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Ernst Topitsch - Vom Ursprung Und Ende Der Metaphysik
Ernst Topitsch - Vom Ursprung Und Ende Der Metaphysik
der Metaphysik
Eine Studie zur Weltansmauungskritik
Von
Ernst Topitsm
Professor an der Universität Wien
Topitsch, Metaphysik. 1
2 Einleitung
ihm lieb war, auf fremde Arbeiten verlassen. Aus allen diesen Gründen
darf er für seine Behauptungen nur den Rang von - allerdings nach
seiner Überzeugung wohlfundierten - Hypothesen in Anspruch nehmen,
die den Oharakter der Vorläufigkeit tragen und dazu bestimmt sind, dem
weiteren Fortschritt der Erkenntnis als Stufen zu dienen. Dennoch scheint
die Entwicklung der Forschung schon in ihrem gegenwärtigen Stadium
einen Versuch der Zusammenfassung zu rechtfertigen, ja zu fordern.
Aus der Tatsachenfülle tretennämlich klare und einfache Linien hervor;
es werden Formen der Weltauffassung sichtbar, die unmittelbar in eIe·
mentaren Gegebenheiten unseres Daseins wurzeln. Der Mensch - und
zwar das Kind ebenso wie der Primitive und der zivilisierte Erwachsene
in seinem Alltagsleben - will zunächst wissen, was die Dinge für ihn
bedeuten, was er von ihnen zu erwarten hat und wie er sich gegen sie
verhalten soll. Er fühlt sich von ihnen angemutet oder abgestoßen,
geschützt oder bedroht, sie sind ihm heimatlich vertraut oder unheimlich
fremd. Eng verbunden mit dieser wertenden Grundhaltung sind die Denk·
formen, deren man sich zur Welterklärung bedient. Dem Fernerliegenden
und Unbekannten wird der Oharakter des Fremden und Befremdlichen
genommen, indem man es nach Analogie des Naheliegenden und alltäglich
Vertrauten auffaßt. So dienen die Dinge und Vorgänge der täglichen
Lehenswirklichkeit als Modellvorstellungen für das Weltverständnis.
Grundsätzlich kann zwar alles, was in jenem unmittelbaren Lebenskreis
vorhanden ist, als Modellvorstellung gebraucht werden, doch die be·
herrschende Rolle spielen jene Analogien, die den direkt erfahrenen,
praktisch bedeutsamen und gefühlsgesättigten Fakten der gesellschaft.
lichen Erzeugung und Erhaltung des Lebens entlehnt sind. Es sind dies
besonders die biologischen Prozesse von Zeugung und Geburt, Wachstum,
Altern und Tod und das planmäßige, absichtsgeleitete Wollen und Handeln
- das intentionale Verhalten - mit seinen Normen, Objekten und Pro·
dukten. Man kann also von biomorphen und intentionalen Modellvor.
stellungen sprechen. Die letztere Gruppe entstammt vor allem entweder
den sozialen Beziehungen und Ordnungen von der Familie bis zum Staat
oder der künstlerisch·handwerklichen Tätigkeit, der Techne, und ist daher
in die Untergruppen der soziomorphen und technomorphen Analogien
einzuteilen. Mit Hilfe dieser Analogien werden Einzelvorgänge oder die
Gesamtheit des Universums als soziale Phänomene oder Kunsterzeugnisse
gedeutet. So entsteht oft eine scheinbar geschlossene "intentionale" Welt·
auffassung, die nach dem Leitbild unseres Wollens und Handelns ge.
staltet ist und auf dieses rückbezogen wird - denn unser Wille und unser
Tun soll sich in die "Harmonie" des kosmischen Gesellschaftsverbandes
oder Kunstwerkes einfügen. Die verschiedenen Funktionen dieses Welt.
bildes, seine innere Problematik sowie seine schließliehe Auflösung durch
die moderne Wissenschaft und durch die faktische Entwicklung der
modernen Gesellschaft will die vorliegende Arbeit untersuchen. Sie wird
zu zeigen bestrebt sein, daß zumindest ein wesentlicher Teil des tradi·
tionellen metaphysisch.moralischen Philosophierens in jener Weltauf·
fassung verwurzelt oder - von anderen Wertvoraussetzungen ausgehend -
4 Einleitung
"Nicht das bloße Betrachten, sondern das Tun bildet den Mittelpunkt,
von dem für den Menschen die geistige Organisation der Wirklichkeit
ihren Ausgang nimmt", dieser Satz Oassirers 1 gibt uns in einem weiteren
und einem engeren, aber noch viel wichtigeren Sinne den Schlüssel für
unsere Problematik.
Vor aller weltanschaulicher Reflexion und Spekulation findet sich der
Mensch in einem Kreise praktischer Lebenssituationen, die er bewältigen
muß, um weiterexistieren zu können. Wertend und handelnd - diese
Ausdrücke in ihrem umfassendsten Sinne gebraucht - hat er sich also
mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen. So bildet sich ihm ein Bestand
von gewohnten und vertrauten, stark wert betonten Erlebnissen, Vor-
gängen und Gegenständen. Diese bieten sich als analogiehafte Modelle
zur Erklärung des VVesens und Verhaltens der weiteren Umgebung und
schließlich des Universums dar 2 • Unbelebte und belebte Natur, der eigene
Körper und vor allem das eigene Handeln mit seinen Objekten und
Produkten haben dem Menschen derartige Modellvorstellungen geliefert,
die freilich nicht alle für die spätere geistige Entwicklung gleich bedeutsam
geworden sind.
Besonders die unbelebte Natur, sofern sie nicht menschlicher Kunst-
fertigkeit als Werkstoff dient, spielt in diesem Zusammenhang eine ver-
hältnismäßig untergeordnete Rolle. Zweifellos haben Gewalten, wie Feuer,
Wasser und Sturm, auf den Menschen der Frühzeit mächtig gewirkt, aber
er hat sie nicht als physikalische Fakten empfunden, sondern meist als
handelnde Wesen aufgefaßt. Jedenfalls waren sie selbst rätselhaft und
erklärungs bedürftig, vor allem aber zu undifferenziert, um als Modell-
vorstellungen höheren Ansprüchen zu genügen. Häufiger sind Berg und
Höhle als solche verwendet worden. Das Motiv des Weltberges ist
alt und hat weite Verbreitung gefunden, das der Welthöhle hat Platon
in die Philosophie herübergenommen und in freier Weise zur Veran-
schaulichung eigener Gedanken verwendet. Die dem Höhlengleichnis
zugrunde liegenden, wohl unmit,telbar aus orphischen Quellen stammenden
Vorstellungen dürften mit ihren Wurzeln bis in älteste Zeiten zurück-
reichen3 . Neben jener urtümlichsten Behausung sind wohl schon früh die
Der Behandlung der biomorphen Modelle kann heute vor allem die
eingehende Studie H. BaumannsI zugrunde gelegt werden, die eine reiche
- wenngleich nicht vollständige - Sammlung des ethnologischen und
mythologischen Materials enthält und auch das Weiterleben dieser Vor-
stellungen im philosophischen Denken verständnisvoll verfolgt. Wie ältere
Forschungen gezeigt haben und Baumann erneut hervorhebt, hat sich
besonders in den alten Hochkulturen zwischen dem Ostmittelmeer und
dem Indusgebiet eine gewaltige biomorphe Mythologie entwickelt, nach
welcher die Welt aus einem Ei entstanden, in der "heiligen Ehe" eines
Urelternpaares erzeugt worden oder der Selbstbegattung eines doppel-
geschlechtigen Gottes entsprungen ist.
Das Motiv des Welteies 2 ist in verschiedenen Varianten von Ägypten
und Vorderasien bis nach Indien und Ohina verbreitet, aber auch in der
indonesischen Inselwelt und Ozeanien, wo es manchmal in echt maritimer
Abwandlung durch die Weltenmuschel ersetzt wird. Ferner ist es im
Bereich des unteren Niger und - in anthropogonischer Ausprägung -
auf peruanischem Boden zu finden. In seiner Grundform besagt dieser
Mythos, "daß im uranfänglichen Ohaos, auf dem Urmeer sich ein eiartiges
Gebilde befand oder formte, teilweise auch von einem Urvogel hier ab-
gelegt wurde, das sich später teilte, vor allem hälftete, wobei das Obere
zum Himmel, das Untere zur Erde wurde"3. Ein Seitenstück hierzu ist
die Idee des Hervorkommens der ersten Menschen aus einem Ei, ein
Motiv, dessen Verbreitungsgebiet sich ungefähr mit jenem des kosmischen
Eies deckt. In Hellas haben diese Mythologeme durch die Orphik Eingang
gefunden, doch ohne weiter wirksam zu werden4 •
Wichtiger ist die Vorstellung von der Weltgeburt oder der Zeugung
des Universums durch ein Weltelternpaar, meist Himmel und Erde, aber
auch Sonne und Erde oder Sonne und Mond, wo bei der männliche Partner
(gewöhnlich Himmel oder Sonne) den weiblichen durch Regen, Tau oder
Lichtstrahlen befruchtet. Der Glaube an diese "Heilige Ehe", der die
Dinge ihre Entstehung und oft auch ihren Fortbestand verdanken, scheint
gleichfalls in den archaischen Hochkulturen des Vorderen Orients zu
wurzeln oder wenigstens seine eindrucksvollste Form erhalten zu habenS.
Auch in Sibirien, Ohina und Japan, Indonesien, Ozeanien und Mexiko
begegnen wir dem Mythos vom Weltelternpaar. Oft, aber nicht immer,
ist er mit dem Motiv einer gewaltsamen Trennung des Paares bei oder
nach der Weltentstehung verbundenl .
Ob und in welchem Maße der vorderasiatische Welteltern-Mythos auf
die altgriechischen Vorstellungen vom Werden der Dinge eingewirkt hat,
ist noch umstritten. Jedenfalls wird die frühe hellenische Kosmogonie
ganz von ])iomorphen Modellen beherrscht, dagegen fehlt die intentionale
Schöpfung der Welt durch einen Akt planenden und befehlenden Willens.,
Auch der Demiurg, der handwerkliche Weltbildner, tritt erst später auf.
Bei Hesiod erscheint die Entstehung der Götter, welche zugleich die
Entstehung des Kosmos ist, als eine Folge von Zeugungsakten und Ge-
burten (Theog. 116ff.). Generationen von Götterpaaren lösen einander
in der Herrschaft ab, so daß man sagen könnte, die Weltordnung wird
als Sippenordnung verstanden. Damit geht allerdings die rein biomorphe
Vorstellungsweise in eine soziomorphe über. Die reine Philosophie scheidet
die Motive der Welteltern und ihres Hieros Gamos überhaupt aus, denn
im Zuge der Rationalisierung wird aus dem konkreten Bild der Eltern-
paare und Geschlechterfolgen der abstrakte Kern des "Werdens" heraus-
gelöst2 , während die anschaulichen Elemente in der Dichtung, den
Mysterienkulten und allenfalls bei philosophischen Randerscheinungen wie
Pherekydes weiterleben.
Mit dem Einströmen orientalischen Gedankengutes in den griechisch-
römischen Kulturbereich, das sich im Hellenismus und besonders in der
Spätantike vollzieht, gewinnen die biomorphen Modelle erneut an Bedeu-
tung. Viele der östlichen Religionen waren von geschlechtlichen Mytholo-
gemen durchsetzt, und in manchen gnostischen Lehren übersteigerte sich
die Zeugungskosmogonie zu einer barocken Vielfalt der Paarungen und
Geburten3 • Der Sieg des kirchlichen Christentums und seiner Lehre von
der Weltschöpfung durch die göttliche Willensmacht hat diese Motive
wieder in geistige Unterströmungen und ketzerische Geheimlehren abge-
drängt, ohne sie ganz ausschalten zu können. In der Renaissance brachen
sie abermals machtvoll hervor. Die Alchemie betrachtete beispielsweise
die chemischen Verbindungen der Elemente nach dem Gleichnis der Ver-
einigung des Männlichen und des Weiblichen (coniugium, matrimonium,
coniunctio, coitus)4 und selbst ein Gelehrter vom Range des Kopernikus
sprach davon, daß die Erde von der Sonne empfängt und ihre jährliche
Nachkommenschaft gebiert5 •
Manchmal gibt sich aber die kosmogonische Phantasie mit der An-
nahme zweier gleichursprüngIicher Wesen nicht zufrieden, sondern will
alles Sein auf einen einzigen Urquell zurückführen. An der schon erwähnten
Stelle findet sich bei Hesiod der Gedanke, daß die Erde den gestirnten
Himmel gebiert, sich mit diesem vermählt und darauf dem Okeanos das
Leben gibt. Die Vorstellung, daß ein Urwesen seinen kosmogonischen
Partner hervorbringt, leitet direkt zur Vereinigung der weltzeugenden
Potenz in einer doppelgeschlechtlichen Gottheit über, aus deren Selbst-
begattung alle Dinge entspringen. Dieses vielumstrittene "Zweigeschlechter-
wesen" zählt zweifellos nicht zu den Urideen der Menschheit!, sondern
dürfte verhältnismäßig jungen Spekulationen entsprungen sein. Vor
allem scheint dort, wo der Glaube an die asexuelle Tatschöpfung eines
Hochgottes mit dem Welteltern-Mythologem zusammentrifft, das einzige
Schöpferwesen bisexuelle Gestalt anzunehmen 2 • Auch dieses Motiv ist
wahrscheinlich zwischen Ostmittelmeer und lndus beheimatet, doch
kann es weit über Vorderasien hinaus in der Alten Welt und in Amerika
nachgewiesen werden. Die eindrucksvollsten und aufschlußreichsten Bei-
spiele zweigeschlechtiger Götter sind wohl der ägyptische Atum 3 und der
indische Prajäpati.
Eigenartig ist die Durchdringung von Motiven des W ollens und
absichtsgeleiteten Handelns mit solchen biomorpher Art in der indischen
Kosmogonie des Prajapati. Dem Zeugungsakt geht ein Willensakt voran,
wenn es in der Kathaka-Upanishad (XIII, 7) von dem Gotte heißt:
"Prajapati, wie er die Geschöpfe zu schaffen wünschte, fand kein zweites
Wesen zur Paarung. Da nahm er jene (zweigeschlechtIiche) Gestalt an,
vereinte sich vermittels seines Daumens mit sich selbst und schuf so die
GeschÖpfe"4. Die seinsspendende Funktion des Gottes wird in der Regel
durch zwei Ausdrücke gekennzeichnet. Der eine, s~j-, steht der Vor-
stellung des Gebärens nahe und bedeutet wörtlich "aus sich entlassen",
wobei dem Vorgang des Entlassens etwas wie eine Schwangerschaft
vorausgeht; manchmal erscheint der ganze Prozeß auch stark spiri-
tualisiert: der Schöpfer "denkt sich selbst in seinem Geist, da wird er
schwanger"5. Der andere Ausdruck, nir-ma, ,,(aus einem Material) ver-
ellen Motiven erfüllt. Ähnlich wie in der Kabbala ist auch bei ihm die
Zerstörung der ursprünglichen androgynen Einheit ein Sündenfall und
deren endzeitliche Wiederherstellung eine Erlösungl . Von dem Görlitzer
Grübler und verwandten Geistern wie Friedrich Christoph Ötinger hat
die deutsche Romantik den Gedanken der DoppeIgeschlechtigkeit über-
nommen, der so bis tief in das vorige Jahrhundert lebendig blieb 2 •
Die Philosophie stand ähnlich wie die orthodoxe Theologie dem Ge-
danken der Bisexualität im allgemeinen ablehnend gegenüber, so daß
dieser höchstens in stark spiritualisierten und daher nicht eindeutig agnos-
zierbaren Abwandlungen in die philosophischen Systeme eindringen konnte.
Doch wo von einer coincidentia oppositorum und besonders von einem
Urgrund. die Rede ist, der die Welt aus sich heraustreten läßt, könnte
wenigstens die Frage äufgeworfen werden, ob es sich dabei um vergeistigte
Formen einer Mythologie des doppelten Geschlechtes handelt. Die Ant-
wort kann - wenn sie überhaupt möglich ist - nur von Fall zu Fall
auf Grund von Einzeluntersuchungen erfolgen. Mit einem positiven
Ergebnis ist dabei vor allem bei den von gnostisch-neuplatonischen Über-
lieferungen beeinflußten Denkern zu rechnen3 •
Die biomorphe Weltauffassung ist aber nicht auf eine rein betrachtende
Erklärung der Dinge beschränkt, sondern hat auch Rückwirkungen auf
das menschliche Handeln, und zwar besonders durch die Begründung
bestimmter Riten. Beispielweise ist der Glaube weithin verbreitet gewesen
und noch heute unter Naturvölkern verbreitet, ein sakraler Vollzug des
Geschlechtsaktes habe die Macht oder sei dazu notwendig, den makro-
kosmischen Zeugungsakt von Himmel und Erde zu unterstützen, als
rituell gebotene Wiederholung der Schöpfung den Gang der Welt zu
sichern oder überhaupt durch Zusammenlegung beider Geschlechts-
potenzen die universellen oder individuellen Lebenskräfte zu stärken.
Besonders häufig finden solche Verrichtungen in Pflanzungen statt, um
als analogiemagische Handlungen deren Gedeihen zu fördern'. Nicht selten
gibt es auch Hochzeitsbräuche, welche die menschliche Ehe zu einem
Abbild oder Nachvollzug <des Hieros Gamos machen sollen. So kommt es
zu einem deutlich ausgeprägten Prozeß von Projektion und Reflexion:
nachdem die eheliche Zeugungsgemeinschaft als Modell auf den Vorgang
der Weltentstehung übertragen worden war, wird die so entstandene Vor-
stellung einer "Heiligen Ehe" von Himmel und Erde oder anderen kos-
mischen Mächten auf ihr Urbild, die menschliche Ehe, rückbezogen und
ihr übergeordnet!. Das gleiche gilt sinngemäß auch für das Motiv der
DoppeIgeschlechtigkeit. Religiöse Handlungen verschiedener Art sollen
den Menschen der bisexuellen Gottheit anpassen oder seine Wirkungs-
mächtigkeit durch Vereinigung der männlichen und weiblichen Potenz
erhöhen2 •
Es ist unverkennbar, daß das von einem noch ungebrochenen Mythos
beherrschte Bewußtsein mit Hilfe solcher Verrichtungen vor allem konkrete
praktische Ziele erreichen will, wie Fruchtbarkeit der Felder, eheliches
Glück oder ganz allgemein Steigerung der eigenen Lebensmacht3 ; der
Alchemie dient der androgyne "Stein der Weisen" als Mittel zur Her-
stellung des Goldes. Mit dem Schwinden des Glaubens, daß sexuelle
Riten die empirische Umwelt beeinflussen können, verlagert sich der
Schwerpunkt jener Gedankengänge auf psychische Wirkungen oder in
das Gebiet des Unerfahrbaren. Selbst in der Alchemie sind die zweck-
haften Überlegungen des Goldmachens mit einer meditativen Betrachtung
des Kosmos verbunden, die den Adepten über die Sorgen des Alltages
erheben soll4. Der Gnostiker, der mit dem androgynen Urwesen eins
geworden zu sein glaubt, erlebt diese Einigung nicht oder nicht in erster
Linie als Weg zur Macht über äußere Dinge, sondern als Weg zur Erlösung.
In der Mystik überwiegen vollends die soteriologischen Motive die kosmo-
logisch-magischen. Bei Jakob Böhme und seinen Nachfolgern verbinden
sich bisexuelle Vorstellungen sogar mit dem christlichen Erlösungs-
gedanken, und zwar in der Weise, daß der als androgyn betrachtete
Christus die Seelen der Männer durch Geschenk seiner weiblichen, die
Seelen der Frauen durch Zugabe seiner männlichen Potenzen zur doppel-
geschlechtigen Vollkommenheit emporhebt5 , wie auch die erotische Mystik
Indiens zum spezifischen Zweck hat, den Menschen durch seine Identifi-
kation mit einem "göttlichen Paar", also durch einen androgynen Vor-
gang, zu vervollkommnen6 •
An vielen Stellen werden, wie es sich gezeigt hat, die l?iomorphen
Gleichnisse zu anthropomorphen, und diese sind die weitaus wichtigsten
und meistverbreiteten, hat doch der Mensch die Formen der Welterklärung
vor allem von sich selbst genommen und so das Universum auf das eigene
Sein bezogen. Diese Formen entstammen in erster Linie den praktisch
bedeutsamen Lebenssituationen, in welchen wir unserer Umwelt gegen-
übertreten. Auf der einen Seite steht das eigene "Selbst", das meist weit-
gehend mit dem eigenen Körper identifiziert bleibt, auf der anderen
befinden sich die sozialen Partner und die Sachwelt als Mithandelnde
oder als Gegenstände beziehungsweise Produkte unseres Wollens und Tuns.
Topitsoh, Metaphysik. 2
18 Grundformen des Denkens im Mythos
Teiles der traditionellen Philosophie sind aber jene Modelle, die nicht vom
Leben oder vom Körper des Menschen entlehnt sind, sondern von seinem
planmäßigen, wertgerichteten und normbestimmten Handeln in Werk-
tätigkeit und Gemeinschaftsordnung. Einzelne Phänomene, ihre Zusam-
menhängel und schließlich das ganze Universum erscheinen als Vorgänge,
Objekte und Produkte künstlerisch-handwerklicher Tätigkeit oder als
soziale Strukturen und Sinnzusammenhänge2 wie Familie, Sippe und
Staat, wie Brauch, Sitte und Recht, wie Lohn, Rache und Strafe. Die
erste Gruppe von Analogien kann man als technomorph bezeichnen, wenn
man den antiken Sinn von Techne als Kunstfertigkeit und nicht den
modernen der Maschinentechnik zugrunde legt, die zweite als soziomorph.
Da beide vom absichtsgeleiteten, zweckgerichteten Wollen und Handeln,
also von der menschlichen Intentionalität stammen, kann man sie unter
dem Namen der intentionalen Modellvorstellungen zusammenfassen und
das mit ihrer Hilfe aufgebaute Weltbild als intentionale Weltauffassung
ansprechen.
2·
20 Grundformen des Denkens im Mythos
1 W. HANSEN, a. a. 0., S. 148: Das Kind der Frühphase "ist nicht darauf
gerichtet, durch Schaffung bestimmter Ursachen seine Handlungsziele zu
erreichen. Es meint, der bloße Wunsch genüge, und es versteht daher sachliche
Belehrungen nicht". Demgemäß steht auch das Wünschen oder Wollen im
Mittelpunkt des frühkindlichen Weltbildes.
Grundformen des Denkens im Mythos 21
(267) oder der Liebe Gott entzündet die Sonne "mit Holz und Kohle".
Der Mond ist eine Wolke, die an einer von den Menschen abgeschossenen
Rakete Feuer gefangen hat, und die Wolken selbst stammen aus den
Kaminen unserer Häuser (270f.). Die Mondviertel werden jeweils zu Neu-
mond gemacht oder entstehen dadurch, daß der Mond auseinander-
gesclmitten wird (275). Die Himmelskuppel ist ein Steingewölbe, das der
Liebe Gott verfertigt hat (296) usw. Besonders deutlich wird das techno-
morphe Denken in den .Anschauungen über die Herkunft der Säuglinge.
Diese werden von den Eltern aus bereitgestelltem Fleisch "verfertigt",
ja wörtlich "mit den Händen modelliert" (385). In allen diesen Fällen
macht sich das Kind über das "Wie" der vermeintlichen Herstellung,
über ihre handwerklichen Einzelheiten, weiter keine Gedanken.
Erst mit fortschreitender geistiger Entwicklung und wachsenden Sach-
kenntnissen wird die "technische" Stufe des artificialisme erreicht, auf
welcher statt der menschlichen Intention das Verhalten des Materials
in den Vordergrund tritt. Das Kind lernt die Funktion einfacher Maschinen
verstehen und mit der Erkenntnis der Eigengesetzlichkeit des Werkstoffes
tauchen die Grenzen auf, die dem menschlichen Machen und Hantieren
durch jene Gesetzlichkeit gesteckt sind. Durch die Einsicht in die imma-
nenten Regelmäßigkeiten des Naturgeschehens wird der Glaube an die
Allmacht des menschlichen Wollens zugunsten einer von diesem unab-
hängigen Ordnung eingeschränkt (395f.). Doch auch der Natur wird auf
einer vierten Stufe, die Piaget als "immanenten Artüizialismus" bezeich-
net, eine technomorphe Funktion zugeschrieben: "La nature est heritiere
de l'homme et fabrique a la maniere de l'ouvrier ou de l'artiste" (397).
Dagegen spielen biomorphe und zumal sexuelle Modellvorstellungen
im kindlichen Denken aus begreiflichen Gründen nur eine untergeordnete
Rolle. Vorhanden sind sie zwar, doch sie treten gewissermaßen bloß als
Sondergruppe des "artificialisme" auf, da ja das Werden der Lebewesen
selbst in technomorpher Weise aufgefaßt wird. So spricht das Kind von
der "Geburt" der Sonne und des Mondes, die aber ihrerseits irgendwie
als "Herstellungsvorgang" erscheint, und von einem "Wachstum" der
Gestirne, die bei ihrer Entstehung klein waren wie Säuglinge (269, 272).
Nur zwei besonders anschauliche Beispiele aus Europa seien noch erwähnt.
Im Weltschöpfungsbericht des finnischen Kalewala-Epos hämmert der
Schmied Ilmarinen den Himmel aus einem Stück besten Stahles so kunst-
voll, daß man nirgends Spuren von Hammer und Zange daran sieht,
spannt ihn als Gezelt über die Erde und heftet die silbernen Sterne und
den Mond· daran. Setzt dieser Mythos schon eine hohe Entwicklungsstufe
des Handwerks voraus, so gehen die Motive eines bulgarischen Märchens,
das uns allerdings in Gestalt einer christlichen Legende überliefert ist,
vielleicht in graue Frühzeit zurück. Die Himmelskörper sind in dieser
Erzählung Tonkugeln, die das Christuskind geknetet und auf Ziegel-
steinen getrocknet hat, um mit ihnen zu spielen. Es wirft sie in die Luft,
da wird aus der größten nach Gottvaters Willen die Sonne, aus den übrigen
werden die anderen Gestirne. Um seine Kugeln wieder herunterzuholen,
wirft Christus mit Erde nach ihnen, die sich gleichfalls verwandelt, näm-
lich in die kleinen Sterne der Milchstraße1 .
Mit der Entwicklung und Differenzierung der Kultur wird die Zahl
der künstlerisch-handwerklichen Tätigkeiten und Erzeugnisse, die als
Modelle der Welterklärung zur Verfügung stehen, immer größer: Kleidung,
Hausrat, Werkzeuge, Waffen und die Verfertigung aller dieser Gegen-
stände, schließlich Hausbau und Städtebau.
Den Motiven der Weltenwebe, des Sternenmantels und des Himmels-
zeltes hat Robert Eisler seine umfangreiche Monographie gewidmet.
Ihnen verwandt ist die Auffassung des Himmels als Hut oder Helm, als
Dach oder als gewölbte Kuppel. In entsprechender Weise kann die Sonne
als Schild oder als Wagenrad, das."Weltenrund" als kosmisches Fahrzeug
gedeutet werden. Da jedoch hier ebenso wie in den Vorstellungen vom
"Weltenhaus" mit seinen Stockwerken und von der "kosmischen Stadt"
nicht nur Naturerscheinungen technomorph interpretiert, sondern oft auch
umgekehrt menschliche Artefakte nach wirklich oder vermeintlichen
makrokosmischen Vorbildern gestaltet werden, fallen diese Formen mythi-
schen Denkens bereits in jene Gruppe, bei welcher ein komplizierter
Prozeß von Projektion und Reflexion stattfindet. Ihre Behandlung erfolgt
daher später.
Die technomorphen Leitbilder wurden zweifellos schon zu einer Zeit
verwendet, in welcher der Vater der Familie zugleich auch ihr Handwerks-
meister war. Mit der fortschreitenden Arbeitsteilung und dem Entstehen
von Herrschaftsverbänden wird jedoch das Handwerk zum Geschäft eines
eigenen, oft nicht sehr angesehenen Standes. So büßt es in vielen Hoch-
kulturen gegenüber der Tätigkeit der Herrschenden an Rang ein. Diese
Entwicklung hat ihre weltanschaulichen Folgen. Königsgötter treten in
den Vordergrund, die im Herrenhaus oder Palast ihre Macht betätigen
und sich nicht in der unsauberen und unvornehmen Werkstatt plagen
müssen. Wohl sind die Handwerksgötter wegen ihrer Kunstfertigkeit
geschätzt, doch werden sie vom Götteradel nicht als ebenbürtig anerkannt
1 F. KERN: Beginn, S. 121, erkennt ebenfalls die für das primitive Denken
eigentümliche moralische Deutung des Naturgeschehens: "Diese naiven
kosmischen Geschichten können erst wir als Hineinspiegeln von synderetisch
Wirklichem in das Kosmische erklären; der Wildbeuter kann und will diese
Sphären nicht auseinanderhalten. "
2 H. KELSEN: Vergeltung und Kausalität, Den Haag 1946. - Die Seiten-
zahlen werden im folgenden Abschnitt direkt in den Text gesetzt.
26 Grundformen des Denkens im Mythos
beobachtet wie beim Erlegen des Wildes, offenbar um den Zorn der im
Baum vermuteten Seele zu bannen (88). Hiebei kann wie in vielen ähn-
lichen Bräuchen auch die Vorstellung mitspielen, daß in Tieren und
Pflanzen menschliche Totenseelen reinkarniert sind.
Bereits auf urtümlicher Stufe gibt es also neben der Kosmologie und
Kosmogonie des "Machens " , "Herstellens" und "Formens" eine Welt-
erklärung mit Hilfe der Begriffe des "Herrschens", "Befehlens" oder "Ver-
geltens". Das Universum ist nach dieser Auffassung nicht ein Artefakt,
sondern eine Familie oder Sippe mit Vater und Ahnherren, später ein
Dorf oder Stamm mit seinem Häuptling und schließlich in den Hoch-
kulturen ein Staat mit seinem König. Seine Ordnung ist eine Ordnung
des Ranges und der Macht, der Sitten und Gebräuche, Rechte und Pflich-
ten, Belohmmgen und Strafen - kurz ein vollständiges soziales Rollen-
spiel, in das der Mensch hineingeboren wird und durch das er eine vor-
gegebene "Stellung im Kosmos" erhältl. Aber auch Einzelerscheinungen
des Naturgeschehens, deren Zusammenhänge untereinander und deren
Beziehungen zum Menschen werden, wie wir gesehen haben, nach sozialen
Leitbildern verstanden.
Im Laufe der Entwicklung von Kultur und Gesellschaft gestaltet sich
auch die soziomorphe Weltauffassung weiter aus, da immer umfassendere
und reicher gegliederte Sozialstrukturen als Modelle für die Vorstellungen
von den Göttern und die Deutung der Erfahrungswirklichkeit zur Ver-
fügung stehen. So differenziert sich das "sozio-kosmische Universum",
das Götter, Menschen und Dinge umfaßt, auf dem Boden der Klanver-
fassungen zu einem System von Abstammungslinien, die alle zu dem
gemeinsamen Urvater hinaufführen. Man hat sogar zu zeigen versucht,
daß in den kosmologischen Mythen der betreffenden Völker das Vater-
recht vorherrscht und "der Himmel ebenfalls in klanischer Weise ausge-
bildet ist, denn die Wesen der metaphysischen Welt leben in Dörfern
und Gruppenformationen, wie die Lebenden auf der Erde. So kann man
von einer klanischen Religion und von einer klanischen Metaphysik und
Philosophie sprechen"2. Auch dort, wo primitive und höhere Kulturen
aufeinanderstoßen, sucht man manchmal die auftretenden weltanschau-
lichen Schwierigkeiten mit Hilfe soziomorpher Modelle zu lösen. Bei den
Bhil, die mehrere Gottheiten aus dem Hinduismus übernommen haben,
werden diese dem Hochgott Bhagwan als "Angestellte" (meIeta) unter-
geordnet. Dabei weisen die Bhil gerne zum Vergleich auf die soziale Rang-
ordnung in der umgebenden indischen Kultur hin, auf den Fürsten und
seine Beamten. Diese sind Untergebene und Vermittler, an die man sich
zuerst wendet, wenn man vom Fürsten etwas zu erreichen beabsichtigt!.
Die Parallele zu den Pantheonbildungen der alten Imperien, in welchen
die Götter der einzelnen Städte und Provinzen dem Reichsgott gewisser-
maßen als Vasallen unterstellt werden, ist hier offenkundig.
Ein geradezu klassisches Beispiel einer sozio-Iwsmischen vVeltauf-
fassung, die an innerer Folgerichtigkeit keinen Vergleich mit den Kosmos-
spekulationen der Hochkulturen zu scheuen braucht, aber doch noch ganz
im vorstaatlichen Sippenverband wurzelt und ein starkes biomorphes
Element enthält, ist uns bei den Bantustämmen bekannt geworden.
P. Placidius Tempels, dem wir die Darstellung dieses Weltbildes ver-
danken, nennt das Universum dieser Stämme eine streng geregelte "onto-
logische Hierarchie" von Kräften, die mit der indischen Kastenordnung
vergleichbar ist 2 • Sie entspricht genau der Sippenverfassung der Bantus.
An der Spitze steht Gott, der die Lebenenergie, die zugleich Rang und
Macht bedeutet, den Stammeltern der verschiedenen Klans mitgeteilt
hat. Von diesen geht sie nach dem Grundsatz der Erstgeburt auf die
kommenden Generationen über. Der Erstgeborene, also der Älteste jeder
Sippe, verbindet diese und darüber hinaus alles Leben in seinem Macht-
bereich mit dem göttlichen Urquell der Lebenskraft. An ihm hängt die
Fruchtbarkeit von Mensch, Tier und Pflanze im Sippenbereich, und er
gibt seinerseits jene Energie an seinen Erstgeborenen weiter. So geht eine
ununterbrochene Rang- und Lebensordnung von Gott über die Ahnen-
reihen zu den lebenden Sippenhäuptern mit ihrem Anhang und darüber
hinaus zu den Tieren, Pflanzen und Mineralien. Der Kosmos erscheint
also einerseits als gewaltiger Sippenverband und andererseits wird die
Klanverfassung in die durch die soziomorphe Deutung des Universums
zustande gekommene "Weltverfassung" eingebaut und so garantiert. In
dieser umfassenden Hierarchie der Lebensränge ist für jedes Wesen vom
Gott bis zum Stein eine bestimmte Stellung vorgesehen, und jede Störung
dieser Ordnung kann schwerwiegende Folgen zeitigen. Beispielsweise kann
nur das legitime Sippenhaupt den Seinen die kosmische Lebenskraft
zuleiten, weshalb eine Machtergreifung durch Unbefugte diese Zuleitung
unterbricht und daher Unfruchtbarkeit und Mißwachs hervorruft. Das
Oberhaupt einer sozialen Gruppe erscheint hier als Mittler zwischen dieser
und den Mächten des Universums und hat damit bereits die Rolle inne,
welche der König in vielen Hochkulturen spielt.
Diese Motive kosmobiologischer Verbundenheit sind überhaupt im
Mythos sehr häufig und in der Regel direkt mit der Sorge um die Erhaltung
des Lebens und um den Lebensunterhalt verknüpft. Soziale und biologische
Gesichtspunkte sind dabei meist unlöslich miteinander verflochten.
Moralische Schuld kann Unfruchtbarkeit von Feldern, Tieren und Men-
schen herbeiführen, zu Unrecht vergossenes Blut die Erde vergiften. Den
Gerechten dagegen winkt reicher Fruchtertrag. Solche Überzeugungen
(utenok), eine Mine eine "Gurke", eine Springmine ein "Frosch", Patronen
sind· "Sämereien" usw. So findet er seinen heimatlichen Bauernhof in der
technischen Umgebung wieder. Vgl. B. H. LIDDELL HART: The Soviet Army,
London 1956, S.411.
30 Grundformen des Denkens im Mythos
lieh die Orientierung nach den Kardinalpunkten und zumal dem Osten
und Westen als den Orten des Aufganges und Unterganges der Sonne.
Schon altsteinzeitliche Gräber sind in ost-westlicher Richtung angelegt,
weshalb man vermuten darf, daß diese Weltgegenden bereits damals mit
irgendwelchen bedeutsamen Vorstellungen verknüpft waren. Eine erheb-
liche Wichtigkeit für das menschliche Handeln gewannen die astralen
und meteorologischen Vorgänge mit der Orientierung an den Gestirnen,
wie sie viehzüchtende Nomaden oder Karawanenführer in den Steppen
und Wüsten oder die Seefahrer auf dem Meere geübt haben. In Ackerbau-
kulturen bildet sich ein "Bauernkalender" heraus, nach welchem die
Landarbeit dem Rhythmus der Jahreszeiten und anderen wirklichen oder
vermeintlichen kosmischen Gegebenheiten angepaßt und eingefügt wird.
Doch die echten astronomischen Beobachtungen, die aus solchen Gründen
gemacht wurden, bleiben nicht isoliert, sondern stehen im Zusammenhang
der gesamten mythischen Weltauffassung.
Sehr oft tritt im Rahmen dieser Weltauffassung der Glaube an die
kosmischen Zahlen auf, mit deren Hilfe die Übereinstimmung von mensch-
lichem Handeln und universeller Ordnung herbeigeführt werden soll. Den
verschiedenen Zahlen werden nämlich bestimmte kosmische Bedeutungen
verliehen, die allerdings örtlich und zeitlich stark variieren, da sie weit-
gehend willkürlich sind. Beispielweise kann die Eins die Gesamtheit des
Universums oder das androgyne Weltprinzip symbolisieren, die Zwei etwa
Himmel und Erde, Sonne und Mond, Tag und Nacht oder die beiden
Geschlechter. Die Drei mag den drei Stockwerken des Weltgebäudes -
Himmel, Erde und Unterwelt - entsprechen, sie wird auch häufig dem
männlichen Prinzip zugeordnet. Die vier Weltgegenden oder Jahreszeiten
geben ihrer Zahl die kosmische Bedeutung, aber oft gilt diese auch als
Symbol des Weiblichen. Tritt zu den Weltgegenden die Mitte hinzu, dann
ergibt sich die Fünfzahl, werden jedoch die Kardinalpunkte mit Zenith
und Nadir oder Himmel und Erde kombiniert, dann erhält man die Sechs,
und bezieht man noch den Mittelpunkt ein, die Sieben. Diese ist aber
auch die Zahl der Planeten oder resultiert aus der Vereinigung des Männ-
lichen und Weiblichen (3 plus 4) usw. Praktisch kann jede Zahl eine
derartige Bedeutung erhalten, indem man sie entweder direkt mit kos-
mischen Erscheinungen in Beziehung setzt oder sie als Kombination kos-
mischer Zahlen (deren Summe, Produkt oder Potenz) auffaßt. Darum war
es den verschiedenen Systemen der Zahlenspekulation möglich, diese
Thematik ins Endlose auszuspinnen1 • Für unsere Untersuchung ist es
aber wichtiger, daß in den alten Hochlrulturen nicht selten die Maße und
Proportionen von Bauwerken oder die Zahl von .Ämtern und Würden-
trägern nach solchen Gesichtspunkten festgelegt wurden, um dadurch
den Tempel, den Palast oder die ganze Stadt, aber auch die Organisation
1 Die Verwendung kosmischer Zahlen und die Orientierung sind oft mit
der Rückbeziehung einer soziomorphen oder technomorphen Deutung des
Kosmos auf menschliche Gesellschaftsformen und Artefakte verbunden, doch
ist diese Verbindung keine notwendige und liegt nicht immer vor. Im folgenden
werden manchmal Beispiele "kosmologischer" Sozialorganisationen oder
Bauwerke erwähnt werden, bei denen eine vorausgegangene Interpretation
des Universums nach soziomorphen oder technomorphen Leitbildern wenigstens
vorläufig nicht nachweisbar ist. Es muß künftiger Forschung überlassen
bleiben, die betreffenden Beispiele entweder in den entsprechenden Rahmen
hineinzustellen oder aus der hier behandelten Problematik endgültig aus-
zuscheiden.
2 Vgl. J. WACH: Religionssoziologie, Tübingen 1951, S. 55f. - E. Rous-
SELLE: Konfuzius und das archaische Weltbild der chinesischen Frühzeit,
"Saeculum" V (1954).
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 33
Topitsch, Metaphysik. 3
34 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie
die Edikte aus und siegelt die Briefe"l. Dieses Bild des Sonnengottes Re
geht bis auf die Pyramidentexte zurück. So erscheint die Herrschafts-
ordnung des Staates schon früh als Leitbild des Weltverständnisses 2 •
Zugleich aber wird die soziomorphe Projektion auf die Gesellschaft rück-
angewendet, wenn man den Pharao als Sohn oder irdisches Gegenstück
des kosmischen Machtträgers verehrt.
Im übrigen besteht über das Verhältnis der sozio-kosmischen Welt-
ordnung zum Wesen und Willen des Königsgottes oder Gottkönigs ebenso-
wenig Einmütigkeit wie über ihre Beziehungen zu den tatsächlichen
Zuständen in Natur und Gesellschaft. Meist glaubte man, daß Re "das
Rechte, das aller Ordnung Urgrund ist, die Ma-at, in die Schöpfung
gesenkt hat" hat und ihre Einhaltung überwacht3 • Sie ist also in mythischer
Sprache seine Tochter. Manchmal erscheint die Ma-at jedoch als der Ka
(Lebenskraft) oder die Mutter des Sonnengottes, daher als eine über ihm
stehende und seine Macht begründende Instanz4 • Diese Widersprüche sind
letztlich die kosmische Spiegelung des so spannungsreichen Verhältnisses
zwischen Herrschertum, Satzung und Tradition, wie es in der menschlichen
Gesellschaft vorliegt.
Es ist daher nicht erstaunlich, wenn der politische Bedeutungsgehalt
jener "Weltordnung" stark umstritten war. Diesem im engeren Sinne
ideologischen Problem hat vor allem J. Spiegel Aufmerksamkeit ge-
schenkt. Wenn er auch mitunter zu Uberinterpretationen neigt und man-
ches zu sehr modernisiert, verdienen seine leitenden Gesichtspunkte doch
ernste Beachtung. Im Alten Reich, besonders am Höhepunkt der Königs-
macht, vermag der Herrscher die Ma-at mit seinem Wollen gleichzusetzen.
Snofru konnte sich sogar den Titel "Herr der Ma-at" als Eigennamen
beilegenS . Später steht dagegen die Ma-at neben oder über dem König 6 •
3*
36 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie
Wiedergabe des Kosmos darstellen SOlll. Dann entspricht das Dach dem
Himmel, das Fundament der Erde. Mit großer Folgerichtigkeit ist dieser
Gedanke im Heiligtum von Dendera durchgeführt worden, in welchem
die Decke eines Raumes mit der unter dem nicht ganz zutreffenden Namen
eines Zodiakus bekannten Darstellung des Himmels geschmückt war.
Dieses Himmelsbild, das allerdings bereits unter hellenistischem und
mesopotamischem Einfluß steht, beruht auf dem Grundsatz einer strikten
Entsprechung von Mikrokosmos und Makrokosmos. Die geographische
und politische Struktur des irdischen Ägypten wird in den Sternenhimmel
hineingetragen. Wie auf Erden, so gibt es auch im Himmel einen Nil und
der tägliche Weg der Sonne ist eine Überfahrt über diesen Fluß. Die Gaue
des Landes kehren ebenfalls am Firmament wieder, und zwar treibt man
die Übereinstimmung zwischen "oben" und "unten" so weit, daß die
Provinzen Ober- und Unterägyptens auch am Himmel zwei voneinander
getrennte Reihen bilden. Grundsätzlich sollen dabei die einzelnen Gaue
den Tierkreiszeichen zugeordnet werden, doch stimmt deren Anzahl nicht
überein, so daß man zu verschiedenen Aushilfen greifen mußte, beispiels-
weise zur Einbeziehung der Planeten. Dennoch sind die Entsprechungen
zwischen den Zodiakalzeichen, Planeten und sonstigen Symbolen des
Himmelsbildes auf der einen und den ägyptischen Gauen oder Städten auf
der anderen Seite genau feststellbar 2 •
Das Bauwerk konnte der kosmischen Ordnung auch einfach durch seine
Orientierung eingefügt werden. Schon die vier Seiten der Pyramiden sind
genau nach den vier Weltgegenden ausgerichtet. Wenngleich die Bedeu-
tung dieser Anlagen nicht mit Sicherheit zu ermitteln ist, liegt doch eine
sozio-kosmische Interpretation nahe: "Gleichwie die im Äquator stehende
Sonne ihre Strahlen ebenmäßig über die Nordhälfte und über die Süd-
hälfte aussendet, so beherrscht Pharao beide Königreiche, Unterägypten
und Oberägypten, ja das ganze Universum von der Mitte aus 3 ." Allerdings
wurde diese Orientierung bei den späteren Pyramidenbauten verlassen,
wie auch die Richtung der Tempelachsen schwankt. Manche Heiligtümer
waren nach den Kardinalpunkten ausgerichtet, so das durch König
Sethos 1. angelegte von Abydos. Welche Bedeutung man der kosmisch
richtigen Lage beimaß, geht daraus hervor, daß nach einer Inschrift der
Herrscher persönlich die vier Ecken des Tempels genau gemäß den vier
Stützen des Himmels feststellte4 und ihn dadurch zum Abbild des Welt-
gebäudes machte. Andere Kultbauten sind nach dem Aufgangspunkt der
Sonne in der Winterwende gerichtet, viele nach den Fixsternen.
Die Grundgedanken des sozio-kosmischen Universums und der kos-
mischen Bauwerke sind auch für die geistige Welt Mesopotamiens maß-
gebend, freilich in einer etwas anderen Ausprägung. Für die Entstehung
Macht. Nur jene Naturkräfte, deren Macht dem Menschen Ehrfurcht und
Schrecken einflößte und die daher als Götter galten, hatten Sitz und
Stimme in der Ratsversammlung des kosmischen Staates. Doch auch
unter ihnen gab es eine Rangordnung. Die höchste Autorität hatte der
Himmelsgott Anu inne, der den Vorsitz führte. Seinem Sohn, dem Sturm-
gott Enlil (wörtlich: "Herr Sturm") kam gewissermaßen die Exekutive
zu. Er hatte die Durchführung der Beschlüsse - wenn notwendig mit
Gewalt - sicherzustellen. Unter dem Himmel und dem Luftreich der
Stürme breitet sich die Erde aus, welche die Mesopotamier als frucht-
und segenspendende Mutter verehrten, als "Nin-tu", "die Herrin, die
gebiert" oder als "Königin der Götter". Doch wurde die Erde manchmal
auch als männliches Wesen betrachtet und En-ki, "Herr des Erdreiches"
oder einfach "Herr Erde" benannt. So führten drei von den vier Haupt-
gottheiten und Grundmächten der Natur den Titel der Herrschaft schon
in ihrem Namen. Außer diesen Honoratioren gab es in der Hierarchie des
sozio-kosmischen Universums jedoch noch Wesenheiten geringeren Ran-
ges. Wie der menschliche Staat verschiedene untergeordnete Gruppen -
Familien, Hofgemeinschaften usw. - umfaßt, so überwölbte auch der
kosmische "Staat" diverse Machtgefüge zweiter Ordnung: göttliche
Familien und Hausgemeinden, göttliche Landgüter mit Verwaltern, Auf-
sehern, Knechten und anderen Bediensteteni.
So galt auch die Struktur des Universums als Herrschafts- und Rechts-
ordnung oder als Verwaltungseinheit. Dem obersten Träger der kosmischen
Staatsautorität, dem Himmelsgott Anu, gehorchten die Gesteine, Pflan-
zen und Tiere, doch auch die menschliche Sozialordnung war durch ihn
legitimiert und garantiert. Er galt als die Kraft, die "den Gehorsam gegen-
über Geboten, Gesetzen und Gebräuchen in der Gesellschaft und den
Naturgesetzen der physikalischen Welt - kurz also: der Weltordnung
gegenüber sichert"2. Wo sein Ansehen nicht ausreicht, erzwingt Enlil
die Befolgung der Befehle mit Gewalt.
Später gingen viele Funktionen von Anu und Enlil auf den babyloni-
schen Reichsgott Marduk über, den Herrscher, der zugleich Autorität und
Gewalt besitzt. In eindrucksvoller Weise zeigt das Weltschöpfungsepos
Enuma elisch, wie Marduk nach seinem Sieg über die Mächte des Chaos
dem Universum gewissermaßen seine Verfassung gibt. Hier wie in Ägypten
erscheint also die Ordnung des Kosmos als eine gewaltige Organisations-
leistung. Der Kalender wird eingerichtet, Sterne und Sternbilder werden
am Himmel angebracht, um an Hand ihres Auf- und Unterganges das
Jahr, die Monate und die Tage zu bestimmen. Die Einhaltung der so
festgelegten Ordnung wird den Himmelskörpern zur Pflicht gemacht,
welche also buchstäblich den "göttlichen Gesetzen" gehorchen. Der
Planet Jupiter erhält das Amt, über das rechtzeitige und vorschriftsmäßige
Erscheinen der Gestirne zu wachen, und dem Mond wird eine besonders
"Herr über die vier Weltgegenden" an, und sein Sohn Naram-Sin nannte
sich "König der vier Weltgegenden". Dieser Königstitel bürgerte sich
bald ein und wurde von den babylonischen und assyrischen Machthabern
übernommenl • Der menschliche Universalherrscher galt als von dem
göttlichen Herrscher eingesetzt. In der Regel hatten die großen meso-
potamisehen Götter Anu, Enlil oder Samas die Rolle des Weltengottes
und Verleihers der politischen Weltherrschaft inne. A1s aber zeitweise
Fürsten anderer Volkszugehörigkeit größere Macht erlangten, übernahmen
deren Stadt- oder Stammesgötter diese Rolle. Beispielsweise spricht ein
sehr erfolgreicher elamitischer Stadtherr von Susa in einer Inschrift davon,
daß "Susinak (der Stadtgott von Susa) ihn anblickte und ihm die vier
Weltteile gab"2.
So erscheinen nicht nur der Herrscher, der Hofstaat und die Beamten-
schaft als irdische Wiederholung der im Weltstaat waltenden göttlichen
Wesen verschiedener Rangstufen, sondern das ganze Land oder die ganze
Erde ist in gewissem Sinne ein Abbild des Himmels mit seinen vier Haupt-
richtungen. Doch wurden andererseits auch geographisch-politische Ele-
mente in die Sternenwelt projiziert. Man hat in dieser Hinsicht eine sehr
weitgehende Übereinstimmung von Mikrokosmos und Makrokosmos fest-
stellen wollen. Das gesamte Zweistromland mit Euphrat und Tigris und mit
den wichtigsten Städten und großen Tempeln soll in den Himmel hinein-
gelesen und das so entstandene astrale Mesopotamien als Vorbild für
das irdische betrachtet worden sein3 • Doch eine so genaue und systema-
tische Harmonisierung von stellarem und politischem Geschehen ist nicht
nachweisbar"'. Immerhin bestehen zwischen Staaten- und Sternenwelt
besondere Beziehungen. So wurden die vier Himmelsquadranten den
vier bedeutendsten Staaten der Sargonidenzeit - Akkad (Süden), Subartu
(Norden), Elam (Osten) und Amurru (Westen) - zugeordnet und noch
in spätassyrischen Texten teilte man die Mondscheibe in vier Quadranten,
welche diesen vier Ländern entsprechen sollten. Freilich wurde die richtige
geographische Anordnung dieser Gebiete nicht immer beachtet5 •
Das mit diesen Erscheinungen eng verwandte Gebiet der Astrologie wird
an anderer SteHe im Zusammenhang behandelt werden. Vorläufig ist nur
zu betonen, daß die mesopotamische Sterndeutung einen ausgesprochen
(Hebr. 12, 23) erscheint ihr Bild als das einer Millionenstadt, die von den
Engeln als dem Hofstaat Gottes und von der Gemeinde der Frommen
bewohnt ist. Breit ausgeführt wird die Schilderung des neuen Jerusalem in
der Johannes-Apokalypse, wo es als Gegenbild der Weltstadt Rom-Babel
auftritt. Von den Einzelheiten der apokalyptischen Darstellung wird
noch die Rede sein.
Es muß betont werden, daß die jüdisch-christliche Himmelsstadt eine
andere Funktion besitzt als der politisierte Makrokosmos der altorientali-
schen Großreiche. Sie sollte nicht das irdisch Bestehende als Abbild der
universellen Ordnung verklären und so den faktischen Machtverhältnissen
oder wenigstens realisierbaren Machtansprüchen die Weihe des Absoluten
geben, sondern wesentlich im Sinne einer Unterdrückten-Ideologie die
Hoffnung auf eine Art von wunderbar herbeigeführtem, paradiesischem
Endzustand erwecken. Das himmlische Jerusalem wird als Traumstadt
einer eschatologischen Zukunft von der bedrückenden Gegenwart abge-
hoben. Paulus bedient sich (Gal. 4, 25ff.) dieses Gedankens, indem er die
Christengemeinde als Verwirklichung des himmlischen Jerusalem über
die unbekehrbare Judenhauptstadt erhebt. Die christlichen Schriftsteller
haben das Motiv übernommen und nicht selten variiert. Mit dem Schwinden
der Endzeiterwartung wurde die Gottesstadt zur Gemeinschaft derer
umgedeutet, die schon auf Erden leben als wandelten sie im Himmell .
Eine bemerkenswerte Wendung nimmt die Entwicklung bei Origenes,
der die nach den sittlich-religiösen Grundsätzen des Christentums geord-
nete Seele als das wahre Jerusalem preist 2• Die Auffassung der gerechten
Seele als Himmelsstadt oder Gottesreich bedeutet eine Angleichung des
ursprünglichen Realismus der jüdischen Apokalyptik an die platonisch-
stoische Auffassung des Menschen oder seiner Psyche als Staatswesen,
dessen richtige Ordnung angestrebt werden soll (vg1. unten, S. 124 ff., 140,
161). Von jedem astralen Verständnis der Gottesstadt distanziert sich Ori-
genes deutlich: "Einigen scheint es, daß die Stellung und Versammlung ein-
zelner Gestirne die Himmelsstadt genannt oder dafür gehalten werden
könne; dies wage ich wenigstens nicht zu bestimmen" (in Num. Hom.
XXVIII 2). Doch fühlen manche christliche Denker die Verwandtschaft
zwischen der Vorstellung des himmlischen J erusalem und dem -
gleichfalls auf den orientalischen Sternenstaat zurückgehenden -
platonischen Gedanken, daß das Urbild des gerechten Staates im Ideen-
himmel lieges.
Das himmlische Jerusalem hat aber nicht nur eine politisch-moralische
Bedeutung, sondern auch eine architektonische und steht damit im
Zusammenhang der Bauwerke von kosmologischem Sinngehalt. Es ist
anzunehmen, daß die Israeliten schon früh auch mit dieser Seite der
altorientalischen Kosmosspekulation bekannt geworden sind und wichtige
Motive aus diesem Gedankenkreis übernommen haben. Schon die Stifts-
Topitsch, Metaphysik. 4
50 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie
hütte zeigt eine ausgesprochene kosmische Symbolik. Sie gilt als Abbild
der himmlischen Gotteswohnung, ihr Modell wird Moses auf dem Berg
gezeigt (Ex. 25, 9). Ihre Seiten sind den Kardinalpunkten zugewendet
(Ex. 26, 18-22). Nach Josephus (Ant. III 180ff) und Philon (De vita
Mos. II, § 77ff.) ist die Stiftshütte ein Bild des Weltalls mit seinen drei
Teilen: das Allerheiligste ist der Himmel, das Heilige die Erde und der
Vorhof das Meer. Der Schaubrottisch mit seinen zwölf Broten versinn-
bildlicht das Jahr mit seinen zwölf Monaten beziehungsweise die Tier-
kreisbilder, der Leuchter die sieben Planetenl . Die Teppiche und Vorhänge
der Hütte sind ebenso wie die hohepriesterliehe Kleidung in den vier
Farben gehalten, die man den vier Elementen oder vier Weltgegenden
zuordnete 2 • Eine ähnliche Symbolik war für den salomonischen Tempel
und die Tempelvision des Ezechiel maßgebend3 • Die Tempelanlage, wie
sie Ezechiel vorschwebte, ist streng quadratisch und mit den Seiten
nach den vier Weltgegenden orientiert, wobei das Haupttor im Osten
liegt (Ez. 40ff). Auch die heilige Stadt (Ez. 48, 30-35) hat die Gestalt
eines Quadrates, dessen 4500 Ellen lange Seiten gleichfalls nach den
Kardinalpunkten gerichtet sind und über je drei Tore verfügen. So hat
die Stadt insgesamt zwölf Tore, welche den zwölf Stämmen Israels
zugeordnet sind. Auch hier macht sich also die kosmische Zwölfzahl
geltend.
Diese "Stadt Jahwes" ist das direkte Vorbild des himmlischen Jeru-
salem der Apokalypse des Johannes (Apk. 21, 12ff.), welches ebenfalls
quadratisch angelegt ist und nach jeder Himmelsrichtung drei Tore
besitzt. Auf den Pforten stehen die Namen der zwölf Stämme der
Söhne Israels, auf den zwölf Grundsteinen der Stadtmauer die Namen
der Apostel. Die Grundsteine sind mit Juwelen verziert, und zwar jeder
mit dem Edelstein eines der Tierkreiszeichen. Diese apokalyptische
Himmelsstadt hat in der gesamten Christenheit fortgewirkt und ist nicht
selten mit verwandten außerchristlichen Vorstellungen verschmolzen.
Kosmische Bedeutung besaß schließlich auch der Ornat der Hohe-
priester, welcher ähnlich wie das Kleid Marduks eine Form des Welten-
mantels darstellt 4 • Die Symbolik seiner Farben wurde schon erwähnt,
aber auch die zwölf Edelsteine des Brustschildes und die Granatäpfel
und Glöckchen am Rocksaum, deren Zahl mit 12, 72 oder 365 angegeben
wird, haben offenbar einen kosmisch-kalendarischen Sinn.
Wie das jüdische, 80 fügt sich auch das persische Denken in die sozio-
kosmische Vorstellungswelt des Alten Orients ein. Wichtige Motive haben
die Perser umnittelbar aus Mesopotamien übernommen. Hier wie dort
gilt der irdische Herrscher als Abbild und Beauftragter des Himmels-
hat. Wenngleich diese Ausprägung bei jedem Volke eigene Züge trägt
und keine pedantische Gleichförmigkeit zeigt, so sind doch ihre Grund-
linien deutlich genug erkennbar. Der Staat mit seinen Herrschern und
Gesetzgebern, mit seiner Hierarchie von Beamten und Soldaten ist das
Modell für das Verständnis des Universums, und zwar sowohl für die
Vorstellungen von Gott oder den Göttern wie für die Deutung des
gestirnten Himmels und des Waltens der Naturkräfte. Der durch den
Gebrauch dieser soziomorphen Analogien zustande gekommene "politi-
sierte Kosmos" wird seinem Urbild, dem menschlichen Staat, über-
geordnet. Der irdische König und Gesetzgeber erscheint dann als Statt-
halter oder Beauftragter seines kosmischen Abbildes, ja es kann so weit
kommen, daß der Herrschergott als einziger Herr und einzige Rechts-
quelle des Volkes gilt, das an ihn glaubt. Fernerhin bemüht man sich oft,
die Staatsorganisation dem soziomorph gedeuteten Kosmos nachzubilden
oder anzugleichen. Ähnlich verhält es sich bei den technomorphen Denlr-
formen. Der Himmel oder die Welt wird als Mantel, Zelt oder Bauwerk
angesehen und in Rückanwendung dieser Projektion werden die Mäntel
und Zelte von Herrschern und Priestern, die Tempel und Paläste als
Abbilder des Firmamentes oder des Universums aufgefaßt und ausgeführt.
Freilich ist dieser Prozeß von Projektion und Reflexion nicht überall
nachweisbar. Manchmal wird der Kosmos soziomorph gedeutet, ohne
daß eine Rückanwendung auf die Gesellschaft oder die künstlerisch-
handwerkliche Praxis feststellbar ist, und manchmal werden Gesellschafts-
formen oder Kunstwerke vermeintlichen oder wirklichen kosmischen
Verhältnissen angepaßt, ohne daß wir eine vorausgehende soziomorphe
oder technomorphe Interpretation des Universums erkennen können.
Teilweise mag dies auf die Lückenhaftigkeit unserer Kenntnisse zurück-
zuführen sein, oft aber dürfte es sich tatsächlich nur um die einfache
Projektion intentionaler Modelle in die außermenschliche Natur oder
die Einfügung menschlichen Tuns in die kosmische Ordnung handeln.
Die altorientalische Hochmythologie hat auch Europa schon früh
beeinflußt. Bereits die archaische Dichtung der Hellenen hat viele Motive
aus ihr entlehnt, und Orphik und Pythagoreismus sind von ihr ebenso
abhängig wie die platonische Philosophie. Seit aber die Siege Alexanders
die Schleusen öffneten, ergoß sich östlicher Geist in breitem Strome
nach dem Westen. Die Übernahme des orientalischen Gottkönigtums
durch die Cäsaren und die Missionierung des Römerreiches durch die
Religionen des Ostens, von denen schließlich das Christentum siegreich
blieb, haben dieser Vorstellungswelt endgültig das Heimatrecht in Europa
gesichert. Dabei haben bodenständige Formen intentionaler Weltauffassung
den Weg bereitet und sind auch wohl in die umfassenden Synthesen aufge-
nommen worden. Bevor wir uns aber dieser "abendländischen Geistes-
entwicklung" zuwenden, soll ein kurzer Überblick über die weltweite Ver-
breitung der hier behandelten Grundformen des Denkens gegeben werden.
Natur und Gesellschaft vgl. auch :M. GRANET: La religion des Chinois, Paris
1922, S. 17: "Le sentiment que le monde naturel et la SOCÜ3te humaine sont
etroitement solidaires a ete l'element de fond de toutes les croyances chinoises"
und H. G. CREEL: Sinism. A. Study of the Evolution of the Chinese World-
View, Chicago 1929. - H. F. RUDD: Chinese Social Origins, Chicago 1928,
S. 72ff. spricht von dem "socialized universe" der Chinesen.
1 A. FORKE: The World-Conception of theChinese, London 1925, S. 68ff. -
H. F. RUDD, a. a. 0., S. 87f.: "It was in their immediate life, saturated with
domestic sentiment, that the Chinese found the basis for the interpretation
of the cosmic process. As there was a parental ruler among men, so they
projected this same idea into the celestial world. The individual ruler in human
society was only one member of the whole social order ... so in the celestial
world the cosmic order was more important than any individual being . .. the
cosmic order, which, as we shall see, is distinctly a moral order" (Hervorgehobenes
im Origina:!).
2 A. FORKE, a. a. 0., S. 147ff.
3 O. FRANKE: Der kosmische Gedanke, S.14, Anm. 2.
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 59
recht eigentlich das Bindeglied zwischen dem Universum und der Men-
schenwelt. Daneben gibt es zahllose andere Bilder aus dem sozialen
Leben. So ist etwa die Sonne der ruhig waltende Fürst und der Mond
der betriebsame und geschäftige Minister!. Verhältnismäßig bescheiden
ist dagegen die Rolle der technomorphen Analogien, wenn gelegentlich
das Universum als ein Schmelzofen und das gestaltende Prinzip als Gießer
betrachtet wird 2 •
Schließlich haben die Chinesen die soziomorphe Weltdeutung zu einem
allumfassenden und bis in die Einzelheiten pedantisch ausgearbeiteten
System entwickelt. Der Himmel wurde in fünf Paläste eingeteilt, die den
vier Weltgegenden und der Mitte entsprechen sollten. Im mittleren und
vornehmsten Palaste, dem Bereich der immer sichtbaren Zirkumpolar-
sterne, residiert der "Große Eine" - der Polarstern; andere Gestirne
dieses Raumes heißen "der Kronprinz", "der Prinz", die "Fürstin" usw.
Einen hohen Rang nimmt der Große Bär ein, der als "Wagen des Zentral-
herrschers" die Gebiete der vier Himmelsrichtungen regiert, das Yin und
Yang sondert, die vier Jahreszeiten einsetzt, die fünf Elemente ausgleicht
und andere organisatorische Tätigkeiten ähnlicher Art ausübt. Die einzel-
nen Sterne des Großen Bären heißen "der oberste Heerführer", "der
zweite Heerführer", "der erste Ratgeber" usw. Drei Sterne in der Nähe
des Polarsternes sind die drei "kung" (Hauptberater des Herrschers),
zwölf andere sind seine Leibwächter. So wird die ganze komplizierte
Organisation des voll ausgebildeten Kaiserstaates und seiner Hofhaltung
in den Sternenhimmel projiziert. Da gibt es am Firmament eine Haupt-
gemahlin und Hofdamen, einen Justizverwalter und eine berittene Schutz-
wache, eine Regierungshalle und sogar einen kaiserlichen Wagenschuppen.
Otto Franke, dessen Monographie "Der kosmische Gedanke in Philoso-
phie und Staat der Chinesen" die vorliegende Darstellung weithin gefolgt
ist, spricht in diesem Zusammenhang mit Recht von einer "Politisierung
des Kosmos". Man "machte die Sterne zu Herrschern mit einem vollstän-
digen Hofstaate und sah in dem gestirnten Himmel ein wohlorganisiertes
Staatswesen" 3.
Die Himmelskörper werden aber nicht nur nach gesellschaftlichen
Vorbildern benannt, sondern sie üben auch bestimmte soziale Funktionen
aus. Wie die "Sonne der Gerechtigkeit" der nahöstlichen Mythen, so
sind hier vor allem die Planeten die Hüter des Rechtes und Träger der
Strafgewalt über die menschlichen Verfehlungen. Jupiter ist ganz all-
gemein der Schützer der Gerechtigkeit; wenn man zu Unrecht tötet,
dann kommt die Strafe vom Planeten Venus, während Merkur Justiz-
vergehen und Mars rituelle Verstöße ahndet 4 • Andererseits können auch
die irdischen Verhältnisse auf das astrale Geschehen einwirken: werden
ihren Grundzügen etwa drei Jahrtausende überdauert und ist bis fast
in die Gegenwart erhalten geblieben. Makrokosmos und Mikrokosmos,
Natur und Gesellschaft sind letzlieh von einem einzigen Ordnungsprinzip
beherrscht: "Die Begriffe Kosmos und natürliche oder sittliche Welt-
ordnung waren für die Chinesen von' den Begriffen Staat, Beamtentum
und Verwaltungstätigkeit nicht zu trennen; sie griffen so ineinander
über, daß aus jeder (scheinbaren) Abnormität in den Gestirnbahnen oder
in den Erscheinungsformen der Jahreszeiten oder aus jedem anderen
ungewöhnlichen kosmischen Vorgange mit Sicherheit auf entsprechende
Unordnung im Staatswesen geschlossen wurde. Das Schriftzeichen yi,
das ursprünglich eine ,Abweichung' (von der Norm) bezeichnet, bedeutet
gleichzeitig ,Katastrophe'. Auf dieser Gleichsetzung von Kosmos und
Staat beruht das gesamte chinesische Kultursystem. "1
Wie der Staat, so wurde auch die Bauform dem Universum und seiner
Ordnung nachgebildet oder eingegliedert. Die Idee dieser Ordnung und
Harmonie liegt möglicherweise bereits der Gestalt und den Verzierungen
von Bronzegeräten der Schang-Zeit zugrunde2 • Ganz offenkundig sind
aber die kosmologischen Grundsätze in der Anlage der Hauptstadt der
Könige von Tschou. Diese bildete - zumindest in der Theorie - ein Viereck
mit zwölf Toren, drei auf jeder Seite. Das mittlere Haupttor im Süden
war nach der Überlieferung dem König vorbehalten3 • Auch fernerhin ist
das Universum die Norm für die Bauform geblieben. Wichtige Gebäude
wurden der Weltstruktur angepaßt, indem man sie streng nach den vier
Himmelsrichtungen orientierte und ihre Proportionen nach den "kos-
mischen Zahlen" bemaß. Nach solchen Prinzipien waren auch später die
Reichshauptstadt und der kaiserliche Palast, der ihr Zentrum bildete,
angelegt. Die Hauptstraßen und Tore, Höfe und Hallen, Mauern, Opfer-
stätten, Tempel und Altäre waren fast ausnahmslos nach den Kardinal-
punkten ausgerichtet4 • Der Tempel des Himmels lag im Süden, jener der
Erde im Norden der Hauptstadt; es war nämlich der Süden dem männ-
lichen und himmlischen Prinzip des Kosmos (Yang) und der Norden dem
erdhaften und weiblichen Prinzip (Yin) zugeordnet. Die wichtigsten der
großen Opfer des Kaisers wurden am Tag der Wintersonnenwende (Herr-
schaftsantritt des Yang) im Himmelstempel und am Tage der Sommer-
sonnenwende (Herrschaftsantritt des Yin) im Erdtempel dargebracht.
Die Gliederung und die Proportionen des Himmelsheiligtums waren von
den Yang- oder ungeraden Zahlen, jene des Tempels der Erde von den
Yin- oder geraden Zahlen bestimmt, wie denn auch sonst die kosmischen
Zahlen eine bedeutende Rolle in Baukunst und Riten der Ohinesen spielen!.
Darüber hinaus hat China ebenso wie Indien eine Theorie des kosmo-
magischen Bauens entwickelt. Im Tschou-li begegnet man der stehenden
Formel: "Nur der Zentralherrscher errichtet die Hauptstadt (des Reiches
als dessen Mittelpunkt), scheidet die vier Himmelsrichtungen und bestimmt
die Stellungen". Wie in den alten Imperien des Nahen Ostens, so ist auch
hier "Reich" und "Erde" derselbe Begriff, ja der vermeintliche "Mittel-
punkt der Erd-(Scheibe)", in welchem die Hauptstadt angelegt werden
soll, hat eine noch grundsätzlichere kosmologische Bedeutung: dort "ver-
einigen sich Himmel und Erde, die vier Jahreszeiten treffen einander,
Wind und Regen kommen zusammen, das Yin und das Yang sind im richti-
gen Verhältnis"2. Die Kaiserstadt ist also nicht nur Abbild des Kosmos,
sondern sie soll geradezu im Angelpunkt des Universums liegen.
Doch der Gedanke kosmischer Normen für menschliches Handeln hat
in dem Agrarland China noch eine andere Grundlage, nämlich den Bauern-
kalender. Diese schlichten ländlichen Regeln zur Einfügung des Tuns der
Menschen in den Rhythmus der Umwelt haben zweifellos hier wie anderswo
maßgeblich zur Entwicklung des sozio-kosmischen Gedankenkreises bei-
getragen, in dem sie schließlich aufgegangen sind. Schon zu Beginn der
Tschou-Zeit war der Kalender ein integrierender Bestandteil des Staats-
kultus und der Staatsideologie. Seine Verkündigung erschien als eine
Hauptaufgabe des Kaisers als des Treuhänders der Weltordnung. Die
innige Verbundenheit von Zeitrechnung und Politik führte schließlich
dazu, daß die Annahme des vom Zentralherrscher verkündeten Kalenders
zugleich die Einfügung in den Kosmos des gesitteten Weltstaates be-
deutete. Wer diese verweigerte, galt in China noch zu Beginn unseres
Jahrhunderts als RebelJS.
Die sozio-kosmische Weltauffassung hat übrigens in China die ver-
schiedensten Ausprägungen erfahren. Manche sind von massiver Anschau-
lichkeit, andere sind weitgehend abstrakt und vergeistigt. So erscheint
die himmlische Autorität bald stark und offenkundig anthropomorph,
bald aber als weitgehend entpersönlichte Macht einer universalen Ordnung
und Harmonie'. Beide Formen sind sehr alt. Nicht nur der Glaube an
ques chinois, Fribourg 1942, und J. NEEDHAM: Human Laws and Laws of
Nature in China and the West, "Journal of the History of Ideas" XII (1951),
bes. S. 213ff. Während der erstere den Glauben an einen persönlichen Himmels-
gott in den Vordergrund stellt, legt NEEDHAM das Schwergewicht auf die Idee
der unpersönlichen Weltharmonie.
1 A. FORKE: Geschichte der alten chinesischen Philosophie, Hamburg 1927,
S.178. - ders.: World-Conception, S.74.
2 A. FORKE: Geschichte der mittelalterlichen chinesischen Philosophie,
Hamburg 1934, S.201.
64 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie
Topitsch, Metaphysik.
66 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie
Vor allem die Staatenbildungen Afrikas beruhen auf den gleichen welt-
anschaulichen Voraussetzungen, wobei allerdings vorderasiatische Ein-
flüsse mit bodenständigen biomorphen Elementen verschmelzen.
Solche Staaten mit sakralem Königtum und astronomisch-astrologisch
geschulter Priesterschaft sind in zwei breiten Landstreifen zwischen
Abessinien und dem Senegalgebiet sowie zwischen Mozambique und der
Küste von Angola zu finden. Die "kosmischen" Grundsätze ihrer Organi-
sation sind verschieden. Oft ist das Land gemäß den vier Himmelsrich-
tungen in vier Provinzen eingeteilt, die von vier obersten Würdenträgern
verwaltet werden. Diese vier "Erzbeamten" - Frobenius nennt sie auch
"Kardinalfürsten" - haben zugleich politische und sakrale Funktionenl .
In manchen Gebieten oblag ihnen auch der Beschluß und die Durchführung
der rituellen Tötung des Königs.
Wenngleich Herkunft und Eigenart des sakralen Königtums auf
afrikanischem Boden nicht völlig geklärt sind, so steht sein Zusammenhang
mit den Gestirnen einerseits, mit Regen und Fruchtbarkeit des Landes
andererseits außer Frage. Der schon erwähnte Glaube (S.27), daß das
Sippenhaupt die Verbindung zwischen der durch die Ahnenreihen flie-
ßenden kosmischen Lebenskraft und allem Lebendigen im Sippenbereich
herstellt, ist vielleicht mit einer astro-biologischen Fruchtbarkeitslehre
verschmolzen oder zu einer solchen erweitert worden2 • Oft gilt der Mond
mit seinem milden Schein als Bringer und Förderer des Wachstums,
ja geradezu als Stammvater, Erzeuger und Ahnherr. Zumal die Königs-
geschlechter führten ihre Abkunft gern auf das Nachtgestirn zurück,
dessen Name (Mwesi) auch die Bezeichnung für "König" war. Als Ge-
mahlin des Mondes galt der Venusstern, und in Rückanwendung dieser
soziomorphen Deutung wurde das Königspaar diesen beiden Gestirnen
untergeordnet. Dementsprechend richtete sich das ganze Hofzeremoniell
nach dem astralen Geschehen: "Das im Kosmos geschaute Bild (vom
periodischen Anwachsen und Abnehmen des Mondes, vom Verschwinden
und Wiedererscheinen des Venussternes) wurde ... dann auf die Erde
projiziert. Die Menschen lebten ihr Leben nach dem in der großen Umwelt
selbst geschaffenen Bilde. Das I...eben wurde so auch zum Drama gestaltet.
Der königliche Hof. .. wurde das Denkmal des im Horizont auf der
Erde aufliegenden Himmels, der König der große Mwuetsi (Mond), seine
Gattin zur Nehanda (Venus). Wie der Mond aufsteigt, zur Fülle gelangt,
abschwillt und stirbt, so war auch der König bald sichtbar, erstrahlte
in gabenspendender Herrlichkeit und trat dann bis zur völligen Ver-
borgenheit zurück. Und wurde hingerichtet ... So stellt sich alles dieses
als kultische Projektion der Vorgänge des nächtlichen Himmels auf die
Erde dar3 ." Eine kosmische Zeremonie solcher Art war wohl auch der
5·
68 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie
Seit Platon, besonders aber seit dem Hellenismus erfolgte ein ent-
scheidender Einbruch der altorientalischen Hochmythologie in das west-
liche Geistesleben. Wie griechische Kultureinflüsse durch die Siege
Alexanders bis nach Zentralasien vorgedrungen sind, so hat umgekehrt
der Osten den griechisch-römischen Kulturraum gerade auf weltanschau-
lichem Gebiet mit der Zeit immer stärker in seinen Bann gezogen. Der
politische Wandel vom Stadtstaat zur bürokratisch-zentralistischen
Monarchie mit ihrem Stab von Würdenträgern ging Hand in Hand mit
der Verbreitung sozio-kosmischer und verwandter Vorstellungen aus dem
Orient. Die Lehre vom königlichen Sonnengott und seinem irdischen
Abbild, dem göttlichen Sonnenkönig eroberte den Westen ebenso wie
der Glaube an die Gruudsätze der kosmologischen oder kosmo-magischen
Architektur und nicht zuletzt an die Macht der Sterne.
Schon in der Diadochenzeit wurde Demetrios Poliorketes von den
Athenern in einem Preislied als Gott verherrlicht und mit der Sonne ver-
glichen, die mitten unter den Gestirnen leuchtet wie der Herrscher unter
seinen Freunden (Athenaios, Deipnos. 253 DIE). In Rom war es Seneca,
der (De clem. I 7, 1; 8, 4) den Kaiser als irdisches Gegenstück der Götter
betrachtete und sein morgendliches Erscheinen dem Aufgehen der Sonne
gleichsetztel ; allerdings war mit dieser höfischen Schmeichelei eine gewisse
Tendenz der moralischen Führung und Belehrung des jungen Nero ver-
bunden. Diese Motive wurden auch vom jüngeren Plinius in seiner Lobrede
auf Kaiser Trajan benützt. Nach diesem Panegyricus hat der Herrscher
die Aufgabe, als Statthalter des göttlichen Weltenherrn das Menschen-
geschlecht zu führen und - allwissend wie die Sonne - mit souveräner
Überlegenheit die gerechte Ordnung zu wahren (Paneg. C. 80). Er bewahrt
seine Völker auch vor den Übeln der Unfruchtbarkeit, freilich nicht wie
der altorientalische König durch das Einhalten der sozio-kosmischen
Weltordnung (beispielsweise der Ma-at) oder den Vollzug der Heiligen
Ehe, sondern durch Förderung des Welthandels, der die Not des einen
Gebietes durch die Überschüsse des anderen lindert (Paneg. C. 32). Ähn-
lichen Gedanken hat ungefähr gleichzeitig Dion von Prusa im Osten des
Reiches Ausdruck verliehen. Der irdische König ist ein Abbild des himm-
lischen, er ist von jenem eingesetzt und soll in seiner Regierungstätigkeit
das Wirken des Weltgottes nachahmen (De regno I 37/38, 45; II 75;
III 50). Das Universum ist ein Staat, dessen Ordnung von einem göttlichen
König und Gesetzgeber geschaffen wurde und gehütet wird. Diese Gesetzes-
ordnung der allumfassenden Vernunftmacht gewährleistet den Frieden
und die Harmonie im Universum, der großen Gemeinschaft der Götter
und Menschen (Borysth. 29-37). Solche und ähnliche Lehren haben in
der stoischen oder stoisch beeinflußten Populärphilosophie der Spät-
antike eine außerordentliche Verbreitung gefunden (unten S.151ff.). Auch
das Denken des Philosophen auf dem Kaiserthrone ist von ihnen nicht
unerheblich beeinflußt.
Bald nach dem Tode Mark Aurels verstärkt sich das Einströmen
östlichen Gedankengutes abermals. Schon sein Vorgänger Antoninus Pius
hatte dem syrischen Baal von Baalbek, der als Einheit von Zeus und
Helios aufgefaßt und im Westen als Iuppiter Heliopolitanus bekannt
wurde, prächtige Heiligtümer errichten lassen!, aber erst unter seinen
Nachfolgern, die afrikanischer und asiatischer Herkunft waren, ent-
wickelte sich die Lehre vom "unbesiegbaren Sonnengott" zu einer Art
römischen Reichstheologie. Kaiser Septimius Severus ließ sich mit seiner
Gemahlin Julia Domna auf Münzen als Sonnengott und Mondgöttin
abbilden und zur besonderen Pflegestätte der solaren Siegestheologie,
welche griechische, syrische und persische Elemente miteinander ver-
einigte, wurde die Armee2 •
Aus dieser geistigen Atmosphäre stammen wahrscheinlich auch die
neupythagoreischen Abhandlungen über das Königtum, die unter den
Namen des Diotogenes und Ekphantos überliefert sind3 • Ihre Grundlage
ist der Glaube an die Ordnung des Universums, in welche sich Mensch
und Staat einfügen sollen und müssen. Wie der physische Makrokosmos
von dem göttlichen Weltenkönig nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit
regiert wird, so soll nach Diotogenes der soziale Mikrokosmos, der Staat,
vom menschlichen Herrscher in gerechter Weise geleitet werden, so daß
die Harmonie des Reiches jene des Alls nachbildet (Stobaios, Antholog.
IV 7, 61). Spezifisch pythagoreisch ist die Forderung, der König solle
den Staat harmonisch stimmen wie ein Künstler seine Leier, indem er
den gerechtesten aller Maßstäbe und eine feste Gesetzesordnung für sein
Handeln festlegt und so den Gleichklang unter seinen Völkern mit dem
Gleichklang im eigenen Inneren zur Übereinstimmung bringt (ibid. 62).
Ähnliche Thesen vertritt Ekphantos. Das vollkommenste Wesen auf
Erden ist für ihn der König, den der göttliche Werkmeister als sein
eigenes Ebenbild geschaffen hat. So ist der König ein Abbild des himm-
lischen Kosmokrators und steht zu diesem in einem engeren Verhältnis
als die gewöhnlichen Sterblichen. Er ist der Liebling Gottes und wird
von den Menschen ebensowenig gehaßt wie Gott von den Gestirnen und
dem ganzen Universum; seine Untertanen gehorchen ihm nicht aus
Furcht vor dem Zwang, sondern folgen spontan der Schönheit und
Erhabenheit seines Beispiels (ibid. 64). So entwickelte sich eine Art von
Herrschermystik, die im heidnischen und später auch im christlichen
Rom weite Verbreitung gefunden hat.
Die christlichen Lehren waren mit solchen Theorien keineswegs völlig
unvereinbar, beruhten sie doch auf den gleichen sozio-kosmischen Grund-
vorstellungen. Schon Paulus lehrte im Römerbrief (13,1-7): "Jedermann
einmal vom mundus als der domus maxima rerum1• Diese Überlieferungen
verschmolzen später mit hellenistischen und jüdisch-christlichen. Aus dem
Judentum stammte das geistesgeschichtlich besonders wirksame techno-
morphe Leitbild, welches der Prophet Jesaias gebraucht, wenn er vom
göttlichen Weltbaumeister sagt, daß dieser "den Himmel errichtet hat
wie ein gewölbtes Gemach (xoc[J.apocv) und ausgespannt hat wie ein Zelt
zum Wohnen" (Jes. 40, 22). Der Gedanke des Jesaias blieb auch im
hellenistischen Judentum lebendig. So betrachtetePhilo (De spec.leg. I, §66)
als das höchste und wahrhafte Heiligtum der Gottheit das ganze Weltall,
"das zum Tempelraum den heiligsten Bestandteil der Welt, den Himmel,
hat", dessen Weihgeschenke die Sterne und dessen Priester die Engel
sind. In Umkehrung dieser Analogie faßte er das irdische, von Menschen-
hand verfertigte Heiligtum als Abbild des gottgeschaffenen Universums
auf (De Vita Mos. II, §88), wie dies auch Josephus Flavius tat (Ant. III 123).
Hier wie bei Nonnos ist der bekannte Vorgang der Projektion und Re-
flexion gut zu erkennen.
Auch in der christlichen Kosmologie der Spätantike und des frühen
Mittelalters ist die Lehre vom "Weltgebäude" , die ja die Autorität der
Bibel für sich hatte, sehr verbreitet. Severian von Gabala hat sie ebenso
vertreten wie der bekanntere Kosmas Indikopleustes, der sein Weltbild
ganz bewußt nach dem Modell der Stiftshütte konstruiert2. Etwas anders
geartet, aber doch verwandt ist die vom Judentum über die Johannes-
apokalypse ererbte Vorstellung von der Himmelsstadt als "himmlisches
Jerusalem", welche für die Theorie der christlichen Kathedrale außer-
ordentliche Bedeutung erlangen sollte (unten S.83). Natürlich konnten
jederzeit auch hellenistisch-orientalische Motive ähnlicher Art vom
christlichen Denken aufgenommen und assimiliert werden, etwa wenn
Eusebius (Tric. I 1) vom göttlichen König des Universums spricht, der
auf dem Himmelsgewölbe thront, und berichtet, daß Kaiser Konstantin
nach seinem Tode abgebildet wurde, wie er gottgleich über dem Himmels-
boden weilt (Vita Const. IV 69).
So hat die von soziomorphen und technomorphen Leitbildern bestimmte
Kosmologie und die kosmologisch bestimmte Staatslehre3 und architek-
tonische Theorie schließlich auch im christianisierten Römerreich ihr
Heimatrecht behauptet und hat später in beiden Reichshälften mächtig
nachgewirkt.
Das soziomorphe Bild vom "Himmelreich" hat im imperialen Christen-
tum des Kaiserstaates bereits Eusebius gebraucht. Nicht nur der physische
Makrokosmos gehorcht - wie wir gesehen haben (S. 73) - dem göttlichen
Topitsch, Metaphysik. 6
82 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie
sohen Gebiete eingewirkt hat, braohte den Herrsoher wie in Ägypten und
China in engen Zusammenhang mit dem Naturlauf. Der ungereohte und
sündige König fügt seinem Lande nicht nur politisohen und moralischen
Schaden zu, sondern unter seiner Regierung geht auch der Ertrag der
Felder zurück, wilde Tiere dezimieren den Viehbestand, Gewitter und
Sturmwind schädigen Ackerbau und Schiffahrt und Blitzsohläge setzen
Getreide und Bäume in Brand!. Verwandte irische Motive sind im Hoch-
mittelalter bis naoh Norwegen gedrungen2 •
Sozio-kosmische Vorstellungen haben möglicherweise auch die Organisation
germanischer Kriegerbünde oder Schwurgemeinschaften beeinflußt - etwa
im Falle der viermal vier Gruppen von Seekriegern, welche die Besatzung der
Trelleborg auf Seeland gebildet haben dürften3 • Diese etwa um das Jahr 1000
erbaute Festung ist kreisförmig und hat vier Tore nach den vier Himmels-
richtungen. Auch die Straßen und Gebäude sind genau nach den Kardinal-
punkten orientiert. Vor allem sind aber die raffinierten mathematischen
Proportionen auffällig, deren Grundeinheit der römische Fuß (29,5 cm) ist.
Dies legt die Vermutung nahe, daß die Anlage unter Mitwirkung von Bau-
technikern aus dem Süden geschaffen wurde4 • Die Gestalt des befestigten
Lagers, das möglicherweise das Vorbild der ähnlich angelegten Aggersborg
am Limfjord war, ist aus nordischen überlieferungen nicht zu erklären,
sondern weist auf die kosmischen Städte des Orients und Mittelmeerraumes
zurück5 • So könnten hier - wie auch sonst - einheimische oder früher
übernommene Formen sozio.kosmischer Anschauungen, welche der Ordnung
der viermal vier Schwurbrüderschaften zugrunde gelegen haben mögen, von
weiterentwickelten Ausprägungen derselben Grundanschauungen überlagert
worden sein.
Es ist also nicht erstaunlich, wenn auch auf anderen Gebieten ein
Ausgleich zwischen den spätantiken und den germanisch-keltischen
Traditionen zustande gekommen ist, wobei die der überlegenen antik-
christlichen Kultur entstammenden Elemente ein deutliches Übergewicht
besaßen6 • Das gilt auch für das Gemeinschaftsleben, doch ist der Einfluß
der mittelmeerischen Überlieferungen in der Staatstheorie nooh viel
stärker gewesen als in der politischen Praxis. Wohl kam eine Lehre,
naoh welcher der absolute Herrscher als Stellvertreter Gottes die geist-
liche und weltliche Autorität über den ganzen Erdkreis beansprucht,
aus den genannten Gründen für den Westen nicht in Frage; doch lebte
die sozio·kosmische Überlieferung mittelländisch. orientalischen Ur-
sprunges kräftig weiter7 • Besonders im Hoch- und Spätmittelalter begegnen
uns wieder die bekannten Motive. So ist Gott für Dante der "Imperador",
der "Princeps" und "Monarcha" (Inf. I 124f.; Mon. I 7); Maria trägt die
Titel einer römischen Kaiserin, Augusta und Regina (Parad. XXXII 119,
XXIII 128; VII 82), Dominicus ist Duca (Parad. XII 32), Petrus und
Jacobus sind Baroni (Parad. XXIV 115, XXV 17). Auf ähnlichen Grund-
ideen beruht die Staatstheorie jener Zeit, nach welcher die Obrigkeit
das Gemeinwesen regiert wie Gott den Makrokosmos der Welt und der
Geist den Mikrokosmos des Leibes. Die Auffassung des Staates als
"Organismus" - die ihrerseits meist eine soziomorphe Deutung der
Lebewesen voraussetzt - tritt wieder hervor, ja auch der schon aus
Byzanz bekannte "trinitarische Exemplarismus" , die Gestaltung der
Königsherrschaft nach dem Bilde der Dreifaltigkeit, wird manchmal
vertreten. Doch diese Konstruktionen liegen schon jenseits der gebräuch-
lichen Grenze zwischen Mythos und Philosophie (unten, S.198ff.) - wie
denn überhaupt im Bereiche des sprachlich Darstellbaren die Rationali-
sierung mythischer Gehalte leichter möglich ist und rascher vor sich geht
als in der bildenden Kunst, die an das unmittelbare Sinnenfällige ge-
bunden ist.
Gerade in der Kunst hat die Idee des "kosmischen Gebäudes" im
Mittelalter eine ihrer großartigsten Verwirklichungen gefunden, die
Kathedrale. Die Himmelsbedeutung des mittelalterlichen Kirchen-
gebäudes, das ja im Grundsätzlichen die spätantik-altchristlichen Tradi-
tionen weiterführt, hat besonders H. Sedlmayr mit großem Verständnis
herausgearbeitet!. Das von Menschenhand erbaute Gotteshaus ist Abbild
der überirdischen Gottesstadt, des "himmlischen Jerusalem"2. Auch den
dieser Auffassung zugrunde liegenden Prozeß hat Sedlmayr weitgehend
durchschaut. Nach dem Modell des irdischen Bauwerkes wird das Phanta-
siebild eines Himmelsbaues entworfen und dieser wird wieder durch einen
wirklichen Bau dargestellt. Dabei wird das in den "Himmel" projizierte
technomorphe Modell genau auf sein Urbild, das menschliche Bauwerk,
rückbezogen: "Abbild und Abgebildetes (oder Bild und Urbild) liegen
dabei auf einer Ebene: beides sind Bauten"3. Im Rahmen dieser Grund-
bedeutung sind auch die architektonischen Einzelformen der Kathedrale
verständlich - die baldachinartigen, häufig blau bemalten und mit
goldenen Sternen verzierten Gewölbe, die diaphanen Lichtwände4 , aber
auch die Ausbildung des Tores als porta coeli und die Postierung von
Engeln auf den Fialen, von Wächtern auf den Türmen der Himmelsstadt5 •
Als Abbilder des himmlischen Jerusalem waren, wie Inschriften auf diesen
Werken bezeugen, auch die großen Kronleuchter in den ottonischen und
frühromanischen Domen gedacht6 , die, im Dunkel feierlicher Nacht- und
Frühmorgengottesdienste angezündet, sehr wohl den Eindruck einer
schwebenden Lichtstadt erwecken konnten. Verwandte Motive spielen
1L. HAUTECOEUR: Louis XIV Roi Solei!, Paris 1953, Bild gegenüber S. 22.
2L. HAUTECOEUR, a. a. 0., S.37f.
3 L. HAUTECOEUR, a. a. 0., Bild gegenüber S. 2.
4 L. HAUTECOEUR, a. a. 0., S.24ff.
5 R. WITTKOWER: Architectural Principles in the Aga of Humanism,
London 1949, S. 21. - Zur Verbreitung der Tampelmetapher im 16. und
17. Jahrhundert vgl. H. FLASCHE: Similitudo Templi, bes. S.101ff.
86 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie
Topitsch, Metaphysik. 7
98 Der Kosmos der Philosophie
kennzeichnen könnte, daß hier die Erklärung als Verklärung des Univer-
sums auftritt.
Doch der Einfluß von Wertgesichtspunkten ist nicht auf das Bild
des aufgegliederten, strukturierten Kosmos beschränkt. Auch der unbe-
grenzte, unbestimmte, unstrukturierte Weltgrund - das Apeiron - hat
eine außerordentliche Wertintensität. Sicherlich sind gewisse theoretische
Überlegungen an dem Zustandekommen dieser Vorstellung beteiligt:
das, aus dem alle begrenzten Einzelwesen und -dinge hervorgehen, könne
selbst keine Grenzen haben. Doch zumindest ebenso bedeutsam ist die
Tatsache, daß die Menschen oft von der Begrenztheit, Vergänglichkeit,
Endlichkeit und Bedürftigkeit aller Erdenwesen tief bedrückt werden.
Viele Vorstellungen von numinosen Wesenheiten - und hierzu gehört
auch Anaximanders "Urgrund" - werden nun dadurch zumindest
entscheidend mitkonstituiert, daß man diesen alle als wertwidrig empfun-
denen Eigenschaften abspricht. So ist denn auch das Apeiron zugleich
&.&avoc't'ov, UVfOAe:&pOV, äq>&ocp't'ov, U"(EV1']'t'OV (A 15). Nicht logische Er-
wägungen, sondern werthafte Forderungen postulieren einen "Urgrund"
als Gegenbild nicht so sehr der Strukturiertheit als der "Unvollkommen-
heit", der Endlichkeit und Hinfälligkeit der sogenannten Sinnendingei.
Damit rühren wir wenigstens an den Ansatzpunkt einer Metaphysik
des vollkommenen, ewigen und undifferenzierten Weltgrundes, der vom
Standpunkt bestimmender Erkenntnis her gesehen in letzter Konsequenz
nur negativ umschrieben werden kann und darum auch prädikat- und
funktionslos sein müßte, bedeutet doch jedes Prädikat und jede Funktion
eine Bestimmung und Begrenzung (öpoc;). Wird dieser Ansatz mit aller
Folgerichtigkeit durchgedacht, so ergibt sich in der Frage der Beziehung
zwischen Weltgrund und Welt eine eigenartige Problematik. Einerseits
muß der Urgrund in irgendeiner bestimmbaren Beziehung zur Erfahrungs-
welt und zur menschlichen Lebenswirklichkeit stehen, um als Erklärungs-
prinzip fungieren und menschliche Wertforderungen befriedigen zu können,
andererseits kann aber jede Bestimmbarkeit als begrenzende Beschrän-
kung der "Vollkommenheit" empfunden werden2 • Diese Schwierigkeit,
die in der späteren Spekulation eine beachtliche Rolle gespielt hat, macht
sich bei Anaximander noch nicht bemerkbar. Das Apeiron ist keineswegs
in eine funktionslose Transzendenz verbannt, sondern im Gegenteil
höchst aktiv, es ist eine handelnde Macht, die alles umfaßt und lenkt3 •
Wird aber dem Weltprinzip eine solche Aktivität zugeschrieben, so
erhebt sich früher oder später unabweislich die Frage nach dem Ver-
hältnis zwischen dem Wollen und Handeln des Weltgrundes und jenem
des Menschen; wird die Weltordnung als Rechtsordnung aufgefaßt, so
verlangt die Beziehung zwischen dieser und der menschlichen Rechts-
ordnung nach Klärung. Damit sind andere große Themen der späteren
Entwicklung der Philosophie bereits bei dem ionischen Denker wenigstens
in ihren Voraussetzungen gegeben.
Der Gebrauch intentionaler Modelle zur Erklärung einzelner Dinge
und Vorgänge oder der Gesamtstruktur des Universums ist auch bei
Anaximanders Nachfolgern eine Grundlage des philosophischen Welt-
verständnisses geblieben. Zwar betrachtet Anaximenes als Weltprinzip
die Luft, aber diese erhält ebenfalls das Prädikat der Herrschaft (B 2):
O[OV 11 tj;uX~ ~ ~fL€TEpa &~p ovcra cruyxpa't"eL ~fLäc;, XCXL OAOV TOV xocrfLov
7tV€UfLCX xal &~p 7t€P~EX€~ - "wie unsere Seele, die Luft ist, uns regiert,
so umfaßt auch den ganzen Kosmos Hauch und Luft". Hier erscheint
zum ersten Male nicht nur der Sache, sondern auch dem Worte nach
der "Kosmos" in Parallele zum Individuum als Machtbereich eines
ordnenden und beherrschenden Prinzips. Auf den soziomorphen Charakter
der Kosmosidee führt bereits die Etymologie des Wortes, das nach Boisacq
von der Wurzel *kens - "annoncer avec autoriM" cf. censeo, castigo -
abzuleiten ist!. Für die Herkunft des Ausdruckes aus der sozial-normativen
Sphäre spricht auch die Geschichte seiner Bedeutung. Der Kosmos als
eine durch Ausübung sozialer Autorität geschaffene Ordnung findet sich
schon bei Homer. In der Ilias erscheint das xocrll-eLV, das Ordnen des
(Kriegs)volkes recht eigentlich als Tätigkeit des Herrschers und Feldherrn,
der xocr(.LOC; als militärische und zugleich politische Ordnung. Neben der
spezifischen Bedeutung "Heeresordnung" und "Staatsordnung" hat
xocr(.LO C; im alten Epos noch eine allgemein ethische, etwa im Sinne des
"Geziemenden" (7tPE7tOV, xa&i'jxov). Mitunter wird der Ausdruck auch
im Bereiche der Techne verwendet, nämlich zur Bezeichnung der wohl-
gefügten Werke künstlerischer oder handwerklicher Fertigkeit. Von einem
Bezug auf die Himmelsvorgänge oder auf eine Natur und Gesellschaft
umfassende "Weltordnung" ist im Epos keine Spur aufzufinden2 • Die
bereits von Erwin Rohde hervorgehobene Übertragung des Wortes aus
dem politischen Gebiete auf das Universum3 hat also erst später statt-
gefunden.
Die Leitvorstellung des "Herrschens" wird aber bei Anaximenes nicht
nur aus den zwischenmenschlichen Beziehungen hinaus in das Universum,
sondern auch hinein in den Menschen projiziert4 • Nicht nur der Kosmos,
sondern auch das Individuum wird soziomorph gedeutet: es ist Herr-
schaftsbereich der "Seele". Die bei Anaximenes vielleicht noch nicht
ganz klar ausgeprägte Auffassung der menschlichen Natur als Sozial-
struktur ist bei Alkmaion von Kroton völlig unverkennbar. Dieser ver-
gleicht den menschlichen Körper mit einem Staat (B 4). Nur die Gleich-
berechtigung der Kräfte (LcrOVO[lLo( 't"wv ~uvcifLe;(Uv) - des Feuchten und
Trockenen, Kalten und Warmen, Bitteren und Süßen usw. - erhalte
die Gesundheit, während die Alleinherrschaft (fLovapXLa) einer von ihnen
die Ursache der Krankheit sei. Der werthaft-politische Charakter dieses
Gleichnisses ist besonders deutlich und seine Rückanwendung auf die
Politik liegt greifbar nahe. Die Gesundheit des Körpers wird am Leitbild
des pythagoreischen Staatsideales der Adelsrepublik erklärt, während die
Krankheit aus dem politischen Prinzip des Gegners, nämlich der Allein-
herrschaft, erwächst. In unausgesprochener Umkehrung des Verhältnisses
haben wohl Alkmaion und seine Gesinnungsgenossen den aristokratischen
Staat als den "gesunden", den monarchischen als den "kranken" be-
trachtet1 . Vielleicht ist die Deutung des Menschen als eines Staatwesens,
in dem die rechte Ordnung herrschen soll, aus Unteritalien in das alte
Rom gedrungen, wo sie uns in der bekannten Fabel des Menenius Agrippa
entgegentritt. Bei Demokrit schließlich ist der gedankliche Ansatz des
Anaximenes völlig ausgeführt. Individuum und Kosmos erscheinen als
einander entsprechende Herrschaftsordnungen (B 34): "Und wie wir
sehen, daß im Weltall die einen Wesen nur herrschen wie die göttlichen,
andere herrschen und beherrscht werden wie die menschlichen Wesen
(denn diese werden von den göttlichen beherrscht und herrschen über die
vernunftlosen Lebewesen), und andere schließlich nur beherrscht werden
wie die vernunftlosen Lebewesen, so werden auch im Menschen, der ein
Mikrokosmos ist, nach Demokrit die Dinge betrachtet. Die einen herr-
schen nur wie die Vernunft (A6yo~), die anderen herrschen zum Teil
und werden zum Teil beherrscht wie das Temperament (&ufL6~) und andere
schließlich werden nur beherrscht wie die Begierde (Em&ufLLa)." Diese
Parallelisierung von Staat und Seele weist bereits vor auf Platon.
Gesichtspunkte der Moral und der Etikette, des Ranges und der
Herrschaft, der Würde und der Vollkommenheit bestimmen auch sonst
das Weltbild der Vorsokratiker. Dies wird auf verschiedene Weise deutlich.
Für die Wertpositionen, welche die Voraussetzung und Grundlage der
Konstituierung eines philosophischen Gottesbegriffes bilden2 , ist besonders
die Kritik des Xenophanes an den naiv-anthropomorphen Göttervor-
stellungen der Volksreligion aufschlußreich, und zwar sowohl hinsichtlich
der Eigenschaften, die er dem göttlichen Wesen abspricht, wie hinsichtlich
jener, die er diesem zuschreibt oder beläßt. Dem Postulat der Vollkommen-
heit widerspricht vor allem jede Beschränkung oder Behinderung durch
wiederum ist flach und schwimmt (offenbar Wie ein Floß) auf der Luft (A 7).
Kein wesentlich anderes Bild bietet die "Meteorologie" des Xenophanes.
Auch für ihn bestehen Sonne und Sterne aus glühend gewordenen Dünsten
oder Wolken. Beim Untergang verlischt die Sonne und beim Aufgang
entsteht eine neue, wie auch die Sterne jeden Tag verlöschen und nachts
wieder wie Kohlen aufglühen (A 38, A 40, A 41). Der Mond ist ebenfalls
eine verdichtete Wolkenmasse, die zum Neumond verlischt (A 43). Fast
wörtlich gleichlautende Anschauungen von Kindern hat Jean Piaget
unter ausdrücklichen Hinweis auf die Kosmologie der Vorsokratiker
gesammelt und verzeichnet!.
Sehr häufig sind die technomorphen Analogien bei Empedokles. Schon
die Leitvorstellung, daß die vergänglichen Gegenstände aus dauerhaften
Bestandteilen zusammengesetzt sind und sich wieder in diese auflösen,
stammt zweifellos von gewissen technischen Erfahrungen. Die Elementar-
teilchen werden vereinigt "wie eine Mauer, die aus Ziegelsteinen zusam-
mengefügt ist", und nach diesem, vom Hausbau entlehnten Modell soll
die Substanz des Fleisches und jeder andere Stoff entstehen (A 43). Die
Vereinigung dieser Teilchen wird auch mit der Mischung pulverisierter
Stoffe (Rost, Kupfererz, Zinkerz und Vitriolerz) verglichen oder mit
der Mischung verschiedener Farbstoffe durch den Maler (A 34, B 23).
Ähnliche Gleichnisse entstammen der Käserei, der Kochkunst und der
Bäckerei. Wie Feigenlab die Milch verdickt, wenn man ihn einrührt, so
wird das Feuchte durch die Zufügung einer bestimmten anderen Flüssig-
keit gebunden, wenn die kosmische "Liebe" sie mischt (B 33), die auch
imstande ist, das Feuchte mit dem Trockenen zu einem festen Gebilde
zu verbinden, wie man Brot oder Kuchen mengend herstellt, indem man
Wasser mit Mehl verknetet (B 34)2.
Auch bei der Erklärung von Einzelerscheinungen verfährt Empedokles
in ähnlicher Weise. Die schnelle Umdrehung des Himmelsgewölbes hindert
die Erde daran, in die Tiefe zu stürzen, so, wie das Wasser aus einer
umgekehrten Schöpfkelle (Kyathos) nicht herausstürzt, wenn diese rasch
im Kreise geschwungen wird (A 67). Das Vorkommen heißer Quellen
erklärt der Denl{er damit, daß das Wasser durch unterirdisches Feuer
gewärmt wird, so wie dies in den Warmwasserapparaten (Seneca, der
davon berichtet, nennt sie dracones) geschieht, die man herstellt, um
laufendes warmes Wasser zu erhalten (A 68). Der Mond dreht sich um
die Erde wie die Nabe des Rades um die Achse (B 46) und spiegelt das
Licht der Sonne wider (B 43, B 45). Auch die Sonne reflektiert nur das
Licht der anderen, feurigen Halbkugel des Kosmos wie das Wasser den
Feuerschein (A 30, A 56).
Besonders interessant ist die technomorphe Deutung von Lebendigem.
Die Unfruchtbarkeit der Maulesel soll darauf zurückzuführen sein, daß
die Mischung der weichen Samenbestandteile von Pferd und Esel eine
harte Mischung ergibt, so wie aus der Mischung der weichen Substanzen
Zinn und Kupfer die harte Bronze entsteht (B 92). Von den Vorgängen
in einem Wasserheber (Klepsydra) schließt Empedokles mit Hilfe der
Analogie auf die Existenz einer Hautatmung, die nach dem gleichen
Prinzip vor sich gehen soll (B 100). Das Auge hat einen feurigen Kern,
der von Hüllen aus Wasser, Erde und Luft umgeben ist, die ihn vor
Stürmen schützen und doch sein Licht hindurchlassen wie eine Laterne
(A 86, B 84). Das Ohr nimmt die Geräusche auf, indem die Gehörknorpel
des Innenohres durch die Luftbewegung zum Klingen gebracht werden
wie eine Glocke (A 86, A 93).
Künste und Handwerke werden auch sonst zur Weltdeutung heran-
gezogen. Aphrodite oder Harmonia wirken als Schmied (B 86f.), als
Tischler (B 96) oder als Töpfer (B 73, B 75). Das Universum ist wieder
ein Gebäude mit einem festen Gewölbe aus erstarrter Luft (A 1, A 49,
A 51), an dem die Fixsterne angebracht sind (A 54). So kann man mit
Recht behaupten, Empedokles sei "gleichsam &\I~P 're:X\l~x6c;: alle auf-
geführten Gleichnisse entstammen der Welt der Technik, gehen aus von
handwerklicher oder doch manueller Tätigkeit (des Malers, Metall-
mischers, Käsers, Bäckers), verwenden Instrumente (Laterne, Kyathos,
Klepsydra, Drakon, Glocke, Wagen) oder handeln von physikalischen
Vorgängen (Spiegelung, Echo und Geschoßabprall ~)"1.
Wohl ist der N ous des Anaxagoras in erster Linie als Herrscher ge-
dacht, doch übt er bisweilen auch eine "werkmeisterliche Tätigkeit"
aus 2 • Er ist der Urheber des Kosmos und der gesamten Weltstruktur
(,a~~C;), er setzt alles in Bewegung und ordnet die ursprünglich wirr
durcheinandergemischten Teilchen (A 41, A 49, A 58, A 99, A 100).
Stärker betont als dieses intentionale Moment ist jedoch das im engeren
Sinne technologische, ja mechanistische. So schwimmt die flache Erde -
ähnlich wie bei Anaximenes - gleich einem Floß auf der Luft (A 42).
Die Unzuverlässigkeit der Sinne beweist der Denker durch ihre Unfähig-
lmit, die allmählichen Veränderungen der Farben bei der langsamen
Vermischung verschiedener Farbstoffe wahrzunehmen (B 21). Diese
These rührt an ein grundsätzliches Problem. Wenn nämlich Anaxagoras
behauptet, es gebe nur eine mechanische Mischung - ein "Nebeneinander-
lagern" (7ClX.pa&e:cr~c;) - der Urpartikelchen (A 54), so könnte man dagegen
geltend machen, daß keine Sinneswahrnehmung zu kontrollieren ver-
möge, ob sich jene Mikroprozesse tatsächlich ebenso abspielen wie die
Vorgänge im Bereiche beobachtbarer Größen. Der Zweifel anßer Verläß-
lichkeit der Sinneserfahrung kann also auch dazu dienen, die Ubertragung
der makroskopisch-mechanischen Modelle auf das unwahrnehmbar
Kleine vor Bedenken zu schützen.
Am folgerichtigsten wurde die Deutung des gesamten Weltgeschehens
nach dem Modell des Verhaltens physischer Körper mittlerer Größen-
ordnung, wie wir es in unserer Alltagserfahrung beobachten können, von
1 Diese Vorstellung findet sich vor allem bei Empedokles (B 62, 6; auch
B 90, B 91). über andere Reste soziomorpher Weltdeutung bei den Atomisten
H. KELSEN: Vergeltung, S.251ff.
2 P. GASSENDI: Syntagma philosophicum, Ha pars, 1. VI, c. XIV, zit. n.
P. DUHEM: Ziel und Struktur der physikalischen Theorien, übers. v. F. ADLER,
Leipzig 1908, S. 113.
Der Kosmos der Philosophie 111
Topitsch, Metaphysik.
114 Der Kosmos der Philosophie
1 Schon hier zeigt sich die crux der "negativen" Ontologie, Metaphysik
oder Theologie, nämlich daß ihr numinoses "Ursein" usw. einerseits über
alle beschränkende Bestimmbarkeit erhaben und höchstens negativ um-
schreibbar sein, andererseits aber doch in irgendeiner bestimmbaren, wesentlich
werthaften Beziehung zum Menschen stehen soll, da ja eine solche Lehre
den Menschen nur dadurch überhaupt ansprechen kann, daß sie ihm eine
derartige Beziehung als HeilSvermittlung verheißt. .
2 Bei HERAKLIT ist mit der Möglichkeit zu rechnen, daß jüngeres und
zumal stoisches Gedankengut in die unter seinem Namen überlieferten
Lehren eingedrungen ist. Dadurch kann manches, was als Vorwegnahme
späterer Entwicklungen erscheint, in Wirklichkeit Einschub oder Umdeutung
aus der Spätantike sein. So wichtig diese schwierigen Fragen für eine rein
historische Untersuchung sind, können sie doch bei der Behandlung der hier
im Vordergrund stehenden systematischen Probleme zurückgestellt werden.
Vgl. H. GOMPERZ: Heraclitus of Ephesus, in der Sammlung "Philosophical
Studies", S. 88ff.
3 Als Belegstelle für die richterliche Funktion des Feuers zieht GIGON
(Ursprung, S. 215) auch das Frgm. 16 heran: dem kosmischen Feuer entrinnt
kein übeltäter.
4 K. JOEL: Naturphilosophie, S. 86f. - Zur Idee der kosmischen Rechts-
ordnung bei HERAKLIT vgl. auch A. MENzEL: Heraklits Rechtsphilosophie,
im Sammelband "Hellenika", Wien 1938, S. 125ff., bes. S. 128ff.
S'
116 Der Kosmos der Philosophie
ihren nicht überschreiten, sonst würden die Erinnyen, der Dike Hellerinnen,
sie zu fassen wissen (B 94). Wieder begegnen wir hier dem "Weltgesetz",
das den Naturobjekten und zumal den Himmelskörpern ihr Verhalten
vorschreibt. Am auffälligsten ist aber wohl die Parallele zwischen dem
Gedanken der Bestrafung unbotmäßiger Gestirne bei Heraklit und im
Henoch-Buch (vgl. oben, S.48). Die Vorstellungen von den Rhythmen
des kosmischen Geschehens werden aber nicht nur durch rechtliche,
sondern auch durch wirtschaftliche Modelle mitbedingt. Der periodische
Wechsel der Auflösung des Alls in Feuer und der Entstehung des Alls
aus dem Feuer spielt sich ab wie der wechselseitige Umsatz (aV't'ex!LOLß~)
von Gold gegen Waren und von Waren gegen Gold (B 90). Vielleicht steht
auch hinter diesem ökonomischen Gleichnis eine rechtlich-moralische
Idee, nämlich daß sich der Tausch nach einem gerechten Grundsatz
vollzieht. Für diese Annahme spricht auch eine andere soziomorphe
Deutung des Wechsels zwischen Urfeuer und entfaltetem All. Der Feuer-
zustand wird nämlich (B 65) als Überfluß (x6po<;), der Kosmoszustand
als Bedürftigkeit (XP"I)(j!Locruv"I) betrachtet. Diese Ausdrücke sind dem
Bereich der sozialökonomischen Dynamik entlehnt. Bedürftigkeit strebt
nach Reichtum, während umgekehrt Reichtum in Bedürftigkeit um-
schlagen kann, und der Wechsel beider mag als gerechter Ausgleich
angesehen werden. Nach Gigon kann "die Bedürftigkeit bei Heraklit
geradezu als die Buße gelten für das Unrecht, das der Kosmos im Zustande
des Überflusses begeh tl " .
So bietet sich uns bei Heraklit die soziomorphe Interpretation des
Universums in einer besonders eindrucksvollen Form 2 • Er faßt die ganze
rechtliche Symbolik seiner Vorgänger in Begriffe eines allbeherrschenden
kosmischen und göttlichen Gesetzes zusammen3 • Den entscheidenden
Schritt über die älteren Denker hinaus vollführt er aber, indem er dieses
"Weltgesetz" mit den Gesetzen der menschlichen Gemeinschaften in
Beziehung bringt. "Alle menschlichen Gesetze nähren sich aus dem einen
göttlichen. Denn es gebietet (Xpex't'EL), so weit es will (e.&EAEL), und genügt
allem und siegt ob allem" (B 114). Hier finden wir in der griechischen
Philosophie zum erstenmal deutlich ausgeprägt den eigenartigen Vorgang
der Rückbeziehung soziomorpher Projektionen auf die Gesellschaft, der
im Mythos so häufig zu beobachten ist. Das vermeintlich im Kosmos
waltende Gesetz wird seinem Urbild, dem Gesetz des Staates, übergeordnet.
Wie Werner Jaeger treffend formuliert hat, wird "der Kosmos der Natur-
philosophie in rückläufiger Bewegung der geistigen Entwicklung jetzt
zum Urbild der Eunomie in der menschlichen Gemeinschaft, in ihm wird
die Polisethill: metaphysisch verankert4 ". Mit dieser normativen Rück-
wendung haben wir eines der großen Themen der traditionellen Philosophie
erreicht, die Idee der lex naturalis, der absoluten oder kosmischen Rechts-
ordnung, welche Quelle und Maßstab aller menschlichen Gesetze sein
SOlll.
Doch der Weltlogos ist für Heraklit nicht eine bloße Gesetzesnorm,
sondern zugleich auch eine willensbegabte, den gesamten Weltlauf
beherrschende und verursachende Macht 2 • Kultursoziologisch 'wird man
dies wohl dadurch erklären können, daß der Nomos der griechischen Polis
als Deutungsschema des Universums mit dem Gottkönigtum der orien-
talischen Weltherrscher verschmolzen ist. Vom systematischen Standpunkt
gesehen, liegt nun in der Vorstellung eines Weltprinzips, das zugleich
Allursache und oberste Norm ist, ein grundsätzlicher Widerspruch. Der
Begriff der Norm setzt voraus, daß der Normadressat dem Gesetzgeber
als ein selbständig handelndes Wesen gegenübersteht, das unter Umständen
die Vorschrift auch übertreten kann. Die Allursächlichkeit des Welt-
prinzips, das ja in diesem Falle auch sämtliche Entschlüsse des Norm-
adressaten verursachen muß, hebt jedoch eben diese Voraussetzung auf.
Heraklit hat diese Schwierigkeit allerdings nicht erkannt und ausführlich
behandelt, sondern nur mehrfach gestreift. So klagt er darüber, daß die
Menschen sich um den Logos nicht kümmern, obwohl alles nach diesem
geschieht (B 1, B 2, B 72). Diese und verwandte Stellen sind allerdings
nicht ganz eindeutig. Sie können besagen, daß der Mensch den Sinn
oder die Norm, die im Weltgesetz beschlossen liegt, verfehlen kann und
oft auch wirklich verfehlt; aber sie können auch andeuten, daß die Men-
schen immer unbewußt nach diesem Sinne und Gesetze oder dieser N ot-
wendigkeit handeln und nur die bewußte Formulierung dieses Prinzips
nicht erkennen oder anerkennen (z. B. B 17, B 71, B 73). Im ersteren
Falle hat das Individuum eine gewisse Unabhängigkeit und das Welt-
prinzip ist nicht allmächtig und allursächlich, im anderen verwirklicht
eine Art "List der Vernunft" ihre Ziele durch das Handeln der Menschen,
die nichts von ihr wissen und wissen wollen. Möge es sich aber damit ver-
halten wie immer: wir stehen hier am Ursprungspunkt eines weiteren
Problems, welches das philosophische Denken durch Jahrtausende
beschäftigt hat, nämlich die Frage nach der sogenannten Willensfreiheit,
die ja für die metaphysisch-theologische Tradition vor allem das Ver-
hältnis zwischen dem Wollen des Menschen und dem des göttlichen Welt-
prinzips betraf3.
Doch die Auffassung des Kosmos als eine nach ethisch-politischen
Wertgesichtspunkten orientierte Ordnung führt, wenn man sie folgerichtig
durchdenkt, zu einer weiteren Rätselfrage. Wenn nämlich im Universum
ein guter und gerechter Logos wie ein Gesetz alle Dinge regelt oder wie
ein vollkommener Herrscher mit unbeschränkter Macht waltet, dann ist
1 Eine gute Übersicht über die Entwicklung dieses Problems gibt H. WEL-
ZEL: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 1951.
2 W. JAEGER: Theologie, S.146.
3 Dies wird besonders deutlich in der Darstellung von H. GOllfPERZ;
Das Problem der Willensfreiheit, Jena 1907.
118 Der Kosmos der Philosophie
Aus dieser Situation sind die Werke zweier Denker hervorgegangen, die
völlig entgegengesetzte Wege einschlugen. Thukydides und Platon. Der
Historiker, der mit tiefem Ernst und männlicher Herbheit der Wert-
irrationalität des Weltlaufes ruhig ins Auge schaut und aus der geschicht-
lichen Erfahrung allgemeine Erkenntnisse über das tatsächliche politische
Handeln der Menschen gewinnen will, ist zum Begründer einer empirisch-
rationalen Erforschung von Geschichte und Gesellschaft geworden, doch
hat weder das wissenschaftliche Werk noch die gesamte Weltauffassung
dieses Mannes, der Erkenntnis und nicht Erbauung oder Ideologie suchte
und gab, direkte Nachfolge gefunden. Um so größer war die geschichtliche
Wirkung des Philosophen, der sich selbst und den Menschen über jene
Wertirrationalität hinwegzuhelfen strebte. Von logischen Unterscheidungs-
künsten bis zum orientalischen Mythos, von der Mathematik bis zur
Jenseitsreligion greift Platon zu jedem Mittel, das zu diesem Zweck
geeignet sein könnte. Er baut sein Ideenreich auf, welches in gleicher
Weise letzte Richtlinien für eine aktive pädagogisch-politische Welt-
gestaltung und letzte Geborgenheit für eine kontemplative, mystisch-
religiöse Weltflucht garantieren sollte. Schließlich nahmen seine späteren
Werke die soziomorphe und technomorphe Deutung des Kosmos, wie sie
die Vorsokratiker geübt hatten, in einer weiter ausgestalteten Form wieder
auf. So mündet auch das platonische Denken zuletzt in den großen Strom
der Kosmosspekulation ein, die in der Spätantike ihre größte philosophische
Wirksamkeit erreichen sollte.
In seinen Frühschriften benützt Platon jedoch keine intentionalen
Modelle. Vielmehr will er durch begriffliche Präzisierung möglichste
Klarheit in der so verworrenen moralischen und moraltheoretischen
Situation seiner Gegenwart gewinnen und erhofft davon letztlich auch eine
Neubegründung der normativen Ethik. Aber sein Ringen um dauernde,
von allem historischen Wandel unabhängige moralische Normen mußte
ihn weit übel' den Bereich deskriptiver Allgemeinbegriffe hinausführen,
und noch vielmehr sein leidenschaftliches Aufbegehren gegen die Wert-
irrationalität des faktischen Weltlaufes. Ja, diese Wertirrationalität
konnte nicht einmal durch absolute Normen überwunden werden, son-
dern - wie Platon glaubte - nur durch den Aufbau einer illusionären
wertrationalen Welt, die sich als "wahre "\Virklichkeit" der zum "Sinnen-
schein" depotenzierten menschlichen Lebenswirklichkeit überordnen ließl.
Im Dienste diesel' Zielsetzungen, die zwar aus einem einzigen Motiv
entstammten, aber doch untereinander verschieden waren, wurden ver-
schiedene Elemente in die platonische Ideenlehre einbezogen, welche
dadurch ihren eigenartig schillernden Charakter erhielt. Das Streben
nach einem absolut sicheren, erfahrungsunabhängigen Wissen führte den
Philosophen zur Mathematik, die aber - in pythagoreischem Sinne mit
der Musik und der Vorstellung der Harmonie ver bunden - eine ästhetische
und ethisch-pädagogische Bedeutung empfing, die der modernen Auf-
fassung dieser Wissenschaft fremd ist. Für unser Thema wichtiger ist
jedoch eine andere Entwicklungsrichtung, welche den intentionalen
Vorstellungen immer größeres Gewicht verleihen sollte.
An manchen Stellen erscheint die Idee als einheitlicher Begriff für
jede Vielheit von Einzeldingen, die den gleichen Namen tragen (z .B. Pol.
507 B, 596 A). Doch neben und vor die Idee als Begriff schiebt sich die
Idee als Musterbild. Überall dort, wo es um die Begründung eines Sollens
oder um den Aufbau einer wertrationalen Idealwelt geht, ist die Idee
normatives Urbild (7t",pci8e~Y!L"')' die Sinnendinge sind ihre unvoll-
kommenen Abbilder.
Das wichtigste Muster einer Beziehting zwischen Urbild und Abbild
ist aber wohl die zwischen Werkplan und Werkstück. Schon in der
"PoIiteia" vollzieht sich der Übergang von der Idee als Allgemeinbegriff
zur Idee als Normgestalt mit Hilfe technomorpher Vorstellungen. Die
Idee des Tisches oder Bettes ist nicht bloß der Inbegriff der gemeinsamen
Eigenschaften aller Tische oder Betten, sondern auch das Muster, auf
welches der Verfertiger dieser Gegenstände bei deren Herstellung blickt.
Der menschliche Handwerker kann allerdings die Idee selbst nicht
schaffen, denn sie stammt von Gott (Pol. 596 B-597 C). Doch nicht
immer erscheint Gott als Schöpfer der Ideen, vielmehr werden sie auch als
an sich seiende, ungeschaffene und von Natur bestehende Urbilder auf-
gefaßt, wie etwa das Muster des Weberschiffchens, von dem im "Kratylos"
(389 B) die Rede ist. Am technomorphen Charakter dieser Vorstellungen
ändern solche Unterschiede nichts. Er ist so stark und so deutlich aus-
geprägt, daß Hans Leisegang in ihm geradezu den Kern der idealistischen
Weltanschauung erblickt hat: "Suchen wir nach dem Urphänomen, aus
dem das idealistische Denken entspringt, so liegt es in den Werken
Platons überall offen zutage. Immer ist es das handwerkliche und künst-
lerische Schaffen, an dem sich Platon orientiert und aus dem er seine
Beispiele entnimmt. Ob der Tischler ein Gerät wie den Webstuhl her-
richtet, ein Baumeister ein Haus baut, immer schaffen sie nach einem
Plan, nach einer ,Idee', haben den Stoff sich gegenüberliegen, um ihn
nach einem geistigen Urbild zu formen und zu gestalten. Der Weltschöpfer
selbst wird schließlich bei Platon zum ,Demiurgen', zum Handwerker,
der auf die Ideenwelt hinblickend als auf einen geistigen Weltplan die
körperliche Welt im Raume konstruiert und im Stoff entstehen läßti."
Mag diese Interpretation auch nicht für alle Ausprägungen der Ideenlehre
zutreffen, so doch zweifellos für ihre charakteristischeste und vor allem
geschichtlich wirksamste Form.
Die Deutung der Welt als Werk eines Bildnergottes (wie man wohl
richtiger statt "Weltschöpfer" sagt), der sie nach ewig gleichbleibenden
Musterbildern gestaltet, wird besonders in den Spätwerken Platons
sich bei der dort entwickelten Lehre von den drei Seelenteilen nicht um
eine originale psychologische Theorie handelt, sondern um eine ziemlich
künstliche Übertragung eines vorausgesetzten sozialen Schemas auf das
Seelenleben, um eine "politisch-psychologische Analogie", ist bereits vor
geraumer Zeit erkannt worden. Schon 1888 hat Edmund Pfleiderer be-
hauptet: "Platon schreitet nicht von der bereits erworbenen Einsicht
in die drei Seelenteile zu der Erweiterung in der Form der drei Staats-
stände fort, sondern sein Gang ist der gerade umgekehrte, wie er es
selbst so deutlich wie möglich darstellt. Der orientierende Überblick über
die wesentlichen Bedürfnisse und Gliederungen eines natürlich-rationalen
Gesellschafts- und Staatslebens gibt ihm zuerst die drei Stände in die
Hand, und das übersetzt er nun auf Grund der Prämisse vom Parallelismus
,der großen und der kleinen Schrift' mühsam genug ins Individuell-
psychologischel ." Max Pohlenz hat die gleiche Ansicht vertreten und
dabei besonders bemerkt, daß die Lehre von den Seelenteilen nicht aus
rein psychologischen, sondern aus ethischen Interessen hervorgegangen
ist und sich ganz auf die ethisch wichtigen Funktionen beschränkt2 •
In einer eigenen Arbeit hat F. M. Cornford das Verhältnis von Seelenlehre
und Sozialstruktur in der "Politeia" untersucht und ist ebenfalls zu dem
Schluß gekommen, daß Platon den Aufbau der Seele dem Aufbau des
Staates nachgebildet hat3 •
Daß die Lehre von den drei Seelenteilen nicht aus einem deskriptiv-
psychologischen, sondern einem normativ-ethischen und politischen
Interesse entsprungen ist, geht aus Platons eigener Darstellung eindeutig
hervor: der Philosoph will die Gerechtigkeit in der Natur des Einzel-
menschen finden. Um die Untersuchung zu erleichtern, benützt er - wie
er behauptet - einen heuristischen Kunstgriff. Er fragt nicht direkt
nach der Gerechtigkeit des Einzelnen, sondern nach der des Staates,
der gewissermaßen einen "Menschen im Großen" darstellt und an dem
daher leichter erkannt werden kann, was gerecht und was ungerecht ist.
Die so gewonnenen Einsichten sollen auf das Individuum rückangewendet
werden und erhellen helfen, was bei diesem Gerechtigkeit bedeutet.
Beim Aufbau seiner Staatslehre geht Platon von einem System der
Bedürfnisse aus, die im menschlichen Zusammenleben befriedigt werden
müssen. Zunächst sind dies Wohnung, Nahrung und Kleidung, aber die
Gemeinschaft braucht auch Ordnung im Inneren, Schutz nach außen
und sachkundige Führung. Für eine angemessene Befriedigung dieser
Bedürfnisse sollen drei Stände - Nährstand, Wehrstand und Lehrstand -
sorgen, die sich aus den für die jeweiligen Aufgaben befähigtesten Bürgern
zusammensetzen. Mit Hilfe des Grundsatzes einer strengen Arbeitsteilung
der Stände kann nun Platon sein eigenes Gesellschaftsideal gewissermaßen
als "Erfordernis der Sache" hinstellen. Dieses Ideal ist eine - durch
pythagoreische Theorie und spartanische Praxis mitbestimmte - aristo-
kratische Verfassung. Die Herrenschicht wird allerdings nicht durch einen
Blutsadel gebildet, sondern durch eine Geistesaristokratie, eine philo-
sophisch geschulte Elite. Als solche konnte sich ja die platonische Akademie
fühlen, die zugleich eine philosophische und politische Gemeinschaft war.
Diese Geistesaristokratie regiert mit Unterstützung eines gleichfalls
theoretisch und gymnastisch geübten, ausgewählten Standes von Waffen-
trägern die politisch rechtlose Masse der wirtschaftlich tätigen Bevölkerung.
Die soziale Hierarchie, wie sie Platon vorschwebte, ist aber alles andere
als eine rein zweckrationale Organisation von Menschen zur Bewältigung
bestimmten Aufgaben. Sie beruht nicht auf einer bloßen Teilung der
Funktionen, sondern stellt in eminentem Maße eine Rangordnung des
Wertes dar. Kraft ihrer Einsicht in das Wesen des Guten stehen die
philosophischen Regenten an Wert über der Militärklasse und diese
beiden Gruppen sind viel höher einzuschätzen als der gemeine Mann, den
Platon geradezu als minderwertig betrachtet. Jeder dieser Stände hat
seine spezifische Tugend - Weisheit, Tapferkeit, Mäßigung - und die
Gerechtigkeit besteht darin, daß die Gesamtordnung eingehalten wird,
was wesentlich bedeutet, daß die unteren Stände den Herrschaftsanspruch
der höheren als berechtigt anerkennen.
Der so erlangte hierarchisch-politische Gerechtigkeitsbegriff wird nun
vom "Makroanthropos", dem Staat, auf das menschliche Individuum
übertragen. Die Voraussetzung dafür ist die Annahme, daß jeder Mensch
gewisse seelische Anlagen mitbringt, die ihn zur Aufnahme in einen der
drei Stände besonders geeignet erscheinen lassen. Platon geht aber weit
über solche "eignungspsychologische" Überlegungen hinaus. Er konstruiert
in Analogie zu den drei Ständen des Staates drei "Seelenteile" - Ver-
nunft, Willensenergie und Begehrlichkeit - und verlangt, daß die
Menschen je nach dem Vorwiegen eines dieser Teile der entsprechenden
sozialen Gruppe zugewiesen werden sollen. Darüber hinaus bilden die
"Seelenteile" ein komplettes, wertmäßig abgestuftes Herrschaftssystem,
dessen Struktur dem hierarchisch gegliederten Herrschaftssystem des
Staates genau nachgeformt ist.
In jedem Menschen finden sich also dieselben Grundvermögen und
Verhaltensweisen wie im Staate, und aus dieser menschlichen Natur-
anlage sind sie nach Platon in den Staat gelangt (Politeia 435 E, 441 C).
Wie in der Gemeinschaft, so gibt es auch in der Seele ein "von Natur aus"
Besseres und Schlechteres, und das Bessere soll über das Schlechtere
herrschen (431 A). Dieses "Bessere" ist die Vernunft, und ihr kommt
die Führung zu, weil sie weiß, was für den Einzelnen und für die Allgemein-
heit zuträglich ist (441 E, 442 C). Gegen die Herrschaft der Vernunft
erheben sich aber die Begierden. In dem Kampfe zwischen beiden steht
dem höchsten Seelenvermögen der Thymos, die Willensenergie, als
Der Kosmos der Philosophie 12i
verläßlicher Bundesgenosse zur Seite (439 Aff., 440 B), der niemals mit
den Begierden gemeinsame Sache macht. Damit erhält er genau die
Funktion der Polizeikräfte im Staate.
Doch im "gerechten", dem "in richtiger Verfassung befindlichen"
Menschen treten solche Spannungen ebensowenig auf wie in der gerechten
Polis. Hier wie dort sind führende und geführte Kräfte darin einig, daß
dem vernünftigen Teil oder Stand die Herrschaft zukommt, so daß jede
Auflehnung gegen diesen unterbleibt (442 C/D). In diesem Zustand ver-
richtet jeder Teil die ihm zukommenden Aufgaben und vermeidet jede
Einmischung in das Ressort des anderen (443 C/D). Doch kann zwischen
den Seelenteilen auch ein Bürgerkrieg (cr't"acrLC;) ausbrechen. Dann ver-
suchen die niedrigeren Seelenteile, die Geschäfte der höheren an sich
zu reißen und sich gegen das Ganze der Seele aufzulehnen, um in ihr
die Herrschaft zu erlangen, zu der sie ihrer natürlichen Beschaffenheit
nach nicht berufen sind (444 B). Dieser "Sklavenaufstand der Triebe"
ist die Ungerechtigkeit schlechthin.
Durch die soziomorphe Vorstellung einer "richtigen Herrschafts-
ordnung" werden aber nicht nur Staat und Seele, sondern in weiterer
Folge auch Seele und Körper miteinander in Parallele gesetzt. Wie beim
Leibe die Erhaltung der Gesundheit dadurch gewährleistet wird, daß
die Kräfte im Körper in der naturgemäßen Ordnung übereinander herr-
schen und voneinander beherrscht werden, so beruht die Gesundheit
der Seele, die Gerechtigkeit, auf der Erhaltung der naturgemäßen Herr-
schaftsbeziehungen unter den Seelenteilen. Mit dieser These nähert sich
Platon am stärksten dem Standpunkt des Alkmaion, für den die Gesund-
heit ebenfalls die "richtige" - und zwar die aristokratische - Verfassung
der Elemente des Körpers war.
Doch was bei dem pythagoreischen Arzt nur implizit gesagt ist, wird
von Platon breit ausgeführt. Der ganze Prozeß der Übertragung sozialer
Modellvorstellungen und Wertungen auf Leib und Seele des Individuums
und ihrer zirkelhaften Rückübertragung auf den Staat liegt hier offen
vor uns. Von einer bloß heuristischen Bevorzugung der Polis kann keine
Rede sein. Vielmehr wird nach der Analogie eines hierarchisch aufgebauten
und in verschieden bewertete Stände gegliederten Idealstaates eine ebenso
strukturierte. "Menschennatur" entworfen, die ihrerseits das bereits
vorausgesetzte Staatsideal als das der wahrenMenschennatur entsprechende
legitimieren soll. Unser Wissen über das, was die Gerechtigkeit nun wirk-
lich sein soll, erfährt durch diese ganze Konstruktion keine .Erweiterung,
denn sie überträgt nur den Herrschaftsanspruch der Philosophen in die
menschliche "Seele" und leitet ihn daraus wieder ab. Mit diesem Zirkel-
schluß verbindet sich aber ein anderer Gesichtspunkt. Die Philosophen
beziehungsweise die Vernunft besitzen den .vorrang und sollen herrschen,
weil sie das wahrhaft Gute erkennen können. Ob dieses Gute einen kon-
kreten Gehalt besitzt oder seinerseits auch nur eine Leerformel darstellt,
soll in einem anderen Zusammenhang erörtert werden.
Nicht nur das Individuum, sondern auch das Universum wird von
Platon soziomorph gedeutet, allerdings noch nicht in den Frühschriften.
128 Der Kosmos der Philosophie
bringen sein dürfte, daß Platon schon bei der Abfassung seines "Staates"
die sozio-kosmischen Spekulationen des Alten Orients gekannt und sie
mit vollem Bewußtsein philosophisch verfeinert und sublimiert hat, so
ist dies immerhin nicht unwahrscheinlich. In seinen späteren Werken
begegnen wir- bekanntlich (vgl. oben, S.69) ganz eindeutigen Beispielen
"kosmischer Städte".
Nicht immer bedient sich Platon ausgeprägter soziomorpher oder
technomorpher Analogien zur ethischen Deutung kosmischer Vor-
gänge. Manchmal ist es die Intentionalität als solche, das denkende
Ordnungschaffen und die so zustande gekommene Ordnung, welche in
die Gestirnbewegungen hineingelesen wird. Im "Timaios" entsprechen
diese Bewegungen den Denktätigkeiten und Umläufen der Weltseele,
welche als das vollkommene Urbild der menschlichen Seele gilt. Darum
sollen wir die Umläufe des himmlischen Geistes ('ru<; EV O-UPIXVql 'rov VOV
7t'e:pLo8ou<; Tim. 47 B) betrachten, um daraus für die Umläufe in unserem
eigenen Geiste Nutzen zu ziehen. Beide sind miteinander verwandt, nur
sind die himmlischen Kreisbewegungen jeder Störung enthoben, die
menschlichen jedoch in ihrer Ordnung gestört. So können wir durch Nach-
ahmung der göttlichen, unfehlbar richtigen Bewegungen den in unserem
eigenen Inneren sich vollziehenden unsicheren Umläufen einen festen
Halt verleihen (Tim. 47 BIC, 90 eID). In diesem Falle ist besonders klar
zu erkennen, wie die entscheidungslosen Regelmäßigkeiten der Himmels-
mechanik nach dem Modell der menschlichen Charakterfestigkeit -
also relativ konstanter Regeln für unsere Entscheidungen - gedeutet
werden, um dann als Vorbild unbeirrbarer charakterlicher Festigkeit zu
dienen.
Noch eindrucksvoller wird die ethische Interpretation des Universums
mit Hilfe intentionaler Vorstellungsmodelle in den " Gesetzen" . Hier
wird die intentionale Weltauffassung mit jener anderen konfrontiert, die
alle Dinge und Vorgänge nach dem Muster des Verhaltens lebloser Mate-
rialien erklären will, nämlich als zufällige oder durch eine gewisse Ver-
wandtschaft zustande gekommene Kombination unbeseelter Elemente
(889 B). Es ist bezeichnend, daß Platon diese Lehre wegen ihrer angeb-
lichen amoralischen Konsequenzen scharf bekämpft (889 Eff.). Tat-
sächlich erlaubt sie es nicht, moralische Gesichtspunkte in den Weltlauf
hineinzulegen und dann nach bekannter Art wieder aus ihm herauszulesen,
weshalb sie im Laufe der Geschichte immer wieder heftig angegriffen
worden ist.
In bewußtem Gegensatz zu dieser Weltauffassung vertritt Platon den
Vorrang der Intentionalität: Überzeugung und Planung, Denken, Kunst
und Gesetz (8o~1X XlXt E7t'L(LEA€LIX xlXl voii<; XlXt 'rEXV'Y) XlXt VO!Lo<;) sind
ursprünglicher als Hartes und Weiches, Schweres und Leichtes (892 B).
Diese Priorität gilt nicht nur im Kleinen für das Verhältnis von Seele
und Leib beim Menschen oder für menschliche Artefakte, sondern auch
für die Natur im Großen, die der Kunstfertigkeit und planenden Denk-
kraft ('rEXY'Y) XlXt vov<;) ihre Entstehung verdankt. Alles Geschehen im
Himmel und auf Erden ist durch Seelenbewegungen hervorgerufen, durch
Topitsch, Metaphysik. 9
130 Der Kosmos der Philosophie
man zwar jeder Vielheit gleichartiger Dinge eine Idee zuordnen, aber diese
Ideen sind axiologisch neutral, da auch das Wertlose oder gar Wert-
widrige begrifflich erfaßt oder als Ausführung eines Entwurfes gedeutet
werden muß. Soll aber das Ideenreich eine wertrationale Welt darstellen
und als metaphysische Verankerung für Handlungsnormen brauchbar
sein, dann darf es Ideen nur von Wertvollem und sittlich Gefordertem
geben. Wertneutrale Allgemeinbegriffe sind in diesem Zusammenhange
völlig unbrauchbar, aber auch die technomorphe Vorstellung des "Werk-
planes" ist nur dort zu verwenden, wo bestimmte Sinnendinge als unzu-
längliche Abbilder eines vollkommenen Urbildes hingestellt werden
können, etwa dingliche Tische als Nachbildungen des ideellen Tisches.
Will man nur Ideen von Wertvollem annehmen, dann bleibt fernerhin
ein wesentlicher Teil der Erfahrungswelt, nämlich der negativ bewertete,
überhaupt ohne Entsprechung im Reiche der reinen Normgestalten.
Ist also diese Auffassung der Ideen schon als Erklärungsprinzip für die
empirische Wirklichkeit wenig geeignet, so zeigt sie noch erheblichere
Schwächen, wenn sie zur metaphysischen Begründung von Werten und
Normen herangezogen wird. Nimmt man nämlich nur das Wertvolle in
das Ideenreich auf, so setzt man bei dieser auswählenden Konstituierung
bereits jenen Wertmaßstab voraus, der durch die Ideen garantiert werden
soll. Die ganze Argumentation bewegt sich dann im Zirkel. Damit rühren
wir wieder an die grundsätzliche Frage nach den primären Wertungen,
welche die Basis des platonischen Philosophierens bilden.
Noch komplizierter wird die Lage, wenn die intentionalen Konstruk-
tionen nicht als bloße Wertideen oder als Normen für menschliches
Handeln auftreten, sondern als wirkende und handelnde Mächte, die das
Geschehen in unserer Welt leiten und bestimmen. Die Annahme einer
nach Wertgrundsätzen orientierten kosmischen Handlungsmacht gerät
mit der tatsächlichen Wertirrationalität des Weltlaufes in Widerspruch,
und das Verhältnis zwischen dem Wollen jener Macht und dem des
Menschen wird zum Problem. Beide Fragen - Kosmodizee und Willens-
freiheit - hat Platon mehrfach berührt, aber nicht systematisch behandelt.
Der unleugbaren Tatsache, daß der Lebenserfolg in dieser Welt oft
den moralisch Minderqualifizierten zufällt, sucht der Denker durch die
mythisch eingekleidete Behauptung zu begegnen, daß sich der gerechte
Ausgleich in einem erfahrungsjenseitigen Bereich vollzieht. Eine solche
Vergeltung ist aber grundsätzlich unüberprüfbar. Die Wertirrationalität
der menschlichen Lebenswirklichkeit bleibt bestehen, und was darüber
hinaus behauptet wird, stützt sich nicht auf Erkenntnis, sondern aus-
schließlich auf den Willen, die Idee der wertrationalen Weltordnung
unter allen Umständen aufrechtzuerhalten. Doch ist auch der Gedanke
wenigstens angedeutet, daß dem Bösen eine Rolle oder Funktion in der
Ordnung des Ganzen zukomme (Nom. 905 B). Ja, es wird sogar die
Möglichkeit der Existenz einer bösen Weltseele in Erwägung gezogen
und bezeichnenderweise nicht mit dem Hinweis auf eine angeblich in der
menschlichen Gesellschaft bestehende gerechte Ordnung, sondern mit
dem auf die Harmonie der Gestirnbewegungen abgelehnt (896 Dff.).
Der Kosmos der Philosophie 133
eben jenes Wissen um das Gute voraus, das sie zu begründen vorgeben.
Wenn aber diese Vorstellungen und die auf ihnen aufgebauten Argumen-
tationen nicht mit einem vorausgesetzten Wert- und Normgehalt erfüllt
werden, der dann wieder zirkelhaft als ihr Ergebnis auftreten kann, so
sind sie vom axiologischen Standpunkt einfach leer, sagen sie über einen
·Wert oder ein Sollen überhaupt nichts aus.
Worin besteht aber nun für Platon das Gute, was ist der konkrete
Wertgehalt, ohne den alle jene Gedankengänge bloße Leerformeln bleiben?
Was hat - mit anderen Worten - der Philosoph zutiefst gewollt und
gewünscht? Diese Frage gehört zwar, streng genommen, nicht mehr in
eine Untersuchung, die sich mit bestimmten Denkformen, nicht aber
mit faktischen Werthaltungen beschäftigt. Dennoch muß sie berücksich-
tigt werden, da sie uns die Grenzen der Bedeutsamkeit des intentionalen
Weltbildes für Platon erkennen läßt.
Was der Denker zum Problem des Guten sagt, ist nicht ganz ein-
heitlich. Das darf uns angesichts der starken Spannungen und Wider-
sprüche in Platons Persönlichkeit nicht überraschen. Wer sophistische
Skepsis und inbrünstiges Glaubenwollen, pädagogisch-politischen Füh-
rungsanspruch und kontemplative Weltflucht in seinem Denken mit-
einander vereinigt, wer die aufklärerische Zurückführung der Religion
auf Herrschaftsinteressen erbittert bekämpft und doch selbst die mythisch-
religiösen Vorstellungen als Herrschaftsinstrumente empfiehlt, wer
schließlich durch den Tod des Sokrates zutiefst erschüttert wurde, aber
für eine Weltanschauungspolizei eintritt, deren erste Opfer Männer wie
Sokrates wären, von dem darf man keine vöIIige Einheitlichkeit der
letzten Zielsetzungen erwarten. Dennoch besteht eine auffallende Über-
einstimmung gerade zwischen jenen Stellen, an denen Platon mit der
tiefsten inneren Bewegung von der Idee des Guten spricht. Diese erscheint
dort nicht als begrifflich faßbare Norm für menschliches Handeln, ja
überhaupt nicht als mögliches Objekt rationaler Erkenntnis, sondern als
eine Art numinoser Wesenheit, die nur in einem intuitiven Erlebnis
plötzlicher Erleuchtung geschaut werden kann. Das Gute läßt sich nicht
in Worten charakterisieren, sondern nach langer spekulativer Bemühung
in entsprechender Lebensgemeinschaft "tritt es plötzlich in der Seele
hervor wie ein durch einen abspringenden Funken entzündetes Licht
und nährt sich dann durch sich selbst" (VII. Brief 341 eiD).
So erscheint das Gute in letzter Linie als eine unaussagbare, über-
weltliche Heilswirklichkeit, der gegenüber alle inhaltlich bestimmte
Erkenntnis und alles innerweltliche Handeln nur untergeordnete Bedeu-
tung besitzt. Angesichts dieser Heilserfahrung verliert auch die sozio-
morphe oder technomorphe Interpretation des Universums sehr an
Wichtigkeit, die intentionale Kosmologie wird von einer Art negativer
Theologie! überstrahlt. Die Tendenz zur negativen Theologie zeigt sich
noch stärker im Zweiten Brief, dessen Echtheit allerdings sehr zweifelhaft
ist. Hier wird ausdrücklich davor gewarnt, die Eigenschaften des Welten-
königs ergründen zu wollen (312 E). Wenn der Brief auch nicht von
Platon selbst stammen dürfte, so ist er doch ein Zeugnis dafür, in welcher
Richtung man platonische Gedanken weiterentwickelt hat.
Die platonische Philosophie war von dem Grunderlebnis der Wert-
irrationalität der menschlichen Lebenswirklichkeit und besonders der
gesellschaftlichen Verhältnisse ausgegangen. Sie suchte dieses Erlebnis
dadurch zu überwinden, daß sie jenseits des Erfahrbaren eine wert-
rationale 'Velt der Ideen aufbaute, der gegenüber die "Sinnenwelt" zum
bloß Vordergründigen und Scheinbaren abgewertet werden konnte. Ein
ganz entgegengesetztes Erlebnis hat dazu beigetragen, daß der bedeu-
tendste Schüler Platons sich von der Lehre seines Meisters löste. In
bewußter Antithese zum Höhlengleichnis der "Politeia" hat Aristoteles
in seiner Programmschrift "Über die Philosophie" die Schönheit und
Göttlichkeit des sichtbaren Kosmos (bezeichnenderweise bloß der Natur,
nicht aber der Gesellschaft) gepriesen (Frgm. 12 Rose), und dieser Lob-
preis ist nicht nur für die späteren Werke des Denkers, sondern auch für
die weitere Entwicklung eines erheblichen Teiles der hellenistisch-römischen
Philosophie richtungweisend geblieben. Die Auffassung des Makrokosmos
als erhabenes Kunstwerk, die sich schon bei Platon wenigstens als Mythos
immer stärker durchgesetzt hatte, wird nun zum beherrschenden Motiv.
Ein weiteres intentionales und besonders technomorphes Element
im aristotelischen Denken ist offenbar aus den Traditionen der Ärzte-
familie herzuleiten, welcher der Philosoph entstammt. Es ist dies der
Glaube an eine planmäßig schaffende "Natur", der sich vor allem auf
gewisse Ähnlichkeiten zwischen vielen organischen Vorgängen und dem
menschlichen Zweckhandeln stützt. Schon Epicharm sieht in der Zweck-
mäßigkeit des instinktiven Verhaltens von Tieren - er bringt das Beispiel
der brütenden Hennen - ein Werk der Weisheit der Natur (B 4). Am
stärksten hat sich aber unter den hippokratischen Ärzten die Überzeugung
gebildet, daß die Natur von sich aus das Richtige bewirke: sie findet selbst
ihren Weg ohne Überlegung, sie ist wohlunterrichtet und tut aus eigenem,
ohne es gelernt zu haben, das Notwendigel. Diese Vorstellungen ermög-
lichten die intentionale Deutung von Einzelvorgängen, etwa des Wachsens
und Werdens von Tieren und Pflanzen oder der Selbsttätigkeit mancher
Heilungsprozesse. Bei Aristoteles haben sie vor allem zur Überwindung
einer Schwierigkeit beigetragen, auf welche die platonische Ideenlehre
in ihrer technomorphen Fassung gestoßen war. Platon vermag nämlich
das Verhältnis zwischen der Idee als normativem Urbild und dem Sinnen-
ding als dessen unvollkommenem Abbild nicht philosophisch zu klären,
sondern nur durch das mythische Bild vom Demiurgen zu umschreiben.
Dagegen erblickt Aristoteles in der Morphogenese und der Artenkonstanz
der Lebewesen konkrete Beispiele für Normgestalten, die sich selbst
(in diesem Sinne ist der Ratgeber die Ursache einer Handlung oder der
Vater die des Kindes und überhaupt das Schaffende und Verändernde
die des Geschaffenen und Veränderten) und schließlich der Zweck, um
dessentwillen etwas getan wird, wie etwa das Spazierengehen um der
Gesundheit willen. Am klarsten kommt aber der Grundcharakter der
Lehre von den vier Ursachen dort zum Vorschein, wo Aristoteles ein
Beispiel für ihr gemeinsames Vorliegen bei ein und demselben Dinge
gibt, und zwar beim Hausbau. Hier ist die Ursache der Bewegung oder
Veränderung die Baukunst und der Baumeister, der Zweck das vollendete
Haus, die Materie stellen Erde und Steine dar und die Form ist der
Begriff (Met. III 996 b 5-8). Alle Ursachen lassen sich in diesem Falle
mühelos feststellen und vor allem ohne jene Gewaltsamkeit, die in der
Regel notwendig ist, wo bestimmte Denkmodelle auf ein fremdes Gebiet
übertragen worden sind. Dies spricht dafür, daß die aristotelische Theorie
der Ursächlichkeit auf eine technomorphe Leitvorstellung zurückzuführen
ist, und zwar auf die der Tätigkeit des Künstlers oder Handwerkers, der
aus einem gegebenen Werkstoff (VA1j, materia) ein Werkstück von vorher
entworfener Gestalt (e:i8o<;, 1t()(.pa8e:~Yfl-()(., fl-opcpij, forma) zu einem be-
stimmten Zwecke ('t"6AO<;, finis) herstellt (1tO~e:L, efficit). Betrachtet man
unter diesem Gesichtspunkt die Ausführungen des Aristoteles über die
metaphysischen Bemühungen seiner Vorgänger, so darf man behaupten,
daß diese ihm letztlich als ein Ringen um eine bestimmte Weltauffassung
erscheinen, welches erst er selbst zu dem durch die Logik der Sache ge-
forderten Abschluß gebracht hat - um eine Weltauffassung, dürfen wir
hinzufügen, deren Grundbegriffe der des Werkstoffes (oder in weiterem
Sinne des "Stoffes" überhaupt) und jener der Intentionalität, des plan-
vollen und zweckgerichteten HandeIns unter besonderer Berücksichtigung
der Techne sind!.
Diese Selbstinterpretation ist zumindest insofern richtig, als der
Philosoph die technomorphen Denkmodelle zu einem Begriffsapparat
ausgebaut hat, der an Reichhaltigkeit alles Vorherige weit in den Schatten
stellt, und diesen Apparat mit äußerster Folgerichtigkeit auf den ver-
schiedensten Forschungsgebieten anzuwenden bestrebt war.
In der Metaphysik ist es zunächst das Problem des Verhältnisses
von Sein und Werden, das der Denker mit Hilfe jener Begriffe zu meistern
trachtet. Alles Werden setzt einen Stoff, ein bleibendes Substrat (lJ1toxe:L-
fl-e:vov) voraus, das durch wechselnde Formen gestaltet wird. Sofern
der Materie die Form fehlt, kann sie auch als "Beraubung" (0"'t"6P"fj0"~<;,
privatio) bezeichnet werden. Entsprechend den Verhältnissen bei der
Verfertigung von Artefakten gilt der Stoff als das passive und unbe-
stimmte, die Form als das wirkende, gestaltende und begrenzende Prinzip.
Aus der Vereinigung beider entsteht das konkrete Einzelding (O"UVOAOV,
compositum), etwa aus dem Erz und der Kugelgestalt die eherne Kugel
(Met. VII 1033 b 8-10). Zur Erklärung der Werdeprozesse bedient
sich Aristoteles eines weiteren Begriffspaares: jeder dieser Prozesse ist
ein Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit, von der Potenz
(~UVCX(L~~) zum Akt (6v€pye:~cx). Auch hier stehen intentionale und be-
sonders technomorphe Vorstellungen im Hintergrund. "Potenz" ist zu-
nächst die Fähigkeit oder das Vermögen des Menschen, eine bestimmte
Handlung auszuführen, eine Leistung zu erbringen oder einen Plan zu
verwirklichen. Beispielsweise ist der Baumeister imstande, ein Haus zu
bauen, der Gelehrte hat die Fähigkeit, wissenschaftlich zu denken usw.
(Met. IX 1048 a 34ff.). Mit Recht hat Werner Jaeger hervorgehoben, daß
die verbreitete Meinung falsch ist, nach welcher Aristoteles die Begriffe
von Potenz und Akt aus dem organischen Lebensprozeß abgeleitet hat.
Vielmehr "erläutert er sie wohl gelegentlich am Beispiele des Samens und
des fertigen Erzeugnisses, aber sie können nicht aus der Sphäre des sich
organisch Entwickelnden stammen, sind vielmehr vom menschlichen
Können (~uvcx(L~~) genommen, das bald latent ruht, bald sich in Tätigkeit
(spyov) umsetzt und erst in dieser Betätigung (EV€PYS:~cx) sein Ziel erreicht
(EVTe:AEXe:~CX)"l. Dem menschlichen Können, das gewissermaßen die
subjektive Seite des Begriffspaares Potenz und Akt darstellt, steht auf
der Objektseite die Eignung des Werkstoffes gegenüber, eine bestimmte
Form anzunehmen. So ist das Erz oder der Marmor "potentiell" eine
Statue, das Silber der Möglichkeit nach eine Schale. Im konkreten Her-
steliungsprozeß sind beide Seiten vereinigt. Der Künstler setzt seine
Fähigkeit in die Tat um und gibt dadurch dem geeigneten Material die
geplante Form, wodurch der fertige Gegenstand vollendet wird.
Diesen Begriffsapparat, den Aristoteles aus dem "Kunstwerden"2
entwickelt hat, überträgt er zunächst auf den organischen Werdeprozeß.
Schon die Zeugung der Organismen erscheint als ein Fertigungsvorgang,
bei welchem der männliche Partner als gestaltendes und schaffendes
Prinzip, als causa formalis und efficiens (e:t~o~ xcxl. 7tOLQ'uv) fungiert,
während der weibliche den Stoff bereitstellt. Dem männlichen Samen
wird geradezu eine werkmeisterliche Tätigkeit ('t"o (l"7tEp!J.CX 7tO~e:L wO"7te:p
't"a a.7tO 't"EXV1j~) zugeschrieben3 • Wie die Zeugung, so wird auch die
Entwicklung durchaus technomorph als Formung eines Stoffes verstanden.
Im Keime ist die Gestalt des fertigen Lebewesens "potentiell" angelegt .
und diese Anlage "aktualisiert" sich im Werdeprozeß zum vollentwickelten
Dasein. Freilich vollzieht sich diese Formung nicht von außen her wie
beim Kunstwerk, sondern von innen heraus (z. B. De gen. anima!. II
735 a 2-4). So entsteht die Vorstellung einer objektiven Zweckmäßigkeit.
Während die Gestaltung des Kunstwerkes vom Willen und von der Ent-
scheidung des Künstlers abhängig ist, verwirklichen sich die vorgegebenen
organischen Formen mit natürlicher Notwendigkeit!. Diese naturnot-
wendige Entwicklung ist aber nicht etwa bloß ein wertneutraler Vorgang,
sondern die Erreichung eines wesentlich werthaften Zieles. Wie der
Künstler mit seiner zweckgerichteten Arbeit ein bestimmtes Gut - das
fertig gestaltete Werkstück - produzieren will, so ist die Verwirklichung
der im Keim angelegten Form als "von der Natur gewollte" Vollendung
des Lebewesens ein objektiv Gutes 2 • Mit Hilfe der technomorphen Vor-
stellungen werden also auch hier dem Naturlauf gewisse Wertgesichts-
punkte unterlegt, die ihrerseits wieder auf wertbestimmtes menschliches
Verhalten rückbezogen werden können. Dieser Reflexionsvorgang soll
jedoch erst in anderem Zusammenhange näher behandelt werden.
Auf dem Wege über die Entwichlungsgesetzlichkeit der einzelnen
Individuen und verschiedenen Arten der Lebewesen werden die techno-
morphen Modelle auf den gesamten Weltzusammenhang übertragen. Das
schaffende Naturprinzip, die Physis, wirkt nicht nur in den artspezifischen
organischen Werdeprozessen, sondern durchwaltet den ganzen Kosmos.
Das Wirken dieser Macht wird immer wieder mit der intentionalen,
zweckrationalen Tätigkeit des Menschen verglichen. Sie tut wie ein echter
Künstler nichts umsonst und ohne Sinn, nichts zufällig und alles gleichsam
mit Absicht und wählt unter dem Möglichen das Beste. Sie gleicht aus,
schafft Ordnung und sorgt für das Gleichgewicht der Kräfte. Mit fließenden
Übergängen verlagern sich die Gleichnisse auch auf das sozialökonomische
Gebiet. Die "Natur" erscheint als ein tüchtiger Hausverwalter (oLxov6{lo~
ayoc&6t;), das Universum gleicht einem Hauswesen, in welchem jeder
Angehörige eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen und bestimmte Vor-
schriften zu befolgen hat3 •
Wie auf den Kosmos, so wird jener technomorphe Begriffsapparat
auch auf die Seele angewendet. Auch hier ist es der organische Werde-
prozeß, der diese Anwendung ermöglicht. Das Lebewesen wird wie ein
Werkstück als Kompositum aus einem Stoff - dem Leibe - und einer
Form - der Seele - betrachtet. Die Seele ist das gestaltende und bewe-
gende Prinzip, die "erste Entelechie eines mit Lebensfähigkeit ausge.
statteten Naturkörpers" (Psych. II 412 a 19ff). Der Ausdruck "erste
Entelechie" bedeutet, daß der Leib durch die Formkraft der Seele zwar
einen bestimmten Grad der Vollendung erreicht, aber nicht immer alle
ihm gegebenen Fähigkeiten betätigt. Die Auffassung des Organismus als
Einheit von Materie und Form führt allerdings zu der Konsequenz, daß
die Seele sich ohne den Körper ebensowenig betätigen kann wie der
Körper ohne sie. Diese Anschauung war zwar mit gewissen biologischen
Erfahrungen wohl vereinbar, stand aber mit dem auch noch bei Aristoteles
jeder Sinn die Formen seiner Objekte ohne deren Materie auf, ähnlich
wie das Wachs beim Siegeln zwar das Zeichen des Siegelringes aufnimmt,
nicht jedoch dessen Material, Eisen oder Gold (Psych. II 424a l7ff.).
Wie das Wahrnehmungsvermögen durch die Formen der Sinnenobjekte,
so muß das Denkvermögen durch ein geistiges Formprinzip aktualisiert
werden. Sofern der Verstand bloß potentiell ist, gleicht er - analog dem
ungesiegelten 'Wachs - einer unbeschriebenen Tafel (Psych. III 429b
30ft). Wer diese Tafel beschreibt, bleibt zunächst ungesagt, doch fordert
die innere Konsequenz des technomorphen Begriffsapparates auch hier
eine gestaltende Kraft: "Da es in der gesamten Natur einerseits für jede
Gattung die Materie gibt (diese ist das Mögliche), andererseits die Ursache
und das schaffende Prinzip, das alles gestaltet wie die Kunst, die sich
am Stoffe betätigt, so müssen sich diese Unterschiede auch in der Seele
finden" (Psych. II! 430a lOff.). Und wenn sie sich finden müssen, dann
finden sie sich auch. Aristoteles tut dem technomorphen Schema Genüge,
indem er zwischen einem passiven, aufnehmenden und einem aktiven,
formgebenden Verstand - in der späteren Ausdrucksweise einem voij~
7t1X.lhrnx.6~ und einem voij~ 7to~'YJ't'~x.6~ - unterscheidet. Diese These
trägt auch einer anderen Schwierigkeit Rechnung, welche sich notwendig
aus der Vorstellung eines hierarchischen, wert- und rangmäßig gestuften
Aufbaues der Seele ergibt, die als platonisches Erbe bei Aristoteles weiter-
wirkt. Unter der Voraussetzung eines solchen Aufbaues darf der auf-
nehmende Verstand als das ranghöhere Seelenvermögen gar nicht durch
niedrigere Seelenfunktionen aktualisiert werden, etwa durch die anschau-
lichen Vorstellungen (Phantasmata), welche die Einbildungskraft auf
Grund der sinnlichen Wahrnehmung entwirft!. Vielmehr darf nach diesem
Grundsatz und nach der Ansicht, daß die Form rangmäßig über dem
Stoff steht, nur ein "höheres" Prinzip die Aktualisierung des passiven
Ven,tandes vornehmen, und dies ist eben der "wirkende Verstand".
Daß der Vergleich des Erkenntnisvorganges mit dem künstlerischen
Gestalten für das Verständnis dieser Gedankengänge besonders wichtig
ist, haben schon die antiken Kommentatoren des Aristoteles erkannt 2 ,
wobei freilich auf dieser Ebene die "Bearbeitung" des "Erkenntnis-
materiales" gerade darin besteht, daß alles Sinnliche von der reinen
Form abgestreift wird: "Wie der Künstler einen Stoff, so hat auch der
wirkende Verstand das Phantasma zu bearbeiten, nur ist beim Erkenntnis-
prozeß nicht (wie in der Kunst) ein Stoff mit einer Form zu überkleiden,
sondern eine reine Begriffsform soll, von allel' sinnlichen Materie befreit,
zum Denkinhalt erhoben werden!." Der tätige Verstand ist als geistiges
Prinzip über alles bloß Biologische erhaben und trägt die bekannten
VolIlwmmenheitsattribute der Ewigkeit, Unsterblichkeit und Leidlosig-
keit (Psych. ur 430 a 23f.).
Der Einfluß der technomorphen Modelle scheint sogar bis in die Logik
zu reichen. Nach der Auffassung von Leon Brunschvicg entspricht bei
Aristoteles die Beziehung von Subjekt und Prädikat im Urteil letztlich
jener von Stoff und Form. Das Subjekt, welches durch das Prädikat
bestimmt wird, bildet gewissermaßen die Materie. Wenn man an einem
Gegenstand von allem abstrahiert, was über ihn ausgesagt werden kann,
so bleibt als "reines Subjekt" nur ein qualitätsloses und daher unerkenn-
bares Substrat übrig. Dieses eigenschaftslose Subjekt fordert nun ebenso
die Bestimmung durch ein Prädikat wie die Materie jene durch die Gestalt,
so daß das Urteil dem Kompositum entspricht. Was für die Lehre vom
Urteil gilt, gilt auch für die von der Definition. Hier wird aus dem inhalts-
ärmeren Gattungsbegriff, der logischen Materie (VA'Y) VO'Y)"nl), durch die
in der differentia specifica enthaltene Bestimmung der Artbegriff gebildet 2 •
So betrachtet Aristoteles den Makrokosmos und den Mikrokosmos,
das Universum und das Individuum, die Welt und die Seele, ja selbst das
Erkennen und die Denkformen unter Gesichtspunkten, welche dem
Bereich der intentionalen Modellvorstellungen und besonders jenem der
Materialverarbeitung entstammen, wobei er nicht selten die behandelten
Sachverhalte mit einer gewissen Gewaltsamkeit in diese vorgegebenen
Schemata zwängt. Die Eigenheiten der intentionalen Weltauffassung
treten auch hier deutlich hervor. Sie sucht nicht bloß bestimmte Phäno-
mene durch Analogisierung mit dem menschlichen Handeln zu erklären,
sondern führt auch ausgesprochene Wertprämissen ein; beispielsweise
steht die Form oder der Akt höher als die Materie oder die Potenz. Die
innere Konsequenz dieses halb deskriptiven, halb wertend-normativen
Vorstellungsapparates hat solche Macht über das Denken des Philosophen,
daß sie ihn manchmal zu recht fragwürdigen Konstruktionen zwingt,
in welchen neben Gesichtspunkten der Ähnlichkeit von Eigenschaften
oder Funktionen auch solche der Wertung ausgiebig zur Geltung kommen.
Das nach Ansicht des Aristoteles Minderwertige oder Unvollkommene
erhält oft die Rolle der "Materie", wogegen das an Rang und Wert Höhere
nach Möglichkeit als "Form" betrachtet und behandelt wird - beispiels-
weise gilt das Männliche als Form, das Weibliche als Stoff.
Doch macht sich bei Aristoteles wie bei manchen seiner Vorgänger
der Umstand geltend, daß die intentionale Deutung von W"elt und Seele
gewissen Vollkommenheitsansprüchen nicht zu genügen vermag. Obwohl
es nach werthaften Zielen strebt, kann das zweckgerichtete Handeln
doch nicht von allem befreit werden, was eventuell als wertwidrig oder
doch unvollkommen empfunden werden mag. Es ist ein zeitlicher und
1 Frgm. 16 Rose. - Wenn auch die Formulierung nicht direkt von Aristo-
teles stammen sollte, so enthält sie doch das Prinzip der aristotelischen -
und nicht nur der aristotelischen - Gotteslehre. Zur Rolle der Vollkommen-
heitspostulate in der Theologie des Aristoteles vgl. auch W. JAEGER: Aristo-
teles, S. 370f. und (besonders aufschlußreich) J. HESSEN: Platonismus und
Prophetismus, München 1939, S. 40ff.
2 K. ELSER: Die Lehre des Aristoteles über das Wirken Gottes, Münster
1893, S. 12ff.
144 Der Kosmos der Philosophie
heißt, sich selbst. Alle anderen Gegenstände wären des göttlichen Denkens
unwürdig. Würde es sich ihnen zuwenden, so wäre dies eine Wendung
zum Schlechteren (Met. XII lO72 b 18ff., lO74 b 21ff.). So erscheint die
göttliche Aktivität als eine immerwährende, auf das eigene Sein be-
schränkte und dieses genießende Selbstkontemplation, welche von der
Welt nichts weiß, geschweige denn in ihren Lauf handelnd eingreift!.
Von einem Wollen ist kaum die Rede: "Nie wird auch eine einzige be-
jahende Erörterung dem Willen Gottes gewidmet, nie von einer eigentlichen
Freiheit in Gott geredet, nie auch nur das Wort n-POVOLOC von Gott in
echt philosophischen Stellen in den Mund genommen2 ."
Die aristotelische Philosophie entwickelt also im Gegensatz zur
intentionalen Deutung des Kosmos einen Gottesbegriff, der auf einem
weitgehend akosmischen Vollkommenheitsideal beruht, das in letzter
Konsequenz eine völlige Isolierung des göttlichen Wesens von der Welt
fordert. Doch diesen starken Wertmotiven wirken andere entgegen:
werden jenem Wesen alle Funktionen im Universum entzogen, so vermag
man mit ihm das Weltgeschehen nicht zu erklären und überdies verliert
es jede praktische Bedeutung und damit jedes Interesse für den Menschen.
Aristoteles hat zu diesen Schwierigkeiten nicht eindeutig Stellung ge-
nommen. Sein bekanntester Lösungsversuch ist die Lehre, das göttliche
Prinzip sei zwar selbst unbewegt und walte nicht planend oder gestaltend
im Weltall, doch es ziehe alles an sich und bewege es so, wie der Gegen-
stand der Liebe den Liebenden an sich zieht, ohne zu handeln (Met. XII
1072 b 3). Daneben tauchen manchmal auch intentionale Vorstellungen
auf, wobei es allerdings nie ganz klar wird, ob der Denker an diesen Stellen
Zugeständnisse an die Volksreligion mit ihren handelnden Göttern macht.
In dem oben (S. 135) erwähnten Fragment ist die Schönheit und Erhaben-
heit des Kosmos ein Werk der Götter und in der "Politik" (Pol. VII
1325 a 16ff.) erscheint das göttliche Wirken zwar nicht als ein Herstellen,
aber doch wohl als ein geistiges Entwerfen, wie es die Architekten üben.
Gelegentlich wird die Gottheit als oberstes Ordnungsprinzip auch mit
einem Feldherrn verglichen (Met. XII 1075 a ll), ferner wahrscheinlich
mit einem Hausvater, wenn es im gleichen Zusammenhang heißt, alles
in der Welt sei auf ein einziges Ziel hingeordnet, doch sei es hier wie in
einem Hauswesen, wo die Freien den meisten Vorschriften unterliegen,
während die Sklaven und das Vieh wegen ihrer Unwichtigkeit größere
Freiheit genießen3 • Völlig unverkennbar wird schließlich das Universum
als ein vom göttlichen Monarchen gerecht regierter Staat aufgefaßt,
wenn Aristoteles am Schluß des zwölften Buches der Metaphysik den
berühmten Satz ausspricht: "Die Dinge wollen aber keine schlechte
Verfassung haben. ,Nichts Gutes ist die Vielherrschaft, ein Herrscher
nur walte'" (Met. XII 1076 a 4).
Topitsch, Metaphysik. 10
146 Der Kosmos der Philosophie
10·
148 Der Kosmos der Philosophie
weit diese Ähnlichkeiten reichen und wie weit die Venvendung der
Handlungsmodelle für rein deskriptive Zwecke zulässig ist, soll hier nicht
im einzelnen untersucht werden. Wesentlich ist es aber, daß durch die
technomorphen Modelle gewisse Vorstellungen vom menschlichen Handeln,
das sich seine Ziele in Entscheidungsakten setzt - der Künstler ent·
scheidet etwa, ob er aus einem Marmorblock eine Statue des Zeus oder
der Athene machen wird -, auf entscheidungslose Gleichförmigkeiten
des Naturgeschehens - die Eichel kann nicht entscheiden, ob sie zur
Eiche oder zur Buche werden wird - übertragen werden. Dadurch ent-
steht der Gedanke einer objektiven, vom menschlichen Wollen unabhän-
gigen und ihm überlegenen "Zweckmäßigkeit". Dieser bleibt nicht auf
die Darstellung biologischer Vorgänge beschränkt, sondern wird zu einem
umfassenden Prinzip der Welterklärung. In dieser Gestalt - als allgemeine
"Teleologie" - wird er schließlich auch auf sein eigenes Urbild, das
wirkliche Handeln, rückbezogen. Man stellt sich vor, daß nicht nur in
der körperlichen Entwicklung des Menschen, die sich im allgemeinen
unabhängig von seinen Willens entscheidungen vollzieht, eine "objektive
Zweckmäßigkeit" waltet oder eine Normgestalt verwirklicht wird, sondern
daß es auch im Bereich der bewußten Entscheidungen vorbestimmte
"Wesenszwecke" gebe, die als Normen für das Handeln dienen können.
Allein diese Annahme entbehrt jeder sachlichen Grundlage. In der
Biologie werden die technomorphen Modelle wenigstens auf irgendwelche
beobachtbaren Vorgänge und Gegenstände bezogen. Daher besitzen sogar
die Werturteile, die auf Grund jener Vorstellungen gefällt werden, einen
mehr oder minder klar erfaßbaren Sachgehalt. Beispielsweise enthält die
These, das vollentwickelte Lebewesen sei als Verwirklichung eines Natur-
zweckes an sich wertvoll, zwar eine unbegründbare Bewertung, aber sie
bezieht sich doch auf ein identifizierbares Objekt, welches das Ergebnis
eines invarianten Entwicklungsvorganges darstellt. Doch dieser Sach·
gehalt schwindet, sobald die technomorphen Modelle nicht mehr auf ein
Naturgeschehen angewendet werden, das zu einem wenigstens im Prinzip
feststehenden Resultat - etwa zur fertigen Eiche - führt und daher
keine Entscheidungsmöglichkeiten besitzt. Nun fehlen gerade beim
menschlichen Handeln jene entscheidungslosen Regelmäßigkeiten, und
weil oder insofern sie fehlen, ist es notwendig, das Handeln durch Normen
und Direktiven zu leiten. So ist die Vorstellung objektiver Zwecke,
welche das moralische Handeln der Menschen regeln sollen, in jeder
Hinsicht leer. Sie hat weder einen deskriptiven noch einen normativen
Gehalt. Die Berufung auf solche Zwecke ist daher eine leere Formel,
mit der man ganz nach Belieben verfahren kann. Entweder unterlegt man
ihr irgendwelche willkürlich wählbaren Wertgehalte oder sie bleibt
überhaupt leer.
Das in die Natur projizierte, zum Gedanken einer objektiven Zweck-
mäßigkeit gesteigerte und erweiterte Handlungsschema wird also bei
Aristoteles dem ursprünglichen Handeln als Norm übergeordnet. Aus dem
"Wesenszweck" des Menschen sollen sich letztgültige Direktiven für sein
Tun ergeben, doch bleibt es ihm überlassen, diese Richtlinien zu befolgen
Der Kosmos der Philosophie 149
gegen die Regierungsgewalt, so lange der Staat besteht, eines der schwer-
sten, ja oft das schlechthin todeswürdige Verbrechen. Es ist daher leicht
einzusehen, daß die technomorphe Privationstheorie zumeist dort ge-
braucht wird, wo die Bedeutsamkeit des Bösen möglichst verkleinert und
verharmlost werden soll, während die soziomorphe Rebellionstheorie dazu
geeignet ist, diese Bedeutsamkeit zu unterstreichen und zu dramatisierenl .
III
Durch seine Lehre hat Aristoteles mächtig auf die kommenden Zeiten
eingewirkt, die Voraussetzung für den weltumspannenden Einfluß der
griechischen Philosophie hat aber die Tat seines großen Schülers Alexander
geschaffen, der die hellenische Kultur aus der räumlichen Enge der klassi-
schen Periode in die Weiten des Orients hinausgetragen hat. Damit wurde
ein Verschmelzungsprozeß von griechischem und orientalischem Denken
eingeleitet, dessen geistesgeschichtliche Wirksamkeit kaum überschätzt
werden kann. Der Hellenismus und die Spätantike werden zwar noch
immer manchmal unter dem Einfluß eines engsinnigen Klassizismus als
Verfallsperioden betrachtet, in Wirklichkeit aber ist die griechisch-
orientalische Mischkultur dieser Zeit ein Knotenpunkt der geistigen
Entwicklung eines beträchtlichen Teiles der Menschheit. Zunächst über-
wiegt - entsprechend den militärisch-politischen Erfolgen - die Stoß-
kraft des Griechentums. Beispielsweise ist der Einfluß hellenischer Kunst
bis nach Indien und Ost-Turkestan nachweisbar2 • Allein die griechische
Rationalität diente nicht selten dazu, orientalische Weltanschauungs-
gehalte in eine systematische Ordnung zu bringen - so ist etwa die
Astrologie erst unter griechischem Einfluß zu einem umfassenden Lehr-
gebäude umgestaltet worden3 • Mit der Zeit verschiebt sich das Gleichgewicht
immer stärker zugunsten Asiens. Das Geistesgut des Ostens fließt in
immer vollerem Strome in den großen Mischkessel jener Kultur, die sich
ihrerseits wieder über den römischen Westen ausbreitet.
Das Vordringen der sozio-kosmischen Gedankenwelt des Alten Orients
nach Europa habe ich bereits dargestellt, soweit es sich um Phänomene der
allgemeinen Kultur, zumal der Kunst und der Politik, handelt. In diesem
Strom der hellenistisch-orientalischen Gesamtkultur ist auch die Philo-
sophie eingebettet geblieben und aus ihm hat sie wesentliche Motive ihres
Denkens aufgenommen. Die Beziehungen sind hier oft so eng, daß die
Grenzlinien, die nun einmal aus Gründen der Darstellung notwendig
sind, mit einer gewissen Willkür gezogen werden müssen. Dies gilt beson-
ders für jene Popularphilosophie, die sich am Ausgang der vorchristlichen
Ära aus Gedanken der vorsokratischen, platonisch-aristotelischen und
stoischen Kosmosspekulation und aus Elementen der sozio-kosmischen
Mythologie des Orients gebildet hat. A.-J. Festugiere hat sie als die geistige
Koine jener Zeit bezeichnet!, indem er den Namen der gemeingriechischen
Einheitssprache, die zugleich die lingua franca des gesamten Kultur-
bereiches war, treffend auf das Weltanschauliche übertrug. Dieses Welt-
bild, das etwa um Christi Geburt bereits weitgehend das Gemeingut einer
verhältnismäßig zahlreichen Bildungsschicht war, hat trotz seiner geringen
Originalität außerordentlichen Einfluß auf die Nachwelt ausgeübt. Es
ist nicht allein durch die philosophischen Schriftsteller Roms und später
durch die christliche Theologie für die geistige Entwicklung Europas
grundlegend geworden, sondern hat auch im jüdischen und arabischen
Denken tiefe Spuren hinterlassen. Zusammen mit ihrer akosmischen
Gegenströmung, die in der Gnosis einen Höhepunkt erreicht hat, darf
diese intentionale Kosmosspekulation als einer der entscheidenden
Faktoren in der Gestaltung des Weltbildes Europas und des Vorderen
Orients gelten.
Die Verschmelzung hellenischen und östlichen Gedankenguts hat sich
allerdings schon in der Philosophie des vierten vorchristlichen Jahrhunderts
angebahnt. Der Vorstellung eines planmäßig schaffenden, ordnenden,
verwaltenden und fürsorglich regierenden Weltengottes begegnen wir
bereits in den Memorabilien des Xenophon (Kap. I 4 und IV 3) und
in den späten Werken Platons. Bei Aristoteles wird zwar das zweck-
rationale Wirken im allgemeinen dem göttlichen Geiste abgesprochen und
die Funktion des Bildens und Planens auf die Physis, den Naturlogos,
übertragen, die intentionale Deutung des Universums als solche erfährt
aber eine weitere Verstärkung. So bereitet sich die Auffassung der Stoa
und der hellenistisch-römischen Populärphilosophie vor, nach welcher
der Kosmos eine umfassende, von einer einzigen Macht nach einem wert-
rationalen Plan entworfene und regierte Einheit bildet.
Gleichzeitig dringt auch der orientalische Sternenglaube in das
griechische Denken ein. Schon Platon stellt die Regelmäßigkeit des Laufes
der Gestirne in religiös-moralischer Absicht als Vorbild für das mensch-
liche Hanqeln hin. Völlig eindeutig wird die Übernahme der orientalischen
Astralreligion bei dem Verfasser der Epinomis, eines Anhanges zu den
"Gesetzen" Platons. Dieser Autor gesteht ein, daß die Griechen infolge
ihres ungünstigeren Klimas später als die Orientalen die kosmische
Ordnung der Sternengötter entdeckt haben, aber er ist überzeugt, sein
Volk bringe alles, was es von den Fremden übernimmt, auf eine höhere
Stufe der Volllmmmenheit (987 DIE). Er ist sich also bewußt, eine aus-
ländische Religion nach Hellas zu verpflanzen, sie aber zugleich philo-
sophisch zu überhöhen. Wenn auch die Lehren der Epinomis sich nicht
allzusehr von der gleichfalls orientalisch inspirierten Kosmologie des
späten Platon unterscheiden, so sind hier doch die kontemplativ-religiösen
Züge noch stärker ausgeprägt: die wahre Frömmigkeit besteht darin,
in der Natur das Göttliche vom Sterblichen zu unterscheiden und den
regelmäßigen Lauf der göttlichen Wesen (der Sterne) von der Bewegung
ohne Regelmäßigkeit, ohne Ordnung, ohne Schönheit und ohne Rhythmus
und Harmonie, wie sie den irdischen Wesen eigentümlich ist (978 A).
Die Kontemplation der kosmischen Ordnung der Sternengötter, welche in
Zahlenverhältnissen aufgebaut ist, bildet die wahre Religion (986 BH.),
die Schau der Einheit des Universums führt zur inneren Einheit des
Gemütes und damit zur Glückseligkeit (986 D). Diese Gedanken bereiten
schon vor dem Alexanderzug den Boden für spätere Entwicklungen.
Die Erschließung des Ostens durch die malmdonischen Siege hatte
auch für die Philosophie weittragende Folgen. An die Stelle des demo-
kratischen Stadtstaates traten die großräumigen, zentralistisch-büro-
kratischen Monarchien der hellenistischen Könige, die sich stark an orien-
talische Traditionen anlehnten. Die neue Herrschaftsstruktur mußte die
Auffassung des Universums als einheitliches, von einem göttlichen
Kosmokrator regiertes Imperium den Philosophen geradezu aufdrängen.
Es ist auch wohl kein Zufall, daß die weitere Ausgestaltung und Systemati-
sierung des intentionalen Weltbildes durch Orientalen erfolgte, welche
die sozio-kosmischen Mythen ihrer Heimatländer gewiß kannten. Die
Mehrzahl der Stoiker waren nicht Griechen, sondern Phönikier, Syrer,
BabyIonier und Karthager l . Schon der Begründer dieser Schule, Zenon
von Kition auf Zypern, stammte aus einer semitischen Familie2 • Daher
ist es nicht verwunderlich, wenn die Lehre der Stoa von orientalischen
Völkern als verwandt empfunden und wenigstens teilweise aufgenommen
wurde. So hat das Judentum eine Reihe stoischer Gedanken rezipiert3 •
Doch hat die hellenistisch-orientalische Kosmosspekulation später auch
auf den römischen Westen mächtig eingewirkt.
Die außerordentliche Durchschlagskraft der stoischen Philosophie ist
nicht zuletzt eine Folge ihrer Einfachheit. Diese beruht auf der kompromiß-
losen Konsequenz, mit der die Stoiker die intentionale Deutung des U niver-
sums vollzogen haben. Schon der Schulgründer Zenon sucht die letzten
Gründe des Kosmos mit Hilfe von Handlungsmodellen zu erklären.
Es gibt, wie er behauptet, in der Welt zwei Prinzipien (apXIXi), nämlich
ein handelndes (nowuv) und ein leidendes (nacrxov), wobei das leidende
die qualitätslose Materie ist, das handelnde die darin wirkende göttliche
Vernunft (AOyOC;). Diese ist ewig und verfertigt (8'YJ!LLOUpye:i:) aus dem
Stoff alle Einzeldinge (SVF I 85)1. Das handelnde Weltprinzip, der
planende, alles durchdringende und gestaltende Logos formt und baut
als kunstbegabtes Feuer (7tUP n)(VLxov) den Kosmos wie ein Handwerker,
Künstler oder Architekt (SVF I 157, 160, 171, 172). So konnte man von
der intentionalen Weltauffassung der Stoa mit Recht behaupten: "Was
bei dem menschlichen Wollen und Handeln stattfindet, daß der Wille
ein begrifflich Gedachtes zum Zweck erhebt und diesen Zweck durch
Verursachung einer Bewegung, die nach rein mechanischen Gesetzen
verläuft, in der körperlichen Welt verwirklicht, das wird analogisch
auf den gesamten Weltprozeß übertragen und als sein eigentlich inneres
Wesen angenommen2 ." Allerdings ist diese Charakterisierung nicht ganz
vollständig, da sie vor allem das technische Herstellen berücksichtigt,
bei welchem menschliche Zwecksetzung und mechanische Kausalität tat-
sächlich in der geschilderten Weise zusammenwirken. Doch dem Logos,
der oft auch mit Zeus gleichgesetzt wird, schreiben die Stoiker noch
andere Formen des Wirkens zu. Wie der Königsgott des altorientalischen
Mythos regiert und verwaltet UhOLXe:i:) er die Welt (SVF I 162, U 1076).
Seine Tätigkeit gleicht der des Monarchen, Befehlshabers oder Guts-
herrn. Bald erscheint das kosmische Prinzip mehr als handelnde und
wollende Person, bald mehr als eine unpersönliche, aber planvolle und
gerechte Weltordnung, ein Weltgesetz (VO!LOt;): der Kosmos ist vor-
trefflich organisiert, wie es im bestverwalteten Staat (EUVO[J.6l't'u'r'YJ
7tOALnLoc) der Fall ist (SVF I 98). Doch schließt die Vorstellung des
Weltgesetzes nicht jene des Weltenherrschers aus, vielmehr werden beide
oft miteinander identifiziert: Zeus ist die Allnatur (q)'l)cnc;), das Schicksal,
die Notwendigkeit, die rechte Gesetzesordnung (e:UVO!LLOC), die Gerechtig-
keit, die Eintracht und der Friede (SVF ur 1076, 8ff.). Der Wille des Welt-
prinzips oder das kosmische Gesetz verwirklicht sich als unverbrüchliche
Notwendigkeit (EL[J.OCP[J.EV1)) und zugleich als wertgerichtete Vorsehung
(7tpOVOLOC). Man darf in diesem Falle das Begriffspaar Notwendigkeit
und Vorsehung nicht zu sehr an das moderne Begriffspaar Kausalität
und Teleologie annähern: auch die Notwendigkeit, die Heimarmene, trägt
eine:n intentionalen und - im Sinne der Stoa - religiösen Charakter. Sie ist
das Instrument der Verwaltung des Alls, ihr Wesen ist eine geistige Kraft
(SVF I 87, II 913), ja sie wird geradezu als Gott angesprochen (SVF II 928).
Mit der Mechanik hat sie wenig zu tun, vielmehr ist sie die unentrinnbare
Notwendigkeit, mit welcher sich die Vorsehung, das planende Wollen
der kosmischen Herrschaftsmacht durchsetzt (SVF II 929).
Die stoischen Lehren sind im Zusammenhang dieser Arbeit besonders
aufschlußreich, weil sich an ihnen zeigen läßt, wie das mythische
Denken mit fließenden Übergängen zum philosophischen umgestaltet
wird und wie nicht selten die ursprüngliche, anschauliche Form der inten-
tionalen Weltdeutung neben der aus ihr abgeleiteten, rational-abstrakten
Form weiterlebt.
In einer eigenen Untersuchungl hat Joseph Bidez nachzuweisen
getrachtet, daß die Thesen der Stoa nicht aus den griechischen Traditionen
allein hergeleitet werden können, sondern daß ihr Grundmotiv, die
Vorstellung des kosmischen Staates, direkt aus der Mythologie des Ostens
stammt. Auch wenn man berücksichtigt, daß der. belgische Forscher die
Rolle der gesellschaftlichen Modelle in der hellenischen Philosophie nicht
beachtet hat, so ist doch die Folgerichtigkeit, mit der die Stoiker die
soziomorphe Deutung des Alls vollziehen, ein entscheidendes Indiz für
den unmittelbaren Einfluß der soziokosmischen Anschauungen des
Orients auf ihre Weltanschauung. Es kann kaum fraglich sein, daß die
philosophische Lehre von der zentralen Regierung und Verwaltung des
Universums durch eine einzige Macht bloß eine schematisierte und ver-
blaßte Nachbildung der lebendig-anschaulichen Mythen Vorderasiens
darstellt, in denen der himmlische Großkönig, umgeben von den Stern-
göttern als Hofstaat oder als Satrapen, über die Welt gebietet 2 • Auch
waren die meisten Denker jener halb orientalischen Schule überzeugte
Anhänger der Astrologie, von deren engen Zusammenhängen mit dem
sozio-kosmischen Weltbild bereits die Rede war3.
Wenn auch infolge des trostlosen Zustandes der Überlieferung die
Einzelheiten des Überganges vom Mythos zur Philosophie, der sich in der
Alten Stoa vollzogen hat, nicht greifbar sind und es auch wohl bleiben
werden, so können wir ihn doch dank der Tatsache rekonstruieren, daß
neben den mehr abstrakten Kosmosspekulationen in den stoischen
Texten und besonders in der stoisch beeinflußten Populärphilosophie
die ursprüngliche mythische Bilderwelt fast oder völlig unverändert
weiterlebt. So preist Kleanthes, das zweite Schulhaupt, die Sonne als
die geistige Herrschaftsmacht (~'Ye:[LoVLx6v) des Kosmos, die am meisten
zur Verwaltung (~Loix'Yl(n<;) des Universums beiträgt (SVF I 499). Zur
seI ben Zeit wurde Helios oder Baal "Kosmokrator" als Herrscher oder
bedarf und besser und sicherer ist, glaube ich, als das auf den Tafeln
verzeichnete. Nach seiner unwandelbaren Führung wird die gesamte
Ordnung des Himmels und der Erde angemessen verwaltet" (400 b
15-20; 26-32). In klarer Form und ohne allzu große philosophische
Rationalisierung treten uns hier soziomorphe Analogien als Leitmotive
des Weltverständnisses dieser Zeit entgegen. Ihre lebensvolle Anschau-
lichkeit und eine gewisse Naivität deutet darauf hin, daß sie der volks-
tümlichen Vorstellungswelt nicht fernstehen.
Dem römischen Westen ist dieses hellenistisch-orientalische Gedanken-
gut vor allem durch die philosophische Schriftstellerei Ciceros übermittelt
worden. Dessen Lehrer Antiochos von Askalon, ein Orientale, gehörte
zwar nominell der Akademie an und war einige Zeit deren Haupt, stand
aber so stark unter stoischem Einfluß, daß schon seine Zeitgenossen
behaupten konnten, er treibe in der Akademie stoische Philosophie und
sei, wenn man von Kleinigkeiten absehe, der reinste Stoiker1 • Zum al die
Kosmoslehre des Antiochos hat im Eklektizismus seines Schülers deutlich
nachgewirkt. Auch Cicero betrachtete das Universum als einen Staat
der Götter und Menschen, welcher über den kleineren Gemeinschaften,
der Familie, dem irdischen Staat und der Menschheit steht2 • Er läßt in
dem Buch ,;Über die Natur der Götter" die These vertreten (De nato
deor. II 30ff.), daß die Welt in allen ihren Teilen durch die Vorsehung
(providentia) der Götter uranfänglich geordnet worden sei und allezeit
verwaltet werde (administrari). Die Götter sind beseelte und vernünftige
Wesen, die miteinander gewissermaßen durch bürgerliche und gesellige
Bande verbunden sind und das einheitliche Weltganze wie eine gemeinsame
Staatsordnung oder eine Stadt regieren. In ihnen waltet die gleiche Ver-
nunft (ratio) wie im menschlichen Geschlecht, und für Himmlische und
Irdische gilt die gleiche Wahrheit und das gleiche Gesetz (lex), welches
das Rechte gebietet und das Unrechte untersagt. Zu den Menschen ist
die Vernunft von den Göttern gekommen, die sie in einem viel höheren
Maße besitzen und für die besten und größten Zwecke gebrauchen, nämlich
für die Regierung der Welt. Aber Ciceros Sprecher begnügt sich nicht,
in rein abstrakter Weise von diesen Dingen zu reden, sondern er führt
auch die sichtbaren Himmelsmächte ein: göttliche Wesen sind die Ge-
stirne, deren gewaltige Kraft und strahlendes Antlitz wir schauen, die
Sonne, der Mond, die Planeten, die Fixsterne und überhaupt der Himmel,
ja die ganze Welt (II 31). Er preist weiterhin die Macht und Weisheit
der Allnatur, die das Universum planmäßig durchwaltet : denn findet man
bei der Fahrt einer Flotte oder bei der Ordnung eines Heeres oder bei den
fruchttragenden Weinstöcken und Bäumen, ferner bei der Gestalt und
Gliederbildung der Lebewesen eine solche Sorgfalt der Natur, wie sie bei
der Welt selbst sich zeigt 1 (II 33).
Diese Beispiele stoischer Gemeinplätze mögen genügen. Wesentlich
ist es jedoch, daß Cicero die Vorstellung des kosmischen Gesetzes, aus
1 Ich folge der übersetzung der Ausgabe von L. COHN -I. HEINEMANN:
Die Werke Philos von Alexandria, 6 Bde., Breslau 1909-1938, Bd. I, S.32f.
2 L. COHN, a. a. 0., Bd. I., S. 78.
3 L. COHN, a. a. 0., Bd. H, S. 15f.
160 Der Kosmos der Philosophie
sie anzubeten." Die Vergötterung der Gestirne, der Elemente, des Him-
mels oder des Weltalls ist unzulässig, denn sie würde den Höchsten und
Würdigsten verdunkeln, den Herrscher des kosmischen Staates (1:0V
ü.P-X0V1:OC 1:11C; (leyocAorr:oAecuc;), den Führer des unbezwinglichen Heeres
(TOV O"1:poc1:apx'Y)v 1:~C; &'Y)n~1:ou O"1:POC1:LUC;), den Steuermann, der be-
ständig das All zum Guten lenkt (OLxovo(le'L). Die Anbetung der sicht-
baren Natur ist töricht und gefährlich, denn sie erweist die Ehren, die
nur dem Großkönig selbst gebühren, den Satrapen, seinen Statthaltern
(De decal. 12, § 53; 13, § 61).
Im sozio-kosmischen Universum gilt das eine, allgemeine Weltgesetz.
Wie Philon ausdrücklich betont, ist diese Welt die ;,große Stadt", sie hat
eine einzige Verfassung und ein einziges Gesetz: es ist die Naturordnung,
die gebietet, was zu tun, und verbietet, was zu unterlassen ist. Dieses
Gesetz steht hoch über den zahllosen menschlichen Einzelstaaten und
ihren verschiedenen Verfassungen, Rechtsformen, Sitten und Gebräuchen
(De los. 6, § 29). Darum hat auch Moses seine Schrift nicht mit dem
Gesetz des menschlichen, sondern mit dem des kosmischen Staates
begonnen: "Mit der Gründung eines Staatswesens durch Menschenhand
seine Darstellung zu beginnen, erachtete er als der Würde der Gesetze
zu wenig entsprechend. . . Daher leitete er sein Werk mit der Schöpfung
des großen Staatswesens (des Weltalls) ein in der Überzeugung, daß seine
Gesetze das ähnlichste Abbild der Verfassung des Weltalls seien. Wer
das Wesen seiner Spezialgesetzgebung genau prüfen will, wird finden,
daß sie die Harmonie des Alls anstrebt und mit dem Gedanken der ewigen
Natur übereinstimmt. Daher mußten nach seiner Darstellung die mit
reichen Gaben, mit leiblicher Gesundheit, mit Reichtum, Ruhm und den
anderen äußeren Glücksgütern Gesegneten, die aber die Zügel der Tugend
abgeschüttelt und nicht unter einem Zwange, sondern aus freier Wahl
Tücke, Ungerechtigkeit und andere Laster verübt haben, ... wie Feinde
nicht der Menschen allein, sondern des gesamten Himmels und Weltalls
nicht die gewöhnlichen Strafen erleiden, sondern ganz neue und unge-
wöhnliche, die das Recht, die neben der Gottheit thronende, das Böse
hassende Macht, mit gewaltiger Hand an ihnen vollzog: die wirkungs-
kräftigsten Elemente des Alls, Wasser und Feuer, kamen über sie, so daß
im Gange der Zeiten die einen durch Überschwemmungen umkamen,
die anderen durch Verbrennung zugrunde gingen" (De vit. Mos. II 9,
§ 5lff.)1. Für Philon ist also das mosaische Gesetz das einzig wahre,
es ist das genaueste Abbild des makrokosmischen Gesetzes und verbürgt
die vollkommenste Einfügung in die Harmonie des Weltalls. Wer eine
solche Ordnung verletzt, der bricht den Frieden des gesamten Universums,
und die kraftvollsten Elemente des Kosmos vollziehen an ihm die Strafe,
welche die göttliche Rechtsmacht verhängt hat. Wie an anderer Stelle
(vgl. oben, S. 159) die Sterne als Richter auftreten, so werden hier in echt
mythischer Weise die Elemente als Polizeiorgane der kosmischen Justiz
dargestellt.
Diese Beispiele aus Cicero, Phiion und der Schrift "über die Welt"
mögen gezeigt haben, in welchem Maße die Weltauffassung der helle-
nistisch-römischen Populärphilosophie vom sozio-kosmischen Mythos des
Ostens abhängig gewesen ist.
Neben der großartigen Ausbildung der soziomorphen Interpretation
des Universums spielt die Deutung des menschlichen Individuums nach
Analogien aus dem Gesellschaftsleben in der Stoa eine verhältnismäßig
bescheidene Rolle. Dennoch ist auch sie vorhanden. Teils wirken plato-
nisch-aristotelische Schemata nach, teils mögen auch östliche Mythen
hereinspielen. Manchmal scheint die soziomorphe Auffassung des Einzel-
menschen auch indirekt zustande gekommen zu sein: die aus der Gesell-
schaft in das Weltall projizierten Vorstellungen werden - da der Makro-
kosmos oft zugleich "Makropolis" und "Makroanthropos" ist - mitunter
nicht auf die Gesellschaft, sondern auf das Individuum rückbezogen.
So war es eine stoische, wahrscheinlich vor allem von Kleanthes vertretene
Ansicht, daß die geistige Herrschaftsmacht (~YEfLoVLX6'J), die im Weltall
ihren Sitz in der Sonne hat, im menschlichen Körper den kugelförmigen
Kopf bewohnt (SVF III 836, vgl. Platon, Tim. 69 Dff.). Wie die Welt-
vernunft als Herrschaftsträgerin den ganzen Kosmos durchwaltet, so
durchwaltet und beherrscht auch die menschliche Vernunft unser gesamtes
leib-seelisches Wesen. Die übrigen Seelenteile oder Seelenvermögen sind
der Vernunft, dem Hegemonikon, untergeordnet oder gehen von ihr
aus (SVF II 823-849), wobei die niedrigeren Vermögen manchmal im
Anschluß an Platon als Polizeisoldaten (8oPUcpOPOL) bezeichnet werdenl .
Die Seele erscheint also auch bei den Stoikern oft als eine Art hierarchische
Ordnung, an deren Spitze ein eminent werthaftes Prinzip steht, wobei
allerdings nicht selten - ähnlich wie bei Aristoteles - Gesichtspunkte
ethischer Wertung mit solchen psychologischer Beschreibung vermengt
werden2 •
Abschließend darf man behaupten, daß die intentionale und zumal
soziomorphe Deutung von Weltall und Mensch in der Stoa folgerichtiger
durchgeführt worden ist als in irgendeiner älteren Philosophenschule.
Aber gerade diese Konsequenz hat die Schwierigkeiten dieser Weltauf-
fassung mit besonderer Schärfe hervortreten lassen.
Sofern man das "Weltgesetz" als Norm betrachtet, welche über den
"bloß menschlichen" Gesetzen der verschiedenen positiven Rechts- und
Moralkodizes stehen soll, gelangt man zu dem bereits bekannten Problem
des Naturrechtes. Im Prinzipiellen bietet die Stoa hier nichts Neues,
doch ist der Vorgang der Projektion und Reflexion der aus dem Gesell-
schaftsleben entlehnten Leitvorstellungen - wohl infolge der Einwirkung
des orientalischen Mythos - noch viel klarer erkennbar als in der klassi-
Topitsch, Metaphysik. 11
162 Der Kosmos der Philosophie
11'
164 Der Kosmos der Philosophie
Dennoch ist die Logodizee mehr als ein Scheinproblem, das sofort
verschwindet, werm man die intentionalen Modellvorstellungen fallen läßt.
Als Lebensproblem erhält sie ihre Dringlichkeit aus einem elementaren
Streben des Menschen: seinem Aufbegehren gegen die Wertirrationalität
des Weltlaufes und seinem Bemühen, sich sein Lebensgeschehen trotz
allem in einer Weise zurechtzulegen, daß es wenigstens den grundlegenden
Wertpostulaten entspricht. Ohne das erschütternde Erlebnis der Indiffe·
renz - anthropomorph gesprochen: der kalten Gleichgültigkeit - des
Geschickes gegenüber dem menschlichen Verlangen nach Glück und
Gerechtigkeit hätte man wohl nie mit solcher Leidenschaft den Glauben
an eine wertrationale Überwelt oder an eine letztlich doch wertrationale
Ordnung der Erfahrungswelt verteidigt. Dies gilt auch für die Stoa,
die jenes Erlebnis durch die Lehre von der göttlichen Harmonie des
Kosmos zu überwinden gesucht hat. Doch diese beseligende Metaphysik
ist nur so lange aufrechtzuerhalten, als man sich in unbeteiligter Betrach·
tung von der Welt zu distanzieren und über sie zu erheben vermag;
wo man aber als Handelnder und Leidender mitten in den Ereignissen
steht, muß die kontemplative Logosmetaphysik einer praktischen Ethik
weichen, welche die unerschütterliche Standhaftigkeit (a.'t'o:po:~(o:,
umx&ELoc) des Weisen in der wertirrationalen LebenswirkIichkeit predigt.
Diese Haltung, die man im allgemeinen Sprachgebrauch bis heute als stoisch
bezeichnet, hat Horaz dichterisch verherrlicht: der Gerechte läßt sich
durch die Drohungen wütender Volksrnassen oder Tyrannen ebensowenig
erschüttern wie durch die entfesselten Naturgewalten (Carm. UI, 3).
Die Wege, auf denen man die Annahme einer wertgerichteten Vor.
sehung mit dem tatsächlich erlebten Übel in Einklang bringen wollte,
waren verschieden. Sofern die Übel von den Menschen durch unmorali·
sches Handeln hervorgerufen werden, konnte man diesen die Schuld
zumessen. Darum wurde zumindest im vorliegenden Zusammenhange
der menschliche Wille meist von der göttlichen Allursächlichkeit aus·
genommen, denn nur durch diese sehr wesentliche Beschränkung seiner
Wirksamkeit konnte das Weltprinzip von der Schuld oder Mitschuld
an den Missetaten der Irdischen freigesprochen werden: wenigstens in
dieser Hinsicht erscheint die sogenannte Willensfreiheit vor allem als
ein Postulat der Logodizee. Doch soll dieses Problem vorläufig zurück·
gestellt werden.
Soweit es sich aber um Sachverhalte handelt, die nicht auf mensch.
liehe Verfehlungen zurückgeführt werden können, mußte man auf andere
Möglichkeiten zur Rechtfertigung des Logos zurückgreifen. Eine davon
besteht darin, daß man das Vorliegen eines Übels, das dem Gedanken
der wertrationalen Weltordnung widersprechen würde, einfach leugnet.
Die Existenz von Armut, Siechtum, Schmerzen, Tod, Seuchen und Natur·
katastrophen konnte zwar nicht bestritten werden, aber diese Fakten
sind nach jener Auffassung nicht wertwidrig, sondern wertneutral
(aihcirpopo:). Diese Theorie, welche die Stoiker nicht selten vertreten
haben (SVF 1185,190; In 153; Epictet Ench. 5), sucht die Schwierigkeit
zu lösen, indem sie zwar die Tatsachen, die sie nicht wegschaffen kann,
166 Der Kosmos der Philosophie
als solche zur Kenntnis nimmt, aber ihre Bewertung zu ändern trachtet.
Vom Standpunkt systematischer Folgerichtigkeit wäre freilich einzu-
wenden, daß mit demselben Recht auch die Güter des Lebens zu neutralen
Fakten erklärt werden könnten, wodurch die wertbestimmte Weltordnung
zugunsten einer wertindifferenten Tatsächlichkeit aufgehoben würde.
Der stärkste Widerstand gegen diese Lehre ergab sich aber wohl daraus,
daß es den Menschen kaum zuzumuten war, tiefeingewurzelte und zum
Teil geradezu instinktive Wertungen in so radikaler Weise abzuändern.
So mußte man in der Regel doch die physischen Übel irgendwie in
die angenommene wertrationale Weltordnung einzubauen versuchen.
Dabei hat man sich meist von den gewohnten intentionalen Denkformen
leiten lassen: wie beim menschlichen Handeln oft gewisse Unvollkommen-
heiten und Leiden notwendig oder nicht vermeidbar sind, so ist es auch
in der "Verwaltung des Alls". Das Denken nach Zwecken, Mitteln und
Nebenfolgen beherrscht alle diesbezüglichen Überlegungen: bei der
Erreichung eines wertvollen Hauptzweckes wendet die Vorsehung manch-
mal schmerzliche Mittel an - beispielsweise verursacht der Weltengott
Kriege, um der Übervölkerung zu steuern (SVF Ir 1177) - oder sie vermag
verschiedene unerwünschte Nebenfolgen nicht zu vermeiden (SVF Ir 1157).
Letzteres ist besonders dann der Fall, wenn man sich technomorpher
Modelle bedient. Der Widerstand oder die Eigengesetzlichkeit der Materie
wird dabei - ähnlich wie in der Lehre des Aristoteles - für die Unvoll-
kommenheit der Dinge verantwortlich gemacht. So mußte die Natur
mit Rücksicht auf die Feinheit der Vernunft beim Bau des menschlichen
Schädels oft dünne Knochen verwenden, wodurch sich als Nebenfolge
ergab, daß der Kopf schwach geschützt und leicht verletzbar ist (SVF II
1170). Offensichtlich ist der Natur ein Material, das bei geringem Raum-
bedarf größte Festigkeit entwickelt, nicht zur Verfügung gestanden und
sie konnte auch kein solches erzeugen. Dieses Argument wird besonders
in der Logodizee der jüngeren Stoa gebraucht. Nach Seneca (Deprov. 5,9)
kann der göttliche Künstler den Stoff nicht ändern, dieser hat nun einmal
seine ihm gegebene Beschaffenheit.
Alle diese Rechtfertigungsversuche wollen das Weltprinzip von der
Schuld oder Mitschuld am Übel freisprechen, indem sie seine Allmacht
und seine Allursächlichkeit an entscheidenden Punkten einschränken.
Gleich dem handelnden Menschen ist es von Sachverhalten abhängig,
die sich seiner Einflußnahme entziehen. Ähnlich liegen die Dinge bei der
soziomorphen Logodizee.
Wie die irdische Gesellschaft manchen Menschen Leid zufügt, um sie
zu strafen oder zu bessern, so benützt die kosmische Autorität die Schick-
salsschläge als Mittel der Vergeltung, Erziehung oder Erprobung. Solche
Überlegungen finden sich bei den Stoikern recht häufig. Die Sünder werden
gestraft, die Schwankenden abgeschreckt (SVF 1175, 1176), die Gerechten
geprüft, geläutert und gestählt (Seneca, De provo 2, 3; SVF Ir 1152, 1173;
Epikt. Diss. I 6, 30ff., I 24; I ff., III 20). Manchmal muß auch den Guten
ein schlimmes Los zuteil werden, nicht als Strafe, sondern aus höheren
Gründen der Verwaltung (OLKOVO[LtIX) des Alls (SVF 1176), wie auch
Der Kosmos der Philosophie 167
dichterisch dargestellt (SVF I 570). Andere Stoiker, die eine solche Teilung
der Seele vermeiden wollten, sahen sich gezwungen, die Wertunterschiede
in den "Logos" selbst zu verlegen. Die verwerflichen Affekte und Be-
gierden erscheinen dann als Ergebnisse einer Wandlung, welche die
Vernunft unter dem Eindruck außergewöhnlicher Situationen durch-
macht, ja als "krankhafter und verfehlter" Logos im Gegensatz zum
gesunden und richtigen (SVF III 459)1.
Das Problem der Rechtfertigung des Logos - des kosmischen ebenso
wie des individuellen - führt, wie wir gesehen haben, immer wieder zu
der Frage, in welchem Verhältnis sein Wirken zu den Willensentschei-
dungen und Handlungen der Menschen steht. Man hat sie in verschiedener
Weise zu beantworten gesucht.
Relativ einfach ist die Antwort des Fatalismus, nach welchem die
kosmische Macht - die "Weltvernunft", das "Schicksal" oder die "Not-
wendigkeit" - nur die Endergebnisse der menschlichen Taten festlegt,
diese selbst aber nicht beeinflußt. Es ist daher gleichgültig, was wir tun:
ungeachtet unserer Bemühungen wird eintreten, was vorherbestimmt ist.
In letzter Konsequenz führt diese Theorie zur Annahme der Vergeblich-
keit alles unseres Strebens und HandeIns. Gegner der Stoa haben dies
in dem sogenannten apyol; ).6yol; als Argument ins Treffen geführt:
"Wenn es dir vom Schicksal bestimmt ist, von deiner Krankheit zu genesen,
so wirst du, ob du nun einen Arzt rufst oder nicht, jedenfalls genesen;
und wenn es dir nicht vom Schicksal bestimmt ist, von deiner Krankheit
zu genesen, so wirst du, ob du nun einen Arzt rufest oder nicht, keinesfalls
genesen. Nun ist es dir aber entweder bestimmt zu genesen, oder es ist
dir bestimmt, nicht zu genesen. Also ist es vergeblich, den Arzt zu rnfen"
(SVF II 957)2. Allerdings müssen derartige Überlegungen nicht immer
zur Untätigkeit motivieren. Der Fatalismus orientalischer Völker hat oft
die kriegerische Tüchtigkeit gefördert, indem er den Kämpfern sagte:
ist dir bestimmt, die Schlacht zu überleben, so wird dich deine Tapferkeit
nicht gefährden; ist dir aber bestimmt zu fallen, dann kann dich auch
die Feigheit nicht retten - also kämpfe tapfer.
Der Glaube an ein solches Fatum ist nur dort möglich, wo die kausalen
Verknüpfungen zwischen Handlungen und Handlungsfolgen nicht oder
nur unvollständig bekannt sind, so daß man die letzteren nicht mit
Sicherheit voraussagen kann; wo man dagegen diese Verknüpfungen
vollständig kennt, bleibt gar keine Lücke oder dunkle Stelle übrig, in
welche die geheimnisvolle Schicksalsmacht einzugreifen vermöchte. Daher
gibt der Fatalismus in der Regel keine Prognosen über das, was das
"Verhängnis" beschlossen hat - etwa ob der Kranke genesen oder der
Soldat fallen wird; er beschränkt sich meist darauf, zukünftige Ereignisse
im Dunkel zu lassen und bereits eingetretene als Fügungen des Schicksals
erwehren kann und darum die eigentliche Ursache unserer Triebe und
Entscheidungen bleibt!." Doch hat Chrysipp der Frage, ob die Charakter-
anlagen nicht selbst vom Schicksal oder der Natur bestimmt werden,
keineswegs ausweichen können. Er scheint der Meinung zu sein, daß auch
die Eigenschaften und Beschaffenheiten unseres geistigen Wesens dem
Fatum unterworfen sind: ingenia tarnen ipsa mentium nostrarum proinde
sunt fato obnoxia, ut proprietas earum est ipsa et qualitas. Wem die
Natur einen guten Charakter geschaffen hat, der vermag dem Ansturm
äußerer Motive leicht zu widerstehen, wem ein schlechter zuteil wurde,
der sündigt auch ohne äußeren Anlaß (SVF II 1000).
Es ist bemerkenswert, auf welche Weise diese Argumentation das
Problem der Willensentscheidung umgeht. Chrysipp erklärt nämlich das
seelische Geschehen des Motivationsvorganges mit Hilfe eines techno-
morphen Modells, nämlich des Abrollens einer Walze auf einer schiefen
Ebene. Erklärende Analogie ist also ein rein mechanischer Prozeß, der
entscheidungslos bis zum Ende abläuft, wenn einmal die Anfangs-
bedingungen gegeben sind. Die eine dieser Bedingungen ist die Beför-
derung der Walze auf eine geneigte Fläche; sie hängt von äußeren Um-
ständen ab und wird daher mit dem Herantreten der Motive an den
Menschen verglichen. Die andere ist die eigene Gestalt des Körpers, die
dem eigentümlichen Charakter der betreffenden Persönlichkeit entspricht.
Je nach ihrer Form verhalten sich physische Körper unter sonst gleichen
Umständen verschieden und je nach ihrer Eigenart reagieren Menschen
in sonst gleichen Situationen ungleich. Damit erscheint der Motivations-
vorgang als eine Automatik, wobei jeder Automat entsprechend seiner
besonderen Konstruktion funktioniert. So wird also nicht wie bei Platon
die Sozialstruktur, sondern die Mechanik von Körpern mittlerer Größen-
ordnung in die "Seele" hineinprojiziert. Da nun die physikalische Be-
wegungsgesetzlichkeit keine Wahl- und Entscheidungssituationen kennt,
sind die von ihr entlehnten Modelle außerstande, solche Situationen in
angemessener Weise wiederzugeben. Dies ist eine außerordentlich wichtige
Tatsache, da in ihr eine Tendenz zutage tritt, die der bisher behandelten
soziomorphen und technomorphen Weltdeutung zuwiderläuft. Wurde
sonst die menschliche Intentionalität, das Wollen und Tun mit seinen
Entscheidungen und Normen, auf die entscheidungslosen Gleichförmig-
keiten des Naturlaufes übertragen, so geschieht nun das genaue Gegenteil:
das Wollen und Handeln wird nach dem Modell physikalischer Invarianzen
erklärt. Freilich hat die Stoa diesen mechanischen Determinismus nicht
folgerichtig durchgeführt. Selbst nach der hier erörterten Lehre werden
die menschlichen Charaktereigenschaften von der Natur "geformt". Die
intentionale Leitvorstellung durchbricht schließlich wieder die physikali-
sche. Wenn aber bei den Stoikern die eigenartige Verschränkung von
mechanischer Deutung der Intentionalität und intentionaler Deutung
der Mechanik auch nur im Keime vorhanden ist und nicht systematisch
durchdacht, geschweige denn aufgelöst wird, so ist damit doch eine Form
TopitAch, Metaphysik. 12
178 Der Kosmos der Philosophie
1 Auffallend ist die übereinstimmung mit dem oben (S. 101, Anm. 2) zitierten
Amon-Hymnus. - übers. n. R. HARDER: Plotins Schriften, Leipzig 1930 - 1937.
2 Man beachte das gegenteilige Vollkommenheitsideal, welches für Par-
menides maßgebend war und noch in der Zeit Plotins von Origenes verteidigt
wurde; vgl. H. HEIMSOETH: Die sechs großen Themen der abendländischen
Metaphysik, Berlin 1922, S. 95.
Der Kosmos der Philosophie 179
als Beschränkung empfunden wird. Wenn man andererseits mit der These
ernst macht, daß die Erhabenheit des Einen jeden Kontakt zwischen ihm
und der geordneten, gestalteten Welt verbietet, so ist nicht einzusehen,
was jener Urgrund für die Welterklärung leisten soll.
Das letztere Problem hatte in etwas anderer Gestalt schon manche
Vorgänger Plotins beunruhigt, und wie diese sucht auch er die Kluft
durch Einschaltung von Mittelwesen zu überbrücken. Da dem Einen
infolge seiner Würde jede intentionale Betätigung, jedes Wollen, Planen
und Handeln versagt ist, müssen diese 'Wesen auf eine andere Weise
hervorgebracht werden. So gelangt der Denker zur Annahme eines unge-
wollten, absichtslosen Hervorgehens des Gewordenen aus dem Welt-
grund, das er allerdings nicht rational zu erklären, sondern nur mit Hilfe
von Bildern anzudeuten vermag. Diese Bilder führen oft direkt auf
mythische Vorstellungen zurück. Zum Teil stammen sie aus der unbelebten
Natur, etwa wenn Plotin von einem Überfließen (vm:ppe:Lv, 1tpOXeLv)
spricht (V 2,1), wie die Quelle ihre Wasser verströmt und dabei nicht
verbraucht wird (111 8,10) oder wie das Licht sich in der Dunkelheit ver-
breitet (IV 3, 9; VI, 7; V 3, 12). Nicht selten finden sich auch organische
Analogien. Das Seiende erwächst aus dem Urgrund wie ein gewaltiger
Baum aus seiner Wurzel (III 3, 7; III 8, 10) - hier handelt es sich offenbar
um einen Nachklang des Mythos' vom Weltenbaum. Auch von einem
Zeugungsakt oder einer Schwangerschaft Gottes ist die Rede (V 4, 1;
V 8,12), wobei die Vermutung naheliegt, daß die Vorstellung von dem
einzigen Weltprinzip, welches ohne Partner andere Wesenheiten zeugt
und gebiert, eine spiritualisierte und sublimierte Form des doppel-
geschlechtlichen Gottes darstellt. Es ist eigenartig, wie Plotin durch sein
Vollkommenheitspostulat am Gebrauch von Analogien aus dem spezifisch
menschlichen Bereich der Intentionalität gehindert und gezwungen wird,
seine Bilder aus Bereichen zu holen, die man auf Grund anderer wert-
hafter Voraussetzungen oft als "untermenschliche Natur" geringschätzt.
Auch hier entscheiden also die Wertungen darüber, welche Modellvor-
stellungen angewendet werden.
Das unmittelbare Produkt jenes kosmogonischen Zeugungsprozesses
ist der Geist, der ausdrücklich als Sohn des Gottes bezeichnet wird.
Ähnlich wie bei Numenios die oberste Gottheit über das Geschäft der
WeltbiIdung erhaben ist und sie ihrem Sohn, dem Demiurgen, überläßt,
tritt bei Plotin "der eine Gott, der gebunden ist, immer unverändert
zu bleiben, die Herrschaft über das All seinem Sohne {'t'I{> 1tcxL80 ab" -
hat er doch drüben ein viel herrlicheres Reich als die geschaffene Welt.
Der "Weltgeist" hat ebenfalls einen Sohn - auch hier klingen Motive aus
Numenios an -, nämlich den Kosmos beziehungsweise die Weltseele.
So steht der Geist als Mittler zwischen seinem besseren Vater und seinem
geringeren Sohne (V 8,13).
Allein der "Geist" ist wesentlich Bewußtsein, er ist ohne Intentionalität
nicht vorstellbar. Das Problem der Entstehung des Geistes führt daher
unweigerlich zur Frage, wie aus dem Nichtdenkenden das Denkende her-
vorgeht. Auch hier erhalten wir keine rational befriedigende Antwort,
Der Kosmos der Philosophie 181
sondern abermals nur Bilder!. Das Eine entläßt ein Wesen aus sich, dieses
wendet sich zu seinem Ursprung zurück und blickt auf ihn. Indem es
ihm gegenübertritt, entsteht das Sein, indem es ihn anblickt, entsteht
der Intellekt (V 2, 1). Der Geist, der auf diese Weise geworden ist, be-
trachtet aber nicht nur das Eine, sondern er denkt auch als das primär
Denkende sich selbst (V 6, 1-2). Es bildet also das sich selbst denkende
Wesen, da es keine vollkommene Einheit darstellt, nicht wie bei Aristoteles
die höchste, sondern bloß die zweithöchste Stufe der Seinshierarchie.
Der Geist ist nicht mehr absolute Einheit, sondern beginnende Vielheit
(V 3, 15), nämlich Zweiheit von Denkendem und Gedachtem (V 3,10;
V 6, 2). Im Bereich des Geistes hat also das Bestimmte und Struktuierte
bereits Platz. So beherbergt er nach Plotin die Ideen, die normativen
Urbilder der Erfahrungsdinge, und zwar nicht nur wie bei Platon die der
Gattungen, sondern auch der Einzelwesen (V 7). Der Geist ist also "seiner
Natur nach früher als der Kosmos, er ist sein Urheber, gleichsam sein
Urbild und Muster, während das All nur Nachbild ist und erst vermöge
des Geistes existiert und ewig neu in die Existenz tritt". Er umfaßt den
wahren, vorbildlichen, intelligiblen Kosmos, die unzerspaltene Gemein-
schafts- und Freundschaftsordnung der Ideen (IH 2, 1; vgl. oben, S. 128).
Das nächstniedrigere Wesen ist die Weltseele, die in ähnlicher Weise
vom Geist hervorgebracht wird wie dieser vom Einen. Sie ist das im
engeren Sinne weltgestaltende Prinzip, das etwa dem platonischen
Demiurgen entspricht. Auf den intelligiblen Kosmos blickend denkt sie,
auf sich selbst blickend erhält sie sich und auf die Welt hinabblickend
ordnet, verwaltet und beherrscht sie diese (IV 8,3). Damit ist der Weg
zu einem Kompromiß mit der herkömmlichen intentionalen Kosmologie
eröffnet.
Den niedrigsten Rang nimmt die Materie ein. Ihre Stellung und
Funktion ist eigenartig und für das Wesen der plotinischen Philosophie
äußerst bezeichnend. Im Anschluß an frühere Denker wird sie als das
schlechthin Formlose, Undifferenzierte und Unbestimmte charakterisiert.
Sie ist der undefinierbare Restbestand, der übrigbleibt, wenn man von
aller Form absieht. Dies gilt schon von der sogenannten intelligiblen
Materie, aus welcher das Ideenreich gestaltet ist (II 4, 4) - so weit reicht
bei Plotin der technomorphe Dualismus von "Form" und "Stoff". Es
gilt selbstverständlich auch von der sinnlichen Materie, der ebenfalls
bloß negative Attribute zuerkannt werden, durch welche sie als Gegenteil
alles Bestimmten erscheint; sie ist qualitätslos, quantitätslos, größe- und
körperlos, gestaltlos, unbestimmt (&6ptO"'t"ov, cbtztpov). Wir erfahren
über sie :tuch kaum etwas Positives, wenn Plotin ihr die Eigenschaften
der Einheit, Einfachheit und Kontinuität zuschreibt (II 4, 8). Als das
Formlose, das erst geformt werden soll, um ein Sein zu erlangen, ist sie
ein Nichtseiendes, sie steht unter dem Sein (II 4, 16). Wie sich allerdings
der Formungsprozeß abspielen soll, wird nicht ganz klar. Bemerkenswert
ist aber, daß die Materie unbeschadet ihrer angeblichen Strukturlosigkeit
und ihres Nichtseins alles eher als wertneutral ist. Vielmehr trägt sie einen
äußerst kräftigen negativen Wertcharakter. Trotz oder richtiger infolge
ihrer Gestaltlosigkeit soll sie der Inbegriff der Häßlichkeit sein: "Alles
Formlose ist bestimmt, Form und Gestalt anzunehmen; solange es daher
keinen Teil hat an Begriffen und Gestalt, ist es häßlich und ausgeschlossen
von der göttlichen Vernunft; das ist das schlechthin Häßliche. Häßlich
ist aber auch das, was von der Form und dem Begriff nicht voll bewältigt
wird, weil die Materie eine gänzlich der Idee entsprechende Formung
nicht zuließ" (I 6, 2). Doch ist die Materie nicht nur das primär Häßliche,
sondern auch das primär Böse. Als das Gestaltlose ist sie die "Privation",
die Verneinung aller Ordnung und allen Maßes. Hier faßt Plotin ganz im
Sinne der klassischen griechischen Tradition das Böse als das Ungeordnete
auf. "Es ist gewissermaßen Ungemessenheit gegen Maß, Unbegrenztheit
gegen Grenze, Ungestaltetheit gegen gestaltende Kraft und ewige Bedürf-
tigkeit gegen Selbstgenügsamkeit" (I 8,3). Der Inbegriff oder die Sub-
stanz dieses Bösen, das an sich Unbegrenzte und Ungestalte, ist die
Materie.
Wenn man die Attribute, auf Grund deren die Materie als das Urböse
gilt, näher betrachtet, so muß auffallen, daß sie in vieler Hinsicht mit
jenen des höchsten Weltprinzips übereinstimmen: bei dem Einen finden
sich weitgehend dieselben Bestimmungen - beziehungsweise dieselbe
Bestimmungslosigkeit - wie bei der Materiel . Dieser Sachverhalt, der
auf den ersten Blick frappierend genug erscheinen mag, ist leicht zu
erklären, wenn man die Wertgesichtspunkte berücksichtigt, welche hier
wie so oft die eigentliche entscheidende Rolle spielen. Im vorliegenden
Falle entsteht das Paradox dadurch, daß die rationale Form, die Bestimmt-
heit und Strukturiertheit verschieden aufgefaßt und bewertet wird.
Einerseits kann man sie als Eingrenzung und Einschränkung betrachten,
wodurch sei einen negativen Wertakzent erhält. Das Vollkommene und
Mangellose muß also über sie erhaben sein - so ergibt sich die Bestim-
mungslosigkeit des Einen als Postulat aus einer ganz spezifischen Wert-
voraussetzung. Andererseits mag man die rationale Form als Maß und
Ordnung empfinden, als Zucht und Schönheit, als Normgestalt, welche
die Dinge erreichen müssen, um die ihnen arteigene Vollkommenheit
zu erlangen. Demgegenüber ist der Werkstoff das Formlose, Ungestalte,
Ungeschlachte, und dies um so mehr, je weniger er von der Form durch-
drungen ist. Unter dieser spezifischen Wertvoraussetzung erscheint das
schlechthin Gestalt- und Bestimmungslose als das Übel schlechthin.
Diese Art von Argumentation ist in mehrerer Hinsicht aufschlußreich.
Sie zeigt, wie philosophische Vorstellungen auf Grund von Wertpostulaten
entstehen, sie zeigt aber auch, wie jene Postulate und Vorstellungen mit-
einander in Konflikt geraten und dadurch philosophische Probleme hervor-
bringen können: werthafte Forderungen - und nicht theoretische Er-
wägungen - drängen das Denken über die Grenzen des begrifflich Be-
stimmbaren hinaus und erzwingen die Annahme irgendwelcher weder
1 K. KEILING: Übflr die Sympathie bei Plotin, Diss., Jena 1919, S.17.
2 F. BILLICSICH: Übel, S. 181. - E. BARKER: From Alexander to Con-
stantine, S. 333.
186 Der Kosmos der Philosophie
zur Erlösung. Zum Staatsleben hat der Denker kaum eine Beziehung.
Ein Senator, der sich ihm anschloß, legte seine Amtsgeschäfte als Prätor
nieder, verließ sein Haus und führte ein Leben, das dem eines wandernden
Bettelmönches ähnlich war (Vita c. 7). Der pädagogisch-politische Eros
Platons fehlt Plotin ebenso wie das weltbürgerliche Ethos der Stoa. Die
seiner Lehre entsprechende Sozialform ist weder die Polis noch die
Kosmopolis, sondern jene klösterliche Gemeinschaft von Heilssuchenden,
als welche wir wohl die von ihm geplante "Platonopolis" auffassen dürfen.
So ist es nicht überraschend, daß Plotin dem Naturrechtsproblem keine
Beachtung geschenkt hat.
Um so mehr hat ihn die Frage der Kosmodizee beschäftigt. Dabei
ist seine Position so widersprüchlich wie die der meisten Philosophen,
welche mit diesem Problem ringen. Auf der einen Seite steht ein inten-
sives Erlebnis der Wertirrationalität der Erfahrungswelt, das die bren-
nende Erlösungssehnsucht erzeugt, aus der die ganze Lehre vom Aufstieg
der Seele zum Einen hervorgegangen ist. Andererseits soll eben dieses
Eine, in dem aller Wert konzentriert ist, die einzige Quelle und ausschließ-
liche Ursache allen Seins darstellen. Dazu kommen alle Schwierigkeiten,
die sich daraus ergeben, daß Plotin bald intentionale, bald andersartige
Modellvorstellungen benützt.
Die Frage, wie eine wertirrationale Welt aus einem Weltgrund hervor-
gehen kann, der den reinsten und absoluten Wert darstellt, erhebt sich
aber auf jeden Fall, gleichgültig, ob man sich den kosmogonischen Prozeß
mit Hilfe intentionaler oder "emanatistischer" - das heißt praktisch:
physikalischer oder biomorpher - Modelle vorstellbar macht. Das stoische
Problem, woher das Übel komme, wenn doch ein werthafter Logos die
ausschließliche Herrschaft über die Welt innehat, kehrt bei Plotin in
der Form wieder, wie das Übel möglich sei, wenn die WeIt einzig und
allein einem werthaften Urgrund entströmt ist.
Die Ursache des Übels und der Inbegriff des Bösen ist für Plotin die
Materie, die aber doch zugleich aus dem guten Weltprinzip. hervor-
gegangen sein soll. Diese offenkundige Schwierigkeit hat der Denker
mittels der schon bekannten Lichtanalogie zu überwinden gesucht. Wie
dieses photomorphe Modell an anderer Stelle die These illustrieren sollte,
daß das Seiende aus dem Urgrund hervorgeht, ohne daß dieser einen
Verlust erleidet, so soll es hier das Verhältnis zwischen dem guten Welt-
prinzip und dem Bösen begreiflich machen. Dieser Gedanke liegt nicht
ganz fern, hatte doch die Lichtanalogie schon im Mythos eine stark wert-
hafte, ja spezifisch moralische Bedeutung besessen. Während aber im
mythischen Weltbild meist "Licht" und "Finsternis" als zwei von-
einander unabhängige, gegnerische Mächte aufgefaßt werden, will Plotin
das Lichtmodell zum Nachweis des Gegenteils verwenden: das Böse
soll vom Guten abhängig oder es soll überhaupt nichts Positives sein,
sondern ein Mangel, eine bloße "Privation", ein "Nichtseiendes". Wie
das Licht sich bei seiner Ausbreitung immer mehr abschwächt und sich
zuletzt in Finsternis verliert, so geht durch ständige Abschwächung
aus dem Guten und wahrhaft Seienden schließlich die Materie, also das
Der Kosmos der Philosophie 187
des Übels gleichkommt - hat sich der Philosoph jedoch nicht endgültig
zu beruhigen vermocht, da er vom Ernstcharakter des Übels und des
Bösen zu tief überzeugt war. So hat er die Wertrationalität des Welt·
laufes durch eine Annahme sicherzustellen gesucht, die jenseits der
Grenzen aller Nachprüfbarkeit liegt, nämlich durch die Lehre von der
Vergeltung im Rahmen einer Seelenwanderung. Was die Menschen
erleiden, haben sie in einem früheren Leben selbst verübt, und was sie
Schlimmes tun, werden sie in einem künftigen Leben erdulden müssen
(nI 2,13). Manchmal wird dieser Glaube in einen Zusammenhang hinein.
gestellt, der Mikrokosmos und Makrokosmos übergreift. Folgen wir
unserem höchsten Seelenteil, der dem Göttlichen im Universum ent·
spricht, dann steigen wir nach dem Tode zu diesem auf. Lassen wir uns
aber von den niedrigen Kräften der Seele - den animalischen und
vegetativen - leiten, dann sinken wir im nächsten Leben zum Tier oder
zur Pflanze herab. Wer die bloße Bürgertugend übte, wird als Mensch
wiedergeboren, wer dies bloß in geringem Maße tat, als staatenbildendes
Tier (IH 4, 2/3).
Man kann aber Menschenschicksal und Gerechtigkeit nicht nur
dadurch zur Deckung bringen, daß man den Bereich des Menschenloses
verändert und ins Unerfahrbare erweitert, sondern es ist auch möglich,
den Begriff der Gerechtigkeit so zu modifizieren, daß ihm das empirische
Geschehen entspricht. Auch den letzteren Weg hat Plotin eingeschlagen.
Wo die Bösen über die Guten herrschen, da tun sie das mit Recht, denn
die Guten haben nicht die Energie, die schlechte Herrschaft abzuschütteln
und sind daher selbst an ihrem Unglück schuld (IH 2, 8). Es ist eigenartig,
wie selbst ein so milder und kontemplativer Charakter wie Plotin durch
den Zwang des Systems zumindest in die nächste Nähe der These vom
Recht des Stärkeren gedrängt wird, deren Bekämpfung seit Platon
eines der Hauptziele der Moralmetaphysik gewesen war. An diesem
Punkte schlägt die Deutung des Universums als wertrationaler Kosmos
in das Gegenteil ihrer ursprünglichen Intention um. Sie muß einer These
zustimmen, welche vom Standpunkt der ihr zugrunde liegenden mora·
lischen Forderung nur als der schlimmste Zynismus betrachtet werden
kann. Damit fällt die Idee der wertrationalen Weltordnung einer Gefahr
zum Opfer, die bereits in ihrem Ansatz beschlossen liegt. Wo immer
man bestrebt ist, die Übereinstimmung der Wirklichkeit mit einem
Gerechtigkeitsideal um jeden Preis zu verteidigen und dabei nicht
imstande ist, die Wirklichkeit der Gerechtigkeit anzupassen, dort wird man
nicht umhin können, das Gerechtigkeitsideal der Wirklichlmit anzupassen.
Wie das Problem der Kosmodizee, so ist auch das Problem der Willens·
freiheit bei Plotin etwas anders gelagert als bei den Stoikern. Vor allem
fehlt die Einfachheit und Konsequenz, die in der stoischen Lehre so
klare Verhältnisse schafft. Das eigentümliche Schwanken zwischen einer
negativen Bewertung des empirischen Universums im Sinne der Gnosis
oder Mystik und seiner positiven Bewertung im Sinne der Stoa, das
auch mit einem Schwanken bei der Anwendung intentionaler Modelle
verbunden ist, führt zu einer gewissen Komplizierung der Fragestellung.
190 Der Kosmos der Philosophie
Topitsch, Metaphysik. 13
194 Der Kosmos der Philosophie
traten die Lehre vom planenden Wollen und Wirken Gottes und waren
in ihren theologisch-philosophischen Spekulationen ebenso wie das
Christentum von der Antike und zumal vom Hellenismus abhängig. Von
hier kounte also ein Anstoß zur Kritik am intentionalen Weltbild nicht
ausgehen. Eine gewisse Distanz zu dieser Weltauffassung besaßen allen-
falls die Mystiker, in denen neuplatonische Traditionen fortwirkten.
Doch die Mystik stellte im Mittelalter nur eine geistige Unterströmung
dar, die von den kirchlichen Autoritäten nie ganz ohne Mißtrauen betrach-
tet und oft bewußt zurückgedrängt wurde. Vor allem sah sie ihr Ziel
nicht in erster Linie darin, die Welt zu erklären, sondern sie zu transzen-
dieren. So hatte sie keine Möglichkeit, die intentionale Weltauffassung
zu beseitigen und durch eine andere zu ersetzen.
Auch die Renaissance brachte keine entscheidende Änderung. Zwar
distanzierten sich die Humanisten gerne vom Mittelalter, doch in der
Regel nur, um auf dieselbe antike Philosophie zurückzugreifen, aus der
auch die Kirchenväter und Scholastiker geschöpft hatten. Die ver-
breitete Ablehnung des Aristoteles kam vor allem einem stark neu-
platonisch gefärbten Platonismus oder den Lehren der Stoa zugute.
Eine erhebliche Wirkung erzielte die römische Populärphilosophie eines
Cicero oder Seneca. Besonders Cicero bestach die Leser durch seine
stilistischen Vorzüge und seine leichte Verständlichkeit!. Für den Erfolg
dieser Lehren waren jedoch tiefere Gründe entscheidend.
Unter dem Druck des endlosen und ergebnislosen Streites zwischen
den verschiedenen Konfessionen und Sekten wuchs im 17. Jahrhundert
die Sehnsucht nach einer Weltanschauung, welche alle einseitigen Stand-
punkte umfassen und überhöhen sollte, nach einer über den einzelnen
Bekenntnissen stehenden "natürlichen Religion 2 ", die gewissermaßen die
Mutter der zahlreichen positiven Religionen sein sollte3 • Was nun den
verschiedenen religiösen Richtungen jener Zeit gemeinsam war, stammte
zu erheblichem Teil aus der spätantiken Populärphilosophie vorwiegend
stoischen Gepräges. Dazu kam, daß sich die Stoiker gerne auf eine allen
Menschen gemeinsame Vernunft oder Natur beriefen, also auf eine
Instanz, an die man sehr wohl gegen die Ansprüche der einzelnen Kon-
fessionen appellieren konnte. So trat die weltanschauliche Koine der
hellenistisch-orientalischen Kultur abermals entscheidend in die euro-
päische Geistesgeschichte ein. War sie seinerzeit in christlichem Gewande
zur wesentlichen Grundlage des mittelalterlichen Denkens geworden,
so stand sie jetzt in ihrer römischen Fassung der begiunenden Aufklärung
Pate.
Damit begann eine folgenschwere Entwicklung. Bisher hatte sich die
intentionale Weltauffassung im Laufe der Jahrtausende mit den ver-
13·
196 Der Kosmos der Philosophie
was ihm nach der Größe seiner Schuld gebührt, nämlich die entsprechende
Stellung in der Hierarchie der Weltordnung. Die höchsten Stufen nehmen
die Engelschöre ein, niedrigere die Gestirne, deren Leuchtkraft je nach
ihrer vorangegangenen Verfehlung größer oder geringer ist, und die
wider Willen ihr Amt in der Welt versehen müssen, das ihnen der Schöpfer
zugeteilt hat; als lebende Wesen sind sie des Guten und des Bösen fähig -
uralte Mythenmotive klingen hier anl . Geister, die tiefer gefallen sind,
werden zu Menschen, und solche .. die sich am weitesten von Gott ent-
fernt haben, bilden die gleichfalls hierarchisch abgestufte Dämonenwelt.
Doch behalten alle Wesen die Freiheit des Willens und damit die Möglich-
keit, durch Entscheidung zum Besseren oder Schlechteren in der Welt-
ordnung auf- oder abzusteigen. Der Mensch kann in einer späteren
Existenz zum Engel oder zum Dämon werden - und umgekehrt. Sogar
der Teufel vermag wieder zu Gott zurückzukehren.
So sind die Grundbegriffe der Weltanschauung des Origenes -
Wille, Abfall, Aufstand, Gericht, Schuld, Strafe, Amt, Rangordnung -
intentionaler, und zwar meist sozialer Natur. Im Gegensatz zur Mystik
Plotins ist das Denken des christlichen Philosophen vorwiegend ethisch-
juristisch. Man hat mit Recht bemerkt, daß bei Origenes ",gut' und
,böse' die einzigen Urkategorien geistiger Tätigkeit sind" und "daß alle
Bewegung im Sein überhaupt sich nur in Akten sittlicher Entscheidung
und ihrer richterlichen ErwiderunK vollzieht 2 ".
Der gnostische Mythos vom Fall und Wiederaufstieg der Seelen
wird bald überhaupt aus der christlichen Theologie verdrängt, die sich
zumeist rein intentionaler Leitbilder bedient. Die Welt ist durch einen
Akt planmäßigen Wollens geschaffen und wird durch den Willen des
göttlichen Kosmokrators regiert. Augustinus schildert den "kosmischen
Staat" ganz nach Art der Stoiker: "So ist der 'Wille Gottes die erste
und höchste Ursache aller Gestalten und Bewegungen des körperlichen
Seins. Denn nichts geschieht im Bereiche des Sichtbaren und Sinnen-
fälligen, für das nicht von dem inneren, unsichtbaren, geistigen Hof
des höchsten Gebieters (aula summi Imperatoris) gemäß dem unaus-
sprechlichen, in dem ungeheuer weiten, unermeßlichen Reich der Gesamt-
schöpfung (in amplissima quadam immensaque republica) herrschenden
gerechten Gesetz seiner Belohnungen und Strafen, seiner Gnaden und
Vergeltungen, Geheiß oder Erlaubnis kommt" (De trin. III 4, 9). Die
kosmische Ordnung ist hierarchisch gegliedert. Je nach ihrem Rang in
dem großen Stufenreich der Welt kommt den verschiedenen Wesen ein
bestimmter Grad der Vollkommenheit und des Seins zu - die "Seins-
stufen" sind in Wahrheit Rang- und Wertstufen (Civ. D. XII, 2). Die
Weltregierung durchwaltet ihr Herrschaftsgebiet bis in die kleinsten
Einzelheiten und bestimmt alles Geschehen, selbst das der untersten
Seinsregionen (Civ. D. X, 17). Das Wirken der Vorsehung erstreckt sich
bis in die persönlichen Lebensschicksale der Menschen (Conf. In, 19).
schreibt" (S. Theol. I qu. lO3, 1). Auch sonst greüt Thomas gerne auf sozio-
morphe Wendungen des Aristoteles zurück. Die kosmische Ordnung
(ordo universi) ist nicht Selbstzweck, sondern sie ist auf ein über ihr
stehendes Ziel hingeordnet, wie die Ordnung des Heeres auf den Feld-
herrn hingeordnet ist (ibid. 103,2). Ein einziger Herr lenkt das Univer-
sum, nicht viele Herren. Thomas zitiert die bekannte Stelle der aristo-
telischen Metaphysik: entia nolunt disponi male, nec bonum pluralitas
principatuum: unus ergo princeps (ibid. 103, 3). Wie ein guter Hausvater
oder Regent leitet dieser den Kosmos nach den Grundsätzen der Gerechtig-
keit (S. Theol. I qu. 21,1) und gibt ihm als Herrscher ein absolutes, ewiges
Gesetz. Mit dem Motiv des "Weltgesetzes" ist das des Naturrechtes eng
verbunden, das in anderem Zusammenhang näher behandelt werden soll.
Auch sonst folgt Thomas gerne dem soziomorphen Denkstil der
Tradition. Er übernimmt von Dionysios Areopagita die Hierarchien der
Engel als jenseitige Fortsetzung des Stufenkosmos der sichtbaren Wesen.
Ihre Rangfolge entspricht dem Maß ihrer Vollkommenheit, aber auch -
nach dem Vorbild der Beamtenhierarchie - der Wichtigkeit der zu
erfüllenden Aufgabe (S. Theol. I qu. 108, 5).
Die Vorstellung der Engelshierarchie hatte allerdings schon vor
Thomas in der mittelalterlichen Metaphysik und Sozialphilosophie eine
beachtliche Rolle gespielt, und zwar vor allem in dem Werke "De Uni-
verso" des Wilhelm von Auvergne. Der von diesem Denker geschilderte
"Engelstaat" läßt mit besonderer Deutlichkeit erkennen, wie das Bild
der Gemeinschaft überirdischer Wesen nach dem Modell irdischer Sozial-
beziehungen komponiert wird!. Dabei griff man im Mittelalter teils auf
Material aus der jüdischen und hellenistisch-römischen Tradition zurück,
teils stattete man die Engel mit Rängen und Funktionen der zeitgenös-
sischen Gesellschaft aus. Kirchliche und staatliche Würden dienten als
Elemente für den Aufbau des Engelreiches, vor allem hat man dieses
aber - ganz wie in Byzanz - nach dem Vorbild einer weltlichen Hof-
haltung dargestellt 2 • So wurde die Ordnung der rangmäßig abgestuften
Verbände des Staates und der Kirche in den Bereich des "Übersinnlichen
projiziert und dort zur Vollkommenheit verklärt, aber es wurde sogleich
auch das so zustande gekommene Ideal als Vorbild auf die menschlichen
Verhältnisse rückbezogen : der Engelstaat galt als Vorbild des irdischen
Regiments3 • Wenngleich bei Wilhelm von Auvergne dieser Prozeß der
Projektion und Reflexion soziomorpher Leitbilder ebensowenig wie bei
Dionysios Areopagita unmittelbar praktischen Zielsetzungen diente, so
lagen solche dem französischen Bischof keineswegs gänzlich fern, so daß
man seine Lehre wenigstens als Ansatz einer politischen Ideologie bezeich-
nen durfte4 •
schaftliches Gebilde, als Staat oder als Schule, innerhalb dessen die
verschiedenen Funktionen nach vorgegebenen sozialen Wertgesichts-
punkten - solchen des Ranges, der Würde, der Machtvollkommenheit,
der Verantwortlichkeit - verteilt sind. Die gesamte Konstruktion hat
mit empirischen Gegebenheiten höchstens ganz am Rande zu tun und
beruht grundsätzlich darauf, daß soziomorphe Vorstellungen nach Maß-
gabe von Wertpostulaten, die ebenfalls dem gesellschaftlichen Bereich
entstammen, und mit Hilfe der formalen Logik kombiniert werden.
Dennoch ist die Lehre von der relativen Selbständigkeit der Zweit-
ursachen auch für die Entwicklung der wissenschaftlichen Weltauffassung
bedeutsam geworden, indem sie der Forschung ein Gebiet eröffnete, in
welchem sie verhältnismäßig unabhängig von der Theologie arbeiten konnte.
Doch verstärkte sich bei Thomas unter dem Einfluß des Aristoteles
auch die Bedeutung der technomorphen Vorstellungen. Diese waren in
der Patristik und zumal bei Augustinus etwas zurückgetreten! und
gewannen nun wieder eine dominierende Position. Ihre grundlegende
Wichtigkeit für das Weltbild des Thomas von Aquin hat vor allem
A. Mitterer in zahlreichen Untersuchungen dargelegt 2 • Nach dem Vorgang
des griechischen Philosophen, aber mit einer womöglich noch größeren
Folgerichtigkeit, deutet der Scholastiker die unbelebte und die belebte
Natur ebenso wie die Vorgänge des Seelenlebens und der Erkenntnis
nach dem Modell der handwerklichen Techne (ars). Immer wieder inter-
pretiert er das jeweilige Objekt und sein Zustandekommen als Werkstück
(artificiatum) und als Herstellungsprozeß, bei welchem ein Werkmeister
(artifex) mit einem Werkzeug (instrumentum), n1.anchmal von einem
Gehilfen (minister) unterstützt, ein bestimmtes Werkziel (finis, intentio),
eine vorher entworfene Normgestalt (forma, figura) in einem Werkstoff
(materia) verwirklicht3 . Wie bei Aristoteles der geformte Gegenstand
niedrigerer Ordnung einem Formungsprozeß höherer Ordnung als Material
dienen kann, kennt auch Thomas arbeitsteilige Herstellungsvorgänge, in
welchen ein Werkmann das von ihm erzeugte Halbfabrikat einem anderen
zur Fertigstellung übergibt. So vollzieht sich beispielsweise die Zeugung
des Menschen. Bei dieser verfertigt die Frau aus dem Werkstoff Speise,
den ein Lieferant (Tier, Pflanze) beistellt, als Werkstück das Menstrual-
blut, das seinerseits dem Manne als Werkstoff dient, aus welchem er
mit Hilfe des Samens den vormenschlichen Fötus erzeugt, den Gott
durch die Formung mit der Geistseele zum Menschen macht4. Doch nicht
nur das Leben, sondern auch das Denken wird in Anschluß an Aristoteles
(vgl. oben S. 140 ff.) technomorph aufgefaßt. Der Werkmann (Mensch,
Seele) erzeugt mittels einer Werkfähigkeit, nämlich des "tätigen Ver-
standes" (intellectus agens), aus einem Werkstoff, dem leidenden Verstand
gleichen Schwierigkeiten. Hier wie dort werden die Normen und Werte
bloß scheinbar aus dem Natürlichen abgeleitet, in Wirklichkeit aber bei
der Konstituierung des "Natur"-Begriffes schon vorausgesetzt. Mit Hilfe
dieses typischen naturrechtlichen Zirkelschlusses unterlegt Thomas der
"Natur" die für ihn vorgegebenen christlichen Werte und liest sie dann
wieder aus dieser abI.
Der auf Grund vorausgesetzter Wertpostulate geschaffene Begriff
des "Natürlichen" schließt notwendigerweise alles Wertwidrige aus dem
Bereich der "Natur" aus, ohne dessen Tatsächlichkeit und Lebensbedeut-
samkeit beseitigen zu können. Sofern der Philosoph dieser Schwierigkeit
nicht dadurch zu entgehen sucht, daß er das Wertwidrige im Sinne der
Privationstheorie als bloß unvollkommenes Sein (S. Theol. II 1, qu. 93, 6)
hinstellt, sieht er sich zu einer Verdoppelung des Naturbegriffes gezwun-
gen - er schreibt die verwerflichen Antriebe des Menschen einer zweiten,
niedrigeren, "sinnlichen" Natur zu (S. Theol. II 1, qu. 71, 2). Hier wie
anderswo endet der Versuch, Sein und Wert zur Deckung zu bringen oder
Wertpostulate aus Seinstatsachen abzuleiten, mit einer Verdoppelung der
Seinsbegriffe, da ja das werthafte Sein vom wertwidrigen unterschieden
werden muß: das "wahre" Sein steht dem "defizienten" gegenüber, die
"vernünftige" Natur der "sinnlichen" usw. Die Scholastik bietet zahl-
reiche Beispiele für ein solches Verfahren. So differenziert Alexander
von HaIes zwischen dem "natürlichen" Willen (voluntas naturalis),
welcher stets auf das Gute gerichtet ist, und dem überlegten Kürwillen
(voluntas deliberativa), dem tatsächlichen Wollen des Menschen. Mit
dem "natürlichen Wesenswillen" ist die Synteresis eng verbunden,
sozusagen das "höhere" Gewissen, welches den objektiven Maßstab der
Werte erfaßt, und mit dem bloß empirischen Gewissen, dem subjektiven
Wertbewußtsein der verschiedenen Menschen, nicht verwechselt werden
darf. So wird nicht nur der Wille, sondern auch das moralische Bewußtsein
verdoppelt, und zwar auf Grund vorausgesetzter Wertgesichtspunkte.
Wenn Alexander ausdrücklich zwischen einem unfehlbaren, "höheren"
habituellen und einem fehlbaren, "niedrigeren" aktuellen Gewissen
unterscheidet und das erstere dadurch definiert, daß es immer mit dem
"Naturgesetz" übereinstimmt2 , so liegt dieser Vorgang klar auf der Hand.
Bei allen derartigen Überlegungen zeigt es sich, wie man immer
wieder vor die Alternative kommt, entweder in zirkelhafte Scheinrecht-
schaftlichkeit die Lehre, daß alles Seiende wesenhaft gut sei und das
Böse keine substantielle Wirklichkeit besitze (Conf. VII 18), sondern
in Wahrheit einen bloßen Mangel, eine Defizienz, darstelle. Dieser
Mangel kann nach der seit Platon und Aristoteles geläufigen techno-
morphen Auffassung darin bestehen, daß ein Ding an Vollkommen-
heit hinter seinem normativen Urbild zurückbleibt; daneben finden sich
neuplatonische Gedankengänge, nach welchen das Böse die Abwesenheit
des Guten sei wie die Finsternis ein Mangel an Licht oder das Schweigen
ein Fehlen von Tönen. Thomas von Aquin schließt sich eng an die aristote-
lische Überlieferung an, wenn er nicht jeden Mangel an Gutem als Übel
oder Privation betrachtet, sondern nur das Fehlen solcher wertvoller
Eigenschaften, die ein Wesen nach seiner Naturanlage besitzen sollte
(S. Theol. I qu. 49, 1; c. gent. III 7), also das Nichterreichen der Norm-
gestalt seiner Art.
Freilich bedeutet die Privationstheorie - wie immer man sie auffaßt -
keine Lösung, sondern bestenfalls eine Verschiebung des Problems. An
dem faktischen Vorliegen und der Lebensbedeutsamkeit des jeweiligen
wertwidrigen Sachverhaltes ändert sich nichts, wenn man ihm das "Sein"
oder das "wahre Sein" abspricht. Dies gilt im technischen Ursprungs-
bereich der Privationstheorie ebenso wie in jenen Gebieten, auf welche
sie übertragen wurde. Der wackelige Tisch, der löcherige Stiefel, das
stumpfe Messer sind ebenso real wie die entsprechenden gebrauchsfähigen
. Gegenstände; wenn man sie als "nichtwirklich" bezeichnet, so ist dies
nur eine andere Ausdrucksweise dafür, daß sie nicht die volle Funktions-
und Gebrauchsfähigkeit besitzen. Es handelt sich also um eine rein
sprachliche Operation, nämlich die Definition des "Seins" durch den
Wert, kraft welcher man das Wertwidrige als das "Nichtseiende" an-
spricht. Der empirische Tatbestand wird dadurch nicht einmal berührt.
Beispielsweise bleibt der klinische Befund und die Prognose einer Krebs-
erkrankung völlig unverändert, mag man ihr nun das Prädikat des Seins
zuerkennen oder verweigern. Selbst die wertende Einstellung des Kranken
zu seinem Leiden dürfte kaum wesentlich beeinflußt werden; es erleichtert
ihn wenig, wenn man ihm versichert, sein Siechtum sei in Wahrheit ein
Nichtseiendes. Ebenso irrelevant ist die Privationstheorie für die Zurech-
nung der sittlichen oder rechtlichen Schuld. In keinem Falle vermag
sie die Tatsächlichkeit und Bedeutsamkeit des Wertwidrigen aufzuheben.
Auch in den sonstigen Versuchen, die Kosmosidee angesichts des
Übels in der Welt aufrechtzuerhalten, folgt das Mittelalter der Antike.
Das Wertwidrige wird als notwendig hingestellt oder zumindest gerecht-
fertigt. Oft schreibt man den Leiden einen ethisch-pädagogischen Zweck
zu. Sie sind Strafen für selbst vollbrachte Sünden oder - im Falle der
Schmerzen unmündiger Kinder - solche für die Erbsünde. Doch kann
das Ungemach nicht nur poena peccati, sondern auch exercitium virtutis
sein. Es dient der Erziehung und Belehrung, der Prüfung und Läuterung,
der Erprobung und Bewährung. Oft ist das Übel eine unvermeidbare
Nebenfolge oder ein notwendiges Mittel der Erreichung gut.er Zwecke.
Die göttliche Gerechtigkeit vermag sich auch des Bösen zu bedienen;
Topitach, Metaphysik.
210 Der Kosmos der Philosophie
freilich ist sie dem Menschen manchmal verborgen und er darf sie nicht
in kleinlicher Weise nachprüfen. Damit wird nach bekanntem Vorbild
das Problem in den Bereich des Unerkennbaren abgeschoben. Spezifisch
thomistisch ist der schon erwähnte Versuch, die Schuld an dem Übel
auf die sogenannten Zweitursachen abzuwälzen, die wie ungehorsame
Diener mancherlei Fehler begehen, für welche der Herr nicht verantwort-
lich gemacht werden kann (S. Theol. II 1, qu. 79, 1). Augustinus greift
wieder gerne auf den heraklitisch-stoischen Gedanken zurück, man müsse
bei der Beurteilung des Wertwidrigen oder Unvollkommenen den Welt-
zusammenhang als Gesamtheit berücksichtigen (Oiv. D. XII, 4). Auch
die Schlechtigkeit der Menschen, ja die der gefallenen Engel dient letztlich
dazu, die Ordnung der Welt zu zieren, wie man ein Gedicht mit Anti-
thesen schmückt (Oiv. D. XI 18; de ord. I 18).
Zumal die letztgenannten Argumente erscheinen aber vom ethischen
Standpunkt nicht unproblematisch. Überträgt man sie aus dem Bereich
einer ästhetisch-kontemplativen "Versöhnung" mit der Wirklichkeit
in den des praktischen Handelns und Entscheidens, dann führen sie zu
höchst bedenklichen Konsequenzen. Wenn nämlich die Sünde ein Instru-
ment der Vorsehung ist oder wenigstens sein kann, ja wenn sie sogar wie
die Antithese im Gedicht oder die dunkle Farbe im Gemälde zur V 011-
kommenheit und Harmonie des Weltganzen notwendig ist, dann kann
man sie nicht moralisch verurteilen. Diese Schwierigkeit hat schon
Kelsos gesehen, als er den Einwand erhob, die Argumente der Theodizee
liefen darauf hinaus, daß man nie wisse, ob eine Sache ein Übel sei, da
sie ja einer Person oder dem ganzen Universum einen vielleicht noch
unbekannten Nutzen bringen könne. In weiterer Fortführung dieses
Gedankens kommt man zur Folgerung, daß auch das moralische Übel,
die Sünde, dem Ganzen nützlich sei oder wenigstens sein könne und daß
man daher im Interesse des größeren Zusammenhanges sündigen dürfe
oder sogar solle. Origenes hat auf diesen Einwand geantwortet (Contra
Oels. IV 70), "daß Gott unter Wahrung der Willensfreiheit bei einem
jeden Menschen wohl die Schlechtigkeit der Bösen zur Ordnung des
Ganzen mitverwendet, indem er sie zum Besten des Ganzen zu lenken
weiß, daß aber nichtsdestoweniger ein böser Mensch Tadel verdient
und, eben weil er Tadel verdient, zu einer Verwendung bestimmt ist,
die jeder einzelne verabscheuen muß, wenn sie auch dem Ganzen nützlich
ist". Damit ist die Schwierigkeit jedoch nicht überwunden. Nimmt man
nämlich das Argument in dem offenbar von Origenes gemeinten SinneI,
daß eine Handlungsweise verdammenswert bleibt, auch wenn der Übel-
täter durch seine Sühneleistung der Gemeinde Vorteile bringt, so ist
nicht die schuldhafte Tat selbst, sondern die Strafe der Gesamtheit
zuträglich. Zeitigt aber die verwerfliche Handlung als solche für das
Ganze zuträgliche Folgen, dann muß man sie entweder entschuldigen
oder aber sie verdammen und doch aus ihr Gewinn ziehen, wobei die
letztere Möglichkeit moralisch nicht unproblematisch ist. Die Spannung
Willenslehre keinen Wert legt, hat sogar die Möglichkeit, unsere guten
Taten auf Gott, unsere Sünden auf unseren freien Willen zurückzuführenl .
Je nachdem, welches dieser Wertpostulate man als wesentlicher
empfand, neigte man der indeterministischen oder deterministischen
Lösung zu, meist aber bemühten sich die Denker - da sie keines jener
Postulate völlig abweisen wollten oder konnten - um eine Kompromiß-
formel zwischen den Erfordernissen der Moral und jenen der Verherr-
lichung Gottes. Die Hauptmotive der Diskussion um das Freiheitsproblem
sind also bei den Kirchenvätern und im Mittelalter vor allem ethischer
und religiöser, nicht aber theoretischer Natur. Dazu kommt, daß oft
Bibelzitate als Beweisgründe für die eine oder die andere Alternative
herangezogen werden 2 •
Unter den Kirchenlehrern hat wohl Origenes die Willensfreiheit am
nachdrücklichsten vertreten. Auch Augustinus verteidigt sie in seiner
verhältnismäßig frühen Abhandlung "De libero arbitrio", und zwar
vor allem aus den schon genannten theologisch-moralischen Gründen.
Gott wäre nicht gerecht, würde er uns für Taten belohnen oder bestrafen,
die nicht in unserem Willen die letzte Ursache haben, und er wäre nicht
wahrhaft gut, hätte er an unseren Sünden AnteiP. Leidenschaftlich
verteidigt Augustinus seinen Gott gegen diese Unterstellung: "Ich finde
überhaupt nichts, ja, ich behaupte, es kann auch nichts gefunden werden,
weil es nichts gibt, womit unsere Sünden dem Schöpfer, unserem Gott,
zugeschrieben werden könnten. Wenn ich auch noch in ihnen Ihn zu
loben finde, so nicht nur deshalb, weil Er sie bestraft, sondern auch weil
sie nur dann geschehen, wenn von Seiner Wahrheit abgewichen wird"
(De lib. arb. IU 46).
Doch diese - vorwiegend von moralischen Gesichtspunkten be-
stimmte - Auffassung des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch
kann zu Konsequenzen führen, die unter anderen Wertaspekten bedenk-
lich erscheinen. Augustinus selbst hat dies an der radikalen Freiheitslehre
des Pelagius erfahren. Dieser britische Mönch ging von einer entschieden
ethischen Zielsetzung aus: er wollte das Vertrauen der Menschen in ihre
Fähigkeit zum sittlichen Handeln stärken und ihnen die Möglichkeit
nehmen, ihr moralisches Versagen der mangelnden Mithilfe Gottes
anzulasten. So lehrte er, der Mensch könne aus eigener Kraft die Gebote
halten und frei von Sünde bleiben; auch werde die göttliche Gnade nur
dem zuteil, der sich selbst nach besten Kräften darum bemüht. Es ist
also ausschließlich unsere eigene Schuld, wenn wir sündigen, und die
Strafe, die uns dafür trifft, ist gerecht.
Allein die Unabhängigkeit und Machtvolllmmmenheit, mit welcher
nach Pelagius der menschliche Wille dem göttlichen gegenübersteht und
sogar über die Erteilung oder Verweigerung der Gnade mit entscheidet,
war in den Augen der Frommen mit der Demut unvereinbar, welche der
Kreatur angesichts der göttlichen Majestät zukommt. Die pelagianische
Lehre ist daher von Augustinus als Ausdruck des Stolzes bekämpft
worden, jenes Lasters, das die Ursache des Sündenfalles war (Civ. D. XIV
13, 14). Er hält ihr entgegen, daß der aus Hochmut geborene Ungehorsam
Adams der Grund der Ursünde ist, die sich auf alle seine Nachkommen
vererbt hat. Im Stande der Erbsünde vermag kein Mensch aus eigener
Kraft frei von Schuld zu bleiben. Nur die göttliche Gnade, die uns nicht
auf Grund eines Anspruches, sondern aus grundlosem und unverdientem
Erbarmen zuteil wird, gibt uns die Fähigkeit, die Versuchung zu über-
winden. Daher ist das, was wir an Gutem tun, keineswegs unser Verdienst,
sondern die Wirkung der Gnade. Die letzte Entscheidung liegt bei Gott,
der die einen zum Heil bestimmt (prädestiniert), die anderen nicht.
Zweifellos waren diese Thesen des Augustinus geeignet, dem Menschen
ein Gefühl völliger Nichtigkeit gegenüber der unendlichen Gottesmacht
einzuflößen, allein sie widersprachen elementaren moralischen For-
derungen. Wenn die Überwindung der Sünde nur von der göttlichen
Prädestination abhängt, dann ist alles Mühen um einen tugendhaften
Lebenswandel zwecklos, und wenn wir ohne übernatürliche Hilfe zum
Guten unfähig sind, dann liegt die Schuld an unseren Verfehlungen nicht
bei uns, sondern bei Gott, der uns seine Hilfe versagt. Schließlich hat
es unter jenen Voraussetzungen überhaupt keinen Sinn, Gebote zu
erlassen, die der Mensch ohnedies nicht halten kann. Solange diese Über-
legungen auf die rein theologische Diskussion beschränkt blieben, waren
sie nicht allzu ernst zu nehmen, allein man begann bald, aus ihnen prak-
tische Folgerungen zu ziehen, welche die kirchliche Disziplin gefährdeten.
Angesichts dieser Bedrohung erschien eine Kompromißlösung notwendig,
die Gott so viel Macht und Ehre gab, wie es ohne völlige Aufhebung der
sittlichen Verantwortlichkeit des Menschen möglich war . Nach dieser
Lösung geht zwar die Gnade dem menschlichen Willen voran, doch
zwingt sie ihn nicht mit unwiderstehlicher Macht, sondern benötigt zur
Wirksamkeit sein freies Entgegenkommen, so daß wir darüber entscheiden,
ob wir die Gnade annehmen oder zurückstoßen1 •
Diese Motive wirken durch das ganze Mittelalter mit ungeschwächter
Kraft weiter. Auch für Thomas von Aquin ist das Freiheitsproblem in
erster Linie die Frage nach dem Verhältnis zwischen göttlichem und
menschlichem Willen, und er sucht sie auf Grund der schon bekannten
Wertpostulate zu entscheiden.
Gegen die Willensfreiheit sprechen vor allem Argumente, die mit der
Majestät Gottes, seiner Allmacht, Allursächlichkeit und Allwissenheit
zusammenhängen. So mag man im Anschluß an Augustinus ins Treffen
führen, daß alle Geschöpfe von Gott bewegt werden, der auch offenkundig
in den Seelen der Menschen tätig ist, um ihren Willen dorthin zu wenden,
wohin er will (De ver. XXIV 1,3). Daher stehen auch die inneren Ent-
scheidungen nicht in der Macht des Menschen, sondern werden ihm von
Gott eingegeben (sunt homini ex Deo); unser Wille vermag vom gött.
lichen nicht abzuweichen, denn entweder tut der Mensch, was Gott will,
oder Gott erfüllt seinen Willen an ihm (De malo VI 2; 5). Wir würden
auch der Gnade nicht bedürfen, wenn wir zwischen Gut und Böse frei
entscheiden könnten, da wir sie aber zur Wahl des Guten benötigen,
sind wir nicht frei (De ver. XXIV 1,6; 1,8). Die verdienstlichen Hand.
lungen liegen also nicht in unserer Macht. Wenn uns andererseits Gott
seine gnadenhafte Hilfe nicht gewährt, müssen wir sündigen, da wir
durch den Fall Adams die Fähigkeit verloren haben, aus eigener Kraft
von Sünde frei zu bleiben (ibid. 1, 10; 1, 12). So sind wir zum Guten
wie zum Bösen mit Notwendigkeit determiniert. Auch das Vorauswissen
Gottes scheint mit der Freiheit unvereinbar zu sein, denn was er vorher·
sieht, muß geschehen, da er sich nicht täuschen kann (ibid. 1, 13).
Eine andere Gruppe von Einwänden gegen die Willensfreiheit ergibt
sich ebenfalls aus der intentionalen Weltauffassung, nämlich aus der
aristotelischen Annahme, daß alle Wesen die ihnen arteigene Vollendung
erstreben, sich ihrem normativen Urbild anzugleichen suchen (De ver.
XXII 1). Wenn aber alles Seiende von Natur aus nach der spezifischen
Vollendung, nach dem ihm zukommenden Gut und in letzter Linie nach
Gott strebt, so besteht in dieser Hinsieht offenbar keine Freiheit. Thomas
sucht diese Schwierigkeit zu überwinden, indem er zwischen einer Not·
wendigkeit des Zwanges (necessitas coactionis) und einer solchen der
naturhaften Hinneigung (necessitas naturalis inclinationis) unterscheidet,
welch letztere dem Willen selbst innewohnen und daher seiner Selbst·
bestimmung nicht widersprechen soll (ibid. XXII 5). Doch soll hier
auf diese Argumentation, die auf den bereits mehrfach kritisierten
Leitvorstellungen beruht, nicht mehr weiter eingegangen werden.
Es ist nicht überraschend, daß auch auf der anderen Seite die längst
bekannten ModellvorsteUungen und Wertpostulate auftauchen. Wieder
sind es vor allem die Forderungen der Moral, welche für die Freiheit
sprechen, ohne die Gebot und Verbot, Lohn und Strafe ungerecht und
sinnlos wären (De ver. XXIV 1,5; 1,6). Auch kann Gott nicht unmittel·
bare Ursache der menschlichen Handlungen sein, denn alles, was unmittel·
bar von Gott kommt, muß gut sein; die menschlichen Werke jedoch
sind manchmal gut, manchmal schlecht (ibid. 1,7). Es kann kein Zweifel
daran bestehen, daß für Thomas die moralischen Argumente gegen den
Determinismus das größte Gewicht besitzen. Die Meinung, daß der Wille
des Menschen aus Notwendigkeit heraus bewegt werde, "nimmt den
menschlichen Akten den Wesenszug von Verdienst und Strafe" , sie
"widerspricht nicht nur dem Glauben, sondern verkehrt auch alle Grund.
lagen der Ethik (subvertit omnia principia philosophiae moralis). Denn
wenn es in uns nicht irgend etwas Freies gibt, sondern wir aus Notwendig.
keit zum Wollen bewegt werden, dann sind Überlegung, Ermahnung,
Gebot, Strafe, Lob und Tadel aufgehoben, um die die ethische Philosophie
kreist" (De malo VI).
Doch so großes Gewicht Thomas hier und anderswo (S. Theol. I qu. 83, 1)
auf diese Wertpostulate zu legen scheint, sie haben dennoch seine Kom.
Der Kosmos der Philosophie 215
liegen, hat Thomas keine befriedigende Antwort auf diese Fragen geben,
ja sie nicht einmal in zureichendem Maße klären können, und auf dieselben
Gründe ist es zurückzuführen, wenn eine solche Klärung und Antwort
bis heute fehItI.
Auch in der Spätscholastik und der Reformation wirken die Motive
des Streites zwischen Augustinismus und Pelagianismus weiter. Die
Betonung der göttlichen Herrschaftsgewalt und Majestät, die dem
Geist jener Zeit ihren Stempel aufprägt, ist in der Diskussion um das
Problem der Willensfreiheit besonders stark wirksam. Die Macht Gottes
über unseren Willen gilt manchmal geradezu als konstituierendes Merk-
mal seiner Göttlichkeit, etwa wenn Thomas Bradwardinus schreibt:
"Den will ich nicht als unseren Gott betrachten, der nicht allmächtig
im Handeln ist, der nicht die allmächtigste Gewalt über meinen schwachen
Willen hat und der nicht in unbeschränkter Machtfülle mich wollen und
tun lassen kann, was immer er wilJ2." Der göttliche Wille verursacht alles,
was ist und geschieht, einschließlich des menschlichen W oIIens 3 • Doch
dies bedeutet für Bradwardinus keine Unfreiheit, denn unter Freiheit
versteht der Philosoph nur die Unabhängigkeit vom Zwange der Zweit-
ursachen4 • Ein Argument gegen die Urheberschaft Gottes an unseren
Sünden ist aus diesem Freiheitsbegriff allerdings nicht zu gewinnen.
Bradwardinus sucht sich dieser Konsequenz seiner Auffassung vielmehr
mit Hilfe des schon von Thomas her bekannten Theologems zu ent-
ziehen, daß nur das Sein des Willensaktes von Gott stammt, seine Mängel
aber dem Geschöpf zuzuschreiben sind5 •
Mit der größten Folgerichtigkeit und Leidenschaftlichkeit ist die
absolute Souveränität und die Macht Gottes über unseren Willen von
den Reformatoren verfochten worden. Als Beispiel möge Luthers Sc11rift
"De servo arbitrio" dienen. Das mächtigste Motiv dieser Kampfschrift
gegen die Behauptung der Freiheit des geschöpflichen Willens ist die
Demut vor der göttlichen Majestät. Im. Namen der unbeschränkten
Herrlichkeit Gottes tritt Luther dem Erasmus entgegen, dessen Freiheits-
lehre er als widergöttlichen Hochmut verabscheut. Nach der Überzeugung
des Reformators ist "der freie Wille gänzlich ein göttlicher Name und
kann keinem anderen zukommen als allein der göttlichen Majestät ...
Wenn dieser den Menschen beigelegt wird, wird er in nichts recht-
mäßiger beigelegt, als würde man ihnen die Gottheit selbst beilegen, eine
Gotteslästerung, wie sie größer nicht sein kannG". So sind auch hier
wieder die bekannten Wertpostulate die eigentlichen Grundlagen der
ob man das Gewicht mehr auf die betreffende Eigenschaft oder ihre
Verwirklichungsart legt. Allerdings wird dadurch die schroffe Alternative
von intentionaler und negativer Theologie zumindest scheinbar durch
eine Verbindung mit gleitenden Übergängen zwischen den beiden Extre-
men ersetzt. Gerade darin liegt aber die außerordentliche praktische
Verwendbarkeit der Analogielehre. Je nach Wunsch oder Zweckmäßig-
keit konnte man die entgegengesetzten Wert- und Erkenntnisansprüche
der beiden Positionen befriedigen, ohne sich in eklatante Widersprüche
zu verwickeln. Es kam vor allem auf ein geschicktes Verlegen des Schwer-
punktes an. So war es möglich, die Gleichheit der Prädikate in den Vorder-
grund zu stellen und sich damit weitgehend der intentionalen Auffassung
zu nähern, dabei aber doch gegenüber einem allzu naiven Anthropo-
morphismus die Verschiedenheit der Verwirklichungsweisen in Reserve
zu halten, andererseits wiederum durch die Betonung der letzteren dem
Standpunkt der negativen Theologie Rechnung zu tragen, zugleich aber
deren agnostischen Konsequenzen mit dem Hinweis auf die - wie immer
"analoge" - Aussagbarkeit der göttlichen Eigenschaften auszuweichen.
Das Problem als solches bleibt also ungelöst, und es gibt auch keine
Lösung, denn das Wertpostulat, nach welchem Gottes Vollkommenheit
und Würde seine Erhabenheit über die menschliche Sprache fordert,
ist nun einmal mit dem Wunsche unvereinbar, trotzdem positive Behaup-
tungen über ihn aufzustellenl . Die Scholastik hat hier wie so oft eine
Kompromißformel gefunden, welche jene Widerspruche zwar nicht
beseitigt, aber doch verdeckt2 •
So sind es nicht irgendwelche wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern
werthafte Forderungen gewesen, von denen aus im Mittelalter das intentio-
nale Weltbild angegriffen worden ist. Der Konflikt zwischen wertender
Deutung und wertfreier Erkemltnis des Universums, welcher zu der
gegenwärtigen Krise jenes Weltbildes geführt hat, ist viel jüngeren
Datums. Zum philosophischen Problem konnte er überhaupt erst werden,
man aus Gründen der innerlichen Ruhe oder der äußeren Zweckmäßigkeit
jene Denkformen beibehalten wollte, nicht die schlichte Selbstverständlich-
keit und - zumindest scheinbare - Einheitlichkeit retten, die einer
echten, überzeugungskräftigen Tradition eigentümlich ist.
In den Anfängen dieses Prozesses ist sogar auf dem Gebiet der Natur-
wissenschaften von einem solchen Bruch nichts zu merken. Selbst ein
Kopernikus nimmt keinen Anstoß an den biomorphen, soziomorphen und
technomorphen Vorstellungen, die ihm aus der antiken und mittel-
alterlichen Tradition geläufig sind. Das alte Bild von der Erde, die von
der Sonne empfängt nnd jährlich ihre Nachkommenschaft gebiert,
begegnet uns bei ihm ebenso wie das von der Sonne, welche gleichsam
auf einem Königsthron sitzend das sie umkreisende Sternenvolk regiert.
Die Welt ist ein kunstvolles Bauwerk, ein prächtiger Tempel, in dem die
Sonne als Leuchte genau am zweckentsprechenden Platz angebracht ist,
nämlich im Mittelpunkt, von dem aus sie das Ganze gleichzeitig beleuchten
kann. Zugunsten der heliozentrischen Theorie wird fernerhin das bekannte
Wertargument ins Treffen geführt, die Unbeweglichkeit sei vornehmer
und göttlicher als die Beweglichkeit, welch letztere darum mehr der
Erde als dem Universum zukommt. Doch muß betont werden, daß
Kopernikus diese Bilder und Überlegungen nur als lllustrationen oder
zusätzliche Bekräftigungen, nicht aber als Hauptargumente benützt!.
Die eigentlichen wissenschaftlichen Begründungszusammenhänge sind
von den intentionalen Modellen unabhängig. Damit ist die Voraus-
setzung für den späteren Konflikt zwischen den beiden Denkformell
gegeben, doch bei Kopernilms sind sie noch friedlich miteinander ver-
bunden.
Wie stark die Naturwissenschaften und zumal die Naturphilosophie
der frühen Neuzeit von soziomorphen Vorstellungen beeinflußt sind,
geht auch aus anderen Zeugnissen hervor. Beispielsweise hat Francesco
Patrizzi die regelmäßigen Bewegungen der Himmelskörper mit Hilfe
des uralten Modelles des Sternenheeres erklärt. Er vergleicht die Gestirne
mit einer Truppe manövrierender Soldaten, welche den Befehlen ihres
Offiziers gehorchen, wobei Gott dem Offizier und seine Befehle den Natur-
gesetzen entsprechen2 • Überhaupt ist die Bezeichnung "Naturgesetz"
für die Invarianzen des Naturlaufes nur aus der Auffassung des Kosmos
als eines gewaltigen, durch unverrückbare Gesetze geordneten Staates
verständlich. Darum ist die Geschichte dieses Terminus für die Ent·
wicklung des sozio-kosmischen Denkens in der Neuzeit besonders auf·
schlußreich.
Es ist auffällig, daß Galilei diesen Ausdruck nie verwendet, sondern
von "Verhältnissen" (ragioni) und "Prinzipien" (principi) spricht. Dagegen
gebraucht Kepler mehrfach das Wort lex für Invarianzen, die wir heute
als Naturgesetze bezeichnen, etwa für die proportionalen Verhältnisse
von Kraft und Weg beim Hebel (lex staterae). Er bewundert die Schönheit
der mathematischen Ordnung der Natur und preist Gott als ihren Urheber.
"So verwandelt er die göttlichen Gesetze der Bibel in geometrische
Vorschriften und gebrauchte den Ausdruck ,Gesetz' beinahe synonym
mit ,Verhältnis' und ,Proportion' 1." Die geometrische Weltordnung
trägt also für Kepler noch einen ausgesprochen normativen Oharakter,
und er legt sich sogar allen Ernstes die Frage vor, wie die Gestirne von
den göttlichen Vorschriften wissen können. Der Geist des altorientalischen
Mythos lebt hier noch kraftvoll fort 2•
Der schließliche Erfolg des Terminus "Naturgesetz" ist wohl vor
allem auf Descartes zurückzuführen. Dieser Denker, der dem Mittelalter
noch eng verbunden ist, will die physische Naturordnung in ähnlicher
Weise aus der Vollkommenheit Gottes deduzieren, wie dies die Scho-
lastiker mit der lex naturalis versucht hatten. Gott läßt die Natur nach
den von ihm aufgestellten Gesetzen handeln, und selbst wenn er mehrere
Welten geschaffen hätte, so wären diese Gesetze in ihnen allen gültig
gewesen. Sie folgen nämlich aus seiner Vollkommenheit. Aus seiner
Unveränderlichkeit ergeben sich zwei Gesetze, die dem Trägheitsprinzip
entsprechen, während ein drittes besagt, daß ein bewegter Körper einem
anderen Körper beim Zusammenstoß so viel von seiner Bewegung mitteilt
als er selbst verliert. Dieses letztere Gesetz erscheint glaubwürdig, wenn
man in Betracht zieht, daß Gott seine Handlungsweise nie ändert und
die Welt mit demselben Wirken erhält, mit dem er sie geschaffen hat.
Daher kann die Bewegung nicht stets an dieselben materiellen Teile
gebunden bleiben, sondern muß beim Zusammentreffen vom einen zum
anderen übergehen3 • In eigenartiger Weise hat hier Descartes die Vor-
stellung des mit Notwendigkeit aus der göttlichen Vollkommenheit
erfließenden Gesetzes und die empirischen Feststellungen der Mechanik
miteinander verbunden. Er bringt den Weltlauf mit bestimmten werthaften
Forderungen in Übereinstimmung, doch stellt er nicht wie so viele andere
Denker auf Grund von Wertpostulaten irgendwelche Tatsachenbehaup-
tungen auf, sondern beschränkt sich auf eine nachträgliche Schein-
Topitsch, Metaphysik. 15
226 Tradition, Ideologie und Wissenschaft
Zeit richtungweisend geworden. Doch hat Newton nicht nur die wissen-
schaftliche Physik in diesem Sinne beeinflußt, sondern seine Lehren
sind auch durch die Aufklärer, vor allem durch Voltaire in seinen "Ele-
ments de la philosophie de Newton", übernommen, popularisiert und
zum Teil umgedeutet wordenl •
Dieser Kontakt mit dem Denken der Aufklärung, zumal der stark
politisch orientierten Frankreichs, hatte für die Entwicklung des Gesetzes-
begriffes weittragende Folgen. Waren dessen normative Elemente beson-
ders bei Wallis, Wren und Newton stark durch die naturwissenschaftlich-
deskriptiven zurückgedrängt und fast auf den bloßen sprachlichen
Ausdruck "Gesetz" beschränkt worden, so ergab sich nun eine neue
Berührung mit den intentionalen Leitbildern. Besonders eng ist diese
Verbindung bei Montesquieu. Das grundlegende erste Buch des "Esprit
des Lois" in welchem die Gesetze im allgemeinen behandelt werden,
greift wieder auf das Motiv der göttlichen Weltregierung zurück. Gott
erhält die Welt nach den Gesetzen und Regeln, nach denen er sie geschaffen
hat, er handelt nach ihnen, weil er sie kennt, er kennt sie, weil er sie
gemacht hat und er hat sie gemacht, weil sie seiner Weisheit und Macht
entsprechen. Diese Regeln sind für die vernunftbegabte und die unvernünf-
tige Welt unveränderlich festgelegt. Die unvernünftige Natur folgt den
Gesetzen der Mechanik: , ,Bei zwei bewegten Körpern bestimmen Masse
und Geschwindigkeit den Beginn, die Zu- oder Abnahme und das Ende
aller Bewegungen. Jede Verschiedenheit ist Gleichförmigkeit, jeder Wechsel
Beständigkeit2 ." So herrscht hier eine einzige, unverrückbare Ordnung.
Die vernünftigen Wesen sind dagegen imstande, sich selbst Gesetze
zu geben, aber über diesen positiven Normen stehen noch die natürlichen
der Gerechtigkeit und Billigkeit. Allerdings wird die vernunftbegabte
Welt lange nicht so gut regiert wie die physische, "denn obgleich auch
sie Gesetze hat, die ihrer Natur nach unveränderlich sind, so gehorcht
sie ilmen nicht immer so wie die physische Welt den ihrigen3 ". Die höchste
Norm für unser Verhalten ist die menschliche Vernunft und die positiven
Gesetze sollen nur die einzelnen Anwendungsfälle dieser Vernunft sein.
Physikalische und moralisch-rechtliche Gesetze bilden also bei Montes-
quieu letztlich wieder eine Einheit, sie sind die beiden Formen des
gemeinsamen göttlichen Weltgesetzes. So ist die Aufklärung bestrebt,
den Gesetzesbegriff der neuzeitlichen Naturwissenschaft mit der traditio-
nellen Idee der normativen Weltordnung zu vereinigen.
Für einige Zeit vermochte dieser Versuch zu überzeugen und hat
dadurch die Destruktion des intentionalen Weltbildes durch die moderne
Wissenschaft noch einmal aufgeschoben. Ursache dieser Entwicklung
war wohl vor allem das starke ideologische Bedürfnis der Aufklärer, das
Verlangen nach einer Legitimierung ihrer politischen Ziele und Ideale,
nimmt Volney, wie die auf diese Stelle folgende Definition unmißverständ-
lich zeigt, aus dem sozialen Bereich. Gesetze sind ursprünglich Handlungs-
anweisungen, Befehle und Verbote, die mit der Androhung einer Strafe
oder der Verheißung eines Lohnes verbunden sind. Das Verhalten aller
Wesen ist solchen bleibenden und allgemeinen Regeln unterworfen, die
nicht ohne Störung der allgemeinen oder besonderen Ordnung übertreten
werden können, und diese Regeln der Handlungen und der Bewegungen
nennt man Naturgesetze oder Gesetze der Natur. Diese allgemeine
Gesetzlichkeit ist eine göttliche Ordnung und ihr Bestehen ist ein Beweis
für die Existenz eines höchsten handelnden oder wirkenden Wesens
(agent supreme)l. Das staunenerregende Schauspiel des Kosmos mit
der wunderbaren Harmonie seiner Bewegungen läßt auf eine höchste
Weisheit schließen, die allen Dingen jene ewigen und unveränderlichen
Normen vorgeschrieben hat, welche in ihrer Beziehung auf den Menschen
die loi naturelle darstellen. Physische und moralische Ordnung bilden
also auch hier gewissermaßen eine kosmische Verfassung, einen einheit-
lichen, festgelegten Bestand von Regeln der göttlichen Machtausübung.
Das sozio-kosmische Universum der hellenistisch-orientalischen Spekula-
tion ist im fortschrittsstolzen Frankreich der Revolutionszeit noch immer
geistesmächtig2 •
Doch diese wohlbekannten Leitvorstellungen werden nun in vieler
Beziehung anders ausgedeutet als in den gewohnten Naturrechtslehren.
Das "Naturgesetz" hat nach Volney den Zweck, das Menschengeschlecht
zu erhalten, zu vervollkommnen und glücklich zu machen. Aus diesem
Zweck sind alle einzelnen Vorschriften abzuleiten. Sie bestehen zum großen
Teil aus hypothetisch-technischen Imperativen, aus Regeln, wie man
die Kenntnis der physischen Invarianzen für den individuellen und
gemeinsamen Nutzen der Menschen auswertet. Das "Naturrecht" trägt
also hier einen ausgesprochen utilitaristischen Charakter. Es klingt sogar
schon das spätere positivistische Schlagwort des savoir pour prevoir,
prevoir pour regler an, wenn der ~hilosoph die Tugend der Klugheit
(prudence) als vue anticipee, als prevoyance des effets definiert. Vermöge
dieser Antizipation oder Voraussicht sind die Klugen imstande, erfolgreich
ihren Vorteil wahrzunehmen. Freilich darf dieser Kalkül des Nutzens
nicht dazu mißbraucht werden, den Mitmenschen zu schaden. So gipfelt
das natürliche Gesetz in den Geboten, jeder solle sich erhalten, unter-
richten und mäßigen und jeder solle für den anderen leben, damit dieser
für ihn lebe. Im ganzen zeigt diese Naturrechtstheorie also das typische
Doppelgesicht der Übergangserscheinung. Hinter den gedanklichen und
sprachlichen Fassaden der intentionalen Analogien entwickelt sich eine
ganz andere Weltauffassung.
Wie sehr die intentionalen Denkformen noch im achtzehnten Jahr-
hundert die Geister in ihrem Banne hielten, geht fernerhin daraus hervor,
1 A. SMITH: .An Enquiry into the Nature and Causes of the Wealth of
Nations, Book 11, chap. 2 (Ausg. Edinburgh 1828, vol. 11, S.279/80): "He
generally, indeed, neither intends to promote the public interest, nor knows
how much he ia promoting it . .. he intends only his own gain, and he is in
this, as in many other cases, led by an invisible hand to promote an end which
was no part of his intention."
236 Tradition, Ideologie und Wissenschaft
der physischen Welt als Hinweis auf die höhere, die moralische Ordnung,
ja in gewissem Sinne als Modell für sie. Der intelligible Kosmos, das
"Reich der Zwecke ist also nur möglich nach der Analogie mit einem
Reiche der Natur, jenes aber nur nach Maximen, d. i. sich selbst auf-
erlegten Regeln, diese nur nach Gesetzen äußerlich genötigter wirkender
Ursachen!". Die ausnahmslose Gleichmäßigkeit der Naturgesetze ist
das Vorbild für die Allgemeingültigkeit und innere Widerspruchslosigkeit,
die dem moralischen Gesetz eigentümlich sein soll, so daß Kant seinem
kategorischen Imperativ als Regel für die "allgemein einer Naturordnung
ähnliche Gesetzmäßigkeit der Handlungen 2 " auch die folgende Formulie-
rung geben kann: "Handle so, als ob die Maxime deiner Handlungen
durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze (Sperrung von Kant)
werden sollte3 ." Damit nähert sich der Denker doch weitgehend der
Vorstellung einer allgemeinen Gesetzlichkeit, die bloß in zwei verschie-
denen Ausprägungen den phänomenal-physischen Bereich der Sinnenwelt
ebenso beherrscht wie den noumenal-moralischen der Vernunftwelt
und die sich im bestirnten Himmel über uns ebenso manifestiert wie im
Sittengesetz, das aus unserem Innern zu uns spricht4 •
Diese Gedankengänge und die damit zusammenhängenden Wert-
gesichtspunkte besitzen für Kant keineswegs eine bloß periphere Bedeu-
tung. Vielmehr gehören sie zu den Grundthemen seines Philosophierens,
da sie eng mit seinem Ringen um die Sicherung der Erkenntnis und der
Gültigkeit der gesetzlichen Ordnung im physischen und moralischen
Kosmos verbunden sind und als Voraussetzungen bis tief in scheinbar
rein wissenschaftliche und wissenschaftstheoretische Untersuchungen
hineinwirken.
Denn auch das Wissenschaftsideal des Königsberger Denkers war -
ihm selbst gewiß unbewußt - durch Wertungen sozio-kosmischer Her-
kunft mitbestimmt. Dies wird besonders deutlich, wenn man jenes Ideal
von den diesbezüglichen Annahmen David Humes abhebt. Die Kritik
des scharfsinnigen Schotten richtete sich nämlich gegen den "klassischen"
Begriff der Naturgesetzlichkeit, dessen Entwicklung von Descartes bis
Newton bereits oben (S. 224ff.) behandelt wurde. Für ihn gab es keine
"unverbrüchlichen, allgemeingültigen und notwendigen Naturgesetze",
sondern nur empirische Regelmäßigkeiten und Wahrscheinlichkeiten5 .
Humes Argumente bedeuteten allerdings für die konkreten Einsichten
der Einzelwissenschaften in die tatsächlichen Invarianten des Natur-
Ordnung nicht g~nz lückenlos sein, wenn der Mensch die Fähigkeit haben
soll, nach dem SIttengesetz zu handeln. So fordert die Ethik für unsere
Willensentscheidungen und Handlungen als sittliche Persönlichkeit die
Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanismus der ganzen Nat~~l",
sie fordert die Möglichkeit einer Normgebung und NormerfüllunO' in einer
durchwegs naturgesetzlieh geordneten Welt 2 • Wie so viele se~er Vor-
gänger hat auch Kant mit den aus dem Widerspruch dieser Forderungen
und der mit ihnen zusammenhängenden Vorstellungen entspringenden
Problemen oder Scheinproblemen gerungen. Die Wege, auf denen er diese
Schwierigkeiten überwinden wollte, sollen hier nicht weiter behandelt
werden. Wesentlich ist nur, daß der Königsberger Philosoph nach seinen
eigenen Worten keine theoretisch befriedigende Lösung finden konnte
und eingestehen mußte, die Vernunft würde alle ihre Grenzen über-
schreiten, wenn sie sich unterfinge, zu erklären, wie Freiheit möglich seP.
Es mag überraschen, ein so starkes Fortwirken der intentionalen
Weltauffassung bei Kant zu finden, der doch als Meister des kritischen
Philosophierens im deutschen Sprachgebiet gilt und selbst heute noch
von manchen Denkern als zu wissenschaftlich abgelehnt wird. Doch ist
die Einsicht, daß die Kantische Metaphysik der Sitten - wie übrigens
auch die der Natur - wesentliche Motive der traditionellen Logos- und
Kosmosspekulation in wenig veränderter Form weiterführt, durchaus
nicht neu: "Das Prinzip der Sittlichkeit als mögliche Allgemeinheit einer
Gesetzgebung ist Welt- und Vernunftgesetz ... die Vernunft kennt kein
Werden; sie ist das Bleibende, Grundwesentliche, im Wechsel Behar-
rende . .. Dies ist das Band, welches die Kantsche Anschauung mit der
Metaphysik des Sittlichen bei Plato, Leibniz, den englischen Intellek-
tualisten und Thomas von Aquino verknüpft; ein kosmischer Rationalis-
mus, der bei aller Verschiedenheit seiner systematischen Gestaltung
immer und überall die Züge der gleichen Weltansicht verrät4 ."
Topitsch, l\Ietaphysik. 16
242 Tradition, Ideologie und Wissenschaft
16*
244 Tradition, Ideologie und Wissenschaft
durch das Handeln, aber ohne das Wissen der beteiligten Menschen -
wenigstens so lange, bis diese reif geworden sind, das Ziel der Geschichte
zu begreifen und zum Leitstern ihres Tuns zu machen.
Der Fortschrittsgedanke Voltaires und Turgots wurde von Condorcet,
Saint-Simon und Comte weitergeführt. Besonders in Condorcets 1793
geschriebener "Esquisse d'un tableau historique des progres de l'esprit
humain" trägt der Glaube an die Vervollkommnungsfähigkeit des Men-
schengeschlechtes geradezu religiöse Züge. Dennoch wäre es verfehlt,
die Fortschrittsidee besonders in ihrer westlichen Prägung ausschließlich
als das Ergebnis einer Säkularisierung jüdisch-christlichen religiösen
Gedankengutes zu betrachten. Die Erweiterung der wissenschaftlichen
Kenntnisse, die Verfeinerung der Forschungsmethoden, die immer
erstaunlichere Wirkungsmöglichkeiten erschließende Entwicklung der
Technik, die Heraufkunft des Welthandels und das Enden der Glaubens-
kämpfe spielen hier ebenso mit wie die Erfolge, welche die aufstrebenden
sozialen Gruppen gegen die Verteidiger der bestehenden Ordnung errungen
hatten oder sich von der ,Zukunft erhofften. In diesen Tatsachen besaß
der Fortschrittsglaube eine breite empirische Basis. Je mehr er sich
auf sie bezieht, desto weiter entfernt er sich von den intentionalen Leit-
vorstellungen der Vorsehung oder des Weltplanes und damit von der
Thematik unserer Untersuchung. Ganz konnte er sich jedoch von ihnen
nicht trennen. Noch Comtes Dreistadiengesetz trägt in dieser Hinsicht
einen ausgesprochen zwiespältigen Charakter. Einerseits soll der Fort-
schritt von der theologischen über die metaphysische zur positiven Phase
die Ausschaltung der traditionellen religiös.metaphysischen Vorstellungen
durch die wissenschaftliche Kritik bedeuten, andererseits soll sich derselbe
Fortschritt kraft eines allgemeinen Gesetzes der Universalgeschichte
vollziehen, 'Wie es zwar nicht die positive Wissenschaft, wohl aber die
intentionale Geschichtstheologie kennt. Der ganze Verlauf der Entwick-
lung unseres Geschlechtes ist auf ein werthaftes Ziel bezogen, nämlich
auf die positivistische Menschheitsgesellschaft, und jedes Ereignis hat
in diesem Zusammenhang seine Rolle. Auch die bereits überwundenen
und negativ zu beurteilenden Stadien haben irgendwie zur Erreichung
jenes Endzieles beigetragen. Die Realisierung dieses glücklichen Zu-
standes soll aber nach Comte nicht bloß das Ergebnis eines mit natur-
gesetzlicher Notwendigkeit ablaufenden Prozesses, sondern zugleich auch
die höchste Richtlinie für unser Tun darstellen. Daß man einen notwendig
eintretenden Zustand nicht noch überdies dem politischen Handeln als
Ziel zu setzen braucht, hat der Philosoph allerdings nicht berücksichtigt.
So konnte mit Recht gegen seine Geschichtstheorie eingewendet werden,
daß sein "Fortschrittsgesetz" in konsequenter Formulierung "jede
Politik, auch die positive, völlig überflüssig machen würde!".
voit l'effet de tant de marches combinees: ainsi les passions ont multiplie
les idees, etendu les connaissances, perfectionne les esprits au dMaut de la
raison dont le jour n'etait pas venu ... "
1 A. Ross: Kritik, S. 252.
246 Tradition, Ideologie und Wissenschaft
spricht, wird als das "wahre Sein" hingestellt, allein es bildet nur mehr
einen Ausschnitt aus der Fülle des faktisch Vorhandenen. Doch dieses
an sich so fragwürdige Verfahren bietet dem Philosophen eine doppelte
Möglichkeit. Er kann seine eigene Wertposition mit der "wahrhaften
Realität" identifizieren und ihr dadurch den Schein einer absoluten,
von allem menschlichen "Meinen" verschiedenen Gültigkeit geben, wie
dies die expliziten und impliziten Naturrechtstheorien tun. Er kann aber
auch das Wertwidrige als "Nichtseiendes" ansprechen und dadurch den
Weltlogos von der Verantwortung für dieses befreien.
Jede Philosophie, die das Vernünftige und Gute als die einzige Macht,
Ursache und Substanz des Alls betrachtet, muß sich mit dem Problem
der Logodizee auseinandersetzen. Auch Hegel hat dies immer wieder
getan, doch ist er über die seit der Spätantike üblichen Argumentationen
im Grundsätzlichen nicht hinausgekommen. Wie schon angedeutet,
bedient er sich gerne der Verdoppelung des Seinbegriffes; um die "wahre
Wirklichkeit" des Wertwidrigen zu leugnen und es im Sinne der Priva-
tionstheorie als bloßen Mangel an Vollkommenheit oder als etwas Äußer-
liches und Nebensächliches abzutun. Allerdings konnte der Versuch, die
Wertirrationalität der Erfahrungswelt auf diesem Wege zu überwinden,
bei Hegel ebensowenig erfolgreich sein wie bei seinen Vorgängern. Die
grundsätzliche Schwäche dieses Verfahrens hat Iwan Iljin mit großer
Prägnanz gekennzeichnet: "Die philosophische Absage an die sinnlich-
empirische Welt ändert am Gegenstand nichts; sie modifiziert und entstellt
bloß die Urteile über diesen Gegenstand. Die spekulative Aburteilung, der
philosophische Ostrazismus bleibt ohne jeglichen realen Einfluß auf die
Natur und auf die Welt1." Wenn es aber nicht gelingt, das wertwidrige
Element in der empirischen Welt zu "streichen", dann ist es unvermeidbar,
daß sich der Dualismus der Wertung und Entscheidung zumindest in
verkappter Form wieder durchsetzt2 • An anderen Stellen vertritt Hegel
die These von der Notwendigkeit des Bösen, das ein unumgängliches
negatives Moment in der dialektischen Selbstentfaltung des Geistes
darstellen so1l3. Doch damit gerät er in andere Schwierigkeiten. Es ist
zumindest problematisch, wie diese Notwendigkeit mit der Güte, Ver-
nünftigkeit und Vollkommenheit des Weltprinzips vereinbar ist, ja man
kann sogar von einer weitverbreiteten Auffassung des &e:07tpe:7tE<; her
jenem zwiespältigen, in innerem Ringen werdenden und sich entfaltenden
Geist die Würde wahrer Göttlichkeit absprechen4 • Ferner ergibt sich die
Konsequenz, daß in diesem Falle der Mensch für das Böse, das er wirkt,
nicht verantwortlich gemacht werden kann. Ihr hat Hegel wie so mancher
Denker seit der Spätantike ausweichen wollen. Zwar liegt das Böse für
ihn im Begriff und ist daher notwendig, aber die Entschließung zum Bösen
ist des Menschen eigenes Tun, "das Tun seiner Freiheit und seiner Schuld",
Idee bleibt aber keine bloße ethische Forderung, sondern sie wird der
Geschichte als Endzweck unterlegt. Besteht für Hegel der Sinn der
Weltgeschichte in der Selbstverwirklichung und Selbstbefreiung des
Geistes, so liegt er für den atheistischen Humanismus des Feuerbach-
Schülers in der Verwirklichung des "totalen", des "tiefallsinnigen"
Menschen, in seiner Befreiung von der "fremden Macht", den verdinglich-
ten Produktionsverhältnissen. Die "Selbstentfremdung" des Menschen
in der arbeitsteiligen Gesellschaft, durch die er der Herrschaft eines
unpersönlichen, "entmenschlichenden" Wirtschaftsmechanismus ver-
fällt, findet mit "gesetzlicher Notwendigkeit" ihr Ende, und gerade die
äußerste Not der "Ware Mensch", des Proletariers, ist das Vorzeichen
oder die Vorbedingung des dialektischen Umschlages zur restitutio
hominis in der sozialistischen Zukunftsgesellschaftl . Diese humanistische
Logodizee durchdringt und bestimmt das marxistische Den1mn auch dort,
wo scheinbar nur ökonomische Tatsachenfragen behandelt werden2 •
Daß diese Lehre von der Selbstentfremdung und ihrer unausweich-
lichen Selbstaufhebung, die man auch paradox als determinierte Auf-
hebung des Determinismus bezeichnen könnte, den gnostischen V 01'-
stellungen vom Abfall und der Erlösung nähersteht als einer Kausal-
gesetzlichkeit im modernen Sinne, ist schon oft genug hervorgehoben
worden. Das nächste Ziel unserer Analyse liegt aber in einer noch grund-
sätzlicheren Tiefenschicht der "politischen Theologie", nämlich in dem
Problemkomplex, der sich aus der Annahme der Einheit des Naturrechtes
mit seiner Garantie durch ein teleologisches "Geschichtsgesetz" ergibt.
Die schlechthin kardinale Bedeutung dieses Kernstückes aller politischen
Lehren von dem in der Geschichte waltenden Logos zeigt sich darin, daß
es immer wieder zum Unterscheidungsmerkmal des echten Marxismus
von allen anderen materialistischen und sozialistischen Doktrinen, aber
auch von der sogenannten bürgerlichen Wissenschaft geworden ist. Doch
tritt die Logodizee im historischen Materialismus nicht mehr in ihrer
traditionellen Gestalt auf. Sie wird vielmehr mit der Kausalordnung
vermengt, ohne dabei jedoch ihre grundlegende ideologische Funktion
aufzugeben, nämlich bestimmte Ziele und Ideale zu legitimieren und deren
Verwirklichung wenigstens scheinbar zu garantieren. So entsteht ein
chimairenhaftes Gebilde aus Kausalität, Teleologie und Naturrecht, dem
wir nun immer wieder begegnen werden.
In dieser Form, die seinen außerwissenschaftlichen Charakter not-
dürftig verbirgt, ist das wertrationale Geschichtsgesetz zum eigentlichen
marxistischen Zentraldogma geworden. An ihm scheidet sich der "wissen-
schaftliche" Sozialismus von der sogenannten sozialistischen Utopie
und dem mechanistischen Materialismus ebenso wie vom philosophischen
Idealismus. Bei den Utopisten und Mechanisten fehlt der Gedanke eines
der Geschichte zu erklärenl ." Man könnte diesen Angriff Wort für Wort
auf seinen Urheber zurückfallen lassen, der ja die gleichen Denkmodelle
gebraucht - bloß mit dem Unterschied, daß bei ihm die ökonomische
Gesetzlichkeit die Funktionen der Moral und der Vorsehung übernommen
hat. Bei Nikolai Berdiajew findet sich die feinsinnige Bemerkung, daß
der Marxismus die Materie spiritualisiere und gezwungen sei, an den
Logos des Stoffes, an seinen in dem materiellen Produktionsprozeß sich
offenbarenden Sinn zu glauben2 • Man muß diese Erkenntnis aber noch
schärfer fassen: der historische Materialismus ist seinem tiefsten Wesen
nach Logodizee, Auffassung der Geschichte als Selbstverwirklichung der
wahren Gerechtigkeit, während Materie und naturwissenschaftliche
Kausalität nur die Fassade bilden.
So will Marx aus den verschiedenen "Gesetzen" jene Elemente aus-
wählen, die seinen Zwecken entsprechen, und die übrigen abstoßen. Er
will die ethischen Forderungen des Naturrechtes, aber nicht als bloßes
Sollen - die Garantien des vorsehungshaften Weltplanes, aber nicht als
theologisch-metaphysische Spekulationen - die "Unverbrüchlichkeit"
der materiellen Kausalordnung, wie er und seine Zeitgenossen sie ver-
standen, aber nicht als wertneutrale Regelmäßigkeit. Bei diesem Ver-
fahren mußten sich zahlreiche Schwierigkeiten ergeben, die alle irgendwie
in der Problematik des Handelns und des Wertens wurzeln und, wenn
auch manchmal auf verschlungenen Wegen, wieder zu ihr zurückführen.
Diese Schwierigkeiten haben sich in der gesamten Geschichte des
Marxismus gezeigt, und zwar in den Fragen der praktischen Aktion
ebenso wie in der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Idealismus
kantianischer Prägung und dem Positivismus. Bereits Lassalle, der an
Fichte geschult war, hat in einer brieflichen Diskussion, die er mit Marx
und Engels über sein Sickingen-Drama führte, die Hauptschwierigkeit
der Vorstellung eines "Geschichtsgesetzes" aufgezeigt: "Aber diese
kritisch-philosophische Geschichtsanschauung, in der sich eherne Not-
wendigkeit an Notwendigkeit knüpft, und die eben deshalb auslöschend
über die Wirksamkeit individueller Entschlüsse und Handlungen hinweg-
fährt, ist eben darum kein Boden, weder für das praktische revolutionäre
Handeln noch für die vorgestellte dramatische Aktion. Für beide Elemente
ist vielmehr die Voraussetzung von der umgestaltenden und entscheiden-
den Wirksamkeit individuellen Entschließens und Handelns der unerläß-
liche Boden ... 3." Noch schärfer stellt ein Menschenalter später Jean
J aures, der durch Emile Boutroux den Idealismus der Freiheit kennen-
gelernt hatte und in der Tradition des moralischen Sozialismus Frank-
reichs verwurzelt war, die beiden grundsätzlichen Fragen nach dem
Verhältnis zwischen Geschichtsgesetz und Handlung, zwischen Tatsachen
und Wertungen. Wie können die Menschen überhaupt noch selbständig
Topitsch, Metaphysik. 17
258 Tradition, Ideologie und Wissenschaft
handeln, wie können sie Politik betreiben, wenn die Dinge ihren not-
wendigen Gang gehen 1 Und ist der Sozialismus schon deshalb gerechter
und besser als die früheren Gesellschaftsformen, weil ihm die Zukunft
gehört, soll er sein, weil er sein wird? Beide Fragen weiß Jaures aus den
Werken von Marx zu beantworten. Um für die Norm und das Handeln
Raum zu schaffen, wird die Gesetzmäßigkeit in entscheidender Weise
eingeschränkt. Nur die Tatsache der Wendung zum Sozialismus steht
unabänderlich fest, nicht aber deren Zeitpunkt und Umstände, so daß
menschliche Maßnahmen ihr Eintreten beschleunigen und erleichtern
können, indem sie gewissermaßen die Geburtswehen der neuen Gesell-
schaft lindern. So kann dem Menschen der Kampf für diese Sozialordnung
zur Aufgabe gestellt werden. Der Wert jener Zukunftsgesellschaft ist für
Jaures im Sinne des marxistischen Humanismus darin begründet, daß
sie keine Unterdrückung mehr kennt, sondern die Verwirklichung der
wahren Menschlichkeit ist. Der französische Sozialist hat also die schlecht-
hin grundlegende Wichtigkeit der moraIisch-naturrechtlichen Komponente
im Marxismus klar erkannt und auch sonst immer betont, daß diese
Lehre nicht bloß von der geschichtlichen Notwendigkeit, sondern zugleich
auch von der ewigen Gerechtigkeit handelt. Die Koinzidenz von Not-
wendigkeit und Gerechtigkeit hat allerdings auch er nicht rational
begründen können1 .
Zu Lebzeiten der beiden Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus
blieben jedoch solche Stimmen ohne entscheidende Wirkung. Erst nach
dem Tode von Engels (1895) begannen die Auseinandersetzungen um die
Grundlagen der marxistischen Theorie, und zwar fast gleichzeitig innerhalb
der Sozialdemokratie und zwischen dieser und den bürgerlichen Gelehrten.
Soweit diese Diskussionen philosophisch belangvoll waren, berührten
sie unter dem Einfluß des kantianischen Dualismus meist die empfind-
lichsten Stellen der marxistischen Logodizee, nämlich die Fragen von
Sein und Sollen, Freiheit und Notwendigkeit, Kausalität und Teleologie.
Der sozialistische Revisionismus, wie er um die Jahrhundertwende
von Eduard Bernstein und seinen Anhängern vertreten wurde, war keine
vorwiegend philosophische Bewegung, sondern ist dadurch entstanden,
daß die tatsächliche Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft nicht
den Voraussagen von Karl Marx entsprach. Statt allgemeiner Ver-
elendung und katastrophaler Krisen brachte der Ausgang des vorigen
Jahrhunderts auch der Arbeiterschaft einen fühlbaren Aufschwung und
einen erhöhten sozialpolitischen Schutz. Dies hat sowohl dem Glauben
an die "eherne Notwendigkeit" der automatischen Selbstaufhebung des
Kapitalismus wie dem seelischen Bedürfnis nach einer politischen Eschato-
logie mächtig Abbruch getan. So gewann die Auffassung Raum, der
Sozialismus sei in erster Linie ein ethisches Ideal, das der Mensch durch
planmäßiges Handeln verwirklichen kann und soll. Dazu kam die beherr-
schende Stellung, die Kant in der deutschen Philosophie dieser Jahr-
zehnte einnahm. Unter seinem Einfluß hat Ludwig Woltmann weit
dann ist jeder Entschluß, ihm noch obendrein Folge zu leisten, ähnlich
unsinnig wie etwa die Entscheidung, man wolle sich mit der Erde um die
Sonne drehen. Entweder erkennt der Mensch das Eintreten eines Ereig.
-nisses als unvermeidlich an, dann ist für ein Handeln, ein Herbeiführen
oder Abwenden, gar kein Raum mehr, oder er will durch sein Eingreifen
ein Ereignis erst hervorrufen, dann sind die vollständigen Bedingungen
für dessen Eintreten noch nicht gegeben. Je bestimmter die Notwendigkeit
aller Einzelheiten eines Geschehens erkannt ist, desto weniger kann es
Gegenstand menschlichen Handerns sein: man kann keine Partei gründen,
welche den Eintritt einer exakt berechneten Mondesfinsternis "zielbewußt
begünstigen" wilP.
Diese mannigfachen Gefährdungen des Kernes seiner Lehre hat der
orthodoxe Marxismus nicht unwidersprochen hingenommen. Es ist
bezeichnend, daß er gerade jene Elemente der sozialistischen Theorie
mit größtem Nachdruck verteidigt hat, die dem intentionalen Weltbild
entstammen. Die Logosspekulation, die Auffassung des Weltlaufes als
Selbstverwirklichung des an sich Guten, ermöglicht ja die Verklärung
der weltanschaulichen und politischen Parteiideale zum "objektiven Sinn
der Geschichte", der sich mit unendlicher Macht gegen alles Widerstreben
menschlichen Aberwitzes durchsetzt. Der Schutz dieser Modellvorstellun·
gen gegen jeden Schatten eines Zweifels ist das letzte Ziel des Kampfes
gegen Revisionismus, Objektivismus, Positivismus und ähnliche "agno·
stische" Standpunkte.
Aus der Fülle der Streitschriften, die sich mit der Problematik des
Verhältnisses zwischen der "geschichtlichen Teleologie" - dem bekannten
zweiten Handlungsschema - und dem menschlichen Handeln ausein.
andersetzen, sollen hier nur G. W. Plechanows Arbeit "Über die Rolle
der Persönlichkeit in der Geschichte" wegen ihrer historischen Bedeutung
und die Analysen Max Adlers wegen ihrer gedanklichen Schärfe heraus.
gehoben werden. Plechanow sucht Stammlers Einwand zu entkräften,
"daß wir uns nur von der Unvermeidlichkeit des Eintretens einer bestimm·
ten Folge von Ereignissen zu überzeugen brauchen, damit bei uns jede
psychologische Möglichkeit, für dieses Eintreten zu wirken oder ihm ent·
gegenzuwirken, verschwinde2 ". Während Stammler von der Unter.
scheidung zwischen beeinflußbaren und unbeeinflußbaren Ereignissen in
der Objektwelt ausgeht, sucht Plechanow das Subjekt und seine Ent·
scheidungen als "notwendiges Glied in der Kette der notwendigen
Ereignisse" einzuordnen. Die "Notwendigkeit" wirkt und vollzieht sich
für ihn also gewissermaßen durch das Ich des Handernden hindurch.
Diese Notwendigkeit kann bewußt werden und verleiht dann dem
Tätigen die größte Entschlossenheit und Energie, eine Unbeugsamkeit,
wie sie aus Luthers berühmtem "Hier stehe ich, ich kann nicht anders"
Geschehen bezeichnet, das uns als unbeeinflußbar bekannt ist und daher
jenseits aller Handlungsmöglichkeiten und Handlungsanweisungen liegt.
Doch Adler, Plechanow und andere marxistische Denker suchen
auch das "Ich" des Tätigen in den Zusammenhang der Notwendigkeit
einzubeziehen. Eine solche, gewissermaßen durch das handelnde Subjekt
hindurchgehende Gesetzmäßigkeit muß jedoch für dieses unbewußt und
daher leer bleiben, denn sobald sie bewußt wird und einen Inhalt erhält,
ist sie auch schon in die Objektwelt des Wissens, Wertens und Handelns
gerückt. Der Begriff einer "bewußten Notwendigkeit", die sich "durch
das Ich hindurch vollzieht", kann also offenbar nicht widerspruchslos
gebildet werden. Damit entfällt auch diese Möglichkeit, die Einheit von
Direktive und Garantie, von Handlung, Naturrecht und Geschichtsgesetz
zu retten.
So fragwürdig die Annahme einer solchen Einheit vom Standpunkt
der reinen Theorie erscheinen mag, so offenkundig ist es, daß sie eine
bedeutende Wirkung auf das politische Motivationsbewußtsein ausüben
kann und daß sie vor allem wegen dieser psychologischen Wirkung ver-
teidigt wurde. Wer sich als Werkzeug oder Diener einer providentiellen
Notwendigkeit fühlt und überzeugt ist, wollen zu müssen, was er will,
wird seine Ziele mit größerer innerlicher Sicherheit und größerem äußerem
Nachdruck verfolgen als derjenige, dem eine solche Überzeugung fehlt.
Diese Verstärkerwirkung1 kann nun ihrerseits als kausaler Faktor in den
tatsächlichen Lauf der Ereignisse eintreten. Es ist durchaus möglich,
daß erst der unbedingte Glaube an die Notwendigkeit des eigenen Wollens
und des schließlichen Erfolges dem Handelnden jene Energie und Durch-
schlagskraft verleiht, die wirklich den Erfolg herbeiführt. Wo aber die
eigene Anstrengung nicht in Rechnung gezogen wird und man sich auf
die unter allen Umständen funktionierende Automatik der Entwicklung
verläßt, kann leicht eine passive Haltung entstehen, welche den vielleicht
an sich möglichen günstigen Ausgang verhindert. Hier sind also Fragen
der Theorie mit solchen der politischen Praxis eng verbunden. Es ist
daher nicht verwunderlich, daß dieser Problemkomplex bis tief in die
Auseinandersetzungen um die sozialistische Parteitaktik hineinspielt.
Der Gegensatz zwischen "voluntaristischer" und "deterministischer"
Auffassung hat in den Diskussionen um den Revisionismus ebenso eine
Rolle gespielt wie im russischen Marxismus, wo sich die Positionen von
"soznatelnost" (bewußte Aktion) und "stichijnost" bzw. "samotjok"
(automatische Entwicklung) gegenüberstanden2 • Wenn Lenin in dieser
Frage so scharf gegen die Menschewiki Stellung genommen hat, so war
er dabei offenbar von der nicht unberechtigten Sorge geleitet, daß der
Glaube an einen selbsttätig eintretenden Sieg des Marxismus die Tatkraft
der Partei lähmen und so diesen Sieg verhindern könnte. Demgegenüber
eine Erscheinung als erklärt, wenn diese aus bestimmten, ihr voran-
gegangenen Ereignissen mit Hilfe allgemeiner Regeln erschlossen und
vorhergesagt werden kann; das psychologische Gefühl der " Vertrautheit",
wie es die intentionalen Modelle hervorrufen, spielt hier keine Rolle mehr.
Nach Abstoßung der Handlungsanalogien bestehen die naturwissenschaft-
lichen Begründungszusammenhänge wesentlich aus einem Gefüge von
Maßgrößen und Meßanweisungen (operational definitions), die zu mora-
lischen oder politischen Begriffen kaum mehr irgendeine Beziehung
haben. Immerhin ist auch die moderne Naturwissenschaft in ihren
Anfangsstadien stark durch Vorstellungen aus dem Alltagsleben bestimmt
geblieben. Handwerkliche Erfahrung spielte bei der Begründung der
neuzeitlichen Physik eine entscheidende Rolle; aber die wichtigsten
Modelle waren nicht wie beim intentionalen Technomorphismus von der
menschlichen Tätigkeit, sondern vom Verhalten des Werkstoffes ent-
lehnt!. Körper mittlerer Größenordnung und einfache Maschinen lieferten
die leitenden Analogien. Doch auch diese "mechanistischen" Modell-
vorstellungen erwiesen sich im Bereiche größter und kleinster Abmessun-
gen als unzulänglich. Elemente und Strukturen der gegenwärtigen Physik
sind nicht mehr direkt anschaulich erfahrbar, sondern aus Beobachtungen
erschlossen2 • Wir "begegnen" etwa den Elektronen nicht wie unseren
Mitmenschen, noch können wir mit ihnen unmittelbar "hantieren" wie
mit Flaschenzügen oder Uhrwerken. Die Bewegung von Wellen oder
sichtbaren Körpern gibt keine hinreichende Vorstellung vom subatomaren
Geschehen, die Kanten unserer Häuser sind nicht mehr Vorbilder räum-
licher Orientierung schlechthin.
Gewiß bewährt sich die empirische Gültigkeit hypothetisch-deduk-
tiver Systeme, wie sie die moderne Forschung anwendet, letztlich auch
in der Übereinstimmung mit Beobachtungen, die dem Bereich allgemein-
menschlicher Erfahrung angehören, vor allem mit Koinzidenzen von
Zeigern und Skalenstriehen, Fadenkreuzen und Lichtpunkten usw. 3 •
Doch diese Berührungsstellen zwischen den logisch-mathematischen
Beziehungsgefügen und der Erfahrungswelt liegen zumeist weit außer-
halb des Gesichtskreises alltäglicher Lebenspraxis, und ihre Bedeutsamkeit
für die Welterklärung wird erst im Rahmen einer sehr fortgeschrittenen
Hypothesenbildung erkennbar. Noch "lebensferner" ist die innere Struk-
tur des naturwissenschaftlichen Weltschemas, in dessen Begründungs-
zusammenhängen die Modellvorstellungen aus dem Bereiche wertdurch-
tränkter Alltagserfahrung keinen Platz mehr finden, da sie den Bedin-
wenn diese ganz leicht als solche zu durchschauen sindl . Diese Einsichten
sind zunächst nur in der angelsächsischen Welt wirksam geworden,
doch beginnt sich nun langsam auch im deutschen Sprachraum die
Erkenntnis durchzusetzen, daß die Versuche einer metaphysisch-natur-
rechtlichen Wertbegründung regelmäßig bloß Leerformeln ergeben, die
je nach Bedarf mit beliebigen Wertgehalten erfüllt oder überhaupt
leer gelassen werden können2 •
Leerformeln von sachhaltigen Aussagen und echten Handlungs-
anweisungen zu unterscheiden ist auch eines der Hauptziele des Pragma-
tismus und des Neopositivismus. Diese Richtungen fragen gewissermaßen
nach dem "Barwert" von Sätzen und Satzsystemen, ihrer Beziehung zu
prüfbaren Beobachtungen und durchführbaren Tätigkeiten3 • Sie fordern
die möglichst genaue Angabe kontroIIierbarer Merkmale, auf Grund
deren man über die Wahrheit oder Falschheit einer Behauptung, die
Normgemäßheit oder Normwidrigkeit eines Verhaltens entscheiden kann;
Formulierungen, die keine derartigen Merkmale angeben, besitzen keinen
kognitiven oder normativen Gehalt. Diese Auffassung befiudet sich in
grundlegender Übereinstimmung mit den konkreten Verfahrensweisen
der Wissenschaft und des Rechtslebens, nur darf sie nicht dahin über-
spannt werden, daß man Sätze einfach als "sinnlos" verwirft, wenn sie
jenen Kriterien nicht entsprechen. Mit Bedacht gehandhabt, sind diese
Kriterien jedoch wertvolle Wegweiser zur Auflösung der verschieden-
artigsten Schwierigkeiten. Vor allem helfen sie uns verstehen, was mit
einem sprachlichen Ausdruck gemeint und gewollt wird. Es kommt nicht
selten vor, daß es der eigentliche Zweck bestimmter Sätze ist, weder
empirisch prüfbare Tatsachenaussagen noch konkrete Werturteile oder
Handlungsanweisungen zu enthalten, sondern einen solchen Gehalt nur
vorzutäuschen. Von "Sinnlosigkeit" weit entfernt, sind diese Ausdrücke
gerade durch ihre Leerheit von beinahe unbeschränkter pragmatischer
Brauchbarkeit - zumindest solange sie nicht als Leerformeln durchschaut
sind.
Daß die Weltanschauungen im allgemeinen ,und die metaphysischen
Doktrinen im besonderen als werthafte Interpretationen der Welt gelten
müssen, ist auch von Wilhelm Dilthey und seiner Schule dargetan worden.
Topitsch, Metaphysik. 18
274 Tradition, Ideologie und Wissenschaft
gelesen werden. .Daß ein solches Vorgehen nur zu Irrtümern und Er-
schleichungen führen kann, ist ihm wohl klar gewesen!.
Gleichfalls in die Geschichte der Aufdeckung der soziomorphen
Deutung des Weltgeschehens gehört die Lehre vom Ursprung der Kate-
gorien, welche Emile Durkheim entwickelt hat. Nach seinen Thesen
soll die Kategorie der Klasse von der menschlichen Gruppe abgeleitet
sein, die Kategorie der Zeit vom Rhythmus des sozialen Lebens, die des
Raumes vom Lebensraum des Sozialverbandes und die der Kraft, welche
ein wesentliches Element der Kausalkategorie bildet, vom kollektiven
Machtbewußtsein. Durkheim hat sich auch über die wissenschaftstheore-
tische Problematik dieser soziomorphen Logik und Erkenntnislehre
Rechenschaft abzulegen gesucht. Wenn die Kategorien ursprünglich nur
auf Übertragungen sozialer Urbilder beruhen, so scheint daraus zu folgen,
daß sie auf die übrige Welt nur als Metaphern angewendet werden können,
welche bloß den Wert willkürlicher Symbole haben. Der französische
Soziologe meint sich dieser Konsequenz mit dem Hinweis darauf entziehen
zu können, daß die Gesellschaft ja selbst nur der höchstentwickelte Teil
der Natur ist und daher keine wesentliche Verschiedenheit zwischen den
naturwissenschaftlichen und den gesellschaftswissenschaftlichen Kate-
gorien bestehenkann2 • Man kann diese - keineswegs zwingenden -
Argumentationen aus der Eigenart und den Zielsetzungen der Soziologie
Durkheims erklären. Doch haben sie die sorgsame Untersuchung der
Eigentümlichkeit und Brauchbarkeit der sehr verschiedenen Formen
soziomorpher Modelle und die ideologische Auswertung der Ergebnisse
einer solchen Analyse nicht unbedingt gefördert. Vor allem ist Durkheim
durch sein Bestreben, die gedanklichen Strukturen der reinen Logik
und die allgemeinsten formalen Kategorien soziologisch zu interpretieren,
in Gebiete geraten, die einer solchen Interpretation kaum zugänglich
sind. Dennoch verdanken wir ihm zahlreiche Einsichten in den Aufbau
des sozio·kosmischen Weltbildes. Er hat gezeigt, wie bei primitiven Völ-
kern die Naturdinge einschließlich der Gestirne in die totemistische
Gesellschaftsordnung einbezogen werden, indem man jenen Gegenständen
ein Geschlecht und eine Sippenzugehörigkeit verleiht3 • Aber er hat auoh
beobachtet, wie umgekehrt kosmische Elemente auf die Sozialordnung
zurückwirken, so daß diese ihrerseits dem Universum eingefügt wird:
der Mikrokosmos der Gesellschaft und der Makrokosmos der Natur
doch bleiben sie so lange verhältnismäßig harmlose Bilder, als sie nicht
auf das aktive Handeln des Menschen rückangewendet werden. In diesem
letzteren Falle entsteht eine eigenartige Problemverschlingung. Die
Frage, ob die als aktiv erlebten Handlungen in bestimmten funktionalen
Zusammenhängen mit anderen Ereignissen stehen, erscheint dann nämlich
zugleich als die Frage, ob dieses spontane Tun nicht "in Wirklichkeit"
ein erzwungenes ist. Erst die scharfe begriffliche Trennung der Kausalität
als objektiver Regelmäßigkeit von ihrer Verbildlichung durch bestimmte
Handlungs- und Erlebnisweisen vermag dieses Scheinproblem aufzulösen!.
Auch einen anderen Fall der Rückanwendung intentionaler Modelle hat
Gomperz als solchen erkannt, nämlich die Problematik des Verhältnisses
zwischen einer "teleologischen", also nach dem Muster unseres Zweck-
handelns aufgebauten "Weltordnung" und dem wirklichen Handeln und
Entscheiden der Menschen.
Ferner verdanken wir Heinrich Gomperz die bisher vollständigste
Aufdeckung der grundlegenden Bedeutung des intentionalen Vorstellungs-
apparates für das Denken der vorsokratischen Naturphilosophen. Knapp
vor seinem Tode hat er die Ergebnisse seiner Lebensarbeit auf diesem
Gebiete in dem mehrfach erwähnten Aufsatz "Problems and Methods
of Early Greek Science" zusammengefaßt. Sie in Buchform auszuarbeiten
war ihm nicht mehr vergönnt. Überhaupt finden sich in seinen Werken
zahlreiche Beobachtungen, die für das Verständnis unserer Problematik
ungemein wertvoll sind, aber noch nicht in systematischer Ordnung auf-
treten.
Parallel zu der eben skizzierten philosophisch-soziologischen Ent-
wicklung sind Einzelforschungen der verschiedensten kulturwissenschaft-
lichen Disziplinen Urgeschichte, Völkerkunde, Kunstgeschichte,
Philologie und allgemeine Geistesgeschichte - meist unabhängig von-
einander auf intentionale Modellvorstellungen und Denkformen gestoßen,
ohne jedoch in der Regel auf die weitverzweigten Zusammenhänge ein-
gehen zu können oder zu wollen.
So schließen sich heute die leitenden Gesichtspunkte und bisher
gewonnene Ergebnisse der Arbeit von Denkern und Forschern der ver-
schiedensten philosophischen Richtungen, wissenschaftlichen Fachgebiete
und nationalen Eigentümlichkeiten mehr und mehr zusammen. Die
grundlegende Wichtigkeit der intentionalen Analogien für den Aufbau
von werthaften Deutungen des Weltgeschehens wird immer deutlicher
erkennbar. Doch zugleich treten auch ihre Schwächen unabweislich hervor.
Nicht nur die Denkformen der modernen Wissenschaft haben sich von
jenen Gleichnissen gelöst, sondern auch die innere Problematik des ganzen
Apparates intentionaler Modellvorstellungen ist als solche zu durch-
schauen. Es zeigt sich, daß er gerade an den entscheidenden Stellen nur
nichtssagende Leerformeln und unauflösliche Widersprüche bietet.
Hier setzt nun die vorliegende Arbeit ein. Sie versucht, die einander
ergänzenden und bestätigenden Einsichten in die Struktur des inten-
tionalen Weltbildes wenigstens vorläufig zusammenzufassen und damit
einen ersten Überblick über Denkformen zu geben, die das menschliche
Geistesleben durch Jahrtausende entscheidend beeinflußt haben und
zum Teil noch heute wirksam sind. Die Fülle des historischen Materials,
mit der ein solches Vorhaben auch dann zu ringen hat, wenn es Voll-
ständigkeit nicht anstrebt und nicht anstreben kann, führt freilich dazu,
daß in der bisherigen Darstellung die eigentlich entscheidenden systemati-
schen Sachverhalte nicht immer mit der entsprechenden Prägnanz heraus-
gearbeitet sind. Es ist daher zweckmäßig, in einer streng systematischen
Zusammenfassung die wichtigsten strukturanalytischen Einsichten ideal-
typisch vereinfacht wiederzugeben. Dazu kommt eine weitere unerledigte
Aufgabe. Selbst wenn die kritische Analyse der intentionalen Weltauf-
fassung vom rein wissenschaftlichen Standpunkt unanfechtbar sein
sollte, ist damit die Frage nach den möglichen Folgen einer solchen
"Entzauberung" noch nicht einmal berührt. Noch heute ist das Gefühl
weit verbreitet, daß die konsequente Kritik an jenen Denkformen -
möge sie auch als Theorie richtig sein - den Menschen ihren inneren
Halt raube, sie seelisch verarmen lasse und sie aus der Geborgenheit der
kosmischen Ordnung in den Nihilismus der wertfreien Faktizität verstoße.
Zumal im deutschen Sprachgebiet sind solche und ähnliche Bedenken
zu erwarten. Ob sie nun berechtigt sind oder nicht, sie sind eine Tatsache,
mit der sich der weltanschauungsanalytisch und ideologiekritisch arbei-
tende Forscher auseinanderzusetzen hat.
tionale Leitbilder bevorzugt; nach ihrer Analogie hat man immer wieder
einzelne Erscheinungen ebenso wie das Weltganze zu verstehen gesucht.
Die Grenzen sind hier - wie meist im Mythos - fließend. Beispielsweise
können Sozialverbände, die auf Verwandtschaftsbeziehungen beruhen,
zugleich als intentionale und als biomorphe Modelle fungieren.
Indem der Mensch wichtige Inhalte seiner unmittelbaren Erfahrung
und Umgebung auf diese Weise in das Universum projiziert, bildet er
die Vorstellung eines "Makrokosmos", der quantitativ unvergleichlich
größer und gewaltiger, qualitativ aber gleich oder ganz ähnlich geartet
ist wie der vertraute Lebensbereich, der gegenüber seinem vergrößerten
Spiegelbild zum bloßen "Mikrokosmos" zusammenschrumpft. Die Be-
ziehungen zwischen diesen beiden Welten hat man sich verschieden vor-
gestellt. Manchmal bestehen verwandtschaftliche Bande, manchmal bloß
sympathetische Entsprechungen zwischen "oben" und "unten"; bald
haben die Himmelskörper Zwangsgewalt über die Erdenschicksale, bald
zeigen sie diese nur an. Im allgemeinen ist aber die "große Welt" die vor-
bildliche, ursprüngliche und überlegene. Die Lebenskraft des Individuums
oder der Sippe ist nur ein Ausfluß der universellen; der irdische König
ist bloß ein Sprößling, Abbild oder Beauftragter des Himmelsherrn, aus
dessen Macbtfülle sich sein Herrschertum ableitet; der menschliche Staat
ist nichts anderes als eine Wiedergabe des kosmischen und muß in diesen
eingebaut oder ihm nachgeformt werden; das Haus, der Tempel oder die
Stadt sollen dem Weltgebäude, die Kleidung und Rüstung des Macht-
habers dem Himmelsmantel entsprechen. So wird der intentional oder
biomorph gedeutete K08mo8 auf 8ein Urbild, das menschliche Leben, Wollen
und Handeln rückbezogen und ihm übergeordnet.
Diese Weltauffassung, die man nach einer ihrer wichtigsten Formen
die sozio·kosmische nennen kann, hat verschiedene Funktionen ausgeübt,
welche sich allerdings erst im Laufe der Zeit deutlich voneinander abge-
hoben haben. Ihre eindrucksvollste und inhaltlich reichste Ausprägung
trägt einen vorwiegend empirisch·pragmati8chen Charakter. Sie bietet in
ihrer Art nicht weniger als eine vollständige Welterklärung, nämlich ein
Gefüge von Zusammenhängen erfahrbarer Daten, besonders solcher, die
für den Menschen wichtig sind. Oft sind dies Zusammenhänge von Hand-
lungen und Handlungsfolgen. In diesem Falle können sie bestimmte
Verhaltensregeln - hypothetische Imperative - begründen. Beispiels-
weise muß der Hieros Gamos regelmäßig rituell nachvollzogen werden,
um die Fruchtbarkeit des Landes zu sichern, und der rechtmäßige Häupt-
ling oder König ist zu respektieren, denn nur er vermag den Wesen in
seinem Machtbereich die kosmische Lebenskraft zu vermitteln. Die
Beobachtung der sozialen und sakralen Ordnung ist zur Aufrechterhaltung
des regelmäßigen Laufes der Natur notwendig, denn jede Störung im
Mikrokosmos zieht eine entsprechende Anomalie im Makrokosmos nach
sich; Naturkatastrophen sind Strafen oder Folgen von menschlichen
Verfehlungen, und die Elemente beruhigen sich erst, wenn Recht und
Sitte wiederhergestellt sind. Auch die Einfügung in den Aufbau des
Universums, wie sie etwa durch die "kosmologische" Anlage von Bau-
282 Ergebnisse und Folgerungen
keinen magischen Einfluß hat. Die Idee der "Einfügung in die kos-
mische Ordnung", des naturae convenienter vivere, der imitatio mundi
etc. ist damit ihrer wesentlichsten Voraussetzung und ihres konkreten
Gehaltes beraubt. Hypothetische Imperative, welche die Erreichung
bestimmter Handlungserfolge versprechen, vermag der sozio-Imsmische
Mythos in dieser Gestalt nicht mehr zu geben, sondern nur kategori8che
Forderungen, etwa des Wortlautes, daß die Staatsordnung in die Welt-
ordnung eingefügt werden oder daß man die "naturgegebenen" Rechts-
prinzipien beachten soll. Doch derartige Formeln haben als solche keinen
normativen Gehalt, sie sagen - zum Unterschied von den mythischen
Kosmosritualen - nichts darüber aus, was man nun wirklich tun oder
lassen muß, um sich in die Harmonie des Universums einzufügen.
So entzieht zwar das Ausweichen in den moralisch-rechtlichen und
politischen Bereich die betreffenden Formen der intentionalen Welt-
auffassung tatsächlich der Falsifizierbarkeit durch die Erfahrung und
verfährt auch insofern korrekt, als es keine empirisch leeren Sätze für
sachhaltige Behauptungen ausgibt. Wenn aber bei diesem Verfahren auch
keine pseudo-empirischen Leerformeln resultieren, so ergibt es doch nicht
mehr als pseudo-normative Leerformeln, also Ausdrücke, die einen Norm-
gehalt vorspiegeln, ohne ihn wirklich zu besitzen. Doch derartige Formeln
können, solange sie nicht durchschaut sind, eine erhebliche ,Virkung
auf das menschliche Motivationsbewußtsein ausüben. Der Glaube, daß
bestimmte Normen in einer über aller empirischen Gesetzgebung stehenden
"Naturrechtsordnung" verankert sind, hat die Menschen oft veranlaßt,
sich ihnen bereitwillig zu unterwerfen oder sie anderen Handlungs-
anweisungen vorzuziehen. Wegen dieser psychologischen Wirkung haben
sich weltanschauliche und politische Führungsmächte immer wieder der
naturrechtlichen Leerformeln bedient, indem sie sie mit ihren jeweiligen
Rechtsidealen erfüllten und diesen dadurch den Schein einer höheren
Legitimation verliehen.
Doch kann die intentionale Weltauffassung auch in einer Form ent-
wickelt werden, die weder Behauptungen über Erfahrungstatsachen noch
Normen für ein tätiges Eingreifen in diese aufstellt. Sie wendet sich nicht
an unser Wissen, auch nicht an unser Wollen und Handeln, sondern nur
an unser Werten; sie will die Welt nicht erklären und nicht verändern,
sondern verklären. Ihr geht es vor allem um unsere werthaft-gefühlsmäßige
Einstellung zu dem, was wir durch unser Tun nicht beeinflussen können.
So zielt also auch sie letztlich auf einen psychologischen Effekt, doch ist
sie nur aus der Haltung eines Menschen vollziehbar, der sich rein betrach-
tend mit den Dingen versöhnen, sich in die Harmonie, Schönheit und
Göttlichkeit des Universums versenken will oder wenigstens seinen Frieden
mit dem Unabänderlichen machen möchte. So ist diese Sonderform der
Kosmosidee mit Vorliebe für die "Tröstungen der Philosophie"! heran-
1 Es ist bezeichnend, daß eines der eindrllckvollsten Beispiele betrach-
tenden Lobpreises des Kosmos bzw. seines göttlichen Beherrschers genau
in der Mitte des dritten Buches und damit der ganzen "Consolatio" des
BOETHIus steht. .
Ergebnisse und Folgerungen 285
Doch sollen hier jene Fragen außer Betracht bleiben, die bloß daraus
resultieren, daß die verschiedenen Analogien nicht zu den Sachverhalten
passen, auf die sie angewendet werden. Vielmehr beschränkt und konzen-
triert sich die Untersuchung auf die Probleme oder Scheinprobleme, die
sich aus der Rückbezüglichkeit der intentionalen Weltauffassung ergeben.
Je nach der Art, in der die intentionale Weltdeutung ausgebildet ist,
nimmt diese Rückbeziehuug verschiedene Formen an. Manchmal be-
schränkt man sich darauf, über der Erfahrungswirklichkeit eine wert-
rationale, angeblich "wahre" oder "höhere" Wirklichkeit aufzubauen,
sich kontemplativ in diese zu versenken und dabei das Glück zu finden,
welches das Diesseits versagt. Doch handelt es sich in diesem verhältnis-
mäßig unproblematischen Falle höchstens um den Ansatz einer
Reflexivität.
Eine echte Rückbeziehung ist es jedoch, wenn aus dem "Weltgesetz"
oder den "normativen Urbildern der Dinge" Anweisungen für menschliches
VerhaUen abgeleitet werden, wenn man etwa fordert, daß das positive
Recht nach den in der "Natur" des Alls oder des Menschen vorgegebenen
Normen gestaltet werden solle. Diese Form der Rückbeziehung bietet
eine Reihe bedeutsamer Probleme im Zusammenhang mit der Begründung,
dem Inhalt und der sozialen Funktion der Sätze jener "natürlichen"
Rechtsordnung oder Sittlichkeit. Sie läßt aber die grundlegenden Vor-
aussetzungen aller Wertung und N ormgebung unberührt, nämlich den
Gegensatz von Wert und Unwert, Normgerechtem und Normwidrigem
und die "Freiheit" des Menschen in dem schlicht alltäglichen Sinne,
daß er die an ihn gerichteten Vorschriften befolgen oder verletzen kann.
Diese Voraussetzungen sind jedoch dort beseitigt, wo in folgerichtiger
Durchführung der intentionalen Weltauffassung angenommen wird, daß
alles Sein und Geschehen durch den planenden Willen eines einzigen Welt-
prinzips bestimmt und verursacht ist und dieses Prinzip zugleich den
Inbegriff alles Werthaften darstellt. Ist das schlechthin Wertvolle auch das
schlechthin Mächtige und der einzige Ursprung allen Daseins, so ist alles
Seiende gut und es fehlt jede rationale Grundlage für ein Vorziehen oder
Ergebnisse und Folgerungen 289
Topitsch, Metaphysik. 19
290 Ergebnisse und Folgerungen
lediglich Leerformeln, die gar keine Aussage über das Gute und Gesollte
enthalten.
Die normative Rückanwendung der intentionalen Analogien setzt
nämlich auf jeden Fall voraus, daß vermittels der soziomorphen und
technomorphen Modelle den Dingen gewisse Wertbedeutungen unterlegt
werden, die man dann wieder aus ihnen herauslesen kann. Wenn man etwa
die Regelmäßigkeiten der Gestimbahnen oder des Gezeitenwechsels als
Indizien für das Bestehen einer moralisch-rechtlichen Ordnung im Uni-
versum und als Ausdruck der Gerechtigkeit und Pflichterfüllung auffaßt,
so hat man ihnen damit bereits einen spezifisch ethisch.juristischen Wert-
charakter zugeschrieben, den sie als rein physikalische Geschehensabläufe
nicht besitzen. Erst vermöge dieser soziomorphen Interpretation kann
man die makrokosmischen Gleichförmigkeiten dem menschlichen Gemein-
schaftsleben als Norm und Vorbild gegenüberstellen und überordnen,
indem man beispielsweise fordert, die irdische Polis solle der himmlischen
nachgebildet werden oder der Mensch solle den nnwandelbaren Lauf der
Sterne als Muster der Charakterfestigkeit und Pflichttreue betrachten.
Nun ist es entweder möglich, derartige Forderungen in einer ganz vagen
und allgemeinen Form aufzustellen, oder ihnen bestimmte Inhalte zu
verleihen, die gleichfalls vorher in die "Natur" hineingelesen werden
müssen. Natürlich läßt sich auf diese Weise jedes moralisch-politische
Ideal mit dem Schein einer höheren Rechtfertigung versehen. Der gleiche
Zirkelschluß liegt auch dort vor, wo letztgültige Richtlinien für den
Aufbau des Staates aus dem Aufbau der Natur des menschlichen Indivi-
duums gewonnen werden sollen. Wie besonders bei Platon deutlich zu
erkennen ist, wird in diesem Falle nach der Analogie eines vorher erdachten
Idealstaates eine ebenso strukturierte "Menschennatur" entworfen, die
dann ihrerseits das bereits vorausgesetzte Staatsideal als das der wahren
Menschennatur entsprechende ausweisen muß. Man überträgt also gesell-
schaftliche Modellvorstellungen und Wertungen hier nicht auf das Uni-
versum, sondern auf das Individuum und rücküberträgt sie von diesem
mit normativem Anspruch auf die Sozialordnung.
Ähnlich liegen die Dinge bei jenen ethisch-politischen Theorien, die
sich auf technomorphe Leitbilder stützen. Auch hier geht die Argumen-
tation davon aus, daß gewissen Naturvorgängen mit Hilfe der Handlungs-
analogien eine Wertbedeutung zugeschrieben wird, die man dann wieder -
zumindest indirekt - auf das Handeln rückbezieht. So gilt der organische
Werdeprozeß als Verwirklichung eines vorbildlichen Werkplanes und
damit als Erreichung eines objektiv wertvollen Zweckes. Diese Gesichts-
punkte werden auch auf den Menschen angewendet, nur daß bei ihm
nicht bloß die volle physische Entwicklung, sondern auch die moralisch-
charakterliche Tüchtigkeit in dem "Plan der Natur", der Normgestalt
im weitesten Siune, inbegriffen ist. Diese wesentliche Erweiterung des
Verwendungsbereiches der Vorstellung eines normativen Urbildes stößt
aber auf eine entscheidende Schwierigkeit. Die Entwicklungsvorgänge
der Lebewesen sind beobachtbare Prozesse, die unter normalen Bedin-
gungen mit großer Regelmäßigkeit zu einem feststehenden Ergebnis
Ergebnisse und Folgerungen 291
führen. Dadurch ist ein objektiver Sachverhalt gegeben, den man mit
Hilfe von Analogien aus dem Kunstwerden umschreiben und werthaft
deuten kann. Doch ein solcher Sachverhalt fehlt auf moralischem Gebiet,
und selbst wenn es eine vergleichbare Regelmäßigkeit menschlichen
HandeIns gäbe, so würde aus ihrer Faktizität nichts über ihre ethische
Richtigkeit folgen. Daher entbehrt die Vorstellung, daß die Maßstäbe
sittlicher Vollkommenheit und überhaupt die Prinzipien der Moral als
"objektive Zwecke" gewissermaßen im Entwurf des menschlichen Wesens
enthalten sind, jeder Begründung und jedes angebbaren Gehaltes. Die
auf ihr aufgebauten Überlegungen können daher nur leere Formeln ergeben,
die man je nach Belieben und Zweckmäßigkeit mit irgendwelchen Wert-
gehalten erfüllen oder auch .leer lassen mag. Das gleiche gilt für die
platonische Variante der Moralbegründung mittels urbildlicher Norm-
gestalten, die irrtümlich mit den Allgemeinbegriffen vermengt werden.
Die Begriffe sind nämlich nur insofern auf die Erfahrungswelt anwendbar,
als diese gewisse Gleichförmigkeiten zeigt, welche die Klassenbildung
ermöglichen. Vor allem aber sind sie wertneutral, sie umfassen Wertvolles
und Wertwidriges in gleicher Weise. Setzt man die Idee mit dem Allgemein-
begriff gleich, so bleibt sie also an bereits vorhandene Invarianzen gebunden
und besitzt keinen Wertgehalt. Sie vermag also nieht normierend zu
wirken. Sie vermag dies auch dann nicht, wenn man sie als einheitlichen
"Werkplan" gleichartiger Gegenstände auffaßt, denn auch in diesem
Falle müßte es gleicherweise Ideen von positiv und negativ zu Bewertendem
geben. Will man aber nur das Wertvolle in das Ideenreich aufnehmen, so
setzt man bei dessen Konstituierung bereits den Wertmaßstab voraus,
den die Ideen garantieren sollen. Damit gerät man abermals in eine zirkel-
hafte Scheinbegründung jeweils schon vorgegebener Werte und Normen.
Man mag es als eigenartig empfinden, daß die normativ rückange-
wandten Formen der intentionalen Weltauffassung im Gegensatz zu den
gar nicht in die Philosophie aufgenommenen empirisch-pragmatischen
Formen eine äußerst nachhaltige Wirkung erzielen konnten. Argumen-
tationen solcher Art haben schon bei den Vorsokratikern, besonders aber
seit Platon, Aristoteles und der Stoa die ethisch-politische Theorie maß-
geblich beeinflußt und beeinflussen sie teilweise heute noch. Wer überdies
bedenkt, daß die Fehlschlüsse, auf denen diese Lehren beruhen, ohne
besondere Schwierigkeiten zu entdecken sind, wird von dem weltgeschicht-
lichen Erfolg derartiger Doktrinen geradezu befremdet sein.
Doch gerade diejenigen Eigenschaften der Naturrechtslehren, die vom
wissenschaftstheoretischen Standpunkt ihre entscheidende Schwäche aus-
machen, sind die Grundlagen ihres außerordentlichen Erfolges. Wohl ist
der Anspruch jener Konstruktionen, wahre und unverrückbare, über
allem positiven Gesetz stehende Werte und Normen zu begründen,
völlig unhaltbar, da sie bloß leere Formeln darstellen, die mit beliebigen
werthaft-normativen Inhalten erfüllt werden können. Solange dies jedoch
noch nicht bekannt ist, vermögen sie die Überzeugung zu erwecken, daß
bestimmten - eben den im Namen des "Naturrechtes" verkündeten -
moralischen oder politischen Idealen und Programmen der absolute
19*
292 Ergebnisse und Folgerungen
ist, und er gibt und erhält Anweisungen für solche Entscheidungen. Das
Hantieren mit Sachen und der Umgang mit den Mitmenschen wird auf
diese Weise durch ein Netz von Normen geregelt, über deren Einhaltung
die Gemeinschaft wacht und deren Verletzung sie moralisch oder rechtlich
verurteilt. Alles das dient letztlich dem Zweck, die Tatsachen der Welt,
sofern sie gestaltbar sind, nach vorgegebenen Wertungen zu gestalten.
Grundsätzlich anders gelagert ist die Situation dort, wo der Lauf
der Dinge durch menschliches Handeln nicht beeinflußt werden kann.
Hier lassen sich wertwidrige Tatsachen nicht beseitigen, sondern stellen
den Menschen vor die Alternative, entweder an seinen Wertungen fest-
zuhalten und ohnmächtig gegen das Unabänderliche aufzubegehren oder
sich durch Anpassung der Wertgrundsätze mit den Fakten zu versöhnen
und sich dadurch seelische Belastungen zu ersparen oder wenigstens zu
erleichtern. Gerade eine solche innere Entlastung hat man immer wieder
bei der Philosophie gesucht und auch gefunden. Ein großer Teil der
metaphysischen Spekulation dient vornehmlich diesem Zweck. Das
Erlebnis der eigenen Ohnmacht und Erfolglosigkeit und das Streben,
dieses Erlebnis seelisch zu verarbeiten und ihm seinen Stachel zu nehmen,
haben stets zu den hauptsächlichen Triebkräften des Philosophierens
gehört, während der Tatmensch, der seine Lebenserfüllung in der aktiven
Weltgestaltung erstrebt und im Erfolge erreicht, meist weder Zeit noch
Anlaß zu philosophischen Reflexionen findet. Wir haben es also letztlich
mit zwei Situationen und Haltungen zu tun, deren Voraussetzungen und
Ziele einander ausschließen.
Beide Grundhaltungen können als Basis weltanschaulicher Konstruk-
tionen dienen, die eine gewisse innere Folgerichtigkeit besitzen und auch
im Leben durchführbar sind - freilich nur im Rahmen ihrer Voraus-
setzungen. Wer handeln kann und will, der wird die Erfahrungswirklich-
keit ernst nehmen, denn in ihrer Gestaltung und der Überwindung ihrer
Widerstände sieht er seine Leistung und Bewährung. Er wird einer
Theorie anhängen, welche die Wertgrundsätze stärkt und bestätigt,
nach denen er die Dinge formen will. Selbst wenn er sich einer Zwei-
weltenlehre anschließt, ist ihm die ideelle Überwelt nicht Zufluchtsstätte,
sondern Inbegriff von Handlungsnormen, von Anweisungen für diesseitige
Wirksamkeit. Diese aktive, ethisch-politische Haltung kann allerdings
nur dort zur Entfaltung gelangen, wo ein tätiges Gestalten der Welt
möglich ist. Will man angesichts unüberwindlicher Widerstände an einer
solchen Gesinnung festhalten, so bietet sie keinen Trost, sondern man
muß das Wertwidrige als brutales, übermächtiges Faktum hinnehmen,
sei es in heroischem Trotz, sei es in nüchterner, illusionsloser Gelassenheit.
Doch so hart es vom psychologischen oder menschlichen Standpunkt
sein mag, die der Situation des HandeIns angemessene und aus ihr ent-
sprungene Weltauffassung auch dort aufrechtzuerhalten, wo es kein
Handeln mehr gibt, so führt dieser Versuch wenigstens zu keinen grund-
sätzlichen gedanklichen Schwierigkeiten.
Zu viel ernsteren, auch für die Entwicklung der Philosophie hoch-
bedeutsamen Fragestellungen kann jedoch jene andere Haltung Anlaß
Ergebnisse und Folgerungen 297
Topitsch, Metaphysik. 20
306 Ergebnisse und Folgerungen
Damit ist die Behandlung des Aufbaues und der inneren Problematik
der intentionalen Weltauffassung abgeschlossen. Es bleiben nur noch
wenige Worte über jene Haltung und Lehre zu sagen, die durch Jahr-
tausende die Gegenspielerin aller intentionalen Kosmosspekulation
gewesen ist. Diese will nicht die Welt als gegliederte Vielheit erkennen,
erklären oder verklären, sie will auch keine Anweisungen für innerwelt-
liches Handeln geben. Vielmehr erstrebt sie - meist auf Grund einer
radikal negativen Bewertung der empirischen Lebenswirklichkeit - nach
der Erhebung über diese durch das Heilserlebnis einer unmittelbaren
Vereinigung der Seele mit dem Urgrund allen Seins. Als praktische
Mystik ist eine solche Heilssuche mit allem begrifflichen Denken schlecht-
hin unvergleichbar. Wo sie aber als philosophische Theorie auftritt, muß
sie sich mit dem Denken auseinandersetzen und gerät dabei in prinzipielle
Schwierigkeiten. Sie beruht nämlich auf einem Wertaxiom der Voll-
kommenheit, nach welchem dem numinosen Etwas alle wertwidrigen
Eigenschaften und in weiterer Folge alle Prädikate abgesprochen werden,
da es über alle befleckenden Beziehungen zur Erfahrungswelt, ja über
alle Vergleichbarkeit mit dieser erhaben und von jeder Beschränkung
durch begriffliche Bestimmungen frei sein muß. Die konsequente Durch-
führung dieser Wertgesichtspunkte würde implizieren, daß die höchste
Wesenheit sich weder vorstellen noch in einen gedanklichen Zusammen-
hang einordnen läßt, nichts für die Welterklärung leistet - wenn sie
absolut beziehungslos ist, kann sie auch nicht als Weltgrund fungieren -
und infolge ihrer völligen Gegenstandslosigkeit das menschliche Gefühl
nicht anspricht, mit anderen Worten, daß sie für uns intellektuell und
emotional bedeutungslos wird. Es zeigt sich also, daß die vermeintlich
höchste Wertsteigerung recht eigentlich mit den Voraussetzungen des
Wertens und weiterhin des Erkennens in Widerspruch gerät. Man wollte
aber dennoch werten und erkennen, über jenes "Eine" nachdenken, aus
ihm die Welt ableiten und die Begegnung mit ihm als ekstatisches Erlebnis
genießen. So sah man sich vor der Alternative, entweder strikt an der
indifferenten Funktions- und Prädikatlosigkeit festzuhalten oder dem
"Weltgrund" doch irgendwelche Eigenschaften und Funktionen zuzu-
schreiben. Oft hat man beide Möglichkeiten miteinander zu vereinen
gesucht, obwohl sie auf Grund ihrer Voraussetzungen unvereinbar sind,
und ist dadurch in ein Dickicht von Problemen oder richtiger Schein-
problemen geraten. Das "Eine" durfte nicht denken, aber das Denken
mußte aus ihm entspringen, es durfte nicht handeln, aber es sollte Ursache
der Welt sein, es durfte keine Form besitzen, denn jede Form wäre eine
Begrenzung, aber gleichzeitig galt das Formlose als das schlechthin
Minderwertige. Im Ringen mit diesen Widersprüchen ist man auf eigen-
artige Wege abgedrängt worden. Wenn jedes planende Wollen und Handeln
308 Ergebnisse uud Folgerungen
Sind die Ergebnisse unserer Untersuchung richtig, dann ist der Wahr-
heitsanspruch der intentionalen Weltauffassung ebenso unhaltbar wie
jener der Lehre vom eigenschafts- und funktionslosen Urgrund. Aber auch
wenn die Richtigkeit der hier durchgeführten Analysen unanfechtbar
sein sollte, so kann doch noch die Frage nach den weltanschaulich-
psychologischen Folgen dieser Einsichten erhoben werden. Besonders
heute ist ja wieder die Meinung verbreitet, daß die Preisgabe jener Denk-
formen schwerwiegende Auswirkungen auf das menschliche Lebensgefühl
habe und uns in die tiefste innere Unsicherheit stürze.
Wohl ist und bleibt die Ermittlung der Wahrheit die erste und vor-
nehmste Aufgabe des Forschers, doch sind derartige Bedenken nicht
kurzerhand abzuweisen. Da die Welt eben kein wertrationaler Kosmos
ist, in welchem das Wahre zugleich immer das Gute und Schöne sein
muß, ist mit der Möglichkeit zu rechnen, daß es Erkemltnisse gibt, die
entweder selbst oder deren Folgen von bestimmten Wertstandpunkten
als höchst unerwünscht und nachteilig erscheinen. Dennoch darf man sich
von den heute üblichen Klagen und Anklagen, das moderne Denken habe
durch die Zerstörung traditioneller Weltanschauungsformen den Menschen
seiner Heimat im Universum beraubt und ihn ins Nichts hinausgestoßen,
keineswegs über Gebühr beeindrucken lassen. Auch hier ist eine nüchterne
Beurteilung der Sachlage notwendig.
Freilich ist eine solche nicht ganz einfach. Während die Geschichte
und der innere Aufbau einer Lehre der Forschung verhältnismäßig leicht
zugänglich sind, kann man ihre psychologischen Effekte nicht immer
mit der gleichen Sicherheit erfassen. Am allerschwierigsten sind aber
Vorhersagen über die seelischen Reaktionen, welche die Veränderung
oder Auflösung einer Weltanschauungsform hervorrufen wird. Dennoch
lassen sich auch darüber begründete Hypothesen aufstellen. Solche
Annahmen müssen von der Tatsache ausgehen, daß die intentionale
Weltauffassung .auf das menschliche Situations- und Motivationsbewußt-
sein ganz spezifische Wirkungen ausübt, wie es sich im Laufe dieser
Untersuchung immer wieder gezeigt hat. Dazu kommen die Erfahrungen aus
dem bisherigen Verlauf des AufIösungsprozesses jener Weltauffassung und
allgemeine psychologische und zumal sozialpsychologische Gesichtspunkte.
310 Ergebnisse und Folgerungen
ihres Bestehens für seine Zwecke in Anspruch nehmen, der sich ihrer
bedienen wollte.
Noch größer ist der motivierende Einfluß, den jene Doktrinen ausüben,
die nicht nur die absolute Gerechtigkeit oder Richtigkeit irgendeines
Gesellschaftsideales behaupten, sondern auch seinen Endsieg als provi-
dentielles Ziel der Geschichte hinstellen, denn diese vermeintliche Erfolgs-
garantie vermindert oder beseitigt die Furcht vor eventuellen Risken.
Eine solche Verbindung von absoluten Direktiven und Garantien ist nicht
selten imstande, einen Glauben an eine "historische Sendung" zu erwecken,
der sich souverän über alle sittlichen Bedenken hinwegsetzt; die "Träger
der. geschichtlichen Notwendigkeit" stehen als Geschäftsführer einer
höheren Macht über dem gewöhnlichen Moralkodex, der von ihrem Stand-
punkt als Inbegriff der Vorurteile eines geschichtsblinden Alltagsmenschen-
tums erscheint. Die Bedenkenlosigkeit, mit welcher die von jenem Glauben
durchdrungenen Gruppen vorzugehen pflegen, hat ihnen manchmal
große Erfolge gebracht, aber nicht selten auch zu ihrem schließlichen
Scheitern geführt. Doch selbst eklatante Niederlagen vermeintlicher
"Werkzeuge der Vorsehung" haben diesen Denkformen als solchen wenig
geschadet, denn sie standen infolge ihrer Leerheit auch dem jeweiligen
Sieger zur Verfügung.
Wird der wahre Charakter und damit die sachliche Unhaltbarkeit der
intentionalen Denkformen bewußt gemacht, so werden sie psychologisch
unwirksam und damit auch politisch-pragmatisch unbrauchbar. Die
Erkenntnis, daß es ein über den verschiedenen Rechtsidealen und positiven
Rechtsordnungen stehendes Normensystem nicht gibt, zerstört die Moti-
vationskraft der Naturrechtsidee. Der Abbau des Glaubens' an eine
"Naturrechtsordnung", ein "Weltgesetz" oder einen "Plan der Ge-
schichte" und der Nachweis, daß es sich hier meist um Leerformeln oder
Zirkelschlüsse handelt, nimmt dem Sieger die Möglichkeit, den eigenen
Erfolg als "Verwirklichung der wahren Gerechtigkeit" oder als "Erfüllung
einer geschichtlichen Sendung" zu verklären. Andererseits muß der
Unterlegene auf die Genugtuung eines moralischen Triumphes über seinen
Überwinder verzichten, dessen Forderungen er nicht mehr zum "bloßen
Machtgebot" abwerten kann, indem er sie an den "ewigen Gesetzen"
mißt - welch letztere ihm natürlich nur dann diesen Dienst erweisen
können, wenn sie ideologische Rationalisierungen seiner eigenen Lebens-
ansprüche sind. Dem Trostbedürftigen ist es nunmehr versagt, sich
damit zu beruhigen, daß über dem geschichtlichen Strom der sich
wandelnden menschlichen Wertungen die Sterne unveränderlicher Prin-
zipien leuchten, und den Politikern oder weltanschaulichen Führungs-
instanzen dürften Formulierungen wenig helfen, deren Leerheit allgemein
bekannt ist.
Es ist begreiflich, daß in einer so unruhigen Zeit wie der unseren
niemand auf jene psychologischen Entlastungs- und Verstärkerwirkungen
verzichten möchte. Die Führer der einander bekämpfenden Gruppen
wollen sich selbst und besonders ihre Anhänger mit fanatischem Glauben
an ihre Weltanschauung und den Endsieg erfüllen, während die Leid-
312 Ergebnisse und Folgerungen
tragenden der Kämpfe nach irgendeinem Heilen und Festen inmitten des
ständigen Wandels suchen. Doch das Bedürfnis nach sozialer Ideologie
und persönlichem Herzenstrost, das stets in höherem oder geringerem
Grade vorhanden war, hat den Auflösungsprozeß der intentionalen Welt·
auffassung bisher zwar erheblich verzögert, aber nicht verhindert, und es
ist kaum anzunehmen, daß es ihre heute noch wirksamen Restbestände
dauernd wird konservieren können.
Die Erfahrungen aus diesem schon lange andauernden und weit fort·
geschrittenen Auflösungsprozeß rechtfertigen auch kaum die meist stark
dramatisierte Angst vor dem endgültigen Verschwinden der intentionalen
Weltdeutung. Der größte Teil jener Vorstellungen hat bereits heute jede
psychologische Motivationswirkung auf uns verloren, sondern vermag
höchstens eine gewisse Sympathie des historischen Verständnisses zu
erwecken. Die Symbolik und das Zeremoniell des kosmischen Herrscher.
turns, welche frühere Geschlechter vor Ehrfurcht erschauern ließen, sind
für den Menschen der Gegenwart allenfalls ästhetische Erlebnisse, aber
nicht mehr. Der König im "Weltenmantel" ist nur noch im Märchen, auf
der Bühne und im Museum möglich. Doch auch viele andere Ideen, die
einstmals eine starke Motivationskraft besaßen, sind aus dem Bereich
der politischen Ernstsituationen in den der Kunst und der Historie
abgedrängt worden!, ohne daß sich daraus gefährliche Folgen ergeben
hätten.
Es ist daher nicht sehr wahrscheinlich, daß ein endgültiges Ver.
schwinden der intentionalen Weltauffassung zu so weittragenden Konse-
quenzen führen würde, wie dies von vielen Seiten behauptet wird. Man
darf nicht vergessen, daß jene Denkformen nie von sich aus wertschaffend
gewirkt haben, sondern nur imstande sind, jeweils schon vorgegebenen
Wertungen erhöhte Autorität zu verleihen. Diese primären Wertungen
entspringen ganz anderen Quellen, nämlich meist einfachen mensch-
lichen Lebensnotwendigkeiten und Lebensansprüchen, die von allen
ideologischen Verkleidungen und Verklärungen unabhängig sind. Sie
werden weiterbestehen und weitenvirken, mag nun die intentionale
Weltauffassung erhalten bleiben oder endgültig zusammenbrechen.
Darum sollte man dem Fortgang des Auflösungsprozesses jener V or-
stellungswelt keine allzu große praktische Bedeutung beimessen und sich
vor übertriebenen Befürchtungen - wie sie heute üblich sind - oder
Hoffnungen - wie sie ein unkritischer Intellektualismus hegen könnte -
gleicherweise hüten. So steht auch der weltanschauungsanalytischen und
ideologiekritischen Forschung in der Einschätzung ihrer eigenen Tragweite
eine gewisse Zurückhaltung an. Sie ist weder Wegbereiterin des Nichts,
noch darf sie sich in der Rolle einer Bringerin des Heils gefallen, sondern
sie kann sich nur als ein Bemühen um Erkenntnis verstehen, das wie alles
menschliche Streben in einen wertirrationalen Weltlauf hineingestellt
bleibt.
Topitsch, Metaphysik