (wobei diese beiden Begriffe – wenn
überhaupt – nur sehr entfernt etwas mit den hier in diesen Vorlesungen behandelten funktionalistischen
und strukturalistischen Theorien zu tun haben), der zufolge die Endergebnisse der NS-Politik nicht aus
dem Antisemitismus Hitlers oder anderer NS-Größen zu erklären seien, sondern aus einer bestimmten
Eigendynamik der NS-Bürokratie, welche die Vorgaben aus der Politik mit großer Konsequenz, ja
sogar konsequenter als gefordert, umsetzte.
Die Bürokratie hat die Angst vor rassischer Unterwanderung und die Säuberungshysterie nicht hervorgebracht, dazu bedurfte es der
Demagogen. Aber die Bürokratie nahm ihre Fäden dort auf, wo die Vision nicht mehr weiterführte. Die Bürokratie schuf den Holocaust
nach ihrem eigenen Bild. (Bauman, a.a.O., S. 120)

Bauman treibt mit dieser Deutung des Holocaust eine Interpretation der Moderne voran, welche
überdeutlich deren Schattenseite 658hervorhebt. Er wendet sich also dagegen, die Gestalt der
Moderne zu beschönigen und ihre »Integrität« dadurch zu retten, daß man den Holocaust als ein
Ergebnis des deutschen Sonderwegs – und damit letztlich doch als einen einmaligen Unfall –
bezeichnet. Damit ordnet sich Bauman in die Reihe solcher Denker ein, die wie z. B. Foucault das
allzu harmonische Selbstbild der Moderne nicht wirklich glauben und ihr genau aus diesem Grund als
»Archäologen« oder »Genealogen« den Spiegel vorhalten wollen.
Baumans Analyse knüpft in vielen ihrer Aspekte an Werke an, in denen sich die Erschütterung
durch den Holocaust sozialphilosophisch besonders deutlich ausgedrückt hatte. Zu denken ist hier an
das zutiefst geschichtspessimistische Werk, das die beiden Exponenten der Frankfurter Schule, Max
Horkheimer und Theodor W. Adorno, in der Emigration vorlegten, die Dialektik der Aufklärung. In
der Vorlesung zu Habermas sind wir bereits auf dieses Werk und seine Aporien kurz eingegangen.
Anklänge finden sich auch in Hannah Arendts Analysen in The Origins of Totalitarianism von 1951
(dt.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft), vor allem in ihrem heiß umstrittenen Buch
Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil aus dem Jahre 1963 (dt.: Eichmann in
Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen), in dem ebenfalls die These vom
bürokratischen Charakter des nationalsozialistischen Massenmords verfochten wurde. An Bauman
wie an diese »Vorläufer« sind aber auf dem heutigen Wissensstand eine Reihe kritischer Fragen zu
richten.
A) Unterschätzt die These vom bürokratischen Charakter des Holocaust nicht die emotionalen und
spontanen Seiten des Massenmordes an den europäischen Juden, also jene Lust am Töten und die
dahinterstehende antisemitische Motivation vieler Mörder, was das buchstäbliche Abschlachten
Zigtausender Menschen auch jenseits bürokratischer Vorgaben ermöglichte? Schließlich wurden ja
nicht alle Juden mit Gas quasi industriell und anonym ermordet, sondern das Morden geschah häufig
auf eine Weise, in der sich Opfer und Täter durchaus von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden.
Analysen wie die von Christopher Browning (Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon
101 und die ›Endlösung‹ in Polen), von Wolfgang Sofsky (Die Ordnung des Terrors: Das
Konzentrationslager) und auch von Daniel Goldhagen säen zumindest Zweifel, ob man allein oder
auch nur schwerpunktmäßig 659die Bürokratie und das in ihr verkörperte moderne Bestreben nach
Ordnung und Eindeutigkeit zum entscheidenden Faktor des Holocaust machen sollte.
B) Man kann zudem kritisch fragen, ob die Bürokratie als solche überhaupt jener entscheidende
Faktor gewesen sein kann oder nicht vielmehr die in einem bestimmten politischen Kontext möglich
gewordene Verselbständigung der Bürokratie, ihr entfesseltes Tun jenseits aller Kontrollen. Dies
würde das scharfe Baumansche Urteil über die Moderne und eine zutiefst moderne Institution etwas
relativieren.
C) Fragen läßt sich auch, ob nicht Baumans Analyse mit ihrer Betonung des in der Moderne zum
Ausdruck kommenden Ordnungsstrebens, des Versuchs, das Nicht-Bestimmbare auszumerzen, den
historischen Prozeß fast zwangsläufig zu großflächig darstellt. Thesen über die Moderne insgesamt
müssen ja mit den spezifischen historischen Abläufen, die zum Holocaust führten, im Detail vermittelt
werden. Müßten dann aber nicht auch die Entscheidungsprozesse der Macht- und Befehlshaber
stärker gewichtet werden, und müßte – eine besonders wichtige Frage – nicht auch die Rolle des
Krieges bei der Analyse des Holocaust stärker einbezogen werden, da doch die sogenannte
»Endlösung« auf der Berliner Wannsee-Konferenz in genau jenem Kontext eines entfesselten Krieges
beschlossen wurde? Dies würde nichts an Baumans düsterem Blick auf die Moderne ändern. Im
Gegenteil: Kriege – und davon gab es ja in der Moderne nicht gerade wenige – müßten als weitere
»dunkle« Phänomene in einer Interpretation ebendieser Moderne stärker berücksichtigt werden. Aber
es würde vielleicht eine präzisere Erklärung des Holocaust ermöglichen, als dies in Baumans Buch
geschehen ist, in dem vom Krieg und dessen Konsequenzen als Möglichkeitsbedingungen für den
Holocaust kaum die Rede ist.
D) Schließlich läßt sich fragen, ob Baumans Gesamtbild der Moderne, seine fast ausschließliche
Konzentration auf staatliche Macht und Bürokratien, nicht dazu verführt, die »positiven« Seiten der
Moderne in den Hintergrund zu drängen, beispielsweise moderne Formen der Selbstverwaltung und
der demokratischen Mitbestimmung. Zwar bemüht sich Bauman gerade darum, die Ausweglosigkeit
der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno zu überwinden, aber auch seine
Zeitdiagnose gerät in vieler Hinsicht allzu düster; auch sie erinnert in ihrer »Schwärze« gelegentlich
sehr 660an Foucaults Bild der Moderne und wirkt wie diese nicht immer plausibel (vgl. dazu
ausführlicher Joas, Kriege und Werte, S. 236 ff.).
Bauman – und hier zeigte er sich höchst produktiv – blieb aber bei dieser Diagnose der Moderne
nicht stehen. Er ergriff in den 1990er Jahren vielmehr die Chance, seine Überlegungen zur Moderne
mit einer – wie er es nennen sollte – »postmodernen Ethik« zu verbinden, einer Ethik, die sowohl
ganz spezifische Lehren aus dem Holocaust und den anderen Verwerfungen der Moderne ziehen als
auch den – aus seiner Sicht – derzeitigen postmodernen Sozialverhältnissen Rechnung tragen sollte.
Angesichts der soeben dargestellten Reflexionen Baumans zum Zusammenhang von Holocaust und
Moderne ist es nicht allzu verwunderlich, wenn Bauman an die Idee eines moralischen Fortschritts in
der Geschichte nicht mehr zu glauben vermag und schon gar nicht daran, daß die für die Moderne so
typischen Strukturen und Denkmuster einen derartigen moralischen Fortschritt befördern könnten
(Bauman, Postmoderne Ethik, S. 340). Er ist ganz im Gegenteil der Auffassung, daß gerade der
moralische Diskurs der Moderne immer wieder in unüberwindbare Widersprüche geführt habe.
Dieser Diskurs unterstellte nämlich, daß es ethische Vorschriften gebe, die für jeden Menschen
anwendbar und zwingend einsichtig sein müßten, daß sich derartige moralische Regeln
widerspruchsfrei begründen ließen und daß es für alle moralisch strittigen Situationen unzweideutige
Lösungen geben könne. Gerade dieses Streben nach Eindeutigkeit, Reinheit und Sicherheit habe aber
– so Bauman – in seiner konsequentesten und radikalsten Form eben in den Holocaust geführt. Wenn
es deshalb eine Lehre aus der Geschichte zu ziehen gilt, dann sei dies diejenige, daß wir
Ambivalenzen, Zweideutigkeiten, auszuhalten haben. Dies gelte gerade auch für den Bereich der
Ethik und der Moral. Wir müssen deshalb akzeptieren, daß der »narrensichere – universale und
unerschütterlich be- und gegründete – ethische Code (…) niemals gefunden (…) [wird]« (a.a.O.,
S. 22). Ja mehr noch, Bauman ist der Auffassung, daß »moralische Phänomene (…) inhärent nicht-
rational« seien und daß sich Moral nicht in Organisationen und Institutionen finde. Tief erschüttert
von der Tatsache, daß im Faschismus und Kommunismus moderne Institutionen wie z. B. die deutsche
und sowjetische Bürokratie alle moralischen Skrupel ihrer Mitglieder beseitigen und den
Massenmord problemlos legitimieren konnten, folgert 661Bauman, daß sich Moral überhaupt nicht
im sozialen Raum ansiedeln lasse. Moral sei vielmehr etwas zutiefst Persönliches, Vor-Soziales –
und diese Einsicht gelte es gegen die Moderne zurückzuerobern, welche soziale Institutionen oder gar
die Gesellschaft für das Gewissen des einzelnen sprechen lassen wollte, aber genau dadurch den Weg
in die kaum begreifbaren Verbrechen des 20. Jahrhunderts ebnete.
Die Moral aus dem steifen Panzer künstlich konstruierter ethischer Codes herauszulassen (oder den Ehrgeiz aufzugeben, sie darin
festzuhalten) bedeutet, sie zu repersonalisieren. Menschliche Leidenschaften wurden als allzu fehlbar und launisch angesehen und die
Sicherung des Zusammenlebens allzu ernst genommen, um das Schicksal menschlicher Koexistenz dem Moralvermögen der einzelnen
anzuvertrauen. Was wir nun allmählich verstehen, ist, daß dieses Schicksal kaum etwas anderem anvertraut werden kann (…).
(Bauman, a.a.O., S. 57)

Baumans postmoderne und personal gedachte Ethik lehnt sich an diejenige des in Litauen
aufgewachsenen, und dann in den 1930er Jahren in Frankreich eingebürgerten Moralphilosophen
Emmanuel Levinas (1906-1995) an, für den das »Für-einander-Sein« der Grundmodus der
menschlichen Subjektivität war. Dieser Denker, der seine entscheidenden Motive in der
Auseinandersetzung mit Husserl und Heidegger ausgearbeitet hatte, war lange Zeit wenig bemerkt
worden. Vor allem Paul Ricœur (vgl. die Sechzehnte Vorlesung) hatte immer wieder auf ihn
hingewiesen. Erst als, was auch bei Derrida zu beobachten war, die zuerst so prononciert
relativistisch auftretenden Denker der Postmoderne eine Wendung zur Ethik vollzogen, wurde sein
Werk stärker beachtet. Wie Bauman den zutiefst von talmudischer Gelehrsamkeit geprägten Levinas
versteht, ist ego für alter verantwortlich, ist die Erfahrung des Anderen immer geprägt von meiner
moralischen Verpflichtung und Verantwortlichkeit diesem Anderen gegenüber – und zwar
unabhängig davon, ob dieser Andere meine Fürsorge je erwidern wird.
In einer moralischen Beziehung sind Ich und der Andere nicht austauschbar und können deshalb nicht zu einem pluralen »Wir« aufaddiert
werden. In einer moralischen Beziehung sind alle Pflichten und Regeln, die man sich denken kann, ausschließlich an mich adressiert, sie
binden nur mich, konstitutieren mich – und nur mich – als »Ich«. An mich adressiert, ist Verantwortung Moral. (Bauman, a.a.O.,
S. 81/82)

662Aus dieser Verantwortlichkeit des Ich bzw. des Individuums, das die Baumansche postmoderne
Ethik charakterisiert, folgt kein Relativismus – im Unterschied zur Position nicht weniger
postmoderner Autoren, für welche ganz im Sinne von Nietzsche moralische Maßstäbe lediglich der
Ausdruck von Machtinteressen sind. Zwar ist es laut Bauman wahr, daß sich Moral nicht für alle
begründen läßt. Aber dies führt nicht notwendig in eine relativistische Position, eben weil das Ich
stets aufgerufen ist, für den Anderen da zu sein, ihm gegenüber Verantwortung zu übernehmen. Seine
postmoderne Ethik – so Bauman – sei deshalb keine der »schulterzuckenden Gleichgültigkeit«
(a.a.O., S. 28).
Eine solche postmoderne Ethik sei aber nicht nur aufgrund vergangener (katastrophaler)
Erfahrungen mit den Gesellschaftsformen und Denksystemen der Moderne gerechtfertigt, sondern auch
deshalb, weil die derzeitigen Strukturen des Sozialen ohnehin jeden Gedanken an Universalität,
übergreifende Rationalität und Eindeutigkeit verbieten. Zu deutlich seien mittlerweile die Flüssigkeit
und die Vergänglichkeit scheinbar fixierter Sozialverhältnisse geworden. Bauman konstatiert, daß
sich seit 1945 oder spätestens seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums die grundlegenden
gesellschaftlichen und kulturellen Muster massiv gewandelt hätten. Wie Giddens und Beck behauptet
er einen fundamentalen Epochenbruch, den er zum Teil ähnlich wie diese beiden zu plausibilisieren
versucht: Auch er spricht von einem Zerfall von Nation und Familie als den Sozialformen, die in der
Vergangenheit individuelle Unsicherheit aufgefangen und damit Stabilität garantiert hätten. An ihre
Stelle sei aber kein Ersatz getreten, so daß das Ich als letzter Rückbezug des Menschen übrigbleibt.
Die Postmoderne sei also zutiefst durch eine privatisierte Individualität charakterisiert – mit
erheblichen Auswirkungen auf die Politik (vgl. Bauman, Die Krise der Politik, S. 61 ff.). Diese
Auswirkungen zeichnet Bauman nun deutlich negativer als Beck und Giddens. Seiner Auffassung nach
hat das Vordringen des Marktes im Gefolge einer »neo-liberalen« Politik und Ideologie letztlich zu
immer mehr Unsicherheiten geführt, was angesichts einer fundamentalen Fragmentierung politischer
Verhältnisse sowohl die bürgerliche Öffentlichkeit wie auch den kritischen Diskurs der Intellektuellen
bedrohe. Die Postmoderne brachte Bauman zufolge also nicht größere Freiheit als solche, sondern
lediglich den Wandel vom Bürger zum Marktkonsumenten (Bauman, Die Krise der Politik, S. 116).
663Zugespitzt lautet Baumans These, daß die typischen Figuren der Moderne der Soldat und der
Produzent waren, beide jeweils fest eingebunden in staatliche und industriell-betriebliche
Organisationen, die sich durch ungeheure Härte und Stabilität auszeichneten. Diese Figuren hätten
heute in der Postmoderne an Bedeutung verloren. An ihre Stelle sei als typische Verkörperung dieser
postmodernen Konstellation der »Tourist« getreten, der Inbegriff der »Verneinung« stabiler Muster,
weil der Tourist nie wirklich der Gesellschaft, in der er gerade anwesend ist, zugehört, weil er
schnell seinen Aufenthaltsort wechselt, sich nicht wirklich bindet und nach kurzfristiger emotionaler
Befriedigung sucht, nicht nach stabilen Beziehungen. Der »Tourist« ist für Bauman die Figur, die
quasi eine Art Antwort auf die Instabilität und Unsicherheit postmoderner sozialer Strukturen und die
nicht mehr aufzuhebende Ambivalenz postmoderner Kultur darstellt.
Menschliches Handeln ist nicht weniger vergänglich und unberechenbar als früher; doch scheint dies jetzt in verstärktem Maße auch für
die Welt zu gelten, in der es sich zu verwirklichen und zu orientieren sucht. Wie kann man sein Leben als Pilgerschaft leben, wenn die
Schreine und Heiligtümer ständig versetzt, entweiht, für sakrosankt erklärt und dann wieder profaniert werden, und das alles in kürzerer
Zeit, als die Reise zu ihnen beanspruchen würde? Wie kann man in eine Lebensleistung, ein Lebenswerk investieren, wenn die Werte von
heute garantiert schon morgen entwertet und inflationiert werden? Wie kann man sein Leben in den Dienst einer Berufung stellen, wenn
die Aktiva in Gestalt mühsam erworbener Fertigkeiten schon tags darauf zu Belastungen werden? Wenn Berufe und Jobs sang- und
klanglos verschwinden und das Expertenwissen von gestern sich heute wie Scheuklappen auswirkt? (Bauman, Unbehagen in der
Postmoderne, S. 157/158)

Bauman nimmt angesichts der derart diagnostizierten Verfaßtheit postmoderner sozialer Strukturen
eine quasi heroisch-nüchterne Haltung ein: Wir müssen zwar als von der ökonomischen
Globalisierung Betroffene gegen diese Prozesse ankämpfen, aber wir können es nicht mehr mit den
Denkmitteln der Moderne. Es lassen sich schlicht keine Argumente mehr vorbringen, die
universalistisch angelegt sind, von einer Vernunft ausgehen usw., weil die Postmoderne durch
unaufhebbare Ambivalenzen gekennzeichnet sei. Wir haben anzuerkennen, daß wir in einer
»regenbogengleiche(n), polyseme(n) und mannigfaltige(n) Kultur [leben], die sich ihrer Vieldeutigkeit
nicht schämt, die sich zurückhält, Urteile zu fällen, die notgedrun664gen tolerant gegenüber anderen
ist, weil sie endlich sich selbst gegenüber tolerant ist, gegenüber ihrer letzten Kontingenz und der
Unerschöpflichkeit der Deutungen« (Bauman, Moderne und Ambivalenz, S. 197). Bauman zeigt sich
in diesem Zusammenhang als ein scharfer Kritiker der kommunitaristischen Autoren, die seiner
Meinung nach diese Notwendigkeit der Toleranz zugunsten der Idee einer stabilen und wertbesetzten
Gemeinschaftlichkeit aufheben wollen. Er will sich dem widersetzen, denn ähnlich wie für Lyotard
ist für ihn weder ein Habermasscher Konsens noch jene kommunitaristische Idee einer wertbehafteten
Gemeinschaftlichkeit denk- oder gar wünschbar. Bauman plädiert statt dessen für die Idee einer
»polykulturellen Gesellschaft« (Die Krise der Politik, S. 284), die durch Pluralismus und Toleranz
charakterisiert sei.
Freilich kann man hier kritisch fragen, wie man sich ausgehend von derartigen Prämissen den
Kampf beispielsweise gegen die negativen Auswirkungen der ökonomischen Globalisierung konkret
vorzustellen habe. Denn Bauman fordert zwar immer Solidarität zwischen den Menschen und plädiert
für den Erhalt oder den Aufbau eines Wohlfahrtsstaates, so wie er in Großbritannien am Ende des
Zweiten Weltkriegs unter dem »radikalen Liberalen« Beveridge konzipiert worden war (Bauman,
Unbehagen in der Postmoderne, S. 365), aber er läßt seine Leser gleichzeitig im unklaren, wie und
woher diese Solidarität überhaupt kommen soll, wie der Kampf um bestimmte wohlfahrtsstaatliche
Institutionen als kollektiver und vor allem kontinuierlicher Kampf überhaupt (erfolgreich) geführt
werden kann, wenn es stimmt, wie Bauman sagt, daß die Individualisierungsthese als letzter
Ausgangspunkt einer jeden politischen und normativen Analyse der Gegenwart zu gelten habe. Aber
man kann die Baumansche postmoderne Ethik auf einer noch grundlegenderen Ebene hinterfragen.
Denn es ist sicherlich gewagt und widerspricht allzusehr den gerade in der Soziologie
herausgearbeiteten Einsichten, wenn man moralische Gefühle als vor-soziale Gegebenheiten
konzeptualisiert, so wie Bauman dies in Anlehnung an Levinas tut. Es ist zwar richtig, daß sich nicht
wenige Institutionen in der Moderne als zutiefst unmoralisch erwiesen haben. Aber daraus läßt sich
durchaus nicht schlußfolgern, daß Moral überhaupt außerhalb jeglicher institutionellen
Zusammenhänge »gelernt« wird. Es mag durchaus sein, daß etwa die Kohlbergsche Theorie der
Moralentwicklung zu kognitivistisch bzw. zu rationalistisch angelegt ist (siehe die Siebzehnte
665Vorlesung). Aber wiederum gilt: Die Kritik an Kohlberg kann wohl kaum ernsthaft zur These
führen, daß sich Moral jenseits sozialer Zusammenhänge entwickelt. Die Debatte zwischen Kohlberg
und Gilligan hat sich aus guten Gründen nicht um die Frage der sozialen Genese der Moral an sich
gedreht, sondern um die Form dieser sozialen Entwicklung und ihre Konsequenzen für die
Ausgestaltung der (geschlechtsspezifischen) Moral. Zwar muß eine Moraltheorie zeigen können, wie
die erschütternde Begegnung mit dem »Anderen« in die sozial erworbene Moral einbricht; aber diese
Erschütterung stellt ja auch eine soziale und keine vorsoziale Erfahrung dar (vgl. Bernsteins
Auseinandersetzung mit Levinas in The New Constellation und Hans Joas, Die Entstehung der
Werte, S. 162 ff.). Weil sich Bauman um diese genuin soziologischen und sozialpsychologischen
Fragen nicht wirklich kümmert, sondern sich – wenn auch mit einigen in seinem Werk immer wieder
artikulierten Zweifeln – umstandslos auf die philosophische Konzeption von Levinas stützt, bleibt ein
wesentlicher Baustein seines gesamten Werkes theoretisch unentwickelt.
Gerade diesen von Bauman berührten, aber nie wirklich beantworteten empirischen und
theoretisch-normativen Fragen widmete sich Mitte der 1980er Jahre nun ein Autor, den wir im
Zusammenhang mit der Erneuerung des Parsonianismus (Dreizehnte Vorlesung) schon kennengelernt
haben: Die Rede ist von Robert Bellah, der durch seine Zeitdiagnose ganz erheblich auch die schon
genannte kommunitaristische Bewegung angeregt hat.

3. Um die teilweise heftigen Debatten über das Bellahsche Buch und den in den USA entstandenen
Kommunitarismus angemessen würdigen zu können, ist zunächst ein etwas längerer Rückblick auf die
Besonderheiten der sozialwissenschaftlichen Landschaft der USA in den 1970er und 1980er Jahren
notwendig. Wir hatten bereits erwähnt, daß sich ungefähr ab 1970 der Schwerpunkt theoretischer
Arbeit in der Disziplin der Soziologie nach Europa verschob. Zwar konnten theoretische Ansätze wie
der Neo-Utilitarismus und der Neo-Parsonianismus gerade in den USA immer eine starke Stellung
behaupten; jedoch die neueren und vor allem synthetischen Ansätze waren vorwiegend in Europa
entwickelt worden, wo die in der hochprofessionalisierten amerikanischen Soziologie vorhandene
große Skepsis gegenüber allzu theoretischen Schwerpunktsetzungen so 666nicht zu beobachten war.
Aber spätestens Anfang der 1980er Jahre erfolgte diesbezüglich zumindest in Teilen der
amerikanischen Sozialwissenschaften ein deutlich wahrnehmbares Umsteuern – nicht zuletzt unter
dem Einfluß bestimmter Entwicklungen in der (amerikanischen) Politikwissenschaft und Philosophie.
Damit wurden die USA wieder ein fruchtbarer Boden für die Weiterentwicklung der Sozialtheorie.
Die hier gemeinten Entwicklungen sind eng mit dem Namen von John Rawls (1921-2002)
verbunden, der mit seinem 1971 erschienenen Werk A Theory of Justice (dt.: Theorie der
Gerechtigkeit) eine Art Revolution in diesen beiden Disziplinen eingeleitet hat, indem es ihm gelang,
normativ-politische Fragen wieder ins Zentrum gesellschaftstheoretischer Debatten zurückzubringen.
Rawls’ Buch war deshalb so neuartig und ist deshalb so begeistert, aber auch so kontrovers rezipiert
worden, weil sich das neuzeitliche politische Denken seit der Zeit der Renaissance wesentlich
zwischen zwei Extremen bewegt hatte: Vereinfachend und unter Absehung von Kontroversen zur
genaueren Interpretation läßt sich nämlich behaupten, daß mit dem Werk Niccolò Machiavellis (1469-
1527) eine folgenreiche Polarisierung des politischen Denkens eingeleitet worden ist. Als einer der
ersten modernen politischen Denker hatte dieser versucht, ethische Probleme aus dem Zentrum der
politischen Philosophie zu eliminieren. Politisches Theoretisieren sollte sich seiner Auffassung nach
nicht auf ethische Fragen beziehen, sondern lediglich auf das tatsächliche Verhalten um Macht
kämpfender politischer Akteure bzw. auf die in diesem Machtspiel zu verwendenden Strategien.
Machiavellis Schriften bildeten somit den Ausgangspunkt für die Spaltung der antiken »praktischen
Philosophie« in eine exakte Wissenschaft politischer Rationalität einerseits und eine Moraltheorie
andererseits. Eine »Arbeitsteilung« etablierte sich zwischen einer entmoralisierten Politiklehre, die
sich ohne Rückgriff auf ethische Fragen der tatsächlichen Funktionsweisen politischer Institutionen
oder Systeme annahm, und einer politisch neutralisierten Moral- oder Tugendlehre, deren öffentliche
Relevanz kaum mehr erkennbar war (vgl. Otfried Höffe, Strategien der Humanität, S. 11 ff.).
Natürlich hat es in der Geschichte der neuzeitlichen Philosophie nie an Versuchen gefehlt, diese Kluft
zu überbrücken; es gab ständig auch Gegentendenzen der Renormativierung des politischen Denkens.
Bemerkenswert war aber doch, wie stark diese »Arbeitsteilung« im 667politisch-philosophischen
Diskurs bis in die Zeit der 1960er Jahre des 20. Jahrhunderts erhalten und strukturprägend blieb.
Gerade in der Nachkriegszeit liefen etwa in den USA normative politische Philosophie und
empirische Politikwissenschaft fast unverbunden nebeneinander her. Rawls’ A Theory of Justice war
nun der erste große und spektakuläre Versuch in einer diesbezüglich ereignisarmen Zeit, ethische
Fragen wieder an öffentliche Entscheidungsprozesse anzukoppeln – und zwar auf derart konkrete
Weise, daß die Relevanz der praktischen Philosophie unmittelbar einzuleuchten schien. Rawls gelang
es also, die zwei durch eine schier unüberwindliche Kluft getrennten Strömungen des politisch-
philosophischen Denkens zu verknüpfen, womit sein Werk zum Auslöser einer spektakulären
Wiederkehr normativer Fragen ins Zentrum der politischen Theorie wurde.
Für Rawls war kennzeichnend, daß er den Wert der Gerechtigkeit zum absoluten Zentrum seiner
theoretischen Überlegungen machte und daraus die Gestalt eines »gerechten« Institutionen- und
Machtgefüges von Gesellschaften und einer gerechten Güterverteilung abzuleiten versuchte.
Praktische Philosophie, das war Rawls’ Überzeugung, müsse am gesamtgesellschaftlichen
Institutionengefüge ansetzen, weil durch dieses die Lebenschancen der Gesellschaftsmitglieder
entscheidend geprägt werden. Ein moralphilosophischer Ansatz, der ganz überwiegend auf einzelne
Individuen zielte, bliebe angesichts der Komplexität moderner Gesellschaften relativ wirkungslos.
Die moralisch drängenden Probleme der Armut, der innergesellschaftlichen Machtungleichgewichte
etc. lassen sich laut Rawls kaum aussichtsreich angehen durch eine Ethik, die sich lediglich auf
individuelles Verhalten konzentriert. Eine Theorie der Gerechtigkeit muß deshalb an
gesellschaftlichen Grundstrukturen ansetzen, was er schon in einem der ersten Sätze des Buches
folgendermaßen zum Ausdruck bringt: »Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen.«
(Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 21) Wie aber weiß man, ob bestehende soziale Institutionen
oder Gesellschaften gerecht sind? Rawls zufolge läßt sich dies durch eine einfache Frage
entscheiden, die etwa so lautet: »Würden rationale Menschen tatsächlich derartige bestehende
Institutionen oder Gesellschaften entwickeln, wenn sie die Chance hätten, neue soziale Strukturen von
Grund auf zu schaffen?« Wenn ja, dann sind die jeweiligen Institutionen bzw. Gesellschaften gerecht!
Natürlich ist diese von 668Rawls gestellte Frage – wie Sie wahrscheinlich auch sofort bemerkt
haben – sehr einfach, zu einfach, weil man selbstverständlich weiter fragen kann, was denn überhaupt
Rationalität sei, wer als »rationale Person« zu gelten habe usw. Der Verdacht liegt also nahe, daß in
dieser Rawlsschen Frage, die einen exakten Maßstab zur Beurteilung der Gesellschaft bzw. ihrer
Institutionen abgeben soll, derart viele Unsicherheiten und Unklarheiten versteckt sind, daß eine alle
Beteiligten zufriedenstellende Lösung überhaupt undenkbar erscheint.
Rawls wußte natürlich um die Schwächen einer solchen Frage, hielt sie aber deshalb nicht für
sinnlos. Vielmehr war er der Meinung, daß sich diese Schwäche durch eine Art Gedankenexperiment
beseitigen ließe, das in ähnlicher Weise schon in der Geschichte der Philosophie – etwa bei den
Vertragstheoretikern der europäischen Aufklärung – seine Anwendung gefunden hatte. Seine
Argumentation lautet folgendermaßen: Zur rationalen Beurteilung der Gerechtigkeit gegenwärtiger
Institutionen bzw. zur rationalen Diskussion einer zukünftigen neuen und gerechten Gesellschaft
treffen sich notwendigerweise immer Menschen mit je unterschiedlichen Wünschen, Bedürfnissen,
Werten, Lebensentwürfen, politischen und religiösen Bekenntnissen, Machtressourcen und Gütern
usw. Angesichts all dieser Unterschiede ist eigentlich kein Konsens zu erwarten! Allerdings – und
dies ist nun Rawls’ Vorschlag für ein Gedankenexperiment –, ein solcher Konsens würde dann in
greifbare Nähe rücken und eine rationale, für alle akzeptable und damit gerechte Entscheidung würde
sich treffen lassen, wenn die unterschiedlichen an der Diskussion beteiligten Menschen ihre eigenen
Bedürfnisse, Werte, Ziele, Ressourcen usw. nicht kennen würden. Man müßte die
Diskussionsteilnehmer also in eine Situation bringen, in der sie über ihren eigenen Platz in der
Gesellschaft nicht Bescheid wissen, so daß sie notwendig auf eine unparteiliche Weise diskutieren
würden. Eine solche Diskussionssituation sähe folgendermaßen aus:
Vor allem kennt niemand seinen Platz in der Gesellschaft, seine Klasse oder seinen Status; ebensowenig seine natürlichen Gaben, seine
Intelligenz, Körperkraft usw. Ferner kennt niemand seine Vorstellung vom Guten, die Einzelheiten seines vernünftigen Lebensplanes, ja
nicht einmal die Besonderheiten seiner Psyche wie seine Einstellung zum Risiko oder seine Neigung zum Optimismus oder Pessimismus.
(Rawls, a.a.O., S. 160)

669Bei jener Diskussion hinge über den Menschen und ihrer je individuellen Situation ein Schleier
des Nichtwissens (»veil of ignorance«) – wie Rawls metaphorisch sagt. Und genau dieser Schleier
hält die Menschen davon ab, beispielsweise allzu krassen Reichtums- oder Machtunterschieden in
der gesellschaftlichen Grundstruktur zuzustimmen, weil sie ja damit rechnen müßten, in einer solchen
Gesellschaft ganz unten auf der Hierarchieleiter zu stehen. Niemand würde beispielsweise für die
Sklaverei stimmen – so der Gedanke von Rawls –, wenn er nicht ausschließen kann, daß er selbst zu
den Versklavten gehören wird.
Mit diesem Gedankenexperiment, mit dieser Idee des »veil of ignorance«, glaubt Rawls einen
Maßstab in der Hand zu haben, um zu beurteilen, ob gesellschaftliche Strukturen oder
gesellschaftliche Entscheidungsprozesse tatsächlich gerecht sind. Sie sind es dann, wenn die von der
Struktur einer Gesellschaft oder von gesellschaftspolitischen Entscheidungen betroffenen Menschen in
jener künstlichen Situation des Nichtwissens der Einrichtung dieser Strukturen bzw. diesen
Entscheidungen zugestimmt hätten.
All dies hört sich ziemlich abstrakt und damit vielleicht politisch einigermaßen folgenlos an. Doch
in Wirklichkeit leitet Rawls aus dieser Idee des »veil of ignorance« Schlußfolgerungen ab, die zu
ziemlich konkreten Forderungen an die Politik führen. Seine Behauptung ist nämlich, daß sich unter
den Bedingungen des Schleiers des Nichtwissens die Diskussionsteilnehmer genau auf zwei
fundamentale Grundsätze einigen würden.
1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle
anderen verträglich ist. 2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß
sie zu jedermanns Vorteil dienen und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offenstehen. (Rawls, a.a.O., S. 81)

Der erste Grundsatz besagt, daß Menschen in der Situation des Nichtwissens auf eine
Gesellschaftsform zusteuern werden, in der Grundrechte wie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit,
Wahlrecht, Rechtssicherheit, Recht auf Eigentum usw. garantiert wären, weil jeder diese Rechte in
Anspruch nehmen und nicht riskieren will, sie möglicherweise in einer Gesellschaft, die diese Rechte
nicht oder nicht allen gewährt, zu verlieren. Der zweite Grundsatz zielt mit 670dem zweiten
Nebensatz (b) auf eine meritokratische Gesellschaft, in der Leistung und nicht etwa Geburtskriterien
die Position bestimmen, in der adelige Abstammung beispielsweise nicht Voraussetzung sein darf für
das Erreichen bestimmter politischer Ämter. Mit dem an sich harmlos klingenden ersten Nebensatz
(a), der in der Literatur auch unter dem Begriff »Differenzprinzip« diskutiert wird, ist eine Art
gesellschaftspolitisches Programm anvisiert, das in gewisser Weise an (im deutschen Verständnis)
linksliberales Gedankengut erinnert, weil dieses Differenzprinzip besagt, daß in einer zu schaffenden
gerechten Gesellschaft die Herausbildung sozialer Ungleichheit und damit einhergehend die
Verteilung von Gütern nicht mehr »naturwüchsig« erfolgen kann. Denn mit dem Ausdruck »zu
jedermanns Vorteil« wird beispielsweise ausgeschlossen, daß der Reichtum einer Gesamtgesellschaft
so gesteigert wird, daß dies auf Kosten bestimmter Bevölkerungsgruppen geht. Argumente etwa
derart, es sei nötig, das Lohnniveau der untersten Lohngruppen abzusenken, um den
Wirtschaftsstandort Deutschland zu halten und den gesamtgesellschaftlichen Reichtum zu sichern oder
zu vermehren, würden demnach vermutlich unter das Verdikt der Ungerechtigkeit fallen. Soziale
Ungleichheiten – so Rawls, der sich hierin massiv von Castoriadis’ radikalem Gleichheitsideal
unterscheidet – sind häufig unvermeidlich; es wird häufig auch dazu kommen, daß die sozialen
Ungleichheiten wachsen. Gerecht ist dies aber nur dann, wenn die Ungleichheiten auch den am
schlechtesten Gestellten zum größten Nutzen gereichen. Dies ist mit dem Ausdruck »zu jedermanns
Vorteil« gemeint. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Es mag durchaus sinnvoll sein, die
obersten Gehaltsgruppen einer Gesellschaft zu privilegieren, indem man Spitzenmanagern noch mehr
Geld bietet in der Hoffnung, daß sie durch ihre Leistungen den gesamtgesellschaftlichen Reichtum
zusätzlich mehren. Dieser Weg ist aber laut Rawls in einer gerechten Gesellschaft nur dann gangbar,
wenn auch die untersten Lohngruppen, Arbeitslose oder Sozialhilfeempfänger in nennenswerter Weise
davon profitieren werden, wenn dieser gesellschaftliche Reichtumszuwachs auch den
Unterprivilegierten zugute kommt, etwa durch Lohnerhöhungen, höheres Arbeitslosengeld oder
großzügigere Sozialhilfe. Aus der Rawlsschen politischen Philosophie folgt also eine Art
dynamischer Wohlfahrtskonzeption; sie läßt sich als ein Plädoyer für sozialpolitische Maßnahmen
lesen, die am Wohl der Schwächsten einer Gesell671schaft orientiert sind, gleichzeitig aber die auch
zu konstatierenden Vorteile der Arbeitsteilung, gesellschaftlicher Differenzierung und damit sozialer
Ungleichheit berücksichtigen.
Rawls’ politische Philosophie hat – wie schon betont – äußerst starkes Interesse auf sich gezogen.
Seine Idee des »veil of ignorance« hat andere Denker dazu angeregt, in ähnlicher Weise nach
Maßstäben zur Beurteilung gerechter/ungerechter Verfahren zu suchen: So weist zwar Habermas’ Idee
des (herrschaftsfreien) Diskurses (vgl. unsere Zehnte Vorlesung) erhebliche Unterschiede zur
Rawlsschen Denkfigur auf, doch verdankt sie ihr auch wichtige Einsichten, insofern sich Habermas
gerade an den Stärken und Schwächen des Rawlsschen Programms immer orientiert und abgearbeitet
hat.

Auch wenn die Rawlssche Argumentation brillant war, so blieb Kritik doch nicht aus – insbesondere
eine bestimmte Form der Kritik: Denn seit den frühen 1980er Jahren wurden nicht so sehr die
(sozial)politischen Konsequenzen des Rawlsschen Programms kritisiert als vielmehr die hochgradig
individualistischen Prämissen seiner ganzen Argumentationsführung. Nach Meinung dieser Kritiker
hing Rawls einem allzu atomistischen Verständnis menschlicher Existenz an, womit eine
sozialtheoretisch hochbrisante Kontroverse eingeleitet wurde.
Die hier angesprochene Kontroverse wurde höchst spektakulär vom amerikanischen
Politikwissenschaftler Michael Sandel (geb. 1953) eröffnet, der 1982 in Liberalism and the Limits
of Justice eine fulminante Kritik an dem von Rawls unterstellten Vorrang des Gerechten gegenüber
dem Guten formulierte und damit einen ersten Meilenstein in der nun anhebenden Debatte zwischen
sogenannten liberalen und kommunitaristischen Vertretern der politischen Philosophie setzte.
Rawls hatte ja seine politisch-philosophischen Reflexionen mit dem Satz begonnen, wonach die
»Gerechtigkeit die erste Tugend sozialer Institutionen sei«. Er vertrat damit die Ansicht, daß es nicht
Aufgabe der Philosophie sein könne, bestimmte Werte, bestimmte Lebensformen, bestimmte
gesellschaftliche Strukturen als an sich gut auszuzeichnen, wie dies etwa für Aristoteles
selbstverständlich war. Denn in einer pluralistischen Gesellschaft würde ein solches Unterfangen fast
zwangsläufig die Vorstellungen bestimmter Menschen vom »guten Leben« verletzen. Aufgabe der
heutigen Philoso672phie kann es demnach nur mehr sein, formale Kriterien für das Zustandekommen
gerechter Entscheidungen zu bestimmen. Deshalb das Rawlssche Beharren auf dem Vorrang des
Gerechten gegenüber dem Guten: Die Philosophie habe nur darüber zu wachen, daß Entscheidungen
fair und gerecht gefällt werden; sie habe sich nicht dazu zu äußern, welche Werte und konkreten
Lebensformen die Menschen in ihrer eigenen Lebensführung wählen sollten.
Genau diesen Punkt kritisiert nun Sandel. Seine These ist, daß Rawls’ individualistischer
Ausgangspunkt bei der Konzeptualisierung des »veil of ignorance« nicht plausibel und mit der Rede
vom »Differenzprinzip« auch gar nicht vereinbar sei. Dabei zielt Sandel nicht allein auf Rawls,
konzentriert sich aber auf diesen, weil er ihm als ein besonders versierter Vertreter eines politisch-
philosophischen Liberalismus gilt, welcher schon aufgrund seiner Prämissen problematisch bzw. in
sich widersprüchlich sei. Die zu kritisierenden liberalen Prämissen umschreibt er dabei
folgendermaßen:
(…) society, being composed of a plurality of persons, each with his own aims, interests, and conceptions of the good, is best arranged
when it is governed by principles that do not themselves presuppose any particular conception of the good; what justifies these regulative
principles above all is not that they maximize the social welfare or otherwise promote the good, but rather that they conform to the
concept of right, a moral category given prior to the good and independent of it. (Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, S. 1)

Mit dieser »liberalen« Grundkonzeption moralischen Philosophierens, die schon bei Kant zu finden
sei, will sich Sandel nun auseinandersetzen; er will die Kantsche und Rawlssche These vom Primat
des Rechten herausfordern und statt dessen auf die Grenzen des Gerechtigkeitsprinzips hinweisen –
deshalb der Titel des Buches: Liberalism and the Limits of Justice. Sandel macht besonders auf eine
Konsequenz der Rawlsschen Philosophie und der dort zu findenden Prämisse des Primats des
Rechten vor dem Guten aufmerksam. Diese besage nämlich, daß sich Gerechtigkeitsprinzipien
unabhängig von Konzeptionen des Guten definieren ließen: »This foundational priority allows the
right to stand aloof from prevailing values and conceptions of the good (…).« (a.a.O., S. 18) Damit
aber – so Sandel – sei eine höchst folgenreiche Bestimmung der menschlichen Person impliziert:
Nimmt man Rawls (und andere Liberale) beim Wort, 673dann hieße dies, daß für unsere Identität
nicht der Inhalt unserer Ziele, Werte, Wünsche usw. entscheidend sei, sondern lediglich unsere
Fähigkeit, bestimmte Ziele, Werte und Wünsche (rational) zu wählen. Dies aber bedeute letztlich,
daß das Selbst unabhängig von seinen konkreten Zielen, Wünschen, Werten etc. existiert. Unterstellt
werde also »a self which must be prior to the ends it chooses« (a.a.O., S. 19), suggeriert werde »the
unity of the self as something antecedently established, fashioned prior to the choices it makes in the
course of its experience« (a.a.O., S. 21).
Sandels Vorwurf lautet also, daß Rawls’ ganze Theorieanlage ein Subjekt voraussetze, das radikal
von allen »Inhalten«, ebenjenen konkreten Wünschen, Zielen, Werten usw., entleert oder entleerbar
sei. Der liberale (Kantsche oder Rawlssche) Person-Begriff ist derjenige eines ungebundenen, nicht
situierten Selbst (»unencumbered self«) und impliziert, daß Personen sich von ihren Eigenschaften,
Werten und Bindungen vollkommen distanzieren und diese (rational) wählen könnten. Nur so läßt sich
auch der Primat des Rechten vor dem Guten durchhalten. Kann man aber ernsthaft annehmen, daß sich
Menschen, die sich zutiefst zu bestimmten Werten hingezogen fühlen, von diesen Werten distanzieren,
um in einen Gerechtigkeitsdiskurs einzutreten, der möglicherweise genau diese Werte in Frage stellt?
Und weiter: Warum sollten sich diejenigen, die an der Diskussion beteiligt waren, überhaupt an die
Ergebnisse halten? Rawls’ Personen in jenem Gedankenexperiment sind derart abstrakt gefaßt, daß
völlig unklar bleibt, woher sie die moralischen Motive nehmen, um die Ergebnisse der Diskussion
ernsthaft umzusetzen. Das ganze Gedankenexperiment fußt laut Sandel auf der wirklichkeitsfernen
Vorstellung eines isolierten und ungebundenen Selbst, was dann auch notwendigerweise zu
Widersprüchen in Rawls’ gesamter Theoriearchitektonik führe.
Dies zeigt sich deutlich bei der Analyse des Rawlsschen Differenzprinzips, also bei der
Untersuchung seiner Forderung nach einer wohlfahrtsstaatlichen Politik, die gerade die am meisten
benachteiligten Gruppen einer Gesellschaft berücksichtigt. Denn diese Forderung nach einer Politik,
die alle Gruppen einer Gesellschaft in eine »politische Gemeinschaft« einbinden will, greift
automatisch auf eine Sprache zurück, die intersubjektive Ziele und damit eine Idee des Guten
anerkennt und somit den hochgradig individualistischen Grundprämissen des Rawlsschen
Gedankenexperiments 674widerspricht. »In his discussion of the idea of social union, Rawls carries
his intersubjective language from common assets to common ends and purposes, and in rhetoric that
comes perilously close to the teleological, speaks of human beings realizing their common nature as
well.« (A.a.O., S. 81) Sandel formuliert also gegenüber Rawls einen ähnlichen Einwand, wie ihn
Parsons gegenüber den Utilitaristen und vor allem Hobbes vorgebracht hat (vgl. unsere Zweite
Vorlesung): Parsons hatte ja gegen die verschiedenen Versuche, das »Problem« sozialer Ordnung mit
utilitaristischen Mitteln zu lösen, eingewandt, daß nur die Einsicht in die Grenzen dieser
utilitaristischen Prämissen selbst zu einer wirklichen Lösung führen könne. Sandel argumentiert in
ähnlicher Weise gegenüber Rawls, nämlich daß die in seinem Differenzprinzip steckenden normativen
Forderungen nur dann nachvollziehbar seien, wenn man die hochindividualistischen Prämissen seiner
»veil of ignorance«-Situation aufgebe.
Das kann in letzter Konsequenz aber nur bedeuten, daß die genannten Prämissen an sich
problematisch sind, d. h. auch die Vorstellung vom Primat des Rechten vor dem Guten. Sandel fordert
deshalb – und dies ist der zentrale Punkt des zwischen sogenannten Liberalen und Kommunitaristen
anhebenden Streits – eine Umdrehung dieses Verhältnisses zwischen dem Rechten und dem Guten.
Die Begründung hierfür ist folgende: Es ist eine anthropologisch problematische Annahme, daß
Menschen ihre Ziele und Wünsche jeweils individuell und quasi monologisch bestimmen, ganz
abgesehen davon, daß eine solche Vorstellung entgegen unserer Alltagsintuition das Selbst als
»inhaltslos« begreift: »To imagine a person incapable of constitutive attachments (…) is not to
conceive an ideally free and rational agent, but to imagine a person wholly without character, without
moral depth.« (A.a.O., S. 179) Sandel setzt dagegen die Behauptung, daß Menschen in
Gemeinschaften leben, ihre Ziele, Werte und Wünsche in Zusammenhang mit anderen formulieren,
also eingebunden sind in bestimmte Institutionen und gesellschaftliche Strukturen. Diese (intakten)
gesellschaftlichen Strukturen sind notwendig, damit es dem einzelnen überhaupt möglich wird, zu
einem Verständnis seiner selbst zu gelangen. Nur wenn wir uns darüber im klaren sind, was »gut« ist,
welche Lebensform wir überhaupt wollen, sind wir in der Lage, über Gerechtigkeit zu diskutieren.
Die Rawlsschen Prämissen abstrahieren hingegen von jenen gemeinschaftlichen Voraussetzungen von
Individualität, ohne 675die sich laut Sandel ein Subjekt überhaupt nicht konstituieren kann. Und genau
deswegen – so Sandel – gerät Rawls’ Theorieanlage in unübersehbare Schwierigkeiten.
Sandel beläßt es aber nicht bei der Kritik am anthropologisch-grundbegrifflichen Rahmen der
Rawlsschen Theorie. Seine Kritik richtet sich auch auf die Annahme der politischen Stabilität eines
politischen Gemeinwesens, das ausschließlich auf individuellen Rechten basiere und ansonsten keine
Wertgrundlagen habe. Eine bloß »verfahrensrechtliche Republik« – so Sandel – hat in Wirklichkeit
keine festen Grundlagen; solche liegen in gemeinschaftlichen Werten, die über die bloße Orientierung
an abstrakten oder formalen Fragen der Gerechtigkeit hinausgehen. Der Amerikaner Sandel
diagnostiziert hinsichtlich des Zustandes der amerikanischen Gesellschaft und Politik eine schwere
Krise, die dadurch bedingt sei, daß Politik nur mehr als ein Kampf um Rechte begriffen werde und
darüber Fragen des Guten vernachlässigt würden.
In unserem öffentlichen Leben sind wir stärker verfangen, aber weniger gebunden als je zuvor. Es ist, als ob das von der liberalen Ethik
vorausgesetzte ungebundene Selbst Wirklichkeit geworden wäre – eher entmachtet als befreit und in einem Netzwerk von ungewollten
Verpflichtungen und Verwicklungen verfangen, aber dennoch von den gemeinschaftlichen Identifikationen oder mitteilbaren
Selbstbestimmungen abgekoppelt, die jene erträglich machen würden. Indem die soziale und politische Organisation umfassender
geworden ist, haben die Bedingungen unserer sozialen Identität an Einheitlichkeit eingebüßt und die Formen des politischen Lebens die zu
ihrer Stützung unabdingbaren gemeinschaftlichen Ziele überholt. (Sandel, »Die verfahrensrechtliche Republik und das ungebundene
Selbst«, S. 34)

Die amerikanische Gesellschaft sei deshalb in die Krise geraten, weil es an gemeinschaftlichen
Werten fehle, die allein einer Gesellschaft erst wirkliche Stabilität verleihen könnten. Sandel selbst
kann zwar keine konkrete gemeinschaftliche Ethik anbieten, er ist sich aber sicher, daß Rawls’
normative Theorie mit ihrem Primat des Rechten gerade nicht dazu geeignet sei, aus der Krise zu
führen.

Die u. a. von Sandel angestoßene Debatte zwischen Liberalen und Kommunitaristen führte nach ersten
scharfen Auseinandersetzungen zu einer schrittweisen Annäherung zwischen beiden Positionen.
Autoren wie die Philosophen und Politikwissenschaftler Charles Taylor und Michael Walzer (geb.
1935) auf kommunitaristischer 676Seite waren ebenso gezwungen, ihre Positionen zumindest leicht zu
revidieren, wie die Kontrahenten auf Seite der Liberalen, ebenjene Verfechter einer prozeduralen
Ethik wie Rawls oder auch Jürgen Habermas, worauf wir ja auch schon zum Schluß der Zehnten
Vorlesung hingewiesen hatten. Die Annäherung brachte unter anderem auch die Entdeckung mit sich,
daß beiden Positionen die Kritik an gewissen Formen des Individualismus durchaus gemeinsam ist.
Beide grenzen sich ja sowohl vom »utilitaristischen« wie vom »expressivistischen« Individualismus
deutlich ab, der in der amerikanischen (und vielleicht überhaupt der westlichen) Kultur zur
Hegemonie gelangt sei. Auf die Probleme eines solchen utilitaristischen und expressivistischen
Individualismus hatten auch Robert Bellah und seine Mitarbeiter hingewiesen, und zwar nicht in einer
philosophischen Weise, sondern in einer umfangreichen soziologischen Studie, womit sie den bis
dato geführten eher abstrakt-philosophischen Debatten empirische Substanz verliehen.
Habits of the Heart. Individualism and Commitment in American Life von Robert N. Bellah,
Richard Madsen, William M. Sullivan, Ann Swidler und Steven M. Tipton ist eines der großen
zeitdiagnostischen Werke der 1980er Jahre. Denn den Autoren dieses 1985 erstmals erschienenen
Buches (dt.: Gewohnheiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in der amerikanischen
Gesellschaft) gelang nicht nur eine fundierte Kritik an einem fehlgeleiteten Individualismus. Das
Buch griff gleichzeitig auch die von Sandel diagnostizierte Krise moderner Gesellschaften auf, in
denen – so die Deutung – mangelnde Wertgrundlagen die gesellschaftliche Stabilität zu untergraben
drohten. Bellah selbst war für derartige Fragestellungen ohnehin sensibilisiert, hatte er doch als
Parsons-Schüler bereits in den 1960er Jahren in seinen Studien zur Zivilreligion in Amerika (vgl. die
Dreizehnte Vorlesung) auf die religiös fundierten Wertgrundlagen der amerikanischen Gesellschaft
hingewiesen. In der großen Studie der 1980er Jahre führt er die früheren Arbeiten fort, nun allerdings
auf wesentlich breiterer empirischer Basis und unter Berücksichtigung einer deutlich umfassenderen
Fragestellung.
Ausgangspunkt des Buches ist eine berühmte These von Alexis de Tocqueville, die dieser 1835 in
seiner Schrift De la démocratie en Amérique (dt.: Über die Demokratie in Amerika) formuliert hatte,
nämlich die These, daß für das Überleben freier Institutionen eine intensive Beziehung zwischen
privatem und öffentlichem Leben 677maßgeblich sei: Die Demokratie könne nur dann lebendig sein
und bleiben, wenn die Bürger bereit seien, den unmittelbaren privaten Kontext (Familie und
Verwandtschaft) zu überschreiten und sich als Personen in der Öffentlichkeit zu artikulieren, in
Freundschaftszirkeln, in Vereinen, in Parteien usw. Der Rückzug ins Private beschwöre nur die
Gefahr der Entstehung eines allmächtigen und alles regelnden Staates herauf und damit langfristig den
Tod einer freien und demokratischen Gesellschaft.
Diese These machten sich Bellah und Mitarbeiter zu eigen und nutzten sie als Folie für ihre
Zeitdiagnose und Gegenwartskritik. Dazu interviewten sie etwa 200 Erwachsene aus der weißen
amerikanischen Mittelschicht, um sie nach bestimmten Aspekten ihres Privatlebens (nach dem
Verhältnis dieser Personen zu Ehe, Liebe und Therapie) als auch ihres »öffentlichen« Lebens (nach
ihrer Beteiligung an Vereinen und Verbänden bzw. an der Kommunalpolitik) zu befragen. Die
Ergebnisse bestätigten in gewisser Weise die Sandelsche Krisendiagnose und führten darüber hinaus
zu neuen Einsichten hinsichtlich der höchst unterschiedlichen Formen des modernen Individualismus.
Während etwa Ulrich Beck bei seiner Individualisierungsthese sich kaum die Mühe machte,
unterschiedliche Formen des Individualismus zu unterscheiden, sahen Bellah und seine Mitarbeiter
genau darin eine erste vordringliche Aufgabe. In ihren Interviews, aber auch in historischen
Rückblicken zu geistesgeschichtlich bedeutsamen Figuren des amerikanischen Lebens konnten sie
insgesamt vier Typen des Individualismus ausfindig machen: eine auf die religiös motivierte
Besiedlungsphase Amerikas zurückgehende biblische Tradition, eine auf die Revolutionszeit
zurückgehende und am griechisch-römischen Politikverständnis orientierte republikanische Tradition
und schließlich eine Tradition, bei der man zwei Unterströmungen auseinanderzuhalten hat, einen
utilitaristischen und einen expressivistischen Individualismus.
Die Auswertung der Interviews allein freilich ergab ein eher eindimensionales Bild. Während
noch Tocqueville bei seiner Untersuchung in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts überwiegend einen
religiösen und republikanischen Individualismus beobachten konnte und seiner Auffassung nach
gerade diese Formen des Individualismus die Stärke und Vitalität des amerikanischen Gemeinwesens
und der Demokratie begründet hätten, ist davon bei den heute Inter678viewten kaum mehr etwas zu
spüren. Die z. B. bei John Winthrop (1588-1649), dem »ersten Puritaner« auf amerikanischen Boden,
zu findende Vorstellung, wonach die Freiheit des Menschen ein Gut sei, das ihn zur Ehrfurcht
gegenüber Gott und seinen Geboten verpflichte, hat heute ebenso an Einfluß eingebüßt wie die
Individualitätsvorstellung Thomas Jeffersons (1743-1826), der als Mitverfasser der amerikanischen
Unabhängigkeitserklärung eine rein formale Freiheit für ungenügend erachtete und in Anlehnung an
antike Politiktraditionen nur ein Gemeinwesen für achtenswert hielt, in dem die Bürger tatsächlich
mitbestimmen und aktiv am politischen Geschehen teilnehmen. Den meisten der Interviewten stand
die moralische Sprache eines Winthrop oder Jefferson überhaupt nicht mehr zur Verfügung, um die
von diesen gemeinten Sachverhalte zu verstehen, geschweige denn auszudrücken. Denn der heutige
Individualismus – so Bellah – sei entweder utilitaristisch, d. h. überwiegend auf die Erfüllung
kurzfristiger und zumeist materiell definierter Nutzenerwägungen ausgerichtet, oder expressivistisch,
d. h. an der Befriedigung emotionaler Bedürfnisse und an der Kultivierung der eigenen Person
orientiert. Nach Bellah lassen sich diesen beiden Typen des modernen Individualismus zwei
Sozialcharaktere zuordnen, die auch die amerikanische moderne Kultur, aber nicht nur diese, stark
dominieren: der Manager und der Therapeut! Sie verkörperten geradezu den heutzutage dominanten
utilitaristischen bzw. expressivistischen Individualismus.
Bemerkenswert an diesen beiden radikal zu nennenden Individualismen ist laut Bellah nun
folgendes: Derart individualistisch handelnden Menschen fehle zumeist schlicht die Fähigkeit,
Vorstellungen darüber auszubilden, wie sich ihre Interessen mit denen von anderen Menschen
verbinden ließen. Sie leiden dann auch häufig an Bindungs- und Beziehungslosigkeit und sind zudem
nicht einmal in der Lage zu definieren, was sie unter einem »guten Leben« verstehen. Die
Interviewten artikulierten (bewußt oder unbewußt) ein Unbehagen an ihrem eigenen bindungslosen
Leben, äußerten häufig sogar Widerstreben gegen die gesellschaftliche Hegemonie der Manager und
Therapeuten, waren aber gleichzeitig nicht in der Lage, dieses Unbehagen und dieses Widerstreben in
einer moralischen Sprache zu formulieren, die diesen utilitaristischen und expressivistischen
Individualismus überschritten hätte. Es gilt deshalb laut Bellah auch, »eine moralische Sprache zu
finden, die den radikalen Indivi679dualismus überwinden hilft« (Bellah, Gewohnheiten des Herzens,
S. 44). Dies sei um so dringlicher, weil ganz offensichtlich weder die Verwirklichung im Beruf, wie
es für die utilitaristischen Individualisten so typisch ist, noch die rein private Kultivierung
persönlicher Vorlieben, wie dies die expressiven Individualisten kennzeichnet, echte Zufriedenheit
verleihen, zumal sich in beiden Fällen für diese Personen das Problem einer fehlenden Tiefe und
Dauerhaftigkeit sozialer Kontakte stellt.
Bellahs These lautet, daß diese Schwierigkeiten nur behoben werden können, wenn dieser radikale
Individualismus ersetzt oder zumindest ergänzt wird durch kulturelle Orientierungen, die in der
amerikanischen Geschichte ehemals eine große Rolle gespielt haben, aber auch heute noch nicht ganz
verschwunden sind und die eine Identifikation mit Gemeinschaften und lebendigen Traditionen
ermöglichten. Nur ein Anknüpfen an die in den USA immer noch vorfindbaren biblischen und/oder
republikanischen Traditionen – so Bellah – ermöglicht auf Dauer eine Vitalisierung der
amerikanischen Demokratie.
Wenn wir nicht vollständig eine Masse austauschbarer Bruchstücke in einer Gesamtheit sind, wenn wir in Teilen qualitativ verschiedene
Mitglieder eines Ganzen sind, so deshalb, weil noch Traditionen – mit welchen Hindernissen auch immer – auf uns wirken, Traditionen,
die uns über die Natur der Welt, über die Natur unserer Gesellschaft und darüber Auskunft geben, wer wir als Volk sind. In erster Linie
sind, wie wir gesehen haben, die biblischen und republikanischen Traditionen für viele Amerikaner bedeutsam, bis zu einem gewissen
Grad für fast alle. Familien, Kirchen, vielfältige kulturelle Vereinigungen und – wenn auch nur in gesellschaftlichen Nischen – Schulen
und Universitäten vermitteln eine Lebensform, eine Paideia, die die einzelnen in einer moralisch und intellektuell verständlichen Welt
aufwachsen läßt. (Bellah, a.a.O., S. 319/320)

Nur dadurch würde verhindert, daß sich das (amerikanische) Gemeinwesen in ein Konglomerat
atomisierter Individuen auflöst oder zu einer Ansammlung von »Lebensstil-Enklaven« wird, von
denen jede einzelne nur mehr aus Gleichgesinnten besteht (die Gemeinschaft der Schwulen,
diejenigen der weißen Mittelschicht, diejenige der New-Age-Begeisterten etc.) und die genau
deshalb gar nicht mehr in der Lage sind, mit anderen Gemeinschaften zu kommunizieren, geschweige
denn gemeinsam politisch zu handeln. Es bedarf eben – so wie dies Tocqueville gesehen hat – eines
vernünftigen Aus680gleichs zwischen dem privaten und dem öffentlichen Leben, um die Lebendigkeit
und Stabilität der Demokratie zu sichern.
Bellahs Forderung nach einer gehaltvollen und an Traditionen reichen Gemeinschaft ist nicht als
ein reaktionärer Rückgriff auf längst vergangene Lebensformen zu verstehen. Ganz im Gegenteil: Er
wünscht geradezu soziale Bewegungen herbei, die den kulturellen Wandel hin zu einer lebendigen
demokratischen Kultur anleiten könnten, Bewegungen, die etwa an die Ideale der
Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er Jahre anknüpfen sollten, die ja auch keine
utilitaristische Interessenverfolgung oder die Befriedigung emotionaler Bedürfnisse zum Ziel hatte,
sondern die Schaffung einer wahrhaft demokratischen politischen Kultur, auf deren Basis Schwarze
und Weiße in einem politischen Gemeinwesen miteinander um die beste Gestalt dieser Gemeinschaft
ringen sollten.
Die von Bellah und seinen Koautoren in Habits of the Heart geäußerte Kritik am Zustand der
amerikanischen Gesellschaft und die diesbezügliche Zeitdiagnose wurden in einem weiteren Buch
(Bellah et al., The Good Society von 1991) in konkrete Vorschläge zur Revitalisierung des
amerikanischen Gemeinwesens übersetzt. Diese reichen von der Forderung eines Abbaus
militaristischer Staatsstrukturen (a.a.O., S. 78) bis hin zur Demokratisierung von Arbeitsplätzen
(a.a.O., S. 101). Der Hinweis auf derartige Programmatiken erscheint uns deshalb wichtig, weil die
Gemeinschaftsrhetorik von Bellah und den Kommunitaristen in Deutschland häufig auf Widerstand
stößt und als konservativ bis reaktionär eingestuft wird – zum Teil verständlich aufgrund des
Mißbrauchs des Gemeinschafts-Begriffs im Nationalsozialismus (»Volksgemeinschaft«!). Es soll
dabei nicht bestritten werden, daß es auch konservative Kommunitaristen gibt. Aber der
Gemeinschaftsbegriff hat in der amerikanischen Geistesgeschichte einen völlig anderen Stellenwert
als in der deutschen (Joas, »Die vergessene Vorgeschichte der Kommunitarismus-Diskussion«),
weshalb ihn sich auch amerikanische Progressive oder Linke zu eigen machen können, wie dies
anhand der konkreten politischen Forderungen von Bellah deutlich wird.
Es ist nun vor allem dem politischen Instinkt und organisatorischen Talent eines Mannes zu
verdanken, daß sich ab den frühen 1990er Jahren aus solchen akademischen Ansätzen, aber auch aus
politischen Strömungen heraus, das »Communitarian Network« bildete. Die Rede ist von Amitai
Etzioni.
681Etzioni (geb. 1929) ist eine in vielerlei Hinsicht interessante Gestalt des intellektuellen und
politischen Lebens der USA (vgl. seine Autobiographie My Brother’s Keeper. A Memoir and a
Message). Unter dem Namen Werner Falk als Sohn jüdischer Eltern in Köln geboren, emigrierte er
mit seiner Familie während der nationalsozialistischen Herrschaft nach Palästina, wo er als Soldat an
den Kämpfen um die Gründung des Staates Israel teilnahm. Er studierte in Jerusalem Soziologie bei
Martin Buber – dem wir schon, in der Dreizehnten Vorlesung, als wichtigem Inspirator Shmuel
Eisenstadts begegnet sind. Etzioni setzte dann seine Ausbildung in den USA fort, wo er in Berkeley
1958 zu einem organisationssoziologischen Thema promovierte. Rasch stieg er – an der Columbia
University in New York City »beheimatet« – zu einem der bedeutendsten Organisationssoziologen der
USA auf. 1968 legte er ein höchst ambitioniertes gesellschaftstheoretisches Werk vor, dessen
Bedeutung lange Zeit massiv unterschätzt wurde. The Active Society. A Theory of Societal and
Political Processes (dt.: Die aktive Gesellschaft. Eine Theorie gesellschaftlicher und politischer
Prozesse) war nämlich ein erster, man könnte sagen: allzu früher, aber deswegen nicht weniger
bedeutender Versuch zur Synthesebildung in der soziologischen Theorie, zu einer Synthese, wie sie in
Europa erst etwa 15 Jahre später durch Autoren wie Habermas, Luhmann oder Giddens gewagt
worden ist. Anders formuliert: Etzioni war der erste Abweichler vom Parsonsschen Paradigma, der
tatsächlich auch eine umfassende und auch vollständig ausgearbeitete Theoriealternative zur
Verfügung hatte (Joas, »Macroscopic Action«). Etzionis Buch war nämlich eine gelungene Mischung
aus Parsonsschen Elementen, systemtheoretisch-kybernetischen Bausteinen, konflikttheoretischen
Ideen und phänomenologischen bzw. interaktionistischen Einsichten zur Analyse einer zentralen
Frage: Wie läßt sich kollektives Handeln, ja wie läßt sich Konsens auf gesamtgesellschaftlicher
Ebene denken? Bei der Beantwortung dieser Frage gelingt es Etzioni, zahlreiche »Fallgruben« zu
umgehen, denen nicht wenige Theoretiker zum Opfer gefallen sind: Denn da er weder Struktur mit der
Makroebene noch Handeln mit der Mikroebene gleichsetzt, verfällt er auch nicht – wie etwa
Habermas – auf die problematische Idee, makroskopische Zusammenhänge nur mit
systemtheoretischen Mitteln bearbeiten zu wollen. In ähnlicher Weise wie später Giddens verwendet
er zwar den Systembegriff (vgl. die Zwölfte Vorlesung), aber eben nicht in einer essen682tialistischen
Weise, sondern empirisch-realistisch: Systeme existieren dort und nur dort, wo sich tatsächlich auch
Rückkopplungsschleifen aufweisen lassen, die zu stabilen Prozessen führen. Somit setzt Etzioni auf
der grundbegrifflichen Ebene handlungstheoretisch an und versucht in detaillierten, empirisch
gesättigten Analysen zu Phänomenen des (wissenschaftlichen) Wissens, der Macht und des Konsenses
begreifbar zu machen, wie und auf welchen Wegen sich kollektives Handeln formiert und wie sich ein
gesamtgesellschaftlicher Mobilisierungsprozeß ergeben kann. In einer an Alain Touraines Arbeiten
erinnernden Weise ist er in diesem Buch auf der Suche nach einer »aktiven Gesellschaft« und fragt,
wie sich durch eine solche Gesellschaft makrosozialer Wandel herbeiführen lassen könnte. Auch
wenn das Buch seine Entstehung im Kontext der bewegten 1960er Jahre nicht verleugnen kann und
will (es ist Etzionis Studenten in Berkeley und Columbia gewidmet) und sicherlich normative Ziele
verfolgt, so ist doch darauf zu verweisen, daß Etzioni nicht ein kollektives Subjekt (wie in vielen
Strömungen des Marxismus) einfach voraussetzt, sondern vielmehr empirisch untersucht, unter
welchen konkreten Umständen sich kollektive Akteure und vielleicht sogar gesamtgesellschaftliches
Handeln bilden können. Er schneidet diese Frage auch nicht ab, wie dies Habermas durch seine
vorschnelle Einführung des Systembegriffs tat (vgl. die Neunte Vorlesung), sondern bemüht sich, sie
durch eine konsequent handlungstheoretische Vorgehensweise offenzuhalten.
Etzioni – dies ist sicherlich eine Merkwürdigkeit in seiner Laufbahn – baute diesen
vielversprechenden Theorieansatz selbst nicht weiter aus. Dabei spielt sicher eine gewisse
Enttäuschung über das ausbleibende Echo auf dieses Werk ebenso ein Rolle wie der rastlose Drang
des Autors nach praktischer politischer Wirksamkeit. Denn gleichzeitig mit seinen
organisationssoziologischen Studien war Etzioni auch im Bereich der Friedens- und
Konfliktforschung höchst aktiv, bevor er sich dann in den 1970er Jahren immer stärker in der Politik
engagierte und unter anderem zu einem engen Berater des amerikanischen Präsidenten und späteren
Friedensnobelpreisträgers Jimmy Carter wurde. In der Reagan-Ära konzentrierte sich Etzioni auf die
Kritik am mikroökonomischen Paradigma und an utilitaristischen Theorien insgesamt, die das
intellektuelle und politische Leben in den USA immer mehr beeinflußten. Daraus ging sein bereits in
der Fünften Vorlesung zitiertes Buch The Moral Dimen683sion hervor, ein Buch, das die
Utilitarismuskritik der soziologischen Klassiker und Talcott Parsons’ auf den Stand der Gegenwart zu
bringen unternahm. In den 1990er Jahren wurde Etzioni dann zum spiritus rector der amerikanischen
Kommunitaristen und zum Organisator des »Communitarian Network«, das die kommunitaristischen
Ideen in der Öffentlichkeit und im politischen Betrieb präsentieren und verbreiten sollte. Vor allem im
Rahmen dieser letzten Aktivität stellte Etzioni das Problem der Stabilität moderner Gesellschaften,
vor allem natürlich auch der amerikanischen Gesellschaft, in den Mittelpunkt seiner Überlegungen
und konzentrierte sich auf die auch schon bei Sandel und Bellah aufgeworfene Frage, mit welchen
Mitteln sich die »communicative infrastructure« einer Gesellschaft revitalisieren ließe. In
programmatischen Büchern wie etwa The Spirit of Community. The Reinvention of American
Society von 1993 (dt.: Die Entdeckung des Gemeinsinns. Ansprüche, Verantwortlichkeiten und das
Programm des Kommunitarismus) kritisierte er, daß die derzeitige amerikanische Gesellschaft an
einem Mangel an »we-ness«, an einer Überbetonung individueller Rechte, aber gleichzeitig an einer
Abwertung von Pflichten gegenüber der Gemeinschaft leide. Es komme deshalb darauf an, ein neues
Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft zu etablieren, ebenjene kommunikativen
Infrastrukturen zu stärken, welche die Herstellung von Gemeinschaft bzw. ihre Revitalisierung
ermöglichen. Seine Vorschläge reichen dabei von schulpolitischen Ideen wie der Stärkung des
Klassenverbandes (a.a.O., S. 126 ff.) über die Einrichtung eines »National Service«, quasi eines
verpflichtenden, für gemeinnützige Zwecke abzuleistenden Dienstjahres für junge Erwachsene
(a.a.O., S. 133 ff.), bis hin zu einer stärkeren Reglementierung der Wahlkampffinanzierung.
Etzioni wehrt sich stets gegen die Vorwürfe von liberaler Seite, er wolle mit seinen Ideen ein
letztlich reaktionäres Gemeinschaftsleben propagieren, eine engstirnige Form von
Gemeinschaftlichkeit etablieren. Denn er will nicht soziale Bindungen um ihrer selbst willen. Etzioni
weiß zu gut, daß Gemeinschaften durchaus auch repressiv sein können, weshalb er argumentiert, »that
one attribute of a good society is that it is one in which strong communal bonds are balanced by
similarly powerful protections of the self.« (Etzioni, The Monochrome Society, S. 144) Der
Kommunitarismus, wie Etzioni ihn versteht, ist von jeder Form naiver oder rückwärtsgewandter
Idealisierung von Gemeinschaftlichkeit als solcher weit entfernt.
684Die Debatte über den Kommunitarismus hat beträchtliche Ähnlichkeiten mit der über die
»Zivilgesellschaft«. Diese Debatte war in den 1970er Jahren in der Zeit der sowjetischen Herrschaft
überwiegend durch osteuropäische Dissidenten initiiert worden, die mit diesem normativ angelegten
Begriff einen staatsfernen und -freien, aber auch nicht nur privaten Raum bezeichnen wollten, der von
der Herrschaft der kommunistischen Staatsparteien nicht berührt werden sollte, damit sich Ansätze
eines genuin demokratischen Lebens entwickeln könnten. Dieser Begriff spielte in den späten 1970er
und 1980er Jahren auch in den sozialtheoretischen Debatten des Westens eine zunehmende Rolle,
zumal er mit dem Habermasschen Begriff der Öffentlichkeit (s. die Neunte Vorlesung) leicht
gekoppelt werden konnte. »Zivilgesellschaft« beschreibt dann zumeist den Raum bürgerschaftlicher
Aktivität, der weder staatlich noch marktlich reguliert ist (vgl. etwa Jean Cohen/Andrew Arato, Civil
Society and Political Theory). In den beginnenden 1990er Jahren ist durch den amerikanischen
Politikwissenschaftler Robert D. Putnam mit der These vom Niedergang des »Sozialkapitals« in den
USA eine weitere Debatte ausgelöst worden, welche mit anderen, aber durchaus verwandten
begrifflichen Mitteln eine ähnliche Thematik bearbeitet, nämlich die Frage, an welchen Orten sich die
Partizipation der Bürger am Gemeinwesen abspielt und wie intensiv diese Partizipation heute
überhaupt noch ist (zu Deutschland dazu Joas/Adloff, »Milieuwandel und Gemeinsinn«).
Aus Etzionis Perspektive sind die diesbezüglichen Ansätze zwar alle wertvoll, aber nicht
ausreichend. Er moniert, daß die »Zivilgesellschaft« immer nur ein Teilbereich oder -aspekt der
»guten Gesellschaft«, so wie er sie versteht, sein kann. Denn die Anhänger der Idee der »Civil
Society« wie auch Putnam machen letztlich kaum Aussagen darüber, ob bestimmte
Vergesellschaftungsformen gut sind oder nicht. Ihnen scheinen alle sozialen Vereinigungen und
Bindungen gleichwertig zu sein, unabhängig von der Gestalt und dem Ziel der Vereinigung:
Partizipation in Vereinen, Clubs, Parteien, sozialen Bewegungen etc. scheint für sie an sich gut zu
sein, »one voluntary association is, in principle, as good as any other« (The Monochrome Society,
S. 198). Mit einer solchen relativistischen Position will und kann sich der Kommunitarist Etzioni
nicht abfinden, denn seiner Auffassung nach ist die »gute Gesellschaft« stets um einen Kern klar
bestimmbarer partikularer (nicht: partikularistischer!) Werte zen685triert, weshalb sich die
Wissenschaftler und alle Intellektuellen auch nicht vor Aussagen über die unterschiedliche normative
Wünschbarkeit verschiedener Institutionen und Partizipationsformen drücken können.
Damit reicht Etzioni den häufig gegen den Kommunitarismus erhobenen Vorwurf, er könne nicht
zwischen »guten« und »schlechten« Gemeinschaften unterscheiden, gewissermaßen an die Vertreter
der Zivilgesellschaftskonzeption weiter. Der Vorwurf muß dort aber genausowenig zutreffen.
Habermas’ Öffentlichkeitsbegriff hat ja gewiß eine starke normative Dimension, die osteuropäischen
Dissidenten hatten sehr genaue Vorstellungen darüber, welche Formen von Zivilgesellschaft
demokratisch sind und welche nicht, und auch Putnam hat inzwischen seine Position in Richtung auf
die von Etzioni eingeforderten Differenzierungen leicht verändert.
Aber Etzioni hat gewiß recht, wenn er betont, daß starke Werte in der öffentlichen Debatte
artikuliert werden können und sollen. Wenn kein Konsens über sie besteht, müsse die Gesellschaft die
Chance haben, in einen von Etzioni so genannten »Megalogue« einzutreten, einen »societywide
dialogue, one that links many community dialogues into one often nationwide give-and-take« (a.a.O.,
S. 157). Nur so könnten bestehende normative Differenzen überhaupt erst klar werden. Eine durch
solchen Megalogue herbeizuführende »gute Gesellschaft« würde – so die Überzeugung Etzionis –
schließlich auch zu einer wesentlich dezidierteren Position gegenüber sozialer Ungleichheit gelangen,
als dies mit den Rawlsschen Argumenten möglich ist. Etzioni hält Rawls’ liberale Haltung gegenüber
großer sozialer Ungleichheit nicht für akzeptabel. Eine gute Gesellschaft – so Etzioni – würde soziale
Ungleichheiten wesentlich stärker reduzieren, als dies das Rawlssche Differenzprinzip erforderlich
mache (a.a.O., S. 147). Denn wir müssen nicht alle Formen der Ungleichheit einfach deshalb für gut
befinden, weil die am stärksten Benachteiligten immerhin davon profitieren: Die Haltung zu sozialer
Ungleichheit in einer Gesellschaft basiert auf starken Wertungen, die sich nicht so einfach – etwa
durch dieses Differenzprinzip – beiseite schieben lassen.
Man wird in Etzionis politisch-programmatischen Schriften eine Menge konservativer Vorschläge,
aber eben auch – wie die soeben dargestellte Kritik an Rawls zeigt – viele linke oder progressive
Ideen finden. Wie Etzioni selbst sagt, läßt sich die kommunitaristische 686Bewegung politisch nicht
in dem Schema von links und rechts eindeutig verorten. Beträchtliche Ähnlichkeiten finden sich zu
den politischen Schriften eines anderen großen Sozialtheoretikers der Gegenwart, den Arbeiten
nämlich von Anthony Giddens zu einem »Dritten Weg« der Sozialdemokratie. Sowohl die
Kommunitaristen wie auch vor allem Giddens nahmen im Europa der 1990er Jahre durchaus
beträchtlichen Einfluß auf die sozialdemokratischen Programmdebatten, wobei es das oberste Ziel
dieser Einflußnahme war, nicht nur die für traditionelle sozialdemokratische Parteien so typische
etatistische, also staatsfixierte Orientierung zurückzudrängen. Ihr Ziel war vielmehr – und insofern
ähneln die Kommunitaristen und Giddens sehr wohl dem prototypischen Liberalen Rawls – zu einer
Remoralisierung der Politik beizutragen, und zwar nicht im Sinne einer engstirnigen Moralisierung,
sondern im Sinne einer neuen Verknüpfung normativer Überlegungen zur wünschbaren Gestalt des
Gemeinwesens mit dem empirischen Wissen über seinen Charakter und seine Entwicklungstendenzen.
Damit berühren sich politische Theorie und Sozialtheorie in der Gegenwart wieder in einer für beide
Seiten fruchtbaren Weise. Ähnliches läßt sich über die intellektuelle Strömung sagen, die aus der
Renaissance von Ideen entstand, welche sich in der Geschichte der Sozialwissenschaften
insbesondere in den USA schon früh als bedeutsam erwiesen hatten, dann aber immer mehr an den
Rand gedrängt wurden: den Pragmatismus und Neopragmatismus in seinen verschiedenen Formen.
Dieser Strömung wenden wir uns in der folgenden Vorlesung zu.
687Neunzehnte Vorlesung
Neopragmatismus

Wie Sie in der Sechsten Vorlesung aus unseren Ausführungen zum Symbolischen Interaktionismus
erfahren haben, war die Gründergeneration der amerikanischen Soziologie, etwa George Herbert
Mead und die Mitglieder der Chicago School of Sociology, eng mit der Philosophie des
amerikanischen Pragmatismus verbunden. Ja, man kann es vielleicht sogar noch deutlicher
formulieren: Autoren wie Mead waren entscheidend daran beteiligt, pragmatistische Gedanken
fortzuentwickeln und für die Analyse sozialer Prozesse und Beziehungen nutzbar zu machen. Somit
kann kein Zweifel daran bestehen, daß die pragmatistische Philosophie die Entwicklung der
amerikanischen Soziologie mindestens bis in die 1930er Jahre hinein stark prägte.
Der Einfluß des Pragmatismus auf die Soziologie nahm danach aber merklich ab. Ausschlaggebend
für eine immer schwächer werdende soziologische Rezeption pragmatistischen Denkens war u. a.
Parsons’ Beitrag zur Kanonbildung gewesen, der sich mit einiger Verzögerung aus seinem 1937 zuerst
publizierten Werk The Structure of Social Action ergab. Wir haben in unserer Zweiten und Dritten
Vorlesung schon darauf hingewiesen, daß Parsons ausschließlich europäische Denker (v. a. Weber
und Durkheim) zu den maßgeblichen Gründerfiguren der Soziologie erklärt und die vom
pragmatistischen Denken beeinflußten amerikanischen Autoren vollkommen ignoriert hatte.
Angesichts der sich in den späten 1940er Jahren herauskristallisierenden Dominanz der Parsonsschen
Soziologie war es nicht verwunderlich, daß sich die soziologische Theoriebildung ganz überwiegend
ohne Rückbezug auf pragmatistische Traditionen vollzog. Erst in den 1960er Jahren begann sich
dies teilweise zu ändern, als sich der Symbolische Interaktionismus als ein »neuer« theoretischer
Ansatz und als eine Alternative zum Parsonianismus positionieren konnte. Wirklich »neu« war der
Symbolische Interaktionismus freilich nicht. Vielmehr hatte Herbert Blumer als Schüler George
Herbert Meads versucht, die Einsichten seines Lehrers über die durch die Hegemonie des
Parsonianismus gekennzeichnete Periode der 1940er und 1950er Jahre zu »retten« – ein Versuch, der
tatsächlich erfolgreich war, wie sich am Aufschwung des Symbolischen 688Interaktionismus in den
1960er Jahren zeigen sollte (vgl. nochmals unsere Sechste Vorlesung). Pragmatistisches Gedankengut
lebte also im Symbolischen Interaktionismus durchaus fort, freilich in einer sehr eingeschränkten
Weise: Denn für die Symbolischen Interaktionisten war der entscheidende Bezugsautor George
Herbert Mead, wohingegen die anderen Gründerfiguren des amerikanischen Pragmatismus wie etwa
Charles Sanders Peirce, William James und John Dewey eine deutlich geringere Rolle spielten.
Neben den Symbolischen Interaktionisten gab es innerhalb der amerikanischen Soziologie immer
auch Einzelfiguren, die sich dem Pragmatismus verbunden fühlten. Zu denken ist hier an Autoren wie
den Konflikttheoretiker C. Wright Mills (vgl. unsere Achte Vorlesung), der sich in verschiedenen
Zusammenhängen immer wieder auf pragmatistische Autoren bezog (s. seine 1964 posthum
erschienene Dissertation Sociology and Pragmatism: The Higher Learning in America) und vor
allem in seinen kulturkritischen Schriften Ideen propagierte, die an pragmatistische Reformprojekte
erinnerten; zu denken ist aber auch an den großen amerikanischen Rechts- und
Organisationssoziologen Philip Selznick (1919-2010), der sich in seiner berühmten Studie TVA and
the Grass Roots. A Study in the Sociology of Formal Organization von 1949 die
sozialpsychologischen Einsichten Deweys zunutze machte, um die Analyse von Organisationen
voranzutreiben, und der in einem imposanten Spätwerk aus dem Jahre 1992 (The Moral
Commonwealth. Social Theory and the Promise of Community) zentrale Fragen der Sozialtheorie
unter breiter Einbeziehung pragmatistischer Autoren diskutierte.
In der europäischen Nachkriegs-Soziologie spielte der Pragmatismus lange Zeit keine Rolle. Dies
änderte sich erst in den 1970er Jahren, als Jürgen Habermas unter dem Einfluß des mit ihm
befreundeten Philosophen Karl-Otto Apel (geb. 1922) sehr stark auf Mead, Peirce und auch Dewey
Bezug nahm, um einerseits ein tragfähiges Konzept von Intersubjektivität zu gewinnen und um
andererseits seine diskursethischen Überlegungen zu fundieren. Trotz der enormen Wirkung des
Habermasschen Werkes schien dies die weitere Rezeption des Pragmatismus aber nur mäßig zu
befördern. Und so wird man weder mit Blick auf die USA noch mit Blick auf Europa davon sprechen
können, daß der Pragmatismus zwischen 1945 und den späten 1970er Jahren eine besonders
prominente Rolle in den jeweiligen Wissenschaftslandschaften gespielt hätte.
689Dies begann sich danach freilich rapide zu ändern, und ›verantwortlich‹ dafür war
insbesondere ein amerikanischer Philosoph, nämlich Richard Rorty (1931-2007), der 1979 mit
seinem Buch Philosophy and the Mirror of Nature (dt.: Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der
Philosophie) eine spektakuläre Renaissance des Pragmatismus – zunächst allerdings nur in der
Philosophie – einleitete. Diese Renaissance hatte vorwiegend damit zu tun, daß Rorty in ziemlich
überraschender Weise John Dewey in eine Reihe mit Philosophen wie Ludwig Wittgenstein und
Martin Heidegger stellte und diese drei Denker zu den »bedeutendsten Philosophen« des
20. Jahrhunderts erklärte (Der Spiegel der Natur, S. 15). Dewey, den viele aus Unkenntnis bis dato
eher als einen ziemlich langweiligen Philosophen des Common sense interpretiert hatten, rückte durch
Rortys Buch in den Rang eines Autors mit hohem Aktualitätsbezug, zumal seine Schriften
anschlußfähig schienen an die zu dieser Zeit enorm modisch werdenden, aus Frankreich kommenden
poststrukturalistischen Gedanken. Was waren nun die Thesen Rortys? Und vor allem: Wie deutete er
die Pragmatisten und vor allem Dewey? – Wir werden in dieser Vorlesung zunächst die beiden
wichtigsten philosophischen Repräsentanten des Neopragmatismus (Rorty und Putnam) und ihre
Differenzen darstellen und dann die Versuche zu einer neo-pragmatistischen Sozialtheorie bei Richard
Bernstein und bei einem der Autoren des vorliegenden Buches (Hans Joas) behandeln.
Der Spiegel der Natur ist eine Geschichte des neuzeitlichen philosophischen Denkens, wobei
Rorty die historische Genese der Idee »mentaler Prozesse« nachzuvollziehen und genau diese Idee
dann zu kritisieren und für nichtig zu erklären versucht. Rortys nicht ganz einfach zu verstehender
Gedankengang lautet etwa folgendermaßen: Die traditionelle neuzeitliche Philosophie seit Descartes
war in großen Teilen ein ständiger Fluchtversuch vor der Geschichte, insofern man der Philosophie
die Aufgabe zuschob, transhistorische – also überzeitliche – Wahrheiten zu produzieren. Und
Wahrheit versuchte man dadurch zu erlangen, daß man sich an die Idee des Bewußtseins als eines
Spiegels klammerte, an die Vorstellung also, daß es neben den physischen Dingen mentale Prozesse
oder Bewußtseinsprozesse gebe, welche die physischen Dinge mehr oder weniger adäquat abbilden
oder eben »spiegeln«. Hintergrund war die Annahme, daß Menschen einen privilegierten Zugang zu
ihren eigenen mentalen 690Zuständen hätten, daß sie diese mentalen Zustände besser kennen würden
als alles andere und daß genau deswegen »wahre« oder »objektive« Erkenntnis unmittelbar mit
diesen inneren mentalen Prozessen verknüpft sein müsse. Richtige Erkenntnis bzw. Wahrheit – so die
Unterstellung – seien dann zu erreichen, wenn es dem »Bewußtsein« gelinge, Gegenstände bzw. die
Natur möglichst genau zu repräsentieren. Man glaubte also, das »Bewußtsein« bzw. das »Mentale«
zum Fundament jedes Philosophierens erklären zu müssen, weil nur so sichere und damit
überzeitliche Erkenntnis möglich sei.
Rorty versuchte nun zu zeigen, daß die Rede von »mentalen« im Unterschied zu physischen
Prozessen wenig hilfreich oder sogar schlicht sinnlos sei und dementsprechend auch die
Unterscheidung zwischen Leib und Seele, Materie und Geist. Der diesbezügliche Dualismus sei nicht
haltbar, weil das, was in der traditionellen Philosophie als »Bewußtsein« bezeichnet werde, sich
entweder auf eine einfachere oder auf eine andere Weise beschreiben läßt. Rorty macht dies unter
anderem in einer Kritik am deutschen Philosophen und Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz
(1646-1716) deutlich, der mit seiner Behauptung, daß sich Gedanken schließlich nicht sehen ließen,
genau eine solche dualistische Position vertrat:
(…) warum sollte uns Leibniz’ Feststellung beunruhigen, daß wir, wenn das Gehirn bis zum Format einer Fabrik vergrößert würde, so
daß wir hindurchspazieren könnten, keine Gedanken sehen würden? Sind uns genügend neurale Korrelationen bekannt, so werden wir in
dieser Situation tatsächlich Gedanken sehen, d. h. wir werden unserer visuellen Wahrnehmung entnehmen können, welche Gedanken der
Eigentümer dieses Gehirns gerade hat. Wenn nicht, dann eben nicht, aber jedenfalls gilt, daß wir, wenn wir durch eine Fabrik spazieren,
ohne zuvor Kenntnisse über ihre Teile und deren Beziehungen zueinander erworben zu haben, in keinem Falle sehen können, was vor
sich geht. Ferner, selbst wenn wir keine solchen neuralen Korrelationen finden könnten, wenn sich das Projekt der zerebralen
Lokalisierung von Gedanken als ein völliger Fehlschlag herausstellte, warum sollten wir sagen wollen, die Gedanken oder die mentalen
Bilder einer Person seien aufgrund des einfachen Umstandes, daß wir sie nicht in der Begrifflichkeit von Teilen der Person erklären
können, schon etwas Nichtphysisches? Um ein Beispiel Hilary Putnams zu verwenden: wir können in der Begrifflichkeit der
Elementarteilchen, aus denen die Stifte und Löcher bestehen, nicht erklären, warum quadratische Stifte nicht in runde Löcher passen,
aber niemand sieht zwischen ihrer Mikrostruktur und ihrer Makrostruktur eine bestürzende ontologische Kluft offenstehen. (Rorty, Der
Spiegel der Natur, S. 37/38)

691Rorty zufolge zwingt uns also nichts dazu, die Existenz mentaler und bewußtseinsmäßiger
Prozesse anzunehmen und damit den cartesianischen Dualismus zwischen Körper und Geist
fortzuschreiben. Es genügt, die im Gehirn ablaufenden Einzelprozesse (Gedanken) als funktionale
Zustände des Gesamtkomplexes »Gehirn« zu beschreiben. Sie sind also – wenn überhaupt – nur zu
verstehen, wenn man die Gesamtstruktur des Gehirns, wenn man die Funktionsweise des Gehirns
begreift. Dazu braucht man aber nicht die Idee eines »immateriellen Bewußtseins«, weil funktionale
Zustände nicht als »immateriell« zu bezeichnen sind! Genau dies besagt jener letzte Satz des obigen
Zitats: Nur weil wir aus den Strukturen des Gehirns nicht unmittelbar Gedanken ableiten können,
müssen wir nicht gleich eine ontologische Kluft zwischen beiden Phänomenen annehmen,
ebensowenig wie wir eine solche Kluft zwischen physikalischen Mikro- und Makrostrukturen
annehmen müssen, nur weil wir in der Sprache der Elementarteilchen nicht erklären können, warum
quadratische Stifte nicht in runde Löcher passen.
Nun ist diese radikale Position Rortys sicherlich nicht unumstritten, und sein im obigen Zitat
genannter und in dieser Vorlesung noch zu behandelnder Gewährsmann, der pragmatistische
Philosoph Hilary Putnam, hätte in seinen späten Werken sicherlich hinterfragt, ob sich »mentale
Zustände mit funktionalen« wirklich gleichsetzen lassen und ob man auf die Idee des Mentalen
vollständig verzichten kann (vgl. etwa Putnam, Repräsentation und Realität, S. 16). Rorty selbst hat
im Laufe der Zeit diesen radikalen Physikalismus gleichfalls hinter sich gelassen. Aber dies ist hier
nicht der entscheidende Punkt. Denn Rorty geht es in erster Linie darum, die Gründe für das geradezu
krampfhafte Festhalten an jenem zweifellos problematischen Dualismus historisch zu rekonstruieren.
Diese Gründe sind seiner Meinung nach eng verbunden mit dem Namen Descartes, durch den das
Projekt der Philosophie gewissermaßen auf falsche Geleise geraten sei. Nach Rorty ist es ein
entscheidender Fehler der Philosophie gewesen, daß sie – aufgrund jener Vorstellung, daß das
sogenannte »Bewußtsein« ein Spiegel der Natur sei – ihr Fundament in einer »unbezweifelbaren«
Erkenntnistheorie gesucht und gesehen habe. Erkenntnistheoretiker wie Descartes, Locke, aber auch
Kant hätten nicht akzeptieren wollen oder können, daß Erkenntnis nicht als überzeitliche »Wahrheit«
zu denken ist, an die man über ein irgendwie geartetes Bewußtsein herankommen könne, sondern daß
692Wissen sich lediglich »als eine Relation zwischen einer Person und einer Proposition« begreifen
läßt (Der Spiegel der Natur, S. 160). Erkenntnis – so Rorty – ist aber nicht abhängig von einer
inneren Anschauung oder von einer richtigen »mentalen« Darstellung der Wirklichkeit, sondern von
der Gesprächspraxis zwischen zwei oder mehreren Personen, die sich über Aussagen streiten und
wechselseitig zu überzeugen versuchen.
Diese Rortysche Position hört sich zunächst vielleicht wenig spektakulär an. Tatsächlich hat sie
aber erhebliche und durchaus nicht unumstrittene Konsequenzen. Denn Rorty unterläuft damit den für
die meisten selbstverständlichen Wahrheitsbegriff. Ihm zufolge kann es überhaupt nie um
(transhistorische) »Wahrheit« gehen. Wenn wir naiverweise von »wahren« und »weniger wahren«
Aussagen sprechen, dann beziehen wir uns damit allenfalls auf »einen Unterschied des Grades der
Leichtigkeit, mit der man gegen unsere Meinungen Einwände vorbringen kann« (a.a.O., S. 176; vgl.
auch Rorty, Wahrheit und Fortschritt, S. 9 ff.). Weder die Wissenschaft noch die Philosophie zielen
also auf (überzeitliche) »Wahrheit«, sondern lediglich auf die Rechtfertigung bestimmter Sätze! Die
Formen der Rechtfertigung sind dabei eine Funktion sozialer Redepraxis (Der Spiegel der Natur,
S. 190) und damit kontextabhängig; sie sind raum-zeitlich gebunden und eben nicht transhistorisch,
weswegen es eine definitiv »wahre Erkenntnis«, ein letztes Fundament des Wissens nicht geben kann.
Wir können das Erkennen als die soziale Rechtfertigung von Meinungen verstehen, wir brauchen es daher nicht als die Genauigkeit von
Darstellungen aufzufassen. Setzen wir Kommunikation, das Gespräch zwischen Personen, für Konfrontation, das Gegenüberstellen von
Personen- und Sachverhalten, so können wir uns des Spiegels der Natur entledigen. Der Begriff von Philosophie als der Disziplin, die
unter den Bestandteilen dieses Spiegels nach den privilegierten Vorstellungen sucht, ist dann nicht mehr verständlich. (…) Betrachtet
man die Erkenntnis nicht als das Bemühen, die Natur abzubilden, sondern als abhängig von der Gesprächspraxis und von sozialem
Umgang, so wird man hoffentlich keine Metapraxis mehr ins Auge fassen, die eine Kritik aller möglichen Formen sozialer Praxis leistete.
(Rorty, a.a.O., S. 191)

Auch wenn es also der Philosophie in erster Linie um die Rechtfertigung von Sätzen geht, so versucht
Rorty im Unterschied zu Habermas gleichwohl nicht, wie dieser etwa mittels der Idee der in der
693Sprache aufgehobenen Rationalitätspotentiale ein Fundament philosophischen Argumentierens,
eine »Metapraxis«, zu finden. Rorty stellt sich vielmehr ganz dezidiert in die Tradition eines
»fundierungsfeindlichen Denkens« (»anti-foundationalist thought«), das – siehe seine Interpretation
von Dewey, Heidegger und Wittgenstein – nicht (mehr) an die Möglichkeit einer unbezweifelbaren
und überhistorischen Basis des (philosophischen) Argumentierens glaubt. Für Rorty sind also alle
Versuche der Etablierung einer (überhistorischen) »Metapraxis« oder »Metavernunft« vergebliche
Liebesmüh, weswegen er sich selbst als »Kontextualisten« sieht und auch von anderen so bezeichnet
wird (vgl. Habermas, Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, S. 174 ff. und ders.,
Wahrheit und Rechtfertigung, S. 230 ff.). Rortys Argumentationsführung ist deshalb
kontextualistisch, weil er behauptet, daß Rechtfertigungen nur in einer jeweiligen
Sprachgemeinschaft Geltung besitzen und jenseits der Grenzen dieser Sprachgemeinschaft schon
nicht mehr als vernünftige Begründungen akzeptiert werden. Und tatsächlich steht er ganz konsequent
zu einer solchen Position. Denn für ihn ist auch die Philosophie selbst nur eine Gemeinschaft unter
vielen mit einer spezifischen Sprache und je spezifischen Begründungskonventionen, womit er
gleichzeitig die Vorstellung, die Philosophie könne irgendeinen überlegenen Rationalitätsanspruch
erheben, verabschiedet. Seiner Ansicht nach hat die »Philosophie über Erkenntnis und Wahrheit nicht
mehr zu sagen als der Common sense (ergänzt durch Biologie, Geschichtswissenschaft etc.)« (Der
Spiegel der Natur, S. 197) Ja, er geht sogar so weit zu behaupten, daß »Erkenntnis«, »Wissen« und
auch »Wahrheit« keine fundierenden Konzepte seien, sondern lediglich ein Lob darstellten, »das man
den Überzeugungen spendet, die man für derart gerechtfertigt erachtet, daß eine weitere
Rechtfertigung zur Zeit nicht vonnöten sei« (Rorty, Solidarität oder Objektivität?, S. 17).
Wenn Sie sich an unsere Erste Vorlesung zur Frage »Was ist Theorie?« erinnern, so dürfte Ihnen
auffallen, daß wir eine ähnliche Problematik schon kurz einmal angeschnitten und diskutiert hatten –
und zwar im Zusammenhang mit Thomas Kuhns Paradigma-Begriff. Und tatsächlich sind Kuhn und der
»anarchistische« Wissenschaftsphilosoph Paul Feyerabend Bezugsautoren Rortys, insofern diese mit
ihrer Rede von der »Inkommensurabilität« unterschiedlicher (wissenschaftlicher) Paradigmen
zumindest teilweise 694jene kontextualistische Wahrheitsauffassung vertreten haben, wie sie auch von
Rorty bevorzugt wird (vgl. Der Spiegel der Natur, S. 350 ff.). Kuhn allerdings ging Rortys Ablösung
der Sprache von der Wirklichkeit zu weit (vgl. dazu das Zitat aus einem unveröffentlichten Papier
Kuhns zu Rorty in Thomas Haskell, Objectivity is not Neutrality, S. 142).
»Was aber hat dies alles mit dem Pragmatismus zu tun, warum wird Rorty als Neo-Pragmatist
bezeichnet bzw. wieso nimmt er für sich das Etikett ›Pragmatist‹ in Anspruch?« werden Sie vielleicht
fragen. Rortys Antwort darauf lautet folgendermaßen: Dewey habe wie seine beiden anderen Helden,
der späte Wittgenstein und Heidegger, die Vorstellung von sicherer Erkenntnis als zentralem Ziel der
Philosophie aufgegeben und gar nicht erst versucht, der Philosophie ein transhistorisches Fundament
zu verschaffen. Wittgenstein, Heidegger und gerade auch Dewey waren keine »systematischen«
Philosophen und wollten dies auch gar nicht sein, sondern sie waren »bildende« oder eben
»pragmatische« Denker:
Diese peripheren und pragmatischen Philosophen verhalten sich vor allem skeptisch zur systematischen Philosophie, zum Projekt
universaler Kommensuration als solchem. In unserer Zeit sind Dewey, Wittgenstein und Heidegger solche großen bildenden und
peripheren Denker. Sie alle machen es uns so schwer wie nur möglich, ihr Denken im Sinne von Lösungsvorschlägen für traditionelle
philosophische Probleme zu verstehen oder von konstruktiven Ansätzen in der Philosophie als einem kooperativen und konstruktiven
Fach. Sie machen sich eher lustig über das die systematische Philosophie, die Suche nach universaler Kommensuration in einer
endgültigen Sprache, enthaltende klassische Menschenbild. (Rorty, Der Spiegel der Natur, S. 398 f.)

Nun werden Sie – möglicherweise noch mit unseren Ausführungen zum amerikanischen Pragmatismus
in der Sechsten Vorlesung im Hinterkopf – vermutlich sagen, daß Rortys Verständnis des
Pragmatismus, wenn er Dewey mit Heidegger und Wittgenstein in einen Topf wirft, doch
einigermaßen unspezifisch ist, zumal er auch wesentliche Aspekte pragmatistischen Denkens
überhaupt nicht berührt. Rorty ignoriert ganz einfach zentrale Themen und Errungenschaften des
»klassischen« pragmatistischen Denkens! Man kann ja vielleicht nachvollziehen, daß er am Problem
des die »klassischen« Pragmatisten so sehr beschäftigenden Zusammenhangs von Handlung und
Bewußtsein nicht sonderlich interessiert war, da er sich gerade vom Bewußtseinsbegriff
verabschieden will. Überraschend 695ist aber schon, daß auch die bei Dewey zu findenden
Reflexionen über das Handeln und über die Kreativität von Akteuren in problematischen
Handlungssituationen für Rorty so gut wie keine Rolle spielen, ebensowenig wie die Meadschen
Überlegungen zu einer anthropologischen Theorie der (symbolischen) Kommunikation und zur
ursprünglichen Sozialität des Menschen.
Und so müssen auch Rortys Umschreibungen und Definitionen des »Pragmatismus«
(»Pragmatismus« sei lediglich die Ansicht, »daß die Idee einer natürlichen Ordnung der Dinge
aufgegeben werden sollte«, in: »Spinoza, Pragmatismus und die Liebe zur Weisheit«, S. 102) höchst
formal und wenig aussagekräftig bleiben. Es ist vermutlich Rortys Herkunft aus der
(sprach)analytischen Philosophie geschuldet, daß sich sein Hauptinteresse am amerikanischen
Pragmatismus fast ausschließlich auf dessen erkenntniskritisches Potential bezieht und weniger auf
die hochoriginellen Deweyschen oder Meadschen Analysen zu den Spezifika menschlicher
Erfahrung und Handlung. Rorty formuliert seine doch ziemlich einseitige Rezeption pragmatistischer
und insbesondere Deweyscher Gedanken ganz unmißverständlich: »Die krönende Leistung der
Philosophie Deweys bestand darin, daß Wertausdrücke wie ›wahr‹ und ›recht‹ keine Beziehung zu
etwas vorgängig Vorhandenem ausdrücken – etwa Gottes Willen, dem moralischen Gesetz oder dem
Wesen der objektiven Wirklichkeit –, sondern die Befriedigung über die Lösung eines Problems;
wobei das Problem später einmal als überholt und die Befriedigung als unangebracht erscheinen
mag.« (Rorty, Stolz auf unser Land. Die amerikanische Linke und der Patriotismus, S. 32) Dewey
scheint hier als Handlungstheoretiker gar nicht erst wahrgenommen zu werden.
Auch Rortys demokratietheoretische Aussagen lassen sich nur schwer mit den partizipatorischen
Demokratieidealen eines John Dewey oder George Herbert Mead in Einklang bringen – und er ist
sich dessen durchaus bewußt (a.a.O., S. 101). Rorty zeigt sich nämlich als ein ziemlich
konventioneller Liberaler, auch wenn sein Liberalismus nicht utilitaristische, sondern höchst
ästhetizistische Formen annimmt. Ausgangspunkt für Rortys demokratietheoretische Überlegungen ist
seine oben dargestellte Überzeugung, daß – weil auch im Bereich der (politischen) Werte und
Normen keine überzeitlichen Wahrheiten existieren – eine scharfe Trennung zwischen dem
öffentlichen und dem privaten Bereich einzuhalten sei. Wie 696Rorty sagt, läßt sich die für eine
(staatliche) Gemeinschaft erforderliche Solidarität nur schwer in Einklang mit den Bedürfnissen der
Selbsterschaffung von Menschen bringen (Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 14). Jene
Möglichkeiten zur Selbsterschaffung müssen aber gewahrt bleiben, und die je spezifischen
Bedürfnisse der Individuen müssen geschützt werden – und genau dies sei die vordringlichste
Aufgabe von demokratischen Institutionen. Sie könnten dies aber nur leisten, wenn sie in eine liberale
und gleichzeitig ironische Kultur eingebettet seien, die sich dadurch auszeichne, daß die in ihr
lebenden Menschen auf die Durchsetzung von »Wahrheiten« verzichten und statt dessen die Vielfalt
der je individuellen Lebensentwürfe akzeptieren. Weitergehende Ansprüche an eine (liberale)
Demokratie scheint Rorty nicht zu stellen, und demzufolge fallen auch seine Definitionen der Begriffe
»liberal« bzw. »liberale Kultur« eigentümlich dünn aus:
Meine Definition des »Liberalen« übernehme ich von Judith Shklar, die sagt, Liberale seien die Menschen, die meinen, daß Grausamkeit
das schlimmste ist, was wir tun. »Ironikerin« nenne ich eine Person, die der Tatsache ins Gesicht sieht, daß ihre zentralen
Überzeugungen und Bedürfnisse kontingent sind – nenne ich jemanden, der so nominalistisch und historisch ist, daß er die Vorstellung
aufgegeben hat, jene zentralen Überzeugungen und Bedürfnisse bezögen sich zurück auf eine Instanz jenseits des raum-zeitlichen
Bereiches. Liberale Ironiker sind Menschen, die zu diesen nicht auf tiefste Gründe rückführbaren Bedürfnissen auch ihre eigenen
Hoffnungen rechnen, die Hoffnungen, daß Leiden geringer wird, daß die Demütigung von Menschen durch Menschen vielleicht aufhört.
(Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 14)

Rortys liberale Kultur ist also nicht durch bestimmte Werte oder überhaupt ein gemeinsam
verbindliches Ethos gekennzeichnet, wie dies etwa von Parsons behauptet wurde; sie wird auch nicht
– wie Habermas dies anzunehmen scheint – durch philosophische Überzeugungen zusammengehalten,
sondern allenfalls durch einen Konsens darüber, daß alle Bürger dieser liberalen Kultur die Chance
zur individuellen Selbsterschaffung haben sollten und keiner den anderen grausam oder demütigend
behandeln darf (a.a.O., S. 145). Rorty betont aber auch, daß sich eine solche von ihm bevorzugte
liberale Kultur und ein darauf basierendes demokratisches Gemeinwesen nicht wirklich gegenüber
anderen politischen Organisationsformen begründen lassen; diese liberale Ordnung sei so kontingent
697wie jeder andere politische Entwurf, und es gebe kein Argument, das die liberale Ordnung
gegenüber einer anderen als überlegene Alternative auszeichnen könnte. Denn Argumente für oder
gegen eine Lebensform haben Rorty zufolge immer nur innerhalb einer Sprachgemeinschaft ihre
Überzeugungskraft. Dies klingt sehr relativistisch, aber genau gegen eine solche Etikettierung wehrt
sich Rorty. Relativistisch sei nämlich nur eine Position, die behauptet, jede moralische Anschauung
sei so gut wie jede andere. Eine solche Position vertrete er aber nicht. Er ist überzeugt, daß die von
ihm bevorzugte liberale Kultur sehr viel besser als jede Konkurrenzanschauung ist, auch wenn sich
dies nicht beweisen läßt. Denn:
Es ist eine Sache, die falsche Behauptung aufzustellen, zwischen uns und den Nazis gebe es keinen Unterschied. Eine ganz andere
Sache ist es, die richtige Behauptung zu vertreten, daß es keinen neutralen gemeinsamen Boden gibt, auf den sich ein philosophischer
Nazi und ich zurückziehen können, um unsere Meinungsverschiedenheiten auszudiskutieren. (Rorty, »Wilde Orchideen und Trotzki«,
S. 152)

Rortys demokratietheoretischer Standpunkt ist also nicht relativistisch, sondern vielmehr


kontextualistisch oder eben – wie Rorty selbst sagt – »ethnozentrisch«: Gerade weil Rorty nicht an
universalistische Normenbegründungen glaubt und ohnehin die Überzeugungskraft philosophischer
Argumente als gering einschätzt, hält er den Glauben an die Möglichkeit einer Ausdehnung gelebter
Solidarität auf alle Menschen und alle Kulturen für eine Illusion (Kontingenz, Ironie und Solidarität,
S. 308). Die Stärke von Solidaritätsgefühlen hängt ihm zufolge ab von unserer Interpretation anderer
Menschen als »ähnlich« oder »unähnlich«, einer Interpretation, die kontingenten historischen
Konstellationen entsprungen ist und die sich nicht durch philosophische Argumente erzwingen oder
verstärken läßt. Das heißt nicht, daß die Ausdehnung von Solidarität nicht wünschenswert wäre. Für
Rorty ist sie sogar ein Zeichen für moralischen Fortschritt – aber eben nur aus der (nicht weiter
begründbaren) Perspektive einer liberalen Kultur, die so weit wie möglich Grausamkeit verhindern
will (vgl. auch seine Aufsätze in Wahrheit und Fortschritt, S. 241 ff.)!
Wie sich aus unseren Ausführungen zu den demokratietheoretischen Überlegungen Rortys ergibt,
lassen sich seine philosophischen Standpunkte durchaus in politische Vorstellungen überführen.
698Andererseits ist unübersehbar, daß seine diesbezüglichen Aussagen alles andere als ausgereift
sind und insbesondere eine Verknüpfung mit Fragen der Gesellschafts- und Sozialtheorie völlig fehlt.
Rorty war sicherlich einer der bekanntesten linken politischen Publizisten unter den amerikanischen
Intellektuellen, was er 1998 mit seinem schon zitierten Buch Achieving our Country. Leftist Thought
in Twentieth-Century America (dt.: Stolz auf unser Land. Die amerikanische Linke und der
Patriotismus) nochmals eindrucksvoll dokumentieren konnte. Aber er erörtert weder systematisch,
welchen Stellenwert die Öffentlichkeit in einer liberalen Gesellschaft zu spielen hat, noch reflektiert
er darüber, daß die Rede von der notwendigen Vermeidung von »Grausamkeit« eine höchst dehnbare
Formulierung ist, weil Grausamkeiten bekanntlich sehr unterschiedlich interpretiert werden können.
Und schon gar nicht interessiert sich Rorty für das gesellschafts- und sozialtheoretisch zentrale
Problem der Quellen bzw. der Basis der auch von ihm geschätzten zwischenmenschlichen Solidarität,
obwohl er gerade bei den »klassischen« Pragmatisten dazu einiges finden könnte (zu diesen
Kritikpunkten vgl. Richard Bernstein, The New Constellation. The Ethical-Political Horizons of
Modernity/Postmodernity, S. 258 ff.; Thomas McCarthy, Ideale und Illusionen. Dekonstruktion und
Rekonstruktion in der kritischen Theorie, S. 19 ff.; Hans Joas, Die Entstehung der Werte,
S. 247 ff.).

Es kann nun kaum verwundern, daß Rortys Thesen zu den (verbliebenen) Aufgaben der Philosophie,
seine Verabschiedung des Wahrheitsbegriffs und seine Konzeption der liberalen Demokratie zum Teil
auf heftigen Widerspruch stießen. Und natürlich fühlten sich gerade auch jene herausgefordert, die
sich selbst in der Tradition des amerikanischen Pragmatismus verorteten. Zwar erkannte man
durchaus an, daß Rorty mit seinen Schriften den Pragmatismus belebt und dessen Rezeption enorm
gefördert hatte, doch war man zumeist recht skeptisch, ob das Rortysche Pragmatismus-Verständnis
tatsächlich viel mit den Projekten der »klassischen« Pragmatisten zu tun hatte. Die Kritik an Rortys
philosophischen Positionen wurde besonders prägnant von Hilary Putnam formuliert, wohl einem der
derzeit bekanntesten amerikanischen Philosophen und Logiker, der mit Rorty einiges gemeinsam hat.
Denn ganz ähnlich wie Rorty sieht auch Putnam große Ähnlichkeiten zwischen Autoren wie
Wittgenstein einerseits und Dewey bzw. Peirce andererseits. 699Und Rorty wie Putnam haben ihre
Wurzeln in der analytischen Philosophie und begannen sich erst nach und nach dem pragmatistischen
Gedankengut zu nähern. Bei Putnam freilich – und dies markiert nun den Unterschied zu Rorty –
geschieht dies auf eine Art und Weise, die den Intentionen der »klassischen« Pragmatisten wohl
wesentlich mehr entsprechen dürfte.
Putnam (geb. 1926) teilt mindestens vier im »klassischen« Pragmatismus zu findende Prämissen:
Er vertritt erstens konsequent eine anti-skeptische Position, übernimmt also das schon in der
Sechsten Vorlesung genannte Peircesche anti-cartesianische Argument, daß sich nicht alles auf einmal
bezweifeln läßt und daß sich die Philosophie in ihrer Arbeit nicht von prinzipiellen Zweifeln,
sondern nur von echten Zweifeln und Problemen leiten lassen dürfe; Putnam teilt zweitens jene die
»klassischen« Pragmatisten kennzeichnende fallibilistische Grundüberzeugung, wonach sich unsere
Überzeugungen stets als falsch herausstellen können und keine endgültigen Wahrheiten sind; er
bestreitet drittens die These, daß sich eine klare Trennung zwischen Tatsachen und Werten
durchhalten läßt und daß man über Werte nicht mit guten Gründen diskutieren kann; und er betont
viertens stets, daß menschliches Denken eingebunden ist in menschliche Praxis, also in die
Auseinandersetzung mit der natürlichen und sozialen Umwelt (vgl. Marie-Luise Raters/Marcus
Willaschek, »Hilary Putnam und die Tradition des Pragmatismus«, S. 12).
Putnam konnte aufgrund des konsequenten Festhaltens an all diesen pragmatistischen Prämissen
seine Position gerade auch in der Auseinandersetzung mit Richard Rorty profilieren. Nähe und
Distanz zu Rorty werden zu Beginn eines seiner wichtigsten Werke, nämlich Reason, Truth and
History aus dem Jahre 1981 (dt.: Vernunft, Wahrheit und Geschichte), sogleich deutlich:
Die von mir vertretene Auffassung besagt (…), daß die Begriffe der Wahrheit und Rationalität aufs engste miteinander
zusammenhängen, daß (…) rationale Akzeptierbarkeit das einzige Kriterium dafür ist, was eine Tatsache ist. (Dies meine ich ganz
buchstäblich und ohne Einschränkung; demnach kann es – sofern es rational ist, zu akzeptieren, daß ein Bild schön ist – eine Tatsache
sein, daß das Bild schön ist.) Mithin kann es nach dieser Auffassung Werttatsachen geben. Doch die Beziehung zwischen rationaler
Akzeptierbarkeit und Wahrheit ist eine Beziehung zwischen zwei getrennten Begriffen. Eine Aussage kann zu einem Zeitpunkt rational
akzeptierbar sein, ohne daß sie jedoch wahr ist (…). (Putnam, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, S. 10)

700Putnam teilt also mit Rorty die Auffassung, daß »Rationalität« nicht etwas Überhistorisches ist,
sondern von Argumenten abhängt, die nur in einem spezifischen Kontext Plausibilität beanspruchen
können. Gleichwohl zieht er nicht die radikalen kontextualistischen bzw. relativistischen
Konsequenzen, zu denen sich Rorty genötigt fühlt. Denn Putnam argumentiert, daß nicht jede rationale
Rechtfertigung »kriterial« ist, also relativ zu den Rationalitätskriterien, die in einem Sprachspiel als
solche definiert sind. Putnam ist vielmehr der Meinung – und hier zeigt sich der klare Gegensatz zu
Rorty –, daß Diskussionen über das Wesen der Rationalität immer schon einen Begriff rationaler
Rechtfertigung voraussetzen, der über die jeweils spezifischen Kontexte hinausgeht (ein ähnliches
Argument wird auch von Habermas gegen Rorty geltend gemacht, vgl. Wahrheit und Rechtfertigung,
S. 265 ff.). Er macht dies besonders deutlich in seiner Auseinandersetzung mit Kuhns
»Inkommensurabilitäts-These«, auf die sich ja auch Rorty immer wieder zustimmend bezogen hatte.
Putnam behauptet nämlich, daß sich diese These selbst widerlegt – und dies zeige sich schon an der
in sich unstimmigen Argumentationsweise ihrer Vertreter. Man kann nämlich nicht die These von der
»Inkommensurabilität« zweier Paradigmen behaupten und zugleich versuchen wollen, die
Unterschiede zwischen den beiden zu beschreiben und herauszuarbeiten. Denn indem man dies tut, hat
man die Idee der »Inkommensurabilität« schon fallengelassen und die zumindest partielle
Übersetzbarkeit zugestanden!
(…) falls Feyerabend (und Kuhn, wenn er in besonders inkommensurabler Stimmung ist) recht hätten, könnten wir die Angehörigen
anderer Kulturen – einschließlich der Wissenschaftler des siebzehnten Jahrhunderts – begrifflich nur als Lebewesen erfassen, die auf
Reize reagieren (und u. a. Geräusche hervorbringen, die dem Englischen oder Italienischen auf seltsame Weise ähneln). Es ist völlig
inkohärent, wenn man uns weismachen will, Galileis Begriffe seien »inkommensurabel«, und dann fortfährt, sie ausführlich zu
schildern.« (Putnam, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, S. 156 f.)

Letztlich ist Putnam der Auffassung, daß sowohl Feyerabend bzw. Kuhn als auch Rorty einer falschen
Interpretation der Wittgensteinschen Idee von Sprachspielen aufsitzen: Sie deuten Wittgenstein so, als
hätte dieser Sprachspiele – also die in einer spezifischen Kultur herrschenden Regeln des Sprechens
und Argumentierens – im Sinne 701von in sich geschlossenen mathematischen Kalkülen oder
Computerprogrammen konzipiert. In diesem Fall wäre es tatsächlich so, daß Sprachspiele überhaupt
nicht ineinander übersetzbar sind, weil sie als voneinander abgeschlossene Zeichensysteme begriffen
werden müßten (vgl. Putnam, Pragmatismus. Eine offene Frage, S. 42 ff.). Aber weder Wittgenstein
noch Dewey und die klassischen Pragmatisten begriffen Sprachspiele auf diese Weise, weshalb sie
auch nicht die radikalen Konsequenzen eines Kuhn oder eben Rorty zogen. Rorty jedenfalls – so
Putnam – kann sich mit seiner diesbezüglichen Position nicht auf Wittgenstein und erst recht nicht auf
pragmatistische Traditionen berufen. In diesen Denkströmungen sei die zumindest partielle
Übersetzbarkeit von Sprachspielen nie bezweifelt worden, was auch bedeutet, daß die Idee rationaler
Rechtfertigung nicht nur als kontext-relativ begriffen worden sei (vgl. Putnam, Für eine Erneuerung
der Philosophie, S. 103 und ders., Pragmatismus. Eine offene Frage).
Die hier wiedergegebene Position bezüglich der zumindest partiellen Übersetzbarkeit von
Sprachspielen hängt unter anderem mit Putnams Überzeugung zusammen, daß es – und auch hier
unterscheidet er sich wieder deutlich von Rorty – durchaus objektive Werte gibt (vgl. zum Folgenden
R. Bernstein, »Putnams Stellung in der pragmatistischen Tradition«, 2002, S. 41 ff.). Putnam
widerspricht damit der Auffassung, wonach Normen und ethische Haltungen rein subjektiv oder
kulturrelativ bzw. paradigmen-relativ seien. Die Wissenschaft beispielsweise basiert auf kognitiven
Werten wie Kohärenz oder Einfachheit, wodurch sich bestimmte Aussagen rechtfertigen lassen, ja
wodurch wir überhaupt erst Zugang zur Welt erhalten. Das – so Putnam – heißt nicht, daß wir im
Einzelfall immer bestimmen könnten, was genau Kohärenz oder Einfachheit heißt, aber wir können
jedenfalls über die Bedeutung dieser Werte durchaus rational diskutieren. Diese Werte sind damit
»objektiv«, so objektiv wie andere Werte in anderen (also nicht-wissenschaftlichen)
gesellschaftlichen Sphären auch:
Der Glaube, daß es so etwas wie Gerechtigkeit gibt, ist doch kein Glaube an Gespenster, noch ist der »Gerechtigkeitssinn« ein
paranormaler Sinn, der uns instand setzt, solche Gespenster wahrzunehmen. (…) Die Ethik steht nicht in Konflikt mit der Physik, wie
der Ausdruck »unwissenschaftlich« suggeriert; es ist einfach so, daß »gerecht« und »gut« und »Gerechtigkeitssinn« Begriffe einer
Sprachebene sind, die nicht auf die Sprachebene der Physik 702reduzierbar ist. (…) Das Sprechen von »Gerechtigkeit« kann (…)
nicht-wissenschaftlich sein, ohne deshalb un-wissenschaftlich zu sein. (Putnam, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, S. 195)

Die Auseinandersetzungen zwischen Rorty und Putnam (vgl. nochmals Putnams Rorty-Kritik in Für
eine Erneuerung der Philosophie, S. 90 ff.) haben sicherlich die Rezeptionsbereitschaft bezüglich
des Pragmatismus enorm erhöht; allerdings gilt auch, daß die diesbezüglichen Debatten kaum eine
wirkliche Anbindung an die Sozialtheorie boten: Auch wenn Putnam der pragmatistischen Tradition
deutlich stärker verhaftet bleibt als Rorty, auch wenn er dem Deweyschen Demokratieverständnis
wesentlich mehr abgewinnen kann als dieser (Putnam, a.a.O., S. 227 ff.), so bewegten sich auch die
durch ihn angestoßenen Diskussionen innerhalb des »gewöhnlichen« Bezugsrahmens der Philosophie;
sozialtheoretische Fragestellungen wurden nur allzu selten angeschnitten, und die Auseinandersetzung
mit den in unserer Vorlesungsreihe vorgestellten Theorieansätzen wurde kaum gesucht. Dies ist um so
erstaunlicher, als doch gerade auch Putnam stets an der pragmatistischen These der unmittelbaren
Verschränkung von Handeln und Denken festgehalten hat.
Diese Abstinenz in Fragen der Sozialtheorie war freilich nicht bei allen dem Pragmatismus
verpflichteten Denkern der Fall – und am allerwenigsten bei Richard Bernstein, der als einer der
wenigen pragmatistischen Philosophen immer wieder soziologische Problemstellungen aufnahm.
Bernstein (geb. 1932 und übrigens mit Rorty seit den gemeinsamen Studientagen an der University of
Chicago befreundet) hat sich von Anfang an für den amerikanischen Pragmatismus und insbesondere
für John Dewey interessiert und diese Thematik zum Ausgangspunkt seiner philosophischen
Überlegungen gemacht. Was Bernstein deutlich von Rorty, aber auch von Putnam abhebt, ist seine
genuin sozialtheoretische Orientierung und hier insbesondere seine Beschäftigung mit Merkmalen
menschlichen Handelns. Bernstein griff also nicht in erster Linie die erkenntnistheoretischen bzw. -
kritischen Positionen der »klassischen« Pragmatisten auf, sondern ihre handlungstheoretischen
Reflexionen. Dieses Interesse zeigte sich bereits in einem seiner frühen Bücher, nämlich Praxis and
Action. Contemporary Philosophies of Human Activity von 1971, das in einer stark gekürzten
Ausgabe auch ins Deutsche übersetzt wurde 703(Praxis und Handeln). Bernstein behandelt dort vier
unterschiedliche philosophische Strömungen, die das menschliche Handeln bzw. die menschliche
Praxis in den Mittelpunkt ihrer Reflexionen gestellt haben, nämlich den Marxismus, den
Existentialismus Sartres (und Kierkegaards, 1813-1855), die analytische Philosophie mit ihrem
allerdings zunächst sehr formalen Handlungskonzept und eben den amerikanischen Pragmatismus mit
seinen Vertretern Dewey und Peirce. Bernsteins Stärken zeigten sich bereits in diesem frühen Buch:
Er demonstriert nicht nur in beeindruckender Weise seine Fähigkeit, zwischen unterschiedlichen
philosophischen Traditionen zu vermitteln und die jeweiligen Probleme zu »übersetzen« (wobei er es
als seine hauptsächliche Aufgabe ansieht, die amerikanische Philosophie mit den intellektuellen
Strömungen Europas vertraut zu machen), sondern es gelingt ihm auch, die Thematik des Handelns als
ein zentrales Grundproblem der (Gegenwarts-)Philosophie auszuweisen. Dabei versteht er es in
höchst differenzierter Weise, die Klarheit der (sprach-)analytischen Untersuchungen zum
Handlungsbegriff ebenso zu »loben« wie Marxens »radikale Anthropologie« und dessen Versuch
einer Überwindung der Dichotomie zwischen »Sein« und »Sollen« (Praxis und Handeln, S. 203),
Sartres Betonung der Freiheit des menschlichen Handelns ebenso zu würdigen wie Deweys und
Peirces Bemühen, »die durch Vernunft und Intelligenz angeleitete Praxis« (a.a.O., S. 211) zu
rekonstruieren.
Die Einsicht in die Zentralität des Handlungsbegriffs führt Bernstein dazu, die in den 1970er Jahren
anhebenden philosophischen und soziologischen Debatten kritisch aus einer Deweyschen und
Peirceschen Perspektive zu begleiten, was er in seinem nächsten größeren Buch, The Restructuring
of Social and Political Theory von 1976 (dt.: Die Restrukturierung der Gesellschaftstheorie),
eindrucksvoll demonstriert. Dort setzt er sich unter anderem mit Alfred Schütz, dem »Gewährsmann«
der phänomenologischen Soziologie und Ethnomethodologie (s. unsere Siebte Vorlesung), und mit
Jürgen Habermas intensiv auseinander, und zwar auf einer wesentlich breiteren Basis, als dies je bei
Rorty oder Putnam geschehen ist, die vorwiegend an der Erkenntnistheorie bzw. ihrer Kritik
interessiert waren. Noch in den 1990er Jahren beschäftigt ihn die Handlungsthematik, insofern es
Bernstein gerade durch sein Festhalten an einem pragmatistischen Handlungsbegriff gelingt, zwischen
Habermasschen und postmodernen Positionen zu vermitteln und in einer 704höchst instruktiven Weise
gleichzeitig die (verborgenen) ethischen Grundannahmen postmoderner Denker ans Licht zu bringen
(The New Constellation).

Pragmatismus bzw. Neo-Pragmatismus haben also gerade durch die Debatten zwischen Rorty und
Putnam einen enormen Aufschwung erfahren, allerdings überwiegend in der Philosophie.
Charakteristisch ist dabei, daß dort zumeist nur die erkentnistheoretische Seite des Pragmatismus zu
Sprache kommt, das handlungstheoretische Potential der Schriften etwa von Dewey und Peirce
hingegen eher vernachlässigt wird. Erst recht werden nur selten die sozialtheoretischen
Konsequenzen des bei den »klassischen« Pragmatisten zu findenden Handlungsbegriffs systematisch
diskutiert oder wird gar versucht, die pragmatistische Handlungstheorie weiterzuentwickeln.
Insofern läßt sich tatsächlich von einem »missing pragmatic revival in American social science«
(Alan Wolfe) sprechen, denn die neue, fast modische Aktualität des Pragmatismus hat bislang die
Sozialwissenschaften im engeren Sinne noch kaum erreicht. Und dies gilt nicht nur für die USA,
sondern auch für Europa. Allerdings gibt es Ausnahmen. Um die Weiterentwicklung der
soziologischen und sozialtheoretischen Aspekte des Pragmatismus hat sich besonders einer der
Verfasser dieses Buches, der deutsche Soziologe Hans Joas (geb. 1948), bemüht, der ausgehend von
»klassischen« pragmatistischen Prämissen auf eine fundamentale Umorientierung der
Handlungstheorie hingearbeitet hat. Im folgenden wird also das Werk eines der beiden für diese
Überblicksdarstellung verantwortlichen Autoren in der dritten Person dargestellt. Das ist gewiß
delikat, entspricht aber unserer Meinung nach am besten dem Lehrbuchcharakter dieses Textes.
Joas, derzeit Direktor des Max-Weber-Kollegs für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der
Universität Erfurt und Professor für Soziologie an der University of Chicago, stellte sich schon zu
Beginn seiner Karriere entschieden in die Tradition des amerikanischen Pragmatismus. Seine
Dissertation Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werkes von G. H. Mead aus dem
Jahre 1980 war die erste umfassende Rekonstruktion des Gesamtwerkes von Mead im europäischen
Raum und gleichzeitig der Versuch, die Meadsche Sozialtheorie mit zentralen Strömungen der
kontinentalen Philosophie und Soziologie zu konfrontieren. Mead wurde den Lesern als 705ein
Denker präsentiert, der aufgrund seiner tiefschürfenden Analysen zum Zusammenhang von Handeln
und Bewußtsein viele handlungstheoretische Probleme lösen konnte, an denen sich europäische
Sozialtheoretiker stets vergeblich abgearbeitet hatten, und der gleichzeitig durch seine
anthropologische Theorie der Kommunikation zu einem ersten wirklich tragfähigen Konzept von
Intersubjektivität vorgedrungen war.
Die Zielsetzung dieses frühen Buches ging aber über eine bloße Rekonstruktion eines vergangenen
Denkers weit hinaus. Es ging zunächst darum, daß weder der Symbolische Interaktionismus mit seiner
höchst fragmentarischen Weiterführung des Meadschen Erbes noch der Marxismus oder die Kritische
Theorie mit ihren unübersehbaren Defiziten im Verständnis des Handelns, der Intersubjektivität und
der Demokratie als adäquate Theorien erschienen. Es war deshalb nur konsequent, einen eigenen Weg
zu suchen und dabei unter anderem immer mehr dazu überzugehen, den »klassischen« Pragmatismus
in seiner ganzen Breite aufzunehmen und zu verarbeiten. Immer stärker wurde der Rückgriff auf die
Schriften von Dewey und später auch auf diejenigen von William James. Wie Joas in einem späteren
Vorwort zu Praktische Intersubjektivität selbstkritisch einräumt, sei ihm die Bedeutung von Dewey
erst nach Abschluß seiner Dissertation so richtig bewußt geworden:
Wenn sich das Interesse vornehmlich auf die Theorie der Intersubjektivität richtet, dann ist Mead sicher der wichtigere Autor. Wenn aber
das »praktische« Moment in meiner Formel von der »praktischen Intersubjektivität« ganz ernst genommen werden soll, dann ist Deweys
bedeutend umfassender ausgearbeiteter Pragmatismus wesentlich. (Joas, Praktische Intersubjektivität, S. XIII)

Die umfassende Rezeption der Schriften Deweys half jedenfalls dabei, in den frühen 1990er Jahren
mit dem Buch Die Kreativität des Handelns eine Kritik bisheriger handlungstheoretischer Entwürfe
vorzulegen und zur Formulierung einer eigenständigen Handlungstheorie vorzudringen.
Die Kreativität des Handelns verschränkt theoriehistorische und systematische Argumente. Der
erste Teil des Buches ist dem Nachweis gewidmet, daß die Klassiker der Soziologie massive
Schwierigkeiten hatten, bei der Ausformulierung ihrer Handlungstheorie bzw. bei der Erstellung von
Handlungstypologien mit dem Phäno706men der menschlichen Kreativität zurechtzukommen. Joas
zeigt dies unter anderem an den Schriften von Durkheim, Tönnies, Simmel und nicht zuletzt Max
Weber. Gerade bei Weber sei besonders auffallend, wie konsequent und scheinbar erschöpfend dieser
einerseits eine Handlungstypologie entwickelt, die zwischen zweckrationalem, wertrationalem,
traditionalem und affektuellem Handeln unterscheidet, aber gleichzeitig in seinen materialen Arbeiten
immer wieder auf historische bzw. gesellschaftliche Phänomene zu sprechen kommt, die sich einer
solchen Typologie ganz offensichtlich entziehen. So spiele etwa der Charisma-Begriff für das
Webersche Gesamtwerk und insbesondere für seine Herrschaftssoziologie eine herausragende Rolle,
aber es sei völlig unklar, mit welchem Handlungstyp »Charisma« überhaupt gefaßt werden kann.
Offensichtlich sperren sich charismatische Handlungsweisen
gegen die Subsumtion unter Webers (…) Handlungstypologie (…). Selbstverständlich kann jede Typologie, die wie die Webers mehr oder
weniger verhüllt eine Residualkategorie enthält, jedes Phänomen, oft aber mehr schlecht als recht, klassifizieren. Entscheidend ist
allerdings, daß das Prinzip dieser Typologie nicht jener Dimension des Handelns gerecht wird: der kreativen Dimension. (Joas, Die
Kreativität des Handelns, S. 74)

Einerseits ist es also für Webers Werk kennzeichnend, daß dort Phänomene des Charismas eine
herausragende Rolle spielen. Denn gerade sie sind es, die den historischen Prozeß verändern und
Neues in die Welt setzen. An diesen Phänomenen ist somit die Dimension der Kreativität mit Händen
zu greifen! Aber genau diese Dimension wird andererseits in der Weberschen Handlungstheorie nicht
berücksichtigt.
Weber allerdings ist kein Einzelfall. Denn den Klassikern insgesamt gelang es nicht, »ihre
kreativitätstheoretischen Gedanken bruchlos in ihr Werk zu integrieren« (a.a.O., S. 105). Das heißt,
die Klassiker stießen immer wieder auf Phänomene, an denen diese Kreativitätsproblematik
unmittelbar aufbrach, ohne allerdings die Problematik auch konsequent und konsistent in einen
theoretischen Rahmen stellen zu können.
Die Randstellung der Kreativitätsproblematik innerhalb der Soziologie ist dabei um so
erstaunlicher, als diese Thematik innerhalb der modernen Geistesgeschichte insgesamt eine
erhebliche Rolle spielte. Wie Joas im zweiten Teil des Buches zu zeigen ver707suchte, standen
»Metaphern« der Kreativität wie der Marxsche Begriff der Produktion und derjenige der Revolution
zur Mitte des 19. Jahrhunderts ebenso im Brennpunkt der intellektuellen Diskussion wie der Begriff
des »Lebens« innerhalb der Lebensphilosophie am Ende des 19. Jahrhunderts und der Begriff der
(kreativen) »Intelligenz« im pragmatistischen Denken zu Beginn des 20. Jahrhunderts. All diese
begrifflich schwer zu fassenden Phänomene ließen sich mit einer am Modell des normativen oder
rationalen Handelns orientierten Handlungstheorie nicht »einfangen«, sondern erzwangen »abseitige«
Reflexionen und die Formulierung kreativitätstheoretischer Aussagen, ohne daß es den damit
beschäftigten Theoretikern allerdings je gelang, diese mit einer plausiblen und v. a. soziologisch
verwendbaren Theorie menschlichen Handelns zu koppeln.
Genau darum geht es nun Joas im grundlagentheoretischen dritten Teil. Er will dabei nicht, wie
auch der Titel des Buches ausweist, auf einen besonderen Handlungstypus aufmerksam machen, den
man als »kreatives Handeln« etwa im Gegensatz zu anderen (routinisierten) Handlungsformen
bezeichnen könnte. Vielmehr versucht er zu zeigen, daß jedem Handeln eine kreative Dimension
innewohnt. Deshalb auch: »Die Kreativität des Handelns«! Joas formuliert es so:
Es geht also nicht um eine bloße Erweiterung, sondern um eine fundamentale Umstellung der Grundlagen verbreiteter Handlungstheorie.
Nicht die Unvollständigkeit verbreiteter Handlungstypologien wird beklagt, sondern das typologiestiftende Prinzip wird in Zweifel
gezogen. Jede Handlungstypologie, die offen oder verdeckt mit einer Residualkategorie arbeitet, in die sich alle Phänomene einbeziehen
lassen, die nicht explizit kategorial erfaßt werden, ist in einem formalen Sinne vollständig. Das bedeutet aber keineswegs, daß einer
solchen Typologie tatsächlich phänomenerschließende Kraft zukommt. (Joas, a.a.O., S. 213/214)

Mit dieser »fundamentalen Umstellung der Grundlagen verbreiteter Handlungstheorie« ist nun
folgendes gemeint: Joas zufolge haben fast alle Handlungstheorien, ob in der Ökonomie, der
Philosophie, der Psychologie oder eben der Soziologie, ihren Ausgangspunkt beim sogenannten
»rationalen Handeln« genommen. Beschränken wir uns auf die Soziologie, so läßt sich dies an so
unterschiedlichen Autoren wie Weber, Parsons und sogar Habermas problemlos de708monstrieren:
Denn die Webersche Handlungstheorie ist eindeutig so konstruiert, daß die Typen des wertrationalen,
traditionalen und affektuellen Handelns gegenüber dem Typus des zweckrationalen Handelns
Rationalitätsdefizite aufweisen; Parsons erweitert in The Structure of Social Action das Modell
rationalen Handelns lediglich durch dasjenige des normativen Handelns; er bleibt dabei zugleich
einem teleologischen Handlungsmodell insofern verhaftet, als er die zweckrationalen oder
normativen Handlungsziele als gegeben interpretiert, den Handlungsvollzug also nur als
Verwirklichung vorformulierter Ziele deutet (vgl. die Zweite Vorlesung); und selbst Habermas
konstruiert sein Handlungsmodell so, daß – gemäß der je unterschiedlichen Weltbezüge des Handelns
– das zweckrationale oder strategische Handeln als Ansatzpunkt genommen wird, um von hier aus zu
Handlungsbegriffen vorzustoßen, die mehr Weltbezüge aufweisen und in denen sich ein höheres
Rationalitätspotential entfaltet (vgl. die Zehnte Vorlesung). So unterschiedlich die Handlungstheorien
dieser drei Autoren auch sein mögen, es eint alle drei eben der Ausgangspunkt: »rationales Handeln«.
Dies ist laut Joas nun aus mindestens zwei Gründen problematisch. Zum einen gelingt es diesen
Handlungsmodellen letztlich nie, die Kreativitätsproblematik einzufangen: Der Ausgangspunkt beim
›rationalen Handeln‹ produziert automatisch immer ein »Gegenbild des Nicht-Rationalen« (a.a.O.,
S. 214) und damit die schon bekannte Problematik von Restkategorien, die in der Handlungstypologie
nicht mehr wirklich unterzubringen sind. Zum anderen besteht das noch grundlegendere Problem
darin, daß jenes rationale Handeln schlichtweg als gegeben oder selbstverständlich gesetzt wird,
ohne daß noch hinterfragt wird, welche fundamentale Annahmen ihm selbst zugrunde liegen.
Um Mißverständnisse zu vermeiden: Joas will nicht in Zweifel ziehen, daß rationale
Handlungsmodelle empirisch nützlich sein können und auch sind. Er wehrt sich nur dagegen, daß man
ein solches Rationalmodell des Handelns ohne eine systematische Diskussion seiner Grundlagen
verwendet. Dies erscheint vielleicht als eine allzu gründliche und sogar unnötige Vorgehensweise.
Tatsächlich ermöglicht aber erst ein solcher Schritt jene Fundamentalkritik an bisherigen
Handlungstheorien, auf die Joas abzielt, und darüber hinaus eine Fassung der
Kreativitätsproblematik, die jenen Handlungstheorien verwehrt blieb. Anders formuliert: Erst sie
erlaubt es, 709zu einem ganz anderen »Verständnis von (instrumenteller) Rationalität und
Normativität« (a.a.O., S. 218) vorzudringen.
Wie Joas darlegt, unterstellen alle Handlungstheorien, die vom Typus rationalen Handelns
ausgehen, »den Handelnden erstens als fähig zum zielgerichteten Handeln, zweitens als seinen Körper
beherrschend, drittens als autonom gegenüber seinen Mitmenschen und seiner Umwelt« (a.a.O.,
S. 217). Alle diese drei Voraussetzungen sind aber alles andere als selbstverständlich. Sie gilt es
deshalb zunächst in systematischer Weise zu untersuchen, wobei zu fragen sein wird, welche Theorien
uns überhaupt zur Verfügung stehen, um die bisher nicht hinterfragten Prämissen aufzuhellen.
1. Konzentriert man sich auf die erste Unterstellung, wonach Handelnde ihre Absichten in der
Regel nach dem Zweck/Mittel-Schema zu realisieren versuchen, so stößt man schnell auf einige
höchst überzeugende philosophische wie soziologische Kritiken, welche die Selbstverständlichkeit
des Zweck/Mittel-Schemas für die Deutung menschlichen Handelns bezweifeln. Wie dargestellt
(Elfte Vorlesung) wandte sich Niklas Luhmann in seinen frühen Schriften massiv gegen das
Bürokratie- und Organisationsmodell von Max Weber und Robert Michels, also gegen die
Vorstellung, man könne Organisationen so begreifen, als würden sie entlang oberster Zwecksetzungen
funktionieren. Aber Luhmann war sicherlich nicht der einzige Soziologe, der die Brauchbarkeit des
Zweck/Mittel-Schemas aus guten Gründen hinterfragte. Auch Handlungstheoretiker äußerten durchaus
Zweifel an der Unhintergehbarkeit eines solchen Schemas: Denken Sie etwa an Jürgen Habermas und
sein Modell des kommunikativen Handelns, das von ihm als nicht-teleologisch charakterisiert wurde,
insofern der Diskurs gerade keinen Zweck als solchen hat, sondern als ergebnisoffen begriffen
werden muß (vgl. die Zehnte Vorlesung). Die Durchsicht allein schon der soziologischen Literatur
zeigt also, daß man soziale Phänomene und soziales Handeln nicht notwendigerweise teleologisch
deuten muß.
Diese Erkenntnis macht sich auch Joas zu eigen, zieht daraus aber ganz andere und teils radikalere
Konsequenzen als Luhmann und Habermas. Während Luhmann auch aufgrund seiner Kritik an der
klassischen Organisationstheorie gleich dazu überging, die Handlungstheorie hinter sich zu lassen und
den Aufbau einer funktional-strukturellen Theorie und – später dann – einer hochabstrakten
710(autopoietischen) Systemtheorie zu betreiben; und während Habermas lediglich das
kommunikative Handeln als nicht-teleologisch begreift, aber ansonsten das strategische bzw.
zweckrationale und auch das normorientierte Handeln nicht mehr weiter analysiert, ist Joas’ Strategie
eine andere. Er ist und bleibt im Unterschied zu Luhmann Handlungstheoretiker, hinterfragt aber im
Unterschied zu Habermas auch, ob sich nicht sogar das zweckrationale und das normorientierte
Handeln viel angemessener unter Prämissen deuten ließen, die nicht von vornherein alles Handeln als
teleologisch beschreiben. Dabei dient ihm John Dewey als Gewährsmann, der wie kein anderer bei
der Analyse menschlichen Handelns den Glauben an die problemlose Anwendbarkeit des
Zweck/Mittel-Schemas unterminiert (und damit ja auch Luhmann beeinflußt) hat.
Von Dewey – so Joas – sei zu lernen, daß Handlungsziele nicht nur Antizipationen zukünftiger
Zustände sind, sondern auch ganz unmittelbar das Handeln in seiner Gegenwärtigkeit organisieren und
daß deshalb auch eine reziproke Beziehung zwischen Handlungszielen und -mitteln besteht.
(…) Handlungsziele [sind] meist relativ unbestimmt und werden erst durch die Entscheidung über zu verwendende Mittel spezifiziert.
Reziprozität von Zielen und Mitteln bedeutet also ein Wechselspiel zwischen Mittelwahl und Zielklärung. Die Dimension der Mittel ist
damit nicht neutral gegenüber der Dimension der Ziele. Indem wir erkennen, daß uns bestimmte Mittel zur Verfügung stehen, stoßen wir
erst auf Ziele, die uns vorher gar nicht zu Bewußtsein kamen. (Joas, a.a.O., S. 227)

Die Pragmatisten und insbesondere Dewey hätten also überzeugend die tendenzielle Flüssigkeit bzw.
Veränderbarkeit der Ziele im Handlungsvollzug herausgearbeitet, die in der Regel nicht als von
vornherein gesetzt und damit als starr interpretiert werden dürften. Eine intelligente Zielverfolgung
zeichne sich gerade durch eine kreative Abwägung zwischen den Möglichkeiten des Handelns und
den zur Verfügung stehenden Mitteln aus. Und dies gilt sowohl für zweckrationales wie für
moralisches Handeln. Das ist insofern von höchster Bedeutung, weil es unmittelbare Konsequenzen
für eine Theorie der Moral hat. An Deweys ethischer Position wird dies auch überaus deutlich,
insofern dieser sich vehement von rigiden Moraltheorien absetzt, die moralisches Handeln als eine
bloße Befolgung »prä-existenter« oberster Werte oder Normen begreifen:
711Jede Heiligung eines Zweckes als eines Wertes an sich verdeckt vor dem Handelnden die übrigen Folgen seiner Zielsetzung und
Mittelwahl, als würden diese wundersamerweise nicht eintreten oder ignoriert werden können. (Joas, a.a.O., S. 228)

Joas kann also mit Rückgriff auf Dewey, aber auch auf andere philosophische Traditionen zeigen, daß
eine empirisch gehaltvolle Analyse des Handelns notwendig über das Zweck-Mittel-Schema
hinausgehen muß, daß »weder routinisiertes noch sinnerfülltes, weder kreatives noch existentiell
reflektiertes Handeln nach diesem Schema zu denken ist« (a.a.O., S. 230). Wenn das aber so ist, dann
schließt sich daran unmittelbar die Frage an, warum sich die in der Geschichte der
Sozialwissenschaften zu beobachtende handlungstheoretische Fixierung auf das Zweck-Mittel-
Schema überhaupt etabliert und vor allem so lange weitgehend widerspruchslos gehalten hat.
Die Antwort darauf ergibt sich laut Joas, wenn man sich darüber bewußt wird, daß
handlungstheoretische Konzeptionen in der Regel auf jenem cartesianischen Dualismus zwischen
Körper und Geist, zwischen Welt und Ich aufgebaut sind: Nur unter dieser Prämisse war es plausibel,
Zwecksetzungen als vom Handeln abgetrennte rationale Planungsziele zu konzipieren, sich
vorzustellen, daß erst in einem geistigen Prozeß die Zwecke gesetzt werden, bevor dann (körperlich)
gehandelt wird. Damit war zugleich auch eine weitere Dichotomie impliziert, nämlich diejenige
zwischen Wahrnehmen und Denken einerseits und Handeln andererseits. Wenn man hingegen die
pragmatistische Kritik am Cartesianismus (vgl. die Sechste Vorlesung) akzeptiert, dann ergibt sich ein
ganz anderes Verhältnis zwischen Handeln und Wahrnehmen bzw. Denken und damit gleichzeitig auch
die Möglichkeit, das teleologische, d. h. am Zweck-Mittel-Schema ausgerichtete Handlungsmodell
hinter sich zu lassen.
Die Alternative zur teleologischen Deutung des Handelns und der in ihr tradierten Abhängigkeit von den cartesianischen Dualismen
besteht darin, Wahrnehmung und Erkenntnis nicht der Handlung vorzuordnen, sondern als Phase des Handelns aufzufassen, durch
welche das Handeln in seinen situativen Kontexten geleitet und umgeleitet wird. Die Setzung von Zwecken geschieht – in dieser
alternativen Sichtweise – nicht in einem geistigen Akt vor der eigentlichen Handlung, sondern ist Resultat einer Reflexion auf die in
unserem Handeln immer schon wirksamen, vor-reflexiven Strebungen und Gerichtetheiten. In diesem Akt der Reflexion werden solche
Strebun712gen thematisch, die normalerweise ohne unsere bewußte Aufmerksamkeit am Werke sind. Wo aber ist der Ort dieser
Strebungen? Ihr Ort ist unser Körper: seine Fertigkeiten, Gewohnheiten und Weisen des Bezugs auf die Umwelt stellen den Hintergrund
aller bewußten Zwecksetzung, unserer Intentionalität, dar. Die Intentionalität selbst besteht dann in einer selbstreflexiven Steuerung
unseres laufenden Verhaltens. (Joas, a.a.O., S. 232)

Mit Rückgriff auf pragmatistische Gedanken läßt sich also plausibel machen, daß eine kritische
Untersuchung des Zweckbegriffs uns dazu führt, die Körperlichkeit des Handelns und gleichzeitig die
Kreativität des Handlungsakts ernst zu nehmen. Entscheidend ist hierbei die Betonung der Situation,
des »situativen Kontexts«, ist doch der »Begriff der ›Situation‹ geeignet (…), an die Stelle des
Zweck/Mittel-Schemas als erster Grundkategorie einer Handlungstheorie zu treten« (a.a.O., S. 235).
Denn es ist die jeweilige Situation des Handelns, in der Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse
stattfinden, in der überhaupt erst Pläne und Zwecke entworfen werden, die dann immer wieder –
wenn neue situative Deutungen auftauchen – modifiziert oder gar neu formuliert werden: »(…)
welche Handlung realisiert wird, entscheidet sich dann durch eine reflexive Beziehung auf die in der
Situation erlebte Herausforderung.« (a.a.O., S. 236) Insofern erfordern gerade diese situativen
Herausforderungen immer neue und kreative Lösungen und eben nicht eine sture Verfolgung einmal
gefaßter Ziele und Pläne. Motive und Pläne sind Produkte der Reflexion in Handlungssituationen
und nicht (zeitlich vorhergehende) Ursachen des Handelns.
Eine pragmatistisch angeleitete Kritik am Zweck/Mittel-Schema führt also über den Begriff der
Situation zur Einsicht in die Kreativität jeglichen Handelns. Und sie führt auch dazu, daß die
Körperlichkeit des Handelns betont wird – ein Aspekt, der in ähnlicher Weise schon von Anthony
Giddens (allerdings unter zum Teil anderen Vorzeichen) zum Thema gemacht worden ist, aber in
anderen Handlungstheorien zumeist völlig vernachlässigt wird. Denn die Reflexion auf situative
Herausforderungen erfolgt nicht in einer hochrationalen oder abstrakt-geistigen Art und Weise:
Reflexion erfolgt vielmehr deshalb, weil unser »körperlich-praktischer Bezug zur Welt«, also unser
alltäglicher Handlungsfluß, unsere nicht wirklich bewußten Gewohnheiten, Routinen und
eingespielten Wahrnehmungsweisen so nicht mehr aufrechtzuhalten sind und in der Situation kreative
Lösungen erforderlich werden.
713Auf der Grundlage des hier vorgeschlagenen Verständnisses von Intentionalität ist dagegen die Zwecksetzung Resultat einer
Situation, in der sich der Handelnde an der einfachen Fortsetzung vorreflexiv angetriebener Handlungsweisen gehindert sieht. In dieser
Situation muß er reflexiv Stellung beziehen zu seinen vorreflexiven Strebungen. (Joas, a.a.O., S. 238)

Wiederum sollte klar sein, daß eine derartige Auffassung von Intentionalität sich u. a. auf
moraltheoretische Überlegungen auswirken muß: Denn nicht nur die Verfolgung von zweckrationalen
Zielen, sondern auch normen- oder wertebezogenes Handeln ist unter der Perspektive einer nicht-
teleologischen Logik wesentlich adäquater zu erfassen. Denn hier gilt ebenfalls, daß wir erst in
konkreten Handlungssituationen herausfinden, »was unsere Strebungen befriedigt und was unseren
Werten entspricht. Sowohl die Konkretisierung von Werten wie die Befriedigung von Bedürfnissen
sind auf kreative Leistungen angewiesen.« (A.a.O., S. 239)
2. Bei der Analyse der zweiten unhinterfragten Annahme der meisten Handlungstheorien –
Handelnde könnten ihren Körper kontrollieren – verweist Joas darauf, daß erst noch geklärt werden
muß, über welche Entwicklungsstufen Menschen eine tatsächliche Kontrolle ihres Körpers erreichen
und wie sie auch wieder in der Lage sind, diese Körperkontrolle zumindest zeitweise zu lockern.
Dabei darf weder angenommen werden, daß Menschen tatsächlich in der Lage wären, über ihren
eigenen Leib zu verfügen wie über einen beliebigen Gegenstand, noch daß diese Kontrolle über den
Leib in stets gleichbleibender Form ausgeübt wird: Beim Lachen und beim Weinen etwa verlieren
wir ja zum Teil eine solche Körperkontrolle, ohne daß dies als etwas Pathologisches zu betrachten
wäre. Die Annahme der Körperkontrolle durch den Handelnden ist also mitnichten eine problemlose
Unterstellung.
Mit Rückgriff auf Analysen der philosophischen Anthropologie sowie auf Arbeiten von Maurice
Merleau-Ponty und George Herbert Mead zeigt nun Joas, daß Handlungsfähigkeit überhaupt erst auf
der Basis eines sich in der Kindheit konstituierenden »Körperschemas« bzw. »Körperbildes«
gegeben ist. Erst das »Bewußtsein des Handelnden von der morphologischen Struktur des eigenen
Körpers, seiner Teile und seiner Haltung, seiner Bewegungen und seiner Grenzen« (a.a.O., S. 257)
ermöglicht ein aktives Eingreifen in die Welt. »Bewußtsein« heißt allerdings hier nicht eine klar
artikulierte 714Bezugnahme auf den eigenen Körper: denn es sind die vorbewußten bzw. prä-
reflexiven Leistungen des Körpers, auf die wir uns notwendig verlassen müssen, um handeln zu
können – wiederum eine These, die wir auch schon bei der Besprechung des Giddensschen Ansatzes
kennengelernt haben und die den Dualismus zwischen Körper und Geist unterläuft.
Am eindrucksvollsten ist die Bedeutung des Körperschemas von Maurice Merleau-Ponty
herausgearbeitet worden, und zwar am Beispiel von Phantomgliedern, insofern eine armamputierte
Person ihren (fehlenden) Arm einerseits spürt und ständig zum Thema macht, diesen aber gleichzeitig
stets wieder ignorieren muß. Dieses »Spüren« des Arms ist für Merleau-Ponty weder ein »physisch«
zu deutendes Phänomen – denn die Reizbahnen existieren ja nicht mehr – noch ein allein »psychisch«
aufzuhellender Sachverhalt, weil es durchaus nicht so ist, daß der Amputierte die Tatsache der
Amputation lediglich verdrängen will. Merleau-Ponty verweigert sich vielmehr diesem Körper-
Geist-Dualismus und argumentiert folgendermaßen:
Der Phantomarm ist nicht Vorstellung eines Armes, sondern die ambivalente Gegenwart des Armes selbst. (…) Den Phantomarm haben,
heißt für alles Tun, dessen allein der Arm fähig ist, offen bleiben, heißt das vor der Verstümmelung besessene praktische Feld sich
bewahren. (…) So weiß der Kranke von seiner Versehrtheit, indem er sie ignoriert, und ignoriert sie, indem er von ihr weiß. (Merleau-
Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 263)

Wir sind also, weil Handeln auch ein körperliches Phänomen ist, auf bestimmte Aspekte der Welt hin
ausgerichtet. Die Welt ist uns vorreflexiv zuhanden. Dabei ist das Körperschema sowohl das
Ergebnis der je individuellen Biographie, in der diese praktische Bezugnahme auf die Welt stets eine
Rolle gespielt hat, als auch ein nie abgeschlossener Prozeß. Denn das Bewußtsein von unserem
Körper muß sich zum Beispiel durch Alterungsprozesse, Schwangerschaft, Krankheiten oder
Amputationen notwendig wandeln. Es ist also eine ständig vorbewußte Aufgabe des Handelnden,
dieses Körperschema zu konstruieren und zu rekonstruieren. Der Leib ist vorreflexiv und habituell auf
bestimmte sich verändernde praktische Bezüge zur Welt ausgerichtet, was gleichzeitig aber auch
bedeutet, daß die Handlungstheorie nicht einfach eine bewußte Kontrolle unseres Körpers
unterstellen darf.
715Merleau-Ponty hat zwar die Bedeutung des Körperschemas sehr schön illustrieren, aber nur
sehr bruchstückhaft klären können, wie und auf welche Weise sich dieses bildet, wie also
sozialisationstheoretisch die Genese des Körperschemas zu denken ist. Merleau-Ponty deutet nur an,
daß die Erfahrung des Leibes immer auch gebunden ist an die Erfahrung des Körpers der/des
Anderen, daß also das Fundament unserer (Körper-)Erfahrung nicht ausgehend von einem isolierten
Individuum gedacht werden darf, sondern nur intersubjektiv. Detaillierte Untersuchungen genau dazu
finden sich aber im amerikanischen Pragmatismus und insbesondere bei Mead, insofern dieser lange
vor Merleau-Ponty »die vorsprachliche Kommunikation des Kindes zum Bestandteil einer Erklärung
der Konstitution des Körperschemas« (Joas, Die Kreativität des Handelns, S. 265) gemacht und
plausibel dargestellt hat, wie beim Kind der Umgang mit Objekten nach dem Modell der
Rollenübernahme und auf der Basis der Fähigkeit der Identifikation mit einer Person erfolgt. Diese
Form des Umgangs mit Dingen wird dabei auch später noch beibehalten. Für Mead
bildet die Kooperation von Hand und Auge erst dann »Dinge«, permanente Objekte, wenn wir dem Objekt ein substantielles Inneres
unterstellen, von dem der Druck ausgeht, den wir im Umgang als Widerstand des Objekts erfahren. Mit diesem »Inneren« meinen wir ja
gar nicht etwas, das innen sitzt, hinter den Oberflächen des Objekts, sondern wir meinen einen aktiven, widerständigen Charakter, dessen
Wirkungszentrum im Ding verortet wird. Wir unterstellen im praktischen Umgang den Objekten ein Inneres, und das heißt: einen von
diesen selbst stammenden, von uns unabhängigen Widerstand. (A.a.O., S. 267)

Diese Unterstellung eines uns Widerstand entgegenbringenden Objekt-Inneren kann sich deshalb
ergeben, weil ein kleines Kind immer schon in soziale Interaktionen eingebunden ist und selbst dann,
wenn es noch kein Bewußtsein von den Grenzen zwischen sich und der Welt hat, bereits auf Gebärden
der Eltern bzw. Bezugspersonen reagiert: Es existiert bereits im frühen Stadium der kindlichen
Entwicklung eine Kommunikation durch Gebärden, welche die Identifikation mit den
Interaktionspartnern – den Eltern – voraussetzt. Und diese Rollenübernahme stellt für das Kind das
Modell für den Umgang mit physischen Gegenständen zur Verfügung, insofern nun auch Dingen ein
Inneres unterstellt wird, das Widerstand 716leistet. Das Einwirken auf Dinge wird also in ähnlicher
Weise verstanden wie das mittels Gebärden erfolgende Einwirken auf Interaktionspartner – samt der
dadurch bei diesen dann ausgelösten Reaktionen, die wiederum auf das Kind zurückwirken.
Damit ist freilich erst die Entstehung der Spezifika des Handelns gegenüber physischen Objekten
geklärt, noch nicht die Genese des Körperschemas selbst. Nach Mead ergibt sich dieses erst, wenn
wir im Verlauf von weiteren Kommunikationsprozessen in der Lage sind, zu einer Selbst-
Identifikation zu gelangen, die die Andersheit unbelebter Objekte, ihre Nicht-Sozialität, zur Kenntnis
nimmt: Erst dann wird es für das Kind möglich, zwischen dem Leib und den anderen physischen
Gegenständen bzw. zwischen eigenem Körper und Bewußtsein zu unterscheiden (a.a.O., S. 267 f.).
Und erst dann kann das Kind überhaupt Kontrolle über den eigenen Leib gewinnen, eine Tatsache, die
in den herkömmlichen Handlungstheorien immer nur als eine pure Selbstverständlichkeit unterstellt
wird.
Wenn es nun so ist, daß der Körper dem Handelnden nicht einfach gegeben, sondern nur über ein
Körperschema zugänglich ist, das sich intersubjektiv konstituiert, dann ist das Verhältnis des
Handelnden zu seinem Körper zutiefst von den Strukturen der sozialen Beziehungen geprägt, in denen
er aufwuchs.
3. Hier stößt man unmittelbar auf die dritte Annahme in den meisten Handlungstheorien, nämlich
auf diejenige der Autonomie des Menschen gegenüber seinen Mitmenschen und der Umwelt. Joas
kann an dieser Stelle auf seine Interpretation des Werkes von George Herbert Mead zurückgreifen,
insofern Mead wie kein anderer versucht hat, dieser Annahme entgegenzutreten und die primäre
Sozialität des Handelnden zu betonen. Es sei hier nur kurz erwähnt, daß Mead durch seine
anthropologische Theorie der Kommunikation in der Lage war zu klären, wie sich erst in
Kommunikationsbeziehungen ein einheitliches Selbst herausbildet. Individualität ist für Mead nicht
biologisch vorgegeben, sondern ein »voraussetzungsreiches Entwicklungsresultat« (a.a.O., S. 276) –
wiederum ein Sachverhalt, der in den meisten Handlungstheorien nur unzureichend reflektiert wird.
Es geht aber dabei nicht nur um die Genese der Individualität, sondern auch um die allzeit fragilen
Bedingungen ihrer Aufrechterhaltung.

717Diese Rekonstruktion der Voraussetzungen des Rationalmodells des Handelns hat nun erhebliche
Konsequenzen. Es sollte nicht nur klargeworden sein, daß die Beschreibung von Handlungsprozessen
gerade die Körperlichkeit des Handelnden und dessen primäre Sozialität zu berücksichtigen hat, weil
ansonsten wesentliche Dimensionen von Interaktionen verkannt werden. Vor allem ist zu beachten,
daß mit der Kritik an dem in vielen Handlungstheorien unterstellten Zweck/Mittel-Schema und mit
der Betonung der kreativen Aspekte jeglichen Handelns auch wesentliche inhaltliche
Umorientierungen bei der Analyse zentraler soziologischer Forschungsgebiete einhergehen müssen.
Eine an pragmatistischen Gedankengängen geschulte Handlungstheorie, welche die Kreativität des
Handelns tatsächlich ernst nimmt, muß – so die Joassche These – auch Folgen für die
Makrosoziologie haben. Genau dies diskutiert dann Joas im vierten Teil des Buches, wobei er zwei
Felder besonders intensiv analysiert: So versucht er plausibel zu machen, daß Forschungen zu
sozialen Bewegungen, insofern sie sich am Rationalmodell des Handelns orientieren, entscheidende
Phänomene kollektiven Handelns übersehen: Denn sowohl Ressourcenmobilisierungstheoretiker (vgl.
unsere Achte Vorlesung), die das Entstehen sozialer Bewegungen unter konflikttheoretischen oder
utilitaristischen Prämissen begreifen, wie auch Forscher wie etwa Neil Smelser (vgl. die Dreizehnte
Vorlesung), die soziale Bewegungen unter dem Aspekt der Durchsetzung oder Verwirklichung
bestimmter vorgegebener normativer Ziele interpretieren, ignorieren schon aufgrund ihrer
Grundbegrifflichkeit die Tatsache, daß in sozialen Bewegungen – dies haben unter anderem auch
Autoren des Symbolischen Interaktionismus zu zeigen versucht (vgl. die Sechste Vorlesung) – neue
Werte und Handlungsziele auftauchen, die in der Situation des Massenhandelns erst generiert
werden. Auch für kollektives Handeln gilt also, daß nicht kontemplativ imaginierte Nutzenkalküle und
Werte das Handeln bestimmen; vielmehr tauchen im Handlungsvollzug miteinander interagierender
Akteure neue Situationsdefinitionen auf, die ein kreatives Zusammenspiel von Mitteln und Zielen
erfordern und damit auch die Genese neuer Werte ermöglichen.
Ähnliche Revisionen fordert eine neo-pragmatistische Perspektive auch von »herkömmlichen«
makrosoziologischen Wandlungstheorien. Nimmt man nämlich das Joassche Handlungsmodell ernst,
dann wird man die Geschichte kaum als ein automatisches 718Fortschreiten von Rationalisierungs-
und Differenzierungsprozessen begreifen können, wie dies Weberianer, aber v. a.
Differenzierungstheoretiker in der Tradition von Parsons immer unterstellt haben. Vielmehr wird man
sehr schnell feststellen, daß die Handelnden selbst auf neue Situationen treffen, die sie zu kreativen
Lösungen zwingen – ein Prozeß, der sich einer funktionalistischen Logik schlichtweg entzieht. Joas
teilt hier weitgehend die Position von Castoriadis (s. die Sechzehnte Vorlesung), der – ausgehend von
anderen theoretischen Prämissen – gleichfalls die Kreativitätsthematik besonders betont und gerade
deshalb eine scharfe Kritik am (differenzierungstheoretisch argumentierenden) Funktionalismus
formuliert hatte. Gleichzeitig sympathisiert Joas mit der Funktionalismus-Kritik von Giddens oder
Beck: Es mag – so Joas – durchaus sinnvoll sein, von »Differenzierung« zu sprechen, allerdings ist
daran zu erinnern, daß es die Akteure sind, welche diese Differenzierung vorantreiben, und eben
keine Eigenlogik eines Systems. Joas spricht deshalb in scharfer Absetzung von funktionalistischen
Theoretikern von der »Demokratisierung der Differenzierungsfrage«, um gerade gegen Luhmann
festzuhalten, daß es nicht die Theoretiker sind, die über die konkrete Gestalt von
Differenzierungsprozessen und ihre Zwangsläufigkeit entscheiden, sondern die Akteure.
Im Anschluß an Hans Joas hat Jens Beckert (geb. 1967 und derzeit Professor für Soziologie an der
Universität Göttingen) mit Bezugnahme auf dieses pragmatistische Handlungsmodell gezeigt, daß
gerade auch die Wirtschaftssoziologie ohne die Idee des kreativen Handelns nicht auskommen kann.
Denn die Analyse von Marktprozessen stößt zum einen immer wieder auf unsichere
Entscheidungssituationen, in denen die Akteure mangels fester Anhaltspunkte kreative Lösungen
finden müssen. Zum anderen ist das für Produktions- und Marktvorgänge entscheidende Phänomen der
Innovation fast zwangsläufig auf ein Handlungsmodell verwiesen, das ganz zentral die Kreativität der
Akteure zum Thema macht (vgl. Jens Beckert, Grenzen des Marktes. Die sozialen Grundlagen
wirtschaftlicher Effizienz und Joas/Beckert, »Action Theory«).

Joas hat manche der in Die Kreativität des Handelns z. T. nur angeschnittenen Themen in
nachfolgenden Veröffentlichungen weiter verfolgt und die diesbezüglichen Thesen genauer
ausgearbeitet. Dies gilt gerade auch für den zuletzt angesprochenen Bereich der Makro719soziologie.
Besonders hervorzuheben ist hier eine stetige Auseinandersetzung mit der Differenzierungs- bzw. der
Modernisierungstheorie. Schon seit Mitte der 1980er Jahre hatte nämlich Joas ganz ähnlich wie auch
Anthony Giddens ein besonderes Augenmerk auf das Phänomen kriegerischer Gewalt in der Moderne
gelegt, wobei ihm die Beschäftigung mit dieser Thematik gerade deshalb so lohnend erschien, weil
sich die moderne Soziologie vor dieser Problematik weitgehend »gedrückt« hat und gerade deshalb
vielfach ein hochproblematischer Fortschrittsoptimismus Einzug halten konnte (vgl. Joas, Kriege und
Werte. Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, v. a. S. 49-86). Die soziologische
Analyse von Kriegen, ihrer Ursachen, Verläufe und Folgen kann nun wahrlich dazu dienen, die in der
Soziologie und vor allem in der Modernisierungstheorie so verbreiteten Fortschrittsideen zu
relativieren. Die Beschäftigung damit lohnt auch deshalb, weil Kriege ganz exemplarisch den
Einbruch der Kontingenz, des Nicht-Notwendigen, in die Geschichte demonstrieren. Kriege sind also
nicht nur die zumeist vernachlässigten, weil dunklen Epochen in einer häufig recht hell gezeichneten
»Entwicklung«; sie sind auch Knotenpunkte der Geschichte, weil sich für die Handelnden durch die
Kriegserfahrung und die Folgen von Kriegen nicht vorherzusehende Möglichkeiten ergeben und
damit in einem ungeahnten Ausmaß neue Prozesse aufbrechen, wodurch die so häufig unterstellte
Linearität der Geschichte ad absurdum geführt wird. Um es in handlungstheoretischer Sprache zu
formulieren: Die Akteure reagieren auf die kriegerische »Situation« mit neuen kreativen Entwürfen.
Dabei enthält – um dies klarzustellen – der Begriff der »Kreativität« keine normative Wertung. Denn
die in und nach Kriegen entstehenden kreativen Projekte waren mitnichten alle moralisch »gut«, wie
an der mittlerweile geläufigen Rede von der ›Geburt des Faschismus aus dem Geist des Ersten
Weltkrieges‹ ja deutlich ersichtlich sein dürfte.
Die intensive Beschäftigung mit Kriegen dient hier also dazu, makrosoziologische
Wandlungstheorien zu relativieren. Eine ähnliche Funktion erfüllt auch die immer stärker werdende
Beschäftigung mit Religionen (vgl. Joas, Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der
Selbstranszendenz), denn auch durch die Analyse religiöser Phänomene lassen sich Einsichten in
makrosoziologische Wandlungsprozesse gewinnen. Die einfache Annahme der
Modernisierungstheorie, daß Säkularisierung ein notwendiger Bestandteil 720von Modernisierung
sei, ist heute ja zunehmend unplausibel geworden.

Neben dieser Konzentration auf ganz konkrete sozialwissenschaftliche Forschungsfelder hat Joas aber
auch seine genuin theoretischen Argumente weiter ausgebaut und systematisiert. In diesem
Zusammenhang ist insbesondere sein 1997 erschienenes Buch Die Entstehung der Werte zu nennen.
Wie schon in Die Kreativität des Handelns werden auch hier theoriehistorische und -systematische
Argumente zur Beantwortung einer scheinbar relativ einfachen Frage verknüpft: Wie entstehen
Wertbindungen?
Es geht mir (…) darum, nach den Handlungszusammenhängen und Erfahrungstypen Ausschau zu halten, in denen das subjektive Gefühl,
daß etwas ein Wert sei, seinen Ursprung hat. (Joas, Die Entstehung der Werte, S. 22)

Ausgangspunkt ist dabei die Beobachtung, daß die moderne Sozialtheorie von Parsons bis hin zu
Habermas ständig von Werten gesprochen hat, ohne ernsthafte Bemühungen zu unternehmen, die Frage
nach der Entstehung von Werten zu klären und vor allem zu analysieren, wie und wodurch sich
Menschen an bestimmte Werte gebunden fühlen. Die zentrale theoriegeschichtliche These lautet nun,
daß dieser Fragenkomplex in einer ganz bestimmten Phase der europäisch-amerikanischen
Geistesgeschichte durchaus das Interesse renommierter Autoren auf sich gezogen hatte. Aus
verschiedenen Motiven heraus und mit höchst unterschiedlichen Denkmitteln und auch Ergebnissen
hätten zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts Denker
wie Friedrich Nietzsche, William James, Emile Durkheim, Georg Simmel, Max Scheler und John
Dewey versucht, genau dieser Problematik nachzugehen. Danach sei die Debatte aus
unterschiedlichen Gründen versandet, bevor dann eine der Zentralfiguren der kommunitaristischen
Debatte, nämlich der kanadische Philosoph Charles Taylor, diesen Faden in den 1980er Jahren
wieder systematisch aufgenommen habe (a.a.O., S. 195). So problembehaftet die Ausführungen dieser
Denker auch immer waren, der systematische Durchgang durch ihr Werk und v. a. die Kontrastierung
und wechselseitige Ergänzung ihrer Argumente zeigen Joas zufolge, daß – und dies ist nun seine
starke These – Werte »in Erfahrungen der Selbstbildung und Selbsttranszendenz« entstehen (a.a.O.,
S. 10).
721Zunächst zum ersten Teil dieser These: Werte und Wertbindungen entstehen einmal in Kindheit
und Jugend, wenn sich ein individuelles Selbst herausbildet, beispielsweise dann, wenn sich die
persönliche Identität in einer dialogischen oder, wenn man so will: harmonischen Ablösung und
Absetzung von elterlicher Fürsorge formt. Aber es ist stets daran zu erinnern, daß sich individuelle
wie kollektive Identitäten durchaus auch in Reaktion auf die Erfahrung von Macht und Ausgrenzung
konstituieren können, wobei die hier entstehenden Werte höchst unterschiedlich sein können. Um an
ein soeben diskutiertes makrosoziologisches Phänomen anzuknüpfen: Die Erfahrung kriegerischer
Gewalt kann ebenso zu einer (militaristischen oder faschistischen) Heroisierung genau dieser Gewalt
führen wie zu einer tiefen Bindung an pazifistische Werte. Werte und Wertbindungen entstehen aber
auch – und dies ist der zweite Teil der These – aus der Erfahrung der Selbsttranszendenz in
außeralltäglichen Situationen, etwa in religiösen Ritualen und Momenten kollektiver Ekstase, in der
»Konfrontation mit dem Tod, in Momenten der Scham und der Schuld, der Reue und der Demut, in der
Öffnung des Selbst im Gespräch oder im Erlebnis der Natur« etc. (a.a.O., S. 256), so wie dies durch
verschiedene der von Joas diskutierten Autoren herausgearbeitet worden ist, wie dies aber durch eine
reichhaltige Phänomenologie der Werterfahrung sicherlich auch noch weiter zu vertiefen wäre.
Die theoretisch gegebene Antwort auf die Frage nach der Entstehung von Werten ist Ausgangspunkt
für ein empirisches Forschungsprogramm. Dieses hat verschiedene Dimensionen des Begriffes
»Entstehung« zu unterscheiden, um den Grundgedanken für eine historische Soziologie fruchtbar zu
machen.
Zum einen kann es um die historisch erstmalige Verkündung eines Wertes gehen; zum zweiten um die Verfechtung dieses Werts durch
eine kleine und größer werdende Gruppe von Jüngern; zum dritten um die Entstehung einer neuen Bindung in Individuen, etwa durch
Konversion, an Werte, die aber keineswegs historisch neu sind; zum vierten schließlich um eine Wiederbelebung antriebsschwach
gewordener oder in Vergessenheit geratener Werte. (Joas, a.a.O., S. 257)

Klar dürfte dabei immer sein, daß bei der Wertentstehung kontingente Umstände eine entscheidende
Rolle spielen; Werte folgen keiner Logik der Entwicklung, und die Bindung an bestimmte Werte
722ist auch kein quasi zwangsläufiger Prozeß. Vielmehr werden Werte in konkreten
Handlungssituationen »geboren«, übernommen und verbreitet. Der Schwerpunkt der dazu gegenwärtig
unternommenen Arbeiten liegt auf einer historisch-soziologischen Untersuchung der Entstehung der
Menschenrechte und des Ideals universaler Menschenwürde einerseits, einer kontingenz-»bewußten«
Analyse des 20. Jahrhunderts andererseits. Das Interesse gilt dem moralischen Universalismus in
seinen jeweiligen konkreten historischen Gestalten.
Sowohl sozialwissenschaftlich als auch philosophisch stellt sich die brisante Frage, wie die
Kontingenz der Wertentstehung mit den Ansprüchen einer universalistischen Moral in Einklang zu
bringen ist. Bei der Lösung dieses Problems nähert sich Joas der Position von Paul Ricoeur, von der
wir in der Sechzehnten Vorlesung ja schon sagten, daß in dieser eine fruchtbare Integration
kommunitaristischer und liberaler Ansätze vorweggenommen worden sei. Joas’ Versuch einer eigenen
Vermittlung zwischen liberalen und kommunitaristischen Standpunkten basiert freilich auf anderen
Argumenten, als sie Ricoeur verwendet hat, denn auch in bezug auf diese Problematik verfolgt er eine
pragmatistischen Prämissen verpflichtete Argumentationsstrategie.
Wie schon mehrfach angedeutet, ist die pragmatistische Ethik konsequent aus einer
Akteursperspektive heraus entwickelt worden, was für Dewey und Mead bedeutete, daß für sie nicht
die abstrakte Rechtfertigung von Normen im Mittelpunkt stand, sondern die Lösung von konkreten
Handlungsproblemen. Dies führt letztlich zu einer Kritik an »herkömmlichen« Moraltheorien. So
moniert etwa Mead an Kant, »daß der kategorische Imperativ als solcher nur dazu dienen könne,
Handlungen einem Universalisierungstest zu unterwerfen, nicht aber herauszufinden, welche
Handlungen überhaupt adäquat seien« (a.a.O., S. 266). Mead kritisierte also die in der Kantschen
Ethik zu findende Unterstellung, daß allein unter Berufung auf eine von allen Menschen zu
akzeptierende Regel konkrete Handlungsanweisungen zu finden seien. Dies sei aber gar nicht der
Fall, weil der Handelnde sich einer konkreten Situation gegenübersieht und somit seine »Handlungen
unter kontingenten Bedingungen« entwerfen muß. Deshalb steht für ihn auch »nicht die Rechtfertigung
obenan, sondern die Spezifizierung des Guten oder des Rechten in einer Handlungssituation.«
(A.a.O., S. 267)
723Eben weil Pragmatisten konsequent handlungstheoretisch argumentieren, spielt auch in
moraltheoretischen Fragen der Begriff der »Situation« für sie eine entscheidende Rolle. Genau
hierauf bezieht sich Joas bei seinem neopragmatistischen Vermittlungsversuch zwischen Liberalen
und Kommunitaristen. Wir können zwar – so Joas – nicht auf den Kantschen kategorischen Imperativ
oder eine andere Universalisierungsregel verzichten, wenn wir moralische Alternativen prüfen.
Insofern hat das Rechte im moralischen Diskurs natürlich immer seinen Platz, wie dies ja auch von
Mead zugestanden worden ist, der die Idee des kategorischen Imperativs bekanntlich nicht verworfen
hatte. Auf der anderen Seite lassen sich aber aus einer Universalisierungsregel nicht die
Entscheidungen selbst ableiten, die unter Bedingungen der situativen Kontingenz getroffen werden
müssen. Daraus ist zu schließen, daß weder von einem Primat des Rechten über das Gute (so die
liberale Position) noch von einem Primat des Guten vor dem Rechten (wie dies die Kommunitaristen
behaupten würden) gesprochen werden kann, sondern nur von einem Reflexionsgleichgewicht
zwischen beiden:
Geht man (…) von einer Handlungstheorie aus, die Intentionalität gerade in der situationsbezogenen Reflexion auf unsere vorreflexiven
Strebungen verankert, dann wird klar, daß das Rechte immer nur Prüfinstanz sein kann (…). Was wir in diesen Situationen erreichen
können, ist immer nur ein Reflexionsgleichgewicht zwischen unseren Orientierungen. Gewiß kann das Ausmaß, in dem wir unsere
Orientierungen dieser Prüfung aussetzen, variieren. Im Gesichtspunkt des Rechten steckt deshalb ein immerwährendes, nie zur Ruhe
kommendes Potential zur Veränderung des Guten, um es zum Bestehen der Universalisierungsprüfung zu befähigen. Aber aus der
Universalität des Rechten folgt weder, daß wir in Handlungssituationen dem Rechten selbstverständlich den Vorzug vor allen andern
Erwägungen zu geben hätten, noch, daß wir dies nicht tun sollten. (Joas, a.a.O., S. 270/71)

Für den Zusammenhang von universellen Normen und partikularen Werten bedeutet dies nun
folgendes: Sie stehen in einem durchaus spannungsvollen Wechselverhältnis; jedenfalls ist es nicht
möglich, aus universellen Normen bestimmte Werte abzuleiten. Bezogen auf die politische Theorie
heißt dies gleichzeitig, daß man eben nicht behaupten kann, in einem durch universelle Normen
charakterisierten Verfassungsstaat hätten partikulare Werte keinen Platz mehr, wie dies etwa
Habermas lange Zeit unterstellt hatte. Vielmehr ist davon auszugehen, daß sich in partikularen
Wertsyste724men westlicher Demokratien durchaus Regeln finden, »die als Übersetzungen
universeller moralischer Regeln in partikulare politische Institutionen aufgefaßt werden können.
Diese bleiben (…) unvermeidlich partikular und müssen sich bei jeder Übertragung in eine andere
Kultur immer erneut der Überprüfung aussetzen, ob ihre Partikularität ein Partikularismus ist. Die
Vorstellung aber, daß zur Überwindung des Partikularismus die Partikularität selbst zu verschwinden
habe, verkennt den notwendig kontingenten Charakter der Werte (…).« (A.a.O., S. 274)
Joas vertritt also hier eine Position, die – in Abgrenzung zu Habermas (vgl. unsere Zehnte
Vorlesung) – behauptet, daß es weder empirisch glaubwürdig noch argumentativ zwingend sei, sich
die Integration von Gesellschaften allein über universalistische Rechtsnormen zu denken. Vielmehr –
und dies zeigt seine Nähe zum Kommunitarismus – ist es durchaus möglich (und empirisch plausibel),
sich den Zusammenhalt von Gesellschaften über spezifische und damit partikulare Werte zu denken,
ohne daß dies notwendig mit den von liberaler Seite angemahnten universellen Normen in Konflikt
geraten muß. Eine derart zwischen Liberalen und Kommunitaristen vermittelnde Position impliziert
gleichzeitig auch eine Kritik an der Habermasschen Diskursethik, insofern diese die Frage der Werte
mit dem Argument ihrer Nicht-Universalisierbarkeit ausklammert, aber gerade deswegen in große
argumentative Schwierigkeiten kommt. Dabei sympathisiert Joas durchaus mit den Intentionen der
Habermasschen Diskursethik. Diese lassen sich seiner Meinung nach aber nur dann fruchtbar machen,
wenn auch die von Habermas beiseite geschobene Werteproblematik angemessen behandelt wird.
Eine solche Diskursethik müßte zumindest folgende Wertaspekte berücksichtigen, deren empirische
Relevanz Joas zufolge auf der Hand liegt:
Im Diskurs wird geprüft, wozu sich Personen evaluativ hingezogen fühlen; sie können sich ohne Wertbindung nicht zur Teilnahme am
Diskurs und zur Einhaltung seiner Regeln motiviert fühlen; und sie fühlen sich nur dann an das Resultat des Diskurses gebunden, wenn
dies aus ihrer Wertbindung folgt oder die Erfahrung der Teilnahme selbst Wertbindung entstehen läßt. (Joas, a.a.O., S. 285)

Neben einer Theorie des rationalen Diskurses ist also auch eine entsprechende Logik der
Kommunikation über Werte notwendig (vgl. 725dazu vorläufig Hans Joas, »Werte versus Normen.
Das Problem der moralischen Objektivität bei Putnam, Habermas und den klassischen Pragmatisten«,
v. a. S. 275-278). Die hier deutlich zu sehende Nähe zu Ricoeur unterstreicht nochmals eindringlich
unsere in der Ersten Vorlesung aufgestellte Behauptung, wonach sich die Entwicklung der
Sozialtheorie nicht als zufällige Abfolge disparater Theorien begreifen läßt. Vielmehr kann man
zeigen, daß gemeinsame Problemstellungen existieren, die manchmal durchaus zu Konvergenzen
führen können: Zwischen Liberalen und Kommunitaristen haben Lernprozesse stattgefunden, die zu
einer Annäherung einstmals scharf getrennter Positionen geführt haben; und eine inhaltlich ähnliche
Modifizierung etwa der Habermasschen Diskurstheorie ist unter neopragmatistisch-amerikanisch-
deutschen Vorzeichen ebenso möglich gewesen wie unter antistrukturalistisch-hermeneutisch-
französischen. Es ist eine falsche Vorstellung, daß die seit dem Ende der Parsonsschen Hegemonie
erfolgte Internationalisierung der Entwicklung der Sozialtheorie zu einer unaufhaltsamen
Zersplitterung geführt habe. Dies wird sich auch in der nun folgenden letzten Vorlesung zeigen, in der
wir über die gegenwärtige Lage der Sozialtheorie sprechen wollen.
726Zwanzigste Vorlesung
Die gegenwärtige Lage

In den 1970er und 1980er Jahren – das läßt sich im Rückblick auf die Vorlesungen 9-19 mit
Gewißheit festhalten – kamen neue und vielversprechende Synthesen auf dem Gebiet der
Sozialtheorie zum Bestand der klassischen Ansätze und den Schulen, die sich der Integration in
Parsons’ Theoriegebäude entzogen, hinzu. Sie kamen aber eben zu diesem Bestand nur hinzu – es
gelang ihnen nicht, wie es zweifellos ihre jeweilige Absicht gewesen war, das Gebiet der
Sozialtheorie nicht nur intellektuell zu synthetisieren, sondern auch institutionell zu dominieren. Trotz
allem verbreiteten Synthesewillen ist die gegenwärtige Lage der Sozialtheorie damit keineswegs
übersichtlich. Außerdem ist die jüngste Vergangenheit – etwa durch den Zusammenbruch des
Sowjetimperiums – von tiefgreifenden historischen Veränderungen globalen Charakters
gekennzeichnet, deren sozialtheoretische Verarbeitung Zeit erfordert. Wir wollen deshalb in dieser
abschließenden Vorlesung nicht so tun, als lägen zum Schluß die Lösungen aller Probleme auf der
Hand. Vielmehr bieten wir Ihnen ein Tableau der gegenwärtigen Lage – einen Überblick über neueste
schöpferische Tendenzen –, der Ihnen bei der Orientierung in diesem unübersichtlichen Feld und bei
Ihrer eigenen Arbeit helfen soll. Dabei ist natürlich keinen Augenblick zu vergessen, daß diese neuen
Tendenzen jeweils in der einen oder anderen Weise Fortsetzungen der von uns in vorhergehenden
Zusammenhängen behandelten Theoretiker oder Theorieschulen sind. Zu dieser Lage gehören
entsprechend die neuesten Arbeiten und die Potentiale aller vorher behandelten Theorien hinzu. Die
letzte Vorlesung dient damit also der aktualisierenden Ergänzung, nicht der zusammenfassenden
Krönung. Doch kann vielleicht gerade die Heranführung an offene Fragen und zeitgenössische
Entwicklungen Ihnen Mut machen, Ihre eigenen Perspektiven auf dem Gebiet der Sozialtheorie zur
Geltung zu bringen und damit den Diskurs in die Zukunft hinein fortzusetzen, dessen Geschichte seit
dem Zweiten Weltkrieg wir hier dargestellt haben.
1. Beginnen wir damit, nach dem gegenwärtigen Ausarbeitungsstand der besonders ehrgeizigen und
anerkannten Theoriesynthesen von Habermas, Luhmann, Giddens und Touraine zu fragen. Die
727geringste Weiterentwicklung hat sicher Giddens’ Strukturierungstheorie erfahren. Weder hat
Giddens selbst versucht, sein handlungstheoretisches Programm weiter auszubauen, noch hat er
Schüler und Schülerinnen gefunden, die dies ernsthaft und vor allem systematisch versucht hätten.
Vielleicht läßt sich dieser Stillstand durch die Art und Weise von Giddens’ Theoriebildung erklären.
Im Unterschied zu Habermas und Luhmann beruhte seine Synthese von vornherein nur wenig auf einer
tiefen philosophischen Durchdringung seines Arbeitsgebiets. Er zog vielmehr in stärkerem Maße
empirische Beobachtungen aus heterogenen Bereichen heran, um seine Grundideen auszuarbeiten. Für
die Rezeption seines Werkes war dies gewiß von Vorteil; Wege für die systematische Weiterarbeit
wurden so aber nicht gebahnt. Sein Werk steht deshalb zwar als Quelle für Anregungen zur Verfügung;
es wurde aber nicht zum Ausgangspunkt einer Schule.
Etwas anders stellt sich dies im Fall der Luhmannschen Theorie dar. Luhmann hatte im Unterschied zu
Giddens eine ganze Reihe von Schülern, die entschieden in die Fußstapfen des »Meisters« traten und
denen es tatsächlich gelang, vor allem in Deutschland erheblichen Einfluß in der Soziologie zu
gewinnen. Freilich ergab sich bei Luhmanns Projekt die Frage, ob es angesichts der enormen
Radikalität und Konsequenz, mit der Luhmann seine Theoriearbeit betrieben hatte, überhaupt gelingen
konnte, diese Theorie – im Wortsinne – »weiterzuentwickeln«. Hatte Luhmann selbst nicht schon alles
gesagt? Tatsächlich ist der Luhmann-Schule eine gewisse Epigonalität nicht abzusprechen. Freilich
gibt es durchaus auch Ausnahmen, und hier ist an erster Stelle der Luhmann-Schüler Rudolf Stichweh
(geb. 1951) zu nennen, Luhmanns Nachfolger auf dessen Soziologie-Lehrstuhl an der Universität
Bielefeld und mittlerweile Professor in Luzern. Dieser hat sich in der systemtheoretischen Debatte
durch eine starke historische Orientierung hervorgetan und durch eine konsequente Konzentration auf
die Themen der Wissenschafts- und Professionssoziologie einerseits und die Soziologie der
sogenannten »Weltgesellschaft« andererseits.
Stichweh hat in mehreren historischen Arbeiten nicht nur die Frühphase der Ausdifferenzierung des
Wissenschaftssystems in Europa dargestellt (Der frühmoderne Staat und die europäische
Universität. Zur Interaktion von Politik und Erziehungssystem im Prozeß 728ihrer
Ausdifferenzierung (16.-18. Jahrhundert)), sondern auch – in einer genaueren Ausarbeitung
differenzierungstheoretischer Argumente – die Besonderheit und Komplexität der universitären
Fächerdifferenzierung, die sich weder mit dem Begriffsinstrumentarium der segmentären noch
demjenigen der funktionalen Differenzierung eindeutig fassen läßt. Damit öffnet Stichweh die
Systemtheorie für eine empirisch angemessenere Beschreibung der Moderne, als dies mit dem
ursprünglichen Luhmannschen Ansatz und der dort zu findenden und zumeist zugespitzten These vom
absoluten Primat der funktionalen Differenzierung in der Moderne möglich war und ist.
Einerseits unterscheidet sich Disziplinendifferenzierung von funktionaler Differenzierung dadurch, daß sie nicht etwa komplementär
aufeinander bezogene Teilprobleme des Systems einzelnen Subsystemen zur Weiterbearbeitung zuweist, vielmehr über eine
Internalisierung der Differenzierung von Umweltausschnitten operiert. Andererseits unterscheidet sich Disziplinendifferenzierung von
segmentärer Differenzierung dadurch, daß die Einheiten, die sie nebeneinandersetzt, nicht prinzipiell identisch sind, sich vielmehr über
Nicht-Identität zu anderen Einheiten bestimmen. (Stichweh, Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen, S. 22)

Seit Mitte der 1990er Jahre versucht Stichweh aber auch, die Thesen Luhmanns zur sogenannten
»Weltgesellschaft« fortzuschreiben, um für die Systemtheorie in der hitzigen Debatte über die
sogenannte »Globalisierung« Deutungsmacht zu erobern. Luhmann hatte schon seit Mitte der 1970er
Jahre von »Weltgesellschaft« gesprochen und diesen Schritt vor allem kommunikationstheoretisch
begründet: Mit der heute durch neuartige Kommunikations- und Transportmittel gegebenen weltweiten
Anschlußmöglichkeit von Kommunikation sei die Rede von Nationalgesellschaften weder empirisch
noch theoretisch länger sinnvoll, sondern nur noch diejenige von der einen »Weltgesellschaft«.
Interessant an Stichwehs Ausarbeitung der Luhmannschen Idee ist nun zweierlei. Zum einen versucht
er ausführlicher als Luhmann darzulegen, warum die ganz ähnlich klingende, auf dem
Wallersteinschen Marxismus fußende Rede vom »Weltsystem« und die in anderen
Theoriezusammenhängen (s. Beck oder Giddens) auftauchenden Thesen zur sogenannten
»Globalisierung« falsch seien. Nach Stichweh beruht die für Wallerstein so zentrale, nämlich
ökonomisch begründete Zentrum-Peripherie-Unterscheidung auf einem »alteuropäischen«
Denkmodell, das die für die 729Moderne charakteristische Tatsache der funktionalen Differenzierung
verkenne (Stichweh, Die Weltgesellschaft, S. 15 u. 199): Die Unterscheidungen zwischen Weltstädten
und ländlichen Regionen, zwischen Kernstaaten und peripheren Ländern etc. verlören im Prozeß einer
zunehmenden funktionalen Differenzierung empirisch an Bedeutung. Aus einem verwandten Grund
greife auch der Globalisierungs-Begriff zu kurz, »weil er primär auf das genetische Moment der
Ausweitung oder der Delokalisierung bis dahin lokal begrenzter Phänomene blickt, aber dies nicht
aus dem Blickwinkel eines gleichzeitig entstehenden Systems einer höheren Systemebene tut, das
Mechanismen der Globalisierung als Mechanismen des eigenen Strukturaufbaus nutzt« (a.a.O., S. 14).
Damit werde die Systemhaftigkeit der Welt nicht selbst zum Thema.
Zum anderen sind Stichwehs Argumente zur »Weltgesellschaft« aber auch deswegen
bemerkenswert, weil bei ihm im Unterschied zu Luhmann eine ernsthafte Berücksichtigung normativer
Strukturen erfolgt; Luhmann selbst hatte immer ein fast zynisch zu nennendes Desinteresse an
normativen Fragen demonstriert. Unabhängig davon, ob die Rede von der »Weltgesellschaft« wirklich
so fruchtbar ist, wie dies seine Protagonisten unterstellen, und ob sich die zumeist damit
einhergehende Verabschiedung des Nationalstaates nicht als vorschnell erweist: Unter
sozialtheoretischen Aspekten ist jedenfalls interessant, wie sehr sich Stichweh z. T. auch an Parsons
anlehnt und entsprechend behauptet, daß sich in der »Weltgesellschaft« für die Staaten
Modernitätsverpflichtungen ergeben, konkreter: normative Verpflichtungen zu wohlfahrtsstaatlichem
Handeln (a.a.O., S. 58). Insofern läßt sich bei ihm zumindest eine vorsichtige Distanzierung vom
scharfen Anti-Normativismus Luhmanns erkennen, der in dieser Form gerade für empirische Analysen
nicht mehr haltbar zu sein scheint.
Noch deutlicher wird diese Distanzierung von Luhmann bei einem anderen führenden
Systemtheoretiker, nämlich Helmut Willke, ebenfalls Professor für Soziologie an der Universität
Bielefeld. Willke (geb. 1954) scheint auf den ersten Blick die wesentlichen theoretischen Annahmen
von Luhmann zu teilen, wenn er behauptet, »daß die zentrifugale Dynamik funktionaler
Differenzierung eine Metamorphose des Ordnungsprinzips von Gesellschaft, eine durchdringende
Umstellung auf heterarchische, polyzentrische und dezentrale Arrangements autonomer Teilsysteme
von Gesellschaft vorantreibt« 730(Willke, Ironie des Staates. Grundlinien einer Staatstheorie
polyzentrischer Gesellschaft, S. 7). Wie Luhmann lehnt er damit die Vorstellung ab, wonach die
Politik als ein oberstes Lenkungszentrum von Gesellschaften zu betrachten sei, das die anderen
Teilsysteme dominiert oder anweist. Allerdings schließt sich Willke weder Luhmanns Rede von der
»Weltgesellschaft« an (vgl. Supervision des Staates, S. 9 f.), noch teilt er die Radikalität Luhmanns,
der für die Idee der politischen Steuerung nur mehr Spott übrig zu haben schien. Damit reiht er sich in
eine Anzahl von Politikwissenschaftlern und Soziologen ein, die sich seit den 1980er Jahren
zunehmend von Luhmanns theoretischer Stoßrichtung enttäuscht zeigten: Konnte in den 1970er Jahren
das Luhmannsche Theorieprogramm noch als enorm attraktiv erscheinen, weil die Rede von der
Eigenlogik der Subsysteme aktuelle Phänomene wie die Reformunfähigkeit westlicher Gesellschaften
plausibel zu machen schien, so mußte mit der Zeit Luhmanns immer extremer werdender und lediglich
logisch abgeleiteter, nicht empirisch belegter Steuerungspessimismus fast notwendig gerade im Feld
der politischen Soziologie auf Widerstand stoßen. Am Kölner Max-Planck-Institut für
Gesellschaftsforschung »beheimatete« Autoren wie Fritz Scharpf und Renate Mayntz wandten sich
zunehmend vom Luhmannschen Theorieprogramm, mit dem sie eine Zeitlang gearbeitet hatten, ab und
versuchten im Unterschied zu Luhmann das Zusammenspiel kollektiver Akteure zu erfassen, um
politische Prozesse beschreiben und um vor allem erklären zu können, warum in manchen
Gesellschaften politisch angeleitete Reformprojekte erfolgreich durchgesetzt werden konnten, in
anderen jedoch nicht (zu den Differenzen zwischen Luhmann und Scharpf vgl. deren Kontroverse aus
dem Jahre 1989 in Politische Vierteljahresschrift). Auch Willke macht letztlich einen solchen Schritt.
In einer überraschenden Anlehnung u. a. an Amitai Etzionis großes Werk Die aktive Gesellschaft, das
wir in der Achtzehnten Vorlesung besprochen haben, versucht Willke energisch die Möglichkeiten für
die Formulierung einer plausiblen Steuerungstheorie auszuloten, die im Unterschied zum
Luhmannschen Ansatz insoweit handlungstheoretisch angelegt sein soll, als Willke sehr stark mit
Verweis auf je unterschiedliche Konstellationen korporativer Akteure argumentiert (Systemtheorie
III: Steuerungstheorie, S. 21 ff.). Willke begreift demokratische Politik als einen zentralen
Steuerungstypus neben der Steuerung durch den Markt und der 731Steuerung durch Hierarchien.
Freilich ist demokratische Steuerung seiner Auffassung nach nur noch im Sinne eines »distanzierten
Engagements« zu denken, im Sinne von Kontextsteuerung also: Die (demokratische) Politik kann den
anderen Teilsystemen nicht mehr mit Aussicht auf Erfolg befehlen bzw. Anweisungen erteilen. Darin
gibt Willke Luhmann recht. Aber sie kann – und darin liegt die Möglichkeit der Steuerung begründet –
die Rolle der Supervision übernehmen, sie kann die anderen Funktionssysteme zur Reflexion
motivieren:
Der Grund, warum bei prinzipieller Gleichrangigkeit aller Funktionssysteme einer funktional differenzierten modernen Demokratie es just
die Politik sein soll, welche die Rolle der Supervisionsinstanz einnimmt, ist nicht in einer noch so residualen Art von Vorrangigkeit der
Politik zu suchen, sondern in der spezifischen Funktion der Politik selbst: in ihrer Verantwortlichkeit für die Produktion und Sicherung der
für die Gesellschaft unabdingbaren kollektiven Güter. Diese funktionale Begründung impliziert zwei elementare Prinzipien politischer
Supervision: Zum einen unterfallen nur solche Entscheidungen politischer Supervision, welche die Produktion und Sicherung von
Kollektivgütern in ihrem »Wesensgehalt« berühren. Zum anderen ersetzt politische Supervision getroffene Entscheidungen nicht durch
eigene – was auf eine Verletzung der Autonomie der Funktionssysteme hinausliefe –, vielmehr beschränkt sich Supervision im Fall
diskursiv erwiesener Unzulänglichkeit der fraglichen Entscheidung auf ›Zurückverweisung‹, d. h. darauf, das Funktionensystem auf eine
Revision seiner Option, auf eine Überprüfung seiner Optionenpolitik zu verweisen. (Willke, Ironie des Staates, S. 335)

Inwieweit diese handlungstheoretische Öffnung der Luhmannschen Theorie Schule machen wird,
inwieweit dieser Schritt überhaupt mit der Luhmannschen Rede von »autopoietischen« (Sub-
)Systemen vereinbar ist (vgl. dazu auch die kritischen Anmerkungen von Schimank, Theorien
gesellschaftlicher Differenzierung, S. 196 ff.), dies werden erst umfassendere und vielleicht
grundsätzlichere Diskussionen in der Zukunft erweisen. Klar scheint aber schon jetzt zu sein, daß
ohne eine derartige handlungstheoretische Öffnung die empirische Relevanz systemtheoretischer
Argumente wohl deutlich schwinden und die Systemtheorie insgesamt in Sterilität versinken dürfte.

Eine ähnliche Entwicklung wie im »Luhmann-Lager«, d. h. eine vorsichtige Distanzierung vom


»Schulen-Oberhaupt«, zeigte sich seit Ende der 1980er Jahre auch in der anti-strukturalistischen
Soziologie 732um Alain Touraine. Touraine hat eine ganze Reihe von talentierten Mitarbeitern und
Schülern »herangezogen«, die zumindest teilweise ihre eigenen Wege gingen. Bemerkenswert ist, daß
diese Mitarbeiter – und hier sind in erster Linie François Dubet (geb. 1946) und Michel Wieviorka
(geb. 1946) zu nennen – die empirische Arbeit deutlich ausweiteten: Während sich Touraine in seinen
materialen Arbeiten ganz überwiegend auf soziale Bewegungen konzentriert hatte und darauf seine
zeitdiagnostischen Reflexionen aufbaute, gingen seine Schüler dazu über, eine breitere Themenpalette
empirisch zu untersuchen, um Touraines theoretischen Überlegungen eine zusätzliche Plausibilität zu
verleihen. Dubet etwa hat seine Forschungsschwerpunkte nicht nur im Bereich der sozialen
Bewegungen, sondern auch in der Stadt-, Jugend-, Immigrations-, Berufs- und Schulsoziologie (vgl.
etwa Dubet, La Galère: jeunes en survie von 1987; Dubet / Didier Lapeyronnie, Les quartiers d’exil
von 1992, dt.: Im Aus der Vorstädte. Der Zerfall der demokratischen Gesellschaft; Dubet, Le déclin
de l’institution aus dem Jahre 2002), während Michel Wieviorka u. a. durch seine Analysen zum
Terrorismus und zum Rassismus bekannt geworden ist (s. Wieviorka, Sociétés et Terrorisme von
1988; Wieviorka et al., La France raciste von 1992; La différence von 2001; dt.: Kulturelle
Differenzen und kollektive Identitäten; und La violence von 2004; dt.: Die Gewalt).
Die Ausweitung der empirischen Forschungsfelder war dabei nicht zufällig. Sie war vielmehr
Ausdruck einer zunehmenden Distanzierung von theoretischen Vorstellungen, wie sie Touraine
zumindest noch in der mittleren Phase seiner Werkentwicklung gehegt hatte. Während dieser bis in die
1980er Jahre hinein hartnäckig an die Idee einer neu heraufziehenden großen sozialen Bewegung
glaubte, die den Platz der früheren Arbeiterbewegung einnehmen würde, und selbst in den 1990er
Jahren nie ganz konsequent davon Abschied nahm, wurde der Bruch mit derartigen Vorstellungen von
Dubet und Wieviorka radikaler vollzogen. Ihnen zufolge sind die gesellschaftlichen Strukturen
mittlerweile zu heterogen und instabil geworden, als daß sich eine solche thematische Konzentration
auf die eine soziale Bewegung noch rechtfertigen ließe. Sie beschäftigten sich deshalb ganz bewußt
mit einem ganzen Spektrum dessen, was man früher als »soziale Probleme« bezeichnet hat, ohne noch
die Hoffnung zu hegen, daß diese Probleme irgendwie eine umfassende Mobilisierung breiter
Bevölkerungskreise hervorrufen könnten.
733Es war vor allem Dubet, der darüber auch explizite theoretische Reflexionen anstellte (vgl.
Sociologie de l’expérience von 1994). Er kritisiert in ähnlicher, wenn auch schärferer Weise als sein
Lehrer Touraine die Vorstellungen der sogenannten »klassischen Soziologie«, wonach mittels des
Prozesses der Internalisierung von Normen von einer bruchlosen Integration der Individuen in stabile
»Gesellschaften« ausgegangen werden könne. Eine solchermaßen imaginierte Einheit zwischen
Individuum und Institution, zwischen Individuum und Gesellschaft kann – so Dubet – heute empirisch
nicht mehr angenommen werden. Vielmehr sei das Institutionengefüge von Gesellschaften brüchig
geworden und befinde sich in Auflösung, weshalb die Akteure ob dieser Unübersichtlichkeit höchst
unterschiedliche und oft kaum miteinander zu vereinbarende Handlungslogiken verfolgen müßten.
Dies bedeute letztlich auch, daß das (Tourainesche) Bild eines gesellschaftlichen Zentralkonfliktes
nicht mehr der Wirklichkeit entsprechen kann (Sociologie de l’expérience, S. 15), denn selbst eine
solche konflikttheoretisch geprägte Vorstellung basiert ja noch auf der (falschen) Unterstellung einer
Einheit, gegen die bestimmte Akteure ankämpfen könnten. Entschiedener als der späte Touraine (vgl.
nochmals die Sechzehnte Vorlesung) betont Dubet deshalb, daß die Idee eines »historischen Subjekts«
aufgegeben und die Verschiedenheit der sozialen Bewegungen (im Plural!) mit ihren je
unterschiedlichen Mobilisierungsformen und Projekten als Normalität angesehen werden müsse
(a.a.O., S. 214 ff. und 258).
Wie Dubet mit seinen eigenen empirischen Studien zeigen will, habe sich mittlerweile eine
Spaltung zwischen System/Institution/Gesellschaft einerseits und den Akteuren andererseits ergeben,
die mit den Denkmitteln der »klassischen Soziologie« nicht mehr zu bewältigen sei: Weder lasse sich
heutzutage das (in einem Weberschen oder Durkheimschen Sinne) »klassische« autonome Individuum
finden, noch hätten dem marxistischen Kontext entstammende Begriffe wie diejenigen der
»Entfremdung«, der »Krise« oder des »Widerspruchs« heute eine wirklichkeitserschließende Kraft
(a.a.O., S. 58). Wie Dubet deutlich macht, läßt sich beispielsweise die Erfahrung der »Entfremdung«
nur in einem stabilen Institutionenkontext, von dem man ausgeschlossen bzw. entfremdet ist,
artikulieren. Dies sei jedoch heute nicht mehr der Fall, weil es für die Subjekte nur mehr um die
ständige (manchmal verzweifelte) Suche nach 734Identität geht, einer Identität freilich, deren
Festigkeit nicht mehr durch irgendwelche Institutionen garantiert werden kann (a.a.O., S. 18).
Die Systeme und Institutionen hätten also ihre ehemals vorhandene oder vielleicht auch nur
angenommene Hyperstabilität, ihre Kraft zur Einbindung der Individuen verloren. Die Soziologie – so
die überspitzte, aber nicht ganz unplausible und zweifellos gegen Strukturalismen und Systemtheorien
aller Art gerichtete Bemerkung Dubets – habe vernünftigerweise darauf insofern reagiert, als seit den
1990er Jahren überwiegend solche Handlungstheorien Aufmerksamkeit gefunden hätten (a.a.O.,
S. 79), denen eine berechtigte Skepsis gegenüber allen hyperstabilen Struktur- und
Systemkonstruktionen anzumerken ist. Dubet will sich dieser Entwicklung anschließen, ja sie sogar
noch vorantreiben, indem er vorschlägt, den Begriff der »Handlung« durch denjenigen der »sozialen
Erfahrung« zu ersetzen, da letzterer nicht durch derart problematische Rationalitätsunterstellungen
wie der Handlungsbegriff geprägt sei:
Erfahrung ist eine kognitive Aktivität, sie ist eine Art, das Reale zu konstruieren, es zu ›verifizieren‹, mit ihm zu experimentieren.
Erfahrung konstruiert die Phänomene jenseits der Kategorien des Verstandes und der Vernunft. (A.a.O., S. 93; unsere Übersetzung)

Freilich wird dieser interessante und etwa für den amerikanischen Pragmatismus (vgl. Dewey,
Erfahrung und Natur) so bedeutsame Begriff der »Erfahrung« von Dubet nicht weiter theoretisch
ausgearbeitet. Der von Dubet ins Spiel gebrachte Erfahrungsbegriff bleibt somit lediglich ein Etikett,
um eine Zeitdiagnose, die auf die Auflösung fester institutioneller Formen abhebt, zu profilieren.
Ohne ernsthafte Anstrengungen im Hinblick auf eine Ausarbeitung des Handlungs- und
Erfahrungsbegriffs wird freilich diese Diagnose nie vollständig überzeugen können, und man wird
deshalb gespannt sein dürfen, in welche theoretische Richtung das »Touraine-Lager« in Zukunft gehen
wird.

Die deutlichsten von Schülern und Mitarbeitern initiierten Umorientierungen sind vermutlich im
Umkreis von Jürgen Habermas erfolgt, wobei hier in erster Linie Axel Honneth (geb. 1949) zu nennen
ist, Professor für Philosophie an der Universität Frankfurt und Habermas’ Nachfolger auf dessen
Lehrstuhl. Honneth, in den 1980er 735Jahren Assistent von Habermas, ist schon frühzeitig auf eine in
einem sehr weiten Sinne als »konflikttheoretisch« zu bezeichnende Sozialtheorie zugesteuert und hat
hierbei versucht, bestimmte beim frühen Habermas zu findende Motive stark zu machen, die in dessen
Werkentwicklung zunehmend verschüttet worden waren. Dies war schon 1986 in seiner Dissertation
zur Kritischen Theorie, Foucault und Habermas (Honneth, Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer
kritischen Gesellschaftstheorie) abzusehen. Honneth kritisierte dort Habermas’ Unterscheidung
zwischen System und Lebenswelt und die dieser zugrunde liegende Evolutionstheorie (vgl. die Zehnte
Vorlesung), weil sie verdecke, daß das gesellschaftliche Institutionengefüge in allen Bereichen das
Ergebnis von Kämpfen und Aushandlungsprozessen zwischen Gruppen war und ist. Gerade aufgrund
seiner spezifischen evolutionstheoretischen Herangehensweise – so Honneth – beschreibe Habermas
das jeweilige historische Verhältnis zwischen Systemen und Lebenswelt als einen quasi automatisch
ablaufenden (Lern-)Prozeß und verbaut sich damit die Möglichkeit »eines Verständnisses der
gesellschaftlichen Ordnung als einer institutionell vermittelten Kommunikationsbeziehung von
kulturell integrierten Gruppen, die sich, solange die gesellschaftlichen Machtbefugnisse
asymmetrisch verteilt sind, durch das Medium des sozialen Kampfes hindurch vollzieht« (Honneth,
Kritik der Macht, S. 334; unsere Hervorh.).
Dieser konflikttheoretische Gedanke wurde dann in Honneths Habilitationsschrift aus dem Jahre
1992 (Der Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte) ausgearbeitet,
wobei – wie der Titel schon andeutet – der Begriff der »Anerkennung« eine theoriestrategisch
zentrale Bedeutung erhielt. Honneth schließt zwar in vielerlei Hinsicht an Gedanken von Habermas
an, will aber gleichzeitig dessen »Kommunikationsparadigma nicht mehr sprachtheoretisch, sondern
anerkennungstheoretisch« (Das Andere der Gerechtigkeit, S. 103) fassen. Was ist damit gemeint, und
vor allem: Was genau ist die Stoßrichtung der Honnethschen Argumentation?
Klar ist, daß der schon beim frühen Hegel zu findende Terminus der »Anerkennung«, der die
moralische Entwicklung der Menschheit als eine Stufenfolge je unterschiedlicher sozialer Kämpfe
fassen sollte, ganz offensichtlich die »konflikttheoretischen« Intentionen Honneths bestens zum
Ausdruck bringt. Damit sind für Honneth 736mehrere Vorzüge verbunden. Der historische Prozeß läßt
sich so zum einen als ein sozialer Kampf zwischen verschiedenen Gruppen oder Klassen um ein
bestimmtes Institutionengefüge auffassen, der weitergehen wird, solange gesellschaftliche Gruppen
oder Klassen das Gefühl haben, keine adäquate Anerkennung zu erfahren. An anderer Stelle
formuliert Honneth das so:
Hegel führt den moralischen Lernprozeß der Gattung, einen materialistischen Einwand gegen kognitivistische Entwicklungstheorien
vorwegnehmend, auf die negativen Erfahrungen eines praktischen Kampfes zurück, den die Subjekte um die rechtliche und soziale
Anerkennung ihrer Identität führen. Von einem derart transformierten Konzept des ›sozialen Kampfes‹ kann eine kritische
Gesellschaftstheorie auch heute noch profitieren, weil es ihr die theoretische Möglichkeit eröffnet, den historischen Prozeß als eine
gerichtete Abfolge von moralischen Konflikten und Auseinandersetzungen zu deuten. (Honneth, »Moralische Entwicklung und sozialer
Kampf. Sozialphilosophische Lehren aus dem Frühwerk Hegels«)

Mit dem Anerkennungsbegriff läßt sich aber nicht nur das konflikttheoretische Moment von Marx
bewahren, das in der Habermasschen Theorie allmählich verlorengegangen ist. Gleichzeitig – und
darauf deutet der Schluß des obigen Zitats schon hin – gestattet es der Anerkennungsbegriff auch, dem
Marxschen Ökonomismus zu entgehen, insofern Marx ja den Kampf der sozialen Klassen
weitestgehend auf die Idee eines bloß ökonomischen Interessenkonflikts reduziert hat.
»Anerkennung« hingegen ist viel weiter gefaßt, insofern Gefühle der Verletzung von Anerkennung
nicht nur aus ökonomischen Benachteiligungen resultieren, sondern beispielsweise auch aus
kultureller Mißachtung, sprachlicher Diskriminierung etc. Dieser letzte Punkt erlaubt nicht nur eine
Überwindung marxistischer Theorien, sondern auch eine fundierte Kritik universalistischer
Moraltheorien wie derjenigen von Rawls, weil Honneth zu Recht darauf hinweisen kann, daß Gefühle
der Mißachtung nicht allein aus der Erfahrung einer ungerechten gesellschaftlichen Güterverteilung
resultieren können. Zudem ist mit dem Anerkennungsbegriff ein leichter Einstieg in verschiedenste
aktuelle Debatten möglich, in denen kollektive Rechte verhandelt werden – in feministische
Diskussionen um die Rechte von Frauen ebenso wie in Multikulturalismus-Debatten um die politische
Repräsentation ethnischer und sprachlicher Gruppen. Schließlich gestattet es der
Anerkennungsbe737griff, den rationalistischen Charakter der Habermasschen Zeitdiagnose
abzuschwächen, insofern in dieser gesellschaftliche Pathologien immer nur als systembedingte
Einschränkungen einer umfassenden kommunikativen Alltagsrationalität begriffen werden. Es sind
aber Honneth zufolge durchaus auch andere gesellschaftliche Pathologien zu konstatieren – etwa die
Auflösung sozialer Bindekraft –, und gerade sie seien besser mit einer anerkennungstheoretisch
gewendeten Kommunikationstheorie als mit dem Habermasschen theoretischen Instrumentarium zu
fassen (Das Andere der Gerechtigkeit, S. 102).
Wenn es nun zutrifft, daß – wie sich dies laut Honneth mit unterschiedlichen historischen wie
sozialisationstheoretischen Studien belegen läßt – sowohl das Handeln von Gruppen und Klassen wie
auch das individuelle moralische Verhalten von intuitiven Gerechtigkeitsvorstellungen geleitet
werden; wenn es also zutrifft, daß in beiden Fällen jeweils Gerechtigkeitsvorstellungen eine Rolle
spielen, »die mit der Respektierung der eigenen Würde, Ehre oder Integrität zusammenhängen«, dann
hat eine kommunikationstheoretische Sozialtheorie anders zu verfahren, als dies Habermas
vorgeschlagen hat. Denn dann sei klar, daß »in dem Erwerb sozialer Anerkennung die normative
Voraussetzung allen kommunikativen Handelns zu sehen« ist (a.a.O., S. 99; unsere Hervorh.).
Honneth kritisiert also Habermas dahingehend, daß dieser genau jene Voraussetzung nie wirklich zum
Thema gemacht und das moralische Fundament jeder Kommunikation ausgeklammert habe, wodurch
auch seine Zeitdiagnose sehr einseitig und in manchen Aspekten wenig plausibel ausgefallen sei.
Freilich lädt sich nun Honneth – und dies sieht er durchaus selbst – mit dieser Position erhebliche
weitere Begründungslasten auf, insofern von ihm mindestens zwei Problemkomplexe bearbeitet
werden müssen. Zum einen ist er gezwungen, je unterschiedliche Formen der Anerkennung und
Mißachtung herauszuarbeiten. Dem ist er in seinem Buch Kampf um Anerkennung insofern
nachgekommen, als er bei der Exegese des Hegelschen und Meadschen Werkes die dort zu findenden
Differenzierungen zum Anerkennungsbegriff und die dort aufgewiesenen Formen der Mißachtung
dargelegt hat. Aber er muß über eine bloße Hegel- und Mead-Exegese wohl deutlich hinausgehen und
zumindest in einer Art formaler Anthropologie herausarbeiten, was überhaupt alles unter
Anerkennung und Miß738achtung verstanden werden könnte. Honneth selbst spricht von der
»schwierigen Aufgabe«, »an die Stelle der Habermasschen Universalpragmatik eine
anthropologische Konzeption treten zu lassen, die die normativen Voraussetzungen der sozialen
Interaktion in ihrer ganzen Breite erklären kann« (a.a.O., S. 101). Die Ansätze dazu finden sich in
neueren Aufsätzen, insbesondere solchen, in denen Honneth sein Programm gegen Kritiker verteidigt
(a.a.O., S. 171-192; am ausführlichsten jetzt Honneths Ausführungen in Nancy Fraser/ Axel Honneth,
Umverteilung oder Anerkennung?). Es stellt sich dabei allerdings die Frage, ob hier dem Begriff der
Anerkennung nicht über seine ursprüngliche Aufgabe hinaus zuviel aufgebürdet wird. Eine
konfliktorientierte Intersubjektivitätskonzeption kann ja nicht notwendig all die Fragen beantworten,
die sich bei der handlungstheoretischen Fundierung der Sozialwissenschaften stellen.
Eine überzeugende anthropologisch fundierte Phänomenologie der Anerkennung und Mißachtung
scheint für Honneth aber gerade deshalb zwingend notwendig zu sein, weil sich nur so – und dies ist
der andere Problemkomplex – ein Forschungsprogramm zu den von ihm so bezeichneten
»Pathologien« bzw. »Paradoxien der kapitalistischen Modernisierung« (vgl. Honneth, »Zur Zukunft
des Instituts für Sozialforschung«, S. 62 f.) entwickeln läßt, das mit anderen Zeitdiagnosen, auch mit
der von Habermas, wirklich konkurrieren kann. Honneth muß also im Prinzip genau bestimmen
können, wann und wo in modernen Gesellschaften wirkliche Mißachtungen vorliegen. Inwieweit dies
gelingen kann, wird die Arbeit des noch immer bestehenden, der Kritischen Theorie verbundenen
»Instituts für Sozialforschung« in Frankfurt zeigen, dessen geschäftsführender Direktor Axel Honneth
derzeit ist. Klar ist damit aber jedenfalls, daß mit der von Honneth eingeschlagenen theoretischen
Stoßrichtung eine deutlichere Abkehr vom »Schulen-Oberhaupt« eingetreten ist, als dies bei den
anderen bisher betrachteten Fällen beobachtet werden konnte. Dies ist freilich kein Indiz für die
mangelnde Qualität der ursprünglichen Habermasschen Theorie; vielmehr ein Hinweis auf ihre
Offenheit, welche höchst unterschiedliche Ausarbeitungsformen zu erlauben scheint.

2. Wir haben im letzten Punkt auf die französische Soziologie und Sozialtheorie nur insoweit Bezug
genommen, als wir nach dem Ausarbeitungsstand des Touraineschen Theoriegebäudes gefragt hatten,
739nach der Form der Weiterentwicklung durch dessen Schüler. Man könnte das gleiche Verfahren
nun auch in bezug auf das Bourdieusche Werk »durchexerzieren« und auf so interessante Schüler wie
Loic Wacquant (geb. 1960) verweisen. Doch scheint uns ein solches Vorgehen insofern fehlgeleitet zu
sein, als dadurch der sich in der französischen Sozialtheorie seit den 1990er Jahren abzeichnende
größere Wandel übersehen würde.
Dieser Wandel besteht in der radikalen Abwendung einer jüngeren Generation vom Strukturalismus
und Poststrukturalismus und einer Zuwendung zu französischen (Ricœur), deutschen und
angelsächsischen Handlungstheorien. Der Wissenschaftshistoriker François Dosse hat diesen Wandel
einen Prozeß der »Humanisierung der Sozialwissenschaften« genannt. Die jüngere Generation
»scheint endlich die Ausdrucksformen und geistigen Mittel gefunden zu haben, um ihre Suche nach
Sinn ohne Unterstellung von Teleologien zu betreiben, um ihrem Gespür für Geschichtlichkeit ohne
Neigung zum Historismus nachzukommen und um ihr Bedürfnis zu handeln auszudrücken, ohne in
Aktivismus zu verfallen.« (Dosse, L’empire du sens: L’humanisation des sciences humaines, S. 15,
unsere Übersetzung) Da dieser Wandel gerade in unserer Zeit zu einer Fülle wichtiger Arbeiten führt,
wäre unser Überblick ohne eine relativ ausführliche Darstellung der neueren französischen
Sozialtheorie unzulänglich.
Nun hören sich diese von Dosse verwendeten Begriffe zunächst zu abstrakt an, sie werden aber
klarer, wenn man sich ansieht, gegen wen oder was sich diese jüngere Generation wendet. Die
vielleicht klarste Stellungnahme hierzu stammt von Luc Boltanski (geb. 1940 und übrigens ein
Schüler Bourdieus) und Eve Chiapello (geb. 1965): Diese beiden Autoren betonen, daß sich die
französische Soziologie der 1960er und 1970er Jahre – und hier sind der genuine Strukturalismus
ebenso wie Bourdieu gemeint – in einer merkwürdig widersprüchlichen Argumentationsstruktur
verfangen habe. Denn auf der einen Seite wurde die Bewegung der Welt als eine beschrieben, die von
unwandelbaren Gesetzen gesteuert wird; auf der anderen Seite unterstützten genau die dies
behauptenden Sozialwissenschaftler linke Bewegungen, deren Ziel es war, aktiv in den Lauf der Welt
einzugreifen, diese also zu verändern. Aber noch ein weiterer Widerspruch war offensichtlich: Auf
der einen Seite reklamierte man für sich den Standpunkt der reinen Wissenschaftlichkeit, der die
mora740lischen Werte und Ideale der Individuen zwangsläufig als Ideologien entlarven mußte; auf
der anderen Seite hatte man aber als Wissenschaftler doch selbst auch kritische Ideale, weil nur so
der Versuch der Entlarvung überhaupt sinnvoll sein konnte.
Diese Spannung zeigt sich gerade an der Herrschaftssoziologie von Pierre Bourdieu: Deren Ziel ist es, »Mechanismen« aufzudecken, mit
deren Hilfe allerorts und zu jeder Zeit Herrschaft ausgeübt wird, die sich als stählernes Gesetz präsentiert und zugleich vorgibt, die
Befreiung der Individuen als Befreiung von Mächten und externen Eingriffen voranzutreiben. Wenn sich aber alle Beziehungen in letzter
Analyse auf Interessenkonflikte und auf Machtverhältnisse reduzieren lassen und es sich dabei um ein der sozialen Ordnung immanentes
Gesetz handelt, wozu dient es dann, diese mit dem entrüsteten Ton der Kritik aufzudecken, anstatt sie mit der Kühle eines Entomologen
auszumachen, der die Gesellschaft der Ameisen untersucht? (Boltanski/Chiapello, »Die Rolle der Kritik in der Dynamik des Kapitalismus
und der normative Wandel«, S. 460)

Diese anti-strukturalistische und auch gegen Bourdieu gerichtete Argumentationsweise erläutert uns
jene von Dosse ins Spiel gebrachten »abstrakten« Begriffe zur Kennzeichnung der Theorieprojekte
jener jüngeren Generation. Denn wer so wie Boltanski und Chiapello die Strukturalisten und
Bourdieu kritisiert, der wird selbst weder »teleologisch« argumentieren, also einen Endpunkt der
Geschichte annehmen, noch »historizistisch«, also einen zwangsläufigen und gesetzmäßigen Verlauf
sozialer Prozesse unterstellen. Und genau deshalb wird ein solcher Kritiker, weil er sich der
historischen Kontingenzen bewußt ist, eher überlegt handeln, als im (falschen) Bewußtsein, die
Geschichte auf seiner Seite zu haben, den prophetischen »Aktivisten« zu spielen. Damit ist auch schon
ein Begriff gefallen, nämlich derjenige der »Kontingenz«, der verständlich macht, warum
beispielsweise die Ethnomethodologie und der Symbolische Interaktionismus, die jahrzehntelang in
der französischen Geisteslandschaft fast vollkommen ignoriert worden waren, von dieser jüngeren
Generation nun so bereitwillig rezipiert werden: Denn es sind u. a. aus dem sogenannten
Interpretativen Paradigma (vgl. unsere Sechste und Siebte Vorlesung) zu gewinnende Einsichten, die
deutlich machen, daß die Akteure in ganz spezifischen Situationen und unter kontingenten Umständen
zu entscheiden haben. Mit der interaktionistischen bzw. ethnomethodologischen These, daß Handeln
nicht einfach vorhergesagt oder abgeleitet werden kann und sich 741Akteure nicht einfach normen-
oder regelkonform verhalten, sondern diese Normen und Regeln in einem höchst komplexen
Interpretationsprozeß ständig aushandeln und dabei modifizieren, ließ sich ganz offensichtlich
problemlos das vorher vielleicht nur gespürte Unbehagen am strukturalistischen Gedankengebäude
theoretisch genauer zum Ausdruck bringen.
Eine derart theoretisch angeleitete Sicht auf das Handeln führt dann auch zu einer Neueinschätzung
der Rolle von Werten und Normen. Während diese in der strukturalistisch geprägten Soziologie
zumeist nicht wirklich ernst genommen, sondern nur als ideologische Masken oder Ausdruck eines
falschen Bewußtseins gedeutet worden waren, scheint sich diese jüngere Generation wieder einer
klassischen sozialtheoretischen Frage zu nähern, nämlich »der Frage nach der sozialen Ordnung und
wie sie ›dargestellt‹ wird (…), ohne sie a priori zu einem bloßen Kräftespiel zu reduzieren, auf das
die Akteure keinen Einfluß haben.« (Ibid.) Dies impliziert auch, daß man die Werte und Normen der
Akteure, ihre Kritikformen und Rechtfertigungen ernst nimmt, ohne sie sofort als Ideologien zu
denunzieren. Boltanski und Chiapello bringen dies auf die griffige Formel, daß die angeblich so
kritische (sprich: strukturalistisch-deterministische) Soziologie endlich durch eine Soziologie der
Kritik ersetzt werden müsse (ibid.).
Tatsächlich verfolgte gerade Boltanski mit jeweils wechselnden Koautoren in verschiedenen
Veröffentlichungen ein derartiges Projekt, wobei das von ihm und dem Ökonomen Laurent Thévenot
verfaßte De la justification. Les économies de la grandeur aus dem Jahre 1991 vielleicht am
beeindruckendsten war. Wie die Autoren gleich zu Beginn ihrer Untersuchung erklären, stellen sie
sich die Aufgabe, typologisch die jeweils unterschiedlichen Rechtfertigungslogiken von Akteuren in
Diskursen herauszuarbeiten und empirisch aufzuweisen, wie Konsens gerechtfertigt und hergestellt
wird, wobei sie die herkömmliche Dichotomie zwischen Konsens und Konflikt unterlaufen wollen
(De la justification, S. 39). Im Durchgang durch die Geschichte der politischen Philosophie arbeiten
sie zunächst sechs »Regime der Rechtfertigung« bzw. Begründungsformen heraus, die in je
unterschiedlichen Situationen immer wieder verwendet werden, um bestimmte Entscheidungen in
einer allgemeinen Art und Weise zu legitimieren oder eben zu kritisieren. Die Autoren sprechen in
einer recht eigenwilligen Sprache diesbezüglich 742von sechs »cités« – von sechs »Gemeinwesen«,
weil in der Geschichte der politischen Philosophie ein bestimmter Typus von Gemeinwesen den
Hintergrund abgab für die Ambitionen der Individuen nach Größe (»grandeur«) und dementsprechend
ein solches Individuum im öffentlichen Diskurs unterschiedliche Argumente anzurufen hatte: So
forderte etwa die »Civitas Dei« des hl. Augustinus (354-430) einen anderen Diskurs, eine Anrufung
anderer Begründungen als Adam Smiths Gemeinwesen der Händler. Konkret unterscheiden Boltanski
und Thévenot dabei zwischen der »Cité inspirée« (hier kommt Größe dem Heiligen zu, d. h.,
Begründungsstrategien verweisen auf die Sakralität eines Sachverhalts oder die Heiligkeit einer
Person), der »cité domestique« (Größe wird dem Erstgeborenen, dem Ältesten usw. zugeschrieben),
der »cité de l’opinion« (hier hängt Größe von der Meinung der vielen anderen ab), der »cité civique«
(Größe wird dem politischen Repräsentanten, der das Kollektiv vertritt, zugeschrieben), der »cité
marchande« (groß ist der, der es versteht, Marktchancen zu nutzen) und der »cité industrielle« (hier
bemißt sich Größe an der Effizienz von Maßnahmen) (a.a.O., S. 107 ff.).
Mit den Ergebnissen dieser vielleicht merkwürdig anmutenden Diskursanalyse »im Gepäck«
machen sich Boltanski und Thévenot nun daran, Entscheidungs- und Diskussionsprozesse gerade auch
in Wirtschaftsunternehmen zu untersuchen, wobei dieses Projekt in der v. a. durch Boltanski
vorangetriebenen Ausarbeitung zu mindestens drei bedeutsamen theoretischen Einsichten führt.
Deutlich wird nämlich erstens, daß in der Sphäre der Ökonomie durchaus alle sechs
Begründungsformen, natürlich in je unterschiedlichem Ausmaß, zum Tragen kamen, daß es also auch
in der Wirtschaft nicht nur eine dominante Legitimationsstrategie gibt. Das heißt gleichzeitig auch,
daß die jeweiligen Entscheidungssituationen uneindeutig sind, weil hier immer ein
Aushandlungsprozeß zwischen unterschiedlichen Akteuren, die zudem völlig verschiedenartige
Argumente ins Spiel bringen, stattfindet (vgl. hierzu Wagner, »Die Soziologie der Genese sozialer
Institutionen«, S. 472). Gerade für die Untersuchung ökonomischer Entscheidungsprozesse ist also
eine genuin handlungstheoretische Herangehensweise, so wie sie auch im Interpretativen Paradigma
zu finden ist, angemessen. Die Anlage des Projekts geht freilich deutlich darüber hinaus, weil sich
Boltanski – und dies ist der zweite theoretisch wichtige Punkt – immer 743bemüht, den Bezug zur
Makroebene herzustellen. So hat er in neueren mit Eve Chiapello verfaßten Arbeiten gezeigt, wie sich
historisch seit den 1980er Jahren ein neuer »Geist« des Kapitalismus, eine neue »cité«, eine »cité par
projets«, herausgebildet hat und somit Begriffe wie Kreativität, Flexibilität und Innovation den
kapitalistischen Effizienz-Diskurs der Mitte des 20. Jahrhunderts abgelöst haben
(Boltanski/Chiapello, »Die Rolle der Kritik«, S. 463 ff.; vgl. auch Boltanski/Chiapello, Le nouvel
esprit du capitalisme von 1999, dt.: Der neue Geist des Kapitalismus). Um dies herausarbeiten zu
können, waren die Autoren gezwungen, eine Typologie der unterschiedlichen historischen Stufen des
Kapitalismus zu entwickeln – also eine Makroanalyse vorzunehmen, vor der Vertreter des
Interpretativen Paradigmas zumeist zurückgeschreckt sind. Dabei machen Boltanski und Chiapello
deutlich, daß ihre Rede vom »Geist« des Kapitalismus keine idealistische Herangehensweise
impliziert, die nur Diskurse ohne Rücksicht auf die »wirklichen« ökonomischen Strukturen
untersuchen würde. Vielmehr behaupten sie, daß die Rechtfertigungsdiskurse auf diese »wirkliche
Wirklichkeit« zurückwirken, diese erst bestimmte Formen der Kapitalakkumulation legitimieren und
es damit ermöglichen, »die Kräfte zu mobilisieren, die die Akkumulation verhindern. Wenn man die
vorgestellten Rechtfertigungsstrategien ernst nimmt, ist nicht jeder Profit legitim, nicht jede
Bereicherung gerecht und nicht jede Akkumulation – sei sie noch so wichtig und schnell – zulässig.«
(Boltanski/Chiapello, »Die Rolle der Kritik«, S. 463) Letzteres ist gleichzeitig auch eine Spitze
sowohl gegen marxistische wie auch neo-klassische Positionen innerhalb der Ökonomie, insofern
man dort immer noch von »dem« Kapitalismus und seiner normfreien »Logik« bzw. der
ausschließlichen Nutzenkalkulation der Marktteilnehmer spricht.
Drittens schließlich wird mit dem Boltanskischen Projekt auch explizit ein Beitrag zu einer
Soziologie des sozialen Wandels angestrebt, weil danach gefragt wird, wodurch neue Regime der
Rechtfertigung, neue »cités«, überhaupt ins Leben gerufen werden, wie sie sich durchsetzen können
und welche Rolle hierbei Eliten spielen. »Der Wandel der Rechtfertigungsregime scheint allgemein
an das Entstehen von Gruppen gebunden, die versuchen, die Hindernisse zu umgehen, die einem
dauerhaften Fortbestehen ihrer Vorteile oder deren Vergrößerung entgegenstehen. Sie versuchen neue
Wege des Erfolgs und der Anerkennung zu finden, bei denen sie nicht 744die zu einem bestimmten
Zeitpunkt legitimen Selektionskriterien nachweisen müssen.« (A.a.O., S. 472) Auch wenn
Boltanski/Chiapello dies nicht explizit erwähnen, ist ihr »dynamisches Modell des normativen
Wandels« höchst anschlußfähig etwa an kulturtheoretische Argumentationen im Umkreis von Shmuel
N. Eisenstadt und gleichzeitig eine implizite Kritik an akteurlos verfahrenden
Differenzierungstheorien.
Die um Boltanski entstandenen Arbeiten in der französischen Soziologie ragen zwar sicherlich
heraus, aber in den 1980er und 1990er Jahren haben sich auch eine ganze Reihe anderer Autoren zu
Wort gemeldet, die ein ähnliches theoriestrategisches Anliegen wie Boltanski verfolgen, dabei aber
auf z. T. völlig anderen thematischen Gebieten tätig sind. Wir können hier nicht auf alle wichtigen
Arbeiten eingehen, wollen aber zumindest einige namhafte Autoren nennen, um Ihnen ein gewisses
Gespür für die derzeitige Breite des französischen Diskussionskontextes zu geben: Der Soziologe
Louis Quéré (geb. 1947) entstammt ursprünglich dem Umkreis von Alain Touraine mit seinen
Forschungen zu sozialen Bewegungen, hat sich aber zunehmend dem ethnomethodologischen
Forschungsprogramm verschrieben. Der Historiker und Philosoph Marcel Gauchet (geb. 1946 und
zusammen mit dem Historiker Pierre Nora Gründer der Zeitschrift Le Débat) war einer derjenigen
Autoren, die sich v. a. in den 1970er Jahren im Umkreis von Claude Lefort und Cornelius Castoriadis
stark an der philosophischen Debatte um Totalitarismus und Demokratie beteiligt hatten (vgl. den von
Ulrich Rödel herausgegebenen Band Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie). In den
1980er Jahren hat er sich dann am Beispiel der religiösen Erfahrung dem Problem der Kontinuität und
Diskontinuität der Geschichte gestellt und gefragt, welche Rolle die Religion nach ihrer Verdrängung
aus dem offiziell-staatlichen Institutionensystem im 18. Jahrhundert eingenommen hat und welcher
Ersatz an ihre Stelle getreten ist – ein Problem, das nicht nur demokratietheoretische Aspekte,
sondern auch solche der individuellen Identität berührt (vgl. Gauchet, Le Désenchantement du
monde, 1985). Der Soziologe Alain Caillé (Jg. 1944) schließlich, ein Schüler Claude Leforts, ist
auch insofern ein höchst interessanter Autor, als er die Hauptfigur einer kleinen Gruppe wurde, die es
sich zur Aufgabe gemacht hatte, den Einfluß des Utilitarismus in den Sozialwissenschaften
zurückzudrängen und zu diesem Zweck in den 1980er Jah745ren eine Zeitschrift gründete mit dem
Titel La Revue du MAUSS – Mouvement Anti-Utilitariste dans les Sciences Sociales. Auch wenn
die Zeitschrift nie wirklich große Auflagen hatte, so war sie doch wichtig, weil sie ein
Publikationsforum für viele jener französischen Autoren wurde, die Dosse jener anti-
strukturalistischen »neuen Generation« zugerechnet hat. Der Titel der Zeitschrift erinnert natürlich
nicht zufällig auch an den großen Klassiker der französischen Soziologie, Marcel Mauss, den Neffen
Durkheims und Autor des berühmten Essays Die Gabe (vgl. auch die Vierzehnte Vorlesung). Caillé
hat in mehreren Studien genau die Thematik dieses Essays wiederaufgenommen und zu zeigen
versucht, daß die Gabe nicht nur ein Merkmal primitiver Gesellschaften ist, sondern das darin
steckende Prinzip der Reziprozität auch zentral die Handlungen der Akteure in der Moderne bestimmt
(Jacques Godbout/Alain Caillé, L’Esprit du don). Am breitesten sind diese Impulse jetzt von Marcel
Hénaff (geb. 1943) ausgearbeitet worden (Le Prix de la vérité: Le Don, l’argent, la philosophie).
International am bekanntesten dürfte freilich der Wissenschaftssoziologe Bruno Latour geworden
sein. Latour (geb. 1947) ist Mitglied eines relativ großen internationalen Forschernetzwerks, das sich
der Aufgabe einer Anthropologie der Wissenschaften verschrieben hat. Er blieb jedoch bei diesen
wissenschaftssoziologisch zu nennenden Studien nicht stehen, sondern zog eine ganze Reihe von
Schlußfolgerungen, die sowohl in sozialtheoretischer wie politisch-philosophischer Hinsicht
interessant sind. In Nous n’avons jamais été modernes von 1991 (dt.: Wir sind nie modern gewesen.
Versuch einer symmetrischen Anthropologie) demonstriert Latour, wie sich aus der Tatsache, daß
Wissenschaftler ihre Objekte konstruieren, eine unaufhebbare Verquickung zwischen Natur und
Gesellschaft ergeben hat, der wir Rechnung zu tragen haben:
Das Ozonloch ist zu sozial und zu narrativ, um wirklich Natur zu sein, die Strategie von Firmen und Staatschefs zu sehr angewiesen auf
chemische Reaktionen, um allein auf Macht und Interessen reduziert werden zu können, der Diskurs der Ökosphäre zu real und zu sozial,
um ganz in Bedeutungseffekten aufzugehen. (Latour, Wir sind nie modern gewesen, S. 14)

Die Wissenschaft hat also eine ganze Reihe von Hybriden, von »Quasi-Objekten« geschaffen, die
weder bloße naturhafte Dinge sind noch Menschen oder Subjekte. Wenn man dies ernst nimmt, dann
746stellen sich sofort politische Fragen: Wie geht man mit diesen Quasi-Objekten um, die Bestandteil
der Gesellschaft geworden sind? Wie repräsentiert man sie? Latours Antwort ist die Forderung nach
einem »Parlament der Dinge« (a.a.O., S. 189 ff.), eine Art selbstreflexiver Demokratie, in der sich
die Volksvertreter bewußt sind, daß sie häufig über Quasi-Objekte reden, also über gesellschaftlich-
naturhafte Dinge, und in der ihnen bewußt ist, daß sie auch genau diese Dinge zu repräsentieren
haben. In einer solchen Demokratie ginge es nicht nur um bloße Interessenvertretung, sondern darum,
daß in Parlament und Öffentlichkeit ein ständiger Reflexionsprozeß über diese unvermeidliche
Verquickung von Gesellschaft und Natur stattfindet, der wir uns zu stellen haben und mit deren
Konsequenzen wir leben müssen.
Sowenig konkret diese politische Vision Latours auch ist, er konnte ausgehend von seinen
wissenschaftssoziologischen Untersuchungen immerhin plausibel machen, daß die Moderne – und sie
war und ist ja mit der Wissenschaft eng verbunden – immer durch zwei Ensembles von Praktiken
gekennzeichnet war: Auf der einen Seite wurden durch die Konstruktionsleistungen der
Wissenschaftler ständig Hybridwesen geschaffen, auf der anderen Seite bemühte man sich geradezu
krampfhaft, diese Hybridität zu leugnen und von der einen Natur und von der einen Gesellschaft –
beide scharf voneinander getrennt – zu sprechen (a.a.O., S. 19). Latour konnte nachweisen, daß diese
Ambivalenz die moderne Wissenschafts- und Gesellschaftsgeschichte von Anfang an gekennzeichnet
hat. Aus dieser Einsicht leitet sich dann auch der Titel seines Buches her – Wir sind nie modern
gewesen: Die Moderne war demnach nie eindimensional, sondern die von Latour beschriebene
Ambivalenz stets vorhanden, so daß weder die Theoretiker der klassischen Moderne noch diejenigen
der Postmoderne recht haben, die alle von einem eindimensionalen (positiven oder negativen) Bild
der Moderne ausgehen.
Wir waren nie in einen homogenen und weltumspannenden Fluß geworfen, der, sei es aus der Zukunft, sei es vom Anbeginn der Zeiten
kommt. Die Modernisierung hat nie stattgefunden. Es gibt keine Flut, die lange Zeit gestiegen wäre und heute zurückflutet. Es hat nie
eine Flut gegeben. Wir können zu etwas anderem übergehen, d. h. auf die vielfachen Dinge zurückkommen, die immer auf
unterschiedliche Weise ›passiert‹ sind. (Latour, a.a.O., S. 104)

747Wir sollten heute – so Latour – diese Ambivalenz anerkennen und eben die Tatsache akzeptieren,
daß die Verquickung von Natur und Gesellschaft in Form dieser Hybrid-Objekte unvermeidlich und
nicht zu hintergehen ist. Dann würden wir nicht nur die unerquicklichen Debatten zwischen Modernen
und Postmodernen hinter uns lassen, sondern gleichzeitig eine neue und adäquatere Sicht auf die
drängenden Probleme der Welt bekommen.
Soweit ein kurzer Überblick über die jüngsten Entwicklungen in der französischen
Geisteslandschaft, was uns vor allem deswegen so wichtig schien, als die dort sich abzeichnende
weite Öffnung gegenüber den in dieser Vorlesung diskutierten handlungstheoretischen Ansätzen für
die Zukunft einiges verspricht. Denn erst durch ein Zurückdrängen des Strukturalismus und der damit
verwandten sozialtheoretischen Ansätze wird sich das in den französischen Denktraditionen
steckende Potential wirklich ausschöpfen lassen – zum Nutzen der internationalen »scientific
community«.

3. Seit den 1980er Jahren macht sich eine interdisziplinäre Bewegung immer stärker bemerkbar,
welche unserer in der Ersten Vorlesung aufgestellten Behauptung hohe Plausibilität verleiht, daß es
durchaus »Korridore« zwischen den theoretischen Paradigmen gibt und deshalb die Rede von
Inkommensurabilität schief ist. Gemeint ist der sogenannte »Neue Institutionalismus«. Wie der Name
schon andeutet, gab es institutionalistische Theoretiker und Theorieansätze schon früher – wobei hier
an amerikanische Soziologen und Ökonomen wie Thorstein Veblen (1857-1929), John Commons
(1862-1945) oder Wesley Mitchell (1874-1948) zu denken ist, welche die klassischen Annahmen der
Ökonomie kritisierten und statt dessen die Eingebundenheit von Individuen in Institutionen betonten,
eine Eingebundenheit, welche das von der klassischen Ökonomie unterstellte nutzenmaximierende
Verhalten der Individuen (auf dem Markt) bricht. Derartige »alte« institutionalistische Ansätze waren
aber nicht nur in den USA zu finden. In Deutschland verfolgte die sogenannte Jüngere Historische
Schule der Nationalökonomie, die etwa mit dem Namen Gustav Schmoller (1838-1917) verbunden
ist, ähnliche Zielsetzungen und begründete eigentlich ein derartiges Denken, das dann ebenjene gerade
genannten amerikanischen Ökonomen beeinflussen sollte. Auch die Klassiker der Soziologie können
als »Institutionalisten« bezeichnet werden, Durkheim 748ebenso wie Weber, wußten diese doch
genau, daß kulturelle Muster und Institutionen die Handlungsmotivationen der Individuen
entscheidend prägen. Und schließlich ist in diesem Zusammenhang auch Talcott Parsons zu nennen,
der – wenn Sie sich an die Zweite und Dritte Vorlesung erinnern – in Anlehnung an Durkheim ganz
stark die nicht-ökonomischen Voraussetzungen ökonomischen Handelns betont und insbesondere auf
die Bedeutung von institutionalisierten Werten aufmerksam gemacht hat. Insofern war auch Parsons
»Institutionalist«.
Warum war aber dann offenbar eine Bewegung notwendig, welche das institutionalistische Denken
wieder stärker in den Vordergrund rücken sollte? Die Antwort darauf ist relativ einfach – und auch
sie unterstreicht, wie sinnvoll es war, unseren Vorlesungszyklus mit Talcott Parsons zu beginnen:
Viele der Parsonsschen Einsichten sind in den 1960er und 1970er Jahren verlorengegangen ebenso
wie die Einsichten der Klassiker der Sozialwissenschaften (vgl. zum folgenden Paul
J. DiMaggio/Walter W. Powell, »Introduction« und W. Richard Scott, Institutions and
Organizations, S. 2 ff.). In der Politikwissenschaft etwa hat sich mit dem Vordringen bestimmter
empirischer Forschungsmethoden der sogenannte Behaviouralismus durchgesetzt, der Institutionen nur
als randständig betrachtete und davon ausging, daß diese lediglich das Ergebnis der Summe des
Zusammenhandelns einzelner Individuen seien und darüber hinaus keine weitere Bedeutung besäßen.
In der Organisationstheorie und -soziologie war man häufig einem utilitaristischen Denkmodell
gefolgt, welches nicht in der Lage war, bestimmte empirische Phänomene zu fassen wie
beispielsweise die Legitimitätsbedürfnisse von Organisationen. Und in den
Wirtschaftswissenschaften wurde immer deutlicher, daß die mikroökonomischen Annahmen
hinsichtlich der kognitiven Fähigkeiten von Akteuren empirisch nicht zutreffen, weil es Grenzen der
Informationsaufnahme gibt, oder daß auf dem Markt auch Vertrauen eine zentrale Rolle spielt, weil
nur so eine kostengünstige Sicherstellung der Einhaltung von Verträgen denkbar ist. Mit dem Verweis
auf nutzenmaximierende Akteure und unter Zugrundelegung eines utilitaristischen Handlungsmodells
allein ließen sich diese Phänomene nicht verstehen, weshalb immer deutlicher wurde, daß
Institutionen wieder in die sozialwissenschaftliche Analyse eingebracht werden müssen.
Es begann deshalb seit den 1980er Jahren in unterschiedlichen 749Forschungsfeldern eine
Hinwendung zur Analyse und Theoretisierung von Institutionen, wobei allerdings die disziplinären
Herangehensweisen durchaus unterschiedlich waren: Während in der Ökonomie der Nobelpreisträger
Douglass North (geb. 1920) das Institutionenproblem unter Zuhilfenahme einer utilitaristischen
Perspektive anging und hier insbesondere die Frage untersuchte, welche institutionellen Strukturen
dafür verantwortlich sind, daß ineffiziente Marktmechanismen weiterexistieren können (North,
Institutions, Institutional Change and Economic Performance, 1990; dt.: Institutionen,
institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung), wurde das utilitaristische Handlungsmodell in den
anderen Sozialwissenschaften schon deutlicher in Frage gestellt. Innerhalb der Wirtschafts-,
Organisations-, Politischen und Historischen Soziologie wurden wesentlich stärker die normativen
Zwänge der Akteure in Institutionen betont, ihre handlungsleitenden Weltbilder, ihre kognitiven
Schemata, ihre im Beruf erlernten Praktiken des Handelns und Denkens etc., und darüber hinaus auch
der Aspekt der (politischen) Macht. Nur durch Einbeziehung dieser Phänomene konnte tatsächlich
plausibel erklärt werden, warum beispielsweise Märkte nicht den Gesetzen des mikroökonomischen
Paradigmas »gehorchen« und warum Organisationen und politische Prozesse mit dem Modell des
rationalen Akteurs kaum sinnvoll zu analysieren sind (vgl. Paul DiMaggio, »The New
Institutionalisms: Avenues of Collaboration« und Peter A. Hall/Rosemary C. R. Taylor, »Political
Science and the Three New Institutionalisms«).
Die Debatte um den sogenannten »Neuen Institutionalismus« ist derzeit noch im Fluß, und es
besteht kein Zweifel, daß von ihr wesentliche Impulse für die empirische Forschung ausgegangen sind
und noch ausgehen. Gleichzeitig wird sich dieser »Neue Institutionalismus« allerdings kaum als eine
eigenständige Theoriebewegung etablieren können, zu unterschiedlich sind doch die
Ausgangspositionen der an der Debatte beteiligten Diskutanten: Man modifiziert Rational-Choice-
Annahmen oder man erweitert das Parsonssche Institutionenmodell durch konflikttheoretische,
ethnomethodologische und kognitionspsychologische Einsichten. Dies geschieht freilich in den
einzelnen Disziplinen sehr unterschiedlich, und selbst innerhalb ein- und derselben Disziplin
argumentieren die institutionalistischen Theoretiker doch oft sehr stark entlang der je
unterschiedlichen Theorierichtungen, die wir Ihnen in den vergangenen 750Vorlesungen vorgestellt
haben. Deshalb ist auch der Verdacht nicht ganz von der Hand zu weisen, daß dieser »Neue
Institutionalismus« keine wirkliche einheitliche Theoriebewegung ist, sondern daß hier ein Etikett
gefunden wurde, um tatsächlich höchst disparate Forschungsvorhaben zu charakterisieren, die nur
eines gemeinsam haben, nämlich daß sie sich mit Institutionen beschäftigen (das demonstriert auch
unfreiwillig etwa der von Andrea Maurer und Michael Schmid herausgegebene Sammelband Neuer
Institutionalismus. Zur soziologischen Erklärung von Organisation, Moral und Vertrauen).
Immerhin ist aber aus dem Umfeld institutionalistischen Denkens eine soziologische Makrotheorie
hervorgegangen, die derzeit hohe internationale Aufmerksamkeit genießt und mit
Globalisierungstheorien konkurriert. Der hier gemeinte »world-polity«-Ansatz ist dabei eng mit dem
Namen des amerikanischen Soziologen John W. Meyer (geb. 1935) verbunden, der – lange Zeit in
Stanford lehrend – seit den 1970er Jahren die entsprechende theoretische Programmatik auf der Basis
empirischer Forschungen zur weltweiten Ausbreitung und Durchsetzung gleichförmiger
institutioneller Muster kontinuierlich vorangetrieben hat.
Worum es in diesem »world-polity«-Ansatz geht, läßt sich am einfachsten anhand von
Überlegungen deutlich machen, die Meyer und seine Mitarbeiter gerade auch mit Blick auf
politikwissenschaftliche Problemstellungen vorangetrieben haben (vgl. Thomas/Meyer, »The
Expansion of the State«). Wenn man sich etwa die jüngere Geschichte des internationalen
Staatensystems ansieht, dann – so Meyer – springt doch unmittelbar die formale Ähnlichkeit der
Staaten untereinander ins Auge: Mehr oder minder alle Staaten weisen gleichförmige bürokratische
Strukturen auf, die Politikfelder werden auf ministerieller Ebene fast überall nach gleichem Muster
geteilt, politische Prozesse werden mit ähnlichen Mitteln angeschoben – und zwar unabhängig von
den jeweils doch sehr unterschiedlichen nationalen kulturellen Kontexten und Konfliktlagen.
Dies wirft natürlich ein theoretisches Problem auf. Die Meyersche These lautet nun, daß sich diese
überraschend große Strukturähnlichkeit von Staaten weder mit Hilfe funktionalistischer noch mit
Hilfe machttheoretischer Argumente plausibel erklären läßt: Denn angesichts höchst unterschiedlicher
nationaler Kontexte kann es nicht funktionalen Erfordernissen geschuldet sein, wenn überall
gleichartige bürokratische Strukturen aufgebaut werden; und eben751so wenig ist es sinnvoll,
anzunehmen, daß machtbewußte Akteure (Klassen, Parteien, Gewerkschaften etc.), die ja in den
jeweiligen nationalen Kontexten sehr unterschiedliche Interessen haben müßten, überall die gleichen
Staatsstrukturen durchsetzen wollten. Meyers Schlußfolgerung ist deshalb, daß die Form von Staaten
und die spezifische Gestalt des Staatensystems nicht »von unten nach oben« (etwa aus den Interessen
von individuellen oder kollektiven Akteuren) erklärt werden können, sondern nur »von oben nach
unten«: Die Spezifika des Staates und des Staatensystems sind gewissermaßen aus der Existenz
umfassenderer Prinzipien herzuleiten, aus einer Weltkultur (»world culture« oder »world polity«)
eben, womit wir bei dem diesen Makroansatz bezeichnenden Begriff wären. Nur wenn man die
Existenz einer solchen Weltkultur postuliert, wird laut Meyer verständlich, warum sich Staaten
entlang höchst ähnlicher (»isomorpher«) Strukturmerkmale konstituiert haben und auch jetzt noch
gründen.
Was hier als bloßes Ergebnis einer relativ abstrakten theoretischen Deduktion erscheinen mag, ist
freilich schon seit den 1970er Jahren von Meyer und seinen Mitarbeitern in verschiedenen
empirischen, vor allem bildungs- und organisationssoziologischen Analysen erhärtet worden. Meyer
konnte tatsächlich zeigen, daß sich beispielsweise Universitäten überall mit zumindest oberflächlich
ähnlichen Studiengängen, mit vergleichbaren Studienabschlüssen etc. ausgebreitet haben. In ähnlicher
Weise konnte man zeigen, daß sich in den Verfassungen fast aller nach 1945 neu gegründeten Staaten
sehr ähnliche Textpassagen finden, die beispielsweise auf Menschenrechte und demokratische
Prozeduren verweisen, obwohl zweifelsohne klar ist, daß diese Passagen nicht unbedingt genuiner
Ausdruck der jeweiligen nationalen Kulturen sind. Dies deutet darauf hin, daß – so Meyer – sich
mittlerweile eine Weltkultur institutionalisiert hat, deren strukturierender Einfluß auf weltweit
ablaufende Prozesse und Prozeßtypen tatsächlich erheblich ist. Anders formuliert: Es ist die
Weltkultur, die oftmals bestimmt, welche Politiken und Strukturen Organisationen und Staaten
adoptieren müssen, also beispielsweise welche Bildungsziele zu verfolgen sind, welchen
Erfordernissen ein Universitätssystem zu entsprechen hat etc.
Wie aber ist diese Weltkultur nun genau zu beschreiben? Meyer zufolge setzt diese sich aus
mehreren, ursprünglich christlich-protestantischen Wertelementen zusammen, wobei hier unter
anderem 752die Betonung des Eigenwerts des Individuums, die Akzeptanz rational begründeter
Autorität oder der Glaube an einen rational zu gestaltenden Fortschritt zu nennen sind. Diese Werte
oder Prinzipien prägen Meyer zufolge zutiefst die Handlungen von individuellen und kollektiven
Akteuren in der Weltgesellschaft, und auf sie berufen sich ganz selbstverständlich wiederum diese
Akteure, etwa wenn sie ihre Handlungen rechtfertigen. Der offene Verstoß gegen sie ist nicht
akzeptabel und wird sanktioniert. Sie sind die kaum mehr ernsthaft hinterfragten, nämlich eben
weltkulturell institutionalisierten Prämissen allen Handelns.
Meyer behauptet nicht, daß diese von ihm dergestalt beschriebene Weltkultur – wie man das
vielleicht vermuten könnte – zwangsläufig zu Frieden und Harmonie in der Welt führt. Konflikte wird
es seiner Meinung nach auch weiterhin geben, nicht zuletzt deshalb, weil bestimmte aus dieser
Weltkultur abgeleitete Strukturen bei ihrer Implementation in verschiedenen regionalen Kontexten
gewaltsamen Widerstand provoziert haben und noch immer provozieren (man denke an die Idee eines
einheitlichen, rational strukturierten Staates, deren Durchsetzung oftmals erst die Formierung und den
Protest ethnischer Minderheiten hervorgerufen hat). Aber selbst wenn es zu massiven Konflikten
kommt, werden diese Konflikte doch immer wieder unter Berufung auf die rationalen Prinzipien der
Weltkultur geführt. Wie Meyer darlegt, berufen sich auch fundamentalistische oder ethnische
Bewegungen, wenn sie Forderungen in der Weltöffentlichkeit zu Gehör bringen wollen, auf derartige
rationale Prinzipien oder spezifisch weltkulturell verankerte Rechte (Meyer u.a., »World Society and
the Nation-State«).
Der institutionalistische »world-polity«-Ansatz (manchmal auch »world-society«-Ansatz genannt),
der sich – nebenbei bemerkt – mit manchen Überlegungen, die aus dem Luhmannschen Theorielager
kommen, wo ja ebenfalls der Weltgesellschaftsbegriff verwendet wird, überschneidet (vgl. S. 727ff.
in diesem Kapitel), ist sicherlich derzeit eines der interessantesten makrosoziologischen
Theorieprogramme mit dezidiert empirischem Anspruch. Zweifel gibt es freilich bezüglich des
tatsächlichen Erklärungspotentials dieses Ansatzes. Meyer selbst hat in seinen
organisationssoziologischen Untersuchungen stets die Möglichkeit der »Entkoppelung« von
tatsächlichen Organisationsabläufen von kulturell geforderten Rationalitätsstandards betont (Meyer,
»Institutionalized Organizations«). Dies – und darauf weist 753Meyer ausdrücklich hin – ist natürlich
auch zu berücksichtigen, wenn man weltkulturell bedingte »Isomorphien« (oder
Strukturangleichungsprozesse) betrachtet: Die Strukturen und Prozesse mögen zwar an der Oberfläche
sehr ähnlich sein bzw. sich angleichen, aber trifft das auch für die Strukturen und Prozesse darunter
zu? Das Soziologie-Studienprogramm und der Titel des jeweiligen Studienabschlusses mögen an
einer Universität in einem Land der Dritten Welt ganz ähnlich wie an der University of Chicago
lauten: Aber dies wird insgesamt doch recht wenig über die jeweilig tatsächlich vorhandenen
Lernbedingungen und die tatsächlich zu erbringenden Lernleistungen besagen. Es ist nicht von der
Hand zu weisen, daß der Meyersche Weltkultur-Ansatz mit seiner Betonung von weltkulturellen
Isomorphien an sehr viel wichtigeren sozialen Prozessen schlicht vorbeizielt (kritisch hierzu Knöbl,
Die Kontingenz der Moderne, S. 30-45).

4. Ganz zum Ende unserer Vorlesungsreihe möchten wir Ihnen noch einen Hinweis auf drei
Problemkomplexe mit auf den Weg geben, auf die sich derzeit die begrifflichen und theoretischen
Anstrengungen vieler Sozialwissenschaftler konzentrieren und die somit Brennpunkte der aktuellen
Diskussion bilden. Dabei steht die zeitdiagnostische Relevanz dieser Problemkomplexe außer Frage.
Mit diesen Hinweisen soll aber nicht unterstellt werden, daß aus den verschiedenen von uns
dargestellten Theorieansätzen heraus nicht ebenfalls wichtige neuere Arbeiten hervorgehen.
a) Bruno Latours These einer Moderne, die tatsächlich nie stattgefunden hat, verweist schon auf
eine dieser derzeit heißdiskutierten Fragestellungen, nämlich auf die Frage nach der kulturellen
Verfaßtheit der westlichen Moderne: Wie einheitlich war und ist diese Moderne, welche inneren
kulturellen Spannungen sind in ihr festzustellen? Die Konzentration auf diese Thematik wurde durch
jenes eindimensionale Moderne-Bild von Modernisierungstheoretikern und Theoretikern der
Postmoderne motiviert, von dem man sich absetzen wollte. Es kann deshalb nicht überraschen, daß
die derzeit innovativsten Interpretationen der Moderne und ihrer Geschichte sogenannte »nicht-
identitäre Deutungen« (Johann P. Arnason) sind, Deutungen also, in denen die Brüche und
Widersprüche dieser Epoche klar zum Ausdruck kommen: Die westliche Moderne – so die These –
war und ist kein einheitlicher Komplex, was unter anderem auch ihre turbulente Geschichte erklärt.
754Wir haben solche nicht-identitären Deutungen schon kennengelernt, u. a. bei der Vorlesung zu
den französischen Anti-Strukturalisten. Alain Touraine hat ja bei seiner Rekonstruktion der westlichen
Moderne auf den seiner Meinung nach unaufhebbaren Gegensatz zwischen Subjektivierung einerseits
und Entsubjektivierung durch die Systeme andererseits aufmerksam gemacht und damit einen
Gedanken fortentwickelt, der in ähnlicher Weise auch bei Cornelius Castoriadis zu finden ist. Dieser
hat von der im antiken Griechenland entwickelten Idee der Autonomie gesprochen, die zwar seit der
Zeit der europäischen Aufklärung wiederum ihre Chance erhalten hat, aber stets von der Heteronomie
bedroht war. Castoriadis stellte dabei in großer Schärfe die Demokratie einerseits und einen die
Heteronomie befördernden Kapitalismus bzw. totalitäre Staatsapparate andererseits einander
gegenüber, was ihn in die Lage versetzte, in die höchst interessante und fruchtbare Diskussion um den
Totalitarismus-Begriff einzusteigen.

Die vielleicht umfassendste und überzeugendste Rekonstruktion der kulturellen Spannungen in der
Moderne entstammt aber einem anderen Kontext und wurde von dem schon genannten
kommunitaristischen Philosophen und Politikwissenschaftler Charles Taylor (geb. 1931) vorgelegt.
Sein imponierendes Sources of the Self. The Making of the Modern Identity von 1989 (dt.: Quellen
des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität) ist ein großangelegter Versuch, mittels eines
Durchgangs durch die abendländische Geistesgeschichte die Quellen oder Traditionen ausfindig zu
machen, aus denen unsere moderne Identität heutzutage schöpft bzw. schöpfen kann. Dabei kann
Taylor drei zu je unterschiedlichen historischen Epochen entstandene Traditionen benennen: eine auf
Augustinus und Descartes zurückreichende Hochschätzung der »Innerlichkeit«, eine positive Haltung
gegenüber dem Alltagsleben und der Arbeit (»Bejahung des gewöhnlichen Lebens«), die wir nicht
nur, aber nicht zuletzt der Reformation zu verdanken haben, und schließlich eine Aufgeschlossenheit
für eine romantische Deutung der Natur und eine Wertschätzung des Schöpferischen und Expressiven
(»Die Stimme der Natur«). Diese je unterschiedlichen Traditionsbestände ermöglichen uns zwar
einerseits die Bildung einer höchst reichhaltigen Identität, wenn wir für uns ein ausgewogenes
Verhältnis zwischen ihnen finden. Gleichzeitig sind sie aber auch Ursache zahl755reicher
Spannungen, die sich nicht nur im jeweiligen Individuum wiederfinden lassen, sondern auch in der
westlichen Kultur als ganzer. Taylor spricht im wesentlichen von drei solchen Spannungen oder
Konflikten in der Moderne. Erstens: Es existieren zwar Forderungen nach universeller Gerechtigkeit,
nach Freiheit und Gleichheit, denen wir im Prinzip alle zustimmen können und die gerade in
westlichen Demokratien auch zu einem beträchtlichen Ausmaß verwirklicht worden sind. Daneben
jedoch herrscht höchste Unsicherheit über das, was ein gutes Leben ausmacht, über starke Wertungen
und höchste Güter jenseits jener genannten zustimmungsfähigen Prinzipien (Ch. Taylor, Quellen des
Selbst, S. 855). Zweitens: Es gibt ganz offensichtlich einen unaufhebbaren Konflikt zwischen dem im
Alltagsleben und der Arbeitswelt geforderten Instrumentalismus und dem romantischen Protest gegen
ebenjene einseitige und manchmal abstumpfende Zweckrationalität. Drittens schließlich ist stets die
Frage umstritten geblieben, ob sich unsere moralischen Standards tatsächlich immer mit unseren
Strebungen und unserem Wunsch nach einer reichhaltigen Identität in Einklang bringen lassen und was
dann im jeweiligen konkreten Fall Vorrang bei der Verwirklichung haben wird (a.a.O., S. 860 f.).
Taylor hat den Aufweis dieser höchst umfassenden und zunächst ziemlich abstrakt bleibenden
Spannungen in der Moderne durchaus auch für die konkrete politische Analyse nutzbar gemacht und in
verschiedenen Aufsätzen zu zeigen versucht, inwiefern diese sich – wenn auch häufig gebrochen – in
den politischen Konflikten und Konstellationen moderner westlicher Gesellschaften widerspiegeln
(vgl. etwa seinen Aufsatz »Legitimationskrise?« im Band Negative Freiheit?, S. 235 ff.).

Nur wenig später als Taylors Sources of the Self, nämlich 1990, erschien das Buch Cosmopolis. The
Hidden Agenda of Modernity (dt.: Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne) des in
London geborenen Wissenschaftshistorikers und -philosophen Stephen Toulmin (1922-2009), das
Richard Rortys Thesen zur Stellung Wittgensteins, Heideggers und Deweys in der modernen
Philosophie aufgreift. Toulmins Fragestellung war dabei folgende: Wenn diese großen Philosophen
des 20. Jahrhunderts recht haben und es tatsächlich kein festes Fundament der Erkenntnis gibt, wenn
also – wie der Titel eines berühmten Buches von John Dewey lautet – die 756Quest for certainty
(Die Suche nach Gewißheit) vergebens ist, dann muß man doch auch fragen, wann und unter welchen
Umständen diese Suche nach Gewißheit begonnen hat. Dann reicht es nicht aus, wie Rorty nur
philosophiegeschichtlich zu argumentieren und auf die interne Konstruktion des Gedankengebäudes
von Descartes zu verweisen. Vielmehr muß der mit Descartes beginnende (philosophische) Übergang
vom Mittelalter zur Neuzeit nochmals genauer – und zwar sowohl ideen- wie sozialgeschichtlich –
untersucht werden (Toulmin, Kosmopolis, S. 30).
Toulmin macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, daß die Moderne mindestens aus
zwei Traditionen schöpft, die in zwei unterschiedlichen historischen Epochen entstanden waren:
Während die Renaissance das literarische und humanistische Erbe der Moderne hervorbrachte und
mit Erasmus von Rotterdam (1467- 1536), Michel de Montaigne (1533-1592) und William
Shakespeare (1564-1616) vielleicht ihre beeindruckendsten Vertreter hatte, schien René Descartes
(1596-1650) schon einer vollkommen neuen Zeit anzugehören. Er war Repräsentant des
wissenschaftlichen und systematisch-philosophischen Denkens, das nach Toulmins Auffassung die
zweite Tradition der Moderne darstellt. Toulmins Frage ist nun, warum in einem relativ kurzen
Zeitraum ein solcher Umbruch im Denken stattfinden konnte, ebenjene Abkehr von der Renaissance.
Dabei kann er in überraschender Weise eine politische Deutung vorlegen: Das cartesianische Projekt,
Descartes’ Suche nach einer festen Basis der Erkenntnis, nach Gewißheit eben, war seiner Auffassung
nach weder der Logik der philosophischen Entwicklung geschuldet noch nur aus der individuellen
Biographie des Autors heraus entstanden. Vielmehr lasse sich zeigen, daß Descartes’ Suche nach
Gewißheit in einer Situation höchster Unsicherheiten begann: Das Zeitalter des Dreißigjährigen
Krieges und die politischen Wirren in Frankreich, in denen sich politische Gruppierungen mit Waffen,
religiösen Doktrinen und Ideologien bekämpften, ließen unter den philosophisch Interessierten eine
Stimmung entstehen, die Toulmin folgendermaßen beschreibt:
Wenn die Europäer nicht im skeptischen Stumpfsinn versinken wollten, dann mußten sie wohl etwas finden, dessen man »gewiß« sein
konnte. Je länger der Kampf andauerte, desto weniger konnte man sich vorstellen, daß ein Protestant die »Gewißheit« der katholischen
Lehre oder gar ein frommer 757Katholik die »Gewißheit« der protestantischen Häresien zugeben könnte. Die einzige andere Richtung, in
der man auf »sichere Grundlagen für den Glauben« hoffen konnte, war die der von Montaigne ausgeschlossenen erkenntnistheoretischen
Beweise. (Toulmin, a.a.O., S. 99)

Descartes wendet sich also gegen die humanistische Skepsis eines Montaigne, gegen dessen Zweifel,
ob es überhaupt sinnvoll sei, nach sicherer Erkenntnis zu suchen, weil für Descartes in Zeiten des
Bürgerkrieges und des politischen Mordes die philosophische Suche nach Gewißheit als der einzig
plausible Ausweg erscheint. Descartes’ philosophisches Projekt ebenso wie das
naturwissenschaftliche von Newton waren also nicht – so die Deutung Toulmins – in erster Linie
logischen oder praktischen Erfordernissen geschuldet, sondern entstammen einem politisch-religiösen
Kontext, weshalb z. B. das Newtonsche Weltbild nicht zufällig am schnellsten gerade in den
zentralistischen Nationalstaaten gefördert und akzeptiert wurde (a.a.O., S. 196).
Eine solche Interpretation ist nun aus zweierlei Gründen bedeutsam: Zum einen wird verständlich,
daß die Moderne ständig durch wesentliche kulturelle Spannungen gekennzeichnet war, zwischen
jener wissenschaftlichen Suche nach Gewißheit auf der einen Seite und den humanistisch-
literarischen Bestrebungen auf der anderen Seite. Interessanter ist aber – und dies ist der andere
Grund –, daß mit Toulmins Darstellung plötzlich ein dunkler Schatten auf die europäische
Geistesgeschichte fällt, der so vorher nicht zu sehen war: Denn danach war die Geburt des
Descartesschen Denkens und des wissenschaftlichen Weltbildes kein unbeschwerter und
voraussetzungsloser Aufbruch zu neuen Ufern. Dieses Denken ist in der Person Descartes’ vielmehr
mit der Erfahrung von Gewalt, Krieg und Bürgerkrieg eng verbunden, die ja in der gesamten
europäischen Geschichte eine so bedeutsame Rolle gespielt haben. So wird deutlich, daß in der
europäischen Moderne nicht nur zentrale Institutionen – denken Sie an den Nationalstaat – ohne den
Krieg nie entstanden wären, sondern auch wesentliche und scheinbar politikferne
geistesgeschichtliche Strömungen.

Der in Barcelona lehrende deutsche Sozialwissenschaftler Peter Wagner (geb. 1956) schließlich ist
ein weiterer prominenter Teilnehmer an der Debatte über die kulturellen Spannungen der Moderne.
758Seine an der Freien Universität Berlin entstandene Habilitationsschrift A Sociology of Modernity.
Liberty and Discipline aus dem Jahre 1994 (dt.: Soziologie der Moderne. Freiheit und Disziplin)
bietet eine historische Soziologie moderner Institutionen, wobei Wagner innerhalb dieser Moderne
wiederum zwischen verschiedenen Epochen unterscheidet, nämlich zwischen einer liberalen
Moderne des 19. Jahrhunderts, einer organisierten Moderne seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts und
einer seit etwa 1960 zu konstatierenden dauerhaften Krise dieser organisierten Moderne, die zur
Auflösung ehemals etablierter und zur Pluralisierung neuer institutioneller Praktiken geführt habe.
Wagner zeigt dabei in einer an Castoriadis und Touraine, aber auch an Foucault erinnernden Weise,
wie die für die Moderne so charakteristische Idee der Freiheit stets auch durch die diese Moderne
ebenso kennzeichnenden Disziplinierungspraktiken konterkariert wurde. Die Stärke seines Buches
liegt zweifellos darin, daß er diese konflikthafte Konstellation der Moderne nicht nur kultur- oder
philosophiegeschichtlich auszudeuten versucht, sondern tatsächlich auch institutionentheoretisch. Was
etwa in Touraines Werk immer fehlte, nämlich eine eingehende Beschäftigung mit Institutionen, wird
von Wagner, der die Wandlungen politischer und marktlicher Veränderungsprozesse ebenso behandelt
wie diejenigen im Wissenschaftsbetrieb, explizit zum Thema gemacht. Damit gelingt ihm ein
soziologisch reichhaltigeres Bild der Brüche und Konflikte in der Moderne, als dies bei den
französischen Anti-Strukturalisten bisher der Fall ist. Kritisch zu fragen bleibt allerdings, ob er sich
nicht mit der These vom Wechselspiel von Freiheit und Disziplin in ähnlicher Weise wie die
französischen Autoren einem Denken in Dichotomien unterworfen hat, das stets in Gefahr ist, die
Komplexität der Moderne und die Vielfalt ihrer Traditionen zu unterschätzen. Wichtig ist aber auf alle
Fälle sein Hinweis, daß die Moderne jetzt und auch in Zukunft durch unaufhebbare Spannungen und
Probleme gekennzeichnet ist und sein wird, für die es also keine generellen Lösungen geben wird:
»There is no end to disputes over justification, once different orders of justification are at play.«
(Wagner, Theorizing Modernity. Inescapability and Attainability in Social Theory, S. 10) Wagner
geht freilich insofern über eine bloß philosophische Konstatierung eines nicht zu überwindenden
Wertepluralismus hinaus (a.a.O., S. 19 f.), als er mit historisch-soziologischen Belegen zu zeigen
versucht, wie unterschiedliche Akteure in der 759Moderne zu je verschiedenen Zeiten auf diese
nicht-lösbaren Spannungen reagiert haben; sein derzeitiges Forschungsinteresse zielt deshalb – und
hier zeigt sich eine gewisse Nähe zu Toulmin und eine direkte Verknüpfung mit Joas – auf den Versuch
einer Historisierung jener von Dewey (und Rorty) ausschließlich ideengeschichtlich beschriebenen
Suche nach Gewißheit.

Sie werden nun festgestellt haben, daß im Rahmen des Diskurses über die kulturellen Spannungen der
Moderne höchst unterschiedliche Interpretationen möglich sind. Wir wollten Ihnen aber bewußt
machen, daß es weder in der Soziologie noch in der Geschichtswissenschaft die eine wahre und
endgültige Interpretation gibt. Vielmehr geht es um mehr oder weniger nachvollziehbare
Rekonstruktionen, deren Plausibilität auch kontextbezogen ist, weil beispielsweise für
unterschiedliche Autoren ebenso wie für verschiedene historische Generationen in der Deutung der
Geschichte unterschiedliche Aspekte interessant und wichtig sind. Andererseits muß dies nicht in
einen absoluten Relativismus führen: Denn wenn Sie sich die von uns dargestellten (historischen)
Interpretationen der Moderne genauer ansehen, werden Sie sicher feststellen, daß sie sich nicht
wirklich fundamental widersprechen, sondern durchaus auch ergänzen. Genau den gleichen »Konflikt
der Interpretationen« finden Sie nun auch beim gegenwärtig besonders wichtigen »Multiple-
Modernities«-Diskurs, der übrigens von der Debatte über die inneren kulturellen Spannungen
innerhalb der westlichen Moderne nicht ganz zu trennen ist.

b) Dem »Multiple Modernities«-Diskurs sind Sie schon in unserer Dreizehnten Vorlesung begegnet,
wo Shmuel N. Eisenstadt als der zentrale Bezugsautor dieser Diskussion vorgestellt wurde. Es gilt
nun hier, Ihnen andere wichtige Teilnehmer an dieser Debatte vorzustellen und einige der Probleme zu
benennen, mit denen man sich in dieser Diskussion ganz aktuell auseinandersetzt (vgl. für einen ersten
Überblick das »Multiple Modernities« betitelte Heft der amerikanischen Zeitschrift Daedalus, Winter
2000).
Die Debatte um die »Vielfalt der Moderne« ist sicherlich auch dem Kontext der Weber-Rezeption
entsprungen. Eisenstadt selbst ist ja stark durch Max Weber beeinflußt und hat schon frühzeitig
versucht, ein ähnlich ambitioniertes komparatives Forschungspro760gramm vorzulegen, wie dies
Weber in seinen Untersuchungen zur Soziologie der Weltreligionen zumindest zum Teil ausgeführt
hatte.
Webers diesbezügliches Untersuchungsprogramm war allerdings international – vielleicht mit
Ausnahme jenes Kreises um Parsons und seine Schüler, dem auch Eisenstadt angehörte – relativ
wenig bekannt, sondern wurde in den 1960er und 1970er Jahren vorwiegend in Deutschland
diskutiert. Hier war es vor allem Webers Rationalisierungstheorie, die das Interesse auf sich und den
Gesamtzusammenhang seiner vergleichenden religionssoziologischen Analysen zog. Wir haben ja
schon in der Zehnten Vorlesung darauf hingewiesen, daß sich Habermas rationalisierungstheoretischer
Gedanken Webers bediente, um eine evolutionstheoretische Deutung der Genese der Moderne zu
formulieren und um seine Zeitdiagnose von der Bedrohung der Lebenswelt durch die Systeme zu
plausibilisieren. Dieser Rückgriff auf die Webersche Rationalisierungstheorie wäre allerdings kaum
möglich gewesen, wenn nicht zuvor ein anderer deutscher Soziologe diese systematisch erschlossen
hätte: Die Rede ist von Wolfgang Schluchter (geb. 1938), der das Webersche Werk im wesentlichen
aus seinen religionssoziologischen Schriften und der darin enthaltenen hochkomplexen
Rationalisierungstheorie deutete und sich wie kein anderer darum bemühte, Webers Werk als
konkurrenzfähige Alternative in die zeitdiagnostischen Theoriedebatten einzubringen (Schluchter, Die
Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers
Gesellschaftsgeschichte von 1979; vgl. allerdings auch die Neuauflage von 1998 unter dem
charakteristischerweise veränderten Titel Die Entstehung des modernen Rationalismus. Eine
Analyse von Max Webers Entwicklungsgeschichte des Okzidents; das Vorwort dort, S. 9-37, gibt
Auskunft über die Gründe für die Veränderung).
Nun haben freilich rationalisierungstheoretische Deutungen der Moderne trotz des großen
Einflusses von Jürgen Habermas international relativ wenig Anerkennung gefunden. Zu groß war
offensichtlich der Verdacht, daß diese Webersche Rationalisierungstheorie ein Erbe des deutschen
Idealismus mit der dort zu findenden Idee einer eigenlogischen Entwicklung des Geistes sei. Ja, man
bezweifelte nicht selten überhaupt, ob die Weber-Deutung mit dem Nachdruck auf der
Rationalisierungstheorie tatsächlich angemessen sei: Britische Soziologen wie Anthony Giddens oder
Michael Mann schienen für den Konflikttheoretiker Weber wesentlich mehr übrig zu haben als für
den angeblichen Rationalisierungstheoretiker. In761sofern wird man kaum sagen können, daß die
überwiegend in Deutschland beheimatete rationalisierungstheoretische Diskussion wirklich geholfen
hätte, den »Multiple-Modernities«-Diskurs vorzubereiten. Dies geschah auch deshalb nicht, weil die
Webersche bzw. Habermas/Schluchtersche Rationalisierungstheorie lediglich als eine versiertere
Variante der Modernisierungstheorie betrachtet werden konnte, der »Multiple-Modernities«-Diskurs
hingegen insgesamt eine klar gegen die Modernisierungstheorie gerichtete Stoßrichtung hat.
Allerdings blieb Schluchter bei der rationalisierungstheoretischen Rekonstruktion des Weberschen
Werkes nicht stehen, sondern versuchte die Webersche Religionstheorie, seine Studien zum antiken
Judentum, zum Konfuzianismus und Taoismus, zum Hinduismus und Buddhismus, zum Islam und zum
antiken und okzidentalen Christentum mit dem heutigen Wissen der Sozial- und Geisteswissenschaften
zu konfrontieren. In einer Reihe von internationalen Konferenzen, an denen zumeist auch Eisenstadt
beteiligt war und aus denen dann jeweils hochkarätige Sammelbände (vgl. die von Schluchter
herausgegebenen Bücher im Literaturverzeichnis) hervorgingen, wurde dann deutlich, welche höchst
disparaten Gesellschaftsentwürfe in unterschiedlichen Regionen der Welt entstanden waren und wie
vielgestaltig sich deshalb gerade auch der Modernisierungsprozeß gestalten muß. Insofern war
Schluchter durchaus einer der Inspiratoren der Debatte um die »Multiple Modernities«.
Aus einer anderen Tradition als Eisenstadt und Schluchter ging der Autor hervor, von dem einige
der wichtigsten Beiträge zum Diskurs über die Vielfalt der Moderne stammen: Johann Arnason. 1940
in Island geboren, studierte er in den 1960er Jahren in Prag und kam nach dem Einmarsch
sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei im Jahr 1968, mit dem das Experiment eines
»Sozialismus mit menschlichem Antlitz« brutal beendet wurde, nach Deutschland, wo er sich im
Umkreis von Jürgen Habermas bewegte. Bis vor kurzem war er Professor für Soziologie an der La
Trobe University in Melbourne; er ist noch immer Herausgeber einer der international
interessantesten sozialtheoretischen Zeitschriften, nämlich Thesis Eleven.
Arnason begann seine wissenschaftliche Karriere als reiner Sozialphilosoph und wandte sich erst
in den späten 1980er Jahren energisch einer empirisch fundierten Analyse der Moderne zu. Dabei
762konnte er – immer zwischen der Habermasschen Theorie und den französischen Anti-
Strukturalisten wie Touraine und Castoriadis vermittelnd – seine zuvor gewonnenen
sozialtheoretischen Einsichten in überraschender Weise für die empirische Arbeit nutzbar machen. Er
legte u. a. ein wichtiges Buch über das sowjetische Gesellschaftsmodell vor (The Future that Failed.
Origins and Destinies of the Soviet Model von 1993) und konzentrierte sich gleichzeitig seit den
1990er Jahren zunehmend auf eine Analyse der Geschichte und Gesellschaft Japans und des
ostasiatischen Raums (vgl. Social Theory and Japanese Experience. The Dual Civilization von
1997; The Peripheral Centre. Essays on Japanese History and Civilization aus dem Jahr 2002).
Eine zentrale These war dabei – und hier greift er die Kreativitätsthesen von Castoriadis auf –, daß
sich die politische Geschichte dieser Regionen nicht als eine endogene Entwicklung begreifen läßt.
Vielmehr seien die »Entwicklungen« in der Sowjetunion ebenso wie in Japan als kreative
Gegenprojekte zur westlichen Moderne zu deuten, sei z. B. das sowjetische Gesellschaftsmodell als
ein schrecklich gescheiterter Versuch zu interpretieren, die westlichen Gesellschaften mit anderen,
nämlich totalitären Mitteln einzuholen und zu überholen.
Arnason übernimmt zwar in mancherlei Hinsicht Eisenstadts zivilisationstheoretischen Ansatz,
weil auch er davon überzeugt ist, daß man ganze Zivilisationen und die dort vorfindlichen kulturellen
Spannungen betrachten müsse, um die Dynamik der darin befindlichen Gesellschaften verstehen zu
können; aber er modifiziert diesen Ansatz an einer entscheidenden Stelle. Einer seiner Kritikpunkte
lautet nämlich, daß Eisenstadt die Idee der Achsenzeit zu sehr als ein kulturelles Programm begriffen
habe, das in einer Zivilisation relativ unabhängig von anderen Ereignissen und somit autonom
ablaufe. Arnason hingegen schlägt eine Zivilisationstheorie in »prozessualem Gewande« vor, die
auch den Zivilisationskontakt als wichtige Variable berücksichtigt und insofern eine dezidiert trans-
zivilisationelle und auch transnationale Stoßrichtung erhält – nicht unähnlich den Absichten, die
Wallersteins Weltsystemtheorie zugrunde lagen, die aber durch dessen Ökonomismus nie
zufriedenstellend verwirklicht werden konnten. Daraus ergibt sich ein wesentlich dynamischeres Bild
der Wandlungsprozesse: Anstatt – wie Eisenstadt – etwa der japanischen Entwicklung eine
archaische Logik unterzuschieben, stellt Arnason eher die in vielen Perioden der japanischen
Geschich763te so erfolgreiche Strategie der Übernahme und Verarbeitung fremder kultureller Muster
in den Mittelpunkt seiner Analyse (vgl. hierzu auch Knöbl, Spielräume der Modernisierung,
S. 330 ff.).
In jüngster Zeit ist Arnason dazu übergegangen, auch das zum Thema zu machen, was bei
Eisenstadt immer unausgesprochen blieb, nämlich die Angemessenheit des Zivilisationsbegriffes.
Eisenstadt hatte unterstellt, daß es – bedingt durch religiöse Entwicklungen – Zivilisationen
schlichtweg gibt und diese gleichzeitig die Bezugseinheiten für die soziologische Analyse sind. Nun
wurde Eisenstadt von uns – in der Dreizehnten Vorlesung – eben dafür kritisiert. Unser Argument war,
daß der Zivilisationsbegriff auch nicht sehr viel klarer sei als der »traditionelle« soziologische
Begriff der »Gesellschaft«. Selbst wenn heutzutage die Rede vom Ende des Nationalstaates modisch
geworden ist und der an den Nationalstaat gekoppelte Gesellschaftsbegriff zu Recht zunehmend in
Frage gestellt wird, so dürfen doch nicht einfach andere unklare oder schwammige Begriffe an die
Stelle jenes Gesellschaftsbegriffs treten. Arnason greift nun genau diese Kritik auf und versucht in
seinem Buch von 2003 (Civilizations in Dispute. Historical questions and theoretical traditions)
erst einmal zu einer Bestandsaufnahme der verschiedenen in den Sozialwissenschaften verwendeten
Zivilisationsbegriffe zu kommen und dann deren Stärken und Schwächen herauszuarbeiten. Wie auch
immer man das Ergebnis von Arnasons Analysen einschätzen mag, klar dürfte sein, daß sich die
derzeitige Attraktivität des zivilisationstheoretischen Ansatzes in der Debatte um die »Multiple
Modernities« nur durch derartige theoretische Anstrengungen und begriffliche Klärungen erhalten
läßt.

Neben der Frage der Angemessenheit des Zivilisationsbegriffs ist die Debatte um die »Multiple
Modernities« noch durch eine weitere Kontroverse geprägt: Heftig diskutiert wird nämlich auch die
Frage der Gewichtung kultureller und struktureller Faktoren bei der Erforschung sozialer
Wandlungsprozesse. Mit dem Zivilisationsbegriff ist ja zumeist eine sehr starke Betonung kultureller
Faktoren gegeben, zumal dann, wenn dieser – wie bei Eisenstadt und seiner Achsenzeit-These –
religionssoziologisch eingeführt ist. Man kann freilich auch fragen, ob eine solche Perspektive nicht
einiges verkürzt oder verzerrt. Hat etwa die Wallersteinsche Weltsystemtheorie trotz aller dort zu
findenden ökonomistischen Argumente nicht doch 764ihre Berechtigung insofern, als sie gerade die
ökonomischen Entwicklungshindernisse – und damit strukturelle wie gleichzeitig exogene Faktoren –
für die Länder außerhalb Nordamerikas und West- bzw. Mitteleuropas zum Thema gemacht hat? Der
schwedische Soziologe Göran Therborn (geb. 1941) hat dieser Problematik eine besondere Wendung
gegeben. Er hat zu zeigen versucht, daß man durchaus im Sinne von Eisenstadt von mehreren Pfaden
in bzw. durch die Moderne sprechen kann, ohne deshalb jene endogene Perspektive der
Eisenstadtschen Zivilisationstheorie mit ihrer fast ausschließlichen Betonung kultureller Faktoren
aufzunehmen und ohne den Ökonomismus Wallersteins zu teilen. Therborn spricht von vier solchen
Modernisierungspfaden, von der europäischen Modernisierung, von der Modernisierung der Neuen
Welt (Nord- und Südamerika, Australien, Neuseeland), von der durch exogene Faktoren induzierten,
aber autonom vollzogenen Modernisierung beispielsweise Japans und der gewaltsamen
Modernisierung in den sogenannten »Kolonialgebieten«, dem Rest der Welt also, wo die Moderne
buchstäblich »aus den Gewehrläufen« kam mit all den daraus folgenden kulturellen Traumata
(Therborn, Die Gesellschaften Europas 1945-2000, S. 21; vgl. auch ders., »The Right to Vote and the
Four World Routes to/through Modernity«, 1992). Wie auch immer man zu diesem Vorschlag
Therborns stehen mag, sicher erscheint auf jeden Fall, daß ein solcher auch die höchst gewaltsame
Kolonialgeschichte ernst nehmender Ansatz andere und nicht weniger wichtige Aspekte der Moderne
in den Blick bekommt als die überwiegend endogen »funktionierende« zivilisationstheoretisch-
kulturalistische Herangehensweise Eisenstadts. Deshalb ist zu erwarten, daß sich auch in Zukunft
zentrale Argumente innerhalb der Debatte um die »Vielfalt der Moderne« genau um jene Gewichtung
von strukturellen und kulturellen, von endogenen und exogenen Faktoren drehen werden. Ein weiterer
schwedischer Soziologe und Politikwissenschaftler, Björn Wittrock (geb. 1945), versucht derzeit in
einer Reihe tiefschürfender Arbeiten, durch eine diskurstheoretisch und wissenssoziologisch belehrte
Kulturtheorie und in universalgeschichtlicher Perspektive hier Neuland zu erschließen (Wittrock,
»Modernity: One, None, or Many? European Origins and Modernity as a Global Condition«).

765c) Therborns Verweis auf die »Gewehrläufe« und die gewaltsame »Modernisierung« vieler Teile
der Welt macht schon deutlich, daß weder eine adäquate Theorie sozialen Wandels noch eine
plausible Zeitdiagnose heute ohne eine Berücksichtigung makrosozialer Gewalt auskommen kann.
Schon der kurze Hinweis auf Toulmins »Kosmopolis« hat deutlich gemacht, daß selbst wesentliche
kulturelle Errungenschaften der Moderne ohne eine Einbeziehung der europäischen (und
amerikanischen) Gewaltgeschichte nicht zu verstehen sind. Es wird deshalb für die Sozialtheorie
gerade in Zeiten internationaler Instabilität, in denen Krieg wieder zu einer fast normalen politischen
Option geworden zu sein scheint, enorm wichtig werden, sich intensiv diesem Aspekt zu widmen.
Dies ist bisher noch nicht in ausreichendem Maße geschehen. Natürlich gab es Versuche etwa von
Giddens, Joas und eben Toulmin, diese dunkle Seite der Moderne zu berücksichtigen; doch insgesamt
fehlt in der Sozialtheorie und Soziologie das Sensorium dafür, die Thematik von Krieg und Frieden in
gegenwartsbezogenen Analysen anzugehen. Man überläßt dies eher der benachbarten
Politikwissenschaft, die in diesem Feld allerdings – sieht man von jenem Spezialbereich der
Internationalen Beziehungen ab – häufig auch nicht allzu interessiert wirkt. Vergessen wird darüber,
daß nicht wenige der Gründerväter der Soziologie in ihren Arbeiten gerade diese Thematik immer
auch mitdiskutiert haben. Lediglich in der britischen Sozialtheorie – wir haben hier unter anderem auf
das Werk von Michael Mann und dessen theoretisches Instrumentarium der vier Machtnetzwerke
hingewiesen, das der militärischen Macht eine erhebliche Bedeutung zugesteht (vgl. die Zwölfte
Vorlesung) – ist überhaupt der Versuch gemacht worden, eine systematische Begrifflichkeit zur
Formulierung einer gewaltsensiblen Theorie sozialen Wandels vorzulegen. Angesichts der nach dem
Ende des kalten Krieges wachsenden Bedeutung kriegerischer Konflikte scheint dies aber insgesamt
zu wenig zu sein für eine Sozialtheorie mit zeitdiagnostischem Anspruch. (Als Gegenwartsdiagnose
vgl. jetzt Michael Mann, Incoherent Empire; dt.: Die ohnmächtige Supermacht.)
Eine intensive Beschäftigung mit der Thematik des Krieges ebenso wie eine solche mit den
anderen dunklen Seiten der Moderne ist aber auch deshalb von so großer Bedeutung, weil es für die
Sozialtheorie darauf ankommen wird zu klären, welchen Maßstab sie an die Geschichte anlegt und
woher sie ihre normativen Maßstäbe 766gewinnt. Denn wenn es zweifellos nicht zutrifft, daß sich –
wie Modernisierungstheoretiker annehmen – die normativen Errungenschaften der Moderne mit
Sicherheit durchsetzen (Joas, Kriege und Werte, S. 84 ff.); wenn es also nicht zutrifft, daß sich
beispielsweise Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ohne Widerstand etablieren werden oder
daß selbst im Westen diese Werte für immer und ewig gesichert sind, dann stellt sich mit neuer
Schärfe die Frage, ob sich überhaupt von einem gesellschaftlichen Fortschritt sprechen läßt.
Inwieweit kann die Rede von moralischen Lernprozessen bezogen auf ganze Gesellschaften überhaupt
angemessen sein? Muß man nicht, wozu postmoderne Autoren neigen, eine solche Frage schlichtweg
für sinnlos erklären bzw. wie Anthony Giddens eine radikal diskontinuierliche Geschichtsbetrachtung
übernehmen? Oder ist hier ein anderer Ausweg denkbar, weil die Subjekte ihre eigene Geschichte
interpretieren, vor dem Hintergrund ihres Geschichtsbildes die Gegenwart gestalten und somit auch
immer – zumindest teilweise – Kontinuität wahren zur Vergangenheit, ihren Hoffnungen und
Erfahrungen, ihren Errungenschaften und ihrem Leid? Wenn man nicht mehr davon ausgehen kann, daß
die Geschichte auf ein Ziel hinsteuert, das alles Gute und Schöne verkörpert; wenn man nicht mehr
glaubt, daß die Geschichte gleichzeitig auch den moralischen Fortschritt in sich trägt, dann ist es
unumgänglich, daß die Sozialtheorie ihre normative Position unabhängig von allen evolutionistischen
und teleologischen Unterstellungen gewinnt.
Mit einer bloßen Beschreibung des vergangenen und gegenwärtigen Geschehens jedenfalls wird sie
letztlich nicht auskommen. Vielmehr werden sich normative Fragen immer wieder unabweisbar
»aufdrängen«. Wenngleich die Antworten von Parsons und der soziologischen Klassiker nicht einfach
übernommen werden können, bleiben doch ihre Fragen konstitutiv für die Sozialwissenschaften. Die
Vermittlung von Normativität und Geschichte ist und bleibt somit eine zentrale Frage des
Selbstverständnisses der Sozialtheorie und ihrer Aufgaben in der Moderne.
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802Sachregister

Achsenzeit 452-462, 576, 762 f.


Agil-Schema/-Modell 118-121, 128-130, 133, 388
Akteur(e) 50, 56-61, 64 f., 83-85, 93, 96, 98, 102, 104, 125 f., 136, 143, 145-148, 152, 154-156, 162 f., 174, 176-181, 184, 190, 196 f., 202,
217-219, 221-228, 234, 238, 240 f., 244 f., 258, 271, 282, 320-322, 330, 332 f., 336- 339, 369, 372, 374-376, 386, 389, 401, 403, 408 f.,
412-415, 419, 421, 425-427, 446-452, 457, 460, 465, 524-532, 535 f., 539, 542-544, 547 f., 580, 583, 651 f., 666, 695, 717-719, 722, 733,
740-742, 744 f., 748 f., 758
- Akteurskonstellation(en) 458 f., 462
- kollektive A. 176, 178, 218, 282 f., 291, 320-322, 346, 421, 582, 651, 682, 751f.
- korporative A. 179, 586, 730
Anerkennung 201, 536, 601, 735- 738, 743
Arbeit 123, 302 f., 305-311, 318, 326, 334, 514, 566-568, 580 f., 602, 754 f.
- Arbeiterbewegung 398, 582 f., 732
- Arbeitskraft/-kräfte 61, 92 f., 272, 489, 539, 568
- Arbeitssoziologie 214
- Arbeitsteilung/arbeitsteilig 102, 134, 259, 276 f., 279, 602, 606, 620, 644, 671
Autonomie/autonom 85, 214 f., 382, 409, 425, 448, 478, 528, 565, 569, 574-578, 581 f., 587, 590, 606, 630, 652 f., 709, 716, 729, 731, 733,
754, 762, 764
Autopoiesis/autopoietisch 351, 382-384, 388, 710, 731

Bewußtsein 186-189, 229-231, 329, 364, 384, 406 f., 533, 689- 691, 694, 705, 713-716
- Bewußtseinsphilosophie 186- 188, 534
- Kollektivbewußtsein 69
- moralisches B. 317, 607
- Selbstbewußtsein 190 f., 198, 624
Bürokratie/bürokratisch 136, 140, 344, 365, 369-374, 447, 451, 635, 656-660, 709, 750
- Bürokratisierung 278, 559

Cartesianismus/cartesianisch 186-188, 493, 699, 711, 756


- cartesianischer Dualismus 188, 691, 711
- cartesianischer Zweifel 186- 188, 625
Charisma 442-445, 473, 706
Chicago School of Sociology/Chicagoer Schule 185, 192, 206, 212, 217, 442, 475 f., 687

Demokratie/demokratisch 124, 135-137, 140, 168 f., 255 f., 294 f., 298, 319, 346 f., 377, 391, 405, 424, 431, 444, 511, 574 f., 582, 588-592,
659, 676 f., 679 f., 684-686, 695 f., 698, 702, 705, 724, 730-732, 744, 746, 751, 754f., 766
- Demokratietheorie/demokratie803theoretisch 168, 575, 590 f., 597, 695, 697, 744
- Demokratisierung 283, 391, 424 f., 431, 652, 680, 718
Dependenztheorie 466 f.
Differenzierung/Ausdifferenzierung 134-136, 340 f., 343, 345, 348, 371, 376, 385, 388, 390 f., 426 f., 449 f., 454, 464, 469-471, 545, 548,
588, 590, 645, 650-652, 671, 718, 727 f.
- Differenzierungstheorie/differenzierungstheoretisch 259, 341, 471, 546 f., 650 f., 718 f., 728, 744
- Ent-/De-Differenzierung 449, 471, 645
- funktionale D. 119, 376, 379, 382 f., 386, 389 f., 426 f., 652, 728 f., 731
Diskurs(e)/Diskurstheorie 34, 328 f., 333, 347-349, 472, 501-506, 508, 512 f., 549, 554-556, 596, 626-633, 636, 671, 673, 709, 723-725,
741-743, 761
- Diskursethik 596 f., 611, 688, 724
Distinktion 273, 537, 545, 550-554
Disziplinierung/disziplinierend 397, 425, 499 f., 502, 508, 758
Ethnomethodologie 83, 183 f., 220-251, 266, 274, 284, 294, 309, 314, 335, 364, 374, 403, 405, 407, 412, 419, 430, 529, 547, 598, 615 f., 618,
620-622, 626 f., 632, 634, 637, 703, 740, 744, 749
Evolution/Evolutionstheorie 132, 136, 253, 259, 283, 316-318, 322, 339-341, 343, 382 f., 400, 426-428, 430, 432, 450, 452, 463-465, 470,
651, 735, 760
- evolutionäre Universalien 136, 140
- Evolutionismus/evolutionistisch 68, 73, 79, 131 f., 136, 318, 427, 452, 504, 766
Existentialismus 231, 477, 493, 559, 703
- »christlicher Existentialismus« 593

Falsifikation/falsifizieren 21-30, 32 f., 36, 93, 148, 158, 301


Feld 527-530, 535 f., 542-550, 554, 556
Feminismus 250, 276 f., 508, 598- 638, 736
Funktion (siehe auch Differenzierung, funktionale) 90-94, 104, 116-123, 126, 128-130, 133-135, 156, 342 f., 355-359, 363 f., 366, 373-377,
383, 385, 426 f., 443, 471, 529, 563 f., 731
- Dysfunktionen/Funktionsstörungen 264, 310, 345
Funktionalismus/funktionalistisch 90-95, 105-107, 116 f., 119, 122, 129 f., 135, 140, 149-152, 156, 178, 185, 197, 203- 206, 214, 217, 221,
254 f., 257, 260, 264, 266, 268, 271, 273, 276, 320-324, 339 f., 342, 351, 353, 356, 358-360, 363, 382, 384, 386, 393-395, 401, 412- 415,
418-421, 426 f., 446-449, 464 f., 469-471, 527, 529-531, 549, 560, 563 f., 657, 718, 750
- Äquivalenzfunktionalismus/funktionale Äquivalenz 358- 360, 366, 375
- Neo-Funktionalismus 42, 470- 472
- normativistischer F. 72, 90, 94 f., 104, 107, 128, 395
804- Strukturfunktionalismus 95, 105 f., 183, 212, 252, 254, 259 f., 262, 264, 268, 354 f., 444, 446, 449, 464 f., 471
- Systemfunktionalismus (siehe auch System) 309, 356

Geld 122-127, 340 f., 343 f., 348, 364, 387, 573
Geltungsanspruch/-ansprüche 325-331, 342, 411, 419, 611
Gender (siehe auch Sex) 599 f., 613-620, 622-624, 626 f., 632, 634, 638
Geschlecht(er)/geschlechtlich (siehe auch Gender, Sex) 270, 275-279, 549, 599-606, 610, 612-623, 626-630, 632 f., 649, 665
- Geschlechterverhältnis/-beziehung 10, 275 f., 279, 601-604, 606, 622, 635
- Geschlechtsidentität 605 f., 614-616, 619, 626 f., 632
- Geschlechterrolle(n) 276, 649
Globalisierung 16, 29, 399, 427 f., 522, 554, 584, 650 f., 663 f., 728 f.
- Globalisierungskritik(er), -gegner 88, 522, 550, 554, 584

Habitus 533-536, 542-545, 547 f., 551, 553 f., 556


Handeln/Handlung
- affektuelles/affektives H. 108, 110, 113 f., 544, 706, 708
- expressives H. 77-79, 200, 276, 344
- instrumentelles H. 276, 307, 326, 330-333, 335 f., 339
- kollektives H. 163, 165 f., 169-171, 173, 212-214, 258, 322, 465, 580, 654, 681 f., 717
- kommunikatives H. 305, 307, 311, 330-336, 339, 347, 544, 569 f., 709 f., 737
- nutzenorientiertes H. (siehe auch Utilitarismus) 48-51, 53-57, 67, 75, 81, 143-149, 156-158, 161-165, 171 f., 178, 180 f., 280
- soziales H. 13, 37 f., 63, 105, 133, 178, 212, 217, 226, 516, 709
- strategisches H. 280, 309, 330-333, 335 f., 339, 708, 710
- traditionales H. (siehe auch Tradition) 108, 110, 706, 708
- wertrationales H. (siehe auch Werte) 108, 110, 580, 706, 708
- zweckrationales H. (siehe auch Zweckrationalität) 70, 108, 110, 280, 307-311, 313, 323, 334, 342, 369, 373, 544, 706, 708, 710
- Handlungsfolgen 83-85, 162, 177, 336-339, 372, 412, 427, 711
- Handlungskoordinierung/Koord. v. Handlungszielen 57-59, 66, 99, 126, 227, 298, 331, 336-339
- Handlungssituation 65, 83, 96, 174, 183 f., 188 f., 221, 226, 329-333, 337, 695, 712 f., 722 f.
- Handlungsstrom 406
Handlungstheorie/handlungstheoretisch 48-50, 56 f., 59 f., 65, 74-77, 85, 94, 96, 107 f., 112, 116 f., 129, 140, 174, 185, 188, 196-199, 202,
208, 216 f., 220, 223-225, 231, 243, 246 f., 262, 264, 293, 320-323, 329 f., 333, 336, 355 f., 363, 371-375, 386, 401, 403, 405, 408, 410 f.,
413, 415, 418 f., 421, 425, 429, 441, 446 f., 452, 465, 470, 516, 523, 526 f., 529-532, 542 f., 569 f.,
621, 650, 682, 695, 702-714, 716 f., 719, 723, 727, 730 f., 734, 738 f., 742, 747
805- handlungstheoretischer Bezugsrahmen (action frame of reference) 64-66, 77, 79, 82 f., 87, 89, 96, 108, 129, 200, 221, 412
- voluntaristische H. 44, 59 f., 65 f., 68, 70, 75 f., 82, 86, 89, 260, 468
Hermeneutik/hermeneutisch 291-294, 305, 322, 351, 484 f., 511, 593 f., 655, 725
Herrschaft 52, 62, 159 f., 169 f., 263, 265, 267-270, 275 f., 280-282, 298, 300, 305, 339, 347 369, 394, 400, 416 f., 420 f., 423-425, 454,
539, 549 f., 587, 598, 603, 630, 684, 740
- herrschaftsfrei 513, 611, 671
- Herrschaftssoziologie 259-261, 706, 740
Heteronomie/heteronom 574, 577, 754
Historische Soziologie 282 f., 396 f., 749

Identität/Identitätsbildung 190-192, 207, 209, 216, 327, 348 f., 428, 511, 534, 547, 585, 587 f., 591, 594 f., 597, 606, 627-630, 673, 675, 721,
734, 736, 744, 754 f.
- Identität des Geschlechts siehe Geschlechtsidentität
Imaginäre, das 562, 571-574, 576-578
Individualisierung 16, 586 f., 640, 646 f., 649-654, 664, 677
Individualismus/individualistisch (theoretisch) 9, 49, 73, 145, 172 f., 507, 580, 671-674
- antiindividualistisch 151, 156
Individualismus (als Zeitphänomen) 138, 654, 676-679
Inkommensurabilität/inkommensurabel 31-34, 513, 693, 700, 747
Institutionen/institutionell 101, 103, 119, 121, 126, 134, 136, 140, 151 f., 159 f., 167, 201, 203, 209, 212, 218, 256, 299-301, 308-312, 320,
362 f., 365, 371, 391, 394-396, 417, 424-426, 437, 443, 445, 449 f., 504, 549, 563 f., 571 f., 574, 576, 583, 588, 592 f., 609, 622, 631, 634,
636, 647, 660 f., 664, 666-668, 671, 674, 676, 685, 696, 724, 733-736, 747-750, 757 f.
- Instituierung 562, 564, 573 f., 581
- Institutionalisierung 99, 103, 106, 113-115, 151, 198, 262 f., 358, 390, 448 f., 575, 581, 583, 631, 751 f.
- (Neuer) Institutionalismus 747-750
- totale I. 208 f., 417
Integration/integrativ 117-119, 128-130, 134, 203, 254, 263 f., 336-338, 347-349, 357, 376 f., 396, 398, 448 f., 469 f., 499, 547, 724, 733
- Sozialintegration vs. Systemintegration 337 f., 395 f., 418 f., 635
Internalisierung 74, 99, 106, 198, 205, 224 f., 227 f., 733
Interpretative Ansätze/interpretatives Paradigma 183-252, 275, 283, 339 f., 393, 740, 742 f.
Intersubjektivität/intersubjektiv 21, 190, 193, 197, 202, 305, 314, 328, 412, 561, 611, 673 f., 688, 705, 715 f., 738

Kapitalformen (bei Bourdieu) 536-545, 550, 556


- kulturelles Kapital 539-541, 551
806- ökonomisches Kapital 536-541
- soziales Kapital 539 f.
- symbolisches Kapital 537-540
Kapitalismus/kapitalistisch 28 f., 41, 52, 87 f., 91, 93, 147, 163, 273, 291, 298, 302, 308, 310-312, 315, 319, 337, 339, 345, 402, 423 f., 431,
501, 532, 537-539, 559, 566-569, 577, 582, 585, 601 f., 642, 646, 656, 738, 743, 754
Kommunikation 190 f., 194, 197 f., 201, 238 f., 241, 247, 297-299, 306, 308 f., 311, 341-344, 411 f., 525, 571, 587 f., 683, 692, 695, 705,
715 f., 724, 735, 737
- K. (systemtheoretisch) 365, 376, 384-386, 389, 427, 728
- kommunikative Vernunft/Rationalität (siehe auch Handeln, komm.) 325, 347 f., 737
Kommunitarismus 8, 350, 591, 597, 612, 637, 639, 664 f., 671, 674 f., 680, 683-686, 720, 722-725, 754
Komplexitätsreduktion 362-364, 374 f., 377, 386
Konfliktsoziologie/-theorie 215, 250, 251-283, 284, 288-290, 314, 393-396, 399-401, 404, 417, 430, 448, 536 f., 542, 546, 548, 579, 598, 681,
688, 717, 733, 735 f., 749, 760
Kontingenz/kontingent 200, 204, 248, 258, 352, 366, 368, 450, 452, 459, 471, 491, 664, 696 f., 719, 721-724, 740
Konvergenzthese 43-45, 47, 66, 72-74, 79 f., 82, 259
Körper 191, 237, 409-411, 425, 499 f., 533, 547, 549, 619-621, 633, 709, 711-716
- Körper-Geist-Dualismus (siehe auch cartesianischer Dualismus) 691, 711, 714
- Körperlichkeit 237, 335, 410-412, 418 f., 561, 712, 717
- Körperschema/-bild 713-716
Kreativität/kreativ 204, 224, 335, 374, 447, 534, 545, 562-566, 569-571, 573-576, 580, 585, 695, 705-708, 710-713, 717-719, 743, 762
Krieg 52 f., 55, 176, 202, 269, 399-401, 404, 476, 515, 588, 659, 719, 721, 754, 762
- K. aller gegen alle (bellum omnium contra omnes) 51 f., 227
Krisenexperiment (breaching experiment) 235-238, 242 f., 246
Kritische Theorie (Frankfurter Schule) 284, 295-298, 303, 306, 323, 334, 345, 404, 655, 658, 705, 735, 738

Labeling-Theorie 211, 274


Lebenswelt 232-235, 309 f., 332, 335-348, 364, 414, 479, 635 f., 646, 735, 760
- Kolonialisierung der L. 343-345
- Lebenswelt vs. System siehe unter System
Liberalismus/liberal 54, 294, 309, 402, 555, 575, 584, 591, 597, 639, 662, 671-676, 683, 685 f., 695-698, 722-725

Macht(verhältnisse) 31, 33, 52, 55, 69, 122-127, 159 f., 211, 213 f., 217, 251, 260 f., 263, 265, 271, 274-276, 280, 282 f., 298, 325, 340-344,
348, 393 f., 396-399, 401, 404, 408, 413, 415-418, 420-425, 427, 442 f., 445, 447, 807500-508, 537, 549, 554, 579, 598, 602, 610, 619,
624 f., 629-631, 633, 635, 637, 639, 659, 662, 666-669, 682, 721, 735, 740, 745, 749, 751, 765
- Machtnetzwerke 398 f., 401, 423, 765
- Machtsoziologie 393, 396 f.
Marxismus 28 f., 92, 155, 163 f., 257-259, 261, 267-270, 276, 286-291, 294-296, 298, 301 f., 306-309, 313-316, 318-320, 322, 343, 367 f.,
396-400, 403, 423, 427, 431 f., 437, 466 f., 495, 512, 514 f., 529, 536 f., 542, 554, 558-560, 564-567, 569, 572, 576, 580, 602 f., 655 f.,
682, 703, 705, 728, 733, 736, 743
- Weber-Marxismus 267, 397, 402
Medien (symbolisch generalisierte) 122-128, 130, 340-342, 344, 383, 415
Metaerzählung 512 f., 624, 640
Mittel (means; siehe auch Zwecke) 50 f., 58, 64-67, 70, 82 f., 86, 154, 177, 181, 200, 298, 324 f., 330-332, 334, 369, 372, 394, 407, 710 f.,
717
Modernisierung 140, 400, 431, 435, 437, 439, 442 f., 447, 450, 452, 462 f., 577, 586, 588 f., 642, 645, 647 f., 651, 720, 738, 746, 761, 764f.
- Modernisierungstheorie 8, 115, 132 f., 137, 430-442, 444, 446 f., 449-452, 459, 462 f., 465-468, 471, 508, 576, 653, 719, 753, 761, 766
- reflexive M. 641, 648
Mustervariablen (pattern variables) 108, 110-116, 119, 132, 431-434, 440, 463
Nationalstaat 11, 29, 164, 386, 398 f., 421-424, 589, 646, 729, 757, 763
Norm/normativ (sozialtheoretisch) 60-67, 69 f., 75, 77-79, 82 f., 85, 90, 95, 98 f., 103 f., 106, 109, 115, 121, 151, 155 f., 159 f., 162, 172 f.,
178 f., 183-185, 196, 198-200, 208, 213, 222-228, 235, 241-243, 251, 260-263, 268 f., 273 f., 279 f., 313, 326-333, 336 f., 339, 341 f.,
344, 349, 356 f., 366 f., 377 f., 394-396, 407, 419, 422, 469, 488, 500, 544, 546 f., 570, 575, 579-581, 611, 674, 685, 695, 697, 701, 707-
710, 713, 717, 722-724, 729, 733, 737 f., 741, 743 f., 749
- Normativismus (siehe auch Funktionalismus, normativistischer) 79, 156, 203, 223, 251 f., 254, 260, 356 f., 376, 378, 402, 569-571, 579
Normativität/normativ (in wissenschaftl./pol. Aussagen) 10 f., 14, 17, 140, 148 f., 180, 288, 291, 304, 328, 365 f., 437, 574 f., 581, 588,
592, 598 f., 606, 609, 615, 619, 630, 635, 637, 651, 664-667, 675, 682, 684-686, 719, 729, 765 f.
Nutzen siehe Utilitarismus

Öffentlichkeit/öffentlich 123 f., 299-301, 310, 365, 499, 543, 575, 631, 634-636, 643, 645, 662, 666 f., 675-677, 680, 684 f., 695, 698, 742,
746
- öffentliche Güter (Kollektivgüter) 163-168, 172, 174, 731
Ordnung (soziale/gesellschaftliche), Ordnungstheorie 37 f., 53-64, 66, 82, 89 f., 94-96, 808100-103, 105-108, 112 f., 115-117, 121 f., 129,
133, 135, 140, 143, 148 f., 160, 162, 185 f., 227 f., 242 f., 247, 251 f., 261, 263 f., 267, 271, 322, 324, 335-340, 347, 356, 366, 394, 401 f.,
412-415, 418 f., 421 f., 426, 429, 443-445, 455 f., 516, 579, 587, 599, 674, 729, 735, 740 f.
- factual order 60-62, 262, 336
- negotiated order 218, 371, 373, 417
- normative order 60-62, 262, 336
Organisation(en) 155, 163, 165-171, 179, 201-203, 209, 218 f., 259, 320 f., 353, 358, 365, 369-374, 660, 663, 688, 709, 748 f.
- Organisationssoziologie 160, 353, 369 f., 372 f., 379, 688, 748 f., 751 f.

Paradigma, Paradigmenwandel/-wechsel 31-35, 246, 513, 624, 693, 700 f., 747
Phänomenologie 184, 228-234, 251, 309, 337 f., 364 f., 406 f., 476 f., 493, 503, 509, 518, 529-531, 561, 593 f., 681, 703
Parsonianismus 8, 140, 155, 161, 221, 226, 263, 280, 283 f., 353-355, 365, 398, 430, 441, 445 f., 451, 462, 464 f., 467 f., 470, 472, 580, 665,
687
- Neoparsonianismus (siehe auch Neo-Funktionalismus unter Funktionalismus) 8, 42, 429, 665
Positivismus/positivistisch 20-23, 33, 44, 50, 57-59, 65, 68-70, 76, 225, 229, 260, 304, 582
- Positivismusstreit 287, 303-305
Postmoderne/postmodern 216, 324 f., 347, 511-515, 595, 614, 623-625, 630, 634, 639, 655, 660-664, 703 f., 746 f., 753, 766
Präferenzen 145 f., 172, 200, 208, 226, 535, 544
Pragmatismus 8 f., 74, 85, 184-190, 192 f., 208, 215, 217, 219, 223, 228, 251, 305, 329, 334 f., 364, 366, 372-374, 406 f., 410 f., 533, 579,
686-689, 691, 694 f., 698 f., 701-705, 707, 710-712, 715, 717 f., 722 f., 734
- Neo-Pragmatismus 79, 86, 201, 329, 335, 350, 515, 686, 687-725
Praxis, Praxisbegriff 288, 302 f., 306-308, 334, 505, 518, 523-526, 529 f., 532 f., 543, 570 f., 596, 627 f., 692 f., 699, 703
- praktische Philosophie 666 f.
Professionen 87 f., 114, 214 f., 273 f., 654
- Professions- und Berufssoziologie 205, 214, 218, 273 f., 727

Rational-Choice-Theorie 23, 25, 36 f., 149, 168-174, 176, 178, 180 f., 183, 279, 284, 314, 324, 339, 412, 531, 533, 749
Rationalisierung/Rationalisierungstheorie 147, 273, 296-298, 311, 334, 459, 576 f., 585, 588, 718, 760 f.
Recht/rechtlich 134, 136 f., 140, 278-280, 292 f., 300, 344, 347-349, 377 f., 382 f., 385, 387, 391, 440, 549, 588, 631, 636 f., 647, 724, 736,
766
- »das Rechte« 611, 672-675, 722-724
- Rechtssoziologie 353 f., 369, 379, 688
Religion/religiös 82, 130, 134, 137- 809139, 171, 193, 263, 280, 298, 328, 346, 348-350, 367, 382, 387, 391, 421, 434, 439, 447, 451-456,
458-464, 527 f., 574, 576, 585, 589, 668 f., 676 f., 719, 721, 744, 756 f., 763
- Religionssoziologie 139, 253, 260, 334, 476, 760f., 763
Ressourcenmobilisierungsansatz 172 f., 213, 275, 279, 717
Risikogesellschaft 639-649, 653 f.
Rollen(theorie) 101-105, 111, 116, 133, 151 f., 191 f., 199, 206, 223 f., 227, 254, 276, 378, 431 f., 436, 440, 610, 617, 647, 649
- Rollenübernahme (role-taking) 192, 224, 715
Routinen (habits) 82 f., 213, 361-363, 409-411, 443, 533, 707, 711 f.

Säkularisierung 137-139, 349, 442, 463, 589, 719


Sex (siehe auch Gender) 600, 613-620, 623, 626, 632, 634, 638
Solidarität 126, 348, 487, 489, 664, 696-698
- mechanische S. 112, 432
- organische S. 112, 432, 586
(Neue) Soziale Bewegungen 105, 169-173, 212-214, 252, 256-258, 275, 278 f., 344, 346, 387-391, 465, 582-584, 587, 589-593, 630 f., 636,
680, 684, 717, 732 f., 744
- Frauenbewegung siehe Feminismus
Sozialisation, Sozialisationstheorien 99, 105, 146, 190, 205, 207, 261, 511, 533, 539, 578, 587 f., 608, 715, 737
Sozialtheorie 9, 11-16, 35-38, 405, 507, 511, 516, 579, 590, 592 f., 597-600, 603 f., 637, 666, 686, 688 f., 698, 702, 704 f., 720, 725 f., 741,
745, 765 f.
Spieltheorie 173-176, 330 f., 415
Sprache 191, 193, 226, 239-241, 297 f., 300-303, 312, 325 f., 332, 334, 339 f., 342, 347, 365, 411, 479-485, 489 f., 492 f., 507, 513, 561-
563, 572 f., 627-634,
693 f.
Sprachspiel 512-515, 627, 700 f.
Strukturalismus 9, 403 f., 474-518, 520, 523-531, 556, 558, 561-563, 578, 584, 593, 597, 734, 739-741, 747
- Anti-Strukturalismus 556, 558-597, 725, 731, 740, 745, 754, 758, 762
- Neo-/Poststrukturalismus 324, 347, 474-517, 556, 558, 584, 597 f., 623, 689, 739
- Struktur 478 f., 483-486, 490-494, 496, 509 f., 526
Strukturierung (bei Giddens) 393, 402 f., 413, 418, 530, 727
Subjekt(e), Subjektivität 55 f., 187, 190, 295, 317, 321, 327, 330 f., 364, 384, 386, 403, 416, 425, 428, 477 f., 484 f., 492-494, 502 f., 506 f.,
510 f., 515 f., 528, 562 f., 578, 584-592, 595, 604, 611, 624-631, 661, 673, 675, 733, 736, 745, 766
- Groß-, Makro-, Kollektiv-, Übersubjekt(e) 291, 315-318, 320 f., 343, 346, 562 f., 682
- (Ent-)Subjektivierung 507, 585-592, 754
Symbol/symbolisch 98 f., 102, 124-127, 190, 193, 213 f., 419, 443, 445, 457, 461, 484 f., 490, 564, 566, 571-574, 576, 633, 695
810- symbolisches Kapital siehe unter Kapitalformen
- symbolvermittelte Interaktion 193, 323, 334
Symbolischer Interaktionismus 74, 83, 85, 173, 183-219, 220 f., 223 f., 228, 237, 250 f., 266, 274, 284, 294, 305, 314, 326, 334 f., 373 f.,
403, 405-407, 410, 417, 419, 430, 529, 587, 687 f., 705, 717, 740
System(e), Systembegriff 94-105, 111 f., 116-130, 156, 202, 205, 308-311, 313, 320-322, 335-348, 355-360, 363-365, 371 f., 375-389, 394-
396, 403, 412-414, 422, 426 f., 446-449, 469-471, 546, 593, 635 f., 652, 681 f., 718, 727-731, 733-735, 737, 754, 760
- Handlungssysteme 63, 96-99, 116, 128-130, 313, 336, 357, 359, 384, 652
- Kultursystem (cultural system) 98-102, 111 f., 116, 125, 127-129, 135
- Persönlichkeitssystem (personality system) 97-102, 111 f., 116, 129, 376
- soziale S. (auch: social system) 63, 95, 98-104, 111 f., 116 f., 120 f., 129 f., 256, 262, 357 f., 363 f., 371, 376, 382, 384 f., 394, 414, 427
- Subsysteme 119-130, 135, 308-311, 313, 342 f., 356, 358, 364, 378, 382 f., 387-389, 395, 426, 447, 465, 469, 652, 728-731
- System vs. Lebenswelt 335-348, 635 f., 735, 760
- Zeichen-/Symbolsysteme 480-482, 484 f., 489-491, 494, 561-564, 701
Systemtheorie 129, 342 f., 353, 355-357, 362 f., 373-376, 378-391, 412, 414 f., 419, 447, 465, 545 f., 548, 652, 681, 710, 727-731, 734
- funktional-strukturelle S. 356 f.
- System/Umwelt-Theorie 357-360, 381 f.
- Weltsystemtheorie (bei Wallerstein) 466 f., 728, 762 f.

(Aus-)Tauschtheorien 53, 148 f., 152 f., 160-162, 180, 183


- Gabentausch 487, 489-491, 525
Theoriebegriff 9-38
Totalitarismus/totalitär 286, 294, 320 f., 424, 513, 577, 587 f., 590 f., 744, 754, 762
Tradition/traditional 113, 343, 362, 444 f., 459, 576, 596, 649, 653, 679 f., 754, 756, 758
- Tradition vs. Moderne / traditional vs. modern 113, 115, 133, 137, 431 f., 436-441, 444 f., 450 f., 459, 462-464, 576, 585 f., 653

Ungleichheit, soziale 52, 160, 267-272, 275, 418, 548 f., 554 f., 601 f., 606, 612 f., 635, 646, 649, 669-671, 685
Utilitarismus 43-45, 47-51, 56-60, 63-68, 70, 73 f., 76 f., 80 f., 86, 89, 96, 143-147, 152-154, 158, 206, 208, 227, 251, 259, 324-326, 331,
396, 402, 499, 531 f., 534-537, 542-544, 566, 569-571, 579, 674, 676-680, 682 f., 695, 717, 744 f., 748 f.
- Neo-Utilitarismus 143-182, 183 f., 195, 197, 199 f., 202, 223,
226, 250 f., 266, 275, 279 f., 284, 324 f., 339, 367 f., 430, 531, 534 f., 544, 665
811Verhalten, abweichendes (Devianz) 105 f., 180, 205, 210 f., 242, 248, 262, 274
Verifikation 20-24, 360
Vertrag/Vertragstheorien 62, 149, 162, 668

Wahrheit 20, 22, 326, 328 f., 368, 377 f., 385, 497 f., 501 f., 505, 624 f., 689-699
Wandel, sozialer/Wandlungstheorien 37 f., 104 f., 130-136, 177, 203-205, 217, 246, 251-253, 257-259, 264-266, 275, 281-283, 288, 316,
318, 394 f., 426-432, 434, 436, 438-440, 447, 449, 452, 455-462, 467, 470-472, 516, 548-550, 563, 566, 571, 581 f., 593, 599, 682, 717,
719, 743 f., 762 f., 765
Weltgesellschaft 645 f., 727-730, 752
Werte 60, 63-70, 74 f., 77, 82 f., 85-87, 95, 97-99, 102-104, 106, 111, 118 f., 121, 128, 130, 137-140, 152-154, 161 f., 183 f., 196, 198 f.,
203, 221-225, 228, 254, 260, 263, 268 f., 271, 274, 277-280, 332, 348 f., 356 f., 366 f., 374-378, 394, 396, 398, 407, 422, 431, 437 f., 440,
444 f., 448 f., 461, 463, 469, 513, 575, 579-583, 611, 663 f., 668, 671-676, 684 f., 695 f., 699, 701, 710 f., 713, 717, 720-725, 740 f., 748,
751 f., 758, 766
- Wertbindungen 118 f., 122 f., 127, 130, 271, 278 f., 349, 444, 504, 720-724
- Wertegeneralisierung 134, 136, 426
- Entstehung/Genese von
Werten 86, 575, 717, 720- 722
- World Polity (Weltkultur) 750-753

Zeichen (siehe auch Zeichen-/


Symbolsysteme unter Systeme) 481-485, 511, 514, 561 f., 628, 633
Zeitdiagnosen/-diagnostisch 37, 308 f., 312 f., 322, 340, 342-347, 383, 386, 400, 402, 405, 428, 464, 469, 511, 514 f., 550, 554 f., 581, 584,
592, 599, 639-686, 732, 734, 737 f., 753, 760, 765
Zwecke, Zweckbegriff 77-79, 82 f., 86, 114, 145-148, 163, 166, 172, 200, 298, 320 f., 324, 330-335, 360, 369-376, 378, 406, 542, 709-713
- Zweck (organisationssoziologisch) 218, 259, 320 f., 358, 369-374
- Zweckrationalität (siehe auch Handeln, zweckrationales) 273, 302, 308, 313, 373, 375, 394, 587, 648, 755
- Zweck-Mittel-Schema (means-end schema) 69, 82, 330, 334 f., 570, 709-712, 717
812Namenregister

Abbott, Andrew 215


Abendroth, Wolfgang 286
Adler, Patricia 219
Adler, Peter 219
Adloff, Frank 12
Adorno, Theodor W. 286, 295 f., 303 f., 323, 334 f., 508, 655, 658 f.
Alchian, Armen R. 145
Alexander, Jeffrey C. 8, 24 f., 75, 140, 405, 436-438, 469 f., 472, 653
Allen, William R. 145
Almond, Gabriel 434
Althusser, Louis 494 f.
Ames, Ruth E. 182
Anderson, Perry 397
Apel, Karl-Otto 688
Arato, Andrew 684
Arendt, Hannah 306, 416, 570 f.
Aristoteles 302, 366, 570, 595, 671
Arnason, Johann P. 575, 753, 761-763
Aron, Raymond 267, 476

Bales, Robert 117 f.


Barber, Bernard 471
Barthes, Roland 494 f.
Bataille, Georges 476
Baudelaire, Charles 550
Baudrillard, Jean 514 f.
Bauman, Zygmunt 515, 589, 639, 654-665
Beauvoir, Simone de 477
Beck, Ulrich 391, 428, 639-654, 662, 677, 718, 728
Becker, Gary S. 144, 180
Becker, Howard S. 210
Becker-Schmidt, Regina 559, 620, 622, 631, 634, 637
Beckert, Jens 718
Bell, Daniel 581
Bellah, Robert 434, 462-464, 468, 470, 639, 665, 676-680, 683
Bellow, Saul 441
Bendix, Reinhard 257-261, 265 f., 271, 281
Benhabib, Seyla 513, 610-612, 614, 630 f., 634 f.
Benjamin, Walter 476
Bentham, Jeremy 48 f., 144, 147, 180, 499
Berger, Peter L. 249
Bergson, Henri 406 f.
Bernstein, Richard 34, 689, 698, 701-703
Beveridge, William 664
Bismarck, Otto von 293
Bittner, Egon 248
Blair, Tony 405
Blau, Peter M. 160 f.
Blumer, Herbert 193-205, 208, 212, 215, 217, 223, 266, 687
Boas, Franz 486
Bolt, Christine 600
Boltanski, Luc 739-744
Bosshart, David 577
Boudon, Raymond 163, 169, 174, 177
Bourdieu, Pierre 219, 273, 335, 478, 516, 518-556, 579, 584, 739 f.
Braque, Georges 553
Brecht, Bertolt 367
Brown, David J. 203
Browning, Christopher R. 658
Brownmiller, Susan 602
Buber, Martin 446, 681
Butler, Judith 625-637

Caillé, Alain 744 f.


813Caillois, Roger 476
Camic, Charles 40, 72, 81, 468
Camus, Albert 477
Cardoso, Fernando H. 466
Carter, Jimmy 682
Castaneda, Carlos 244
Castoriadis, Cornelius 558-579, 581 f., 588-590, 670, 718, 744, 754, 758, 762
Caws, Peter 479
Chafetz, Janet Saltzman 277
Chalmers, A.F. 33
Charle, Christophe 556
Chiapello, Eve 739-741, 743 f.
Chodorow, Nancy 604-608, 613
Cicourel, Aaron V. 224, 228, 243
Cohen, Jean 684
Cohen, Jere 81
Cohen-Solal, Annie 477
Cohn-Bendit, Daniel 560
Coleman, James S. 178-180
Collins, Randall 209, 269, 271-273, 275-277, 279, 281, 548
Colomy, Paul B. 203, 470 f.
Commons, John 747
Cooley, Charles Horton 39, 73, 75, 184
Coser, Lewis A. 254-257, 260, 266, 271, 278, 281
Crozier, Michel 584

Dahrendorf, Ralf 263-267, 271, 277 f., 281 f., 285, 288 f., 393 f.
Darwin, Charles 132
Davis, Phillip W. 214
Delaunay, Robert 553
Denzin, Norman K. 203, 206, 216, 218
Derrida, Jacques 509-511, 514, 516, 661
Descartes, René 186-188, 232, 689, 691, 754, 756 f.
Dewey, John 73, 185, 189, 374, 543, 688 f., 693-695, 698, 701-705, 710 f., 720, 722, 734, 755 f., 759
Diderot, Denis 417
DiMaggio, Paul J. 748 f.
Dosse, François 246, 478, 486, 495, 506, 516, 554, 593, 739 f., 745
Douglas, Jack D. 247 f.
Dreyfus, Hubert L. 503, 516
Dubet, François 732-734
Duchamp, Marcel 553
Durkheim, Emile 2, 11, 13, 15, 30, 39 f., 43, 46 f., 62, 69 f., 77, 81, 112 f., 138, 209, 243, 247 f., 254, 259 f., 267, 323, 333 f., 442 f., 468 f.,
474-476, 487 f., 522, 530, 551, 586, 687, 706, 720, 733, 745, 747 f.

Eder, Klaus 540, 555


Eisenstadt, Shmuel N. 2, 446-452, 455-462, 465, 467 f., 470-473, 576, 588, 651, 744, 759-764
Elias, Norbert 397, 453
Elster, Jon 177 f.
Emerson, Richard M. 161
Engels, Friedrich 28 f., 88, 268, 565 f., 602
Epstein, Cynthia Fuchs 604
Eribon, Didier 503, 505 f., 517
Erikson, Kai 211
Esser, Hartmut 23, 37, 180
Etzioni, Amitai 144 f., 155, 181, 680-685, 730

Faletto, Enzo 466


Ferry, Luc 547
Feuerbach, Ludwig 360
Feyerabend, Paul 34, 324, 624, 693, 700
Firestone, Shulamith 601 f.
Flaubert, Gustave 550
Flax, Jane 624 f.
814Foucault, Michel 418, 420, 425, 495-509, 516 f., 626, 629, 658, 735, 758
Frank, Manfred 7, 510 f.
Fraser, Nancy 630, 635-637, 738
Frazer, James G. 491
Freidson, Eliot 215
Freud, Sigmund 89, 97, 476, 594, 605
Friedman, Debra 146
Friedrich, Caspar David 553
Fühmann, Franz 159

Galilei, Galileo 232, 700


Gardner, Howard 479
Garfinkel, Harold 220-228, 231, 234-243, 246, 248 f., 266, 412, 422, 616, 622
Gauchet, Marcel 744
Geertz, Clifford 472
Gehlen, Arnold 361-363, 372, 374
Gerhard, Ute 600
Gerhardt, Uta 89
Giddens, Anthony 2, 8, 83, 85, 93, 219, 247, 335, 392 f., 396 f., 401-429, 461, 474, 479, 500, 506, 518, 530, 533, 588, 648-654, 662, 681,
686, 712, 714, 718 f., 726-728, 760, 765 f.
Giele, Janet Zollinger 600
Gilcher-Holthey, Ingrid 560
Gildemeister, Regine 614, 620 f.
Gilligan, Carol 606-614, 665
Glaser, Barney G. 207, 215
Godbout, Jacques 745
Goffman, Erving 208 f., 281, 327, 333, 411, 417 f.
Goldhagen, Daniel J. 655, 658
Goldstone, Jack A. 173
Gramsci, Antonio 302
Habermas, Jürgen 2, 8, 127, 129, 193, 231, 284-355, 365, 371, 377, 379, 393-396, 401 f., 404, 408, 411, 414, 418 f., 424, 429, 468, 470, 474,
479, 504, 513, 518 f., 543 f., 569-571, 575, 577, 587 f., 591-593, 595-598, 607, 611 f., 634-637, 639, 658, 664, 671, 676, 681, 684 f., 688,
692 f., 696, 700, 703, 707-710, 720, 723-727, 734-738, 760-762
Haferkamp, Heinrich 398
Hagemann-White, Carol 618 f.
Halbwachs, Maurice 476
Hall, John A. 400 f.
Hall, Peter A. 749
Hall, Peter M. 218 f.
Harding, Sandra 623
Hartsock, Nancy 629
Harvey, David 515
Haskell, Thomas 694
Hazelrigg, Lawrence E. 81
Hechter Michael 146, 171
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 76, 78, 306, 315, 318, 417, 476, 595, 651, 735-737
Heidegger, Martin 407, 476, 661, 689, 693 f.
Heilbron, Johan 77
Heintz, Bettina 622 f.
Hénaff, Marcel 745
Herder, Johann Gottfried 77-80, 82, 200, 360
Heritage, John 222, 226, 241
Hettlage, Robert 209
Hintze, Otto 261
Hirschauer, Stefan 622
Hirschman, Albert 53
Hitler, Adolf 46, 88 f., 231, 285, 295, 655, 657
Hobbes, Thomas 49-56, 149, 162, 227, 674
Hobsbawm, Eric 396
Hochschild, Arlie 207
Höffe, Otfried 666
815Hoffmann, E.T.A. 367
Homans, George C. 149-180
Honneth, Axel 350, 360, 492, 516, 531, 653, 734 f., 738
Horkheimer, Max 286 f., 295 f., 323, 334, 345, 658 f.
Horster, Detlef 391
Hughes, Everett C. 208, 214 f.
Husserl, Edmund 184, 228-234, 239, 364 f., 406, 476, 509, 533, 593, 661

Irrgang, Bernhard 381

Jaggar, Alison M. 599


Jakobson, Roman 486, 490
James, William 186, 366, 407, 688, 705, 720
Jameson, Frederic 515
Janowitz, Morris 441
Jaspers, Karl 452 f.
Jefferson, Thomas 678
Jevons, William Stanley 49
Joas, Hans 2, 7 f., 72, 78, 82, 86, 138, 186, 189, 334, 339, 349 f., 360, 374, 391, 405, 428, 465, 471, 511, 562, 578, 593, 652, 660, 665, 680 f.,
684, 689, 698, 704-725, 759, 765f.
Jospin, Lionel 584
Kalyvas, Andreas 575
Kant, Immanuel 54 f., 300, 468, 585, 595, 611, 624, 672, 691, 722
Keller, Gottfried 159
Kennedy, John F. 311, 464
Kessler, Suzanne J. 615-621, 626, 632
Kierkegaard, Søren 703
Killian, Lewis M. 213
Kippenberg, Hans G. 245
Kitsuse, John I. 211
Knapp, Gudrun-Axeli 599, 603, 620, 622, 630 f., 634, 637
Kneer, Georg 381
Knöbl, Wolfgang 2, 7, 131, 398, 431, 438, 442, 753, 763
Knorr Cetina, Karin 249
Kohlberg, Lawrence 316, 607-609, 612, 665
Kojève, Alexandre 476
Kopernikus, Nikolaus 31
Kuhn, Thomas S. 27 f., 30-36, 324, 513, 624, 693 f., 700 f.
Kurzweil, Edith 477
Kymlicka, Will 598

Lacan, Jacques 494 f., 578


Lamont, Michèle 556
Landweer, Hilge 632 f.
Lapeyronnie, Didier 732
Larson, Magali Sarfatti 274
Latour, Bruno 745-747, 753
Lavoisier, Antoine Laurent de 27
Lefort, Claude 559, 590 f., 744
Leibniz, Gottfried Wilhelm 690
Lemert, Edwin M. 211
Lenski, Gerhard 268 f.
Lenz, Karl 209
Lerner, Daniel 434 f., 438
Levinas, Emmanuel 661, 664 f.
Lévi-Strauss, Claude 485-494, 496 f., 505, 508-510, 516, 520, 526
Lidz, Victor 139
Lipset, Seymour Martin 434, 766
Livingston, Eric 249
Locke, John 53-55, 149, 691
Lockwood, David 261-265, 271, 281, 285, 393-397, 401, 418
Lorber, Judith 618
Luchesi, Brigitte 245
Luckmann, Thomas 233 f., 249, 338
816Luhmann, Niklas 2, 8, 43, 127, 129, 287, 320, 341 f., 351-393, 402, 414, 424-426, 429, 464, 469 f., 474, 479, 518 f., 545-547, 577, 651 f.,
681, 709 f., 718, 726-731, 752
Lukács, Georg 318 f.
Luther, Martin 154, 293
Lynch, Michael 249
Lyotard, Jean-François 509, 511-513, 559, 624, 640, 648, 664

Machiavelli, Niccolò 280, 666


MacIntyre, Alasdair 570
MacKinnon, Catharine A. 610
Madsen, Richard 676
Maines, David R. 205, 219
Malewitsch, Kasimir 553
Malinowski, Bronislaw 41, 90
Mann, Michael 397-401, 422, 760, 765
Mannheim, Karl 249
Marshall, Alfred 43, 67 f., 70, 79, 131, 260, 323, 333
Marshall, Thomas H. 397
Marwell, Gerald 171, 182
Marx, Karl 16, 28-30, 39, 41, 76, 88, 90-93, 95, 121, 155, 163 f., 171, 233, 249, 257-259, 261-270, 276, 278, 282, 286-291, 294-296, 298,
301 f., 306-311, 313-316, 318-320, 322, 324, 334, 343, 345, 360, 367 f., 388, 393, 396-400, 402 f., 423, 427, 431 f., 437, 466 f., 476, 492,
494 f., 512, 514 f., 521, 529, 536 f., 539, 542, 554, 558-570, 572, 575 f., 580, 586, 601-603, 651, 655 f., 682, 703, 705, 707, 728, 733, 736,
743
Marx, Werner 233
Maturana, Humberto R. 381 f., 384
Maurer, Andrea 750
Mauss, Marcel 487-489, 745
Mayer, Hans 476
Mayntz, Renate 730
McAdam, Doug 173
McCarthy, John D. 173
McCarthy, Thomas 350, 354, 698
McClelland, David 434
McKenna, Wendy 615-621, 626, 632
Mead, George Herbert 11, 13, 39, 73, 75, 85, 184, 186, 189-194, 198 f., 207, 216, 223, 237, 306, 323, 334, 687 f., 695, 704 f., 713, 715 f.,
722 f., 737
Mehan, Hugh 236, 244
Meltzer, Bernard N. 209, 217
Merleau-Ponty, Maurice 231, 477, 561, 563, 593, 713-715
Merton, Robert K. 84, 104, 141, 254, 412
Metaxas, Ioannis 559
Meyer, John W. 750-753
Michels, Robert 169, 369 f., 373, 709
Mill, John Stuart 48 f.
Miller, James 517
Mills, C. Wright 141, 260
Mitchell, Wesley 747
Montaigne, Michel de 756 f.
Morin, Edgar 559
Mosca, Gaetano 267
Müller, Hans-Peter 161, 555
Mullins, Carolyn J. 206
Mullins, Nicolas C. 206
Münch, Richard 140, 468-470, 473, 547, 654

Nadai, Eva 622 f.


Nagl, Ludwig 18
Nagl-Docekal, Herta 638
Napoleon Bonaparte 400
Nassehi, Armin 381
817Newton, Isaac 757
Nietzsche, Friedrich 347, 496, 504, 509, 512, 626, 662, 720
Nipperdey, Thomas 400
Nora, Pierre 12, 744
North, Douglass C. 749
Nunner-Winkler, Gertrud 610
Nussbaum, Martha C. 570, 612 f., 631-634

Oakeshott, Michael 570


Oberschall, Anthony 173
Offe, Claus 169
Oliver, Pamela E. 171
Olson, Mancur Jr. 163, 165-172, 174 f.
Opp, Karl-Dieter 169

Pareto, Vilfredo 43, 68-70, 75, 79, 131, 260, 267, 323, 333
Park, Robert 73, 184 f., 217
Parsons, Talcott 2, 8, 12, 38-143, 149, 151, 154, 156, 162, 182-185, 195-200, 203, 206, 208, 214 f., 220-228, 235, 242 f., 247, 250-255, 257,
259-271, 273, 276 f., 280, 283 f., 293, 309, 313, 322 f., 332 f., 336, 339-342, 349, 354-358, 363 f., 376 f., 379, 383, 387 f., 396, 400-402,
406-408, 412, 414-416, 419, 426, 429 f., 432 f., 436, 438, 440-442, 444-447, 452, 462-470, 472-474, 479, 507, 513, 569, 579, 583, 586,
674, 676, 683, 687, 696, 707 f., 718, 720, 726, 729, 748, 760, 766
Passeron, Jean-Claude 478
Pauer-Studer, Herlinde 599, 611
Peirce, Charles S. 18 f., 24, 185, 188, 229, 688, 698, 703 f.
Petras, John W. 209, 217
Piaget, Jean 316, 607
Plessner, Helmuth 361
Plummer, Ken 194
Pope, Whitney 81
Popper, Karl Raimund 19-24, 26 f., 32 f., 36, 303-305
Poulantzas, Nicos 494 f.
Powell, Walter W. 748
Proust, Marcel 407
Psathas, George 241
Putnam, Hilary 689, 691, 698-704, 724
Putnam, Robert D. 684 f.

Quéré, Louis 744

Rabinow, Paul 503, 516


Raters, Marie-Luise 699
Rawls, John 595 f., 611, 666-676, 685 f.
Reagan, Ronald 312, 682
Renaut, Alain 547
Rex, John 261-265, 271, 277, 281, 393 f., 397
Reynolds, Larry T. 209, 217
Ricardo, David 49
Ricœur, Paul 6, 429, 558, 574, 593-597, 661, 722, 725, 739
Robbins, Derek 520
Rock, Paul 211
Rödel, Ulrich 744
Roosevelt, Franklin D. 42
Rorty, Richard 515, 689-704, 752, 755 f., 759
Rostow, Walt W. 434
Rothacker, Erich 286, 291
Rotterdam, Erasmus von 753
Rousseau, Jean-Jacques 268, 464, 492, 585
Rubin, Gayle 602 f.
Ryan, Alan 180
Sack, Fritz 235
Sacks, Harvey 234 f., 246, 248
818Sandel, Michael J. 671-675, 677, 683
Sartre, Jean-Paul 231, 267, 476-478, 484, 493, 503, 505, 522, 528, 561, 580, 584, 587, 703
Saussure, Ferdinand de 479-485, 490, 492, 496, 505, 509, 526, 633
Scharpf, Fritz W. 176, 730
Schegloff, Emanuel A. 246 f.
Scheler, Max 249, 361, 720
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 286
Schelling, Thomas C. 176
Schelsky, Helmut 353, 368, 390
Schimank, Uwe 731
Schluchter, Wolfgang 760 f.
Schmid, Michael 750
Schmidt, Helmut 311
Schmoller, Gustav 747
Schostakowitsch, Dmitri 553
Schröter, Susanne 627, 629
Schulze, Gerhard 556
Schütz, Alfred 231, 233-235, 238, 248 f., 703
Schwingel, Markus 555
Scott, Richard W. 748
Searle, John R. 325
Selznick, Philip 688
Shakespeare, William 756
Shibutani, Tamotsu 212
Shils, Edward A. 118, 441-447, 461-463, 468, 472 f.
Shklar, Judith 696
Simmel, Georg 15, 39, 74 f., 85, 161 f., 255-257, 266, 277 f., 706, 720
Simon, Herbert A. 181
Skinner, B.F. 153, 155
Smelser, Neil J. 121 f., 130, 464 f., 468, 470, 717
Smetana, Bedrich 553
Smith, Adam 39, 53, 55, 81, 144, 148, 174, 742
Snow, David A. 214
Sofsky, Wolfgang 658
Sombart, Werner 41
Sorokin, Pitirim 41
Spencer, Herbert 73 f., 79, 131, 134, 136
Spitzweg, Carl 553
Srubar, Ilja 233
Stalin, Josef 289 f., 302, 477, 559, 656
Stichweh, Rudolf 727-729
Strauss, Anselm 200, 203, 207, 215 f., 218 f.
Sullivan, William M. 676
Swidler, Ann 676

Taylor, Charles 78, 585, 675, 720, 754 f.


Taylor, Rosemary C. R. 749
Thatcher, Margaret 312
Therborn, Göran 760 f.
Thévenot, Laurent 741
Thomas, William Isaac 39, 73, 75, 184 f., 217
Thompson, Edward P. 396, 403
Tieck, Ludwig 367
Tillich, Paul 593
Tilly, Charles 275
Tipton, Steven M. 676
Tiryakian, Edward A. 468
Titmuss, Richard M. 397
Tocqueville, Alexis de 77, 257, 259, 676 f., 679
Tönnies, Ferdinand 39, 112 f., 706
Toulmin, Stephen 755-757, 759, 765
Touraine, Alaine 2, 8, 86, 391, 494, 558, 574, 579-593, 597, 651, 654, 726, 732-734, 744, 754, 758, 762
819Truman, Harry S. 433
Tugendhat, Ernst 7
Turner, Jonathan H. 281 f.
Turner, Ralph H. 206, 213, 223 f.
Turner, Stephen 11, 446
Turner, Victor 472

van der Linden, Marcel 559 f.


Varela, Francisco J. 381 f., 384
Veblen, Thorstein 747
Verba, Sidney 434

Wacquant, Loïc 519, 530, 532, 535 f., 543, 546, 739
Wagner, Helmut R. 233, 742
Wagner, Peter 757 f.
Walby, Sylvia 602
Wallerstein, Immanuel 466 f., 728, 762-764
Walzer, Michael 675
Warner, R. Stephen 83
Weber, Max 2, 11, 13, 15, 30, 40 f., 43, 46 f., 70, 81, 108, 110 f., 121, 124, 138, 147, 231, 254 f., 257, 259-261, 263, 266 f., 278, 293, 296,
323, 333 f., 345, 369 f., 373, 393, 397 f., 401 f., 415, 434, 442, 447, 459 f., 463, 468 f., 475 f., 507, 549, 576, 687, 704, 706-709, 718, 733,
748, 759-761
Weingarten, Elmar 235
Weizsäcker, Carl Friedrich von 287
Welsch, Wolfgang 512
Wenzel, Harald 12, 127, 139, 469, 472
West, Candace 616
Wetterer, Angelika 614, 620 f.
Whitehead, Alfred North 469
Wieder, D. Lawrence 243
Wiesenthal, Helmut 148, 160, 169
Wieviorka, Michel 732
Wiggershaus, Rolf 287
Willaschek, Marcus 699
Willke, Helmut 391, 729-731
Wilson, R. Jackson 74
Winthrop, John 678
Wittgenstein, Ludwig 513, 689, 693 f., 698, 700 f., 755
Wittrock, Björn 764
Wolfe, Alan 704
Wood, Houston 236, 244

Young, Michael 444


Zald, Mayer N. 173, 275
Zapf, Wolfgang 468
Zimmerman, Don 243, 616
Zola, Émile 59

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