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Vom Ursprung und Ende

der Metaphysik
Eine Studie zur Weltansmauungskritik

Von

Ernst Topitsm
Professor an der Universität Wien

Springer-Verlag Wien GmbH


1958
Alle Rechte, insbesondere das der übersetl'iung
in fremdc Sprachen, vorbehalten
Ohne ausdrüokliohe Genebmigung de~ Verlages
ist es auch nioht gestattet, dieses Buoh oder Teile daraus
auf photomeohanisohem Wege (Photokopie, ~nkrokopie)
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© by Spirnger-Verlag Wien 1958
Ursprünglich erschienen bei Springer-Verlog in Vienna 1958
Softcover reprint ofthe hardcover 1st edition 1958
ISBN 978-3-662-22810-4 ISBN 978-3-662-24743-3 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-662-24743-3
Vorwort
Die vorliegende Arbeit ist aus Studien übel' das Problem des Natur-
rechtes entstanden, in deren Verlauf sich immer deutlicher hera~sgestellt
hat, daß dieses Problem nur einen Teilaspekt universell verbreiteter
und das vor- und außerphilosophische Denken ebenso wie die sogenannte
traditionelle Philosophie zumindest maßgeblich mitbestimmender Formen
der Weltauffassung darstellt. Der Fortgang _~ieser Untersuchungen hat
in einer Reihe von Aufsätzen seinen Niederschlag gefUhden, die seit 1950
erschienen sind und auf die hier fallweise zurückgegriffen wird. Während
eines Studienaufenthaltes an der Harvard-University (1953/54) ist der Plan
des Buches endgültig ausgereift, doch verzögerte sich der Abschluß
des Manuskriptes infolge anderweitiger beruflicher Inanspruchnahme bis
zum Beginn dieses Jahres.
Dem Verfasser ist bewußt, daß der Ausdruck "Metaphysik" äußerst
vieldeutig ist, so daß vielleicht mancher Leser hier nicht das behandelt
finden wird, was er unter Metaphysik versteht. Doch beziehen sich die
folgenden Untersuchungen zweifellos auf Doktrinen, die nach einem sehr
verbreiteten Sprachgebrauch als metaphysisch bezeichnet werden wld
die in der traditionellen Philosophie eine hervorragende Rolle gespielt
haben bzw. heute noch spielen.
Schließlich möchte ich allen jenen danken, die mir durch Rat und
Hilfe die Arbeit erleichtert haben: der Rockefeller-Foundation für die
Gewährung eines Stipendiums, das mir die Benützung der reichen For-
schungsmittel in Harvard ermöglicht hat; dem Institute for the Unity
of Science bzw. dessen Leiter Prof. Dr. PR. FRANK für das freundliche
Interesse an meinem Vorhaben; Prof. Dr. V. KRAFT und Dr. H. NEIDER
für die Lektüre des Manuskriptes und wertvolle Ergänzungen oder kriti-
sche Hinweise; Prof. Dr. J. MEWALDT für das Mitlesen der Korrektur-
fahnen; nicht zuletzt aber dem Angestellten der Wiener Universitäts-
bibliothek Herrn K. KRAUS, der mir bei der Beschaffung der umfang-
reichen Literatur stets behilflich war.

Wien, im Herbst 1957. Ernst Topitsch


Inhaltsverzeichnis
Seito
Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . 1
Grundformen des Denkens im Mythos. . . 5
Entfaltung und Verfall der Hoohmythologie 33
Der Kosmos der Philosophie . . . . 95
Tradition, Ideologie und Wissensohaft 221
Ergehnisse und Folgerungen 280
Literaturverzeichnis 314
Namenverzeichnis . . . . 317
Einleitung
Weltanschauungskritik ist heute unpopulär. Doch die Entwicklung
wissenschaftlicher Sachprobleme folgt anderen Gesetzen als der Wechsel
der Zeitstimmungen und gerade dort, wo sich diese Stimmungen zur
geistigen Uniformität verdichten wollen, ist es am notwendigsten, ihnen
entgegenzutreten.
Das im deutschen Geistesleben seit dem Beginn unseres Jahrhunderts
fühlbare und seit dem ersten Weltkrieg mächtig gewordene Begehren
nach weltanschaulicher Verkündigung hat nicht nur allgemein den Willen
zur kritischen Verantwortlichkeit des Denkens geschwächt, sondern auch
speziell die wissenschaftliche Analyse der Herkunft, Struktur und Wirk-
samkeit sogenannter Weltanschauungen zurückgedrängt. Daran haben
die ideologiekritischen Bemühungen der zwanziger und frühen dreißiger
Jahre im Ergebnis nichts geändert. Dem totalen Staat waren alle der-
artigen Studien verdächtig und nach dem Fortfall der äußeren Behinderung
scheint heute das innere Bedürfnis nach Auseinandersetzung mit solchen
Fragen zu fehlen. Man zieht es vor, in gefühlsgesättigten Betrachtungen
die Geworfenheit oder Gebrochenheit des Menschen zu bereden oder die
Rückkehr in die rettende Geborgenheit altbewährter Traditionen zu
empfehlen. So macht sich eine eigenartige Stagnation bemerkbar. Während
sonst die Jugend gegen das_ Alter den Vorwurf intellektuellen Stillstandes
erhebt, vermißt heute ein greiser Denker an der unter den Jüngeren vor-
herrschenden "Katastrophenphilosophie" und "Restaurationsphilosophie"
die Originalität und den geistigen Wagemut. Doch diese Atmosphäre der
Vergrämlichung, des ängstlichen "Bewahrens" und "Rettens", ist ~in
Anzeichen dafür, daß sich die Lebenskraft eines Philosophierens, welches
keine neuen Impulse mehr zu geben vermag, ihrem Ende nähert.
Andererseits herrschen im angelsächsischen und skandinavischen Raum
philosophische Richtungen vor, die sich durch ein hohes Maß kritischer
Rationalität auszeichnen, aber die deutliche Tendenz zeigen, sich auf
die reine Logik und die Erkenntnistheorie zumal der Naturwissenschaften
zu konzentrieren, wodurch sie in eine gewisse Lebensferne geraten. Sie
sind - wenn auch in verschiedenem Grade - dem seinerzeitigen "Wiener
Kreis" verwandt oder direkt verpflichtet, dessen bedeutendste Mitglieder
gleichfalls vor allem an den mathematisch-naturwissenschaftlichen
Fächern geschult waren und daher zur Kulturwissenschaft und Geistes-
geschichte kein so unmittelbares Verhältnis hatten wie zu den exakten

Topitsch, Metaphysik. 1
2 Einleitung

Disziplinen. So sind diese Richtungen in der Regel geneigt, die tradi-


tionellen metaphysischen Lehren als sinnlos oder als Pseudo-Rationali-
sierungen irgendwelcher Gefühlsmomente beiseite zu schieben, ohne sich
eingehender mit deren Struktur und Entwicklung zu beschäftigen. Darum
lassen sie die Möglichkeiten einer genetisch-historischen Analyse und
Kritik des metaphysischen Denkens fast immer ungenutzt. Gerade dieser
bisher vernachlässigten Aufgabe ist die vorliegende Arbeit gewidmet.
Die sachlichen Voraussetzungen für ein solches Unternehmen sind
heute günstig. Denn unbeeinflußt von der Unrast einer aufgewühlten
Zeit hat die Entwicklung der Weltanschauungs analyse - wenn auch
hinter den Kulissen des philosophischen Theatrums - ruhig ihren Fort-
gang genommen. Sie zeigt im Gegensatz zu dem ergebnislosen Streit und
der ewig ungelösten Problematik der philosophischen Standpunkte den
stetigen Fortschritt und den inneren Zusammenhalt echter Wahrheits-
findung. Forscher der verschiedensten Wissensgebiete und Geisteshal-
tungen haben zu ihr beigetragen. Oft unabhängig voneinander und zumeist
ohne Einsicht in die ganze Tragweite und die weitverzweigten Zusammen-
hänge ihrer Erkenntnisse sind sie zu weitgehend übereinstimmenden,
einander gegenseitig stützenden und ergänzenden Ergebnissen gelangt.
Neben der Weltanschauungskritik im engeren Sinne haben philosophische
Disziplinen, wie die Wissenschaftstheorie und die Wissenssoziologie, an
dieser Entwicklung ebenso Anteil wie verschiedene Einzelfächer, beispiels-
weise Völkerkunde, Altertumsforschung, Kunstgeschichte und Jugend-
psychologie.
So vermögen wir heute bereits die Umrisse von Denkformen zu
erkennen, die in der ganzen Breite der Kultur - in Mythos, Philosophie,
Politik und Kunst - gleicherweise wirksam sind und die im phylogene-
tischen Werden der Menschheit ebenso aufgezeigt werden können wie
im ontogenetischen des Individuums. Dadurch gewinnt die neue Welt-
anschauungskritik gegenüber den älteren Ansätzen, etwa dem Wilhelm
Diltheys, eine breitere Basis. Sie beschränkt sich nicht auf eine Analyse
der traditionellen philosophischen Systeme, sondern sucht zu ursprüng-
licheren Denkstrukturen vorzudringen, die das vor- und außerphilo-
sophische Weltbild bestimmen und deren Kenntnis nicht selten erst ein
echtes Verständnis der sich aus ihnen entwickelnden philosophischen
Fragestellungen ermöglicht.
Hier soll nun der Versuch gemacht werden, die bisherigen Ergebnisse
jener Forschungen zusammenzufassen und auf ihnen aufbauend zu neuen
Einsichten vorzudringen. Die Eigenarten und Schwierigkeiten dieses Vor-
gehens entsprechen weitgehend denen des einzelwissenschaftlichen Ver-
fahrens. Wohl vermag man planmäßig auf dem schon Erreichten weiter-
zubauen, aber angesichts der unübersehbaren Tatsachenflut ist an Voll-
ständigkeit nicht zu denken. Ferner bleibt das Streben nach umfassender
Zusammenschau stets auf Vorarbeiten angewiesen, die mancherorts zahl-
reich und verläßlich, auf anderen Gebieten jedoch mangelhaft sind. Wenn
sich auch der Verfasser bemüht hat, an den entscheidenden Punkten
direkt auf die Quellen zurückzugreifen, so mußte er sich doch öfter als
Einleitung 3

ihm lieb war, auf fremde Arbeiten verlassen. Aus allen diesen Gründen
darf er für seine Behauptungen nur den Rang von - allerdings nach
seiner Überzeugung wohlfundierten - Hypothesen in Anspruch nehmen,
die den Oharakter der Vorläufigkeit tragen und dazu bestimmt sind, dem
weiteren Fortschritt der Erkenntnis als Stufen zu dienen. Dennoch scheint
die Entwicklung der Forschung schon in ihrem gegenwärtigen Stadium
einen Versuch der Zusammenfassung zu rechtfertigen, ja zu fordern.
Aus der Tatsachenfülle tretennämlich klare und einfache Linien hervor;
es werden Formen der Weltauffassung sichtbar, die unmittelbar in eIe·
mentaren Gegebenheiten unseres Daseins wurzeln. Der Mensch - und
zwar das Kind ebenso wie der Primitive und der zivilisierte Erwachsene
in seinem Alltagsleben - will zunächst wissen, was die Dinge für ihn
bedeuten, was er von ihnen zu erwarten hat und wie er sich gegen sie
verhalten soll. Er fühlt sich von ihnen angemutet oder abgestoßen,
geschützt oder bedroht, sie sind ihm heimatlich vertraut oder unheimlich
fremd. Eng verbunden mit dieser wertenden Grundhaltung sind die Denk·
formen, deren man sich zur Welterklärung bedient. Dem Fernerliegenden
und Unbekannten wird der Oharakter des Fremden und Befremdlichen
genommen, indem man es nach Analogie des Naheliegenden und alltäglich
Vertrauten auffaßt. So dienen die Dinge und Vorgänge der täglichen
Lehenswirklichkeit als Modellvorstellungen für das Weltverständnis.
Grundsätzlich kann zwar alles, was in jenem unmittelbaren Lebenskreis
vorhanden ist, als Modellvorstellung gebraucht werden, doch die be·
herrschende Rolle spielen jene Analogien, die den direkt erfahrenen,
praktisch bedeutsamen und gefühlsgesättigten Fakten der gesellschaft.
lichen Erzeugung und Erhaltung des Lebens entlehnt sind. Es sind dies
besonders die biologischen Prozesse von Zeugung und Geburt, Wachstum,
Altern und Tod und das planmäßige, absichtsgeleitete Wollen und Handeln
- das intentionale Verhalten - mit seinen Normen, Objekten und Pro·
dukten. Man kann also von biomorphen und intentionalen Modellvor.
stellungen sprechen. Die letztere Gruppe entstammt vor allem entweder
den sozialen Beziehungen und Ordnungen von der Familie bis zum Staat
oder der künstlerisch·handwerklichen Tätigkeit, der Techne, und ist daher
in die Untergruppen der soziomorphen und technomorphen Analogien
einzuteilen. Mit Hilfe dieser Analogien werden Einzelvorgänge oder die
Gesamtheit des Universums als soziale Phänomene oder Kunsterzeugnisse
gedeutet. So entsteht oft eine scheinbar geschlossene "intentionale" Welt·
auffassung, die nach dem Leitbild unseres Wollens und Handelns ge.
staltet ist und auf dieses rückbezogen wird - denn unser Wille und unser
Tun soll sich in die "Harmonie" des kosmischen Gesellschaftsverbandes
oder Kunstwerkes einfügen. Die verschiedenen Funktionen dieses Welt.
bildes, seine innere Problematik sowie seine schließliehe Auflösung durch
die moderne Wissenschaft und durch die faktische Entwicklung der
modernen Gesellschaft will die vorliegende Arbeit untersuchen. Sie wird
zu zeigen bestrebt sein, daß zumindest ein wesentlicher Teil des tradi·
tionellen metaphysisch.moralischen Philosophierens in jener Weltauf·
fassung verwurzelt oder - von anderen Wertvoraussetzungen ausgehend -
4 Einleitung

zu ihr in Gegensatz getreten und nur aus diesem Gegensatz erklär-


bar ist.
Es sind also im Grunde ganz naheliegende Gesichtspunkte, von denen
sich unsere Untersuchung leiten läßt. Sie sind so naheliegend, daß sie
von den Philosophen in der Regel übersehen wurden. Man mag sie vielleicht
als primitiv empfinden, aber sie sind dann von eben jener Primitivität,
die den schlichten und ursprünglichen Verhältnissen des Menschenlebens
nun einmal eigentümlich ist; daß sie sehr ursprüngliche Sachverhalte
erschließen, geht auch aus der außerordentlichen heuristischen Frucht-
barkeit ihrer wissenschaftlichen Anwendung hervor. Etwas Elementares
ist es auch, was die Deutung der Welt vermittels der intentionalen Modell-
vorstellungen dem Menschen verspricht: Orientierung über die Zusammen-
hänge lebensbedeutsamer Ereignisse, Richtlinien für das Verhalten und
tröstende Erhebung über Schicksalsschläge. Im Laufe der Entwicklung
des Mythos wurde jene Deutung zu einem umfassenden Weltbild aus-
gebaut, als dessen verblassende Spätformen viele der philosophischen
Systeme gelten müssen. Die Philosophie wird sich nämlich der inneren
Schwierigkeiten der intentionalen Weltauffassung bewußt, will diese aber
meist nicht aufgeben, sondern mittels der verschiedensten Hilfsannahmen
und Zusatzhypothesen retten. Sie ist in der Regel nicht bereit, die Inter-
pretation des Universums als moralisch oder ästhetisch befriedigende
Ordnung, welche durch jene Analogien ermöglicht wird, entschlossen
fallen zu lassen und der harten Tatsache ins Auge zu sehen, daß das
Weltgeschehen sich nicht nach unseren Wertpostulaten richtet. Diese
Angst vor der Wertirrationalität des Weltlaufes hat - neben anderen
Gründen - die Philosophen wohl auch daran gehindert, die Grundlagen
und die Eigenart des intentionalen Weltbildes folgerichtig aufzudecken,
denn eine solche Aufdeckung führt notwendig zur Einsicht in die Unhalt-
barkeit seines Wahrheitsanspruches.
Die außerordentliche Lebenskraft jener Weltauffassung beruht also
nicht auf ihrer Richtigkeit, sondern auf ihrer psychologischen Wirksam-
keit. Sie vermochte aber nicht nur angeblich unabweisbare Gemüts-
bedürfnisse zu befriedigen, sondern war, wie die Untersuchung zeigen
wird, auch als Mittel praktisch-politischer Menschenführung fast unbe-
schränkt brauchbar. Nur so ist es erklärlich, daß sie das menschliche
Denken durch Jahrtausende tief beeinflußt und zeitweise nahezu aus-
schließlich beherrscht hat.
Noch heute - oder vielleicht heute wieder - muß die folgerichtige
Analyse jener .Denkformen mit starken gefühlsmäßigen Widerständen
rechnen. Die Stabilität der äußeren Verhältnisse vor der gegenwärtigen
Periode weltweiter Erschütterungen hatte die innere Distanzierung von
ihnen begünstigt. Die Umwälzungen der Gegenwart haben dagegen -
ähnlich wie die Krise der Polis zu Platons Zeit - in vielen Menschen die
Sehnsucht nach etwas Beständigem erweckt, das als ein Unbedingtes oder
Absolutes allem Wandel entzogen ist. Diesem Begehren nach innerer
Sicherheit und Geborgenheit bieten sich die altehrwürdigen Vorstellungen
des intentionalen Weltbildes auch heute noch verlockend an.
Grundformen des Denkens im Mythos 5

Allein die gleichen Erschütterungen sind imstande, eine völlig ent-


gegengesetzte Haltung zu erzeugen, die nüchtern und tapfer die harte
Wirklichkeit zur Kenntnis nimmt und jede Nachgiebigkeit gegen das
Sentiment als unwürdig von sich abweist. Doch liegt selbst in einem solchen
"heroischen Positivismus", als dessen Verkörperung Max Weber gelten
darf, noch zu viel Pathos. Gewiß erfordert die innere Loslösung von
jenen Vorstellungen oft eine intellektuelle Askese, wie sie Weber geübt
hat. Ist aber diese Anpassungskrise überwunden, dann mag der Welt-
anschauungskritiker die Denkgebilde der intentionalen Weltauffassung
mit verstehendem Interesse, aber zuinnerst unbeteiligt betrachten, ähnlich
wie ein Kunsthistoriker die Reichskleinodien eines versunkenen Imperiums
betrachtet, deren magisches Charisma für ihn nicht mehr wirklich ist.

Grundformen des Denkens im Mythos


Rein theoretische Weltbetrachtung, methodisch bewußtes Absehen von
allen Beziehungen objektiver Erkenntnis zu menschlichem Fühlen und
Handeln, ist eine sehr späte Erscheinung in der Geistesgeschichte. Wer
will, darf sie auch in gewissem Sinne als abstrakt, künstlich oder ursprungs-
fern betrachten. Denn für das unreflektierte Bewußtsein nicht etwa bloß
des sogenannten Primitiven, sondern auch des modernen Menschen in
den Lebensbezügen des Alltages gilt das Wort Cassirers, daß "die ,Dinge'
für das Ich nur dadurch ,sind', daß sie in ihm affektiv wirksam werden,
daß sie in ihm eine bestimmte Regung der Hoffnung oder Furcht, der
Begierde oder des Schreckens, der Befriedigung. oder Enttäuschung aus-
lösen"l. Die gefühlsmäßige Wirksamkeit bedeutet fernerhin oft das Signal
für die Auslösung eines bestimmten Verhaltens. Das Unwetter, die
Nahrung, das Raubtier, der Feind verursachen nicht nur starke Mfekte,
sondern sie rufen auch verschiedene Handlungen hervor, etwa das Schutz-
suchen, Sich-Bemächtigen, Angreifen, Abwehren oder Fliehen. Durch
diese Grundtatsachen des Verhältnisses von Mensch und Umwelt ist auch
das mächtigste Mittel unserer Orientierung geprägt: die Sprache. In
jedem Wort, in jeder Wendung ist mit der Nennung eines Gegenstandes
oder einer Situation auch ein Gefühlston und womöglich eine Handlungs-
anweisung verbunden2 •
So konstituiert sich die Welt für den Menschen zunächst als eine
Gesamtheit von Lebenssituationen, in denen er zu Objekten oder Mit-
menschen seiner Umgebung wertend und tätig in Beziehung tritt. Dieser
verhältnismäßig enge Kreis des unmittelbar Bekannten, Lebenswichtigen
und durch die Alltagserfahrung Vertrauten bildet jedoch nur den Kern
der gesamten Weltauffassung. VOll ihm ausgehend erschließt sich das
Denken die Bereiche des Fernen und Unbekannten, Rätselhaften und
"Un-heimlichen". Diese Erweiterung des Gesichtsfeldes bleibt aber in

1 E. CASSIRER: Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil, Berlin 1925,


S.247.
2 TORGNY T. SEGERSTEDT: Die lVIacht des "Wortes. Eine Sprachsoziologie,
Zürich 1947, S.38.
6 Grundformen des Denkens im Mythos

ihren Methoden und Absichten weitgehend durch jene primitiven und


elementaren Lebenssituationen bestimmt. Eine Erscheinung gilt als "er-
klärt", wenn man in ihr gewisse Ähnlichkeiten mit etwas bereits Wohl-
bekanntem feststellen zu können glaubt. So "ist" der Himmel ein Mantel
oder Zelt, der Blitz eine Waffe, die Sonne ein Herrscher. Doch mit einer
solchen analogiehaften Angleichung an die Gegenstände der Alltags-
erfahrung ist das Fremdartige und bisher Unerklärte erst zum Teil in die
menschliche Lebenssphäre einbezogen. Wirklich befriedigend erklärt ist
eine Erscheinung erst dann, wenn sie werthaft-affektiv wirksam wird
und praktisch etwas "bedeutet", wenn sie als gut oder böse, nützlich oder
schädlich, gerecht oder ungerecht, freundlich oder feindlich klassifiziert
werden kann. So ist etwa der Blitz nicht irgend eine Waffe, sondern jene,
mit welcher Gott den Frevler rächend oder strafend niederstreckt. Diese
Form der Welterklärung, die von aller Wissenschaft im modernen Sinne
grundsätzlich verschieden ist, steigt über die mannigfachen Einzeler-
scheinungen schließlich zu den großen Fragen auf: "Was ,bedeutet' das
Universum in seiner Gesamtheit für uns ?", "Ist es uns im tiefsten Grunde
freundlich oder feindlich ?" oder "Wie soll ich mich ihm gegenüber richtig
verhalten ?". Auf diese Fragen wird meist eine Antwort erwartet, die
"befriedigt", indem sie Frieden, Trost, Zuversicht, Glückseligkeit bringt!.
Das Ringen um jene Antwort, die zugleich Erklärung und Verklärung
des Alls sein soll, hat in Mythos, Religion und Philosophie seinen Aus-
druck gefunden.
Da diese Einheit von Erklärung und wertender Deutung der Welt -
die dadurch erst zum "Kosmos", zur sinnvollen Ordnung wird - das
eigentliche Grundmotiv eines großen Teiles des philosophischen Denkens
bildet, kann man verstehen, daß die an sich so naheliegende und ein-
fache Unterscheidung zwischen Erkennen und Werten in der traditionellen
Philosophie erst spät aufgetaucht und auf einen Widerstand gestoßen ist,
der bisher nicht völlig überwunden werden konnte. Oft gilt noch heute
das Prinzip der Wertfreiheit der Wissenschaft als irgendwie gefährlich,
und es wird Klage erhoben, daß für ein von diesem Grundsatz geleitetes
Denken die Ereignisse in einer entzauberten Welt nur mehr "geschehen"
und nichts mehr "bedeuten "2. Ob diese Vorwürfe berechtigt sind, wird
sich später zeigen.
So stehen wir vor einer gewaltigen, geschichtsmächtigen Erscheinung.
Vom Frühlicht der uns historisch greifbaren Geistesentwicklung bis in
die Gegenwart können wir bestimmte Denkformen verfolgen, die das Welt-
all nach dem Muster der nächsten Umwelt des Menschen, zumal aber
nach dem seines Fühlens und Handeins verständlich machen und aus
dieser Deutung des Universums Folgerungen für eben jene unmittelbare
Lebenswirklichkeit ableiten, von welcher der ganze Interpretationsprozeß

1 H. FRANKFORT : The Intellectual Adventure of Ancient Man, 2. ed.,


Chicago 1948, S.230.
2 J. PFEIFFER: Existenzphilosophie, Leipzig 1933, S. 13. - P. HOFMANN:
Sinn und Geschichte, München 1937, S.267ff. - L. BINSWANGER: Grund-
formen und Erkenntnis menschlichen Daseins, Zürich 1942, S. 445ft u. a. m.
Grundformen des Denkens im Mythos 7

ausgegangen ist. Diese Weltauffassung nimmt den Dingen das Befremd-


liche und Unheimliche, sie befriedigt elementare Bedürfnisse nach Ge-
borgenheit und Sinneserfiillung und sie kann als bindende Kraft der
Gemeinschaft, aber auch als ideales Instrument praktischer Menschen-
führung in Erscheinung treten. Doch hat sie auch Behauptungen über
die Zusammenhänge zwischen Erfahrungstatsachen und besonders
zwischen menschlichen Handlungen und deren Folgen aufgestellt und zu
begründen gesucht. So hat sie nahezu alle Gebiete des Geisteslebens
durchdrungen und - oft gefördert von mächtigen Institutionen - zeit-
weise völlig beherrscht. Erst heute haben wir von ihr genügend Abstand
gewonnen, um ihren Aufbau und ihre Leistungsfähigkeit einer wissen-
schaftlichen Analyse, Kritik und Würdigung unterziehen zu können.
Freilich ist diese Aufgabe nicht leicht. Die Wurzeln der in Frage
stehenden Weltauffassung reichen zeitlich bis in eine Epoche vor dem
Einsetzen der historischen Überlieferung zurück und sind dadurch unserer
direkten Kenntnis entzogen. Die Rekonstruktion vorgeschichtlicher
Geistesentwicklungen mit Hilfe des Erfahrungsmaterials, das uns bei
heutigen Naturvölkern zugänglich ist, bietet wenig Sicherheit. Oft ist es
wahrscheinlicher, daß gewisse Mythologeme solcher Völker aus alten
Hochkulturen übernommen, als daß sie aus einer Vorstufe jener Kulturen
bis zur Gegenwart erhalten geblieben sind. In solchen Fällen kann eine
Klärung, wenn sie überhaupt möglich ist, nur durch ein Zusammen-
wirken der betreffenden Einzelwissenschaften erfolgen.
Noch ernster ist eine andere Schwierigkeit. Man kann entweder die
geistigen Gehalte vergangener und fremder Kulturen aus sich selbst
heraus zu verstehen trachten, hat aber dann bestenfalls die Möglichkeit
einer immanenten Kritik, oder man sucht sie vom Standpunkt des moder-
nen Denkens zu analysieren und läuft dabei Gefahr, den Gegenstand
nach historisch unangemessenen Kategorien aufzufassen und zu beur-
teilen. Doch muß die vorliegende Untersuchung dadurch nicht entschei-
dend beeinträchtigt werden. Wiewohl sie sich bemüht, eine Fülle von
geschichtlichem Material zu verarbeiten, ist sie in ihrer letzten Absicht
systematisch. Sie will Strukturen menschlicher Weltauffassung heraus-
arbeiten, die in ihren Grundzügen zumindest implizit schon zu ,Beginn
der geschichtlichen Überlieferung vorhanden waren und im Laufe der
Zeit immer weiter ausgestaltet und eingehender durchdacht wurden, aber
gerade dadurch in ihrer Eigenart und ihrer Fragwürdigkeit mehr und
mehr durchschaubar geworden sind. Man könnte geradezu behaupten,
daß' sie sich durch ihre Bewußtwerdung selbst aufgehoben haben.
Daher fällt es nicht allzu schwer ins Gewicht, wenn die vorgeschicht-
lichen Verhältnisse hypothetisch behandelt werden müssen, denn für die
schließlichen Ergebnisse haben sie keine wesentliche Bedeutung. Vor allem
aber ist der Standpunkt geklärt, von dem unsere Analyse und Beurteilung
ausgeht. Er befindet sich genau dort, wo die immanente Kritik einer
Weltauffassung in ihre Aufhebung umschlägt. So mag es auch eine zu-
lässige Vereinfachung der oft verworrenen geistesgeschichtlichen Vorgänge
sein, wenn gewissermaßen vom Ende des ganzen Prozesses rückschauend
8 Grundformen des Denkens im Mythos

jene Elemente und Unterschiede schon in seinen früheren Stadien hervor-


gehoben werden, die erst später mit voller Deutlichkeit und in ihrer
ganzen Tragweite zutage treten sollten.

"Nicht das bloße Betrachten, sondern das Tun bildet den Mittelpunkt,
von dem für den Menschen die geistige Organisation der Wirklichkeit
ihren Ausgang nimmt", dieser Satz Oassirers 1 gibt uns in einem weiteren
und einem engeren, aber noch viel wichtigeren Sinne den Schlüssel für
unsere Problematik.
Vor aller weltanschaulicher Reflexion und Spekulation findet sich der
Mensch in einem Kreise praktischer Lebenssituationen, die er bewältigen
muß, um weiterexistieren zu können. Wertend und handelnd - diese
Ausdrücke in ihrem umfassendsten Sinne gebraucht - hat er sich also
mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen. So bildet sich ihm ein Bestand
von gewohnten und vertrauten, stark wert betonten Erlebnissen, Vor-
gängen und Gegenständen. Diese bieten sich als analogiehafte Modelle
zur Erklärung des VVesens und Verhaltens der weiteren Umgebung und
schließlich des Universums dar 2 • Unbelebte und belebte Natur, der eigene
Körper und vor allem das eigene Handeln mit seinen Objekten und
Produkten haben dem Menschen derartige Modellvorstellungen geliefert,
die freilich nicht alle für die spätere geistige Entwicklung gleich bedeutsam
geworden sind.
Besonders die unbelebte Natur, sofern sie nicht menschlicher Kunst-
fertigkeit als Werkstoff dient, spielt in diesem Zusammenhang eine ver-
hältnismäßig untergeordnete Rolle. Zweifellos haben Gewalten, wie Feuer,
Wasser und Sturm, auf den Menschen der Frühzeit mächtig gewirkt, aber
er hat sie nicht als physikalische Fakten empfunden, sondern meist als
handelnde Wesen aufgefaßt. Jedenfalls waren sie selbst rätselhaft und
erklärungs bedürftig, vor allem aber zu undifferenziert, um als Modell-
vorstellungen höheren Ansprüchen zu genügen. Häufiger sind Berg und
Höhle als solche verwendet worden. Das Motiv des Weltberges ist
alt und hat weite Verbreitung gefunden, das der Welthöhle hat Platon
in die Philosophie herübergenommen und in freier Weise zur Veran-
schaulichung eigener Gedanken verwendet. Die dem Höhlengleichnis
zugrunde liegenden, wohl unmit,telbar aus orphischen Quellen stammenden
Vorstellungen dürften mit ihren Wurzeln bis in älteste Zeiten zurück-
reichen3 . Neben jener urtümlichsten Behausung sind wohl schon früh die

1E. CASSIRER, a. a. 0., S. 193.


Die Rolle des Wert elementes in der Metaphorik betont auch E. R. CUR-
2
TruS: Schrift- und Buchmetaphorik, "Deutsche Vierteljahrsschrift f. Literatur-
wissenschaft u. Geistesgeschichte" XX (1942), S. 361: "Nicht jeder Sach-
bereich ... läßt sich für die bildliche Rede verwenden, sondern nur ein solcher,
der wertbetont ist, der, wie Goethe es ausdrückt, einen ,Lebensbezug' hat
oder ,das 'Vechselleben der vVeltgegenstände' durchscheinen läßt."
3 P. SAINTYVES: Les grottes dans les cultes magico-religieux et dans la
symbolique primitive, Paris 1918. - E. BENZ: Die heilige Höhle in der alten
Christenheit und in der östlich-orthodoxen Kirche, "Eranos-Jahrbuch" XXII
(1953), S. 364ff.
Grundformen des Denkens im Mythos 9

primitivsten Formen selbstverfertigten Obdaches - Zelte oder Rund-


hütten - zu Leitbildern des Weltverständnisses geworden1 • Damit treten
aber Produkte menschlicher Tätigkeit an die Stelle reiner Naturobjekte.
Wichtiger sind die Modelle aus dem Bereiche der belebten Natur.
So findet sich in den Mythen zahlreicher Völker der Weltbaum 2 , der
das Universum umspannt oder das Himmelszelt trägt, wie dies einer
unentwickelten Bautechnik entspricht, die das Zeltdach an lebenden
Bäumen statt an eigenen Zeltstöcken befestigte3 • Die verschiedenen
Mythologeme, die sich der Gestalt oder des Verhaltens von Tieren zur
Welterklärung bedienen, sollen hier nicht weiter berücksichtigt werden,
mag es sich nun um theriomorphe Götter oder kosmische Ungeheuer wie
Fenriswolf und Midgardschlange handeln.!. Sie beziehen sich in der Regel
nur auf Einzelerscheinungen, nicht aber auf den Zusammenhang des Welt-
ganzen. Hierher gehört ferner die Benennung der Gestirne nach Lebe-
wesen, die in der Astrologie zu weitgehenden Schlüssen Anlaß gibt, wie
überhaupt die Sterndeutung voraussetzt, daß der "Mikrokosmos" der
menschlichen Umwelt in den astralen "Makrokosmos" hineingelesen wird.
Eine umfassende Interpretation des Universums und besonders seiner
Ursprünge kann jedoch leicht durch die Erscheinung des Lebens als
solchen erfolgen. Zeugung, Geburt und überhaupt Fruchtbarkeit sind
ebenso verbreitete Erklärungsmodelle wie Wachstum, Reife, Alter und Tod.
Derartige Vorstellungen können im Glauben der Völker auch eine unmittel-
bare praktische Funktion übernehmen, indem sie die Grundlage für die
verschiedensten Formen des Fruchtbarkeitszaubers bilden. Sehr alter-
tümlich dürften diese Analogien aber nicht sein, da sie ein relativ bedeu-
tendes Maß an Abstraktionsvermögen und das Wissen um die Zusammen-
hänge von Befruchtung und Geburt voraussetzen. Jedenfalls haben sie
im Alten Orient eine großartige Ausgestaltung erfahren, haben von dort
aus das europäische Denken vielfach beeinflußt und sind sogar in der
Philosophie wirksam geworden. Über Gnosis und Kabbala sind sie auch
in das deutsche Geistesleben eingedrungen und noch für Jakob Böhme
und manche Romantiker maßgebend geblieben. Hinter der grundlegenden
Wichtigkeit, welche die dem Wollen und Handeln direkt entlehnten Leit-
bilder für die Gesamtentwicklung der Philosophie besitzen, bleiben sie
jedoch weit zurück. Darum erscheint es nicht erforderlich, die biomorphen
Modellvorstellungen in den historisch-systematischen Hauptteil dieser
Untersuchung einzubeziehen, sondern es mag genügen, die wichtigsten
Fakten hier in Kürze vorwegzunehmen und später fallweise auf sie zurück-
zugreifen.

1 E. B. SMITH: The Dome. A Study in the History of Ideas, Princeton 1950,


S.79.
2 1\1:. ELIADE: Die Religionen und das Heilige, Salzburg 1954, S. 303ff.
3 R. EISLER: Weltenmantel und Himmelszelt, München 1910, 2. Bd.,
S.566, 604.
4 A. ALFöLDI: Die theriomorphe Weltbetrachtung in den hochasiatischen
Kulturen, "Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts", Bd.46
(1931), S. 394ff.
10 Grundformen des Denkens im Mythos

Der Behandlung der biomorphen Modelle kann heute vor allem die
eingehende Studie H. BaumannsI zugrunde gelegt werden, die eine reiche
- wenngleich nicht vollständige - Sammlung des ethnologischen und
mythologischen Materials enthält und auch das Weiterleben dieser Vor-
stellungen im philosophischen Denken verständnisvoll verfolgt. Wie ältere
Forschungen gezeigt haben und Baumann erneut hervorhebt, hat sich
besonders in den alten Hochkulturen zwischen dem Ostmittelmeer und
dem Indusgebiet eine gewaltige biomorphe Mythologie entwickelt, nach
welcher die Welt aus einem Ei entstanden, in der "heiligen Ehe" eines
Urelternpaares erzeugt worden oder der Selbstbegattung eines doppel-
geschlechtigen Gottes entsprungen ist.
Das Motiv des Welteies 2 ist in verschiedenen Varianten von Ägypten
und Vorderasien bis nach Indien und Ohina verbreitet, aber auch in der
indonesischen Inselwelt und Ozeanien, wo es manchmal in echt maritimer
Abwandlung durch die Weltenmuschel ersetzt wird. Ferner ist es im
Bereich des unteren Niger und - in anthropogonischer Ausprägung -
auf peruanischem Boden zu finden. In seiner Grundform besagt dieser
Mythos, "daß im uranfänglichen Ohaos, auf dem Urmeer sich ein eiartiges
Gebilde befand oder formte, teilweise auch von einem Urvogel hier ab-
gelegt wurde, das sich später teilte, vor allem hälftete, wobei das Obere
zum Himmel, das Untere zur Erde wurde"3. Ein Seitenstück hierzu ist
die Idee des Hervorkommens der ersten Menschen aus einem Ei, ein
Motiv, dessen Verbreitungsgebiet sich ungefähr mit jenem des kosmischen
Eies deckt. In Hellas haben diese Mythologeme durch die Orphik Eingang
gefunden, doch ohne weiter wirksam zu werden4 •
Wichtiger ist die Vorstellung von der Weltgeburt oder der Zeugung
des Universums durch ein Weltelternpaar, meist Himmel und Erde, aber
auch Sonne und Erde oder Sonne und Mond, wo bei der männliche Partner
(gewöhnlich Himmel oder Sonne) den weiblichen durch Regen, Tau oder
Lichtstrahlen befruchtet. Der Glaube an diese "Heilige Ehe", der die
Dinge ihre Entstehung und oft auch ihren Fortbestand verdanken, scheint
gleichfalls in den archaischen Hochkulturen des Vorderen Orients zu
wurzeln oder wenigstens seine eindrucksvollste Form erhalten zu habenS.
Auch in Sibirien, Ohina und Japan, Indonesien, Ozeanien und Mexiko
begegnen wir dem Mythos vom Weltelternpaar. Oft, aber nicht immer,

1 H. BAUMANN: Das doppelte Geschlecht, Berlin 1955. - C. R. SCOTT:


Phallic Worship. A History of Sex and Sex Rites in Relation to the Religions
of a11 Races from Antiquity to the Present Day, New York 1951, war mir nicht
zugänglich.
2 R. EISLER: 'Veltenmantel, passim. - M. ELIADE: Religionen, S. 467ff.-
H. BAUMANN, a. a. 0., S. 268ff.
3 H. BAUMANN, a. a. 0., S. 268.
4 S. MORENZ: Ägypten und die altorphische Kosmogonie, "Aus Antike
und Orient", Festschrift f. W. SCHUBART, Leipzig 1950, S.71ff.
5 H. BAUMANN, a. a. 0., S.254ff. - M. ELIADE: Religionen, S.273ff. -
H. TH. FISCHER: Het heilig huwelik van hemel en aarde, Utrecht 1929. -
A. KLINZ: lEPO~ rAMO~, Halle 1933.
Grundformen des Denkens im Mythos 11

ist er mit dem Motiv einer gewaltsamen Trennung des Paares bei oder
nach der Weltentstehung verbundenl .
Ob und in welchem Maße der vorderasiatische Welteltern-Mythos auf
die altgriechischen Vorstellungen vom Werden der Dinge eingewirkt hat,
ist noch umstritten. Jedenfalls wird die frühe hellenische Kosmogonie
ganz von ])iomorphen Modellen beherrscht, dagegen fehlt die intentionale
Schöpfung der Welt durch einen Akt planenden und befehlenden Willens.,
Auch der Demiurg, der handwerkliche Weltbildner, tritt erst später auf.
Bei Hesiod erscheint die Entstehung der Götter, welche zugleich die
Entstehung des Kosmos ist, als eine Folge von Zeugungsakten und Ge-
burten (Theog. 116ff.). Generationen von Götterpaaren lösen einander
in der Herrschaft ab, so daß man sagen könnte, die Weltordnung wird
als Sippenordnung verstanden. Damit geht allerdings die rein biomorphe
Vorstellungsweise in eine soziomorphe über. Die reine Philosophie scheidet
die Motive der Welteltern und ihres Hieros Gamos überhaupt aus, denn
im Zuge der Rationalisierung wird aus dem konkreten Bild der Eltern-
paare und Geschlechterfolgen der abstrakte Kern des "Werdens" heraus-
gelöst2 , während die anschaulichen Elemente in der Dichtung, den
Mysterienkulten und allenfalls bei philosophischen Randerscheinungen wie
Pherekydes weiterleben.
Mit dem Einströmen orientalischen Gedankengutes in den griechisch-
römischen Kulturbereich, das sich im Hellenismus und besonders in der
Spätantike vollzieht, gewinnen die biomorphen Modelle erneut an Bedeu-
tung. Viele der östlichen Religionen waren von geschlechtlichen Mytholo-
gemen durchsetzt, und in manchen gnostischen Lehren übersteigerte sich
die Zeugungskosmogonie zu einer barocken Vielfalt der Paarungen und
Geburten3 • Der Sieg des kirchlichen Christentums und seiner Lehre von
der Weltschöpfung durch die göttliche Willensmacht hat diese Motive
wieder in geistige Unterströmungen und ketzerische Geheimlehren abge-
drängt, ohne sie ganz ausschalten zu können. In der Renaissance brachen
sie abermals machtvoll hervor. Die Alchemie betrachtete beispielsweise
die chemischen Verbindungen der Elemente nach dem Gleichnis der Ver-
einigung des Männlichen und des Weiblichen (coniugium, matrimonium,
coniunctio, coitus)4 und selbst ein Gelehrter vom Range des Kopernikus
sprach davon, daß die Erde von der Sonne empfängt und ihre jährliche
Nachkommenschaft gebiert5 •

1 W. STAUDACHER: Die Trennung von Himmel und Erde, Tübingen


1942. - F. K. NUMAZAWA: Die Weltanfänge in der japanischen Mythologie,
Freiburg 1946, bes. S.303ft
2 F. M. CORNFORD: The Unwritten Philosophy, im Sammelband "The
Unwritten Philosophy and other Essays", Cambridge 1950, S.4l.
3 H. LEISEGANG: Die Gnosis, 3. Aufl., Stuttgart 1941, S.29. - Wie
buchstäblich man mitunter die "Weltgeburt" auffaßte, zeigt A. Ä. BARB:
Diva matrix, "Journal of the Warburg and Courtauld Institutes" XVI
(1953), S. 193ff.
« C. G. JUNG: Psychologie und Alchemie, Zürich 1944, S. 318.
5 N. COPERNICUS: De revolutionibus orbium caelestium lib. VI, Thoruni
1873, S.30: concipit interea a sole terra et impregnatur annuo partu.
12 Grundformen des Denkens im Mythos

Manchmal gibt sich aber die kosmogonische Phantasie mit der An-
nahme zweier gleichursprüngIicher Wesen nicht zufrieden, sondern will
alles Sein auf einen einzigen Urquell zurückführen. An der schon erwähnten
Stelle findet sich bei Hesiod der Gedanke, daß die Erde den gestirnten
Himmel gebiert, sich mit diesem vermählt und darauf dem Okeanos das
Leben gibt. Die Vorstellung, daß ein Urwesen seinen kosmogonischen
Partner hervorbringt, leitet direkt zur Vereinigung der weltzeugenden
Potenz in einer doppelgeschlechtlichen Gottheit über, aus deren Selbst-
begattung alle Dinge entspringen. Dieses vielumstrittene "Zweigeschlechter-
wesen" zählt zweifellos nicht zu den Urideen der Menschheit!, sondern
dürfte verhältnismäßig jungen Spekulationen entsprungen sein. Vor
allem scheint dort, wo der Glaube an die asexuelle Tatschöpfung eines
Hochgottes mit dem Welteltern-Mythologem zusammentrifft, das einzige
Schöpferwesen bisexuelle Gestalt anzunehmen 2 • Auch dieses Motiv ist
wahrscheinlich zwischen Ostmittelmeer und lndus beheimatet, doch
kann es weit über Vorderasien hinaus in der Alten Welt und in Amerika
nachgewiesen werden. Die eindrucksvollsten und aufschlußreichsten Bei-
spiele zweigeschlechtiger Götter sind wohl der ägyptische Atum 3 und der
indische Prajäpati.
Eigenartig ist die Durchdringung von Motiven des W ollens und
absichtsgeleiteten Handelns mit solchen biomorpher Art in der indischen
Kosmogonie des Prajapati. Dem Zeugungsakt geht ein Willensakt voran,
wenn es in der Kathaka-Upanishad (XIII, 7) von dem Gotte heißt:
"Prajapati, wie er die Geschöpfe zu schaffen wünschte, fand kein zweites
Wesen zur Paarung. Da nahm er jene (zweigeschlechtIiche) Gestalt an,
vereinte sich vermittels seines Daumens mit sich selbst und schuf so die
GeschÖpfe"4. Die seinsspendende Funktion des Gottes wird in der Regel
durch zwei Ausdrücke gekennzeichnet. Der eine, s~j-, steht der Vor-
stellung des Gebärens nahe und bedeutet wörtlich "aus sich entlassen",
wobei dem Vorgang des Entlassens etwas wie eine Schwangerschaft
vorausgeht; manchmal erscheint der ganze Prozeß auch stark spiri-
tualisiert: der Schöpfer "denkt sich selbst in seinem Geist, da wird er
schwanger"5. Der andere Ausdruck, nir-ma, ,,(aus einem Material) ver-

1 Dies behauptet vor allem J. WINTHUIS: Das Zweigeschlechterwesen


bei den Zentralaustraliern und anderen Völkern, Leipzig 1928 und: Einführung
in die Vorstellungswelt primitiver Völker, Leipzig 1931. - Zur Kritik an
den Thesen von WINTHUIS vgl. A. BERTHOLET: Das Geschlecht der Gottheit,
Tübingen 1934, S. 17ff. und F. HERRMANN : Zur Beurteilung der Sexual-
symbolik bei Naturvölkern, "Studium Generale" VI (1953), S.303ff.
2 H. BAUMANN, a. a. 0., S.145, Anm.46.
3 Ich sehe keinen Grund, mit E. L. DIETRICH: Der Urmensch als Androgyn,
"Zeitschrift für Kirchengeschichte" LVIII (1939), S.301 dem Atum die
Doppelgeschlechtlichkeit abzusprechen. Das Motiv der Selbstbegattung ist
eindeutig (z. B. Pyr. 1248) überliefert; daneben heißt es allerdings auch,
daß Atum das Götterpaar Schu und Tefnut aus sich erbricht.
4 H. OLDENBERG: Vorwissenschaftliche Wissenschaft. Die ·Weltanschauung
der Brahmana-Texte, Göttingen 1919, S.172.
5 H. OLDENBERG, a. a. 0., S. 173.
Grundformen des Denkens im Mythos 13

fertigen", stammt eindeutig aus dem Bereich handwerklicher Kunst.


fertigkeitl. Wie der Gott bei der Weltzeugung sein eigener Partner ist,
so entnimmt er beim Weltenbau das Material dem eigenen Selbst. Hier
berührt sich der Prajapati.Mythos mit dem Glauben an die Herstellung
der Welt aus einem menschlichen oder menschenähnlichen Körper, wie
er im Purusha·Lied (Rigveda X, 90) überliefert ist.
In Griechenland sind die bisexuellen Vorstellungen wie überhaupt die
biomorphen Modelle vor allem durch die orphisch. pythagoreische Speku.
lation vertreten (z. B. Orpheus, B 13)2, wobei in der pythagoreischen
Zahlenmystik das männliche Prinzip den ungeraden, das weibliche den
geraden Zahlen zugeordnet sind, während die Einheit zugleich gerade
und ungerade, weiblich und männlich ist3 • Aus solchen Quellen hat auch
Platon geschöpft, wenn er in seinem "Gastmahl" (189 E) dem Aristo·
phanes eine burleske Rede über ein zweigeschlechtiges Urwesen in den
Mund legt. Was aber bei Platon halb scherzend gesagt wird, ist schon
für manche Stoiker4 und besonders für die gnostischen und hermetischen
Lehren der Spätantike wieder voller Ernst 5 • Bei dem Gnostiker Valen·
tinos umschließt der zeitlose, mann· weibliche Ur·Vater und Ur.Äon das
All, das ohne Bewußtsein in ihm ruht, und das er dann in einem Prozeß,
in welchem sich Gesichtspunkte des Bewußtwerdens mit solchen des
Gebärens verbinden, aus sich herausstellt. Plotin und der Neuplato·
nismus haben ähnlichen Vorstellungen gehuldigt (siehe unten S. 180). Doch
wurden die bisexuellen Motive von der christlichen wie von der jüdischen
Rechtgläubigkeit zugunsten der intentionalen Modelle abgelehnt und
konnten sich nur am Rande oder außerhalb der offiziellen Weltanschauung
behaupten. Meist haben sie in naturmystischen Geheimlehren weiter.
gewirkt, welche gerade infolge ihres nichtöffentlichen Charakters den Ein.
druck erwecken konnten, eine tiefere Weisheit zu enthalten als die ge·
läufigen Ansichten der Orthodoxie6 •
Sehr wesentlich ist die kI-,(jp-E:lmie durch die Gedankengänge der bio
sexuellen Kosmologie beeiriflußt. Immer wieder findet sich in alchemi·
stischen Schriften die männliche Sonne und der weibliche Mond, denen
man die Paare Gold und Silber, Schwefel und Merkur (Quecksilber)
zuordnet, aus deren Vereinigung der "Stein der Weisen" hervorgehen
soll, der oft als "Rebis", als mann.weibliches Wesen gedacht wird7 • Auf
dem Wege über neuplatonische und besonders kabbalistische Traditionen
sind verwandte Ideen in die abendländische Mystik und Theosophie ein.
gedrungen. Vor allem die Spekulationen Jakob Böhmes sind von bisexu·

1 H. OLDENBERG, a. a. 0., S. 170.


2 Zitierung nach H. DIELS·W. KRANZ: Die Fragmente der Vorsokratiker,
8. Aufl., Berlin 1956.
3 A .. J. FESTUGIERE: La revelation d'Hermes Trismegiste, tom. IV, 2. ed.,
Paris 1954, S.48.
4 E. NORDEN: Agnostos Theos, Leipzig 1913, S.229.
5 A .. J. FESTUGIERE, a. a. 0., S.43.
6 E. L. DIETRICH: Androgyn, bes. S.325ff. und 336ff.
7 H. BAUMANN: Geschlecht, S.172ff. - C. G. JUNG: Psychologie,
S.319, 335.
14 Grundformen des Denkens im Mythos

ellen Motiven erfüllt. Ähnlich wie in der Kabbala ist auch bei ihm die
Zerstörung der ursprünglichen androgynen Einheit ein Sündenfall und
deren endzeitliche Wiederherstellung eine Erlösungl . Von dem Görlitzer
Grübler und verwandten Geistern wie Friedrich Christoph Ötinger hat
die deutsche Romantik den Gedanken der DoppeIgeschlechtigkeit über-
nommen, der so bis tief in das vorige Jahrhundert lebendig blieb 2 •
Die Philosophie stand ähnlich wie die orthodoxe Theologie dem Ge-
danken der Bisexualität im allgemeinen ablehnend gegenüber, so daß
dieser höchstens in stark spiritualisierten und daher nicht eindeutig agnos-
zierbaren Abwandlungen in die philosophischen Systeme eindringen konnte.
Doch wo von einer coincidentia oppositorum und besonders von einem
Urgrund. die Rede ist, der die Welt aus sich heraustreten läßt, könnte
wenigstens die Frage äufgeworfen werden, ob es sich dabei um vergeistigte
Formen einer Mythologie des doppelten Geschlechtes handelt. Die Ant-
wort kann - wenn sie überhaupt möglich ist - nur von Fall zu Fall
auf Grund von Einzeluntersuchungen erfolgen. Mit einem positiven
Ergebnis ist dabei vor allem bei den von gnostisch-neuplatonischen Über-
lieferungen beeinflußten Denkern zu rechnen3 •
Die biomorphe Weltauffassung ist aber nicht auf eine rein betrachtende
Erklärung der Dinge beschränkt, sondern hat auch Rückwirkungen auf
das menschliche Handeln, und zwar besonders durch die Begründung
bestimmter Riten. Beispielweise ist der Glaube weithin verbreitet gewesen
und noch heute unter Naturvölkern verbreitet, ein sakraler Vollzug des
Geschlechtsaktes habe die Macht oder sei dazu notwendig, den makro-
kosmischen Zeugungsakt von Himmel und Erde zu unterstützen, als
rituell gebotene Wiederholung der Schöpfung den Gang der Welt zu
sichern oder überhaupt durch Zusammenlegung beider Geschlechts-
potenzen die universellen oder individuellen Lebenskräfte zu stärken.
Besonders häufig finden solche Verrichtungen in Pflanzungen statt, um
als analogiemagische Handlungen deren Gedeihen zu fördern'. Nicht selten
gibt es auch Hochzeitsbräuche, welche die menschliche Ehe zu einem
Abbild oder Nachvollzug <des Hieros Gamos machen sollen. So kommt es
zu einem deutlich ausgeprägten Prozeß von Projektion und Reflexion:
nachdem die eheliche Zeugungsgemeinschaft als Modell auf den Vorgang
der Weltentstehung übertragen worden war, wird die so entstandene Vor-
stellung einer "Heiligen Ehe" von Himmel und Erde oder anderen kos-
mischen Mächten auf ihr Urbild, die menschliche Ehe, rückbezogen und

1 G. SCHOLEM: Kabbalah und Mythus, "Eranos-Jahrbuch" XVII (1949),


S. 287ff., bes. S. 313ff.: die Schechinah, das weibliohe Element Gottes, wird
diesem gegenüber verselbständigt, soll aber schließlich wieder in Gott auf-
genommen werden. - E.-L. DIETRICH: Androgyn, S.338. - Zum Motiv
der Reintegration M. ELIADE, Religionen, S. 480ff.
2 W. A. SCHULZE: Das androgyne Ideal und der christliohe Glaube, Diss.,
Heidelberg 1940. - ders.: Jakob Böhme und die Kabbala, "Zeitsohrift für
Philosophisohe Forschung" IX (1955), S.447ff.
3 tJber die Zusammenhänge von Androgynie und emanatistischer Schöp-
fungslehre vgl. W. A. SCHULZE: Das androgyne Ideal, S. 38.
4 H. BAUMANN: Geschlecht, S.77.
Grundformen des Denkens im Mythos 15

ihr übergeordnet!. Das gleiche gilt sinngemäß auch für das Motiv der
DoppeIgeschlechtigkeit. Religiöse Handlungen verschiedener Art sollen
den Menschen der bisexuellen Gottheit anpassen oder seine Wirkungs-
mächtigkeit durch Vereinigung der männlichen und weiblichen Potenz
erhöhen2 •
Es ist unverkennbar, daß das von einem noch ungebrochenen Mythos
beherrschte Bewußtsein mit Hilfe solcher Verrichtungen vor allem konkrete
praktische Ziele erreichen will, wie Fruchtbarkeit der Felder, eheliches
Glück oder ganz allgemein Steigerung der eigenen Lebensmacht3 ; der
Alchemie dient der androgyne "Stein der Weisen" als Mittel zur Her-
stellung des Goldes. Mit dem Schwinden des Glaubens, daß sexuelle
Riten die empirische Umwelt beeinflussen können, verlagert sich der
Schwerpunkt jener Gedankengänge auf psychische Wirkungen oder in
das Gebiet des Unerfahrbaren. Selbst in der Alchemie sind die zweck-
haften Überlegungen des Goldmachens mit einer meditativen Betrachtung
des Kosmos verbunden, die den Adepten über die Sorgen des Alltages
erheben soll4. Der Gnostiker, der mit dem androgynen Urwesen eins
geworden zu sein glaubt, erlebt diese Einigung nicht oder nicht in erster
Linie als Weg zur Macht über äußere Dinge, sondern als Weg zur Erlösung.
In der Mystik überwiegen vollends die soteriologischen Motive die kosmo-
logisch-magischen. Bei Jakob Böhme und seinen Nachfolgern verbinden
sich bisexuelle Vorstellungen sogar mit dem christlichen Erlösungs-
gedanken, und zwar in der Weise, daß der als androgyn betrachtete
Christus die Seelen der Männer durch Geschenk seiner weiblichen, die
Seelen der Frauen durch Zugabe seiner männlichen Potenzen zur doppel-
geschlechtigen Vollkommenheit emporhebt5 , wie auch die erotische Mystik
Indiens zum spezifischen Zweck hat, den Menschen durch seine Identifi-
kation mit einem "göttlichen Paar", also durch einen androgynen Vor-
gang, zu vervollkommnen6 •
An vielen Stellen werden, wie es sich gezeigt hat, die l?iomorphen
Gleichnisse zu anthropomorphen, und diese sind die weitaus wichtigsten
und meistverbreiteten, hat doch der Mensch die Formen der Welterklärung
vor allem von sich selbst genommen und so das Universum auf das eigene
Sein bezogen. Diese Formen entstammen in erster Linie den praktisch
bedeutsamen Lebenssituationen, in welchen wir unserer Umwelt gegen-
übertreten. Auf der einen Seite steht das eigene "Selbst", das meist weit-
gehend mit dem eigenen Körper identifiziert bleibt, auf der anderen
befinden sich die sozialen Partner und die Sachwelt als Mithandelnde
oder als Gegenstände beziehungsweise Produkte unseres Wollens und Tuns.

1 H. TH. FISCHER: Huwelik, S. 3: "Enerzijds werd dus het beeld van de


mikrokosmos in de makrokosmos geprojecteerd, terwijl anderzijds deze
projectie nn weer gereflecteerd en herkend werd in de menselike instellingen."
2 H. BAUMANN : Geschlecht, S. 46.
3 H. BAUMANN : Geschlecht, S. 129.
4 C. G. JUNG: Psychologie, S.372.
D W. A. SCHULZE: Böhme, S.451.
6 M. ELIADE: Religionen, S.477.
16 Grundformen des Denkens im Mythos

Am menschlichen Körper und seinen Leistungen haben sich Raum-


messung und Zahlbegriff genetisch entwickelt. Die Hände sind die Grund-
lage für das Zählen mancher primitiver Stämme, die demgemäß nur zwei
Zahlwörter kennen, während andere die Finger zur Hilfe nehmen und so
bis fünf kommen!; die Finger beider Hände ergeben zehn und das Zwan-
zigersystem, das auch die Zehen einbezieht, bildet eine weitere Stufe.
Ähnlich verhält es sich mit Längenmaßen wie Daumenbreite (Zoll), Spanne,
Fuß, Elle, Klafter, Schritt, Meile (milia passuum) und Leistungsgrößen
wie die Weite des Stein- oder Speerwurfes und Pfeilschusses oder die Aus-
dehnung des an einem Morgen zu beackernden Landstückes. Dagegen
lassen sich aus dem Rhythmus des menschlichen Körpers keine geeigneten
Zeitmaße entnehmen. Herzschlag, Atemzug oder Augenblick sind zu kurz
und zu unbestimmt, das Menschenalter ist dagegen zu lang. Darum haben
sich hier die kosmischen Periodizitäten der Tages- und Jahreszeiten sowie
der Mondphasen leicht durchgesetzt. Doch werden diese auf einer gewissen
Kulturstufe durch einen ökonomisch-ergologischen Zeit begriff ergänzt, der
dem Rhythmus der Arbeiten in Ackerbau und Viehzucht entspricht 2 • Bis zu
einem gewissen Grade sind auch die Werkzeuge den "Organen" des
menschlichen Körpers nachgebildet, etwa der Hammer dem Arm mit der
Faust, die Zange der Greifhand oder den Zähnen, der Löffel der Hohl-
hand usw. Freilich gibt es auch Werkzeuge, die an unserem Körper kein
Vorbild haben, sondern vielmehr dessen spezifische Mängel in freier Er-
findung ausgleichen wie beispielsweise das Messer. Schon hieran zeigt es
sich, daß der Mensch niemals schlechthin Gefangener eines anthropo-
morphen Weltbildes war3 •
Wie stark der Menschenleib die gesamte Weltauffassung bestimmte,
kann man auch daraus ersehen, daß er häufig als Modell für das Bild
gebraucht wurde, das man sich von der "Seele" ebenso wie vom Universum
machte. Soweit Körper und Seele überhaupt unterschieden werden, gilt
oft der erstere als das eigentliche "Ich", während der Seele nur eine Art
von depotenziertem körperlichem Dasein zugeschrieben wird. Diese Auf-
fassung findet sich zum Beispiel bei Homer, während im Indischen und
Iranischen noch dasselbe Wort tanu den Körper und die Person, das Ich
des Menschen bezeichnet4 • Manchmal ist es die Funktion des Atmens und
zumal der "Lebenshauch" , der als das typisch Seelische gilt, doch daneben
gibt es auch das Seelenmännchen, den daumengroßen Purusha der Inder.
Überreste dieser Einheit von Körperlichem und Geistig-Seelischem finden
wir heute n~~h'ill'm~phorischen Ausdrücken wie vor-stellen, be-greifen,
er-fassen, um-schreiben und ähnlichen, die geistige Akte in der Form
körperlicher und zumal haptischer Vorgänge darstellen. Wenn darüber
hinaus den Seelen - und zwar besonders den Totenseelen - gesell-
schaftliche Rollen zugeschrieben werden, etwa die des Rächers oder des

G. KRAFT: Der Urmensch als Schöpfer, Berlin 1942, S.70.


1
E. E. EVANS-PRITCHARD: The Nuer, Oxford 1940, S.104.
2
3 G. KRAFT: Urmensch, S. 182f.
4 R. REITZENSTEIN : Gedanken zur Entwicklung des Erlöserglaubens,
"Historische Zeitschrift" 126 (1922), S. 20.
Grundformen des Denkens im Mythos 17

bestraften Büßers, so leitet dies schon zu den soziomorphen Modellen


über, die später behandelt werden sollen.
Verbreitet ist auch die Ansicht, die Welt sei ein menschlicher oder
menschenähnlicher Körper oder sie sei aus einem solchen verfertigt. Diese
Vorstellung des "Weltriesen" tritt in dem gleichen Gürtel archaischer
Hochkulturen auf, in welchem die biomorphen Motive des Welteies, des
Urelternpaares und der Bisexualität anzutreffen sind, und verschmilzt
eigenartigerweise manchmal mit diesenl . Nur als Beispiele seien der nor-
dische Ymir, der persische Gayomard, der chinesische Panku und der
Purusha des Rigveda genannt. Auch die Tiamat des babylonischen
Mythos gehört hierher und ähnliche Motive sind in Hinterindien, Indo-
nesien, Ozeanien und Altamerika nachweisbar. Nach diesen Lehren wird
nach Zerteilung des Urwesens etwa dessen Fleisch zur Erde, das Blut
zum Wasser, die Knochen werden zu den Gesteinen, die Haare zur Vege-
tation. Aus der Schädeldecke entsteht das Himmelsgewölbe, die Augen
wandeln sich zu Gestirnen. So kommt es abermals zur ParalleIisierung,
ja fast zur Ineinssetzung von Mikrokosmos und Makrokosmos. Oft wird
auch der kosmogonische Vorgang ins Anthropogonische umgekehrt. Dann
ist nicht die Welt aus einem MenschenIeib hervorgegangen, sondern dieser
Leib entsteht aus den Grundsubstanzen der Welt, er ist ein kleines Abbild
des Kosmos - das Fleisch entstammt der Erde, die Gebeine den Felsen usw.
Natürlich sind alle diese Zuordnungen nichts weiter als Analogien
und sind daher bei verschiedenen Völlmrn und zu verschiedenen Zeiten
durchaus nicht die gleichen. Aus der aItorientaIischen, griechischen und
hellenistisch-römischen Kultur haben sich jene Motive in mannigfachen
Abwandlungen der abendländischen Kultur vererbt 2 • Wir finden sie auf
mittelalterlichen Bildern, in den Schriften der Hildegard von Bingen
und des Alanus de InsuIis 3 • Während aber die Scholastik im ganzen
der Idee des homo microcosmus wenig geneigt war, trat diese in der
Renaissance um so stärker hervor. Jakob Böhme hat die Entsprechungen
zwischen Mensch und Universum breit ausgeführt4 und unter seinem Ein-
fluß haben noch die Romantiker diesen Gedanken gehegt.
Aus diesem System von Entsprechungen zwischen dem Leib des Mikro-
kosmos und jenem des Makrokosmos hat man oft auch praktische Folgerun-
gen gezogen. Naheliegend war es, medizinische Lehren und Verfahren
aus ihm abzuleiten5 , doch ergaben sich auch eigenartige Fernwirkungen.

·1 H. BAUMANN: Geschlecht, S.277.


2 R. REITZENSTEIN-H. H. SCHAEDER: Studien zum antiken Synkretismus
aus Iran und Griechenland, Leipzig 1926. - W. KRANZ: Kosmos und Mensch
in der Vorstellung des frühen Griechentums, "Nachrichten d. Göttinger
Gesellschaft der Wissenschaften", Neue Folge II 7 (1938), S. 121ff. - R.
ALLERS: Microcosmus. From Anaximandros to Paracelsus, "Traditio" II
(1944), S. 319ff.
3 R. REITZENSTEIN-H. H. SCHAEDER, a. a. 0., S.137ff. - R. ALLERS,
a. a. 0., S. 345.
~ J. BÖHME: Aurora oder Morgenröte im Aufgang, Werke, msg. v. K. W.
SCHIEBLER: Bd. II, 2. Abdruck, Leipzig 1922, S.28/29.
i H. BAUMANN : Geschlecht, S. 284.

Topitsoh, Metaphysik. 2
18 Grundformen des Denkens im Mythos

In der Fortführung von Gedanken Vitruvs hat die architektonische


Theorie der Renaissance verlangt, daß die Proportionen zumal von
sakralen Gebäuden den Proportionen entsprechen sollen, welche angeblich
dem menschlichen Körper und dem Kosmos gemeinsam sindl • Sogar
soziale Ideologien haben sich mit dem Mythos vom Weltriesen verbunden.
So läßt das Purusha-Lied (Rigveda X 90) aus dem Urwesen die Kasten
hervorgehen. Seinem Munde entstammen die Brahmanen, den Armen
die Krieger, den Schenkeln und den Füßen die niedrigeren Kasten. Wie
der Organismus des Leibes von dem Munde, kraft der ihm entströ-
menden Rede, geistig geleitet, von den Armen geschützt, von den Schen-
keln gestützt und von den Füßen getragen wird, so der Organismus des
brahmanischen Staates von den betreffenden Kasten2 • Eine Parallele
hiezu ist aus Hawaii bekannt, nämlich daß dort der Fürst als Kopf, der
Häuptling als Schulter, der Priester als rechter Arm, der Landbesteuerer
als linker Arm, die Soldaten als rechtes Bein, die Handwerker und Künstler
als die Eingeweide bezeichnet werden3 • Die Ähnlichkeit dieser Mythologeme
mit der platonischen Auffassung des Menschen oder der Seele als hier-
archische Gesellschaftsordnung (siehe unten S. 124 ff.) ist frappant.
Wenigstens im Purusha-Lied scheint auch eine ideologische Zielsetzung
vorzuliegen, die derjenigen Platons verwandt ist. Eine bestimmte Sozial-
ordnung soll legitimiert werden, indem man sie auf den Ur-Menschen
und die Weltentstehung zurückführt.
So darf man sagen, daß die biomorphen Modelle im Mythos, zumal
der archaischen Hochkulturen, ungemein verbreitet und wirksam waren.
In der Philosophie ist ihre Rolle eine wesentlich bescheidenere und die
Theologie des orthodoxen Christentums hat sie vollends zurückgedrängt,
ohne sie jedoch ganz ausschalten zu können. Oft sehen wir sie ins Geistige
transponiert, etwa wenn sich die grob sexuelle Selbstbegattung zur
Emanation verfeinert, oft sind sie auch von intentionalen Vorstellungen,
Analogien des Wollens und Handelns, durchsetzt. Schließlich haben
starke philosophische Strömungen die Lebensvorgänge selbst mit Hilfe
intentionaler, und zwar in erster Linie technomorpher, Leitbilder gedeutet.
Besonders seit Aristoteles ist die Auffassung des organischen Werdens
nach dem Modell künstlerisch-handwerklicher Fertigungsprozesse sehr
beliebt. Dennoch brechen biomorphe Vorstellungen aus dem Volksglauben,
in welchem sie kraftvoll weiterwirken, und aus mystischen oder theo-
sophischen Geheimtraditionen, in denen sie unter der Decke der kirch-
lichen Rechtgläubigkeit fortleben, nicht selten hervor und gewinnen bis
in das vorige Jahrhundert immer wieder eine gewisse philosophische und
literarische Bedeutung.
Ungleich wichtiger, ja eigentlich grundlegend für den Aufbau der Kos-
mologie der Hochkulturen und weiterhin für das Weltbild eines großen

1 R. WITTKOWER: Architectural Principles in the Age of Humanism,


London 1949, S. 12ff., S. 89.
a P. DEUSSEN: Allgemeine Geschichte der Philosophie I/I, 4. Aufl.,
Leipzig 1920, S. 155.
3 H. BAUMANN : Geschlecht, S. 285.
Grundformen des Denkens im Mythos 19

Teiles der traditionellen Philosophie sind aber jene Modelle, die nicht vom
Leben oder vom Körper des Menschen entlehnt sind, sondern von seinem
planmäßigen, wertgerichteten und normbestimmten Handeln in Werk-
tätigkeit und Gemeinschaftsordnung. Einzelne Phänomene, ihre Zusam-
menhängel und schließlich das ganze Universum erscheinen als Vorgänge,
Objekte und Produkte künstlerisch-handwerklicher Tätigkeit oder als
soziale Strukturen und Sinnzusammenhänge2 wie Familie, Sippe und
Staat, wie Brauch, Sitte und Recht, wie Lohn, Rache und Strafe. Die
erste Gruppe von Analogien kann man als technomorph bezeichnen, wenn
man den antiken Sinn von Techne als Kunstfertigkeit und nicht den
modernen der Maschinentechnik zugrunde legt, die zweite als soziomorph.
Da beide vom absichtsgeleiteten, zweckgerichteten Wollen und Handeln,
also von der menschlichen Intentionalität stammen, kann man sie unter
dem Namen der intentionalen Modellvorstellungen zusammenfassen und
das mit ihrer Hilfe aufgebaute Weltbild als intentionale Weltauffassung
ansprechen.

Da der soziale Zusammenhalt und die Handfertigkeit zu den Grund-


voraussetzungen menschlichen Daseins zählen, ist ein hohes Alter dieser
Denkformen sehr wahrscheinlich. Für diese phylogenetische Annahme
spricht auch der ontogenetische Befund, den besonders die Entwicklungs-
psychologie Jean Piagets3 erhoben hat. Als bezeichnende Merkmale
der kindlichen Weltbetrachtung gelten diesem Forscher der "animisme"
und der "artificialisme". Der erstere entspricht in weitem Umfange dem,
was hier soziomorphe Auffassung der Dinge genannt wird, während der
letztere sich genau mit der technomorphen Deutung deckt.
Der kindliche "Animismus" besteht nämlich nicht in einer unter-
schiedlosen "Naturbeseelung", sondern eher in der Auffassung der Welt
als Ordnung von vorwiegend moralischen und sozialen Regeln und von
"Rollen" oder "Aufgaben", welche den Naturdingen als Mitspielern des
Menschen zukommen4 • Die Dinge treten nicht nur zueinander in sozio-
I J. PlAGET: Introduction a, l'epistemologie genetique, tom. II, Paris 1950,
S. 282; "Il est frappant, en effet, de constater combien toutes les formes
prescientifiques de causalite consistent en assimilations directes du reel aux
actions humaines, executees individuellement ou surtout en commun."
2 Zur Bedeutung der Sozialordnung als Modell des Weltverständnisses vgl.
auch M. SCHELER: Die Wissensformen und die Gesellschaft, Leipzig 1926, S. 54ff.
3 J. PLAGET: La representation du monde chezl'enfant, 3. ed., Paris 1947.-
Vgl. auch W. HANSEN: Die Entwicklung des kindlichen Weltbildes (Hand-
buch der Erziehungswissenschaft IIj2), München 1938, bes. S. 138ff.
4 J. PLAGET, a. a. 0., S.220, 222: Die Regelmäßigkeiten des Weltlaufes
"sont des regles morales ou sociales beaucoup plus que des lois physiques.
C'est le decus est. Tel est le nerf de l'animisme enfantin: les etres natureIs
sont conscients dans la mesure oll. ils ont une fonction a remplir dans l'economie
des choses ... L'enfant prete aux choses une conscience destinee a expliquer
avant tout leur hierarchie et leur obeissance. L'enfant prete aux choses une
morale plus qu'une psychologie ... leur volonM (sc. des choses) est obligee
par une loi morale, dont le principe est de tout faire pour le plus grand bien
des hommes". - Im folgenden sind die Seitenzahlen PlAGETS direkt in den
Text gesetzt.


20 Grundformen des Denkens im Mythos

morphe Beziehungen der "Hierarchie" und des" Gehorsams" (248), sondern


der ganze Kosmos erscheint als ein soziales Rollenspiel (377, 380), in dem
allen Gegenständen ihre Aufgaben zum Wohle des Menschen zugewiesen
sind. Das Kind verleiht den Naturdingen ein Bewußtsein nur insofern
und in dem Maße, als dies für die Erfüllung jener ihrer "Funktionen"
erforderlich ist. Beispielsweise kann die Sonne unseren Weg finden, weil
sie uns begleiten soll, um uns zu wärmen; oder der Bach weiß seinen Lauf
und nimmt Schwung zur Überwindung von Hindernissen, um uns mit
Wasser zu versorgen; der Mond hat die Aufgabe, nachts über uns zu
wachen (247) usw. Auch dort, wo ausnahmsweise den Dingen "Freiheit"
zugestanden wird, geschieht dies durchaus in sozialen Kategorien. Sie
werden als frei bezeiclmet, weil sie "allein" sind, d. h. weil niemand in
der Nähe ist, der sie überwacht oder kommandiert und dem sie gehorchen
müssen. Diese Dinge werden also gewissermaßen als eine Schar unbe-
aufsichtigter Kinder betrachtet. Die Sonne "kann tun, was sie will",
weil sie "mit dem Mond allein" ist, und die Wolken sind frei, "weil sie
mit anderen Wolken allein sind", während das Kind nur dann tun kann,
was es will, "wenn Mama es erlaubt" (225). So wird die Welt auch dann
soziomorph - nämlich aus der Situation des Kindes in der Familie -
gedeutet, wenn nicht die Regelmäßigkeit, sondern die "Freiheit" zur
Frage steht. In beiden Fällen wird den Dingen vor allem ein Wille als
Fähigkeit zu intentionalem Handeln zugeschrieben, der entweder einer
vorgegebenen moralisch-sozialen Ordnung oder Autorität "gehorcht" oder
auch "frei" ist, sofern eine solche im Augenblick fehlt (393).
Die gleiche Intentionalität ist auch der Ausgangspunkt für den "arti-
ficialisme", die technomorphe Weltdeutung. Das Ursprüngliche dieser
Auffassung ist nämlich - wie Piaget wohl mit Recht behauptet - die
"Erklärung" der Dinge durch eine "Absicht", die vermeintlich ihrer Ent-
stehung zugrunde liegt, und nicht so sehr durch die Analogie mit einem
physischen Herstellungsprozeß, dessen "technische" Einzelheiten bereits
ein gewisses Maß an konkreten Kenntnissen voraussetzen und den Men-
schen dazu zwingen, sich bestimmte Vorstellungen über den Hergang
der angeblichen Herstellung zu machen (379)1.
So unterscheidet Piaget verschiedene Stadien des "artificialisme",
welche durch eine zunehmende Verlegung des Schwerpunktes von der
menschlichen Absicht auf das Verhalten des Werkstoffes gekennzeichnet
sind. Auf das "diffuse" Stadium, in welchem die Dinge vermeintlich "für
uns" gemacht sind, folgen die beiden Stufen des "mythologischen" und
des "technischen" Artifizialismus. Auf der mythologischen Stufe sind die
Naturdinge und -phänomene - die Sonne, der Himmel, die Nacht, die
Berge, die Flüsse usw. - direkt von Menschen "hergestellt" oder "her-
vorgerufen" (267,394). Die Gestirne sind "mit einem Zündholz angesteckt"

1 W. HANSEN, a. a. 0., S. 148: Das Kind der Frühphase "ist nicht darauf
gerichtet, durch Schaffung bestimmter Ursachen seine Handlungsziele zu
erreichen. Es meint, der bloße Wunsch genüge, und es versteht daher sachliche
Belehrungen nicht". Demgemäß steht auch das Wünschen oder Wollen im
Mittelpunkt des frühkindlichen Weltbildes.
Grundformen des Denkens im Mythos 21

(267) oder der Liebe Gott entzündet die Sonne "mit Holz und Kohle".
Der Mond ist eine Wolke, die an einer von den Menschen abgeschossenen
Rakete Feuer gefangen hat, und die Wolken selbst stammen aus den
Kaminen unserer Häuser (270f.). Die Mondviertel werden jeweils zu Neu-
mond gemacht oder entstehen dadurch, daß der Mond auseinander-
gesclmitten wird (275). Die Himmelskuppel ist ein Steingewölbe, das der
Liebe Gott verfertigt hat (296) usw. Besonders deutlich wird das techno-
morphe Denken in den .Anschauungen über die Herkunft der Säuglinge.
Diese werden von den Eltern aus bereitgestelltem Fleisch "verfertigt",
ja wörtlich "mit den Händen modelliert" (385). In allen diesen Fällen
macht sich das Kind über das "Wie" der vermeintlichen Herstellung,
über ihre handwerklichen Einzelheiten, weiter keine Gedanken.
Erst mit fortschreitender geistiger Entwicklung und wachsenden Sach-
kenntnissen wird die "technische" Stufe des artificialisme erreicht, auf
welcher statt der menschlichen Intention das Verhalten des Materials
in den Vordergrund tritt. Das Kind lernt die Funktion einfacher Maschinen
verstehen und mit der Erkenntnis der Eigengesetzlichkeit des Werkstoffes
tauchen die Grenzen auf, die dem menschlichen Machen und Hantieren
durch jene Gesetzlichkeit gesteckt sind. Durch die Einsicht in die imma-
nenten Regelmäßigkeiten des Naturgeschehens wird der Glaube an die
Allmacht des menschlichen Wollens zugunsten einer von diesem unab-
hängigen Ordnung eingeschränkt (395f.). Doch auch der Natur wird auf
einer vierten Stufe, die Piaget als "immanenten Artüizialismus" bezeich-
net, eine technomorphe Funktion zugeschrieben: "La nature est heritiere
de l'homme et fabrique a la maniere de l'ouvrier ou de l'artiste" (397).
Dagegen spielen biomorphe und zumal sexuelle Modellvorstellungen
im kindlichen Denken aus begreiflichen Gründen nur eine untergeordnete
Rolle. Vorhanden sind sie zwar, doch sie treten gewissermaßen bloß als
Sondergruppe des "artificialisme" auf, da ja das Werden der Lebewesen
selbst in technomorpher Weise aufgefaßt wird. So spricht das Kind von
der "Geburt" der Sonne und des Mondes, die aber ihrerseits irgendwie
als "Herstellungsvorgang" erscheint, und von einem "Wachstum" der
Gestirne, die bei ihrer Entstehung klein waren wie Säuglinge (269, 272).

Die gleiche hervorragende Stellung wie im Denken der Kinder nehmen


die intentionalen Modelle in der Weltauffassung der Naturvölker ein.
Elementarer und unmittelbarer als das Wissen um die Zeugung und Ent-
wicklung des Lebendigen ist auch für den Menschen mythischer Früh-
zeit die Erfahrung des eigenen Wollens, des absichtsgeleiteten Wirkens
und Handelns. Auf die grundlegende Bedeutung dieser Erlebnisse als
Leitbilder des Weltverständnisses hat ebenfalls bereits Ernst Oassirer
hingewiesen: "DerMythos... beginnt mit der Anschauung des zweck-
haften Wirken8 - denn alle ,Kräfte' der Natur sind ihm nichts anderes
als dämonische oder göttliche Willen8äußerungen. Dieses Prinzip bildet
die Lichtquelle, die ihm das Ganze des Seins fortschreitend erhellt -
aber außerhalb desselben gibt es für ihn auch keine Möglichkeit des Ver-
22 Grundformen des Denkens im Mythos

stehens der Welt"l. So sieht sich der handelnde Mensch hineingestellt in


eine Welt handelnder Wesen, die meist gewissermaßen die Partner seines
Wollens und Tuns sind. In diesem Sinne hat man auch behaupten können,
für das urtümliche Denken sei die ganze umgebende Welt "lVIitspielerin
des Menschen"2.
'Vie sehr schon die Vorstellungswelt einfachster Wildbeuter durch
intentionale Leitbilder bestimmt ist, zeigt sich vor allem in deren Glauben
an einen Hochgott, der Dinge und Menschen in irgendeiner Weise "her-
gestellt" hat und ihnen gegenüber die Autorität eines Familienvaters oder
Sippenhauptes ausübt3 •
Der Gedanke, die Welt odor der erste Mensch sei von einem göttlichen
Wesen "geformt" oder "gebildet" worden, findet sich bei zahlreichen
Primitivstämmen und ist zweifellos hochaltertümlich. Beispielsweise
glauben die zentralindischen BhiI, der Hochgott Bhagwan habe die Welt
hervorgebracht, indem er sie aus Lehm formte und knetete. Die vorerst
zu weiche Masse stützte er durch das feste Gestein, das "Knochengerüst"
der Erde. In ähnlicher 'Weise hat er das erste Menschenpaar gemacht 4 ,
Der gleiche Gedanke ist in afrikanischen Mythen weit verbreitet. Wo
nicht nur gesagt wird, daß ein Gott die Menschen geschaffen hat, sondern
wo auch konkrete Angaben über diesen Vorgang gemacht werden, denkt
man sich ihn vielfach als einen Prozeß des Formens aus leicht bild barem
Material, besonders aus Ton, wobei der Vergleich mit der Töpferei häufig
vorkommt. Doch auch dort, wo es keine Töpferkunst gibt, kmlll die Her-
stellung von Kultbildern und Spielzeugtieren oder der Bau von Lehm-
hütten als Modell dienen. Eine verwandte technomorphe Analogie ist
aus Indien bekannt: wie das Haus aus Lehm, Bast und Holz, so ist das
"Gebinde" des Leibes aus Fleisch, Sehnen und Knochen gebildets. Wie
H. Baumann betont, ist in einer Reihe von afrikanischen Sprachen der
Name des Hochgottes aus Wortwurzeln abzuleiten, welche "formen",
"bilden", "kneten" und sogar direkt "töpfern" bedeuten. Als Werkstoffe
der Menschen- und Welterzeugung kommen neben Erde und Lehm auch
Fett und Holz in Betracht. Fernerhin taucht in höheren Kulturen das
Motiv des Schmiedens der Mensohen, Tiere und selbst der Gestirne auf 6 •
Es ist nicht notwendig, in diesem Zusammenhang eine umfassende
Übersicht über alle derartigen Kosmogonien und Anthropogonien zu geben.

1 E. CASSIRER: Symb. Formen II, S.65. - Vgl. G. KRAF'r: Urmensch,


S.85.
2 G. KRAFT, a. a. 0., S. 84.
3 D. G. BRINTO~: Religions of Primitive Peoples, New York 1897, bes.
S. 123f., wo von der Auffassung des Schöpfers als "Töpfer", "Schuhmacher",
"Baumeister" oder "Schmied" die Rede ist, aber auch biomorphe und reine
'Willens-Attribute angeführt werden. - Vi. SCHMIDT: Der Ursprung der
Gottesidee, 6. Bde., Münster 1912-1935, passim.
4 "\V. KOPPERS: Der Urmensch und sein Weltbild, Wien 1948, S; 129.
5 Zit. n. H. ZIMMER: Zur Symbolik der Hindutempel, "Forschungen und
Fortschritte" XIII (1931), S. 135.
6 H. BAUMANN : Schöpfung und Urzeit des Menschen im Mythus der
afrikanischen Völker, Berlin 1936, bes. S. 203ff.
Grundformen des Denkens im Mythos 23

Nur zwei besonders anschauliche Beispiele aus Europa seien noch erwähnt.
Im Weltschöpfungsbericht des finnischen Kalewala-Epos hämmert der
Schmied Ilmarinen den Himmel aus einem Stück besten Stahles so kunst-
voll, daß man nirgends Spuren von Hammer und Zange daran sieht,
spannt ihn als Gezelt über die Erde und heftet die silbernen Sterne und
den Mond· daran. Setzt dieser Mythos schon eine hohe Entwicklungsstufe
des Handwerks voraus, so gehen die Motive eines bulgarischen Märchens,
das uns allerdings in Gestalt einer christlichen Legende überliefert ist,
vielleicht in graue Frühzeit zurück. Die Himmelskörper sind in dieser
Erzählung Tonkugeln, die das Christuskind geknetet und auf Ziegel-
steinen getrocknet hat, um mit ihnen zu spielen. Es wirft sie in die Luft,
da wird aus der größten nach Gottvaters Willen die Sonne, aus den übrigen
werden die anderen Gestirne. Um seine Kugeln wieder herunterzuholen,
wirft Christus mit Erde nach ihnen, die sich gleichfalls verwandelt, näm-
lich in die kleinen Sterne der Milchstraße1 .
Mit der Entwicklung und Differenzierung der Kultur wird die Zahl
der künstlerisch-handwerklichen Tätigkeiten und Erzeugnisse, die als
Modelle der Welterklärung zur Verfügung stehen, immer größer: Kleidung,
Hausrat, Werkzeuge, Waffen und die Verfertigung aller dieser Gegen-
stände, schließlich Hausbau und Städtebau.
Den Motiven der Weltenwebe, des Sternenmantels und des Himmels-
zeltes hat Robert Eisler seine umfangreiche Monographie gewidmet.
Ihnen verwandt ist die Auffassung des Himmels als Hut oder Helm, als
Dach oder als gewölbte Kuppel. In entsprechender Weise kann die Sonne
als Schild oder als Wagenrad, das."Weltenrund" als kosmisches Fahrzeug
gedeutet werden. Da jedoch hier ebenso wie in den Vorstellungen vom
"Weltenhaus" mit seinen Stockwerken und von der "kosmischen Stadt"
nicht nur Naturerscheinungen technomorph interpretiert, sondern oft auch
umgekehrt menschliche Artefakte nach wirklich oder vermeintlichen
makrokosmischen Vorbildern gestaltet werden, fallen diese Formen mythi-
schen Denkens bereits in jene Gruppe, bei welcher ein komplizierter
Prozeß von Projektion und Reflexion stattfindet. Ihre Behandlung erfolgt
daher später.
Die technomorphen Leitbilder wurden zweifellos schon zu einer Zeit
verwendet, in welcher der Vater der Familie zugleich auch ihr Handwerks-
meister war. Mit der fortschreitenden Arbeitsteilung und dem Entstehen
von Herrschaftsverbänden wird jedoch das Handwerk zum Geschäft eines
eigenen, oft nicht sehr angesehenen Standes. So büßt es in vielen Hoch-
kulturen gegenüber der Tätigkeit der Herrschenden an Rang ein. Diese
Entwicklung hat ihre weltanschaulichen Folgen. Königsgötter treten in
den Vordergrund, die im Herrenhaus oder Palast ihre Macht betätigen
und sich nicht in der unsauberen und unvornehmen Werkstatt plagen
müssen. Wohl sind die Handwerksgötter wegen ihrer Kunstfertigkeit
geschätzt, doch werden sie vom Götteradel nicht als ebenbürtig anerkannt

1 W. GUNDEL: Sterne und Sternbilder im Glauben des Altertums und der


Neuzeit, Bonn 1922, S. 10, 14.
24 Grundformen des Denkens im Mythos

- man denke etwa an die Stellung des Hephaistos in der Gesellschaft


der Olympier. Aus dem Rangunterschied zwischen dem Herrscher und
dem Werkmann ergibt sich ein Rangunterschied zwischen ihren Funk-
tionen, der sich bis in die Philosophie hinein bemerkbar macht. So waltet
bei Numenios von Apamea, einem Denker des zweiten nachchrist-
lichen Jahrhunderts, der höchste Gott als König über das Universum,
während die weniger angesehene Funktion des demiurgischen Weltbildners
bloß dem Sohne des Königsgottes zufällt (siehe unten S. 177).
Es kommt also manchmal zu einem Konkurrenzverhältnis zwischen
den technomorphen Modellvorstellungen und jenen, die den gesellschaft-
lichen Beziehungen entstammen. Auch die soziomorphen Leitbilder sind
hochaltertümlich. Gewiß hat man schon sehr früh der Familie als Abstam-
mungs- und Lebensgemeinschaft grundlegende Schemata des Weltver-
ständnisses entlehnt. Dem Vater oder Großvater als Ahnen und Herrn
der Sippe entsprechen schon bei den einfachsten Jägern und Sammlern
Göttergestalten als Urväter und Herren des Menschengeschlechtes, ja
aller Dinge. Diese Tatsache ist aus den gesellschaftlichen Verhältnissen
leicht erklärlich: "Gott als König, als Kriegs-, als Priester-, als Schmiede-
gott und dgI. kann nicht auftreten, wo Könige, Priester, Schmiede unbe-
kannt sind. Eine olympische Aufteilung in göttliche Ressortgewalten
setzt ein irdisches Gegenbild der Arbeitsteilung voraus, das es noch nicht
gab. Das Spiegelbild ,Vater', die festeste und ständigste Autorität, bil-
det sich bezeichnenderweise dort, wo es zur Sippenverfassung kommt,
in dem gelegentlichen Anruf Gottes als ,Großvater' weiter, und dabei
mußte es bleiben"l. Der Hochgott der Feuerländer trägt solche Züge, und
besonders plastisch treten sie bei dem schon erwähnten Bhagwan der
zentralindischen Bhil hervor, wenn dieser seine unbotmäßigen Geschöpfe
herzhaft verprügelt, wie es der Familienvater mit unfolgsamen Kindern
tut 2 • Doch gibt es auch ernstere Strafen. So wird dem Fisch, der die
Menschen gegen Bhagwans Willen vor der Sintflut warnt, die Zunge
herausgeschnitten und seither sind alle Fische stumm. Oft erscheint schon
auf dieser Kulturstufe der Tod als Strafe3 • In allen diesen Fällen wird
die "Weltordnung" als Familien- oder Sippenordnung gedeutet, über die
ein strenger Vater oder Ahnherr wacht. Schon bei primitiven Wildbeutern
findet sich also eine durch und durch moralische Interpretation des Welt-
laufes. Hier herrscht bereits wie in so vielen Fabeln, Legenden und Mythen
der Hochkulturen eine "Ätiologie", für welche aitia in erster Linie "Schuld"
bedeutet. Die Stummheit der Fische oder der Tod eines Menschen wird als
"erklärt" empfunden, wenn man diese Tatsachen als Strafen für irgend-
eine Verfehlung begreifen kann. Nicht wertfreie Kausalzusammenhänge,
wie sie erst die Moderne erarbeitet hat, sondern soziale Sinnzusammen-
hänge von Verdienst und Lohn, Schuld und Sühne, aber auch von Ver-

1 F. KERN: Der Beginn der Weltgeschichte, Bern 1953, S.116f. -


G. KRAFT: Urmensch, S.81.
2 W. KOPPERS: Urmensch, S.127, 131, 132.
3 W. KOPPERS: Urmensch, S. 22f.
Grundformen des Denkens im Mythos 25

langen und Gewährung sind hier die Grundformen des Weltverständnisses1 .


Eine Fülle von Beispielen hiefür hat Hans Kelsen in seinem Werk
"Vergeltung und Kausalität" gesammelt 2 • Von ihnen seien hier nur einige
erwähnt. Bei dem afrikanischen Stamm der Kpelle tritt man zu den
Heuschreckenschwärmen gewissermaßen in soziale Beziehung, indem man
sie durch Bitten und freundliches Zureden zur Umkehr zu bewegen sucht,
während die Selknam auf Feuerland einen lästigen Regen durch Beschimp-
fungen zu verjagen trachten und das gute ·Wetter auffordern, sich den
Regen nicht weiter gefallen zu lassen. Kelsen betont mit Recht, daß der
Primitive nur jene Formen des Naturgeschehens als erklärungsbedürftig
empfindet, die ihn gefühlsmäßig beeindrucken oder in sein Leben ein-
greifen, also Elementarereignisse, Unglück und Tod. Die echten Kausal-
erklärungen sind dem Naturmenschen nicht bloß in den meisten Fällen
unzugänglich, sondern sie würden ihn auch wenig befriedigen, da sie die
betreffenden Vorgänge nicht in den werthaften Si1111zusammenhang des
Lebens einordnen. Beispielsweise sind ihm Blitz und Domler als Werk-
zeuge göttlicher Strafgewalt "verständlich", kaum aber als Entladungen
der Luftelektrizität und deren akustische Folgeerscheinungen (HO). Ähn-
liches gilt für andere auffallende und Schrecken erregende kosmische
Phänomene, für vulkanische Eruptionen, Erdbeben, Unwetter, Flut-
katastrophen usw. (92, 159), aber auch für Krankheit und Tod. Alle diese
physischen Vorgänge werden nicht als solche begriffen, sondern sozial
gedeutet, und zwar meist als Strafen, manchmal aber auch als Auswirkun-
gen eines feindlichen Schadenzaubers. Die Sterblichkeit des Menschen als
solche ist für viele Völker eine Vergeltung für ein urzeitliches Vergehen,
der Tod ist ihnen "der Sünde Sold" (148). Auch der Mangel anderer
Güter als der Unsterblichkeit und anderes Leid als der Tod wird im Mythos
oft nach dem Vergeltungsprinzip erklärt, etwa das schmerzvolle Gebären
oder die Notwendigkeit der Arbeit (156). Die Tier- und Pflanzenwelt ist
gleichfalls in den Kreis der Wiedervergeltung einbezogen. Besonders
häufig werden Gestalt, Farbe, Eigenart und Lebensweise von Tieren als
Lohn oder Strafe aufgefaßt (139). Oft findet sich auch der Glaube, daß
der erfolgreiche Jäger der Rache seitens der Artgenossen oder der Toten-
seele des erlegten Wildes ausgesetzt sei (72) oder daß man ein Raubtier
nur in Vergeltung für ein von ihm oder seinen Verwandten begangenes
Unrecht töten dürfe. Manchmal werden auch Bäume "bestraft", von
denen ein Mensch zu Tode gestürzt ist. Man haut sie um und schlägt sie
in Stücke (92). Andererseits fürchten manche Primitive die Rache von
Pflanzen, die man schlecht behandelt, etwa von Bäumen, die zu Bauholz
verarbeitet werden. Beim Fällen gewisser Bäume werden ähnliche Riten

1 F. KERN: Beginn, S. 121, erkennt ebenfalls die für das primitive Denken
eigentümliche moralische Deutung des Naturgeschehens: "Diese naiven
kosmischen Geschichten können erst wir als Hineinspiegeln von synderetisch
Wirklichem in das Kosmische erklären; der Wildbeuter kann und will diese
Sphären nicht auseinanderhalten. "
2 H. KELSEN: Vergeltung und Kausalität, Den Haag 1946. - Die Seiten-
zahlen werden im folgenden Abschnitt direkt in den Text gesetzt.
26 Grundformen des Denkens im Mythos

beobachtet wie beim Erlegen des Wildes, offenbar um den Zorn der im
Baum vermuteten Seele zu bannen (88). Hiebei kann wie in vielen ähn-
lichen Bräuchen auch die Vorstellung mitspielen, daß in Tieren und
Pflanzen menschliche Totenseelen reinkarniert sind.
Bereits auf urtümlicher Stufe gibt es also neben der Kosmologie und
Kosmogonie des "Machens " , "Herstellens" und "Formens" eine Welt-
erklärung mit Hilfe der Begriffe des "Herrschens", "Befehlens" oder "Ver-
geltens". Das Universum ist nach dieser Auffassung nicht ein Artefakt,
sondern eine Familie oder Sippe mit Vater und Ahnherren, später ein
Dorf oder Stamm mit seinem Häuptling und schließlich in den Hoch-
kulturen ein Staat mit seinem König. Seine Ordnung ist eine Ordnung
des Ranges und der Macht, der Sitten und Gebräuche, Rechte und Pflich-
ten, Belohmmgen und Strafen - kurz ein vollständiges soziales Rollen-
spiel, in das der Mensch hineingeboren wird und durch das er eine vor-
gegebene "Stellung im Kosmos" erhältl. Aber auch Einzelerscheinungen
des Naturgeschehens, deren Zusammenhänge untereinander und deren
Beziehungen zum Menschen werden, wie wir gesehen haben, nach sozialen
Leitbildern verstanden.
Im Laufe der Entwicklung von Kultur und Gesellschaft gestaltet sich
auch die soziomorphe Weltauffassung weiter aus, da immer umfassendere
und reicher gegliederte Sozialstrukturen als Modelle für die Vorstellungen
von den Göttern und die Deutung der Erfahrungswirklichkeit zur Ver-
fügung stehen. So differenziert sich das "sozio-kosmische Universum",
das Götter, Menschen und Dinge umfaßt, auf dem Boden der Klanver-
fassungen zu einem System von Abstammungslinien, die alle zu dem
gemeinsamen Urvater hinaufführen. Man hat sogar zu zeigen versucht,
daß in den kosmologischen Mythen der betreffenden Völker das Vater-
recht vorherrscht und "der Himmel ebenfalls in klanischer Weise ausge-
bildet ist, denn die Wesen der metaphysischen Welt leben in Dörfern
und Gruppenformationen, wie die Lebenden auf der Erde. So kann man
von einer klanischen Religion und von einer klanischen Metaphysik und
Philosophie sprechen"2. Auch dort, wo primitive und höhere Kulturen
aufeinanderstoßen, sucht man manchmal die auftretenden weltanschau-
lichen Schwierigkeiten mit Hilfe soziomorpher Modelle zu lösen. Bei den
Bhil, die mehrere Gottheiten aus dem Hinduismus übernommen haben,
werden diese dem Hochgott Bhagwan als "Angestellte" (meIeta) unter-
geordnet. Dabei weisen die Bhil gerne zum Vergleich auf die soziale Rang-
ordnung in der umgebenden indischen Kultur hin, auf den Fürsten und

1 Vgl. G. KRAFT: Urmensch, S.84. - Der Glaube an gewisse von der


kosmischen Regie für den Menschen vorherbestimmte "Rollen" hat selbst
in der Philosophie lange nachgewirkt, vgl. W. KRANZ: Welt und Menschen-
leben im Gleichnis, im Sammelband "Wirtschaft und Kultursystem", Fest-
schrift f. A. V. RÜSTOW, hrsg. v. G. EISERMANN, Zürich 1955, S.172ff.,
bes. S. 188ff. .
2 E. Possoz: Die Begründung des Rechtes im Klan, im Sammelband
"Religiöse Bindungen in frühen und in orientalischen Rechten", hrsg. v.
K. BÜNGER U. H. TRIMBORN, Wiesbaden 1952, S.19.
Grundformen des Denkens im Mythos 27

seine Beamten. Diese sind Untergebene und Vermittler, an die man sich
zuerst wendet, wenn man vom Fürsten etwas zu erreichen beabsichtigt!.
Die Parallele zu den Pantheonbildungen der alten Imperien, in welchen
die Götter der einzelnen Städte und Provinzen dem Reichsgott gewisser-
maßen als Vasallen unterstellt werden, ist hier offenkundig.
Ein geradezu klassisches Beispiel einer sozio-Iwsmischen vVeltauf-
fassung, die an innerer Folgerichtigkeit keinen Vergleich mit den Kosmos-
spekulationen der Hochkulturen zu scheuen braucht, aber doch noch ganz
im vorstaatlichen Sippenverband wurzelt und ein starkes biomorphes
Element enthält, ist uns bei den Bantustämmen bekannt geworden.
P. Placidius Tempels, dem wir die Darstellung dieses Weltbildes ver-
danken, nennt das Universum dieser Stämme eine streng geregelte "onto-
logische Hierarchie" von Kräften, die mit der indischen Kastenordnung
vergleichbar ist 2 • Sie entspricht genau der Sippenverfassung der Bantus.
An der Spitze steht Gott, der die Lebenenergie, die zugleich Rang und
Macht bedeutet, den Stammeltern der verschiedenen Klans mitgeteilt
hat. Von diesen geht sie nach dem Grundsatz der Erstgeburt auf die
kommenden Generationen über. Der Erstgeborene, also der Älteste jeder
Sippe, verbindet diese und darüber hinaus alles Leben in seinem Macht-
bereich mit dem göttlichen Urquell der Lebenskraft. An ihm hängt die
Fruchtbarkeit von Mensch, Tier und Pflanze im Sippenbereich, und er
gibt seinerseits jene Energie an seinen Erstgeborenen weiter. So geht eine
ununterbrochene Rang- und Lebensordnung von Gott über die Ahnen-
reihen zu den lebenden Sippenhäuptern mit ihrem Anhang und darüber
hinaus zu den Tieren, Pflanzen und Mineralien. Der Kosmos erscheint
also einerseits als gewaltiger Sippenverband und andererseits wird die
Klanverfassung in die durch die soziomorphe Deutung des Universums
zustande gekommene "Weltverfassung" eingebaut und so garantiert. In
dieser umfassenden Hierarchie der Lebensränge ist für jedes Wesen vom
Gott bis zum Stein eine bestimmte Stellung vorgesehen, und jede Störung
dieser Ordnung kann schwerwiegende Folgen zeitigen. Beispielsweise kann
nur das legitime Sippenhaupt den Seinen die kosmische Lebenskraft
zuleiten, weshalb eine Machtergreifung durch Unbefugte diese Zuleitung
unterbricht und daher Unfruchtbarkeit und Mißwachs hervorruft. Das
Oberhaupt einer sozialen Gruppe erscheint hier als Mittler zwischen dieser
und den Mächten des Universums und hat damit bereits die Rolle inne,
welche der König in vielen Hochkulturen spielt.
Diese Motive kosmobiologischer Verbundenheit sind überhaupt im
Mythos sehr häufig und in der Regel direkt mit der Sorge um die Erhaltung
des Lebens und um den Lebensunterhalt verknüpft. Soziale und biologische
Gesichtspunkte sind dabei meist unlöslich miteinander verflochten.
Moralische Schuld kann Unfruchtbarkeit von Feldern, Tieren und Men-
schen herbeiführen, zu Unrecht vergossenes Blut die Erde vergiften. Den
Gerechten dagegen winkt reicher Fruchtertrag. Solche Überzeugungen

1 W. KOPPERS: Urmensch, S. 136.


2 P. TEMPELS: Bantoe-Filosofie, Antwerpen 1946, S.32ff.
28 Grundformen des Denkens im Mythos

waren im alten Ägypten, aber auch im frühen und klassischen Griechen-


land verbreitet!. Oft wird auch die astrale Sphäre in diese Zusammen-
hänge einbezogen, teilweise wohl auf Grund von Beobachtungen und
Vermutungen über den Einfluß der Sonne und des Mondes auf das Wachs-
tum der Pflanzen, teilweise aber auch im Rahmen allgemeiner Entspre-
chungen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos. So kommt es zur
Entwicklung einer "Astrobiologie"2, die sich nicht selten im Zusammen-
hang der Deutung des Universums als Lebens- und Rechtsordnung gel-
tend macht.
Es zeigt sich also immer wieder, daß die verschiedenen Typen von
Modellvorstellungen oft miteinander kombiniert werden und sogar ver-
schmelzen, wie ja auch im Leben häufig die menschlichen Handlungen
mit Tieren oder Sachen im Zusammenhang stehen und Biologisches,
Soziales und Technisches einander überschneiden. Die Familie ist zugleich
Blutsgemeinschaft und Sozialverband, geschlechtliche und moralische
Beziehungen sind in ihr vereinigt; die Siedlung und zumal die Stadt ist
gleicherweise ein architektonisches und ein gesellschaftliches Gebilde. So
sind auch im l\iythos biomorphe und intentionale Elemente miteinander
verbunden, etwa in der erwähnten Welterzeugung durch Prajapati oder
in der phönikischen Kosmogonie, wo der Handwerkergott Chusor da,s
Weltei öffnet, aus dessen Hälften Himmel und Erde hervorgehen3 •
Auch werden oft Vorstellungen, die aus einem der erwähnten Wirklich-
keitsbereiche stammen, zur Erklärung von Phänomen eines anderen dieser
Bereiche herangezogen. So können biomorphe Modelle auf technische oder
soziale Vorgänge angewendet werden, beispielsweise wenn manche Natur-
völker das Feuerreiben als sexuellen Vorgang auffassen, wenn man die
erdaufreißende Pflugschar als zeugenden Phallus betrachtet' oder wenn
bei zentralafrikanischen Völkern der Hochofen in Gestalt eines Weibes
modelliert wird, während der Blasebalg den Mann darstellt und die ganze
Eisenverhüttung als heilige Handlung und als Ausübung des Geschlechts-
aktes gilt 5 . Selbst Erzeugnisse der modernen Technik werden manchmal
von den Naturvölkern biomorph gedeutet. So wollte ein südafrikanischer
Eingeborener, der zum erstenmal ein Flugzeug sah, sich diesen "großen
Vogel" kaufen. Als er erfuhr, daß das fertige Flugzeug für ihn uner-
schwinglich sei, wollte er doch "wenigstens ein Ei von diesem Vogel"
erwerben6 • Verblaßte Reste derartiger Analogien sind noch heute in unserer

1 M. ELIADE: Religionen, S.290, mit Hinweis auf HEsIOD, Werke und


Tage 225-237; vgl. Odyssee XIX, 108ff.
2 R. BERTHELq:r: La pensee de l'Asie et l'astrobiologie, Paris 1949.
3 S. MORENZ: Agypten, S.81.
4 M. ELIADE: Religionen, S. 292.
6 L. FROBENIUS: Erythräa, Berlin 1931, S.213. - H. BAuMANN: Lunda.
Bei Bauern und Jägern in Inner-Angola, Berlin 1935, S. 82. - ders., Schöpfung
und Urzeit, S. 358.
e K. RORETZ: An den Quellen unseres Denkens, Wien 1937, S.241. -
Biomorphe Bezeichnungen für die Erzeugnisse moderner Kriegstechnik
gebraucht heute noch der Bauernsoldat der russischen Armee. Beispielsweise
ist ein Jagdflugzeug ein "Falke", ein UT-übungsflugzeug ein "Entchen"
Grundformen des Denkens im Mythos 29

Sprache vorhanden, etwa Ausdrücke wie "Matrize" oder "Schrauben.


mutter".
Häufig werden auch technische Modelle auf Lebensvorgänge über·
tragen. Hierher gehört vor allem die Auffassung der Lebewesen als Arte·
fakte, die schon im Bereich der Töpfer. und Handwerkergötter auftritt
und die sich in der Philosophie von Aristoteles .bis Thomas von Aquin
immer stärker durchgesetzt hat. In der Neuzeit hat die "Maschinen.
theorie des Lebens" die technomorphe Deutung biologischer Erschei·
nungen fortgesetzt, aber zum Unterschied von der älteren "teleologischen"
Interpretation nicht das Planen und Ausführen, sondern den selbst·
tätigen, auf Grund der Eigenschaften und der Anordnung des Werk·
stoffes erfolgenden Gang des fertigen Artefaktes als Modell verwendet.
Nicht selten kommt es auch zu Doppelübertragungen und Rücküber·
tragungen, und zwar besonders in der späteren Entwicklung. Wenn bei·
spielsweise noch heute von einer "organischen Staatstheorie" die Rede
ist, so liegt dieser Sprechweise zunächst eine Anwendung des Gleichnisses
vom zweckrationalen Gebrauch des Werkzeuges (organon) auf die Funk.
tionen des lebendigen Körpers zugrunde, und die so entstandene Vorstel.
lung des belebten "Organismus" wird aus der biologischen in die politische
Sphäre übertragen. Andererseits hat man das Universum oder das mensch·
liche Individuum als Sozialgebilde aufgefaßt und aus der so zustande
gekommenen Idee des "Weltgesetzes" oder der "Hierarchie der Menschen·
natur" Rückschlüsse auf die wahre oder beste Gesellschaftsordnung oder
Staatsorganisation gezogen. Auf diese Phänomene von Projektion und
Reflexion, die für die Hochmythologie und Philosophie von äußerster
Wichtigkeit sind, wird die vorliegende Untersuchung immer wieder zurück·
kommen.
Aus allem Gesagten wird klar, daß die biomorphen, technomorphen
und soziomorphen Modelle keineswegs das gesamte mythische Denken
beherrschen und daß nicht jede Erscheinung dieses Denkens in eine der
drei Gruppen einzuordnen ist. Immer wieder stößt man auf Motive, die
zu jenen Leitbildern keine Beziehung haben. Doch ebensowenig kann ein
Zweifel daran bestehen, daß zumal die intentionalen Modelle sehr alt
und außerordentlich verbreitet sind. Nunmehr soll aber ihre Wirksamkeit
im Weltbild der Hochknlturen und in der philosophischen Spekulation
zur Darstellung gelangen.
Über den genauen Zeitpunkt und die geschichtlichen Einzelheiten der
Entstehung und Entwicklung der Kosmosmythologie in den alten Hoch·
kulturen fehlt uns ein sicheres Wissen, da diese beim Einsetzen der histo·
rischen Überlieferung schon in ihren Grundzügen vorliegt. Möglicher.
weise hat sie sich an der Wende von der Jungsteinzeit zur Bronzezeit
aus älteren Elementen zu bilden begonnen, jedenfalls aber steht sie mit

(utenok), eine Mine eine "Gurke", eine Springmine ein "Frosch", Patronen
sind· "Sämereien" usw. So findet er seinen heimatlichen Bauernhof in der
technischen Umgebung wieder. Vgl. B. H. LIDDELL HART: The Soviet Army,
London 1956, S.411.
30 Grundformen des Denkens im Mythos

dem Werden des Staates in engstem Zusammenhang. Für den Aufbau


dieser Hochmythologie ist bezeichnend, daß mit Hilfe biomorpher und
besonders intentionaler Leitbilder, aber auch einiger anderer Motive, ein
Weltbild entworfen wird, welches den Mikrokosmos des Menschenlebens,
zumal die Sozialordnung, den Makrokosmos des gestirnten Himmels und
den Bereich der göttlichen Wesen gleicherweise umfaßt und zueinander
in Beziehung setzt, so daß sie schließlich in einem einheitlichen "sozio-
kosmischen Universum" miteinander verschmelzen.
Die für diese Entwicklung so charakteristische Einbeziehung der astra-
len Sphäre ist wohl auf verschiedenen Wegen erfolgt. Oft hat man die
Gestirne und ihre Bewegungen als Lebewesen und deren Verhaltens-
weisen betrachtet. Sonne und Mond erscheinen in vielen Mythen als Ehe-
paar, wobei die männliche bzw. weibliche Rolle bald dem einen, bald
dem anderen Himmelskörper zugeschrieben wird, und die Sterne sind
die Kinder dieses Paares. Im alten Peru wurden nach dem Vorbild der
dort üblichen Geschwisterehen die beiden großen Gestirne zugleich als
Bruder und Schwester und als Ehegatten angesehen. Doch auch kompli-
ziertere gesellschaftliche Beziehungen werden in den Kosmos projiziert:
Sonne und Mond führen miteinander Krieg, oder der Mond mit seinem
Hof ist ein Häuptling, der mit seinen Leuten Kriegsrat hält. Von hier
ist es nur mehr ein weiterer Schritt zu der aztekischen Vorstellung, daß
die aufgehende Sonne die Sterne besiegt und dem Mond den Kopf ab-
schlägt und fernerhin zu den verbreiteten Mythen vom Sternenheer oder
vom himmlischen Hofstaat, auf die wir noch ausführlich zurückkommen
werdenl .
In vielen Fällen handelt es sich jedoch nicht um einfache soziomorphe
Projektionen, sondern um eine weitgehende Verschmelzung von Kosmos
und Gesellschaft, deren Wurzeln gleichfalls weit zurückreichen. Nach den
Vorstellungen vieler Naturvölker und auch in unseren Märchen kann der
Mensch zu den Gestirnen in den verschiedensten Beziehungen stehen. Sie
sind ihm Freunde, Tröster und Helfer, aber es gibt auch böse Sterne,
die als Raubtiere, Menschenjäger und Zauberer ihre Opfer suchen. Oft
werden auch die Sternenwesen als Seelen der Ahnen oder der noch unge-
borenen Kinder betrachtet. Unter dem Einfluß kosmobiologischer Ge-
danken, zumal des Glaubens an die Fruchtbarkeitsmacht der Himmels-
körper, hält man mitunter sogar Ehen von Gestirnen mit Menschen für
möglich, aus denen Sternkinder entstammen2 , die mächtige Häuptlinge
und Väter großer, tapferer Stämme und Völker werden. Es ist nur eine
Weiterführung solcher uralter Motive, wenn die Herrscher der früh-
geschichtlichen Zeit als Söhne des Himmels oder Brüder der Sonne ver-
ehrt wurden.
Mit der Deutung der Gestirne als Lebewesen oft verbunden, aber
vielleicht noch altertümlicher, ist ein echtes kosmisches Element, näm-

1 W. GUNDEL: Sterne, S. 33ft., 171ff. - H. KELSEN: Vergeltung, S. 46ff.,


132ff.
2 W. GUNDEL, Sterne, S. 186.
Grundformen des Denkens im Mythos 31

lieh die Orientierung nach den Kardinalpunkten und zumal dem Osten
und Westen als den Orten des Aufganges und Unterganges der Sonne.
Schon altsteinzeitliche Gräber sind in ost-westlicher Richtung angelegt,
weshalb man vermuten darf, daß diese Weltgegenden bereits damals mit
irgendwelchen bedeutsamen Vorstellungen verknüpft waren. Eine erheb-
liche Wichtigkeit für das menschliche Handeln gewannen die astralen
und meteorologischen Vorgänge mit der Orientierung an den Gestirnen,
wie sie viehzüchtende Nomaden oder Karawanenführer in den Steppen
und Wüsten oder die Seefahrer auf dem Meere geübt haben. In Ackerbau-
kulturen bildet sich ein "Bauernkalender" heraus, nach welchem die
Landarbeit dem Rhythmus der Jahreszeiten und anderen wirklichen oder
vermeintlichen kosmischen Gegebenheiten angepaßt und eingefügt wird.
Doch die echten astronomischen Beobachtungen, die aus solchen Gründen
gemacht wurden, bleiben nicht isoliert, sondern stehen im Zusammenhang
der gesamten mythischen Weltauffassung.
Sehr oft tritt im Rahmen dieser Weltauffassung der Glaube an die
kosmischen Zahlen auf, mit deren Hilfe die Übereinstimmung von mensch-
lichem Handeln und universeller Ordnung herbeigeführt werden soll. Den
verschiedenen Zahlen werden nämlich bestimmte kosmische Bedeutungen
verliehen, die allerdings örtlich und zeitlich stark variieren, da sie weit-
gehend willkürlich sind. Beispielweise kann die Eins die Gesamtheit des
Universums oder das androgyne Weltprinzip symbolisieren, die Zwei etwa
Himmel und Erde, Sonne und Mond, Tag und Nacht oder die beiden
Geschlechter. Die Drei mag den drei Stockwerken des Weltgebäudes -
Himmel, Erde und Unterwelt - entsprechen, sie wird auch häufig dem
männlichen Prinzip zugeordnet. Die vier Weltgegenden oder Jahreszeiten
geben ihrer Zahl die kosmische Bedeutung, aber oft gilt diese auch als
Symbol des Weiblichen. Tritt zu den Weltgegenden die Mitte hinzu, dann
ergibt sich die Fünfzahl, werden jedoch die Kardinalpunkte mit Zenith
und Nadir oder Himmel und Erde kombiniert, dann erhält man die Sechs,
und bezieht man noch den Mittelpunkt ein, die Sieben. Diese ist aber
auch die Zahl der Planeten oder resultiert aus der Vereinigung des Männ-
lichen und Weiblichen (3 plus 4) usw. Praktisch kann jede Zahl eine
derartige Bedeutung erhalten, indem man sie entweder direkt mit kos-
mischen Erscheinungen in Beziehung setzt oder sie als Kombination kos-
mischer Zahlen (deren Summe, Produkt oder Potenz) auffaßt. Darum war
es den verschiedenen Systemen der Zahlenspekulation möglich, diese
Thematik ins Endlose auszuspinnen1 • Für unsere Untersuchung ist es
aber wichtiger, daß in den alten Hochlrulturen nicht selten die Maße und
Proportionen von Bauwerken oder die Zahl von .Ämtern und Würden-
trägern nach solchen Gesichtspunkten festgelegt wurden, um dadurch
den Tempel, den Palast oder die ganze Stadt, aber auch die Organisation

1 E. CASSIRER: Symb. Formen H, S.174ft - J. SAUER: Symbolik des


Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Auffassung des Mittelalters,
2. Aufl., Freiburg 1924, S. 6lff. - L. FROBENIUS: Monumenta terrarum,
Frankfurt 1929, S. 30lff., bes. 373ff.
32 Grundformen des Denkens im Mythos

des Staates zum Abbild des "Weltgebäudes", der "Himmelsstadt" odel


des "Sternenstaates" zu machen oder sie der universellen HarmoniE
einzufügenl . Von einer solchen Abstimmung auf die allumfassende Ordnung
wurde zumeist eine magische Wirkung erwartet, welche dem Herrscher-
haus oder dem Staat Glück und Gedeihen verbürgen sollte.
Schließlich geraten immer weitere Gebiete der Wirklichkeit in den
Bann der Kosmosspekulation. Es kommt zur Ausbildung ganzer Systeme
von Entsprechungen, in welchen den Himmelsrichtungen oder Gestirnen
bestimmte Farben, Töne, Edelsteine, Pflanzen, Tiere oder Körperteile
zugeordnet werden. Oharles Baudelaire hat dieses Gewebe von Bezie-
hungen in dem Gedicht "Oorrespondances" mit tiefer Einfühlung charak-
terisiert - les parfums, les couleurs et les sons se repondent. Doch jene
alles durchwebende "Sympathie" ist zugleich ein System vermeintlicher
Wechselwirkungen, denn die Glieder des universellen Zusammenhanges
üben nach dieser Überzeugung aufeinander und auf den Menschen heil-
same oder verderbliche Einflüsse aus.
Alle derartigen Vorstellungen entwickeln sich auf dem Boden einer
kräftigen Phantasie, welche die "Himmelsflur" mit Bergen und Tälern,
Seen und Flüssen, Pflanzen und Tieren, Geräten, Zelten und Häusern
ausstattet. So baut sich aus manchen echten kosmischen und viel zahl-
reicheren in den Kosmos hineingelesenen irdischen Elementen eine
Himmelswelt auf, die eine weitgehende Spiegelung des Erdenlebens dar-
stellt. Was droben ist, ist auch drunten, und was drunten ist, ist auch
droben. Mit dieser Grundidee verbinden sich der Glaube an die magische
Bedeutsamkeit der Kardinalpunkte, das Heraufkommen der astrono-
mischen Orientierung, die Klimakunde der Pflanzer oder Hirten, vor
allem aber die anthropomorphe und zumal soziomorphe Auffassung der
Gestirne und die damit zusammenhängende Überzeugung von der Mög-
lichkeit verwandtschaftlicher und anderer gesellschaftlicher Beziehungen
zwischen ihnen und den Sterblichen. Schließlich gipfelt diese Entsprechung
und Verschränkung makrokosmischer und mikrokosmischer Ordnung 2 in
der Lehre, daß das menschliche Handeln und zumal der Aufbau der
Gesellschaft sich in Harmonie mit dem Gang und der Struktur des Uni-
versums befinden müsse, widrigenfalls schweres Unheil droht.

1 Die Verwendung kosmischer Zahlen und die Orientierung sind oft mit
der Rückbeziehung einer soziomorphen oder technomorphen Deutung des
Kosmos auf menschliche Gesellschaftsformen und Artefakte verbunden, doch
ist diese Verbindung keine notwendige und liegt nicht immer vor. Im folgenden
werden manchmal Beispiele "kosmologischer" Sozialorganisationen oder
Bauwerke erwähnt werden, bei denen eine vorausgegangene Interpretation
des Universums nach soziomorphen oder technomorphen Leitbildern wenigstens
vorläufig nicht nachweisbar ist. Es muß künftiger Forschung überlassen
bleiben, die betreffenden Beispiele entweder in den entsprechenden Rahmen
hineinzustellen oder aus der hier behandelten Problematik endgültig aus-
zuscheiden.
2 Vgl. J. WACH: Religionssoziologie, Tübingen 1951, S. 55f. - E. Rous-
SELLE: Konfuzius und das archaische Weltbild der chinesischen Frühzeit,
"Saeculum" V (1954).
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 33

Entfaltung und Verfall der Hochmythologie


Besonders deutlich war der Gedanke der Harmonie von Sozialordnung
und Weltordnung dort ausgeprägt, wo die Entstehung des Staates mit
der Entwicklung der Sternenkunde zusammentraf. Die .neue, umfassende
Organisationsform des menschlichen Gemeinschaftslebens brachte in Ver-
bindung mit den neuen Einsichten in die wunderbare Gleichmäßigkeit
der Gestirnbewegungen eine Gestalt des sozio-kosmischen Weltbildes
hervor, die an Geschlossenheit und systematischer Kraft alles Bisherige
verblassen ließ und - weit über ihr Ursprungsgebiet hinaus - auch das
europäische Geistesleben bis fast in die Gegenwart maßgebend mitbe-
stimmen sollte. Es ist dies die Idee des "politisierten Kosmos"!, die Auf-
fassung des Universums als Herrschafts- und Rechtsordnung aller Wesen,
welcher sich der Staat und das Recht der Menschen anzupassen oder
einzufügen haben. Schon auf dem Boden der ältesten Staatenbildungen
Ägyptens und Mesopotamiens ist eine solche "politische Kosmologie"
erwachsen. .
Die Vorstellung einer einheitlichen Ordnung und universalen Ver-
knüpfung von Gesellschaft, Gestirnwelt und Lebenskraft findet sich schon
im Alten Reich Ägyptens. Dieses kosmische Gesetz trägt hier den Namen
Ma~at. Seine hieroglyphischen Zeichen sind ein Stück abgemessenen,
fruchtbaren Landes und ein Symbol des Urhügels, von dem nach ägyp-
tischem Glauben die Weltentstehung ihren Ausgang genommen hat. So
hat Ma-at den Sinn des Maßes und der Regelhaftigkeit, der Fruchtbarkeit
und Lebensfülle und der kosmogonisch-kosmologischen Ursprünglichkeit.
Die Wirksamkeit des universellen Gesetzes umfaßt das Reich der Götter,
der Menschen und der Toten. Als Prinzip allumfassender Ordnung offen-
bart sie sich in dem regelmäßigen Aufgang und Untergang der Sonne,
dem Rhythmus des Wachstums der Pflanzen und auch im Bereich des
menschlichen HandeIns. Dort ist sie Inbegriff der "Wahrheit" und
"Rechtschaffenheit", sie bedeutet die Übereinstimmung mit sozial-
ethischen Idealen und in weiterer Folge die Gesellschaftsstruktur, die
aber keine bloß menschliche Einrichtung ist, sondern ein Spiegelbild der
Struktur des Universums 2 •
Die so charakteristische sozio-kosmische Bedeutung der Ma-at wird
auch durch ihre Funktion als Richtmaß für das Urteil über die Toten
unterstrichen. Das Totengericht straft nicht nur Verletzungen der sittlich-
rechtlichen Normen, wie Raub, Mord, Betrug oder Ehebruch, ferner nicht
bloß rituelle Verstöße, sondern auch Eingriffe in das segensreiche Wirken
der Elemente, etwa das mutwillige Abdämmen des Wassers oder Löschen
des Feuers, und die Vernichtung von keimendem Leben jeder Art 3 • Kosmi-
1 Der Ausdruck "Politisierung des Kosmos" findet sich bei O. FRANKE:
Der kosmische Gedanke in Philosophie und Staat der Chinesen, "Vorträge
der Bibliothek Warburg 1925-1926", Leipzig 1928, S. 15.
2 C. J. BLEEKER: De beteekenis van de Egyptische Godin Ma·at, Leiden
1929. - H. BONNET: Reallexikon der ägyptischen Religionsgeschichte,
Berlin 1952, S. 430ff.
3 C. J. BLEEKER, a. a. 0., S. 68/69.

Topitsch, Metaphysik. 3
34 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

sches und Menschliches verschmilzt weiterhin in den der Ma-at zugeschrie-


benen Funktionen des Verteilens der Schicksalslose (worin' sie der grie-
chischen Moira ähnlich ist), des Ernährens und des Versöhnensi.
Gewissermaßen im Angelpunkt zwischen kosmischer und sozialer Ma-at
steht die Gestalt des Pharao. Herrschaft, Sternenlauf und Fruchtbarkeit
sind hier unlöslich miteinander verbunden. Das Erscheinen des Königs -
besonders zur Besteigung des Thrones oder zu Staatsfesten - wird mit
demselben Ausdruck wie der Aufgang der Sonne und Sterne bezeichnet2 •
Seine Person, seine Macht und sein Richteramt sind für den Ägypter
wesentlich Abbild und Repräsentation der Person, der Macht und des
Richteramtes3 der göttlichen Sonne, des Re, ja dieser ist sogar im König
inkarniert. Die Ordnung der Ma-at verbindet Sonnengott und Sonnen-
könig. Indem der Herrscher ihr gemäß handelt, sichert er das Gedeihen
der Ernten, die Regelmäßigkeit der Nilschwelle, den Rhythmus der
Tages- und Jahreszeiten, den Frieden unter den Bürgern und überhaupt
das Gedeihen des Landes4 • Mit dieser "politischen Theologie" vorwiegend
solaren Charakters ist eine vorwiegend lunare verflochten, die tief in alt-
afrikanischen Traditionen verwurzelt zu sein scheint. Ähnlich wie in der
bereits behandelten Weltanschauung der Bantustämme gilt hier die
Dynastie als Trägerin der göttlichen Lebensenergie und Schöpferkraft
(Ka). Der König wird als Bindeglied zwischen der Lebenskraft im Uni-
versum und jener in seinem Reiche betrachtet und in dieser Eigenschaft
mit dem Fruchtbarkeitsgestirn des Mondes und dem Stier als Träger der
Zeugungskraft in Verbindung gebracht5 •
Angesichts dieser zahlreichen Verflechtungen und Varianten ist es
nicht erstaunlich, daß die einzelnen Komponenten des Weltbildes nicht
immer mit voller Reinheit hervortreten und daß man gewisse grundsätzliche
Probleme zwar manchmal berührt, aber nicht systematisch durchdenkt.
Eindeutig soziomorph ist jedenfalls die Auffassung des Universums als
Machtstruktur, als Bereich des "Weltregimentes" eines oft mit der Sonne
identifizierten Herrschers, Gesetzgebers und Richters. Das Wirken dieses
Götterkönigs umfaßt den gesamten Weltlauf mit all den Gesetzen, die
ihn leiten und einen geordneten Hergang der Dinge im Kosmos wie im
Gemeinschaftsleben der Menschen verbürgen. Ganz nach der Art eines
irdischen Herrschers wird er vorgestellt: "Von einem Hofstaat umgeben
thront er in der Barke, in der er den Himmelsozean überquert. Schreiber
sind um ihn beschäftigt; an ihrer Spitze steht Thot, sein Vezier, er fertigt

C. J. BLEEKER, a. a. 0., S. 62ff.


1
H. FRANKFORT: Kingship and the Gods, Chicago 1948, S. 57. Das Bild
2
hat sich (vgl. unten S. 85) bis Ludwig XIV. und dessen "Lever" erhalten.
3 J. SPIEGEL: Der Sonnengott in der Barke als Richter, "Mitteilungen des
Deutschen Instituts für Ägyptische Altertumskunde" VIII (1939), S. 201ff. -
G. NAGEL: Le culte du soleil dans l'ancienne Egypte, "Eranos-Jahrbuch" X
(1943), bes. S. 28ff. .
4 H. FRANKFORT: Kingship, S.57f., S.157.
5 H. J~90BSOHN: Die dogmatische Stellung des Königs in der Theologie
der alten Agypter, Glückstadt 1939, S. 22ff.
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 35

die Edikte aus und siegelt die Briefe"l. Dieses Bild des Sonnengottes Re
geht bis auf die Pyramidentexte zurück. So erscheint die Herrschafts-
ordnung des Staates schon früh als Leitbild des Weltverständnisses 2 •
Zugleich aber wird die soziomorphe Projektion auf die Gesellschaft rück-
angewendet, wenn man den Pharao als Sohn oder irdisches Gegenstück
des kosmischen Machtträgers verehrt.
Im übrigen besteht über das Verhältnis der sozio-kosmischen Welt-
ordnung zum Wesen und Willen des Königsgottes oder Gottkönigs ebenso-
wenig Einmütigkeit wie über ihre Beziehungen zu den tatsächlichen
Zuständen in Natur und Gesellschaft. Meist glaubte man, daß Re "das
Rechte, das aller Ordnung Urgrund ist, die Ma-at, in die Schöpfung
gesenkt hat" hat und ihre Einhaltung überwacht3 • Sie ist also in mythischer
Sprache seine Tochter. Manchmal erscheint die Ma-at jedoch als der Ka
(Lebenskraft) oder die Mutter des Sonnengottes, daher als eine über ihm
stehende und seine Macht begründende Instanz4 • Diese Widersprüche sind
letztlich die kosmische Spiegelung des so spannungsreichen Verhältnisses
zwischen Herrschertum, Satzung und Tradition, wie es in der menschlichen
Gesellschaft vorliegt.
Es ist daher nicht erstaunlich, wenn der politische Bedeutungsgehalt
jener "Weltordnung" stark umstritten war. Diesem im engeren Sinne
ideologischen Problem hat vor allem J. Spiegel Aufmerksamkeit ge-
schenkt. Wenn er auch mitunter zu Uberinterpretationen neigt und man-
ches zu sehr modernisiert, verdienen seine leitenden Gesichtspunkte doch
ernste Beachtung. Im Alten Reich, besonders am Höhepunkt der Königs-
macht, vermag der Herrscher die Ma-at mit seinem Wollen gleichzusetzen.
Snofru konnte sich sogar den Titel "Herr der Ma-at" als Eigennamen
beilegenS . Später steht dagegen die Ma-at neben oder über dem König 6 •

1 H. BONNET: Reallexikon, S. 628.


2 J. SPIEGEL: Das Werden der altägyptischen Hochkultur, Heidelberg 1953,
S. 88: "Aus der ersten umfassenden Ordnung aller seiner Lebensverhältnisse
in dem geeinten Staatswesen erschließt sich dem ägyptischen Menschen die
Konzeption einer Weltordnung (Ma-at) . . . Der begrenzte Kreis seines irdischen
Staatslebens erscheint ihm als das Zentrum des Alls, von dessen Mittelpunkt
(dem Königtum) aus die Strahlen nach allen Seiten ins Unendliche gehen.
So wird Gott als ,Herr' der Welt, dessen Macht die Ordnung des Alls "y~rbürgt,
zuerst dem suchenden Geist des zu kulturellem Leben erwachenden Agypters
faßbar." - Zur Bedeutung des Staates für das Weltbild der Hochkulturen
vgl. auch F. GRAEBNER: Das Weltbild der Primitiven, München 1924, S. llOff.
3 H. BONNET: Reallexikon, S.628.
4 H. BONNET: Reallexikon, S. 432.
5 J. SPIEGEL: Hochkultur, S.284. - Zur Stellung des patrimonialen
Herrschertums der alten Hochkulturen vgl. M. WEBER: Wirtschaft und
Gesellschaft, 4. Aufl., Tübingen 1956, S.588ff.
6 J. SPIEGEL: Hochkultur, S.393f. - Vgl. M. WEBER, a. a. 0., S.552f.:
"Gehorcht wird der Person (des Herrschers) kraft ihrer durch Herkommen
geheiligten Eigenwürde: aus Pietät. Der Inhalt der Befehle ist durch Tradition
gebunden, deren rücksichtslose Verletzung seitens des Herrn die Legitimität
seiner eigenen, lediglich auf ilirer Heiligkeit ruhenden, Herrschaft selbst
gefährden würde. Neues Recht gegenüber den Traditionsnormen zu schaffen,
gilt als prinzipiell unmöglich."

3*
36 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

Ihr ethisch-politischer Gehalt entspricht dann der Staatsmoral und


Staatsräson oder überhaupt den sich immer mehr festigenden Traditionen
des Reiches, die der Pharao schon im eigenen Interesse berücksichtigen
muß. Für das Selbstverständnis oder die Selbstverklärung des Beamten-
tums gilt die reale Staatsverwaltung und ihre Grundsätze als die lebendige
Verwirklichung der "gerechten Weltordnung". So trägt die Auffassung
der Ma-at im Kreise der monarchisch-bürokratischen Oberschicht als
Legitimierung und metaphysische Steigerung der bestehenden Macht-
verteilung ein stark konservatives Gepräge. Das vermeintliche "Welt-
gesetz" gibt den Herrschenden Glanz und gutes Gewissen und erlegt
ihnen als Pflichten auf, was zur Erhaltung der Sozialstruktur und damit
der eigenen Stellung notwendig ist: Disziplin, Vermeidung krasser Willlcür-
akte und ein gewisses Maß an wohlwollender Fürsorge für die Regierten.
Die "Einheit des Wirklichen und des Vernünftigen" im realen Staat reicht
für diese politische Kosmologie bis über das Grab hinaus. Das Jenseits
entschädigt nicht etwa die im irdischen Leben Zurückgesetzten, die
"Mühseligen und Beladenen" (dies würde ja die Ungerechtigkeit der
bestehenden Gesellschaftsordnung implizieren), sondern es verewigt die
bereits im Diesseits durch die sozialen Autoritäten jedem einzelnen zuge-
teilten Ehren oder Strafen!. Damit erreicht die sozio-kosmische Herrschafts-
metaphysik ihre äußerste Steigerung. Sie verurteilt nicht etwa nur den
Aufrührer, sondern sie schneidet der Ohnmacht der Beherrschten noch
den letzten Ausweg ab: den Glauben an eine jenseitige Kompensation.
Diese Monopolisierung der Macht über das Untertanenschicksal vor
und nach dem Tode konnte allerdings doch nicht auf die Dauer verhindern,
daß man in den niederen Gesellschaftsschichten die Idee der gerechten
Weltordnung als kritischen Maßstab an die bestehenden Verhältnisse an-
legte und die "Gerechtigkeit als ,Naturordnung' dem unnatürlichen Frevel
der tatsächlich waltenden Machthaber entgegensetzte"2. So erhob sich
gewissermaßen gegen die konservative eine reformistische Interpretation
des "Naturrechtes"3. Der wirkliche und der ideale Staat, das soziale
"Sein" und "Sollen" fielen zumindest für einige Gesellschaftsgruppen
auseinander. In diesem Zusammenhang erhielt auch das Totengericht
eine neue Funktion: dem Würdenträger, welcher der Forderung nach
"Gerechtigkeit" nicht entspricht, droht nun die Strafe im Jenseits. Diese
Vorstellungen begegnen uns schließlich nicht nur im einfachen Volk -
etwa in den sogenannten "Klagen des Bauern"-, sondern sie drangen
auch in die Weltanschauung der Oberschicht ein.
Doch die Idee der Ma-at spielte auch in anderen politischen Zusammen-
hängen eine bedeutende Rolle. Der erfolgreiche Usurpator, der seine Herr-
schaft glücklich befestigt hatte und nun von den "Göttern des Südens,
des Nordens, des Westens und Ostens" als Kosmokrator Ehrfurcht ver-

1 J. SPIEGEL: Hochkultur. S.36lff., S.411.


2 J. SPIEGEL: Hochkultur, S.413.
•• 3 J. SPIEGEL: Soziale und weltanschauliche Reform bewegungen im alten
Agypten, Heidelberg 1950.
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 37

langte, konnte sich als "Verwirklicher der Ma-at" fühlen l . Andererseits


beriefen sich in Zeiten der Lockerung der Zentralmacht die selbständiger
werdenden Teilfürsten auf jene ,.Naturordnung", um so ihrer Stellung eine
vom Königtum unabhängige metaphysische Unterbauung zu geben2 • Der
Gedanke und das Schlagwort der Ma-at stand jedoch auch dem religiösen
Reformator Amenophis IV.-Echnaton zur Verfügung, als er die tradi-
tionellen Kulte durch einen solaren Monotheismus ersetzen und die Macht
der alteingesessenen Priestertümer brechen wollte 3 , und im Zeichen des
gleichen Schlagwortes vollzog sich die Restauration der Ahon-Verehrung
nach dem Scheitern eben dieses Reformversuches 4 • So wurde also schon
in Ägypten die Idee der Ma-at für die verschiedensten politischen und
sozialen Zwecke oder Ideale in Anspruch genommen, ganz wie dies später
mit dem Naturrechtsgedanken geschehen sollte.
Soziomorphe Modelle sind aber nicht nur für die kosmologischen,
sondern auch für die kosmogonischen Vorstellungen der Ägypter bedeut-
sam. Neben den schon erwähnten Mythen vom Weltelternpaar und dem
Zweigeschlechterwesen finden sich Weltentstehungslehren, die durch inten-
tionale Leitbilder bestimmt sind. Beispielsweise betont die Schöpfungs-
lehre des Ptah in bewußtem Gegensatz zur biomorphen des Atum, daß
Ptah nicht zeugt, sondern durch sein gebietendes Wort erschafft5 : "Er
denkt die Schöpfung aus, und was er erdacht hat, tritt durch die Macht
seines Wortes ins Leben6 ." Doch in der Götterlehre von Memphis erscheint
die Erschaffung der Welt auch geradezu als "Organisationsleistung" nach
dem Vorbild der irdischen Tätigkeit des Staatsgründers und Königs.
Die Nachbildung dieses Musters geht so weit, daß der Weltschöpfer Ptah-
Tatenen sogar die Einkünfte der Götter festsetzt und ihre Tempel aus-
stattet 7 • Technomorphe Motive treten ebenfalls auf. Oft wird die
Tätigkeit des Ptah nicht als Willensakt und Befehl, sondern als hand-
werkliches Schaffen, Formen, Bilden und Bauen verstanden8 • Dem gleichen
Gedankenkreis gehören die Darstellungen an, auf denen der Widdergott
Chnum den Pharao und seinen Ka auf einer Töpferscheibe formt 9 •
Technomorph sind aber auch die Vorstellungen vom "Weltgebäude"
als Haus oder vom Himmel als Dach, das auf vier Stützen ruhtl°. Dieses
Verhältnis wird nicht selten umgekehrt, so daß das menschliche Gebäude
der Tempel, der Palast oder das Grab als Haus des Toten - eine
1 J. SPIEGEL: Hochkultur, S.575ff.
2 J. SPIEGEL: Hochkultur, S.507. ..
3 H. FRANKFORT: Intellectual Adventure, S.88. - E. OTTO: Agypten.
Der Weg des Pharaonenreiches, Stuttgart 1953, S. 165.
4 H. FRANKFORT: Ancient Egyptian Religion, New York 1948, S.54.
5 H. JUNKER: Die Götterlehre von Memphis, "Abhandl. d. Preuß. Aka-
demie d. Wissenschaften" 1939, Phil.-hist. Kl. 23, S.39, 55, 70.
6 H. BONNET: Reallexikon, S.615.
7 J. SPIEGEL: Hochkultur, S. 194f. - H. JUNKER, a. a. 0., S. 75.
8 H. BONNET: Reallexikon, S.616f. - H. JUNKER, a. a. 0., S.56.
W. WOLF: Der Berliner Ptah-Hymnus, "Zeitschrift f. ägyptische Sprache
u. Altertumskunde" Bd.64 (1929), S.17ff.
9 H. FRANKFORT: Kingship, Fig.23. ..
10 H. SCHÄFER: Weltgebäude der alten Agypter, Berlin 1928, S.87f.
38 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

Wiedergabe des Kosmos darstellen SOlll. Dann entspricht das Dach dem
Himmel, das Fundament der Erde. Mit großer Folgerichtigkeit ist dieser
Gedanke im Heiligtum von Dendera durchgeführt worden, in welchem
die Decke eines Raumes mit der unter dem nicht ganz zutreffenden Namen
eines Zodiakus bekannten Darstellung des Himmels geschmückt war.
Dieses Himmelsbild, das allerdings bereits unter hellenistischem und
mesopotamischem Einfluß steht, beruht auf dem Grundsatz einer strikten
Entsprechung von Mikrokosmos und Makrokosmos. Die geographische
und politische Struktur des irdischen Ägypten wird in den Sternenhimmel
hineingetragen. Wie auf Erden, so gibt es auch im Himmel einen Nil und
der tägliche Weg der Sonne ist eine Überfahrt über diesen Fluß. Die Gaue
des Landes kehren ebenfalls am Firmament wieder, und zwar treibt man
die Übereinstimmung zwischen "oben" und "unten" so weit, daß die
Provinzen Ober- und Unterägyptens auch am Himmel zwei voneinander
getrennte Reihen bilden. Grundsätzlich sollen dabei die einzelnen Gaue
den Tierkreiszeichen zugeordnet werden, doch stimmt deren Anzahl nicht
überein, so daß man zu verschiedenen Aushilfen greifen mußte, beispiels-
weise zur Einbeziehung der Planeten. Dennoch sind die Entsprechungen
zwischen den Zodiakalzeichen, Planeten und sonstigen Symbolen des
Himmelsbildes auf der einen und den ägyptischen Gauen oder Städten auf
der anderen Seite genau feststellbar 2 •
Das Bauwerk konnte der kosmischen Ordnung auch einfach durch seine
Orientierung eingefügt werden. Schon die vier Seiten der Pyramiden sind
genau nach den vier Weltgegenden ausgerichtet. Wenngleich die Bedeu-
tung dieser Anlagen nicht mit Sicherheit zu ermitteln ist, liegt doch eine
sozio-kosmische Interpretation nahe: "Gleichwie die im Äquator stehende
Sonne ihre Strahlen ebenmäßig über die Nordhälfte und über die Süd-
hälfte aussendet, so beherrscht Pharao beide Königreiche, Unterägypten
und Oberägypten, ja das ganze Universum von der Mitte aus 3 ." Allerdings
wurde diese Orientierung bei den späteren Pyramidenbauten verlassen,
wie auch die Richtung der Tempelachsen schwankt. Manche Heiligtümer
waren nach den Kardinalpunkten ausgerichtet, so das durch König
Sethos 1. angelegte von Abydos. Welche Bedeutung man der kosmisch
richtigen Lage beimaß, geht daraus hervor, daß nach einer Inschrift der
Herrscher persönlich die vier Ecken des Tempels genau gemäß den vier
Stützen des Himmels feststellte4 und ihn dadurch zum Abbild des Welt-
gebäudes machte. Andere Kultbauten sind nach dem Aufgangspunkt der
Sonne in der Winterwende gerichtet, viele nach den Fixsternen.
Die Grundgedanken des sozio-kosmischen Universums und der kos-
mischen Bauwerke sind auch für die geistige Welt Mesopotamiens maß-
gebend, freilich in einer etwas anderen Ausprägung. Für die Entstehung

1 R. EISLER: Weltenmantel, II. Bd., S. 607ff.


2G. DARESSY: L'Egypte mSleste, "Bulletin de l'Institut Franc;ais d'Archeo-
logie Orientale" XII (1916), bes. S. 1, S. 32/33.
3 H. NISSEN: Orientation. Studien zur Geschichte der Religion, Heft I,
Berlin 1906, S.43.
4 H. NISSEN, a. a. 0., S. 32.
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 39

der Idee eines allumfassenden und unverbrüchlichen "Weltgesetzes"


waren die Verhältnisse dieses Landes weniger günstig als die Ägyptens.
Die Regelmäßigkeit der Naturereignisse und die Stabilität der Gesell-
schaftsstruktur, die das Nilland auszeichneten, fehlten am Euphrat und
Tigris. Vor allem existierte in der für die Bildung der mesopotamischen
Geisteskultur entscheidenden Frühzeit kein monarchisch-zentralistisches
Großreich, das als Modell des Weltverständnisses hätte dienen können.
Vielmehr war das sumerische Gebiet damals in eine Reihe selbständiger
Stadtstaaten mit verhältnismäßig geringer Bevölkerungszahl aufge-
splittert, die überdies ursprünglich nicht von einem König, sondern von
einer Versammlung der "Ältesten" regiert wurden. Diese "primitive
Demokratie" arbeitete verhältnismäßig schwerfällig, da für die Beschlüsse
Einstimmigkeit erforderlich war. Wo größere Aufgaben rasche Ent-
scheidungen und deren entschlossene Durchführung verlangten, mußte
sie versagen. Darum wählte man angesichts von Krisensituationen einen
König mit zeitlich beschränkten Machtbefugnissen, und auch nachdem
aus dieser befristeten Institution eine dauernde geworden war, hat das
mesopotamische Königtum gewisse Spuren seiner Herkunft aus der
Primitivdemokratie bewahrt.
Diese sozialen Eigentümlichkeiten haben ebenso wie die klimatischen
und geographischen ihren Ausdruck im mesopotamischen Weltbild gefun-
den. Doch der Grundgedanke des sozio-kosmischen Universums ist hier
nicht weniger deutlich ausgeprägt als in Ägypten. So konnte Thorkild
Jacobsen seine Studie über die Vorformen der Philosophie im Zweistrom-
land geradezu unter das Motto "Der Kosmos als Staat" stellenl . Auch
der Bewohner dieses Landes betrachtete die Naturerscheinungen und
Elementarkräfte - Himmel, Sturm, Erde, Wasser, Sterne, Steine usw.
-:- als willensbegabte Wesen und "seine Begriffe vom Kosmos zeigen
daher die Neigung, sich in Ausdrücken der Willenseinordnung zu for-
mulieren, das heißt, in Ausdrücken der gesellschaftlichen Bindung wie
der Familie, der Gemeinschaft und vor allem des Staates. Kurz und bündig
gesagt: für ihn war die kosmische Ordnung eine Ordnung von Willens-
strebungen, ein Staat"2.
Die "Gemeinschaftsordnung aller Dinge" war der Sozialstruktur der
sumerischen Stadtstaaten nachgebildet. Wohl umfaßte sie die gesamte
bestehende Welt, sie bezog Natur und Menschenreich, Physisches und
Geistiges in sich ein, doch besaßen nicht alle Angehörigen dieses "poli-
tisierten" oder "sozialisierten" Kosmos den gleichen Rang und die gleiche

1 In: H. FRANKFORT: Intellectual Adventure, S.125. - Allerdings geht


JACOBSEN zu weit, wenn er behauptet: "Während alle Völker dazu neigen,
nichtmenschliche Mächte zu vermenschlichen, und sie häufig unter dem Bilde
gesellschaftlicher Grundtypen darstellen, scheint das spekulative Denken
der Mesopotamier bis zu einem ungewöhnlichen Grade die in jener Typi-
sieru,ng latent vorhandenen soziologischen und politischen Konsequenzen
entwickelt, systematisiert und zu klar umrissenen Einrichtungen ausgearbeitet
zu haben" (nach der deutschen Teilübersetzung "Frühlicht des Geistes",
Stuttgart 1954, S. 148; im Original S. 135).
2 TB. JACOBSEN, a. a. 0., S. 127.
40 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

Macht. Nur jene Naturkräfte, deren Macht dem Menschen Ehrfurcht und
Schrecken einflößte und die daher als Götter galten, hatten Sitz und
Stimme in der Ratsversammlung des kosmischen Staates. Doch auch
unter ihnen gab es eine Rangordnung. Die höchste Autorität hatte der
Himmelsgott Anu inne, der den Vorsitz führte. Seinem Sohn, dem Sturm-
gott Enlil (wörtlich: "Herr Sturm") kam gewissermaßen die Exekutive
zu. Er hatte die Durchführung der Beschlüsse - wenn notwendig mit
Gewalt - sicherzustellen. Unter dem Himmel und dem Luftreich der
Stürme breitet sich die Erde aus, welche die Mesopotamier als frucht-
und segenspendende Mutter verehrten, als "Nin-tu", "die Herrin, die
gebiert" oder als "Königin der Götter". Doch wurde die Erde manchmal
auch als männliches Wesen betrachtet und En-ki, "Herr des Erdreiches"
oder einfach "Herr Erde" benannt. So führten drei von den vier Haupt-
gottheiten und Grundmächten der Natur den Titel der Herrschaft schon
in ihrem Namen. Außer diesen Honoratioren gab es in der Hierarchie des
sozio-kosmischen Universums jedoch noch Wesenheiten geringeren Ran-
ges. Wie der menschliche Staat verschiedene untergeordnete Gruppen -
Familien, Hofgemeinschaften usw. - umfaßt, so überwölbte auch der
kosmische "Staat" diverse Machtgefüge zweiter Ordnung: göttliche
Familien und Hausgemeinden, göttliche Landgüter mit Verwaltern, Auf-
sehern, Knechten und anderen Bediensteteni.
So galt auch die Struktur des Universums als Herrschafts- und Rechts-
ordnung oder als Verwaltungseinheit. Dem obersten Träger der kosmischen
Staatsautorität, dem Himmelsgott Anu, gehorchten die Gesteine, Pflan-
zen und Tiere, doch auch die menschliche Sozialordnung war durch ihn
legitimiert und garantiert. Er galt als die Kraft, die "den Gehorsam gegen-
über Geboten, Gesetzen und Gebräuchen in der Gesellschaft und den
Naturgesetzen der physikalischen Welt - kurz also: der Weltordnung
gegenüber sichert"2. Wo sein Ansehen nicht ausreicht, erzwingt Enlil
die Befolgung der Befehle mit Gewalt.
Später gingen viele Funktionen von Anu und Enlil auf den babyloni-
schen Reichsgott Marduk über, den Herrscher, der zugleich Autorität und
Gewalt besitzt. In eindrucksvoller Weise zeigt das Weltschöpfungsepos
Enuma elisch, wie Marduk nach seinem Sieg über die Mächte des Chaos
dem Universum gewissermaßen seine Verfassung gibt. Hier wie in Ägypten
erscheint also die Ordnung des Kosmos als eine gewaltige Organisations-
leistung. Der Kalender wird eingerichtet, Sterne und Sternbilder werden
am Himmel angebracht, um an Hand ihres Auf- und Unterganges das
Jahr, die Monate und die Tage zu bestimmen. Die Einhaltung der so
festgelegten Ordnung wird den Himmelskörpern zur Pflicht gemacht,
welche also buchstäblich den "göttlichen Gesetzen" gehorchen. Der
Planet Jupiter erhält das Amt, über das rechtzeitige und vorschriftsmäßige
Erscheinen der Gestirne zu wachen, und dem Mond wird eine besonders

1 TH. JACOBSEN, a. a. 0., S.149.


2 TH. JACOBSEN, a. a. 0., S. 139/40.
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 41

ausführliche "Dienstanweisung" zuteil, denn ihm obliegt die wichtige Auf-


gabe, die Zeit zu messen!.
Auch sonst sind in der mesopotamischen Kosmologie soziomorphe
Leitvorstellungen sehr häufig. Vor allem wird die Gestirnwelt als politische
oder militärische Herrschafts- und Rangordnung gedeutet. Das Motiv des
"Sternenheeres" mag so alt sein wie das Bestehen solcher Kampfforma-
tionen überhaupt, jedenfalls findet es sich bereits in der mesopotamischen
Sternenkunde und Sterndeutung. Die Dekansterne erhielten die Bezeich-
nung "sakanake", einen sumerischen Titel, der etwa "Siegelbewahrer"
oder "Beamter" bzw. "Bote" bedeutet. Der heute noch gebräuchliche
Ausdruck "Dekane" ist militärischen Ursprungs. Er ist die griechische
Übersetzung einer Dienstgradbezeichnung der babylonischen Armee (rab
esirte, "Meister von Zehn"), die übrigens auch bei den Hethitern ge-
bräuchlich war. Doch wurden diesen Sternen auch andere Funktionen
zugeschrieben: man betrachtete sie als "Aufseher", "Ratgeber" und ganz
allgemein als "Sterne vom Dienst"2.
Oft diente fernerhin die ökonomische Ordnung in Mesopotamien als
Modell der Welterklärung. Anschaulich schildert die Sage, wie der Erd-
und Wassergott Enki nach Art eines Gutsherrn oder Verwalters die Länder
der Erde inspiziert und die zur Sicherung des Wohlstandes notwendigen
Maßnahmen trifft. Die Naturerscheinungen, die für die menschliche Wirt-
schaft wichtig sind, werden durch ihn geschaffen und geordnet: das klare
Wasser in den Flüssen, die Fische und das Röhricht, die regenbringenden
Winde vom Meer, aber auch die Haus- und Wildtiere und ihre Lebens-
weise. Um auf diesen Gebieten den klaglosen Verlauf der Dinge sicher-
zustellen, setzt Enki überall göttliche Aufseher ein. So erscheint die Welt
im ganzen als ein ausgedehntes und reibungslos funktionierendes Guts-
wesen, das ein tüchtiger Verwalter leitet3 •
Wie so oft in der frühen Geistesentwicklung wurde in Mesopotamien
der soziomorph gedeutete Kosmos seinem Urbild, der menschlichen
Gemeinschaft, übergeordnet. Die menschliche Autorität - etwa die des
Vaters in der Familie, des Königs im Staate - war in der Herrschafts-
struktur d~s Universums begründet und durch sie legitimiert. Anu galt
als Prototyp aller Väter und Herrscher, von ihm stammen die Insignien
der Königswürde und er ist es, der die Machthaber zu ihrem Amte beruft
und ihre Befehle sanktioniert4. Ja, noch mehr: die Stellung des Menschen
im Staat des Weltalls entsprach nach mesopotamischer Anschauung der
des Sklaven im irdischen Stadtstaat5 • Die Irdischen waren zum Nutzen
und zum Dienst der Götter erschaffen; ihre Tempelstadt galt gewisser-
maßen als ein Anwesen, das den Stadtgott und seine Familie standes-
gemäß zu versorgen hatte. Zu diesem Zwecke verfügte jener über einen

1 TH. JACOBSEN, a. a. 0., S. 18lf. - Vgl. R. LABAT: Le Poeme babylonien


de la Creation, Paris 1935, S. 136ff.
2 R. EISLER: The Royal Art of Astrology, London 1946, S.82, 128.
3 TH. JACOBSEN, a. a. 0., S. 161.
4 TH. JACOBSEN, a. a. 0., S.138/39.
a TH. JACOBSEN, a .. a.O., S. 149.
42 Entfaltung und Verfall der Rochmythologie

ganzen Stab von Göttern zweiter Ordnung, welche die verschiedenen


Funktionen bei Hof und auf den Ländereien wahrzunehmen hatten: Ober-
hofmeister, Ratgeber, Leibkämmerer, Waffenmeister, Türhüter, Musi-
kanten, Boten, aber auch Gutsverwalter, Fischereiaufseher, Wildhüter usw.
Im Auftrag und unter dem Schutz dieser göttlichen Funktionäre arbeiteten
die entsprechenden menschlichen Würdenträger und Bediensteten. Der
Herrscher war gleichsam der höchste Beauftragte oder irdische Stell-
vertreter des Stadtgottes und hatte für dessen Tempel und darüber hinaus
für die Ordnung in der gesamten Stadtverwaltung zu sorgen. Seine Frau
amtierte als Treuhänderin des Heiligtums der Gemahlin des Stadtgottes,
während seinen Kindern die Tempel der Stadtgottkinder unterstanden.
Man könnte diese bis ins Detail getriebene soziomorphe Ausbildung der
Götterwelt und deren ebenso pedantische Rückbeziehung auf mensch-
liche Verhältnisse als müßige Spielerei betrachten. Doch im Hintergrund
dieser Mythologeme steht ein uralter und weitverbreiteter Kerngedanke
der sozio-kosmischen Weltauffassung. Indem nämlich die menschliche
Gemeinde einem der großen Götter und damit zugleich der in ihm ver-
körperten Naturmacht - dem Himmel, Sturm, Wasser oder ähnlichem -
den standesgemäßen Unterhalt sichert, trägt sie zu dem ordnungsgemäßen
Funktionieren des gesamten Kosmos und seiner Gewalten beil.
Sehr deutlich wird der Vorgang der Projektion und Reflexion sozialer
Modellvorstellungen auch in den Beziehungen zwischen Sonne und König.
Schon anf einer Inschrift des Gudea von Lagasch gilt das Tagesgestirn
ähnlich wie in Ägypten als Hüter des Rechten: "Die Sonne der Gerechtig-
keit ging darüber (d. i. über der Stadt) auf, der Sonnengott trat mit dem
Fuß der Ungerechtigkeit auf den Nacken 2." Ein Hymnus verherrlicht den
Sonnengott Samas als Gesetzgeber, erhabenen Richter des Himmels und
der Erde und als großen Herrn der Länder3 • Die so zustande gekommene
Vorstellung des Gesetzgebers, Richters und Königs Sonne wird in be-
kannter Weise ihrem mikrokosmischen Urbild übergeordnet, dem nun
bloß die Rolle eines irdischen Beauftragten oder Geschäftsführers des
astralen Kosmokrators zukommt. Ein besonders charakteristisches Doku-
ment dieser Auffassung ist das Reliefbild auf der Stele, welche den Text
der Gesetze Hammurapis trägt. Es zeigt den König und Gesetzgeber,
wie er vor dem Sonnengott steht und von ihm die Satzungen erhält,
wobei der Gott in der Gestalt und Kleidung eines Königs dargestellt ist4 •
Der Gedanke einer Entsprechung zwischen Staat und Kosmos scheint
in anderer Weise auch in dem frühesten Weltreich, das die Geschichte
kennt, seinen Ausdruck gefunden zu haben. Als Sargon von Akkad einen
großen Teil des Vorderen Orients unterworfen hatte, nahm er den Titel:

1TH. JACOBSEN, a. a. 0., S. 191.


2F. J. DÖLGER: Die Sonne der Gerechtigkeit und der Schwarze, Münster
1918, S.88.
3 F. J. DÖLGER, a. a. 0., S.87. - J. REHN: Die biblische und die baby-
lonische Gottesidee, Leipzig 1913, S.36.
4 eH. VIROLLEAUD: Le dieu Shamash dans l'ancienne Mesopotamie,
"Eranos-Jahrbuch" X (1943), S.57ft
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 43

"Herr über die vier Weltgegenden" an, und sein Sohn Naram-Sin nannte
sich "König der vier Weltgegenden". Dieser Königstitel bürgerte sich
bald ein und wurde von den babylonischen und assyrischen Machthabern
übernommenl • Der menschliche Universalherrscher galt als von dem
göttlichen Herrscher eingesetzt. In der Regel hatten die großen meso-
potamisehen Götter Anu, Enlil oder Samas die Rolle des Weltengottes
und Verleihers der politischen Weltherrschaft inne. A1s aber zeitweise
Fürsten anderer Volkszugehörigkeit größere Macht erlangten, übernahmen
deren Stadt- oder Stammesgötter diese Rolle. Beispielsweise spricht ein
sehr erfolgreicher elamitischer Stadtherr von Susa in einer Inschrift davon,
daß "Susinak (der Stadtgott von Susa) ihn anblickte und ihm die vier
Weltteile gab"2.
So erscheinen nicht nur der Herrscher, der Hofstaat und die Beamten-
schaft als irdische Wiederholung der im Weltstaat waltenden göttlichen
Wesen verschiedener Rangstufen, sondern das ganze Land oder die ganze
Erde ist in gewissem Sinne ein Abbild des Himmels mit seinen vier Haupt-
richtungen. Doch wurden andererseits auch geographisch-politische Ele-
mente in die Sternenwelt projiziert. Man hat in dieser Hinsicht eine sehr
weitgehende Übereinstimmung von Mikrokosmos und Makrokosmos fest-
stellen wollen. Das gesamte Zweistromland mit Euphrat und Tigris und mit
den wichtigsten Städten und großen Tempeln soll in den Himmel hinein-
gelesen und das so entstandene astrale Mesopotamien als Vorbild für
das irdische betrachtet worden sein3 • Doch eine so genaue und systema-
tische Harmonisierung von stellarem und politischem Geschehen ist nicht
nachweisbar"'. Immerhin bestehen zwischen Staaten- und Sternenwelt
besondere Beziehungen. So wurden die vier Himmelsquadranten den
vier bedeutendsten Staaten der Sargonidenzeit - Akkad (Süden), Subartu
(Norden), Elam (Osten) und Amurru (Westen) - zugeordnet und noch
in spätassyrischen Texten teilte man die Mondscheibe in vier Quadranten,
welche diesen vier Ländern entsprechen sollten. Freilich wurde die richtige
geographische Anordnung dieser Gebiete nicht immer beachtet5 •
Das mit diesen Erscheinungen eng verwandte Gebiet der Astrologie wird
an anderer SteHe im Zusammenhang behandelt werden. Vorläufig ist nur
zu betonen, daß die mesopotamische Sterndeutung einen ausgesprochen

1 H. FRANKFORT: Kingship, S.228ff. - ED. MEYER: Geschichte des


Altertums 1/2, 5. Aufl., Stuttgart-Berlin 1925, S. 519.
2 ED. MEYER, a. a. 0., S. 560.
3 H. WINCKLER: Die Weltanschauung des Alten Orients, "Ex Oriente
Lux", Bd. I, Leipzig 1905. - ders.: Himmels- und Weltbild der BabyIonier,
Leipzig 1901, S.11. - B. E. MEISSNER: Babylonien und Assyrien, Bd. II,
Heidelberg 1925, S. lIO, 375, 409. .
4 F. X. KUGLER: Im Bannkreis Babels, Münster 1910, S. 97ff. - Zur
Kritik an WINCKT,ER vgl. auch C. BEZOLD: AstronoInie, Himmelsschau und
Astrallehre bei den BabyIoniern, "Sitzungsberichte d. Heidelberger Akademie
der Wissenschaften", Pbil.-hist. KI. 1911, S.23ff.
. 6 F. BOLL - C. BEZOLD - W. GUNDEL: Sternglaube und Sterndeutung,
4. Aufl., Leipzig 1931, S. 9f. - F. X. KUGLER, a. a. 0., S. 106ff. - A. UN-
GNAD: Die Deutung der Zukunft bei den BabyIoniern und Assyrern, Leipzig
1909, S.23.
44 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

politischen Charakter trägt. Wie bereits mehrfach beobachtet wurde,


betreffen die astrologischen Omina, die uns überliefert sind, ausnahmslos
reine Staatsangelegenheiten und beziehen sich niemals auf private Ver-
hältnissel . Horoskope von Privatpersonen finden sich erst in helleni-
stischer Zeit, als die sternkundigen Priester nach dem Zusammenbruch
der altorientalischen Großreiche ihren Lebensunterhalt durch Wahr-
sagerei für Hinz und Kunz bestreiten mußten.
Doch nicht nur zwischen Sozialform und Kosmos bestanden Wechsel-
beziehungen. Auch Bauformen und andere Werke menschlicher Kunst-
fertigkeit wurden als Modelle des Weltverständnisses gebraucht und
andererseits dem Universum, wie man es sah, nachgebildet oder ein-
gepaßt.
Die Einordnung von Gebäuden in den Kosmos suchte man nicht selten
durch Orientierung nach bestimmten astronomischen Punkten vorzu-
nehmen. Doch verfuhr man dabei nicht einheitlich. Verhältnismäßig spät
tauchen die ersten Städte auf, die dem Kosmos bewußt eingefügt oder
nachgebildet sind2 • Das von König Sargon H. im Jahre 713 v. Chr.
gegründete Dur Scharrumn hat die Gestalt eines Rechteckes, dessen
Ecken nach den Himmelsrichtungen orientiert sind und eine Inschrift
besagt: "Vorn und hinten und auf beiden Seiten öffnete Sargon nach den
acht Windrichtungen acht Tore3 ." Völlig unbezweifelbar wird schließlich
die kosmische Bedeutung der gesamten Stadtanlage, wenn Sargons Sohn
Sanherib ausdrücklich behauptet, der Plan von Ninive "stimme mit der
Ordnung des Himmels überein" oder sei "seit der Urzeit mit der Schrift
des Himmels aufgezeichnet gewesen"4. Es ist gewiß kein ZufaII, daß die
bewußte Ausbildung kosmologischer und kosmo-magischer Bauformen in
der selben spätassyrisch-chaldäischen Epoche erfolgte, in der auch die
astrologisch-astronomischen Lehren eine bedeutende Erweiterung, Ver-
tiefung und systematische Ausgestaltung erfuhren.
Von den Mesopotamiern haben die 1ranier diese Vorstellungen über-
nommen. Durch die Beschreibung bei Herodot (I 98) ist die im siebenten
vorchristlichen Jahrhundert von König Deiokes gegründete Mederhaupt-
stadt Ekbatana als Prototyp einer "kosmologischen" Anlage berühmt
geworden. Nach dem Berichte des griechischen Historikers, der allerdings
nicht selbst in Ekbatana gewesen ist, hatte die Stadt sieben konzentrische
Mauerringe, deren Zinnen in den Gestirnfarben erglänzten. Die innersten
Ringe, die Mond und Sonne symbolisierten, hatten versilberte beziehungs-

1 A. SCHOTT: Das Werden der babylonisch-assyrischen Positionsastro-


nomie, "Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft" N. F. XIII
(1934), S. 313 - R. EISLER: Astrology, S. 165.
2 M. v. OPPENHEIM: Tell Halaf, Bd. 1I., bearb. u. erg. von R. NAUMANN,
Berlin 1950, S. 372: "Die Orientierung nach Himmelsrichtungen beginnt in
Mesopotamien erst im 2. Jahrtausend und ist für Befestigungen der prä-
historischen Zeit durchaus nicht zu belegen."
3 B. E. MEISSNER: Babylonien und Assyrien, Bd. I, Heidelberg 1920,
S.301/2.
4 G. MARTINY: Die Kultrichtung in Mesopotamien, Diss., Berlin 1932,
S. 24. - B. E. MEISSNER, a. a. 0., Bd. 1I, S. HO.
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 45

weise vergoldete Bollwerke. In der Mitte dieses Spiegelbildes der sieben


astralen Sphären lagen das Schatzhaus und der Königspalast. Der Grund-
gedanke ist offenbar: wie die Sonne den Makrokosmos, so beherrscht
der Sonnenkönig dessen Abbild, den Mikrokosmos!. Selbst wenn - wie
manche Kritiker behaupten - die Angaben Herodots nicht oder nur
teilweise mit der Wirklichkeit übereinstimmen sollten 2 , so sind sie doch
zumindest ein ungemein eindrucksvolles Zeugnis dafür, wie stark damals
in Vorderasien der Gedanke der Übereinstimmung von Weltbild und Bau-
form war.
Dieselbe Grundidee war auch in der Anlage der babylonischen Stufen-
türme, der Zikkurats, wirksam. Ob diese Bauwerke von Anbeginn eine
kosmische Bedeutung besaßen oder ursprünglich einfach Hoch-Altäre
waren, sei dahingestellt. Jedenfalls galten sie in geschichtlicher Zeit oft
als Abbilder des Weltberges und damit als Bindeglieder zwischen Götter-
reich und Menschenreich. Auf ihrer Spitze befand sich ein Tempelgemach,
das als irdischer Aufenthaltsort des Gottes galt, dem die Anlage geweiht
war. In diesem Gemach wurden auch die Riten der Heiligen Hochzeit
vollzogen3 , wie dies noch Jahrtausende später auf den indochinesischen
Stufentempeln der Brauch war (unten S. 65). Auch der sumerische Name
solcher Tempel ("e-kur" - Berghaus, "dur-an-ki" - Band zwischen
Himmel und Erde) ordnet sie in einen kosmischen Sinnzusammenhang
ein, doch hatten sie zumindest ursprünglich noch keine spezifisch astrale
Bedeutung. Aber schon Gudea errichtete das "e-pa", das "Haus der
sieben Zonen"4, und ganz eindeutig ist die Beziehung zu den sieben Pla-
neten als den Herrschern der sieben Sphären in dem Namen des Stufen-
turmes von Borsippa: "E-ur-me-imin-an-ki" - "Haus der sieben Führer
des Himmels und der Erde"5. Möglicherweise wurde die Entsprechung
zwischen den Stufen der Türme und den sieben Planetensphären noch
dadurch unterstrichen, daß die einzelnen Stockwerke die jeweiligen
Gestirnfarben trugen, ähnlich wie dies Herodot von den sieben Mauern
Ekbatanas berichtet.
So waren die Stufentürme in mehrfacher Hinsicht kosmische Monu-
mente. Sie waren Abbilder des Welt- oder Götterberges und in weiterer
Folge des gesamten Universums: "Die sieben Etagen repräsentieren die
sieben, d. h. alle Welträume, als deren Herrscher der auf der Spitze
thronende Gott erscheint6 ." Das babylonische Stufenbild der Welt -
die übrigens auch in diesem Zusammenhang als Herrschaftsordnung er-
scheint - wurde also zur Leitvorstellung für die Bauform. Schließlich

1 H. P. L'ORANGE: Studies on the Iconography of Cosmic Kingship in the


Ancient World, Oslo 1953, S. 10, 13.
2 V. STEGEMANN : Astrologie und Universalgeschichte, Leipzig 1930,
S. 235, Anm. 1.
3 B. E. MEISSNER, a. a. 0., Bd. I, S. 314. Bd. II, S. 111. - H. SCHMÖKEL:
Das Land Sumer, Stuttgart 1955, S. 126.
4 B. E. MEISSNER; a. a. 0., Bd. I, S. 310.
5 A. PARROT: Ziggurats et Tour de Babel, Paris 1949, S.204.
6 J. HEHN: Siebenzahl und Sabbat, Leipzig 1907, S. 14. - TH. DOMBART:
Zikkurat und Pyramide, Diss., München 1915, S.75.
46 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

hat die Symbolik dieser Gebäude noch astrologische Elemente in sich


aufgenommen.
In der Weltanschauung Mesopotamiens zeigt sich also mehr oder
weniger deutlich das bekannte Grundschema der Wechselbeziehung
zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos. Einerseits wird die Ordnung
und das Wirken der Naturmächte oder Gestirne und der entsprechenden
göttlichen Wesen, ja in letzter Linie die Gesamtstruktur des Universums
nach dem Modell sozialer Verbände oder menschlicher Siedlungen und
Bauwerke gedeutet und andererseits trachtet man danach, die Gesell-
schaftsformen, Siedlungen und Gebäude der wirklichen oder vermeint-
lichen Ordnung des Kosmos nachzubilden oder einzufügen, wobei nicht
selten die irdischen Verhältnisse in das All projiziert und aus diesem wieder
in den menschlichen Bereich reflektiert werden.

Eine gewisse Sonderstellung nimmt im Alten Orient die Geisteswelt


des Judentums ein, da in ihr die intentionalen Elemente besonders stark
hervortreten, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die biomorphen Motive
planmäßig aus der jüdischen Religion ausgeschieden wurdenl . Die biblische
Kosmogonie zeigt in idealtypischer Klarheit eine Weltschöpfung durch
den Willen und das befehlende Wort (Gen. 1, 1-24). Um die Ent-
stehung des Menschen und der übrigen Lebewesen zu erklären, bedient
sich die Bibel technomorpher Vorstellungen, nämlich des Formens und
Bildens aus Erde (Gen. 2, 7, 19) oder - bei der Erschaffung Evas -
aus einem Knochen (Gen. 2, 22).
Das Verhältnis des Gottes zu den auf diese Weise hergestellten Men-
schen ist durchaus soziomorph gefaßt. Er ist ihr Herr, gibt ihnen Vor-
schriften und ahndet deren Übertretung. Vergeltung für den Ungehorsam
ihrer Stammeltern ist die Sterblichkeit und die Mühsal des irdischen
Lebens der Menschen. Auch die Sintflut gilt nicht als moralisch indiffe-
rentes Naturereignis, sondern als Strafe für die menschlichen Missetaten.
Wie auf diese Weise eine einmalige Katastrophe soziomorph erklärt wird,
so geschieht dies auch mit der Regelmäßigkeit des normalen Natur-
verlaufes. Nach der Flut erneuert der Gott gewissermaßen die sozio-
kosmische Weltordnung, indem er Noah und seinen Söhnen Lebens-
regeln gibt und mit ihnen einen Vertrag schließt und darin zusagt, er
würde die Naturkräfte künftig in geordneten Bahnen halten: "Siehe,
ich errichte einen Bund mit euch und euren Nachkommen und mit allen
lebendigen Wesen, die bei euch sind, ... daß hinfort kein Geschöpf mehr
hinweggetilgt werden soll durch die Wasser der Flut, und daß hinfort
keine Flut mehr kommen soll, die Erde zu verheeren" (Gen. 9, 9ff.). Als
Zeichen dieses Bundes stellt er den Regenbogen in die Wollwn (Gen. 9, 12).
So wird der göttliche Entschluß; "Fortan sollen, so lange die Erde steht,
nicht aufhören Säen und Ernten, Frost und Hitze, Sommer und Winter
und Tag und Nacht" (Gen. 8, 22) zur Verpflichtung; der kosmische
1 Doch haben sich manche, durch allegorische Umdeutung geschützte
Reste auch im kanonischen Text erhalten, vgl. H. SCHMÖKEL: Heilige Hoch-
zeit und Hohes Lied, Wiesbaden 1956.
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 47

Rhythmus der Tages- und Jahreszeiten ist damit vertraglich garantiert.


Die schon bekannte Auffassung des bestirnten Himmels als militärische
Ordnung findet sich auch i:t;n Judentum. Schon für die früheste uns
geschichtlich faßbare Zeit ist Jahwe der Führer des SternenheeresI, das
auf seinen Befehl in die irdischen Schlachten eingreift. So singt in dem
ältesten Stück des Alten Testamentes die Prophetin Debora: "Vom Him-
mel her stritten die Sterne, von ihren Bahnen her stritten sie gegen
Sisra", den Feind des Auserwählten Volkes (Richter 5, 20). Auch später-
hin sind solche Vorstellungen bei den Juden lebendig geblieben. Noch
bei Philon ist ihre Kraft und mythische Anschaulichkeit ungebrochen.
Auch im Spät judentum und Rabbinismus wird der Sternenhimmel
soziomorph gedeutet. Die Gestirne vollenden ihre Bahnen nach gott-
gegebenen Ordnungen und Gesetzen. "Wenn sie sich nach denselben
richten, ist dies ein Dienst, der in der Furcht des Herrn verrichtet wird,
ein Ausfluß der Treue, ein Halten des Eides, Erfüllung von Gottes Gesetz,
Gehorsam gegen einen Befehl oder ein Gebot ... Es handelt sich also wie im
Alten Testament um eine ,moralische' Ordnung. Das Gesetz, dem die Ge-
stirne folgen, entspricht dem den Menschen gegebenen, und darum ist der
Gehorsam der Himmelslichter für die Menschen vorbildlich2 ." So wird auch
hier die moralisch - also soziomorph - interpretierte makrokosmische
Ordnung schließlich als Norm für das menschliche Verhalten aufgefaßt.
Am weitesten geht die apokalyptische Literatur in der mythologischen
Ausmalung solcher Gedanken und besonders in der engen Verschränkung
von Natur und Gesellschaftsordnung. Die Vorstellung, daß das Regelmaß
des Weltlaufes das Ergebnis einer Verpflichtung ist, tritt beispielsweise
im pseudepigraphischen Henochbuch noch klarer hervor als in der Gene-
sis. Nach dieser Apokalypse legt Gott in die Hand Michaels einen Eid
nieder und stiftet dadurch die Weltordnung (Hen. 69, 15-25): "Durch
seinen Eid wurde der Himmel befestigt und aufgehängt, bevor die Welt
geschaffen wurde und bis in Ewigkeit. Durch ihn wurde die Erde über
dem Wasser gegründet ... das Meer geschaffen und er legte ihm als Grund
für die Zeit seiner Wut den Sand, es darf nicht darüber hinausgehen ...
Durch jenen Eid vollenden Sonne und Mond ihren Lauf und gehen nicht
über die ihnen vorgeschriebene Bahn hinaus von Ewigkeit und bis in
Ewigkeit. Durch jenen Eid vollenden die Sterne ihren Lauf; er ruft sie
beim Namen, und sie antworten ihm von Ewigkeit zu Ewigkeit, ebenso
die Geister des Wassers, der Winde und aller Lüfte ... Dieser Eid ist
mächtig über sie, sie werden durch ihn bewahrt. Auch ihre Wege werden
bewahrt und ihr Lauf wird nicht verderbt3 . " Für die Verletzung dieser
1 J. HERN : Die biblische und die babylonische Gottesidee, Leipzig 1913, S. 253.
2 Sv. AALEN: Die Begriffe "Licht" und "Finsternis" im Alten Testament,
im Spätjudentum und im Rabbinismus, Oslo 1951, S. 161.
3 Zit. n. E. KAUTZSCH: Die Apokryphen und Pseudepigraphen des .Alten
Testamentes, 2. Bd., Neudr. Tübingen. 1921. - Die Betonung des Eides-
und Vertragsprinzips im sozio-kosmischen Denken des Judentums ist nicht
zuletzt dadurch erklärlich, daß Israel in der für die Ausbildung seiner
Religion entscheidenden Frühzeit keine absolute Monarchie, sondern eine
"eidgenossenschaftliche" Stammeskonföderation war.
48 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

und ähnlicher Weltnormen sind strenge Strafen vorgesehen. Die Sterne,


welche den Befehl Gottes übertreten, indem sie nicht rechtzeitig aufgehen,
werden gefesselt in ein Gefängnis gestoßen und ins Feuer geworfen (Hen.
18, I4ff.; 21, Hf.). Ein besonders aufschlußreiches Dokument sozio-
kosmischer Mythologie ist das 80. Kapitel des Henochbuches. Aus ihm
spricht die Überzeugung, daß die Sünde als moralische Verletzung der
"Weltordnung" mit einer Auflösung der Naturordnung verbunden ist,
die ihrerseits verschlimmernd auf die menschlichen Zustände zurück-
wirkt: "In den Tagen der Sünder werden die Jahre verkürzt werden,
ihre Saat wird sich in ihren Ländern und auf ihren Feldern verzögern,
alle Dinge auf Erden werden sich ändern und zu ihrer Zeit nicht erscheinen;
der Regen wird ausbleiben und der Himmel ihn festhalten. In jener Zeit
werden die Früchte der Erde sich verzögern, zu ihrer Zeit nicht wachsen,
und die Baumfrüchte werden in ihrer Zeit zurückgehalten werden. Der
Mond wird seine Ordnung verändern und zu seiner festgesetzten Zeit nicht
erscheinen. In jenen Tagen wird man sehen, wie sich die Sonne am Abend
in den letzten großen Wagen im Westen begibt und mehr leuchtet als nach
der regelmäßigen Ordnung des Lichts. Viele Oberste der Sterne (Offiziere
des Sternenheeres) werden ,ihrem Gebot' abtrünnig werden und ihre
Wege und Beschäftigungen ändern und nicht zu den ihnen vorge-
schriebenen Zeiten erscheinen. Die ganze Ordnung der Sterne wird vor
den Sündern verschlossen sein, und die Gedanken der Erdenbewohner
werden ihretwegen irregehen; sie werden von allen ihren Wegen abtrünnig
werden, irren und sie für Götter halten. Das Unheil wird über ihnen zu-
nehmen, und Plagen werden über sie kommen, um sie alle zu vernichten."
Die mit solchen Gedankengängen verwandte Vorstellung der "Himmels-
stadt" hat im Judentum eine eigenartige Ausprägung erfahren, welche
infolge ihrer Übernahme durch die christlichen Glaubenslehrer für die
abendländische Geistesentwicklung sehr bedeutsam werden sollte, und
zwar ist dies die Idee des "himmlischen Jerusalem". Diese dürfte in dem
verbreiteten Glauben an eine "ewige Stadt" wurzeln, mit dem sich die
stark kosmologisch bestimmte Anschauung vom "himmlischen Babel"
verbunden zu haben scheint, das als astrales Urbild der irdischen Welt-
hauptstadt angesehen wird!. Doch trägt das himmlische Jerusalem des
Alten Testamentes keinen unmittelbar sozio-kosmischen Oharakter.
Ursprünglich handelt es sich bloß um die Verheißung eines endzeitlichen
Neubaues der jüdischen Metropole. Der Gedanke, daß die bestehende
Stadt durch eine andere, vom Himmel kommende, abgelöst und vollendet
werden solle, kann allerdings verschiedene Formen annehmen. Oft gilt
das himmlische Jerusalem als ewiges Urbild und göttlicher Plan ,eines
irdischen Abbildes. Gott hat es Adam vor dem Sündenfall gezeigt; später
durften Abraham und Moses die Himmelsstadt schauen, doch bleibt sie
bei Gott bis zu ihrem Herabsteigen am Ende der Zeiten2 • Bei Paulus

1 K. L. SCHMIDT: Jerusalem als Urbild und Abbild, "Eranos-Jahrbuch"


XVIII (1950), S.227.
2 H. SCHLIER: Der Brief an die Galater, 11. Aufl., Göttingen 1951, S. 157ff.
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 49

(Hebr. 12, 23) erscheint ihr Bild als das einer Millionenstadt, die von den
Engeln als dem Hofstaat Gottes und von der Gemeinde der Frommen
bewohnt ist. Breit ausgeführt wird die Schilderung des neuen Jerusalem in
der Johannes-Apokalypse, wo es als Gegenbild der Weltstadt Rom-Babel
auftritt. Von den Einzelheiten der apokalyptischen Darstellung wird
noch die Rede sein.
Es muß betont werden, daß die jüdisch-christliche Himmelsstadt eine
andere Funktion besitzt als der politisierte Makrokosmos der altorientali-
schen Großreiche. Sie sollte nicht das irdisch Bestehende als Abbild der
universellen Ordnung verklären und so den faktischen Machtverhältnissen
oder wenigstens realisierbaren Machtansprüchen die Weihe des Absoluten
geben, sondern wesentlich im Sinne einer Unterdrückten-Ideologie die
Hoffnung auf eine Art von wunderbar herbeigeführtem, paradiesischem
Endzustand erwecken. Das himmlische Jerusalem wird als Traumstadt
einer eschatologischen Zukunft von der bedrückenden Gegenwart abge-
hoben. Paulus bedient sich (Gal. 4, 25ff.) dieses Gedankens, indem er die
Christengemeinde als Verwirklichung des himmlischen Jerusalem über
die unbekehrbare Judenhauptstadt erhebt. Die christlichen Schriftsteller
haben das Motiv übernommen und nicht selten variiert. Mit dem Schwinden
der Endzeiterwartung wurde die Gottesstadt zur Gemeinschaft derer
umgedeutet, die schon auf Erden leben als wandelten sie im Himmell .
Eine bemerkenswerte Wendung nimmt die Entwicklung bei Origenes,
der die nach den sittlich-religiösen Grundsätzen des Christentums geord-
nete Seele als das wahre Jerusalem preist 2• Die Auffassung der gerechten
Seele als Himmelsstadt oder Gottesreich bedeutet eine Angleichung des
ursprünglichen Realismus der jüdischen Apokalyptik an die platonisch-
stoische Auffassung des Menschen oder seiner Psyche als Staatswesen,
dessen richtige Ordnung angestrebt werden soll (vg1. unten, S. 124 ff., 140,
161). Von jedem astralen Verständnis der Gottesstadt distanziert sich Ori-
genes deutlich: "Einigen scheint es, daß die Stellung und Versammlung ein-
zelner Gestirne die Himmelsstadt genannt oder dafür gehalten werden
könne; dies wage ich wenigstens nicht zu bestimmen" (in Num. Hom.
XXVIII 2). Doch fühlen manche christliche Denker die Verwandtschaft
zwischen der Vorstellung des himmlischen J erusalem und dem -
gleichfalls auf den orientalischen Sternenstaat zurückgehenden -
platonischen Gedanken, daß das Urbild des gerechten Staates im Ideen-
himmel lieges.
Das himmlische Jerusalem hat aber nicht nur eine politisch-moralische
Bedeutung, sondern auch eine architektonische und steht damit im
Zusammenhang der Bauwerke von kosmologischem Sinngehalt. Es ist
anzunehmen, daß die Israeliten schon früh auch mit dieser Seite der
altorientalischen Kosmosspekulation bekannt geworden sind und wichtige
Motive aus diesem Gedankenkreis übernommen haben. Schon die Stifts-

1 K. L. SCHMIDT, a. a. 0., S.240.


2 K. L. SCHMIDT, a. a. 0., S. 24l.
3 K. L. SCHMIDT, a. a. 0., S. 239.

Topitsch, Metaphysik. 4
50 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

hütte zeigt eine ausgesprochene kosmische Symbolik. Sie gilt als Abbild
der himmlischen Gotteswohnung, ihr Modell wird Moses auf dem Berg
gezeigt (Ex. 25, 9). Ihre Seiten sind den Kardinalpunkten zugewendet
(Ex. 26, 18-22). Nach Josephus (Ant. III 180ff) und Philon (De vita
Mos. II, § 77ff.) ist die Stiftshütte ein Bild des Weltalls mit seinen drei
Teilen: das Allerheiligste ist der Himmel, das Heilige die Erde und der
Vorhof das Meer. Der Schaubrottisch mit seinen zwölf Broten versinn-
bildlicht das Jahr mit seinen zwölf Monaten beziehungsweise die Tier-
kreisbilder, der Leuchter die sieben Planetenl . Die Teppiche und Vorhänge
der Hütte sind ebenso wie die hohepriesterliehe Kleidung in den vier
Farben gehalten, die man den vier Elementen oder vier Weltgegenden
zuordnete 2 • Eine ähnliche Symbolik war für den salomonischen Tempel
und die Tempelvision des Ezechiel maßgebend3 • Die Tempelanlage, wie
sie Ezechiel vorschwebte, ist streng quadratisch und mit den Seiten
nach den vier Weltgegenden orientiert, wobei das Haupttor im Osten
liegt (Ez. 40ff). Auch die heilige Stadt (Ez. 48, 30-35) hat die Gestalt
eines Quadrates, dessen 4500 Ellen lange Seiten gleichfalls nach den
Kardinalpunkten gerichtet sind und über je drei Tore verfügen. So hat
die Stadt insgesamt zwölf Tore, welche den zwölf Stämmen Israels
zugeordnet sind. Auch hier macht sich also die kosmische Zwölfzahl
geltend.
Diese "Stadt Jahwes" ist das direkte Vorbild des himmlischen Jeru-
salem der Apokalypse des Johannes (Apk. 21, 12ff.), welches ebenfalls
quadratisch angelegt ist und nach jeder Himmelsrichtung drei Tore
besitzt. Auf den Pforten stehen die Namen der zwölf Stämme der
Söhne Israels, auf den zwölf Grundsteinen der Stadtmauer die Namen
der Apostel. Die Grundsteine sind mit Juwelen verziert, und zwar jeder
mit dem Edelstein eines der Tierkreiszeichen. Diese apokalyptische
Himmelsstadt hat in der gesamten Christenheit fortgewirkt und ist nicht
selten mit verwandten außerchristlichen Vorstellungen verschmolzen.
Kosmische Bedeutung besaß schließlich auch der Ornat der Hohe-
priester, welcher ähnlich wie das Kleid Marduks eine Form des Welten-
mantels darstellt 4 • Die Symbolik seiner Farben wurde schon erwähnt,
aber auch die zwölf Edelsteine des Brustschildes und die Granatäpfel
und Glöckchen am Rocksaum, deren Zahl mit 12, 72 oder 365 angegeben
wird, haben offenbar einen kosmisch-kalendarischen Sinn.
Wie das jüdische, 80 fügt sich auch das persische Denken in die sozio-
kosmische Vorstellungswelt des Alten Orients ein. Wichtige Motive haben
die Perser umnittelbar aus Mesopotamien übernommen. Hier wie dort
gilt der irdische Herrscher als Abbild und Beauftragter des Himmels-

1 1. BENZINGER: Hebräische Archäologie, 3. Aufl., Leipzig 1929, S. 333.


2 1. BENZINGER, a. a. 0., S.244.
3 1. BENZINGER, a. a. 0., S.239. - Zur Wirksamkeit kosmologischer
Motive in der Kunst der salomonischen Monarchie bzw. der späteren Zeit
vgl. W. F. ALBRIGHT: Die Religion Israels im Lichte der archäologischen
AusgTabungen, München 1956, S. 165ff.
4 1. BENZINGER, a. a. 0., S. 355.
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 51

herrschers. In seinen Inschriften rühmt sich König Dareios, die Erden-


macht von Ahura Mazda erhalten zu haben, und wir besitzen achämeni-
dische Siegel, auf welchen der Großkönig unterhalb des Königsgottes
dargestellt ist, der in Aussehen und Gebärde genau seinem menschlichen
Urbild gleicht!.
Der Himmelskönig hat auch sein Himmelsheer : die von Ahura Mazda
geschaffenen Sterne "sind angeordnet nach Art eines Heeres, das zur
Schlacht aufgestellt ist. Jeder Stern von den 486000 Zodiacalsternen ist
zur Hilfeleistung geschaffen; und von den Fixsternen sind vier Heer-
führer in den vier Himmelsgegenden als Heerführer (zur Anführung der
Sterne) aufgestellt; zu der Aufstellung dieser Heerführer... sind die
sogenannten zahlreichen Sterne (d. h. alle übrigen Fixsterne des Himmels)
an allen Ecken und Enden aufgestellt, mit vereinter Stärke den Zodiacal-
sternen ihre Kraft gewährend, wie gesagt ist: Tistrya ist des Ostens
Heerführer, Catavaeca des Westens Heerführer, Vanant des Südens Heer-
führer, Haptoiringa des Nordens Heerführer; den Großen des Ortes
nennt man den, welcher groß inmitten des Himmels (steht). Man sagt,
daß bevor der Feind gekommen, immer Mittag gewesen sei ... "2. Zwar ist
die hier wiedergegebene Fassung des Bundehesh erst aus mittelalterlicher
Zeit überliefert, doch die Grundmotive stammen zweifellos aus meso-
potamisch-altpersischen Quellen. Eine persische Eigenart ist es, daß das
Sternenheer in das große Weltdrama des Kampfes zwischen Ahura Mazda
und Ahriman, dem Urheber des Bösen, einbezogen und demgemäß in
zwei Parteien aufgespalten wird. Die zwölf Tierkreiszeichen und der
Polarstern sind Anführer auf Seiten des guten Prinzips, die Planeten
führen die Heerscharen des Bösen 3 • Wenngleich sich hier im Laufe der
Zeiten manches geändert hat - ursprünglich scheinen die Planeten
auch Yazats, gute Mächte, gewesen zu sein -, so bleibt doch der sozio-
kosmische Grundgedanke von solchen Wandlungen unberührt. Die himm-
lische Hierarchie ist der politischen und staatlichen Gliederung auf Erden
genau parallel: die Yazats, die guten Gestirnmächte, werden als, ,Prinzen"
oder "Fürsten" bezeichnet, die Ahura Mazda genau so zugeordnet sind
wie die Stammesfürsten dem Großkönig. Ihre Machtsphäre ist aber nicht
auf den Himmel beschränkt, sondern die Tierkreiszeichen und Planeten
regeln alles in der Welt und teilen es ein, ähnlich wie dies die königlichen
Satrapen tun4 •
Doch wurden nicht nur die menschlichen Verhältnisse in den sinnlich
wahrnehmbaren oder übersinnlichen Kosmos hineingetragen, sondern auch
umgekehrt scheinen die Iranier ihre LebenswirkJichkeit dem so gedeuteten
Universum nachgebildet zu haben. Wie schon erwähnt, ist der irdische

1 H. P. L'ORANGE, Studies, S.93.


2 Der Bundehesh., hrsg. v. F. Jus TI, Leipzig 1868, Kap. H, S.4.
3 Der Bundehesh., a. a. 0., Kap. V, S.7.
4 O. G. V. WESENDONK: Das Weltbild der Iranier, München 1933, S. 215.-
H. JUNKER: Über iranische Quellen der hellenistischen Aion-Vorstellung,
"Vorträge der Bibliothek Warburg 1921/1922", Leipzig 1923, S. 141/42,
Anm. 57; S. 164, Anm. 64; S. 165.
52 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

Großkönig zugleich Urbild und Abbild des Himmelsherrn, seine Residenz-


stadt wenigstens der Idee nach eine "Wiedergabe der vom Sonnengott
beherrschten Planetenwelt, und manche Anzeichen sprechen für weitere
kosmologische Einflüsse in der persischen Staatsorganisation. So war
das Reich bereits zur Achämenidenzeit in vier Militärbezirke eingeteilt,
welche in den vier Himmelsrichtungen gelegen waren und vier Armeen
mit je einem Oberbefehlshaber stellten; andererseits ist überliefert, daß
das perische Fußvolk von sechs Generalen geführt wurde, zu denen als
siebenter der Gardekommandant kam!. Die Einteilung des Staates in
vier Provinzen und deren Leitung durch vier hohe Würdenträger war
noch unter den Sassaniden vorhanden2 • Ob und inwiefern schließlich
die kreisförmige und mit ihren Straßen und Toren nach den Haupt-
und Zwischenrichtungen der Windrose orientierte Anlage der parthischen
Stadt Darabjird und die ähnliche des frühsassanidischen Firuzabad als
Abbilder einer "Himmelsstadt" gedacht oder bloß einfach nach astro-
nomischen Gesichtspunkten geplant waren3 , muß dahingestellt bleiben.
Doch hat es in Persien auch Bauwerke gegeben, die mit großer Wahr-
scheinlichkeit als Nachbildungen eines technomorph gedeuteten Kosmos
gelten dürfen. Schon die achämenidischen Könige hielten ihre Audienzen
in Prunl{zelten, die das Himmelszelt darstellten und wörtlich "Himmel"
(ouQuvo<;) genannt wurden4 • Auch die Kuppeln und Gewölbe von Heilig-
tümern oder Palästen hat man nicht selten als Wiedergabe der Himmels-
kuppel oder des Himmelsgewölbes aufgefaßt 5 • Das wohl eindrucksvollste
Beispiels eines solchen "Himmelsdomes" ist wohl die kosmische Halle,
die sich König Khosro H. Parvez (590 bis 628 n. Ohr.) errichten ließ.
Sie bestand aus einer drehbaren Kuppel, die mit den Bildern der Sonne,
des Mondes und der Sterne geschmückt war und, von einem unterirdischen
Pferdegöpel getrieben, um die Gestalt des Herrschers auf seinem Throne
rotierte. Angeblich soll dieses Planetarium die Bestimmung der Stunden
und sogar das Aufstellen von Horoskopen gestattet haben. Manche Quellen
berichten, der König habe in diesem künstlichen Kosmos sogar Regen
fallen lassen können. Wenngleich dieses Bauwerk verhältnismäßig jung
ist und die uns erhaltenen Berichte offenbar phantasievoll ausgeschmückt
sind, so handelt es sich doch zweifellos um ein Monument, dessen Grund-
motive bis in achämenidische Zeit zurückreichen6 • Wie der göttliche
Weltherrscher in seinem Sternendome, so regiert sein Abbild, der irdische
Kosmokrator, unter seinem "Thronhimmel", einem Baldachin, Zelt oder
einem kunstvollen Kuppelbau.
So haben auch die Juden und die Perser an der großartigen Aus-
prägung Anteil, die das intentionale Weltbild im Alten Orient erfahren

E. MEYER: Geschichte des Altertums IV/I, 3. Aufl., Stuttgart 1939, S. 70.


1
A. CHRISTENSEN : L'Iran sous les Sassanides, Kopenhagen 1936, S. 96.
2
3 H. P. L'ORANGE: Studies, S. 10ff. - Dort weitere Beispiele kosmischer
Städte aus dem Vorderen Orient, auch aus späterer, mohammedanischer Zeit.
4 E. B. SMITH: Dorne, S. 81.
5 E. B. SMITH: Dome, S. 79ff.
6 H. P. L'ORANGE: Studies, S.18ff.
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 53

hat. Wenngleich diese Ausprägung bei jedem Volke eigene Züge trägt
und keine pedantische Gleichförmigkeit zeigt, so sind doch ihre Grund-
linien deutlich genug erkennbar. Der Staat mit seinen Herrschern und
Gesetzgebern, mit seiner Hierarchie von Beamten und Soldaten ist das
Modell für das Verständnis des Universums, und zwar sowohl für die
Vorstellungen von Gott oder den Göttern wie für die Deutung des
gestirnten Himmels und des Waltens der Naturkräfte. Der durch den
Gebrauch dieser soziomorphen Analogien zustande gekommene "politi-
sierte Kosmos" wird seinem Urbild, dem menschlichen Staat, über-
geordnet. Der irdische König und Gesetzgeber erscheint dann als Statt-
halter oder Beauftragter seines kosmischen Abbildes, ja es kann so weit
kommen, daß der Herrschergott als einziger Herr und einzige Rechts-
quelle des Volkes gilt, das an ihn glaubt. Fernerhin bemüht man sich oft,
die Staatsorganisation dem soziomorph gedeuteten Kosmos nachzubilden
oder anzugleichen. Ähnlich verhält es sich bei den technomorphen Denlr-
formen. Der Himmel oder die Welt wird als Mantel, Zelt oder Bauwerk
angesehen und in Rückanwendung dieser Projektion werden die Mäntel
und Zelte von Herrschern und Priestern, die Tempel und Paläste als
Abbilder des Firmamentes oder des Universums aufgefaßt und ausgeführt.
Freilich ist dieser Prozeß von Projektion und Reflexion nicht überall
nachweisbar. Manchmal wird der Kosmos soziomorph gedeutet, ohne
daß eine Rückanwendung auf die Gesellschaft oder die künstlerisch-
handwerkliche Praxis feststellbar ist, und manchmal werden Gesellschafts-
formen oder Kunstwerke vermeintlichen oder wirklichen kosmischen
Verhältnissen angepaßt, ohne daß wir eine vorausgehende soziomorphe
oder technomorphe Interpretation des Universums erkennen können.
Teilweise mag dies auf die Lückenhaftigkeit unserer Kenntnisse zurück-
zuführen sein, oft aber dürfte es sich tatsächlich nur um die einfache
Projektion intentionaler Modelle in die außermenschliche Natur oder
die Einfügung menschlichen Tuns in die kosmische Ordnung handeln.
Die altorientalische Hochmythologie hat auch Europa schon früh
beeinflußt. Bereits die archaische Dichtung der Hellenen hat viele Motive
aus ihr entlehnt, und Orphik und Pythagoreismus sind von ihr ebenso
abhängig wie die platonische Philosophie. Seit aber die Siege Alexanders
die Schleusen öffneten, ergoß sich östlicher Geist in breitem Strome
nach dem Westen. Die Übernahme des orientalischen Gottkönigtums
durch die Cäsaren und die Missionierung des Römerreiches durch die
Religionen des Ostens, von denen schließlich das Christentum siegreich
blieb, haben dieser Vorstellungswelt endgültig das Heimatrecht in Europa
gesichert. Dabei haben bodenständige Formen intentionaler Weltauffassung
den Weg bereitet und sind auch wohl in die umfassenden Synthesen aufge-
nommen worden. Bevor wir uns aber dieser "abendländischen Geistes-
entwicklung" zuwenden, soll ein kurzer Überblick über die weltweite Ver-
breitung der hier behandelten Grundformen des Denkens gegeben werden.

In Indien scheint wenigstens die Idee der "kosmischen Stadt" bis


zum dritten vorchristlichen Jahrtausend zurückzureichen. Doch ist es
54 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

hier viel schwieriger, ihre theoretische Ausgestaltung und ihren tatsäch-


lichen Einfluß auf das soziale Leben zu rekonstruieren. Zumindest für
die Induskultur fehlt die gegenseitige Ergänzung von schriftlichen
Quellen, direkten Traditionen und archäologischen Befunden, die der
Forschung im Nahen und im Fernen Osten zustatten kommt. Immerhin
ist es nicht unwahrscheinlich, daß kosmo-magische und sozio-kosmische
Ideen bereits im vorarischen Indusreich mit seinen Hauptstädten Harappa
und Mohenjo-daro eine erhebliche Rolle gespielt haben. Die Grabungs-
ergebnisse deuten darauf hin, daß dieses Reich, das sich vom Fuß des
Himalaja bis zur Indusmündung erstreckte, eine straff zentralisierte
Führung besaß, hinter deren starrem Konservatismus wahrscheinlich
starke religiöse Motive standen. In diesem Zusammenhang muß es auf-
fallen, daß die südliche Hauptstadt Mohenjo-daro (für Harappa besitzen
wir keine derartigen Details) schachbrettartig angelegt war, wobei die
Hauptstraßen ziemlich genau in nordsüdlicher und ostwestlicher Richtung
liefen. Es ist wohl kein Zufall, daß man an diesem Plan mit äußerster
Hartnäckigkeit von der Gründung bis zur Zerstörung der Stadt durch
etwa ein Jahrtausend festgehalten hat. Überdies wurde in Amilano eine
Siedlung der Induskultur gefunden, deren einheitlicher Grundriß ebenfalls
nach den Kardinalpunkten orientiert isV.
Im Hinblick auf die starke kulturelle Kontinuität zwischen dem Indus-
reich und dem späteren Indien ist es nicht unmöglich, daß auch im Bau-
wesen manche Traditionen über den Einbruch der arischen Eroberer hinaus
fortgewirkt haben, doch ist ein späteres oder neuerliches Eindringen
mesopotamisch-persischer Ideen wahrscheinlicher; vielleicht hat auch
beides zusammengespielt. Jedenfalls nimmt der Gedanke der kosmo-
logischen Städteplanung in der politischen und architektonischen Theorie
der Inder eine hervorragende Stellung ein. Schon das Arthashastra des
Kautilya aus der Zeit des Maurya-Reiches (um 300 v. Ohr.), das Grund-
buch indischer Realpolitik, gibt genaue Anweisungen für den Bau und
die Besiedelung von Städten gemäß der kosmischen Ordnung2 • Allerdings
scheinen die indischen Theorien weniger auf einer Projektion und
Reflexion intentionaler Vorstellungen als auf der Idee einer kosmischen
Sympathie zwischen den Dingen zu beruhen und höchstens im Rahmen
eines allgemeinen sozio-kosmischen Weltbildes mit den Handlungsmodellen
zusammenzuhängen3 •

1 ST. PIGGOTT: Prehistoric India, Pelican Book A 205, London 1950,


S. 132ff., 150ff., 165ff., 173.
2 J. J. MEYER: Das altindische Buch vom Welt- und Staatsleben (Das
Artha9astra des Kautilya), Leipzig 1926, bes. H/4, S. 73ff. und X/I, S. 563.
3 Einen Überblick über die einschlägigen indischen Lehren gibt B. B. DUTT:
Town Planning in Ancient India, Calcutta 1925, bes. S. 55-58, 62, 111,
142-154,205-246,335/336. - Dem kosmologischen Bau- und Siedlungsplan
Kautilyas liegt die Zwölfzahl zugrunde. Drei Hauptstraßen sollen die Stadt
von Westen nach Osten und drei von Norden nach Süden durchziehen. Diese
Straßen münden in zwölf Tore aus, also je drei in jeder Himmelsrichtung.
Nördlich der Mitte des Stadtgebietes soll der Königspalast liegen, nach
Osten oder nach Norden schauend. Von ihm ausgehend wird die Stadt in
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 55

Die Weltanschauung, welche im Hintergrund der kosmischen Städte-


planung der Induskultur steht, ist uns nicht zugänglich. Ob die Meta-
physik des sozio-kosmischen "Weltgesetzes" (Rta), die sich bei den vedi-
schen Ariern findet, auf die Siedlungsform ehigewirkt hat, ist gleichfalls
nicht klar. Jedenfalls ist der Glaube an jene moralisch-physische Welt-
ordnung, den die Indo-Arier mit den Iraniern teilen, gerade in älterer
Zeit so stark, daß Rhys Davids einer zusammenfassenden Arbeit über das
altindische Denken den Titel "Cosmic Law in Ancient Thought"l geben
konnte. Darin hat er gewissermaßen als abschließendes Ergebnis seiner
Forschungstätigkeit die Ansicht formuliert, das frühe indo-iranische Welt-
bild sei - ebenso wie das chinesische - im Wesen "normalistisch", vom
Glauben an eine Weltnorm bestimmt, welche in allem Geschehen zum Aus-
druck kommt und ein höchstes Richtmaß für das menschliche Handeln
darstellt. Das Wort "Normalismus" hat Rhys Davids gewählt, um den
Terminus "Gesetz" zu vermeiden, der die Vorstellung eines Gesetzgebers
impliziert oder doch nahelegt, während jene Weltnorm ebenso unper-
sönlicher Natur und Herkunft sein kann wie die anonyme Macht der Sitte
und des Brauches.
Vielleicht geht es zu weit, die altindische Weltanschauung als "norma-
listisch" zu bezeichnen. Das Eigenartige aller jener sozio-kosmischen
Ideen ist es ja, daß Natur und Gesellschaft eine Einheit bilden, wobei
allerdings die sozialen und moralischen Elemente und Gesichtspunkte

zwölf Bezirke nach den Richtungen einer zwölfteiligen Windrose gegliedert.


Die vornehmste Gegend war offenbar der Norden. Dort sollten die Gold-
schmiede und die Juweliere, besonders aber die Brahmapen untergebracht
werden. Im Teil Nord zu Ost hatten das Schatzhaus des Königs sowie die
Rinder- und Pferdeställe ihren Platz, den Bezirk Ost zu Nord sollten die
geistlichen Lehrer, Hofpriester und Ratgeber bewohnen, auch die Opfer-
und Wasserstätte war dort anzulegen. In östlicher Richtung lagen die Quartiere
der Kshatryas und der hervorragendsten Großhandwerker usw. So gab es
für jeden der zwölf Sektoren eine genaue Vorschrift.
Es ist klar, daß ein so pedantisch ausgearbeitetes, ja geradezu scholastisch
ausgeklügeltes Schema nur das Produkt einer langen Entwicklung sein kann.
Auch sonst findet sich der Gedanke, daß die Stadt als Bauform und als
Sozialstruktur dem Universum eingepaßt oder nachgebildet sein soll, häufig
in der einschlägigen Literatur Indiens. Die kosmische und manchmal sogar
astrologische Bedeutung solcher Anlagen ist ausdrücklich bezeugt (B. B. DUTT,
a. a. 0., S. 62). Kautilya fordert, daß selbst bei der Errichtung eines Heer-
lagers neben dem Kommandanten und den Bauhandwerkern auch Astrologen
beigezogen werden sollen. Der Grundriß des Lagers soll kreisförmig, recht-
eckig oder quadratisch sein; vier Tore, sechs Straßen, neun Bezirke sind vor-
gesehen. Nur wenn Gebäude und Quartiere genau nach den Weltgegenden
ausgerichtet waren, glaubte man ein günstiges Schicksal erwarten zu dürfen,
während jedes Bauen schräg zu den Himmelsrichtungen in den .kanonischen
Büchern der Hinduarchitektur, den Shilpa-Shastras, als unheilbringend
verpönt ist (B. B. DUTT, a. a. 0., S. 118). Manchmal ging die kosmo-magische
Spekulation bis ins Spielerische, etwa wenn jeder Kaste nicht nur eine
Himmelsrichtung, sondern auch eine bestimmte Beschaffenheit - Farbe,
Geruch, Geschmack - des Bodens zugeordnet wurde, auf dem ihre Ange-
hörigen wohnen sollten (B. B. DUTT, a. a. 0., S. 55f.).
1 T. W. RHYS DAVIDS: Cosmic Law in Ancient Thought, "Proceedings
of the British Academy" VIII (1917).
56 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

weitgehend die Deutung der Naturereignisse bestimmen. Dies gilt auch


für das "Gesetz" des J.tta. Es bildet einen obersten Ordnungsbegriff, der
die augenfälligen Regelmäßigkeiten des Naturlaufes ebenso umfaßt, wie
die feststehenden Gebote von Sitte und Recht oder die Normen der Wahr-
heit und Wahrhaftigkeit. Die normative Funktion tritt überall kräftig
hervor. Wie den handelnden Menschen Recht und Wahrheit, so schreibt
das J.tta der Natur ihren geregelten Lauf vor - sind doch die Naturmächte
beseelt, so daß sie gleich gesetzlos handelnden Menschen, die ihnen auf-
erlegte Ordnung verletzen könnten. Die J.tta-Vorstellung entspricht damit
weitgehend der ägyptischen Ma-at oder der kosmischen Verfassung des
Enuma elisch oder der Henoch-Apokalypse. Man hat auch mit Recht
an die Idee der Weltordnung im vorsokratischen Denken erinnert!: "Wie
nach jenem Wort HerakIits die Sonne ihr Maß nicht überschreitet -
wollte sie es, würden die Erinnyen, die Dienerinnen des Rechts, sie finden
-, so sagt in kaum weniger erhabener Sprache ein indischer Denker,
allerdings nach der eigentlichen Brahmanenzeit, vom Allwesen der jün-
geren Spekulation, was auch vom J.tta hätte gesagt werden können:
Aus Furcht vor ihm die Winde wehn,
Aus Furcht vor ihm die Sonn' aufgeht;
Aus Furcht läuft seinen Weg Agni
Und Indra und der Fünfte: Tod."
Die Sonnenbahn und das Sonnenlicht richtet sich nach dem Rta.
Das Dunkel der Sonnenfinsternis, welches unter vermeintlicher Du~ch­
brechung der Naturordnung die Sonne verhüllt, ist "dem Gesetze zu-
wider" (apavrata2).
Eng verwandt mit dem J.tta ist ein anderer Ausdruck für die Gesetz-
mäßigkeit des Tuns, das vrata, in seiner Grundbedeutung "Gebot" oder
" Ordnung". Wie je nach ihrem Beruf die festen Lebensgewohnheiten
der Menschen, so sind auch die der Tiere ihr vrata, und die Naturdinge
wie Sonne und Mond gehorchen dem vrata Varunas, des Himmelsgottes,
wenn sie in den Rhythmen ihrer Bewegungen verharren3 •
Soziomorphe Modellvorstellungen durchdringen das indische Denken bis
tief in die "negative Theosophie" der Upanishaden. Selbst dem uner-
kennbaren und unobjektivierbaren Atman, dem intelligiblen oder absoluten
Ich, werden in bemerkenswertem Widerspruch zu seiner sonst behaupteten
Eigenschaftslosigkeit nicht selten die Attribute der Herrschaft zuerkannt.
Wie es in der Brhad Aranyaka Upanishad4 heißt, liegt tief in unserem
Herzen "der Herr des Weltalls, der Gebieter des Weltalls, der Fürst des
Weltalls". Später wird dem Ich überhaupt der Name "Herr" - isha
oder ishvara - gegeben5 • Dieses Herrschaftsprädikat ist kein bloß meta-

H. ÜLDENBERG: Vorwissenschaftliche Wissenschaft, S. 124f.


1
H. ÜLDENBERG: Die Religion des Veda, 3. u. 4. Auf!., Stuttgart 1923,
2
S.195.
3 H. ÜLDENBERG: Vorwissenschaftliehe Wissenschaft, S. 125ff.
4 Sechzig Upanishad's des Veda, übersetzt v. P. DEussEN, Leipzig 1905,
S.479.
6 H. GOMPERZ: Die indische Theosophie, Jena 1925, S. 153.
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 57

phorischer Ausdruck einer hohen Wertschätzung, sondern bezeichnet eine


Funktion, die man jenem unvergänglichen Weltgrund zuschreibt!: "Auf
dieses Unvergänglichen Geheiß stehen auseinandergehalten Sonne und
Mond; auf dieses Unvergänglichen Geheiß stehen auseinandergehalten
Himmel und Erde; auf dieses Unvergänglichen Geheiß stehen auseinander-
gehalten die Minuten und die Stunden, die Tag' und Nächte, die Halb-
monate, Monate Jahreszeiten und Jahre; auf dieses Unvergänglichen
Geheiß rinnen von den Schneebergen die Ströme, die einen nach Osten,
die anderen nach Westen, und wohin ein jeder gehet; auf dieses Unver-
gänglichen Geheiß preisen die Menschen den Freigebigen, streben die
Götter nach dem Opfergeber, die Väter nach der Totenspende". So er-
scheint die Weltordnung, die Kosmisches, Soziales und Rituelles enthält,
als Ergebnis planvoller Befehle des Weltprinzips.
Die sozio-kosmischen Gedankengänge sind aber im Laufe der Ent-
wicklung des philosophischen Denkens stark zurückgedrängt worden. Was
der indische Weise wollte, war nicht die Erforschung der physischen und
sozialen Tatsachenwelt, sondern im Gegenteil die Erlösung von dieser
Welt des Scheines und der Schuld. So findet sich zwar später die Vor-
stellung einer unverbrüchlichen moralischen "Kausalität", die bud-
dhistische Karma-Lehre. Wenn ein lebendes Wesen, Mensch oder Tier,
stirbt, dann entsteht je nach dessen Verdienst oder Schuld ein anderes
lebendes Wesen zu einem mehr oder weniger leidvollen, an die Materie
gebundenen Dasein. Es handelt sich also hier nicht wie in der Seelenwan-
derungslehre um die Belohnung oder Bestrafung eines bleibenden, kon-
tinuierlichen Ich und auch nicht wie in der sozio-kosmischen Mythologie
um die Erklärung konkreter Naturvorgänge mit Hilfe moralisch-politischer
Modellvorstellungen. Kosmologische Probleme hat der Buddha als für
die Erlösung unerheblich zu erörtern abgelehnt 2 • Vor allem aber ist die
Ordnung des Karma höchstens in negativem Sinne eine Norm für mensch-
liches Handeln, sofern man sie überwinden und ihr entfliehen soll.
Weit stärker als in dem weItabgewandten indischen Denken hat sich
die Idee von der Einheit von Universum und Gesellschaft in China ent-
wickelt. Auch hier reichen ihre Wurzeln bis in graue Vorzeit zurück, doch
ist sie im Laufe der Geschichte nicht zurückgedrängt, sondern immer
weiter ausgestaltet worden. Der Gedanke der sozio-kosmischen ,,\Velt-
ordnung", des Tao, ist zumindest der Sache nach von den Anfängen der
geschichtlichen Überlieferung bis fast zur Gegenwart der eigentliche
Grundstein der chinesischen Weltanschauung gewesen. So ist die Be-
hauptung kaum übertrieben, daß die chinesische Auffassung des Uni-
versums von soziomorphen Modellvorstellungen so gut wie vollständig
beherrscht wird3 • Auch das Prinzip der wechselseitigen Entsprechung von

1 Sechzig Upanishad's, S. 445.


2 O. STRAUSS: Indische Philosophie, München 1925, S. 95.
3 M. GRANET: La pensee chinoise, Paris 1934, S.343: "La conception
du monde physique est entierement commandee par des representations
sociales." Granet bringt in seinem Werk eine Fülle von Beispielen soziomorpher
Naturdeutungen. Zur chinesischen Auffassung der Beziehungen zwischen
58 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

sozialem Mikrokosmos und physischem Makrokosmos hat vielleicht


nirgends eine so folgerichtige Durchführung erfahren wie in Ohina.
Schon sehr früh fanden die Ohinesen im Leben der ackerbautreibenden
Familie wesentliche Leitvorstellungen für die Deutung der kosmischen
Ereignisse. Als Zeugungsgemeinschaft wie als Lebensordnung bildete die
Familie oder Sippe das wichtigste Modell für das Verständnis der Struktur
des Alls. In den kosmogonischen Mythen finden wir vor allem das Motiv
des Urelternpaares Himmel und Erde. Wo dagegen die Ordnung des
bestehenden Universums erklärt werden soll, treten jene Analogien in den
Vordergrund, die der Hausgemeinschaft und Hauswirtschaft, der Sippen-
und später der Staatsordnung entlehnt sind. Die himmlische Autorität
trägt die Züge des patriarchalischen Vater-Herrschers oder des Kaisers,
der aber seinerseits in die umfassendere Struktur einer stark traditions-
bestimmten Gesellschaft eingefügt ist. Der Herrscher mag zwar deren
Einheit und Würde repräsentieren, aber er bleibt doch an ihre Gebräuche
und moralischen Forderungen gebunden!. So regiert der Himmelsherr
die Welt nach sittlichen Grundsätzen, gibt Gesetze, erteilt Befehle, be-
lohnt die Guten, bestraft die Bösen und legitimiert nicht zuletzt die
Stellung des Kaisers und der Feudalherren2 •
Im Laufe der kulturellen und sozialen Entwicklung haben sich auch
die Modellvorstellungen der chinesischen Kosmologie verändert. So sind
beispielsweise die ältesten Sternennamen noch durchwegs dem Ackerbau
oder dem häuslichen Leben und der Familienordnung entlehnt3 ; es
erscheinen etwa Sonne und Mond als Eltern und die Sterne als ihre Kinder.
Mit der Entstehung des lehensfürstlichen und monarchischen Staates
treten jedoch neue Leitvorstellungen auf: Himmel und Erde sind das
kaiserliche Paar und Sonne, Mond und Sterne, Berge und Flüsse sind
ihre Beamten; oder der Herrscher hat Himmel und Erde zu Eltern, Sonne
und Mond zu Geschwistern. Die letztere Anschauung ist wesentlich mehr
als ein Produkt höfischer Schmeichelei. Durch seine Verwandtschafts-
beziehungen mit den kosmischen Mächten ist der Kaiser oder König -
der übrigens nach anderen Mythen von einem Lichtstrahl gezeugt wird -

Natur und Gesellschaft vgl. auch :M. GRANET: La religion des Chinois, Paris
1922, S. 17: "Le sentiment que le monde naturel et la SOCÜ3te humaine sont
etroitement solidaires a ete l'element de fond de toutes les croyances chinoises"
und H. G. CREEL: Sinism. A. Study of the Evolution of the Chinese World-
View, Chicago 1929. - H. F. RUDD: Chinese Social Origins, Chicago 1928,
S. 72ff. spricht von dem "socialized universe" der Chinesen.
1 A. FORKE: The World-Conception of theChinese, London 1925, S. 68ff. -
H. F. RUDD, a. a. 0., S. 87f.: "It was in their immediate life, saturated with
domestic sentiment, that the Chinese found the basis for the interpretation
of the cosmic process. As there was a parental ruler among men, so they
projected this same idea into the celestial world. The individual ruler in human
society was only one member of the whole social order ... so in the celestial
world the cosmic order was more important than any individual being . .. the
cosmic order, which, as we shall see, is distinctly a moral order" (Hervorgehobenes
im Origina:!).
2 A. FORKE, a. a. 0., S. 147ff.
3 O. FRANKE: Der kosmische Gedanke, S.14, Anm. 2.
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 59

recht eigentlich das Bindeglied zwischen dem Universum und der Men-
schenwelt. Daneben gibt es zahllose andere Bilder aus dem sozialen
Leben. So ist etwa die Sonne der ruhig waltende Fürst und der Mond
der betriebsame und geschäftige Minister!. Verhältnismäßig bescheiden
ist dagegen die Rolle der technomorphen Analogien, wenn gelegentlich
das Universum als ein Schmelzofen und das gestaltende Prinzip als Gießer
betrachtet wird 2 •
Schließlich haben die Chinesen die soziomorphe Weltdeutung zu einem
allumfassenden und bis in die Einzelheiten pedantisch ausgearbeiteten
System entwickelt. Der Himmel wurde in fünf Paläste eingeteilt, die den
vier Weltgegenden und der Mitte entsprechen sollten. Im mittleren und
vornehmsten Palaste, dem Bereich der immer sichtbaren Zirkumpolar-
sterne, residiert der "Große Eine" - der Polarstern; andere Gestirne
dieses Raumes heißen "der Kronprinz", "der Prinz", die "Fürstin" usw.
Einen hohen Rang nimmt der Große Bär ein, der als "Wagen des Zentral-
herrschers" die Gebiete der vier Himmelsrichtungen regiert, das Yin und
Yang sondert, die vier Jahreszeiten einsetzt, die fünf Elemente ausgleicht
und andere organisatorische Tätigkeiten ähnlicher Art ausübt. Die einzel-
nen Sterne des Großen Bären heißen "der oberste Heerführer", "der
zweite Heerführer", "der erste Ratgeber" usw. Drei Sterne in der Nähe
des Polarsternes sind die drei "kung" (Hauptberater des Herrschers),
zwölf andere sind seine Leibwächter. So wird die ganze komplizierte
Organisation des voll ausgebildeten Kaiserstaates und seiner Hofhaltung
in den Sternenhimmel projiziert. Da gibt es am Firmament eine Haupt-
gemahlin und Hofdamen, einen Justizverwalter und eine berittene Schutz-
wache, eine Regierungshalle und sogar einen kaiserlichen Wagenschuppen.
Otto Franke, dessen Monographie "Der kosmische Gedanke in Philoso-
phie und Staat der Chinesen" die vorliegende Darstellung weithin gefolgt
ist, spricht in diesem Zusammenhang mit Recht von einer "Politisierung
des Kosmos". Man "machte die Sterne zu Herrschern mit einem vollstän-
digen Hofstaate und sah in dem gestirnten Himmel ein wohlorganisiertes
Staatswesen" 3.
Die Himmelskörper werden aber nicht nur nach gesellschaftlichen
Vorbildern benannt, sondern sie üben auch bestimmte soziale Funktionen
aus. Wie die "Sonne der Gerechtigkeit" der nahöstlichen Mythen, so
sind hier vor allem die Planeten die Hüter des Rechtes und Träger der
Strafgewalt über die menschlichen Verfehlungen. Jupiter ist ganz all-
gemein der Schützer der Gerechtigkeit; wenn man zu Unrecht tötet,
dann kommt die Strafe vom Planeten Venus, während Merkur Justiz-
vergehen und Mars rituelle Verstöße ahndet 4 • Andererseits können auch
die irdischen Verhältnisse auf das astrale Geschehen einwirken: werden

1 A. FORKE: World-Conception, S. 79-83. - ders.: Geschichte der alten


chinesischen Philosophie, Hamburg 1927, S. 33.
2 A. FORKE: World-Conception, S.67.
3 O. FRANKE: Der kosmische Gedanke, S.14/15.
4 SE-MA-Ts'IEN: Les memoires historiques, trad. par E. CHAVANNES:
tom. III, Paris 1898. S. 356, 364, 371, 379.
60 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

Riten, Tugend und Rechtspflege ganz vernachlässigt, so flimmert der


Saturni.
Während man auf diese Weise das Universum nach sozialen und
moralischen Gesichtspunkten deutet, wird auch umgekehrt die staat-
liche Ordnung der vermeintlichen oder wirklichen Ordnung des Alls an-
gepaßt oder nachgebildet2• Die "politische Kosmologie" findet gewisser-
maßen ihr Gegenstück in einer "kosmologischen Politik". Mit ihren
Wurzeln reicht diese Staatsauffassung bis in das älteste, halbmythische
China zurück. Schon im Yao tien läßt Yao die Jahreszeiten nach den
bestimmenden Sternbildern festsetzen und danach die Obliegenheiten der
Beamten regeln. Der Grundgedanke dieser und ähnlicher Lehren, die
Übereinstimmung von Universum und Imperium, wurde noch weiter aus-
geführt. So entspricht den fünf Himmelsteilen das gesamte irdische Welt-
reich und dem mittleren Himmelspalast mit dem Sitz des Himmelsherrn -
dem Polarstern - wird der mittlere Staat mit dem Zentralherrscher
zugeordnet, dem "ruhenden Pol" im Getriebe der Weltpolitik. Im Tschou-
li, der großen Verfassungskunde chinesischer Frühzeit, liegt bereits ein
genau detaillierter Plan der kosmologischen Reichsorganisation vor, der
auf der Zahl sechs - der Zahl der Jahreszeiten, vermehrt um Himmel
und Erde - aufgebaut ist. So gibt es sechs Ministerien, deren vornehmstes
das des Himmels ist, gefolgt von dem der Erde, des Frühlings, des Sommers,
des Herbstes und des Winters. Die Aufgabenkreise dieser Ministerien
waren nach Möglichkeit ihren Bezeichnungen angepaßt. So hatte beispiels-
weise das Himmelsministerium die gesamte Verwaltung gleichsam über-
wölbend zusammenzufassen und zu koordinieren, während dem Herbst-
ministerium - da ja der Herbst tötet und zerstört - die Strafjustiz
oblag; die Hinrichtung von Verbrechern sollte nur in dieser Jahreszeit
stattfinden, der "natürlichen Zeit des Todes". Daß es bei dieser Ana-
Iogisierullg nicht ohne Willkürlichkeiten abgeht, ist verständlich. Schließ-
lich stehen über den sechs Ministerien und ihren Leitern noch die drei
unmittelbaren Berater des Herrschers, die kung, welche den gleichen
Namen tragen wie drei Sterne in der Nähe des Polarsternes3 •
Diese sozio-kosmische Reichsorganisation und Reichsideologie, die
offensichtlich der staatstragenden Oberschicht zuzurechnen ist4 , hat in

SE-MA-TS'IEN, a. a. 0., S. 368.


1
W. EBERHARD: Beiträge zur kosmologischen Spekulation der Han-Zeit,
2
Berlin 1933, S. 3f.: "Es ist eine psychologisch leicht zu erklärende Tatsache,
daß der Mensch den Himmel oder das Jenseits genau so organisiert, wie er
sich die Erde organisiert vorstellt. Dieser Zug ist in allen Religionen, einschließ-
lich der christlichen, und Philosophien deutlich. So ist also die Organisation
des Himmels ein Abbild der Gesellschaftsorganisation. Der gesamte Staats-
organismus wird herauf projiziert ... Wird so einerseits der Staatsorganismus
hinauf projiziert, so wirkt andererseits wieder die Ordnung des Alls auf die
staatliche Ordnung."
3 O. FRANKE: Der kosmische Gedanke, S.28ff.
4 W. EBERHARD, a. a. 0., S. 85: "Betrachtet man das religiöse und philo-
sophische Weltbild der Chinesen ganz oberflächlich und scharf systemati-
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 61

ihren Grundzügen etwa drei Jahrtausende überdauert und ist bis fast
in die Gegenwart erhalten geblieben. Makrokosmos und Mikrokosmos,
Natur und Gesellschaft sind letzlieh von einem einzigen Ordnungsprinzip
beherrscht: "Die Begriffe Kosmos und natürliche oder sittliche Welt-
ordnung waren für die Chinesen von' den Begriffen Staat, Beamtentum
und Verwaltungstätigkeit nicht zu trennen; sie griffen so ineinander
über, daß aus jeder (scheinbaren) Abnormität in den Gestirnbahnen oder
in den Erscheinungsformen der Jahreszeiten oder aus jedem anderen
ungewöhnlichen kosmischen Vorgange mit Sicherheit auf entsprechende
Unordnung im Staatswesen geschlossen wurde. Das Schriftzeichen yi,
das ursprünglich eine ,Abweichung' (von der Norm) bezeichnet, bedeutet
gleichzeitig ,Katastrophe'. Auf dieser Gleichsetzung von Kosmos und
Staat beruht das gesamte chinesische Kultursystem. "1
Wie der Staat, so wurde auch die Bauform dem Universum und seiner
Ordnung nachgebildet oder eingegliedert. Die Idee dieser Ordnung und
Harmonie liegt möglicherweise bereits der Gestalt und den Verzierungen
von Bronzegeräten der Schang-Zeit zugrunde2 • Ganz offenkundig sind
aber die kosmologischen Grundsätze in der Anlage der Hauptstadt der
Könige von Tschou. Diese bildete - zumindest in der Theorie - ein Viereck
mit zwölf Toren, drei auf jeder Seite. Das mittlere Haupttor im Süden
war nach der Überlieferung dem König vorbehalten3 • Auch fernerhin ist
das Universum die Norm für die Bauform geblieben. Wichtige Gebäude
wurden der Weltstruktur angepaßt, indem man sie streng nach den vier
Himmelsrichtungen orientierte und ihre Proportionen nach den "kos-
mischen Zahlen" bemaß. Nach solchen Prinzipien waren auch später die
Reichshauptstadt und der kaiserliche Palast, der ihr Zentrum bildete,
angelegt. Die Hauptstraßen und Tore, Höfe und Hallen, Mauern, Opfer-
stätten, Tempel und Altäre waren fast ausnahmslos nach den Kardinal-
punkten ausgerichtet4 • Der Tempel des Himmels lag im Süden, jener der

sierend, so kann man vertikal zwei Kreise (als Ordnungsprinzipien, ob ihnen


Realität zukommt, soll nicht erörtert werden!) unterscheiden:
1. Das offizielle China, die herrschende Kaste, eine Oligarchie mit einem
ihrer Gesellschaftsstruktur analog organisierten Weltbild, dem kosmischen
System mit sozial streng abgestuftem Kult, fast ohne Mythologie, sehr stark
astral betont: oben der Himmel, unten sein Abbild, die Erde ...
2. Demgegenüber das Volk, die beherrschte Kaste, mit ganz bunter
Mythologie, animistischen, vielleicht auch totemistischen Vorstellungen, ganz
in magischen Gedankenbahnen denkend. Infolge der schon betonten Einseitig-
keit der Texte, die uns fast nur über die herrschende Kaste... berichten,
da nur in der herrschenden Kaste schriftkundige Leute waren, sind wir über
das Volk nur durch gelegentliche, meist unbeabsichtigte Notizen unter-
richtet ... "
1 O. FRA.NKE: Der kosmische Gedanke, S.32.
2 C. HENTZE: Bronzegerät, Kultbauten, Religion im ältesten China der
Shang-Zeit, Antwerpen 1951, S. 188ft
a H. MA.sPERo: La Chine antique, Paris 1927, S.148f. - Man beachte
die .Ähnlichkeit dieser zwölliorigen Anlage mit der "kosmischen Stadt"
Kautilyas und der Vorstellung des "himmlischen J erusalem" .
4 J. J. M. DE GROOT: Universismus. Die Grundlage der Religion und
Ethik, des Staatswesens und der Wissenschaften Chinas, Berlin 1918, S.234.
62 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

Erde im Norden der Hauptstadt; es war nämlich der Süden dem männ-
lichen und himmlischen Prinzip des Kosmos (Yang) und der Norden dem
erdhaften und weiblichen Prinzip (Yin) zugeordnet. Die wichtigsten der
großen Opfer des Kaisers wurden am Tag der Wintersonnenwende (Herr-
schaftsantritt des Yang) im Himmelstempel und am Tage der Sommer-
sonnenwende (Herrschaftsantritt des Yin) im Erdtempel dargebracht.
Die Gliederung und die Proportionen des Himmelsheiligtums waren von
den Yang- oder ungeraden Zahlen, jene des Tempels der Erde von den
Yin- oder geraden Zahlen bestimmt, wie denn auch sonst die kosmischen
Zahlen eine bedeutende Rolle in Baukunst und Riten der Ohinesen spielen!.
Darüber hinaus hat China ebenso wie Indien eine Theorie des kosmo-
magischen Bauens entwickelt. Im Tschou-li begegnet man der stehenden
Formel: "Nur der Zentralherrscher errichtet die Hauptstadt (des Reiches
als dessen Mittelpunkt), scheidet die vier Himmelsrichtungen und bestimmt
die Stellungen". Wie in den alten Imperien des Nahen Ostens, so ist auch
hier "Reich" und "Erde" derselbe Begriff, ja der vermeintliche "Mittel-
punkt der Erd-(Scheibe)", in welchem die Hauptstadt angelegt werden
soll, hat eine noch grundsätzlichere kosmologische Bedeutung: dort "ver-
einigen sich Himmel und Erde, die vier Jahreszeiten treffen einander,
Wind und Regen kommen zusammen, das Yin und das Yang sind im richti-
gen Verhältnis"2. Die Kaiserstadt ist also nicht nur Abbild des Kosmos,
sondern sie soll geradezu im Angelpunkt des Universums liegen.
Doch der Gedanke kosmischer Normen für menschliches Handeln hat
in dem Agrarland China noch eine andere Grundlage, nämlich den Bauern-
kalender. Diese schlichten ländlichen Regeln zur Einfügung des Tuns der
Menschen in den Rhythmus der Umwelt haben zweifellos hier wie anderswo
maßgeblich zur Entwicklung des sozio-kosmischen Gedankenkreises bei-
getragen, in dem sie schließlich aufgegangen sind. Schon zu Beginn der
Tschou-Zeit war der Kalender ein integrierender Bestandteil des Staats-
kultus und der Staatsideologie. Seine Verkündigung erschien als eine
Hauptaufgabe des Kaisers als des Treuhänders der Weltordnung. Die
innige Verbundenheit von Zeitrechnung und Politik führte schließlich
dazu, daß die Annahme des vom Zentralherrscher verkündeten Kalenders
zugleich die Einfügung in den Kosmos des gesitteten Weltstaates be-
deutete. Wer diese verweigerte, galt in China noch zu Beginn unseres
Jahrhunderts als RebelJS.
Die sozio-kosmische Weltauffassung hat übrigens in China die ver-
schiedensten Ausprägungen erfahren. Manche sind von massiver Anschau-
lichkeit, andere sind weitgehend abstrakt und vergeistigt. So erscheint
die himmlische Autorität bald stark und offenkundig anthropomorph,
bald aber als weitgehend entpersönlichte Macht einer universalen Ordnung
und Harmonie'. Beide Formen sind sehr alt. Nicht nur der Glaube an

1 o. FRANKE: Der kosmische Gedanke, S.33f.


2 O. FRANKE: Der kosmische Gedanke, S.30f.
a O. FRANKE: Der kosmische Gedanke, S.36.
4 Dadurch werden so gegensätzliche Auffassungen möglich wie die von
ANTOINE TIEN TCHl~Ou-KANG: L'Idee de Dieu dans les huit premiers classi-
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 63

den Himmelsherrscher Schang ti, sondern auch die Vorstellung einer


immanenten wertrationalen Weltordnung, in welcher die Entwicklung
vom "Mythos" zur "Philosophie" am weitesten fortgeschritten erscheint,
reicht bis in die Frühzeit zurück. Das Hung-fan, der "große Plan", ist
von dem Gedanken beherrscht, daß zwischen den Vorgängen in der Natur
und im Staate eine durchgehende Wechselwirkung, eine weitgehende
Sympathie und Harmonie besteht. So kann der Mensch, vor allem der
Fürst und der Weise, den richtigen Weg des Handelns finden, indem er
sich dieser vorgegebenen Ordnung einfügt, den Weg (Tao) des Universums
einschlägt. Für das Yi-king steht der große Mann kraft seiner Tugend
mit Himmel und Erde im Einklang, sein Wissen gleicht dem Licht der
Sterne und sein Tun ist so regelmäßig wie der Wechsel der Jahreszeiten!.
Besonders klar und ansprechend hat im chinesischen Mittelalter Fu Hsüan
den Gedanken der Einheit von natürlicher und moralischer Ordnung
formuliert: "Himmel und Erde halten an der Zuverlässigkeit fest, und die
Jahreszeiten kommen nicht in Unordnung. Sonne und Mond halten daran
fest, und Helligkeit und Dunkelheit folgen regelmäßig aufeinander. Der
Kaiser erhebt die Zuverlässigkeit zum Prinzip, und alle Reiche genießen
Frieden. Die Feudalfürsten üben sie aus, und in ihren Gebieten herrscht
Eintracht. Der Edle richtet seinen Wandel danach ein, und seine Persön-
lichkeit hat eine feste Basis ... "2. Hier ist die soziomorphe Deutung des
Universums oder die kosmischer Erweiterung der Gesellschaft weit-
gehend von aller sinnlichen Bildhaftigkeit gelöst, aber gerade in dieser
"abstrakten" Fassung um so wirksamer: das unpersönliche Moralprinzip
der "Zuverlässigkeit" oder "Treue" bildet die zentrale Weltnorm, die
für das Verhalten der Himmelskörper und das der Menschen gleicher-
weise gilt und deren Befolgung allenthalben den Frieden, das Glück und
die Harmonie sichert. Doch es tritt nun auch die wissenschaftstheoretische
Struktur der hier vorliegenden Analogie mit aller Klarheit zutage. Die
Regelmäßigkeit ist das tertium comparationis, das die Übertragung von
Begriffen wie Treue und Zuverlässigkeit aus dem sozial-normativen Bereich
auf die Gleichförmigkeiten astronomischer Vorgänge ermöglicht.
Dadurch hat die Idee der Einheit von Naturordnung undmoralischer
Ordnung eine Gestalt erreicht, in der ihr anthropomorpher und anthro-
pozentrischer Oharakter zwar völlig erhalten bleibt, aber nicht mehr so
augenfällig hervortritt. Doch diese "rationale" Prägung sozial-normativer
Weltdeutung bleibt stets in deren konkreteren und anschaulicheren
Formen eingebettet, in jenem uralten Begreifen des Universums als

ques chinois, Fribourg 1942, und J. NEEDHAM: Human Laws and Laws of
Nature in China and the West, "Journal of the History of Ideas" XII (1951),
bes. S. 213ff. Während der erstere den Glauben an einen persönlichen Himmels-
gott in den Vordergrund stellt, legt NEEDHAM das Schwergewicht auf die Idee
der unpersönlichen Weltharmonie.
1 A. FORKE: Geschichte der alten chinesischen Philosophie, Hamburg 1927,
S.178. - ders.: World-Conception, S.74.
2 A. FORKE: Geschichte der mittelalterlichen chinesischen Philosophie,
Hamburg 1934, S.201.
64 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

rangmäßig gestufte, wesentlich nach Gesichtspunkten der Gerechtigkeit


orientierte Gemeinschaft aller Dinge, das man oft als den eigentlichen
Mutterboden der chinesischen Weltanschauung bezeichnet hat. Hier
webt die "Sympathie" kosmischer Allverbundenheit noch ohne Ein-
schränkungen. Wer die Sitte oder den Ritus verletzt, kann dadurch
Störungen im regelmäßigen Ablauf des Naturgeschehens hervorrufen,
wie auch umgekehrt Elementarereignisse und Anomalien der Natur-
vorgänge - Überschwemmungen, Dürren, Finsternisse, Kometen, Miß-
geburten - als Warnungen, Strafen oder überhaupt als Symptome
dafür betrachtet werden, daß sich der Mensch nicht richtig in die große
Weltordnung einfügt!.
Was freilich jene "Einordnung" konkret bedeutet, welche Verhaltens-
weisen des Menschen sie fordert, ist in China ebenso unldar geblieben wie
anderswo. Das gilt auch für die eigenartige und vieldeutige Formulierung,
die der Gedanke der Einfügung in die Harmonie des Universums in dem
Prinzip der sogenannten Untätigkeit, dem wu-wei, erfahren hat. Dieses
wurde in der Regel nicht als rein passive Kontemplation verstanden,
sondern als ruhevolles Wirken, das sich - entsprechend dem Gleichmaß
der Gestirnbewegungen - aller geschäftigen Betriebsamkeit und allen
willkürlichen Eingreifens in den immanenten Rhythmus des Welt-
geschehens enthält2• Wenn man das wu-wei von seinen Grundlagen im
Alltagsleben - der Einfügung der ländlichen Arbeit in den Rhythmus
der Tages- und Jahreszeiten, dem Respekt vor der traditionellen Moral
und einer gewissen Haltung philosophischer Contenance - loslöst, so
ist es ein ganz unbestimmtes, ja geradezu inhaltsleeres Gebot. Diesen
Mangel teilt es allerdings mit vielen ähnlichen Grundsätzen, vor allem
mit seinem nahen Verwandten im Westen, dem stoischen Prinzip der
Lebensführung "gemäß dem universellen Logos"3.
Nicht wegen ihres Alters oder 'ihrer Originalität, sondern wegen ihrer
folgerichtigen .Ausgestaltung ist die sozio-kosmische Spekulation Indochinas
und Hinterindiens bemerkenswert. Ein bewunderungswürdiges Beispiel
kosmologischer Architektur ist die einstige Hauptstadt des Khmer-Reiches,
Angkor in Kambodscha. Das gewaltige Mauerquadrat von etwa drei Kilometer

1 E. V. ZENKER: Geschichte der chinesischen Philosophie, Bd. I, Reichen-


berg 1926, S. 47. - W. EBERH..~RD: Beiträge, S. 21: "Zeichen guten Handelns
sind: bei Respekt folgt der Regen rechtzeitig; bei guter Ordnung kommt der
Sonnenschein rechtzeitig; bei Klugheit folgt rechtzeitige Wärme; bei "Über-
sichtlichkeit kommt rechtzeitige Kälte; bei Heiligkeit kommt der Wind zur
rechten Zeit. Zeichen schlechten Handelns sind: bei Unüberlegtheit kommt
Dauerregen; bei Irrtümern kommt dauernder Sonnenschein; bei Lässi~keit
folgt dauernde Wärme; bei Planlosigkeit kommt Dauerkälte und bei NIcht-
Erleuchtung kommt dauernder Wind."
2 E. V. ZENKER, a. a. 0., S.122. - J. J. M. DE GROOT: Universismus,
S.45ff.
. 3 Die Ähnlichkeit zwischen der chinesischen und der stoischen Vorstellung
der "Weltordnung" betonen O. FRANKE: Der kosmische Gedanke, S.40ff.,
und G. TUCCI: Storia della filosofia cinese antica, Bologna 1922, S.l1ff.
Zum Verhältnis zwischen chinesischer und westlicher Reichsidee vgl.
O. FRANKE: Geschichte des chinesischen Reiches, 1. Bd., Berlin 1930, S. 120ff.,
202f.
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 65

Seitenlänge ist genau nach den Himmelsrichtungen orientiert und in seiner


Mitte steht als Symbol des zentralen WeItberges Meru ein Tempel des
Bodhisattva Lokeshvara - des "Herrn der WeIt" (Avalokiteshvara). Die
älteste, kleinere Anlage hatte in ihrem Zentrum einen natürlichen Felsenhügel
als Sinnbild des Weltberges, auf dem man ein Heiligtum des Shiva errichtete.
Es enthielt das phallische Symbol (Lingam) dieses Gottes, den "Devaräja",
von dem aus die numinose Herrschafts- und Fruchtbarkeitsmacht den König
überstrahlte und erfüllte. Doch wir wissen auch, daß der Herrscher allnächtlich
auf der Spitze eines vergoldeten Stufenturmes die Heilige Ehe mit der
Schlangengöttin des Fruchtbodens seines Reiches zu vollziehen hatte, um
Glück und Gedeihen des Landes zu sichern1 • So war die Hauptstadt mit
dem Zentraltempel nicht nur ein Abbild des Universums2 , sondern zugleich
die Stätte der mystischen Vereinigung des Reiches mit der kosmischen
Lebensmacht.
Noch plastischer als in Kambodscha tritt die Idee der sozio-kosmischen
Weltordnung in Burma hervor, wo sie bis fast in die Gegenwart wirksam
geblieben ist. Noch 1857 wurde dort die Stadt Mandalay nach streng kosmo-
magischen Grundsätzen angelegt. Sogar die zwölf Tore trugen je eines der
zwölf Tierkreiszeichen. Dementsprechend waren auch das Hof- und Staats-
wesen organisiert: die Zahl der vier Weltquadranten und der mit ihnen
korrespondierenden Viertel des Reiches bildete die Basis. So gab es vier
Minister ersten und vier zweiten Ranges; je vier waren auch die geheimen
Räte, obersten Steuereinnehmer, Adjutanten, Königsboten, königlichen
Schreiber, Herolde usw. Sogar die Königinnen hatten sich dieser vermeint-
lichen Weltordnung einzufügen. Unter den vielen Frauen des orientalischen
Herrschers nahmen vier Haupt- und vier Nebenköniginnen eine besondere
Stellung ein. Ihre Titel lassen darauf schließen, daß sich ursprünglich die
Gemächer der Königinnen ersten Ranges im Norden, Süden, Osten und
Westen des Palastes befunden haben, während sich die Nebenköniginnen
mit Räumlichkeiten in den vier Zwischenrichtungen der Windrose begnügen
mußten. Diese Traditionen waren geheiligt. Als der letzte König von Burma
sich praktisch der Einehe zuwandte, hat man ihm diesen Verstoß gegen die
"Weltordnung" bitter übelgenommen. Gewissermaßen der Brennpunkt, in
dem Universum und Imperium miteinander verschmolzen, war aber der
Thron, der magische Mittelpunkt des Reiches und der Welt. Wer ihn und den
umgebenden Palast innehatte, wurde des kosmischen Charismas teilhaftig
und dadurch legitimer Herrscher. So ist die Behauptung vielleicht nicht
unrichtig, daß die kosmologischen Grundsätze in der Reichsorganisation
und Architektur nirgends so folgerichtig durchgeführt worden sind wie in
BurmaS.
So zeigt es sich, daß die Idee des sozio-kosmischen Universums in dem
ganzen Gürtel der archaischen Hochkulturen vom Nil bis zum Gelben
Meer in unterschiedlichen, aber im Grunde weitgehend übereinstimmenden
Formen verbreitet war. Sie ist jedoch nicht auf dieses Gebiet beschränkt.

1 R. HEINE-GELDERN: Weltbild und Bauform in Südostasien, "Wiener


Beiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte Asiens" IV (1930), S. 37. -
ders.: Conceptions of State and Kingship in Southeast Asia, "The Far Eastern
Quarterly", Nov. 1942, S. 15ff.
2 G. COEDES: Angkor - die Hauptstadt des alten Kambodscha - ein
Abbild des Kosmos, "Saeculum" VI (1955), S. 154ff.
3 R. HEINE-GELDERN: Weltbild und Bauform, S.60f. - Ob dieser
kosmischen Staatsorganisation wie in China eine soziologisch-politische
Deutung des Kosmos entspricht oder vorangeht, muß vorläufig dahingestellt
bleiben. Gewisse Anzeichen hiefür sind vorhanden; beispielsweise entsprechen
die vier Hauptminister den vier Lokapäla (WeIthütern), die das Universum
in den vier Himmelsrichtungen bewachen (a. a. 0., S.54).

Topitsch, Metaphysik.
66 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

Vor allem die Staatenbildungen Afrikas beruhen auf den gleichen welt-
anschaulichen Voraussetzungen, wobei allerdings vorderasiatische Ein-
flüsse mit bodenständigen biomorphen Elementen verschmelzen.
Solche Staaten mit sakralem Königtum und astronomisch-astrologisch
geschulter Priesterschaft sind in zwei breiten Landstreifen zwischen
Abessinien und dem Senegalgebiet sowie zwischen Mozambique und der
Küste von Angola zu finden. Die "kosmischen" Grundsätze ihrer Organi-
sation sind verschieden. Oft ist das Land gemäß den vier Himmelsrich-
tungen in vier Provinzen eingeteilt, die von vier obersten Würdenträgern
verwaltet werden. Diese vier "Erzbeamten" - Frobenius nennt sie auch
"Kardinalfürsten" - haben zugleich politische und sakrale Funktionenl .
In manchen Gebieten oblag ihnen auch der Beschluß und die Durchführung
der rituellen Tötung des Königs.
Wenngleich Herkunft und Eigenart des sakralen Königtums auf
afrikanischem Boden nicht völlig geklärt sind, so steht sein Zusammenhang
mit den Gestirnen einerseits, mit Regen und Fruchtbarkeit des Landes
andererseits außer Frage. Der schon erwähnte Glaube (S.27), daß das
Sippenhaupt die Verbindung zwischen der durch die Ahnenreihen flie-
ßenden kosmischen Lebenskraft und allem Lebendigen im Sippenbereich
herstellt, ist vielleicht mit einer astro-biologischen Fruchtbarkeitslehre
verschmolzen oder zu einer solchen erweitert worden2 • Oft gilt der Mond
mit seinem milden Schein als Bringer und Förderer des Wachstums,
ja geradezu als Stammvater, Erzeuger und Ahnherr. Zumal die Königs-
geschlechter führten ihre Abkunft gern auf das Nachtgestirn zurück,
dessen Name (Mwesi) auch die Bezeichnung für "König" war. Als Ge-
mahlin des Mondes galt der Venusstern, und in Rückanwendung dieser
soziomorphen Deutung wurde das Königspaar diesen beiden Gestirnen
untergeordnet. Dementsprechend richtete sich das ganze Hofzeremoniell
nach dem astralen Geschehen: "Das im Kosmos geschaute Bild (vom
periodischen Anwachsen und Abnehmen des Mondes, vom Verschwinden
und Wiedererscheinen des Venussternes) wurde ... dann auf die Erde
projiziert. Die Menschen lebten ihr Leben nach dem in der großen Umwelt
selbst geschaffenen Bilde. Das I...eben wurde so auch zum Drama gestaltet.
Der königliche Hof. .. wurde das Denkmal des im Horizont auf der
Erde aufliegenden Himmels, der König der große Mwuetsi (Mond), seine
Gattin zur Nehanda (Venus). Wie der Mond aufsteigt, zur Fülle gelangt,
abschwillt und stirbt, so war auch der König bald sichtbar, erstrahlte
in gabenspendender Herrlichkeit und trat dann bis zur völligen Ver-
borgenheit zurück. Und wurde hingerichtet ... So stellt sich alles dieses
als kultische Projektion der Vorgänge des nächtlichen Himmels auf die
Erde dar3 ." Eine kosmische Zeremonie solcher Art war wohl auch der

1 L. FROBENIUS: Monumenta .Africana. Der Geist eines Erdteils, Neudr.


Weimar 1939, S. 207. - G. SPANNAUS: Züge aus der politischen Organisation
afrikanischer Völker und Staaten, Leipzig 1929, S. 60, 123.
2 O. BAUlIIANN: Durch Massailand zur Nilquelle, Berlin 1894, S.80f.
C. K. MEEK: .A Sudanese Kingdom, London 1931, S.124f., 129.
3 L. FROBENIUS: Erythräa, S. 242/243.
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 67

Wechsel des königlichen Aufenthaltsortes entsprechend den Mondphasenl •


Oft ist in Mrika von einem periodischen Verschwinden und Wieder-
erscheinen von Priesterkönigen die Rede2 • Für das Gedeihen des Landes,
für Regen, Wachstum und Fruchtbarkeit galt die Befolgung solcher und
ähnlicher kosmischer Riten durch den Herrscher als unerläßlich. Nicht
der magische Wille des Königs zwingt die Naturmächte, sondern seine
dem "kosmischen Gesetze" gemäße Lebensführung gewährleistet das
Gedeihen von Land und Volk. Verletzt er das Gesetz, so tritt Dürre und
Mißwachs ein, und erst seine sakrale Tötung bringt das Spiel der Natur-
mächte wieder ins Gleichgewicht3 • Doch nicht nur Verfehlungen des Herr-
schers oder Naturkatastrophen, die als deren Auswirkungen galten, konnten
den rituellen Königsmord zur Folge haben, sondern auch Krankheit
oder sonstige Schwächezeichen, die anzeigten, daß der Fürst die univer-
selle Lebens- und Fruchtbarkeitsmacht seinem Lande nicht mehr zu
vermitteln vermochte. Zumeist aber war die Tötung des Königs eine
periodische Maßnahme, die mit wirklichen oder vermeintlichen kosmischen
Rhythmen in Zusammenhang stand'.
Eine astrale Staatsideologie und Staatsorganisation findet sich auch
bei den westafrikanischen Akan. Auf diesem mutterrechtlichen Boden
spielt die Königinmutter, die mit dem Mond identifiziert wird, die erste
Rolle. Sohn der himmlischen Mondmutter ist die göttliche Sonne, und in
Rückanwendung dieser soziomorphen Projektion repräsentiert auf Erden
die Königinmutter den Mond, der König die Sonne und der Staat das
Universums. Nach einer anderen Version beherrschen die sieben Himmels-
körper (Sonne, Mond und die fünf Planeten des ptolemäischen Systems)
den Kosmos; ihnen entspreche.n im Aufbau des irdischen Staates sieben
matrilineare Klans. Als Repräsentant der Sonne ist der König das dyna-
mische Zentrum des sozialen Mikrokosmos 6 • Seine Thronplattform ist
nach den Kardinalpunkten orientiert und drei Stufen führen aus jeder
Himmelsrichtung (manchmal nur von Ost und West) auf sie hinauf.
Vier Beamte besorgen den königlichen Haushalt; die Kleidung und der
Hausrat des Herrschers sind mit kosmischen Symbolen versehen7 •
Auch die Bambara in Westafrika haben eine kosmologische Stammes-
ordnung. Alle Großgruppen der Erwachsenen (dyo) stehen dort im Zusammen-
hang mit den Jugendgruppen des Ndomo, die ihrerseits die Ordnung des
Weltalls, des Raumes und der Elemente, widerspiegeln. Jede der sechs dyo
hat eine kosmische Bedeutung und ein entsprechendes Symbol. Eine der
Gruppen ist dem Westen und der Luft, eine dem Osten und dem Wasser
zugeordnet, eine dritte dem Süden und dem Feuer, die vierte dem Norden
und der Erde. Zwei weitere stehen in Beziehung zu Zenith und Nadir. Die
Heiligtümer und Kultstätten der vier zuerst genannten dyo liegen - zumindest
1 L. FROBENIUS: Erythräa, S. 138.
2 A. FRIEDRICH: Afrikanische Priestertümer, Stuttgart 1939, S.22.
3 A. FRIEDRICH, a. a. 0., S. 15/16.
4 L. FROBENIUS: Erythräa, S. 134. - ders.: Monumenta Africana, S. 191f.
A. FRIEDRICH, a. a. 0., S. 18.
S EVA.L. MEYEROWITZ: The Sacred State oftheAkan, London 1951, S. 27.
8 EvA. L. MEYEROWITZ, a. a. 0., S.57.
7 EvA. L. MEYEROWITZ, a. a. 0., S. 91ff.


68 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

theoretisch - in der jeweils entsprechenden Himmelsrichtung1 • Im gleichen


Kulturraum gibt es auch zahlreiche Beispiele "kosmischer" Städte; so sind
die Siedlungen der Akan und verwandter Stämme nach Richtlinien erbaut,
die der vermeintlichen Struktur des Universums entstammen2 •
In der Neuen Welt begegnen wir ähnlichen Erscheinungen, die hier
wenigstens am Rande erwähnt werden sollen. Es ist nicht unwahrschein-
lich, daß die Stufentempel der Azteken ähnlich wie die der Mesopotamier3
als Abbilder des Stockwerkbaues der Himmel- also des" Weltgebäudes" -
gedacht waren4 • Eine analoge Projektion und Reflexion technomorpher
Modelle ist bei den Indianern des nordamerikanischen Seengebietes nach-
weisbar. Manche Stämme dieses Bereiches betrachteten die Welt als Haus,
als Wigwam des "großen Geistes", und eine Nachbildung des so gedeuteten
Kosmos war die Medizinhütte, in welcher gewisse Riten vollzogen wurden,
die ein langes Leben gewährleisten sollten. Der Boden der Hütte" vertritt
die Erde, die Wände sind die vier Seiten des Erdrandes, das Dach ist
das Himmelsgewölbe. Die gerundeten Stangen... meinen in der Tat
den Himmelsbogen"5. So ist das irdische Heiligtum ein Abbild der kosmi-
schen Wohnung des göttlichen Wesens, ähnlich wie dies bei der israeliti-
schen Stiftshütte der Fall war. Die Beziehung des Hüttenrituals auf das
Universum wird noch durch die Orientierung des Baues nach den Kardinal-
punkten, die Verwendung von Kultpfählen in den Farben der Himmels-
richtungen und den immer wiederkehrenden Gebrauch der kosmischen
Vierzahl unterstrichen6 •

Mit Absicht wurden die intentionalen und sozio-kosmischen Vorstel-


lungsbestände Europas bisher nicht behandelt. Unser Erdteil hat nämlich
aus eigener Kraft nichts hervorgebracht, was der machtvollen Hoch-
mythologie des Alten Orients vergleichbar wäre, aber er hat aus boden-
ständigen und östlichen Elementen jene rationalisierte und systematisierte
Ausprägung des intentionalen Weltbildes geschaffen, die in der sogenannten

1 G. DIETERLEN: Essai sur la religion bambara, Paris 1951, S.232.


2 EVA L. MEYEROWITZ, a. a. 0., S.184ff. - Vgl. L. FROBENIUS: Monu-
menta Africana, S.62ff.
3 Asiatische Kultureinflüsse in Altamerika behauptet in diesem Zusammen-
hang F. RÖCK: Kalender, Sternglaube und Weltbilder der Tolteken als Zeugen
verschollener Kulturbeziehungen zur .Alten Welt, "Mitteilungen der Anthro-
pologischen Gesellschaft in Wien" LII (1922), S.43ff.
4 W. KRICKEBERG: Bauform und Weltbild im alten Mexiko, im Sammel-
band "Mythe, Mensch und Umwelt", hrsg. v. A. E. JENSEN, Bamberg 1950,
S.300ff. - J. SOUSTELLE: So lebten die Azteken, Stuttgart 1956, S.152.
ö W. MÜLLER: Die blaue Hütte, Wiesbaden 1954, S. 60.
8 Erwähnenswert ist auch die raffiniert ausgeklügelte kosmologische
Stammesorganisation, Baukunst und Fruchtbarkeitsmagie der Zuiii-Indianer.
über diese berichtet F. H. CUSHING: Outlines of Zuiii Creation Myths,
"13th Annual Report of the Bureau of Ethnology to the Secretary of the
Smithsonian Institution", Washington 1896, S.321ff., bes. S.367ff. -
ders.: Zuiii Breadstuff, "Indian Notes and Monographs" Vol. VIII, New York
1920, S.21ff., 176ff. - ders.: Manual Concepts. A Study of the Influence
of Hand-Usage on Culture-Growth, "The American Anthropologist" V/4
(1892), S. 304ff.
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 69

traditionellen Philosophie und Metaphysik eine große, ja beherrschende


Rolle spielt. Doch hat die Philosophie die älteren, weniger stark ratio-
nalisierten und daher anschaulicheren und lebensvolleren Formen der
intentionalen Weltauffassung nicht verdrängt, sondern ist in ihnen ein-
gebettet geblieben, hat nicht wenige Motive aus ihnen übernommen und
ist manchmal wieder nahezu völlig mit ihnen verschmolzen. Unter solchen
Gesichtspunkten will die folgende Skizze verstanden sein.
Für die ganze Entwicklung, die es nun darzustellen gilt, ist es charak-
teristisch, daß sich eine scharfe Grenze zwischen dem mythischen und
dem philosophischen Denken kaum ziehen läßt. So hat Platon, dessen
Abhängigkeit vom Geiste des Orients noch immer unterschätzt wird!,
nicht nur die Vorstellung der Himmelsstadt philosophisch spiritualisiert
(vgl. unten, S. 128), sondern auch Richtlinien für eine kosmologische
Stadtplanung gegeben, deren Verwandtschaft mit nahöstlichen Vorbildern,
aber auch mit den Theorien des indischen Arthashastra und des Tschou-li
unverkennbar ist. In seinen "Gesetzen" verlangt er, die Akropolis der
Idealstadt, auf welcher die Heiligtümer der Hestia, des Zeus und der
Athene ihren Platz haben, solle mit einer Ringmauer umgeben werden,
von der aus die Stadt und das ganze Land in zwölf Teile einzuteilen sei
(745 BU.). Von dieser Zwölfteilung ausgehend durchdringen kosmische
Zahlenverhältnisse die ganze Planung der Anlage und Besiedelung. Es
sind für 5040 grundbesitzende Bürger und ihre Familien Landlose vor-
gesehen, eine Zahl, die durch zwölf mal zwölf teilbar ist, so daß sich die
Gesamtbevölkerung in zwölf Stämme einteilen läßt, deren jeder seinerseits
je zwölf Untergruppen umfaßt. Auch die Kriegsordnung sowie das Maß-,
Gewichts- und Münzsystem soll nach den gleichen Gesichtspunkten fest-
gesetzt werden (746 DJE)2. Platon betont ausdrücklich, daß die ganze
Ordnung "in allen ihren Teilen heilig ist, da sie den Monaten und dem
Kreislauf des Alls entspricht" (771 B). So befindet sich das Gemeinschafts-
leben in einer sakralen Übereinstimmung mit dem Wesen des Universums.
Das gleiche gilt für den Atlantisstaat des platonischen "Kritias" (1l3ff).
Er ist ein in die irdische Ebene projiziertes Spiegelbild des Kosmos und
war in der Urzeit so vollkommen wie der Kreis und die KugeP.
Verwandte Motive gibt es bereits im frühesten Griechentum. Möglicher-
weise ist schon das als "Schatzhaus des Atreus" bekannte mykenische
Kuppelgrab, dessen Wölbung mit Rosetten verziert ist, als Abbild des
Himmelsgewölbes gedacht gewesen; Parallelen aus den benachbarten

1 Zum gegenwärtigen Stand der Diskussion vgl. J. KERSCHENSTEINER:


Platon und der Orient, Stuttgart 1945. - J. BIDEZ: Eos ou Platon et l'Orient,
Bruxelles 1945. - A.-J. FESTUGIERE: Platonetl'Orient, "RevuedePhilologie"
1947, S. Iff.
2 Man vergleiche die Rolle der Zahl 16 im indischen Gewichtssystem bei
ST. PIGGOTT: Prehistoric India, S.181.
3 yv. KRANZ: Kosmos, "Archiv für Begriffsgeschichte" lI/I, Bonn 1955,
S. 53. - H. HERTER: Die Rundform in Platons Atlantis und ihre Nachwirkung
in der Villa Hadriani, "Rheinisches Museum" 96 (1953), S. Iff.
70 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

Gebieten um das östliche Mittelmeer sprechen für diese Annahmel . Ganz


unverkennbar ist der kosmische Oharakter bei dem Schild des Achilleus,
den Homer in einem der berühmtesten Abschnitte der Dias (XVIII 478ft)
beschreibt. Die kunstvoll verfertigte Waffe trägt das Bild der Erde, des
Meeres und des gestirnten Himmels, also des gesamten Universums. Die
Vorstellung von dem am Weltbaum befestigten Himmelszelt und jene
:vom buntgewebten Weltenmantel, den Zeus der Erde zur Heiligen
Hochzeit schenkt, finden sich bei Pherekydes (7 B 2). Zu allen diesen
Motiven gibt es orientalische Gegenstücke2 , doch ist ein direkter Einfluß
ebensowenig nachweisbar wie bei den architektonischen Grundsätzen des
Hippodamos von Milet, der im 5. Jahrhundert v. Ohr. den Stadtplan
mit geraden, einander rechtwinkelig schneidenden Straßen in Griechen-
land eingeführt hat3 •
Auch ist nicht in allen Fällen die Projektion von Modellen aus dem
unmittelbaren Lebensbereich des Menschen in den Kosmos und ihre
Rückbeziehung von dort auf die menschlichen Verhältnisse so deutlich
wie bei der pythagoreischen Idee der Weltharmonie. Die Grundvorstellung
stammt eindeutig aus dem Gebiet der künstlerisch-handwerklichen
Tätigkeit. "Harmonia" war ursprünglich das richtige Passen der Teile
in einem zusammengefügten Werkstück, dann insbesondere das Stimmen
eines Musikinstrumentes und schließlich das Verhältnis der Töne der
gestimmten Saiten4 • Diese musikalische Harmonie meinte man in der
wunderbaren Regelmäßigkeit der Gestirnbewegungen wiedererkennen zu
können. Die sieben Planeten wurden mit den sieben Saiten einer Leier
verglichen und das Verhältnis der unhörbaren Töne, welche die sieben
Planetensphären nach dieser Lehre bei ihrem Umlauf um das Zentralfeuer
hervorbringen sollten, entsprach den Intervallen jenes Instrumentes. So
erschien die Weltordnung als musikalische Harmonie, die zwar nicht
direkt wahrnehmbar, aber als Zahlenverhältnis geistig erfaßbar war.
Obwohl also die Vorstellung der Weltharmonie vom menschlichen Musi-
zieren stammt, kehrten die Pythagoreer das Verhältnis durch die Be-
hauptung um, die Leier des Künstlers sei ein Abbild des kosmischen
Musikinstrumentes, als welches man das Universum gedeutet hatte5 •

1 L. HAUTECOEUR: Mystique et architecture. Symbolisme du cercle et de


la coupoIe, Paris 1954, S.63. - R. EISLER: Weltenmantel, S.607ff.
2 R. EISLER, a. a. 0., S. 309ff., S. 328f.
3 A. v. GERKAN: Griechische Städteanlagen, Berlin 1924, S. 30.
4 F. M. CORNFORD: The Harmony of the Spheres, im Sammelband
"The Unwritten Philosophy", Cambridge 1950, S.19.
6 L. SPITZER: Classical and Christian Ideas of World Harmony, "Traditio"
II (1944), S.414: "In spite of the fact that the simile: world harmony -
musical harmony was derived (historically speaking) from a human instrument,
the pythagoreans inverted the order by admitting that the human lute (as
imagined in the hands of the god Apollo) was an imitation of the music of
the stars. .. Thus we will witness a continuous flow of metaphors from the
human (and divine) sphere to Nature and back again to human activities
which are considered as imitating the artistic orderliness and harmony of
Nature."
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 71

Seit Platon, besonders aber seit dem Hellenismus erfolgte ein ent-
scheidender Einbruch der altorientalischen Hochmythologie in das west-
liche Geistesleben. Wie griechische Kultureinflüsse durch die Siege
Alexanders bis nach Zentralasien vorgedrungen sind, so hat umgekehrt
der Osten den griechisch-römischen Kulturraum gerade auf weltanschau-
lichem Gebiet mit der Zeit immer stärker in seinen Bann gezogen. Der
politische Wandel vom Stadtstaat zur bürokratisch-zentralistischen
Monarchie mit ihrem Stab von Würdenträgern ging Hand in Hand mit
der Verbreitung sozio-kosmischer und verwandter Vorstellungen aus dem
Orient. Die Lehre vom königlichen Sonnengott und seinem irdischen
Abbild, dem göttlichen Sonnenkönig eroberte den Westen ebenso wie
der Glaube an die Gruudsätze der kosmologischen oder kosmo-magischen
Architektur und nicht zuletzt an die Macht der Sterne.
Schon in der Diadochenzeit wurde Demetrios Poliorketes von den
Athenern in einem Preislied als Gott verherrlicht und mit der Sonne ver-
glichen, die mitten unter den Gestirnen leuchtet wie der Herrscher unter
seinen Freunden (Athenaios, Deipnos. 253 DIE). In Rom war es Seneca,
der (De clem. I 7, 1; 8, 4) den Kaiser als irdisches Gegenstück der Götter
betrachtete und sein morgendliches Erscheinen dem Aufgehen der Sonne
gleichsetztel ; allerdings war mit dieser höfischen Schmeichelei eine gewisse
Tendenz der moralischen Führung und Belehrung des jungen Nero ver-
bunden. Diese Motive wurden auch vom jüngeren Plinius in seiner Lobrede
auf Kaiser Trajan benützt. Nach diesem Panegyricus hat der Herrscher
die Aufgabe, als Statthalter des göttlichen Weltenherrn das Menschen-
geschlecht zu führen und - allwissend wie die Sonne - mit souveräner
Überlegenheit die gerechte Ordnung zu wahren (Paneg. C. 80). Er bewahrt
seine Völker auch vor den Übeln der Unfruchtbarkeit, freilich nicht wie
der altorientalische König durch das Einhalten der sozio-kosmischen
Weltordnung (beispielsweise der Ma-at) oder den Vollzug der Heiligen
Ehe, sondern durch Förderung des Welthandels, der die Not des einen
Gebietes durch die Überschüsse des anderen lindert (Paneg. C. 32). Ähn-
lichen Gedanken hat ungefähr gleichzeitig Dion von Prusa im Osten des
Reiches Ausdruck verliehen. Der irdische König ist ein Abbild des himm-
lischen, er ist von jenem eingesetzt und soll in seiner Regierungstätigkeit
das Wirken des Weltgottes nachahmen (De regno I 37/38, 45; II 75;
III 50). Das Universum ist ein Staat, dessen Ordnung von einem göttlichen
König und Gesetzgeber geschaffen wurde und gehütet wird. Diese Gesetzes-
ordnung der allumfassenden Vernunftmacht gewährleistet den Frieden
und die Harmonie im Universum, der großen Gemeinschaft der Götter
und Menschen (Borysth. 29-37). Solche und ähnliche Lehren haben in
der stoischen oder stoisch beeinflußten Populärphilosophie der Spät-
antike eine außerordentliche Verbreitung gefunden (unten S.151ff.). Auch

1 Zum Sonnenkönigtum Neros vgl. A. ALFÖLDI: Die Ausgestaltung des


monarchischen Zeremoniells am römischen Kaiserhofe, "Mitteilungen des
Deutschen Archäologischen Instituts", Röm. Abt., Bd. 49 (1934), S. 60. -
ders.: Insignien und Tracht der römischen Kaiser, ebd., Bd. 50 (1935),
S. 98ff., 107ff., 139ff.
72 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

das Denken des Philosophen auf dem Kaiserthrone ist von ihnen nicht
unerheblich beeinflußt.
Bald nach dem Tode Mark Aurels verstärkt sich das Einströmen
östlichen Gedankengutes abermals. Schon sein Vorgänger Antoninus Pius
hatte dem syrischen Baal von Baalbek, der als Einheit von Zeus und
Helios aufgefaßt und im Westen als Iuppiter Heliopolitanus bekannt
wurde, prächtige Heiligtümer errichten lassen!, aber erst unter seinen
Nachfolgern, die afrikanischer und asiatischer Herkunft waren, ent-
wickelte sich die Lehre vom "unbesiegbaren Sonnengott" zu einer Art
römischen Reichstheologie. Kaiser Septimius Severus ließ sich mit seiner
Gemahlin Julia Domna auf Münzen als Sonnengott und Mondgöttin
abbilden und zur besonderen Pflegestätte der solaren Siegestheologie,
welche griechische, syrische und persische Elemente miteinander ver-
einigte, wurde die Armee2 •
Aus dieser geistigen Atmosphäre stammen wahrscheinlich auch die
neupythagoreischen Abhandlungen über das Königtum, die unter den
Namen des Diotogenes und Ekphantos überliefert sind3 • Ihre Grundlage
ist der Glaube an die Ordnung des Universums, in welche sich Mensch
und Staat einfügen sollen und müssen. Wie der physische Makrokosmos
von dem göttlichen Weltenkönig nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit
regiert wird, so soll nach Diotogenes der soziale Mikrokosmos, der Staat,
vom menschlichen Herrscher in gerechter Weise geleitet werden, so daß
die Harmonie des Reiches jene des Alls nachbildet (Stobaios, Antholog.
IV 7, 61). Spezifisch pythagoreisch ist die Forderung, der König solle
den Staat harmonisch stimmen wie ein Künstler seine Leier, indem er
den gerechtesten aller Maßstäbe und eine feste Gesetzesordnung für sein
Handeln festlegt und so den Gleichklang unter seinen Völkern mit dem
Gleichklang im eigenen Inneren zur Übereinstimmung bringt (ibid. 62).
Ähnliche Thesen vertritt Ekphantos. Das vollkommenste Wesen auf
Erden ist für ihn der König, den der göttliche Werkmeister als sein
eigenes Ebenbild geschaffen hat. So ist der König ein Abbild des himm-
lischen Kosmokrators und steht zu diesem in einem engeren Verhältnis
als die gewöhnlichen Sterblichen. Er ist der Liebling Gottes und wird
von den Menschen ebensowenig gehaßt wie Gott von den Gestirnen und
dem ganzen Universum; seine Untertanen gehorchen ihm nicht aus
Furcht vor dem Zwang, sondern folgen spontan der Schönheit und
Erhabenheit seines Beispiels (ibid. 64). So entwickelte sich eine Art von
Herrschermystik, die im heidnischen und später auch im christlichen
Rom weite Verbreitung gefunden hat.
Die christlichen Lehren waren mit solchen Theorien keineswegs völlig
unvereinbar, beruhten sie doch auf den gleichen sozio-kosmischen Grund-
vorstellungen. Schon Paulus lehrte im Römerbrief (13,1-7): "Jedermann

1P. SCHMITT: Sol Invictus, "Eranos-Jahrbuch" X (1943), S.207.


2E. BARKER: From .Alexander to Constantine, Oxford 1956, S.347ff.
3 V~l. E. R. GOODENOUGH: The Political Philosophy of Hellenistic
KingshIp, "Yale Classical Studies" I (1928), S.65ff. - L. DELATTE: Les
traiMs de la royauM d'Ecphante, Diotogene et Sthenidas, Liege 1942.
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 73

unterwerfe sich der obrigkeitlichen Gewalt. Denn es gibt keine Gewalt


außer von Gott. Die bestehenden Gewalten sind von Gott eingesetzt." Der
gottgewollten Obrigkeit darf man sich daher nicht widersetzen, sondern
muß ihr geben, was man ihr schuldig ist. Mit dieser Lehre vom Ursprung
der weltlichen Herrschermacht, die beispielsweise von Clemens von Rom
in seinem ersten Brief an die Korinther (c. 61) fortgeführt wird, verbindet
sich innerhalb der Kirche das Werden des monarchischen Episkopates.
Schon Ignatius von Antiochia betrachtete den Bischof als irdischen Stell-
vertreter Gottes und verglich die Presbyter mit dem Apostelkollegium1 •
Damit hatte die Vorstellung einer im göttlichen Herrscher gipfelnden
himmlischen Hierarchie und einer sie abbildenden irdischen Hierarchie auch
im Christentum Heimatrecht erlangt 2 , freilich zunächst in geistlicher Fas-
sung. Im Laufe der Entwicklung und besonders nach der engen Verbindung
von Kirche und Staat kam es zu einer immer stärkeren Annäherung
und schließlich zu einer fast völligen Verschmelzung der allgemein
hellenistisch-orientalischen und der jüdisch-christlichen Ausprägung des
sozio-kosmischen Weltbildes. Wenn Eusebius es als Werk der Vorsehung
betrachtete, daß die Menschheit gleichzeitig durch die Lehre Christi von
der Vielgötterei und durch das römische Reich von der Anarchie der
Einzelstaaten befreit wurde (Praep. Ev. I 4), so konnte er in seiner
Tricennatsrede auf Kaiser Konstantin auch zentrale Motive der tradi-
tionellen Reichstheologie übernehmen. Der König erhält von Gott als
dessen Liebling die irdische Macht und steuert als Ebenbild und in Nach-
ahmung des göttlichen Kosmokrators die Geschehnisse dieser Welt. Der
Sonne gleich erleuchtet er die Menschen bis an die fernsten Grenzen des
Reiches und führt wie der Sonnengott seinen Wagen, vor den die vier
Cäsaren gespannt sind, über die Lande. Wie es nur einen Gott gibt, so
gibt es nur einen König, den Statthalter des Allmächtigen und Teilhaber
des himmlischen Königreiches (Tric. I 6, III 4-5, V 1, VII 13). Das
römische Universalkaisertum ist damit ein Abbild der göttlichen Welt-
monarchie, des kosmischen Staates, der übrigens von Eusebius ganz in
der gewohnten Weise geschildert wird: die Sonne wagt in ihrem Gehorsam
gegen den Willen des Alhnächtigen ihre Maße nicht zu überschreiten,
der Wechsel der Mondphasen unterliegt der göttlichen Satzung und die
Sterne, die in harmonischer Ordnung ihre Kreise ziehen, verkünden die
Herrlichkeit des Urhebers allen Lichtes (Tric. I 5).
Aber nicht nur der christliche Kaiser, sondern auch die Gestalt Jesu
Christi selbst gerät in den Bannkreis der "politischen Theologie". Wurde
der Heiland des Urchristentums vor allem als guter Hirte oder Wunder-
täter aufgefaßt, so trat mit der Ausbildung der kirchlichen Hierarchie
und mit der "Verstaatlichung" der Kirche auch das Gottesbild in enge

1 H. LIETZMANN: Geschichte der Alten Kirche I, Berlin-Leipzig 1932,


S.264.
2 Besonders bei dem unten (S. 197 f.) behandelten DIONYSIOS AREOPAGITA,
aber auch schon bei HIERONYMUS: Comm. in Eph. 1, 21 (Migne Patr. S. L. 26,
S.461/2).
74 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

Verbindung mit der weltlichen Herrschaftsidee1• Vorbereitet war diese


Entwicklung schon im Neuen Testament. Bereits bei Johannes (Ev. 8,12)
bezeichnet sich Jesus als das Licht der Welt und unter dem Ehrentitel
einer "Sonne der Gerechtigkeit" konnte er weitgehend die Funktionen
des heidnischen "König Helios"2 übernehmen3 • Besonders deutlich wird
diese Entwicklung in der bildenden Kunst. Sie erreichte ihren Höhepunkt,
als die kirchliche Machtkunst des christlich gewordenen Imperiums dem
Erlöser alle Insignien des Herrschers und Gesetzgebers" verlieh. Aber
Ohristus ist zugleich der Inbegriff und Verkünder der absoluten Wahrheit
und Weisheit, er ist Logos Kosmokrator5 • Auf zahllosen Darstellungen
des östlichen und des westlichen Christentums finden wir ihn in dieser
Rolle. Als Himmelsherr ist er die Quelle allen Sinnes, aller Ordnung und
aller Macht und verleiht als solche den Königen die rechtmäßige Regie-
rungsgewalt.
So ist auch in der sozio-kosmischen Herrschaftsideologie des heid-
nischen wie des christlichen Römerreiches der Vorgang der Projektion
und Reflexion gesellschaftlicher Leitvorstellungen ganz unverkennbar.
Das Universum wird als großes Imperium unter einem einzigen Herrscher
- der manchmal mit der Sonne identisch ist - gedeutet und in Rück-
anwendung dieser Analogie versteht man die menschliche Monarchie mit
ihrem Oberhaupt als Abbild des Welt-Staates.
Nicht so deutlich ist der gleiche Vorgang bei den technomorphen Leit-
bildern. Zwar dringen auch die kosmologischen Bauwerke und Geräte
seit dem vierten vorchristlichen Jahrhundert nach dem Westen vor, doch
ist es nur selten beweisbar, daß die betreffenden Artefakte direkt als Nach-
bildungen eines technomorph gedeuteten Kosmos - etwa des "Welt-
gebäudes", "Himmelsgewölbes" oder "Weltenmantels" - gedacht sind.
Immerhin liegen diesbezügliche Vermutungen oft recht nahe.
Schon Platon hatte die Idee der kosmischen Stadt in seine "Gesetze"
aufgenommen und nicht viel später bestieg Alexander als Nachfolger der
Großkönige den Perserthron "unter dem goldenen Himmelsgewölbe"
(Plut. Alex. 37). Von hier ausgehend verbreiteten sich diese Motive in
der hellenistisch-römischen Welt. Kaiser Nero, der auch sonst gerne als
Sonnenkönig auftrat, ließ sich in seiner Domus Aurea eine große Kuppel-
halle bauen, die sich Tag und Nacht wie die Welt um ihre Achse drehte
(Suet. Nero 31). Die gleiche kosmische Bedeutung des Kaisertums, welche
aus diesem Bauwerk spricht, hat Lucan im Gedicht zum Ausdruck ge-
bracht, wenn er den Kaiser auffordert, seinen Platz genau in der Mitte
des Universums einzunehmen, um dieses nicht aus dem Gleichgewicht
zu bringen (De bello civ. I45ff.). Damit befindet sich der Herrscher

i H. GLÜCK: Die christliche Kunst des Ostens, Berlin 1923, S.27.


Die Verehrung des herrscherlichen Sonnengottes hat in Kaiser Julians
Z
Rede auf den König Helios am Ende des römischen Heidentums nochmals
einen ergreifenden Ausdruck gefunden.
8 L. HAUTECOEUR: Mystique, S. 177. - P. SCH1.UTT: SolInvictus, S. 239ff.
, H. P. L'ORANGE: Studies, S.165. - A. ALFÖLDI: Insignien, S.158.
i H. P. L'ORANGE: Studies, S. 192f.
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 75

genau an der Stelle der Sonne, er entsprich~ der orientalischen Vorstellung


vom König als Achse und Pol der Weltl • Über die Mechanik von Plane-
tarien, denen der Apparat in Neros kosmischer Halle ähnlich gewesen
sein dürfte, berichtet Vitruv, der auch sonst der Gedankenwelt des kos-
mologischen Bauwerkes nahesteht, am Ende seines IX. Buches. Im fol-
genden Jahrhundert ließ Kaiser Hadrian in Tivoli eine Villa anlegen,
in welcher sich eine Halle mit einem Gewölbe befand, das den Himmel
nachbildete2 • Gleichfalls eine kosmische, wenn nicht astrale Bedeutung,
besaß der Bau des Pantheons. Schon Dio Cassius (LIII 27) hat sich
gefragt, ob dieses Heiligtum seinen Namen trägt, weil es die Götterbilder
beherbergt oder weil es "eine Kuppelgestalt hat, die dem Himmel ähn-
lich ist".· Septimius Severus befahl die Errichtung des sogenannten Sep-
tizoniums, eines Bauwerkes, das offenbar die sieben Planetensphären dar-
stellte und in dem die Statue des Kaisers als Kosmokrator mitten unter
den Planetengöttern aufgestellt war. Auch pflegte er in einem Saal Recht
zu sprechen, an dessen bestirnter Decke Horoskope abzulesen waren;
eine ganz ähnliche Gerichtshalle gab es an dem zeitgenössischen Hof
der Arsakiden in BabyIon. Selbst der Zirkus wurde machmal als Nach-
bildung des Universums aufgefaßt: die Arena entsprach der Erde, das
Wasserbecken dem Meer, die zwölf Pforten, aus denen die Wagen starteten,
den Tierkreiszeichen usw. 3 •
Die Ideen, welche diesen und ähnlichen Anlagen zugrunde gelegen sein
mögen, haben im Wort des Dichters naturgemäß einen vollkommeneren
Ausdruck gefunden als in dem stummen Material der Bauwerke. Am Aus-
gang der Antike hat uns Nonnos von Panopolis noch einmal die "Himmels-
stadt" und ihre Nachbildung, die kosmische Stadt der Menschen, mit
lebendigster Anschaulichkeit vorgeführt. An einer Stelle (Dion. II 170-
190) schildert er, wie der Gigant Typhon den Olymp, die von dem Sternen-
heer bewohnte und verteidigte Himmelsfestung, angreift, an einer andereIh
Stelle (Dion. V 63-87), wie Kadmos die Stadt Theben als Abbild der
Himmelsstadt gründet. Natürlich handelt es sich nicht um das historische
Theben, sondern um eine Phantasiestadt, von der Nonnos erzählt: "Auf
den unerschütterlichen Grundsteinen errichtete Kadmos die von einer mit
sieben Durchgängen versehenen Mauer umringte Stadt; er ahmte in seiner
Baukunst den Himmel mit seinen sieben Sphären nach. .. Die sieben
Tore weihte er den himmlischen Planeten... Nachdem er die heilige
Stadt gegründet hatte, nannte er sie gleich der Stadt des ägyptischen
Theben, als er das kunstvolle irdische Abbild geschaffen hatte, gleich
dem Olymp4."
Ähnliche Vorstellungen waren der römischen Tradition geläufig. So
wurde die Welt nicht selten mit einem Tempel verglichen, ja Varro spricht

1 H. P. L'ORANGE: Studies, S.33.


2 L. HAUTECOEUR: Mystique, S. 167.
3 L. HAUTECOEUR: Mystique, S.168/169. - H. P. L'ORANGE: Studies,
S. 35. - Zum kosmischen Thron und Thronsaal der römischen Herrscher
auch A. ALFÖLDI: Insignien, S.127ff.
4 V. STEGEMANN : Astrologie, S. 230ff.
76 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

einmal vom mundus als der domus maxima rerum1• Diese Überlieferungen
verschmolzen später mit hellenistischen und jüdisch-christlichen. Aus dem
Judentum stammte das geistesgeschichtlich besonders wirksame techno-
morphe Leitbild, welches der Prophet Jesaias gebraucht, wenn er vom
göttlichen Weltbaumeister sagt, daß dieser "den Himmel errichtet hat
wie ein gewölbtes Gemach (xoc[J.apocv) und ausgespannt hat wie ein Zelt
zum Wohnen" (Jes. 40, 22). Der Gedanke des Jesaias blieb auch im
hellenistischen Judentum lebendig. So betrachtetePhilo (De spec.leg. I, §66)
als das höchste und wahrhafte Heiligtum der Gottheit das ganze Weltall,
"das zum Tempelraum den heiligsten Bestandteil der Welt, den Himmel,
hat", dessen Weihgeschenke die Sterne und dessen Priester die Engel
sind. In Umkehrung dieser Analogie faßte er das irdische, von Menschen-
hand verfertigte Heiligtum als Abbild des gottgeschaffenen Universums
auf (De Vita Mos. II, §88), wie dies auch Josephus Flavius tat (Ant. III 123).
Hier wie bei Nonnos ist der bekannte Vorgang der Projektion und Re-
flexion gut zu erkennen.
Auch in der christlichen Kosmologie der Spätantike und des frühen
Mittelalters ist die Lehre vom "Weltgebäude" , die ja die Autorität der
Bibel für sich hatte, sehr verbreitet. Severian von Gabala hat sie ebenso
vertreten wie der bekanntere Kosmas Indikopleustes, der sein Weltbild
ganz bewußt nach dem Modell der Stiftshütte konstruiert2. Etwas anders
geartet, aber doch verwandt ist die vom Judentum über die Johannes-
apokalypse ererbte Vorstellung von der Himmelsstadt als "himmlisches
Jerusalem", welche für die Theorie der christlichen Kathedrale außer-
ordentliche Bedeutung erlangen sollte (unten S.83). Natürlich konnten
jederzeit auch hellenistisch-orientalische Motive ähnlicher Art vom
christlichen Denken aufgenommen und assimiliert werden, etwa wenn
Eusebius (Tric. I 1) vom göttlichen König des Universums spricht, der
auf dem Himmelsgewölbe thront, und berichtet, daß Kaiser Konstantin
nach seinem Tode abgebildet wurde, wie er gottgleich über dem Himmels-
boden weilt (Vita Const. IV 69).
So hat die von soziomorphen und technomorphen Leitbildern bestimmte
Kosmologie und die kosmologisch bestimmte Staatslehre3 und architek-
tonische Theorie schließlich auch im christianisierten Römerreich ihr
Heimatrecht behauptet und hat später in beiden Reichshälften mächtig
nachgewirkt.
Das soziomorphe Bild vom "Himmelreich" hat im imperialen Christen-
tum des Kaiserstaates bereits Eusebius gebraucht. Nicht nur der physische
Makrokosmos gehorcht - wie wir gesehen haben (S. 73) - dem göttlichen

1 H. FLASCHE: SimiIitudo Templi, "Vierteljahrsschrift f. Literaturwissen-


schaft u. Geistesgeschichte" XXIII (1949), S.87, Anm. 2.
2 K. KRETSCHMER: Die physische Erdkunde im christlichen Mittelalter,
Wien 1889, S.39ff. - E. B. SMITH: Dome, S.87f.
3 Zahlreiche Beispiele der dazugehörigen kosmologischen Herrschafts-
symbolik finden sich bei R. EISLER: vVeltenmantel, passim. - Eine umfas-
sende Untersuchung dieses Problemkreises bietet jetzt P. E. SCHRA:r.n.l:
Herrschaftszeichen und Staatssymbolik, Bd. I-lI!, Stuttgart 1954-1956.
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 77

Weltherrscher und seinen Gesetzen; um dessen Thron ist vielmehr ein


kompletter Hofstaat geistiger Wesen versammelt (Tric. I 2). Es umgeben
den Großen König die himmlischen Heerscharen, überkosmische Mächte
versehen den Wachdienst und unzählige Scharen von Engeln, Erzengeln
und seligen Geistern erstrahlen im göttlichen Licht. Die bildende Kunst
geht in der Darstellung der himmlischen Hofhaltung noch weiter. Wenn
es auch nicht direkt zur Investitur Christi als Kaiser kommt, so trägt
auf den Bildwerken doch der Logos Kosmokrator den Philosophenmantel
in den kaiserlichen Farben Purpur und Gold, ja gelegentlich sogar die
kaiserliche Kriegsrüstung, während Maria mit dem Diadem und in der
Tracht einer Kaiserin erscheint, die Erzengel mit dem Ornat der Unter-
kaiser geschmückt sind und viele Heilige in den Roben hoher Hofränge
auftreten. Schließlich kann es geschehen, daß Heilige, die in ihrem Leben
Offiziere waren, auch im Himmel ihre Uniform mit den AbzeicheJ? ihrer
Stellung und ihres Truppenteiles tragenI. So kommt es ähnlich wie in
China zur Selbstapotheose des Hofes und der herrschenden Schicht, nur
daß dort der astrale Kosmos und hier das überkosmische "Himmelreich"
als Abbild des irdischen Kaiserreiches ausgestaltet wird.
In Umkehrung dieser soziomorphen Projektion gilt der Kaiser als
sterblicher Beauftragter oder Stellvertreter des ewigen Kosmokrators:
"Gott hat ihn erwählt und zum Lenker der gesamten öffentlichen Ordnung
erhoben, damit er das Reich, d. h. den Mikrokosmos, lenke und die Religion
zum Triumph führe. Seine Macht kommt von Gott, seine Handlungen
sind von Gott inspiriert, und sein Gesetz ist göttlich, weil es Ausfluß eines
höheren Willens ist"2. Er wird von Gott unmittelbar gelenkt und seine
Machtfülle ist gleichsam eine Emanation der göttlichen3 • Verschiedene
fromme Bräuche und Vorschriften des Hofzeremoniells hatten den Zweck,
das Leben des Kaisers nach Möglichkeit zum Abbild des irdischen Lebens
Jesu Christi zu machen4 • Aber wenn in diesem Zusammenhang auch
Übungen der Demut - etwa die Fußwaschung von Armen durch den
Kaiser - verlangt wurden, so war der Kern dieser sakralen Reichs-
ideologie doch das Recht und die Sendung des Herrschers, über die Chri-
stenheit und in letzter Folgerichtigkeit über die gesamte Oikumene Macht
auszuüben, und die göttliche Garantie für seine immerwährende Sieg-
haftigkeit5 •
Allein eine so weitgehende Gleichsetzung von menschlichem und gött-
lichem Kosmokrator wie in der imperialen Theologie des Heidentums war
nun nicht mehr möglich. Es konnte einen Constantinus als Sol, aber keinen
Constantinus-Christus geben6 • Zu lange war die Gestalt Christi außerhalb
1 R. DELBRÜCK: Der spätantike Kaiserornat, "Die Antike" VIII (1932),
S.20f.
2 O. TREITINGER: Die oströmische Kaiser- und Reichsidee, Jena 1938, S. 43.
3 O. TREITINGER, a. a. 0., S.38f.
4 O. TREITINGER, a. a. 0., S. 127f.
5 O. TREITINGER, a. a. 0., S. 165ff., 180. - Vgl. J. GAGE: :ETAYPO:E
NIKOIIOIO:E. La victoire imperiale dans l'empire chretien, "Revue d'Histoire
et de Philosophie religieuses" XIII (1933), S. 370ff.
6 R. DELBRüCK: Kaiserornat, S.21.
78 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

des Bannkreises der römischen Reichsideologie gestanden, vor allem aber


hatte sich die kirchliche Hierarchie unabhängig vom Amterapparat des
heidnischen Reiches entwickelt. Die Idee eines sakralen Kaisertums als
direkte Repräsentanz Gottes - auf Erden hätte jedoch die unbedingte
Unterordnung der Priesterschaft unter die geistlich-weltliche Autorität
des Herrschers gefordert. Diese Konsequenz zu vermeiden war zumindest
eines der Motive, aus welchen die kirchliche Orthodoxie das Trinitäts-
dogma im Kampfe gegen die Lehre von der göttlichen Monarchie, wie sie
die arianische Hoftheologie von Byzanz zeitweise vertrat, verteidigt und
schließlich durchgesetzt hat. Der Begriff des dreieinigen Gottes wurde
so gefaßt, daß er im Bereich des bloß Geschöpflichen keine Entsprechung
haben konnte1 ; dennoch hat man einmal auch aus der trinitarischen
Gotteslehre politische Folgerungen abgeleitet: im Jahre 669/70 forderten
nämlich die Soldaten die Einführung eines kaiserlichen Triumvirates als
Abbild der himmlischen Trinität und vermochten diese Regierungsform
für mehr als ein Jahrzehnt zu verwirklichen2 • Obwohl sich die kirchliche
Theologie vom "politischen Monotheismus" distanziert hatte, wirkte
dieser in der Publizistik, in laientheologischen Vorstellungen und in der
bildenden Kunst weiter. Nicht einmal der Motivkreis des Sol Invictus
wurde völlig verdrängt. Das Erscheinen des Herrschers wurde im christ-
lichen Byzanz ganz wie unter N ero mit dem Aufgehen der Sonne ver-
glichen und noch im dreizehnten Jahrhundert hat ein höfischer Dichter
den Kaiser J ohannes Dukas als Sonne und seine Verlobte Konstanze
als Mond verherrlicht3 • So konnte der kaiserliche Palast nicht nur durch
seine Pracht als aliud caelum, als zweiter Himmel gelten'.
Wie die politische Theologie des byzantinischen Reiches die alten
sozio-kosmischen Gedankengänge in nur wenig veränderter Form fort-
führte, so hat auch seine Architektur die Idee des kosmischen Bauwerkes
bewahrt. Der Kuppelbau der Hagia Sophia ist, wie uns auch Schrift-
quellen bestätigen, ein Symbol des Weltalls. Alle Wölbungen vom Haupt-
sims aufwärts erstrahlen in Goldmosaik und versinnbildlichen so' zusam-
men mit dem durch die Fenster einfallenden Licht die glanzerfüllte
Himmelssphäre5 • Für die Kathedrale von Edessa bezeugt die schriftliche
Überlieferung eine ähnliche Bedeutung: sie ist ein Abbild des kosmischen
Hauses des allmächtigen Gottes6 • Aber nicht nur in der großen Architektur
der Gotteshäuser und Paläste, sondern auch in kleineren Kunstformen,

1 E. PETERSON: Der Monotheismus als politisches Problem, Leipzig 1935,


S.95ff.
2 O. TREITINGER, a. a. 0., S.45f. - über abendländische Versuche, die
Herrschaftsform der Trinität nachzubilden, vgl. unten S. 200, Anm.
3 O. TREITINGER, a. a. 0., S. 115ff. - H. P. L'ORANGE: Studies, S. 103ff.
4 O. TREITINGER, a. a. 0., S.63.
5 G. A. ANDREADES : Die Sophienkathedrale in Konstantinopel, "Kunst-
wissenschaftliehe Forschungen" I (1933), S.65f. - H. SEDLMAYR: Archi-
tektur als abbildende Kunst, "Sitzungsberichte d. Österr. Akad. d. Wissen-
schaften", Phil.-hist. KI. 225/3 (1948), S. 15.
6 E. B. SMITH: Dome, S. 89f.
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 79

in Thronen und Thronhimmeln, Baldachinen und Kiborien leben kosmo-


logische Motive ungebrochen fort l .
Von Byzanz sind diese Ideen nach Rußland gewandert und haben
dort - wahrscheinlich verschmolzen mit einheimischem oder direkt aus
dem Orient übernommenem2 Gedankengut - das Geistesleben bis fast
in die Gegenwart maßgeblich beeinflußt. Auch das altrussische Kirchen-
gebäude ist als symbolische Darstellung des Universums zu verstehen3 •
Das Kircheninnere ist das Weltall: der Altar im Osten entspricht dem
Paradies, während im Westen das Reich des Todes und der Dämonen,
die Hölle, liegt und der Kirchenraum dazwischen die Erde darstellt. Im
ganzen ist das Gotteshaus ein Abbild des "Weltgebäudes", wie es Kosmas
Indikopleustes sah. Es ist viereckig und von vier Wänden begrenzt, die
von einer Kuppel überwölbt sind; die vier Teile des Kircheninneren
symbolisieren die vier Weltrichtungen. Das Weltall selbst ist ein Tempel
Gottes, in dem die Engel, die Menschen und die ganze niedere Schöpfung
sich zusammenfinden sollen, und der von Menschenhand geschaffene Tem-
pel soll diese Kosmosidee symbolisieren4 •
Auch das Grundprinzip des sozio-kosmischen Universums, wie wir es
in der ägyptischen Ma-at, dem indo-arischen :ß,ta und dem chinesischen Tao
kennengelernt haben, findet sich in Rußland. Es trägt hier den Namen
der "Prawda": "Dieses Wort für Wahrheit ist zugleich ein Synonym für
Gerechtigkeit und drückt den Glauben an ein in der Weltordnung selbst
enthaltenes ethisches Urbild aus5 ." Die Weltordnung der Prawda umfaßt
den physischen Makrokosmos und den sozialen Mikrokosmos. Sie ver-
wirklicht sich in der Herrschaft des Zaren über den Staat ebenso wie in
deren Urbild, der Herrschaft Gottes über das Universum6 • Als Inbegriff
einer mit der Wahrheit gleichbedeutenden Gerechtigkeit ist die Idee
der Prawda eines der Fundamente russischer Politik und Philosophie
geblieben? Auf sie haben sich Gesetzgeber, Staatsmänner, Priester und
Denker berufen. Ein Rechtskodex aus dem elften Jahrhundert trägt
bereits den Namen "Russische Prawda", den gleichen wie der revolutionäre
1 o. TREITINGER, a. a. 0., S.57. - H. P. L'ORANGE: Studies, S. 134.
2 Möglicherweise sind manche dieser Motive ·über Turkestan nach Rußland
eingedrungen, vgl. S. P. TOLSTOV: Auf den Spuren der altchoresmischen
Kultur, Berlin 1953, S. 123.
3 M. ALPATOv·N. BRUNOV: Geschichte der altrussischen Kunst, Augs-
burg 1932, S.217f.
4 E. N. TRUBETZKOY: Die religiöse Weltanschauung der altrussischen
Ikonenmalerei, Paderborn 1927, S.63.
5 E. SARKISYANZ: Rußland und der Messianismus des Orients, Tübingen
1955, S.25.
GE. SARKISYANZ, a. a. 0., S.26.
7 S. FRANK: .Wesen und Richtlinien der russischen Philosophie, "Der
Gral" XIX (1924/25), S. 386 sagt sogar, daß die Idee der Prawda "eigentlich
das letzte und einzige Thema alles russischen Nachdenkens und geistigen
Suchens bildet". Man dürfte nicht allzusehr übertreiben, wenn man der Idee
der "gerechten Weltordnung" eine ähnliche Bedeutung für die traditionelle
Philosophie des Westens zubilligt. - Vgl. auch S. FRANK: Die russische
Weltanschauung, Berlin 1926, S. 27 u. V. V. ZENKOVSKI: A History of Russian
Philosophy, London 1953, S.7.
80 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

Verfassungsentwurf PesteIs, eines Teilnehmers am Aufstand der Deka.


bristen im Jahre 18251 • Später noch hat Pobjedonoszew, einer der Vor·
kämpfer des autokratischen Konservatismus, die Staatsautorität auf die
Prawda gegründet, während ungefähr gleichzeiliig der radikale Sozial.
reformer Michailowski die Prawda für sein Ideal des "Dienstes am Volke"
(Narodnitschestwo) in Anspruch nahm 2 • So konnten reaktionäre und
revolutionäre Strömungen ihre Ideologien in jene uralte Vorstellung
hineinlegen, da sie jedes eigenen Normgehaltes entbehrte. Für die eine
Partei war die Prawda "etwas Gegebenes, das bewahrt werden mußte",
für die andere "etwas Aufgegebenes, das herbeigeführt werden sollte",
und für eine dritte Richtung etwas, dessen Wiederherstellung notwendig
wars. Schließlich ist diese Idee sogar vom Bolschewismus assimiliert
worden. Vielleicht hat man die Urverwandtschaft zwischen dem in der
russischen Tradition verwurzelten Gedanken eines objektiven, in der
natürlichen Weltordnung beschlossenen Gerechtigkeitsprinzips und dem
aus der Vorstellung eines göttlichen Heilsplanes säkularisierten marxisti·
sehen Glaubens an die Geschichte als Selbstverwirklichung der wahren
Gerechtigkeit (unten S. 255ff.) gefühlt. Jedenfalls wurde noch 1923 Lenin
als "Kämpfer für die große soziale Prawda" verherrlicht4 • Mit der kommu·
nistischen Eschatologie hat sich auch die in Rußland verbreitete Form
des Mythos vom himmlischen Jerusalem verbunden, die Legende von
der heiligen Stadt Kitesch. Diese alten, letztlich der Idee der "Himmels.
stadt" entstammenden Überlieferungen waren noch in dem chiliastischen
Gefühlsüberschwang der großen russischen Revolution lebendig wirksam
und sagten dem Volk vielleicht mehr als die trockene marxistische Doktrin.
So begrüßte der frühsowjetische bäuerliche Dichter Kljujew die vermeint·
liehe soziale Erlösung: "Dem Intellekt - die Republik, doch dem Herzen
die Stadt Kitesch5 ." In der Räterepublik sollte die Gottesstadt unter
den Menschen Wirklichkeit werden.
Das russische Denken einschließlich der ihre angebliche Wissenschaft.
lichkeit so sehr betonenden marxistischen Theorie ist völlig im Banne der
sozio·kosmischen Weltauffassung geblieben, die wesentlich eine ethisch·
politische Deutung des Universums ist. Was die russischen Philosophen
erkennen wollen, ist kein wertfreier Sachverhalt, sondern "ein Prinzip
oder eine Ordnung ... worauf das ganze Menschheitsleben, ja die ganze
kosmische Weltverfassung sich gründen muß und wodurch die Menschheit
und die Welt gerettet und verklärt wird"6. Der Prozeß der Rationalisierung
und Auflösung der sozio·kosmischen Gedankenwelt, wie er in Westeuropa
durch die moderne Wissenschaft und die Einschmelzung der adelig.
bäuerlichen Gesellschaftsordnung in der industriellen Arbeitsorganisation
herbeigeführt wurde, war in Rußland am Vorabend der Revolution erst

1 P. SCHEIBERT: Von Bakunin zu Lenin, Bd. I, Leiden 1956, S. 11.


I E. SARKISY.ANZ, a. a. 0., S. 29. - V. V. ZENKOVSKI, a. a. 0., S. 364.
3 E. S.ARKISY.ANZ, a. a. 0., S. 31.
, E. S.ARKISY.ANZ, a. a. 0., S. 32.
6 Zit. n. E. S.ARKISY.ANZ, a. a. 0., S.63.
G S. FR.ANK: Die russische Weltanschauung, S.28.
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 81

in seinen Anfangsstadien. Von den weltanschaulichen Folgen der forcierten


Industrialisierung im Sowjetsystem können wir uns aus verschiedenen
Gründen kein klares Bild machen. Man sollte sie nicht überschätzen,
sondern bedenken, wie zähe sich auch im Westen jene alten Denkformen
behauptet und wie lange sie selbst in der neuzeitlichen Wissenschaft
nachgewirkt haben.
Die geistigen Entwicklungsbedingungen, welche durch den Zusammen-
bruch des Weströmischen Reiches und die Völkerwanderung gegeben
waren, unterschieden sich nicht unwesentlich von denen im Osten. Wohl
brachten die Germanen gewisse biomorphe und sozio-kosmische Vor-
stellungen mit, doch konnten sich ihre Mythen mit dem intentionalen
Weltbild der Spätantike, das durch Philosophen und Theologen zu einem
umfassenden System ausgestaltet worden war, ebensowenig messen wie
ihre losen Staatengebilde mit dem hochorganisierten römischen oder
byzantinischen Imperium. So ist die Verbreitung jener höheren
Formen intentionaler Weltauffassung im frühen Mittelalter vor allem
dem Einfluß der Kirche und ihrer Theologie zuzuschreiben; daneben sind
antike Traditionen und byzantinische Vorbilder in wechselndem Maße
wirksam gewesen. Zumal die oströmische Hofkultur wurde von manchem
Herrscher im Westen bewundert!. Die für das orientalisierte späte Römer-
tum bezeichnende Vorstellung, nach welcher der irdische Kosmokrator
das Abbild des Himmelsherrn ist, war allerdings den Germanen ebenso-
wenig geläufig wie der Kirche genehm, die vielmehr jedem übermäßigen
Prestigezuwachs der Könige und jeder zu starken Betonung ihres sakralen
Charakters mißtrauisch, ja offen feindlich gegenüberstand. Die politische
Zersplitterung und der Dualismus von geistlicher und weltlicher Gewalt,
welcher in einem annähernden Gleichgewicht der Kräfte machtmäßig
begründet war, machten jede "politische Theologie" im Sinne des Eusebius
oder der byzantinischen Hofpraxis unmöglich; doch fehlt es keineswegs
an Versuchen, die irdische Ordnung der himmlischen nachzubilden.
Manche der zurückgedrängten spätrömisch-orientalischen Motive sollten
erst in dem seit dem Ausgang des Mittelalters vorbereiteten und mit dem
"Sonnenkönig" Ludwig XIV. vollendeten Absolutismus wieder hervor-
treten.
Die Idee einer sozio-kosmischen Gesamtordnung des Daseins war
den Germanen ebenso bekannt wie die Institution des sakralen König-
tums, das eng mit den Lebens- und Fruchtbarkeitsmächten verbunden ist2 •
Dem König wurde oft die Fähigkeit zugeschrieben, gutes Wetter und
gute Ernten zu· schaffen und Krankheiten zu heilen3 • Eine andere alte,
wahrscheinlich irisch-keltische Überlieferung, die auch auf die germani-

1 F. KERN: Gottesgnadentum und Widerstandsrecht, 2. Auf!., Köln 1954,


S.110.
2 O. HÖFLER: Germanisches Sakralkönigtum, Bd. I, Tübingen 1952,
S. XIIf.
3 F. KERN, a. a. 0., S. 16f. - W. BERGES: Die Fürstenspiegel des hohen
und späten Mittelalters, Stuttgart 1952, S. 8, Anm. 3. - M. BLOCH: Les rois
thaumaturges, Straßburg 1924, S.55ff.

Topitsch, Metaphysik. 6
82 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

sohen Gebiete eingewirkt hat, braohte den Herrsoher wie in Ägypten und
China in engen Zusammenhang mit dem Naturlauf. Der ungereohte und
sündige König fügt seinem Lande nicht nur politisohen und moralischen
Schaden zu, sondern unter seiner Regierung geht auch der Ertrag der
Felder zurück, wilde Tiere dezimieren den Viehbestand, Gewitter und
Sturmwind schädigen Ackerbau und Schiffahrt und Blitzsohläge setzen
Getreide und Bäume in Brand!. Verwandte irische Motive sind im Hoch-
mittelalter bis naoh Norwegen gedrungen2 •
Sozio-kosmische Vorstellungen haben möglicherweise auch die Organisation
germanischer Kriegerbünde oder Schwurgemeinschaften beeinflußt - etwa
im Falle der viermal vier Gruppen von Seekriegern, welche die Besatzung der
Trelleborg auf Seeland gebildet haben dürften3 • Diese etwa um das Jahr 1000
erbaute Festung ist kreisförmig und hat vier Tore nach den vier Himmels-
richtungen. Auch die Straßen und Gebäude sind genau nach den Kardinal-
punkten orientiert. Vor allem sind aber die raffinierten mathematischen
Proportionen auffällig, deren Grundeinheit der römische Fuß (29,5 cm) ist.
Dies legt die Vermutung nahe, daß die Anlage unter Mitwirkung von Bau-
technikern aus dem Süden geschaffen wurde4 • Die Gestalt des befestigten
Lagers, das möglicherweise das Vorbild der ähnlich angelegten Aggersborg
am Limfjord war, ist aus nordischen überlieferungen nicht zu erklären,
sondern weist auf die kosmischen Städte des Orients und Mittelmeerraumes
zurück5 • So könnten hier - wie auch sonst - einheimische oder früher
übernommene Formen sozio.kosmischer Anschauungen, welche der Ordnung
der viermal vier Schwurbrüderschaften zugrunde gelegen haben mögen, von
weiterentwickelten Ausprägungen derselben Grundanschauungen überlagert
worden sein.
Es ist also nicht erstaunlich, wenn auch auf anderen Gebieten ein
Ausgleich zwischen den spätantiken und den germanisch-keltischen
Traditionen zustande gekommen ist, wobei die der überlegenen antik-
christlichen Kultur entstammenden Elemente ein deutliches Übergewicht
besaßen6 • Das gilt auch für das Gemeinschaftsleben, doch ist der Einfluß
der mittelmeerischen Überlieferungen in der Staatstheorie nooh viel
stärker gewesen als in der politischen Praxis. Wohl kam eine Lehre,
naoh welcher der absolute Herrscher als Stellvertreter Gottes die geist-
liche und weltliche Autorität über den ganzen Erdkreis beansprucht,
aus den genannten Gründen für den Westen nicht in Frage; doch lebte
die sozio·kosmische Überlieferung mittelländisch. orientalischen Ur-
sprunges kräftig weiter7 • Besonders im Hoch- und Spätmittelalter begegnen
uns wieder die bekannten Motive. So ist Gott für Dante der "Imperador",

1 S. HELLMANN : Pseudo·Cyprianus, De XII abusivis saeculi (Texte und


Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur III/4), Leipzig
1910, S. 52, vgl. S. 16.
a W. BERGES, a. a. 0., S. 176.
3 O. HÖFLER: Sakralkönigtum, S.296ff.
4 O. HÖFLER: Sakralkönigtum, S.308ff., S.369ff.
5 H. P. L'ORANGE: Studies, S.14ft
8 Bei der Einbeziehung des Ungartums in den christlich·abendländischen
Kulturkreis ist es zu einer ähnlichen Entwicklung gekommen, vgl. J. DEER:
Heidnisches und Christliches in der altungarischen Monarchie, Szeged 1934.
7 F. KAMPERS: Vom Werdegang der abendländischen. Kaisermystik,
Leipzig 1924.
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 83

der "Princeps" und "Monarcha" (Inf. I 124f.; Mon. I 7); Maria trägt die
Titel einer römischen Kaiserin, Augusta und Regina (Parad. XXXII 119,
XXIII 128; VII 82), Dominicus ist Duca (Parad. XII 32), Petrus und
Jacobus sind Baroni (Parad. XXIV 115, XXV 17). Auf ähnlichen Grund-
ideen beruht die Staatstheorie jener Zeit, nach welcher die Obrigkeit
das Gemeinwesen regiert wie Gott den Makrokosmos der Welt und der
Geist den Mikrokosmos des Leibes. Die Auffassung des Staates als
"Organismus" - die ihrerseits meist eine soziomorphe Deutung der
Lebewesen voraussetzt - tritt wieder hervor, ja auch der schon aus
Byzanz bekannte "trinitarische Exemplarismus" , die Gestaltung der
Königsherrschaft nach dem Bilde der Dreifaltigkeit, wird manchmal
vertreten. Doch diese Konstruktionen liegen schon jenseits der gebräuch-
lichen Grenze zwischen Mythos und Philosophie (unten, S.198ff.) - wie
denn überhaupt im Bereiche des sprachlich Darstellbaren die Rationali-
sierung mythischer Gehalte leichter möglich ist und rascher vor sich geht
als in der bildenden Kunst, die an das unmittelbare Sinnenfällige ge-
bunden ist.
Gerade in der Kunst hat die Idee des "kosmischen Gebäudes" im
Mittelalter eine ihrer großartigsten Verwirklichungen gefunden, die
Kathedrale. Die Himmelsbedeutung des mittelalterlichen Kirchen-
gebäudes, das ja im Grundsätzlichen die spätantik-altchristlichen Tradi-
tionen weiterführt, hat besonders H. Sedlmayr mit großem Verständnis
herausgearbeitet!. Das von Menschenhand erbaute Gotteshaus ist Abbild
der überirdischen Gottesstadt, des "himmlischen Jerusalem"2. Auch den
dieser Auffassung zugrunde liegenden Prozeß hat Sedlmayr weitgehend
durchschaut. Nach dem Modell des irdischen Bauwerkes wird das Phanta-
siebild eines Himmelsbaues entworfen und dieser wird wieder durch einen
wirklichen Bau dargestellt. Dabei wird das in den "Himmel" projizierte
technomorphe Modell genau auf sein Urbild, das menschliche Bauwerk,
rückbezogen: "Abbild und Abgebildetes (oder Bild und Urbild) liegen
dabei auf einer Ebene: beides sind Bauten"3. Im Rahmen dieser Grund-
bedeutung sind auch die architektonischen Einzelformen der Kathedrale
verständlich - die baldachinartigen, häufig blau bemalten und mit
goldenen Sternen verzierten Gewölbe, die diaphanen Lichtwände4 , aber
auch die Ausbildung des Tores als porta coeli und die Postierung von
Engeln auf den Fialen, von Wächtern auf den Türmen der Himmelsstadt5 •
Als Abbilder des himmlischen Jerusalem waren, wie Inschriften auf diesen
Werken bezeugen, auch die großen Kronleuchter in den ottonischen und
frühromanischen Domen gedacht6 , die, im Dunkel feierlicher Nacht- und
Frühmorgengottesdienste angezündet, sehr wohl den Eindruck einer
schwebenden Lichtstadt erwecken konnten. Verwandte Motive spielen

1 H. SEDLMAYR: Die Entstehung der Kathedrale, Zürich 1950, S.95ff.


2 J. SAUER: Symbolik, S.103.
8 H. SEDLMAYR: Architektur, S.22.
4 H. SEDLMAYR: Kathedrale, S. 135f.
5 H. SEDLMAYR: Kathedrale, S. 141ff., 233f.
6 H. SEDLMAYR: Kathedrale, S.125ff.
6*
84 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

auch in die Orientierung und die Zahlenverhältnisse der Kirche hinein.


Ihre Achse verläuft meist in ost-westlicher Richtung und die zahlen-
mäßigen Verhältnisse folgen oft einer ursprünglich kosmischen, aber
stark von christlichen Elementen überlagerten Symbolikl .
Doch auch weltliche Herrschaftszeichen und Staatsinsignien wurden
durch denselben Gedankenkreis bestimmt. Die deutsche Reichskrone war
nach Zahlsystem, Steinsetzung und Farbenskala, wohl auch nach der
Perlenzahl, nichts anderes als ein Abbild der biblischen Himmelsstadt,
ihre achteckige Gestalt wohl eine Verbindung von Roma quadrata und
Hierosolyma quadrata 2 • Die ungarische Stephanskrone trägt eine ähnliche
Bedeutung. Ihre Emailplatten geben die byzantinische Auffassung der
himmlischen und irdischen Hierarchie der Welt wieder. Christus als
Pambasileus auf der Stirnseite und hinten der oströmische Kaiser,
einander entsprechend und ergänzend, nehmen die höchsten Stellen ein.
Unter ihnen rangieren die Mitkaiser und der Ungarnkönig, den der
byzantinische Basileus durch die Verleihung der Krone wenigstens
symbolisch unter seine Oberherrschaft stellen wollte3 • Wohl seit Otto I.
sind auch die "Himmelsmäntel" wieder im Westen aufgetaucht. Neben
byzantinischen Ornaten und sarazenischen Königsgewändern dürfte der
kosmische Mantel der jüdischen Hohepriester (Sap. Salom. 18, 24) das
Vorbild dieser Kunstwerke gewesen sein4 • Der aus Unteritalien stammende
Prunkmantel Heinrichs H., ein Abbild des Universums, wird im Bam-
berger Domschatz aufbewahrt; auch Otto IU. und Hugo Capet besaßen
ähnliche Ornate5 •
Diese und verwandte Ideen waren das ganze Mittelalter hindurch
wirksam und auch die Renaissance brachte zunächst keinen entscheidenden
Wandel. Zwar begann langsam die Kritik an jenen Traditionen zu
erwachen, viel häufiger griff man aber bloß auf die Antike und zumal
die Spätantike zurück und erneuerte die gleichen Vorstellungen und
Denkformen, welche das Mittelalter verchristlicht und in christlicher
Form überliefert hatte. Zugleich traten hellenistisch-orientalische Motive,
welche die kirchIicheZensur jahrhundertelang in geistige Unterströmungen
verdrängt hatte, wieder offen hervor. Die Astrologie und andere Formen
angeblichen Geheimwissens, darunter gnostisches und kabbalistisches
Gedankengut, erlebten eine neue Blütezeit. Mit, der Minderung der
Kirchenmacht ging auch eine Stärkung der weltlichen Herrschaft Hand
in Hand, und die neu entstehende absolute Monarchie bediente sich oft
bewußt der Attribute des vorchristlichen Sonnenkönigtums.

1 J. SAUER: Symbolik, S.61ff. - R. KRAUTHEIMER: Introduction to


an "Iconography of Mediaeval Architecture", "Journal of the Warburg and
Courtauld Institutes" V (1942), S. 11.
2 P. E. SCHRAMM: Herrschaftszeichen 11, S.601, 604.
3 P. E. SCHRAMM: Herrschaftszeichen 11, S.431. - F. DÖLGER: Ungarn
in der byzantinischen Reichspolitik, "Archivum Europae Centro-Orientalis"
VIII (1942), S. 315ff., 318ff., 329ff.
4 R. EISLER: Weltenmantel, S.27ff. - P. E. SCHRAMM: Herrschafts-
zeichen 11, S. 578ff.
6 R. EISLER: Weltenmantel, S.4ff., 22, 37.
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 85

Freilich besaß die Zeit Ludwigs XIV. kein geschlossenes sozio-kosmi-


sches Weltbild wie die Spätantike. Die Sonne war nicht mehr ein könig-
licher Gott, sondern für das christliche Bewußtsein ein Werk Gottes,
für die bereits rasch aufstrebenden Naturwissenschaften ein physischer
Körper. Doch in der Kunst lebte weiter, was für das kritische Denken
kaum mehr annehmbar war. Die höfische Poesie beschwor die Gestalt
Apollons herauf und eine schmeichlerische Malerei stellte den Herrscher
dar, der auf einem Sonnenwagen fährt und unter dem die Erde erblühtl.
Das "Lever" des Königs war den Morgenzeremonien orientalisch-spät-
römischer Potentaten nachgebildet, es war ein "Aufgang der Sonne"2.
Freilich trug diese ganze solare Inszenierung bereits einen Unterton des
.Allegorischen, Theatralischen, ja Spielerischen in sich, etwa wenn der
König bei Hofbällen in einem Sonnenkostüm auftrat 3 • Am eindrucks-
vollsten ist das Fortleben jener Gedankenwelt wohl noch immer in der
imperialen Kunst der Architektur. Das Schloß von Versailles ist wie die
Paläste der alten Gottkönige ein Abbild der kosmischen, auf die beherr-
schende Sonne bezogenen Ordnung 4 ; ob es noch als Abbild des "Welt-
gebäudes" gedacht war, ist ungewiß.
Möglich wäre dies immerhin, denn im allgemeinen hat die Baukunst
die kosmologischen Motive am besten bewahrt. Bei Andrea Palladio
finden wir noch den vollständigen Prozeß der Projektion und Reflexion
technomorpher Modelle. Er verlangt, daß die von Menschenhand erbauten
kleinen Tempel dem großen Tempel des Universums gleichen, den Gott
in seiner unendlichen Güte mit einem Wort geschaffen hat 5 . Ganz eindeutig
ist auch der kosmologische Charakter der Hauptstadt von Campanellas
"Sonnenstaat". Diese ist in sieben große Kreise oder Rundgänge eingeteilt,
die nach den sieben Planeten benannt sind. Man gelangt auf vier Straßen
und durch vier Tore, die nach den vier Weltgegenden gerichtet sind, aus
einem Kreis in den anderen. Zum Abbild des Universums wird die Stadt
ferner dadurch, daß auf ihren Mauern der gesamte Wissensbestand in
Gemälden und Inschriften aufgezeichnet ist. Die Wände des Tempels
in ihrer Mitte sind mit Bildern der Gestirne geschmückt, während auf den
Ringmauern die verschiedenen Wissensgebiete von der Geometrie über
die Geographie, Geologie, Botanik und Zoologie bis zur Menschheits-
geschichte dargestellt sind, wodurch sie den Bewohnern und besonders
der Jugend immer vor Augen stehen. Hinter dieser echt neuzeitlichen,
enzyklopädisch-pädagogischen Einkleidung ist das alte Motiv der Stadt
als imago mundi deutlich genug erkennbar. Wenn auch die entsprechende
Auffassung der Welt als Stadt nicht explizit erwähnt wird, so scheint
sie doch wenigstens implizit durch die Regierungsform gegeben zu sein.

1L. HAUTECOEUR: Louis XIV Roi Solei!, Paris 1953, Bild gegenüber S. 22.
2L. HAUTECOEUR, a. a. 0., S.37f.
3 L. HAUTECOEUR, a. a. 0., Bild gegenüber S. 2.
4 L. HAUTECOEUR, a. a. 0., S.24ff.
5 R. WITTKOWER: Architectural Principles in the Aga of Humanism,
London 1949, S. 21. - Zur Verbreitung der Tampelmetapher im 16. und
17. Jahrhundert vgl. H. FLASCHE: Similitudo Templi, bes. S.101ff.
86 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

Der Priesterkönig, der die oberste weltliche und geistliche Autorität in


sich vereinigt, wird Sol genannt; er herrscht zusammen mit drei Mit·
regenten, Macht, Weisheit und Liebei. Diese irdische Regierung ist offenbar
das Abbild einer göttlichen Weltregierung, in welcher heidnische Sonnen·
theologie und christliche Trinitätslehre miteinander vereinigt sind. Wie
Gott kraft seiner drei Fähigkeiten - potentia, sapientia, amor - den
Kosmos beherrscht, so beherrscht der Priesterkönig mit Hilfe seiner drei
Unterfürsten den staatlichen Mikrokosmos 2 • Es findet sich hier also noch
einmal - in christlicher Abwandlung und im Frühlicht der neuzeitlichen
Wissenschaft - das gleiche Motiv, das für die von Herodot beschriebene
Anlage Ekbatanas mit seinen sieben, den Planeten geweihten Mauerringen
maßgebend gewesen sein dürfte: wie der Weltengott das Universum,
so regiert dessen Abbild, der irdische Herrscher, die nach dem Modell
des Universums gestaltete Stadt (vgI. oben, S.44f.).
Mit der Wende zur Aufklärung beginnt jedoch ein rascher Abbau
der soziomorphen und technomorphen Mythologie. Schon die Nachfolger
Ludwigs XIV. waren keine "Sonnenkönige" mehr, und Monarchen wie
Friedrich der Große, Maria Theresia und besonders Joseph II. hatten
für die Traditionen einer kosmologischen Staatssymbolik oder Staats.
metaphysik vollends kein Verständnis. Die französische Revolution ver·
nichtete die meisten der alten Herrschaftsinsignien Frankreichs, und die
Versuche des Empire und der Restauration, sich wenigstens der äußeren
Formen des alten Königtums zu bedienen, konnten die Entwicklung
nicht mehr rückgängig machen. Das Motiv des kosmischen Gebäudes
hat sich allerdings bis in die Zeit Napoleons III. erhalten: der Hauptbau
der Pariser Weltausstellung von 1867, eine riesenhafte Rotunde aus
Eisen und Glas, wurde bewußt als Abbild der Welt gestaltet3 • Heute sind
auch diese Reste in die Vergangenheit zuruckgesunken4 •

Bisher ist eine der sozio·kosmischen verwandte Form der Weltauf-


fassung nur gelegentlich erwähnt worden, die einen vielleicht noch größeren
geistesgeschichtlichen Einfluß ausgeübt hat als die übrigen Ausprägungen
der Kosmosspekulation, nämlich die Astrologie. Wohl von Vorderasien
ausgehend, hat sie die ganze Alte Welt in ihren Bann gezogen, Europa
ebenso wie China und Südafrika. Sie konnte von den Weltreligionen
nicht verdrängt werden, sondern hat sie zu Kompromissen genötigt und
ist erst der modernen Naturwissenschaft erlegen. Vom methodologischen
und weltanschauungskritischen Standpunkt ist sie vor allem aus zwei
Gründen wichtig. Sie zeigt mit geradezu idealtypischer Klarheit, wie die
menschliche Umwelt in den Himmel projiziert und das so zustande ge·
kommene Himmelsbild auf die irdischen Verhältnisse rückbezogen wird;
sie hat aber auch ein festumrissenes . Ziel, nämlich die Vorhersage von

1 T. CAMPANELLA: Opera tom. II/2, Paris 1637, S. 146ff. - Der Sonnen·


staat, Berlin 1955, S. 30, 33ff.
2 W. BERGES: Fürstenspiegel, S. 34.
3 H. SEDLMAYR: Architektur, S.19.
, P. E. SCHRAMM: Herrschaftszeichen III, S. 1059ff.
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 87

Ereignissen und - wenigstens in gewissen Fällen - die Orientierung des


HandeIns in der menschlichen Erfahrungswirklichkeit.
Die Astrologie ist wohl aus verschiedenen Wurzeln erwachsen. See-
fahrer und Karawanenführer mögen die Ortung mit Hilfe des Sternen-
standes, die ersten Ansätze der nautischen Astronomie, entwickelt haben,
Pflanzerkulturen dagegen die "Astrobiologie" - den Glauben an die leben-
spendende Macht der Gestirne - und den Bauernkalender (oben S. 30f.).
In allen diesen Anschauungen wird irdisches Geschehen und zumal mensch-
liches Handeln zu Recht oder Unrecht in irgendeiner Form mit Vorgängen
am Himmel in Zusammenhang gebracht. Doch sie allein hätten niemals
so enge Beziehungen zwischen Sternenlauf und Menschenschicksal her-
stellen können, wie sie in der Astrologie auftreten. So weitgehende Ver-
knüpfungen wurden erst dadurch möglich, daß man die Gestirne und ihre
Gruppierungen in der bekannten Weise nach wohlvertrauten Gegen-
ständen der menschlichen Alltagserfahrung benannte und nach deren
Analogie zu erklären suchte: Mitmenschen, Tiere, Pflanzen und Geräte,
aber auch Götter und Fabelwesen wurden so in den Sternenhimmel
hineingesehen. Beispielsweise sind sieben der zwölf "Tierkreiszeichen"
(Widder, Stier, Krebs, Löwe, Skorpion, Steinbock, Fische) tatsächlich
tierische Gestalten, die anderen fünf (Zwillinge, Jungfrau, Waagehalter,
Schütze, Wasserträger) dagegen menschlich. Mit dieser Auffassung der
Sternenwelt durchdringt sich eine ausgesprochen soziologisch-politische,
die vor allem in den altasiatischen Großreichen beheimatet ist. Der Vor-
stellung des Sternenstaates oder Sternenheeres sind wir ja im Nahen wie im
Fernen Osten immer wieder begegnet (siehe oben S. 41, 47,51,59). Schließlich
bilden die Himmelskörper eine feste, streng rangmäßig abgestufte Hier-
archie von höheren und niedrigeren Machtträgern, welche bestimmte
Zeiten oder Räume "beherrschen". Neben den soziomorphen gibt es auch
biomorphe Deutungen des Kosmos: das Firmament ist eine Schädel-
decke, Sonne und Mond sind ein Augenpaar usw. Manchmal ordnet man
sogar die Planeten den verschiedenen Sinnesorganen zu. Diese V orstel-
lungen, die letztlich auf den mythischen Weltriesen zurückgehen, aus
dessen Leib das Universum verfertigt ist, haben in der astrologischen
Medizin, von der später die Rede sein soll, eine gewisse Rolle gespielt!.
Solche und andere orientalische Überlieferungen sind in hellenistischer Zeit
unter griechischem Einfluß zu einer astrologischen Systematik ausgestaltet
worden, deren Grundlage das aristotelisch-ptolemäische Weltbild dar-
stellte.
Doch die bloße Benennung der Sterne und Sternbilder nach Gegen-
ständen aus dem Mikrokosmos der menschlichen Lebenswirklichkeit, die
Erklärung astraler Vorgänge nach Analogie irdischer Ereignisse und die
Versuche, die Stellungen der so benannten und gedeuteten Gestirne gegen-
einander - die "Konstellationen" - festzulegen, sind bloße- Voraus-

1 H. BAUMANN : Das doppelte Geschlecht, S. 280ff. - F. BOLL-C. BEZOLD-


W. GUNDEL: Sternglaube und Sterndeutung, S.135/136, 166. - F. RÖCK:
Kalender, S. 89f.
88 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

setzungen der Astrologie. Das eigentliche Wesen der Sterndeutung besteht


vielmehr darin, daß aus den Himmelserscheinungen bestimmte Rück-
schlüsse auf irdische Geschehnisse und besonders auf menschliche Schick-
sale gezogen werden. Dabei entsprechen die Wirkungen oder Vorbedeu-
tungen, die man den Gestirnen zuschreibt, genau jenen Eigenschaften,
welche man aus dem Mikrokosmos entlehnt und in sie hineingelesen hatte.
Wie unmittelbar bereits aus der Benennung einer Sternengruppe auf das
namengebende irdische Wesen zurückgeschlossen werden kann, zeigt der
in einem Stern-Omen ausgesprochene Glaube, daß der Fischlaich leidet,
wenn das Sternbild der Fische schwach leuchtet, oder daß eine bestimmte
Stellung des Sternbildes der Waage das (zum Ansetzen des Kaufpreises)
abgewogene Getreide beeinflußtl. Die Schlichtheit dieser Anschauungen
spricht für ihr hohes Alter. Meist liegen die Dinge viel komplizierter. Im
Laufe der Zeit wurden alle möglichen, oft ganz weit hergeholten mythischen
Vorstellungen mit den Sternen verbunden, manchmal hat man auch älteres
Gedankengut, das man nicht mehr verstand, in entstellter Form weiter-
tradiert. So soll nach der Lehre byzantinischer Astrologen ein im Zeichen
des Löwen geborener Knabe ein rundes, breites Gesicht und starke Hände
und Füße haben (physische Eigenschaften des Löwen). Er hat ein Leben
voller Schwierigkeiten und muß sein Brot mühevoll erwerben (der not-
leidende Löwe in der leeren Wüste). Seine hauptsächlichen Charakter-
eigenschaften sind Intelligenz, Jähzorn, Hochmut, Eigensinn, Schlauheit
und Tücke (menschliche Eigenschaften, die dem Raubtier zugeschrieben
und auf dem Umweg über das Sternbild wieder auf den Menschen rück-
bezogen werden). Er wird von einer Höhe fallen (im Gilgamesch-Epos
wird ein Löwe von der Göttin Ischtar in einer Fallgrube gefangen) usw. 2 •
Doch zog man aus den vermeintlichen Eigenschaften des Sternbildes noch
viel weitgehendere Folgerungen bezüglich seiner Wirkung. Nach dem
Picatrix, einem mittelalterlichen Zauberbuch hellenistisch-arabischer Her-
kunft, kann man einen Talisman zur Vertreibung von Mäusen anfertigen,
indem man beim Aufgang des ersten Dekans des Löwen die Gestalt des
Sternbildes auf eine rote Zinnplatte zeichnet und die Platte an dem Ort
hinterlegt, von welchem man die Mäuse fernhalten will3 • Dieser Talisman
geht von der Voraussetzung aus, daß der Löwe im Tierreich ein Feind
jener Nagetiere ist und daß daher auch das Sternbild die Fähigkeit besitzt,
die Schädlinge zu verscheuchen. So wird manchmal ein wirres Durch-
einander von orientalischer und griechischer Mythologie und echter oder
vermeintlicher Tierkunde in ein Sternbild hineingelegt und aus ihm wieder
als geheime Zauberkunst, höhere Weisheit oder kosmische Notwendigkeit
herausgelesen.
Die angeführten Beispiele, die fast beliebig vermehrt werden könnten,
lassen das Spiel von Projektion und Reflexion zwischen Mikrokosmos und

F. BOLL-C. BEZOLD-W. GUNDEL: Sternglaube und Sterndeutung, S.3.


1
R. EISLER: Astrology, S.97ff.
2
3 H. RITTER: Picatrix, ein arabisches Handbuch hellenistischer Magie,
"Vorträge der Bibliothek Warburg 1921/22", Leipzig 1923, S. HOf.
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 89

Makrokosmos mit besonderer Deutlichkeit erkennen. Auf ihm beruht


letztlich alle Astrologie und darüber hinaus ein erheblicher Teil der vor-
wissenschaftlichen Weltauffassung. Dabei ist das, was vom menschlichen
Dasein in den Sternen abgespiegelt wird, nach der Überzeugung der
Astrologen in den Sternen vorgebildetl. Auch diese Umkehr der tatsäch-
lichen Verhältnisse hat außerhalb der Sterndeutung zahlreiche Parallelen.
Es ist ferner wichtig, daß sich die Sternenorakel so gut wie aus-
schließlich auf das irdische Schicksal des Menschen beziehen. Auch hier
hat sich im Laufe der Kulturentwicklung vieles gewandelt. Das Geschick
der Landleute ist vor allem von der Fruchtbarkeit der Äcker und des
Viehs abhängig. Naturkatastrophen, wie Dürre und Überschwemmung,
können sie an ihrem Lebensnerv treffen, Heuschreckenschwärme oder
Raubtiere ihnen schweren Schaden zufügen, während eine günstige Ernte
ihr Wohlergehen sichert. So gilt ihr Hoffen und Bangen diesen Vorgängen,
um die auch die Fragen kreisen, die sie an die Gestirne stellen. Ganz anders
ist die Lebenssituation der Herrenschicht. Könige und Fürsten sind nicht so
unmittelbar von der Produktion der Nahrungsmittel abhängig. Vielmehr er-
füllt der Kampf um die Behauptung und Erweiterung ihrer Macht den Sinn
dieser Männer, und die Sterne sollen ihnen über Staatsführung und Schlach-
tenglück Auskunft erteilen. In den Reichen des Alten Orients trägt die
Astrologie einen fast ausschließlich politisch-militärischen Charakter, und
zwar nicht nur im Hinblick auf die dort weitverbreitete Vorstellung des
Sternenstaates oder Sternenheeres, sondern auch auf den konkreten Inhalt
der einzelnen Gestirnorakel, die sich nahezu immer auf das Schicksal des
Staates, des Heeres oder des Königs mit seiner Familie beziehen. Die
private Sterndeutung hat erst nach dem Zusammenbruch der altorienta-
lischen Imperien allgemeine Verbreitung gefunden.
Zu den individuellen Sorgen und Nöten, die nun an den Sterndeuter
herantreten, gehört auch die Angst um die Gesundheit. So gewinnt man
damals die astrologische Medizin, die sogenannte Iatromathematik2 , eine
besondere Bedeutung. Diese Lehre führt uralte Vorstellungen der Astro-
biologie fort, nach welcher alles Leben durch die Sterne beeinfIußt wird.
Die nähere Beziehung zwischen den Gestirnen und dem menschlichen
Leib kann auf verschiedene Weise gedacht werden. In der Regel hat man
die Körperteile - mit dem Kopf beginnend - der Reihe nach den Tier-
kreiszeichen zugeordnet, wobei der Kopf dem 'Widder, der Nacken dem
Stier, die Arme den Zwillingen usw. entsprechen. Nach anderen Ein-
teilungen wurden die Organe unter die sieben Planeten oder die 36 Dekane
aufgeteilt. Erkrankungen der verschiedenen Körperpartien wurden durch
den Einfluß der Gestirne erklärt, auch suchte man die Dauer und den
Ausgang der Leiden astrologisch vorherzusagen. Doch von der Medizin
verlangt man nicht nur die Diagnose, sondern vor allem die Heilung.

1 F. BOLL-C. BEZOLD-W. GUNDEL: Sternglaube und Sterndeutung, S.52.


2 F. BOLL-C. BEZOLD-W. GUNDEL: Sternglaube und Sterndeutung, S. 54f.
R. EISLER: Astrology, S.246ff. - A.-J. FESTUGIERE: Revelation I,
2. Aufl., S. 123ff.
90 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

So wurden denn auch entsprechende Behandlungsmethoden entwickelt,


und man bemühte sich, aus den Sternen den günstigsten Zeitpmlkt für
die Anwendung eines Medikamentes oder die Durchführung einer Opera-
tion zu ermitteln!.
Wenn für den Astrologen das ganze menschliche Leben mit dem Lauf
der Gestirne verflochten ist, so heißt dies aber durchaus nicht immer,
daß ein unerbittliches, ehernes Fatum über unseren Geschicken waltet.
Sehr oft bleibt die i"Freiheit" ungeschmälert oder wenigstens im Prinzip
erhalten. Bald heißt es, daß uns die Sterne zwar beeinflussen, aber nicht
zwingen, bald lassen sie sich durch Opfer versöhnen, bald beraten oder
warnen sie die Menschen. Nicht nur in der Heilkunde geben die Gestirne
Verhaltensregeln. Man hat beispielsweise in China eine astrologische
Kriegskunst mit genauen taktischen Anweisungen entwickelt, wann und
wie man manövrieren, sich schlagen oder eine Schlacht vermeiden soll2.
Den Kern der Astrologie bildet also zweifellos das Bestreben, mit
Hilfe der Sternbeobachtung über bestimmte bedeutsame Ereignisse in
Natur und Menschenleben Voraussagen zu gewinnen, die unter Umständen
auch die Grundlage für zweckgerichtetes Handeln bilden. Derartige Vor-
aussagen sind aber nur möglich, wenn invariante Beziehungen zwischen
gewissen beobachtbaren Ereignissen - solchen im Makrokosmos und
solchen im Mikrokosmos - aufgedeckt werden. Doch die Entdeckung
von Beziehungen zwischen Erfahrungsinhalten ist gerade die zentrale
Aufgabe der Wissenschaft. So steht die Sterndeutung in ihrem Grund-
anliegen der späteren wissenschaftlichen Forschung näher als andere
Formen des mythischen Weltbildes, aber gerade deshalb sind ihre Methoden
und Ergebnisse der wissenschaftlichen Kritik und Kontrolle in besonderem
Maße unterworfen.
Die Kritik muß sich zunächst gegen die fundamentale methodische
Voraussetzung der Astrologie richten, nämlich gegen den Prozeß der
Projektion menschlicher Verhältnisse in den astralen Bereich und der
Rückbeziehung des so zustande gekommenen "Himmelsbildes" auf sein
irdisches Urbild. Mag nun ein Einfluß der Gestirne auf das Menschenleben
bestehen oder nicht, er hat auf gar keinen Fall etwas mit den Sternen-
namen zu tun, die ganz willkürlich oder bestenfalls auf Grund vager
Ähnlichkeiten gewählt sind. Zu diesen Unzulänglichkeiten kommt, daß
die Astrologie Voraussagen über Ereignisse in der Erfahrungswelt machen
will, deren Eintreten oder Niohteintreten empirisch prüfbar ist. Andere
Formen mythischer Weltauffassung sind einer solchen Kontrolle nicht
oder nicht im selben Maße zugänglich. Doch haben auch die Sterndeuter
versucht, ihre Prognosen in einer Weise zu formulieren, daß sie nicht ohne
weiteres durch die Tatsachen widerlegt werden konnten - etwa indem

1 Eine letzte Erinnerung an diese einst weitverbreiteten Praktiken ist es,


wenn in PETER CORNELIUS' "Barbier von Bagdad" ein Horoskop gestellt
wird, in dem es heißt:
Du hast gewählt die beste Zeit auf Erden,
Die man nur wählen kann, rasiert zu werden.
2 SE-MA-TS'IEN:" Memoires III, S.375ff.
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 91

sie zu mehrdeutigen Prophezeiungen ihre Zuflucht nahmen, die ja auch


sonst in Orakeln eine große Rolle spielten. Häufig begegnet ferner eine
andere Gruppe von Behauptungen, die den Tatsachen nur in den wenigsten
Fällen klar widersprechen kann, nämlich solche über menschliche Charak-
tereigenschaften. Viele dieser Eigenschaften finden sich bei jedem Indi-
viduum oder können ihm ohne sonderliche Mühe zugeschrieben werden.
So können zahlreiche astrologische Vorhersagen gegen jede eindeutige
Widerlegung durch die Fakten gesichert werden, allerdings bloß dadurch,
daß sie nur ganz Unbestimmtes oder bereits Bekanntes von den betreffen-
den Fakten behaupten. Eine andere Methode, eklatanten Fehlprognosen
auszuweichen, bestand darin, daß man bei offensichtlich unrichtigen
Horoskopen darauf hinwies, nicht nur die Stellung der Sterne im Zeit-
punkt der Geburt, sondern auch jene im Zeitpunkt der Empfängnis
sei für das Schicksal des betreffenden Menschen maßgebend. Auch hier
hilft sich die Astrologie, indem sie in ihre Vorhersagen ein Moment der
Unbestimmtheit einführt, welches zwar den Prophezeiungen jede Ver-
bindlichkeit nimmt, aber gerade dadurch Ausflüchte bei etwaigen Fehl-
schlägen bietet. Doch alles das hat seine Grenzen. Die Menschen wollen
vom Astrologen ein gewisses Mindestmaß von konkreten Angaben über
ihr zukünftiges Schicksal und lassen sich nicht ausschließlich mit vagen
Andeutungen oder leeren Redewendungen abspeisen. So sieht sich dieser
gezwungen, auch solche Behauptungen aufzustellen, die sich als eindeutig
falsch erweisen können.
Sofern die Astrologie in diesem Sinn eirien mit vorwissenschaftlichen
Mitteln unternommenen Versuch darstellt, sich in der Zukunft zu orien-
tieren, gerät sie unweigerlich in Konflikt mit den Natur- und Sozial-
wissenschaften, die zu demselben Zweck rationale Methoden ausgearbeitet
haben. Überall dort, wo die Wissenschaften sichere Prognosen geben
können, ist die Sterndeutung in diesem Konflikt endgültig unterlegen.
Wo freilich solche Prognosen noch fehlen, wo sie immer fehlen werden
oder wo sie den menschlichen Wünschen und Hoffnungen schroff wider-
sprechen, dort klammern sich weiterhin manche Gutgläubige oder Un-
glückliche an den Strohhalm, den ihnen die Sternenweisheit bietet.
Doch wenn auch die Sterne selbst nicht imstande sind, menschliche
Geschicke zu beeinflussen, so ist doch der Glaube an die Sterne sehr wohl
dazu fähig. Schon in der Antike haben kluge Staatsmänner die politische
Brauchbarkeit von Gestirnorakeln erkannt und für ihre Zwecke ausge-
nützt. Oft war es verboten, den Herrschern das Horoskop zu stellen, denn
diese fürchteten, ungünstige Vorzeichen könnten Rebellen oder Ver-
schwörer ermutigen und so das angekündigte Unheil herbeüühren. Umge-
kehrt mag etwa ein Feldherr, dem die Sterne den Sieg verheißen haben,
dadurch in Sicherheit gewiegt werden,. so daß er durch Nachlässigkeit
den Edolg verscherzt. Manche Gestirnorakel können also auf dem Umwege
über ihre Wirkung auf das menschliche Motivationsbewußtsein ihr eigenes
Eintreffen herbeüühren oder verhindern.
Doch gibt es auch Formen des Sternglaubens, die keine Behauptungen
über bestimmte empirische Tatsachen aufstellen und keine praktischen
92 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

Erfolge anstreben, sondern sich auf eine ästhetisch-kontemplative Ver-


klärung des Kosmos beschränken, wie zum .Beispiel jener Lobpreis der
Harmonie des Universums, der als stehendes Motiv aus der hellenistisch-
orientalischen Kultur über den Neuplatonismus bis auf Goethe fort-
gewirkt hat. Dieses Weltgefühl ist es, dem Faust beim Anblick des Zeichens
"Makrokosmos" Ausdruck verleiht:

Wie alles sich zum Ganzen webt,


Eins in dem andern wirkt und lebt!
Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen
Und sich die goldnen Eimer reichen!
Mit segenduftenden Schwingen
Vom Himmel durch die Erde dringen,
Harmonisch all das All durchklingen!

So ist wenigstens in Umrissen die Entwicklung einer Weltauffassung


sichtbar geworden, die schon bei Naturvölkern und an der Schwelle der
geschichtlichen Überlieferung vorhanden und heute zwar theoretisch
überwunden, aber noch lange nicht tatsächlich verschwunden ist. Diese
beruht wesentlich darauf, daß das Fernerliegende und Fremde nach der
Analogie des Naheliegenden, Vertrauten und werthaft Bedeutsamen
"erklärt" wird, wobei neben den Lebenserscheinungen besonders das
absichtsgeleitete Handeln mit seinen Normen, Objekten und Produkten
häufig als erklärende Modellvorstellung dient. Durch diesen Projektions-
vorgang erscheint der Kosmos oft als Gemeinschaftsordnung oder Kunst-
werk. Nicht selten kommt es auch zu einem entsprechenden Vorgang der
Reflexion. Das soziomorph oder technomorph gedeutete Universum wird
auf die menschliche Gesellschaft und Kunstfertigkeit rückbezogen, und
zwar meist im Sinne einer Überordnung : der Mikrokosmos ist dem Makro-
kosmos unterworfen, er soll nach dessen Vorbild gestaltet werden oder
unterliegt dessen Gesetzen. Dabei macht es keinen großen Unterschied,
ob der Makrokosmos als "Hierarchie der Gestirne" aufgefaßt oder zu
einer Hierarchie übersinnlicher, "rein geistiger" Wesenheiten spiri-
tualisiert wird. Freilich ist dieses Wechselspiel von Projektion und
Reflexion weder auf die Handlungsmodelle beschränkt, noch ist es
immer nachzuweisen. Manchmal werden nicht nur Lebensvorgänge
und Tätigkeiten, sondern ganz beliebige Wesen und Gegenstände
der menschlichen Umwelt, ja sogar des Fabelreiches, in den Sternen-
himmel hineingesehe:q., wie dies bei der Astrologie der Fall ist. Manchmal
begegnen wir dem Motiv des Sternenstaates oder der Himmelsburg,
ohne daß von der Nachbildung durch irdische Gesellschafts- und
Bauformen die Rede ist, und nicht selten wurden Sozialformen,
Gebäude oder Riten dem Kosmos nachgebildet oder eingepaßt, ohne daß
dieser vorher soziomorph oder technomorph gedeutet worden wäre. In
den beiden letzteren Fällen ist zwar auch die Lückenhaftigkeit der Über-
lieferungen in Rechnung zu stellen, doch ist es gewiß mitunter tatsächlich
nicht zur Rückbeziehung der in die Welt projizierten Modellvorstellungen
Entfaltung und Verfall der Hochmythologie 93

gekommen; vor allem aber gibt es Formen der Einfügung menschlichen


Handelns in die kosmische Ordnung, die keine Deutung des Universums
nach der Analogie eben dieses HandeIns voraussetzen. Im übrigen darf
man an die Präzision und Systematik des mythischen Denkens keine zu
hohen Anforderungen stellen. Immer wieder begegnen wir Vermengungen
und Überschneidungen von Motiven, und zwar besonders dann, wenn
zwischen ihnen eine gewisse Verwandtschaft besteht. Dennoch ist der oben
geschilderte Prozeß der Projektion und Reflexion biomorpher und inten-
tionaler Modelle in vielen Fällen ganz eindeutig feststellbar.
Aber nicht nur die Strukturen, sondern auch die Funktionen des durch
jene Modelle bestimmten Weltbildes lassen sich verhältnismäßig klar
erfassen. Die Erklärung des Unbekannten nach Analogie des Bekannten
bleibt nicht darauf beschränkt, dem Fremdartigen und "Un-heimlichen"
die Wert qualität des Vertrauten und "Heimlichen" zu verleihen, sondern
sie begründet eine vollständige Orientierung in der Welt, die sich über
den Bereich des Wertens hinaus auch auf Tatsachenfragen erstreckt.
Wenn man beispielsweise glaubt, daß das moralische oder rituelle
Verhalten des Königs oder sein Gesundheitszustand die Fruchtbarkeit des
Landes, die Gestaltung des Klimas oder den Wasserreichtum der Ströme
beeinflußt, so nimmt man damit bestimmte Beziehungen zwischen Er-
fahrungstatsachen an. Das gleiche gilt ganz allgemein für die verbreitete
Ansicht, jede Verletzung der sozialen Ordnung ziehe eine Störung der
Naturordnung nach sich und vermeintliche oder wirkliche Anomalien des
Naturlaufes seien Hinweise auf irgendwelche Verfehlungen der Menschen.
Oft beziehen sich solche Annahmen auf Zusammenhänge zwischen mensch-
lichen Handlungen und ihren empirischen Folgen, besonders in den ver-
schiedenen Formen kosmischer Magie oder in den Praktiken der astro-
logischen Medizin, von denen man sich ökonomische und politisch-
militärische Erfolge oder die Heilung von Krankheiten erwartet. In allen
diesen Fällen haben wir es mit einer Welterklärung von ausgesprochen
empirisch-pragmatischem Charakter zu tun; sie soll den Weg zur Befrie-
digung elementarer menschlicher Lebensbedürfnisse weisen, den Weg zur
Nahrung, zur Gesundheit, zum Reichtum, zum Sieg.
In dieser Funktion muß sie allerdings mit den empirischen Wissen-
schaften in Konflikt kommen, welche die tatsächlichen Zusammenhänge
zwischen Ursachen und Wirkungen, Handlungen und Handlungsfolgen
aufdecken und dadurch zeigen, daß die von jener Welt auffassung ange-
gebenen Mittel zur Erreichung der betreffenden Zwecke in der Regel
ganz ungeeignet sind. Doch können manchmal Voraussagen, die an sich
völlig unbegründet sind, auf dem Umweg über menschliches Bewußtsein
und Verhalten ihr eigenes Eintreffen bis zu einem gewissen Grade beein-
flussen. So ist es möglich, daß eine iatromathematische Kur durch ihre
Suggestionswirkung tatsächlich die erhoffte Heilung herbeiführt oder daß
sie umgekehrt eine sachgemäße Behandlung verhindert und dadurch den
Tod des Kranken verursacht. Analog kann die Besatzung einer "kos-
mischen" Festung, durch den Glauben an ihre magisch garantierte Unbe-
zwinglichkeit zu äußerster Anstrengung angespornt, die Stürme der
94 Entfaltung und Verfall der Hochmythologie

Belagerer zurückschlagen, aber auch im Vertrauen auf die kosmische


Magie die notwendigen Maßregeln vernachlässigend unterliegen.
Neben dieser empirisch-pragmatischen Funktion besitzt die sozio-
morphe und technomorphe Weltauffassung auch eine ausgesprochen
ethisch-politische. Die beiden Funktionen sind oft eng miteinander ver-
knüpft: das Wirken der Naturmächte ist nicht ethisch indifferent, sondern
sanktioniert die sozialen Normen; Elementarkatastrophen oder Mißwachs
ahnden die menschlichen Freveltaten, wenn nicht der Sünder überhaupt
der Strafgewalt der Gestirne verfällt. Auch die richtige Staatsordnung
wird auf diese Weise durch die Naturordnung garantiert. Mit dem Fort-
schritt der rationalen Durchleuchtung der Erfahrungswelt schwindet
allerdings der Glaube an das Eingreüen der Naturgewalten zum Schutze
der moralisch-politischen Normen oder an die Störung der Regelmäßig-
keiten des physischen Kosmos durch unsere Verfehlungen. Es bleibt aber
oft das allgemeine Postulat bestehen, das menschliche Tun und die
menschliche Ordnung solle sich der "natürlichen" oder "kosmischen"
Ordnung einfügen, das staatliche Recht solle man nach dem "Naturrecht"
gestalten usw. Die mythischen Grundlagen. und Hintergründe dieser
Forderung werden meist sehr bald vergessen, ja vielleicht als potentiell
kompromittierend verdrängt. Doch kann die Lehre von der "natürlichen
Ordnung" der menschlichen Gemeinschaft weder in ihren mythischen
Vollformen noch in ihren späten, halbrationalisierten Ausprägungen eine
klare Antwort auf die Frage geben, worin jenes "natürliche Gesetz"
eigentlich besteht. Vielmehr hat seit den Zeiten des alten Ägypten noch
jede politische oder weltanschauliche Richtung, die darauf Wert legter ihre
Ziele und Ideale als Inhalt jener universalen Gerechtigkeit ausgeben können.
Aber der "kosmische Staat" oder die "Himmelsstadt" war nicht bloß
Norm für die irdische Gesellschaftsordnung, sondern auch Gegenstand
ästhetisch-kontemplative1' Verklärung. In ähnlicher Weise wurde die Idee
der "gerechten Weltordnung" nicht nur dazu gebraucht, bestimmten
rechtlichen oder politischen Forderungen Nachdruck zu verleihen, sondern
sie war auch imstande, den Menschen ein Gefühl der Sicherheit und Gebor-
genheit einzuflößen. Auch trugen manche Formen der technomorphen
Weltdeutung von vorneherein einen stark ästhetischen Charakter, und
zwar besonders dort, wo Kunstwerke oder künstlerische Tätigkeiten -
etwa im Falle des "Himmelsdomes" oder der "Sphärenharmonie" - als
Modellvorstellungen fungierten. Diese und ähnliche Ideen motivieren nicht
zu einem praktischen Verhalten, sie erwecken vielmehr eine Stimmung
oder gefühlsmäßige Einstellung. Die Grenzen sind allerdings auch hier
fließend, besonders wenn - wie bei den Griechen - das Gute und das
Schöne ineinander übergehen. Es ist übrigens bemerkenswert, daß manche
sozio-kosmischen Vorstellungen neben- oder nacheinander empirisch-
pragmatische, ethisch-politische und ästhetisch-kontemplative Funktionen
ausgeübt haben. So glaubte man bald von den "himmlischen Heerscharen",
daß sie als Sternenheer in die irdischen Kämpfe eingreüen,· bald waren
sie Vorbild für menschliche Sozialgebilde, bald berauschte man sich am
Glanze der himmlischen Hofhaltung oder vertiefte sich in die Mysterien
Der Kosmos der Philosophie 95

des stufenweisen Aufstieges der Hierarchie übermenschlicher Wesenheiten


zum Absoluten.
Da die moralischen oder kontemplativen Ausprägungen des intentiona-
len Weltbildes keine unmittelbaren Behauptungen über Erfahrungs-
tatsachen und ihre Zusammenhänge aufstellen, geraten sie nicht in direk-
ten Konflikt mit der wissenschaftlichen Forschung, sondern unterliegen
nur mittelbar deren Kritik. Doch erwachsen ihnen spezifische Schwierig-
keiten aus den Fragen, worin denn eigentlich die "natürliche" Ordnung
von Sitte und Recht bestehe und wieso trotz der angeblichen Gerechtig-
keit und Schönheit des Universums das Böse und Häßliche immer wieder
triumphiere. Damit sind aber bereits Probleme erreicht, die gemeinhin
als philosophische gelten.

Der Kosmos der Philosophie


I
Ob und in welchem Maße das sogenannte philosophische Denken
wenigstens in seiner westlichen Ausprägung - direkt unter dem Einfluß
mythischer Vorformen steht, soll vorläufig dahingestellt bleiben. Es hat
sich aber bereits gezeigt und wird sich noch mehrfach zeigen, daß die
Philosophie die mythische Deutung der Welt nicht beseitigt hat, sondern
in sie eingebettet geblieben und von ihr immer wieder angeregt worden
ist. Die Ähnlichkeit der Grundmotive ist oft so groß, daß es schwierig ist,
eine scharfe Grenze zu ziehen und konkrete geistesgeschichtliche Erschei-
nungen der einen oder der anderen Sphäre zuzurechnen. In manchen
Stadien der Entwicklung hebt sich der "Logos" verhältnismäßig deutlich
vom "Mythos" ab, um in anderen Abschnitten von diesem weitgehend
absorbiert zu werden.
Es ist auch nicht eindeutig zu entscheiden, ob die griechische Philo-
sophie, die ja auf asiatischem Boden entstanden ist, bereits in ihren An-
fangsphasen von der altorientalischen Hochmythologie abhängig ist. Wenn-
gleich gewisse Anzeichen für eine solche Abhängigkeit sprechen, wird man
sie zumindest auf Grund des bisher vorliegenden Materials nicht mit
Sicherheit behaupten könnenI. Wichtiger als solche historischen Probleme
ist für unsere Aufgabe die systematische Frage, ob die Denkformen, in
denen sich die beginnende philosophische Spekulation vollzieht, grund-
sätzlich von jenen des Mythos unterschieden sind.
Der Positivismus des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts war
geneigt, zumal die ionische Naturphilosophie als Vorläuferin der neu-
zeitlichen Wissenschaft zu betrachten und dementsprechend ihren Ab-
stand von aller mythisch-religiösen Weltdeutung zu betonen 2 • Diese ein-
1 Man kann es als Anzeichen vorderasiatischer Einflüsse auffassen, daß
das "Weltprinzip" vieler Vorsokratiker den Kosmos in durchaus monarchisch-
autokratischer Weise regiert.
2 Diese Tendenz zeigen u. a. J. BURNET: Early Greek Philosophy, London
1892. - TH. GOMPERZ: Griechische Denker, Leipzig 1896. - P. TANNERY:
Pour l'histoire de la science hemme. De Thales a Empedocle, Paris 1887. -
Neuerdings noch W. NESTLE: Vom Mythos zum Logos, Stuttgart 1940.
96 Der Kosmos der Philosophie

seitige Betrachtungsweise ist schon bald nach der Jahrhundertwende


durch Karl Joel korrigiert worden, der aber in das entgegengesetzte
Extrem verfiel, indem er versuchte, die Naturphilosophie der Antike
ähnlich wie die der Renaissance und der Romantik "aus dem Geiste der
Mystik" herzuleiten, aus der Bewunderung der göttlichen Allnatur und
dem Streben nach Vereinigung mit ihr. Beide Auffassungen werden der
Sachlage nicht voll gerecht. Zweifellos bildet die Ausschaltung der Götter.
welt der Volksreligion einen Berührungspunkt mit der Naturerklärung der
modernen Forschung, von welcher die Jonier im übrigen aber weit ent·
fernt waren. Sie kannten keine Experimente und ihre Naturbeobachtung
war sehr oberflächlichl . Aus dem Geiste der Mystik ist ihre Weltauffassung
allerdings auch nicht befriedigend erklärbar, doch zeigen die feinsinnigen
Analysen Joels ein richtiges Gefühl dafür, daß die erwachende Philosophie
nicht die Erkenntnis einer wertfreien Ordnung der Naturerscheinungen
anstrebte, sondern eine zutiefst werthafte Beziehung zwischen Mensch
und Kosmos.
Die Behauptungen der jonischen Philosophen beruhen nicht auf Mes-
sungen und deren mathematischen Korrelationen, ja nicht einmal immer
auf Beobachtungen empirischer Gleichförmigkeiten des NaturverIaufes.
Viele ihrer Thesen konnten auch gar nicht auf erfahrungsmäßiger Grund-
lage basieren, da sie Gegenstände betrafen, die der Beobachtung damals
nicht zugänglich waren und es zum Teile heute noch sind, wie etwa der
Ursprung oder die Gesamtstruktur des Universums. Vielmehr suchten
die Vorsokratiker - ganz ähnlich wie im Mythos - am Leitbild von
Erscheinungen des menschlichen Alltags 2 bestimmte fernerliegende
Naturphänomene zu erklären oder sich eine Vorstellung von Dingen
und Ereignissen zu machen, die außerhalb des Bereiches ihrer Er-
fahrung lagen. Dieses Verfahren ist von der Forschung schon mehrfach
erkannt, aber noch immer nicht bis in seine letzten Konsequenzen ver·
folgt worden. Am weitesten ist Heinrich Gomperz in dieser Richtung vor·
gestoßen. Er hat in einer grundlegenden Arbeit gezeigt, daß das Welt.
verständnis der frühgriechischen Denker fast ausschließlich durch Vor.
stellungsmodelle aus dem sozialen und dem künstlerisch·handwerklichen
Lebensbereich bestimmt ist 3 - durch eben jene soziomorphen und techno-

1 K. JOEL: Der Ursprung der Naturphilosophie aus dem Geiste der


:Mystik, Jena 1906. - F. :M. CORNFORD : Was the Ionian philosophy scientific 1,
"Journal of Hellenic Studies" LXII (1942), S. lff. - W. JAEGER: Paideia I,
2. .Aufl., Berlin 1936, S. 208 betont, daß "eine ungebrochene Kraft mythen.
bildender .Anschauung ... weit über die Grenze hinaus, bei der wir gewohnt
sind, das Reich der ,wissenschaftlichen' Philosophie zu beginnen, in den
Lehren der ,Physiker' wirksam bleibt, . .. ohne die wir die staunenswerte
weltanschauliche Produktivität dieser ältesten Wissenschaftsperiode gar nicht
begreifen können."
2 O. GIGON: Der Ursprung der griechischen Philosophie, Basel 1945, S. 118.
3 H. GOMPERZ: Problems and Methods of Early Greek Science. "Journal
of the History of Ideas" IV (1943), neu abgedr. in der .Aufsatzsammlung:
"Philosophical Studies", Boston 1953, S.72ff. GOMPERZ führt dort (Phil.
Studies, S. 76) aus: "To explain a phenomenon means to show that ... it
Der Kosmos der Philosophie 97

morphen Modelle, deren überragende Bedeutung für den Mythos die


vorausgegangenen Kapitel dieser Arbeit klarzustellen versucht haben.
Es mag als eindrucksvolles Zeugnis für die weitgehende Gleichartigkeit
vorphiIosophischer und philosophischer Weltdeutung gelten, daß Gomperz
ohne sein Wissen aus den vorsokratischen Texten auch die entscheidenden
Kategorien des mythischen Denkens gewonnen hat.
Neben den intentionalen Denkmodellen spielen gerade im Früh-
stadium der griechischen Geistesentwicklung die biomorphen eine bedeu-
tende Rolle, zumal in der Theogonie des Hesiod und bei den Orphikern.
Hesiod betrachtet die Weltentstehung als einen Vorgang des Zeugens
und Gebärens (Theog. 116): "Zuerst von allem entstand das Chaos, dann
aber die breitbrüstige Gaia ... und Eros, der schönste unter den unsterb-
lichen Göttern ... Aus dem Chaos aber wurde Erebos und die schwarze
Nacht geboren, von der Nacht dann Aither und Hemera, die sie gebar,
nachdem sie sich dem Erebos in I~iebe vermählt hatte. Gaia aber gebar
zuerst, gleich ihr selber, den gestirnten Uranos, damit er sie ganz um-
hülle. .. Sie gebar auch die gewaltigen Berge, die lieblichen Behau-
sungen der Götter. Sie gebar auch das unfruchtbare Meer ... Und end-
lich gebar sie, nachdem sie sich mit Uranos vermählt hatte, den tiefstrude-
ligen Okeanos1 ." In dieser Darstellung herrscht eine gewisse Unklarheit
über die Abfolge der Vorgänge und die Rollen der Beteiligten. Eindeutig
biomorph gedacht ist jedenfalls die Erdmutter und der kosmogonische
Eros. Eine ebensolche Bedeutung könnte auch das "Chaos" - von Xciw

exhibits certain analogies with other phenomena, familiar to us from common


experience. Änd a phenomenon functioning in this way as an explanatory
analogy, may be styled a th01tght-pattern. Thus we may say that the methods
of explanation adopted by the earIiest Greek scientists consisted almost
exclusively in the use of certain definite thought-patterns.". GOMPERZ unter-
scheidet:
1. the biological thought-pattern, subdivided into
a) the biological proper (growth and decay)
b) the anthropological (design and deliberation)
c) the theological (achievements of superhuman wisdom and power).
2. the political thought-pattern (the regularities of nature correspond
to the rules that govern civil life).
3. the thought-pattern of artistic creativity.
4. the mechanical thought-pattern (the phenomenon is understood by
being assimilated to a procedure used in the crafts).
5. the pattern of a well- or an ill-ordered houselwld.
Nr. la würde in der bier verwendeten Terminologie den biomorphen,
Nr.2 und 5 den soziomorphen, Nr.3 und 4 den technomorphen Modell-
vorstellungen entsprechen, während Nr. 1 bund lc je nach Umständen in
eine der Gruppen fallen. - Zur Bedeutung soziomorpher Modelle, vor allem
des Gedankens der "kosmischen Gerechtigkeit", für die frühe griechische
Kosmologie vgl. auch G. VLASTOS: EquaIity and Justice in Early Greek
Cosmologies, "Classical Philology" XLII (1947), S. 156ff.
1 Übers. n_ W. CAPELLE: Die Vorsokratiker, Stuttgart 1938, S. 27 (Krö-
ners TÄ. 119).

Topitsch, Metaphysik. 7
98 Der Kosmos der Philosophie

"klaffen" - besitzen, doch sind auch andere Auffassungen möglich!. Eigen-


artig und offensichtlich nur auf mutterrechtlicher Basis erklärbar ist die
Vorstellung, daß die Erde sich ihren Partner, den Himmel selbst gebiert.
Was hier völlig fehlt, ist das intentionale Element, der befehlende und
schaffende Wille, das "fiat" eines Schöpfergottes. Ein Gott, der die Gerech.
tigkeit schützt, ist freilich auch bei Hesiod vorhanden: Zeus. Doch ist er
nicht Urgott, sondern nur Enkel, er gehört erst der dritten Göttergeneration
an. Mit der Generationsfolge der Götterpaare ist ein weiteres soziales
Motiv gegeben: die Einheit der Weltordnung erscheint als Sippenordnung,
wie ja auch sonst die Familie oder Sippe, die zugleich Zeugungs- und
Lebensgemeinschaft ist, am Übergang von den biomorphen zu den sozio-
morphen Modellvorstellungen steht.
Verwandt mit der Gedankenwelt Hesiods ist die der orphischen Kos-
mogonie, welche zweifellos ebenfalls tief in der altmediterran-vorder-
asiatischen Mythologie verwurzelt ist (siehe oben S. 10 f.). Wir stoßen hier
auf den Mythos vom Weltei (Orpheus B 12, B 13, B 14; Epimenides B 5),
vom Weltelternpaar (Orpheus B 8, B 13) und vom zweigeschlechtigen Gott
(Orpheus B 13). Neben diese biomorphen Vorstellungen, von denen vor
allem die Weltentstehungslehren der Orphiker bestimmt sind, treten auch
intentionale, wenn etwa Zeus (Orpheus B 13) als Ordner (l)ta-tax'twQ)
aller Dinge bezeichnet wird oder wenn die unerbittliche und ehrwürdige
Dike neben seinem Thron sitzt, das Tun der Menschen beobachtet und
jene richtet, die das göttliche Gesetz nicht erfüllen (Orpheus B 6, B 14).
In der Entwicklung der Philosophie seit den J oniern werden jedoch
die biomorphen Modelle stark zurückgedrängt, ja für längere Zeit bis auf
wenige Nachklänge ausgeschaltet. Diese Zurückdrängung geht so weit,
daß die Lebensvorgänge selbst in der Regel nach intentionalen Analogien
gedeutet wurden, und zwar manchmal soziomorph, zumeist aber techno-
morph. Zumal seit Aristoteles wird die Auffassung der Lebewesen nach
dem Leitbild von Artefakten fast allgemein angenommen und erfährt im
weiteren Laufe der Entwicklung durch den christlichen Schöpfungs-
gedanken eine weitere Unterstützung.
Man mag es als Symbol betrachten, daß die älteste ungefähr wörtlich
erhaltene Urkunde philosophischen Denkens im Westen, das berühmte
Fragment 9 des Anaximander, unverkennbar auf einer soziomorphen
Deutung des Universums beruht: E~ W\I az ~ Y€\IEcrlC; EO"n 't'Ol<; oUO"~,
XOCL 't'~v cp&opav e:i<; 't'ocihoc YL VEO"&OC~ xlX't'a 't'o XPE(OV. ~hM\lIX~ yap 1X1)'ra
a[x11\l XlXt 't'(cr~\1 &AA~AO~<; 't'Yj C; &a~XLIX<; xlX't'a 't'~v 't'ou xpovou 't'a~L\1
"Woraus aber dem Seienden sein Ursprung sei, dahinein müsse auch sein
Untergang sein nach Schicksalsbestimmung. Denn es müsse eines dem
anderen Strafe und Buße zahlen nach dem Richterspruch der Zeit"2.

1 o. GIGON: Ursprung, S. 29 hält es für möglich, daß hier die Vorstellung


. der Welthöhle oder das Bild der menschlichen Mundhöhle im Hintergrund
stehen könnte. Eine andere biomorphe Deutung bei A. OLERUD: L'idee de
macrocosmos et de microcosmos dans le Timee de Platon, Uppsala 1951,
S.192.
2 W. JAEGER: Paideia I, S.217.
Der Kosmos der Philosophie 99

Schon Theodor Gomperz findet in diesem Fragment die "Anschauung


einer allumfassenden Naturordnung, welche zugleich als eine allumfassende
Rechtsordnung gegolten hat"l, und Karl Joel betrachtet Anaximanders
Konzeption als eine "Verstaatlichung des WeltbiIdes"2. Eine geradezu
klassische Erhellung des Sachverhaltes verdanken wir Werner Jaeger:
"Was Anaximander in seinen Worten formuliert, ist eher eine Weltnorm
als ein Naturgesetz im modernen Sinne zu nennen ... Sie ist nicht bloße
Beschreibung von Tatsachen, sie ist Rechtfertigung des Wesens der Welt.
Die Welt erweist sich durch sie als ,Kosmos' im großen, zu deutsch:
als eine Rechtsgemeinschaft der Dinge ... Der Sache nach ist die Kosmos-
idee, wenn auch nicht genau in dem späteren Sinne, zweifellos durch die
anaximandrische Vorstellung der im Naturgeschehen waltenden ewigen
Dike im Prinzip gegeben"3. Doch das politische Modell des Stadtstaates,
mit welchem wir es in diesem Fragment zu tun haben, wechselt oder
vermischt sich - wohl unter orientalischem Einfluß'" - mit dem der
absoluten Monarchie. Der Weltgrund übt nämlich auch die Funktion eines
Weltherrschers aus, und zwar soll er alles umfassen und steuern 7tepLExe:LV
Ü7tOCVTOC xod. mlVTIX xuße:pväv (A 15), wobei xuße:pväv - ursprünglich
das Steuern des Schiffes - hier offenbar schon die spezüisch politische
Bedeutung der "Staatslenkung" (vgl. Alkaios Frgm. 46 Diehl; Theognis
667ff.) besitzt. So darf man die Bezeichnung äpXtl, die Anaximander für
diesen Weltgrund gewählt hat, nicht ausschließlich als "Anfang" oder
"Ursprung", sondern wohl auch als "Herrschaft" deuten5 •
Doch das Weltall ist nicht nur ein Reich, das von einem Herrscher
geleitet wird, oder eine Polis, in der eine unverbrüchliche Rechtsordnung
waltet. Es kann auch als Kunstwerk, als Gebäude mit ganz bestimmten
Proportionen betrachtet werden. So ruht in der Mitte des Kosmos die
Erde als eine Säulentrommel, deren Höhe ein Drittel ihres Durchmessers
beträgt6, und um sie herum sind die Gestirne in Ringen gelegt, die sich in
unendlicher Kreisbewegung befinden. Am nächsten ist ihr der Ring der
Sterne, sein Durchmesser ist neunmal der der Erdscheibe, dann folgt
der des Mondes mit zweimal neun Erddurchmessern und schließlich jener
der Sonne mit dreimal neun Erddurchmessern (A 11, A 21, A 22). Diese
Größenverhältnisse hat Anaximander natürlich nicht mittels empirischer
Messungen gewonnen, sondern er stellt sie einfach als Behauptung hin,
offenbar weil sie ihm gewissen ästhetischen Anforderungen zu entsprechen
scheinen. Noch deutlicher wird es, daß dieser Weltbildkonstruktion
bestimmte Postulate der Harmonie zugrunde liegen, wenn man sie mit
jener des pythagoreers Petron vergleicht. Dieser legt für die Zahl und

1 TH. GOMPERZ: Griechische Denker, Bd. I, 3. Aufl., Leipzig 1911, S. 46.


2 K. JOEL: Geschichte der antiken Philosophie, Tübingen 1921, S. 257f. -
V. EHRENBERG: Die Rechtsidee im frühen Griechentum, Leipzig 1921, S. 89ff.
3 W. JAEGER: Paideia I, S.218f. - Vgl. P.·M. SCHUHL: Essai sur la
formation de la pensee grecque, 2. ed., Paris 1949, S.192.
4 K. J OEL: Geschichte, S. 259.
5 K. JOEL: Geschichte, S.259. - H. KELSEN: Vergeltung, S.237f.
8 O. GIGON: Ursprung, S.86ff., 90ff.
100 Der Kosmos der Philosophie

Anordnung seiner 183 Welten die Form eines gleichseitigen Dreieckes


als die schönste Dreiecksfigur zugrunde und verteilt entsprechend den
60 Graden der Winkel auf jede Seite des Dreieckes 60 Welten, während
die drei restlichen an den Ecken liegen!. In beiden Fällen spricht der
Philosoph gewissermaßen aus der Einstellung eines Künstlers, zumal
eines Architekten, der bestimmte Proportionen für ein Bauwerk oder eine
Stadt unter den gegebenen Verhältnissen als angemessen betrachtet,
und schließt daraus unmittelbar auf das tatsächliche Vorliegen dieser
Maßverhältnisse2 •
Dieses ästhetisch-intentionale Moment tritt jedoch zugunsten des im
engeren Sinne technologischen zurück, sobald nicht mehr die Gesamt-
struktur des Universums, sondern konkrete Einzelerscheinungen erklärt
werden sollen. So hat die Sonne die Gestalt eines Rades mit hohler Nabe,
aus welcher wie aus einer Trompete oder einem Blasebalg das Licht
ausströmt (A 21). Auch der Mond hat nach Anaximander die Gestalt
eines Wagenrades mit einer einzigen Lichtaustrittsöffnung im Felgenkranz.
Ist diese verstopft oder infolge der Drehung des Rades von uns abgewandt,
dann tritt eine Mondesfinsternis ein (A 22; vgl. A 10, A 11, A 18). Einzelne
meteorologische Phänomene, wie Donner, Blitz und Wirbelsturm entstehen,
indem verdichtete Luft die Wolken zerreißt oder auseinanderzieht (A 23)
und ähnliches mehr3 •
Ein Nachklang biomorpher Vorstellungen findet sich in den kosmo-
gonischen Spekulationen des Anaximander. So sagt er, daß sich bei der
Weltentstehung ein Keim (y6v~fLOV) des Warmen und Kalten vom ewigen
Weltgrund abgesondert habe (A 10). Wenn Gigon zu dieser Stelle bemerkt,
der Urgrund werde "als Lebewesen veranschaulicht, das die Welten aus
sich gebiert"4, so hebt diese Interpretation die dem Fragment zugrunde
liegende Uridee, die bei Anaximander schon stärker verblaßt ist, gewisser-
maßen verdeutlichend heraus.
Es zeigt sich also, daß das Denken des Urahnen der abendländischen
Philosophie von den gleichen Modellvorstellungen bestimmt ist wie jenes
der vorphilosophischen Epoche. Die soziomorphen und technomorphen
Analogien, die bei Anaximander stark in den Vordergrund treten, ermög-
lichen es ihm, den Zusammenhang aller Dinge als eine moralisch oder
ästhetisch befriedigende Ordnung - als gerechten und kraftvoll geleiteten
Staat oder als harmonisches Kunstwerk - zu verstehen. Es handelt sich
um eine werthafte Deutung oder, wie Werner Jaeger es ausdrückt (vgl.
oben, S. 99), eine Rechtfertigung der Welt, die man mit dem Schlagwort

1 H. DIELS-W. KRANZ: Vorsokratiker, 16. - W. CAPELLE: Vorsokratiker,


S.102.
2 H. GOMPERZ: Problems, S. 77: " ... it is assumed to be a fact that the
shape of the earth is that of a drum three times as broad as it is high and
that thc distances of the stars, of the mo on and of thc sun from the center
of the earth are in the ratio of 1 : 2 : 3 - not because any measurements have
been made to this effect but because it is fitting that such should be the case."
3 O. GIGON: Ursprung, S.97.
4 O. GIGON: Ursprung, S.77.
Der Kosmos der Philosophie 101

kennzeichnen könnte, daß hier die Erklärung als Verklärung des Univer-
sums auftritt.
Doch der Einfluß von Wertgesichtspunkten ist nicht auf das Bild
des aufgegliederten, strukturierten Kosmos beschränkt. Auch der unbe-
grenzte, unbestimmte, unstrukturierte Weltgrund - das Apeiron - hat
eine außerordentliche Wertintensität. Sicherlich sind gewisse theoretische
Überlegungen an dem Zustandekommen dieser Vorstellung beteiligt:
das, aus dem alle begrenzten Einzelwesen und -dinge hervorgehen, könne
selbst keine Grenzen haben. Doch zumindest ebenso bedeutsam ist die
Tatsache, daß die Menschen oft von der Begrenztheit, Vergänglichkeit,
Endlichkeit und Bedürftigkeit aller Erdenwesen tief bedrückt werden.
Viele Vorstellungen von numinosen Wesenheiten - und hierzu gehört
auch Anaximanders "Urgrund" - werden nun dadurch zumindest
entscheidend mitkonstituiert, daß man diesen alle als wertwidrig empfun-
denen Eigenschaften abspricht. So ist denn auch das Apeiron zugleich
&.&avoc't'ov, UVfOAe:&pOV, äq>&ocp't'ov, U"(EV1']'t'OV (A 15). Nicht logische Er-
wägungen, sondern werthafte Forderungen postulieren einen "Urgrund"
als Gegenbild nicht so sehr der Strukturiertheit als der "Unvollkommen-
heit", der Endlichkeit und Hinfälligkeit der sogenannten Sinnendingei.
Damit rühren wir wenigstens an den Ansatzpunkt einer Metaphysik
des vollkommenen, ewigen und undifferenzierten Weltgrundes, der vom
Standpunkt bestimmender Erkenntnis her gesehen in letzter Konsequenz
nur negativ umschrieben werden kann und darum auch prädikat- und
funktionslos sein müßte, bedeutet doch jedes Prädikat und jede Funktion
eine Bestimmung und Begrenzung (öpoc;). Wird dieser Ansatz mit aller
Folgerichtigkeit durchgedacht, so ergibt sich in der Frage der Beziehung
zwischen Weltgrund und Welt eine eigenartige Problematik. Einerseits
muß der Urgrund in irgendeiner bestimmbaren Beziehung zur Erfahrungs-
welt und zur menschlichen Lebenswirklichkeit stehen, um als Erklärungs-
prinzip fungieren und menschliche Wertforderungen befriedigen zu können,
andererseits kann aber jede Bestimmbarkeit als begrenzende Beschrän-
kung der "Vollkommenheit" empfunden werden2 • Diese Schwierigkeit,
die in der späteren Spekulation eine beachtliche Rolle gespielt hat, macht
sich bei Anaximander noch nicht bemerkbar. Das Apeiron ist keineswegs
in eine funktionslose Transzendenz verbannt, sondern im Gegenteil
höchst aktiv, es ist eine handelnde Macht, die alles umfaßt und lenkt3 •
Wird aber dem Weltprinzip eine solche Aktivität zugeschrieben, so
erhebt sich früher oder später unabweislich die Frage nach dem Ver-

1 O. GIGON: Ursprung, S.66.


2 Der Gedanke, daß das göttliche Wesen über alle Erkennbarkeit und
sprachlich-begriffliche Faßbarkeit "erhaben" sein müsse, findet sich berei~s
in der ägyptischen Theologie. In einem Amon-Hymnus der XIX. Dynastle
heißt es von dem Gott: "He is too mysterious that his majesty be disclosed,
he is too great that (men) should ask about him. too powerful that he might
be known" (zit. n. J. B. PRITCHARD: Ancient Near Eastern Texts relating
to the Old Testament, Princeton 1950, S.368).
3 W. J AEGER: Die Theologie der frühen griechischen Denker, Stuttgart
1953, S.42.
102 Der Kosmos der Philosophie

hältnis zwischen dem Wollen und Handeln des Weltgrundes und jenem
des Menschen; wird die Weltordnung als Rechtsordnung aufgefaßt, so
verlangt die Beziehung zwischen dieser und der menschlichen Rechts-
ordnung nach Klärung. Damit sind andere große Themen der späteren
Entwicklung der Philosophie bereits bei dem ionischen Denker wenigstens
in ihren Voraussetzungen gegeben.
Der Gebrauch intentionaler Modelle zur Erklärung einzelner Dinge
und Vorgänge oder der Gesamtstruktur des Universums ist auch bei
Anaximanders Nachfolgern eine Grundlage des philosophischen Welt-
verständnisses geblieben. Zwar betrachtet Anaximenes als Weltprinzip
die Luft, aber diese erhält ebenfalls das Prädikat der Herrschaft (B 2):
O[OV 11 tj;uX~ ~ ~fL€TEpa &~p ovcra cruyxpa't"eL ~fLäc;, XCXL OAOV TOV xocrfLov
7tV€UfLCX xal &~p 7t€P~EX€~ - "wie unsere Seele, die Luft ist, uns regiert,
so umfaßt auch den ganzen Kosmos Hauch und Luft". Hier erscheint
zum ersten Male nicht nur der Sache, sondern auch dem Worte nach
der "Kosmos" in Parallele zum Individuum als Machtbereich eines
ordnenden und beherrschenden Prinzips. Auf den soziomorphen Charakter
der Kosmosidee führt bereits die Etymologie des Wortes, das nach Boisacq
von der Wurzel *kens - "annoncer avec autoriM" cf. censeo, castigo -
abzuleiten ist!. Für die Herkunft des Ausdruckes aus der sozial-normativen
Sphäre spricht auch die Geschichte seiner Bedeutung. Der Kosmos als
eine durch Ausübung sozialer Autorität geschaffene Ordnung findet sich
schon bei Homer. In der Ilias erscheint das xocrll-eLV, das Ordnen des
(Kriegs)volkes recht eigentlich als Tätigkeit des Herrschers und Feldherrn,
der xocr(.LOC; als militärische und zugleich politische Ordnung. Neben der
spezifischen Bedeutung "Heeresordnung" und "Staatsordnung" hat
xocr(.LO C; im alten Epos noch eine allgemein ethische, etwa im Sinne des
"Geziemenden" (7tPE7tOV, xa&i'jxov). Mitunter wird der Ausdruck auch
im Bereiche der Techne verwendet, nämlich zur Bezeichnung der wohl-
gefügten Werke künstlerischer oder handwerklicher Fertigkeit. Von einem
Bezug auf die Himmelsvorgänge oder auf eine Natur und Gesellschaft
umfassende "Weltordnung" ist im Epos keine Spur aufzufinden2 • Die
bereits von Erwin Rohde hervorgehobene Übertragung des Wortes aus
dem politischen Gebiete auf das Universum3 hat also erst später statt-
gefunden.
Die Leitvorstellung des "Herrschens" wird aber bei Anaximenes nicht
nur aus den zwischenmenschlichen Beziehungen hinaus in das Universum,
sondern auch hinein in den Menschen projiziert4 • Nicht nur der Kosmos,
sondern auch das Individuum wird soziomorph gedeutet: es ist Herr-
schaftsbereich der "Seele". Die bei Anaximenes vielleicht noch nicht
ganz klar ausgeprägte Auffassung der menschlichen Natur als Sozial-

1 E. BOISACQ: Dictionnaire etymologique de la langue grecque, Heidel-


berg-Paris 1923, S. 500.
2 W. KRANZ: Kosmos als philosophischer Begriff in frühgriechischer Zeit,
"Philologus" 93 (1938), S.430f. - ders.: Kosmos, S. Bf.
3 E. ROHDE: Kleine Schriften, Tübingen 1901, Bd. I, S. 226; Bd. II, S. 332.
4 P.-M. SCHUHL: Essai, S. 193.
Der Kosmos der Philosophie 103

struktur ist bei Alkmaion von Kroton völlig unverkennbar. Dieser ver-
gleicht den menschlichen Körper mit einem Staat (B 4). Nur die Gleich-
berechtigung der Kräfte (LcrOVO[lLo( 't"wv ~uvcifLe;(Uv) - des Feuchten und
Trockenen, Kalten und Warmen, Bitteren und Süßen usw. - erhalte
die Gesundheit, während die Alleinherrschaft (fLovapXLa) einer von ihnen
die Ursache der Krankheit sei. Der werthaft-politische Charakter dieses
Gleichnisses ist besonders deutlich und seine Rückanwendung auf die
Politik liegt greifbar nahe. Die Gesundheit des Körpers wird am Leitbild
des pythagoreischen Staatsideales der Adelsrepublik erklärt, während die
Krankheit aus dem politischen Prinzip des Gegners, nämlich der Allein-
herrschaft, erwächst. In unausgesprochener Umkehrung des Verhältnisses
haben wohl Alkmaion und seine Gesinnungsgenossen den aristokratischen
Staat als den "gesunden", den monarchischen als den "kranken" be-
trachtet1 . Vielleicht ist die Deutung des Menschen als eines Staatwesens,
in dem die rechte Ordnung herrschen soll, aus Unteritalien in das alte
Rom gedrungen, wo sie uns in der bekannten Fabel des Menenius Agrippa
entgegentritt. Bei Demokrit schließlich ist der gedankliche Ansatz des
Anaximenes völlig ausgeführt. Individuum und Kosmos erscheinen als
einander entsprechende Herrschaftsordnungen (B 34): "Und wie wir
sehen, daß im Weltall die einen Wesen nur herrschen wie die göttlichen,
andere herrschen und beherrscht werden wie die menschlichen Wesen
(denn diese werden von den göttlichen beherrscht und herrschen über die
vernunftlosen Lebewesen), und andere schließlich nur beherrscht werden
wie die vernunftlosen Lebewesen, so werden auch im Menschen, der ein
Mikrokosmos ist, nach Demokrit die Dinge betrachtet. Die einen herr-
schen nur wie die Vernunft (A6yo~), die anderen herrschen zum Teil
und werden zum Teil beherrscht wie das Temperament (&ufL6~) und andere
schließlich werden nur beherrscht wie die Begierde (Em&ufLLa)." Diese
Parallelisierung von Staat und Seele weist bereits vor auf Platon.
Gesichtspunkte der Moral und der Etikette, des Ranges und der
Herrschaft, der Würde und der Vollkommenheit bestimmen auch sonst
das Weltbild der Vorsokratiker. Dies wird auf verschiedene Weise deutlich.
Für die Wertpositionen, welche die Voraussetzung und Grundlage der
Konstituierung eines philosophischen Gottesbegriffes bilden2 , ist besonders
die Kritik des Xenophanes an den naiv-anthropomorphen Göttervor-
stellungen der Volksreligion aufschlußreich, und zwar sowohl hinsichtlich
der Eigenschaften, die er dem göttlichen Wesen abspricht, wie hinsichtlich
jener, die er diesem zuschreibt oder beläßt. Dem Postulat der Vollkommen-
heit widerspricht vor allem jede Beschränkung oder Behinderung durch

1 O. GIGON: Ursprung, S.151.


2 Zur Konstituierung des Gottesbegriffes auf Grund vorausgesetzter
Wertpostulate vgl. K. DEICHGRÄBER: Xenophanes n-epi CPUO"EW~, "Rheinisches
Museum" 87 (1938), S.29: "Das Göttliche, fordert Xenophanes, muß als
göttliches gedacht werden, denn sein Wesen entspricht seiner Würde, es ist
das, was ihm geziemt. Die Prädikate, die der Gott erhält, ergeben sich mit
der im n-P€TtOV gelegenen Notwendigkeit. Das Göttliche erkennen heißt es
so sehen, wie es notwendig sein muß."
104 Der Kosmos der Philosophie

eine menschenähnliche Leiblichkeit und jedes unmoralische oder würdelose


Verhalten. So besitzt der Gott des Xenophanes keine physischen Eigen-
schaften (B 14, B 15, B 16), erist allem Leiden und aller Veränderung entrückt
(A 35: a7tC~&~ t; xlXl a/Le'!aß,,:rrrot;) und seine Erkenntnisfunktionen sind
an keine Organe gebunden: "Als Ganzer sieht er, als Ganzer denkt er,
als Ganzer hört er" (B 24). Sein Denkenl bewegt das All, ohne mühsam
mit dem Widerstand der Objektwelt ringen zu müssen (B 25). Vor allem
aber wendet sich der Philosoph leidenschaftlich gegen Homer und Hesiod,
welche den Göttern angedichtet haben "was nur immer bei den Menschen
Schimpf und Schande ist: Stehlen, Ehebrechen und sich gegenseitig
Betrügen" (B 11). Die Wahrung der Würde ist auch der Grund, warum
der Gott des Xenophanes unbeweglich stets am selben Ort verharrt (B 26):
IXl.el 8' EV '!lXv'np /Lt/LVeL XLVoV/LeVot; OV8EV
OV88 /Le'!Epx€cr&IXL /LLV E7tLnpEn€L ä'A'AoTe u'A'ATI
Es ziemt sich für Gott nicht, geschäftig umherzulaufen, ganz wie dies die
Etikette dem Fürsten verbietet. Direkt wird diese Analogie zwar bei
Xenophanes nicht ausgesprochen, wohl aber finden wir sie wörtlich in
der aus hellenistischer Zeit stammenden pseudo-aristotelischen Schrift
"Über die Welt", wo es der göttlichen Macht "wenig Ehre bringt und
wenig ansteht, selbst Hand zu legen an die. Dinge dieser Erde. Dies
schickt sich ja auch nicht für die Führenden unter den Menschen, an
allem mitzuwirken und an jeder beliebigen Arbeit" (398a). Schließlich
wurde für das "Gott-Geziemende" sogar ein besonderer terminologischer
Ausdruck geprägt, das Wort &eonp€nEt;2. Auch hier hat die Macht des
decus est3 die menschliche Weltanschauung an einem kardinalen Punkt
bestimmt. Aber nicht nur die göttliche Macht, sondern auch die Gestirne
haben bei Xenophanes soziale Attribute und Funktionen, etwa wenn die
Sonne förderlich ist zur Entstehung und Verwaltung der Welt (TOU
xocr/LOU 8LOtX"I)CrLt;) und der Mond und die Lebewesen ihr dabei helfen
(A 42).
Vielleicht noch aufschlußreicher ist es, die Rolle der intentionalen
Modelle beim Versuch der Lösung des Problems von Sein und Werden
zu betrachten, das die Eleaten aufgeworfen hatten. Empedokles, Anaxa-
goras und die Atomisten sind sich darin einig, daß das Werden und
Vergehen durch die wechselnden Zusammensetzungen von Teilchen zu
erklären ist, die selbst unvergänglich sind. Diese Vorstellung, auf die wir
noch zurückkommen werden, ist eindeutig technomorph. Sie ist von der
Zerkleinerung des Werkstoffes, der Mischung von Farben und zumal
vom Hausbau entlehnt, wo ja auch die Bausteine vor dem Gebäude

1 O. GIGON: Ursprung, S. 186: "Das voeLV ist hier wie im allgemeinen


archaischen Sprachgebrauch gerade nicht das theoretische Erkennen, sondern
das praktische überlegen, mit dem bei der Gottheit allerdings das Ausführen
schon zusammenfällt. Das Oberlegen allein genügt der Gottheit zum Voll-
bringen."
2 W. JAEGER: Theologie, S.63.
3 Vgl. J. PlAGET: Representation, S.220. Siehe oben S. 19, Anm.4.
Der Kosmos der Philosophie 105

existieren und dieses - besonders beim Steinbau - überdauern. Wenn


jedoch erklärt werden soll, wodurch jene Teilchen vereinigt und wieder
getrennt werden, dann gehen die Meinungen weit auseinander.
Bei Empedokles fällt diese Aufgabe den kosmischen Mächten von
qnALoc und ve:lx.o<; zu, die nicht nur selbst die freund.feindliche Beziehung
unter Menschen widerspiegeln, sondern auch miteinander im Kampfe
liegen und die Oberhand zu gewinnen (i3mx.poc"t"Ei:V) suchen (A 52).
Der Wechsel ihrer Vorherrschaft hängt aber nicht gewissermaßen von
den Zufälligkeiten des Kriegsglückes ab, sondern erfolgt in einem be·
stimmten zeitlichen Rhythmus, der durch einen feierlich besiegelten Eid
(7tAOC"t"V<; OPx.o<;) festgelegt ist (B 30). Die Vorstellung einer durch Eid·
schwur oder Vertrag garantierten Naturordnung ist übrigens in der
antiken Literatur nicht ganz selten. So spricht Hierokles in seinem
Kommentar zum Carmen Aureum von dem Eide, "der der Wächter de3
göttlichen Gesetzes war in der Verwaltung des Weltalls"l. Mehrfach
bezeichnet auch Lucrez die Naturgesetzlichkeiten als foedera naturai,
und zwar besonders dort, wo es sich gewissermaßen um die Abgrenzung
der Lebensansprüche der Wesen handelt, so beispielsweise I 584ff.:
denique iam quoniam generatim reddita finis
crescendi rebus constat vitamque tenendi,
et quid quaeque queant per foedera naturai,
quid porro nequeant, sancitum quando quidem extat2 •
Schließlich soll in diesem Zusammenhang an die oben (S. 46 ff. ) erwähnten
Beispiele des Glaubens an eine vertraglich oder eidlich festgelegte Natur·
ordnung erinnert werden, die sich im Alten Testament und dem äthiopi.
sehen Henochhuch finden.
Soziale Kategorien sind auch für die Theologie des Empedokles ent·
scheidend wichtig. An Stelle der göttlichen Hierarchie des Alters und der
Ehre, wie sie der traditionelle Glaube kannte, gibt es allerdings bei dem
sizilischen Denker eine "demokratische Gleichheit aller (elementaren
und bewegenden) göttlichen Kräfte"3. Die vergöttlichten Elemente und
kosmischen Potenzen sind alle gleich stark oder gleichrangig (taoc) und
gleichen Alters oder Ursprunges (f\A~X.OC yEVVOCV). Wohl haben sie verschie-
dene Ämter ("t"LfLr) - Amt, "Funktion") und Wesenseigentümlichkeiten,
aber sie herrschen (X.POC"t"E01)cr~) in einer für sie verbindlichen Abfolge der
Reihe nach im Kreislauf der Zeit (B 17). Diese Auffassung der Welt als
gesetzlicher Ordnung verschiedenartiger, aber gleichrangiger Mächte, die
an die pythagoreischen Vorstellungen des Alkmaion (vgl. oben, S.103)
erinnert, entspricht hier wie dort dem politischen Ideal ihrer Schöpfer,

1 MULLA.CH: Fragmenta Philos. Graec., vol. 1., Paris 1875, p.423a. -


Vgl. P.·M. SCHUHL: Essai, S.300.
2 Vgl. L. ROBlN: Quelques survivances dans la pensee philosophique des
Grecs d'une mentalite primitive, abgedr. in der Aufsatzsammlung "La pensee
hellenique", Paris 1942, S.27ff.
3 W. JA.EGER: Theologie, S. 160.
106 Der Kosmos der Philosophie

kennen wir doch Empedokles als leidenschaftlichen Vorkämpfer der


Demokratie in seiner Vaterstadt Akragas.
Auch bei Anaxagoras bestimmt eine intentionale - und zwar im
wesentlichen soziomorphe - Modellvorstellung das Verständnis des
Weltzusammenhanges. Der N ous, der nach der Lehre dieses Philosophen
das Universum regiert und gestaltet, ist ja genau die "Intentionalität",
die Denkkraft mit besonderer Berücksichtigung des Planens und der
Absicht. Damit steht das göttliche Prinzip des Anaxagoras jenem des
Xenophanes nahe, welches das All mühelos bloß durch des " Geistes
Denkkraft" (voou tppe:vi) bewegt, doch sind die Herrschaftsprädikate
bei dem jüngeren Philosophen viel auffälliger. So kann gar nicht bezweifelt
werden, daß der Nous des Anaxagoras die "Rolle eines Weltherrschers"l
innehat. In dem großen Fragment B 12 sind die Prädikate der Macht-
ausübung geradezu massiert. Der Geist ist selbstherrlich (OclJ't"OXpot't"Et;),
er übt Herrschaft über die Dinge aus (XP"Y)(J.c.t-rcov xpot't"el), besitzt voll-
kommene Einsicht und größte Kraft (YVfO(J."Y)V 1te:Pl 1totv't"Ot; 1tuO"otV
'(O"Xe:L XotL 10"xue:L (J.EYLO"'t'OV) und hat Gewalt (xpot't"e:l) über alles Beseelte,
aber auch über die Wirbelbewegung, zu der er den Anstoß gibt. Alles,
was im Universum sein wird, war und ist, hat der Geist angeordnet
(3LEXOO'(J."Y)O"E), zumal die Umläufe der. Gestirne, der Sonne und des
Mondes. Die schon so oft beobachtete Auffassung der Weltordnung als
Ergebnis einer Organisationsleistung ist also hier wieder sehr deutlich
ausgeprägt. Die Funktionen der Herrschaft (äpXEW) und des Ordnungs-
stiftens (3LotXOO"(J.Ei:V) kommen dem Weltprinzip des Anaxagoras auch
nach zahlreichen anderen Zeugnissen (A 1, A 42, A 46, A 48, A 55, A 56,
A 100) zu. Daß schließlich diese herrschaftsgewaltige Vernunft (VOVt;
otu't"oxpch'cop) keine wertindifferente Macht, sondern Inbegriff und
Garant der Gerechtigkeit ist, hat uns Platon ausdrücklich überliefert
(Krat. 413 C).
Die gleichen Prädikate sind es, welche am Ausgang der vorsokratischen
Periode Diogenes von Apollonia seinem Weltgrund, der Luft, zuerkennt.
Auch sie soll (B 5) Denkkraft (VO"Y)O"Lt;) besitzen, alles lenken und beherrschen,
überall zur Stelle sein und alles verwalten (8LIX't"L&eVotL). Dem modernen
Empfinden noch fremder, aber gerade dadurch für den beinahe unbe-
grenzten Einfluß jener Leitbilder noch bezeichnender ist das Verfahren
mancher jüngerer Pythagoreer, sogar bestimmten Zahlen das Prädikat
der Herrschaft zu verleihen. So ist es bald (Philolaos B 20) die Siebenzahl,
welche als l1re:(J.O>v Xotl äpxcov umtv't"cov auftritt, bald ist die Zehn "all-
wirkend und des göttlichen und himmlischen sowie menschlichen Lebens
apxa XotL UYE(J.fOV" (B 11).
Eine geringere Bedeutung haben die soziomorphen Modelle bei den
Atomisten, die sich in erster Linie von dem Vorbild der Mechanik der
Körper mittlerer Größenordnung leiten lassen. Doch auch diese mecha-
nistische Auffassung ist nicht imstande, die Analogien aus dem Gesell-
schaftsleben völlig auszuschalten. So erscheinen - wie schon erwähnt -

1 W. JAEGER: Theologie, S. 185.


Der Kosmos der Philosophie 107

bei Demokrit Individuum und Kosmos als parallele Herrschaftsordnungen,


und später spricht Lucrez von den foedera naturai oder gebraucht für
Naturgesetzlichkeiten die Ausdrücke solere und consuescere1 . Wenn in
diesen Fällen die soziomorphen Vorstellungen die innere Folgerichtigkeit
des mechanistischen Systems durchbrechen, so zeugt dies abermals für
ihre außerordentliche weltanschauliche Durchschlagskraft.
Doch neben den Leitvorstellungen des Königreiches, der Polis oder
des Oikos 2 spielen jene der künstlerisch-handwerklichen Produktion bei
den Vorsokratikern durchaus keine untergeordnete Rolle. Dabei steht in
gewissen Fällen die Komponente des Planens und Entwerfens nach
bestimmten werthaften Gesichtspunkten im Vordergrund, in anderen
Fällen die der Technologie im engeren Sinne, der Bearbeitung und des
Verhaltens des Werkstoffes.
Das intentionale Element der Techne, das planende Entwerfen und
Wollen, ist uns bereits (S. 99f.) in der Vorstellung des nach bestimmten,
ästhetisch geforderten Proportionen konstruierten "Weltgebäudes" bei
Anaximander und Petron begegnet. Es ist auch für die Gottesidee des
Xenophanes maßgebend, dessen höchstes Wesen ja das Weltall mühelos
durch reines Denken in Bewegung hält. Hier ist die Intentionalität, der
"Geist", aller Notwendigkeit des Ringens mit der Materie enthoben,
der Philosoph aller peinlichen Fragen nach dem "Wie" dieses Vorganges.
Das gleiche gilt für die "Weltplanung" durch den Nous des Anaxagoras.
Schon Platon und Aristoteles haben bekanntlich bemängelt, daß
Anaxagoras seine Weltvernunft nicht zur Erklärung von einzelnen
Phänomenen heranzieht (A 47). Damit haben sie an eine Erscheinung
gerührt, die bei den Vorsokratikern ganz allgemein zu beobachten ist.
Solange das Universum im ganzen betrachtet wird, herrschen die inten-
tionalen Leitbilder vor. Die Welt wird als göttlich und gerecht, als schön
und harmonisch gepriesen. Wo aber die einzelnen Tatsachen erklärt
werden sollen, tritt das Materialverhalten und die direkte Material-
behandlung in den Vordergrund3 •
Zahlreiche technomorphe Modelle finden wir bereits bei Anaximander,
so die Vorstellung von der radförmigen Gestalt der Gestirne. Bei
Anaximenes dagegen sind die Gestirne wie Nägel am eisartigen Himmels-
gewölbe befestigt (A 14), ganz wie Ziernägel an Tempeldecken, die ihrer-
seits wieder das Himmelsgewölbe und die Sterne symbolisieren können4 •
An anderen Stellen wird behauptet, daß die Himmelskörper aus ver-
dünnten, feurig gewordenen Dünsten bestehen und sich um die Erde
herumbewegen, wie sich der Filzhut um unsern Kopf dreht. Die Erde

1 z. B. De rer. nato I 165, 629, 1031-1037; V 187-194, 419-431.


2 O. BRUNNER: Die alteuropäische Ökonomik, "Zeitschrift f. National-
ökonomie" XIII (1951/52), S. 114ff., bes. S. 124ff.
3 H. GOMPERZ: Problems, S. 77: "Generally speaking, the world is divine,
just and beautiful; but in the concrete it is all a matter of tossing waves,
clouds torn asunder, clods hitting the ground, vapors catching fire."
4 R. EISLER, Weltenmantel, S. 608. - Vgl. den Mythos vom Weltschmied
Ilmarinen (oben, S. 23).
108 Der Kosmos der Philosophie

wiederum ist flach und schwimmt (offenbar Wie ein Floß) auf der Luft (A 7).
Kein wesentlich anderes Bild bietet die "Meteorologie" des Xenophanes.
Auch für ihn bestehen Sonne und Sterne aus glühend gewordenen Dünsten
oder Wolken. Beim Untergang verlischt die Sonne und beim Aufgang
entsteht eine neue, wie auch die Sterne jeden Tag verlöschen und nachts
wieder wie Kohlen aufglühen (A 38, A 40, A 41). Der Mond ist ebenfalls
eine verdichtete Wolkenmasse, die zum Neumond verlischt (A 43). Fast
wörtlich gleichlautende Anschauungen von Kindern hat Jean Piaget
unter ausdrücklichen Hinweis auf die Kosmologie der Vorsokratiker
gesammelt und verzeichnet!.
Sehr häufig sind die technomorphen Analogien bei Empedokles. Schon
die Leitvorstellung, daß die vergänglichen Gegenstände aus dauerhaften
Bestandteilen zusammengesetzt sind und sich wieder in diese auflösen,
stammt zweifellos von gewissen technischen Erfahrungen. Die Elementar-
teilchen werden vereinigt "wie eine Mauer, die aus Ziegelsteinen zusam-
mengefügt ist", und nach diesem, vom Hausbau entlehnten Modell soll
die Substanz des Fleisches und jeder andere Stoff entstehen (A 43). Die
Vereinigung dieser Teilchen wird auch mit der Mischung pulverisierter
Stoffe (Rost, Kupfererz, Zinkerz und Vitriolerz) verglichen oder mit
der Mischung verschiedener Farbstoffe durch den Maler (A 34, B 23).
Ähnliche Gleichnisse entstammen der Käserei, der Kochkunst und der
Bäckerei. Wie Feigenlab die Milch verdickt, wenn man ihn einrührt, so
wird das Feuchte durch die Zufügung einer bestimmten anderen Flüssig-
keit gebunden, wenn die kosmische "Liebe" sie mischt (B 33), die auch
imstande ist, das Feuchte mit dem Trockenen zu einem festen Gebilde
zu verbinden, wie man Brot oder Kuchen mengend herstellt, indem man
Wasser mit Mehl verknetet (B 34)2.
Auch bei der Erklärung von Einzelerscheinungen verfährt Empedokles
in ähnlicher Weise. Die schnelle Umdrehung des Himmelsgewölbes hindert
die Erde daran, in die Tiefe zu stürzen, so, wie das Wasser aus einer
umgekehrten Schöpfkelle (Kyathos) nicht herausstürzt, wenn diese rasch
im Kreise geschwungen wird (A 67). Das Vorkommen heißer Quellen
erklärt der Denl{er damit, daß das Wasser durch unterirdisches Feuer
gewärmt wird, so wie dies in den Warmwasserapparaten (Seneca, der
davon berichtet, nennt sie dracones) geschieht, die man herstellt, um
laufendes warmes Wasser zu erhalten (A 68). Der Mond dreht sich um
die Erde wie die Nabe des Rades um die Achse (B 46) und spiegelt das
Licht der Sonne wider (B 43, B 45). Auch die Sonne reflektiert nur das
Licht der anderen, feurigen Halbkugel des Kosmos wie das Wasser den
Feuerschein (A 30, A 56).
Besonders interessant ist die technomorphe Deutung von Lebendigem.
Die Unfruchtbarkeit der Maulesel soll darauf zurückzuführen sein, daß
die Mischung der weichen Samenbestandteile von Pferd und Esel eine

1J. PUGET: Representation, S.259ff., 308ff., bes. S.315f.


2W. KRANZ: Gleichnis und Vergleich in der frühgriechischen Philosophie,
"Hermes" 73 (1938), S. 102.
Der Kosmos der Philosophie 109

harte Mischung ergibt, so wie aus der Mischung der weichen Substanzen
Zinn und Kupfer die harte Bronze entsteht (B 92). Von den Vorgängen
in einem Wasserheber (Klepsydra) schließt Empedokles mit Hilfe der
Analogie auf die Existenz einer Hautatmung, die nach dem gleichen
Prinzip vor sich gehen soll (B 100). Das Auge hat einen feurigen Kern,
der von Hüllen aus Wasser, Erde und Luft umgeben ist, die ihn vor
Stürmen schützen und doch sein Licht hindurchlassen wie eine Laterne
(A 86, B 84). Das Ohr nimmt die Geräusche auf, indem die Gehörknorpel
des Innenohres durch die Luftbewegung zum Klingen gebracht werden
wie eine Glocke (A 86, A 93).
Künste und Handwerke werden auch sonst zur Weltdeutung heran-
gezogen. Aphrodite oder Harmonia wirken als Schmied (B 86f.), als
Tischler (B 96) oder als Töpfer (B 73, B 75). Das Universum ist wieder
ein Gebäude mit einem festen Gewölbe aus erstarrter Luft (A 1, A 49,
A 51), an dem die Fixsterne angebracht sind (A 54). So kann man mit
Recht behaupten, Empedokles sei "gleichsam &\I~P 're:X\l~x6c;: alle auf-
geführten Gleichnisse entstammen der Welt der Technik, gehen aus von
handwerklicher oder doch manueller Tätigkeit (des Malers, Metall-
mischers, Käsers, Bäckers), verwenden Instrumente (Laterne, Kyathos,
Klepsydra, Drakon, Glocke, Wagen) oder handeln von physikalischen
Vorgängen (Spiegelung, Echo und Geschoßabprall ~)"1.
Wohl ist der N ous des Anaxagoras in erster Linie als Herrscher ge-
dacht, doch übt er bisweilen auch eine "werkmeisterliche Tätigkeit"
aus 2 • Er ist der Urheber des Kosmos und der gesamten Weltstruktur
(,a~~C;), er setzt alles in Bewegung und ordnet die ursprünglich wirr
durcheinandergemischten Teilchen (A 41, A 49, A 58, A 99, A 100).
Stärker betont als dieses intentionale Moment ist jedoch das im engeren
Sinne technologische, ja mechanistische. So schwimmt die flache Erde -
ähnlich wie bei Anaximenes - gleich einem Floß auf der Luft (A 42).
Die Unzuverlässigkeit der Sinne beweist der Denker durch ihre Unfähig-
lmit, die allmählichen Veränderungen der Farben bei der langsamen
Vermischung verschiedener Farbstoffe wahrzunehmen (B 21). Diese
These rührt an ein grundsätzliches Problem. Wenn nämlich Anaxagoras
behauptet, es gebe nur eine mechanische Mischung - ein "Nebeneinander-
lagern" (7ClX.pa&e:cr~c;) - der Urpartikelchen (A 54), so könnte man dagegen
geltend machen, daß keine Sinneswahrnehmung zu kontrollieren ver-
möge, ob sich jene Mikroprozesse tatsächlich ebenso abspielen wie die
Vorgänge im Bereiche beobachtbarer Größen. Der Zweifel anßer Verläß-
lichkeit der Sinneserfahrung kann also auch dazu dienen, die Ubertragung
der makroskopisch-mechanischen Modelle auf das unwahrnehmbar
Kleine vor Bedenken zu schützen.
Am folgerichtigsten wurde die Deutung des gesamten Weltgeschehens
nach dem Modell des Verhaltens physischer Körper mittlerer Größen-
ordnung, wie wir es in unserer Alltagserfahrung beobachten können, von

1 W. KRANZ, a. a. 0., S.107. - Vgl. K. Joik: Geschichte, S.534.


2 W. JAEGER: Theologie, S.187.
110 Der Kosmos der Philosophie

den Atomisten durchgeführt. Die Planung, Gestaltung und Zwecksetzung,


kurz die intentionale Komponente der technomorphen Analogien, wird bei
Demokrit als Leitbild des Weltverständnisses so gut wie völlig ausgeschaltet
(A 43, A 69, A 70, A 106, B 118 u. a.). Als Grundbestandteile aller Dinge
gelten die Atome, kleinste feste Körperchen, die sich im leeren Raum
bewegen, aufeinanderstoßen und sich zeitweise zu größeren Gegenständen
vereinigen, indem sie aneinander haften bleiben. Die Teilchen sind nämlich
verschieden gestaltet. Sie haben Erhöhungen und Vertiefungen, Haken
und Ösen, welche ineinandergreifen und eine Verbindung bewerkstelligen
können, die so lange hält, bis eine stärkere Kraft sie wieder trennt (A 37).
Man mag es als letzten, abgeblaßten Rest einer soziomorphen Vorstellung
von der "Wahlverwandtschaft" der Elemente betrachten!, wenn sich
nach Demokrit vor allem die Atome gleicher Art miteinander verbinden
(B 164, A 99a).
Die mannigfachen Eigenschaften der Dinge sind letztlich auf die
verschiedene Größe und Gestalt, Lage und Gruppierung der sie bildenden
Atome zurückzuführen (A 37). Dies gilt für die Temperatur und den
Aggregatzustand, die Farbe und den Geschmack der zusammengesetzten
Körper (A 49). Auch deren Gewicht hängt davon ab, ob die Atome in
ihnen gedrängt oder locker gelagert sind (A 60); offenbar denkt der
Philosoph an ein Gefäß oder an eine Kiste, die um so schwerer wird,
je fester man den Inhalt hineinpackt. Selbst der Magnetismus wird durch
die Mechanik der Atome erklärt (A 165). So werden überall Erfahrungen
mit Körpern mittlerer Größenordnung in die Mikrowelt extrapoliert.
Die Tatsache, daß es sich hier um eine Extrapolation handelt, ist allerdings
erst dem Atomismus der Renaissance voll bewußt geworden. So schreibt
Gassendi: "Man muß begreifen, daß diese Wirkungen sich in derselben
Art wie die leichter wahrnehmbaren zwischen den Körpern vollziehen.
Der einzige Unterschied ist, daß die Mechanismen im letzteren Fall grob,
im ersteren sehr fein sind. Überall, wo uns der gewöhnliche Anblick eine
Anziehung oder Vereinigung zeigt, sehen wir Haken, Schnüre, irgend
etwas, was hält und irgend etwas, was gehalten wird; überall wo er uns
eine Abstoßung und Trennung zeigt, sehen wir Stachel, Spieße, irgend-
einen Körper, der eine Sprengung verursacht usw. Ebenso müßten wir
uns, um die Wirkungen, die nicht in das Gebiet der gewöhnlichen Sinne
gehören, zu erklären, kleine Haken, kleine Schnüre, kleine Stachel, kleine
Spieße und andere Vermittler derselben Art vorstellen. Diese Vermittler
sind unfühlbar und untastbar, man darf aber daraus nicht etwa folgern,
daß sie nicht existieren2."
Diese Übertragung, deren Eigenart und methodologische Fragwürdig-
keit die antiken Materialisten ebensowenig durchschauten wie viele ihrer

1 Diese Vorstellung findet sich vor allem bei Empedokles (B 62, 6; auch
B 90, B 91). über andere Reste soziomorpher Weltdeutung bei den Atomisten
H. KELSEN: Vergeltung, S.251ff.
2 P. GASSENDI: Syntagma philosophicum, Ha pars, 1. VI, c. XIV, zit. n.
P. DUHEM: Ziel und Struktur der physikalischen Theorien, übers. v. F. ADLER,
Leipzig 1908, S. 113.
Der Kosmos der Philosophie 111

neuzeitlichen Nachfolger, ist freilich äußerst problematisch. Wie bei


allen derartigen Analogien entst.ehen auch hier die Schwierigkeiten vor-
züglich aus zwei Gründen. Entweder werden Modellvorstellungen, die
auf ihrem Ursprungsgebiet durchaus am Platze sein mögen, unkritisch
auf andere und oft völlig anders strukturierte Gebiete angewandt oder
sie werden in den Bereich des Unerfahrbaren projiziert. Im konkreten
Falle hat man die von der Bewegungsgesetzlichkeit unbelebter Körper
mittlerer Größenordnung abgelesenen Modelle auf Lebensvorgänge und
zumal bewußtes, intentionales Handeln oder in die Sphäre des unwahr-
nehmbar Kleinen übertragen.
Für den ersteren Vorgang ist die Seelenlehre des Atomismus bezeich-
nend. Auch die "Seele" besteht nach Demokrit aus kleinsten Partikeln,
und zwar aus den feinsten Feuerteilehen, die infolge ihrer Kugelgestalt
am leichtesten beweglich sind. Diese Seelenatome bewegen den Körper,
in welchem sie sich befinden, ähnlich wie Quecksilber eine hohle Holzpuppe
bewegt, in die es hineingegossen wird (A 104). Doch diese Maschinen-
oder Automatentheorie des menschlichen Verhaltens ist nicht mehr allein
auf die Bewegung physischer Körper aufgebaut, sondern sie setzt auch
die plangerechte Anfertigung des Artefaktes - im erwähnten Beispiel
die Anfertigung eines hölzernen Götterbildes durch Dädalus - voraus,
also ein unverkennbar intentionales Moment. Überhaupt scheint die
grundsätzliche Problematik des Verhältnisses zwischen Intentionalität
und Atommechanil{ dem Philosophen nicht recht zu Bewußtsein gekommen
zu sein. Mit einer gewissen Selbstverständlichkeit setzt er das zweck-
und normbestimmte Handeln als Tatsache voraus und macht gar keinen
Versuch, es zu leugnen oder auf Atombewegungen zurückzuführen.
Vielmehr erkennt er die Bedeutung zweckbewußter Klugheit für das
menschliche Leben ausdrücklich an (B 119) und entwickelt selbst
eine normative Ethik, der Züge eines praktischen Idealismus nicht
fehlen.
Gründlicher hat sich Demokrit mit einer zweiten Schwierigkeit seiner
Lehre auseinandergesetzt. Diese ergibt sich aus dem Umstand, daß die
Leitmodelle der atomistischen Welterklärung zwar dem Bereich der
sinnenfälligen Erfahrung des Alltagslebens entnommen sind, aber auf
Gebiete übertragen werden, in denen direkte Wahrnehmung unmöglich
ist oder die mechanistischen Annahmen nicht bestätigt. Der Denker sucht
nun die daraus entstehenden Probleme dadurch zu lösen, daß er den
Wert der Sinneswahrnehmung als Erkenntnisquelle dort herabsetzt, wo
sie seine Hypothesen nicht bekräftigt, und sie auf Gestalt und Bewegung
materieller Partikelehen zurückzuführen sucht. Sinnesqualitäten, wie
Farbe und Geschmack, sollen keine objektiven Eigenschaften der Gegen-
stände sein, sondern subjektive Eindrücke, welche durch Atome von ver-
schiedener Beschaffenheit hervorgerufen werden. So liegen der weißen Farbe
glatte, der schwarzen Farbe rauhe Atome zugrunde (A 126), der süße
Geschmack wird durch runde und mittelgroße Teilchen verursacht, der
scharfe durch scharfkantige, eckige, gekrümmte, feine, der salzige durch
eckige, mittelgroße, schiefe und gleichschenkelige usw. (A 129). Demokrit
112 Der Kosmos der Philosophie

überträgt hier gewisse technische und haptische Erfahrungen des makro.


skopischen Bereiches auf den atomaren. Wir können beobachten, daß
glattpolierte Flächen hell glänzen, während rauhe matt und dunkel sind.
Runde Gegenstände rufen in der Regel leichte und angenehme Empfin-
dungen hervor, die eine gewisse Ähnlichkeit mit dem süßen Geschmack
haben mögen, während eckige und scharfkantige Objekte intensivere
und manchmal schmerzhafte Empfindungen auszulösen vermögen. Doch
eine derartige Argumentation vermag den Analogieschluß vom makro-
skopischen auf den atomaren Bereich allenfalls zu illustrieren, aber keines-
falls positive Beweisgründe für seine Richtigkeit zu geben. Vor allem
aber bleibt in beiden Gliedern des Analogieschlusses das Hauptproblem
ungelöst, nämlich wie es von der Bewegung und gegenseitigen Berührung
physischer Körper zur qualitativen Sinnesempfindung kommt.
So hat der Atomismus versucht, alles Geschehen nach dem Modell
der Beschaffenheit und Bewegung von physischen Körpern mittlerer
Größe, im engeren Sinne nach dem Verhalten des Werkstoffes, zu deuten.
Dabei hat er zwar die Übertragung intentionaler Modelle auf das Natur·
geschehen mit Recht kritisiert und - in der Praxis allerdings nicht
vollständig - aufgegeben, mußte aber in Schwierigkeiten geraten, sobald
er seine mechanischen Modelle auf das Gebiet des nicht Wahrnehmbaren,
vor allem aber des Bewußtseins und zumal der Intentionalität übertragen
wollte.
Die atomistischen Lehren haben aber niemals eine so tiefgreifende
Wirkung auf die Gesamtentwicklung des abendländischen Denkens erlangt
wie die Richtungen, welche die beiden größten Philosophen der Vor·
sokratik vertreten haben: Parmenides und Heraklit. Bei diesen erreicht
die Behandlung der von den älteren Denkern vorbereiteten Problematik
ein Niveau, das auch durch die späteren Bemühungen der traditionellen
Philosophie nicht mehr grundsätzlich übertroffen worden ist. Auf der einen
Seite löst sich die negative Theologie des Parmenides fast völlig von der
intentionalen Deutung des Universums, und auf der anderen Seite führt
Heraklit eben diese Deutung mit einer solchen Folgerichtigkeit durch,
daß ihre inneren Widersprüche aufbrechen und zu bleibenden zentralen
Fragestellungen der philosophia perennis werden.
In beiden Strömungen ist die werthafte Komponente viel stärker
als im Atomismus, und darum darf ihre größere geistesgeschichtliche
Durchschlagskraft nicht überraschen. Sind es doch vor allem Wertpostu.
late, welche die Vorstellungen der Menschen von ihrer Umwelt und auch
von jenen Bereichen bestimmen, die der Erfahrung entzogen sind. Wie
sich immer wieder zeigt, muß die Struktur des Weltganzen gewissen
Forderungen ästhetischer oder moralischer Natur entsprechen, dem
göttlichen Weltprinzip dürfen keine etikettewidrigen Tätigkeiten zuge·
schrieben werden usw. Es gibt aber noch eine andere Gruppe werthafter
Prädikate. Diese kommen nicht irgendwelchen bestimmten Gegenständen
und Verhaltensweisen des Alltagslebens zu, welche als Modellvorstellungen
zur Erklärung von Unbekanntem verwendet werden, sondern sie bestehen
in der Befreiung von allem dem, was in unserer Erfahrungswelt als solcher
Der Kosmos der Philosophie 113

den Menschen am schwersten bedrückt: von der Vergänglichkeit, der


Endlichkeit, der Bedürftigkeit!.
So ist schon bei Anaximander (vgl. oben, S.101) der Weltgrund
wesentlich durch die Negation jener Beschränkungen bestimmt, hat aber
im übrigen sehr bedeutsame Beziehungen zur Erfahrungswelt. Ähnlich
liegen die Dinge bei Xenophanes. Das göttliche All-Eine ist über alle
Veränderung erhaben (A 33, A 35), immer gleich (A 32), nicht entstanden,
sondern ewig und völlig nnbewegt, jedem Leiden entrückt (A 35, A 36)
und als Gottheit frei von jeglicher Bedürftigkeit (A 32). Diese Tendenz
zur "negativen Theologie" erreicht bei Parmenides ihren Höhepunkt2 •
Man hat versucht, Parmenides als reinen Logiker und Ontologen
hinzustellen, aber schon die Himmelfahrtsszene am Eingang seines Ge-
dichtes läßt keinen Zweifel darüber, daß es hier nicht um wertfreie
Erkenntnis, sondern um eine Entrückung in die Sphäre des Göttlichen
geht3 • Gerade das Motiv der Entrückung aus der empirischen Welt - die
in tief bezeichnender Weise als Bereich der "grausigen Geburt und
Paarung" (B 12, 4) erscheint, ja "der wahre Totenort ist, in dem die
Seelen begraben sind"4 - und das der Befreiung von dem Wahne der
diesseitsverhafteten Sterblichen bildet ja die eigentliche Voraussetzung
der Folgerichtigkeit, mit welcher hier das Sein durch die Negation von
Eigenschaften der sinnlichen Welt umschrieben wird5 •
Die Prädikate, welche Parmenides dem wahren Sein verleiht, sind vor
allem in dem großen Fragment 8 zu finden. Es ist unvergänglich (dveOAE&pOV),
weil ungeboren (dysv'Y)'t"oV), ein Ganzes (OVAOV), einzig ([J.OUVOYEVSC;),
unerschütterlich (d't"PE(J.SC;) und zeitlich unbegrenzt (d't"EAEa't"ov). Als
einheitliches, homogenes Wesen steht es über dem Zeitablauf. Es ist
unte,ilbar (01) ~~oc~pE't"6v) und innerlich ganz gleichartig, unbeweglich
(dKtV'Y)'t"OV), unverletzlich (aauAov) und ohne Anfang und Ende (avocpxov,

1 Das Erhabensein über die Bedürftigkeit ist eines der wesentlichsten


"negativen" Prädikate des Göttlichen; vgl. E. NORDEN: Agnostos Theos,
S.13f. Später wird dieser Gesichtspunkt von PLOTIN als entscheidendes
Argument in den Erörterungen über das Wesen des "Einen" gebraucht.
2 W. JAEGER: Theologie, S. 107ff. hat in einer feinsinnigen Analyse unter
Kritik gegenteiliger Auffassungen die religiösen Motive der Philosophie des
Parmenides klargelegt. Er hebt mit Recht hervor, daß das Grunderlebnis
der Hinwendung zur verborgenen Wahrheit sein "Urbild in der Frömmigkeit
der Weihen und Mysterien" hat, daß die Sprache des Philosophen manchmal
an die religiöser Erweckungsreden anklingt und daß die "philosophische
Schule" in ihrem Ursprung eine säkularisierte Form religiöser Konventikel
ist (8.114). Wenn er im Hinblick auf das Fehlen eines persönlichen Gottes
die "Ontologie" des Parmenides zwar nicht direkt als Theologie bezeichnet,
so spricht er doch von einem "Mysterium des Seins" (S. 125). Schließlich
bemerkt er mit Recht, daß "alle Eigenschaften (des Seienden) durch die
Negation von Eigenschaften der sinnlichen Welt gewonnen sind" (S.124).
3 P.-M. SCHUHL: Essai, S.285: "Parmenide emprunte la forme de son
poeme aux revelations mystiques." - Zum Motiv der Himmelfahrt im Streit-
wagen vgl. H. P. L'ORANGE: Studies, S. 101, 112, 119, 122, 126ff. u. a.
, 0. GIGON: Ursprung, S.281.
6 W. JAEGER: Theologie, S.124.

Topitsch, Metaphysik.
114 Der Kosmos der Philosophie

U7tlXUCJ"t"OV). Stets mit sich identisch ruht es in sich selber. So konstituiert


der Denker den Begriff des Seins, indem er diesem alle jene Eigenschaften
abspricht, welche in der empirischen Wirklichkeit als wertwidrig emp-
funden werden. Eigenartigerweise ist aber das Sein nicht unbegrenzt,
denn die Unabgeschlossenheit ist für Parmenides ein Mangel, der mit der
postulierten Vollkommenheit und Mangellosigkeit unvereinbar ist (B 8,
32f.) :
OVVEXEV OUX UTEAE1J-r'Y)'rOV 'ro EOV &E(.LL~ EtvaLo
fcrn rapoux bnaEUEC;' [fL~l EOV a'av 1'CaVTOC; EaEi:'rOo
Vielmehr ist das Sein abgeschlossen nach allen Seiten hin, vergleichbar
der vollkommensten Gestalt, der Kugel (B 8, 43f.). So bleibt trotz der
vielen negativen Prädikate ein letzter Rest von Anschaulichkeit erhalten,
freilich nicht infolge irgendwelcher erkenntnismäßiger Überlegungen,
sondern auf Grund einer typisch hellenischen Werthaltung, der Abneigung
gegen das schlechthin Gestaltlose.
Doch die Erhebung des "Seins" über die Welt des "Sinnenscheines"
geht bei Parmenides so weit, daß es ihr beziehungs- und funktionslos
gegenüberstehtl. Es ist kein Weltgrund, der das empirische Universum
bewegt, gestaltet oder aus sich entläßt. Es ist nicht der "Baustoff", aus
dem die Dinge entstehen und bestehen, aber auch nicht ihr "Bauplan",
ihr normatives Urbild, wie später die platonische Idee oder - in dynami-
scher Fassung - die aristotelische Entelechie. Ja, das Sein hat selbst
das Königsrecht aller Weltprinzipien, die Herrschaft, an die kosmische
Göttin, die aatfLwv ~ miV'ra XUßEPV~ (B 12, 3), abgegeben. So wird
durch das Sein des Parmenides im Grunde genommen gar nichts erklärt,
aber dem Philosophen geht es ja letztlich nicht darum, die Erfahrungswelt
zu erklären oder zu verklären, sondern sich über das Irdisch-Unvoll-
kommene zu erheben2 •
Wo jedoch von der Weltordnung (aLaxocrfL0C; B 8, 60) die Rede ist,
dort begegnen uns wieder die bekannten Modellvorstellungen. Die kosmi-
sche Göttin, eine Venus Urania, steuert oder beherrscht das Geschehen,
indem sie die Geschlechter zueinander führt und so den Bestand des
Lebens sichert. Der erste Gott, den sie geschaffen hat, ist Eros (B 13).
Neben diesen biomorphen Mythologemen, die vielleicht durch Hesiod
angeregt sind, deuten sich technomorphe an, etwa wenn das Weltall
aus konzentrischen Ringen von leichtem Feuer und schwerer Finsternis
besteht (B 8, 56f., B 12). Im allgemeinen folgt die Lehre des Parmenides
über Entstehung und Aufbau des Scheinkosmos, so weit wir aus den
spärlichen Unterlagen entnehmen können, ungefähr der Linie der älteren
Naturphilosophie3 • Keinen Platz innerhalb der wertirrationalen Welt
des Scheins hat das Prinzip der Gerechtigkeit: Dike steht an ihrer Grenze
und bewahrt die Schlüssel der Pforte zur Wahrheit und zum Sein (B 1,14).

1 P.-M. SCHUHL: Essai, S. 293/294.


2 Im Grunde hatte die Logoslehre HERAKLITS eine ähnliche Funktion,
vgl. unten, S. 119.
3 Versuch einer Rekonstruktion bei O. GIGON: Ursprung, S. 271ff.
Der Kosmos der Philosophie 115

Mit der Charakterisierung des "wahren Seins" durch die erwähnten


negativen Umschreibungen verbindet sich aber jene große logische Ent-
deckung, an der sich Parmenides geradezu berauscht, ohne noch ihre
Tragweite und ihre Grenzen abschätzen zu können, nämlich die unanfecht-
bare Wahrheit des analytischen Satzes, daß das Seiende ist und das
Nichtseiende nicht ist. Allein genau insofern dieser Satz analytisch und
daher notwendig wahr ist, ist er auch inhaltslos. So führt der in seiner
Radikalität und Folgerichtigkeit bewundernswerte Versuch schließlich
in eine Sackgasse: in die Leerheit des bloß negativen Ausdrucks und die
Leerheit der Tautologiel .
In schroffem Gegensatz dazu trägt das Weltprinzip des Heraklit
einen ausgesprochen intentionalen Charakter und besitzt eine ganze Reihe
von Prädikaten, zumal das einer unbeschränkten Herrschaftsgewalt.
Als Logos Kosmokrator - um diesen jüngeren Ausdruck zu gebrauchen -
regiert und bewirkt es alles Weltgeschehen2 • Der Logos hat oder ist (B 41)
die Einsicht (YWO(l'Y), die alles durch alles lenkt (EXUßEPV'Y)O'e:). Er ist
(B 64ff.) das vernunftbegabte Feuer (7tÜP CPPOVL(lOV), welches das Weltall
steuert (ol.lXxi~e:L, XIX't'e:U&UVe:L) und Träger der Weltregierung oder
-verwaltung (8LOix'Y)O'L<; 't'wv Ö"CUV, vgl. B 72) ist, indem es die Dinge
richtet (XpLVe:L) und verurteilt3 •
Schon vor einem halben Jahrhundert hat Karl Joel nachdrücklich
auf den soziomorphen Charakter des heraklitischen Weltbildes hinge-
wiesen. Der Logos "beherrscht die Welt wie ein Gebieter die Menschen ...
durch und als 8ix'Y) und vO!J.o<;, (lE't'POV und ,,6yo<; ... Lenker, Vernunft,
Streit, Recht, Gesetz, Maß, Wort - das sind die Begriffe und Termini,
durch die Heraklit die Welt erklärt und bestimmt. Sie sind gewählt
aus einer politisch-moralischen Auffassung der Welt'''. Der Weltlauf
hat seine ewigen Maße in Werden und Vergehen, und die Sonne wird die

1 Schon hier zeigt sich die crux der "negativen" Ontologie, Metaphysik
oder Theologie, nämlich daß ihr numinoses "Ursein" usw. einerseits über
alle beschränkende Bestimmbarkeit erhaben und höchstens negativ um-
schreibbar sein, andererseits aber doch in irgendeiner bestimmbaren, wesentlich
werthaften Beziehung zum Menschen stehen soll, da ja eine solche Lehre
den Menschen nur dadurch überhaupt ansprechen kann, daß sie ihm eine
derartige Beziehung als HeilSvermittlung verheißt. .
2 Bei HERAKLIT ist mit der Möglichkeit zu rechnen, daß jüngeres und
zumal stoisches Gedankengut in die unter seinem Namen überlieferten
Lehren eingedrungen ist. Dadurch kann manches, was als Vorwegnahme
späterer Entwicklungen erscheint, in Wirklichkeit Einschub oder Umdeutung
aus der Spätantike sein. So wichtig diese schwierigen Fragen für eine rein
historische Untersuchung sind, können sie doch bei der Behandlung der hier
im Vordergrund stehenden systematischen Probleme zurückgestellt werden.
Vgl. H. GOMPERZ: Heraclitus of Ephesus, in der Sammlung "Philosophical
Studies", S. 88ff.
3 Als Belegstelle für die richterliche Funktion des Feuers zieht GIGON
(Ursprung, S. 215) auch das Frgm. 16 heran: dem kosmischen Feuer entrinnt
kein übeltäter.
4 K. JOEL: Naturphilosophie, S. 86f. - Zur Idee der kosmischen Rechts-
ordnung bei HERAKLIT vgl. auch A. MENzEL: Heraklits Rechtsphilosophie,
im Sammelband "Hellenika", Wien 1938, S. 125ff., bes. S. 128ff.

S'
116 Der Kosmos der Philosophie

ihren nicht überschreiten, sonst würden die Erinnyen, der Dike Hellerinnen,
sie zu fassen wissen (B 94). Wieder begegnen wir hier dem "Weltgesetz",
das den Naturobjekten und zumal den Himmelskörpern ihr Verhalten
vorschreibt. Am auffälligsten ist aber wohl die Parallele zwischen dem
Gedanken der Bestrafung unbotmäßiger Gestirne bei Heraklit und im
Henoch-Buch (vgl. oben, S.48). Die Vorstellungen von den Rhythmen
des kosmischen Geschehens werden aber nicht nur durch rechtliche,
sondern auch durch wirtschaftliche Modelle mitbedingt. Der periodische
Wechsel der Auflösung des Alls in Feuer und der Entstehung des Alls
aus dem Feuer spielt sich ab wie der wechselseitige Umsatz (aV't'ex!LOLß~)
von Gold gegen Waren und von Waren gegen Gold (B 90). Vielleicht steht
auch hinter diesem ökonomischen Gleichnis eine rechtlich-moralische
Idee, nämlich daß sich der Tausch nach einem gerechten Grundsatz
vollzieht. Für diese Annahme spricht auch eine andere soziomorphe
Deutung des Wechsels zwischen Urfeuer und entfaltetem All. Der Feuer-
zustand wird nämlich (B 65) als Überfluß (x6po<;), der Kosmoszustand
als Bedürftigkeit (XP"I)(j!Locruv"I) betrachtet. Diese Ausdrücke sind dem
Bereich der sozialökonomischen Dynamik entlehnt. Bedürftigkeit strebt
nach Reichtum, während umgekehrt Reichtum in Bedürftigkeit um-
schlagen kann, und der Wechsel beider mag als gerechter Ausgleich
angesehen werden. Nach Gigon kann "die Bedürftigkeit bei Heraklit
geradezu als die Buße gelten für das Unrecht, das der Kosmos im Zustande
des Überflusses begeh tl " .
So bietet sich uns bei Heraklit die soziomorphe Interpretation des
Universums in einer besonders eindrucksvollen Form 2 • Er faßt die ganze
rechtliche Symbolik seiner Vorgänger in Begriffe eines allbeherrschenden
kosmischen und göttlichen Gesetzes zusammen3 • Den entscheidenden
Schritt über die älteren Denker hinaus vollführt er aber, indem er dieses
"Weltgesetz" mit den Gesetzen der menschlichen Gemeinschaften in
Beziehung bringt. "Alle menschlichen Gesetze nähren sich aus dem einen
göttlichen. Denn es gebietet (Xpex't'EL), so weit es will (e.&EAEL), und genügt
allem und siegt ob allem" (B 114). Hier finden wir in der griechischen
Philosophie zum erstenmal deutlich ausgeprägt den eigenartigen Vorgang
der Rückbeziehung soziomorpher Projektionen auf die Gesellschaft, der
im Mythos so häufig zu beobachten ist. Das vermeintlich im Kosmos
waltende Gesetz wird seinem Urbild, dem Gesetz des Staates, übergeordnet.
Wie Werner Jaeger treffend formuliert hat, wird "der Kosmos der Natur-
philosophie in rückläufiger Bewegung der geistigen Entwicklung jetzt
zum Urbild der Eunomie in der menschlichen Gemeinschaft, in ihm wird
die Polisethill: metaphysisch verankert4 ". Mit dieser normativen Rück-

1 o. GIGON: Ursprung, S.211.


2 O. GrGON: Ursprung, S.198.
3 W. JAEGER: Theologie, S. 134.
4 W. JAEGER: Paideia I, S.232. - Den Vorgang von Projektion und
Reflexion sozialer Modellvorstellungen beobachtet auch Ä. VERDRoss-DROSS-
BERG: Grundlinien der antiken Rechts- und Staatsphilosophie, Wien 1946,
S.25.
Der Kosmos der Philosophie 117

wendung haben wir eines der großen Themen der traditionellen Philosophie
erreicht, die Idee der lex naturalis, der absoluten oder kosmischen Rechts-
ordnung, welche Quelle und Maßstab aller menschlichen Gesetze sein
SOlll.
Doch der Weltlogos ist für Heraklit nicht eine bloße Gesetzesnorm,
sondern zugleich auch eine willensbegabte, den gesamten Weltlauf
beherrschende und verursachende Macht 2 • Kultursoziologisch 'wird man
dies wohl dadurch erklären können, daß der Nomos der griechischen Polis
als Deutungsschema des Universums mit dem Gottkönigtum der orien-
talischen Weltherrscher verschmolzen ist. Vom systematischen Standpunkt
gesehen, liegt nun in der Vorstellung eines Weltprinzips, das zugleich
Allursache und oberste Norm ist, ein grundsätzlicher Widerspruch. Der
Begriff der Norm setzt voraus, daß der Normadressat dem Gesetzgeber
als ein selbständig handelndes Wesen gegenübersteht, das unter Umständen
die Vorschrift auch übertreten kann. Die Allursächlichkeit des Welt-
prinzips, das ja in diesem Falle auch sämtliche Entschlüsse des Norm-
adressaten verursachen muß, hebt jedoch eben diese Voraussetzung auf.
Heraklit hat diese Schwierigkeit allerdings nicht erkannt und ausführlich
behandelt, sondern nur mehrfach gestreift. So klagt er darüber, daß die
Menschen sich um den Logos nicht kümmern, obwohl alles nach diesem
geschieht (B 1, B 2, B 72). Diese und verwandte Stellen sind allerdings
nicht ganz eindeutig. Sie können besagen, daß der Mensch den Sinn
oder die Norm, die im Weltgesetz beschlossen liegt, verfehlen kann und
oft auch wirklich verfehlt; aber sie können auch andeuten, daß die Men-
schen immer unbewußt nach diesem Sinne und Gesetze oder dieser N ot-
wendigkeit handeln und nur die bewußte Formulierung dieses Prinzips
nicht erkennen oder anerkennen (z. B. B 17, B 71, B 73). Im ersteren
Falle hat das Individuum eine gewisse Unabhängigkeit und das Welt-
prinzip ist nicht allmächtig und allursächlich, im anderen verwirklicht
eine Art "List der Vernunft" ihre Ziele durch das Handeln der Menschen,
die nichts von ihr wissen und wissen wollen. Möge es sich aber damit ver-
halten wie immer: wir stehen hier am Ursprungspunkt eines weiteren
Problems, welches das philosophische Denken durch Jahrtausende
beschäftigt hat, nämlich die Frage nach der sogenannten Willensfreiheit,
die ja für die metaphysisch-theologische Tradition vor allem das Ver-
hältnis zwischen dem Wollen des Menschen und dem des göttlichen Welt-
prinzips betraf3.
Doch die Auffassung des Kosmos als eine nach ethisch-politischen
Wertgesichtspunkten orientierte Ordnung führt, wenn man sie folgerichtig
durchdenkt, zu einer weiteren Rätselfrage. Wenn nämlich im Universum
ein guter und gerechter Logos wie ein Gesetz alle Dinge regelt oder wie
ein vollkommener Herrscher mit unbeschränkter Macht waltet, dann ist

1 Eine gute Übersicht über die Entwicklung dieses Problems gibt H. WEL-
ZEL: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 1951.
2 W. JAEGER: Theologie, S.146.
3 Dies wird besonders deutlich in der Darstellung von H. GOllfPERZ;
Das Problem der Willensfreiheit, Jena 1907.
118 Der Kosmos der Philosophie

es unbegreiflich, daß die Menschen in ihren tatsächlichen Schicksalen


so viel bitteres Leid und so viel empörende Ungerechtigkeit erleben.
Diesen Widerspruch zwischen der Idee eines gerechten Weltlogos und der
Wertirrationalität des tatsächlichen Weltlaufes hat Heraklit offenbar
auch schon empfunden und zu überwinden getrachtet. Seine Lösungs-
versuche gehen vor allem in zwei Richtungen. Entweder ist das Wert-
widrige als Bestandteil einer umfassenden "Harmonie" notwendig und
dadurch gerechtfertigt oder es ist ein bloß vordergründiger Schein und
darum in tieferem Sinne unwirklich.
Auch in der Auseinandersetzung mit diesem Problem sind Kosmisches
und Moralisches unlösbar miteinander verbunden. Das Prinzip des
Kampfes und der Harmonie der Gegensätze durchdringt das gesamte
Universum. Wie es ohne hohe und tiefe Töne keine Harmonie gibt, so
gibt es kein Leben ohne die Polarität von Männlichem und Weiblichem
(A 22), so verwirklicht sich der Weltlauf im Ringen und der auf~inander­
folgenden Vernichtung der Elemente - "es lebt das Feuer der Erde
Tod und die Luft lebt des Feuers Tod, das Wasser lebt der Luft Tod,
die Erde den des Wassers" (B 76) - und so erfolgt alles Geschehen
auf dem Wege des Streites (B 8), der letztlich auch alle Gemeinschaft
begründet: "Man muß wissen, daß der Kampf das Gemeinsame ist und
das Recht der Streit, und daß alles Geschehen vermittels des Streites
und der Notwendigkeit erfolgt" (B 80). Überhaupt ist anzunehmen,
daß die vielerörterten Gedanken der concordia discors, der coincidentia
oppositorum und das so oft mißverstandene Wort vom "Krieg als Vater
aller Dinge" wenigstens zum Teil aus dem Versuch hervorgegangen sind,
die "kosmische Gerechtigkeit" mit dem Faktum des Leides und der
Ungerechtigkeit im menschlichen Leben zu vereinbaren.
Aber die kosmische Harmonie ist nicht ohne weiteres erkennbar. Sie
liegt verborgen im Hintergrund des Weltgeschehens, das nur für eine
vordergründige Betrachtung als wertirrational erscheint, aber sie ist um
so mächtiger: "Geheime Harmonie ist stärker als offenkundige" (B 54).
Von diesem Standpunkt ist es aber nur mehr ein weiterer Schritt zur
Behauptung, die menschlichen Wertgesichtspunkte seien selbst bloß
vordergründig und das Göttliche sei nicht an sie gebunden: "Für Gott
ist alles schön und gut und gerecht; nur die Menschen halten das eine
für ungerecht, das andere für gerecht" (B 102). So werden die ethischen -
aber auch andere (B 9, B 37, B 61 usw.) - Wertmaßstäbe relativiert,
um den Glauben an eine gerechte göttliche Weltordnung oder Weltregie-
rung vor Kritik zu schützen. Auch dieses Motiv ist im Mythos bereits
weitgehend vorgebildet. Schon in Babylonien hat manl ja die Götter
gerechtfertigt und gegen Vorwürfe geschützt, indem man behauptete, die
menschlichen Anschauungen über Gut und Böse, Gerecht und Ungerecht
seien für sie nicht maßgebend_ So zeigt es sich, daß die Philosophie nicht
nur von vielen Voraussetzungen ausgeht, die tief im vorphilosophischen
Denken wurzeln, sondern daß selbst ihre Probleme und Lösungsversuche

1 H. FRANKFORT: Intellectual Adventure, S.215.


Der Kosmos der Philosophie 119

manchmal von diesem vorweggenommen wurden. Am wenigsten über-


raschend ist dies ja bei einer so grundsätzlichen und erregenden Frage
wie dem Widerspruch zwischen der behaupteten Wertrationalität und der
tatsächlichen Wertirrationalität des Weltlaufes, der als Problem der
Kosmodizee oder Theodizee die Philosophen noch zwei Jahrtausende
nach Heraklit beschäftigen sollte.
Die prinzipiellen Schwierigkeiten, die einer Lösung dieses Problems
entgegenstehen, haben sich allerdings erst im Laufe der späteren Ent-
wicklung gezeigt. Sie können hier noch nicht behandelt werden. Doch schon
bei Heraklit wird es deutlich, daß die Idee der Harmonie der Gegensätze
und der Überwindung des Dualismus von Gut und Böse in Gott die ganze
Fragestellung aus dem Bereich des ethischen Urteilens und Handelns
in die Sphäre einer ästhetischen Kontemplation verschiebt. Der betrach-
tende Philosoph nimmt nicht mehr wertend und handelnd Anteil am
Geschehen, er steht selbst nicht mehr in, sondern über den Kämpfen
und Leiden dieser Welt. So verlieren für ihn auch die ethisch-politischen
Normen und Entscheidungen jenen letzten Ernst, den sie für den tätigen
Menschen besitzen. Aber der Denker kann sich nur in seinen Spekulationen,
nicht aber in seinem wirklichen Leben über die Welt als Stätte mensch-
lichen HandeIns und Leidens erheben und in seliger Kontemplation
verharren. Auch er muß Entscheidungen treffen, einfach indem er lebt,
und hält sich dabei an irgendwelche Richtlinien. Das Ringen um die
gedankliche und praktische Bewältigung dieses eigentümlichen Zwiespaltes
hat tief in die Gestaltung der traditionellen Philosophie eingegriffen.
So darf man abschließend sagen, daß die intentionale und zumal
soziomorphe Deutung der Welt von HerakIit mit einer Folgerichtigkeit
durchgeführt und in ihrer inneren Problematik durchdacht worden ist,
die erst wieder im Hellenismus erreicht werden sollte. Diese großartige
Schau des Universums als einheitliche, von einem einzigen, gedanken-
mächtigen Prinzip durchwaltete Herrschaftsordnung übertrifft in ihrer
Art selbst die Leistungen eines Platon und Aristoteles. Freilich fehlt
bei Heraklit wie sonst so oft bei den Vorsokratikern die intentionale
Deutung von Einzelerscheinungen. Wo er überhaupt physikalische
Kosmologie betreibt, dort halten sich seine Erklärungsversuche durchaus
im Rahmen der herkömmlichen Vorstellungen, etwa wenn er die Gestirne
als verdichtete feurige Dünste betrachtet (A 1, A 11, A 12). Erst Platon
und zumal Aristoteles haben auch für die Einzeldinge vorgegebene
"Baupläne", normative Urbilder, angenommen.
Ir
Die umfassende Deutung des Alls nach intentionalen und besonders
gesellschaftlichen Modellvorstellungen, wie sie Heraklit und andere
Vorsokratiker vollzogen hatten, wurde aber zunächst nicht fortgeführt
und weiterentwickelt. Mit der Sophistik änderte sich die Interessenrichtung
der Denker. Man stellte die naturphilosophischen Spekulationen zurück,
man deutete nicht mehr den physischen Makrokosmos nach Analogie
des sozialen Mikrokosmos, sondern wandte sich direkt der Kultur und
120 Der Kosmos der Philosophie

Gesellschaft zu. Diese waren gerade zu jener Zeit in rascher, ja stürmischer


Umbildung begriffen. Durch das Heraufkommen der Demokratie war die
Stellung des Adels und der Stadtpatriziate ins Wanken geraten, die
Ordnungen der aristokratischen Ethik und der alten Polis-Isonomie
waren in Frage gestellt. Die altehrwürdigen Traditionen wichen im
fünften Jahrhundert differenzierteren, aber weniger stabilen Lebens-
formen. Die Kulturkrise, die sich in diesen Entwicklungen anbahnte,
fand durch die Erschütterungen des Peloponnesischen Krieges und den
schließlichen Zusammenbruch Athens ihren Höhepunktl.
Diese fortschreitende Auflösung der sozialen Bindungen und ethischen
Normen hat nicht nur in dem moralischen Relativismus der Sophisten
ihren Niederschlag gefunden. Auch in der Tragödie, der vollkommensten
Ausprägung des hellenischen Lebensgefühles jener Epoche, zeigen sich
ihre Spuren. Die Dramen des Aischylos sind noch vom Glauben an eine
wertrationale Weltordnung getragen, die durch das Walten eines gerechten
göttlichen Weltherrschers verbürgt ist. Wohl gibt es Schmerz und Schuld,
aber Zeus führt die Menschen durch Leiden zur Läuterung und Erkenntnis,
die Spannungen und Kämpfe finden ihren Ausgleich in der auch für
den Menschen einsichtigen apllovLoc ~L6~2. Auch Sophokles glaubt an
eine göttliche Weltordnung, aber ihr Sinn enthüllt sich dem Menschen
nicht3 • Sogar das reinste Streben kann am unerforschlichen Willen der
Gottheit scheitern, der nicht an den Maßstäben menschlicher Werturteile
gemessen werden darf, sondern in Demut getragen werden muß4. Doch
die Leugnung der Erkennbarkeit einer kosmischen Gerechtigkeit führt
hart an die Bezweiflung ihrer Existenz. Damit aber ist das sittliche Urteil
der Menschen von der göttlichen Bevormundung befreit und kann sich
scharf gegen den Mythos richten. Wenn Götter Böses tun, dann sind sie
keine Götter - so urteilt Euripides5 • Doch er zweifelt auch an einem
allgemein verbindlichen Maßstab für Gut und Böse6 • Eine endgültige
Stellungnahme zu diesen Fragen finden wir bei Euripides nicht. Teils
klingt noch der Glaube an ein "Weltgesetz" nach, teils aber kündigt sich -
zumal in den späteren Dramen - die resignierte Ergebung in das launen-
hafte Spiel der Tyche an7 • So weicht in der großen Dichtung der Griechen
die Idee des wertrationalen Kosmos der Einsicht in die Wertirrationalität
des faktischen Weltlaufes, in dem der handelnde und leidende Mensch
auf sich selbst gestellt bleibt und seine Ziele und Ideale dem eigenen
Wollen entnehmen muß.
Zunächst war also jede Möglichkeit geschwunden, die Sozialordnung
durch Berufung auf die kosmische Ordnung zu stützen oder zu restaurieren.

1 W. JAEGER: Paideia I, S.364ff., 370f.


2 AISCHYLOS: Prometheus V. 551.
3 A. LESKY: Die griechische Tragödie, Stuttgart 1938, S.91, I03f. -
O. DITTRICH: Geschichte der Ethik, I. Bd., Leipzig 1926, S.88.
4 SOPHOKLES: Frgm. 226, 4: octaXpov yap ou8ev cliv uqJ1JYOiiVTOCL .&C:OL.
5 EURIPIDES: Frgm. 292, 7: d .&C:OL TL BQö"laLV octaXpov, OUK dalv .&c:0L.
8 EURIPIDES: Frgm. 19: TL B' octaXpov, ~v !Li} 'l"OiaL XPcO!LEVOL<; BOKn;
7 Vgl. etwa Troad, 883ff. und Hec. 488ff.
Der Kosmos der Philosophie 121

Aus dieser Situation sind die Werke zweier Denker hervorgegangen, die
völlig entgegengesetzte Wege einschlugen. Thukydides und Platon. Der
Historiker, der mit tiefem Ernst und männlicher Herbheit der Wert-
irrationalität des Weltlaufes ruhig ins Auge schaut und aus der geschicht-
lichen Erfahrung allgemeine Erkenntnisse über das tatsächliche politische
Handeln der Menschen gewinnen will, ist zum Begründer einer empirisch-
rationalen Erforschung von Geschichte und Gesellschaft geworden, doch
hat weder das wissenschaftliche Werk noch die gesamte Weltauffassung
dieses Mannes, der Erkenntnis und nicht Erbauung oder Ideologie suchte
und gab, direkte Nachfolge gefunden. Um so größer war die geschichtliche
Wirkung des Philosophen, der sich selbst und den Menschen über jene
Wertirrationalität hinwegzuhelfen strebte. Von logischen Unterscheidungs-
künsten bis zum orientalischen Mythos, von der Mathematik bis zur
Jenseitsreligion greift Platon zu jedem Mittel, das zu diesem Zweck
geeignet sein könnte. Er baut sein Ideenreich auf, welches in gleicher
Weise letzte Richtlinien für eine aktive pädagogisch-politische Welt-
gestaltung und letzte Geborgenheit für eine kontemplative, mystisch-
religiöse Weltflucht garantieren sollte. Schließlich nahmen seine späteren
Werke die soziomorphe und technomorphe Deutung des Kosmos, wie sie
die Vorsokratiker geübt hatten, in einer weiter ausgestalteten Form wieder
auf. So mündet auch das platonische Denken zuletzt in den großen Strom
der Kosmosspekulation ein, die in der Spätantike ihre größte philosophische
Wirksamkeit erreichen sollte.
In seinen Frühschriften benützt Platon jedoch keine intentionalen
Modelle. Vielmehr will er durch begriffliche Präzisierung möglichste
Klarheit in der so verworrenen moralischen und moraltheoretischen
Situation seiner Gegenwart gewinnen und erhofft davon letztlich auch eine
Neubegründung der normativen Ethik. Aber sein Ringen um dauernde,
von allem historischen Wandel unabhängige moralische Normen mußte
ihn weit übel' den Bereich deskriptiver Allgemeinbegriffe hinausführen,
und noch vielmehr sein leidenschaftliches Aufbegehren gegen die Wert-
irrationalität des faktischen Weltlaufes. Ja, diese Wertirrationalität
konnte nicht einmal durch absolute Normen überwunden werden, son-
dern - wie Platon glaubte - nur durch den Aufbau einer illusionären
wertrationalen Welt, die sich als "wahre "\Virklichkeit" der zum "Sinnen-
schein" depotenzierten menschlichen Lebenswirklichkeit überordnen ließl.
Im Dienste diesel' Zielsetzungen, die zwar aus einem einzigen Motiv
entstammten, aber doch untereinander verschieden waren, wurden ver-
schiedene Elemente in die platonische Ideenlehre einbezogen, welche
dadurch ihren eigenartig schillernden Charakter erhielt. Das Streben
nach einem absolut sicheren, erfahrungsunabhängigen Wissen führte den
Philosophen zur Mathematik, die aber - in pythagoreischem Sinne mit
der Musik und der Vorstellung der Harmonie ver bunden - eine ästhetische
und ethisch-pädagogische Bedeutung empfing, die der modernen Auf-

1 H. KELSEN: Die platonische Gerechtigkeit, "Kant·Studien" XXXVIII


(1933), S. 93.
122 Der Kosmos der Philosophie

fassung dieser Wissenschaft fremd ist. Für unser Thema wichtiger ist
jedoch eine andere Entwicklungsrichtung, welche den intentionalen
Vorstellungen immer größeres Gewicht verleihen sollte.
An manchen Stellen erscheint die Idee als einheitlicher Begriff für
jede Vielheit von Einzeldingen, die den gleichen Namen tragen (z .B. Pol.
507 B, 596 A). Doch neben und vor die Idee als Begriff schiebt sich die
Idee als Musterbild. Überall dort, wo es um die Begründung eines Sollens
oder um den Aufbau einer wertrationalen Idealwelt geht, ist die Idee
normatives Urbild (7t",pci8e~Y!L"')' die Sinnendinge sind ihre unvoll-
kommenen Abbilder.
Das wichtigste Muster einer Beziehting zwischen Urbild und Abbild
ist aber wohl die zwischen Werkplan und Werkstück. Schon in der
"PoIiteia" vollzieht sich der Übergang von der Idee als Allgemeinbegriff
zur Idee als Normgestalt mit Hilfe technomorpher Vorstellungen. Die
Idee des Tisches oder Bettes ist nicht bloß der Inbegriff der gemeinsamen
Eigenschaften aller Tische oder Betten, sondern auch das Muster, auf
welches der Verfertiger dieser Gegenstände bei deren Herstellung blickt.
Der menschliche Handwerker kann allerdings die Idee selbst nicht
schaffen, denn sie stammt von Gott (Pol. 596 B-597 C). Doch nicht
immer erscheint Gott als Schöpfer der Ideen, vielmehr werden sie auch als
an sich seiende, ungeschaffene und von Natur bestehende Urbilder auf-
gefaßt, wie etwa das Muster des Weberschiffchens, von dem im "Kratylos"
(389 B) die Rede ist. Am technomorphen Charakter dieser Vorstellungen
ändern solche Unterschiede nichts. Er ist so stark und so deutlich aus-
geprägt, daß Hans Leisegang in ihm geradezu den Kern der idealistischen
Weltanschauung erblickt hat: "Suchen wir nach dem Urphänomen, aus
dem das idealistische Denken entspringt, so liegt es in den Werken
Platons überall offen zutage. Immer ist es das handwerkliche und künst-
lerische Schaffen, an dem sich Platon orientiert und aus dem er seine
Beispiele entnimmt. Ob der Tischler ein Gerät wie den Webstuhl her-
richtet, ein Baumeister ein Haus baut, immer schaffen sie nach einem
Plan, nach einer ,Idee', haben den Stoff sich gegenüberliegen, um ihn
nach einem geistigen Urbild zu formen und zu gestalten. Der Weltschöpfer
selbst wird schließlich bei Platon zum ,Demiurgen', zum Handwerker,
der auf die Ideenwelt hinblickend als auf einen geistigen Weltplan die
körperliche Welt im Raume konstruiert und im Stoff entstehen läßti."
Mag diese Interpretation auch nicht für alle Ausprägungen der Ideenlehre
zutreffen, so doch zweifellos für ihre charakteristischeste und vor allem
geschichtlich wirksamste Form.
Die Deutung der Welt als Werk eines Bildnergottes (wie man wohl
richtiger statt "Weltschöpfer" sagt), der sie nach ewig gleichbleibenden
Musterbildern gestaltet, wird besonders in den Spätwerken Platons

1 H. LEISEGANG: Denkformen, 2. Aufl., Berlin 1951, S.450. - über die


Zusammenhänge zwischen Idealismus und Arbeitsplanung vgl. auch O. BAUER:
Das Weltbild des Kapitalismus, in: "Der lebendige Marxismus", Festgabe
zum 70. Geburtstag v. K. KAUTSKY, Jena 1924, bes. S.410ff.
Der Kosmos der Philosophie 123

breit ausgeführt. Der göttliche Werkmeister taucht aber schon früher


auf. Bereits im "Sophistes" sieht und sucht der Denker in der ganzen
Natur die '&e:La 'T:EXV..,.? und verfolgt die Spuren des .&:::OC; ~'Y)[Lwupy&v bis
ins Anorganische hinab (265 Cl. In der "Politeia" gelten die menschlichen
Sinnesorgane als Produkte einer göttlichen Kunstfertigkeit (507 Cl.
Seinen Höhepunkt erreicht der Glaube an den Weltbildner aber im
"Timaios" .
In diesem Werk, dessen Wichtigkeit für die Einsicht in die mythischen
Hintergründe des platonischen Denkens erst allmählich erkannt wird 2 ,
ist die intentionale Deutung des Universums in einem bis dahin unbe-
kannten Umfange ausgeführt. Die Welt wird in ihrer Gesamtheit wie in
ihren Einzelheiten als Erzeugnis künstlerisch-handwerklicher Fertigkeit
aufgefaßt, wodurch ihr ein ästhetisch-moralischer Wertgehalt unterlegt
wird, was ermöglicht, daß umgekehrt wieder ethische Normen in der
Struktur des Kosmos eine Scheinbegründung finden.
Die enge Verbindung von technomorpher Erklärung und werthafter
Deutung der Dinge ist im "Timaios" besonders augenfällig. Der Demiurg
verfertigt nämlich die Welt (28 Aff.) nach ganz bestimmten, ausdrücklich
angegebenen Wertgrundsätzen. Sie soll dem Schönsten und in jeder
Beziehung Vollkommensten, das die Vernunft sich denken kann, so
ähnlich wie möglich sein (30 D). Ihr Gefüge ist durch Proportionen
bestimmt (31 Cl, und zumal die Entfernungen der Planeten von der Erde
stehen - ähnlich wie bei Anaximander - in einem harmonischen Zahlen-
verhältnis (35 Bff.), so daß der Kosmos als ein großes musikalisches
System erscheint, dessen Abmessungen gewissen Intervallen der Tonleiter
entsprechen. Um dem vorausgesetzten Postulat der Perfektion zu genügen,
gibt der kosmische Werlaneister der 'Velt eine kugelförmige Gestalt,
denn diese ist die vollkommenste (33 B). Wenngleich das Universum
als kunstvoll geschaffenes Lebewesen aufgefaßt wird, so ist es doch nicht
Makroanthropos im eigentlichen Sinne des weitverbreiteten Mythos. Im
Gefolge der klassischen philosophischen Kritik an den anthropomorphen
Vorstellungen spricht Platon dem Kosmos alle jene Organe ab, deren
Besitz mit bestimmten werthaften Forderungen - der Selbstgenügsam-
keit und dem Erhabensein über die Bedürftigkeit (33 D) - unvereinbar
ist: Augen und Ohren, Atmungs- und Verdauungswerkzeuge, Hände und
Füße. Versehen mit den Wertprädikaten der Selbstgenügsamkeit und
Bedürfnislosigkeit wird das Universum zum geschaffenen, seligen Gott
(34 B). Daß ein derartiger Aufbau der Welt nach vorausgesetzten Wert-
gesichtspunkten von aller empirischen Forschung grundverschieden ist,
liegt auf der Hand.
Nach dem Muster dieses makrokosmischen Kunstwerkes wird durch
die vom Weltbildner geschaffenen Gehilfen der menschliche Körper
gestaltet (44 Cff.). Doch ist dies nur beim Kopf möglich, denn die dem

1 W. THEILER: Zur Geschichte der teleologischen Naturbetrachtung bis


auf Aristoteles, Zürich 1925, S. 69.
2 A. ÜLERUD: Timee, S. 4f.
124 Der Kosmos der Philosophie

übrigen Leibe analogen Teile waren ja dem Universum abgesprochen


worden. Der Kopf allerdings, von runder Gestalt und als vornehmster und
zur Herrschaft berufener Körperteil geltend, ist der Mikrokosmos par excel-
lencel • Die Grundvorstellung vom "Verfertigen" oder "Bauen" des
Menschen führt natürlich zu zahlreichen technomorphen Einzelvor-
stellungen, die wenigstens durch einige Beispiele illustriert werden sollen.
So ist von der Anfertigung des Schädels und der Augen (45 AjB) die
Rede und sogar davon, daß die Demiurgen zweiten Ranges (69 C) zur
unsterblichen Seele eine sterbliche Seele "hinzubauen" (7rPO(JOLxO~O(LeLv),
ja an einer Stelle (74 C) wird der Weltbildner direkt "Wachsmodelleur"
genannt. Freilich sind die technomorphen Modelle oft mit anderen ver-
mischt. Manchmal erscheint die Erschaffung des Menschen eher als ein
Akt der Organisation eines Staatswesens. Der Kopf ist die Akropolis,
der Regierungspalast, aus dem die Befehle und Aufträge kommen, und
das Herz die Kaserne einer Art von Garde oder Polizei (~opuq>oPLx11
O'{X'Yj(JL~ 70 B), welche den Weisungen der herrschenden Kräfte Gehorsam
sichert und die Begierden niederhält. Diese sind im Unterleib wie in einem
Stalle festgehalten, möglichst weit weg von den Räumen der Regierenden,
damit diese bei ihrem verantwortungsvollen Wirken nicht durch das
tierische Gebrüll der Leidenschaften belästigt werden (70 E). Aber dieser
Staat hat nicht nur gewissermaßen eine Viehzucht, sondern wohl auch
eine Landwirtschaft. Darauf deutet nämlich hin, daß das Gefäßsystem
des menschlichen Körpers den Bewässerungs- und Berieselungsanlagen
in den Gärten entsprechen soll (77 Off.).
Gewiß ist das Bild vom Menschen als "kleiner Staat" hier mit aller
dichterischen Phantasie und spielerischen Freiheit ausgestaltet. Aber die
soziomorphe Auffassung des Individuums ist bei Platon mehr als eine
bloße unverbindliche Metapher, sie besitzt vielmehr eine erhebliche
systematische Bedeutung.
Möglicherweise hat Platon die Auffassung des Menschen als Sozial-
gebilde aus dem pythagoreischen Gedankenkreis übernommen, dem ja
auch Alkmaion angehört (vgl. oben, S.103). Während aber der Arzt
nur die körperliche Gesundheit soziomorph erklärt, glaubt der Philosoph
daran, daß "Leib" und "Seele" eine Herrschaftsordnung bilden. Wenn
Leib und Seele beisammen sind, dann weist die Natur dem ersteren das
Dienen und Gehorchen, der letzteren das Befehlen und Herrschen zu
(Phaidon 79 Eff.). Allerdings muß dieses Herrschaftsrecht manchmal
gegen den Widerstand der leiblichen Begierden durchgesetzt werden
(94 B). Die Seele besitzt auch die höhere Form der Erkenntnis: rein für
sich kann sie die ewigen Ideen erfassen, während die leiblichen Sinne nur
unsichere Eindrücke von wandelbaren Gegenständen vermitteln (79 C).
Innerhalb der Seele übt wieder deren vornehmster Teil, die Vernunft,
die leitende Funktion aus (Phaidros 247 C).
Am folgerichtigsten ist jedoch die soziomorphe Interpretation der
sogenannten menschlichen Natur in der Politeia durchgeführt. Daß es

1 A. ÜLERUD: Timee, S. 23.


Der Kosmos der Philosophie 125

sich bei der dort entwickelten Lehre von den drei Seelenteilen nicht um
eine originale psychologische Theorie handelt, sondern um eine ziemlich
künstliche Übertragung eines vorausgesetzten sozialen Schemas auf das
Seelenleben, um eine "politisch-psychologische Analogie", ist bereits vor
geraumer Zeit erkannt worden. Schon 1888 hat Edmund Pfleiderer be-
hauptet: "Platon schreitet nicht von der bereits erworbenen Einsicht
in die drei Seelenteile zu der Erweiterung in der Form der drei Staats-
stände fort, sondern sein Gang ist der gerade umgekehrte, wie er es
selbst so deutlich wie möglich darstellt. Der orientierende Überblick über
die wesentlichen Bedürfnisse und Gliederungen eines natürlich-rationalen
Gesellschafts- und Staatslebens gibt ihm zuerst die drei Stände in die
Hand, und das übersetzt er nun auf Grund der Prämisse vom Parallelismus
,der großen und der kleinen Schrift' mühsam genug ins Individuell-
psychologischel ." Max Pohlenz hat die gleiche Ansicht vertreten und
dabei besonders bemerkt, daß die Lehre von den Seelenteilen nicht aus
rein psychologischen, sondern aus ethischen Interessen hervorgegangen
ist und sich ganz auf die ethisch wichtigen Funktionen beschränkt2 •
In einer eigenen Arbeit hat F. M. Cornford das Verhältnis von Seelenlehre
und Sozialstruktur in der "Politeia" untersucht und ist ebenfalls zu dem
Schluß gekommen, daß Platon den Aufbau der Seele dem Aufbau des
Staates nachgebildet hat3 •
Daß die Lehre von den drei Seelenteilen nicht aus einem deskriptiv-
psychologischen, sondern einem normativ-ethischen und politischen
Interesse entsprungen ist, geht aus Platons eigener Darstellung eindeutig
hervor: der Philosoph will die Gerechtigkeit in der Natur des Einzel-
menschen finden. Um die Untersuchung zu erleichtern, benützt er - wie
er behauptet - einen heuristischen Kunstgriff. Er fragt nicht direkt
nach der Gerechtigkeit des Einzelnen, sondern nach der des Staates,
der gewissermaßen einen "Menschen im Großen" darstellt und an dem
daher leichter erkannt werden kann, was gerecht und was ungerecht ist.
Die so gewonnenen Einsichten sollen auf das Individuum rückangewendet
werden und erhellen helfen, was bei diesem Gerechtigkeit bedeutet.
Beim Aufbau seiner Staatslehre geht Platon von einem System der
Bedürfnisse aus, die im menschlichen Zusammenleben befriedigt werden
müssen. Zunächst sind dies Wohnung, Nahrung und Kleidung, aber die
Gemeinschaft braucht auch Ordnung im Inneren, Schutz nach außen
und sachkundige Führung. Für eine angemessene Befriedigung dieser
Bedürfnisse sollen drei Stände - Nährstand, Wehrstand und Lehrstand -

1 E. PFLEIDERER: Zur Lösung der Platonischen Frage, Freiburg 1888,


S.24. - ders.: Sokrates und Plato, Tübingen 1896, S. 233: "Von letzterer
(der Dreiteilung der Seele) haben wir uns überzeugt, daß sie nicht eigentlich
auf psychologischem Boden selbst gewachsen ist, sondern ihre Aufstellung
wesentlich einem politischen Analogieschluß verdankt"; vgl. auch S. 216,
Anm.l.
2 M. POHLENZ: Aus Platos Werdezeit, Berlin 1913, S.229.
3 F. M. CORNFORD: Psychology and Social Structure in the Republic
of Plato, "Classical Quarterly" VI (1912), S.246ff. - Vgl. auch E. HOFF-
MANN: Die griechische Philosophie bis Platon, Heidelberg 1951, S.165f.
126 Der Kosmos der Philosophie

sorgen, die sich aus den für die jeweiligen Aufgaben befähigtesten Bürgern
zusammensetzen. Mit Hilfe des Grundsatzes einer strengen Arbeitsteilung
der Stände kann nun Platon sein eigenes Gesellschaftsideal gewissermaßen
als "Erfordernis der Sache" hinstellen. Dieses Ideal ist eine - durch
pythagoreische Theorie und spartanische Praxis mitbestimmte - aristo-
kratische Verfassung. Die Herrenschicht wird allerdings nicht durch einen
Blutsadel gebildet, sondern durch eine Geistesaristokratie, eine philo-
sophisch geschulte Elite. Als solche konnte sich ja die platonische Akademie
fühlen, die zugleich eine philosophische und politische Gemeinschaft war.
Diese Geistesaristokratie regiert mit Unterstützung eines gleichfalls
theoretisch und gymnastisch geübten, ausgewählten Standes von Waffen-
trägern die politisch rechtlose Masse der wirtschaftlich tätigen Bevölkerung.
Die soziale Hierarchie, wie sie Platon vorschwebte, ist aber alles andere
als eine rein zweckrationale Organisation von Menschen zur Bewältigung
bestimmten Aufgaben. Sie beruht nicht auf einer bloßen Teilung der
Funktionen, sondern stellt in eminentem Maße eine Rangordnung des
Wertes dar. Kraft ihrer Einsicht in das Wesen des Guten stehen die
philosophischen Regenten an Wert über der Militärklasse und diese
beiden Gruppen sind viel höher einzuschätzen als der gemeine Mann, den
Platon geradezu als minderwertig betrachtet. Jeder dieser Stände hat
seine spezifische Tugend - Weisheit, Tapferkeit, Mäßigung - und die
Gerechtigkeit besteht darin, daß die Gesamtordnung eingehalten wird,
was wesentlich bedeutet, daß die unteren Stände den Herrschaftsanspruch
der höheren als berechtigt anerkennen.
Der so erlangte hierarchisch-politische Gerechtigkeitsbegriff wird nun
vom "Makroanthropos", dem Staat, auf das menschliche Individuum
übertragen. Die Voraussetzung dafür ist die Annahme, daß jeder Mensch
gewisse seelische Anlagen mitbringt, die ihn zur Aufnahme in einen der
drei Stände besonders geeignet erscheinen lassen. Platon geht aber weit
über solche "eignungspsychologische" Überlegungen hinaus. Er konstruiert
in Analogie zu den drei Ständen des Staates drei "Seelenteile" - Ver-
nunft, Willensenergie und Begehrlichkeit - und verlangt, daß die
Menschen je nach dem Vorwiegen eines dieser Teile der entsprechenden
sozialen Gruppe zugewiesen werden sollen. Darüber hinaus bilden die
"Seelenteile" ein komplettes, wertmäßig abgestuftes Herrschaftssystem,
dessen Struktur dem hierarchisch gegliederten Herrschaftssystem des
Staates genau nachgeformt ist.
In jedem Menschen finden sich also dieselben Grundvermögen und
Verhaltensweisen wie im Staate, und aus dieser menschlichen Natur-
anlage sind sie nach Platon in den Staat gelangt (Politeia 435 E, 441 C).
Wie in der Gemeinschaft, so gibt es auch in der Seele ein "von Natur aus"
Besseres und Schlechteres, und das Bessere soll über das Schlechtere
herrschen (431 A). Dieses "Bessere" ist die Vernunft, und ihr kommt
die Führung zu, weil sie weiß, was für den Einzelnen und für die Allgemein-
heit zuträglich ist (441 E, 442 C). Gegen die Herrschaft der Vernunft
erheben sich aber die Begierden. In dem Kampfe zwischen beiden steht
dem höchsten Seelenvermögen der Thymos, die Willensenergie, als
Der Kosmos der Philosophie 12i

verläßlicher Bundesgenosse zur Seite (439 Aff., 440 B), der niemals mit
den Begierden gemeinsame Sache macht. Damit erhält er genau die
Funktion der Polizeikräfte im Staate.
Doch im "gerechten", dem "in richtiger Verfassung befindlichen"
Menschen treten solche Spannungen ebensowenig auf wie in der gerechten
Polis. Hier wie dort sind führende und geführte Kräfte darin einig, daß
dem vernünftigen Teil oder Stand die Herrschaft zukommt, so daß jede
Auflehnung gegen diesen unterbleibt (442 C/D). In diesem Zustand ver-
richtet jeder Teil die ihm zukommenden Aufgaben und vermeidet jede
Einmischung in das Ressort des anderen (443 C/D). Doch kann zwischen
den Seelenteilen auch ein Bürgerkrieg (cr't"acrLC;) ausbrechen. Dann ver-
suchen die niedrigeren Seelenteile, die Geschäfte der höheren an sich
zu reißen und sich gegen das Ganze der Seele aufzulehnen, um in ihr
die Herrschaft zu erlangen, zu der sie ihrer natürlichen Beschaffenheit
nach nicht berufen sind (444 B). Dieser "Sklavenaufstand der Triebe"
ist die Ungerechtigkeit schlechthin.
Durch die soziomorphe Vorstellung einer "richtigen Herrschafts-
ordnung" werden aber nicht nur Staat und Seele, sondern in weiterer
Folge auch Seele und Körper miteinander in Parallele gesetzt. Wie beim
Leibe die Erhaltung der Gesundheit dadurch gewährleistet wird, daß
die Kräfte im Körper in der naturgemäßen Ordnung übereinander herr-
schen und voneinander beherrscht werden, so beruht die Gesundheit
der Seele, die Gerechtigkeit, auf der Erhaltung der naturgemäßen Herr-
schaftsbeziehungen unter den Seelenteilen. Mit dieser These nähert sich
Platon am stärksten dem Standpunkt des Alkmaion, für den die Gesund-
heit ebenfalls die "richtige" - und zwar die aristokratische - Verfassung
der Elemente des Körpers war.
Doch was bei dem pythagoreischen Arzt nur implizit gesagt ist, wird
von Platon breit ausgeführt. Der ganze Prozeß der Übertragung sozialer
Modellvorstellungen und Wertungen auf Leib und Seele des Individuums
und ihrer zirkelhaften Rückübertragung auf den Staat liegt hier offen
vor uns. Von einer bloß heuristischen Bevorzugung der Polis kann keine
Rede sein. Vielmehr wird nach der Analogie eines hierarchisch aufgebauten
und in verschieden bewertete Stände gegliederten Idealstaates eine ebenso
strukturierte. "Menschennatur" entworfen, die ihrerseits das bereits
vorausgesetzte Staatsideal als das der wahrenMenschennatur entsprechende
legitimieren soll. Unser Wissen über das, was die Gerechtigkeit nun wirk-
lich sein soll, erfährt durch diese ganze Konstruktion keine .Erweiterung,
denn sie überträgt nur den Herrschaftsanspruch der Philosophen in die
menschliche "Seele" und leitet ihn daraus wieder ab. Mit diesem Zirkel-
schluß verbindet sich aber ein anderer Gesichtspunkt. Die Philosophen
beziehungsweise die Vernunft besitzen den .vorrang und sollen herrschen,
weil sie das wahrhaft Gute erkennen können. Ob dieses Gute einen kon-
kreten Gehalt besitzt oder seinerseits auch nur eine Leerformel darstellt,
soll in einem anderen Zusammenhang erörtert werden.
Nicht nur das Individuum, sondern auch das Universum wird von
Platon soziomorph gedeutet, allerdings noch nicht in den Frühschriften.
128 Der Kosmos der Philosophie

Immerhin taucht die Vorstellung des sozio-kosmischen Universums


bereits im "Gorgias" (507 E) auf. Hier bilden Himmel und Erde, Götter
und Menschen eine nach ethischen Grundsätzen geordnete Gemeinschaft,
die nach dem Ausdruck für das sittengemäße Leben (xoO"[uo't"1J<;) Kosmos
genannt wird, wobei die Geometrie - vielleicht ist damit schon hier
die geometrische Regelmäßigkeit der Gestirnbahnen gemeint - als
Maßstab der Gerechtigkeit und Gegensatz zu aller Eigensucht gilt. Den
Gedanken, daß die kosmische Gerechtigkeit durch eine herrscherliche
l\facht - die Sonne oder den Geist - gewährleistet wird, berührt Platon
im "Kratylos" (413 BIO). Später (Phil. 28 D) wird ausdrücklich behauptet,
alle Weisen stimmen darin überein, daß die Vernunft der König des
Himmels und der Erde ist. Von hier führt eine Entwicklungslinie zum
Gottesgedanken der "Gesetze".
Zunächst aber soll noch die eigenartige Ausprägung der sozio-kosmi-
sehen Weltauffassung in der "Politeia" behandelt werden. Sie hängt eng
mit einer der Grundvoraussetzungen gerade dieser Periode der platoni-
schen Philosophie zusammen. Die ethische Deutung des makrokosmischen
Geschehens stößt nämlich auf die prinzipielle Schwierigkeit, daß auch der
gestirnte Himmel der Erfahrungswelt angehört, welcher das Verdikt
des Philosophen das "wahre Sein" abgesprochen hatte. Die Sterne und
ihre Ordnungen sind zwar das Schönste und Regelrechteste unter allem
Sichtbaren, aber sie können nur als sinnliche Hinweise auf eine rein
geistige Harmonie gelten (529 eID). So erhebt sich über dem körperlichen
Makrokosmos das Ideenreich als eine diesem analoge, intelligible Überwelt,
in welcher eine vollkommene geometrisch-moralische Ordnung herrscht.
Wie die Sonne den Gegenständen der sinnlichen Erfahrung Leben und
Erkennbarkeit verleiht, so ist auf der höheren Ebene die Idee des Guten
als geistige Sonne der Grund des Seins und der Wahrheit schlechthin
(507 Eff.). Mit der Annahme, daß eine höchste Gerechtigkeitsmacht den
intelligiblen Kosmos durchwaltet, gewinnt dieser die Züge einer über-
menschlichen Polis, einer Rechtsgemeinschaft zwar nicht der Gestirne,
wohl aber der Ideen. So spricht Platon ausdrücklich davon, daß der
Philosoph, der in Wahrheit seinen Geist auf das Seiende gerichtet hält,
keine Zeit hat, sich um die Streitigkeiten im irdischen Staat zu kümmern.
Vielmehr ist der Weise "ganz versunken in die Betrachtung eines wohl-
geordneten Reiches von Wesen, die sich immer völlig gleichbleiben und
weder Unrecht tun noch Unrecht voneinander leiden, sondern sich durch-
wegs nach der Ordnung (xoO"[Lq» und nach der Vernunft (xot't"a Myov)
verhalten" (5000). Er strebt danach, seine eigene Persönlichkeit dieser
Harmonie und Gerechtigkeit anzugleichen, aber es ist auch seine Aufgabe,
die staatliche Ordnung nach jenem göttlichen Musterbild (.&e:i:ov 1t'otpa8e: LY[Lot)
zu gestalten (500 E, 592 B).
So steht auch hier wieder die himmlische Polis als urbiIdliche Norm
über der irdischen Polis, nur ist sie als rein ideelles Gebilde weitgehend
vom physischen Makrokosmos abgelöst, mit dem sie bloß durch die
Gleichsetzung von Gerechtigkeit und geometrischer Regelmäßigkeit ver-
bunden bleibt. Wenn auch kaum ein schlüssiger Nachweis dafür zu er-
Der Kosmos der Philosophie 129

bringen sein dürfte, daß Platon schon bei der Abfassung seines "Staates"
die sozio-kosmischen Spekulationen des Alten Orients gekannt und sie
mit vollem Bewußtsein philosophisch verfeinert und sublimiert hat, so
ist dies immerhin nicht unwahrscheinlich. In seinen späteren Werken
begegnen wir- bekanntlich (vgl. oben, S.69) ganz eindeutigen Beispielen
"kosmischer Städte".
Nicht immer bedient sich Platon ausgeprägter soziomorpher oder
technomorpher Analogien zur ethischen Deutung kosmischer Vor-
gänge. Manchmal ist es die Intentionalität als solche, das denkende
Ordnungschaffen und die so zustande gekommene Ordnung, welche in
die Gestirnbewegungen hineingelesen wird. Im "Timaios" entsprechen
diese Bewegungen den Denktätigkeiten und Umläufen der Weltseele,
welche als das vollkommene Urbild der menschlichen Seele gilt. Darum
sollen wir die Umläufe des himmlischen Geistes ('ru<; EV O-UPIXVql 'rov VOV
7t'e:pLo8ou<; Tim. 47 B) betrachten, um daraus für die Umläufe in unserem
eigenen Geiste Nutzen zu ziehen. Beide sind miteinander verwandt, nur
sind die himmlischen Kreisbewegungen jeder Störung enthoben, die
menschlichen jedoch in ihrer Ordnung gestört. So können wir durch Nach-
ahmung der göttlichen, unfehlbar richtigen Bewegungen den in unserem
eigenen Inneren sich vollziehenden unsicheren Umläufen einen festen
Halt verleihen (Tim. 47 BIC, 90 eID). In diesem Falle ist besonders klar
zu erkennen, wie die entscheidungslosen Regelmäßigkeiten der Himmels-
mechanik nach dem Modell der menschlichen Charakterfestigkeit -
also relativ konstanter Regeln für unsere Entscheidungen - gedeutet
werden, um dann als Vorbild unbeirrbarer charakterlicher Festigkeit zu
dienen.
Noch eindrucksvoller wird die ethische Interpretation des Universums
mit Hilfe intentionaler Vorstellungsmodelle in den " Gesetzen" . Hier
wird die intentionale Weltauffassung mit jener anderen konfrontiert, die
alle Dinge und Vorgänge nach dem Muster des Verhaltens lebloser Mate-
rialien erklären will, nämlich als zufällige oder durch eine gewisse Ver-
wandtschaft zustande gekommene Kombination unbeseelter Elemente
(889 B). Es ist bezeichnend, daß Platon diese Lehre wegen ihrer angeb-
lichen amoralischen Konsequenzen scharf bekämpft (889 Eff.). Tat-
sächlich erlaubt sie es nicht, moralische Gesichtspunkte in den Weltlauf
hineinzulegen und dann nach bekannter Art wieder aus ihm herauszulesen,
weshalb sie im Laufe der Geschichte immer wieder heftig angegriffen
worden ist.
In bewußtem Gegensatz zu dieser Weltauffassung vertritt Platon den
Vorrang der Intentionalität: Überzeugung und Planung, Denken, Kunst
und Gesetz (8o~1X XlXt E7t'L(LEA€LIX xlXl voii<; XlXt 'rEXV'Y) XlXt VO!Lo<;) sind
ursprünglicher als Hartes und Weiches, Schweres und Leichtes (892 B).
Diese Priorität gilt nicht nur im Kleinen für das Verhältnis von Seele
und Leib beim Menschen oder für menschliche Artefakte, sondern auch
für die Natur im Großen, die der Kunstfertigkeit und planenden Denk-
kraft ('rEXY'Y) XlXt vov<;) ihre Entstehung verdankt. Alles Geschehen im
Himmel und auf Erden ist durch Seelenbewegungen hervorgerufen, durch

Topitsch, Metaphysik. 9
130 Der Kosmos der Philosophie

ein Wünschen und Erwägen (ßOVAe:(j&IX~, (j)(o7telcr.&IX~), Fürsorgen und


Beraten (E7tLfLe:Ae:L(j&OC~, ßOUAe:Ue:(j.&OC~) und andere seelische Vorgänge
(896 Eff.). Da nun der regelmäßige Umlauf der Himmelskörper den
Bewegungen und Erwägungen der Vernunft entspricht, so muß es die
beste Seele sein, die den Kosmos ordnet und fürsorglich verwaltet
(897 BIO, 8980). Die Gleichförmigkeiten im Weltall und zumal die
Rhythmen der Gestirnumläufe erscheinen immer wieder als Werk einer
übermenschlichen Techne oder einer solchen Organisations- und Ver-
'waltungsleistung (€7tLfLe:AeLcr&OC~, ~~OLXe:LV 896 DjE, 8LIXXOO"fLe:LV 966 E).
In diese intentionale Ordnung des Universums ist auch der irdische
Mikrokosmos und zumal die Lebenswirklichkeit des Menschen einbezogen.
Wie Werkleute oder Vorgesetzte - Baumeister, Steuerleute, Gutsver-
walter, Feldherren und Staatsmänner - ihre Ziele im Großen ohne
Berücksichtigung des Kleinen nicht erreichen können, so muß auch die
kosmische Macht das Weltgeschehen bis in seine Einzelheiten durch-
walten (902 Dff.).
Um die Ordnung des Ganzen, nach welcher jeder Teil das ihm Zu-
kommende tun und leiden soll, lückenlos durchzuführen, hat der Leiter
des Weltalls über dessen einzelne Bezirke besondere Herrscher eingesetzt,
die seine Absichten in ihrem Machtbereich bis ins kleinste vollstrecken
sollen. Herrscher über solche Einzelbereiche und damit Helfer und
Beauftragte des Weltenregenten sind die Menschen, die auf diese Weise
eine bestimmte Rolle im Zusammenhang des soziolwsmischen Universums
zugewiesen erhalten, dessen gesamter Plan auf den Endsieg des Guten
abzielt (903 B-904 B). Mit der Annahme eines wertrationalen, von einer
höchsten kosmischen Macht entworfenen und garantierten Weltplanes
gerät der Denker in die Schwierigkeit, wie ein solcher mit der Wert-
irrationalität der Erfahrungswelt und zumal der menschlichen Schicksale
in der Gesellschaft vereinbar sei - es erhebt sich das Problem der
Kosmodizee. Wie sich Platon mit ihm auseinandergesetzt hat, soll
später behandelt werden.
Der ganze Abschnitt über die Lenkung des Universums ist auch in
anderer Hinsicht dafür bezeichnend, wie bestimmte Tatsachenbehaup-
tungen aus vorausgesetzten Wertprämissen abgeleitet werden. Nachdem
das Dasein sittlich vollkommener göttlicher Mächte aus der Regelmäßig-
keit der Himmelsbewegungen erschlossen worden ist, ergeben sich die
Fragen, ob diese Mächte sich auch um die Angelegenheiten der Menschen
kümmern und ob sie sich von Missetätern durch Opfer und Gebete gnädig
stimmen lassen. Auf Grund von Tatsachenfeststellungen sind diese
Probleme nicht zu lösen. Während die streng mathematische Ordnung
am Firmament ein beobachtbares Faktum ist, das wenigstens als Grund-
lage für einen Analogieschluß auf das Dasein einer wertorientierten
Ordnungsmacht dienen kann, fehlt eine solche harmonische Stetigkeit
in der kampfdurchwühlten Menschenwelt. So bleibt nur die Möglichkeit,
ohne Rücksicht auf irgendwelche empirischen Gegebenheiten aus einem
vorausgesetzten Vollkommenheitsideal die zur Frage stehenden Eigen-
schaften und Verhaltensweisen zu deduzieren.
Der Kosmos der Philosophie 131

Das platonische Vollkommenheitsideal postuliert nun die Anteilnahme


der Gottesmacht an den menschlichen Verhältnissen!. Eine indifferente
Haltung wäre als Lässigkeit, Trägheit und Weichlichkeit (ä(l.EAe:~IX,
apyLIX, 't'pucp~ 900 E) mit der für die Gottheit und von der Gottheit
geforderten sittlichen Vollkommenheit unvereinbar (901). Diese darf sich
der Obsorge für die Menschen, die ihr Eigentum sind, ebensowenig ent·
schlagen, wie ein tüchtiger Handwerker, Arzt oder Hausverwalter seine
kleineren Obliegenheiten vernachlässigen darf. Ähnliche Argumente
werden ins Treffen geführt, um zu beweisen, daß Bitten und Gaben den
Übeltätern nichts nützen. Man darf nämlich die Götter nicht als pflicht.
vergessene, bestechliche Wächter betrachten, die sich gegen Beteiligung
am unrechtmäßigen Gewinn dazu verleiten lassen, den Rechtsbruch zu
dulden (906 D-907 A).
Es ist schwer zu entscheiden, ob diese massiv soziomorphen Lehren
von Platon wörtlich gemeint oder nur zu pädagogisch.politischen Zwecken
in so handgreiflicher Weise formuliert worden sind. Wie außerordentlich
wichtig sie dem Philosophen als Mittel praktischer Menschenführung
erscheinen, geht wohl eindeutig aus den drakonischen Strafmaßnahmen
hervor, die im Staat der "Gesetze" für jene vorgesehen sind, die nicht
an sie glauben.
Die platonische Philosophie ist also durch intentionale Modelle sehr
stark beeinflußt. Doch faßt sie diese nicht zu einem einheitlichen System
zusammen, da sie ja selbst nie zu einer systematischen Ausgestaltung
gekommen ist. Je nach den jeweiligen philosophischen Zielsetzungen
ändert sich auch die Rolle der soziomorphen und technomorphen Vor.
stellungen und ihr Verhältnis zu den nicht intentionalen Bestandteilen
des platonischen Denkens.
Wo die Erfahrungswelt schroff abgewertet wird, dort treten sie und
die Ideenwelt weit auseinander, wie dies zumal in den Schriften der
mittleren Periode festzustellen ist. Die werthaft·normativen Elemente,
welche die ältere Kosmosspekulation in die empirische Wirklichkeit
hineingelegt hatte, werden aus dieser losgelöst und konstituieren einen
eigenen Bereich der "wahren Wirklichkeit". Dann sind die "Sinnendinge"
nur die höchst unvollkommenen Nachformungen vollkommener, urbild·
licher Entwürfe. Die sichtbaren Gestirne bilden nicht selbst eine Polis,
sondern sind nur ein Hinweis auf die viel erhabenere Polis der Ideen.
Diese Fassung der platonischen Lehre will und kann die Erfahrungswelt
nicht verklären, doch sucht sie sie in gewissem Maße zu erklären und vor
allem zusammen mit ihrer Erklärung auch Normen für menschliches
Handeln zu geben.
Dabei erheben sich aber grundlegende Schwierigkeiten. Werden die
Ideen - in einem nicht intentionalen Sinne - als Allgemeinbegriffe
oder - intentional - als technische Entwürfe betrachtet, dann kann
1 Man beachte, daß Aristoteles von anderen (nicht auf einem praktisch.
ethischen, sondern einem kontemplativen Vollkommenheitsideal beruhenden)
Wertpostulaten ausgehend gerade zur Leugnung des intentionalen Wirkens
der Gottheit kommt; vgl. unten, S. 143f.

132 Der Kosmos der Philosophie

man zwar jeder Vielheit gleichartiger Dinge eine Idee zuordnen, aber diese
Ideen sind axiologisch neutral, da auch das Wertlose oder gar Wert-
widrige begrifflich erfaßt oder als Ausführung eines Entwurfes gedeutet
werden muß. Soll aber das Ideenreich eine wertrationale Welt darstellen
und als metaphysische Verankerung für Handlungsnormen brauchbar
sein, dann darf es Ideen nur von Wertvollem und sittlich Gefordertem
geben. Wertneutrale Allgemeinbegriffe sind in diesem Zusammenhange
völlig unbrauchbar, aber auch die technomorphe Vorstellung des "Werk-
planes" ist nur dort zu verwenden, wo bestimmte Sinnendinge als unzu-
längliche Abbilder eines vollkommenen Urbildes hingestellt werden
können, etwa dingliche Tische als Nachbildungen des ideellen Tisches.
Will man nur Ideen von Wertvollem annehmen, dann bleibt fernerhin
ein wesentlicher Teil der Erfahrungswelt, nämlich der negativ bewertete,
überhaupt ohne Entsprechung im Reiche der reinen Normgestalten.
Ist also diese Auffassung der Ideen schon als Erklärungsprinzip für die
empirische Wirklichkeit wenig geeignet, so zeigt sie noch erheblichere
Schwächen, wenn sie zur metaphysischen Begründung von Werten und
Normen herangezogen wird. Nimmt man nämlich nur das Wertvolle in
das Ideenreich auf, so setzt man bei dieser auswählenden Konstituierung
bereits jenen Wertmaßstab voraus, der durch die Ideen garantiert werden
soll. Die ganze Argumentation bewegt sich dann im Zirkel. Damit rühren
wir wieder an die grundsätzliche Frage nach den primären Wertungen,
welche die Basis des platonischen Philosophierens bilden.
Noch komplizierter wird die Lage, wenn die intentionalen Konstruk-
tionen nicht als bloße Wertideen oder als Normen für menschliches
Handeln auftreten, sondern als wirkende und handelnde Mächte, die das
Geschehen in unserer Welt leiten und bestimmen. Die Annahme einer
nach Wertgrundsätzen orientierten kosmischen Handlungsmacht gerät
mit der tatsächlichen Wertirrationalität des Weltlaufes in Widerspruch,
und das Verhältnis zwischen dem Wollen jener Macht und dem des
Menschen wird zum Problem. Beide Fragen - Kosmodizee und Willens-
freiheit - hat Platon mehrfach berührt, aber nicht systematisch behandelt.
Der unleugbaren Tatsache, daß der Lebenserfolg in dieser Welt oft
den moralisch Minderqualifizierten zufällt, sucht der Denker durch die
mythisch eingekleidete Behauptung zu begegnen, daß sich der gerechte
Ausgleich in einem erfahrungsjenseitigen Bereich vollzieht. Eine solche
Vergeltung ist aber grundsätzlich unüberprüfbar. Die Wertirrationalität
der menschlichen Lebenswirklichkeit bleibt bestehen, und was darüber
hinaus behauptet wird, stützt sich nicht auf Erkenntnis, sondern aus-
schließlich auf den Willen, die Idee der wertrationalen Weltordnung
unter allen Umständen aufrechtzuerhalten. Doch ist auch der Gedanke
wenigstens angedeutet, daß dem Bösen eine Rolle oder Funktion in der
Ordnung des Ganzen zukomme (Nom. 905 B). Ja, es wird sogar die
Möglichkeit der Existenz einer bösen Weltseele in Erwägung gezogen
und bezeichnenderweise nicht mit dem Hinweis auf eine angeblich in der
menschlichen Gesellschaft bestehende gerechte Ordnung, sondern mit
dem auf die Harmonie der Gestirnbewegungen abgelehnt (896 Dff.).
Der Kosmos der Philosophie 133

Auch die Beziehung zwischen dem menschlichen Handeln und dem


Wirken der numinosen Macht kommt mehrfach in den Gesichtskreis des
platonischen Denkens, doch bildet sie weder ein zentrales Problem noch
entwickelt der Philosoph in diesem Punkte eine einheitliche Auffassung.
Die Idee, daß der Mensch gewissermaßen eine "Marionette des Welt-
geistes" sei, ist in den "Gesetzen" zwar vorgebildet, doch will Platon
mit seinem Gleichnis nicht - wie manche Spätere - sagen, daß die
göttliche Macht das menschliche Wollen und Handeln in ähnlicher Weise
bewirkt wie ein Puppenspieler die Bewegungen seiner Marionetten. Viel-
mehr sind die Götter zwar Hersteller der menschlichen "Drahtpuppen",
doch die Drähte werden nicht von ihnen, sondern von den verschiedenen
Motiven des W ollens gezogen, und dem Menschen bleibt die Fähigkeit
und Aufgabe, die guten Impulse zu unterstützen und dem Zug der bösen
Antriebe Widerstand zu leisten (Nom. 644Dff.). Später (803 C) wird
unter Bezugnahme auf die eben behandelte Stelle der Mensch als ein
kunstvoll verfertigtes Spielzeug Gottes bezeichnet, doch kann man aus
dieser Wendung kaum irgendwelche philosophisch belangvollen Fol-
gerungen ableiten.
Wenn auch bei Platon die Vorstellung eines Weltlogos, der alles
Geschehen und in letzter Konsequenz auch die menschlichen Willens-
entscheidungen lenkt und bewirkt, nicht vorhanden ist und daher das
Problem der Willensfreiheit nicht mit voller Schärfe hervortritt, so ist
der Denker doch darauf bedacht, jede Schuld für physisches .und morali-
sches Übel sorgfältig von der göttlichen Macht fernzuhalten und nach
Möglichkeit den Menschen zuzurechnen. Der Demiurg gibt den Menschen
Gesetze, um an ihrer späteren Schlechtigkeit unschuldig zu sein (Tim. 42D),
und alles Verkehrte in der Welt kommt nach Platon auf unsere Rechnung,
nicht auf die der Götter (Nom. 900 E). Der Plan des göttlichen Welt-
herrschers weist zwar allen Wesen die ihnen nach ihrer Beschaffenheit
gebührenden Plätze zu, aber er bestimmt nicht den menschlichen Cha-
rakter, der vielmehr durch den Willen jedes einzelnen gestaltet wird
(Nom. 904 B/C). Auch im Mythos von der Schicksalswahl am Schluß
der "Politeia" entscheidet nicht der Gott, sondern der Mensch wählt
sich einen tugendreichen oder lasterhaften Lebenslauf: "Die Tugend
gehört niemandem zu eigen. Je nachdem sie einer in Ehren hält oder
geringschätzt, wird er sie gewinnen oder nicht gewinnen. Die Schuld trägt
der Wählende. Der Gott ist ohne Schuld" (Pol. 617 E).
Was ist aber Tugend und was ist Schuld ~ Was ist, mit anderen Worten,
jenes Gute, dessen wissenschaftliche Sicherung das eigentliche und tiefste
~Iotiv des platonischen Denkens ist ~ Auf dieses Grundproblem hat auch
unsere Untersuchung immer wieder zurückgeführt. Wenn die Ideen als
Werkmuster oder Normgestalten der Dinge gelten, wenn in der Mikropolis
des menschlichen Individuums die Vernunft herrschen soll, weil sie -
ebenso wie die ihr in der Polis entsprechenden Philosophenherrscher -
das wahrhaft Gute erkennt, und wenn sich die überhimmlische Makro-
polis des Ideenreiches als gerechte Ordnung um die Idee des Guten auf-
baut, so setzen alle diese technomorphen und soziomorphen Projektionen
134 Der Kosmos der Philosophie

eben jenes Wissen um das Gute voraus, das sie zu begründen vorgeben.
Wenn aber diese Vorstellungen und die auf ihnen aufgebauten Argumen-
tationen nicht mit einem vorausgesetzten Wert- und Normgehalt erfüllt
werden, der dann wieder zirkelhaft als ihr Ergebnis auftreten kann, so
sind sie vom axiologischen Standpunkt einfach leer, sagen sie über einen
·Wert oder ein Sollen überhaupt nichts aus.
Worin besteht aber nun für Platon das Gute, was ist der konkrete
Wertgehalt, ohne den alle jene Gedankengänge bloße Leerformeln bleiben?
Was hat - mit anderen Worten - der Philosoph zutiefst gewollt und
gewünscht? Diese Frage gehört zwar, streng genommen, nicht mehr in
eine Untersuchung, die sich mit bestimmten Denkformen, nicht aber
mit faktischen Werthaltungen beschäftigt. Dennoch muß sie berücksich-
tigt werden, da sie uns die Grenzen der Bedeutsamkeit des intentionalen
Weltbildes für Platon erkennen läßt.
Was der Denker zum Problem des Guten sagt, ist nicht ganz ein-
heitlich. Das darf uns angesichts der starken Spannungen und Wider-
sprüche in Platons Persönlichkeit nicht überraschen. Wer sophistische
Skepsis und inbrünstiges Glaubenwollen, pädagogisch-politischen Füh-
rungsanspruch und kontemplative Weltflucht in seinem Denken mit-
einander vereinigt, wer die aufklärerische Zurückführung der Religion
auf Herrschaftsinteressen erbittert bekämpft und doch selbst die mythisch-
religiösen Vorstellungen als Herrschaftsinstrumente empfiehlt, wer
schließlich durch den Tod des Sokrates zutiefst erschüttert wurde, aber
für eine Weltanschauungspolizei eintritt, deren erste Opfer Männer wie
Sokrates wären, von dem darf man keine vöIIige Einheitlichkeit der
letzten Zielsetzungen erwarten. Dennoch besteht eine auffallende Über-
einstimmung gerade zwischen jenen Stellen, an denen Platon mit der
tiefsten inneren Bewegung von der Idee des Guten spricht. Diese erscheint
dort nicht als begrifflich faßbare Norm für menschliches Handeln, ja
überhaupt nicht als mögliches Objekt rationaler Erkenntnis, sondern als
eine Art numinoser Wesenheit, die nur in einem intuitiven Erlebnis
plötzlicher Erleuchtung geschaut werden kann. Das Gute läßt sich nicht
in Worten charakterisieren, sondern nach langer spekulativer Bemühung
in entsprechender Lebensgemeinschaft "tritt es plötzlich in der Seele
hervor wie ein durch einen abspringenden Funken entzündetes Licht
und nährt sich dann durch sich selbst" (VII. Brief 341 eiD).
So erscheint das Gute in letzter Linie als eine unaussagbare, über-
weltliche Heilswirklichkeit, der gegenüber alle inhaltlich bestimmte
Erkenntnis und alles innerweltliche Handeln nur untergeordnete Bedeu-
tung besitzt. Angesichts dieser Heilserfahrung verliert auch die sozio-
morphe oder technomorphe Interpretation des Universums sehr an
Wichtigkeit, die intentionale Kosmologie wird von einer Art negativer
Theologie! überstrahlt. Die Tendenz zur negativen Theologie zeigt sich
noch stärker im Zweiten Brief, dessen Echtheit allerdings sehr zweifelhaft

1 Vgl. A.-J. FESTUGIERE: Revelation, tom. IV, 2. ed., Paris 1954,


S.79ff.
Der Kosmos der Philosophie 135

ist. Hier wird ausdrücklich davor gewarnt, die Eigenschaften des Welten-
königs ergründen zu wollen (312 E). Wenn der Brief auch nicht von
Platon selbst stammen dürfte, so ist er doch ein Zeugnis dafür, in welcher
Richtung man platonische Gedanken weiterentwickelt hat.
Die platonische Philosophie war von dem Grunderlebnis der Wert-
irrationalität der menschlichen Lebenswirklichkeit und besonders der
gesellschaftlichen Verhältnisse ausgegangen. Sie suchte dieses Erlebnis
dadurch zu überwinden, daß sie jenseits des Erfahrbaren eine wert-
rationale 'Velt der Ideen aufbaute, der gegenüber die "Sinnenwelt" zum
bloß Vordergründigen und Scheinbaren abgewertet werden konnte. Ein
ganz entgegengesetztes Erlebnis hat dazu beigetragen, daß der bedeu-
tendste Schüler Platons sich von der Lehre seines Meisters löste. In
bewußter Antithese zum Höhlengleichnis der "Politeia" hat Aristoteles
in seiner Programmschrift "Über die Philosophie" die Schönheit und
Göttlichkeit des sichtbaren Kosmos (bezeichnenderweise bloß der Natur,
nicht aber der Gesellschaft) gepriesen (Frgm. 12 Rose), und dieser Lob-
preis ist nicht nur für die späteren Werke des Denkers, sondern auch für
die weitere Entwicklung eines erheblichen Teiles der hellenistisch-römischen
Philosophie richtungweisend geblieben. Die Auffassung des Makrokosmos
als erhabenes Kunstwerk, die sich schon bei Platon wenigstens als Mythos
immer stärker durchgesetzt hatte, wird nun zum beherrschenden Motiv.
Ein weiteres intentionales und besonders technomorphes Element
im aristotelischen Denken ist offenbar aus den Traditionen der Ärzte-
familie herzuleiten, welcher der Philosoph entstammt. Es ist dies der
Glaube an eine planmäßig schaffende "Natur", der sich vor allem auf
gewisse Ähnlichkeiten zwischen vielen organischen Vorgängen und dem
menschlichen Zweckhandeln stützt. Schon Epicharm sieht in der Zweck-
mäßigkeit des instinktiven Verhaltens von Tieren - er bringt das Beispiel
der brütenden Hennen - ein Werk der Weisheit der Natur (B 4). Am
stärksten hat sich aber unter den hippokratischen Ärzten die Überzeugung
gebildet, daß die Natur von sich aus das Richtige bewirke: sie findet selbst
ihren Weg ohne Überlegung, sie ist wohlunterrichtet und tut aus eigenem,
ohne es gelernt zu haben, das Notwendigel. Diese Vorstellungen ermög-
lichten die intentionale Deutung von Einzelvorgängen, etwa des Wachsens
und Werdens von Tieren und Pflanzen oder der Selbsttätigkeit mancher
Heilungsprozesse. Bei Aristoteles haben sie vor allem zur Überwindung
einer Schwierigkeit beigetragen, auf welche die platonische Ideenlehre
in ihrer technomorphen Fassung gestoßen war. Platon vermag nämlich
das Verhältnis zwischen der Idee als normativem Urbild und dem Sinnen-
ding als dessen unvollkommenem Abbild nicht philosophisch zu klären,
sondern nur durch das mythische Bild vom Demiurgen zu umschreiben.
Dagegen erblickt Aristoteles in der Morphogenese und der Artenkonstanz
der Lebewesen konkrete Beispiele für Normgestalten, die sich selbst

1 Epid. VI 5, 1, vgl. W. NESTLE: Mythos, S. 215f. - W. JAEGER: Diokles


v. Karystos, Berlin 1938, S. 5lff. - W. THEILER: Zur Geschichte der teleolo-
gischen Naturbetrachtung bis auf Aristoteles, Zürich 1925.
136 Der Kosmos der Philosophie

in einer gegebenen Materie verwirklichen. In folgerichtiger Durchführung


dieses Gesichtspunktes kommt er zu einer grundsätzlichen Deutung der
Lebensvorgänge nach der Analogie des künstlerisch-handwerklichen
Schaffens und weiterhin zur Anwendung des so entstandenen, biologisch
gefärbten, aber wesentlich technomorphen Begriffsapparates auf nahezu
sämtliche Wissensgebiete bis in die Erkenntnislehre und Logik.
Vielleicht das eindrucksvollste Zeugnis für die grundlegende Bedeutung
der technomorphen Modelle in seinem Denken gibt Aristoteles durch die
philosophiegeschichtliche Selbstinterpretation im ersten Buche der Meta-
physil{ (Met. I 983 bff.). Er bezeichnet dort seine eigene Leistung als die
Lösung von Problemen, welche sich zwar seinen Vorgängern im Laufe der
Zeit immer unabweislicher aufgedrängt hatten, von ihnen aber nicht
bewältigt werden konnten. Ob diese Auffassung historisch richtig ist,
steht hier nicht zur Frage. Die Darstellung des Aristoteles soll nur als
Dokument dafür herangezogen werden, daß die Überzeugung von der
Wichtigkeit der technomorphen Denkformen bis an den Kernpunkt des
Selbstverständnisses des Philosophen wirksam geworden ist.
Aristoteles behauptet, die frühesten Denker hätten die metaphysische
Frage nach den ersten Ursachen in der Regel beantwortet, indem sie
materielle Substanzen als Weltprinzipien annahmen, beispielsweise
Thales das Wasser, Anaximenes und Diogenes die Luft, Hippasos und
Heraklit das Feuer und Empedokles alle vier Elemente. Die Materie
allein kann sich jedoch nicht bewegen und gestalten: das Holz macht
kein Bett und das Erz keine Bildsäule (Met. I 984a). Zur Formung und
Bewegung der Materie ist also ein zweites Prinzip notwendig, was manche
Philosophen eingesehen haben. So nahm Empedokles an, daß Freund-
schaft und Feindschaft die Dinge bewegen und verbinden. Am meisten
hat aber Anaxagoras jener Notwendigkeit Rechnung getragen, indem er
lehrte, daß der Geist als ordnende Macht den Lebewesen und der ganzen
Natur innewohne. Doch hat er von dieser Einsicht nur in ganz unzu-
reichendem Maße Gebrauch gemacht. Auch Platon hat nur zwei Ursachen
gekannt, die Materie und die Ideen. Diese kommen zwar dem eigenen
Ursachenbegriff des Aristoteles am nächsten, sind aber nur starre Formen
und besitzen keine schaffende Kraft (Met. I 988 alb).
Seine eigene Lehre von der Ursächlichkeit betrachtet Aristoteles als
Synthese der einseitigen Auffassungen seiner Vorgänger. Viele von diesen
hatten bloß die Materie als metaphysischen Grund der Dinge angesehen,
manche auch die Form oder ein bewegendes und gestaltendes Prinzip.
Erst er selbst hat mit seiner Theorie von den vier Ursachen die volle
Wahrheit erkannt.
Eine Aufgliederung dieser Ursachen gibt Aristoteles in der Physik
(II 194b 16ff.). Die erste ist die Materie, aus welcher die Dinge entstehen
und bestehen wie die Statue aus Erz oder die Schale aus Silber. Die drei
übrigen hängen eng mit der menschlichen Zwecktätigkeit zusamlhen.
Es sind dies die Form und Normgestalt (d~oc; x,cxl 1t"lJ(pa~e:~Y[LIJ(), die
etwa der platonischen Idee entspricht und mit dem Begriff der Wesenheit
gleichgesetzt wird, ferner der erste Ursprung der Veränderung oder Ruhe
Der Kosmos der Philosophie 137

(in diesem Sinne ist der Ratgeber die Ursache einer Handlung oder der
Vater die des Kindes und überhaupt das Schaffende und Verändernde
die des Geschaffenen und Veränderten) und schließlich der Zweck, um
dessentwillen etwas getan wird, wie etwa das Spazierengehen um der
Gesundheit willen. Am klarsten kommt aber der Grundcharakter der
Lehre von den vier Ursachen dort zum Vorschein, wo Aristoteles ein
Beispiel für ihr gemeinsames Vorliegen bei ein und demselben Dinge
gibt, und zwar beim Hausbau. Hier ist die Ursache der Bewegung oder
Veränderung die Baukunst und der Baumeister, der Zweck das vollendete
Haus, die Materie stellen Erde und Steine dar und die Form ist der
Begriff (Met. III 996 b 5-8). Alle Ursachen lassen sich in diesem Falle
mühelos feststellen und vor allem ohne jene Gewaltsamkeit, die in der
Regel notwendig ist, wo bestimmte Denkmodelle auf ein fremdes Gebiet
übertragen worden sind. Dies spricht dafür, daß die aristotelische Theorie
der Ursächlichkeit auf eine technomorphe Leitvorstellung zurückzuführen
ist, und zwar auf die der Tätigkeit des Künstlers oder Handwerkers, der
aus einem gegebenen Werkstoff (VA1j, materia) ein Werkstück von vorher
entworfener Gestalt (e:i8o<;, 1t()(.pa8e:~Yfl-()(., fl-opcpij, forma) zu einem be-
stimmten Zwecke ('t"6AO<;, finis) herstellt (1tO~e:L, efficit). Betrachtet man
unter diesem Gesichtspunkt die Ausführungen des Aristoteles über die
metaphysischen Bemühungen seiner Vorgänger, so darf man behaupten,
daß diese ihm letztlich als ein Ringen um eine bestimmte Weltauffassung
erscheinen, welches erst er selbst zu dem durch die Logik der Sache ge-
forderten Abschluß gebracht hat - um eine Weltauffassung, dürfen wir
hinzufügen, deren Grundbegriffe der des Werkstoffes (oder in weiterem
Sinne des "Stoffes" überhaupt) und jener der Intentionalität, des plan-
vollen und zweckgerichteten HandeIns unter besonderer Berücksichtigung
der Techne sind!.
Diese Selbstinterpretation ist zumindest insofern richtig, als der
Philosoph die technomorphen Denkmodelle zu einem Begriffsapparat
ausgebaut hat, der an Reichhaltigkeit alles Vorherige weit in den Schatten
stellt, und diesen Apparat mit äußerster Folgerichtigkeit auf den ver-
schiedensten Forschungsgebieten anzuwenden bestrebt war.
In der Metaphysik ist es zunächst das Problem des Verhältnisses
von Sein und Werden, das der Denker mit Hilfe jener Begriffe zu meistern
trachtet. Alles Werden setzt einen Stoff, ein bleibendes Substrat (lJ1toxe:L-
fl-e:vov) voraus, das durch wechselnde Formen gestaltet wird. Sofern
der Materie die Form fehlt, kann sie auch als "Beraubung" (0"'t"6P"fj0"~<;,
privatio) bezeichnet werden. Entsprechend den Verhältnissen bei der
Verfertigung von Artefakten gilt der Stoff als das passive und unbe-
stimmte, die Form als das wirkende, gestaltende und begrenzende Prinzip.
Aus der Vereinigung beider entsteht das konkrete Einzelding (O"UVOAOV,

1 H. MEYER: Natur und Kunst bei .Aristoteles, Paderborn 1919. -


L. BRUNSCHVICG: L'experience humaine et la causalite physique, Paris 1922,
S.115ff., 139f. - Vgl. auch G. v. HERTLING: Materie und Form und die
Definition der Seele bei .Aristoteles, Bonn 1871, S. 95.
138 Der Kosmos der Philosophie

compositum), etwa aus dem Erz und der Kugelgestalt die eherne Kugel
(Met. VII 1033 b 8-10). Zur Erklärung der Werdeprozesse bedient
sich Aristoteles eines weiteren Begriffspaares: jeder dieser Prozesse ist
ein Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit, von der Potenz
(~UVCX(L~~) zum Akt (6v€pye:~cx). Auch hier stehen intentionale und be-
sonders technomorphe Vorstellungen im Hintergrund. "Potenz" ist zu-
nächst die Fähigkeit oder das Vermögen des Menschen, eine bestimmte
Handlung auszuführen, eine Leistung zu erbringen oder einen Plan zu
verwirklichen. Beispielsweise ist der Baumeister imstande, ein Haus zu
bauen, der Gelehrte hat die Fähigkeit, wissenschaftlich zu denken usw.
(Met. IX 1048 a 34ff.). Mit Recht hat Werner Jaeger hervorgehoben, daß
die verbreitete Meinung falsch ist, nach welcher Aristoteles die Begriffe
von Potenz und Akt aus dem organischen Lebensprozeß abgeleitet hat.
Vielmehr "erläutert er sie wohl gelegentlich am Beispiele des Samens und
des fertigen Erzeugnisses, aber sie können nicht aus der Sphäre des sich
organisch Entwickelnden stammen, sind vielmehr vom menschlichen
Können (~uvcx(L~~) genommen, das bald latent ruht, bald sich in Tätigkeit
(spyov) umsetzt und erst in dieser Betätigung (EV€PYS:~cx) sein Ziel erreicht
(EVTe:AEXe:~CX)"l. Dem menschlichen Können, das gewissermaßen die
subjektive Seite des Begriffspaares Potenz und Akt darstellt, steht auf
der Objektseite die Eignung des Werkstoffes gegenüber, eine bestimmte
Form anzunehmen. So ist das Erz oder der Marmor "potentiell" eine
Statue, das Silber der Möglichkeit nach eine Schale. Im konkreten Her-
steliungsprozeß sind beide Seiten vereinigt. Der Künstler setzt seine
Fähigkeit in die Tat um und gibt dadurch dem geeigneten Material die
geplante Form, wodurch der fertige Gegenstand vollendet wird.
Diesen Begriffsapparat, den Aristoteles aus dem "Kunstwerden"2
entwickelt hat, überträgt er zunächst auf den organischen Werdeprozeß.
Schon die Zeugung der Organismen erscheint als ein Fertigungsvorgang,
bei welchem der männliche Partner als gestaltendes und schaffendes
Prinzip, als causa formalis und efficiens (e:t~o~ xcxl. 7tOLQ'uv) fungiert,
während der weibliche den Stoff bereitstellt. Dem männlichen Samen
wird geradezu eine werkmeisterliche Tätigkeit ('t"o (l"7tEp!J.CX 7tO~e:L wO"7te:p
't"a a.7tO 't"EXV1j~) zugeschrieben3 • Wie die Zeugung, so wird auch die
Entwicklung durchaus technomorph als Formung eines Stoffes verstanden.
Im Keime ist die Gestalt des fertigen Lebewesens "potentiell" angelegt .
und diese Anlage "aktualisiert" sich im Werdeprozeß zum vollentwickelten
Dasein. Freilich vollzieht sich diese Formung nicht von außen her wie
beim Kunstwerk, sondern von innen heraus (z. B. De gen. anima!. II
735 a 2-4). So entsteht die Vorstellung einer objektiven Zweckmäßigkeit.

1 W. JAEGER: .Aristoteles, 2 . .Aufl., Berlin 1955, S.41O/411.


2 H. MEYER: .Abendländische WeltansJjhauung, 1. Bd., 2 . .Aufl., Pader-
born 1953, S. 215.
3 H. MEYER: Natur und Kunst, S.67. - Zum Fortwirken dieser Vor-
stellungen bei Thomas vgl. .A. MITTERER: Die Zeugung der Organismen,
insbesondere des Menschen, nach dem Weltbild des hl. Thomas v . .Aquin
und dem der Gegenwart, Wien 1947, S.27f., 155f.
Der Kosmos der Philosophie 139

Während die Gestaltung des Kunstwerkes vom Willen und von der Ent-
scheidung des Künstlers abhängig ist, verwirklichen sich die vorgegebenen
organischen Formen mit natürlicher Notwendigkeit!. Diese naturnot-
wendige Entwicklung ist aber nicht etwa bloß ein wertneutraler Vorgang,
sondern die Erreichung eines wesentlich werthaften Zieles. Wie der
Künstler mit seiner zweckgerichteten Arbeit ein bestimmtes Gut - das
fertig gestaltete Werkstück - produzieren will, so ist die Verwirklichung
der im Keim angelegten Form als "von der Natur gewollte" Vollendung
des Lebewesens ein objektiv Gutes 2 • Mit Hilfe der technomorphen Vor-
stellungen werden also auch hier dem Naturlauf gewisse Wertgesichts-
punkte unterlegt, die ihrerseits wieder auf wertbestimmtes menschliches
Verhalten rückbezogen werden können. Dieser Reflexionsvorgang soll
jedoch erst in anderem Zusammenhange näher behandelt werden.
Auf dem Wege über die Entwichlungsgesetzlichkeit der einzelnen
Individuen und verschiedenen Arten der Lebewesen werden die techno-
morphen Modelle auf den gesamten Weltzusammenhang übertragen. Das
schaffende Naturprinzip, die Physis, wirkt nicht nur in den artspezifischen
organischen Werdeprozessen, sondern durchwaltet den ganzen Kosmos.
Das Wirken dieser Macht wird immer wieder mit der intentionalen,
zweckrationalen Tätigkeit des Menschen verglichen. Sie tut wie ein echter
Künstler nichts umsonst und ohne Sinn, nichts zufällig und alles gleichsam
mit Absicht und wählt unter dem Möglichen das Beste. Sie gleicht aus,
schafft Ordnung und sorgt für das Gleichgewicht der Kräfte. Mit fließenden
Übergängen verlagern sich die Gleichnisse auch auf das sozialökonomische
Gebiet. Die "Natur" erscheint als ein tüchtiger Hausverwalter (oLxov6{lo~
ayoc&6t;), das Universum gleicht einem Hauswesen, in welchem jeder
Angehörige eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen und bestimmte Vor-
schriften zu befolgen hat3 •
Wie auf den Kosmos, so wird jener technomorphe Begriffsapparat
auch auf die Seele angewendet. Auch hier ist es der organische Werde-
prozeß, der diese Anwendung ermöglicht. Das Lebewesen wird wie ein
Werkstück als Kompositum aus einem Stoff - dem Leibe - und einer
Form - der Seele - betrachtet. Die Seele ist das gestaltende und bewe-
gende Prinzip, die "erste Entelechie eines mit Lebensfähigkeit ausge.
statteten Naturkörpers" (Psych. II 412 a 19ff). Der Ausdruck "erste
Entelechie" bedeutet, daß der Leib durch die Formkraft der Seele zwar
einen bestimmten Grad der Vollendung erreicht, aber nicht immer alle
ihm gegebenen Fähigkeiten betätigt. Die Auffassung des Organismus als
Einheit von Materie und Form führt allerdings zu der Konsequenz, daß
die Seele sich ohne den Körper ebensowenig betätigen kann wie der
Körper ohne sie. Diese Anschauung war zwar mit gewissen biologischen
Erfahrungen wohl vereinbar, stand aber mit dem auch noch bei Aristoteles

1H. MEYER: Natur und Kunst, S.93.


2H. MEYER: Natur und Kunst, S.87.
3H. MEYER: Natur und Kunst, S. 10lff. - Zur Auffassung des Univer-
sums als Oikos bei den Mesopotamiern vgl. oben, S.41, bei Thomas unten,
S.198.
140 Der Kosmos der Philosophie

fortlebenden platonischen Glauben an ein unsterbliches geistiges Prinzip


im Menschen in offenkundigem Widerspruch. Doch die Seele ist nicht nur
Formursache, sondern auch Wirk- und Zweckursache der Lebewesen
(Psych. II 415 b 9ff.). Ihrem Wirken ist die Orts bewegung ebenso zuzu-
schreiben wie das Wachstum und die Sinnesempfindung. Zweckprinzip
ist sie insofern, als die physischen Körper ihre Werkzeuge (opyotvot415b 19)
darstellen, welche für sie geschaffen sind.
Neben diesen mehr oder weniger eindeutig technomorphen Vorstel-
lungen finden sich bei Aristoteles auch solche, die an die soziomorphe
Seelenauffassung Platons anknüpfen. Der Mensch ist nach diesen Äuße-
rungen des Philosophen eine Hierarchie von Leib und Seele, und auch
innerhalb der Seele gibt es eine rangmäßige Stufenordnung verschiedener
Teile, die allerdings nicht immer ganz einheitlich durchgeführt wird.
Oft unterscheidet Aristoteles drei Seelenfunktionen oder -teile, die man
später als den vegetativen, sensitiven und intellektiven bezeichnet hat,
manchmal aber auch bloß zwei, nämlich den vernünftigen und den
unvernünftigen. Jeder dieser beiden besteht abermals aus zwei Teilen,
der unvernünftige aus einem schlechthin vernunftlosen - dem vege-
tativen - und einem solchen, welcher an der Vernunft durch Gehorsam
teilnehmen kann und im ganzen dem Triebleben entspricht, der ver-
nünftige dagegen aus einem rein theoretischen und einem praktisch-
ethischen, der der reinen Vernunft gehorcht (Eth. Nic. I 1102 a
26-1103 a 10). So wird der Mensch als eine Sozialstruktur im kleinen
aufgefaßt. Sie befindet sich in der rechten Ordnung, wenn die Seele ihr
naturgemäßes Herrscherrecht über den Leib ausübt, dem illr gegenüber
die Rolle des Sklaven zukommt; wie dieser nur ein Werkzeug für den
Herrn ist, so ist auch der Leib ein Werkzeug der Seele (Pol. I 1254a 34ff.,
Eth. Nic. VIII 1161a 34ff., Psych. I 407b 25). Innerhalb der Seele soll
wiederum die Vernunft über jenen Teil herrschen, der von Natur aus
bestimmt ist, ihr zu gehorchen (Eth. Nic. X 1177a 14). Die Herrschaft der
höheren über die niedrigeren SeelenteiIe gleicht nicht der des Besitzers
über den Sklaven, sondern jener des Staatsoberhauptes über die Staats-
bürger oder der Autorität des Lehrers gegenüber dem Zögling (Pol. I
1254 b 5, Eth. Nic. IU 1119b 13). Wird diese Ordnung eingehalten, so
befindet sich die Seele im naturgemäßen Zustand, der mit der Gesundheit
verglichen werden kann, während der Umsturz jener Ordnung der Krank-
heit des Körpers ~ntsprichtl.
Doch nicht nur die vorwiegend biologischen Seelenfunktionen, wie
Morphogenese oder Ernährung, werden nach den Kategorien von Stoff
und Form, Potenz und Akt erklärt, sondern auch die Erkenntnisfunktionen,
und zwar die Sinneserkenntnis ebenso wie die Verstandeserkenntnis.
Die menschliche Seele hat ein Wahrnehmungsvermögen, das durch die
Einwirkung der sensiblen Qualitäten der Dinge zur wirklichen Wahr-
nehmung aktualisiert werden kann (Psych. U 417 a 6-9). Dabei ninlmt

1 E. ÄRLETH: Die metaphysischen Grundlagen der aristotelischen Ethik,


Prag 1903, S.55ff., bes. S. 57.
Der Kosmos der Philosophie 141

jeder Sinn die Formen seiner Objekte ohne deren Materie auf, ähnlich
wie das Wachs beim Siegeln zwar das Zeichen des Siegelringes aufnimmt,
nicht jedoch dessen Material, Eisen oder Gold (Psych. II 424a l7ff.).
Wie das Wahrnehmungsvermögen durch die Formen der Sinnenobjekte,
so muß das Denkvermögen durch ein geistiges Formprinzip aktualisiert
werden. Sofern der Verstand bloß potentiell ist, gleicht er - analog dem
ungesiegelten 'Wachs - einer unbeschriebenen Tafel (Psych. III 429b
30ft). Wer diese Tafel beschreibt, bleibt zunächst ungesagt, doch fordert
die innere Konsequenz des technomorphen Begriffsapparates auch hier
eine gestaltende Kraft: "Da es in der gesamten Natur einerseits für jede
Gattung die Materie gibt (diese ist das Mögliche), andererseits die Ursache
und das schaffende Prinzip, das alles gestaltet wie die Kunst, die sich
am Stoffe betätigt, so müssen sich diese Unterschiede auch in der Seele
finden" (Psych. II! 430a lOff.). Und wenn sie sich finden müssen, dann
finden sie sich auch. Aristoteles tut dem technomorphen Schema Genüge,
indem er zwischen einem passiven, aufnehmenden und einem aktiven,
formgebenden Verstand - in der späteren Ausdrucksweise einem voij~
7t1X.lhrnx.6~ und einem voij~ 7to~'YJ't'~x.6~ - unterscheidet. Diese These
trägt auch einer anderen Schwierigkeit Rechnung, welche sich notwendig
aus der Vorstellung eines hierarchischen, wert- und rangmäßig gestuften
Aufbaues der Seele ergibt, die als platonisches Erbe bei Aristoteles weiter-
wirkt. Unter der Voraussetzung eines solchen Aufbaues darf der auf-
nehmende Verstand als das ranghöhere Seelenvermögen gar nicht durch
niedrigere Seelenfunktionen aktualisiert werden, etwa durch die anschau-
lichen Vorstellungen (Phantasmata), welche die Einbildungskraft auf
Grund der sinnlichen Wahrnehmung entwirft!. Vielmehr darf nach diesem
Grundsatz und nach der Ansicht, daß die Form rangmäßig über dem
Stoff steht, nur ein "höheres" Prinzip die Aktualisierung des passiven
Ven,tandes vornehmen, und dies ist eben der "wirkende Verstand".
Daß der Vergleich des Erkenntnisvorganges mit dem künstlerischen
Gestalten für das Verständnis dieser Gedankengänge besonders wichtig
ist, haben schon die antiken Kommentatoren des Aristoteles erkannt 2 ,
wobei freilich auf dieser Ebene die "Bearbeitung" des "Erkenntnis-
materiales" gerade darin besteht, daß alles Sinnliche von der reinen
Form abgestreift wird: "Wie der Künstler einen Stoff, so hat auch der
wirkende Verstand das Phantasma zu bearbeiten, nur ist beim Erkenntnis-
prozeß nicht (wie in der Kunst) ein Stoff mit einer Form zu überkleiden,
sondern eine reine Begriffsform soll, von allel' sinnlichen Materie befreit,

1 H. MEYER: Natur und Kunst, S.83f.


2 H. KURFEss: Zur Geschichte der Erklärung der aristotelischen Lehre
vom sogenannten voüc; 1tOl'lj't'LXOC; und n;()(.&l]'t'Lx6~ Diss. Tübingen 1911,
S. 13f., 17: "Er (Alexander von Aphrodisias bei der Erklärung der betreffenden
Stellen des Aristoteles) führt uns im Geist in die Werkstätte der Natur und
in das Atelier des Künstlers: bei allem, was im Gebiet des Kosmischen wird
und ist unterscheiden wir zwei Elemente: das eine repräsentiert den "Stoff",
das andere das ,;Wirkende"; der Künstler bewirkt, daß die Form am Stoff
auftritt; es scheint daher eine Forderung der Konsequenz zu sein, auch im
Nus diese zwei Elemente anzunehmen." Vgl. auch S.21.
142 Der Kosmos der Philosophie

zum Denkinhalt erhoben werden!." Der tätige Verstand ist als geistiges
Prinzip über alles bloß Biologische erhaben und trägt die bekannten
VolIlwmmenheitsattribute der Ewigkeit, Unsterblichkeit und Leidlosig-
keit (Psych. ur 430 a 23f.).
Der Einfluß der technomorphen Modelle scheint sogar bis in die Logik
zu reichen. Nach der Auffassung von Leon Brunschvicg entspricht bei
Aristoteles die Beziehung von Subjekt und Prädikat im Urteil letztlich
jener von Stoff und Form. Das Subjekt, welches durch das Prädikat
bestimmt wird, bildet gewissermaßen die Materie. Wenn man an einem
Gegenstand von allem abstrahiert, was über ihn ausgesagt werden kann,
so bleibt als "reines Subjekt" nur ein qualitätsloses und daher unerkenn-
bares Substrat übrig. Dieses eigenschaftslose Subjekt fordert nun ebenso
die Bestimmung durch ein Prädikat wie die Materie jene durch die Gestalt,
so daß das Urteil dem Kompositum entspricht. Was für die Lehre vom
Urteil gilt, gilt auch für die von der Definition. Hier wird aus dem inhalts-
ärmeren Gattungsbegriff, der logischen Materie (VA'Y) VO'Y)"nl), durch die
in der differentia specifica enthaltene Bestimmung der Artbegriff gebildet 2 •
So betrachtet Aristoteles den Makrokosmos und den Mikrokosmos,
das Universum und das Individuum, die Welt und die Seele, ja selbst das
Erkennen und die Denkformen unter Gesichtspunkten, welche dem
Bereich der intentionalen Modellvorstellungen und besonders jenem der
Materialverarbeitung entstammen, wobei er nicht selten die behandelten
Sachverhalte mit einer gewissen Gewaltsamkeit in diese vorgegebenen
Schemata zwängt. Die Eigenheiten der intentionalen Weltauffassung
treten auch hier deutlich hervor. Sie sucht nicht bloß bestimmte Phäno-
mene durch Analogisierung mit dem menschlichen Handeln zu erklären,
sondern führt auch ausgesprochene Wertprämissen ein; beispielsweise
steht die Form oder der Akt höher als die Materie oder die Potenz. Die
innere Konsequenz dieses halb deskriptiven, halb wertend-normativen
Vorstellungsapparates hat solche Macht über das Denken des Philosophen,
daß sie ihn manchmal zu recht fragwürdigen Konstruktionen zwingt,
in welchen neben Gesichtspunkten der Ähnlichkeit von Eigenschaften
oder Funktionen auch solche der Wertung ausgiebig zur Geltung kommen.
Das nach Ansicht des Aristoteles Minderwertige oder Unvollkommene
erhält oft die Rolle der "Materie", wogegen das an Rang und Wert Höhere
nach Möglichkeit als "Form" betrachtet und behandelt wird - beispiels-
weise gilt das Männliche als Form, das Weibliche als Stoff.
Doch macht sich bei Aristoteles wie bei manchen seiner Vorgänger
der Umstand geltend, daß die intentionale Deutung von W"elt und Seele
gewissen Vollkommenheitsansprüchen nicht zu genügen vermag. Obwohl
es nach werthaften Zielen strebt, kann das zweckgerichtete Handeln
doch nicht von allem befreit werden, was eventuell als wertwidrig oder
doch unvollkommen empfunden werden mag. Es ist ein zeitlicher und

1H. MEYER: Abendländ. Weltanschauung, S.255.


2L. BRUNSCHVICG: Experience, S. 137ff.; vgl. Met. VIII, 1045a 33f. -
Man beachte, daß auch das logische Subjekt als il11:oxe:LfJ.E:VOV bezeichnet wird.
Der Kosmos der Philosophie 143

zeitgebundener Vorgang, eine Veränderung, es beschäftigt sich mit


endlichen Objekten, setzt oft ein Bedürfnis oder einen Mangel voraus,
dessen Befriedigung oder Beseitigung es zum Ziele hat, und ähnliches
mehr. So ist es zu erklären, daß verschiedene Denker es mit der Voll-
kommenheit des höchsten Weltprinzips unvereinbar hielten, diesem ein
Handeln etwa im Sinne eines Befehlens oder Verfertigens, ja überhaupt
eine Beschäftigung mit endlichen Dingen oder Vorgängen zuzuschreiben.
Derartige Wertpostulate sind auch für die Theologie des Aristoteles
von grundlegender Bedeutung. Der Philosoph konstituiert den Gottes-
begriff so offenkundig auf der Basis von Wertprämissen, daß man geradezu
von einem axiologischen Gottesbeweis sprechen könnte. In einem Frag-
ment der Schrift "Über die Philosophie" heißt es: "Überall, wo es ein
Besseres gibt, gibt es auch etwas, das das Vollkommenste ist. Da nun
unter den existierenden Dingen eines besser ist als das andere, gibt es
folglich auch etwas, das das Volllwmmenste ist, und dies ist das Gött-
lichel ." Ein Wesensmerkmal dieses Besten oder dem V olllwmmenheits-
ideal Entsprechenden ist seine Erhabenheit über alle irdische Beschränkung
und Veränderung. Das göttliche Prinzip trägt die zum Teil schon be-
kannten Attribute der Ewigkeit, Unbegrenztheit und Selbstgenügsamkeit,
es ist unveränderlich, leidenslos und frei von Mangel und Bedürfnis2 •
Es ist reiner Akt und daher frei von aller Materie; selbstverständlich
werden ihm auch alle im Sinne des Mythos anthropomorphen Merkmale
abgesprochen. Infolge seiner Mangellosigkeit braucht es keine Hoffnung,
wie es auch der Erinnerung entbehrt und ist es glücklich durch die
Kontemplation seiner selbst (Met. XII 1072 b 14ff.).
Aus dem Postulat der Vollkommenheit, welche für Aristoteles auch
das vollkommene Glück umfaßt, werden auch die Thesen über die göttliche
Tätigkeit und ihren Gegenstand abgeleitet. Das wahre und höchste Glück
liegt nach Ansicht des Philosophen in der denkenden Kontemplation
(&e:WpLOC), einer intellektuellen Betätigung, die in Muße vollbracht wird
(Met. XII 1072 b 24ff., Eth. Nie. X 1177 b 16 ff.). Darum wird auch Gott
als dem glückseligsten Wesen diese Art der Tätigkeit zugeschrieben (Eth.
Nic. X 1178 b 7ff.). Dagegen ist die Freude, welche das praktische Handeln
vermittelt, bloß menschlich und lenkt von der seligen Schau ab. Ein
solches Tun gilt als kleinlich und eines Gottes unwürdig (Eth. Nic. X
1178 b 17). Wie den Behauptungen über die Art der göttlichen Betätigung,
so liegen auch den Aussagen über deren Gegenstand bestimmte Wertungen
zugrunde. Das höchste und reinste Denken muß das Beste zum Objekt
haben: Gott als das absolut Gute darf nur das absolut Gute denken, das

1 Frgm. 16 Rose. - Wenn auch die Formulierung nicht direkt von Aristo-
teles stammen sollte, so enthält sie doch das Prinzip der aristotelischen -
und nicht nur der aristotelischen - Gotteslehre. Zur Rolle der Vollkommen-
heitspostulate in der Theologie des Aristoteles vgl. auch W. JAEGER: Aristo-
teles, S. 370f. und (besonders aufschlußreich) J. HESSEN: Platonismus und
Prophetismus, München 1939, S. 40ff.
2 K. ELSER: Die Lehre des Aristoteles über das Wirken Gottes, Münster
1893, S. 12ff.
144 Der Kosmos der Philosophie

heißt, sich selbst. Alle anderen Gegenstände wären des göttlichen Denkens
unwürdig. Würde es sich ihnen zuwenden, so wäre dies eine Wendung
zum Schlechteren (Met. XII lO72 b 18ff., lO74 b 21ff.). So erscheint die
göttliche Aktivität als eine immerwährende, auf das eigene Sein be-
schränkte und dieses genießende Selbstkontemplation, welche von der
Welt nichts weiß, geschweige denn in ihren Lauf handelnd eingreift!.
Von einem Wollen ist kaum die Rede: "Nie wird auch eine einzige be-
jahende Erörterung dem Willen Gottes gewidmet, nie von einer eigentlichen
Freiheit in Gott geredet, nie auch nur das Wort n-POVOLOC von Gott in
echt philosophischen Stellen in den Mund genommen2 ."
Die aristotelische Philosophie entwickelt also im Gegensatz zur
intentionalen Deutung des Kosmos einen Gottesbegriff, der auf einem
weitgehend akosmischen Vollkommenheitsideal beruht, das in letzter
Konsequenz eine völlige Isolierung des göttlichen Wesens von der Welt
fordert. Doch diesen starken Wertmotiven wirken andere entgegen:
werden jenem Wesen alle Funktionen im Universum entzogen, so vermag
man mit ihm das Weltgeschehen nicht zu erklären und überdies verliert
es jede praktische Bedeutung und damit jedes Interesse für den Menschen.
Aristoteles hat zu diesen Schwierigkeiten nicht eindeutig Stellung ge-
nommen. Sein bekanntester Lösungsversuch ist die Lehre, das göttliche
Prinzip sei zwar selbst unbewegt und walte nicht planend oder gestaltend
im Weltall, doch es ziehe alles an sich und bewege es so, wie der Gegen-
stand der Liebe den Liebenden an sich zieht, ohne zu handeln (Met. XII
1072 b 3). Daneben tauchen manchmal auch intentionale Vorstellungen
auf, wobei es allerdings nie ganz klar wird, ob der Denker an diesen Stellen
Zugeständnisse an die Volksreligion mit ihren handelnden Göttern macht.
In dem oben (S. 135) erwähnten Fragment ist die Schönheit und Erhaben-
heit des Kosmos ein Werk der Götter und in der "Politik" (Pol. VII
1325 a 16ff.) erscheint das göttliche Wirken zwar nicht als ein Herstellen,
aber doch wohl als ein geistiges Entwerfen, wie es die Architekten üben.
Gelegentlich wird die Gottheit als oberstes Ordnungsprinzip auch mit
einem Feldherrn verglichen (Met. XII 1075 a ll), ferner wahrscheinlich
mit einem Hausvater, wenn es im gleichen Zusammenhang heißt, alles
in der Welt sei auf ein einziges Ziel hingeordnet, doch sei es hier wie in
einem Hauswesen, wo die Freien den meisten Vorschriften unterliegen,
während die Sklaven und das Vieh wegen ihrer Unwichtigkeit größere
Freiheit genießen3 • Völlig unverkennbar wird schließlich das Universum
als ein vom göttlichen Monarchen gerecht regierter Staat aufgefaßt,
wenn Aristoteles am Schluß des zwölften Buches der Metaphysik den
berühmten Satz ausspricht: "Die Dinge wollen aber keine schlechte
Verfassung haben. ,Nichts Gutes ist die Vielherrschaft, ein Herrscher
nur walte'" (Met. XII 1076 a 4).

1 K.ELSER, a. a. 0., S. 61.


2 K. ELSER, a. a. 0., S. 76f. - Das Fehlen einer Willenstätigkeit Gottes
bei Aristoteles betont auch A. BOEHM: Die Gottesidee bei Aristoteles auf
ihren religiösen Charakter untersucht, Köln 1915, S. 10Hf.
3 K. ELSER, a. a. 0., S. 129.
Der Kosmos der Philosophie 145

So besteht in der Theologie und damit in der gesamten Philosophie


des Aristoteles eine starke Spannung zwischen den Handlungsmodellen
und gewissen Vorstellungen, die nicht mehr aus dem Erlebniskreis des
tätigen Menschen, sondern aus jenem des kontemplativen Philosophen
stammen. Nicht das Wirken nach außen, das Herrschen, Planen und
Organisieren, sondern die reine Schau und das in sich selbst versunkene
Denken gelten dieser Lebensauffassung als Inbegriff der Vollkommenheit
und Glückseligkeit. Einen Ausgleich zwischen jenen gegensätzlichen
Tendenzen, die im wesentlichen auf divergierenden Grundwertungen
beruhen, hat der Denker nicht gefunden. Eher ist bei ihm ein gewisses
Schwanken festzustellen!. So hat Aristoteles den Einflußbereich der
intentionalen Modelle gewaltig erweitert, ohne sie aber bis zur letzten
Konsequenz anzuwenden. Dies ist der Stoa vorbehalten geblieben.
In der bisherigen Erörterung der intentionalen Weltauffassung bei
Aristoteles wurde nur die analogiehafte Übertragung der Handlungs-
modelle auf die verschiedenen WirkIichkeitsbereiche berücksichtigt. Nicht
selten ergeben sich bereits bei diesem Vorgang ernste Schwierigkeiten,
da die Handlungsanalogien nicht immer zu den Sachverhalten passen,
auf die sie angewendet werden. Es ist hier nicht unsere Aufgabe, alle
Probleme oder Scheinprobleme zu untersuchen, welche auf diese Weise
zustande kommen. Lediglich ein Beispiel für die Unstimmigkeiten soll
gegeben werden, in welche bereits der erste Schritt der intentionalen
Weltdeutung des Aristoteles - die technomorphe Interpretation der
Lebensvorgänge - führt. Der Philosoph sagt an einer Stelle der Meta-
physik (X 1058 a 37), die Form bilde das Individuationsprinzip, an einer
anderen (XII 1074 a 33) schreibt er der Materie die individualisierende
Funktion zu. Wie Uon Brunschvicg zu diesem Widerspruch bemerkt,
handelt es sich hier um eine grundsätzliche Divergenz zwischen dem
technologischen und dem biologischen Sachverhalt2 • Für den Bildhauer
ist die "Materie" ein homogener, gestaltloser Block, dem er eine Form
und damit eine Individualität gibt, etwa die Züge eines olympischen
Gottes. Der Naturforscher dagegen findet die "Form" in der konstanten
Artgestalt, beispielsweise der des Eichbaumes oder des Pferdes. Diese
ist für eine Mehrzahl von Exemplaren der gleichen Art - Eichen oder
Pferden - identisch, so daß diese sich nur durch die Materie unter-
scheiden, nur durch sie zu verschiedenen Individuen gemacht werden.
Allerdings ist diese Schwierigkeit vermeidbar, wenn man nicht das
Schaffen einzelner Kunstwerke, sondern die Herstellung von Serien-
fabrikaten, zum Beispiel das Stanzen und Prägen von Münzen, als tech-
nisches Gegenstück zur Artkonstanz betrachtet. In diesem Falle ist wie
bei den Lebewesen die Form - das Gepräge - identisch und das Material
verschieden.
Doch bei Aristoteles findet nicht bloß eine Projektion von inten-
tionalen Vorstellungen in die Natur statt, sondern auch der bekannte

1 K. ELSER, a. a. 0., S. 210ff.


2 L. BRUNSCHVICG: Experience, S. 14Of.

Topitsch, Metaphysik. 10
146 Der Kosmos der Philosophie

Vorgang der Reflexion: die nach Handlungsmodellen gedeutete "Natur"


wird dem ursprünglichen menschlichen Handeln übergeordnet. Zunächst
erscheint die zweckgerichtete Tätigkeit des Handwerkers als bloße Nach-
ahmung der überlegenen Zwecktätigkeit der Physis!, dann aber wird das
"Natürliche" auch zur Norm für das moralische Verhalten.
Die normative Ethik des Aristoteles beruht aber nicht auf der Vor-
stellung eines sozio-kosmischen "Weltgesetzes", aus dem sich die recht-
lichen und sittlichen Gesetze der Menschen herleiten sollen, sondern auf
der Idee der technomorph-biologischen Normgestalt, mit deren Erreichung
die verschiedenen Arten der Lebewesen ihre spezifische Vollkommenheit
erlangen. Diese Idee bedeutet zunächst eine Interpretation des organischen
Entwicklungsvorganges als eines künstlerisch-handwerklichen Herstellungs-
vorganges, durch welchen ein vorher erdachter Entwurf in einem bestimmten
Material verwirklicht wird. Je näher das Werkstück diesem vorbildlichen
Entwurf kommt, desto besser ist es gelungen. Analog liegen nach dieser
Auffassung die Dinge bei den Lebewesen. Hier erreicht der organische
vVerdeprozeß sein Endziel mit der Verwirklichung der naturgegebenen
Normgestalt im vollentwickelten, reifen und leistungsfähigen Exemplar
einer Gattung (Phys. II 194 a 28ff., Pol. I 1252 b 31 ff.). Die Realisierung
dieses Endzweckes geschieht durch ein inneres Streben, das bald 6p(1-11'
bald OpsYEcr&aL, bald ßouAEa&aL genannt wird2 • Das Individuum, das
auf diese Weise so geworden ist, wie es sein soll, nennt Aristoteles "tüchtig"
(crnouaaLoc;); es ist imstande, die ihm von Natur aus zukommende Tätig-
keit Ciawv EpyOV) zu vollziehen und die seiner Art entsprechende Voll-
kommenheit (oLxELa &pE"t'~) zu erreichen3 •
Die Lehre vom "Wesenszweck" der Organismen dehnt Aristoteles auf
den Menschen aus, und zwar nicht nur auf seine physische Entwicklung,
sondern auch auf sein moralisches Handeln. Wie alle übrigen Lebewesen,
so hat auch der Mensch einen in seiner Natur angelegten Endzweck, eine
naturgemäße Tätigkeit und artspezifische Vollkommenheit. Während aber
sonst die bloße körperliche Reife, Gesundheit und Funktionstüchtigkeit
genügt, tritt beim vernünftigen Wesen die Herrschaft der Seele über den
Leib und die der Vernunft innerhalb der Seele hinzu (Eth. Nie. I 1098a 7).
Allein das Kriterium dafür, was als "vernunftgemäß" und daher für
den Menschen "natürlich" zu betrachten sei, vermag Aristoteles nicht
aus der "Natur" herzuleiten oder auf andere Weise theoretisch zu be-
gründen. Vielmehr verweist er auf das Beispiel der crnouaaLo L, der <pPOVL[LOL,
also der von der herkömmlichen Meinung als moralische Vorbilder aner-
kannten Persönlichkeiten. Das Urteil dieser Männer ist auch der Maßstab
für das aristotelische Tugendprinzip der rechten Mitte (Eth. Nie. II
1106 b 36)4. Damit macht aber Aristoteles nicht das "Natürliche" zum
Kriterium oder zur Quelle des Moralischen, sondern umgekehrt bestimmte

1 W. JAEGER: Äristoteles, S.75.


2 E. ÄRLETH: Grundlagen, S.39ff.
3 E. ÄRLETH: Grundlagen, S.44ff.
-1 E. ÄRLETH: Grundlagen, S. 58.
Der Kosmos der Philosophie 147

moralische Wertungen - nämlich die in seiner Kultur herrschenden! -


zum Kriterium dessen, was als "natürlich" gelten soll2. Der so geschaffene
pseudo-normative Naturbegriff wird dann zur scheinbaren Rechtfertigung
eben jener Moral gebraucht, die von vorneherein schon in ihn hineingelegt
worden war: "Der teleologische Naturbegriff ist also eine Funktion des
Wertbegriffs, nicht aber ist umgekehrt der Wertbegriff eine Funktion des
(teleologischen) Naturbegriffs ... Man gerät also in jenen Zirkel, das, was
man sich wünscht oder für gut hält, für das ,Naturgemäße' zu erklären,
und dann hinterher das Gute aus diesem Naturgemäßen herauszuholen3 ."
Doch kann es auch der Fall sein, daß bei diesem Zirkelschluß keinerlei
inhaltlich bestimmte Moral vorausgesetzt wird, wobei auch keine solche
als Ergebnis aufscheint. Dann bewegt sich die ganze Argumentation in
leeren Tautologien, etwa wenn man das Natürliche durch das Gute,
dann wieder das Gute durch das Natürliche definiert oder beides als
das bezeichnet, was der Gute anstrebt und billigt. Auch solche Leer-
formeln sind, wie die Kritik längst gesehen hat4 , bei Aristoteles nicht selten.
Der eben behandelte Sachverhalt ergibt sich mit Notwendigkeit aus
der Struktur der intentionalen Analogien, auf welchen die aristotelischen
Gedankengänge beruhen. Solange die technomorphen Modelle zur Er-
klärung biologischer Regelmäßigkeiten angewendet werden, haben sie eine
gewisse Darstellungsfunktion. Es gibt objektiv bestimmbare Tatsachen
und Entwicklungen, die manche Ähnlichkeiten mit den Vorgängen und
Ergebnissen menschlichen Zweckhandelns aufweisen, etwa die Morpho-
genese und die Konstanz der Arten: aus der Eichel wird immer ein Eich-
baum, aus dem Füllen ein Pferd, aus dem Embryo ein Mensch. Wie

1 TH. GOMPERZ: Griech. Denker IU, S.196.


2 "\V. ECKSTEIN: Das antike Naturrecht in sozialphilosophischer Beleuch-
tung, Wien 1926, S. 90: "Als ,natürlich', als dem Gattungsbegriff entsprechend,
erscheint ihm (Aristoteles) nämlich das, was nach seiner Ansicht sein soll,
was den sittlichen oder sonstigen Forderungen entspricht. Das zeigt sich
etwa deutlich, wo Aristoteles von einer vollendeten Natur spricht oder wenn
er geradezu erklärt, das Natürliche müsse man bei dem im guten Zustand
Befindlichen suchen (Pol. I, 5. 1254a 35). Aus dieser Definition erhellt aber,
wie ich glaube, daß die Ableitung des Sittlichen aus dem Natürlichen in der
aristotelischen Ethik eigentlich nur eine scheinbare ist. Denn wenn er selbst
zugibt, das Natürliche nur bei den in unverdorbenem Zustand befindlichen
Menschen zu finden, so zeigt er damit deutlich, daß er das Kriterium für die
Unverdorbenheit dieses Zustandes - ebenso wie die Bestimmung des <pp6"\!L0~
und des C17tOUÖOCLO<;, die ihrerseits das Maß für das Sittliche abgeben sollen -
nicht aus der Natur, sondern anderswo hernimmt. Die Quelle aber für diesen
Maßstab sind, wie gerade diese Stelle der Politik und viele andere der Ethik
zeigen, die geltenden moralischen Anschauungen... So erscheinen bei
Aristoteles die Bestimmungen und vVertungen der positiven Moral schließlich
als das letzte Kriterium des Natürlichen und Normalen."
3 H. WELZEL: Naturrecht, S.30. - Vgl. H. GOJ\IPERZ: Die Lebensauf-
fassung der griechischen Philosophen, Leipzig 1904, S. 234. Zur Alternative,
entweder alles Wirkliche als natürlich zu betrachten oder einen Naturbegriff
auf Grund eines schon vorausgesetzten Normbegriffes zu konstituieren vgl.
M. REDING: Metaphysik der sittlichen Werte, Düsseldorf 1949, S.96.
4 E. ARLETH: Grundlagen, S.58f. - A. Ross: Kritik der sogenannten
praktischen Erkenntnis, Leipzig-Kopenhagen 1933, S.213ff.

10·
148 Der Kosmos der Philosophie

weit diese Ähnlichkeiten reichen und wie weit die Venvendung der
Handlungsmodelle für rein deskriptive Zwecke zulässig ist, soll hier nicht
im einzelnen untersucht werden. Wesentlich ist es aber, daß durch die
technomorphen Modelle gewisse Vorstellungen vom menschlichen Handeln,
das sich seine Ziele in Entscheidungsakten setzt - der Künstler ent·
scheidet etwa, ob er aus einem Marmorblock eine Statue des Zeus oder
der Athene machen wird -, auf entscheidungslose Gleichförmigkeiten
des Naturgeschehens - die Eichel kann nicht entscheiden, ob sie zur
Eiche oder zur Buche werden wird - übertragen werden. Dadurch ent-
steht der Gedanke einer objektiven, vom menschlichen Wollen unabhän-
gigen und ihm überlegenen "Zweckmäßigkeit". Dieser bleibt nicht auf
die Darstellung biologischer Vorgänge beschränkt, sondern wird zu einem
umfassenden Prinzip der Welterklärung. In dieser Gestalt - als allgemeine
"Teleologie" - wird er schließlich auch auf sein eigenes Urbild, das
wirkliche Handeln, rückbezogen. Man stellt sich vor, daß nicht nur in
der körperlichen Entwicklung des Menschen, die sich im allgemeinen
unabhängig von seinen Willens entscheidungen vollzieht, eine "objektive
Zweckmäßigkeit" waltet oder eine Normgestalt verwirklicht wird, sondern
daß es auch im Bereich der bewußten Entscheidungen vorbestimmte
"Wesenszwecke" gebe, die als Normen für das Handeln dienen können.
Allein diese Annahme entbehrt jeder sachlichen Grundlage. In der
Biologie werden die technomorphen Modelle wenigstens auf irgendwelche
beobachtbaren Vorgänge und Gegenstände bezogen. Daher besitzen sogar
die Werturteile, die auf Grund jener Vorstellungen gefällt werden, einen
mehr oder minder klar erfaßbaren Sachgehalt. Beispielsweise enthält die
These, das vollentwickelte Lebewesen sei als Verwirklichung eines Natur-
zweckes an sich wertvoll, zwar eine unbegründbare Bewertung, aber sie
bezieht sich doch auf ein identifizierbares Objekt, welches das Ergebnis
eines invarianten Entwicklungsvorganges darstellt. Doch dieser Sach·
gehalt schwindet, sobald die technomorphen Modelle nicht mehr auf ein
Naturgeschehen angewendet werden, das zu einem wenigstens im Prinzip
feststehenden Resultat - etwa zur fertigen Eiche - führt und daher
keine Entscheidungsmöglichkeiten besitzt. Nun fehlen gerade beim
menschlichen Handeln jene entscheidungslosen Regelmäßigkeiten, und
weil oder insofern sie fehlen, ist es notwendig, das Handeln durch Normen
und Direktiven zu leiten. So ist die Vorstellung objektiver Zwecke,
welche das moralische Handeln der Menschen regeln sollen, in jeder
Hinsicht leer. Sie hat weder einen deskriptiven noch einen normativen
Gehalt. Die Berufung auf solche Zwecke ist daher eine leere Formel,
mit der man ganz nach Belieben verfahren kann. Entweder unterlegt man
ihr irgendwelche willkürlich wählbaren Wertgehalte oder sie bleibt
überhaupt leer.
Das in die Natur projizierte, zum Gedanken einer objektiven Zweck-
mäßigkeit gesteigerte und erweiterte Handlungsschema wird also bei
Aristoteles dem ursprünglichen Handeln als Norm übergeordnet. Aus dem
"Wesenszweck" des Menschen sollen sich letztgültige Direktiven für sein
Tun ergeben, doch bleibt es ihm überlassen, diese Richtlinien zu befolgen
Der Kosmos der Philosophie 149

oder gegen sie zu verstoßen. Die Willensentscheidungen und Handlungen


stehen nach aristotelischer Lehre der Teleologie selbständig gegenüber,
sie werden durch diese nicht bewirkt, erzeugt oder determiniert. Das
Problem der Willensfreiheit wird daher in diesem Zusammenhang nicht
aktuelll .
Mehr Beachtung schenkt dagegen der Philosoph der Frage, warum es
in der Welt so viel Unvollkommenes gebe, obwohl doch allenthalben
zweckhaft wirkende Kräfte am Werke sein sollen. Seine Antwort liegt
ganz auf der Linie des teehnomorphen Denkens: die Schuld an den
Unzulänglichkeiten der Dinge trägt der Widerstand der Materie, welcher
die volle Verwirklichung der Normgestalt verhindert (De generat, anim IV
770 b 16). Wo am meisten Stoff ist, dort kann sich die Form, die mit dem
Naturzweck identisch ist, am wenigsten durchsetzen (Meteor. IV 390 a 3).
So bleibt das fertige Gebilde mehr oder weniger hinter seinem normativen
Muster zurück. Dieses Zurückbleiben, durch welches der Gegenstand seiner
Vollkommenheit beraubt wird, ist nichts Positives und selbständig
Existierendes, sondern ein bloßer Mangel, ein Nichtseiendes (Phys. I
191 b 15, 192 a 3). Diese Überlegungen sind für das aristotelische Denken
höchst charakteristisch. Sie sind überdies für die weitere geistes geschieht.
liehe Entwicklung sehr bedeutsam geworden. Immer wieder hat man
versucht, das Übel oder das Böse als bloße Privation oder Defizienz
hinzustellen und ihm damit die wirkliche Existenz abzusprechen. Doch
sollen die Folgen der aristotelischen Lehre, daß "das Böse nirgends ein
eigenes Wesen erlangt, sondern nur einen Abzug vom Guten und eine
Beraubung wertvoller Eigenschaften bildet2 " , später im Rahmen ihrer
historischen Zusammenhänge behandelt werden. Vorläufig ist nur zu
betonen, daß die Auffassung des Bösen als Privation auf einem techno·
morphen Grundmodell beruht. Das Paradigma des Übels ist hier das
technologisch Schlechte oder Minderwertige, das mißlungene Werkstück,
welches hinter seinem Entwurf zurückbleibt. Diese Betrachtungsweise
unterscheidet sich sehr von der soziomorphen, die wir beispielsweise
in der platonischen Seelentheorie gefunden haben. Dort besteht das
Böse im Aufstand der niedrigeren und zum Dienst bestimmten Seelenteile
gegen die höheren, die das Privileg der Herrschaft besitzen (vgl. oben,
S.127). Der grundlegende Unterschied der teelmomorphen und der sozio·
morphen Theorie des Bösen besteht darin, daß sie von Modellen ausgehen,
deren Lebensbedeutsamkeit stark differiert. Mißglückte Werkstücke
verursachen meist nur Ärger und Unannehmlichkeiten und bloß selten
ernste Gefahren, auch steht hinter ihnen keine bewußte Absicht, sondern
lediglich Fahrlässigkeit oder menschliche Unzulänglichkeit. Dagegen führt
die Rebellion zur Entscheidung auf Leben und Tod zwischen den Auf·
ständischen und den Herrschenden, und der Rebell greift bewußt zu den
Waffen, um die bestehende Ordnung zu stürzen. Darum ist die Erhebung

1 H. GOlliPERZ: Willensfreiheit, S. 10f.


2 R. EUCKEN: Die Lebensanschauungen der großen Denker, 20 . .AufI.,
Berlin 1950, S. 43.
150 Der Kosmos der Philosophie

gegen die Regierungsgewalt, so lange der Staat besteht, eines der schwer-
sten, ja oft das schlechthin todeswürdige Verbrechen. Es ist daher leicht
einzusehen, daß die technomorphe Privationstheorie zumeist dort ge-
braucht wird, wo die Bedeutsamkeit des Bösen möglichst verkleinert und
verharmlost werden soll, während die soziomorphe Rebellionstheorie dazu
geeignet ist, diese Bedeutsamkeit zu unterstreichen und zu dramatisierenl .

III
Durch seine Lehre hat Aristoteles mächtig auf die kommenden Zeiten
eingewirkt, die Voraussetzung für den weltumspannenden Einfluß der
griechischen Philosophie hat aber die Tat seines großen Schülers Alexander
geschaffen, der die hellenische Kultur aus der räumlichen Enge der klassi-
schen Periode in die Weiten des Orients hinausgetragen hat. Damit wurde
ein Verschmelzungsprozeß von griechischem und orientalischem Denken
eingeleitet, dessen geistesgeschichtliche Wirksamkeit kaum überschätzt
werden kann. Der Hellenismus und die Spätantike werden zwar noch
immer manchmal unter dem Einfluß eines engsinnigen Klassizismus als
Verfallsperioden betrachtet, in Wirklichkeit aber ist die griechisch-
orientalische Mischkultur dieser Zeit ein Knotenpunkt der geistigen
Entwicklung eines beträchtlichen Teiles der Menschheit. Zunächst über-
wiegt - entsprechend den militärisch-politischen Erfolgen - die Stoß-
kraft des Griechentums. Beispielsweise ist der Einfluß hellenischer Kunst
bis nach Indien und Ost-Turkestan nachweisbar2 • Allein die griechische
Rationalität diente nicht selten dazu, orientalische Weltanschauungs-
gehalte in eine systematische Ordnung zu bringen - so ist etwa die
Astrologie erst unter griechischem Einfluß zu einem umfassenden Lehr-
gebäude umgestaltet worden3 • Mit der Zeit verschiebt sich das Gleichgewicht
immer stärker zugunsten Asiens. Das Geistesgut des Ostens fließt in
immer vollerem Strome in den großen Mischkessel jener Kultur, die sich
ihrerseits wieder über den römischen Westen ausbreitet.
Das Vordringen der sozio-kosmischen Gedankenwelt des Alten Orients
nach Europa habe ich bereits dargestellt, soweit es sich um Phänomene der

1 Beide Theorien haben die Jahrhunderte hindurch nebeneinander


existiert und sind je nach Bedarf zur Verwendung gelangt. So war beispiels-
weise in der christlichen Theologie oder Theodizee des Mittelalters die Priva-
tionstheorie vorherrschend, doch brach das Rebellionsmodell immer wieder
durch. Dann sah man Gott etwa als einen in einen Aufruhr verstrickten
König, der seine Truppenmacht zur Unterdrückung der Erhebung der abge-
fallenen Engel aufbietet. "Diese Repression wird derart unter dem Gesichts-
punkt eines staatlichen Machtmittels gegen unbotmäßige Untertanen auf-
gefaßt, daß geradezu von Gott gesagt wird, es würde ihn, falls er es nicht
angewendet hätte, der Makel eines sich selbst aufgebenden oder feigen Herr-
schers treffen" (B. VALLENTIN: Der Engelstaat, in der Festschrift "Grundrisse
und Bausteine zur Staats- und zur Geschichtslehre" f. G. Schmoller, Berlin
1908, S. 6lf.).
2 A. v. LECoQ: Auf Hellas' Spuren in Ostturkestan, Leipzig 1926.
3 F. BOLL: Hellenismus und Orient, in der Aufsatzsammlung "Kleine
Schriften zur Sternkunde des Altertums", hrsg. v. V. STEGEMANN, Leipzig
1950, S.283ff. - ders.: Über Astrologie, ebd., S.62ff.
Der Kosmos der Philosophie 151

allgemeinen Kultur, zumal der Kunst und der Politik, handelt. In diesem
Strom der hellenistisch-orientalischen Gesamtkultur ist auch die Philo-
sophie eingebettet geblieben und aus ihm hat sie wesentliche Motive ihres
Denkens aufgenommen. Die Beziehungen sind hier oft so eng, daß die
Grenzlinien, die nun einmal aus Gründen der Darstellung notwendig
sind, mit einer gewissen Willkür gezogen werden müssen. Dies gilt beson-
ders für jene Popularphilosophie, die sich am Ausgang der vorchristlichen
Ära aus Gedanken der vorsokratischen, platonisch-aristotelischen und
stoischen Kosmosspekulation und aus Elementen der sozio-kosmischen
Mythologie des Orients gebildet hat. A.-J. Festugiere hat sie als die geistige
Koine jener Zeit bezeichnet!, indem er den Namen der gemeingriechischen
Einheitssprache, die zugleich die lingua franca des gesamten Kultur-
bereiches war, treffend auf das Weltanschauliche übertrug. Dieses Welt-
bild, das etwa um Christi Geburt bereits weitgehend das Gemeingut einer
verhältnismäßig zahlreichen Bildungsschicht war, hat trotz seiner geringen
Originalität außerordentlichen Einfluß auf die Nachwelt ausgeübt. Es
ist nicht allein durch die philosophischen Schriftsteller Roms und später
durch die christliche Theologie für die geistige Entwicklung Europas
grundlegend geworden, sondern hat auch im jüdischen und arabischen
Denken tiefe Spuren hinterlassen. Zusammen mit ihrer akosmischen
Gegenströmung, die in der Gnosis einen Höhepunkt erreicht hat, darf
diese intentionale Kosmosspekulation als einer der entscheidenden
Faktoren in der Gestaltung des Weltbildes Europas und des Vorderen
Orients gelten.
Die Verschmelzung hellenischen und östlichen Gedankenguts hat sich
allerdings schon in der Philosophie des vierten vorchristlichen Jahrhunderts
angebahnt. Der Vorstellung eines planmäßig schaffenden, ordnenden,
verwaltenden und fürsorglich regierenden Weltengottes begegnen wir
bereits in den Memorabilien des Xenophon (Kap. I 4 und IV 3) und
in den späten Werken Platons. Bei Aristoteles wird zwar das zweck-
rationale Wirken im allgemeinen dem göttlichen Geiste abgesprochen und
die Funktion des Bildens und Planens auf die Physis, den Naturlogos,
übertragen, die intentionale Deutung des Universums als solche erfährt
aber eine weitere Verstärkung. So bereitet sich die Auffassung der Stoa
und der hellenistisch-römischen Populärphilosophie vor, nach welcher
der Kosmos eine umfassende, von einer einzigen Macht nach einem wert-
rationalen Plan entworfene und regierte Einheit bildet.
Gleichzeitig dringt auch der orientalische Sternenglaube in das
griechische Denken ein. Schon Platon stellt die Regelmäßigkeit des Laufes
der Gestirne in religiös-moralischer Absicht als Vorbild für das mensch-
liche Hanqeln hin. Völlig eindeutig wird die Übernahme der orientalischen
Astralreligion bei dem Verfasser der Epinomis, eines Anhanges zu den
"Gesetzen" Platons. Dieser Autor gesteht ein, daß die Griechen infolge
ihres ungünstigeren Klimas später als die Orientalen die kosmische
Ordnung der Sternengötter entdeckt haben, aber er ist überzeugt, sein

1 A.-J. FESTUGIERE: Revelation II, S.345.


152 Der Kosmos der Philosophie

Volk bringe alles, was es von den Fremden übernimmt, auf eine höhere
Stufe der Volllmmmenheit (987 DIE). Er ist sich also bewußt, eine aus-
ländische Religion nach Hellas zu verpflanzen, sie aber zugleich philo-
sophisch zu überhöhen. Wenn auch die Lehren der Epinomis sich nicht
allzusehr von der gleichfalls orientalisch inspirierten Kosmologie des
späten Platon unterscheiden, so sind hier doch die kontemplativ-religiösen
Züge noch stärker ausgeprägt: die wahre Frömmigkeit besteht darin,
in der Natur das Göttliche vom Sterblichen zu unterscheiden und den
regelmäßigen Lauf der göttlichen Wesen (der Sterne) von der Bewegung
ohne Regelmäßigkeit, ohne Ordnung, ohne Schönheit und ohne Rhythmus
und Harmonie, wie sie den irdischen Wesen eigentümlich ist (978 A).
Die Kontemplation der kosmischen Ordnung der Sternengötter, welche in
Zahlenverhältnissen aufgebaut ist, bildet die wahre Religion (986 BH.),
die Schau der Einheit des Universums führt zur inneren Einheit des
Gemütes und damit zur Glückseligkeit (986 D). Diese Gedanken bereiten
schon vor dem Alexanderzug den Boden für spätere Entwicklungen.
Die Erschließung des Ostens durch die malmdonischen Siege hatte
auch für die Philosophie weittragende Folgen. An die Stelle des demo-
kratischen Stadtstaates traten die großräumigen, zentralistisch-büro-
kratischen Monarchien der hellenistischen Könige, die sich stark an orien-
talische Traditionen anlehnten. Die neue Herrschaftsstruktur mußte die
Auffassung des Universums als einheitliches, von einem göttlichen
Kosmokrator regiertes Imperium den Philosophen geradezu aufdrängen.
Es ist auch wohl kein Zufall, daß die weitere Ausgestaltung und Systemati-
sierung des intentionalen Weltbildes durch Orientalen erfolgte, welche
die sozio-kosmischen Mythen ihrer Heimatländer gewiß kannten. Die
Mehrzahl der Stoiker waren nicht Griechen, sondern Phönikier, Syrer,
BabyIonier und Karthager l . Schon der Begründer dieser Schule, Zenon
von Kition auf Zypern, stammte aus einer semitischen Familie2 • Daher
ist es nicht verwunderlich, wenn die Lehre der Stoa von orientalischen
Völkern als verwandt empfunden und wenigstens teilweise aufgenommen
wurde. So hat das Judentum eine Reihe stoischer Gedanken rezipiert3 •
Doch hat die hellenistisch-orientalische Kosmosspekulation später auch
auf den römischen Westen mächtig eingewirkt.
Die außerordentliche Durchschlagskraft der stoischen Philosophie ist
nicht zuletzt eine Folge ihrer Einfachheit. Diese beruht auf der kompromiß-
losen Konsequenz, mit der die Stoiker die intentionale Deutung des U niver-
sums vollzogen haben. Schon der Schulgründer Zenon sucht die letzten
Gründe des Kosmos mit Hilfe von Handlungsmodellen zu erklären.
Es gibt, wie er behauptet, in der Welt zwei Prinzipien (apXIXi), nämlich
ein handelndes (nowuv) und ein leidendes (nacrxov), wobei das leidende
die qualitätslose Materie ist, das handelnde die darin wirkende göttliche

1 H. MEYER: Abendländ. Weltanschauung I, S. 318.


2 M. POHLENZ: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen
1948, S.22.
3 K. SCHUBERT: Die Religion des nachbiblischen Judentums, Wien 1955,
S. 13ff.
Der Kosmos der Philosophie 153

Vernunft (AOyOC;). Diese ist ewig und verfertigt (8'YJ!LLOUpye:i:) aus dem
Stoff alle Einzeldinge (SVF I 85)1. Das handelnde Weltprinzip, der
planende, alles durchdringende und gestaltende Logos formt und baut
als kunstbegabtes Feuer (7tUP n)(VLxov) den Kosmos wie ein Handwerker,
Künstler oder Architekt (SVF I 157, 160, 171, 172). So konnte man von
der intentionalen Weltauffassung der Stoa mit Recht behaupten: "Was
bei dem menschlichen Wollen und Handeln stattfindet, daß der Wille
ein begrifflich Gedachtes zum Zweck erhebt und diesen Zweck durch
Verursachung einer Bewegung, die nach rein mechanischen Gesetzen
verläuft, in der körperlichen Welt verwirklicht, das wird analogisch
auf den gesamten Weltprozeß übertragen und als sein eigentlich inneres
Wesen angenommen2 ." Allerdings ist diese Charakterisierung nicht ganz
vollständig, da sie vor allem das technische Herstellen berücksichtigt,
bei welchem menschliche Zwecksetzung und mechanische Kausalität tat-
sächlich in der geschilderten Weise zusammenwirken. Doch dem Logos,
der oft auch mit Zeus gleichgesetzt wird, schreiben die Stoiker noch
andere Formen des Wirkens zu. Wie der Königsgott des altorientalischen
Mythos regiert und verwaltet UhOLXe:i:) er die Welt (SVF I 162, U 1076).
Seine Tätigkeit gleicht der des Monarchen, Befehlshabers oder Guts-
herrn. Bald erscheint das kosmische Prinzip mehr als handelnde und
wollende Person, bald mehr als eine unpersönliche, aber planvolle und
gerechte Weltordnung, ein Weltgesetz (VO!LOt;): der Kosmos ist vor-
trefflich organisiert, wie es im bestverwalteten Staat (EUVO[J.6l't'u'r'YJ
7tOALnLoc) der Fall ist (SVF I 98). Doch schließt die Vorstellung des
Weltgesetzes nicht jene des Weltenherrschers aus, vielmehr werden beide
oft miteinander identifiziert: Zeus ist die Allnatur (q)'l)cnc;), das Schicksal,
die Notwendigkeit, die rechte Gesetzesordnung (e:UVO!LLOC), die Gerechtig-
keit, die Eintracht und der Friede (SVF ur 1076, 8ff.). Der Wille des Welt-
prinzips oder das kosmische Gesetz verwirklicht sich als unverbrüchliche
Notwendigkeit (EL[J.OCP[J.EV1)) und zugleich als wertgerichtete Vorsehung
(7tpOVOLOC). Man darf in diesem Falle das Begriffspaar Notwendigkeit
und Vorsehung nicht zu sehr an das moderne Begriffspaar Kausalität
und Teleologie annähern: auch die Notwendigkeit, die Heimarmene, trägt
eine:n intentionalen und - im Sinne der Stoa - religiösen Charakter. Sie ist
das Instrument der Verwaltung des Alls, ihr Wesen ist eine geistige Kraft
(SVF I 87, II 913), ja sie wird geradezu als Gott angesprochen (SVF II 928).
Mit der Mechanik hat sie wenig zu tun, vielmehr ist sie die unentrinnbare
Notwendigkeit, mit welcher sich die Vorsehung, das planende Wollen
der kosmischen Herrschaftsmacht durchsetzt (SVF II 929).
Die stoischen Lehren sind im Zusammenhang dieser Arbeit besonders
aufschlußreich, weil sich an ihnen zeigen läßt, wie das mythische
Denken mit fließenden Übergängen zum philosophischen umgestaltet

1 SVF = Stoicorum Veterum Fragmenta, colI. H. v. ARNIM, 3 Bde.,


Leipzig 1903 - 1905.
2 H. v. ARNIM: Die europäische Philosophie des Altertums, in "Allgemeine
Geschichte der Philosophie" im Sammelwerk "Die Kultur der Gegenwart"
I/V, hrsg. v. P. HINNEBERG: Leipzig 1909, S.233.
154 Der Kosmos der Philosophie

wird und wie nicht selten die ursprüngliche, anschauliche Form der inten-
tionalen Weltdeutung neben der aus ihr abgeleiteten, rational-abstrakten
Form weiterlebt.
In einer eigenen Untersuchungl hat Joseph Bidez nachzuweisen
getrachtet, daß die Thesen der Stoa nicht aus den griechischen Traditionen
allein hergeleitet werden können, sondern daß ihr Grundmotiv, die
Vorstellung des kosmischen Staates, direkt aus der Mythologie des Ostens
stammt. Auch wenn man berücksichtigt, daß der. belgische Forscher die
Rolle der gesellschaftlichen Modelle in der hellenischen Philosophie nicht
beachtet hat, so ist doch die Folgerichtigkeit, mit der die Stoiker die
soziomorphe Deutung des Alls vollziehen, ein entscheidendes Indiz für
den unmittelbaren Einfluß der soziokosmischen Anschauungen des
Orients auf ihre Weltanschauung. Es kann kaum fraglich sein, daß die
philosophische Lehre von der zentralen Regierung und Verwaltung des
Universums durch eine einzige Macht bloß eine schematisierte und ver-
blaßte Nachbildung der lebendig-anschaulichen Mythen Vorderasiens
darstellt, in denen der himmlische Großkönig, umgeben von den Stern-
göttern als Hofstaat oder als Satrapen, über die Welt gebietet 2 • Auch
waren die meisten Denker jener halb orientalischen Schule überzeugte
Anhänger der Astrologie, von deren engen Zusammenhängen mit dem
sozio-kosmischen Weltbild bereits die Rede war3.
Wenn auch infolge des trostlosen Zustandes der Überlieferung die
Einzelheiten des Überganges vom Mythos zur Philosophie, der sich in der
Alten Stoa vollzogen hat, nicht greifbar sind und es auch wohl bleiben
werden, so können wir ihn doch dank der Tatsache rekonstruieren, daß
neben den mehr abstrakten Kosmosspekulationen in den stoischen
Texten und besonders in der stoisch beeinflußten Populärphilosophie
die ursprüngliche mythische Bilderwelt fast oder völlig unverändert
weiterlebt. So preist Kleanthes, das zweite Schulhaupt, die Sonne als
die geistige Herrschaftsmacht (~'Ye:[LoVLx6v) des Kosmos, die am meisten
zur Verwaltung (~Loix'Yl(n<;) des Universums beiträgt (SVF I 499). Zur
seI ben Zeit wurde Helios oder Baal "Kosmokrator" als Herrscher oder

1 J. BIDEZ: La cite du monde et la cite du soleil chez les Stoiciens, "Bulletin


de l'Academie Royale de Belgique", Classe des lettres, 5. serie, tom. XVIII
(1932), S. 244ff.
2 J. BIDEZ, a. a. 0., S.248f., bes. S.259: "L'idee meme d'un monde
gouverne par une hierarchie de magistratures et de tribunaux celestes - avec
Ieurs juges, leurs conseillers et leurs interpretes - est longuement developpee
dans un systeme cosmologique mis sous le nom des Chaldeens dans Ia compi-
lation de Diodore de Sicile et que nous avons deja rapproche des croyances
de l'ancienne Babylonie" und S. 251: " ... ainsi Zenon vit se presenter a sa
pensee, sous l'aspect d'une cite du monde, l'ancienne conception chaldeo-
persique d'un gouvernement du ciel dirige par le dieu supreme et par ses
assesseurs. Une combinaison de la morale grecque avec Ie mysticisme oriental
sembla des lors possible, et l'astrologie fataliste de l'ancienne Chaldee fit son
entree triomphale dans la speculation philosophique des Hellenes." - Vgl.
DIODOR II, S. 30ff.
3 F. BOLL: Vom Weltbild der griechischen .Astrologen, in: Kleine Schriften,
S. 35f. u. a.
Der Kosmos der Philosophie 155

König des Himmels und zugleich Schützer der irdischen Monarchien in


Syrien weithin verehrt. Die Seleukiden ließen sich dort als Repräsentanten
des· Helios-Apollon huldigen, und in der damaligen Astrologie galt die
Sonne als Herr über das Schicksal der Herrscher auf Erden. So hat
Kleanthes ein verbreitetes Motiv der "politischen Theologie" des helleni-
sierten Orients in seine Philosophie aufgenommenl .
Die Welt ist ein trefflich geleiteter Staat oder Gutshof, die Natur
eine Künstlerin: diese intentionalen Vorstellungen finden sich in der
stoischen Literatur so häufig, daß ihnen Hans von Arnim in seiner
Fragmentensammlung ein eigenes Kapitel gewidmet hat (SVF II 1127 bis
1131: mundum esse urbem vel domum bene administratam; 1132-1140:
naturam esse artificem). Sogar das noch unabgeschwächte Bild der
"Kosmopolis" ist uns erhalten, und zwar durch Plutarch: der Kosmos ist
eine Stadt, die Sterne sind seine Bürger und leitenden Beamten, die
Sonne ist ein Ratsherr und der Abendstern der Bürgermeister oder
Polizeidirektor (SVF II 645).
Breit ausgeführt werden sozio-kosmische Motive in der populär-
philosophischen Abhandlung "Über die Welt". Diese Schrift, eine Art
hellenistisches Erbauungsbuch, galt lange als Werk des Aristoteles und
hat daher großes Ansehen genossen. Auch hier ist das Universum eine
große Stadt, in der die ungleichartigen Elemente wie durch politische
Eintracht (7tOAL't"LXTJ O!J.OVOLOC 396 b 5, 397 a 4) zusammengehalten
werden. Diesen Zusammenhang garantiert die Macht eines göttlichen
Kosmokrators, welche alles Sein durchdringt und mühelos ordnet und
erhält (397 b 9ff.). Der Weltengott wird in seinem Wesen und Wirken
mit dem persischen Großkönig (398 a 11) verglichen. Wie der irdische
Herrscher nicht überall selbst hinreist und Hand anlegt, sondern durch
einen Stab von Beamten und Dienern über die Ereignisse unterrichtet
wird und seinen Willen vollstrecken läßt, so bleibt auch der himmlische
Herrscher ruhig auf dem höchsten Platze, denn nur das entspricht seiner
Würde (398 b 4ff.). Seine Macht bewegt die Sonne und den Mond, sie
dreht den Himmel und erhält alle irdischen Dinge. Der kosmische Gott
wird aber auch als ein Chorführer betrachtet, auf dessen Zeichen sich
die Gestirne in ihre harmonischen Ordnungen fügen (399 a 7), oder als
ein Feldherr, der durch ein einziges Trompetensignal die ganze Armee
in Schlachtordnung antreten läßt (399 b 1). Er wirkt "wie das Gesetz der
Stadt, das, selber unbewegt, in den Seelen der nach ihm Handelnden alles
bewirkt nach den Bestimmungen der Verfassung. Denn nur von ihm
getrieben gehen offenbar die Beamten in ihre Ämter, die Aufseher in die
Hmen zugewiesenen Gerichte, die Ratsherren und Bürger in die für sie
bestimmten Versammlungen, und geht der eine zum Rathaus, um sich
speisen zu lassen, der andere vor den Richter, um sich zu verantworten,
der dritte ins Gefängnis zum Tode. .. So muß man es sich auch in der
größeren Stadt vorstellen, ich meine in der Welt. Denn Gott ist für uns
das immer gleichsinnige Gesetz, das keiner Verbesserung oder Umänderung

1 J. BIDEZ, a. a. 0., S.274f.


156 Der Kosmos der Philosophie

bedarf und besser und sicherer ist, glaube ich, als das auf den Tafeln
verzeichnete. Nach seiner unwandelbaren Führung wird die gesamte
Ordnung des Himmels und der Erde angemessen verwaltet" (400 b
15-20; 26-32). In klarer Form und ohne allzu große philosophische
Rationalisierung treten uns hier soziomorphe Analogien als Leitmotive
des Weltverständnisses dieser Zeit entgegen. Ihre lebensvolle Anschau-
lichkeit und eine gewisse Naivität deutet darauf hin, daß sie der volks-
tümlichen Vorstellungswelt nicht fernstehen.
Dem römischen Westen ist dieses hellenistisch-orientalische Gedanken-
gut vor allem durch die philosophische Schriftstellerei Ciceros übermittelt
worden. Dessen Lehrer Antiochos von Askalon, ein Orientale, gehörte
zwar nominell der Akademie an und war einige Zeit deren Haupt, stand
aber so stark unter stoischem Einfluß, daß schon seine Zeitgenossen
behaupten konnten, er treibe in der Akademie stoische Philosophie und
sei, wenn man von Kleinigkeiten absehe, der reinste Stoiker1 • Zum al die
Kosmoslehre des Antiochos hat im Eklektizismus seines Schülers deutlich
nachgewirkt. Auch Cicero betrachtete das Universum als einen Staat
der Götter und Menschen, welcher über den kleineren Gemeinschaften,
der Familie, dem irdischen Staat und der Menschheit steht2 • Er läßt in
dem Buch ,;Über die Natur der Götter" die These vertreten (De nato
deor. II 30ff.), daß die Welt in allen ihren Teilen durch die Vorsehung
(providentia) der Götter uranfänglich geordnet worden sei und allezeit
verwaltet werde (administrari). Die Götter sind beseelte und vernünftige
Wesen, die miteinander gewissermaßen durch bürgerliche und gesellige
Bande verbunden sind und das einheitliche Weltganze wie eine gemeinsame
Staatsordnung oder eine Stadt regieren. In ihnen waltet die gleiche Ver-
nunft (ratio) wie im menschlichen Geschlecht, und für Himmlische und
Irdische gilt die gleiche Wahrheit und das gleiche Gesetz (lex), welches
das Rechte gebietet und das Unrechte untersagt. Zu den Menschen ist
die Vernunft von den Göttern gekommen, die sie in einem viel höheren
Maße besitzen und für die besten und größten Zwecke gebrauchen, nämlich
für die Regierung der Welt. Aber Ciceros Sprecher begnügt sich nicht,
in rein abstrakter Weise von diesen Dingen zu reden, sondern er führt
auch die sichtbaren Himmelsmächte ein: göttliche Wesen sind die Ge-
stirne, deren gewaltige Kraft und strahlendes Antlitz wir schauen, die
Sonne, der Mond, die Planeten, die Fixsterne und überhaupt der Himmel,
ja die ganze Welt (II 31). Er preist weiterhin die Macht und Weisheit
der Allnatur, die das Universum planmäßig durchwaltet : denn findet man
bei der Fahrt einer Flotte oder bei der Ordnung eines Heeres oder bei den
fruchttragenden Weinstöcken und Bäumen, ferner bei der Gestalt und
Gliederbildung der Lebewesen eine solche Sorgfalt der Natur, wie sie bei
der Welt selbst sich zeigt 1 (II 33).
Diese Beispiele stoischer Gemeinplätze mögen genügen. Wesentlich
ist es jedoch, daß Cicero die Vorstellung des kosmischen Gesetzes, aus

1 M. POHLENZ: Stoa, S. 253.


2 H. MEYER: Abendländ. Weltanschauung I, S.357.
Dei.' Kosmos der Philosophie 157

dem alles menschliche Recht hervorgeht, deni Römertum vermittelt


hat. Das Gesetz ist die höchste Vernunft, die in der Natur beschlossen
liegt und die bestimmt, was man tun soll und was man nicht tun darf.
Von diesem Gesetz soll das Recht seinen Ausgang nehmen, denn es ist
die Macht der Natur und zugleich die Einsicht des Weisen, es ist der
Maßstab für das Rechte und das Unrechte, der unendlich viel älter ist
als alle menschlichen Satzungen und selbst als alle Gemeinschaftsordnung.
Es regiert die Welt, voll Weisheit in Gebot und Verbot, und ist nichts
anderes als der Sinn oder die wahre Vernunft des obersten Gottes (De
leg. I 6; II Sf.; vgl. SVF III 315-321). Diese Formulierungen sind sehr
allgemein, ja nahezu inhaltslos. Und doch gehen sie, wie Bidez richtig
bemerkt!, in letzter Linie auf die grandiose Mythologie des sozio-kosmi-
sehen Universums zurück.
Es ist aber auch eine noch nicht verblaßte Form jener Mythologie
nach dem Westen gedrungen, nämlich die Astrologie. Schon im zweiten
vorchristlichen Jahrhundert hat sie Rom erreicht2 , der syrische Philosoph
Poseidonios, der einer der Lehrer Ciceros war, hat sie verteidigt, und
bereits unter Augustus und Tiberius verfaßte Marcus Manilius ein astro-
logisches Lehrgedicht, an dessen Ende sich wie das Schluß bild einer
Oper der ganze Sternenstaat vor uns aufbaut (Astron. V 734ft). Wie
wenn die Bewohner einer gewaltigen Stadt aufgeboten werden, wobei
die Senatoren den ersten Platz innehaben, den rangnächsten die Ritter,
den Rittern die Bürger folgen und diesen der gemeine Haufe, so gibt es
auch im Makrokosmos (magnus mundus) einen Staat (res publica), den
die Natur einrichtet, die auf dem Himmel eine Stadt geschaffen hat.
Da gibt es Sterne, die den Vornehmsten gleichen, es gibt solche, die
diesen nahekommen und schließlich andere, die an Rang weit zurück-
stehen. Zahllos ist das Volk, das sich ganz oben am Himmelsgewölbe bewegt:
hätte die Natur diesen Sternen eine ihrer Zahl entsprechende Kraft
verliehen, so wäre die Welt in Flammen aufgegangen, da sie so viel
Feuer nicht hätte fassen können. Genau wie in Asien bildet der Sternen.
staat des Manilius eine rangmäßig streng abgestufte Hierarchie, nur ist
hier die Kosmopolis nach römischem Vorbild aufgebaut. Die Rangordnung
der Sterne ist notwendig, um den Bestand des Kosmos zu sichern: hätte
das gewöhnliche Sternenvolk. alle Macht, dann würde dies den 'Weltbrand
bedeuten. Auf diese Weise wird der Führungsanspruch der Senatoren und
Ritter von der menschlichen Stadt Rom auf die Himmelsstadt übertragen.
Etwa gleichzeitig ist im geistigen Zentrum des Ostmittelmeergebietes,
in Alexandria, aus der Durchdringung jüdischer und anderer orientalischer
1 J. BIDEZ, a. a. 0., S. 259: "Ainsi donc, replacee dans le systeme stolcien
au rang qu'elle y occupa, l'idee d'un gouvernement et d'une cite dl?- monde
se rattache par une filiation certaine a l'astrolätrie orientale. Ceux qm remon-
tent aujourd'hui aux origines anciennes de notre droit naturel se representent
rarement, sans doute, que la loi universelle invoquee par Ciceron dans les
passages bien connus de son De Legibus a eM au debut la loi non ecrite d'une
Cosmopolis siderale de provenance chaldeo-persique."
2 F. CUMONT: Die orientalischen Religionen im römischen Heidentum,
Leipzig 1910, S. 193.
158 Der Kosmos der Philosophie

Gedanken mit solchen der griechischen und hellenistischen Philosophie


die Lehre Philons entstanden. Trotz seiner geringen Originalität und trotz
des Mangels an systematischem Zusammenhang hat das Werk dieses
griechisch gebildeten Juden der Diaspora eine erhebliche Wirkung auf
die Folgezeit ausgeübt. Für unser Problem ist es bedeutsam, weil es zeigt,
wie die mythische und die philosophische Form der intentionalen Welt-
auffassung mit verschwimmenden Übergängen ineinander aufgehen
können.
In seiner Abhandlung "Über die Weltschöpfung" bringt Philon, an
platonische und stoische Gedanken ebenso anschließend wie an den
biblischen Schöpfungsbericht, eine unzweideutig intentionale Kosmogonie.
Es gibt im Universum eine wirkende - wörtlich: "kraftvoll handelnde" -
Ursache (8?IXO"nlpwV oä,t"Lov) und eine leidende (7tIX.lhrr6v), wobei die
wirkende Ursache der ganz reine Geist des Weltganzen (0 't"wv OAWV VOVI:;)
ist, die leidende die Materie. Diese muß - an sich unbeseelt und unbewegt
- vom Geist bewegt, gestaltet und beseelt werden, damit aus ihr das
vollkommene Kunstwerk ('t"eAe:~6't"IX't"OV €pyov) entsteht, der Kosmos.
Der Geist trägt die höchsten Wertprädikate, er ist besser als die Tugend,
besser als das Wissen, besser als das Gute und das Schöne an sich, während
die Materie das Unvollkommene repräsentiert (De opif. mundi I 2).
Doch sind beide Weltprinzipien gleich ursprünglich. Die Kosmogonie
Philons steht also in dieser Hinsicht der griechischen Philosophie näher
als dem biblischen Schöpfungsbericht mit seiner Erschaffung der Dinge
aus dem Nichts.
Das intentionale Moment, das planende Denken und Wollen, Befehlen
und Ordnen, Entwerfen und Gestalten, tritt mit aller Deutlichkeit hervor.
Der göttliche Geist, der die Rolle des biblischen Gottes übernommen
hat, erschafft oder verfertigt die Welt - PhiIon verwendet dafür die
Ausdrücke 8y}ll-wupye:'Lv, 7to~e:iv, 8pav. Er bewirkt alles auf einmal,
nicht nur durch seinen Befehl (7t?oO"'t"anwv), sondern schon durch sein
Denken (8~lXvooull-e:vol:;) (3, § 13). Zunächst schafft Gott die geistigen Ent-
würfe oder normativen Urbilder (VOY}'t"IXL L8EIX~, 7t1X?1X8e:tytLlX't"lX, apXE't"U7tIX)
der Dinge und nach dem Muster dieses vorgebildeten und vorbildlichen
geistigen Kosmos (xoO"[LOI:; vO'Yj't"OI:;) stellt er den sichtbaren Kosmos her.
Dabei verfährt der Weltenbaumeister genau wie ein Architekt (4, § 17f.):
"Wenn eine Stadt ... gegründet wird, so kommt ein geschulter Bau-
künstler, betrachtet das Klima und die günstige Lage des Ortes und
skizziert zuerst bei sich nahezu sämtliche Teile der zu erbauenden Stadt,
Tempel, Gymnasien, Amtsgebäude, Märkte, Häfen, Schiffswerften,
Straßen, die Anlage der Mauern, die Errichtung von Häusern und öffent-
lichen Gebäuden; dann nimmt er wie in einem Wachssiegel in seiner Seele
die Formen aller Gegenstände auf und malt sich eine gedachte Stadt
(vo'Yj't"T) 7tOA~I:;) aus; und nachdem er deren Bilder durch das ihm ange-
borene Erinnerungsvermögen aufgefrischt und ihre Merkmale sich noch
tiefer eingeprägt, beginnt er als tüchtiger Meister O~y}fL~ouPYOI:;), das
Auge auf das Musterbild (7tIX?a8e:~YfLlX) gerichtet, mit dem Bau der aus
Holz und Steinen bestehenden (wirklichen Stadt), indem er die körper-
Der Kosmos der Philosophie 159

lichen Gegenstände den einzelnen unkörperlichen Ideen vollkommen


ähnlich bildet. Ähnlich haben wir uns die Sache auch bei Gott zu denken,
daß er also in der Absicht, die große Stadt des Kosmos zu bauen, zuerst
im Geiste ihre Formen schuf, aus denen er eine gedachte Welt zusammen-
setzte und dann mit Benutzung jenes Musterbildes die sinnlich wahr-
nehmbare herstelltei." Allein die makrokosmische Stadt ist bei Philon
so wenig wie im Mythos ein bloßes architektonisches Gebilde: sie ist auch
in eminentem Maße eine Gemeinschaftsordnung (50, § 143f.): "Da aber
jede wohlgeordnete Stadt eine Verfassung hat, so mußte der Weltbürger
(der Mensch vor dem Sündenfall) natürlich nach derselben Verfassung
leben wie die ganze Welt. Diese Verfassung ist das vernünftige Natur-
gesetz, das man besser .&€O"!LOC; (göttliche Satzung) nennt, da es göttliches
Gesetz ist, nach welchem einem jeden das ihm Gebührende und Zukom-
mende zuteil wird. Dieser Staat und diese Staatsverfassung mußte aber
schon vor dem Menschen Bürger haben, die mit Recht ,Bürger der makro-
kosmischen Polis' genannt werden könnten, da sie dazu bestimmt waren,
den größten Umkreis zu bewohnen, und im größten und vollkommensten
Staatswesen als Bürger eingetragen waren. Wer anders aber sollte das
sein als jene vernünftigen und göttlichen Wesen, die teils unkörperlich
und rein geistig, teils - wie die Gestirne - nicht ohne Körper sind 12 "
Die Rolle der Sterne als hohe Würdenträger in der kosmischen Hierarchie
wird an anderer Stelle hervorgehoben (De special. leg. I I, § 13f.): "Moses
aber war der Meinung, daß die Welt geworden und gleichsam als der
größte Staat (it6A~C; ~ (J.€y10"TIJ) aufzufassen sei, der Befehlshaber (apxov't"ocC;)
und Untergebene (Vlt'Y)XOOUC;) habe, zu Befehlshabern alle Sterne am Him-
mel, Planeten und Fixsterne, zu Untergebenen die in der Luft unterhalb
des Mondes befindlichen Wesen und die die Erde füllenden Geschöpfe;
die erwähnten Befehlshaber seien indessen nicht selbständig, sondern
dem einen Vater aller Dinge untergeordnet, sie richteten nach Recht
und Gesetz jedwedes Geschöpf, dem Beispiele ihres Herrschers nach-
strebend:!. "
Hier finden wir also in einer theologisch-philosophischen Abhandlung
den kosmischen Staat in seiner ursprünglichen, mythisch-anschaulichen
Gestalt. Das Universum bildet eine soziale Hierarchie mit dem Gott-
herrscher an der Spitze, dem die Gestirne als Generale oder als Satrapen
untergeordnet sind und diese herrschen ihrerseits über die sublunare Welt
und die Erdenbürger. Hochmythisch ist dabei vor allem das Motiv
der richterlichen Funktion der Sterne. Freilich dürfen entsprechend dem
biblischen Monotheismus die Himmelskörper keine selbständigen Gott-
heiten sein. Die himmlische Hierarchie und das Sternenheer bleibt dem
Weltengott untergeben, wie dies schon im 5. Buch Mosis (4, 19) ausge-
sprochen ist: "Wenn du Sonne und Mond siehst, hüte dich abzuirren und

1 Ich folge der übersetzung der Ausgabe von L. COHN -I. HEINEMANN:
Die Werke Philos von Alexandria, 6 Bde., Breslau 1909-1938, Bd. I, S.32f.
2 L. COHN, a. a. 0., Bd. I., S. 78.
3 L. COHN, a. a. 0., Bd. H, S. 15f.
160 Der Kosmos der Philosophie

sie anzubeten." Die Vergötterung der Gestirne, der Elemente, des Him-
mels oder des Weltalls ist unzulässig, denn sie würde den Höchsten und
Würdigsten verdunkeln, den Herrscher des kosmischen Staates (1:0V
ü.P-X0V1:OC 1:11C; (leyocAorr:oAecuc;), den Führer des unbezwinglichen Heeres
(TOV O"1:poc1:apx'Y)v 1:~C; &'Y)n~1:ou O"1:POC1:LUC;), den Steuermann, der be-
ständig das All zum Guten lenkt (OLxovo(le'L). Die Anbetung der sicht-
baren Natur ist töricht und gefährlich, denn sie erweist die Ehren, die
nur dem Großkönig selbst gebühren, den Satrapen, seinen Statthaltern
(De decal. 12, § 53; 13, § 61).
Im sozio-kosmischen Universum gilt das eine, allgemeine Weltgesetz.
Wie Philon ausdrücklich betont, ist diese Welt die ;,große Stadt", sie hat
eine einzige Verfassung und ein einziges Gesetz: es ist die Naturordnung,
die gebietet, was zu tun, und verbietet, was zu unterlassen ist. Dieses
Gesetz steht hoch über den zahllosen menschlichen Einzelstaaten und
ihren verschiedenen Verfassungen, Rechtsformen, Sitten und Gebräuchen
(De los. 6, § 29). Darum hat auch Moses seine Schrift nicht mit dem
Gesetz des menschlichen, sondern mit dem des kosmischen Staates
begonnen: "Mit der Gründung eines Staatswesens durch Menschenhand
seine Darstellung zu beginnen, erachtete er als der Würde der Gesetze
zu wenig entsprechend. . . Daher leitete er sein Werk mit der Schöpfung
des großen Staatswesens (des Weltalls) ein in der Überzeugung, daß seine
Gesetze das ähnlichste Abbild der Verfassung des Weltalls seien. Wer
das Wesen seiner Spezialgesetzgebung genau prüfen will, wird finden,
daß sie die Harmonie des Alls anstrebt und mit dem Gedanken der ewigen
Natur übereinstimmt. Daher mußten nach seiner Darstellung die mit
reichen Gaben, mit leiblicher Gesundheit, mit Reichtum, Ruhm und den
anderen äußeren Glücksgütern Gesegneten, die aber die Zügel der Tugend
abgeschüttelt und nicht unter einem Zwange, sondern aus freier Wahl
Tücke, Ungerechtigkeit und andere Laster verübt haben, ... wie Feinde
nicht der Menschen allein, sondern des gesamten Himmels und Weltalls
nicht die gewöhnlichen Strafen erleiden, sondern ganz neue und unge-
wöhnliche, die das Recht, die neben der Gottheit thronende, das Böse
hassende Macht, mit gewaltiger Hand an ihnen vollzog: die wirkungs-
kräftigsten Elemente des Alls, Wasser und Feuer, kamen über sie, so daß
im Gange der Zeiten die einen durch Überschwemmungen umkamen,
die anderen durch Verbrennung zugrunde gingen" (De vit. Mos. II 9,
§ 5lff.)1. Für Philon ist also das mosaische Gesetz das einzig wahre,
es ist das genaueste Abbild des makrokosmischen Gesetzes und verbürgt
die vollkommenste Einfügung in die Harmonie des Weltalls. Wer eine
solche Ordnung verletzt, der bricht den Frieden des gesamten Universums,
und die kraftvollsten Elemente des Kosmos vollziehen an ihm die Strafe,
welche die göttliche Rechtsmacht verhängt hat. Wie an anderer Stelle
(vgl. oben, S. 159) die Sterne als Richter auftreten, so werden hier in echt
mythischer Weise die Elemente als Polizeiorgane der kosmischen Justiz
dargestellt.

1 L. CORN, a. a. 0., Bd. I, S.309.


Der Kosmos der Philosophie 161

Diese Beispiele aus Cicero, Phiion und der Schrift "über die Welt"
mögen gezeigt haben, in welchem Maße die Weltauffassung der helle-
nistisch-römischen Populärphilosophie vom sozio-kosmischen Mythos des
Ostens abhängig gewesen ist.
Neben der großartigen Ausbildung der soziomorphen Interpretation
des Universums spielt die Deutung des menschlichen Individuums nach
Analogien aus dem Gesellschaftsleben in der Stoa eine verhältnismäßig
bescheidene Rolle. Dennoch ist auch sie vorhanden. Teils wirken plato-
nisch-aristotelische Schemata nach, teils mögen auch östliche Mythen
hereinspielen. Manchmal scheint die soziomorphe Auffassung des Einzel-
menschen auch indirekt zustande gekommen zu sein: die aus der Gesell-
schaft in das Weltall projizierten Vorstellungen werden - da der Makro-
kosmos oft zugleich "Makropolis" und "Makroanthropos" ist - mitunter
nicht auf die Gesellschaft, sondern auf das Individuum rückbezogen.
So war es eine stoische, wahrscheinlich vor allem von Kleanthes vertretene
Ansicht, daß die geistige Herrschaftsmacht (~YEfLoVLX6'J), die im Weltall
ihren Sitz in der Sonne hat, im menschlichen Körper den kugelförmigen
Kopf bewohnt (SVF III 836, vgl. Platon, Tim. 69 Dff.). Wie die Welt-
vernunft als Herrschaftsträgerin den ganzen Kosmos durchwaltet, so
durchwaltet und beherrscht auch die menschliche Vernunft unser gesamtes
leib-seelisches Wesen. Die übrigen Seelenteile oder Seelenvermögen sind
der Vernunft, dem Hegemonikon, untergeordnet oder gehen von ihr
aus (SVF II 823-849), wobei die niedrigeren Vermögen manchmal im
Anschluß an Platon als Polizeisoldaten (8oPUcpOPOL) bezeichnet werdenl .
Die Seele erscheint also auch bei den Stoikern oft als eine Art hierarchische
Ordnung, an deren Spitze ein eminent werthaftes Prinzip steht, wobei
allerdings nicht selten - ähnlich wie bei Aristoteles - Gesichtspunkte
ethischer Wertung mit solchen psychologischer Beschreibung vermengt
werden2 •
Abschließend darf man behaupten, daß die intentionale und zumal
soziomorphe Deutung von Weltall und Mensch in der Stoa folgerichtiger
durchgeführt worden ist als in irgendeiner älteren Philosophenschule.
Aber gerade diese Konsequenz hat die Schwierigkeiten dieser Weltauf-
fassung mit besonderer Schärfe hervortreten lassen.
Sofern man das "Weltgesetz" als Norm betrachtet, welche über den
"bloß menschlichen" Gesetzen der verschiedenen positiven Rechts- und
Moralkodizes stehen soll, gelangt man zu dem bereits bekannten Problem
des Naturrechtes. Im Prinzipiellen bietet die Stoa hier nichts Neues,
doch ist der Vorgang der Projektion und Reflexion der aus dem Gesell-
schaftsleben entlehnten Leitvorstellungen - wohl infolge der Einwirkung
des orientalischen Mythos - noch viel klarer erkennbar als in der klassi-

1 M. POHLENZ: Stoa II, S.52 (Anm. zu S.88, Z.2).


2 K. SCHINDLER: Die stoische Lehre von den Seelenteilen und Seelen-
vermögen, insbesondere bei PANAITIOS und POSEIDONIOS und ihre Verwendung
bei CICERO, Diss., München 1934, beobachtet mehrfach die Spannung zwischen
der naturwissenschaftlichen und der ethischen Auffassung der "Seele" bei
den Stoikern; bes. S. 50, 58f., 63, 75f., 93 u. a.

Topitsch, Metaphysik. 11
162 Der Kosmos der Philosophie

schen griechischen Philosophie. Man kann genau erkennen, wie die


soziomorph gedeutete Weltordnung - die kosmische "Makropolis" -
ihrem Urbild, der menschlichen - nun zur "Mikropolis" degradierten -
Gemeinschaftsordnung als Vorbild un,d Norm übergeordnet wird: die
Gesetze des wirklichen Staates sollen sich jenen des imaginären "Welt-
staates" fügen.
Doch konnte auch die Stoa nicht über die Tatsache hinwegkommen,
daß aus den objektiv gegebenen Bestandteilen der sozio-kosmischen
Ideologie - jenen entscheidungslosen Regelmäßigkeiten, mit denen sich
heute etwa die Astronomie oder Geophysik beschäftigt - keine ethischen,
rechtlichen oder politischen Maßstäbe und Handlungsanweisungen abzu-
leiten sind. So mußten auch diese Denker schließlich vor die Alternative
geraten, entweder in leeren Tautologien bloße Scheinbehauptungen über
die angebliche große Weltnorm aufzustellen oder dem "Gesetz der Natur"
beliebige Werte und Ideale zu unterlegen. Sie haben beide Wege einge-
schlagen.
Ein besonders schönes Beispiel einer tautologischen Leerformel hat
sich bei dem Versuch ergeben, das objektive Endziel ('t'EAOC;) zu bestim-
men, welches dem sittlichen Streben des Menschen die Richtung weisen
soll: "Das Endziel ist, übereinstimmend mit der Natur zu leben, d. h.
gemäß der eigenen und der des Ganzen, indem man nichts tut, was das
gemeinsame Gesetz zu untersagen pflegt, welches die richtige, alles durch-
dringende Vernunft ist, die dasselbe ist wie Zeus, der Leiter für die Ver-
waltung des Alls" (SVF III 4). Hier wird jeweils ein Terminus durch
einen anderen definiert, der ebenfalls keinen angebbaren normativen
Gehalt besitzt, so daß der ganze lange Satz nicht die geringste Auskunft
darüber gibt, was der Mensch wirklich tun oder lassen soll. Manchmal
haben die Stoiker das "wahrhaft Naturgemäße" auch durch Rückgriff
auf den aristotelischen Gedanken der vorgegebenen Normgestalt zu
ermitteln gesucht: jedes Ding hat seine spezifische Trefflichkeit, in der
sich sein Wesen vollendet (SVF III 257). Beim Menschen ist dies die Ent-
wicklung des in ihm keimhaft angelegten Logos zum vollen "vernünftigen
Dasein" : ratio perfecta virtus vocatur (SVF III 200 a). Doch mit derartigen
Formeln ist noch immer keine inhaltliche Bestimmung dessen erreicht,
was der "Vernunft" entspricht oder widerspricht.
Wenn die Stoa eine solche Bestimmung geben will, muß sie der "Welt-
vernunft" oder "Allnatur" eine Wertordnung unterlegen. Das hat bereits
Nietzsche erkannt, wenn er den Stoikern vorhält: "Indem ihr entzückt
den Kanon eures Gesetzes aus der Natur zu lesen vorgebt, wollt ihr etwas
Umgekehrtes ... Euer Stolz will der Natur, sogar der Natur, eure Moral,
euer Ideal vorschreiben und einverleiben, ihr verlangt, daß sie ,der Stoa
gemäß' Natur sei, und möchtet alles Dasein nur nach eurem Bilde dasein
machen ... Y' Aus der in dieser Weise "der Stoa gemäß" gedeuteten Natur
werden dann die in sie hineingelegten Wertgehalte zirkelhaft wieder
herausgelesen. Diese Gehalte bleiben meist durchaus im Rahmen der

1 Jenseits von Gut und Böse I, 9.


Der Kosmos der Philosophie 163

traditionellen Moral mit ihren vIer Kardinaltugenden, denen eine Reihe


anderer untergeordnet sind (SVF III262 - 264). Doch haben manche Denker
auch von anderen Normensystemen behauptet, sie seien wahrhaft natur-
gemäß oder dem Weltgesetz entsprechend, so Philon vom mosaischen Gesetz.
Vor allem in politischer Hinsicht wurden aus der "Weltordnung" ganz
widersprechende Forderungen abgeleitet. Die altasiatischen Mythen, die
im Hintergrund der stoischen Lehren stehen, haben vor allem den Herr-
schaftsanspruch der orientalischen Monarchen legitimiert. Auch im Westen
haben sie ähnlich gewirkt, indem sie den römischen Kaisern eine dogmati-
sche Rechtfertigung ihres Despotismus an die Hand gaben. Gerade jene
Herrscher, welche ihre autokratischen Ansprüche am nachdrücklichsten
geltend machten, wie Domitian und Commodus, haben die östlichen
Religionen am offensten begünstigtl • Schon Zenon, der Gründer der Stoa,
hat eine ähnliche Position bezogen. Sein Staatsideal war die Monarchie
mit einem Philosophenkönig an der Spitze, welcher das irdische Abbild
des weltbeherrschenden Logos darstellen sollte; er war auch tatsächlich
mit dem Makedonierkönig Antigonos Gonatas befreundet2 • Doch konnte
das "Weltgesetz" auch dazu verwendet werden, den bestehenden Herr-
schaftsordnungen und Staatsgesetzen jede Verbindlichkeit abzusprechen.
Neben der autokratischen gibt es auch eine revolutionäre Deutung des
Naturrechtes: die Menschheit ist ein einheitliches Ganzes, bestehend aus
gleichberechtigten Mitgliedern, während die politischen Grenzen und
die Unterschiede des Standes oder Besitzes unnatürliche Schranken dar-
stellen. Diesem egalitären Weltbürgertum gilt auch Herr und Sklave
gleich, denn über beiden scheint in gleicher Weise die Sonne der Gerech-
tigkeit. Der Gedanke der Gleichberechtigung aller Menschen in einem
"Sonnenstaat" ist sogar zum Motiv eines großen Sklavenaufstandes in
Kleinasien geworden, dessen Führer Aristonikos seine Anhänger wörtlich
als Heliopolitaner, als "Bürger der Sonnenstadt" bezeichnete3 .
Doch die stoische Idee des "Lebens gemäß der Natur" oder der "Ein-
fügung in die universale Gesetzlichkeit" ist nicht bloß im Sinne gesell-
schaftlicher Handlungsanweisungen zu verstehen. Sie ist auch ein Grund-
satz der Persönlichkeitsgestaltung, ein Ideal der Selbstkontrolle, welche
nicht nur die Affekte, sondern jede Lebensäußerung umfaßt. Diese Selbst-
beherrschung gewährleistet letztlich auch die Glückseligkeit, da sie dem
Menschen eine innere Festigkeit und Sicherheit verleiht, welche die Aus-
geglichenheit des Lebens gegen alle Wechselfälle des Schicksals zu schützen
vermag. Damit taucht ein neues Motiv auf. Es geht nicht mehr darum,
das äußere Handeln des Menschen zu steuern. Vielmehr wird jenes Glück
erstrebt, das durch den inneren Seelenfrieden und die Unempfindlichkeit
gegen alle Schicksalsschläge erreicht wird und in einer frommen und
freudigen Ergebung in den Weltlauf gipfelt. Entsprechend dieser vor-
wiegend kontemplativen Grundhaltung wird nicht mehr gefordert, die

1 F. CUMONT: Religionen, S.47.


2 A.-J. FESTUGIERE: ReveIation II, S.268.
3 J. BIDEZ: Cite, S. 290.

11'
164 Der Kosmos der Philosophie

Welt so zu veräudern, daß sie den Forderungen des "Naturrechts" ent-


spricht, sondern umgekehrt sucht man die menschlichen Wertungen dem
faktischen Geschehen so anzupassen, daß seelische Belastungen möglichst
vermieden werden. Damit wird aber der Bereich ethisch-politischer
Normen verlassen.
Weit komplizierter werden die Dinge, wenn man den "kosmischen
Logos" nicht als bloße Norm betrachtet, sondern in folgerichtiger Durch-
führung des intentionalen Weltbildes als handelnde Macht, was der Stoa
schon deshalb nahelag, weil sie direkt an die Herrschaftsmodelle des
sozio-kosmischen Mythos der orientalischen Völker anschloß. Je kon-
sequenter man diese Vorstellungen ausbaut, desto mehr nähert man sich
dem Begriff einer Welt, in der alle Ereignisse bis ins kleinste von der
kosmischen Macht bestimmt und bewirkt werden (SVF II 937). Dadurch
gewinnt das Doppelproblem der Logodizee und der Willensfreiheit eine
Bedeutung und Dringlichkeit, die es unter anderen Voraussetzungen
gar nicht besitzt. Deshalb mußte sich die Stoa, welche die intentionale
Deutung des Kosmos viel systematischer durchgeführt hat als die klassi-
sche griechische Philosophie, mit diesen Fragen auch viel eingehender
auseinandersetzeni.
Mit der Annahme, daß eine von erkennbaren Wertgesichtspunkten
geleitete Macht alles Geschehen lenkt und verursacht, kommt man in
Widerspruch zu der nicht wegzuleugnenden Wertirrationalität des Welt-
laufes - und diesen Widerspruch zu überwinden ist die Aufgabe der
Logodizee. Zugleich erhebt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen
dem Walten des kosmischen Prinzips und dem Tun und Entscheiden
des Menschen. Die innere Folgerichtigkeit des intentionalen Weltbildes
drängt dazu, das Wollen und Handeln des Menschen dem Wollen und
Handeln des Weltgrundes unterzuordnen und möglichst in jenem aufgehen
zu lassen: entweder waltet die "Vorsehung" oder das "Fatum" nur über
den Endergebnissen unserer Taten ("Der Mensch mag tun, was er will -
dem, was ihm bestimmt ist, kann er doch nicht entgehen") oder das
Weltprinzip "bewirkt" sogar unsere eigenen Entscheidungen und Hand-
lungen. Hier wird das Urbild der intentionalen Gleichnisse, das wirkliche
Handeln, durch die von ihm entlehnten Modellvorstellungen völlig
absorbiert und in einem kompletten zweiten Handlungsschema aufge-
hoben. Doch gleichzeitig soll noch immer der "Wille" des Weltgrundes,
der nach dieser Theorie ohnedies schon unsere Willensentscheidungen
lenkt und verursacht, auch als "Weltgesetz" die oberste Norm für sie
bilden. So sind philosophische Probleme zustande gekommen, welche für
die Stoiker ebenso unlösbar waren wie für alle späteren Denker, sofern
diese nicht erkannt haben, daß es sich hier um bloße Scheinprobleme
handelt, die durch die Rückbeziehung der intentionalen Modelle auf
die menschliche Intentionalität entstehen.

1 H. GOMPERZ: Willensfreiheit, S. llff. - F. BILLICSICH: Das Problem


des Übels in der Philosophie .des Abendlandes, I. Bd., 2. Aufl., Wien 1955,
S.61.
Der Kosmos der Philosophie 165

Dennoch ist die Logodizee mehr als ein Scheinproblem, das sofort
verschwindet, werm man die intentionalen Modellvorstellungen fallen läßt.
Als Lebensproblem erhält sie ihre Dringlichkeit aus einem elementaren
Streben des Menschen: seinem Aufbegehren gegen die Wertirrationalität
des Weltlaufes und seinem Bemühen, sich sein Lebensgeschehen trotz
allem in einer Weise zurechtzulegen, daß es wenigstens den grundlegenden
Wertpostulaten entspricht. Ohne das erschütternde Erlebnis der Indiffe·
renz - anthropomorph gesprochen: der kalten Gleichgültigkeit - des
Geschickes gegenüber dem menschlichen Verlangen nach Glück und
Gerechtigkeit hätte man wohl nie mit solcher Leidenschaft den Glauben
an eine wertrationale Überwelt oder an eine letztlich doch wertrationale
Ordnung der Erfahrungswelt verteidigt. Dies gilt auch für die Stoa,
die jenes Erlebnis durch die Lehre von der göttlichen Harmonie des
Kosmos zu überwinden gesucht hat. Doch diese beseligende Metaphysik
ist nur so lange aufrechtzuerhalten, als man sich in unbeteiligter Betrach·
tung von der Welt zu distanzieren und über sie zu erheben vermag;
wo man aber als Handelnder und Leidender mitten in den Ereignissen
steht, muß die kontemplative Logosmetaphysik einer praktischen Ethik
weichen, welche die unerschütterliche Standhaftigkeit (a.'t'o:po:~(o:,
umx&ELoc) des Weisen in der wertirrationalen LebenswirkIichkeit predigt.
Diese Haltung, die man im allgemeinen Sprachgebrauch bis heute als stoisch
bezeichnet, hat Horaz dichterisch verherrlicht: der Gerechte läßt sich
durch die Drohungen wütender Volksrnassen oder Tyrannen ebensowenig
erschüttern wie durch die entfesselten Naturgewalten (Carm. UI, 3).
Die Wege, auf denen man die Annahme einer wertgerichteten Vor.
sehung mit dem tatsächlich erlebten Übel in Einklang bringen wollte,
waren verschieden. Sofern die Übel von den Menschen durch unmorali·
sches Handeln hervorgerufen werden, konnte man diesen die Schuld
zumessen. Darum wurde zumindest im vorliegenden Zusammenhange
der menschliche Wille meist von der göttlichen Allursächlichkeit aus·
genommen, denn nur durch diese sehr wesentliche Beschränkung seiner
Wirksamkeit konnte das Weltprinzip von der Schuld oder Mitschuld
an den Missetaten der Irdischen freigesprochen werden: wenigstens in
dieser Hinsicht erscheint die sogenannte Willensfreiheit vor allem als
ein Postulat der Logodizee. Doch soll dieses Problem vorläufig zurück·
gestellt werden.
Soweit es sich aber um Sachverhalte handelt, die nicht auf mensch.
liehe Verfehlungen zurückgeführt werden können, mußte man auf andere
Möglichkeiten zur Rechtfertigung des Logos zurückgreifen. Eine davon
besteht darin, daß man das Vorliegen eines Übels, das dem Gedanken
der wertrationalen Weltordnung widersprechen würde, einfach leugnet.
Die Existenz von Armut, Siechtum, Schmerzen, Tod, Seuchen und Natur·
katastrophen konnte zwar nicht bestritten werden, aber diese Fakten
sind nach jener Auffassung nicht wertwidrig, sondern wertneutral
(aihcirpopo:). Diese Theorie, welche die Stoiker nicht selten vertreten
haben (SVF 1185,190; In 153; Epictet Ench. 5), sucht die Schwierigkeit
zu lösen, indem sie zwar die Tatsachen, die sie nicht wegschaffen kann,
166 Der Kosmos der Philosophie

als solche zur Kenntnis nimmt, aber ihre Bewertung zu ändern trachtet.
Vom Standpunkt systematischer Folgerichtigkeit wäre freilich einzu-
wenden, daß mit demselben Recht auch die Güter des Lebens zu neutralen
Fakten erklärt werden könnten, wodurch die wertbestimmte Weltordnung
zugunsten einer wertindifferenten Tatsächlichkeit aufgehoben würde.
Der stärkste Widerstand gegen diese Lehre ergab sich aber wohl daraus,
daß es den Menschen kaum zuzumuten war, tiefeingewurzelte und zum
Teil geradezu instinktive Wertungen in so radikaler Weise abzuändern.
So mußte man in der Regel doch die physischen Übel irgendwie in
die angenommene wertrationale Weltordnung einzubauen versuchen.
Dabei hat man sich meist von den gewohnten intentionalen Denkformen
leiten lassen: wie beim menschlichen Handeln oft gewisse Unvollkommen-
heiten und Leiden notwendig oder nicht vermeidbar sind, so ist es auch
in der "Verwaltung des Alls". Das Denken nach Zwecken, Mitteln und
Nebenfolgen beherrscht alle diesbezüglichen Überlegungen: bei der
Erreichung eines wertvollen Hauptzweckes wendet die Vorsehung manch-
mal schmerzliche Mittel an - beispielsweise verursacht der Weltengott
Kriege, um der Übervölkerung zu steuern (SVF Ir 1177) - oder sie vermag
verschiedene unerwünschte Nebenfolgen nicht zu vermeiden (SVF Ir 1157).
Letzteres ist besonders dann der Fall, wenn man sich technomorpher
Modelle bedient. Der Widerstand oder die Eigengesetzlichkeit der Materie
wird dabei - ähnlich wie in der Lehre des Aristoteles - für die Unvoll-
kommenheit der Dinge verantwortlich gemacht. So mußte die Natur
mit Rücksicht auf die Feinheit der Vernunft beim Bau des menschlichen
Schädels oft dünne Knochen verwenden, wodurch sich als Nebenfolge
ergab, daß der Kopf schwach geschützt und leicht verletzbar ist (SVF II
1170). Offensichtlich ist der Natur ein Material, das bei geringem Raum-
bedarf größte Festigkeit entwickelt, nicht zur Verfügung gestanden und
sie konnte auch kein solches erzeugen. Dieses Argument wird besonders
in der Logodizee der jüngeren Stoa gebraucht. Nach Seneca (Deprov. 5,9)
kann der göttliche Künstler den Stoff nicht ändern, dieser hat nun einmal
seine ihm gegebene Beschaffenheit.
Alle diese Rechtfertigungsversuche wollen das Weltprinzip von der
Schuld oder Mitschuld am Übel freisprechen, indem sie seine Allmacht
und seine Allursächlichkeit an entscheidenden Punkten einschränken.
Gleich dem handelnden Menschen ist es von Sachverhalten abhängig,
die sich seiner Einflußnahme entziehen. Ähnlich liegen die Dinge bei der
soziomorphen Logodizee.
Wie die irdische Gesellschaft manchen Menschen Leid zufügt, um sie
zu strafen oder zu bessern, so benützt die kosmische Autorität die Schick-
salsschläge als Mittel der Vergeltung, Erziehung oder Erprobung. Solche
Überlegungen finden sich bei den Stoikern recht häufig. Die Sünder werden
gestraft, die Schwankenden abgeschreckt (SVF 1175, 1176), die Gerechten
geprüft, geläutert und gestählt (Seneca, De provo 2, 3; SVF Ir 1152, 1173;
Epikt. Diss. I 6, 30ff., I 24; I ff., III 20). Manchmal muß auch den Guten
ein schlimmes Los zuteil werden, nicht als Strafe, sondern aus höheren
Gründen der Verwaltung (OLKOVO[LtIX) des Alls (SVF 1176), wie auch
Der Kosmos der Philosophie 167

im Staate der einzelne oft schuldlos im Interesse des Ganzen leidetl.


Damit dringt aber wiederum die Unvollkommenheit der menschlichen
Verhältnisse in den angeblich vollkommenen "Weltstaat" ein. Das gleiche
ist der Fall, wenn behauptet wird, daß sich die Verwaltung der Welt
nur um die großen und wichtigen Dinge annehme oder annehmen könne,
die kleinen aber vernachlässige, ungefähr wie in einem großen Haushalt,
der im ganzen gut geführt wird, mitunter etwas Kleie oder Weizen in
den Abfall gerät (SVF II lI78), oder wie die Könige sich nicht um jede
Einzelheit kümmern (SVF II 1179). Derartige Versuche, den Logos zu
rechtfertigen, widersprechen nicht nur der Grundthese, daß die kosmische
Herrschaftsmacht alles Geschehen bis ins kleinste ordnet und bewirkt,
sondern sie laufen letztlich auch darauf hinaus, die menschlichen Schick-
sale - selbst Ereignisse wie den Tod des Sokrates - als angebliche
Nebensächlichkeiten der Obsorge der Vorsehung und der Verantwort-
lichkeit der "Weltvernunft" zu entziehen. So fehlt die "gerechte Welt-
ordnung" gerade dort, so sie am notwendigsten wäre, ja wo man allein
sinnvoll von Gerechtigkeit sprechen kann: im Menschenleben.
Manchmal sucht man die kosmische Gerechtigkeit auch dadurch zu
retten, daß man ihr Walten jeder Kontrolle entzieht. Dabei wird ihr
mitunter ein Verhalten zugeschrieben, das den Grundsätzen der stoischen
Ethik schroff zuwiderläuft und eigentlich nur im Rahmen von Blut-
racheverbänden als moralisch einwandfrei gelten dürfte. Sie bestraft
nämlich für die ungesühnten Taten der Frevler deren Nachkommen und
sonstigen Verwandten (SVF II 1180). Dieser Strafvollzug an Unschuldigen
gestattet es den Stoikern, die Leiden der Guten und das Wohlergehen der
Sünder mit der Annahme eines gerechten Weltprinzips zu vereinbaren.
Nicht weniger fragwürdig ist es, das Wirken der Vorsehung gänzlich ins
Geheimnisvolle zurückzuschieben, indem man behauptet, ihre Wege seien
für den Menschen unergründlich: was heute als ein Übel erscheine, könne
sich später einmal als nützlich herausstellen, und böse Taten vermögen
heilsame Folgen zu zeitigen (SVF II 1172; Kleanthes, Zeushymn. 14ff.).
Dabei übersieht man, daß die Wertirrationalität des Weltlaufes ebenso
das genaue Gegenteil herbeiführt: was jetzt als gut erscheint, erweist
sich morgen als verderblich und die edelsten Handlungen können sich
in der schlimmsten Weise auswirken. Die ganze These ist aber nicht
nur unrichtig. Sie wird gefährlich, wenn man sie aus der Sphäre der
Kontemplation in die des praktischen Lebens überträgt, da sie zur Ent-
schuldigung jedes Verbrechens vorgebracht werden könnte. Denn wie
kann man einen Missetäter bestrafen, dessen Handlung vielleicht das
Mittel einer undurchschaubaren höheren Gerechtigkeit war?
Das gleiche gilt für einen Versuch der Logodizee, welcher schon
außerhalb des intentionalen Weltbildes liegt: es muß das Böse geben,
da das Gute ohne sein Gegenteil nicht denkbar ist (SVF II 1169, lI81 a).
Allein diese sogenannte logische Notwendigkeit des Bösen2 - und in

1 F. BILLICSICH: übel, S. 68.


S P. BARTH: Die Stoa, 2. Aufl., Stuttgart 1908, S.70ff.
168 Der Kosmos der Philosophie

weiterem Sinne des Wertwidrigen überhaupt - ist nicht ein Argument


für die Idee einer ausschließlich wertbestimmten Weltordnung, sondern
gegen sie. Der Sachverhalt des Wertens impliziert den Gegensatz zwischen
Wertvollem und Wertwidrigem, weshalb die Aufhebung des Bösen zugleich
auch die Aufhebung des Guten bedeuten würde. Freilich muß auch hier
zwischen der Ebene des rein Logischen und der des Tatsächlichen unter-
schieden werden. Die logische Notwendigkeit des Wertwidrigen besagt
nicht, daß dieses wirklich existieren müsse. Es kann eine Möglichkeit
bleiben, die niemals in die Tat umgesetzt wird. Beispielsweise ist es
widerspruchsfrei denkbar, daß die Menschen den Mord als verwerflich
kennen und die Fähigkeit besitzen, ihn zu begehen, ohne jemals wirklich
zu morden. Doch sofern nicht irreale Möglichkeiten, sondern Tatsachen
zu bewerten sind, kehrt 'die Alternative wieder, entweder alles Wirkliche
als wertvoll anzuerkennen und damit im Grunde überhaupt nicht zu
werten oder bestimmte Fakten als wertwidrig beziehungsweise minder-
wertig zu verurteilen. Die Einheit des Wirklichen und des Wertvollen
bleibt in jedem Falle undurchführbar.
Wurde in den zuerst angeführten Fällen der Weltgrund auf Kosten
seiner Vollkommenheitsattribute von Schuld freigesprochen, so tritt in
den letzten Beispielen die Rechtfertigung, ja die Notwendigkeit des
Bösen stärker hervor. Dadurch gerät die Logodizee in eine bedenkliche
Spanmmg zur Ethik. Solange es sich nur um den Logos des Makrokosmos
handelt, macht sich diese Schwierigkeit nicht allzu störend bemerkbar,
denn hier geht es praktisch darum, den Unglücklichen einen Trost in den
Widerwärtigkeiten des Lebens zu spenden und es ilmen zu ermöglichen,
sich mit unvermeidlichen Übeln leichter abzufinden. Anders verhält es
sich mit dem Logos des Mikrokosmos, der geistigen Herrschaftsmacht
im Menschen. Dieser individuelle Logos, nach stoischer Lehre ein Ableger
(a7toO"7tocO"floc) des universellen, ist ebenso wie jener ein werthaftes Prinzip.
Da aus ihm alles seelische Geschehen hervorgeht, dürfte es eigentlich
keine wertwidrigen Regungen in unserem Inneren geben. Man hätte
diese Konsequenz mit ähnlichen Argumenten verteidigen können wie die
Annahme der Gerechtigkeit im Makrokosmos. Dadurch wäre man aber
in direkten Konflikt mit der Ethik geraten, zumal mit der stoischen
Forderung nach strengster Selbstdisziplin. Auch steht die These, alles
menschliche Streben und Begehren entstamme dem Logos und sei daher
gut, in Widerspruch zu der sozialen Notwendigkeit des Schutzes der Rechts-
ordnung. Die unmittelbare Gefahr, daß diese Lehre jede Verletzung der
ethisch-rechtlichen Normen entschuldigen könnte, hat doch Bedenken
gegen sie erregt. So mußten die Stoiker zugeben, daß die Affekte Seelen-
bewegungen sind, die sich gegen den "Logos" und gegen die "Natur"
richten oder der "Vernunft" den Gehorsam versagen (rationi non obtem-
perantes SVF I 205; III 462,475). Damit sind wir wieder bei dem nach
ethischen Gesichtspunkten hierarchisch aufgebauten "Seelenstaat" Pla-
tons angelangt, in dem die "höheren" Kräfte die "niedrigeren" im Zaume
halten müssen. Kleanthes hat das Ringen zwischen der Vernunft und
den affektiven Begierden sogar in der Form eines Streitgespräches
Der Kosmos der Philosophie 169

dichterisch dargestellt (SVF I 570). Andere Stoiker, die eine solche Teilung
der Seele vermeiden wollten, sahen sich gezwungen, die Wertunterschiede
in den "Logos" selbst zu verlegen. Die verwerflichen Affekte und Be-
gierden erscheinen dann als Ergebnisse einer Wandlung, welche die
Vernunft unter dem Eindruck außergewöhnlicher Situationen durch-
macht, ja als "krankhafter und verfehlter" Logos im Gegensatz zum
gesunden und richtigen (SVF III 459)1.
Das Problem der Rechtfertigung des Logos - des kosmischen ebenso
wie des individuellen - führt, wie wir gesehen haben, immer wieder zu
der Frage, in welchem Verhältnis sein Wirken zu den Willensentschei-
dungen und Handlungen der Menschen steht. Man hat sie in verschiedener
Weise zu beantworten gesucht.
Relativ einfach ist die Antwort des Fatalismus, nach welchem die
kosmische Macht - die "Weltvernunft", das "Schicksal" oder die "Not-
wendigkeit" - nur die Endergebnisse der menschlichen Taten festlegt,
diese selbst aber nicht beeinflußt. Es ist daher gleichgültig, was wir tun:
ungeachtet unserer Bemühungen wird eintreten, was vorherbestimmt ist.
In letzter Konsequenz führt diese Theorie zur Annahme der Vergeblich-
keit alles unseres Strebens und HandeIns. Gegner der Stoa haben dies
in dem sogenannten apyol; ).6yol; als Argument ins Treffen geführt:
"Wenn es dir vom Schicksal bestimmt ist, von deiner Krankheit zu genesen,
so wirst du, ob du nun einen Arzt rufst oder nicht, jedenfalls genesen;
und wenn es dir nicht vom Schicksal bestimmt ist, von deiner Krankheit
zu genesen, so wirst du, ob du nun einen Arzt rufest oder nicht, keinesfalls
genesen. Nun ist es dir aber entweder bestimmt zu genesen, oder es ist
dir bestimmt, nicht zu genesen. Also ist es vergeblich, den Arzt zu rnfen"
(SVF II 957)2. Allerdings müssen derartige Überlegungen nicht immer
zur Untätigkeit motivieren. Der Fatalismus orientalischer Völker hat oft
die kriegerische Tüchtigkeit gefördert, indem er den Kämpfern sagte:
ist dir bestimmt, die Schlacht zu überleben, so wird dich deine Tapferkeit
nicht gefährden; ist dir aber bestimmt zu fallen, dann kann dich auch
die Feigheit nicht retten - also kämpfe tapfer.
Der Glaube an ein solches Fatum ist nur dort möglich, wo die kausalen
Verknüpfungen zwischen Handlungen und Handlungsfolgen nicht oder
nur unvollständig bekannt sind, so daß man die letzteren nicht mit
Sicherheit voraussagen kann; wo man dagegen diese Verknüpfungen
vollständig kennt, bleibt gar keine Lücke oder dunkle Stelle übrig, in
welche die geheimnisvolle Schicksalsmacht einzugreifen vermöchte. Daher
gibt der Fatalismus in der Regel keine Prognosen über das, was das
"Verhängnis" beschlossen hat - etwa ob der Kranke genesen oder der
Soldat fallen wird; er beschränkt sich meist darauf, zukünftige Ereignisse
im Dunkel zu lassen und bereits eingetretene als Fügungen des Schicksals

1 M. POHLENZ: Stoa, S.92, 144.


2 H. v. ARNIM: Die stoische Lehre ;von Fatum und Willensfreiheit, in:
Wissenschaft!. Beilage zum 18. Jahresbericht (1905) der Philosophischen
Gesellschaft an der Universität zu Wien, Leipzig 1905, S. 12.
170 Der Kosmos der Philosophie

zu interpretieren. So darf er recht eigentlich als ein asylum ignorantiae


gelten, das mit der Aufdeckung des kausalen Gefüges der Welt unnot-
wendig und unmöglich wird: der Fortschritt der Erkenntnis verbannt
ihn in den Bereich des Aberglaubens. Ähnliches gilt für die häufig mit
ihm verbundene Wahrsagerei1 , die sich allerdings konkreter Vorhersagen
nicht völlig entschlagen kann. Diese Prophezeiungen können - sofern
sie nicht ganz vage formuliert oder überhaupt getarnte Leerformeln sind -
durch das tatsächliche Geschehen bestätigt oder widerlegt werden.
Die Tatsache, daß der Fatalismus in seiner hier behandelten Form
auf der Unkenntnis der kausalen Zusammenhänge beruht, hat schon
Chrysipp erkannt. Er hat zur Widerlegung des äpyo~ A6yo~ auf Beispiele
zurückgegriffen, in welchen die ursächliche Verknüpfung von Handlungen
und Handlungsfolgen eindeutig feststeht und klarliegt, vor allem auf
solche, bei denen das Tun die naturgesetzliche conditio sine qua non
eines bestimmten Erfolges ist. Man kann, wie Chrysipp ausführt (SVF II
957), nicht behaupten, daß jemand, dem vom Schicksal bestimmt ist,
einen Sohn zu bekommen, diesen ohne Rücksicht darauf bekommen wird,
ob er mit einer Frau Umgang hat oder nicht. Ebenso unsinnig wäre es
zu sagen, ein Faustkämpfer würde nach Schicksalsschluß unverwundet
aus dem Kampfe hervorgehen, gleichgültig, ob er von seinen Armen Ge-
brauch macht oder sie hängen läßt. Viehnehr erscheint es notwendig,
auch das menschliche Handeln und Wollen der kosmischen Macht zu
unterwerfen: "Daß jemand seinen Mantel nicht verliere, war nicht einfach
vorbestimmt, sondern zugleich auch, daß er darauf achte; ebenso, wenn
jemand aus der Hand der Feinde gerettet werden soll, daß er sich
selbst vor ihnen zurückziehe, oder wenn jemand Kinder bekommen
soll, daß er den Willen habe, sich mit einem Weibe zu vermählen"
(SVF II 998)2.
Zur Annahme, auch der menschliche Wille werde vom Logos verursacht
und gelenkt, führt aber nicht nur die Notwendigkeit, dem Argument
des äpyo~ )..6yo~ zu begegnen, sondern vor allem die innere Folgerichtigkeit
der intentionalen Weltauffassung. Macht man mit dem Gedanken der
"Allursächlichkeit" des Weltprinzips ernst, so kann man auch die Ent-
schlüsse und Taten des Menschen nicht von ihr ausnehmen, und zwar
auch dann, wenn sie böse sind. Diese Konsequenz hat bereits der Schul-
gründer Zenon gezogen, indem er ausdrücklich erklärt (SVF I 159):
"Gott bewirkt auch die Übel in der Welt, denn er wohnt auch in den
Abwassern, in den Spulwürmern und in den Verbrechern." Doch diese
Auffassung belastet die Gottheit nicht nur mit der Verantwortung für
das physische Übel, sondern vor allem auch für die menschlichen Ver-
fehlungen und widerspricht daher dem metaphysischen Grundaxiom der
Güte des Weltgrundes. So hat bereits Kleanthes die Verursachung der
bösen Taten durch Gott in Abrede gestellt (SVF I 537, v. lIff.). Chrysipp
hat den gleichen Standpunkt eingenommen, wenn er erklärte, die Götter

1 M. POHLENZ: Stoa, S. 106ff.


2 übers. n. W. NESTLE: Die Nachsokratiker, Bd. 1I., Jena 1923, S.32.
Der Kosmos der Philosophie 171

seien am Bösen ebensowenig mitschuldig wie das Gesetz an seiner Über-


tretung (SVF II 1125). Die Behauptung der göttlichen Allursächlichkeit
wird also unter dem Druck eines beherrschenden Wertpostulates im
wesentlichen zugunsten der Vorstellung eines bloß normativen Welt-
gesetzes zurückgezogen, dem die Menschen als unabhängige Handelnde
gegenüberstehen.
Es waren, wie man sieht, durchaus nicht psychologische Tatsachen,
die zum Problem der Willensfreiheit geführt haben, und es sind nicht in
erster Linie Beobachtungsinhalte gewesen, die zu seiner Lösung heran-
gezogen wurden. Vielmehr wird schon hier ganz deutlich, daß die Frage
nach der sogenannten Willensfreiheit ein spezifisches Problem der inten-
tionalen Weltauffassung darstellt, das vor allem unter Heranziehung
von Wertgesichtspunkten behandelt wurde. Sie betrifft das Verhältnis
zwischen dem wirklichen, ursprünglichen Wollen und Handeln des Men-
schen und dem in den Kosmos projizierten Handlungsschema, das in
dem bereits bekannten, typischen Reflexionsvorgang auf sein Urbild
rückbezogen wird. Da es sich also um ein Scheinproblem handelt, für das
es eine wissenschaftliche Lösung gar nicht gibt, ist es nur selbstverständ-
lich, wenn hier Wertpostulate im Vordergrund der Diskussion stehen.
Für die "Unfreiheit" des menschlichen Willens spricht - abgesehen von
den schon erwähnten Gründen der Konsequenz - vor allem das Streben,
die Majestät des Logos durch Steigerung seiner Macht so sehr wie möglich
zu erhöhen, für seine "Freiheit" besonders der Wunsch, das Weltprinzip,
welches ja der Inbegriff des höchsten Wertes ist, vor jeder Mitschuld
an den Sünden der Irdischen zu bewahren, und die Notwendigkeit,
einen krassen Widerspruch zu vermeiden.
Doch haben die Stoiker auch versucht, die Beziehungen zwischen der
Schicksalsmacht und dem Wollen des Menschen auf andere Weise be-
greiflich zu machen. Chrysipp, der die Bedeutung dieser Frage für das
stoische System erkannte, hat die Schwierigkeit durch eine Differenzierung
des Kausalbegriffes zu überwinden getrachtet. Er unterschied (SVF Ir 974)
zwischen solchen Ursachen, die für das Eintreten einer Wirkung ent-
scheidend sind, und solchen, die nur den Anstoß zum Zustandekommen
der Wirkung geben. Bei den Willensakten fungieren die Vorstellungen,
die ohne unser Zutun in der vom Schicksal verhängten Folge von außen
an uns herantreten, nur als Mitursachen, die den Anstoß zur Betätigung
unseres Wollens geben. Sie selbst sind nicht imstande, einen bestimmten
Entschluß herbeizuführen, sondern es steht bei uns, ob wir ihnen folgen
wollen oder nicht. Was der Mensch beschließt und tut, ergibt sich nicht
aus den äußeren Anlässen, sondern aus seiner inneren Natur. Dieses
Zusammenwirken von Motiv und Charakter hat Chrysipp in einem
Gleichnis veranschaulicht: "Wenn jemand eine Walze auf eine schiefe
Ebene wirft, gibt er allerdings den äußeren Anstoß zur Bewegung; aber
die eigentliche Ursache, daß die Walze hinabrollt, liegt in ihrer Gestalt,
also in ihrem eigenen Wesen. So gibt uns das Schicksal zwar durch die
Vorstellung den äußeren Anreiz, aber sie selbst hat in unser Inneres
die Möglichkeit der Selbstbestimmung gelegt, die sich des äußeren Reizes
172 Der Kosmos der Philosophie

erwehren kann und darum die eigentliche Ursache unserer Triebe und
Entscheidungen bleibt!." Doch hat Chrysipp der Frage, ob die Charakter-
anlagen nicht selbst vom Schicksal oder der Natur bestimmt werden,
keineswegs ausweichen können. Er scheint der Meinung zu sein, daß auch
die Eigenschaften und Beschaffenheiten unseres geistigen Wesens dem
Fatum unterworfen sind: ingenia tarnen ipsa mentium nostrarum proinde
sunt fato obnoxia, ut proprietas earum est ipsa et qualitas. Wem die
Natur einen guten Charakter geschaffen hat, der vermag dem Ansturm
äußerer Motive leicht zu widerstehen, wem ein schlechter zuteil wurde,
der sündigt auch ohne äußeren Anlaß (SVF II 1000).
Es ist bemerkenswert, auf welche Weise diese Argumentation das
Problem der Willensentscheidung umgeht. Chrysipp erklärt nämlich das
seelische Geschehen des Motivationsvorganges mit Hilfe eines techno-
morphen Modells, nämlich des Abrollens einer Walze auf einer schiefen
Ebene. Erklärende Analogie ist also ein rein mechanischer Prozeß, der
entscheidungslos bis zum Ende abläuft, wenn einmal die Anfangs-
bedingungen gegeben sind. Die eine dieser Bedingungen ist die Beför-
derung der Walze auf eine geneigte Fläche; sie hängt von äußeren Um-
ständen ab und wird daher mit dem Herantreten der Motive an den
Menschen verglichen. Die andere ist die eigene Gestalt des Körpers, die
dem eigentümlichen Charakter der betreffenden Persönlichkeit entspricht.
Je nach ihrer Form verhalten sich physische Körper unter sonst gleichen
Umständen verschieden und je nach ihrer Eigenart reagieren Menschen
in sonst gleichen Situationen ungleich. Damit erscheint der Motivations-
vorgang als eine Automatik, wobei jeder Automat entsprechend seiner
besonderen Konstruktion funktioniert. So wird also nicht wie bei Platon
die Sozialstruktur, sondern die Mechanik von Körpern mittlerer Größen-
ordnung in die "Seele" hineinprojiziert. Da nun die physikalische Be-
wegungsgesetzlichkeit keine Wahl- und Entscheidungssituationen kennt,
sind die von ihr entlehnten Modelle außerstande, solche Situationen in
angemessener Weise wiederzugeben. Dies ist eine außerordentlich wichtige
Tatsache, da in ihr eine Tendenz zutage tritt, die der bisher behandelten
soziomorphen und technomorphen Weltdeutung zuwiderläuft. Wurde
sonst die menschliche Intentionalität, das Wollen und Tun mit seinen
Entscheidungen und Normen, auf die entscheidungslosen Gleichförmig-
keiten des Naturlaufes übertragen, so geschieht nun das genaue Gegenteil:
das Wollen und Handeln wird nach dem Modell physikalischer Invarianzen
erklärt. Freilich hat die Stoa diesen mechanischen Determinismus nicht
folgerichtig durchgeführt. Selbst nach der hier erörterten Lehre werden
die menschlichen Charaktereigenschaften von der Natur "geformt". Die
intentionale Leitvorstellung durchbricht schließlich wieder die physikali-
sche. Wenn aber bei den Stoikern die eigenartige Verschränkung von
mechanischer Deutung der Intentionalität und intentionaler Deutung
der Mechanik auch nur im Keime vorhanden ist und nicht systematisch
durchdacht, geschweige denn aufgelöst wird, so ist damit doch eine Form

1 1\1. POHLENZ: Stoa, S. 105.


Der Kosmos der Philosophie 173

des sogenannten Willensfreiheitsproblems vorgebildet, die in der Neuzeit


besondere Bedeutung erlangen sollte.
Für die stoische Lehre und für die spätere Entwicklung der meta-
physisch-moralischen und geschichtsphilosophischen Spekulationen war
ein anderes Problem wichtiger. Auch wenn man die These vertrat, daß
der Logos als handelnde Macht alles menschliche Wollen und Tun bewirke,
wollte man doch auf den Logos als Norm für eben dieses "'Vollen und Tun
nicht verzichten, sei es im Sinne eines sozialen "Naturrechtes", sei es
in dem einer individuellen "naturgemäßen Lebensführung". Damit ist
wie bei der Logodizee die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem
Handeln des Menschen und jenem des Weltprinzips gestellt. Allein hier
geht es nicht darum, wie die Allursächlichkeit der kosmischen Handlungs-
macht mit der Verletzung, sondern wie sie mit der Befolgung ethischer
Normen durch den Menschen vereinbar ist. Bei der Rechtfertigung des
Weltprinzips ergab sich die Alternative, entweder dessen Macht oder die
Gültigkeit der Normen und Werte zu beschränken - allerdings führten,
zumindest hinsichtlich der makrokosmischen "Vernunft", beide Wege
zu keinen unmittelbaren praktischen Konsequenzen. Hier jedoch werden
vom "Vernunftgesetz" bestimmte Verhaltensregeln für die Menschen
gefordert. Darum wird die Vorstellung, daß die kosmische Handlungs-
macht die menschlichen Willensakte direkt verursacht oder hervorbringt,
zugunsten einer wenigstens relativen Selbständigkeit unseres Wollens
zurückgedrängt - denn wären alle unsere Entscheidungen und überhaupt
unser Denken und Fühlen letztlich Entscheidungen, Gedanken und
Gefühle des Logos, dann wäre es sinnlos, uns obendrein vorzuschreiben,
wir sollten uns nach dem Logos richten. Andererseits war man bestrebt,
die Macht des Weltenregimentes möglichst ungeschmälert zu lassen.
So kommt man wieder auf den Standpunkt des Fatalismus zurück: der
Mensch mag sich gegen den von der weltbeherrschenden Vernunft be-
stimmten Gang der Dinge sträuben, er wird dabei doch schließlich unter-
liegen. Es ist also besser, sich von Anfang an in den vernünftigen Weltlauf
zufügen. Schon die Alte Stoa hat diese Lehre durch ein drastisches Bild
verdeutlicht: es verhält sich der Mensch zum Schicksal wie ein Hund,
der an einen Wagen gebunden ist. Läuft er gutwillig mit, so folgt er dem
Fahrzeug und wird zugleich von ihm gezogen, sperrt er sich aber, so
wird er dennoch mitgeschleift (SVF II 975). Eine würdigere Form hat
Kleanthes dem gleichen Gedanken gegeben (SVF I 527):
Führ du mich Zeus, und du, 0 Schicksalsmacht,
Wohin der Weg von euch mir ist bestimmt!
Ich folg' euch ohne Zaudern. Sträub' ich mich,
So handl' ich schlecht - und folgen muß ich doch.
In der lateinischen, bei Seneca (Epist. 107, 10) überlieferten Fassung ist
der letzte Vers zum geflügelten Wort geworden: ducunt volentem fata,
nolentem trahunt1 .

1 M. POHLENZ: Stoa, S. 106.


174 Der Kosmos der Philosophie

Die Problematik dieser ganzen Lehre macht sich sofort bemerkbar,


wenn man sie in einer konkreten Lebenssituation anzuwenden versucht,
wenn man praktisch danach trachtet, "sich in den Weltlauf zu fügen".
Bei jedem derartigen Gedankenexperiment zeigt sich sofort wieder der
Unterschied zwischen dem kontemplativen Hinnehmen und dem aktiven
Verändern der Dinge. Wenn wir es mit Ereignissen zu tun haben, die bereits
vergangen sind oder die wir aus anderen Gründen nicht beeinflussen
können, dann liegen eindeutig bestimmbare Sachverhalte vor, von denen
man behaupten mag, die "Weltvernunft" habe sie so gewollt. Doch wir
müssen sie hinnehmen, wie sie sind; keine Norm kann uns verpflichten,
sie zu ändern, wir vermögen höchstens unsere wertende Einstellung zu
ihnen zu ändern. Die Aufforderung, uns dem Ratschluß des Logos unter-
zuordnen, kann sich also bloß auf diese Einstellung beziehen: wir sollen
uns über das Unabänderliche nicht ereifern, sondern es mit innerer
Gelassenheit oder gar Fröhlichke~t ertragen. Allerdings muß auch hier
zwischen physischem und moralischem Bereich unterschieden werden.
Man darf beispielsweise getrost sich selbst und anderen mit solchen
Argumenten über einen Schicksalsschlag hinweghelfen, aber es ist bedenk-
lich, mit den gleichen Überlegungen etwa einen Mord nachträglich zu
entschuldigen oder den Widerstand gegen einen übermächtigen Tyrannen
zu verurteilen.
Noch größer werden aber die Schwierigkeiten, wenn der Eintritt
eines Ereignisses durch unser Handeln mitentschieden wird. Es fehlt
dann jener unabänderlich gegebene Sachverhalt, den man als "Fügung
des Schicksals" bezeichnen kann. Darum hat in dieser Situation die Formel,
wir sollten dem Weltgesetz gemäß handeln, für uns weder einen sach-
lichen noch einen normativen Gehalt. Sie ist, wie schon oben (S. 162f.)
gezeigt, eine der im intentionalen Weltbild so häufigen Leerformeln,
denen beliebige materiale Wert- und Norminhalte unterlegt werden
können. Doch unterscheidet sich die hier erörterte Form der sozio-
kosmischen Spekulation von den bloßen Naturrechtslehren dadurch, daß
sie beliebigen Handlungsanweisungen nicht nur den Schein einer absoluten
Legitimation, sondern auch den einer Erfolgsgarantie durch das "eherne,
unverbrüchliche Weltgesetz" zukommen lassen kann. Die Möglichkeit,
auf diese Weise eine scheinbare Einheit von Direktiven und Garantien
zustande zu bringen, ist allerdings erst viel später in ihrem ganzen Umfange
erkannt und politisch ausgenützt worden.
Gegen die Kosmosspekulation der Stoa und der spätantiken Populär-
philosophie hat sich aber auch leidenschaftlicher Widerstand erhoben,
bezeichnenderweise nicht so sehr infolge der eben behandelten theoreti-
schen Schwächen jener Lehre, sondern infolge einer entgegengesetzten
Grundwertung des Universums. Der optimistischen Deutung des Kosmos als
einer moralisch und ästhetisch befriedigenden Ordnung, wie sie die stoische
Metaphysik vertrat, wurde in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten
durch die sogenannte Gnosis eine radikal pessimistische Weltauffassung
gegenübergestellt. Die verschiedenen Richtungen dieser mystisch-religiösen
Strömung ließen zwar im allgemeinen die Herrschaftsstruktur des sozio-
Der Kosmos der Philosophie 175

kosmischen Universums als solche unangetastet, unterwarfen sie aber


einer grundsätzlichen und kompromißlosen Umwertung. Das sichtbare
Universum, die Sinnenwelt, ist das Ergebnis des Abfalles von einem
außerweltlichen Gott oder das Werk eines bösen Weltschöpfers. Auch die
Gestirnmächte sind gefallene Seelen, die dem Menschen übelwollen.
Wohl gab es auch für die Gnostiker den "Kosmokrator" und die Würden-
träger seines Reiches, die "Archonten" - aber als den satanischen
"Fürsten dieser Welt" und die ihm ergebenen "Mächte" und "Gewalten"
der "Finsternis", denn Finsternis (O")(o't"o<;) ist für diese Weltauffassung
der Kosmos. Im Universum herrschen Ordnung und Gesetz, doch sie sind
nicht gerecht und dem Menschen verwandt, sondern "starre, sinnfremde,
feindselige Ordnung, tyrannisches, böses Gesetz, dem Urwesen des
Menschen fremd, für ibn nicht kommunikabel, nicht bejahbar. Eine
sinnentleerte Welt hat ihre Ordnung: eine sinnentleerte Ordnung"!.
Diesem kosmisch-astralen Machtsystem, das wie ein Gefängnis von der
"Eisenmauer" des Firmaments umgeben ist, sind nicht nur alle körper-
lichen Dinge, sondern auch die Seelen der Menschen ausgeliefert. Aufgabe
der gnostischen Erkenntnis ist es, den in die Materie verbannten mensch-
lichen Wesenskern aus seinen Fesseln zu befreien und zum göttlichen
Urgrund zurückzuführen. Die Lehre vom Abfall und Fall der Geister,
welche das Weltendrama zumeist nach den moraIischen Kategorien von
Schuld und Sühne interpretiert, wird oft durch den Glauben an die Ent-
sühnung und den Wiederaufstieg der gefallenen Wesen zum Quell allen
Seins ergänzt, so daß der kosmische Prozeß als Kreislauf von Gott seinen
Ausgang nimmt und wieder in ihn einmündet.
Mit diesen zumindest indirekt soziomorphen Vorstellungen verbinden
sich häufig biomorphe. Der alte Mythos von der Heiligen Ehe und dem
Zweigeschlechterwesen, das die Welt in sich zeugt und aus sich entläßt,
bricht wieder durch. Teils schließt man sich dabei an alte orphisch-
pythagoreische Traditionen an, teils schöpft man direkt aus dem orientali-
schen Glauben. Schon in der Kosmogonie PhiIons gehen manchmal
intentionale Leitbilder in biomorphe über: "Den Schöpfer also, der dies
Weltall gemacht hat, werden wir nun zugleich auch mit Recht den Vater
des Geschaffenen nennen, die Mutter aber die Weisheit (E7tLO"'t"~fL"Yj) des
Schöpfers, mit der Gott sich vereinte und in der er - nicht wie ein
Mensch - das Geschöpf zeugte. Sie aber empfing. .. und gebar den ein-
zigen und geliebten, sinnlich wahrnehmbaren Sohn, diese unsere Welt, den
Kosmos" (De ebr. 8, § 30)2. In der Gnosis tritt dieses biomorphe Element
noch stärker hervor. Ähnlich wie bei Hesiod wird der Weltzusammenhang
als Sippenordnung, als Geschlechterfolge betrachtet, die entweder auf
ein Elternpaar - etwa Weltgeist und Weltseele - oder auf ein doppel-
geschlechtliches Urwesen zurückgeht. Nach einem bei Epiphanios erhal-
tenen Fragment aus der valentinianischen Gnosis steht am Anfang des

1 H. J ONAS: Gnosis und spätantiker Geist, 1. Bd., 2. Aufl., Göttingen


1954, S. 148.
B "Übers. b. H. LEISEGANG: Gnosis, S.95.
176 Der Kosmos der Philosophie

kosmogonischen Prozesses der zeitlose, mann-weibliche "Urvater", aus


dem die übrigen, teils geschlechtlich differenzierten, teils ebenfalls andro-
gynen Wesenheiten hervorgegangen sind!. Auch in den hermetischen
Schriften begegnen wir dem doppelgeschlechtlichen Gott, der ohne die
Hilfe eines weiblichen Partners den weltschaffenden Geist (vou<; 8YJ!l.LOUPYO <;)
hervorbringen kann2 •
Die Vorstellung der mann-weiblichen Einheit des Urgrundes kann sehr
wohl zu dem Gedanken erweitert werden, daß in dem obersten Seins-
prinzip alles vereinigt ist, was in der Erfahrungswelt getrennt auftritt.
Allerdings entspringt die Idee des Ur-Einen oft auch aus anderen Motiven.
Die spezifisch biomorphen Elemente sind dann sekundär oder werden aus
einem fremden Vorstellungskreis übernommen und assimiliert. Das
stärkste Motiv der Einheitslehre ist zumeist ein Wertpostulat: jene
oberste Wesenheit soll vollkommen sein, also unteilbar, unzerstörbar,
ursprünglich und gegen jeden inneren Zwist gefeit. Mit dieser Forderung
der Einheitlichkeit verbindet sich leicht eine weitere: der Weltgrund
soll über jede Vergleichbarkeit mit den so mangelhaften Dingen der
Erfahrungswelt erhaben sein. Je pessimistischer man das sichtbare
Universum und zumal die menschliche Lebenswirklichkeit beurteilt, desto
eher wird man dazu neigen, das Vollkommene durch die Negation aller
jener Eigenschaften zu definieren, die uns an den Erfahrungsobjekten
gegeben sind. Diese Einstellung lag besonders der Gnosis nahe, doch war
sie auch der griechischen Philosophie nicht fremd. Seit Parmenides, ja
seit Anaximander hat man immer wieder jede inhaltliche Bestimmung
des Weltgrundes als eine Beschränkung empfunden, die mit dessen
absoluter Dignität unvereinbar ist. Besonders seit der hellenistischen
Epoche hat die Lehre von der über alle Aussagbarkeit erhabenen Majestät
Gottes an Verbreitung gewonnen3 •
Alle diese Komponenten vereinigen sich in der letzten großen System-
bildung der Antike, dem Neuplatonismus Plotins. Er selbst betrachtete
sich zwar als Träger der platonischen Tradition, doch hat er aristotelische
und stoische Gedanken ebenso in seine Lehre aufgenommen wie solche
der eklektischen Populärphilosophie und der Gnosis. Die radikale gnosti-
sche These vom bösen Weltschöpfer und der Schlechtigkeit der Erfahrungs-
welt hat er sich nicht zu eigen gemacht, sondern er sucht zwischen der
absoluten Jenseitigkeit des göttlichen Prinzips und der konventionellen
Verklärung des Kosmos zu vermitteln. Andererseits hatte sich auch in
der Kosmosspekulation schon vor Plotin die Spannung zwischen Gott
und Welt verstärkt. Der göttliche Kosmokrator wurde immer höher
über den Kosmos erhoben, so daß er schließlich den Kontakt mit diesem
zu verlieren drohte. Die Kluft, die sich so öffnete, suchte man durch
Einschaltung von Mittelwesen oder durch Differenzierung des Göttlichen
zu überwinden. Beispielsweise unterschied Numenios von Apamea, ein
1übers. b. H. LEISEGANG: Gnosis, S.289ff.
2 Ä.-J. FESTUGIERE: Revelation IV, S.43ff.
3 Diese Entwicklung bildet das Grundthema des IV. Bandes des Werkes
von FESTUGIERE. - Vgl. E. NORDEN: Ägnostos Theos, S.65ff.
Der Kosmos der Philosophie 177

Vorläufer Plotins im 2. Jahrhundert n. Ohr., mehrere Gottheiten, die


eine Rangordnung bilden. Der höchste Gott ist der Urgrund allen Seins,
er ist der König. Die Welt darf dieser Gott nicht bilden, da er über alle
Werktätigkeit erhaben ist. Er hat sein Wesen in sich selbst, ist einfach,
weil er nur mit sich selbst verkehrt, und ist durchaus unteilbar. Sein Sohn
ist der Demiurg, der weltbildende Gott, welcher den Himmel durchläuft
und ihm gebietet. Dieser kosmische Gott lenkt die Harmonie der Welt,
indem er sie durch die Ideen regiert, und blickt zu seinem Vater als dem
Quell alles Guten auf. Der dritte, rangniedrigste Gott schließlich ist das
Erzeugnis des Weltbildners, nämlich das Universum. Diese Reihenfolge
von Vater, Bildner und Gebilde wird manchmal auch rein biomorph als
die von Vater, Sohn und Enkel aufgefaßt. Numenios empfindet es auch
als wesentlich, daß die niedrigeren Gottheiten aus dem höchsten Wesen
so hervorgehen, daß dieses dadurch keinen Verlust erleidet oder in seiner
Vollkommenheit beeinträchtigt wird. Als Analogie für diesen Werde·
prozeß dient ihm die Verbreitung des Feuers: die Mitteilung des Seins
vollzieht sich, wie wenn man eine Lampe an der anderen anzündet, so
daß sie von dieser ihr Licht hat; dadurch wird der ersten nichts entzogen1 .
Diese Überlegungen sind bemerkenswert, da hier nicht die Wertungen
den Modellvorstellungen folgen, sondern umgekehrt. Es wird kein empiri.
sches Geschehen mit Hilfe einer Analogie erklärt und werthaft gedeutet,
sondern es wird ein nicht beobachtbarer Vorgang angenommen oder
konstruiert, und zwar so, wie er nach bestimmten Wertpostulaten ver·
laufen sollte. Im gegenständlichen Falle darf der Weltgrund bei der
Entstehung des Kosmos weder Arbeit leisten noch in seinem Bestand
vermindert werden, da dies dem Postulat der Vollkommenheit wider.
sprechen würde. Zugleich sucht man nach einem empirischen Vorgang,
mit dessen Hilfe man jene imaginäre Kosmogonie begreiflich machen
könnte - hier ist es die Ausbreitung des Feuers oder Lichtes.
Das Problem des absolut erfahrungsjenseitigen, überweltlichen Ur.
grundes und seines Verhältnisses zur Erfahrungswelt tritt bei Plotin
noch stärker hervor als bei Numenios, der nur einige neuplatonische
Motive vorbereitet hatte. Es zeigt sich nun auch mit einer bisher unerreich·
ten Klarheit, daß die Annahme der Existenz eines solchen Weltgrundes
nicht durch irgendwelche logische Überlegungen oder empirische Sach·
verhalte nahegelegt wird, sondern einzig und allein auf einem Wert.
postulat oder Werterlebnis von höchster Intensität beruht. Wenn irgendwo,
dann kann man hier sehen, wie die Metaphysik rezitiert, was ihr das
Werten diktiert2 •

1 F. THEDINGA: De Numenio philosopho platonico, Diss., Bonn 1875,


Frgm. 36, 27, 29.
2 J. GEFFCKEN: Der Ausgang des griechisch.römischen Heidentums,
Heidelberg 1920, S.47: "Es will mir nicht unmöglich erscheinen, daß die
Verzückung ... geradezu Plotins Anschauung vom allerhöchsten, noch über
dem Nus stehenden Sein erzeugt habe." - F. BILLICSICH: übel, S. 100 zeigt
deutlich, wie der Begriff des "Einen" auf Grund vorausgesetzter Wert· und
Vollkommenheitspostulate konstituiert wird.

TopitAch, Metaphysik. 12
178 Der Kosmos der Philosophie

Die werthaft-emotionale Grundlage der plotinischen Philosophie


bildet ein Erlösungsbedürfnis, entstammend aus dem Leiden an der
Begrenztheit, Beschränktheit und Zerrissenheit, an der Unvollkommenheit
und Wertwidrigkeit der Erfahrungswelt. Als Gegenbild dieser Mangel-
haftigkeit entsteht im Geiste des Denkers die Idee eines Etwas, das als
Negation aller Unvollkommenheiten das wahrhaft Vollkommene dar-
stellen soll. Es ist das Eine, Unzerstörbare und Einfache, das Bleibende,
Beständige und Selbstgenugsame (oc:u"t"ocpx€C;). Es ist - worauf Plotin
immer wieder den größten Nachdruck legt - über jedes Bedürfnis und
jede Bedürftigkeit erhaben (z. B. V 3, 6ff.; 6, 4; VI 9,6 u. a.). Doch damit
ist die äußerste Steigerung der Vollkommenheitsattribute noch nicht
erreicht. Die schlechthinige Weltübetlegenheit des Einen ist mit der
Benennbarkeit und begrifflichen Bestimmbarkeit unverträglich, denn
jede Bestimmung wäre eine Begrenzung oder Beschränkung. Der Welt-
grund "ist etwas Höheres als das, was wir von ihm aussagen, ja er ist
mehr und größer als wir überhaupt aussagen können, denn er steht
höher als Wort und Geist und Wahrnehmung" (V 3, 14)1. Das namenlose
und unaussagbare Eine steht über der Sprache und dem Denken, über
Zeit und Raum, Bewegung und Ruhe (VI 9, 3-6; III 9, 3). Es ist gestaltlos,
da jede begrenzende Form seine Vollkommenheit mindern2 würde
(V 5, 6; VI 7, 32): "Wahrhaftig, wenn etwas ersehnt ist und du kannst
keine Gestalt und keine Form an ihm fassen, das ist dann das aller-
ersehnteste und reizvollste ... , denn hier ist das Verlangen nicht begrenzt,
denn auch der geliebte Gegenstand ist es nicht, sondern unendlich wird
die Liebe sein, die sich auf Es richtet." Sein Wesen liegt jenseits des
Geistes und des Guten, sofern dieses zu den Dingen zählt (V 3, 11;
VI 9, 6), ja jenseits der Substanz und der Selbstgenugsamkeit (V 3, 17).
Nachdem nun das Eine über alle Bestimmungen und Grenzen und damit
über den Bereich des begrifflichen Denkens erhoben worden ist, bleibt es
dem Menschen nur mehr durch einen irrationalen Akt geistigen Berührens
zugänglich, durch ein mystisch-ekstatisches Wert- oder Heilserlebnis,
wo alles gegliederte Wissen in der Gegenwart des Absoluten versinkt:
"Indem man aber berührt, hat man, in dem Augenblick wo man voll-
kommen berührt, weder Vermögen noch Muße irgend etwas auszusagen,
sondern man reflektiert erst nachträglich darüber. Man muß aber an-
nehmen, daß man Jenen in dem Augenblick gesehen hat, wo die Seele
mit eins von einem Licht erfüllt wird, denn das kommt von Ihm, das ist
Er selbst; und in dem Augenblick soll man glauben, daß Er zugegen
ist ... Und das ist das wahrhafte Endziel für die Seele, jenes Licht anzu-
rühren und es zu erschauen" (V 3, 17).
Die Vollkommenheit, die Plotin in so enthusiastischer Weise seinem

1 Auffallend ist die übereinstimmung mit dem oben (S. 101, Anm. 2) zitierten
Amon-Hymnus. - übers. n. R. HARDER: Plotins Schriften, Leipzig 1930 - 1937.
2 Man beachte das gegenteilige Vollkommenheitsideal, welches für Par-
menides maßgebend war und noch in der Zeit Plotins von Origenes verteidigt
wurde; vgl. H. HEIMSOETH: Die sechs großen Themen der abendländischen
Metaphysik, Berlin 1922, S. 95.
Der Kosmos der Philosophie 179

Ur.Einen verleiht, erlaubt nicht, daß er ihm irgendwelche intentionale


Funktionen oder Fähigkeiten beläßt: es ist nicht nur dem Denken uno
erreichbar, sondern es denkt auch selbst nicht (V 3,13/14). Es denkt weder
ein anderes noch denkt es sich selbst, denn es wäre dann keine Einheit
mehr. Auch wenn es sich selbst dächte wie der Gott des Aristoteles, wäre
es in Subjekt und Objekt gespalten, also eine Vielheit (V 6,1/2; VI 7, 37).
Neben dem Postulat der Einheit, die ja für Plotin den intensivsten Wert·
charakter trägt, treten auch andere Wertgesichtspunkte als Gründe dafür
auf, daß der Weltgrund nicht denkt. Er bedarf des Denkens nicht, da
er aus seinem eigenen Wesen vollkommen ist: "Wem also das Vollkommene
eigen sein soll, das muß vor dem Denken vollkommen sein; mithin bedarf
es des Denkens keineswegs; denn es ist schon vorher sich selbst genug.
Folglich wird es nicht denken" (V 6, 2). Das Denken vermag dem Einen
auch keine höhere Würde zu verleihen, da es an Wert unter jenem steht
(VI 7,37).
Noch viel weniger als das Denken erscheint das zweckrationale Handeln
mit der Vollkommenheit des Einen verträglich, ja Plotin spricht es sogar
dem an Rang niedrigeren Geist ab, da es ein Trachten nach etwas Fehlen·
dem ist (V 3,6). Das Tun oder Bewerkstelligen setzt einen Mangel oder
ein Bedürfnis voraus, dem abgeholfen werden soll, doch den vollkommenen
Wesen gebricht es an nichts, da sie in selbstgenugsamer Seligkeit ver·
harren (lU 2, 1; VI 8, 4). Dementsprechend hat das Eine auch keinen
nach außen, auf die Erreichung irgendwelcher Ziele gerichteten Willen.
In strenger Argumentation darf man nicht einmal behaupten, es habe
ein auf sich selbst bezogenes Wollen, es sei Herr seiner selbst. Auch die
Herrschaft über sich selbst würde eine Zweiheit voraussetzen, die mit
der reinen Einheit des Weltgrundes unvereinbar ist (VI 8, 12). Vor al1em
aber dürfen dem höchsten Prinzip keinerlei Eigenschaften oder Funk.
tionen beigelegt werden, die der ihm untergeordneten Dingwelt ent·
stammen (VI 8,11).
Der Urgrund steht in letzter Konsequenz nicht nur jenseits al1er
Vergleichbarkeit mit der Welt, sondern außerhalb jeder Beziehung zu
ihr: "Man darf ihn überhaupt nicht als zu etwas in Beziehung stehend
ansprechen; denn er ist nur das, was er ist, und ist vor den anderen Dingen;
wir tun ja selbst das ,ist' von ihm fort, und damit auch jede Beziehung
zu den seienden Dingen" (VI 8,8). So wird das Eine unter dem Druck
des übermächtigen Wertpostulates, ihm den höchsten nur irgendwie
möglichen Grad der Vollkommenheit zuzuschreiben, schließlich aus jedem
Verhältnis zur Welt gelöst. Dadurch kommt es zu erheblichen Schwierig.
keiten. Die oberste Wesenheit soll hoch über jeder Relation stehen - aber
sie ist doch nur in Beziehung zur menschlichen Erfahrungswelt und
Lebenswirklichkeit erdachtl. Die Vollkommenheitsattribute, mit denen
sie überhäuft wird, sind nichts anderes als die Negationen der wert·
widrigen Eigenschaften unserer Welt, zu denen bereits ihre Strukturiert·
heit und Geformtheit zählt, insofern Struktur und Form als Begrenzung,

1 F. HEINEMANN: Plotin, Leipzig 1921, S.253.


12·
180 Der Kosmos der Philosophie

als Beschränkung empfunden wird. Wenn man andererseits mit der These
ernst macht, daß die Erhabenheit des Einen jeden Kontakt zwischen ihm
und der geordneten, gestalteten Welt verbietet, so ist nicht einzusehen,
was jener Urgrund für die Welterklärung leisten soll.
Das letztere Problem hatte in etwas anderer Gestalt schon manche
Vorgänger Plotins beunruhigt, und wie diese sucht auch er die Kluft
durch Einschaltung von Mittelwesen zu überbrücken. Da dem Einen
infolge seiner Würde jede intentionale Betätigung, jedes Wollen, Planen
und Handeln versagt ist, müssen diese 'Wesen auf eine andere Weise
hervorgebracht werden. So gelangt der Denker zur Annahme eines unge-
wollten, absichtslosen Hervorgehens des Gewordenen aus dem Welt-
grund, das er allerdings nicht rational zu erklären, sondern nur mit Hilfe
von Bildern anzudeuten vermag. Diese Bilder führen oft direkt auf
mythische Vorstellungen zurück. Zum Teil stammen sie aus der unbelebten
Natur, etwa wenn Plotin von einem Überfließen (vm:ppe:Lv, 1tpOXeLv)
spricht (V 2,1), wie die Quelle ihre Wasser verströmt und dabei nicht
verbraucht wird (111 8,10) oder wie das Licht sich in der Dunkelheit ver-
breitet (IV 3, 9; VI, 7; V 3, 12). Nicht selten finden sich auch organische
Analogien. Das Seiende erwächst aus dem Urgrund wie ein gewaltiger
Baum aus seiner Wurzel (III 3, 7; III 8, 10) - hier handelt es sich offenbar
um einen Nachklang des Mythos' vom Weltenbaum. Auch von einem
Zeugungsakt oder einer Schwangerschaft Gottes ist die Rede (V 4, 1;
V 8,12), wobei die Vermutung naheliegt, daß die Vorstellung von dem
einzigen Weltprinzip, welches ohne Partner andere Wesenheiten zeugt
und gebiert, eine spiritualisierte und sublimierte Form des doppel-
geschlechtlichen Gottes darstellt. Es ist eigenartig, wie Plotin durch sein
Vollkommenheitspostulat am Gebrauch von Analogien aus dem spezifisch
menschlichen Bereich der Intentionalität gehindert und gezwungen wird,
seine Bilder aus Bereichen zu holen, die man auf Grund anderer wert-
hafter Voraussetzungen oft als "untermenschliche Natur" geringschätzt.
Auch hier entscheiden also die Wertungen darüber, welche Modellvor-
stellungen angewendet werden.
Das unmittelbare Produkt jenes kosmogonischen Zeugungsprozesses
ist der Geist, der ausdrücklich als Sohn des Gottes bezeichnet wird.
Ähnlich wie bei Numenios die oberste Gottheit über das Geschäft der
WeltbiIdung erhaben ist und sie ihrem Sohn, dem Demiurgen, überläßt,
tritt bei Plotin "der eine Gott, der gebunden ist, immer unverändert
zu bleiben, die Herrschaft über das All seinem Sohne {'t'I{> 1tcxL80 ab" -
hat er doch drüben ein viel herrlicheres Reich als die geschaffene Welt.
Der "Weltgeist" hat ebenfalls einen Sohn - auch hier klingen Motive aus
Numenios an -, nämlich den Kosmos beziehungsweise die Weltseele.
So steht der Geist als Mittler zwischen seinem besseren Vater und seinem
geringeren Sohne (V 8,13).
Allein der "Geist" ist wesentlich Bewußtsein, er ist ohne Intentionalität
nicht vorstellbar. Das Problem der Entstehung des Geistes führt daher
unweigerlich zur Frage, wie aus dem Nichtdenkenden das Denkende her-
vorgeht. Auch hier erhalten wir keine rational befriedigende Antwort,
Der Kosmos der Philosophie 181

sondern abermals nur Bilder!. Das Eine entläßt ein Wesen aus sich, dieses
wendet sich zu seinem Ursprung zurück und blickt auf ihn. Indem es
ihm gegenübertritt, entsteht das Sein, indem es ihn anblickt, entsteht
der Intellekt (V 2, 1). Der Geist, der auf diese Weise geworden ist, be-
trachtet aber nicht nur das Eine, sondern er denkt auch als das primär
Denkende sich selbst (V 6, 1-2). Es bildet also das sich selbst denkende
Wesen, da es keine vollkommene Einheit darstellt, nicht wie bei Aristoteles
die höchste, sondern bloß die zweithöchste Stufe der Seinshierarchie.
Der Geist ist nicht mehr absolute Einheit, sondern beginnende Vielheit
(V 3, 15), nämlich Zweiheit von Denkendem und Gedachtem (V 3,10;
V 6, 2). Im Bereich des Geistes hat also das Bestimmte und Struktuierte
bereits Platz. So beherbergt er nach Plotin die Ideen, die normativen
Urbilder der Erfahrungsdinge, und zwar nicht nur wie bei Platon die der
Gattungen, sondern auch der Einzelwesen (V 7). Der Geist ist also "seiner
Natur nach früher als der Kosmos, er ist sein Urheber, gleichsam sein
Urbild und Muster, während das All nur Nachbild ist und erst vermöge
des Geistes existiert und ewig neu in die Existenz tritt". Er umfaßt den
wahren, vorbildlichen, intelligiblen Kosmos, die unzerspaltene Gemein-
schafts- und Freundschaftsordnung der Ideen (IH 2, 1; vgl. oben, S. 128).
Das nächstniedrigere Wesen ist die Weltseele, die in ähnlicher Weise
vom Geist hervorgebracht wird wie dieser vom Einen. Sie ist das im
engeren Sinne weltgestaltende Prinzip, das etwa dem platonischen
Demiurgen entspricht. Auf den intelligiblen Kosmos blickend denkt sie,
auf sich selbst blickend erhält sie sich und auf die Welt hinabblickend
ordnet, verwaltet und beherrscht sie diese (IV 8,3). Damit ist der Weg
zu einem Kompromiß mit der herkömmlichen intentionalen Kosmologie
eröffnet.
Den niedrigsten Rang nimmt die Materie ein. Ihre Stellung und
Funktion ist eigenartig und für das Wesen der plotinischen Philosophie
äußerst bezeichnend. Im Anschluß an frühere Denker wird sie als das
schlechthin Formlose, Undifferenzierte und Unbestimmte charakterisiert.
Sie ist der undefinierbare Restbestand, der übrigbleibt, wenn man von
aller Form absieht. Dies gilt schon von der sogenannten intelligiblen
Materie, aus welcher das Ideenreich gestaltet ist (II 4, 4) - so weit reicht
bei Plotin der technomorphe Dualismus von "Form" und "Stoff". Es
gilt selbstverständlich auch von der sinnlichen Materie, der ebenfalls
bloß negative Attribute zuerkannt werden, durch welche sie als Gegenteil
alles Bestimmten erscheint; sie ist qualitätslos, quantitätslos, größe- und
körperlos, gestaltlos, unbestimmt (&6ptO"'t"ov, cbtztpov). Wir erfahren
über sie :tuch kaum etwas Positives, wenn Plotin ihr die Eigenschaften
der Einheit, Einfachheit und Kontinuität zuschreibt (II 4, 8). Als das
Formlose, das erst geformt werden soll, um ein Sein zu erlangen, ist sie
ein Nichtseiendes, sie steht unter dem Sein (II 4, 16). Wie sich allerdings
der Formungsprozeß abspielen soll, wird nicht ganz klar. Bemerkenswert
ist aber, daß die Materie unbeschadet ihrer angeblichen Strukturlosigkeit

1 F. HEINEMANN, a. a. 0., S. 149ff.


182 Der Kosmos der Philosophie

und ihres Nichtseins alles eher als wertneutral ist. Vielmehr trägt sie einen
äußerst kräftigen negativen Wertcharakter. Trotz oder richtiger infolge
ihrer Gestaltlosigkeit soll sie der Inbegriff der Häßlichkeit sein: "Alles
Formlose ist bestimmt, Form und Gestalt anzunehmen; solange es daher
keinen Teil hat an Begriffen und Gestalt, ist es häßlich und ausgeschlossen
von der göttlichen Vernunft; das ist das schlechthin Häßliche. Häßlich
ist aber auch das, was von der Form und dem Begriff nicht voll bewältigt
wird, weil die Materie eine gänzlich der Idee entsprechende Formung
nicht zuließ" (I 6, 2). Doch ist die Materie nicht nur das primär Häßliche,
sondern auch das primär Böse. Als das Gestaltlose ist sie die "Privation",
die Verneinung aller Ordnung und allen Maßes. Hier faßt Plotin ganz im
Sinne der klassischen griechischen Tradition das Böse als das Ungeordnete
auf. "Es ist gewissermaßen Ungemessenheit gegen Maß, Unbegrenztheit
gegen Grenze, Ungestaltetheit gegen gestaltende Kraft und ewige Bedürf-
tigkeit gegen Selbstgenügsamkeit" (I 8,3). Der Inbegriff oder die Sub-
stanz dieses Bösen, das an sich Unbegrenzte und Ungestalte, ist die
Materie.
Wenn man die Attribute, auf Grund deren die Materie als das Urböse
gilt, näher betrachtet, so muß auffallen, daß sie in vieler Hinsicht mit
jenen des höchsten Weltprinzips übereinstimmen: bei dem Einen finden
sich weitgehend dieselben Bestimmungen - beziehungsweise dieselbe
Bestimmungslosigkeit - wie bei der Materiel . Dieser Sachverhalt, der
auf den ersten Blick frappierend genug erscheinen mag, ist leicht zu
erklären, wenn man die Wertgesichtspunkte berücksichtigt, welche hier
wie so oft die eigentliche entscheidende Rolle spielen. Im vorliegenden
Falle entsteht das Paradox dadurch, daß die rationale Form, die Bestimmt-
heit und Strukturiertheit verschieden aufgefaßt und bewertet wird.
Einerseits kann man sie als Eingrenzung und Einschränkung betrachten,
wodurch sei einen negativen Wertakzent erhält. Das Vollkommene und
Mangellose muß also über sie erhaben sein - so ergibt sich die Bestim-
mungslosigkeit des Einen als Postulat aus einer ganz spezifischen Wert-
voraussetzung. Andererseits mag man die rationale Form als Maß und
Ordnung empfinden, als Zucht und Schönheit, als Normgestalt, welche
die Dinge erreichen müssen, um die ihnen arteigene Vollkommenheit
zu erlangen. Demgegenüber ist der Werkstoff das Formlose, Ungestalte,
Ungeschlachte, und dies um so mehr, je weniger er von der Form durch-
drungen ist. Unter dieser spezifischen Wertvoraussetzung erscheint das
schlechthin Gestalt- und Bestimmungslose als das Übel schlechthin.
Diese Art von Argumentation ist in mehrerer Hinsicht aufschlußreich.
Sie zeigt, wie philosophische Vorstellungen auf Grund von Wertpostulaten
entstehen, sie zeigt aber auch, wie jene Postulate und Vorstellungen mit-
einander in Konflikt geraten und dadurch philosophische Probleme hervor-
bringen können: werthafte Forderungen - und nicht theoretische Er-
wägungen - drängen das Denken über die Grenzen des begrifflich Be-
stimmbaren hinaus und erzwingen die Annahme irgendwelcher weder

1 F. HEINEMANN, a. a. 0., S. 258.


Der Kosmos der Philosophie 183

gedanklich noch sprachlich faßbarer Wesenheiten. Will man dann diese


doch wieder mit der inhaltlich bestimmten und strukturierten Welt in
Beziehung setzen, so ergeben sich zumindest scheinbare Probleme,
etwa das des " Verhältnisses von Rationalem und Irrationalem" (V 3, 15/16).
Für den, der von anderen Wertvoraussetzungen ausgeht oder überhaupt
wertfrei argumentiert, besteht diese Frage - wenigstens in der vor-
liegenden Form - ebensowenig wie etwa die Notwendigkeit, zwischen
dem unaussagbaren Einen und der unaussagbaren Materie begrifflich
zu unterscheiden.
Doch nicht nur einzelne Vorstellungen und Begriffe, sondern die ganze
Stufenleiter, die von dem unbestimmbaren, "über dem Sein und Denken"
stehenden Einen über das bestimmbare geistige, seelische und physische
Sein hinab zu der "unter dem Sein" stehenden, unbestimmbaren Materie
führt, ist auf Grund spezifischer Wertungen konstruiert. Die gesamte
Konzeption entstammt dem Bedürfnis nach Entlastung vom Druck der
Umwelt, nach Befreiung aus der Beschränkheit und Unvollkommenheit
des irdischen Daseins oder - in der Sprache des Gläubigen - nach
"Befreiung der Seele aus der befleckenden Gefangenschaft in der Materie".
Diese mythische Reinigungsvorstellung1 , die bereits in der orphisch-
pythagoreischen Lehre und - in rationalisierter Form - bei Platon
vorliegt, ist die Grundlage für jede Theorie von dem Aufstieg der Seele
zum Einen. Die Voraussetzung jenes Aufstieges oder jener Rückkehr
zum Ursprung ist aber ein vorhergegangener Abstieg oder Abfall. Dieser
vollzieht sich - hier wie so oft wird das menschliche Lebensdrama zum
kosmischen Drama erweitert - im Rahmen eines universellen Abstiegs-
prozesses, eben jenes Stufenweges vom Einen zur Materie.
Bezeichnenderweise unterscheidet sich aber das menschliche Drama
vom kosmischen. Solange es sich bloß um das Hervorgehen der Welt
aus dem Urprinzip handelt, verwendet Plotin gerne Modelle wie das
Überfließen, Ausstrahlen, Zeugen oder Wachsen. Wo er jedoch über das
Hervorgehen der menschlichen Seele spricht, dort finden sich oft auch
intentionale und zumal moralische Leitvorstellungen. Ihr Eigenwille,
ihr Hochmut, ihr Verlangen, anders zu sein und sich selbst anzugehören,
trennt die Seelen vom göttlichen Vater (V 1, 1). Andererseits ist der
Abstieg der Einzelseele in die Materie auch als Erfüllung einer besonderen
Aufgabe in der Ökonomie des Kosmos zu deuten. Während die Welt-
seele ihren viel vollkommeneren Leib, nämlich das physische Universum
in seiner Gesamtheit, mühelos beherrscht, muß sich die menschliche
Seele tief in die Materie versenken, um für den MenschenIeib zu sorgen.
Herrscht die Weltseele gewissermaßen als Königin, so muß die Einzel-
seele schmutzige Knechtsarbeit leisten: "Denn zwiefacher Art ist alle
Fürsorge: für das Allgemeine ein geruhiges Gebieten, ein königliches
Regieren; für das Einzelne ein eigenhändiges Tun (cxu't"oupyo<; 7toL-Yjcn<;),
bei welchem der Handelnde vermöge der Berührung an dem Objekt der
Handlung sich befleckt" (IV 8, 2). Damit sind wir wieder bei den techno-

1 F. HEINEMANN, a. a. 0., S. 153.


184 Der Kosmos der Philosophie

morphen und soziomorphen Modellen angelangt. Die Welt bildet eine


Hierarchie von Seelen, zuoberst die des Alls, ihr folgen die Seelen der
Gestirne und den letzten Rang nehmen die Menschenseelen ein, -die
ganz in der Materie gefangen sind und dadurch in Lüste, Begierden und
Schmerzen verstrickt werden. Doch soll der Abstieg unserer Seelen in
die Materie nicht nur Erfüllung eines Auftrages, sondern zugleich auch
Strafe sein für die Flucht vor dem Einssein mit dem Kosmos und die
Lossagung von der geistigen Welt (IV 8, 4/5). An anderen Stellen folgt
Plotin stärker dem aristotelischen Technomorphismus, nach welchem
die Seele in ihrer Beziehung zum Leib entweder der Form im Verhältnis
zum Stoff oder dem Benützer im Verhältnis zum Werkzeug entspricht
(IV 7,1).
Auch sonst spielen intentionale Modelle in der Philosophie Plotins
eine beachtliche Rolle. Zumal die Wirksamkeit der Mächte mittlerer
Rangordllung wird oft soziamorph oder technomorph gedeutet. Der
Geist fungiert im Weltall als der wahre Bildner und Werkmeister (1t'O ~1j-riJ C;;
XOCL 81j(L~oupy6c:; V 9, 3), er ist der erste Gesetzgeber (VO[LO&E't"1)C:;) oder
vielmehr das Gesetz (VO(Loc:;) allen Seins (V 9, 5). Er denkt und schafft
oder umfaßt die Ideen, die normativen Urbilder der Sinnendinge, welche
die Weltseele den vier Elementen aufprägt, wie der Künstler dem Stoff
die Formen aufprägt, die seine Seele in der Kunst vorfindet (V 9, 3).
Dieser Vergleich wird folgerichtig durchgeführt, so daß der technomorphe
Charakter der plotinischen Ideenlehre noch deutlicher ist als jener der
platonischen. Wie die Kunst die Normgestalten der Artefakte in sich
enthält, so enthält der Geist die der gesamten Erfahrungswelt. Das Erz
erhält seine Form von der Bildhauerkunst, das Holz von der Zimmer-
mannskunst, wobei die Kunst nur vermöge eines Abbildes in die Gegen-
stände eintritt, im übrigen aber unveränderlich im Reiche des Immateriel-
len verharrt und die ewigen Urbilder - etwa die wahre Bildsäule oder
die wahre Liegestatt - in sich enthält. Ebenso sind alle irdischen Dinge
nur Abbilder unwandelbarer geistiger Paradigmen (V 9,5). Dieser intel-
ligible Kosmos ist als Mittelglied zwischen dem nicht strukturierten Einen
und der strukturierten Welt zugleich strukturiert und unstrukturiert, in
ihm ist alles beisammen und doch gesondert. Diesen angeblichen Sach-
verhalt versucht Plotin mit dem Gleichnis von der Keimkraft des Samens
zu illustrieren, in dem alle Formen des zukünftigen Lebewesens vorhanden
sind (V 9, 6).
Soziomorphe Modelle sind gleichfalls nicht selten. Wir sind schon
mehrfach auf sie gestoßen. Obwohl Plotin unter dem Einfluß machtvoller
Wertpostulate dem Weltprinzip alle vorstellbaren und begrifflich faßbaren
Eigenschaften und Funktionen abspricht, gerät er doch immer wieder
in den Bannkreis der politischen Kosmologie. Besonders eindrucksvoll
ist eine Stelle (V 5,3), die ebenso bei einem Stoiker stehen könnte:
"Wenn jener (der höchste Gott) wandelt, so durfte er weder auf etwas
Unseelischem wandeln noch unmittelbar auf der Seele, sondern er mußte
etwas unsagbar Schönes haben, das vor ihm einherschreitet; so wie vor
dem Großkönig bei den Aufzügen an erster Stelle die niederen Ränge
Der Kosmos der Philosophie 185

voranziehen und immer ansehnlichere und würdigere Stellen folgen,


dann der Hofstaat, der schon königlicher ist, dann die nächst dem König
höchsten Würdenträger: und erst nach allen diesen taucht plötzlich
der König auf, er, der Große selber; und die Umstehenden beten zu ihm
und fallen zu Boden... Hier ist freilich der König ein anderer und
andere, die vor ihm herziehen; droben aber der König regiert nicht über
Fremde, er übt das gerechteste, das naturgegebene Regiment, das wahre
Königtum, denn er ist der Wahrheit König und hat von Natur Gewalt
über sein eigenes Erzeugnis insgesamt, diesen göttlichen Bau; König
der Könige ist er ... " Eine einheitliche Macht führt die Verwaltung
(aLOeX'YJcnc;) der Welt und in dieser einheitlichen Führung ist der Zusam-
menhalt des Kosmos begründet. Das All hat ewigen Bestand, da das
Ganze durch die ordnende Kraft des Herrschers gelenkt wird, den die
Gestirne bei der Regierung unterstützen (I! 3,6-8; I! 9,9). Die lws-
mische Ordnung ist dem Gesetz eines Staates vergleichbar (IV 4, 39),
das jedem nach Verdienst Lohn oder Strafe zuteilt (I! 9,9), oder der
Hierarchie eines Heeres, in welchem die Soldaten dem Feldherrn unter-
stehen (I! 3, 13). Die soziomorphen Leitvorstellungen werden aber auch
auf das Individuum angewendet: wie das All, so ist auch die menschliche
Seele in sich rangmäßig abgestuft (II 3,13).
Neben dem Staat oder der Stadt (lI! 2, 17; IV 8, 3) taucht nicht
selten der Reigen oder das Schauspiel als Leitbild des plotinischen Welt-
und Lebensverständnisses auf. Die Bewegungen der Sterne spielen sich
wie ein kunstvoller Reigentanz ab, in welchem alle Tänzer durch einen
einheitlichen Willen gelenkt werden, wodurch sich ihre verschiedenartigen
Figuren zu einem harmonischen Ganzen zusammenschließen (IV 4, 33/34)1.
Aber auch die Menschenseelen sind Tänzer. Sie umkreisen im Reigen
das Eine wie einen Chorführer, wobei sie allerdings oft von ihm weg-
blicken; haben sie es aber im Auge, dann sind sie am Ziel und die Har-
monie des Chores ist vollendet (VI 9, 8). Das menschliche Dasein ist wie
ein Spiel auf einer Bühne, in dem die kosmische Regie jedem Schauspieler
eine Rolle zugewiesen hat (IH 2,15-17). Damit begegnen wir wieder
der Vorstellung vom rationalen Weltplan (Myoc;), der alles Geschehen
und zumal alles menschliche Tun umfaßt und leitet.
Doch liegt es Plotin fern, aus diesem Weltplan praktisch-ethische
oder gar politische Folgerungen abzuleiten. Das Gleichnis vom großen
Welttheater dient, wie wir sehen werden, ganz anderen Zwecken und
jenes vom Reigen um das Eine ist geradezu gegen alles innerweltliche
Wirken gerichtet, das die Seele nur von dem unum necessarium ablenkt.
Wenn es auch vielleicht zu weit geht, die Einstellung Plotins als asozial
zu bezeichnen 2, so ist doch sein Interesse an den zwischenmenschlichen
Beziehungen recht gering. Er erkennt zwar die sogenannten bürgerlichen
Tugenden an, doch bilden sie nur die niedrigste Stufe des Aufstieges

1 K. KEILING: Übflr die Sympathie bei Plotin, Diss., Jena 1919, S.17.
2 F. BILLICSICH: Übel, S. 181. - E. BARKER: From Alexander to Con-
stantine, S. 333.
186 Der Kosmos der Philosophie

zur Erlösung. Zum Staatsleben hat der Denker kaum eine Beziehung.
Ein Senator, der sich ihm anschloß, legte seine Amtsgeschäfte als Prätor
nieder, verließ sein Haus und führte ein Leben, das dem eines wandernden
Bettelmönches ähnlich war (Vita c. 7). Der pädagogisch-politische Eros
Platons fehlt Plotin ebenso wie das weltbürgerliche Ethos der Stoa. Die
seiner Lehre entsprechende Sozialform ist weder die Polis noch die
Kosmopolis, sondern jene klösterliche Gemeinschaft von Heilssuchenden,
als welche wir wohl die von ihm geplante "Platonopolis" auffassen dürfen.
So ist es nicht überraschend, daß Plotin dem Naturrechtsproblem keine
Beachtung geschenkt hat.
Um so mehr hat ihn die Frage der Kosmodizee beschäftigt. Dabei
ist seine Position so widersprüchlich wie die der meisten Philosophen,
welche mit diesem Problem ringen. Auf der einen Seite steht ein inten-
sives Erlebnis der Wertirrationalität der Erfahrungswelt, das die bren-
nende Erlösungssehnsucht erzeugt, aus der die ganze Lehre vom Aufstieg
der Seele zum Einen hervorgegangen ist. Andererseits soll eben dieses
Eine, in dem aller Wert konzentriert ist, die einzige Quelle und ausschließ-
liche Ursache allen Seins darstellen. Dazu kommen alle Schwierigkeiten,
die sich daraus ergeben, daß Plotin bald intentionale, bald andersartige
Modellvorstellungen benützt.
Die Frage, wie eine wertirrationale Welt aus einem Weltgrund hervor-
gehen kann, der den reinsten und absoluten Wert darstellt, erhebt sich
aber auf jeden Fall, gleichgültig, ob man sich den kosmogonischen Prozeß
mit Hilfe intentionaler oder "emanatistischer" - das heißt praktisch:
physikalischer oder biomorpher - Modelle vorstellbar macht. Das stoische
Problem, woher das Übel komme, wenn doch ein werthafter Logos die
ausschließliche Herrschaft über die Welt innehat, kehrt bei Plotin in
der Form wieder, wie das Übel möglich sei, wenn die WeIt einzig und
allein einem werthaften Urgrund entströmt ist.
Die Ursache des Übels und der Inbegriff des Bösen ist für Plotin die
Materie, die aber doch zugleich aus dem guten Weltprinzip. hervor-
gegangen sein soll. Diese offenkundige Schwierigkeit hat der Denker
mittels der schon bekannten Lichtanalogie zu überwinden gesucht. Wie
dieses photomorphe Modell an anderer Stelle die These illustrieren sollte,
daß das Seiende aus dem Urgrund hervorgeht, ohne daß dieser einen
Verlust erleidet, so soll es hier das Verhältnis zwischen dem guten Welt-
prinzip und dem Bösen begreiflich machen. Dieser Gedanke liegt nicht
ganz fern, hatte doch die Lichtanalogie schon im Mythos eine stark wert-
hafte, ja spezifisch moralische Bedeutung besessen. Während aber im
mythischen Weltbild meist "Licht" und "Finsternis" als zwei von-
einander unabhängige, gegnerische Mächte aufgefaßt werden, will Plotin
das Lichtmodell zum Nachweis des Gegenteils verwenden: das Böse
soll vom Guten abhängig oder es soll überhaupt nichts Positives sein,
sondern ein Mangel, eine bloße "Privation", ein "Nichtseiendes". Wie
das Licht sich bei seiner Ausbreitung immer mehr abschwächt und sich
zuletzt in Finsternis verliert, so geht durch ständige Abschwächung
aus dem Guten und wahrhaft Seienden schließlich die Materie, also das
Der Kosmos der Philosophie 187

Böse und Nichtseiende hervor1 . So soll das Wertwidrige als Mangel


oder Abwesenheit des Wertvollen erklärt werden. Freilich ist mit solchen
mythischen Bildern nichts wirklich erklärt, kann man doch ganz nach
Belieben dem Dunkel ein "wahres Sein" zuschreiben oder absprechen.
Selbst wenn man sich auf den Boden der plotinischen Lehre stellt, kommt
man nicht um die Alternative herum, entweder das Böse aus dem einen,
absolut guten Urgrund - der kosmischen "Lichtquelle" - hervor-
gehen zu lassen oder ein eigenes, äußerst lebensbedeutsames Gebiet -
ein "Reich der Finsternis" - anzunehmen, in welchem die Macht oder
Wirksamkeit des Guten ausgeschaltet ist.
Neben dieser eigenartigen photomorphen Privationstheorie des Bösen
wirkt deren klassische technomorphe Form bei Plotin kräftig nach. Die
Erfahrungswelt ist ein notwendig mangelliaftes Abbild des urbildlichen
Ideenreiches, die empirischen Gegenstände bleiben hinter ihren ideellen
Normgestalten zurück (II 9, 8; 18, 9-11; auch V 9, 10). In diesem Falle
muß man aber der Materie so viel Unabhängigkeit zubilligen, daß sie
den Kräften, welche sie nach dem Muster der Ideen zu formen suchen,
Widerstand entgegenzusetzen vermag (IV 4,38).
Ansonsten bringt Plotin zur Frage der Kosmodizee kaum grund-
sätzlich Neues gegenüber der Stoa. Da er sich aber nicht immer der
Handlungsmodelle bedient und seine Lehre nicht auf die Leitung mensch-
lichen HandeIns abzielt, sondern einen fast rein kontemplativen Charakter
trägt, sind manche Problemstellungen etwas anders gelagert und meist
weniger scharf umrissen. Im allgemeinen verfolgt er mit ähnlichen Mitteln
eine ähnliche Tendenz wie die Stoiker. Die Wertirrationalität des Welt-
geschehens soll - zumindest sofern sie nicht auf menschliches Ver-
halten zurückgeht - mit der angeblichen Güte der kosmischen Ordnung
vereinbar gemacht werden, indem man sie abschwächt oder leugnet,
als notwendig hinstellt oder als Fügung höherer Gerechtigkeit deutet.
Ein klassisches Mittel der Abschwächung ist die schon behandelte
Privationstheorie, die es ermöglicht, das Übel als ein "nicht wahrhaft
Seiendes", als einen bloßen Mangel an Vollkommenheit aufzufassen:
das Abbild bleibt notwendigerweise hinter dem Urbild zurück. Doch
kann die Differenz zwischen beiden verschieden groß sein. In dem Lob-
preis des Universums, den Plotin ganz im Sinne der stoischen Kosmos-
verklärung der gnostischen Weltverachtung entgegenhält, schmilzt jener
Unterschied auf ein Minimum zusammen, "denn ein Abbild der oberen
Welt, welches schöner wäre als dieser Kosmos, kann man sich nicht
vorstellen" (II 9, 4). Als Beispiel für diese relative Vollkommenheit der
Erfahrungswelt führt der Denker bezeichnenderweise die Schönheit und
Harmonie des gestirnten Himmels und seiner Bewegungen an. Damit
ist aber das Problem der Rechtfertigung des Übels noch gar nicht berührt,
da ja die Himmelsvorgänge uns nichts Böses zufügen.
Die werthafte Deutung des Weltgeschehens bietet erst dort echte
Schwierigkeiten, wo sie mit dessen tatsächlicher Wertirrationalität kon-

1 F. BILLICSICH: Übel, S. 114.


188 Der Kosmos der Philosophie

frontiert wird, mit anderen Worten: wo echtes Leid unverdientermaßen


an den. Menschen herantritt. Die einfachste und radikalste Methode, mit
diesen Fragen fertig zu werden, ist die Leugnung des Übels, wie sie auch
die Stoiker versucht hatten. Widriges Geschick, der Verlust geliebter
Menschen, das Unglück des Vaterlandes, Schmerz, Krankheit und selbst
der Tod ist nichts wahrhaft Schlimmes (I 4, 4-7). Für den Weisen und
Guten bedeuten die Schicksalsschläge nichts, während sie für den Schlech-
ten heilsam sind (IH 2, 4/5).
Mit dem letzten Gedanken, der Auffassung des Unglücks als Instru-
ment der Strafe und Erziehung, entfernt sich Plotin ebensowenig von
der stoischen Tradition wie mit der bis auf Heraklit zurückgehenden
These, die Harmonie des Alls sei notwendigerweise aus Gegensätzen
aufgebaut (I 8, 7; IU 2,2; 4). Die Weltordnung, in deren Rahmen der
Einklang im Widerstreit verwirklicht sein soll, erstreckt sich allerdings
auf das Ganze des Universums, das für uns nicht oder nicht immer
überschaubar ist (IH 2, 16), so daß wir den Nutzen oder die Notwendig-
keit bestimmter Ereignisse oft nicht einsehen können. Damit wird das
Problem der Kosmodizee zumindest teilweise in das Unerkennbare
abgeschoben.
In diesem Zusammenhang vergleicht Plotin die Welt mehrmals mit
einem Kunstwerk, bei welchem Licht und Schatten geschickt zu einer
harmonischen Gesamtkomposition vereinigt sind. So verwendet der
Maler schöne und weniger schöne, helle und dunkle Farben in seinem
Gemälde, der Dichter läßt Personen vornehmen und einfachen Standes,
edle und gemeine Charaktere auf der Bühne auftreten. Wie der mensch-
liche Künstler, so verfährt auch die kosmische Regie. Der Weltlogos
bewirkt alle diese Dinge als Grundmacht, er will es so haben und er selber
bewirkt nach seinem eigenen Vernunftgesetz auch die sogenannten Übel,
da er nicht will, daß alles nur gut sei (lU 2, ll). Nach dieser Weltordnung
wird jeder Seele die ihr zukommende Stelle oder Rolle angewiesen
(lU 2,12). Die Auffassung des Menschengeschickes als Kunstwerk und
besonders als Schauspiel bedeutet aber nicht nur eine Rechtfertigung
des Übels im Sinne seiner Notwendigkeit für das Ganze, sondern zugleich
auch eine Abschwächung des ganzen Problems, das aus der Sphäre des
Lebensernstes in die des Spieles transponiert wird. Selbst der Krieg, für
das ethisch-politische Denken ein "Ernstfall" schlechthin, erscheint als
ein bloßer Waffentanz und zeigt uns an, "daß die ernste Mühe des Men-
schen allesamt nur Spielwerk ist" (lU 2,15), ja selbst Mord, Totschlag
und alle Kriegsgreuel soll man wie ein Bühnenspiel betrachten, da sie
nur den äußeren Schatten des Menschen berühren, nicht aber sein wahres
Wesen, die Seele.
Durch diese Verschiebung der Frage aus dem praktisch-ethischen
in den kontemplativ-ästhetischen Bereich und die Entwertung der Welt
zu einem letztlich gleichgültigen Schauspiel! - die ja einer Leugnung

1 M. WUNDT: Plotin. Studien zur Geschichte des Neuplatonismus, 1. Heft,


Leipzig 1919, S.32.
Der Kosmos der Philosophie 189

des Übels gleichkommt - hat sich der Philosoph jedoch nicht endgültig
zu beruhigen vermocht, da er vom Ernstcharakter des Übels und des
Bösen zu tief überzeugt war. So hat er die Wertrationalität des Welt·
laufes durch eine Annahme sicherzustellen gesucht, die jenseits der
Grenzen aller Nachprüfbarkeit liegt, nämlich durch die Lehre von der
Vergeltung im Rahmen einer Seelenwanderung. Was die Menschen
erleiden, haben sie in einem früheren Leben selbst verübt, und was sie
Schlimmes tun, werden sie in einem künftigen Leben erdulden müssen
(nI 2,13). Manchmal wird dieser Glaube in einen Zusammenhang hinein.
gestellt, der Mikrokosmos und Makrokosmos übergreift. Folgen wir
unserem höchsten Seelenteil, der dem Göttlichen im Universum ent·
spricht, dann steigen wir nach dem Tode zu diesem auf. Lassen wir uns
aber von den niedrigen Kräften der Seele - den animalischen und
vegetativen - leiten, dann sinken wir im nächsten Leben zum Tier oder
zur Pflanze herab. Wer die bloße Bürgertugend übte, wird als Mensch
wiedergeboren, wer dies bloß in geringem Maße tat, als staatenbildendes
Tier (IH 4, 2/3).
Man kann aber Menschenschicksal und Gerechtigkeit nicht nur
dadurch zur Deckung bringen, daß man den Bereich des Menschenloses
verändert und ins Unerfahrbare erweitert, sondern es ist auch möglich,
den Begriff der Gerechtigkeit so zu modifizieren, daß ihm das empirische
Geschehen entspricht. Auch den letzteren Weg hat Plotin eingeschlagen.
Wo die Bösen über die Guten herrschen, da tun sie das mit Recht, denn
die Guten haben nicht die Energie, die schlechte Herrschaft abzuschütteln
und sind daher selbst an ihrem Unglück schuld (IH 2, 8). Es ist eigenartig,
wie selbst ein so milder und kontemplativer Charakter wie Plotin durch
den Zwang des Systems zumindest in die nächste Nähe der These vom
Recht des Stärkeren gedrängt wird, deren Bekämpfung seit Platon
eines der Hauptziele der Moralmetaphysik gewesen war. An diesem
Punkte schlägt die Deutung des Universums als wertrationaler Kosmos
in das Gegenteil ihrer ursprünglichen Intention um. Sie muß einer These
zustimmen, welche vom Standpunkt der ihr zugrunde liegenden mora·
lischen Forderung nur als der schlimmste Zynismus betrachtet werden
kann. Damit fällt die Idee der wertrationalen Weltordnung einer Gefahr
zum Opfer, die bereits in ihrem Ansatz beschlossen liegt. Wo immer
man bestrebt ist, die Übereinstimmung der Wirklichkeit mit einem
Gerechtigkeitsideal um jeden Preis zu verteidigen und dabei nicht
imstande ist, die Wirklichkeit der Gerechtigkeit anzupassen, dort wird man
nicht umhin können, das Gerechtigkeitsideal der Wirklichlmit anzupassen.
Wie das Problem der Kosmodizee, so ist auch das Problem der Willens·
freiheit bei Plotin etwas anders gelagert als bei den Stoikern. Vor allem
fehlt die Einfachheit und Konsequenz, die in der stoischen Lehre so
klare Verhältnisse schafft. Das eigentümliche Schwanken zwischen einer
negativen Bewertung des empirischen Universums im Sinne der Gnosis
oder Mystik und seiner positiven Bewertung im Sinne der Stoa, das
auch mit einem Schwanken bei der Anwendung intentionaler Modelle
verbunden ist, führt zu einer gewissen Komplizierung der Fragestellung.
190 Der Kosmos der Philosophie

Wo die mystische Grundwertung vorherrscht, dort wird dem Einen


jede Intentionalität als seiner unwürdig abgesprochen. Zu einer Inter-
ferenz zwischen dem menschlichen Wollen und einem angeblichen Willen
des Weltprinzips kann es unter dieser Voraussetzung gar nicht kommen.
Sofern aber der Weltgrund als Inbegriff des Wertvollen gilt und die
menschliche Seele aus ihm hervorgegangen sein soll, läßt sich die Frage
nicht umgehen, wieso wir dennoch wertwidrig handeln können.
Für den Mystiker Plotin ist der Fall der Seele die Grundursache
allen Übels. Durch ihr Eintreten in die Materie, ihre Bindung an den
Leib, hat die Seele ihre ursprüngliche Freiheit verloren: "Solange die
Seele nun ohne Leib ist, ist sie völlig Herr über sich und frei und steht
außerhalb der innerweltlichen Verursachung; kommt sie aber in den
Leib, so ist sie nicht mehr ganz unabhängig, da sie dann in eine Reihe
mit anderen Dingen gestellt ist" (lU 1, 8). Der Fall in die Materie hat
aber nicht nur die Einschränkung durch äußere Umstände, sondern
auch die Verstrickung in die Bande der Leidenschaften zur Folge. Nur
wenn die Seele sich von diesen verderblichen Einflüssen reinzuhalten
und ihrem ursprünglichen vernünftigen Wesen treu zu bleiben vermag,
ist sie frei: das Freie - und das Gute - ist das Immaterielle (lU 1,9;
VI 8, 6). Die Freiheit hat also primär nichts mit äußeren Handlungen
und Entscheidungen zu tun, sondern sie besteht in der Güte und der
Reinheit der Seele (VI 8,5/6). Wir sind demnach frei, sofern wir aus
reiner und vernünftiger Gesinnung das Gute tun, wir sind unfrei, sofern
wir durch die Macht der aus der Materie stammenden Leidenschaften
von diesem abgedrängt werden: nur unfreiwillig entfernt man sich vom
Guten (VI 8, 4).
Dieser Freiheitsbegriff der Reinigungsmysterien, bei denen es letztlich
um die Erlösung und Befreiung der Seele aus den Fesseln der Materie
geht, gerät aber mit dem sittlich-rechtlichen Freiheitsbegriff in Wider-
spruch. Wenn die Menschen nicht freiwillig, sondern unfreiwillig böse
sind, so kann man ihnen ihre Verfehlungen nicht zum Vorwurf machen
oder sie dafür zur Verantwortung ziehen. Diese und ähnliche Schwierig-
keiten sucht Plotin durch die Behauptung zu überwinden, daß die Han-
delnden auch die Urheber ihrer unfreiwilligen Taten seien. Die Lehre
von der Unfreiwilligkeit des Bösen hebt die Tatsache nicht auf, "daß die
Menschen es selber von sich aus tun, sondern eben erst deswegen, weil
sie es selber tun, begehen sie eine Verfehlung; denn wären sie es nicht
selber, die es tun, so würden sie keine Verfehlung begehen" (lU 2,10).
Offenkundig setzt sich hier das unabweisliche praktische Interesse der
Gesellschaft an der Sanktionierung ihrer Normen gegen zuwiderlaufende
spekulative Überlegungen durch; die moralisch-rechtliche Zurechnung,
die Haftbarmachung des Täters, wird mit einer nicht ganz klaren Begrün-
dung der esoterischen Lehre von der Gefangenschaft der Seele in der
Materie übergeordnet.
Noch dringlicher wird das Problem der Willensfreiheit, wo Plotin
nicht nur einen werthaften Weltgrund, sondern im Sinne der Stoa eine
wertrationale Weltordnung, eine Vorsehung, einen Weltplan oder ein
Der Kosmos der Philosophie 191

Weltgesetz annimmt (III 2-3; IV 3,16; IV 4,39 u. a.). Es ist allerdings


deutlich zu erkennen, daß der Denker bei der Konstituierung seines
Kosmosbegriffes bereits die Schwierigkeiten zu vermeiden trachtet, die
bei seinen Vorgängern aufgetreten waren. Der mechanisch-technomorphe
Weltbegriff der Atomisten wird kurz abgelehnt (lU 1, 3). Mehr Mühe
muß sich Plotin bei der Auseinandersetzung mit der Astrologie geben,
die ja damals weit verbreitet war und als philosophisch-religiös völlig
ernstzunehmende Form der Kosmosspekulation galt (IH 1, 5). Er verwirft
auch die Gestirnreligion keineswegs, sondern bekämpft bloß den Glauben,
daß die Sterne auf das irdische Geschehen einwirken. Sie zeigen nur an,
was in der Welt vorgeht, und bleiben dem göttlichen Kosmokrator
unterworfen (U 3, 8).
Doch die Idee einer göttlichen Macht, die handelnd alle Vorgänge
bis ins einzelne bestimmt und bewirkt, erscheint Plotin ebenfalls nicht
unbedenklich. Eine alles durchdringende und durchwaltende Weltseele
muß folgerichtigerweise auch unser Wollen und Handeln hervorrufen:
"Dann sind wir also nicht mehr wir und haben keine eigene Wirksamkeit
mehr; wir überlegen nicht mehr selbst, sondern unsere Erwägungen
sind Überlegungen eines anderen; wir handeln auch nicht mehr, so wie
nicht unsere Füße aufstampfen, sondern· wir mit diesen Gliedern. In
Wahrheit aber muß doch jeder Einzelne ein Einzelner sein, es muß
Handlungen und Überlegungen geben, die unsere eigenen sind. Die guten
wie die bösen Taten des Einzelnen müssen aus ihm als Einzelnem kommen,
und man darf nicht dem All ihre Hervorbringung zuschreiben - wenig-
stens nicht die der bösen" (lU 1, 4).
Gegen die Annahme einer allursächlichen kosmischen Handlungsmacht
spricht also mit entscheidendem Gewicht das moralische Postulat, daß
dieser Macht die Urheberschaft an den menschlichen Verfehlungen und
damit die Verantwortung für sie nicht zugerechnet werden darf. Wo Plotin
unter dem Einfluß dieses Motivs steht, sucht er den Begriff der göttlichen
Vorsehung oder des Weltgesetzes in einer Weise zu fassen, die dem
Menschen eine gewisse Selbständigkeit beläßt. Er spricht Gott oder dem Welt-
logos das planende Wirken abI, so daß auch die Vorsehung nicht als
eine durch einen Willen bestimmte persönliche Fürsorge der Gottheit gelten
kann2 • Vielmehr soll die Vorsehung darin bestehen, daß die Erfahrungs-
welt der Ideenwelt nachgebildet und von dieser abhängig ist (lU 2, 1).
Plotin sucht also den Umfang des Wirkungsbereiches der Vorsehung
oder ihre Funktionsweise so zu bestimmen, daß sie den menschlichen
Willen nicht völlig absorbiert. Allerdings sind seine Ausführungen zu
diesem Problemkreis nicht ganz widerspruchsfrei. Er behauptet an man-
chen Stellen, die Vorsehung oder der Weltplan beziehe sich nur auf das
Ganze des Alls (lU 2,1) und könne unmöglich zu allen Einzelgegen-
ständen hindringen (III 2, 14) - andererseits soll sich ihre Wirkung
doch bis ins einzelne erstrecken (lU 2, 6; 7; 13). Die Weltordnung umfaßt
1 E. CAIRD: The Evolution oi Theology in the Greek Philosophers, Bd. H.,
Glasgow 1904, S. 314.
2 F. BILLICSICH: Obel, S. 153.
192 Der Kosmos der Philosophie

alles, einschließlich unserer Entscheidungen, unserer guten und bösen


Taten, aber sie bewirkt diese nicht (IH 3, 1; 3), doch soll sie zumindest
im außermenschlichen Bereich auch das sogenannte Übel vernunftgemäß
bewirken (lU 2,11). Es heißt aber auch, die Handlungen zuchtloser
Menschen würden weder von der Vorsehung noch nach ihrem Plane
vollbracht, die der zuchtvollen zwar ebenfalls nicht von der Vorsehung,
doch nach ihrem Plan; denn die moralischen Handlungen stehen mit der
Weltordnung im Einklang (IrI 3,5). So gewinnt der Weltplan eine
deutlich normative Note, was aber nicht ausschließt, daß er unter Um-
ständen ähnlich wie die HegeIsche "List der Vernunft" die Menschen
ohne ihr Wissen die ihnen zugeteilten Funktionen ausüben läßt: "So
wunderbar ist die ordnende Kraft des Alls! Es geht alles seinen Gang
in lautlosem Wandel nach dem Rechte, dem keiner entrinnen kann;
und der Schlechte begreift davon nichts, er wird ohne es zu merken an
den Ort des Alls gelenkt, wohin er gehört; der Gute weiß aber auch
darum, er geht, wohin er gehört, er erkennt, ehe er fortgeht, zu welcher
neuen Wohnstatt ihn die Notwendigkeit führt" (IV 4,45). Wieder etwas
anders erscheint das Verhältnis von Weltordnung und menschlichem
Handeln in dem schon einmal berührten Gleichnis vom großen Welt-
theater. Der Seele wird je nach ihrem Charakter eine Rolle von dem
kosmischen Dramendichter und Regisseur zugewiesen, sie erhält das
dazu passende Gewand und muß ihren Text rezitieren. Am Drama als
solchem vermag sie nichts zu ändern, doch kann sie es gut oder weniger
gut spielen und erhält dafür Lob oder Tadel (lU 2,17/18). So bleibt
ein kleiner Spielraum der Selbständigkeit erhalten.
Eine einheitliche Auffassung des Weltlogos hat Plotin also nicht
entwickelt. Demgemäß kann es auch keine einheitliche Vorstellung über
das Verhältnis des menschlichen Wollens und HandeIns zu jener Ordnung
oder Ordnungsmacht geben. Gemäß den im jeweiligen Zusammenhang
vorherrschenden Wertgesichtspunkten wird bald mehr der Einfluß der
Vorsehung, bald mehr die Unabhängigkeit des Menschen in den Vorder-
grund gerückt. Nur die Annahme, daß die kosmische Handlungsrnacht
die menschlichen Gedanken und Taten direkt bewirkt, lehnt Plotin
unmißverständlich ab.
Mit der plotinischen Philosophie hat das antike Denken einen letzten
Höhepunkt und zugleich einen Abschluß erreicht, in welchem eine Reihe
der wichtigsten Motive aufgenommen und zu einem verhältnismäßig
kohärenten System zusammengefaßt sind. Die eine Hauptkomponente
dieses Systems bildet die intentionale Weltauffassung, die in der stoischen
Kosmoslehre zur vollen Entfaltung gelangt war, die andere Haupt-
komponente ist durch das akosmische Vollkommenheitsideal gegeben,
für das der höchste Wert jenseits aller Bestimmtheit - und· damit
Begrenztheit - liegen muß. Diese Motive haben sich in den verschiedenen
philosophischen Schultraditionen bis tief in die Neuzeit weitgehend
unverändert erhalten!.

1 H. HEIMSOETH: Themen, bes. Kap. I und H.


Der Kosmos der Philosophie 193

Auch das Christentum hat jene hellenistisch-orientalische Welt-


anschauung nicht in entscheidender Weise geändert, sondern weitgehend
in sich aufgenommen. Dies war um so leichter möglich, als es demselben
Kulturkreis entstammt. Intentionale Modelle durchdringen das Denken
der Bibel, und der willensgewaltige Gott, der kraftvoll das Welten-
regiment führt und die charakteristischen Züge des Herrschers oder
Kriegsherrn nie völlig abgelegt hat, ist ja ebenso ein Kosmokrator wie
jene anderen orientalischen Gottheiten, die der stoischen Lehre vom
weltbeherrschenden Logos zumindest wesentliche Anregungen gegeben
haben. Darum konnte der jüdisch-christliche Gottesglaube mit dem
hellenistischen Kosmosbild verschmelzen, ohne dessen intentionalen
Charakter zu stören, ja er hat diesen womöglich noch verstärkt. Der
planende und befehlende Wille des persönlichen Gottes tritt noch kraft-
voller hervor als das Walten des Weltlogos oder der Vorsehung bei den
Stoikern.
Dem Glauben, daß alles Geschehen auf das Wollen und Wirken
eines allmächtigen und allgütigen Gottes zurückgeht und daß daher in
der Welt eine wertrationale Ordnung herrscht, steht auch im Christentum
ein höchst intensives Erlebnis der Wertirrationalität des Weltlaufes und
der Sündigkeit des Menschen gegenüber. Diese Spannung ist noch stärker
als in der spätantiken Philosophie. Die stoische Kosmosverherrlichung
hatte die Sünde und das Leid im Menschenschicksal nie so stark hervor-
gehoben, der plotinische Urgrund besaß keine intentionalen Funktionen
und konnte daher wenigstens nicht direkt als Urheber und Lenker des
Weltgeschehens betrachtet und für dessen Mängel verantwortlich gemacht
werden. Indem der christliche Glaube gerade die intentionalen Prädikate
des Gottes hervorhob, verschärfte er nicht nur die bereits erwähnten
Schwierigkeiten, sondern auch das Problem des Verhältnisses zwischen
göttlichem und menschlichem Wollen.
So sind die inneren Widersprüche des intentionalen Weltbildes in
der christlichen Philosophie und Theologie noch deutlicher hervorgetreten
als im antiken Denken, doch hat dies nicht zu dessen Sprengung geführt.
Die Gründe hierfür sind mannigfacher Art. Vor allem galten die Hand-
lungsmodelle als integrale Bestandteile der fundamentalen Glaubens-
lehren, so daß es unmöglich war, sie aus dem Weltbild auszuscheiden,
ohne zumindest den Anschein einer Kritik an den Grundlagen der Religion
zu erwecken. Diese war institutionell so wirkungsvoll geschützt, daß
jede scheinbare oder wirkliche Abweichung von den kirchlichen Lehren
für einen Denker schwerwiegende Folgen haben konnte. Doch ganz
abgesehen von den äußeren Sanktionen gab es gar keine Basis, von der
aus die intentionale Interpretation der Welt hätte in Frage gestellt
werden können. Der orientalische Mythos und die antike Metaphysik
waren ebensosehr von intentionalen Leitbildern durchdrungen wie die
viel primitivere Vorstellungswelt der Germanen, die am Ausgang der
Antike in die bisher römischen Gebiete einströmten. Auch die beiden
nichtchristlichen Religionen, die man im mittelalterlichen Europa wenig-
stens oberflächlich kannte, nämlich das Judentum und der Islam, ver-

Topitsch, Metaphysik. 13
194 Der Kosmos der Philosophie

traten die Lehre vom planenden Wollen und Wirken Gottes und waren
in ihren theologisch-philosophischen Spekulationen ebenso wie das
Christentum von der Antike und zumal vom Hellenismus abhängig. Von
hier kounte also ein Anstoß zur Kritik am intentionalen Weltbild nicht
ausgehen. Eine gewisse Distanz zu dieser Weltauffassung besaßen allen-
falls die Mystiker, in denen neuplatonische Traditionen fortwirkten.
Doch die Mystik stellte im Mittelalter nur eine geistige Unterströmung
dar, die von den kirchlichen Autoritäten nie ganz ohne Mißtrauen betrach-
tet und oft bewußt zurückgedrängt wurde. Vor allem sah sie ihr Ziel
nicht in erster Linie darin, die Welt zu erklären, sondern sie zu transzen-
dieren. So hatte sie keine Möglichkeit, die intentionale Weltauffassung
zu beseitigen und durch eine andere zu ersetzen.
Auch die Renaissance brachte keine entscheidende Änderung. Zwar
distanzierten sich die Humanisten gerne vom Mittelalter, doch in der
Regel nur, um auf dieselbe antike Philosophie zurückzugreifen, aus der
auch die Kirchenväter und Scholastiker geschöpft hatten. Die ver-
breitete Ablehnung des Aristoteles kam vor allem einem stark neu-
platonisch gefärbten Platonismus oder den Lehren der Stoa zugute.
Eine erhebliche Wirkung erzielte die römische Populärphilosophie eines
Cicero oder Seneca. Besonders Cicero bestach die Leser durch seine
stilistischen Vorzüge und seine leichte Verständlichkeit!. Für den Erfolg
dieser Lehren waren jedoch tiefere Gründe entscheidend.
Unter dem Druck des endlosen und ergebnislosen Streites zwischen
den verschiedenen Konfessionen und Sekten wuchs im 17. Jahrhundert
die Sehnsucht nach einer Weltanschauung, welche alle einseitigen Stand-
punkte umfassen und überhöhen sollte, nach einer über den einzelnen
Bekenntnissen stehenden "natürlichen Religion 2 ", die gewissermaßen die
Mutter der zahlreichen positiven Religionen sein sollte3 • Was nun den
verschiedenen religiösen Richtungen jener Zeit gemeinsam war, stammte
zu erheblichem Teil aus der spätantiken Populärphilosophie vorwiegend
stoischen Gepräges. Dazu kam, daß sich die Stoiker gerne auf eine allen
Menschen gemeinsame Vernunft oder Natur beriefen, also auf eine
Instanz, an die man sehr wohl gegen die Ansprüche der einzelnen Kon-
fessionen appellieren konnte. So trat die weltanschauliche Koine der
hellenistisch-orientalischen Kultur abermals entscheidend in die euro-
päische Geistesgeschichte ein. War sie seinerzeit in christlichem Gewande
zur wesentlichen Grundlage des mittelalterlichen Denkens geworden,
so stand sie jetzt in ihrer römischen Fassung der begiunenden Aufklärung
Pate.
Damit begann eine folgenschwere Entwicklung. Bisher hatte sich die
intentionale Weltauffassung im Laufe der Jahrtausende mit den ver-

1 Vgl. TH. ZIELINSKI: Cicero im Wandel der Jahrhunderte, 4. AufL,


Leipzig 1929.
2 W. DILTHEY: Das natürliche System der Geisteswissenschaften im
17. Jahrhundert, "Gesammelte Schriften", Bd. II, 3. Aufl., Leipzig 1923,
S.90ff.
3 W. DILTHEY, a. a. 0., S. -153.
Der Kosmos der Philosophie 195

schiedensten geistigen, politischen und religiösen Richtungen verbunden,


ohne in entscheidendem Maße modifiziert oder gar zersetzt zu werden.
Nun aber war sie an dem Heraufkommen einer Strömung beteiligt,
welche eine letzte Hochblüte des intentionalen Weltbildes herbeiführen
und zugleich dessen Auflösung einleiten sollte, eben der Aufklärung.
Diese trug selbst den Zwiespalt der Übergangserscheinungen in sich,
denn in ihr überschnitten sich zwei gegensätzliche Tendenzeil. Die eine
war vorwiegend dogmatisch, nämlich das Streben nach einem vernünftigen
Glauben oder Vernunftglauben, die andere kritisch, und zwar der Wille
zur rationalen Prüfung und Sichtung aller traditionellen Überzeugungen.
Nur allmählich setzte sich die letztere stärker durch, oft unterstützt durch
die Mehrdeutigkeit der weltanschaulichen Leitwörter. Wenn man schließ-
lich unter "Vernunft" nicht mehr etwas Ähnliches wie einen stoischen
Weltlogos, sondern das kritische Denken verstand, unter "Natur" nicht
mehr eine übermenschliche Ordnungs- und Zeugungsmacht, sondern
die empirisch vorfindbare Tatsächlichkeit, dann mußten die grundsätz-
lichen Schwächen der intentionalen Deutungsschemata offenkundig
werden. Die Zersetzung jenes Weltbildes, welche um diese Zeit beginnt,
vollzieht sich jedoch nicht bloß in der Philosophie, sondern ungefähr
zugleich auch in allen anderen Kulturgebieten. Damit ist nach der Aus-
formung in mythischer Frühzeit und der Rationalisierung in der philo.
sophischen Spekulation die dritte und letzte Hauptphase der Entwicklung
des intentionalen Weltbildes erreicht, nämlich seine Krise und - wohl
endgültige - Auflösung.
Da jene Denkformen in der Zeit von der Spätantike bis zur Aufklärung
nicht mehr wesentlich weitergebildet werden konnten, mag für die
Darstellung dieser Periode eine kurze Skizze genügen; abgesehen von
der geringen systematischen Ergiebigkeit würde das Bild der Variationen
über die ewig gleichen Grundthemen, ja oft genug der bloßen Wieder-
holungen, allzu ermüdend wirken.

Wie in der hellenistisch-orientalischen Kosmosspekulation und im


Neuplatonismus mit seiner Stufenfolge der Emanationen ist auch im
Christentum das Universum eine hierarchische Ordnung, die in dem
absoluten Wesen gipfelt. Eine eigenartige und eindrucksvolle Übergangs-
erscheinung stellt das Weltbild des Origenes dar. In ihm sind gnostisch-
neuplatonische Gedanken mit der ausgeprägt intentionalen Weltdeutung
der Bibel vereinigt. Vielfach mit plotinischen Lehren verwandt, ist es
doch stark durch voluntaristisch-moralische Kategorien bestimmt. Die
Welt entsteht nicht durch einen ungewollten, zeugungsartigen Emana-
tionsvorgang, sondern durch den aus freiem VY~llen vollzogenen Abfall
der Geister von Gott. Motive dieser Abkehr sind Uberdruß und Lässigkeit,
manchmal aber auch Hochmut und Überheblichkeit. Dann ist es nicht
die bloße Loslösung von Gott, sondern die diabolische Rebellion gegen
ihn, welche den Fall der Geister in die Materie verursacht. Je tiefer dieser
Fall ist, desto niedriger ist der Rang, den das betreffende Wesen in der
kosmiRchen Hierarchie einnimmt. Ein göttliches Gericht mißt jedem zu,

13·
196 Der Kosmos der Philosophie

was ihm nach der Größe seiner Schuld gebührt, nämlich die entsprechende
Stellung in der Hierarchie der Weltordnung. Die höchsten Stufen nehmen
die Engelschöre ein, niedrigere die Gestirne, deren Leuchtkraft je nach
ihrer vorangegangenen Verfehlung größer oder geringer ist, und die
wider Willen ihr Amt in der Welt versehen müssen, das ihnen der Schöpfer
zugeteilt hat; als lebende Wesen sind sie des Guten und des Bösen fähig -
uralte Mythenmotive klingen hier anl . Geister, die tiefer gefallen sind,
werden zu Menschen, und solche .. die sich am weitesten von Gott ent-
fernt haben, bilden die gleichfalls hierarchisch abgestufte Dämonenwelt.
Doch behalten alle Wesen die Freiheit des Willens und damit die Möglich-
keit, durch Entscheidung zum Besseren oder Schlechteren in der Welt-
ordnung auf- oder abzusteigen. Der Mensch kann in einer späteren
Existenz zum Engel oder zum Dämon werden - und umgekehrt. Sogar
der Teufel vermag wieder zu Gott zurückzukehren.
So sind die Grundbegriffe der Weltanschauung des Origenes -
Wille, Abfall, Aufstand, Gericht, Schuld, Strafe, Amt, Rangordnung -
intentionaler, und zwar meist sozialer Natur. Im Gegensatz zur Mystik
Plotins ist das Denken des christlichen Philosophen vorwiegend ethisch-
juristisch. Man hat mit Recht bemerkt, daß bei Origenes ",gut' und
,böse' die einzigen Urkategorien geistiger Tätigkeit sind" und "daß alle
Bewegung im Sein überhaupt sich nur in Akten sittlicher Entscheidung
und ihrer richterlichen ErwiderunK vollzieht 2 ".
Der gnostische Mythos vom Fall und Wiederaufstieg der Seelen
wird bald überhaupt aus der christlichen Theologie verdrängt, die sich
zumeist rein intentionaler Leitbilder bedient. Die Welt ist durch einen
Akt planmäßigen Wollens geschaffen und wird durch den Willen des
göttlichen Kosmokrators regiert. Augustinus schildert den "kosmischen
Staat" ganz nach Art der Stoiker: "So ist der 'Wille Gottes die erste
und höchste Ursache aller Gestalten und Bewegungen des körperlichen
Seins. Denn nichts geschieht im Bereiche des Sichtbaren und Sinnen-
fälligen, für das nicht von dem inneren, unsichtbaren, geistigen Hof
des höchsten Gebieters (aula summi Imperatoris) gemäß dem unaus-
sprechlichen, in dem ungeheuer weiten, unermeßlichen Reich der Gesamt-
schöpfung (in amplissima quadam immensaque republica) herrschenden
gerechten Gesetz seiner Belohnungen und Strafen, seiner Gnaden und
Vergeltungen, Geheiß oder Erlaubnis kommt" (De trin. III 4, 9). Die
kosmische Ordnung ist hierarchisch gegliedert. Je nach ihrem Rang in
dem großen Stufenreich der Welt kommt den verschiedenen Wesen ein
bestimmter Grad der Vollkommenheit und des Seins zu - die "Seins-
stufen" sind in Wahrheit Rang- und Wertstufen (Civ. D. XII, 2). Die
Weltregierung durchwaltet ihr Herrschaftsgebiet bis in die kleinsten
Einzelheiten und bestimmt alles Geschehen, selbst das der untersten
Seinsregionen (Civ. D. X, 17). Das Wirken der Vorsehung erstreckt sich
bis in die persönlichen Lebensschicksale der Menschen (Conf. In, 19).

1 H. JONAS: Gnosis lI/I, S.182ff.


2 H. JONAS, a. a. 0., S. 188.
Der Kosmos der Philosophie 197

So bildet das Universum eine einzige, allumfassende Friedensordnung


unter dem einen, allmächtigen Weltenregiment Gottes (Civ. D. XIX, 13).
Diese starke Betonung der göttlichen Allmacht und Allursächlichkeit
mußte freilich dem Problem der Theodizee und der Willensfreiheit für
Augustin eine besondere Schärfe verleihen.
Bleibt die Auffassung des Kosmos als eines wohlregierten Staates bei
Augustinus noch durchaus im Rahmen der spätantiken Philosophie, so
brechen an anderen Stellen sozio-kosmische Motive von mythischer Leucht-
kraft und Lebendigkeit hervor. Besonders eindrucksvoll sind in dieser Hin-
sicht die Schriften des sogenannten Dionysios Areopagita, deren geistes-
geschichtliche Wirksamkeit kaum überschätzt werden kann. Dem ganzen
christlichen Mittelalter galten sie als Werke eines Apostelschülers und
damit als älteste Zeugnisse christlichen Geistes nach der Bibel.
Längst war die altorientalische Vorstellung, nach welcher der himm-
lische Staat das Vorbild des irdischen sein soll, dem Christentum als
Lehre vom himmlischen und irdischen Jerusalem geläufigl . Der neu-
platonisch beeinflußte Verfasser der pseudo-dionysischen Werke hat
dieses Motiv breit ausgeführt. Seine zusammengehörigen Schriften "Von
der himmlischen Hierarchie" und "Von der kirchlichen Hierarchie"
deuten schon durch ihre Titel die Absicht an, den Aufbau der mensch-
lichen Priesterkirche als Abbild der überirdischen Ordnung der Engels-
mächte zu interpretieren. In der Einleitung des ersteren Traktates spricht
er diesen Gedanken programmatisch aus. Da das göttliche Licht nicht
unmittelbar in uns hineinleuchten kann, "hat auch die heilige Satzung,
welche dem Urquell aller Weihen entstammt, unsere heiligste (kirchliche)
Hierarchie gewürdigt, daß sie durch eine überweltliche Nachahmung
die himmlische Hierarchie versinnbildliche 2 " (121 Cl.
In eigenartiger Weise ist hier die kosmische Machtorganisation, das
"Himmelsheer", aus der politisch-militärischen in die spirituell-hieratische
Sphäre transponiert: Erlösungs- und Erleuchtungssehnsucht über-
schneiden sich mit theokratischem Machtanspruch. Es ist Aufgabe der
jeweils höheren Rangstufen, den ihnen Nachgeordneten das Licht des
göttlichen Heiles zu vermitteln (272 D) und sie so der Gottähnlichkeit
näherzubringen (165 A). Neben der Lichtmetaphysik wirken noch andere
neuplatonische Elemente bei Dionysios nach. Die Engel bilden nach
dem Muster der Triaden des Proklos drei je dreiteilige Ordnungen, die
rangmäßig abgestuft sind. In deren Bezeichnungen brechen die alten
Prädikate des Machtkosmos durch. Die höchsten, Gott nächsten Ränge
sind die heiligen Throne ('&fJ6vo~), die Cherubim und Seraphim. Es folgt
die Dreiergruppe der Gewalten (E~oua[~~), Herrschaften (XUp~6TY)TE:~)
und Mächte (auva[LE;~~) und schließlich die der Fürstentümer (apX()(L),
Erzengel und Engel (200 D). Die Engel als niedrigste Ordnung der himm-

1 E. PETERSON: Das Buch von den Engeln, 2. Aufl., München 1955,


S. llff. - Vgl. oben, S. 48 ff. .
2 Neben dem Text bei MIGNE wurden die Übersetzungen von H. BALL,
München 1955, und J. STIGLMAYR S. J., Kempten u. München 1911, heran-
gezogen.
198 Der Kosmos der Philosophie

lischen Hierarchie sind im wörtlichen Sinne Boten, Bindeglieder zwischen


übermenschlicher und menschlicher Welt. In dieser setzt sich der Stufen-
bau der geistlichen Macht und Würde fort. Die himmlische und die kirch-
liche Hierarchie haben genau die gleiche Grundhaltung und das gleiche
Ziel, sie haben auch die gleiche triadische Einteilung (372 C; 501 D).
Wie die höheren Wesen der Engelwelt, so haben die Bischöfe in beson-
derem Maße Anteil an der göttlichen Vollkommenheit und Einsicht, doch
nicht für sich allein, sondern auch zur Weitervermittlung an die rang-
niedrigeren Mitglieder der Kirche, die Priester und Diakone (372 D;
504 A-508 C). Den drei priesterlichen Ständen - Bischöfe, Priester
und Liturgen (Diakone) - ist die Dreiergruppe der Untergebenen nach-
geordnet. Von diesen werden die Mönche besonders durch die Bischöfe,
die Menge des.gläubigen Volkes durch die Priester und die noch nicht
zu den Sakramenten Zugelassenen durch die Liturgen geführt (532 A ff.).
Der Charakter dieses Weltbildes als Selbstverklärung des Priester-
standes und Legitimierung seiner Führungsansprüche ist ebenso leicht
erkennbar wie der Projektions- und Reflexionsvorgang, welcher der ganzen
Konstruktion zugrunde liegt: die transzendente Welt wird nicht als
Staat, sondern als hierarchische Kirche vorgestellt, und die so zustande
gekommene "Überkirche" gilt daun als ideelles Urbild und als Mittel
der Rechtfertigung für die irdische Priesterschaft.
Die sozio-kosmische Auffassung des Universums als Herrschafts-,
Rechts- und Friedensordnung hat sich im Ordo- Gedanken des Mittelalters
ungeschmälert erhalteni. Besonders Thomas von Aquin hat unter aus-
drücklicher Bezugnahme auf die antike Tradition diese Vorstellungen
weiter systematisch ausgestaltet. Die Welt gleicht auch für ihn einem
Oikos, dessen planvolle Ordnung auf die "Ökonomie" des Hausvaters
oder Gutsverwalters schließen läßt: "Darum beweist offensichtlich auch
gerade die sichere Ordnung (ordo certus) der Dinge die Lenkung der
Welt (gubernationem mundi); ebenso wie wenn jemand in ein gut geord-
netes Haus (domum bene ordinatam)2 einträte, so würde er gerade aus
der Ordnung des Hauses die Vernunft des Ordners erkennen, nach dem
Satz, den Tullius im Buch ,Von der Natur der Götter' Aristoteles zu-

1 Neben der Interpretation des Universums als Sozialstruktur finden sich


in der mittelalterlichen Philosophie mitunter auch die für das mythische
Denken typischen Systeme von Entsprechungen (vgl. oben, S. 32) moralischer
und physischer Phänomene im Rahmen der umfassenden "Weltordnung".
Beispielsweise wird bei BONAVENTURA der Mikrokosmos des menschlichen
Lebens durch die vier Kardinaltugenden in übereinstimmung mit dem Makro-
kosmos gelenkt. Wie die physische Sonne im Osten reinigt, im Süden erhellt,
im Norden festigt und im Westen vereinigt, so setzt die "Sonne der Gerech-
tigkeit" im Osten des Geistes die Lauterkeit der Maßhaltung, im Süden
die Klarheit der Klugheit, im Norden die Festigkeit der Tapferkeit und im
Westen die Lieblichkeit der Gerechtigkeit. Ferner entsprechen den vier
Kardinaltugenden die vier Lichtstrahlungen, die vier Elemente, die vier
aristotelischen Ursachen und die vier Lebenskräfte, vgl. L. BERG: Die Analogie-
lehre des heiligen Bonaventura, "Studium Generale" VIII (1955), S.668f.
2 Vgl. auch THOMAS: Quaestiones disputatae de Veritate, qu. V.; deutsch
v. E. STEIN, Freiburg 1952, S. 126ff., bes. S. 128.
Der Kosmos der Philosophie 199

schreibt" (S. Theol. I qu. lO3, 1). Auch sonst greüt Thomas gerne auf sozio-
morphe Wendungen des Aristoteles zurück. Die kosmische Ordnung
(ordo universi) ist nicht Selbstzweck, sondern sie ist auf ein über ihr
stehendes Ziel hingeordnet, wie die Ordnung des Heeres auf den Feld-
herrn hingeordnet ist (ibid. 103,2). Ein einziger Herr lenkt das Univer-
sum, nicht viele Herren. Thomas zitiert die bekannte Stelle der aristo-
telischen Metaphysik: entia nolunt disponi male, nec bonum pluralitas
principatuum: unus ergo princeps (ibid. 103, 3). Wie ein guter Hausvater
oder Regent leitet dieser den Kosmos nach den Grundsätzen der Gerechtig-
keit (S. Theol. I qu. 21,1) und gibt ihm als Herrscher ein absolutes, ewiges
Gesetz. Mit dem Motiv des "Weltgesetzes" ist das des Naturrechtes eng
verbunden, das in anderem Zusammenhang näher behandelt werden soll.
Auch sonst folgt Thomas gerne dem soziomorphen Denkstil der
Tradition. Er übernimmt von Dionysios Areopagita die Hierarchien der
Engel als jenseitige Fortsetzung des Stufenkosmos der sichtbaren Wesen.
Ihre Rangfolge entspricht dem Maß ihrer Vollkommenheit, aber auch -
nach dem Vorbild der Beamtenhierarchie - der Wichtigkeit der zu
erfüllenden Aufgabe (S. Theol. I qu. 108, 5).
Die Vorstellung der Engelshierarchie hatte allerdings schon vor
Thomas in der mittelalterlichen Metaphysik und Sozialphilosophie eine
beachtliche Rolle gespielt, und zwar vor allem in dem Werke "De Uni-
verso" des Wilhelm von Auvergne. Der von diesem Denker geschilderte
"Engelstaat" läßt mit besonderer Deutlichkeit erkennen, wie das Bild
der Gemeinschaft überirdischer Wesen nach dem Modell irdischer Sozial-
beziehungen komponiert wird!. Dabei griff man im Mittelalter teils auf
Material aus der jüdischen und hellenistisch-römischen Tradition zurück,
teils stattete man die Engel mit Rängen und Funktionen der zeitgenös-
sischen Gesellschaft aus. Kirchliche und staatliche Würden dienten als
Elemente für den Aufbau des Engelreiches, vor allem hat man dieses
aber - ganz wie in Byzanz - nach dem Vorbild einer weltlichen Hof-
haltung dargestellt 2 • So wurde die Ordnung der rangmäßig abgestuften
Verbände des Staates und der Kirche in den Bereich des "Übersinnlichen
projiziert und dort zur Vollkommenheit verklärt, aber es wurde sogleich
auch das so zustande gekommene Ideal als Vorbild auf die menschlichen
Verhältnisse rückbezogen : der Engelstaat galt als Vorbild des irdischen
Regiments3 • Wenngleich bei Wilhelm von Auvergne dieser Prozeß der
Projektion und Reflexion soziomorpher Leitbilder ebensowenig wie bei
Dionysios Areopagita unmittelbar praktischen Zielsetzungen diente, so
lagen solche dem französischen Bischof keineswegs gänzlich fern, so daß
man seine Lehre wenigstens als Ansatz einer politischen Ideologie bezeich-
nen durfte4 •

1 B. V ALLENTIN : Engelstaat, S. 54.


2 V ALLENTIN, a. a. 0., S. 51, 54.
B.
3 VALLENTIN, a. a. 0., S.64ff.
B.
" B. V ALLENTIN, a. a. 0., S.68. - Eindeutig ideologisch ist dagegen der
Charakter jener Staatslehren, welche die irdische Monarchie als Abbild der
göttlichen Weltmonarchie legitimieren wollen. In diesem Zusammenhange tritt
200 Der Kosmos der Philosophie

Die Deutung des Kosmos als sozialer Organisation, in welcher den


höheren Rängen die Planung und Befehlsgebung, den niedrigeren die
Ausführung zukommt, taucht aber auch in einem anderen Zusammen-
hang auf. Die göttliche Weltregierung lenkt nämlich nicht unmittelbar
alles Einzelgeschehen, sondern entwirft nur den gesamten Plan der Welt-
lenkung und überläßt dessen Durchführung oft untergeordneten Organen,
den sogenannten Mittelursachen (causae mediae). Zur Begründung dieser
These verwendet Thomas ebenfalls soziale Leitvorstellungen und Wert-
argumente (S. Theo!. I qu. 103, 6). Indem Gott gewissen Dingen die Leitung
anderer überträgt, vermittelt er ihnen höheren Grad der Vollkommenheit,
wie wenn ein Lehrer seine Schüler nicht bloß zu Wissenden macht, sondern
auch zu Lehrern anderer. Täte er dies nicht, so würde er jenen Wesen
die Vollkommenheit des Ursacheseins, also den Anteil an der göttlichen
Führungsrnacht, vorenthalten. Dem Einwand, daß die Heranziehung von
Hilfskräften eine Mangelhaftigkeit bedeute, wie wenn der irdische König
sich der Beamten bedienen muß, da er nicht alles selbst ausführen und
in seinem Reiche überall gleichzeitig anwesend sein kann, begegnet
Thomas mit dem Hinweis, daß durch einen großen Stab von Würden-
trägern auch die Machtfülle des Herrschers glanzvoller wird. Die wesent-
lichste Funktion der Einschaltung von Zwischeninstanzen besteht aber
darin, daß Gott durch sie von der direkten Verantwortlichkeit für das
Übel entlastet wird. Man kann nämlich das Wertwidrige an den Dingen
und Handlungen dem unzulänglichen Wirken jener Zweitursachen
zuschreiben: "Das, was an Sein und Tätigkeit in der schlechten Tätigkeit
liegt, wird auf Gott als auf die Ursache zurückgeführt; was dabei aber
Versagen ist, wird nicht von Gott verursacht, sondern von der versagenden
Zweitursache" (S. Theol. I qu. 49, 2). So wird die Schuld gewissermaßen
vom Herrscher auf den Beamten, vom Meister auf den Gehilfen abgewälzt l .
Solche Argumentationen sind wesentliche Elemente der thomistischen
Theodizee, doch sollen sie unter diesem Gesichtspunkt erst später gewür-
digt werden. Vorerst mögen sie als klassische Beispiele dafür dienen, wie
diese Art von Welterklärung arbeitet. Das Universum erscheint als gesell-

auch im Mittelalter der bekannte Vorgang der Projektion und Reflexion


soziomorpher Modelle auf. Beispielsweise behauptet TH01fAS (De reg.
princ. I 12), die Herrschaft des Königs im Staat entspreche der Herrschaft
Gottes im All und jener der Vernunft im "Mikrokosmos" (minor mundus)
des Individuums. Mit ähnlichen Argumenten stützt DANTE (Mon. I 7-9) seine
Lehre von der universalen Monarchie; sie kehren auch bei NICOLAUS CUSANUS
(De conc. cath. I 1-4) wieder. Vgl. o. GIERKE: Johannes Althusius und die
Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 2. Aufl., Breslau 1902,
S. 60. - Zur Trinität als Vorbild menschlicher Institutionen und Herrschafts-
funktionen vgl. BERGES, Fürstenspiegel, S.32ff. und A. DEMPF: Sacrum
Imperium, München 1929, S.361ff., 371ff.
1 Gegen diesen Versuch der Theodizee, der oft mit der Privationstheorie
verbunden ist, hat H. GOMPERZ (Willensfreiheit, S.20) nicht ohne Ironie
eingewendet: "Allein was würden wir zu einem Schuster sagen, der uns einen
Stiefel mit Löchern lieferte, und sich nun darauf ausredete, erstens seien
die Löcher bloß etwas Negatives, und zweitens rührten sie von einem Lehrling
her, dessen Fehler er nicht veranlaßt, sondern nur zugelassen habe 1"
Der Kosmos der Philosophie 201

schaftliches Gebilde, als Staat oder als Schule, innerhalb dessen die
verschiedenen Funktionen nach vorgegebenen sozialen Wertgesichts-
punkten - solchen des Ranges, der Würde, der Machtvollkommenheit,
der Verantwortlichkeit - verteilt sind. Die gesamte Konstruktion hat
mit empirischen Gegebenheiten höchstens ganz am Rande zu tun und
beruht grundsätzlich darauf, daß soziomorphe Vorstellungen nach Maß-
gabe von Wertpostulaten, die ebenfalls dem gesellschaftlichen Bereich
entstammen, und mit Hilfe der formalen Logik kombiniert werden.
Dennoch ist die Lehre von der relativen Selbständigkeit der Zweit-
ursachen auch für die Entwicklung der wissenschaftlichen Weltauffassung
bedeutsam geworden, indem sie der Forschung ein Gebiet eröffnete, in
welchem sie verhältnismäßig unabhängig von der Theologie arbeiten konnte.
Doch verstärkte sich bei Thomas unter dem Einfluß des Aristoteles
auch die Bedeutung der technomorphen Vorstellungen. Diese waren in
der Patristik und zumal bei Augustinus etwas zurückgetreten! und
gewannen nun wieder eine dominierende Position. Ihre grundlegende
Wichtigkeit für das Weltbild des Thomas von Aquin hat vor allem
A. Mitterer in zahlreichen Untersuchungen dargelegt 2 • Nach dem Vorgang
des griechischen Philosophen, aber mit einer womöglich noch größeren
Folgerichtigkeit, deutet der Scholastiker die unbelebte und die belebte
Natur ebenso wie die Vorgänge des Seelenlebens und der Erkenntnis
nach dem Modell der handwerklichen Techne (ars). Immer wieder inter-
pretiert er das jeweilige Objekt und sein Zustandekommen als Werkstück
(artificiatum) und als Herstellungsprozeß, bei welchem ein Werkmeister
(artifex) mit einem Werkzeug (instrumentum), n1.anchmal von einem
Gehilfen (minister) unterstützt, ein bestimmtes Werkziel (finis, intentio),
eine vorher entworfene Normgestalt (forma, figura) in einem Werkstoff
(materia) verwirklicht3 . Wie bei Aristoteles der geformte Gegenstand
niedrigerer Ordnung einem Formungsprozeß höherer Ordnung als Material
dienen kann, kennt auch Thomas arbeitsteilige Herstellungsvorgänge, in
welchen ein Werkmann das von ihm erzeugte Halbfabrikat einem anderen
zur Fertigstellung übergibt. So vollzieht sich beispielsweise die Zeugung
des Menschen. Bei dieser verfertigt die Frau aus dem Werkstoff Speise,
den ein Lieferant (Tier, Pflanze) beistellt, als Werkstück das Menstrual-
blut, das seinerseits dem Manne als Werkstoff dient, aus welchem er
mit Hilfe des Samens den vormenschlichen Fötus erzeugt, den Gott
durch die Formung mit der Geistseele zum Menschen macht4. Doch nicht
nur das Leben, sondern auch das Denken wird in Anschluß an Aristoteles
(vgl. oben S. 140 ff.) technomorph aufgefaßt. Der Werkmann (Mensch,
Seele) erzeugt mittels einer Werkfähigkeit, nämlich des "tätigen Ver-
standes" (intellectus agens), aus einem Werkstoff, dem leidenden Verstand

1 A. l'tIITTERER: Die Entwicklungslehre Augustins, 'Vien-Freiburg 1956,


S.255f.
2 Vor allem in der schon genannten Untersuchung "Die Zeugung der
Organismen usw." Dort weitere bibliographische Angaben.
3 A. MITTERER: Zeugung, S.27.
4 A.MITTERER: Zeugung,S.179-ISl.
202 Der Kosmos der Philosophie

(intellectus possibilis), durch Mitteilung einer Form, nämlich der Denk-


form (species intelligibilis), das Werkstück, den Gedanken1 .
So darf man wohl behaupten, daß die intentionale Deutung der
Einzelvorgänge und der Gesamtwelt für das mittelalterliche Geistesleben
ebenso fundamental ist wie für die antike Philosophie. Es bleibt daher
auch die innere Problematik dieser Deutung lebendig, die in den Fragen des
Naturrechtes, der Kosmodizee und der Willensfreiheit ihren Ausdruck findet.
Im Rahmen der intentionalen Weltauffassung lebte auch das Natur-
rechtsproblem fort, ohne daß grundsätzlich neue Gesichtspunkte bei-
gebracht wurden. Man hielt sich - oft bis in die sprachlichen Formulierun-
gen - an die hellenistisch-römischen und zumal stoischen Lehren, wie
sie etwa bei Cicero und den römischen Juristen zu finden waren_ So
konnte mit Recht behauptet werden, "daß wir schon bei Cicero im
wesentlichen vollständig die Elemente jener Anschauung über die all-
gemeine Natur und die Fundamente des Sittlichen vor uns haben, welche
später durch die christliche Theologie und Schulphilosophie auf lange
Zeit hinaus herrschend geworden ist 2 ". Beispielsweise hat Augustinus die
Terminologie des stoischen Naturrechtes - Nomos und Logos, Physis
und Kosmos - wörtlich übernommen, wenn er schreibt: "Lex aeterna
est ratio divina vel voluntas Dei, ordinem naturalem conservari iubens,
perturbari vetans3." In einem Punkt unterscheidet sich seine Lehre
allerdings von der stoischen. Neben das "Weltgesetz" tritt bei ihm der
Wille des allmächtigen Gottes und damit ergibt sich das Problem des
Verhältnisses zwischen beiden : steht der göttliche Wille über dem Gesetz
oder ist das Gegenteil der Fall 1 Augustinus gibt auf diese Frage keine
eindeutige Antwort. Bald sind für ihn nur jene Taten sündig, die Gott
verboten hat, bald sind Handlungen durch das göttliche Gesetz verboten,
weil sie schlecht sind4 •
Hinter diesen gegensätzlichen Thesen stehen zwei verschiedene
Auffassungen. der göttlichen Wirksamkeit. Nach der einen ist Gott an
eine vorgegebene "Vernunftordnung" oder Weltverfassung gebunden
und erläßt nur im Einklang mit dieser seine Gesetze; nach der anderen -
wenigstens wenn sie folgerichtig durchgeführt wird - setzt er ohne
irgendeine Beziehung auf sonstige Instanzen ausschließlich kraft eigener
Entscheidung fest, was gut und böse, geboten und verboten ist. Die
theologisch-philosophische Spekulation folgt hier unverkennbar einem
sozialen Leitbild, nämlich dem Verhältnis zwischen dem Willen des
menschlichen Herrschers oder Gesetzgebers und bestimmten, unabhängig
von ihm bestehenden Wertüberzeugungen und Normen. Der Staatsmann

1 A. MITTERER: Zeugung, S.29.


B F. JODL: Geschichte der Ethik, I. Bd., 4. Aufl., Stuttgart 1930, S. 104. -
Zur Geschichte der Rezeption des stoischen "Naturgesetzes" durch das
Christentum vgl. E. TROELTSCH: Die Soziallehren der christlichen Kirchen
und Gruppen, Tübingen 1912 und J. STELZENBERGER: Die Beziehungen der
frühchristlichen Sittenlehre zur Ethik der Stoa, München 1933.
3 AUGUSTINUS: Contra Faustum XXII, 27.
4 H. WELZEL: Naturrecht, S. 56.
Der Kosmos der Philosophie 203

kann die Richtlinien seiner Gesetzgebung den politischen und moralischen


Traditionen seines Volkes entnehmen oder sich diesen ausdrücklich unter-
werfen, er kann aber auch N eues und Ungewohntes in seinen Satzungen
anordnen. Meist wird ein Mittelweg zwischen den möglichen Extremen
gewählt, wobei nur sehr kühne und kraftvolle Persönlichkeiten erheblich
vom Gewohnten abzuweichen wagen. Je größer nun die Macht und
Autorität ist, die man dem göttlichen Gesetzgeber zuschreibt, desto eher
wird man ihn von allen Beschränkungen durch objektive, außerhalb
seines Willens stehende Ordnungen befreien. Die "Absolutheit", das
Losgelöstsein von allen anderen Instanzen, kann geradezu als das höchste
und eigentliche Prädikat göttlicher Machtvollkommenheit empfunden
werden. So begegnet uns eine alte, schon aus der frühägyptischen Kultur
bekannte (s. oben S. 35) Kernfrage intentionaler Weltauffassung hier
in christlichem Gewande wieder.
Der Gegensatz zwischen den Vorstellungen einer absoluten Vernunft-
ordnung und eines absoluten göttlichen Willens hat allerdings erst in
der Spätscholastik zu ernsten Konflikten geführt. Die Ho chscholastik ,
vor allem Thomas von Aquin, schloß sich noch enger als Augustinus den
antiken Naturrechtstraditionen an, indem sie vor allem auf aristotelisches
und stoisches Gedankengut zurückgriff. Nach dem ewigen Gesetz (lex
aeterna) führt Gott die Weltregierung (S. Theol. I qu. 22, 1; II 1, qu. 91,1;
93,1). Gemäß dieser ewigen Ordnung bildet die Welt ein großes, hier-
archisch abgestuftes Gefüge von Zwecken. Für jedes Wesen gibt es in
dieser kosmischen Hierarchie einen vorbestimmten Platz und einen seiner
Aufgabe entsprechenden Entwurf, eine normative Idee. Je mehr es sich
diesem Urbild annähert, desto besser kann es seine Funktionen innerhalb
des Weltganzen ausfüllen. Ein inneres Streben, eine Sehnsucht nach der
arteigenen Vollkommenheit wirkt in allen Geschöpfen und drängt sie
dazu, sich auf diese Weise der Gesamtordnung einzufügen. Dieses Streben
nach Vollendung gemäß der objektiven Seinsordnung ist beim Menschen
mit dem Naturrecht gleichbedeutend: "Ad legern naturae pertinet omne
illud, ad quod homo inclinatur secundum suam naturam: inclinatur
autem unumquodque naturaliter ad operationem secundum suam formam"
(S. Theol. II 1, qu. 94, 3). Die Grundvorstellung ist hier die gleiche wie bei
Aristoteles: ein normatives Urbild (e:n~OC;, [L0p(j)t), forma) soll durch einen
"Wesenswillen", ein "natürliches Streben" (Ope:;LC;, appetitus, inclinatio)
verwirklicht werden. Indem so alle Wesen nach der ihnen von Natur
zukommenden Betätigung ('Ohov iipyov, operatio sibi conveniens)
trachten, erreichen sie ihre artgemäße Vollendung (omnia appetunt per-
fectionem, S. Theol. I qu. 5,1) und ihr artgemäßes Gut (bonum secundum
naturam). Während aber diese objektiven Wesenszwecke in der vernunft-
losen Schöpfung durch unbewußten Drang verwirklicht werden, ist der
Mensch zur vernünftigen Einsicht in seine natürliche Bestimmung fähig,
die lex naturalis ist also die bewußte Teilhabe des vernünftigen Geschöpfes
an dem ewigen, göttlichen Weltgesetz (S. Theol. II 1, qu. 91,2).
Diese Überlegungen, die auf der stoischen und aristotelischen Natur-
rechtslehre und Moralmetaphysik beruhen, führen folgerichtig zu den
204 Der Kosmos der Philosophie

gleichen Schwierigkeiten. Hier wie dort werden die Normen und Werte
bloß scheinbar aus dem Natürlichen abgeleitet, in Wirklichkeit aber bei
der Konstituierung des "Natur"-Begriffes schon vorausgesetzt. Mit Hilfe
dieses typischen naturrechtlichen Zirkelschlusses unterlegt Thomas der
"Natur" die für ihn vorgegebenen christlichen Werte und liest sie dann
wieder aus dieser abI.
Der auf Grund vorausgesetzter Wertpostulate geschaffene Begriff
des "Natürlichen" schließt notwendigerweise alles Wertwidrige aus dem
Bereich der "Natur" aus, ohne dessen Tatsächlichkeit und Lebensbedeut-
samkeit beseitigen zu können. Sofern der Philosoph dieser Schwierigkeit
nicht dadurch zu entgehen sucht, daß er das Wertwidrige im Sinne der
Privationstheorie als bloß unvollkommenes Sein (S. Theol. II 1, qu. 93, 6)
hinstellt, sieht er sich zu einer Verdoppelung des Naturbegriffes gezwun-
gen - er schreibt die verwerflichen Antriebe des Menschen einer zweiten,
niedrigeren, "sinnlichen" Natur zu (S. Theol. II 1, qu. 71, 2). Hier wie
anderswo endet der Versuch, Sein und Wert zur Deckung zu bringen oder
Wertpostulate aus Seinstatsachen abzuleiten, mit einer Verdoppelung der
Seinsbegriffe, da ja das werthafte Sein vom wertwidrigen unterschieden
werden muß: das "wahre" Sein steht dem "defizienten" gegenüber, die
"vernünftige" Natur der "sinnlichen" usw. Die Scholastik bietet zahl-
reiche Beispiele für ein solches Verfahren. So differenziert Alexander
von HaIes zwischen dem "natürlichen" Willen (voluntas naturalis),
welcher stets auf das Gute gerichtet ist, und dem überlegten Kürwillen
(voluntas deliberativa), dem tatsächlichen Wollen des Menschen. Mit
dem "natürlichen Wesenswillen" ist die Synteresis eng verbunden,
sozusagen das "höhere" Gewissen, welches den objektiven Maßstab der
Werte erfaßt, und mit dem bloß empirischen Gewissen, dem subjektiven
Wertbewußtsein der verschiedenen Menschen, nicht verwechselt werden
darf. So wird nicht nur der Wille, sondern auch das moralische Bewußtsein
verdoppelt, und zwar auf Grund vorausgesetzter Wertgesichtspunkte.
Wenn Alexander ausdrücklich zwischen einem unfehlbaren, "höheren"
habituellen und einem fehlbaren, "niedrigeren" aktuellen Gewissen
unterscheidet und das erstere dadurch definiert, daß es immer mit dem
"Naturgesetz" übereinstimmt2 , so liegt dieser Vorgang klar auf der Hand.
Bei allen derartigen Überlegungen zeigt es sich, wie man immer
wieder vor die Alternative kommt, entweder in zirkelhafte Scheinrecht-

1 H. WELZEL: Naturrecht, S.61.


2 O. DITTRICH: Geschichte der Ethik UI, S. 97ff. - Die Unterscheidung
zwischen einem "bloß empirischen" und einem "wahren" Willen ist in der
europäischen Philosophie noch lange lebendig geblieben und hat vor allem
in der politischen Theorie (oder Ideologie) eine außerordentliche Rolle gespielt.
Auf sie gründet sich ROUSSEAUS Gegenüberstellung des faktischen Volks-
willens (volonte de tous) und des angeblich höherstehenden "Gesamtwillens"
(volonte generale) ebenso wie die marxistische Differenzierung zwischen den
empirisch feststellbaren Überzeugungen der Industriearbeiterschaft und dem
"echten Klassenbewußtsein" oder wie (in wieder etwas anderer Nuancierung)
FERDINAND TÖNNIES' Begriffspaar "Kürwille" und "Wesenwille". Dieses
Schema konnte also - ganz ähnlich wie die verwandten "naturrechtlichen"
Der Kosmos der Philosophie 205

fertigungen vorgegebener Wertgehalte oder in leere Tautologien zu


verfallen. Ein klassisches Beispiel hierfür ist der Satz: "bonum est quod
omnia appetunt." Das Gute wird dabei natürlich nicht als das definiert,
was alle Wesen faktisch anstreben, sondern als das Objekt ihres "natur-
gemäßen" Strebens. Allein dieses "naturgemäße" Streben (appetitus
naturalis) ist zum Unterschied von allem sonstigen Begehren dadurch
bestimmt, daß es auf das Gute gerichtet ist. So bewegt· sich die ganze
Argumentation im Kreise: der appetitus naturalis wird durch das Gute
und dieses wiederum durch jenen definiert. Wenn wir nun nicht will-
kürlich irgendeinen Wertmaßstab einführen, so haben wir es mit einer
reinen Leerformel ohne jeden Wertgehalt zu tun.
Auch sonst sind Leerformeln in der scholastischen Naturrechtslehre
zu finden. So behauptet beispielsweise Wilhelm von Auxerre in vor-
thomistischer Zeit, das Naturgesetz sei dem Menschen "ins Herz geschrie-
ben" und führt zum Beweis einen Fall aus dem täglichen Leben an:
schon ein Knabe mit fünf oder sechs Jahren weiß, daß Übeltäter zu
bestrafen seien und daß man Freunde lieben solle. Dies könne er nur
von Natur aus wissen!. Tatsächlich handelt es sich hier aber um Tauto-
logien: ein strafwürdiger Mensch ist zu bestrafen, ein liebenswerter zu
lieben. Über die Grundsätze, nach denen jemand Strafe oder Wert-
schätzung verdient, besagen diese Formeln nichts. Dies gilt sinngemäß
auch für Ausdrücke wie "bonum est faciendum et malum vitandum"
oder "suum est cuique tribuendum". Sie sagen uns nicht, was das Gute
oder das jedem Zukommende ist, und sind darum mit jeder beliebigen
Wertordnung vereinbar. Ähnlich verhält es sich, wenn das wahrhaft
Süße durch den richtigen Geschmack und das wahrhaft Gute durch den
richtigen Willen bestimmt wird: "Illud tamen dulce oportet esse melius
delectabile, in quo maxime delectatur, qui habet optimum gustum, et
similiter illud bonum oportet esse completissimum, quod tamquam
ultimum finem appetit habens affectum bene dispositum" (S. Theol. II 1,
qu. 7). Was aber der gute Geschmack oder der richtige Wille ist, bleibt
ungesagt. So wird in geradezu klassischer Weise eine Unbekannte durch
die andere definiert2 •
Die auf einer intentionalen Deutung des Kosmos und der Einzelwesen
Schemata - den verschiedensten politisch-ideologischen Richtungen dienstbar
gemacht werden, indem man jeweils die eigenen Ziele und Ideale zum Inhalt
des angeblichen "wahren Willens" machte. Doch war es auch möglich, den
Willen eines einzigen Individuums - etwa eines "Führers" - als Inbegriff
des "Gesamtwillens" oder "objektiven Volkswillens" auszugeben; vgl.
E. VOEGELIN: Die politischen Religionen, Stockholm 1939, S. 59: "Wenn
daher die Abstimmung den Führerwillen nicht bestätigt, braucht der Führer
nicht vor dem Volkswillen zurückzuweichen, denn die Versagung ist nicht
objektiver Wille des Volkes, sondern Ausdruck einer subjektiven Willkür."
1. M. GRABMANN: Das Naturrecht der Scholastik von Gratian bis Thomas
v. Aquin, "Archivfür Rechts- nnd Wirtschaftsphilosophie" XVI (1922/23), S. 21.
2 Diese scholastischen Argumentationen wirken noch bei FRANZ BREN-
TANO nach, wenn dieser das Gute als das mit richtiger Liebe zu Liebende
definiert (z. B. in dem Vortrag "Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis",
2. Aufl., hrsg. v. O. KRAUS, Leipzig 1921, § 23, S.17).
206 Der Kosmos der Philosophie

beruhende aristotelisch-stoische Naturrechtslehre, welche bei Thomas


gewissermaßen ihre abschließende Gestaltung erfahren hat, ist nicht
nur bis heute für die praktische Philosophie des Katholizismus maßgebend,
sondern sie hat im Rahmen der traditionellen Schulmetaphysik1 auch
das protestantische Denken bis tief in das siebzehnte Jahrhundert
beeinflußt. Eine Nachblüte hat sie bei den spanischen Spätscholastikern
erlebt, unter denen Franz Suarez die Lehre von der lex naturalis am
gründlichsten durchdachte. Auch er begründete seine Moral- und Rechts-
lehre auf den appetitus naturalis und damit letztlich auf die substantiale
Form, das von Gott gedachte normative Urbild des Menschen: "Die
spekulative Ethik steht auf dem Grunde der spekulativen Anthropologie
und ist die teleologische Weiterbildung und Vollendung derselben2 _"
In der Abwehr der nominalistischen Thesen, von denen nun die Rede
sein soll, hat die Spätscholastik die Unabhängigkeit der moralischen
Normen vom göttlichen Willen stärker betont und so jenen Naturrechts-
lehren vorgearbeitet, die unabhängig von aller religiösen Garantie den
Anspruch auf Geltung erhoben3 •
Der Nominalismus, der die thomistische Naturrechtslehre kritisierte,
tat dies zunächst durchaus im Rahmen des intentionalen Weltbildes,
nur legte er den Nachdruck nicht auf die Ordnung als solche, sondern
auf den Willen Gottes, nicht auf das Gesetz, sondern auf den Gesetz-
geber. Steigert man die absolute Majestät des göttlichen Gesetzgebers
bis zur letzten Konsequenz, so kann man einen von ihm unabhängigen
Kanon des Guten nicht anerkennen. Der Wille Gottes ist dann die einzige
Quelle der Gerechtigkeit, er ist an keine vorgegebenen Gesetze gebunden,
sondern setzt alle Normen aus eigener Machtvollkommenheit. Darum
ist - abgesehen von Gott selbst - alles Gute nur darum gut, weil Gott
es will, aber nicht umgekehrt billigt es Gott, weil es gut ist. Jeder mensch-
liche Versuch, die göttliche Gerechtigkeit an einem außer ihr gelegenen
Richtmaß nachzuprüfen, ist daher grundlos und vermessen. So wird
der Gedanke einer rationalen Theodizee von vornherein abgewiesen.
Freilich bleibt bei Duns Scotus, der diese Lehren vertritt, die göttliche
Willkür durch die wesensmäßige Güte Gottes beschränkt. Daraus ergibt
sich als einziges Naturrechtsprinzip die Forderung der Gottesliebe; alles
andere ist kontingente Setzung des göttlichen Willens4 • Ockham geht
noch einen Schritt weiter: was gut und böse ist, ist dies ausschließlich
kraft göttlichen Gebotes oder Verbotes. Doch auch bei ihm ist die Freiheit
Gottes keine reine Willkür. Wohl gilt der Satz, daß der Wille des höchsten
Wesens die oberste Direktive ist und dieses nicht schlecht handeln kann,
doch übt der Schöpfer seine potentia absoluta als potentia ordinata nach

1 M. WUNDT: Die deutsclre Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts,


Tübingen 1939.
2 K. WERNER: Die Scholastik des späteren Mittelalters, IVj2, Wien 1887,
S.189.
3 J. SAUTER: Die philosophischen Grundlagen des Naturrechts, Wien
1932, S.87. - H. WELZEL: Naturrecht, S.95ff.
4 H. WELZEL, a. a. 0., S. 76ff.
Der Kosmos der Philosophie 207

bestimmten, freiwillig gewählten Regeln in vernünftiger Weise aus. Er


ist gewissermaßen an diese Normen gebunden, sicut Papa non potest
aliquid secundum iuris statuta ab eo quae tarnen absolute potestl. Der
'Ville Gottes wird den Menschen aber - ebenso wie seine Existenz -nicht
durch natürliche Erkenntnis, sondern nur durch den Glauben kundgetan.
Mit dem Auseinanderfallen von Glauben und Wissen hat der Nomi-
nalismus die folgende Entwicklung ebenso vorbereitet wie mit der Kritik
an dem technomorphen Gedanken der normativen Urbilder der sub-
stantialen Formen" und an der Vorstellung des Kosmos als hierar~hisch
gegliederter Stufenordnung aller Dinge, die auf Gott als das oberste Ziel
hingeordnet ist. Doch dies soll später behandelt werden.
Ein anderer, geistesgeschichtlich sehr bedeutsamer Vorgang verdient
jedoch in diesem Zusammenhang Beachtung. Der absolut herrschende,
an keine Ordnung gebundene, sondern diese erst schaffende Gott des
spätmittelalterlichen Nominalismus wird nämlich zum Vorbild oder
Gegenstück des von allen Gesetzesbindungen befreiten Fürsten (princeps
legibus solutus) des aufsteigenden Absolutismus. Schon bei Johannes
Gerson (1363-1429) finden sich Sätze,die zeigen, "wie nahe es lag,
den theologischen Voluntarismus auf die Rechtswelt zu übertragen,
nachdem die Eigenschaften Gottes selbst durch Begriffe aus der Rechts-
welt gekennzeichnet worden waren2 ". Ob die absolutistische Tendenz,
wie sie sich in Frankreich seit Philipp dem Schönen und seinen Legisten
bemerkbar machte, auf den Wandel des Gottesbildes direkt eingewirkt
hat, oder ob der Wandel der soziomorphen Gottesprädikate zunächst
aus anderen Motiven erfolgt ist und sich erst später mit konvergierenden
politischen Entwicklungen verbinden sollte, kann hier nicht weiter
erörtert werden. Ganz deutlich werden die Beziehungen zwischen himm-
lischem und irdischem Absolutismus bei Calvin, welcher die göttliche
Machtvollkommenheit in der juristischen Terminologie des römischen
Rechtes und besonders der Staatsrechtslehre seines Zeitgenossen Jean
Bodin definiert. Gott ist souveräner Herrscher (roy ou prince souverain),
seine Macht ragt über alle Gesetze hinaus, sein Wille ist die höchste Regel
der Billigkeit und er ist so sehr von allen Gesetzen entbunden, daß er
sich selbst und allen übrigen Wesen Gesetz ist; für die Menschen ist dieser
geordnete göttliche Wille in den geoffenbarten Normen des Dekaloges
verbindlich formuliert. Allein "dadurch, daß Calvin die potentia Dei
absoluta durch juristische Kategorien ersetzte, hat er den Boden vor-
bereitet, auf dem später Hobbes diese Prädikate der Macht Gottes auf
den Staat als sterblichen Gott zurückübertragen konnte3 ". So ist der
1 E. GILSON-PH. BÖHNER: Die Geschichte der christlichen Philosophie
von ihren Anfängen bis Nikolaus v. eues, Paderborn 1937, S. 579, 58lf. -
O. DITTRICH: Geschichte der Ethik III, S.180.
2 H. WELZEL: Naturrecht, S.91.
3 H. WELZEL: Naturrecht, S. 103. - Zu der hier angeschnittenen Proble-
matik vgl. K. TH. BUDDEBERG: Gott und Souverän. Uber die Führung des
Staates im Zusammenhang rechtlichen und religiösen Denkens, "Archiv
des öffentlichen Rechts", N. F. 28 (1937), S. 257ff., über BODIN und CALVIN
besonders S. 282ff.
208 Der Kosmos der Philosophie

Vorgang der Projektion soziomorpher Modelle in den Bereich der Tran-


szendenz und ihrer RückspiegeJung von dort auf die irdischen Sozial-
gebilde deutlich erkennbar. Man muß daher die These Carl Schmitts, alle
prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre seien säkularisierte theo-
logische Begriffe!, dahingehend ergänzen, daß eine solche Säkularisierung
(oder richtiger: Rückverweltlichung) nur dadurch möglich ist, daß die
betreffenden theologischen Begriffe bereits einen wesentlich politischen
Charakter tragen. Wo man in die Theologie keine sozialen Kategorien
hineinlegt, kann man sie auch nicht aus ihr entnehmen.
Es hat sich also gezeigt, daß der Kampf um das Naturrecht während
des ganzen Mittelalters eine Auseinandersetzung im Rahmen des inten-
tionalen Weltbildes geblieben ist und letztlich um das Verhältnis zwischen
dem planenden Willen des Gesetzgebers oder Werkmeisters auf der einen,
dem objektiven Gesetz oder der Normgestalt auf der anderen Seite geführt
wurde. Ähnlich liegen die Dinge bei den Problemen der Theodizee und
der Willensfreiheit.
Die Frage der Theodizee mußte sich einem so ausgeprägt intentionalen
Weltverständnis wie dem christlichen mit unabweislicher Wucht auf-
drängen. Doch hat dieses keine wesentlich neuen Gesichtspunkte zum
Thema beigebracht. Immerhin ist eine gewisse Verschiebung der Haupt-
motive festzustellen. Die strikte Betonung der Alleinursächlichkeit Gottes
und der Erschaffung der Welt durch einen reinen Willensakt machte es
unmöglich, der Materie die Schuld an allem Übel zur Last zu legen. Auch
wurde die Seelenwanderungslehre abgelehnt, mit deren Hilfe andere
Richtungen die Wertirrationalität der Erfahrungswelt mit der Annahme
einer wertgerichteten Weltordnung vereinbar zu machen suchten. Fiel
der Glaube an die Möglichkeit von Verdiensten oder Verfehlungen in
der Präexistenz fort, so blieb doch der an eine Vergeltung nach dem Tode.
Da die ethische Komponente im christlichen Weltbild noch stärker
hervortrat als etwa im stoischen, verlagerte sich das Schwergewicht
des Problems der Theodizee noch mehr vom physischen auf das moralische
Übel, ja oft wollte man in der Sünde das einzig wahrhaft Schlimme
erblicken. Dadurch wird die Willensfreiheit zum eigentlichen Zentral-
stück der Theodizee.
Die Methoden, mit denen die christlichen Denker die Vereinbarkeit
des Übels mit der göttlichen Allmacht und Güte zu erweisen suchen,
sind im wesentlichen die gleichen, die schon den antiken Philosophen
zur Abschwächung und Rechtfertigung des Wertwidrigen gedient hatten.
Vor allem erfreut sich das klassische Instrument der Verharmlosung,
die bekannte Privationstheorie, schon bei den Kirchenvätern großer
Beliebtheit. Sie drängt zumindest in diesem Zusammenhange die genuine
jüdisch-christliche Rebellionstheorie in den Hintergrund, nach welcher
das Böse in der Auflehnung gegen Gott und im Ungehorsam gegen
seinen Willen besteht. Besonders Augustinus verficht mit großer Leiden-

1 C. SCHMITT: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der


Souveränität, 2. .Ausg., München 1934, S.49.
Der Kosmos der Philosophie 209

schaftlichkeit die Lehre, daß alles Seiende wesenhaft gut sei und das
Böse keine substantielle Wirklichkeit besitze (Conf. VII 18), sondern
in Wahrheit einen bloßen Mangel, eine Defizienz, darstelle. Dieser
Mangel kann nach der seit Platon und Aristoteles geläufigen techno-
morphen Auffassung darin bestehen, daß ein Ding an Vollkommen-
heit hinter seinem normativen Urbild zurückbleibt; daneben finden sich
neuplatonische Gedankengänge, nach welchen das Böse die Abwesenheit
des Guten sei wie die Finsternis ein Mangel an Licht oder das Schweigen
ein Fehlen von Tönen. Thomas von Aquin schließt sich eng an die aristote-
lische Überlieferung an, wenn er nicht jeden Mangel an Gutem als Übel
oder Privation betrachtet, sondern nur das Fehlen solcher wertvoller
Eigenschaften, die ein Wesen nach seiner Naturanlage besitzen sollte
(S. Theol. I qu. 49, 1; c. gent. III 7), also das Nichterreichen der Norm-
gestalt seiner Art.
Freilich bedeutet die Privationstheorie - wie immer man sie auffaßt -
keine Lösung, sondern bestenfalls eine Verschiebung des Problems. An
dem faktischen Vorliegen und der Lebensbedeutsamkeit des jeweiligen
wertwidrigen Sachverhaltes ändert sich nichts, wenn man ihm das "Sein"
oder das "wahre Sein" abspricht. Dies gilt im technischen Ursprungs-
bereich der Privationstheorie ebenso wie in jenen Gebieten, auf welche
sie übertragen wurde. Der wackelige Tisch, der löcherige Stiefel, das
stumpfe Messer sind ebenso real wie die entsprechenden gebrauchsfähigen
. Gegenstände; wenn man sie als "nichtwirklich" bezeichnet, so ist dies
nur eine andere Ausdrucksweise dafür, daß sie nicht die volle Funktions-
und Gebrauchsfähigkeit besitzen. Es handelt sich also um eine rein
sprachliche Operation, nämlich die Definition des "Seins" durch den
Wert, kraft welcher man das Wertwidrige als das "Nichtseiende" an-
spricht. Der empirische Tatbestand wird dadurch nicht einmal berührt.
Beispielsweise bleibt der klinische Befund und die Prognose einer Krebs-
erkrankung völlig unverändert, mag man ihr nun das Prädikat des Seins
zuerkennen oder verweigern. Selbst die wertende Einstellung des Kranken
zu seinem Leiden dürfte kaum wesentlich beeinflußt werden; es erleichtert
ihn wenig, wenn man ihm versichert, sein Siechtum sei in Wahrheit ein
Nichtseiendes. Ebenso irrelevant ist die Privationstheorie für die Zurech-
nung der sittlichen oder rechtlichen Schuld. In keinem Falle vermag
sie die Tatsächlichkeit und Bedeutsamkeit des Wertwidrigen aufzuheben.
Auch in den sonstigen Versuchen, die Kosmosidee angesichts des
Übels in der Welt aufrechtzuerhalten, folgt das Mittelalter der Antike.
Das Wertwidrige wird als notwendig hingestellt oder zumindest gerecht-
fertigt. Oft schreibt man den Leiden einen ethisch-pädagogischen Zweck
zu. Sie sind Strafen für selbst vollbrachte Sünden oder - im Falle der
Schmerzen unmündiger Kinder - solche für die Erbsünde. Doch kann
das Ungemach nicht nur poena peccati, sondern auch exercitium virtutis
sein. Es dient der Erziehung und Belehrung, der Prüfung und Läuterung,
der Erprobung und Bewährung. Oft ist das Übel eine unvermeidbare
Nebenfolge oder ein notwendiges Mittel der Erreichung gut.er Zwecke.
Die göttliche Gerechtigkeit vermag sich auch des Bösen zu bedienen;

Topitach, Metaphysik.
210 Der Kosmos der Philosophie

freilich ist sie dem Menschen manchmal verborgen und er darf sie nicht
in kleinlicher Weise nachprüfen. Damit wird nach bekanntem Vorbild
das Problem in den Bereich des Unerkennbaren abgeschoben. Spezifisch
thomistisch ist der schon erwähnte Versuch, die Schuld an dem Übel
auf die sogenannten Zweitursachen abzuwälzen, die wie ungehorsame
Diener mancherlei Fehler begehen, für welche der Herr nicht verantwort-
lich gemacht werden kann (S. Theol. II 1, qu. 79, 1). Augustinus greift
wieder gerne auf den heraklitisch-stoischen Gedanken zurück, man müsse
bei der Beurteilung des Wertwidrigen oder Unvollkommenen den Welt-
zusammenhang als Gesamtheit berücksichtigen (Oiv. D. XII, 4). Auch
die Schlechtigkeit der Menschen, ja die der gefallenen Engel dient letztlich
dazu, die Ordnung der Welt zu zieren, wie man ein Gedicht mit Anti-
thesen schmückt (Oiv. D. XI 18; de ord. I 18).
Zumal die letztgenannten Argumente erscheinen aber vom ethischen
Standpunkt nicht unproblematisch. Überträgt man sie aus dem Bereich
einer ästhetisch-kontemplativen "Versöhnung" mit der Wirklichkeit
in den des praktischen Handelns und Entscheidens, dann führen sie zu
höchst bedenklichen Konsequenzen. Wenn nämlich die Sünde ein Instru-
ment der Vorsehung ist oder wenigstens sein kann, ja wenn sie sogar wie
die Antithese im Gedicht oder die dunkle Farbe im Gemälde zur V 011-
kommenheit und Harmonie des Weltganzen notwendig ist, dann kann
man sie nicht moralisch verurteilen. Diese Schwierigkeit hat schon
Kelsos gesehen, als er den Einwand erhob, die Argumente der Theodizee
liefen darauf hinaus, daß man nie wisse, ob eine Sache ein Übel sei, da
sie ja einer Person oder dem ganzen Universum einen vielleicht noch
unbekannten Nutzen bringen könne. In weiterer Fortführung dieses
Gedankens kommt man zur Folgerung, daß auch das moralische Übel,
die Sünde, dem Ganzen nützlich sei oder wenigstens sein könne und daß
man daher im Interesse des größeren Zusammenhanges sündigen dürfe
oder sogar solle. Origenes hat auf diesen Einwand geantwortet (Contra
Oels. IV 70), "daß Gott unter Wahrung der Willensfreiheit bei einem
jeden Menschen wohl die Schlechtigkeit der Bösen zur Ordnung des
Ganzen mitverwendet, indem er sie zum Besten des Ganzen zu lenken
weiß, daß aber nichtsdestoweniger ein böser Mensch Tadel verdient
und, eben weil er Tadel verdient, zu einer Verwendung bestimmt ist,
die jeder einzelne verabscheuen muß, wenn sie auch dem Ganzen nützlich
ist". Damit ist die Schwierigkeit jedoch nicht überwunden. Nimmt man
nämlich das Argument in dem offenbar von Origenes gemeinten SinneI,
daß eine Handlungsweise verdammenswert bleibt, auch wenn der Übel-
täter durch seine Sühneleistung der Gemeinde Vorteile bringt, so ist
nicht die schuldhafte Tat selbst, sondern die Strafe der Gesamtheit
zuträglich. Zeitigt aber die verwerfliche Handlung als solche für das
Ganze zuträgliche Folgen, dann muß man sie entweder entschuldigen
oder aber sie verdammen und doch aus ihr Gewinn ziehen, wobei die
letztere Möglichkeit moralisch nicht unproblematisch ist. Die Spannung

1 F. BILLIOSICH: übel, S.215.


Der Kosmos der Philosophie 211

zwischen der ethisch-rechtlichen Normierung und Beurteilung mensch-


licher Handlungen und der kontemplativen Verklärung aller Wirklichkeit
bleibt also bestehen: von dem einen Standpunkt muß man die Sünde
verurteilen, von dem anderen sie rechtfertigen oder überhaupt leugnen.
Diese Spannung ist auch für die christlichen Denker das eigentliche
Motiv der Lehre von der Willensfreiheit. Wäre nämlich alles ohne Aus-
nahme das Werk des allmächtigen Gottes, so würden auch unsere Willens-
akte und Handlungen von ihm bewirkt. Man käme dann vor die Alter-
native, entweder alles menschliche Tun als gut zu betrachten, was eine
Ausschaltung der Ethik bedeuten würde, oder unter dem Druck der ethischen
Wertprinzipien an der Unterscheidung zwischen guten und bösen Taten
festzuhalten und damit Gott die Verantwortlichkeit für die Sünden
zuzuschieben. Diesen Folgerungen, welche für eine so eminent ethische
Religion wie das Ohristentum unannehmbar sind, suchte man durch die
Annahme der Unabhängigkeit des menschlichen Willens vom göttlichen
zu entgehen, doch spielten auch andere Motive in die Erörterungen um
die Willensfreiheit herein.
Wie schon in der Spätantike das sogenannte Freiheitsproblem durch
die Rückbeziehung des in den Kosmos projizierten Handlungsschemas
auf das ursprüngliche Handeln zustande kam, so ist es also auch für das
Ohristentum vor allem die Frage nach dem Verhältnis zwischen mensch-
lichem und göttlichem Willenl . Es geht also hier wie dort um das gleiche
Interferenzproblem der intentionalen Weltauffassung, dessen Lösung
auf empirischem Wege unmöglich ist und daher - wie bei so vielen
spekulativen Rätselfragen - mit Hilfe der formalen Logik und ver-
schiedener ·Wertargumente versucht wurde.
Für eine - wie auch immer beschränkte - Freiheit des Menschen
sprach vor allem der schon erwähnte Umstand, daß eine absolute Ab-
hängigkeit vom göttlichen Willen zur Aufhebung der Ethik führen müßte.
Will man aber die Unterscheidung von Gut und Böse aufrechterhalten
und zugleich den allgütigen Gott von der Verantwortung für die mensch-
lichen Sünden entlasten, so muß der Mensch einen gewissen Freiheits-
spielraum besitzen, der auch die unabdingbare Voraussetzung dafür ist,
daß Gott an die Irdischen seine Gebote erläßt und ihre Befolgung oder
Übertretung belohnt oder bestraft. So fordert die Annahme der Allgüte
Gottes und die Aufrechterhaltung der Moral die Freiheit des Menschen.
Doch stehen nicht weniger schwerwiegende Postulate auf der anderen
Seite. Die durch das Vollkommenheitsideal geforderte Allmacht, All-
ursächlichkeit und Allwissenheit Gottes scheint die menschliche Willens-
freiheit auszuschließen. Fernerhin entspricht es der Haltung christlicher
Demut, wenn wir alle unsere Vorzüge als Geschenke der göttlichen Gnade
betrachten und nicht in hoffärtiger Weise auf unsere Verdienste pochen
und Ansprüche aus ihnen ableiten. Freilich müßte man dann auch unsere
Verfehlungen der göttlichen Macht zurechnen. Wer auf eine konsequente

1. W. WINDELBAND-H. HEIMSOETH: Lehrbuch der Geschichte der Philo-


sophie, Tübingen 1935, S. 210ff.
14·
212 Der Kosmos der Philosophie

Willenslehre keinen Wert legt, hat sogar die Möglichkeit, unsere guten
Taten auf Gott, unsere Sünden auf unseren freien Willen zurückzuführenl .
Je nachdem, welches dieser Wertpostulate man als wesentlicher
empfand, neigte man der indeterministischen oder deterministischen
Lösung zu, meist aber bemühten sich die Denker - da sie keines jener
Postulate völlig abweisen wollten oder konnten - um eine Kompromiß-
formel zwischen den Erfordernissen der Moral und jenen der Verherr-
lichung Gottes. Die Hauptmotive der Diskussion um das Freiheitsproblem
sind also bei den Kirchenvätern und im Mittelalter vor allem ethischer
und religiöser, nicht aber theoretischer Natur. Dazu kommt, daß oft
Bibelzitate als Beweisgründe für die eine oder die andere Alternative
herangezogen werden 2 •
Unter den Kirchenlehrern hat wohl Origenes die Willensfreiheit am
nachdrücklichsten vertreten. Auch Augustinus verteidigt sie in seiner
verhältnismäßig frühen Abhandlung "De libero arbitrio", und zwar
vor allem aus den schon genannten theologisch-moralischen Gründen.
Gott wäre nicht gerecht, würde er uns für Taten belohnen oder bestrafen,
die nicht in unserem Willen die letzte Ursache haben, und er wäre nicht
wahrhaft gut, hätte er an unseren Sünden AnteiP. Leidenschaftlich
verteidigt Augustinus seinen Gott gegen diese Unterstellung: "Ich finde
überhaupt nichts, ja, ich behaupte, es kann auch nichts gefunden werden,
weil es nichts gibt, womit unsere Sünden dem Schöpfer, unserem Gott,
zugeschrieben werden könnten. Wenn ich auch noch in ihnen Ihn zu
loben finde, so nicht nur deshalb, weil Er sie bestraft, sondern auch weil
sie nur dann geschehen, wenn von Seiner Wahrheit abgewichen wird"
(De lib. arb. IU 46).
Doch diese - vorwiegend von moralischen Gesichtspunkten be-
stimmte - Auffassung des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch
kann zu Konsequenzen führen, die unter anderen Wertaspekten bedenk-
lich erscheinen. Augustinus selbst hat dies an der radikalen Freiheitslehre
des Pelagius erfahren. Dieser britische Mönch ging von einer entschieden
ethischen Zielsetzung aus: er wollte das Vertrauen der Menschen in ihre
Fähigkeit zum sittlichen Handeln stärken und ihnen die Möglichkeit
nehmen, ihr moralisches Versagen der mangelnden Mithilfe Gottes
anzulasten. So lehrte er, der Mensch könne aus eigener Kraft die Gebote
halten und frei von Sünde bleiben; auch werde die göttliche Gnade nur
dem zuteil, der sich selbst nach besten Kräften darum bemüht. Es ist
also ausschließlich unsere eigene Schuld, wenn wir sündigen, und die
Strafe, die uns dafür trifft, ist gerecht.
Allein die Unabhängigkeit und Machtvolllmmmenheit, mit welcher
nach Pelagius der menschliche Wille dem göttlichen gegenübersteht und
sogar über die Erteilung oder Verweigerung der Gnade mit entscheidet,

1 H. GOMPERZ: Wrillensfreiheit, S. 18ff.


2 J. VERWEYEN: Das Problem der Willensfreiheit in der Scholastik,
Heidelberg 1909, S. 14ff.
3 H. GOMPERZ: Willensfreiheit, S.22.
Der Kosmos der Philosophie 213

war in den Augen der Frommen mit der Demut unvereinbar, welche der
Kreatur angesichts der göttlichen Majestät zukommt. Die pelagianische
Lehre ist daher von Augustinus als Ausdruck des Stolzes bekämpft
worden, jenes Lasters, das die Ursache des Sündenfalles war (Civ. D. XIV
13, 14). Er hält ihr entgegen, daß der aus Hochmut geborene Ungehorsam
Adams der Grund der Ursünde ist, die sich auf alle seine Nachkommen
vererbt hat. Im Stande der Erbsünde vermag kein Mensch aus eigener
Kraft frei von Schuld zu bleiben. Nur die göttliche Gnade, die uns nicht
auf Grund eines Anspruches, sondern aus grundlosem und unverdientem
Erbarmen zuteil wird, gibt uns die Fähigkeit, die Versuchung zu über-
winden. Daher ist das, was wir an Gutem tun, keineswegs unser Verdienst,
sondern die Wirkung der Gnade. Die letzte Entscheidung liegt bei Gott,
der die einen zum Heil bestimmt (prädestiniert), die anderen nicht.
Zweifellos waren diese Thesen des Augustinus geeignet, dem Menschen
ein Gefühl völliger Nichtigkeit gegenüber der unendlichen Gottesmacht
einzuflößen, allein sie widersprachen elementaren moralischen For-
derungen. Wenn die Überwindung der Sünde nur von der göttlichen
Prädestination abhängt, dann ist alles Mühen um einen tugendhaften
Lebenswandel zwecklos, und wenn wir ohne übernatürliche Hilfe zum
Guten unfähig sind, dann liegt die Schuld an unseren Verfehlungen nicht
bei uns, sondern bei Gott, der uns seine Hilfe versagt. Schließlich hat
es unter jenen Voraussetzungen überhaupt keinen Sinn, Gebote zu
erlassen, die der Mensch ohnedies nicht halten kann. Solange diese Über-
legungen auf die rein theologische Diskussion beschränkt blieben, waren
sie nicht allzu ernst zu nehmen, allein man begann bald, aus ihnen prak-
tische Folgerungen zu ziehen, welche die kirchliche Disziplin gefährdeten.
Angesichts dieser Bedrohung erschien eine Kompromißlösung notwendig,
die Gott so viel Macht und Ehre gab, wie es ohne völlige Aufhebung der
sittlichen Verantwortlichkeit des Menschen möglich war . Nach dieser
Lösung geht zwar die Gnade dem menschlichen Willen voran, doch
zwingt sie ihn nicht mit unwiderstehlicher Macht, sondern benötigt zur
Wirksamkeit sein freies Entgegenkommen, so daß wir darüber entscheiden,
ob wir die Gnade annehmen oder zurückstoßen1 •
Diese Motive wirken durch das ganze Mittelalter mit ungeschwächter
Kraft weiter. Auch für Thomas von Aquin ist das Freiheitsproblem in
erster Linie die Frage nach dem Verhältnis zwischen göttlichem und
menschlichem Willen, und er sucht sie auf Grund der schon bekannten
Wertpostulate zu entscheiden.
Gegen die Willensfreiheit sprechen vor allem Argumente, die mit der
Majestät Gottes, seiner Allmacht, Allursächlichkeit und Allwissenheit
zusammenhängen. So mag man im Anschluß an Augustinus ins Treffen
führen, daß alle Geschöpfe von Gott bewegt werden, der auch offenkundig
in den Seelen der Menschen tätig ist, um ihren Willen dorthin zu wenden,
wohin er will (De ver. XXIV 1,3). Daher stehen auch die inneren Ent-
scheidungen nicht in der Macht des Menschen, sondern werden ihm von

1 H. GOMPERZ: Willensfreiheit, S. 25.


214 Der Kosmos der Philosophie

Gott eingegeben (sunt homini ex Deo); unser Wille vermag vom gött.
lichen nicht abzuweichen, denn entweder tut der Mensch, was Gott will,
oder Gott erfüllt seinen Willen an ihm (De malo VI 2; 5). Wir würden
auch der Gnade nicht bedürfen, wenn wir zwischen Gut und Böse frei
entscheiden könnten, da wir sie aber zur Wahl des Guten benötigen,
sind wir nicht frei (De ver. XXIV 1,6; 1,8). Die verdienstlichen Hand.
lungen liegen also nicht in unserer Macht. Wenn uns andererseits Gott
seine gnadenhafte Hilfe nicht gewährt, müssen wir sündigen, da wir
durch den Fall Adams die Fähigkeit verloren haben, aus eigener Kraft
von Sünde frei zu bleiben (ibid. 1, 10; 1, 12). So sind wir zum Guten
wie zum Bösen mit Notwendigkeit determiniert. Auch das Vorauswissen
Gottes scheint mit der Freiheit unvereinbar zu sein, denn was er vorher·
sieht, muß geschehen, da er sich nicht täuschen kann (ibid. 1, 13).
Eine andere Gruppe von Einwänden gegen die Willensfreiheit ergibt
sich ebenfalls aus der intentionalen Weltauffassung, nämlich aus der
aristotelischen Annahme, daß alle Wesen die ihnen arteigene Vollendung
erstreben, sich ihrem normativen Urbild anzugleichen suchen (De ver.
XXII 1). Wenn aber alles Seiende von Natur aus nach der spezifischen
Vollendung, nach dem ihm zukommenden Gut und in letzter Linie nach
Gott strebt, so besteht in dieser Hinsieht offenbar keine Freiheit. Thomas
sucht diese Schwierigkeit zu überwinden, indem er zwischen einer Not·
wendigkeit des Zwanges (necessitas coactionis) und einer solchen der
naturhaften Hinneigung (necessitas naturalis inclinationis) unterscheidet,
welch letztere dem Willen selbst innewohnen und daher seiner Selbst·
bestimmung nicht widersprechen soll (ibid. XXII 5). Doch soll hier
auf diese Argumentation, die auf den bereits mehrfach kritisierten
Leitvorstellungen beruht, nicht mehr weiter eingegangen werden.
Es ist nicht überraschend, daß auch auf der anderen Seite die längst
bekannten ModellvorsteUungen und Wertpostulate auftauchen. Wieder
sind es vor allem die Forderungen der Moral, welche für die Freiheit
sprechen, ohne die Gebot und Verbot, Lohn und Strafe ungerecht und
sinnlos wären (De ver. XXIV 1,5; 1,6). Auch kann Gott nicht unmittel·
bare Ursache der menschlichen Handlungen sein, denn alles, was unmittel·
bar von Gott kommt, muß gut sein; die menschlichen Werke jedoch
sind manchmal gut, manchmal schlecht (ibid. 1,7). Es kann kein Zweifel
daran bestehen, daß für Thomas die moralischen Argumente gegen den
Determinismus das größte Gewicht besitzen. Die Meinung, daß der Wille
des Menschen aus Notwendigkeit heraus bewegt werde, "nimmt den
menschlichen Akten den Wesenszug von Verdienst und Strafe" , sie
"widerspricht nicht nur dem Glauben, sondern verkehrt auch alle Grund.
lagen der Ethik (subvertit omnia principia philosophiae moralis). Denn
wenn es in uns nicht irgend etwas Freies gibt, sondern wir aus Notwendig.
keit zum Wollen bewegt werden, dann sind Überlegung, Ermahnung,
Gebot, Strafe, Lob und Tadel aufgehoben, um die die ethische Philosophie
kreist" (De malo VI).
Doch so großes Gewicht Thomas hier und anderswo (S. Theol. I qu. 83, 1)
auf diese Wertpostulate zu legen scheint, sie haben dennoch seine Kom.
Der Kosmos der Philosophie 215

prornißversuche nicht entscheidend beeinflußt. Freilich ist die Position


des Thomas in diesen Fragen nicht ganz klar und einheitlich. Zwar
vermag nach seiner Lehre Gott den menschlichen Willen nicht zu zwingen,
aber er kann ihn doch "mit Notwendigkeit ändern" (immutare de neces-
sitate). Dabei versteht der Denker unter Zwang eine "Gewaltausübung
im Gegensatz zur Neigung desjenigen, das gezwungen wird", wogegen
der göttliche Einfluß die Neigungen als solche verändert. So ist es Gott
möglich, den Willen zu beeinflussen, ohne ihn zu zwingen. "Gott kann
aber den Willen ändern deshalb, weil er selbst im Willen wirkt wie in der
Natur. Wie daher jedes naturhafte Tun von Gott kommt, so geht auch
jedes Tun des Willens als solches nicht nur vom Willen als dem unmittelbar
Tätigen aus, sondern auch von Gott als dem Ersttätigen, der einen
stärkeren Einfluß ausübt" (De ver. XXII 8). Thomas hat auch auf
anderen Wegen versucht, das Verhältnis zwischen göttlichem und mensch-
lichem Willen in einer Weise zu bestimmen, die allen hinter dieser Proble-
matik stehenden Wertgesichtspunkten Rechnung trägt. Es soll beispiels-
weise der Akt des Entschlusses als solcher in unserer Macht stehen, nicht
aber dessen Ausführung, die unter dem Einfluß der göttlichen Vorsehung
bald ihr Ziel erreicht und es bald verfehlt. Obwohl fernerhin der Mensch
die Gnade, die das Tun verdienstlich macht, nicht kraft seines freien
Willens erlangen kaun, so vermag er sich doch zur Erlangung der Gnade
vorzubereiten, die ihm von Gott nicht verweigert wird, wenn er tut,
was in seiner Macht steht. Daher liegt es nicht ganz und gar außerhalb
der Möglichkeiten des freien Willens, verdienstliche Werke zu vollbringen.
Auch die bekannte Lehre von den primären und sekundären Ursachen
wird herangezogen. Gott wirkt als Erstursache in den Herzen der Menschen,
aber er wirkt in jedem Handelnden nach der Art und Weise dieses Han-
delnden, wodurch nicht ausgeschlossen wird, daß der menschliche Geist
selbst Ursache seiner Bewegungen ist (De ver. XXIV 1). Die Privations-
theorie soll ebenfalls diese Schwierigkeiten zu lösen helfen, und zwar
besonders das Problem, ob Gott an den menschlichen Verfehlungen mit-
schuldig ist. Nach dieser Theorie ist die Handlung (actus) ein Seiendes
(ens), das aber wie alles Irdische mit einem Mangel (defectus) behaftet
sein kann, der jedoch hier wie auch sonst keinen wahren Seinscharakter
besitzt. Da die Sünde als eine solche mangelhafte Handlung aufgefaßt
wird (S. Theol. II 1 qu. 79, 2), ist es möglich, sie in zwei Komponenten zu
zerlegen und diese verschiedenen Urhebern zuzurechnen. Was an ihr
Handlung und Seiendes ist, stammt von Gott, ihre Mangelhaftigkeit
aber ist vom Menschen verschuldet: "Nur das, was (in der Sünde) an
Aktion vorhanden ist, läßt sich auf Gott als Ursache zurückführen,
während das, was da an Unordnung und Deformität vorhanden ist, nicht
Gott zur Ursache hat, sondern allein den freien Willen. Und deshalb
sagt man, die Aktion der Sünde stamme von Gott, nicht aber die Sünde"
(De malo III 2). Damit wird in bekannter Weise das Wertvolle an unseren
Handlungen für Gott reklamiert, während das Wertwidrige uns selbst
zur Last fällt.
Aus Gründen, die in der Struktur der intentionalen Weltauffassung
216 Der Kosmos der Philosophie

liegen, hat Thomas keine befriedigende Antwort auf diese Fragen geben,
ja sie nicht einmal in zureichendem Maße klären können, und auf dieselben
Gründe ist es zurückzuführen, wenn eine solche Klärung und Antwort
bis heute fehItI.
Auch in der Spätscholastik und der Reformation wirken die Motive
des Streites zwischen Augustinismus und Pelagianismus weiter. Die
Betonung der göttlichen Herrschaftsgewalt und Majestät, die dem
Geist jener Zeit ihren Stempel aufprägt, ist in der Diskussion um das
Problem der Willensfreiheit besonders stark wirksam. Die Macht Gottes
über unseren Willen gilt manchmal geradezu als konstituierendes Merk-
mal seiner Göttlichkeit, etwa wenn Thomas Bradwardinus schreibt:
"Den will ich nicht als unseren Gott betrachten, der nicht allmächtig
im Handeln ist, der nicht die allmächtigste Gewalt über meinen schwachen
Willen hat und der nicht in unbeschränkter Machtfülle mich wollen und
tun lassen kann, was immer er wilJ2." Der göttliche Wille verursacht alles,
was ist und geschieht, einschließlich des menschlichen W oIIens 3 • Doch
dies bedeutet für Bradwardinus keine Unfreiheit, denn unter Freiheit
versteht der Philosoph nur die Unabhängigkeit vom Zwange der Zweit-
ursachen4 • Ein Argument gegen die Urheberschaft Gottes an unseren
Sünden ist aus diesem Freiheitsbegriff allerdings nicht zu gewinnen.
Bradwardinus sucht sich dieser Konsequenz seiner Auffassung vielmehr
mit Hilfe des schon von Thomas her bekannten Theologems zu ent-
ziehen, daß nur das Sein des Willensaktes von Gott stammt, seine Mängel
aber dem Geschöpf zuzuschreiben sind5 •
Mit der größten Folgerichtigkeit und Leidenschaftlichkeit ist die
absolute Souveränität und die Macht Gottes über unseren Willen von
den Reformatoren verfochten worden. Als Beispiel möge Luthers Sc11rift
"De servo arbitrio" dienen. Das mächtigste Motiv dieser Kampfschrift
gegen die Behauptung der Freiheit des geschöpflichen Willens ist die
Demut vor der göttlichen Majestät. Im. Namen der unbeschränkten
Herrlichkeit Gottes tritt Luther dem Erasmus entgegen, dessen Freiheits-
lehre er als widergöttlichen Hochmut verabscheut. Nach der Überzeugung
des Reformators ist "der freie Wille gänzlich ein göttlicher Name und
kann keinem anderen zukommen als allein der göttlichen Majestät ...
Wenn dieser den Menschen beigelegt wird, wird er in nichts recht-
mäßiger beigelegt, als würde man ihnen die Gottheit selbst beilegen, eine
Gotteslästerung, wie sie größer nicht sein kannG". So sind auch hier
wieder die bekannten Wertpostulate die eigentlichen Grundlagen der

1 J. VERWEYEN: Willensfreiheit, S. 153ff.


2 J. VERWEYEN, a. 0., S.207.
a.
3 J. VERWEYEN, a. 0., S.206.
a.
4 J. VERWEYEN, a. 0., S. 209.
a.
5 J. VERWEYEN, a. 0., S.213.
a.
6 LUTHER: De servo arbitrio, Weimarer Ausg. S. 636. - Deutsch n. d.
ersten Ergänzungsband der Luther.Ausgabe v. H. H. BORCHERDT U. G. MERZ:
"Daß der freie Wille nichts sei. Antwort D. Martin Luthers an Erasmus v.
Rotterdam". München 1954, S. 48.
Der Kosmos der Philosophie 217

Spekulationen. Die "Freiheit" ist eine Prärogative Gottes, an welcher


der Mensch keinen Anteil haben darf.
Das Grunderlebnis der Lehre vom unfreien Willen ist das Gefühl der
gänzlichen Nichtigkeit des Menschen vor Gott, der Zusammenbruch jedes
Tugendstolzes, ja jedes geistlichen Selbstvertrauens. Die göttliche Gnade
errettet nur den, der sich völlig demütigt und der weiß, daß sein Heil
ganz und gar außerhalb seiner Kräfte und Bemühungen liegt, daß es
nur vom freien Ermessen Gottes abhängt. Wer dagegen glaubt, er vermöge
auch nur das Geringste für sein Heil, macht sich einer Anmaßung
schuldig!.
Luther will also nicht moralisch belehren und führen, sondern er
will uns vor dem Herrn des Himmels erbeben lassen und uns auf dessen
Gnade verweisen. Daher ist für ihn die These, daß Gott sowohl das Gute
wie das Böse in uns wirkt, nicht anstößig 2 • Der Mensch wird durch sie
keiner Verdienste beraubt, da es keine menschlichen Verdienste gibt,
und wenn Gott auch im Satan und im Gottlosen wirksam ist3 , so handelt
er dennoch nicht böse, denn das Wertwidrige an den bösen Taten, die
er durch die Verworfenen vollbringt, fällt nicht ihm, sondern jenen zur
Last. Die göttliche Tätigkeit als solche ist immer gut, doch sind ihre
menschlichen Instrumente oft mangelhaft. "Daher geschieht es, daß der
Gottlose immer nur irren und sündigen kann, weil die göttliche Macht
ihn in seiner Tätigkeit nicht müßig sein läßt, indem sie ihn mit sich reißt,
aber er muß wollen, begehren und tun, so wie er selbst ist4 ." So wirkt
auch hier noch die Privationstheorie als Mittel der Theodizee weiter;
Luther steht in dieser Beziehung dem Thomismus ganz nahe.
Wie sehr die Verherrlichung Gottes bei Luther alle moralischen
Gesichtspunkte zurückdrängt, zeigt sich auch in der Interpretation der
Heilsbedeutung des Gesetzes. Dieses ist nicht eine Norm, der die Hand-
lungen des Menschen entsprechen sollen, sondern es ist der Maßstab der
Vollkommenheit, an dem er seine eigene Unvollkommenheit und Nichtig-
keit erkennen kann. Ja, Gott hat die Gebote absichtlich unerfüllbar
gemacht, um uns unsere Hilflosigkeit und Gnadenbedürftigkeit vor
Augen zu führen. Er gleicht einem Vater, der seinem Kind, das noch
nicht allein gehen kann, sagt, es möge zu ihm kommen. Wohl weiß er,
daß das Kind es nicht vermag, aber er will, daß das Kind dies erkenne
und deshalb die ihm dargebotene, führende Hand des Vaters ergreife5 •
Also versucht uns Gott, damit er uns durch das Gesetz zur Erkenntnis
unserer Ohnmacht bringt und dadurch unseren Hochmut bricht6 •
Das sogenannte Problem der Willensfreiheit ist also durch das ganze
Mittelalter bis in die Neuzeit herein das geblieben, was es ursprünglich
war, nämlich ein Interferenzphänomen der intentionalen Weltauffassung.

1 Weim. Ausg. S.632. BORCHERDT-MERZ, S. 42f.


2 'Veim. Ausg. S.667. BORCHERDT-MERZ, S.83.
3 Weim. Ausg. S. 709. BORCHERDT-MERZ, S. 140.
4 Weim. Ausg. S.709. BORCHERDT-MERZ, S. 141.
5 H. GOMPERZ: Willensfreiheit, S. 28.
6 Weim. Ausg. S.673/74. - BORCHERDT-MERZ, S. 91.
218 Der Kosmos der Philosophie

Dennoch wäre die Behauptung verfehlt, daß die Interpretation des


Universums nach Handlungsanalogien das mittelalterliche Denken aus-
schließlich beherrscht hat. Der Gedanke, alle aussagbaren Eigenschaften
und nicht zuletzt die intentionalen Funktionen und Attribute seien mit
der absoluten Vollkommenheit des Weltgrundes oder Gottes unvereinbar,
war schon seit Parmenides der antiken Philosophie geläufig. Er ist immer
wieder gegen die intentionale Weltdeutung geltend gemacht worden, hat
sie aber niemals beseitigen können und ist mit ihr mancherlei Verbindungen
eingegangen, beispielsweise im System des Plotin.
Diese Spannung zwischen der kosmisch-intentionalen und der negativen
Theologie hat sich auch dem christlichen Denken vererbt. Zu ihrer Über-
windung haben die Scholastiker die Lehre von der sogenannten analogia
entis geschaffen, die hier wenigstens in ihren Grundzügen kurz umrissen
werden soll. Die von den irdischen Wesen und Verhältnissen entlehnten
Prädikate können auf verschiedene Weise von Gott ausgesagt werden.
Man mag beispielsweise mit der anthropomorphen Theologie des Mythos
oder des Volksglaubens der Meinung sein, daß der Gottheit bestimmte
Eigenschaften in grundsätzlich gleicher Weise zukommen wie den Men-
schen, sie ist etwa weise und gerecht wie ein irdischer Herrscher. Dieser
Gebrauch der Prädikate "weise" und "gerecht" wird univok genannt.
Man kann sich aber auch der negativen Theologie nähern, indem man
behauptet, die göttliche Weisheit und Gerechtigkeit habe mit der mensch-
lichen nicht das geringste gemein und sei mit ihr völlig unvergleichbar.
In diesem Falle werden die Bezeichnungen "gut" und "gerecht" äquivok
gebraucht. Zwischen diesen Extremen gibt es aber nach der Meinung der
Scholastiker eine dritte Möglichkeit, nämlich die sogenannte analoge
Aussage über die göttlichen Eigenschaften (S. Theol. I qu.13, 5). Diese Art
der Prädikation soll dadurch gekennzeichnet sein, daß ein und derselbe
Begriff mehreren Gegenständen in nicht ganz gleicher, aber auch in nicht
ganz verschiedener Weise zukommt.
Eine systematische Klärung und Präzisierung der Analogielehre hat
selbst Thomas nicht durchgeführt!. Das ist wohl kein Zufall, denn die
Brauchbarkeit dieses Theologems beruht ja in erster Linie auf seiner
Elastizität. Es ließ sich zu verschiedenen Zwecken verwenden. Eine
seiner wichtigsten Aufgaben war es, alle Unvollkommenheiten, welche
den Eigenschaften irdischer "Vesen anhaften, von der Übertragung auf
Gott auszuschließen. Nur jene Attribute, die absolute Vollkommenheiten
bezeichnen, sind im eigentlichen Sinne auf den Schöpfer anwendbar,
nämlich ens, unum, verum, bonum und pulchrum. Zu diesen Wert-
prädikaten - denn auch "Sein" und "Einheit" haben hier wie auch sonst
in der traditionellen Philosophie eine äußerst intensive Wertbedeutung -

1 K. FECKES: Die Analogie in unserem Gotterkennen, ihre metaphysische


und religiöse Bedeutung; in dem Sammelband: Probleme der Gotteserkenntnis.
Veröffentlichungen des Katholischen Institutes für Philosophie, Albertus-
Magnus-Akademie zu Köln, lI/3, S. 132ff. - A. GOERGEN: Kardinal Cajetans
Lehre von der Analogie, Diss., München 1938, S.41.
Der Kosmos der Philosophie 219

kommt eine Reihe spezifisch intentionaler Funktionen, welche man Gott


zuschreiben darf, und zwar die der Wirkursache (causa efficiens), Ziel-
ursache (causa finalis), Intelligenz und die des Willens. Gewiß sind diese
Eigenschaften im menschlichen Bereich nur recht unvollkommen ver-
wirklicht, doch sind alle empirischen Mängel nicht in ihrem Wesen
begründet. Das gleiche gilt für die Verbindung von Intellekt und Wille,
die Macht (potentia), für die Weisheit, Klugheit und Providenz, die
Liebe, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit (S. Theol. I qu.14-25). Dagegen
gibt es eine Reihe von Begriffen, die notwendigerweise eine Unvoll-
kommenheit enthalten. Diese darf man nur bildlich und gleichnisweise
auf den Schöpfer anwenden. Beispielsweise kann die Tapferkeit des
Löwen nur in diesem Sinne von der Gottheit ausgesagt werden, denn
der Begriff "tapfer" setzt Widerstände, Kraftanstrengungen und Gefähr-
dungen voraus, die mit der göttlichen Vollkommenheit unvereinbar sind.
Nur sofern Gott ein machtvolles Wirken entfaltet, besteht zwischen
ihm und dem Löwen eine gewisse Ähnlichkeit (S. Theol. I qu. 13, 6).
Man sieht, daß hier wie immer in derartigen Fragen die Wert-
gesichtspunkte entscheiden. Die analogia entis wirkt gewissermaßen wie
ein Filter, das aus dem bereits werterfüllten Strom intentionaler Vor-
stellungen alles ausscheidet, was etwa noch dem &e:07tPE:7t6<:; wider-
sprechen könnte.
Doch sind - und damit nähert sich die Analogielehre der negativen
Theologie - selbst die dergestalt gereinigten Prädikate nicht ohne
weiteres auf Gott anwendbar. Sie sind bei ihm in einer ganz anderen,
eminenteren Weise (secundum eminentiorem modum) verwirklicht als
bei den Geschöpfen (S. Theol. I qu.13, 3). Diese göttliche Verwirklichungs art
ist nicht mehr mit unseren Ausdrücken adäquat zu umschreiben!. Wir
können nur sagen, daß sie von der menschlichen wesentlich verschieden
ist 2 • Diese Argumentation bedeutet aber im Grunde nicht viel mehr
als eine Verschiebung des Problems, denn nun hängt alles davon ab,
wie groß der Unterschied zwischen der irdischen und der "eminenteren"
Weise der Verwirklichung jener Wertprädikate gedacht wird, und davon,

1 Daß diese Erhabenheit über die menschliche Sprache ein Wertpostulat


des fre:01tpe:1tE<; ist, wird besonders deutlich bei ÄUGUSTINUS: De doctrina
christiana I, 6: "Haben wir nun etwas gesagt ~ Haben wir der Gottheit
Würdiges ausgesprochen'? Nein, ich fühle es, ich wollte nur etwas sagen.
Wenn ich aber gesprochen habe, so war es doch nicht das, was ich sagen
wollte. Woher weiß ich das, als weil Gott unaussprechlich ist? Oder habe
ich mit meiner Aussage schon gegen die Unaussprechlichkeit gefehlt ~ Ja,
Gott darf nicht einmal der Unaussprechliche genannt werden, denn hierin
liegt schon eine Aussage über ihn. Da entsteht ein wunderlicher Widerstreit
der Worte. Wenn das unaussprechlich ist, was nicht genannt werden kann,
so ist es nicht unaussprechlich, eben weil es nnaussprechlich genannt werden
kann. Diesen Widerstreit der Worte sollte man lieber in Schweigen hüllen,
als ihn mit der Rede schlichten wollen. Kann nun von Gott auch niemals
etwas Angemessenes ausgesagt werden, so hat er gleichwohl das Hilfswerk
der menschlichen Sprache zugelassen und ihren freudigen Gebrauch zu seiner
Ehre gewünscht."
2 K. FECKES, a. a. 0., S.147.
220 Der Kosmos der Philosophie

ob man das Gewicht mehr auf die betreffende Eigenschaft oder ihre
Verwirklichungsart legt. Allerdings wird dadurch die schroffe Alternative
von intentionaler und negativer Theologie zumindest scheinbar durch
eine Verbindung mit gleitenden Übergängen zwischen den beiden Extre-
men ersetzt. Gerade darin liegt aber die außerordentliche praktische
Verwendbarkeit der Analogielehre. Je nach Wunsch oder Zweckmäßig-
keit konnte man die entgegengesetzten Wert- und Erkenntnisansprüche
der beiden Positionen befriedigen, ohne sich in eklatante Widersprüche
zu verwickeln. Es kam vor allem auf ein geschicktes Verlegen des Schwer-
punktes an. So war es möglich, die Gleichheit der Prädikate in den Vorder-
grund zu stellen und sich damit weitgehend der intentionalen Auffassung
zu nähern, dabei aber doch gegenüber einem allzu naiven Anthropo-
morphismus die Verschiedenheit der Verwirklichungsweisen in Reserve
zu halten, andererseits wiederum durch die Betonung der letzteren dem
Standpunkt der negativen Theologie Rechnung zu tragen, zugleich aber
deren agnostischen Konsequenzen mit dem Hinweis auf die - wie immer
"analoge" - Aussagbarkeit der göttlichen Eigenschaften auszuweichen.
Das Problem als solches bleibt also ungelöst, und es gibt auch keine
Lösung, denn das Wertpostulat, nach welchem Gottes Vollkommenheit
und Würde seine Erhabenheit über die menschliche Sprache fordert,
ist nun einmal mit dem Wunsche unvereinbar, trotzdem positive Behaup-
tungen über ihn aufzustellenl . Die Scholastik hat hier wie so oft eine
Kompromißformel gefunden, welche jene Widerspruche zwar nicht
beseitigt, aber doch verdeckt2 •
So sind es nicht irgendwelche wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern
werthafte Forderungen gewesen, von denen aus im Mittelalter das intentio-
nale Weltbild angegriffen worden ist. Der Konflikt zwischen wertender
Deutung und wertfreier Erkemltnis des Universums, welcher zu der
gegenwärtigen Krise jenes Weltbildes geführt hat, ist viel jüngeren
Datums. Zum philosophischen Problem konnte er überhaupt erst werden,

1 Die Schwierigkeit ist klar formuliert bei G. SCHOLEM: Kabbalah und


Mythus, S.289: "Diese Tendenz, den transzendenten Gott vor aller Ver-
flechtung ins Mythische zu schützen, die unbekümmert vermenschlichenden
Aussagen des biblischen Textes und der volkstümlichen Formen religiöser
Äußerung ins theologisch Einwandfreie umzudeuten, führt aber zu einer
Entleerung des Gottesbegriffes. Läßt sich doch immer weniger von diesem
Gott aussagen, wenn die }<'urcht, seine Erhabenheit durch kreatürliche Bilder
anzutasten, zu einem entscheidenden Faktor wird. Die Reinheit, um es kurz
zu sagen, wird mit der Gefährdung der Lebendigkeit erkauft. Der lebendige
Gott geht nie im reinen Begriffe auf. Das gerade, was ihn dem Gläubigen
lebendig macht, ist es, was ihn irgendwo in die menschliche Welt verflicht,
ihn im großen religiösen Symbol unmittelbar vor die Seele rückt. Im Prozeß
der rationalen Neuformulierun~ verschwindet es. Die Reinheit des Gottes-
begriffes zu bewahren, ohne dIe Lebendigkeit dieses Gottes anzutasten -
das ist die unendliche Aufgabe der Theologie, die, immer wieder neu gestellt,
nicht restlos lösbar ist."
2 Zum Problem der analogia entis vgl. auch H. LYTTKENS: The Analogy
between God and the World, Uppsala 1952, sowie die Beiträge im "Studium
Generale" VIII/ll (1955).
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 221

nachdem Hume und Kant die grundsätzlichen Unterscheidungen von


Erkenntnis und Wertung, von theoretischer und praktischer Vernunft
getroffen hatten. Die entscheidenden Auseinandersetzungen um diese
Fragen haben noch später begonnen und sind bis heute nicht abgeschlossen.

Tradition, Ideologie und Wissenschaft


Man kann wohl behaupten, daß sich die Emanzipation des neuzeit-
lichen Denkens von der werthaft-intentionalen Weltauffassung nur sehr
langsam vollzogen hat und bis tief in das vorige Jahrhundert recht
unvollständig geblieben istl . Dies ist zweifellos zum Teil auf das Fort-
wirken der christlichen Theologie zurückzuführen, zum Teil auch auf
den Umstand, daß die Gegner der konfessionellen Orthodoxie und Vor-
kämpfer einer "natürlichen Religion" an die gleiche hellenistisch-römische
Logosspekulation anschlossen, aus der auch die theologische Tradition
hervorgegangen war. Aber das eigentlich Charakteristische und Erstaun-
liche der Übergangsperiode, welcher wir uns nun zuwenden, liegt darin,
daß auch die nun :neu auftretenden geistigen und sozialen Mächte lange
unter dem Einfluß der intentionalen Welt auffassung gestanden sind
und teilweise heute noch stehen.
Die neuzeitliche Naturwissenschaft wird zwar allgemein als die große
Gegnerin aller anthropomorphen Naturdeutung betrachtet und ist dies
in letzter Konsequenz auch tatsächlich. Doch in ihren Anfangsstadien
war sie eng mit jener verbunden - das Wort "Naturgesetz" erinnert
noch heute daran - und hat sich erst im Laufe der Zeit endgültig selb-
ständig gemacht. Unvergleichlich stärker und nachhaltiger war jedoch
die Wirkung der intentionalen Denkformen in den naturrechtlichen,
geschichtsphilosophischen und soziologisch-politischen Lehren, welche
als Selbstinterpretation und -legitimierung der neu aufsteigenden Gesell-
schaftsschichten fungierten. Vom sogenannten "natürlichen System der
Geisteswissenschaften" über die bürgerliche Aufklärung bis zur marxi-
stischen Theorie der proletarischen Revolution begleitet uns die uralte
Vorstellung des wertrationalen, "vernünftigen Weltgesetzes" in Wort
und Sache. Sie liegt den Schlagworten von nature, raison und ordre
natureI, welche die französischen Aufklärer direkt aus Cicero und anderen
klassischen Autoren übernommen haben, ebenso zugrunde wie dem
Glauben an ein "Gesetz des geschichtlichen Fortschrittes", an einen
Geschichtslogos hegelianisch-marxistischer Prägung. So haben die inten-
tionalen Leitvorstellungen in den großen sozialen Umwälzungen, die mit
der Heraufkunft der modernen Welt verbunden sind, noch einmal
eine gewaltige Rolle gespielt. Sie haben den Triebkräften der Revolutionen
von 1789 und 1917 ihre gedankliche Form gegeben.
Doch auf diese Weise wurde die intentionale Weltauffassung direkt
in den Streit der kämpfenden Parteien hineingezogen, während die
'Vissensehaft ihr besonders auf dem Gebiet der Natur den Boden abgrub.

1 H. GOMPERZ: Willensfreiheit, S.30.


222 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

So geriet sie allmählich in eine kritische Lage. Die um die Herrschaft


oder Selbstbehauptung ringenden Gesellschaftsgruppen suchten die
gedanklichen Grundlagen der Ansprüche ihrer jeweiligen Gegner zu
zerstören, sie als interessebedingte Entstellungen und Verzerrungen der
Wahrheit, als "Ideologien" zu entlarven. Freilich spielten sich diese
Auseinandersetzungen lange in einer bloß politisch wichtigen, vom
wissenschaftstheoretischen Standpunkt jedoch ganz oberflächlichen
Schicht der Problematik ab. Man griff in der Regel bestimmte Wert-
haltungen, Ziele und Einzelbehauptungen der Gegenpartei an, ohne
auch nur zu ahnen, daß man genau denselben Apparat intentionaler
Kategorien zur theoretischen Untermauerung der eigenen Position
benützte. Dies hat zu Situationen geführt, die einer gewissen Komik
nicht entbehren. Mit welchem heiligen Eifer und welchem unerschütter-
lichen Überlegenheitsgefühl haben etwa die aufgeklärten Literaten die
Anhänger der traditionellen Konfessionen bekämpft und verspottet,
doch ist keinem von ihnen bewußt geworden, daß die Grundstruktur
seiner Weltanschauung die gleiche ist wie die des von ihm so verachteten
"Obskurantismus". Wenn später Karl Marx in seinem "Elend der Philo-
sophie" Proudhon wegen dessen Glauben an die Vorsehung als Utopisten
verhöhnte (vgl. unten, S. 256), so konnte er sich selbst ebensowenig von
der Vorstellung eines geschichtlichen Heilsplanes losmachen - er brachte
sie lediglich in eine quasiwissenschaftliche Gestalt. Doch allmählich
begann die gegenseitige Kritik auch an die gedanklichen Grundstrukturen
der intentionalen Welt betrachtung zu rühren, sie aufzudecken und in
Frage zu stellen. Gerade in dem Maße, in welchem nicht mehr die
materialen Wertungen und Forderungen der verschiedenen Parteien,
sondern jener Kategorialapparat zum Gegenstand gedanklicher Analyse
wurde, verlagerte sich allerdings die Fragestellung aus dem ideologisch-
politischen in den wissenschaftlichen Bereich. Von diesem Endstadium
soll aber erst später die Rede sein.
Wenn die Periode des letzten Höhepunktes und der beginnenden
Zersetzung des intentionalen Weltbildes hier als die ideologische bezeichnet
wird, so soll dieser vieldeutige Ausdruck die· vieldeutigen und viel-
schichtigen Vorgänge und Sachverhalte dieser Entwicklungsphase
charakterisieren. Die Motivationskraft jener Modelle wurde im Dienste
gegnerischer sozialer Gruppen und oft genug auf dem Niveau bloßer Tages-
politik bis zum letzten ausgenützt und dadurch zunehmend erschöpft,
während die wissenschaftliche Forschung sich von ihnen löste und ihnen
eine grundsätzlich andere Form der Welterklärung entgegenstellte. Die
alten Herrschaftsstrukturen und handwerklichen Fertigungsmethoden,
von welchen die wichtigsten intentionalen Leitbilder entlehnt waren,
wurden durch die wissenschaftlich-technische Zivilisation der industriellen
Arbeitswelt zurückgedrängt, und mit der unmittelbaren Vertrautheit und
Lebensbedeutsamkeit ihrer Urbilder schwand auch die psychologische
Erklärungskraft und die emotionale Wirkung jener Symbole. Es darf
nicht übersehen werden, daß eine ganz ähnliche Entwicklung auch in
der Kunst der Neuzeit vor sich geht. So konnte man selbst dort, wo
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 223

man aus Gründen der innerlichen Ruhe oder der äußeren Zweckmäßigkeit
jene Denkformen beibehalten wollte, nicht die schlichte Selbstverständlich-
keit und - zumindest scheinbare - Einheitlichkeit retten, die einer
echten, überzeugungskräftigen Tradition eigentümlich ist.
In den Anfängen dieses Prozesses ist sogar auf dem Gebiet der Natur-
wissenschaften von einem solchen Bruch nichts zu merken. Selbst ein
Kopernikus nimmt keinen Anstoß an den biomorphen, soziomorphen und
technomorphen Vorstellungen, die ihm aus der antiken und mittel-
alterlichen Tradition geläufig sind. Das alte Bild von der Erde, die von
der Sonne empfängt nnd jährlich ihre Nachkommenschaft gebiert,
begegnet uns bei ihm ebenso wie das von der Sonne, welche gleichsam
auf einem Königsthron sitzend das sie umkreisende Sternenvolk regiert.
Die Welt ist ein kunstvolles Bauwerk, ein prächtiger Tempel, in dem die
Sonne als Leuchte genau am zweckentsprechenden Platz angebracht ist,
nämlich im Mittelpunkt, von dem aus sie das Ganze gleichzeitig beleuchten
kann. Zugunsten der heliozentrischen Theorie wird fernerhin das bekannte
Wertargument ins Treffen geführt, die Unbeweglichkeit sei vornehmer
und göttlicher als die Beweglichkeit, welch letztere darum mehr der
Erde als dem Universum zukommt. Doch muß betont werden, daß
Kopernikus diese Bilder und Überlegungen nur als lllustrationen oder
zusätzliche Bekräftigungen, nicht aber als Hauptargumente benützt!.
Die eigentlichen wissenschaftlichen Begründungszusammenhänge sind
von den intentionalen Modellen unabhängig. Damit ist die Voraus-
setzung für den späteren Konflikt zwischen den beiden Denkformell
gegeben, doch bei Kopernilms sind sie noch friedlich miteinander ver-
bunden.
Wie stark die Naturwissenschaften und zumal die Naturphilosophie
der frühen Neuzeit von soziomorphen Vorstellungen beeinflußt sind,
geht auch aus anderen Zeugnissen hervor. Beispielsweise hat Francesco
Patrizzi die regelmäßigen Bewegungen der Himmelskörper mit Hilfe
des uralten Modelles des Sternenheeres erklärt. Er vergleicht die Gestirne
mit einer Truppe manövrierender Soldaten, welche den Befehlen ihres
Offiziers gehorchen, wobei Gott dem Offizier und seine Befehle den Natur-
gesetzen entsprechen2 • Überhaupt ist die Bezeichnung "Naturgesetz"

1 N. COPERNICUS: De revolutionibus, p. 30: Ita profecto tamquam in


solio regali sol residens circumagentem gubernat astrorum familiam... In
medio omnium residet sol. Quis enim in hoc puleherrimo templo lampadem
hane in aHo vel meliori loco poneret, quam unde totum simul possit illumi-
nare . .. Tanta nimirum est divina haec Optimi Maximi Opificis fabriea.
- ebd. S. 24: His etiam aceedit quod nobilior atque divinior conditio immo-
bilitatis existimatur quam mutationis et instabilitatis, quae terrae magis
ob hoc quam mundo conveniat. - E. ZILSEL: Copernicus and Mechanies,
"Journal of the History of Ideas" I (1940), S.113. - Eine ähnliche Form
der Argumentation gebrauchte auch Franeis Bacon, vgl. PR. FRANK: Meta-
physical Interpretations of Seience, "The British Journal for the Philosophy
of Scienee" 1/2 (1950), S. 79/80.
2 E. ZILSEL: The Genesis of the Concept of Physical Law, "Philosophical
Review" LI (1942), S.267.
224 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

für die Invarianzen des Naturlaufes nur aus der Auffassung des Kosmos
als eines gewaltigen, durch unverrückbare Gesetze geordneten Staates
verständlich. Darum ist die Geschichte dieses Terminus für die Ent·
wicklung des sozio-kosmischen Denkens in der Neuzeit besonders auf·
schlußreich.
Es ist auffällig, daß Galilei diesen Ausdruck nie verwendet, sondern
von "Verhältnissen" (ragioni) und "Prinzipien" (principi) spricht. Dagegen
gebraucht Kepler mehrfach das Wort lex für Invarianzen, die wir heute
als Naturgesetze bezeichnen, etwa für die proportionalen Verhältnisse
von Kraft und Weg beim Hebel (lex staterae). Er bewundert die Schönheit
der mathematischen Ordnung der Natur und preist Gott als ihren Urheber.
"So verwandelt er die göttlichen Gesetze der Bibel in geometrische
Vorschriften und gebrauchte den Ausdruck ,Gesetz' beinahe synonym
mit ,Verhältnis' und ,Proportion' 1." Die geometrische Weltordnung
trägt also für Kepler noch einen ausgesprochen normativen Oharakter,
und er legt sich sogar allen Ernstes die Frage vor, wie die Gestirne von
den göttlichen Vorschriften wissen können. Der Geist des altorientalischen
Mythos lebt hier noch kraftvoll fort 2•
Der schließliche Erfolg des Terminus "Naturgesetz" ist wohl vor
allem auf Descartes zurückzuführen. Dieser Denker, der dem Mittelalter
noch eng verbunden ist, will die physische Naturordnung in ähnlicher
Weise aus der Vollkommenheit Gottes deduzieren, wie dies die Scho-
lastiker mit der lex naturalis versucht hatten. Gott läßt die Natur nach
den von ihm aufgestellten Gesetzen handeln, und selbst wenn er mehrere
Welten geschaffen hätte, so wären diese Gesetze in ihnen allen gültig
gewesen. Sie folgen nämlich aus seiner Vollkommenheit. Aus seiner
Unveränderlichkeit ergeben sich zwei Gesetze, die dem Trägheitsprinzip
entsprechen, während ein drittes besagt, daß ein bewegter Körper einem
anderen Körper beim Zusammenstoß so viel von seiner Bewegung mitteilt
als er selbst verliert. Dieses letztere Gesetz erscheint glaubwürdig, wenn
man in Betracht zieht, daß Gott seine Handlungsweise nie ändert und
die Welt mit demselben Wirken erhält, mit dem er sie geschaffen hat.
Daher kann die Bewegung nicht stets an dieselben materiellen Teile
gebunden bleiben, sondern muß beim Zusammentreffen vom einen zum
anderen übergehen3 • In eigenartiger Weise hat hier Descartes die Vor-
stellung des mit Notwendigkeit aus der göttlichen Vollkommenheit
erfließenden Gesetzes und die empirischen Feststellungen der Mechanik
miteinander verbunden. Er bringt den Weltlauf mit bestimmten werthaften
Forderungen in Übereinstimmung, doch stellt er nicht wie so viele andere
Denker auf Grund von Wertpostulaten irgendwelche Tatsachenbehaup-
tungen auf, sondern beschränkt sich auf eine nachträgliche Schein-

1 E. ZILSEL, a. a. 0., S.266.


2 Zum Fortwirken der Idee des sozio·kosmischen Universums in der eng.
lischen Renaissance vgl. die sehr aufschlußreiche Arbeit E. M. W. TILLY ARD :
The Elizabethan World Picture, 4. imp., London 1948, passim.
3 R. DESCARTES: Discours V, Oeuvres, ed. ADAM u. TANNERY, vol. VI,
Paris 1902, S.42f. - ders.: Principia II, ebd., vol. VIII, Paris 1906, S. 6lff.
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 225

deduktion der empirisch konstatierten RegeImäßigkeiten aus den gött-


lichen Eigenschaften.
Die Auffassung der mechanisch-geometrischen Naturordnung als des
Ergebnisses göttlicher Vorschriften hat bei den Nachfolgern Descartes'
viel Anklang geflmden. So verteidigt etwa Leibniz in einem Brief an
Conring die Ansicht, in der Natur geschehe alles auf mechanische Weise,
das heißt nach bestimmten mathematischen, von Gott vorgeschriebenen
Gesetzen (certis legibus mathematicis a Deo praescriptis)1 . .Ähnliche
Gedanken finden sich bei Spinoza. Er unterscheidet zwischen den recht-
lichen Gesetzen, die vom Belieben der Menschen abhängen, und den
"allgemeinen, aus der Notwendigkeit der Natur folgenden Gesetzen".
Als Beispiel für die letzteren nennt er die cartesianische Regel über die
Mitteilung der Bewegung beim Zusammenstoß von Körpern, interessanter-
weise aber auch "ein aus der menschlichen Natur mit Notwendigkeit
folgendes Gesetz, daß der Mensch, wenn er sich einer Sache erinnert,
sich sogleich auch einer anderen ähnlichen Sache erinnert oder einer,
die er zugleich mit jener wahrgenommen hat" - also psychologische
Sachverhalte, die später als Assoziationsgesetze bezeichnet wurden2 •
Die Unterordnung der menschlichen Seelenvorgänge unter die "Natur-
gesetze" behauptet Spinoza auch in dem bekannten Vorwort zum dritten
Teil der "Ethik": Die Affekte des Menschen "folgen den gemeinsamen
Gesetzen der Natur" (communes Naturae leges), er bildet keinen Staat
im Staate (imperium in imperio)3. In gewissem Sinne leitet der Denker
sogar die Theoreme der Geometrie aus der Notwendigkeit der göttlichen
Natur ab, wie dies Descartes mit den Naturgesetzen getan hatte. Da
allerdings in Gott kein wirklicher Unterschied zwischen Verstand und
Wille besteht, ist es letztlich dasselbe, ob man sagt, Gott habe von Ewig-
keit her entschieden und gewollt, daß die drei Winkel eines Dreieckes
gleich zwei Rechten seien, oder ob man sagt, Gott habe dies erkannt".
Die Einheit der ewigen göttlichen Natur umfaßt beides. Aber indem die
Ordnungen der Geometrie und die Invarianten des Naturlaufes als
Ergebnisse des göttlichen Wirkens gedeutet werden, wird ihre allgemeine
und ausnahmslose Gültigkeit zu einem theologischen Postulat. Die
universellen Naturgesetze sind Gottes Ratschlüsse, die aus der Not-
wendigkeit und Vollkommenheit seiner Natur folgen (leges Naturae
universales mera esse decreta Dei, quae ex necessitate et perfectione
naturae divinae sequuntur)5. Daher darf nichts, was geschieht, ihnen
zuwiderlaufen. Hier wird es besonders deutlich, daß nicht nur der "Deter-
minismus" der Antike und des Mittelalters, sondern auch jener der
Neuzeit - trotz seiner scheinbar rein wissenschaftlichen, "mechanisti-

1 G. W. LEIBNIZ: Die philosophischen Schriften, hrsg. v. C. J. GERHARDT,


I. Bd., Berlin 1875, S.196/97.
2 B. SPINOZA: Tractatus theologico-politicus c. IV, in: Opera, ed. J. VAN
VLOTEN-J. P. N. LAND, Bd. I, Den Haag 1882, S.420.
3 B. SPINOZA, a. a. 0., Bd. I, S. 124.
4 B. SPINOZA: Tract. theol.-pol. c. IV. VLOTEN-LAND I, S.425.
6 B. SPINOZA: Tract. theol.-pol. c. VI. - VLOTEN-LAND I, S.445.

Topitsch, Metaphysik. 15
226 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

sehen" Fassade - auf typischen Wertpostulaten der intentionalen Welt-


auffassung beruht!. Erst indem man die mechanischen Invarianten des
Naturlaufes als absolute Normen interpretiert, schafft man die Grund-
lagen für den Glauben, daß in allen Gebieten der Wirklichkeit inklusive
des menschlichen Seelenlebens solche "unverbrüchliche Gesetze" walten
müssen. Aus dieser Einstellung ergibt sich auch Spinozas Ablehnung
der Wunder. Sie sind unzulässig, denn die Behauptung, Gott tue etwas
entgegen den Naturgesetzen, würde zugleich bedeuten, er tue etwas
entgegen seiner eigenen Natur; ebenso verfehlt ist die Annahme, er habe
die Natur so ohnmächtig und minderwertig geschaffen, daß er immer
wieder in ihren Gang eingreifen müsse 2 • So sind auch hier Wertgesichts-
punkte und nicht theoretische Argumente entscheidend.
Aus dem cartesianischen Denken ist die Vorstellung des "Natur-
gesetzes" auf verschiedenen Wegen in die sich konstituierenden Natur-
wissenschaften eingedrungen. Christian Huyghens hat den Terminus
unmittelbar von Descartes übernommen und häufig verwendet. Besonders
wichtig ist aber, daß sich dieser Sprachgebrauch in der 1663 gegründeten
Royal Society einbürgerte, teilweise unter dem direkten Einfluß des
Cartesius, teils wohl auch unter dem Spinozas, der in einem Brief an
Oldenburg, den damaligen Sekretär der Gesellschaft, die Behauptung
aufstellte3 , alle Veränderungen der Körper vollzögen sich nach den
Gesetzen der Mechanik (leges Mechanicae). Schon im dritten Band der
"Philosophical Transactions" der Royal Society (1668) behandelten John
Wallis und Christopher Wren die "General Laws of Motion" und die
"Leges Naturae de Collisione Corporum". Auch Robert Hooke und Robert
Boyle schlossen sich dieser Terminologie an. Der letztere spricht oft von
den Bewegungsgesetzen als Vorschriften des Schöpfers aller Dinge und
bezeichnet die Invarianten der Hydromechanik als Gesetze, die Gott
für die Flüssigkeiten erlassen hat4 • Die Erinnerung an den theologischen
Ursprung des Ausdruckes und der Idee der "Naturgesetzlichkeit" ist
also bis an die Zeit Newtons heran lebendig geblieben.
Wenn dieser große Physiker auch nicht ausdrücklich von der gött-
lichen Herkunft der Naturgesetze spricht, so muß ihm diese Vorstellung
doch bekannt gewesen sein, denn er war mit den Werken von Descartes
und dessen Schülern wohl vertraut. Durch seine "Philosophiae Naturalis
Principia Mathematica" (1687) wurde der Terminus endgültig in das
Vokabular der neuzeitlichen Naturwissenschaft aufgenommen. Wenn
Newton die drei berühmten Bewegungsgesetze gleich zu Beginn seines
Werkes5 als axiomata sive leges motus bezeichnet und in der Folge diese
Ausdrucksweise immer wieder gebraucht, so ist er damit für die spätere

1 Dies gilt selbstversändlich nicht für den Determinismus als heuristisches


Prinzip und für das Faktum festgestellter Invarianten des Weltlaufes.
2 B. SPINOZA: Tract. theol..pol. c. VI. - VLOTEN-LAND I, S.445f.
3 B. SPINOZA: ep. 13. - VLOTEN·LAND II, S.49.
4 E. ZILSEL: Genesis, S. 272. - W. A. ROBSON: Civilisation and the
Growth of Law, New York 1935, S.207.
S ed. tertia, London 1726, S. 13ff.
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 227

Zeit richtungweisend geworden. Doch hat Newton nicht nur die wissen-
schaftliche Physik in diesem Sinne beeinflußt, sondern seine Lehren
sind auch durch die Aufklärer, vor allem durch Voltaire in seinen "Ele-
ments de la philosophie de Newton", übernommen, popularisiert und
zum Teil umgedeutet wordenl •
Dieser Kontakt mit dem Denken der Aufklärung, zumal der stark
politisch orientierten Frankreichs, hatte für die Entwicklung des Gesetzes-
begriffes weittragende Folgen. Waren dessen normative Elemente beson-
ders bei Wallis, Wren und Newton stark durch die naturwissenschaftlich-
deskriptiven zurückgedrängt und fast auf den bloßen sprachlichen
Ausdruck "Gesetz" beschränkt worden, so ergab sich nun eine neue
Berührung mit den intentionalen Leitbildern. Besonders eng ist diese
Verbindung bei Montesquieu. Das grundlegende erste Buch des "Esprit
des Lois" in welchem die Gesetze im allgemeinen behandelt werden,
greift wieder auf das Motiv der göttlichen Weltregierung zurück. Gott
erhält die Welt nach den Gesetzen und Regeln, nach denen er sie geschaffen
hat, er handelt nach ihnen, weil er sie kennt, er kennt sie, weil er sie
gemacht hat und er hat sie gemacht, weil sie seiner Weisheit und Macht
entsprechen. Diese Regeln sind für die vernunftbegabte und die unvernünf-
tige Welt unveränderlich festgelegt. Die unvernünftige Natur folgt den
Gesetzen der Mechanik: , ,Bei zwei bewegten Körpern bestimmen Masse
und Geschwindigkeit den Beginn, die Zu- oder Abnahme und das Ende
aller Bewegungen. Jede Verschiedenheit ist Gleichförmigkeit, jeder Wechsel
Beständigkeit2 ." So herrscht hier eine einzige, unverrückbare Ordnung.
Die vernünftigen Wesen sind dagegen imstande, sich selbst Gesetze
zu geben, aber über diesen positiven Normen stehen noch die natürlichen
der Gerechtigkeit und Billigkeit. Allerdings wird die vernunftbegabte
Welt lange nicht so gut regiert wie die physische, "denn obgleich auch
sie Gesetze hat, die ihrer Natur nach unveränderlich sind, so gehorcht
sie ilmen nicht immer so wie die physische Welt den ihrigen3 ". Die höchste
Norm für unser Verhalten ist die menschliche Vernunft und die positiven
Gesetze sollen nur die einzelnen Anwendungsfälle dieser Vernunft sein.
Physikalische und moralisch-rechtliche Gesetze bilden also bei Montes-
quieu letztlich wieder eine Einheit, sie sind die beiden Formen des
gemeinsamen göttlichen Weltgesetzes. So ist die Aufklärung bestrebt,
den Gesetzesbegriff der neuzeitlichen Naturwissenschaft mit der traditio-
nellen Idee der normativen Weltordnung zu vereinigen.
Für einige Zeit vermochte dieser Versuch zu überzeugen und hat
dadurch die Destruktion des intentionalen Weltbildes durch die moderne
Wissenschaft noch einmal aufgeschoben. Ursache dieser Entwicklung
war wohl vor allem das starke ideologische Bedürfnis der Aufklärer, das
Verlangen nach einer Legitimierung ihrer politischen Ziele und Ideale,

1 E. ZILSEL: Genesis, S. 275.


2 MONTESQUIEU: Oeuvres completes, ed. E. LA.BOULAYE: tom. III,
Paris 1876, S.91ff.
3 MONTESQUIEU, a. a. 0., S. 92.
15·
228 Tradition, Ideologie und ·Wissenschaft

welche ihnen nur mit Hilfe der alten naturrechtlichen Denkformen


erreichbar schien. Es ging ihnen um die Motivationskraft einer geschlos-
senen Weltanschauung, eben der Konzeption einer einheitlichen Ordnung
von Sein und Sollen. Darum haben sie versucht, den naturwissenschaft-
lichen Gesetzesbegriff in der Sphäre der intentionalen Weltauffassung
zu halten oder ihn wieder in diese zurückzuholen, wobei allerdings auch
umgekehrt mechanische Begriffe in die theologisch-metaphysische, durch
die Aufklärung nur oberflächlich säkularisierte Lehre vom allumfassenden
Weltgesetz eindringen und - zumindest scheinbar - "dem natürlichen
System der Geisteswissenschaften mit einem Schlage systematischen
Zusammenhang und Übereinstimmung mit der Naturwissenschaft"l ver-
leihen konnten.
Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Denkformen der Auf-
klärung weitgehend auf jenen des "natürlichen Systems" und damit
in weiterer Folge auf dem intentionalen Kategorialapparat der spät-
antiken Philosophie beruhen. So triumphierte in der europäischen Neuzeit
noch einmal die hellenistisch-orientalische Spekulation in einer leicht
durchschaubaren wissenschaftlichen Verkleidung. Die Ursachen dieses
Triumphes sind - wie schon oben (S.193f.) erwähnt - wohlverständlich.
Schon im Hochmittelalter war das abendländisch-christliche Denken in
näheren Kontakt mit dem jüdischen und mohammedanischen getreten.
Renaissance und Humanismus hatten die antike Kultur neu belebt und
mit besonderer Vorliebe auf die hellenistisch-römische Philosophie zurück-
gegriffen. Schließlich lastete seit der Reformation die konfessionelle
Zersplitterung mit allen ihren Konsequenzen - den Glaubenskriegen und
religiösen Verfolgungen - wie ein Alpdruck auf den geistig führenden
Männern Europas. In einer solchen Situation mußte sich der Gedanke
geradezu aufdrängen, nach der gemeinsamen Grundlage der Lehren aller
christlichen Kirchen und Sekten zu suchen. Diese sollte möglichst auch
mit den Anschauungen der nichtchristlichen Religionen und der antiken
Philosophie übereinstimmen. So wollte man zu sittlich-religiösen Wahr-
heiten gelangen, die allen frommen Menschen gemeinsam sind, zu einer
"natürlichen" Theologie und Moral. Auf dieser Suche mußte man schließ-
lich auf eben jene hellenistisch-orientalischen Vorstellungen stoßen, die
ja der spätantiken Philosophie ebenso zugrunde lagen wie der christlichen,
jüdischen und mohammedanischen Theologie. In ihnen - und zwar
besonders in ihrer durch die Stoa rationalisierten Form - erblickten
viele Denker des siebzehnten Jahrhunderts die gesuchten allgemein-
menschlichen und allgemeingültigen Prinzipien der Religion und Ethik.
Die so entstandene oder erneuerte, mehr oder minder stark stoisch
bestimmte Metaphysik der vernünftigen Weltordnung und Menschennatur
ist bis zur Französischen Revolution und darüber hinaus für die geistige
Entwicklung Europas entscheidend wichtig geblieben.
Schon am Ende des sechzehnten Jahrhunderts klingt in Jean Bodins
berühmtem "Colloquium Heptaplomeres" der Gedanke auf, daß alle

1 W. DILTHEY: Das natürliche System, Ges. Schriften rr, S. 93.


Tradition, Ideologie und Wissenschaft 229

Religionen von einer einzigen, ursprünglichen, natürlichen Religion


abstammen und ihre individuelle Eigenart auf die geographischen und
bioklimatischen Verschiedenheiten der einzelnen Länder zurückzuführen
sei. Ungefähr zur gleichen Zeit und aus den gleichen Motiven bahnt
sich im Humanismus der Niederlande, die damals infolge ihres verhältnis-
mäßig freiheitlichen Regimentes ein Zentrum des geistigen Lebens Europas
bildeten, eine planmäßige Wiedererweckung der stoischen Philosophie
an. Diese Entwicklung wurde dadurch erleichtert, daß die Humanisten
der Reformation, vor allem Zwingli und Melanchthon, von dieser Philo-
sophie stark beeinflußt waren. Freilich war dieser Neustoizismus zunächst
weniger an der Kosmosspekulation der spätantiken Schule als an der
Vorstellung der notiones communes, der XOLVOCL EVVOLOCL, interessiert.
Er vertrat die Ansicht, daß die Grundideen der natürlichen Religion,
die fundamentalen moralischen und religiösen Begriffe, dem Menschen
angeboren seien. Dieser Gedanke hat bei vielen Aufklärern, vor allem im
Deismus des Herbert v. Cherbury, eine bedeutende Rolle gespielt. Doch
bleibt auch hier die Beziehung zwischen makrokosmischem und mikro-
kosmischem Logos, zwischen göttlicher und menschlicher Vernunft
aufrecht. Unser Intellekt mit seinen allgemeinen Begriffen und Axiomen
ist gleichsam ein Teil der die ganze Welt durchwirkenden, universalen
göttlichen Providenz. Von hier ist es nur mehr ein weiterer Schritt zum
Glauben an die absolute Vernunft oder Vernunftnatur, die raison uni-
verselle, welche das Individuum ebenso ordnend durchwaltet wie den
Kosmos und die Gesellschaft. Wiederum treffen wir auf die Metaphysik
des "Weltgesetzes" : "Wie die Natur harmonisch durch große Gesetze
geregelt wird, wie die großen Massen im Weltenraum in ihren gesetz~
mäßigen Bahnen niemals zerstörend aufeinandertreffen, so ist auch in
der menschlichen Gesellschaft eine Gesetzmäßigkeit angelegt, welche
ohne künstlichen Eingriff die Harmonie derselben herbeiführt. Das ist
die Lehre von dem natürlichen System in der Gesellschaftl. "
Standen anfänglich die religiösen Fragen im Vordergrund des Inter-
esses, so ist im weiteren Verlaufe des großen Aufklärungsprozesses das
Problem der "natürlichen Ordnung" in Staat, Gesellschaft und Wirt-
schaft zum Hauptgegenstand der Erörterungen geworden. Damit wird
das "natürliche System" endgültig ins Ideologische umgebogen. Die
Sorgfalt der philosophischen Durcharbeitung leidet allerdings unter dieser
Entwicklung. Die vorgebrachten Argumentationen sind in ihren Haupt-
motiven wenig originell und bewegen sich oft tief unter dem in der Antilm
und im Mittelalter erreichten Niveau. Doch der geschichtliche Erfolg der
Lehre vom sozialen ordre naturel beruhte nicht auf der Stärke ihrer
sachlichen Beweisgründe, sondern auf der Dynamik der gesellschaftlichen
Kräfte, die sie vertraten. Das aufsteigende Bürgertum und der autonome
Staat lösten sich aus der Abhängigkeit von den alten kirchlich-feudalen
Ordnungen und der Geisteswelt der Theologie und Tradition. Dabei
suchten und fanden sie in der Berufung auf die "Natur" oder die "Ver-

1 W. DILTHEY, a. a. 0., S. 244.


230 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

nunft" nicht so sehr ein tragfähiges theoretisches Fundament als vielmehr


ein wirkungsvolles Symbol für das eigene Streben und Wollen. Dies
bedeutete letztlich, daß die alte intentionale Vorstellungswelt und das
aus ihr hervorgegangene Vokabular abermals mit einem neuen ethisch-
politischen Gehalt erfüllt wurde!.
So erscheint nun die konstitutionelle Monarchie oder die Republik
als die "natürliche" Staatsform, die freiheitlich-humanitäre Moral als
das "natürliche" Sittengebot. Freilich ist die Ordnung der Vernunft-Natur
in der tatsächlichen Gesellschaft jener Zeit nicht verwirklicht, denn die
Gegner der Aufklärung - die "Tyrannen und Priester" - gebrauchen
ihre usurpierte Macht, um jede vernunftgemäße Reform zu verhindern
und die wahre loi naturelle durch einen Schleier von Vorurteilen dem
Blick ihrer Untertanen zu entziehen. Doch der Mensch ist darum und
nur darum unglücklich, weil er die Natur nicht kennt. So ist es die Sendung
des aufgeklärten Denkers, die Vorurteile zu zerstören und die Menschheit
zu jenem Glücke zu führen, das ihr der Eigennutz der WilIkürherrscher
vorenthält. Die Grundlage dieses wahren Glückes und der wahren Moral
sind einzig und allein die Prinzipien der natürlichen oder vernünftigen
Ordnung. Diese und ähnliche Motive kehren in der Aufklärungsliteratur
immer wieder, und zwar mit einer geradezu ermüdenden Eintönigkeit. 2
Aus der Fülle der französischen Traktate über den ordre naturel sei
hier nur die Schrift "La loi naturelle ou principes physiques de la morale,
deduits de l'organisation de l'homme et de l'univers" von Volney heraus-
gegriffen, da sie in verschiedener Hinsicht bemerkenswert ist. Unter dem
bezeichnenden Titel "Catechisme du citoyen fran9ais" ist sie erstmalig
1793 - also sehr spät - erschienen und faßt die Thesen der aufklärerisch-
revolutionären Naturrechtslehre in knapper Form zusammen. Gerade
diese Prägnanz läßt den sozio-kosmischen Charakter ihres kategorialen
Apparates mit aller Klarheit hervortreten. Schon die einleitenden Sätze
klingen wie eine Übersetzung aus einer stoischen Abhandlung. Das
Naturgesetz - physikalischer und moralischer Gesetzesbegriff sind hier
noch immer ungeschieden - "ist die regelmäßige und gleichbleib ende
Ordnung der Tatsachen, durch welche Gott das Universum regiert; eine
Ordnung, die seine Weisheit den Sinnen und der Vernunft der Menschen
darbietet, damit sie ihnen als allgemeine und gleiche Regel für ihre Hand-
lungen diene und sie ohne Unterschied des Heimatlandes und der Sekte
zur Vollendung und zum Glück führe 3 ". Den Begriff des Gesetzes ent-

1 E. TROELTSCH: Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne


profane Naturrecht, Ges. Schriften Bd. IV, Tübingen 1925, S. 188 betont
mit Recht die "Kontinuierlichkeit, die das klassische profane Naturrecht
mit dem kirchlichen verbindet und den Aufstieg der modernen radikalen
sozialen Neubildungen eng verknüpft mit einer Umformung der alten helle-
nistisch-christlichen Ideen"_
2 Allerdings konnten sich gleichzeitig auch die konservativen Kräfte auf
die - in ihrem Sinne gedeutete - "kosmische Ordnung" berufen. Über den
"kosmischen Toryismus" im England des 18. Jahrhunderts vgl. B. WILLEY:
The Eighteenth Century Background, 2. imp., London 1946, S.43ff.
a C. F. VOLNEY: Oeuvres completes, Paris 1838, S.83.
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 231

nimmt Volney, wie die auf diese Stelle folgende Definition unmißverständ-
lich zeigt, aus dem sozialen Bereich. Gesetze sind ursprünglich Handlungs-
anweisungen, Befehle und Verbote, die mit der Androhung einer Strafe
oder der Verheißung eines Lohnes verbunden sind. Das Verhalten aller
Wesen ist solchen bleibenden und allgemeinen Regeln unterworfen, die
nicht ohne Störung der allgemeinen oder besonderen Ordnung übertreten
werden können, und diese Regeln der Handlungen und der Bewegungen
nennt man Naturgesetze oder Gesetze der Natur. Diese allgemeine
Gesetzlichkeit ist eine göttliche Ordnung und ihr Bestehen ist ein Beweis
für die Existenz eines höchsten handelnden oder wirkenden Wesens
(agent supreme)l. Das staunenerregende Schauspiel des Kosmos mit
der wunderbaren Harmonie seiner Bewegungen läßt auf eine höchste
Weisheit schließen, die allen Dingen jene ewigen und unveränderlichen
Normen vorgeschrieben hat, welche in ihrer Beziehung auf den Menschen
die loi naturelle darstellen. Physische und moralische Ordnung bilden
also auch hier gewissermaßen eine kosmische Verfassung, einen einheit-
lichen, festgelegten Bestand von Regeln der göttlichen Machtausübung.
Das sozio-kosmische Universum der hellenistisch-orientalischen Spekula-
tion ist im fortschrittsstolzen Frankreich der Revolutionszeit noch immer
geistesmächtig2 •
Doch diese wohlbekannten Leitvorstellungen werden nun in vieler
Beziehung anders ausgedeutet als in den gewohnten Naturrechtslehren.
Das "Naturgesetz" hat nach Volney den Zweck, das Menschengeschlecht
zu erhalten, zu vervollkommnen und glücklich zu machen. Aus diesem
Zweck sind alle einzelnen Vorschriften abzuleiten. Sie bestehen zum großen
Teil aus hypothetisch-technischen Imperativen, aus Regeln, wie man
die Kenntnis der physischen Invarianzen für den individuellen und
gemeinsamen Nutzen der Menschen auswertet. Das "Naturrecht" trägt
also hier einen ausgesprochen utilitaristischen Charakter. Es klingt sogar
schon das spätere positivistische Schlagwort des savoir pour prevoir,
prevoir pour regler an, wenn der ~hilosoph die Tugend der Klugheit
(prudence) als vue anticipee, als prevoyance des effets definiert. Vermöge
dieser Antizipation oder Voraussicht sind die Klugen imstande, erfolgreich
ihren Vorteil wahrzunehmen. Freilich darf dieser Kalkül des Nutzens
nicht dazu mißbraucht werden, den Mitmenschen zu schaden. So gipfelt
das natürliche Gesetz in den Geboten, jeder solle sich erhalten, unter-
richten und mäßigen und jeder solle für den anderen leben, damit dieser
für ihn lebe. Im ganzen zeigt diese Naturrechtstheorie also das typische
Doppelgesicht der Übergangserscheinung. Hinter den gedanklichen und
sprachlichen Fassaden der intentionalen Analogien entwickelt sich eine
ganz andere Weltauffassung.
Wie sehr die intentionalen Denkformen noch im achtzehnten Jahr-
hundert die Geister in ihrem Banne hielten, geht fernerhin daraus hervor,

1C. F. VOLNEY, a. a. 0., S.85.


2Zur Eigenart der Aufklärungsideologien vgl. auch C. L. BECKER: Thc
Heavenly City of the Eighteenth-Century Philosophers, Yale UP 1932.
232 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

daß die sich damals konstituierenden Wirtschaftswissenschaften völlig


unter ihrem Einfluß standen. Dies gilt besonders für die französischen
Physiokraten, aber auch für die englischen Nationalökonomen. Über-
raschend ist diese Tatsache schon deshalb nicht, weil die älteren N atur-
rechtslehren neben allgemein moralischen und rechtlich-politischen Fragen
auch solche der ökonomischen Sphäre behandelt hatten. Darum bedeutet
die Entstehung einer eigenen Wirtschaftstheorie zunächst nicht viel mehr
als die Verselbständigung und Erweiterung eines Zweiges des herkömm-
lichen Naturrechtes. Die Nationalökonomie hat also in ihren Anfangs-
phasen eine ausgesprochen normative Zielsetzung. Sie will nicht in erster
Linie eine Beschreibung und Analyse des tatsächlichen, sondern eine
Bestimmung des richtigen Wirtschaftens geben, und in diesem Sinne be-
dient sie sich der traditionellen Denkformen.
Besonders deutlich wird die Herkunft der Wirtschaftslehre aus der
Naturrechtsspekulation bei den Physiokraten, nach deren Ansicht der
Mensch sein ökonomisches Handeln der natürlichen, unveränderlichen,
vollkommenen und gottgewollten Schöpfungsordnung anpassen soll.
Infolge der Güte des Schöpfers ist die seinem Willen entsprechende
Wirtschaftsform gerade diejenige, welche uns die größten Vorteile
gewährt. Die dem Menschen vorteilhafteste wirtschaftliche Ordnung
steht also im engsten Zusammenhang mit der allgemeinen Weltordnung.
Sie ist vorgegeben wie jene und soll von den irdischen Regenten respek-
tiert werden. Man hat daher nicht zu Unrecht behauptet, daß der
Gedanke des "Naturgesetzes" im physiokratischen System eine Be-
deutung gewonnen hat, die mit der im Lehrgebäude der Stoiker zu
vergleichen ist: "Die Stoiker wollen in Übereinstimmung mit der
Natur leben, die Physiokraten der Natur zur Herrschaft in der
menschlichen Gesellschaft verhelfen. Wiederum sind das sittliche Gesetz
und das Naturgesetz in den engsten Zusammenhang gebracht, wiederum
erscheinen beide nur als verschiedene Ausstrahlungen des Wesens des
Schöpfers1 •"
Auch in der Begründung des sozialen ordre naturel und der praktisch-
politischen Konsequenzen, die aus ihm gezogen werden, folgen die Physio-
kraten den gewohnten Bahnen. Die Natur des Menschen - seine Kräfte
und Triebe, seine Neigungen und Bedürfnisse - ist im Rahmen des
Weltplanes offenkundig auf die Gesellschaft hingeordnet. Seine Selbst-
erhaltung und die Entwicklung seiner geistigen und materiellen Kultur
ist nur auf gemeinschaftlicher Grundlage möglich. Doch ist andererseits
die Vergesellschaftung nur dann sinnvoll, wenn in ihr der Mensch das
Recht beibehält, durch Besitznahme und Arbeit die Mittel, die er für
seine Selbsterhaltung benötigt, zu erwerben und das Erworbene zu
behalten. Hier wie auch sonst in der bürgerlichen Aufklärung ist also die
Legitimierung des Eigentums eines der wichtigsten Ziele der naturrechtIichen

1 W. HASBACH: Die allgemeinen philosophischen Grundlage~ der von


Fran90is Quesnay und .Adam Smith begründeten politischen Ökonomie,
Leipzig 1890, S. 68.
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 233

Ideologien1, ja sogar die persönliche Freiheit wird als Eigentumstitel


(proprieM personelle) aufgefaßt. Das Recht der Selbsterhaltung stellt
aber zugleich eine Pflicht dar, deren Vernachlässigung durch Schmerz
oder Tod ihre natürliche Strafe findet.
Die Vorstellung, daß das moralische "Naturgesetz" durch die kausal-
notwendigen guten oder üblen Folgen des normentsprechenden oder
normwidrigen Handelns sanktioniert ist, findet sich im aufklärerischen
Denken sehr häufig. Auch sie ist eine typische Übergangserscheinung.
Der Deismus betrachtete nämlich die Welt ähnlich wie der Stoizismus
als Kunstwerk, doch unter dem Einfluß der klassischen Mechanik eher als
technisches Artefakt, das automatisch seinen Gang geht, sobald es der
kosmische Werkmeister konstruiert und in Bewegung gesetzt hat. In
dieses Weltuhrwerk greift der Schöpfer nicht mehr ein - sei es, weil er
es nicht darf, da dies mit der Vollkommenheit seines Werkes und damit
indirekt mit seiner eigenen unvereinbar erscheint, sei es, weil die Lücken-
losigkeit der physikalischen Kausalzusammenhänge keine Möglichkeit
für einen Eingriff zu bieten scheinen. So muß die Gerechtigkeit in den
Kausalnexus selbst hineinverlegt werden, indem man die nützlichen oder
schädlichen Folgen einer Handlung als Lohn oder Strafe auffaßt. Um-
gekehrt muß dann aber das Nützliche auch als das durch die Natur-
ordnung Gebotene, das Schädliche als das Verbotene erscheinen. Die
Selbsterhaltung wird zum obersten Imperativ des "Weltgesetzes". So
ist für die Aufklärung in eigenartiger Weise der Utilitarismus und das
wohlberatene Glücksstreben mit der Vorstellung des universalen Gesetzes
und der gerechten Weltordnung verbunden. Die Verfolgung des individuel-
len und sozialen Vorteiles ist letztlich die Befolgung des göttlichen
Gebotes.
Der Gedallke, daß die Kausalordnung im innersten wertrational ist
und auch eine Wirtschaftsordnung impliziert, die dem Menschen -
wenn er sie nur richtig erkennt - den größtmöglichen Vorteil verbürgt,
ist also die Grundlage der physiokratischen Lehren. Aus dieser Grundidee
werden sodann die einzelnen wirtschaftspolitischen Forderungen ab-
geleitet oder - richtiger gesagt - sie werden ihr unterlegt. Im ganzen
handelt es sich dabei um ein Programm für agrarische Großpächter, die
durch möglichste Handelsfreiheit maximale Gewinne zu erzielen hoffen.
Staatliche Eingriffe in den ordre naturel der freien Wirtschaft sind
abzulehnen. Die Obrigkeit soll nichts tun, als die angebliche Natur-
ordnung schützen, der Fürst hat - dem Gott des Deismus nicht
unähnlich - nur darüber zu wachen, daß die Regelmäßigkeit der Be-
wegung, die er der Maschine eingedrückt hat, durch nichts gestört werde2 •
Doch haben sich die Physiokraten neben der Aufstellung solcher wirt-
schaftspolitischer Doktrinen auch ausgiebig in den bekannten natur-

1 H. KELSEN: The Natural-Law Doctrine before the Tribunal of Science,


"Natural Law and World Law", Festschr. Kotaro Tanaka, Tokio 1954, S. SOff.
2 W. PETZET: Der Physiokratismus und die Entdeckung des wirtschaft-
lichen Kreislaufes, Karlsruhe 1929, S. 37.
234 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

rechtlichen Leerformeln ergangen, und zwar besonders im Rahmen der


Erörterung ihrer philosophischen Prinzipien. Ein besonders schönes
Beispiel hierfür bietet die einmalige Unterredung, die zwischen dem
physiokratischen Projektenmacher Le Mercier und der Kaiserin Katha-
rina 11. von Rußland stattgefunden haben soll. Le Mercier verbindet die
verschiedenen Leerformeln in einer geradezu klassischen Weise mit-
einander, indem er jeweils einen inhaltslosen Ausdruck durch einen
anderen, ebenso nichtssagenden, erläutert. Wegen der Klarheit, mit
der dieses Verfahren erkennbar ist, sei die Unterredung hier wieder-
gegeben.
"Können Sie mir sagen", fragte die Kaiserin, "welches die besten
Wege sind, den Staat gut zu regieren?" - "Es gibt nur einen, Madame,
nämlich gerecht zu sein, das heißt den ordre aufrechtzuerhalten und
den Gesetzen Achtung zu verschaffen." - "Aber auf welcher Grundlage
sollen die Gesetze eines Reiches beruhen?" - "Auf einer allein, Madame,
auf der Natur der Dinge und der Menschen." - "Gewiß, aber wenn
man einem Volk Gesetze zu geben wünscht, welche Regeln sind als die
besten dafür angezeigt?" - "Madame, Gesetze zu machen oder zu geben,
ist eine Aufgabe, die sich Gott selbst vorbehalten hat. Wie kann sich der
Mensch für befähigt erachten, Wesen, die er nicht oder nur sehr unvoll-
kommen kennt, Gesetze vorzuschreiben! ... " - "Worauf führen Sie
denn nun die Wissenschaft der Regierung zurück?" - "Darauf, die
Gesetze zu studieren, zu erkennen und klarzulegen, welche Gott dem
Menschen, als er ihn schuf, in seine Organisation in evidenter Weise
eingegraben hat. Darüber hinaus zu trachten, würde ein großes Unglück
und ein zerstörendes Unterfangen sein." - "Mein Herr, ich bin sehr
erfreut, Sie gehört zu haben und wünsche Ihnen guten Tagl ." Man kann
zu diesem Gespräch bloß noch bemerken, daß nur wenige, die im Laufe
der Geschichte ähnlich wie Le Mercier argumentierten, einen so bündigen
Bescheid erhalten haben.
Durch ihre Grundidee, nach welcher sich der Mensch jedes Ein-
greifens in die göttliche Harmonie der natürlichen Welt- und Wirtschafts-
ordnung enthalten soll, steht die physiokratische Denkweise der chine-
sischen mit ihrem Prinzip des wu wei - des "Nichthandelns" - nahe,
das ebenfalls jedes eigenmächtige Einfallen in die universale Harmonie
verbietet. Diese Verwandtschaft ist offenbar von den Physiokraten
empfunden worden. China genoß bei ihnen großes Ansehen, und Quesnay
selbst hat es den abendländischen Staaten als Muster vorgehalten 2 •
Die westeuropäische Spätform der intentionalen Weltauffassung beruft
sich in diesem Falle nicht nur auf die Kosmosspekulation des Hellenismus
und des Vorderen Orients, wie sie besonders in der stoischen Überlieferung
vorliegt, sondern auch auf die des Fernen Ostens. Die Weisheit Chinas,
die der Aufklärung durch Reisebeschreibungen und Missionsberichte

1 W. PETZET, a. a. 0., S.132. - A.ONCKEN: Geschichte der National-


ökonomie, Bd. I, Berlin 1902, S. 42lf.
2 W. PETZET, a. a. 0., S. 9lf.
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 235

bekannt wurde, schien abermals den Glauben an die Weltharmonie zu


bestätigen.
Derselbe Harmonieglaube liegt, freilich nicht in einer so offenkundigen
Weise, auch der Wirtschaftstheorie von Adam Smith zugrunde. Wenn-
gleich von ihm kein Werk über das Naturrecht vorliegt, so ist doch
bekannt, daß er über dieses Thema Vorlesungen gehalten hat, und seine
nationalökonomische Theorie ist von naturrechtlichen Gedanken durch-
drungen. Das Fundament allen Eigentums ist nach Smith die Arbeits-
kraft des Menschen, und die freie Verfügung über dieses primäre Eigentum
ist sein heiligstes Recht. Jede Beschränkung der Arbeits- und Gewerbe-
freiheit, aber auch der Handelsfreiheit ist eine Verletzung natürlicher
Rechte und daher verwerflich. Es ist nun bezeichnend, daß die auf jenen
Freiheiten beruhende liberale Wirtschaftsordnung nicht nur die gerechteste,
sondern auch die vorteilhafteste sein soll. Sie gewährleistet das individuelle
und das gemeinschaftliche Wohl, indem sie den Menschen zu Fleiß und
Sparsamkeit erzieht, Handel und Gewerbe durch die Konkurrenz zur
besten und billigsten Befriedigung der Kundenwünsche zwingt, die
Privilegien bevorrechteter Gruppen beseitigt und so die Klassengegensätze
abbaut. Läßt man die Menschen ungestört von aller willkürlichen und
widernatürlichen Gesetzgebung wirtschaften, so werden sie in Verfolgung
ihrer privaten Interessen jenen Zustand herbeiführen, der für die All-
gemeinheit am vorteilhaftesten ist. Es besteht also nach Smith eine
eigenartige Übereinstimmung zwischen dem Wohl des Einzelmenschen
und dem der Gemeinschaft, die der Nationalökonom zwar mit den Mitteln
der empirischen Wissenschaft zu erklären versucht, die aber in letzter
Linie doch nur aus dem Glauben an die natürliche, durch eine über-
menschliche Vorsehungsmacht garantierte Harmonie der Weltordnung
verständlich wird. Die Überzeugung, daß eine vernünftige Vorsehung
unsere Leidenschaften und Triebe ohne unser Wissen zur Erreichung
ihrer Absichten benützt, ist besonders an jener berühmten Stelle erkennbar,
wo Smith vom Menschen behauptet, daß er "im allgemeinen weder die
Förderung des Gemeinwohls erstrebt noch weiß, wie sehr er es fördert ...
Er erstrebt allein seinen eigenen Vorteil und wird dabei, wie in vielen
anderen Fällen, von einer unsichtbaren Hand so geführt, daß er einem
Zweck dient, der nicht in seiner Absicht lag!". Diese "unsichtbare Hand"
ist nichts anderes als das planvolle Wirken der Vorsehung, das hier wie
so oft bei den Aufklärern gewissermaßen in die - wirklichen oder
vermeintlichen - Regelmäßigkeiten des Weltgeschehens hineinverlegt
wird.
Unter diesen Voraussetzungen ist es klar, warum jede Einmischung
des Staates in das Wirtschaftsleben unzulässig ist, denn wie darf sich

1 A. SMITH: .An Enquiry into the Nature and Causes of the Wealth of
Nations, Book 11, chap. 2 (Ausg. Edinburgh 1828, vol. 11, S.279/80): "He
generally, indeed, neither intends to promote the public interest, nor knows
how much he ia promoting it . .. he intends only his own gain, and he is in
this, as in many other cases, led by an invisible hand to promote an end which
was no part of his intention."
236 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

menschlicher Aberwitz vermessen, in die natürliche, gerechte und gött-


liche Ordnung der Dinge nachbessernd eingreifen zu wollen. Die politische
und polizeiliche Autorität hat lediglich darüber zu wachen, daß im
Inneren die Regeln der korrekten Konkurrenz eingehalten werden und
kein äußerer Feind schädigend in den friedlichen Handel und Wandel
einbricht!. So wird die intentionale Welt auffassung, die im Laufe der
Geschichte schon so vielen Zwecken dienstbar gemacht worden war,
nun für die ideologische Rechtfertigung des wirtschaftlichen Liberalismus
in Anspruch genommen.
Der Gedanke, daß die lVIenschen zum allgemeinen Wohl beitragen,
indem sie ihrem persönlichen Eigennutz dienen, ist in England schon
lange vor Adam Smith in viel radikalerer Form durch Bernard Mandeville
ausgesprochen worden. Dessen bekannte "Bienenfabel" trug in ihrer
zweiten Fassung von 1714 den Untertitel "private vices, public benefits".
Nach seinen eigenen Worten vertritt der Autor die These, daß gerade
die schlechtesten und verabscheuungswürdigsten Eigenschaften der 1\-1en-
sehen sie zur Bildung großer und blühender Gemeinschaften befähigen,
während eine strikte Beobachtung der moralischen Normen der Wohl-
fahrt und Kultur abträglich wäre2 • Das kleine Poem hat seinerzeit wegen
seiner offenbar antimoralischen Tendenz erregte Debatten ausgelöst,
doch ist es im Grunde weit weniger kühn und revolutionär als seine
Kritiker glaubten. Es führt nämlich nur einen Gedanken aus, der in der
Logodizee seit der Spätantike gebräuchlich war. Wie in der Musik die
Schönheit der Harmonie aus dem Widerstreit der Töne entsteht, so führt
das Widerspiel der eigennützigen und lasterhaften Bestrebungen schließ-
lich zur Macht, zum Wohlstand und zur Einigkeit des Ganzen, ja sogar
der Allerschlechteste ist auf diese Weise für das Gemeinwohl tätig. Mit
Hilfe ähnlicher Argumente haben die Anhänger der traditionellen Kosmos-
spekulation die Sünde in die harmonische und ökonomische Ordnung
des Universums einbauen wollen. Während aber die Philosophen und
Kirchenmänner stets darauf bedacht waren, jene Überlegungen auf die
kontemplative Versöhnung mit der Wirklichkeit und den Lobpreis der
göttlichen Allmacht zu beschränken und allen Folgerungen für das
praktische Handeln auszuweichen, zieht Mandeville nicht ohne ein
gewisses Behagen eben diese Konsequenzen. Das hat ihm den Vorwurf
des Zynismus und der Immoralität eingetragen.
Eine so extreme Folgerichtigkeit ist dem späteren klassischen Libera-
lismus ferngelegen, aber auch er fußt auf dem Glauben an die Harmonie
der Einzelinteressen, welche in einer vorgegebenen "wahren" oder "ver-
nünftigen" Wirtschaftsordnung gewährleistet ist. In mannigfaltigen, oft
stark abgeschwächten und zumal in unserem Jahrhundert bis zur Un-
kenntlichkeit hinter "wissenschaftlichen Fassaden verborgenen Formen
wirkt dieser Glaube bis heute nicht nur in der politischen, sondern auch

1 W. HASBACH: Grundlagen, S.154.


2 B.lHANDEVILLE: Bienenfabel, hrsg. v. O. BOBERTAG, München 1914,
S.3.
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 237

in der nationalökonomischen Diskussion mächtig nachl. Sein Kern


besteht in der Annahme, daß eine immanente Vernünftigkeit oder Ratio-
nalität im empirisch wirklichen Wirtschaftsprozeß beschlossen liegt und
sogleich rein hervortritt, wenn man alle störenden Faktoren ausschaltet.
Diese gerechte Wirtschaftsordnung ist ihrerseits in einer gerechten Welt-
ordnung begründet.
Behält also die vom Liberalismus benützte Form der intentionalen
Weltauffassung weitgehend die Einheit von Sein und Sollen bei, so fallen
diese beiden Bereiche in der Kantischen Philosophie weit auseinander,
die viel tiefer in den sozio-kosmischen Traditionen verwurzelt ist, als es
zunächst den Anschein haben möchte. Im gegebenen Rahmen muß es
allerdings genügen, nur die wichtigsten Grundmotive jener Traditionen
in der Lehre des Königs berger Philosophen aufzuweisen. Die oft subtilen
und weitverzweigten Gedankengänge, durch welche Kant sie miteinander
und mit nicht intentionalen Denkformen verbunden hat, bleiben hier
außer Betracht. Die zureichende Klärung dieser Zusammenhänge würde
eine eigene Untersuchung erfordern.
Wie für die traditionelle Philosophie und für das Denken der Auf-
klärung, so gibt es auch für Kant eine gesetzliche Ordnung des Univer-
sums: "Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen2 " - freilich nicht
in gleicher Weise. Während die unvernünftigen Wesen unbewußt den
Naturgesetzen folgen, haben die vernünftigen Wesen das Vermögen,
nach Gesetzen zu handeln, die sie erkennen. Die Fähigkeit, aus den
moralischen Gesetzen Handlungen abzuleiten, nennt Kant die praktische
Vernunft oder den Willen. Ein vollkommener Wille - wie der göttliche -
stimmt immer notwendig mit dem Sittengesetz überein, der menschliche
ist aber auch anderen Antrieben ausgesetzt, so daß ihm das sittliche
Vernunftgesetz als Sollen oder als Imperativ gegenübertreten muß.
Kant glaubt also nicht an ein einheitliches "Weltgesetz" nach Art der
Stoiker, wohl aber an zwei übereinandergelagerte, weitgehend isomorphe
Gesetzesordnungen. Die niedrigere ist der mundus sensibilis der unter
dem physischen Naturgesetz stehenden Sinnendinge, die höhere ist der
mundus intelligibilis, der x.oQ'[.Lo~ V01J't'OC;, welcher durch die unter dem
moralischen Gesetz stehenden Vernunftwesen gebildet wird oder gebildet
werden soll. Die höhere Welt nennt Kant auch das Reich der Zwecke,
da dessen Mitglieder als freie Personen den Anspruch darauf haben,
"niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich
selbst3 " zu gelten. Der Kosmos wird also auf Grund eines Wertkriteriums
gewissermaßen in zwei parallele und in ihrer Struktur einander analoge
Schichten aufgeteilt, ähnlich wie dies schon Platon in der "Politeia"
(vgI. oben S. 128f.) getan hatte. Dabei gilt hier wie dort die Regelmäßigkeit

1 H. ALBERT: Ökonomische Ideologie und politische Theorie, Göttingen


1954, S. 31, 34, 44, 104ff.
2 I. KANT: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Kants Werke, hrsg.
v. d. Kgl. Preuß. Akad. d. Wissenschaften (Akad. Ausg.), Bd. IV, Berlin 1911,
S.412.
3 I. KANT, a. a. 0., S. 433.
238 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

der physischen Welt als Hinweis auf die höhere, die moralische Ordnung,
ja in gewissem Sinne als Modell für sie. Der intelligible Kosmos, das
"Reich der Zwecke ist also nur möglich nach der Analogie mit einem
Reiche der Natur, jenes aber nur nach Maximen, d. i. sich selbst auf-
erlegten Regeln, diese nur nach Gesetzen äußerlich genötigter wirkender
Ursachen!". Die ausnahmslose Gleichmäßigkeit der Naturgesetze ist
das Vorbild für die Allgemeingültigkeit und innere Widerspruchslosigkeit,
die dem moralischen Gesetz eigentümlich sein soll, so daß Kant seinem
kategorischen Imperativ als Regel für die "allgemein einer Naturordnung
ähnliche Gesetzmäßigkeit der Handlungen 2 " auch die folgende Formulie-
rung geben kann: "Handle so, als ob die Maxime deiner Handlungen
durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze (Sperrung von Kant)
werden sollte3 ." Damit nähert sich der Denker doch weitgehend der
Vorstellung einer allgemeinen Gesetzlichkeit, die bloß in zwei verschie-
denen Ausprägungen den phänomenal-physischen Bereich der Sinnenwelt
ebenso beherrscht wie den noumenal-moralischen der Vernunftwelt
und die sich im bestirnten Himmel über uns ebenso manifestiert wie im
Sittengesetz, das aus unserem Innern zu uns spricht4 •
Diese Gedankengänge und die damit zusammenhängenden Wert-
gesichtspunkte besitzen für Kant keineswegs eine bloß periphere Bedeu-
tung. Vielmehr gehören sie zu den Grundthemen seines Philosophierens,
da sie eng mit seinem Ringen um die Sicherung der Erkenntnis und der
Gültigkeit der gesetzlichen Ordnung im physischen und moralischen
Kosmos verbunden sind und als Voraussetzungen bis tief in scheinbar
rein wissenschaftliche und wissenschaftstheoretische Untersuchungen
hineinwirken.
Denn auch das Wissenschaftsideal des Königsberger Denkers war -
ihm selbst gewiß unbewußt - durch Wertungen sozio-kosmischer Her-
kunft mitbestimmt. Dies wird besonders deutlich, wenn man jenes Ideal
von den diesbezüglichen Annahmen David Humes abhebt. Die Kritik
des scharfsinnigen Schotten richtete sich nämlich gegen den "klassischen"
Begriff der Naturgesetzlichkeit, dessen Entwicklung von Descartes bis
Newton bereits oben (S. 224ff.) behandelt wurde. Für ihn gab es keine
"unverbrüchlichen, allgemeingültigen und notwendigen Naturgesetze",
sondern nur empirische Regelmäßigkeiten und Wahrscheinlichkeiten5 .
Humes Argumente bedeuteten allerdings für die konkreten Einsichten
der Einzelwissenschaften in die tatsächlichen Invarianten des Natur-

1 1. KANT, a. a. 0., S. 438.


2 1. KANT, a. a. 0., S. 43l.
3 1. KANT, a. a. 0., S. 42l.
4 Dieser Umstand ist noch immer nicht klar erkannt und gewürdigt.
Manche Einsichten finden sich bei W. SCHINK: Kant und die stoische Ethik,
"Kant-Studien" XVIII (1913), S. 419ff., bes. S. 431ff. SCHINK führt an dieser
Stelle als ein "formales Prinzip, das sich in gewisser Hinsicht mit Kants
kategorischem Imperativ vergleichen läßt", die oben (S. 162) erwähnte und
charakterisierte stoische Telos-Formal an.
S R. REININGER: Kant, seine Anhänger und seine Gegner, München
1923, S. 39f.
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 239

geschehens kaum eine Bedrohung, um so mehr aber für jene Mischformen


von mathematisch.physikalischem Denken und intentionalen Modell-
vorstellungen, nach welchen die "Naturgesetze" als Vorschriften Gottes
oder einer anderen "vernünftigen" Macht den Weltlauf ausnahmslos
bis ins kleinste mit Notwendigkeit bestimmen. Durch derartige An-
schauungen wurde nicht nur die (oft unberechtigte) "Übertragung des
Gesetzesbegriffes der klassischen Mechanik auf andere Wirklichkeits-
gebiete gefördert, sondern auch der Glaube, daß auf der Allgemein-
gültigkeit die eigentliche und gottgegebene Dignität echter Naturgesetze
b.eruhe. Wenngleich bei Kant der sozio·kosmische Hintergrund dieser
"Überzeugungen schon sehr verblaßt ist, so haben sie ihn doch noch ganz
in ihrem Bann gehalten. Es scheint sonst schwer verständlich, daß er
die "Natur" ausdrücklich als "das Dasein der Dinge, sofern es nach
allgemeinen Gesetzen bestimmt ist1", definierte. Infolgedessen mußte er
versuchen, die Allgemeingültigkeit der Naturgesetze, die allein seinem
Wissenschaftsideal entsprach, vor den Einwänden Humes zu retten2 •
Zu diesem Zwecke verlegte er die ausnahmslose Ordnung des Natur-
geschehens aus den Dingen in das Bewußtsein und suchte nachzuweisen,
daß "die oberste Gesetzgebung der Natur in uns selbst, d. i. in unserem
Verstande liegen müsse" und daß "der Verstand seine Gesetze (a priori)
nicht aus der Natur schöpft, sondern sie dieser vorschreibt3 ". Man hat
diese "kopernikanische Wende" oft als revolutionär empfunden, doch
war sie im Grunde nur ein Ausweichmanöver. Die Funktion der Stiftung
einer allgemeinen und notwendigen Gesetzesordnung, die bisher der
kosmische Logos ausgeübt hatte, wurde nun einem nie ganz präzis faß-
baren überindividuellen "Verstande" oder einem "Bewußtsein überhaupt"
zugeschrieben, also Instanzen, deren Herkunft von den älteren Formen
geistiger Gesetzgebungsmächte offenkundig ist'.
Die Unverbrüchlichkeit und Notwendigkeit, die man als letztlich
soziomorphe Prädikate der Naturgesetzlichkeit beigelegt hatte, schienen
also vor dem "härtesten Skeptizismus" gerettet, so daß diese ihrerseits
als Gegenstück einer allgemeingültigen moralischen Gesetzlichkeit
betrachtet werden konnte. So findet sich sogar noch bei Kant ein letzter
Nachklang des uralten soziokosmischen Verfahrens, gesellschaftliche und
moralische Gesichtspunkte in den Naturlauf hineinzulegen und die so
gedeutete "Natur" zirkelhaft wieder mit der Moral und Gesellschaft in
Beziehung zu setzen. Mit diesen soziomorphen Elementen verbindet sich
oft auch das technomorphe Begriffspaar von Form und Stoff, wobei
erstere wie in der antiken Philosophie den Wertvorrang hat. Sie ist es,
die alle Sicherheit, Dauer und Bestimmtheit schafft. Nicht nur der

1 I. KANT: Prolegomena § 14, Akad. Ausg. IV, S.294.


2 I. KANT: Prolegomena § 27, Akad. Ausg. IV, S.31O.
3 1. KANT: Prolegomena § 36, Akad. Ausg. IV, S.319f.
4 über diese Zusammenhänge finden sich in der Literatur höchstens
vereinzelte Bemerkungen, z. B. CH. CAUDWELL: The Crisis in Physics, 3. Aufl.,
London 1950, S. 101: "The mind takes the place of God in earlier philo-
sophers."
240 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

Erkenntnisprozeß wird als "Formung" eines sinnlich gegebenen "Mate-


riales" interpretiert, sondern Kant unterscheidet nach dem Prinzip des
ethisch-kognitiven Parallelismus! auch in der Moraltheorie die reine
"Form" der allgemeinen Gesetzgebung 2 von aller "Materie", das heißt
von allen dinglichen WiIlenszielen und von allen gefühlsmäßigen Neigun-
gen. So tief ist also der Einfluß der intentionalen Weltauffassung auf
die Lehren des Königsberger Philosophen, der darum auch auf die spezi-
fischen Schwierigkeiten jener Weltbetrachtung stoßen mußte.
Auch der kategorische Imperativ, das Grundgesetz des mundus
intelligibilis oder die reine Form allgemeingültiger moralischer Gesetzlich-
keit, gerät wie alle Naturrechtslehren vor die Alternative, entweder eine
nichtssagende Leerformel zu bleiben oder mit beliebigen Normgehalten
erfüllt zu werden. Wo Kant selbst seinen Imperativ anzuwenden versucht,
unterlegt er ihm die Moral seiner Zeit und zumal die der Aufklärung,
wobei eudaimonistische Erwägungen eine größere Rolle spielen, als man
nach der rigoristischen Absage an das Glückseligkeitsprinzip in der
Ethik erwartet hätte3 •
Während dieser Sachverhalt dem Denker gar nicht zu Bewußtsein
gekommen sein dürfte, hat ihn eine andere Unstimmigkeit in seinem
System tief beunruhigt. Wenn nämlich die Erfahrungswelt (zumindest
soweit sie aus Menschen besteht) nach dem Sittengesetz gestaltet und
dadurch der intelligiblen Welt nachgebildet werden soll, so erhebt sich
die Frage, wie dies möglich ist, ohne dem mechanischen Naturgesetz
der Sinnenwelt Abbruch zu tun, dessen Allgemeingültigkeit ja Kant
gegen Hume verteidigt hatte4 • Damit taucht wieder das traditionelle
"Freiheitsproblem" auf, allerdings in etwas veränderter Fassung. Doch
stehen auch hier die bekannten Wertmotive im Hintergrund. Auf der
einen Seite ist die Ausnahmslosigkeit und Notwendigkeit der kausal-
mechanischen Ordnung der gesamten empirischen Wirklichkeit ein-
schließlich der menschlichen Seelenvorgänge das Postulat eines Wissen-
schaftsideals, das - wie schon erwähnt - eng mit der Idee der göttlichen
Allmacht und Volllwmmenheit verbunden ist. Andererseits darf diese

1 H. REICHENBACH : The Rise of Scientific Philosophy, Berkeley 1951, S. flOff.


2 I. KANT: Kritik der praktischen Vernunft, Akad. Ausg. V, S.27.
3 F. JODL: Geschichte 11, 3. Aufl., S. 14. - Die Leerheit des kategorischen
Imperativs erkannte schon F. BRENTANO: Ursprung, Anm. 17: "Der kate-
gorische Imperativ hat zugleich den ... Fehler, daß man, selbst wenn man
ihn zugesteht, schlechterdings zu keinen ethischen Folgerungen gelangt."
Vgl. auch A. Ross: Kritik, S.315, der bemängelt, daß derartige "Formeln
für das Prinzip der Moral entweder völlig leer und nichtssagend sein müssen
oder eingeschmuggelte materi.l;llle ~richtiger: materiale. E. T.) Wertgesichts-
punkte enthalten müssen". Ahnlich H. KELsEN: General Theory of Law
and State, Harvard UP, CambridgejMass., 1945, pp. 9ff.: "That which has
so far been put forth as natural law, or, what amounts to the same thing,
as justice, consists for the most part of empty formulas, like suum cuique,
'to each his own', or meaningless tautologies like the categorical imperative ...
consequentlyall these formulas of justice have the effect of jUBtifying any
positive legal order .....
4 I. KANT: Kritik d. prakt. Vern., Akad. Ausg. V, S.42ff.
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 241

Ordnung nicht g~nz lückenlos sein, wenn der Mensch die Fähigkeit haben
soll, nach dem SIttengesetz zu handeln. So fordert die Ethik für unsere
Willensentscheidungen und Handlungen als sittliche Persönlichkeit die
Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanismus der ganzen Nat~~l",
sie fordert die Möglichkeit einer Normgebung und NormerfüllunO' in einer
durchwegs naturgesetzlieh geordneten Welt 2 • Wie so viele se~er Vor-
gänger hat auch Kant mit den aus dem Widerspruch dieser Forderungen
und der mit ihnen zusammenhängenden Vorstellungen entspringenden
Problemen oder Scheinproblemen gerungen. Die Wege, auf denen er diese
Schwierigkeiten überwinden wollte, sollen hier nicht weiter behandelt
werden. Wesentlich ist nur, daß der Königsberger Philosoph nach seinen
eigenen Worten keine theoretisch befriedigende Lösung finden konnte
und eingestehen mußte, die Vernunft würde alle ihre Grenzen über-
schreiten, wenn sie sich unterfinge, zu erklären, wie Freiheit möglich seP.
Es mag überraschen, ein so starkes Fortwirken der intentionalen
Weltauffassung bei Kant zu finden, der doch als Meister des kritischen
Philosophierens im deutschen Sprachgebiet gilt und selbst heute noch
von manchen Denkern als zu wissenschaftlich abgelehnt wird. Doch ist
die Einsicht, daß die Kantische Metaphysik der Sitten - wie übrigens
auch die der Natur - wesentliche Motive der traditionellen Logos- und
Kosmosspekulation in wenig veränderter Form weiterführt, durchaus
nicht neu: "Das Prinzip der Sittlichkeit als mögliche Allgemeinheit einer
Gesetzgebung ist Welt- und Vernunftgesetz ... die Vernunft kennt kein
Werden; sie ist das Bleibende, Grundwesentliche, im Wechsel Behar-
rende . .. Dies ist das Band, welches die Kantsche Anschauung mit der
Metaphysik des Sittlichen bei Plato, Leibniz, den englischen Intellek-
tualisten und Thomas von Aquino verknüpft; ein kosmischer Rationalis-
mus, der bei aller Verschiedenheit seiner systematischen Gestaltung
immer und überall die Züge der gleichen Weltansicht verrät4 ."

1 1. KANT, a. a. 0., S.87.


a R. REININGER: Kant, S.182. - Welche Vorstellungen auch hier den
Hintergrund des Kantischen Denkens bilden, zeigt H. HEI]\[SOETH: Meta-
physische Motive in der Ausbildung des kritischen Idealismus, "Kant-Studien"
XXIX (1924), S. 155: "So gut wie die Freiheitsantinomie in der arabischen
und christlichen Metaphysik des Mittelalters vor allem den Konflikt zwischen
göttlicher Präszienz und Willkürentscheidung endlich-geschaffener Wesen
im einzelnen Zeitmoment betrifft, so gut wie wiederum bei Fichte nicht der
Gegensatz Freiheit-Naturgesetz, sondern der Konflikt zwischen ewiger
Vorsehung und individueller Freiheitstat die große Spannung erzeugt, aus
der sein Freilieitsidealismus hervorbricht - so gut bezeichnet auch für
Kant die Freilieit eines dependenten, der Präszienz des geistigen Urprinzips
und also einer Prädetermination unterliegenden Weltwesens das eigentliche
und fundamentale Rätsel." Das Sachproblem des Verhältnisses der mensch-
lichen Willenshandlungen und ilirer Normierung zu den faktischen Invarianten
des Weltlaufes, das ja in der Kantischen Fragestellung mitinbegriffen ist,
bleibt natürlich unabhängig von seiner speziellen Formulierung oder Ein-
kleidung in den Denkformen der intentionalen Weltauffassung als legitime
wissenschaftliche Frage bestehen.
3 1. KANT: Grundlegung z. Met. d. Sitten, Akad. Ausg. IV, S.458f.
4 F. JODL: Geschichte II, S.23.

Topitsch, l\Ietaphysik. 16
242 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

Doch diese statische, dem Geschichtsprozeß indifferent gegenüber-


stehende Form des " Weltgesetzes" ist nicht die einzige geblieben. Viel-
mehr hat man auch den Geschichtsverlauf in seinen einzelnen Abschnitten
und in seiner Gesamtheit als Verwirklichung eines wertbestimmten
Planes aufgefaßt. Die unsichtbare Hand der Vorsehung ordnet nicht
nur die Tätigkeiten der Individuen, sondern auch die Geschicke der
Völker auf ein einziges Endziel hin, in dem die Entwicklung der Mensch-
heit gipfelt. Diese Einbeziehung der Geschichte in den Wirkungsbereich
des "zweiten Handlungsschemas" ist zwar implizit bereits mit der stoi-
schen Idee der Allursächlichkeit des Weltlogos gegeben, durchgeführt
hat sie aber erst die jüdisch-christliche Lehre von der Verwirklichung
des göttlichen Heilsplanes im Schicksal der Menschheit!. Trotz Augustinus
und Orosius ist jedoch diese Geschichtstheologie im ganzen Mittelalter
an Bedeutung weit hinter dem statischen Kosmosbild zurückgeblieben.
Auch die Prophetie des Joachim von Fiore, der nach den Epochen des
Alten Bundes oder Gottvaters und des Neuen Bundes oder des Sohnes
die dritte des Heiligen Geistes kommen sah, muß trotz ihrer bedeutsamen
Folgen als Randerscheinung gewertet werden.
Erst im Laufe der Neuzeit setzte sich der Gedanke der providentiellen
Lenkung des Geschichtsprozesses machtvoll durch. Diese Stoßkraft
empfing er aber nicht aus theologischen Überlegungen, sondern aus der
sich seit der Renaissance anbahnenden Dynamik der modernen W el~.
Das politische Moment, das der jüdischen Eschatologie von ihrer Ent-
stehung her anhaftete, wurde von den neuen geistigen und sozialen
Kräften reaktiviert. Dabei ist es zu den vielfäItigsten Verflechtungen
zwischen den überlieferten Modellvorstellungen, dem wissenschaftlich-
technischen Überlegenheitsbewußtsein der Moderne und den Zukunfts-
hoffnungen des anfänglich unterdrückten Bürgertums und später des
Proletariates gekommen. So wurde die Idee des kommenden Gottes-
reiches und des durch die Vorsehung garantierten Endsieges der Gerechten
über die Ungerechten mehr und mehr zur Kampfideologie der jeweils
empordrängenden Gesellschaftsgruppen säkularisiert. Da der Aufstieg
des Bürgertums, der industriellen .Arbeitswelt und der modernen Wissen-
schaft oft auf den Widerstand traditionell-religiös orientierter Instanzen
gestoßen ist, erhielt der aus der Idee des Heilsplanes abgeleitete Fort-
schrittsglaube nicht selten eine ausgesprochen antiklerikale, antichrist-
liche oder überhaupt antireligiöse Färbung. Wenn man aber behauptet,
daß der moderne Fortschrittsgedanke "seinem Ursprung nach christlich,
seiner Tendenz nach anti christlich " ist 2 , so darf man über dieser an sich
richtigen Feststellung nicht vergessen, daß es sich hier letztlich um ein
intentionales Denkschema handelt, welches an sich auch nicht spezifisch
christlich zu nennen ist, sondern eine Leerform darstellt, die mit den
verschiedensten religiösen, weltanschaulichen und politischen Inhalten
erfüllt werden kann und auch tatsächlich erfüllt wurde.
1 K. LÖWITH: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen
Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1953.
2 K. LÖWITH, a. a. 0., S.63.
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 243

Der Wandel vom Vorsehungsbegriff der Geschichtstheologie zum


Fortschrittsglauben der Aufklärung zeichnet sich in Frankreich zwischen
Bossuets "Discours sur l'histoire universelle" (1681) und Voltaires "Essai
sur les moeurs et l'esprit des nations" (1756) deutlich ab, und zwar nicht
zuletzt deshalb, weil Voltaires "Essai" direkt gegen Bossuet gerichtet
ist. Doch es ist ebenso klar zu erkennen, daß der aufgeklärte Philosoph
die traditionellen Modellvorstellungen beibehält.
Bossuet hat in seiner Schrift, die dem Dauphin gewidmet ist, das
Walten der göttlichen Vorsehung in der Geschichte darzustellen versucht.
Sein historischer Horizont ist hauptsächlich durch die Bibel und die
antike Überlieferung bestimmt, so daß die "Universalgeschichte" auf
den europäisch-vorderasiatischen Raum beschränkt bleibt. Innerhalb
dieses Rahmens werden vor allem die Geschicke des jüdischen Volkes,
der christlichen Kirche und der verschiedenen Großreiche berücksichtigt.
Diese Geschicke vereinigen sich zu einem universalhistorischen Prozeß,
indem alle profan-politischen Ereignisse letztlich dem Triumph der
civitas Dei dienen, der für den Bischof von Meaux weitgehend mit dem
irdischen Triumph der Kirche gleichbedeutend ist. Die Macht der Ägypter,
BabyIonier, Assyrer und Perser hat dieses providentielle Ziel vorbereitet,
vor allem aber die Macht Roms, das schließlich zur Hauptstadt des
geistigen Imperiums geworden ist, welches Jesns Christus über die ganze Erde
ausdehnen wolltel. Freilich haben weder die orientalischen Könige, die
das auserwählte Volk bedrängten, noch die römischen Kaiser, die das
Blut der Christen vergossen, darum gewußt, welche Absichten die Vor-
sehung durch ihr Handeln verwirklichte. So ist auch bei Bossuet das
menschliche Tun in ein "zweites, höheres Handlungsschema" eingeordnet.
Unsere Zwecksetzungen dienen unwissentlich einer übermenschlichen
Zwecksetzung: "Es gibt keine menschliche Macht, die nicht gegen ihren
Willen anderen Absichten als ihren eigenen dient. Gott allein weiß alles nach
seinem Willen zu fügen. Deshalb ist alles, auf Einzelursachen hin betrachtet,
überraschend, und nimmt doch im ganzen einen geordneten Verlauf2." Wie
später bei Adam Smith und Hegel, so waltet auch bei Bossuet die "un-
sichtbare Hand", die "List der Vernunft", über und in unserem Handeln.
Den konkreten Inhalt des göttlichen Geschichtsplanes, die so lange
geheimgebliebene Intention der Vorsehung erblickt der fromme Autor
im historischen Erfolg der katholischen Religion. Dadurch trägt seine
Geschichtstheologie einen rückschauend-kontemplativen Charakter. Sie
will nicht eschatologisch die Zukunft vorhersagen, sondern den bereits
errungenen Sieg des Christentums als das Ergebnis providentieller Fügung
verstehen und verklären. Dadurch entgeht sie allen Schwierigkeiten, in die
sich jene Geschichtsphilosophien verstricken, welche Zukunftsprognosen
oder mit solchen Prognosen verbundene Aktionsprogramme geben wollen.
Bossuet kann sich darauf beschränken, die kausalen Zusammenhänge des
Aufstieges der Kirche als finale Zusammenhänge zu interpretieren.

1 BOSSUET: Discours In, 1.


2 BOSSUET: Discours In, 8.

16*
244 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

Wesentlich anders ist die Stellung Voltaires zum Geschichtsverlauf.


Er kennt keinen Heilsplan der göttlichen Vorsehung und ist weit davon
entfernt, den Wertstandpunkt Bossuets zu teilen. Dennoch ist auch
für ihn der historische Prozeß auf ein bestimmtes werthaftes Ziel gerichtet,
und zwar auf ein Reich des Geistes in dieser Welt. Doch ist es nicht der
göttliche, sondern der menschliche Geist, welcher der Geschichte ihr Ziel
und ihre Richtung gibt, indem er sich in ihr fortschreitend entfaltet,
und dieser Geist manifestiert sich nicht in Konfessionen oder Imperien,
in Schlachten oder Dynastien, sondern in der Kulturentwicklung. Für
den Aufklärer ist die wahre Geschichte die der Sitten, der Gesetze, der
Künste, des progres de I'esprit humain. Trotz aIIer Rückschläge setzt
sich die Vernunft langsam aber sicher durch und führt unser Geschlecht
zu immer größerer Vollkommenheit, zu edleren und rationaleren Formen
der Kultur. Mitten in diesem Prozeß sieht sich das Denken der Aufklärung.
Indem es das Dunkel der Unwissenheit, des Aberglaubens und der Vor-
urteile überwindet, bereitet es die lichtere Zukunft des kommenden
Zeitalters der Vernunft vor, und versieht so eine sinnvoIle Funktion im
Rahmen des WeltganzenI.
Eine verwandte Auffassung hat sich Voltaires Zeitgenosse Turgot
zu eigen gemacht, doch hat er das Christentum wegen seines wichtigen
Beitrages zum moralischen und kulturellen Fortschritt der Menschheit
positiver bewertet. Die typische innerweltliche Glücksutopie der Auf-
klärung, der Glaube an die Verwirklichung einer vollendeten liberal-
humanitären Gesellschaftsordnung, bestimmt auch für ihn das Ziel der
Geschichte. Der geschichtliche Fortschritt vollzieht sich allerdings oft
ohne das Wissen und den Willen der Beteiligten, er bedient sich - wie
die göttliche Vorsehung der Geschichtstheologie - oft unserer blinden
Leidenschaften. Gerade diese haben die Menschen geführt, ohne daß
sie wußten, wohin sie gingen. Es ist bezeichnend, daß in diesem Zusammen-
hang Bilder aus der antiken Logodizee auftauchen: "Ich glaube eine
ungeheure Armee zu sehen, deren Bewegungen alle von einem mächtigen
Geist geleitet werden. Beim Anblick der militärischen Feldzeichen, bei
dem wilden Lärm der Trompeten und Trommeln entfalten sich ganze
Schwadronen, selbst die Pferde sind voll sinnlosen Feuers, jede Gruppe
marschiert über die Hindernisse hinweg, ohne zu wissen, worum es
eigentlich geht; nur der Führer übersieht die Wirkung so vieler kom-
binierter Bewegungen. Aber auf diese Weise vermehren die Leiden-
schaften die Ideen, erweitert sich das Wissen und vervollkommnen sich
die Geister, gerade weil die vernünftige Einsicht, deren Tag noch nicht
gekommen war, fehlte 2 ." So verfolgt die planende Macht illre Zwecke

1 E. CASSIRER: Die Philosophie der .Aufklärung, Tübingen 1932, S.288ff.


2 TURGOT: Oeuvres, ed. E. DAIRE-H. DussARD, tom, II., Paris 1844,
S. 632: "Je crois voir une armee immense dont un vaste genie dirige taus
les mouvements. ..A la vue des signaux militaires, au bruit tumultueux des
trompettes et des tambours, les escadrons entiers s'ebranlent, les chevaux
memes sont rempIis d'un feu qui n'a aucun but, chaque partie fait sa route
a travers les obstacles sans connaitre ce qui peut en resulter, le chef seul
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 245

durch das Handeln, aber ohne das Wissen der beteiligten Menschen -
wenigstens so lange, bis diese reif geworden sind, das Ziel der Geschichte
zu begreifen und zum Leitstern ihres Tuns zu machen.
Der Fortschrittsgedanke Voltaires und Turgots wurde von Condorcet,
Saint-Simon und Comte weitergeführt. Besonders in Condorcets 1793
geschriebener "Esquisse d'un tableau historique des progres de l'esprit
humain" trägt der Glaube an die Vervollkommnungsfähigkeit des Men-
schengeschlechtes geradezu religiöse Züge. Dennoch wäre es verfehlt,
die Fortschrittsidee besonders in ihrer westlichen Prägung ausschließlich
als das Ergebnis einer Säkularisierung jüdisch-christlichen religiösen
Gedankengutes zu betrachten. Die Erweiterung der wissenschaftlichen
Kenntnisse, die Verfeinerung der Forschungsmethoden, die immer
erstaunlichere Wirkungsmöglichkeiten erschließende Entwicklung der
Technik, die Heraufkunft des Welthandels und das Enden der Glaubens-
kämpfe spielen hier ebenso mit wie die Erfolge, welche die aufstrebenden
sozialen Gruppen gegen die Verteidiger der bestehenden Ordnung errungen
hatten oder sich von der ,Zukunft erhofften. In diesen Tatsachen besaß
der Fortschrittsglaube eine breite empirische Basis. Je mehr er sich
auf sie bezieht, desto weiter entfernt er sich von den intentionalen Leit-
vorstellungen der Vorsehung oder des Weltplanes und damit von der
Thematik unserer Untersuchung. Ganz konnte er sich jedoch von ihnen
nicht trennen. Noch Comtes Dreistadiengesetz trägt in dieser Hinsicht
einen ausgesprochen zwiespältigen Charakter. Einerseits soll der Fort-
schritt von der theologischen über die metaphysische zur positiven Phase
die Ausschaltung der traditionellen religiös.metaphysischen Vorstellungen
durch die wissenschaftliche Kritik bedeuten, andererseits soll sich derselbe
Fortschritt kraft eines allgemeinen Gesetzes der Universalgeschichte
vollziehen, 'Wie es zwar nicht die positive Wissenschaft, wohl aber die
intentionale Geschichtstheologie kennt. Der ganze Verlauf der Entwick-
lung unseres Geschlechtes ist auf ein werthaftes Ziel bezogen, nämlich
auf die positivistische Menschheitsgesellschaft, und jedes Ereignis hat
in diesem Zusammenhang seine Rolle. Auch die bereits überwundenen
und negativ zu beurteilenden Stadien haben irgendwie zur Erreichung
jenes Endzieles beigetragen. Die Realisierung dieses glücklichen Zu-
standes soll aber nach Comte nicht bloß das Ergebnis eines mit natur-
gesetzlicher Notwendigkeit ablaufenden Prozesses, sondern zugleich auch
die höchste Richtlinie für unser Tun darstellen. Daß man einen notwendig
eintretenden Zustand nicht noch überdies dem politischen Handeln als
Ziel zu setzen braucht, hat der Philosoph allerdings nicht berücksichtigt.
So konnte mit Recht gegen seine Geschichtstheorie eingewendet werden,
daß sein "Fortschrittsgesetz" in konsequenter Formulierung "jede
Politik, auch die positive, völlig überflüssig machen würde!".

voit l'effet de tant de marches combinees: ainsi les passions ont multiplie
les idees, etendu les connaissances, perfectionne les esprits au dMaut de la
raison dont le jour n'etait pas venu ... "
1 A. Ross: Kritik, S. 252.
246 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

Seine letzten, gewaltigsten und auch in den Einzelheiten differenzier-


testen Ausgestaltungen hat der Gedanke des wertgerichteten Weltgesetzes
und insbesondere Geschichtsgesetzes jedoch durch Hegel und Marx
erfahren. Für beide Denker ist die Geschichte die providentiell garantierte
Selbstverwirklichung des wahrhaft Guten, nur in verschiedenem Sinne.
Der Schüler des Tübinger Stiftes sucht die bereits in der Vergangenheit
abgeschlossenen Vorgänge als sinnvoll zu begreifen und den rückschauen-
den Betrachter mit der unleugbaren Brutalität der historischen Fakten
zu versöhnen, wobei er an den traditionellen Sprach- und Denkformen
der kontemplativen Logodizee festhält. Dagegen liegt für den Revolutionär
das Ziel, das der Geschichte ihren Sinn verleiht, in der Zukunft, und er
ruft die Menschen auf, diesen Sinn durch politische Aktion zu verwirk-
lichen. Dabei hüllt er die intentionalen Denkmodelle in das Gewand
moderner Wissenschaftlichkeit, ohne ihren wirklichen Oharakter zu
erkennen und vielleicht erkennen zu wollen. Während Hegel noch ganz
in der Überlieferung der Logosspekulation steht, trägt Marx in vieler
Hinsicht den Januskopf einer Übergangserscheinung.
Man hat mit Recht behauptet, daß Hegel eine panlogistische Theodizee
ergründen wolltel. Die Voraussetzung dieses Problems und Programms
liegt in der Annahme, daß der Weltlogos alles Geschehen durchwaltet,
bestimmt oder sich in ihm verwirklicht, und diese Annahme entspringt
ihrerseits nicht irgendeiner wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern der
durch und durch werthaften Überzeugung, "daß die Vernunft nicht so
unmächtig ist, es nur bis zum Sollen zu bringen2 ". So wirkt auch hier
noch das uralte Postulat des .&e:07tps:7tE~, das jede Schmälerung der gött-
lichen Macht- und Seinsfülle als Majestätsraub erscheinen läßt. Ihm folgt
Hegel, wenn er die Kantische Fassung des Weltgesetzes ablehnt, nach
welcher der mundus intelligibilis vom mundus sensibilis getrennt ist
und diesem als Vorbild und Sollen gegenübersteht. Die Abkehr vom
Kantischen, ethisch motivierten Dualismus, der ihm die konkrete Ganzheit
des Wirklichen zu zerspalten schien, hat Hegel schon in seinen Jugend-
schriften vollzogen, um sich jenem kontemplativen Monismus zuzuwenden,
nach welchem das Gute, Vernünftige und Göttliche den einzigen Urgrund
und die alleinige Substanz alles Seienden darstellt. Der göttliche Geist
ist der absolute Schöpfer des Alls, der in allen Dingen und Ereignissen
unmittelbar gegenwärtig ist, und durch diese Allgegenwart des sich selbst
in der Welt verwirklichenden Geistes wird alles im Universum gut und
vernÜllftigB. Die bekannte These "Was vernünftig ist, das ist wirklich,
und was wirklich ist, das ist vernünftig" folgt also aus der Annahme der
Allmacht und Allursächlichkeit eines Weltprinzips, das der Inbegriff
der Vollkommenheit, also der Güte und Vernunft ist.

1 I. lLJIN: Die Philosophie Hegels als kontemplative Gotteslehre, Bern


1946, S.12.
2 G. W. F. HEGEL: Philosophie der Weltgeschichte, Einleitung. -
Ausg. LAssoN, Bd. VIII/I, Leipzig 1920, S. 4, 8 u. a.
3 I. lLJIN: Hegel, S. 349.
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 247

Die Modellvorstellungen, in denen diese Grundidee ihre Ausprägung


findet, entstammen wie diese einer alten Tradition. Sie sind zum Teil,
wie schon (vgl. oben S. 13f.) gezeigt wurde, nicht intentionalen Charakters,
wobei allerdings auch die ursprünglich biomorphen Leitbilder in stark
spiritualisierter Form auftreten. Eine andere Gruppe ist vom Prozeß
der Selbstreflexion des Bewußtseins entlehnt. Überall dort jedoch, wo
die sinnvolle und zweckmäßige Ordnung der Welt demonstriert werden
soll, setzen sich die intentionalen Leitbilder durch: die schöpferische
Zwecktätigkeit erscheint als die wichtigste Funktion der universellen
Vernunft. Man hat sogar beobachtet, daß das "absolute Wissen" in seiner
Vollendung von Hegel gerade nicht begrifflich, sondern vorstellungshaft
gefaßt wird: als handelnde Person. Vom absoluten Geist sagt Hegel,
daß er sich zu einer freien Schöpfung "entschlösse"!.
Hegel bewegt sich auch durchaus im Kreis der hergebrachten intentio-
nalen Vorstellungen, wenn er im Stil der Herrscherhuldigung den Logos
Kosmokrator preist, die Weltvernunft, die "als unendliche Macht nicht
so unmächtig ist, um es nur bis zum Ideal, bis zum Sollen zu bringen",
so daß stets "das von der ewigen Weisheit Bezweckte, wie auf dem Boden
der Natur, so auf dem Boden des in der Welt wirklichen und tätigen
Geistes - der Geschichte - herausgekommen ist". Der Wille der Vernunft
ist also für Hegel "die absolute Macht, die sich vollführt", und "die
göttliche Vorsehung ist die Weisheit nach unendlicher Macht, welche
ihre Zwecke, d. i. den absoluten, vernünftigen Endzweck der Welt ver-
wirklicht". An einer von besonderem Pathos durchglühten Stelle der
"Rechtsphilosophie"2 treffen wir sogar auf ein hieratisches soziomorphes
Bild, wenn es von den Volksgeistern heißt, daß sie um den Thron des
Weltgeistes als die Voll bringer seiner Verwirklichung und als Zeugen
und Zieraten seiner Herrlichkeit stehen. Der Großkönig thront hier
zwischen seinen Würdenträgern. Wenn man auch derartige Wendungen
rein bildlich auffaßt, so kann doch kein Zweifel daran bestehen, daß
die intentionale Wirksamkeit, das Planen und Zwecksetzen des Weltlogos
und die handelnde Durchführung der Pläne, durchaus ernst gemeint ist.
So führt die Spekulation Hegels zu einem doppelten Handlungsschema,
in welchem das angebliche Handeln des Logos dem des Menschen über-
geordnet wird: "Es sind bei allem, was an historisch Belangvollem
geschieht, zwei Zielsetzungen im Spiele: diejenige, von der das handelnde
Subjekt sich leiten läßt, und diejenige, die der Weltgeist verfolgt3 ."
Damit tauchen die altbekannten Interferenzprobleme der intentio-
nalen Weltbetrachtung wieder vor uns auf. Doch treten sie nicht alle
mit der gleichen Klarheit hervor. Am einfachsten liegen die Dinge in der

1 W. SCHULZ: Das Verhältnis des späten Schelling zu Hegel, "Zeitschrüt


für Philosophische Forschung" VIII (1954), S. 343.
2 HEGEL: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 352. - LAssoN VI,
S.275.
3 TH. LITT: Hegel. Versuch einer kritischen Erneuerung, Heidelberg 1953.
S. 129/30. - Ders.: Die Frage nach dem Sinn der Geschichte, München
1948, S.36.
248 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

Frage des Naturrechtes. Die Stellungnahme Hegels zu einer" Gerechtig-


keit", die im Sinne der Aufklärung oder überhaupt in der Form eines
reinen Sollens von der wirklichen Staats- und Rechtsordnung verschieden
ist und dieser als Maßstab gegenübertritt, ergibt sich aus dem Prinzip
der Einheit des Wirklichen und des Vernünftigen. Es ist nicht Aufgabe
der Philosophie, "den Staat zu belehren, wie er sein soll", sie kann vielmehr
nur zeigen, "wie er, das sittliche Universum, erkannt werden SOlli".
Doch trotz dieses theoretisch-kontemplativen Programms beschränkt
sich der Denker keineswegs auf die Betrachtung der faktisch existierenden
Staaten, sondern setzt ganz unzweideutige Wertungen, wobei er sich
durchaus nicht damit begnügt, alles empirisch ·Wirkliche als vernünftig
zu verklären, sondern kräftig für oder gegen bestimmte politische Strö-
mungen oder Ideale Stellung nimmt. Daher ist auch die verbreitete
Meinung, daß Hegel den Staat schlechthin als irdischen Repräsentanten
der göttlichen Vernunft verherrlicht, unrichtig. Vielmehr kann dieser
durch die verschiedensten störenden Einflüsse "defiguriert"2, der
Idee, die er verkörpern soll, entfremdet werden 3 , es kann das, was
positives Gesetz ist, "in seinem Inhalte noch von dem verschieden sein,
was an sich Recht ist4 ". Die Idee des Staates und das Recht an sich sind
unbestreitbar naturrechtliehe Begriffe. Auch hat sich Hegel in seinen
rechtsphilosophischen Schriften ganz offenkundig vom Ideal eines völkisch-
konservativen, stark obrigkeitlichen Staates leiten lassen; auf Grund
dieser Wertung hat er die politischen Theorien und Programme des auf-
klärerischen Individualismus wenig geschätzt.
Um diese Ergebnisse einer wertenden Entscheidung, einer Anerkennung
oder Ablehnung, mit der These der Identität von Vernunft und Wirklich-
keit in Einklang zu bringen, hat der Philosoph das traditionelle Verfahren
der Differenzierung des Seins- oder Wirklichkeitsbegriffes angewandt.
Nicht alles empirisch Vorhandene "verdient den emphatischen Namen
eines Wirklichen", sondern nur dasjenige, welches der in ihm zu realisie-
renden Idee entspricht; alles übrige ist "Erscheinung", ist bloß "faule
Existenz5 ". So ist "ein schlechter Staat ein solcher, der bloß existiert,
ein kranker Körper existiert auch, aber er hat keine wahrhafte Realität6 ".
Mit dem Eingeständnis, "daß das Dasein zum Teil Erscheinung und nur
zum Teil Wirklichkeit ist 7 ", ist die bekannte Verdoppelung des Seins-
begriffes auf Grund vorausgesetzter Wertgesichtspunkte vollzogen, der
Dualismus alles echten Entscheidens hat den Monismus der Kontempla-
tion durchbrachen. Was den vorgegebenen Wertungen und Idealen ent-

1 HEGEL: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vorrede. - LASSON VI,


S.15.
2 HEGEL, a. a. 0., § 258 Zus. - LASSON VI, S.349.
3 TH. LITT: Hegel, S. 114.
4 HE GEL, a. a. 0., § 212. -
LASSON VI, S.172.
5 HEGEL: Encyclopädie der philosophischen ·WIssenschaften, § 6. -
LASSON V, S.36f.
6 HEGEL: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 270 Zus. - LASSON VI,
S.354.
7 HEGEL: Encyc10pädie § 6. - LASSON V, S.37.
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 249

spricht, wird als das "wahre Sein" hingestellt, allein es bildet nur mehr
einen Ausschnitt aus der Fülle des faktisch Vorhandenen. Doch dieses
an sich so fragwürdige Verfahren bietet dem Philosophen eine doppelte
Möglichkeit. Er kann seine eigene Wertposition mit der "wahrhaften
Realität" identifizieren und ihr dadurch den Schein einer absoluten,
von allem menschlichen "Meinen" verschiedenen Gültigkeit geben, wie
dies die expliziten und impliziten Naturrechtstheorien tun. Er kann aber
auch das Wertwidrige als "Nichtseiendes" ansprechen und dadurch den
Weltlogos von der Verantwortung für dieses befreien.
Jede Philosophie, die das Vernünftige und Gute als die einzige Macht,
Ursache und Substanz des Alls betrachtet, muß sich mit dem Problem
der Logodizee auseinandersetzen. Auch Hegel hat dies immer wieder
getan, doch ist er über die seit der Spätantike üblichen Argumentationen
im Grundsätzlichen nicht hinausgekommen. Wie schon angedeutet,
bedient er sich gerne der Verdoppelung des Seinbegriffes; um die "wahre
Wirklichkeit" des Wertwidrigen zu leugnen und es im Sinne der Priva-
tionstheorie als bloßen Mangel an Vollkommenheit oder als etwas Äußer-
liches und Nebensächliches abzutun. Allerdings konnte der Versuch, die
Wertirrationalität der Erfahrungswelt auf diesem Wege zu überwinden,
bei Hegel ebensowenig erfolgreich sein wie bei seinen Vorgängern. Die
grundsätzliche Schwäche dieses Verfahrens hat Iwan Iljin mit großer
Prägnanz gekennzeichnet: "Die philosophische Absage an die sinnlich-
empirische Welt ändert am Gegenstand nichts; sie modifiziert und entstellt
bloß die Urteile über diesen Gegenstand. Die spekulative Aburteilung, der
philosophische Ostrazismus bleibt ohne jeglichen realen Einfluß auf die
Natur und auf die Welt1." Wenn es aber nicht gelingt, das wertwidrige
Element in der empirischen Welt zu "streichen", dann ist es unvermeidbar,
daß sich der Dualismus der Wertung und Entscheidung zumindest in
verkappter Form wieder durchsetzt2 • An anderen Stellen vertritt Hegel
die These von der Notwendigkeit des Bösen, das ein unumgängliches
negatives Moment in der dialektischen Selbstentfaltung des Geistes
darstellen so1l3. Doch damit gerät er in andere Schwierigkeiten. Es ist
zumindest problematisch, wie diese Notwendigkeit mit der Güte, Ver-
nünftigkeit und Vollkommenheit des Weltprinzips vereinbar ist, ja man
kann sogar von einer weitverbreiteten Auffassung des &e:07tpe:7tE<; her
jenem zwiespältigen, in innerem Ringen werdenden und sich entfaltenden
Geist die Würde wahrer Göttlichkeit absprechen4 • Ferner ergibt sich die
Konsequenz, daß in diesem Falle der Mensch für das Böse, das er wirkt,
nicht verantwortlich gemacht werden kann. Ihr hat Hegel wie so mancher
Denker seit der Spätantike ausweichen wollen. Zwar liegt das Böse für
ihn im Begriff und ist daher notwendig, aber die Entschließung zum Bösen
ist des Menschen eigenes Tun, "das Tun seiner Freiheit und seiner Schuld",

1 I. ILJIN: Hegel, S. 353. - Sperrungen im Original.


2 I. ILJIN, a. a. 0., S. 357f.
3 F. BILLICSICH: Das Problem des "übels, Bd. H., Wien 1952, S.340f.
4 I. ILJIN, a. a. 0., S. 381.
250 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

denn er muß es nicht wollenI. Eine befriedigende Auflösung dieses offen-


kundigen Widerspruches wird jedoch nicht gegeben. Wenn nämlich
Hegel nicht das Tun des Bösen als solches, sondern nur das Verharren
in diesem als schuldhaft bezeichnet 2 , so ist damit das Problem nicht
gelöst, sondern nur verschoben.
Den bekanntesten Versuch, die angebliche Allmacht des Weltlogos
mit der Wertirrationalität des Menschengeschickes zu vereinbaren, hat
der Denker in seiner "Philosophie der Weltgeschichte" unternommen,
die er in der Vorrede ausdrücklich "eine Theodizee, eine Rechtfertigung
Gottes" nennt. Das Übel in der Welt und vor allem das Böse soll" begriffen,
der denkende Geist mit dem Negativen versöhnt werden". Diese Aus-
söhnung ist "nur durch die Erkenntnis des Affirmativen" zu erreichen,
"in welchem jenes Negative zu einem Untergeordneten und Überwundenen
verschwindet", und diese Erkenntnis vermag "das Übel gegenüber der
absoluten Macht der Vernunft begreiflich zu machen". Freilich geschieht
auch hier die Rechtfertigung der göttlichen Vernunft auf Kosten ihrer
Vollkommenheit. Wenn Hegel den Geschichtsprozeß als Selbstbewußt-
werden, Selbstverwirklichung und Selbstbefreiung des Geistes versteht,
dann haben wir es abermals nicht mehr mit der absoluten Herrlichkeit
eines Logos Kosmokrator zu tun, sondern mit einem noch unvollkom-
menen, in der Geschichte erst werdenden Gott. Wenn es ferner notwendig
ist, "das Edelste und Schönste auf dem Altar der Weltgeschichte zu
opfern3 ", um jenes erhabene Endziel zu erreichen, so erscheint der be-
kannte Doppeleinwand unausweichlich, daß dann die Vernunft so ohn-
mächtig ist, an vorgegebene und unveränderliche Mittel gebunden zu
sein, und daß sie daher oft nicht anders kann, als in moralisch fragwürdiger
Weise die Mittel durch die Zwecke zu heiligen. Der Konflikt von Ethik
und Theodizee ist wieder aufgebrochen.
Wie Hegel in dieser Hinsicht den Traditionen der hellenistisch-orienta-
lischen und später christlichen Logosspekulation folgt, so tut er es auch
betreffs des Interferenzproblems zwischen dem Handeln des Menschen
und dem des "Weltgeistes". Wie die Vorsehung der älteren Denker, das
Fortschrittsprinzip Turgots oder die "unsichtbare Hand" bei Adam
Smith verwirklicht die Weltvernunft Hegels ihre Zwecke durch die
Entschlüsse und Taten der geschichtlich Handelnden, doch ohne deren
Wissen4 • Diese Lehre von der "List der Vernunft", nach welcher das
menschliche Subjekt "in Wahrheit als Vollzugs organ einer Instanz agiert,
von deren Vorhandensein und deren Absichten es nichts ahnt5 ", ist
mehrfach als Entwürdigung des Individuums kritisiert worden. Hier
soll sie bloß in ihrer gedanklichen Struktur analysiert werden.

I HEGEL: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 139 Zus. - LASSON


VI, S.322.
2 F. BILLICSICH: Übel, S.34lf.
3 HEGEL: Phil. d. Weltgesch., Einleitung. - LASSON VIII/I, S. 24f.
4 HEGEL, a. a. 0., S. 74ff., bes. S.83. - Grundlinien d. Phil. d. Rechts,
§§ 344, 348. - LASSON VI, S.272, 274.
5 TH. LITT: Hegel, S. 130.
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 251

Für das Verhältnis jenes zweiten Handlungsschemas zum ursprüng-


lichen menschlichen Handeln ist es wesentlich, daß Hegels geschichtliche
Teleologie nicht in die Zukunft gerichtet ist, daß sie weder sagen will,
was sein wird, noch, was sein soll. Ernst Troeltsch hat mit Recht betont!,
"daß die Dialektik Hegels sich mit innerer Notwendigkeit auf den Stand-
punkt der prinzipiell vollendeten Entwicklung stellen mußte", daß seine
Methode "nur auf die geistige Durchdringung des schon Bekannten
anwendbar ist" und für ihre Anwendbarkeit "die Zeit des Begreifens
an die Stelle des schaffenden HandeIns getreten sein muß". So will und
kann die Geschichtsphilosophie nur das bereits Geschehene und end-
gültig Entschiedene "rechtfertigen und verklären", indem sie aufzeigt,
daß das Wertvolle und "Substantielle" schließlich erfolgreich und das
endgültig Erfolgreiche wahrhaft wertvoll und vernünftig ist. Die Frag-
würdigkeit dieser Koinzidenz liegt nun darin, daß der geschichtliche
Erfolg als Kriterium ebenso eindeutig und massiv ist wie die "Vernünftig-
keit" oder "Freiheit" unbestimmt und problematisch. So ist der Erfolg
zunächst der sichere Erkenntnisgrund, in letzter Konsequenz aber die
allein maßgebende Instanz dafür, was als wertvoll, als Fortschritt der
Freiheit, als Selbstverwirklichung des Geistes oder als Wahrspruch des
Weltgerichtes, das die Weltgeschichte angeblich darstellt, gelten soll.
Ein ihm gegenüber selbständiger Maßstab kann folgerichtigerweise gar
nicht existieren, da sonst die Möglichkeit bestünde, daß das "Vernünftige"
endgültig unterliegt, was mit der postulierten und vorausgesetzten Ver-
nünftigkeit der Welt unvereinbar wäre. So erzwingt schließlich das
Postulat der Identität von Wirklichkeit und Vernunft in der Geschichte
die Definition des Wertes durch den Erfolg 2 • Abermals hat die kontempla-
tive Logodizee den Sieg über entgegenstehende moralische Gesichts-
punkte davongetragen. Doch hat Hegel ganz im Sinne der Tradition
sich darauf beschränkt, die bereits in der Vergangenheit geschehenen
Leiden und Frevel auf diese Weise zu verklären und den Betrachter mit
ihnen zu versöhnen. Die dabei verwendeten Argumente auf zukünftiges
Handeln anzuwenden und mit ihrer Hilfe jede Verletzung ethischer
Normen im voraus zu entschuldigen, ist ihm ferngelegen. Es wäre daher
irrig, Hegel einer aktivistisch in die Zukunft gerichteten "Erfolgsanbetung"
und eines damit verbundenen "Nihilismus" zu bezichtigen.
Wenn man die Definition des Wertes durch den Erfolg auf die Zukunft
anwendet, ergibt sich eine weitere Schwierigkeit. Diese Definition ist
nämlich für den Handelnden, der den Enderfolg noch nicht wissen kann
und unter Umständen über ihn mitentscheidet, ebenso leer wie die Vor-
stellung von der List der Vernunft, die gleichfalls das jeweilige Resultat
schon voraussetzt. Dies zeigt sich besonders deutlich bei der Beurteilung
der historischen Individuen durch Hegel. Ob beispielsweise ein Mann

1 E. TROELTSCH: Der Historismus und seine Probleme, Ges. Schriften,


Bd. Ur., Tübingen 1922, S. 333f., 254ff.
2 E. TOPITSCH: Der Historismus und seine Überwindung, "Wiener Zeit-
schrift f. Philosophie, Psychologie, Pädagogik" IVj2 (1952), S. 111.
252 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

als echter Träger der weltgeschichtlichen Teleologie gelten soll, in dessen


Willen "der verborgene Geist an die Gegenwart pocht", oder als bloßer
Abenteurer, der an irgend welchen "Einbildungen und sogenannten
Idealen" leidet, kann nur vom Enderfolg her festgestellt werden. Für
ihn selbst als Handelnden und für seine Mitwelt besagen solche Ausdrücke
ebensowenig wie die Wendungen, daß die echten Geschäftsführer des
Weltgeistes "aussprechen, was an der Zeit ist'~, "das absolute Recht auf
ihrer Seite haben", daß "ihnen zu widerstreben ein ohnmächtiges Unter-
fangen ist" und daß die von ihnen bekämpften Zustände bloß "gleißende
Ohnmacht sind, welche die Wirklichkeit zu sein nur scheinen!". Daher
kann der handelnde Mensch nur ohne Rücksicht auf die Weltvernumt
das tun, was ihm richtig erscheint, er kann nur werten, Entschlüsse fassen
und Risken auf sich nehmen, und muß es dem Philosophen überlassen,
die schließlichen Ergebnisse abzuwarten und sie nachträglich als sub-
stantiell wertvoll oder als Zwecke der Vernunft zu verklären.
So ist das zweite Handlungsschema, die Zwecksetzung des Weltlogos
oder 'werthafte Teleologie der Geschichte, hier wie immer vom Standpunkt
des Handelns in jeder Hinsicht leer; vom Standpunkt rückschauender
Kontemplation (für die es ja kein Entscheiden mehr gibt) kann die
Einheit von Vernunft und Wirklichkeit dadurch erreicht werden, daß
man die vorliegenden Endresultate - gerade weil und insofern sie end-
gültig sind - positiv bewertet und möglichst in eine teleologische Ordnung
zu bringen sucht, die infolge des Mangels an hinreichend genauen Kriterien
auf diesem Gebiete schwer zu beweisen, aber auch schwer zu widerlegen ist.
Doch schimmert bei Hegel manchmal auch die Möglichkeit durch,
daß die Zukunftspläne des Logos wenigstens nicht grundsätzlich unerkenn-
bar sind, etwa wenn er sagt, daß es die weltgeschichtlichen Persönlich-
keiten sind, die "nicht ein Eingebildetes, Vermeintes, sondern ein Rich-
tiges und Notwendiges gewollt und vollbracht haben, die es wissen,
was an der Zeit, was notwendig, was im Inneren schon vorhanden ist 2 ".
Dieser Gedanke bildet den Angelpunkt der Wendung von Hegel zu Marx,
der Wendung von der rückschauenden Betrachtung zur Prophetie und
Aktion. Der revolutionäre Denker will die "List der Vernunft" aufdecken.
Die "stets durch das Bewußtsein von Menschen verlaufende, aber ihnen
unbewußt gebliebene Gesetzlichkeit3 " soll bewußt gemacht werden und
das Handeln im Sinne der providentiell notwendigen Verwirklichung
des an sich Guten leiten. Marx will also keineswegs mittels des ,;Welt-
gesetzes" nur die Vergangenheit erklären und verklären, sondern vor
allem bestimmen, was kommen soll, kommen wird und kommen muß.
Er will aus dem Geschichtslauf letzte Direktiven und Garantien für
menschliche Entscheidungen gewinnen.
Wie Marx die kontemplative Logodizee Hegels zu einer politisch-
ökonomischen Ideologie umgestaltet hat, nach welcher ein geschichtliches

1 REGEL: Phil. d. Weltgesch., Einleitung. - LASSON VIII/I, S. 76f.


2 REGEL, a. a. 0., S. 76.
3 M. ADLER: Marx als Denker, 2. AufI., 'Wien 1922, S.72.
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 253

Gesetz dem von einem revolutionären Naturrecht geleiteten Handeln


den Erfolg verbürgt, geht aus seinen Jugendschriften hervor. Das Kern-
stück der Logosspekulation, die Einheit von Sein und Wert, von Vernunft
und Wirklichkeit, hat schon der Berliner Student aus dem Erbe des
großen Philosophen übernommen. Schon in dem bekannten Brief vom
10. November 1837 schreibt er an seinen Vater, daß der "Gegensatz
des Wirklichen und Sollenden, der dem Idealismus (offenbar ist der
Kantianismus gemeint) eigen" ist, ihn störel . Statt einer solchen Trennung
muß das Objekt selbst in seiner Entwicklung belauscht werden, man
darf keine willkürlichen Einteilungen in dieses hineintragen, die Vernunft
des Dinges selbst muß als ein in sich -widerstreitendes fortrollen und in
sich die Einheit finden.
Drei Jahre später ist der Punkt erreicht, an dem sich der Weg des
jungen Denkers vom Wege seines Meisters trennt: die Wendung zur
Praxis. In der Doktordissertation von 1840 drängt sich dem zweiund-
zwanzigjährigen Marx die Frage auf, ob nach einer totalen Philosophie
wie der Hegels überhaupt noch Menschen leben können, und er findet
die entscheidende Antwort: "Es ist ein psychologisches Gesetz, daß der
in sich frei gewordene theoretische Geist zur praktischen Energie wird,
als Wille aus dem Schattenreiche des Amenthes hervortretend, sich
gegen die weltliche, ohne ihn vorhandene Wirklichkeit kehrt2 ." Indem
sich aber die Philosophie als Wille gegen die existierende Wirklichkeit
wendet, ist die innere Selbstgenügsamkeit und Abrundung des geschlos-
senen monistischen Systems gebrochen, Sein und Sollen sind wieder
auseinandergetreten. Nun gilt es, das Sollen nicht einem beliebigen
Meinen preiszugeben, sondern es als notwendiges Moment der Gesamt-
entwicklung zu begreifen.
Diese Aufgabe sucht Marx abermals im Anschluß an Hegel zu lösen,
der ja mit äußerstem Sarkasmus über die "Absichten, Zwecke, Meinungen
und sogenannten Ideale" weltverbessernder Utopisten spottet, aber die
großen Männer der Geschichte als Geschäftsträger und Werkzeuge des
Weltgeistes anerkennt, in deren Werken "der verborgene Geist an die
Gegenwart pocht" und die "sich der Ohnmacht dessen bewußt sind, was
gegenwärtig noch ist, noch gleißt, aber die Wirklichkeit zu sein nur
scheint". Während aber der kontemplative Philosoph diese Gedanken
nur auf die Umwälzungen in der Vergangenheit bezieht, wendet der
junge Revolutionär sie aktivistisch auf die Zukunft an. Er will wissen,
was für ihn und seine Zeit nur mehr "scheinbare und faule Wirklichkeit"
ist und an welcher Stelle der "verborgene Geist an die Gegenwart pocht" -
an die Gegenwart der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Er
will ergründen, was der nächste notwendige Schritt der Weltvernunft
sein wird, und diesen Schritt bewußt vollziehen, dergestalt das Wissen
des Philosophen und die Tat des weltgeschichtlichen Individuums, die

1 K. MARX: Der historische Materialismus. Die Frühschriften, hrsg. v.


S. LANDSHUT u. J. P. MAYER, Leipzig 1932 (Kröners TA 91/92), Bd. I, S. 3.
2. K. MARX, a. a. 0., S. 16.
254 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

bei Hegel voneinander getrennt waren, in seiner Person vereinigend


und sich zum unwiderstehlichen Träger des Ganges der Vorsehung
machend. Er glaubt, finden zu können, "was an der Zeit, was notwendig,
was im Inneren schon vorhanden ist". So schreibt er im September 1843
an Ruge: "Die Vernunft hat immer existiert, nur nicht immer in der
vernünftigen Form. Der Kritiker kann also an jede Fonn des theoretischen
und praktischen Bewußtseins anknüpfen und aus den eigenen Formen
der existierenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen
und ihren Endzweck entwickeln!." Marx folgt hier ganz dem intentio-
nalen Denkschema, nach welchem die vollentwickelte und vollkommene
Normgestalt bereits "potentiell" in dem noch unentwickelten und unvoll-
kommenen Wesen vorhanden ist und aus diesem durch sorgfältig ein-
fühlende Betrachtung herausgelesen werden kann. Damit bewegt er sich
aber ganz in den Bahnen des traditionellen Naturrechtes.
Fernerhin kann man die von Marx vorgenommene Unterscheidung
zwischen der Vernunft und ihrer spezifisch "vernünftigen" Form, zwischen
der "existierenden" und "wahren" Wirklichkeit als klassische Beispiele
der für die intentionale Weltauffassung so charakteristischen Verdop-
pelung von Seinsbegriffen auf Grund vorausgesetzter Wertgesichtspunkte
betrachten. Diese Verdoppelung erlaubt es ja, die Einheit des Wirk-
lichen und Vernünftigen aufrechtzuerhalten und zugleich doch das Wert-
widrige als privative oder defiziente Ausprägung des Realen und Ratio-
nalen von dessen vollwertiger Ausprägung zu unterscheiden. Sie erlaubt
überdies, in naturrechtlichem Sinne ein Sollen aus dem Sein zu entwickeln.
Sofern Marx das letztere Ziel verfolgt, bedient er sich der gleichen
typischen Zirkelschlüsse, die in der Tradition des Naturrechtes durch
Jahrlausende gebraucht worden sind. Erst wird mit Hilfe eines bestimm-
ten Wertkriteriums die "wahre" Wirklichkeit, Vernunft oder Natur aus
der Fülle des "bloß empirisch" Existierenden hervorgehoben und dann
leitet man aus dem so geschaffenen Begriff des "wahren" Seins die
jeweils schon vorausgesetzten Wertmaßstäbe wieder ab 2 •
Die naturrechtIichen Grundlagen der marxistischen Geschichts-
philosophie sind allerdings zum Teil dadurch verdeckt, daß ihr Schöpfer
alles Moralisieren verachtet und seine Ethik als objektive Seinsgesetzlich-
keit darzustellen sucht. Indessen haben seine Anhänger wie seine Gegner
längst erkannt, daß Marx ganz in der Art der Naturrechtslehrer die
historischen Tatsachen nach einem vorausgesetzten Wertstandpunkt
deutet, und zwar nach der Vorstellung einer normativen "wahren Men-
schennatur" , einer "im voraus sicheren Idee der Bestimmung des Men-
schen3 ". Die Klassengesellschaft ist zu verurteilen, weil sie es dem
Menschen unmöglich macht, so zu sein, wie er sein soll. Diese normative

1 K. MARX, a. a. 0., S.225.


2 Über den Marxismus als Naturrechtslehre vgl. H. KELSEN: The Com-
munist Theory of Law, New York 1955, S.20.
3 S. LANDSHUT U. J. P. MAYER im Vorwort zu K. MARX: Frühschriften,
S. XXXIIf. - H. BARTH: Wahrheit und Ideologie, Zürich 1945, S. 112ff.,
174ff. - S. MARCK: Hegelianismus und Marxismus, Berlin 1922, S. 24ff.
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 255

Idee bleibt aber keine bloße ethische Forderung, sondern sie wird der
Geschichte als Endzweck unterlegt. Besteht für Hegel der Sinn der
Weltgeschichte in der Selbstverwirklichung und Selbstbefreiung des
Geistes, so liegt er für den atheistischen Humanismus des Feuerbach-
Schülers in der Verwirklichung des "totalen", des "tiefallsinnigen"
Menschen, in seiner Befreiung von der "fremden Macht", den verdinglich-
ten Produktionsverhältnissen. Die "Selbstentfremdung" des Menschen
in der arbeitsteiligen Gesellschaft, durch die er der Herrschaft eines
unpersönlichen, "entmenschlichenden" Wirtschaftsmechanismus ver-
fällt, findet mit "gesetzlicher Notwendigkeit" ihr Ende, und gerade die
äußerste Not der "Ware Mensch", des Proletariers, ist das Vorzeichen
oder die Vorbedingung des dialektischen Umschlages zur restitutio
hominis in der sozialistischen Zukunftsgesellschaftl . Diese humanistische
Logodizee durchdringt und bestimmt das marxistische Den1mn auch dort,
wo scheinbar nur ökonomische Tatsachenfragen behandelt werden2 •
Daß diese Lehre von der Selbstentfremdung und ihrer unausweich-
lichen Selbstaufhebung, die man auch paradox als determinierte Auf-
hebung des Determinismus bezeichnen könnte, den gnostischen V 01'-
stellungen vom Abfall und der Erlösung nähersteht als einer Kausal-
gesetzlichkeit im modernen Sinne, ist schon oft genug hervorgehoben
worden. Das nächste Ziel unserer Analyse liegt aber in einer noch grund-
sätzlicheren Tiefenschicht der "politischen Theologie", nämlich in dem
Problemkomplex, der sich aus der Annahme der Einheit des Naturrechtes
mit seiner Garantie durch ein teleologisches "Geschichtsgesetz" ergibt.
Die schlechthin kardinale Bedeutung dieses Kernstückes aller politischen
Lehren von dem in der Geschichte waltenden Logos zeigt sich darin, daß
es immer wieder zum Unterscheidungsmerkmal des echten Marxismus
von allen anderen materialistischen und sozialistischen Doktrinen, aber
auch von der sogenannten bürgerlichen Wissenschaft geworden ist. Doch
tritt die Logodizee im historischen Materialismus nicht mehr in ihrer
traditionellen Gestalt auf. Sie wird vielmehr mit der Kausalordnung
vermengt, ohne dabei jedoch ihre grundlegende ideologische Funktion
aufzugeben, nämlich bestimmte Ziele und Ideale zu legitimieren und deren
Verwirklichung wenigstens scheinbar zu garantieren. So entsteht ein
chimairenhaftes Gebilde aus Kausalität, Teleologie und Naturrecht, dem
wir nun immer wieder begegnen werden.
In dieser Form, die seinen außerwissenschaftlichen Charakter not-
dürftig verbirgt, ist das wertrationale Geschichtsgesetz zum eigentlichen
marxistischen Zentraldogma geworden. An ihm scheidet sich der "wissen-
schaftliche" Sozialismus von der sogenannten sozialistischen Utopie
und dem mechanistischen Materialismus ebenso wie vom philosophischen
Idealismus. Bei den Utopisten und Mechanisten fehlt der Gedanke eines

1 G. LUKAcs: Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923, S. 151 ff.,


156, 181 u. a.
2 Z. B. in der Lehre vom Mehrwert, vgl. W. THEIMER: Der Marxismus,
Bern 1950, S. 16lff.
256 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

geschichtlichen Heilsplanes, während er bei Hegel noch ein unverhüllt


metaphysisches Gepräge trägt.
Sofern Marx den Frühsozialisten vorwirft, ihre Reformpläne und
idealen Gesellschaftsordnungen ohne gründliche Kenntnis der ökonomi-
schen Verhältnisse zu erträumen, hat er zweifellos nicht unrecht. Doch
der tiefere Grund seiner Ablehnung liegt nicht darin, daß jene von ihm
abschätzig als Utopisten gekennzeichneten Denker nur ungenügendes
empirisches Wissen besitzen, sondern darin, daß sie ihre Entwürfe und
Ziele "im eigenen Kopfe suchen", statt sich "zum Organ der historischen
Bewegung zu machen", indem sie die Anweisungen und Richtlinien für
ihr Handeln den "Tendenzen" der "geschichtlichen Selbsttätigkeit" ent-
nehmen. In seiner Streitschrift gegen Vogt bezeichnet Marx es als den
Hauptgedanken des Kommunistischen Manifestes, daß es darlegen
sollte, "wie es sich nicht um die Durchführung irgendeines utopistischen
Systems handle, sondern um die selbstbewußte Teilnahme an dem unter
unseren Augen vor sich gehenden Umwälzungsprozesse der Gesellschaft!".
Ganz analog erblickt Engels die "Entwicklung des Sozialismus von der
Utopie zur Wissenschaft" darin, daß die marxistische Theorie nicht mehr
wie die älteren Naturrechtslehren als "Ausdruck der absoluten Wahrheit,
Vernunft und Gerechtigkeit" auftritt, sondern als moderner Materialismus
die Bewegungsgesetze des geschichtlichen Entwicklungsprozesses der
Menschheit entdecken will und entdeckt hat. In dieser neuen, historisch-
dynamischen Auffassung besteht für ihn auch die grundsätzliche Über-
legenheit seiner Lehre über den bloß mechanischen Materialismus des
achtzehnten Jahrhunderts wie über den der Büchner, Vogt und Mole-
schott, die er verächtlich als "vulgarisierende Hausierer" abtut 2 • Daß
sich der bisherige Materialismus in objektiver Anschauung erschöpfte
und keine Beziehung zur Tätigkeit besaß, wodurch die Entwicklung
der praktischen Seite dem Idealismus zufiel, hatte Marx schon in seiner
ersten These gegen Feuerbach bemängelt. Dennoch bildet die materia-
listische Kausalität einen notwendigen Bestandteil des Marxismus, da
nur sie seinen intentionalen, naturrechtlichen und teleologischen Grund-
charakter "wissenschaftlich" verbrämen kann.
Wo dagegen die Einheit von Moral und Weltplan unverhüllt auftritt,
verfällt sie einer beißenden Kritik. In der Kampfschrift "Das Elend der
Philosophie" wird Proudhon von Marx verspottet, weil er sein ethisch-
politisches Ideal, die Gleichheit, dem Geschichtslauf unterschoben hat:
"Mit einem Wort, die Gleichheit ist die ursprüngliche Absicht, die mystische
Tendenz, das providentielle Ziel, welches der Genius der Gesellschaft
ständig vor Augen hat ... Daher ist auch die Vorsehung die Lokomotive,
die das ökonomische Rüstzeug des Herrn Proudhon besser in Gang
bringt als seine luftige, reine Vernunft ... Vorsehung, providentielles
Ziel, das ist das große Wort, dessen man sich heute bedient, um den Gang

1 K. MARX: Herr Vogt, Neuausg. Moskau 1941, S.58.


2 F. ENGELS: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deut-
schen Philosophie, Ausg. Berlin 1946, S. 21, 23.
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 257

der Geschichte zu erklärenl ." Man könnte diesen Angriff Wort für Wort
auf seinen Urheber zurückfallen lassen, der ja die gleichen Denkmodelle
gebraucht - bloß mit dem Unterschied, daß bei ihm die ökonomische
Gesetzlichkeit die Funktionen der Moral und der Vorsehung übernommen
hat. Bei Nikolai Berdiajew findet sich die feinsinnige Bemerkung, daß
der Marxismus die Materie spiritualisiere und gezwungen sei, an den
Logos des Stoffes, an seinen in dem materiellen Produktionsprozeß sich
offenbarenden Sinn zu glauben2 • Man muß diese Erkenntnis aber noch
schärfer fassen: der historische Materialismus ist seinem tiefsten Wesen
nach Logodizee, Auffassung der Geschichte als Selbstverwirklichung der
wahren Gerechtigkeit, während Materie und naturwissenschaftliche
Kausalität nur die Fassade bilden.
So will Marx aus den verschiedenen "Gesetzen" jene Elemente aus-
wählen, die seinen Zwecken entsprechen, und die übrigen abstoßen. Er
will die ethischen Forderungen des Naturrechtes, aber nicht als bloßes
Sollen - die Garantien des vorsehungshaften Weltplanes, aber nicht als
theologisch-metaphysische Spekulationen - die "Unverbrüchlichkeit"
der materiellen Kausalordnung, wie er und seine Zeitgenossen sie ver-
standen, aber nicht als wertneutrale Regelmäßigkeit. Bei diesem Ver-
fahren mußten sich zahlreiche Schwierigkeiten ergeben, die alle irgendwie
in der Problematik des Handelns und des Wertens wurzeln und, wenn
auch manchmal auf verschlungenen Wegen, wieder zu ihr zurückführen.
Diese Schwierigkeiten haben sich in der gesamten Geschichte des
Marxismus gezeigt, und zwar in den Fragen der praktischen Aktion
ebenso wie in der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Idealismus
kantianischer Prägung und dem Positivismus. Bereits Lassalle, der an
Fichte geschult war, hat in einer brieflichen Diskussion, die er mit Marx
und Engels über sein Sickingen-Drama führte, die Hauptschwierigkeit
der Vorstellung eines "Geschichtsgesetzes" aufgezeigt: "Aber diese
kritisch-philosophische Geschichtsanschauung, in der sich eherne Not-
wendigkeit an Notwendigkeit knüpft, und die eben deshalb auslöschend
über die Wirksamkeit individueller Entschlüsse und Handlungen hinweg-
fährt, ist eben darum kein Boden, weder für das praktische revolutionäre
Handeln noch für die vorgestellte dramatische Aktion. Für beide Elemente
ist vielmehr die Voraussetzung von der umgestaltenden und entscheiden-
den Wirksamkeit individuellen Entschließens und Handelns der unerläß-
liche Boden ... 3." Noch schärfer stellt ein Menschenalter später Jean
J aures, der durch Emile Boutroux den Idealismus der Freiheit kennen-
gelernt hatte und in der Tradition des moralischen Sozialismus Frank-
reichs verwurzelt war, die beiden grundsätzlichen Fragen nach dem
Verhältnis zwischen Geschichtsgesetz und Handlung, zwischen Tatsachen
und Wertungen. Wie können die Menschen überhaupt noch selbständig

1 K. MARX: Frühschriften 11, S.557f. - Sperrungen im Original.


SN. BERDIAJEW: Sinn und Schicksal des russischen Kommunismus,
Luzern 1937, S.156. - E. TROELTSCH: Historismus, S. 34lf.
8 Brief an MARX und ENGELS v. 27. 5. 1859. - Sperrungen im Original.

Topitsch, Metaphysik. 17
258 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

handeln, wie können sie Politik betreiben, wenn die Dinge ihren not-
wendigen Gang gehen 1 Und ist der Sozialismus schon deshalb gerechter
und besser als die früheren Gesellschaftsformen, weil ihm die Zukunft
gehört, soll er sein, weil er sein wird? Beide Fragen weiß Jaures aus den
Werken von Marx zu beantworten. Um für die Norm und das Handeln
Raum zu schaffen, wird die Gesetzmäßigkeit in entscheidender Weise
eingeschränkt. Nur die Tatsache der Wendung zum Sozialismus steht
unabänderlich fest, nicht aber deren Zeitpunkt und Umstände, so daß
menschliche Maßnahmen ihr Eintreten beschleunigen und erleichtern
können, indem sie gewissermaßen die Geburtswehen der neuen Gesell-
schaft lindern. So kann dem Menschen der Kampf für diese Sozialordnung
zur Aufgabe gestellt werden. Der Wert jener Zukunftsgesellschaft ist für
Jaures im Sinne des marxistischen Humanismus darin begründet, daß
sie keine Unterdrückung mehr kennt, sondern die Verwirklichung der
wahren Menschlichkeit ist. Der französische Sozialist hat also die schlecht-
hin grundlegende Wichtigkeit der moraIisch-naturrechtlichen Komponente
im Marxismus klar erkannt und auch sonst immer betont, daß diese
Lehre nicht bloß von der geschichtlichen Notwendigkeit, sondern zugleich
auch von der ewigen Gerechtigkeit handelt. Die Koinzidenz von Not-
wendigkeit und Gerechtigkeit hat allerdings auch er nicht rational
begründen können1 .
Zu Lebzeiten der beiden Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus
blieben jedoch solche Stimmen ohne entscheidende Wirkung. Erst nach
dem Tode von Engels (1895) begannen die Auseinandersetzungen um die
Grundlagen der marxistischen Theorie, und zwar fast gleichzeitig innerhalb
der Sozialdemokratie und zwischen dieser und den bürgerlichen Gelehrten.
Soweit diese Diskussionen philosophisch belangvoll waren, berührten
sie unter dem Einfluß des kantianischen Dualismus meist die empfind-
lichsten Stellen der marxistischen Logodizee, nämlich die Fragen von
Sein und Sollen, Freiheit und Notwendigkeit, Kausalität und Teleologie.
Der sozialistische Revisionismus, wie er um die Jahrhundertwende
von Eduard Bernstein und seinen Anhängern vertreten wurde, war keine
vorwiegend philosophische Bewegung, sondern ist dadurch entstanden,
daß die tatsächliche Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft nicht
den Voraussagen von Karl Marx entsprach. Statt allgemeiner Ver-
elendung und katastrophaler Krisen brachte der Ausgang des vorigen
Jahrhunderts auch der Arbeiterschaft einen fühlbaren Aufschwung und
einen erhöhten sozialpolitischen Schutz. Dies hat sowohl dem Glauben
an die "eherne Notwendigkeit" der automatischen Selbstaufhebung des
Kapitalismus wie dem seelischen Bedürfnis nach einer politischen Eschato-
logie mächtig Abbruch getan. So gewann die Auffassung Raum, der
Sozialismus sei in erster Linie ein ethisches Ideal, das der Mensch durch
planmäßiges Handeln verwirklichen kann und soll. Dazu kam die beherr-
schende Stellung, die Kant in der deutschen Philosophie dieser Jahr-
zehnte einnahm. Unter seinem Einfluß hat Ludwig Woltmann weit

1 Vgl. K. VORLÄNDER: Kant und Marx, Tübingen 1911, S.106ff.


Tradition, Ideologie und Wissenschaft 259

nachdrücklicher als Jaures die uneingestandenen naturrechtlichen Vor-


aussetzungen des Marxismus ans Licht gehoben und aufgezeigt, daß
hinter der materialistischen Hülle eine moralische Teleologie verborgen
ist: die Lehre vom Fortschritt, von der geschichtlichen Stufenfolge mensch-
licher Ordnung und Gesittung; die Urteile über Herrschafts- und Knecht-
schaftsverhältnisse, Mehrwert und Ausbeutung, Freiheit und Unter-
drückung enthalten die von der marxistischen Theorie so scharf ab-
gelehnte ethische Wertung schon in sich. Mit Recht betont Woltmann,
daß eine historisch-materialistische Wissenschaft nur sagen kann, was
ist. Was sein soll, fällt in das Gebiet der Ethik. Der Sozialismus erscheint
ihm folgerichtig als moralische Forderung, und die Entwicklungstendenzen
in Wirtschaft und Gesellschaft können bloß die Verwirklichung dieses
Ideales erleichtern!.
Bedeutet schon dieser Standpunkt eine fast völlige Preisgabe des
marxistischen Kerngedankens der Einheit von Naturrecht und geschicht-
licher Teleologie, so hat Eduard Bernstein eine noch radikalere Kritik
geübt, die sich sowohl gegen den Glauben an die historische Notwendig-
keit wie gegen den an die naturrechtliche Begründbarkeit des Sozialismus
richtet. Die Soziologie kann nach Bernstein keineswegs mit naturwissen-
schaftlicher Sicherheit vorhersagen, daß die Wende zur sozialistischen
Zukunftsgesellschaft unter allen Umständen eintreten wird; aber selbst
der Sozialismus als Ideal ist - wie alle praktischen Postulate - erkennt-
nismäßig nicht begründbar : Systeme von Forderungen sind keine Wissen-
schaften. Wohl bedarf der menschliche Wille, um zu seinen Zielen zu
gelangen, der wissenschaftlichen Einsicht in die Zusammenhänge des
gesellschaftlichen Lebens, aber die Ziele selbst können mit den Mitteln
der Theorie nicht gerechtfertigt werden. Diese grundsätzlichen Einwände,
die sich bereits dem jüngeren Positivismus und der Wertfreiheit Max
Webers nähern, bedeuten mehr als eine bloße Revision des marxistischen
Gedankengebäudes. Die von Bernstein geforderte Preisgabe der Ideen
des Naturrechtes und des wertrationalen Weltplanes ist nicht weniger
als die Preisgabe der aus der intentionalen Weltauffassung stammenden
Fundamente des sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus2 •
Genau gleichzeitig kam noch eine andere Auseinandersetzung in Gang.
Nachdem jahrzehntelang außerhalb der sozialistischen Kreise der Marxis-
mus als Theorie kaum zur Kenntnis genommen worden war, erschien 1896
die Untersuchung "Wirtschaft und Recht nach der marxistischen
Geschichtsauffassung" von Rudolf Stammler, der alsbald eine Fülle
von Arbeiten nichtsozialistischer Gelehrter über dieses Thema folgte.
Die wichtigsten Argumente Stammlers beziehen sich auf die bekannte
Problematik von "gesetzlicher Notwendigkeit", Norm und Handlung.
Wenn ein unentrinnbares Gesetz die soziale Entwicklung bestimmt,

1 L. WOLTMANN: Die Darwinsche Theorie und der Sozialismus, Düsseldorf


1899. - Ders.: Der historische Materialismus, Düsseldorf 1900.
2 E. BERNSTEIN: Die Voraussetzungen des Sozialismus usw., Stuttgart
1899. - Ders.: Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich YBerlin 1901.
260 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

dann ist jeder Entschluß, ihm noch obendrein Folge zu leisten, ähnlich
unsinnig wie etwa die Entscheidung, man wolle sich mit der Erde um die
Sonne drehen. Entweder erkennt der Mensch das Eintreten eines Ereig.
-nisses als unvermeidlich an, dann ist für ein Handeln, ein Herbeiführen
oder Abwenden, gar kein Raum mehr, oder er will durch sein Eingreifen
ein Ereignis erst hervorrufen, dann sind die vollständigen Bedingungen
für dessen Eintreten noch nicht gegeben. Je bestimmter die Notwendigkeit
aller Einzelheiten eines Geschehens erkannt ist, desto weniger kann es
Gegenstand menschlichen Handerns sein: man kann keine Partei gründen,
welche den Eintritt einer exakt berechneten Mondesfinsternis "zielbewußt
begünstigen" wilP.
Diese mannigfachen Gefährdungen des Kernes seiner Lehre hat der
orthodoxe Marxismus nicht unwidersprochen hingenommen. Es ist
bezeichnend, daß er gerade jene Elemente der sozialistischen Theorie
mit größtem Nachdruck verteidigt hat, die dem intentionalen Weltbild
entstammen. Die Logosspekulation, die Auffassung des Weltlaufes als
Selbstverwirklichung des an sich Guten, ermöglicht ja die Verklärung
der weltanschaulichen und politischen Parteiideale zum "objektiven Sinn
der Geschichte", der sich mit unendlicher Macht gegen alles Widerstreben
menschlichen Aberwitzes durchsetzt. Der Schutz dieser Modellvorstellun·
gen gegen jeden Schatten eines Zweifels ist das letzte Ziel des Kampfes
gegen Revisionismus, Objektivismus, Positivismus und ähnliche "agno·
stische" Standpunkte.
Aus der Fülle der Streitschriften, die sich mit der Problematik des
Verhältnisses zwischen der "geschichtlichen Teleologie" - dem bekannten
zweiten Handlungsschema - und dem menschlichen Handeln ausein.
andersetzen, sollen hier nur G. W. Plechanows Arbeit "Über die Rolle
der Persönlichkeit in der Geschichte" wegen ihrer historischen Bedeutung
und die Analysen Max Adlers wegen ihrer gedanklichen Schärfe heraus.
gehoben werden. Plechanow sucht Stammlers Einwand zu entkräften,
"daß wir uns nur von der Unvermeidlichkeit des Eintretens einer bestimm·
ten Folge von Ereignissen zu überzeugen brauchen, damit bei uns jede
psychologische Möglichkeit, für dieses Eintreten zu wirken oder ihm ent·
gegenzuwirken, verschwinde2 ". Während Stammler von der Unter.
scheidung zwischen beeinflußbaren und unbeeinflußbaren Ereignissen in
der Objektwelt ausgeht, sucht Plechanow das Subjekt und seine Ent·
scheidungen als "notwendiges Glied in der Kette der notwendigen
Ereignisse" einzuordnen. Die "Notwendigkeit" wirkt und vollzieht sich
für ihn also gewissermaßen durch das Ich des Handernden hindurch.
Diese Notwendigkeit kann bewußt werden und verleiht dann dem
Tätigen die größte Entschlossenheit und Energie, eine Unbeugsamkeit,
wie sie aus Luthers berühmtem "Hier stehe ich, ich kann nicht anders"

1 R. STAMMLER: Wirtschaft und Recht nach der marxistischen Geschichts·


auffassung, 5. Aufl., Berlin 1924, S. 418.
9 G. W. PLECHANOW: Über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte,
Berlin 1951, S. 7/8.
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 261

spricht und allen schwankenden Hamlet-Naturen unbekannt ist. Wer


"sich so wie Mohammed als Abgesandten Gottes, so wie Napoleon als
Auserwählten des unabwendbaren Schicksals, oder so wie manche Persön-
lichkeit des 19. Jahrhunderts! als Träger der von niemandem zu über-
windenden Kraft der historischen Entwicklung betrachtet", wird mit
schier elementarer Willenskraft alle Hindernisse überwinden. Die Einsicht
in diese Notwendigkeit ist zugleich die wahre Freiheit. Sie bedeutet zwar
die völlige subjektive und objektive Unmöglichkeit, anders zu handeln,
als man handelt, aber ohne Gefühl der Beengtheit. So wird nach der Über-
zeugung der Marxisten "der Kapitalismus durch den Gang seiner eigenen
Entwicklung zu seiner Negation und der Existenz .. _ (der sozialistischen)
Ideale führen. Das ist historische Notwendigkeit. Der Marxist dient als
eines der Werkzeuge dieser Notwendigkeit und ... muß nicht nur als
solches dienen, sondern will auch leidenschaftlich dienen und muß es
auch wollen 2 ". Die Träger dieser Einheit von Freiheit und Notwendig-
lmit, von Ideal und Wirklichkeit werden "zu neuern, vollem, ihnen bis
dahin unbekanntem Leben geboren", sie werden zur gewaltigen gesell-
schaftlichen Kraft, welche die tückischen Mächte des Unrechtes zer-
schmettert3 •
Auf der Voraussetzung, daß das eigene Handeln die - allerdings selbst
notwendige - Bedingung des notwendigen Eintretens einer bestimmten
zukünftigen Entwicklung bildet, fußt auch Max Adlers Verteidigung des
marxistischen Geschichtsgesetzes. Die innere Problematik der angeblichen
Einheit von Naturrecht, Heilsplan, Kausalität und Handlung tritt bei
ihm allerdings noch klarer hervor als bei Plechanow. Wie so viele seiner
Vorgänger unterlegt Adler dem Lauf der Geschichte seinen eigenen Wert-
standpunkt: der Weg der Menschheit ist ein Fortschritt zu "immer
höheren Existenzformen der Gesellschaft", zur "Gestaltung des Sinnes
gesellschaftlichen Daseins", wobei jeweils der Sieg einer unterdrückten
Klasse zugleich als Sieg der Moral, des Rechtes und der Vernunft erscheint.
Statt Hegels "mystischer Weltvernunft" verbürgt bei Adler der Klassen-
kampf, daß die Geschichte zur Verwirklichung des wahrhaft Wertvollen
führt, nämlich zur Konstituierung einer einheitlich interessierten, mensch-
lich solidarischen Gesellschaft. Doch zum Unterschied von den meisten
anderen Marxisten ist für Adler die Koinzidenz von Wert und angeblicher
historischer Notwendigkeit nicht einfach selbstverständlich. Er fragt
sich, ob man eine Entwicklung als sittliches Ideal bezeichnen darf, bloß
weil sie notwendig ist, und weiß als Antwort nur die Berufung auf eine
"prästabilierte Harmonie,... daß der geschichtliche Prozeß kausal-
notwendig zu den Zielen führen muß, welche die Ethik als begründet
ansieht". Diese Annahme kommt einem offenen Eingeständnis der ratio-
nalen Unerklärlichkeit des wertgerichteten Geschichtsplanes gleich, wie

1 G. W. PLECHANOW, a. a. 0., S. 11. Gemeint sind Marx und Engels, die


aber hier wie auch sonst in dieser Schrift mit Rücksicht auf die zaristische
Zensur nicht genannt werden.
2 G. W. PLECHANOW, a. a. 0., S. 13.
a G. W. PLECHANOW, a. a. 0., S.14.
262 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

denn Adler auch an anderer Stelle von dem "wunderbaren Mechanismus


der Geschichte" sprichtl.
Ebenso problematisch bleibt der Versuch Adlers, das menschliche
Handeln mit dem ihm übergeordneten "zweiten Handlungsschema ",
der zweckgerichteten Gesetzlichkeit der Geschichte, zu vereinigen. Wie
Plechanow gebraucht er in diesem Zusammenhang den Ausdruck der
"bewußten Notwendigkeit", der jedoch die Schwierigkeiten kaum zu
verdecken, geschweige denn zu lösen vermag. Wohl soll die "Entwick-
lungsnotwendigkeit" bewußt sein, doch darf die Erkenntnis nicht der
sozialen Eigengesetzlichkeit "gegenübertreten", sondern sie ist "die
reale Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens selbst, nur von innen gesehen".
In der Gesellschaftstheorie sind die Menschen nicht Beurteiler und
Konstrukteure, sondern "nur gleichsam Mitwisser und interessierte Voll-
strecker des geschichtlichen Prozesses", die "nicht mehr Dogmen oder
willkürliche Annahmen in die Untersuchung hineintragen", sondern sich
"das Bewußtsein der geschichtlichen Gesetzlichkeit aneignen und sich
ihm völlig hingeben". Sie sind nicht Herren, sondern - allerdings intel-
ligente - Diener der sozialen Gesetzmäßigkeit. Doch diese Notwendig-
keit, die den "Dienst" und die "Hingabe" des Menschen verlangt und die
durch die Willenshandlungen des schaffenden Bewußtseins erst gesetzt
und in Vollzug gebracht wird, soll gleichwohl ein "Nichtanderskönnen"
darstellen, denn "das zukünftige soziale Geschehen ist in seinem ganzen
Verlaufe bereits unverrückbar vorherbestimmt2 ". Indem Adler auf diese
Weise versucht, die Handlung als "andere Seite" der kausalen Not-
wendigkeit zu verstehen, meint er, das Problem von "Freiheit" und
"Notwendigkeit", von Aktion und Teleologie gelöst zu haben.
Die Annahme einer sogenannten bewußten Notwendigkeit scheint
jedoch kaum geeignet zu sein, diese Schwierigkeiten zu überwinden,
sondern vielmehr selbst an einem inneren Widerspruch zu leiden. Sobald
nämlich ein bestimmter - physischer oder psychischer - Zusammenhang
dem Handelnden bewußt wird, erhebt sich unabweislich die Frage nach
seiner Bewertung und Beeinflußbarkeit. Dabei darf eine Entwicklung
nur in dem Maße als notwendig gelten, als sie sich der Beeinflussung
durch einen willentlich handelnden Eingriff entzieht. In genau demselben
Maße ist es weder möglich noch erforderlich, sie dem Tätigen überdies
als Aufgabe zu stellen. Noch viel weniger kann eine solche "Notwendigkeit"
gewissermaßen als personifizierte Autorität dessen "hingebenden Dienst"
verlangen. Sie vollzieht sich, ob wir wollen oder nicht, ob wir sie begrüßen,
beklagen oder einfach hinnehmen. Ist jedoch ein zukünftiger Ereignis-
ablauf von unserer Entscheidung abhängig, dann kann ihm als solchem
keine Notwendigkeit mehr zukommen. Solange man die Gegenstandswelt
unseres Wissens und Tuns betrachtet, hat also der Ausdruck "Notwendig-
keit" einen guten Sinn, insofern er ein körperliches oder seelisches

1 M. ÄDLER: Marx als Denker, S. 65ff. - Ders.: Marxistische Probleme,


Stuttgart 1913, S. 132ff., 145f., 248.
2 M. ÄDLER: Marx als Denker, S.76ff.
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 263

Geschehen bezeichnet, das uns als unbeeinflußbar bekannt ist und daher
jenseits aller Handlungsmöglichkeiten und Handlungsanweisungen liegt.
Doch Adler, Plechanow und andere marxistische Denker suchen
auch das "Ich" des Tätigen in den Zusammenhang der Notwendigkeit
einzubeziehen. Eine solche, gewissermaßen durch das handelnde Subjekt
hindurchgehende Gesetzmäßigkeit muß jedoch für dieses unbewußt und
daher leer bleiben, denn sobald sie bewußt wird und einen Inhalt erhält,
ist sie auch schon in die Objektwelt des Wissens, Wertens und Handelns
gerückt. Der Begriff einer "bewußten Notwendigkeit", die sich "durch
das Ich hindurch vollzieht", kann also offenbar nicht widerspruchslos
gebildet werden. Damit entfällt auch diese Möglichkeit, die Einheit von
Direktive und Garantie, von Handlung, Naturrecht und Geschichtsgesetz
zu retten.
So fragwürdig die Annahme einer solchen Einheit vom Standpunkt
der reinen Theorie erscheinen mag, so offenkundig ist es, daß sie eine
bedeutende Wirkung auf das politische Motivationsbewußtsein ausüben
kann und daß sie vor allem wegen dieser psychologischen Wirkung ver-
teidigt wurde. Wer sich als Werkzeug oder Diener einer providentiellen
Notwendigkeit fühlt und überzeugt ist, wollen zu müssen, was er will,
wird seine Ziele mit größerer innerlicher Sicherheit und größerem äußerem
Nachdruck verfolgen als derjenige, dem eine solche Überzeugung fehlt.
Diese Verstärkerwirkung1 kann nun ihrerseits als kausaler Faktor in den
tatsächlichen Lauf der Ereignisse eintreten. Es ist durchaus möglich,
daß erst der unbedingte Glaube an die Notwendigkeit des eigenen Wollens
und des schließlichen Erfolges dem Handelnden jene Energie und Durch-
schlagskraft verleiht, die wirklich den Erfolg herbeiführt. Wo aber die
eigene Anstrengung nicht in Rechnung gezogen wird und man sich auf
die unter allen Umständen funktionierende Automatik der Entwicklung
verläßt, kann leicht eine passive Haltung entstehen, welche den vielleicht
an sich möglichen günstigen Ausgang verhindert. Hier sind also Fragen
der Theorie mit solchen der politischen Praxis eng verbunden. Es ist
daher nicht verwunderlich, daß dieser Problemkomplex bis tief in die
Auseinandersetzungen um die sozialistische Parteitaktik hineinspielt.
Der Gegensatz zwischen "voluntaristischer" und "deterministischer"
Auffassung hat in den Diskussionen um den Revisionismus ebenso eine
Rolle gespielt wie im russischen Marxismus, wo sich die Positionen von
"soznatelnost" (bewußte Aktion) und "stichijnost" bzw. "samotjok"
(automatische Entwicklung) gegenüberstanden2 • Wenn Lenin in dieser
Frage so scharf gegen die Menschewiki Stellung genommen hat, so war
er dabei offenbar von der nicht unberechtigten Sorge geleitet, daß der
Glaube an einen selbsttätig eintretenden Sieg des Marxismus die Tatkraft
der Partei lähmen und so diesen Sieg verhindern könnte. Demgegenüber

1 Vgl. E. TOPITSCH: Sozialtheorie und Gesellschaftsgestaltung, "Archiv


für Rechts- und Sozialphilosophie" XLII (1956), S. 194.
11 E. RIKLI: Der Revisionismus, Zürich 1936, S.33H. - W. THEIMER:
Marxismus, S.46ft - G. A. WETTER: Der dialektische Materialismus. Seine
Geschichte und sein System in der Sowjetunion, Wien 1952, passim.
264 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

suchte er aus dem Glauben an den Erfolg zusätzliche revolutionäre


Energien zu gewinnen und zur Erringung dieses Erfolges auszunützen,
was ihm auch gelang.
Es hat sich also gezeigt, daß die Grundkategorien des historischen
Materialismus der intentionalen Weltauffassung entstammen oder von
ihr beeinflußt sind und daß er darum in alle inneren Schwierigkeiten dieser
Weltauffassung verwickelt werden mußte. Der Fragenkreis des Natur-
rechtes kehrt in seiner Lehre ebenso wieder wie die Scheinprobleme,
die sich aus der vermeintlichen Interferenz zwischen dem menschlichen
Handeln und dem "zweiten Handlungsschema", dem "Geschichtsplan"
ergeben. Eine Lösung dieser Rätselfragen war allerdings dem Marxismus
ebensowenig möglich wie irgendeiner älteren philosophischen Richtung,
doch hat seine Methode der Ideologiekritik wesentliche Gesichtspunkte
zu ihrer Auflösung, ja zur Auflösung der intentionalen Leitvorstellungen
überhaupt, beigesteuert. In dieser Beziehung trägt er das Doppelgesicht
einer typischen Übergangserscheinung. Er ist die wohl letzte Ausprägung
großen Stils, welche das intentionale Weltbild erfahren hat, und zugleich
ein wesentliches Glied in der Entwicklung der wissenschaftlichen Welt-
auffassung, welche jene älteren Denkformen ablösen sollte; er ist auch
zugleich Ideologie, die im Mantel wissenschaftlicher Erkenntnis mensch-
liches Handeln motivieren will, und Ideologiekritik, welche diese Motiva-
tionen und die ihnen dienenden gedanklichen Strukturen zu durchschauen
sucht.

Die wissenschaftliche Kritik an der intentionalen Weltbetrachtung


ist allerdings weit älter als die marxistische Analyse der Ideologien.
Schon in der Antike hat es Denker gegeben, die weitgehend außerhalb
jenes Gedankenkreises gestanden sind. Die Motive hierfür waren ver-
schieden. Während der atomistische Materialismus statt der intentio-
nalen die mechanische Komponente der technomorphen Modellvorstel-
lungen entwickelte und alles Geschehen nach der Analogie der Bewegungs-
gesetzlichkeit von Körpern mittlerer Größenordnung erklärte, enthielt
sich die Skepsis jeder endgültigen Aussage über das Wesen und den
Aufbau der Welt. Noch eindrucksvoller als alle Polemik ist aber wohl
das Schweigen, mit dem Thukydides jeden Versuch übergeht, mittels
jener Modellvorstellungen das Weltgeschehen zu verklären oder eine
wertrationale "wahre Wirklichkeit" aufzubauen: "Eine lliusionslosigkeit
sondergleichen befähigt ihn, der unleugbaren Brutalität des Geschichts-
verlaufes ruhig ins Auge zu schauen. Jede metaphysische Hinterwelt
ist hier verschwunden, nicht nur der Volksglaube mit seinen Göttern ... ,
sondern auch jede philosophische Spekulation wie göttliche Vorsehung
oder sittliche Weltordnung!." Diese Charakteristik deutet auf eine
wesentliche psychologische Voraussetzung der Kritik am intentionalen
Weltbild hin, nämlich auf die Fähigkeit und Bereitschaft, die Wert-
irrationalität der Erfahrungswelt - wie bedrückend sie auch sein mag -

1 w. NESTLE: Vom Mythos zum Logos, S.515.


Tradition, Ideologie und Wissenschaft 265

als Tatsache anzuerkennen. Solange diese Voraussetzung fehlt, wird jene


Kritik meist auf starken emotionalen Widerstand stoßen. Dem Historiker
und politischen Denker Thukydides war die Distanzierung von jeder Art
sozio-kosmischer Spekulation freilich insofern erleichtert, als er durch
die direkte Erforschung und genaue Kenntnis der Strukturen und Funk-
tionen menschlicher Gemeinschaftsordnungen gegen die Überschätzung
der Idee einer "kosmischen Rechtsordnung" gefeit war.
Doch hat weder die Skepsis noch der Atomismus, am wenigsten aber
die empirisch-rationale Geschichtswissenschaft und Soziologie des Thu-
kydides 1 den historischen Erfolg der intentionalen Kosmosspekulationen
nennenswert beeinträchtigt. Der verhältnismäßig stärkste Widerstand
gegen diese Spekulationen ging in der Spätantike und im Mittelalter
von dem akosmischen Vollkommenheitsideal der Mystik aus. Da aber
die mystische Kontemplation die Gegenstandswelt nicht erklären, sondern
sich über sie erheben wollte, hat sie keine Denkformen entwickelt, welche
als Mittel der Welterklärung mit den intentionalen Analogien hätten
konkurrieren können.
Erst das Heraufkommen der modernen Welt hat diese Situation
völlig geändert. Aus Ansätzen, die bis in das vierzehnte Jahrhundert
zurückreichen, hat sich zunächst langsam, später aber mit wachsender
Geschwindigkeit das "schlechthin Neue2 " entwickelt, nämlich die moderne
Wissenschaft, die Technik und die Gesellschaft der industriellen Arbeit.
Damit ist nicht nur eine neue und außerordentlich erfolgreiche Form
der Welterklärung auf den Plan getreten, sondern auch eine Macht,
die in menschheitsgeschichtlich kürzester Zeit den gesamten Prozeß
der sozialen Produktion und Reproduktion des Lebens von Grund auf
umgestaltet hat. Die Erkenntnisziele, Erklärungsmethoden und Gedanken-
modelle der modernen Wissenschaft sind von denjenigen der intentionalen
Weltauffassung prinzipiell verschieden und erlauben deren Betrachtung
und Analyse aus kritischer Distanz, doch vielleicht noch folgenreicher
ist die Tatsache, daß die technische Anwendung der Forschungsergebnisse
und die dadurch verursachte Umbildung der Gesellschaftsstruktur zu
tiefgreifenden Änderungen in eben jenen primitiven und elementaren
Lebenssituationen geführt hat, denen die Analogien des intentionalen
Weltbildes entlehnt waren. Es ist daher wohl kein Zufall, daß die ent-
scheidende Krise jenes Weltbildes, die auch das Ende der Produktivität
der traditionellen Philosophie in sich begreift, mit der industriellen
Revolution des vorigen Jahrhunderts zusammenfällt.
Die neuzeitliche Naturwissenschaft, wie sie sich seit dem Spätmittel-
alter und besonders seit dem siebzehnten Jahrhundert entwickelt hat,
wiII weder das Universum verklären noch soziale Normen geben, sondern
Regelmäßigkeiten des tatsächlichen Geschehens feststellen. Sie betrachtet

1 E. TOPITSCH: Geschichtswissenschaft und Soziologie, "Wissenschaft und


Weltbild" IX (1956), S. 117ff.
2 K. JASPERS: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Zürich 1949,
S. I07ff.
266 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

eine Erscheinung als erklärt, wenn diese aus bestimmten, ihr voran-
gegangenen Ereignissen mit Hilfe allgemeiner Regeln erschlossen und
vorhergesagt werden kann; das psychologische Gefühl der " Vertrautheit",
wie es die intentionalen Modelle hervorrufen, spielt hier keine Rolle mehr.
Nach Abstoßung der Handlungsanalogien bestehen die naturwissenschaft-
lichen Begründungszusammenhänge wesentlich aus einem Gefüge von
Maßgrößen und Meßanweisungen (operational definitions), die zu mora-
lischen oder politischen Begriffen kaum mehr irgendeine Beziehung
haben. Immerhin ist auch die moderne Naturwissenschaft in ihren
Anfangsstadien stark durch Vorstellungen aus dem Alltagsleben bestimmt
geblieben. Handwerkliche Erfahrung spielte bei der Begründung der
neuzeitlichen Physik eine entscheidende Rolle; aber die wichtigsten
Modelle waren nicht wie beim intentionalen Technomorphismus von der
menschlichen Tätigkeit, sondern vom Verhalten des Werkstoffes ent-
lehnt!. Körper mittlerer Größenordnung und einfache Maschinen lieferten
die leitenden Analogien. Doch auch diese "mechanistischen" Modell-
vorstellungen erwiesen sich im Bereiche größter und kleinster Abmessun-
gen als unzulänglich. Elemente und Strukturen der gegenwärtigen Physik
sind nicht mehr direkt anschaulich erfahrbar, sondern aus Beobachtungen
erschlossen2 • Wir "begegnen" etwa den Elektronen nicht wie unseren
Mitmenschen, noch können wir mit ihnen unmittelbar "hantieren" wie
mit Flaschenzügen oder Uhrwerken. Die Bewegung von Wellen oder
sichtbaren Körpern gibt keine hinreichende Vorstellung vom subatomaren
Geschehen, die Kanten unserer Häuser sind nicht mehr Vorbilder räum-
licher Orientierung schlechthin.
Gewiß bewährt sich die empirische Gültigkeit hypothetisch-deduk-
tiver Systeme, wie sie die moderne Forschung anwendet, letztlich auch
in der Übereinstimmung mit Beobachtungen, die dem Bereich allgemein-
menschlicher Erfahrung angehören, vor allem mit Koinzidenzen von
Zeigern und Skalenstriehen, Fadenkreuzen und Lichtpunkten usw. 3 •
Doch diese Berührungsstellen zwischen den logisch-mathematischen
Beziehungsgefügen und der Erfahrungswelt liegen zumeist weit außer-
halb des Gesichtskreises alltäglicher Lebenspraxis, und ihre Bedeutsamkeit
für die Welterklärung wird erst im Rahmen einer sehr fortgeschrittenen
Hypothesenbildung erkennbar. Noch "lebensferner" ist die innere Struk-
tur des naturwissenschaftlichen Weltschemas, in dessen Begründungs-
zusammenhängen die Modellvorstellungen aus dem Bereiche wertdurch-
tränkter Alltagserfahrung keinen Platz mehr finden, da sie den Bedin-

1 PR. FRANK: Wahrheit - relativ oder absolut ~ Zürich 1952, S.87f. -


Zur Bedeutung der handwerklichen Materialbehandlung für das Werden der
neuzeitlichen Naturwissenschaft vgI. E. J. DIJKSTERRUIS: Die Mechani-
sierung des Weltbildes, Heidelberg 1956, S.269ff.
2 R. REININGER: Metaphysik der Wirklichkeit, Bd. II, 2. Auf1., "Vien 1948,
S. 39, 55ff. - H. GOMPERZ: Über Sinn und Sinngebilde. Verstehen und
Erklären, Tübingen 1929, S.104.
3 1\1. SCHLICK: Allgemeine Erkenntnislehre, 2. Auf1., Berlin 1925, S. 64ff.,
148ff. - Zum Problem der Anwendbarkeit hypothetisch-deduktiver Systeme
auf die Empirie vgI. V. KRAFT: Mathematik, Logik und Erfahrung, Wien 1947.
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 267

gungen der Konstruktion eines möglichst umfassenden, widerspruchs-


freien, rechnerisch exakten und empirisch genau prüfbaren Aussagen-
systemes nicht entsprechen. Damit entfällt auf dem Boden wissenschaft-
licher Weltauffassung die Voraussetzung für jeden Versuch, das Natur-
geschehen im Sinne der alten Handlungsanalogien ethisch-politisch zu
deuten oder wenigstens nach dem Muster direkt beobachtbarer mecha-
nischer Vorgänge "verständlich" zu machenl .
Die Ausschaltung der Handlungsmodelle aus der wissenschaftlichen
Forschung ist aber nur eine der Ursachen des Verblassens der intentio-
nalen Weltauffassung im modernen Milieu. Mindestens ebenso wirksam
ist die Veränderung der sozialen Umwelt. Die gegenwärtige Gesellschaft
ist kein übersichtliches Ganzes mehr wie die Familie oder Sippe, der
Oikos, die Polis oder selbst das Imperium. Sie bildet keine ständische
Hierarchie, keinen Stufenbau des Ranges, sondern besteht aus vielfach
ineinander geschachtelten, oft auch nebeneinander herlaufenden Gruppen
und Verbänden, deren Wechselbeziehungen ohne besonderes Studium
nicht mehr erfaßt werden können. Eine derartig strukturierte Gesellschaft
kommt kaum noch als Leitbild für einen übersichtlichen, hierarchisch
gegliederten "Kosmos" in Frage.
Die Techne ist durch die Technik abgelöst worden. Die Herstellung
der Artefakte ist meist nicht mehr ein direktes "Bilden" und "Gestalten",
bei welchem der Mensch unmittelbar am Werden des Werkstückes Anteil
hat und Anteil nimmt. Maschine und arbeitsteilige Organisation des
Produktionsprozesses schieben sich heute zwischen Werkmann und
Werkstück, Bildner und Gebilde, ja man muß sich fragen, ob man in

1 Allerdings wird von gewissen Formen weltanschaulich orientierter


Naturphilosophie auch heute noch der Versuch gemacht, die neuen Probleme
und Resultate in der Sprache und Vorstellungsweise des Alltages bzw. der
älteren Formen physikalischer oder philosophischer Welterklärung zu um-
schreiben. Dabei werden vor allem solche Ausdrücke und Bilder verwendet,
die in ihrem traditionellen Gebrauch stark wertbetont sind und daher zumin-
dest implizit eine Deutung der neuen Erkenntnisse nach alten Wertgesichts-
punkten versprechen. Doch diese Rückkehr zur "Lebensnähe" ist zugleich
die Rückkehr in jene Vieldeutigkeit, Unbestimmtheit und Unverbindlichkeit,
zu deren tJberwindung der ganze Apparat der modernen Naturwissenschaft
gebaut worden ist. Darum gibt es auch - streng genommen - kein Kriterium
für die Richtigkeit oder Falschheit von "tJbersetzungen" aus der neuen in
die gewohnte Symbolik: oft ist praktisch jede beliebige Paraphrase möglich.
Beispielsweise hat man die Relativitätstheorie als "idealistisch" ebenso wie
als "materialistisch" interpretiert, gepriesen oder angegriffen. In der Kritik
an den mechanischen Analogien sah man eine Wendung zur "organischen"
Weltauffassung, in der Endlichkeit des Universums eine Rückkehr zum
geschlossenen Kosmos der Antike und zum christlichen Schöpfungsgedanken.
Die "Unbestimmtheit" subatomarer Vorgänge bedeutet für die einen die
"Rettung von Freiheit und Verantwortlichkeit" , während die anderen überzeugt
sind, die moderne Physik führe geradewegs zu einer materialistischen Dialektik
und habe bestätigt, daß dieselbe dialektische Grundgesetzlichkeit im Inneren
der Atome und in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft herrsche.
Wertvolle Beobachtungen zu diesen Sachverhalten bei PR. FRANK: Modern
Science and its Philosophy, Harvard UP 1949 und: Wahrheit - relativ oder
absolut f, Zürich 1952.
268 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

diesem Falle noch von einem "Bildner" sprechen darf. So erschein~ es


ungewiß, ob das künstlerisch-handwerkliche Gestalten für den Menschen
der Industriegesellschaft überhaupt noch ein so vertrautes und bedeut-
sames Erlebnis ist, daß es etwa als Leitvorstellung für das Verstehen
der Kausalbeziehungen oder die Verklärung des Kosmos als Kunstwerk
dienen könnte.
Der Bereich der biomorphen ModeIIe ist übrigens von der gleichen
Entwicklung erfaßt worden. Die pflanzlichen und tierischen Lebens-
vorgänge, von denen der Bauer auf seinem Hof und Feld immerwährend
und unmittelbar umgeben ist, sind fast gänzlich aus dem Gesichtskreis
des Bewohners der Industriestädte verschwunden, ja selbst Geburt und
Tod des Menschen werden aus dem Haus und dem Kreis der Familie
in verhältnismäßig abgeschlossene Anstalten verlegt. So verlieren viele
dieser Vorgänge ihre unmittelbare Vertrautheit und oft auch ihre emotio-
nale Wirksamkeit.
Diese durchgreifende Umgestaltung der Lebens- und Arbeitsverhält-
nisse hat sich erst im Laufe des vorigen Jahrhunderts vollzogen, und erst
damals hat die Kritik an der intentionalen Weltdeutung eine größere
Breitenwirkung erzielt. Die gedanklichen Grundlagen dieser Kritik waren
teilweise schon erheblich früher geschaffen worden, doch konnte sie sich
lange Zeit hindurch nur mühsam gegen die herrschenden Geistesströmun-
gen behaupten. Ihre Vertreter stießen nicht selten auf äußere Schwierig-
keiten, aber auch innerlich vermochten sie sich meist nicht völlig von den
überkommenen Denkformen zu lösen.
Der Zweifel an der wissenschaftlichen Rechtmäßigkeit der intentio-
nalen Weltauffassung geht in der abendländischen Philosophie bis auf
die Auseinandersetzungen zwischen dem Realismus des Hochmittelalters
und der nominalistischen Spätscholastik zurück. Schon William von
Ockham war sich des Zentralproblems wohl bewußt, nämlich der Frage
nach dem Verhältnis zwischen dem wirklichen zweckgerichteten Handeln
des Menschen und den vom Handeln entlehnten und auf andere Gebiete
übertragenen Modellvorstellungen1• Seither ist die Diskussion nicht mehr
zur Ruhe gekommen, doch gewann die Kritik nur sehr langsam an Boden,
da jene Analogien durch tiefeingewurzelte Denkgewohnheiten und welt-
anschauliche Institutionen geschützt waren. Vor allem aber fehlte noch
lange die wichtigste Voraussetzung für das Durchschauen der faktischen
Struktur und Funktion des soziomorphen und technomorphen Modell-
apparates, nämlich die Einsicht in die grundlegende Verschiedenheit

1 Quodl. IV, qu. 2 (zit. n. E. HOCHSTETTER: Studien zur Metaphysik und


Erkenntnislehre Wilhelms von Oekham, Berlin 1927, S. 25): " ... apud eum
(sc. Aristotelem) potest dici... causa finalls... uno modo propriissime,
et sie finis dieitur aJiquod intentum sive desideratum vel amatum, propter
quod agens agit, et sic naturalia pure inanimata ... non habent causam
finalem vel finem. Alio modo dicitur causa finalis vel finis pro iUo, quod
secundum cursum naturae, nisi impediatur, sequitur aHud vel operatio
alterius, et eodem modo sequitur, ac si esset praescitum vel desideratum ab
agente, et eo modo finis reperitur in inanimatis, etiam posito, quod a nullo
cognoscente regulentur vel moveantur." .
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 269

von Tatsachenaussagen einerseits und Werturteilen oder Handlungs-


anweisungen andererseits.
Diese Unterscheidung ist zwar sehr naheliegend, sie wurde aber
trotzdem erst im siebzehnten Jahrhundert andeutungsweise und noch
später mit bewußter Folgerichtigkeit durchgeführt - so spät vor allem
wohl deshalb, weil der größte Teil der traditionellen Philosophie das
genaue Gegenteil bezweckte, nämlich Wertungen als Tatsachen und
"Seins"gegebenheiten hinzustellen. Spinoza faßte als erster den Vorsatz,
menschliche Handlungen und Triebe wie Linien, Ebenen und Körper -
also wissenschaftlich wertfrei - zu betrachten!, doch hat er ihn nicht
durchgeführt. Malebranche unterschied zwischen den Verhältnissen der
Größe und denen der Vollkommenheit, wobei die ersteren nur Urteile,
die anderen auch Gemütsbewegungen hervorrufen2 •
Doch erst David Hume hat in dem grundlegenden Abschnitt seines
"Ti'eatise of Human Nature" über die Motive des Willens das Verhältnis
von emotional·volitiver und rational· intellektueller Sphäre genauer
analysiert. Die Erkenntnis - so führt er aus - erfaßt die Beziehungen
zwischen abstrakten Begriffen und zwischen Erfahrungsobjekten. Sie
ermöglicht dadurch Urteile über die Beziehungen von Grund und Folge,
von Ursache und Wirkung, von Mittel und Zweck. Die menschlichen
Willensentschlüsse entspringen jedoch nicht dem reinen Wissen um
diese Zusammenhänge der Gegenstände, sondern der gefühlsmäßigen
Einstellung zu ihnen. Das Gefühlsleben kann aber, da es keinerlei theo-
retischen Gehalt besitzt, unter dem Gesichtspunkt von wahr und falsch
gar nicht beurteilt werden. Die Gemütsbewegungen sind nämlich ursprüng-
liche Gegebenheiten, sie weisen nicht über sich selbst hinaus, sie sagen
nichts über einen objektiven Sachverhalt aus. Wahr und falsch können
nur Aus.sagen sein, nicht aber wertende Stellungnahmen. Andererseits
ist es nicht möglich, Werturteile aus reinen Tatsachenerkenntnissen
abzuleiten oder auf sie zu begründen, wie Rume am Beispiel des Mordes
darzutun suchte3 •
Die begriffliche Trennung von Theorie und Praxis und damit wenig-
stens implizit von Erkennen und Werten hat ein Menschenalter später
in Deutschland Immanuel Kant mit ähnlicher Schärfe durchgeführt.
Besonders folgenreich war seine These, die Wahrheit gewisser Kernsätze
der traditionellen Theologie und Metaphysik sei zwar rein theoretisch
nicht erweisbar, jedoch durch ihre moralische Notwendigkeit gefordert
und hinreichend gesichert. Dadurch war der Weg für eine wertfreie
Tatsachenforschung grundsätzlich freigemacht, zugleich aber auch
klargestellt, daß die Metaphysik letztlich im Bereich der Praxis, des
Wertens und Handelns, verwurzelt und in ihren werthaften Grundlagen
jeder wissenschaftlichen Bestätigung oder Widerlegung entzogen ist.

1 B. SPINOZA: Ethik III, Vorw. - VLOTEN-LAND I, S.125.


2 N. MALEBRANCHE : Entretiens sur la metaphysique et sur la religion
VIII, 13.
3 D. HUME: Treatise of Human Nature II 3, 3; III 1, 1.
270 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

Diese Gedanken und Einsichten sind besonders durch den werttheore-


tischen Neukantianismus der Badischen Schule weitergebildet und durch
Max Weber für die Soziologie fruchtbar gemacht wordenl .
Zur Behandlung des Problems der Metaphysik als Wertproblem gibt
vor allem Heinrich Rickert wichtige Anregungen. Er verweist auf die
große Bedeutung der Wertfragen auch für jene philosophischen Systeme,
welche die Worte Wert und Geltung oder ähnliche Ausdrücke nicht
gebrauchen und behauptet, der letzte Grund metaphysischen Denkens
könne nur wertphilosophisch verstanden werden2 • Immer wieder führt
die Metaphysik zur "In-eins-Setzung von Geltung und Realität", indem
sie die obersten Werte zur "wahren Wirklichkeit" zu erklären und so
vor dem Relativismus zu schützen trachtet. "Die Absicht der Meta-
physiker ist .. _ in vielen Fällen auf eine Geltungssteigerung mehr als
auf eine Wirklichkeitssteigerung gerichtet, auch wenn ihnen das nicht
ausdrücklich zum Bewußtsein kommt. Die Metaphysik des absolut
Realen wäre demnach im letzten Grunde selber Wertphilosophie ...
Darüber müßte sie gründlich aufgeklärt werden, was durch eine Darstel-
lung wer verschiedenen Formen unter dem angedeuteten Gesichtspunkt
zu geschehen hätte." Man kann die vorliegende Arbeit wenigstens zum
Teil als einen Versuch betrachten, die von Rickert gestellte Aufgabe
durchzuführen. Sodann betont der Philosoph mit Recht, daß eine wert-
freie Metaphysik nirgends großes Interesse erregen dürfte und daß vom
"absoluten Sein" nicht viel übrig bleibt, wenn man es jedes Wertes
beraubt. Nicht daß sie "hinter" dem objektiv Realen liegt, sondern daß
sie vorausgesetzte Werte garantiert, ist der eigentliche Sinn der "absoluten
metaphysischen Realität": "Das Wertproblem geht auch dem meta-
physischen Wirklichkeitsproblem in jedem Fall voran3 ."
Wenn aber die metaphysischen Gedankengebäude auf vorgegebenen
Wertüberzeugungen beruhen, so können alle Versuche, mit Hilfe der
Metaphysik bestimmte Wertpostulate zu begründen, nur zirkelhaft bei
den jeweils schon vorausgesetzten Postulaten enden. Die dadurch ent-
stehenden Scheinbeweise, Tautologien und anderen Leerformeln sind
in der traditionellen Philosophie und zuma] Moralphilosophie sehr häufig
anzutreffen. Obwohl einzelne dieser Fehler fallweise auch schon früher
erkannt und kritisiert worden waren, hat man das Ausmaß ihrer Ver-
breitung und ihrer verhängnisvollen Wirkung erst sehr spät gesehen.
Am schärfsten hat wohl Henry Sidgwick die Schwächen der herkömm-
lichen Moraltheorie und besonders Moralmetaphysik herausgestellt: die
Häufigkeit, mit welcher nichtssagende Tautologien und Zirkelschlüsse
gebraucht werden, die nur zum Ausgangspunkt des Beweisganges
zurückführen, und die kaum begreifliche Bereitwilligkeit sogar hervor-
ragender Geister, sich mit derartigen Leerformeln zu beruhigen, selbst

1 E. TOPITSCH: Max Webers Geschichtsauffassung, "Wissenschaft und


Weltbild" III (1950), S. 262ff.
a H. RICKERT: System der Philosophie, I. Teil, Tübingen 1921, S.137ff.
3 H. RICKERT, a. a. 0., S. 140.
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 271

wenn diese ganz leicht als solche zu durchschauen sindl . Diese Einsichten
sind zunächst nur in der angelsächsischen Welt wirksam geworden,
doch beginnt sich nun langsam auch im deutschen Sprachraum die
Erkenntnis durchzusetzen, daß die Versuche einer metaphysisch-natur-
rechtlichen Wertbegründung regelmäßig bloß Leerformeln ergeben, die
je nach Bedarf mit beliebigen Wertgehalten erfüllt oder überhaupt
leer gelassen werden können2 •
Leerformeln von sachhaltigen Aussagen und echten Handlungs-
anweisungen zu unterscheiden ist auch eines der Hauptziele des Pragma-
tismus und des Neopositivismus. Diese Richtungen fragen gewissermaßen
nach dem "Barwert" von Sätzen und Satzsystemen, ihrer Beziehung zu
prüfbaren Beobachtungen und durchführbaren Tätigkeiten3 • Sie fordern
die möglichst genaue Angabe kontroIIierbarer Merkmale, auf Grund
deren man über die Wahrheit oder Falschheit einer Behauptung, die
Normgemäßheit oder Normwidrigkeit eines Verhaltens entscheiden kann;
Formulierungen, die keine derartigen Merkmale angeben, besitzen keinen
kognitiven oder normativen Gehalt. Diese Auffassung befiudet sich in
grundlegender Übereinstimmung mit den konkreten Verfahrensweisen
der Wissenschaft und des Rechtslebens, nur darf sie nicht dahin über-
spannt werden, daß man Sätze einfach als "sinnlos" verwirft, wenn sie
jenen Kriterien nicht entsprechen. Mit Bedacht gehandhabt, sind diese
Kriterien jedoch wertvolle Wegweiser zur Auflösung der verschieden-
artigsten Schwierigkeiten. Vor allem helfen sie uns verstehen, was mit
einem sprachlichen Ausdruck gemeint und gewollt wird. Es kommt nicht
selten vor, daß es der eigentliche Zweck bestimmter Sätze ist, weder
empirisch prüfbare Tatsachenaussagen noch konkrete Werturteile oder
Handlungsanweisungen zu enthalten, sondern einen solchen Gehalt nur
vorzutäuschen. Von "Sinnlosigkeit" weit entfernt, sind diese Ausdrücke
gerade durch ihre Leerheit von beinahe unbeschränkter pragmatischer
Brauchbarkeit - zumindest solange sie nicht als Leerformeln durchschaut
sind.
Daß die Weltanschauungen im allgemeinen ,und die metaphysischen
Doktrinen im besonderen als werthafte Interpretationen der Welt gelten
müssen, ist auch von Wilhelm Dilthey und seiner Schule dargetan worden.

1 H. SIDGWICK: The Methods of Ethics, 7th ed., repr., London 1922,


S. 374/75: " ... a eertain class of sham-axioms ... which appear certain and
self-evident beeause they are substantially tautologieal. .. One important
lesson which the history of moral philosophy teaches is that, in this region
even powerful intellects are liable to aequiesce in tautologies of this kind;
sometimes expanded in circular reasonings, sometimes hidden in the recesses
of an obscure notion, often lying so near the surface that, when onee they
have been exposed, it is hard to understand how they could ever have presented
themselves as important." Anschließend bringt SIDGWICK gut ausgewählte
Beispiele.
11 Vor allem in den .Arbeiten von H. KELSEN, A. Ross und teilweise auch
bei H. WELZEL: Naturrecht.
s eH. S. PEIRCE: How to make our ideas clear, "Collected Papers" Bd. V,
Harvard UP, Cambridge/Mass., 1934, S.248ff. - PH. FRA.NK: Wahrheit,
S.23ff.
272 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

·Weltanschauliche Systeme sind nicht Erzeugnisse des Denkens allein,


sie entstehen nicht aus dem bloßen Willen zum Erkennen. "Die Auf-
fassung der Wirklichkeit ist ein wichtiges Moment in ihrer Gestaltung,
aber doch nur eines. Aus dem Lebensverhalten, der Lebenserfahrung,
der Struktur unserer psychischen Totalität gehen sie hervor!." Sie stellen
einen Zusammenhang dar, "in welchem auf der Grundlage eines Welt-
bildes die Fragen nach Bedeutung und Sinn der Welt entschieden und
hieraus Ideal, höchstes Gut, oberste Grundsätze für die Lebensführung
abgeleitet werden2 ". Nicht wertfreie Erkenntnis, sondern Lebenswürdi-
gung und Willensleitung ist das Ziel der Weltanschauungen. Darum ist
die Auseinandersetzung zwischen ihnen an keinem Hauptpunkt zur
Entscheidung gelangt, es wurde kein Fortschritt im Erkennen erreicht
wie in den Wissenschaften. Vielmehr stehen ihre großen Typen unbeweisbar
und unzerstörbar nebeneinander, denn "ihre Wurzel im Leben dauert
und wirkt fort und bringt immer neue Gebilde hervor3".
DieseTypen - Naturalismus, subjektiver und objektiver Idealismus -
sind wesentlich durch die ihnen zugrunde liegenden Vorstellungsmodelle,
Lebenssituationen und Werthaltungen unterschieden. Die naturalistischen
Systeme sind vor allem an dem Modell materieller Körperlichkeit orien-
tiert, und das Streben nach Lebensgenuß, auch in der sublimeren Form
der Gemütssbille, ist ihr emotionales Motiv. Dagegen faßt der subjektive
Idealismus den zwecksetzenden, herrschenden und gestaltenden Willen,
die praktische Vernunft und ihre sittlichen Entscheidungen als das
Urphänomen des Seins auf: er trägt als "das metaphysische Bewußtsein
des heroischen Menschen" und "jeder großen handelnden Natur"" einen
ausgesprochen ethisch-aktivistischen Charakter. Den notwendigen Dualis-
mus des ethischen Entscheidens und Handelns sucht wiederum der objek-
tive Idealismus durch eine kontemplative, ästhetisch-künstlerische Ver-
tiefung in die universelle Harmonie aller Dinge zu überwinden, und diese
monistische Harmonie gründet letztlich in der Überzeugung, daß die
Welt eine Explikation Gottes ist. Dilthey hat also die Bedeutung klar
erkannt, die der Gegensatz zwischen aktivem und kontemplativem
Verhalten für die Differenzierung der verschiedenen metaphysischen
Weltbilder besitzt.
Die Studien Diltheys wurden von seinen Schülern fortgeführt. Vor
allem Erich Rothacker hat die Feinstruktur der verschiedenen Welt-
anschauungstypen und ihr Verhältnis zueinander mit großem Scharfsinn
analysiert. Besonders wichtig sind seine Beobachtungen über die Spannung
zwischen dem "Monismus" der objektiv-idealistischen Metaphysik und
dem "Dualismus" des Wertens und Handeins oder über die Interferenz-
probleme, die sich ergeben, wenn eine "objektive Vernunft" und eine

1 W. DILTHEY: Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in


den metaphysischen Systemen, Gesammelte Schriften, Bd. VIII, Berlin
1931, S.86.
2 W. DILTHEY, a. a. 0., S.82.
3 W. DILTHEY, a. a. 0., S.87.
4 W. DILTHEY, a. a. 0., S. 111.
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 273

"geschichtliche Gesetzlichkeit" dem individuellen Denken und Tun


übergeordnet werden l .
Doch haben auch andere philosophische Richtungen die Frage nach
der· Herkunft der Leitmodelle menschlicher Weltinterpretation gestellt.
Schon David Hume betont in seiner "Natural History of Religion", daß
"die Menschen von einem Trieb beherrscht werden, die Dinge in Über-
einstimmung mit sich selbst aufzufassen und jedem Gegenstand die
Eigenschaften beizulegen, die ihnen vertraut und an ihnen selbst bekannt
sind 2 ", wobei sie den Gegenständen häufig einen guten oder bösen Willen
zuschreiben. Er berührt auch den Unterschied zwischen biomorphen
und technomorphen Analogien, wenn er bemerkt, die antiken Mythologen
hätten den Gedanken eines natürlichen Zeugungsvorganges dem Ge-
danken an Schöpfung oder Formung der Welt durch eine Art Kunst-
tätigkeit vorgezogen 3 • Auch des soziomorphen Aufbaues polytheistischer
Göttergemeinschaften ist er sich wohl bewußt. Wie in der menschlichen
Ständegliederung, so gibt es auch unter den Göttern gewissermaßen
einen Häuptling, der über sie befiehlt wie ein irdischer Herrscher über
seine Untergebenen und Lehensleute4 • Hume kennt also bereits die wich-
tigsten Gruppen von Modellvorstellungen, doch zieht er noch keine
weiteren Konsequenzen.
Ludwig Feuerbachs genetisch-analytische Untersuchungen über die
Religion bewegen sich teilweise in ähnlichen Bahnen. Auch er versucht,
religiös-metaphysische Vorstellungen auf menschliche Verhältnisse zurück-
zuführen und aus ihnen zu erklären. Die weltanschaulichen Doktrinen
sind für ihn wesentlich Wertphänomene. Selbst der Gottesbegriff wird
durch vorausgesetzte Wertüberzeugungen konstituiert und ist von ihnen
funktionell abhängig. Mit der Verfeinerung der Kultur verfeinern sich
auch die göttlichen Prädikate. Das höchste Wesen wird zum Inbegriff
der Majestät, der Würde, des Schicklichen, der Gerechtigkeit, Güte
und Weisheit. Hätte es diese Eigenschaften nicht, so wäre es mangelhaft
und könnte nicht als wahrhaft göttlich anerkannt werden5 • Darum beruht
jeder Versuch, jene Werte aus dem Gottesglauben abzuleiten, auf einem
Zirkelschluß : "Ich muß die Moral, wenn ich sie durch Gott begründen
will, schon in Gott setzen6 . " Überhaupt bewegt sich das Verhältnis von
Mensch und Gott in einem Zirkel, da der Mensch seine Ideale und sein
Wesen zur Gottesperson vergegenständlicht und dann wieder sich selbst
zum Gegenstand dieses vergegenständlichten, in eine Person verwandelten

~ E. ROTHACKER : Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, im


"Handbuch der Philosophie" hrsg. v. A. BAEUMLER-M. SCHRÖTER, Abt. II,
München 1927, S.63ff., 73f.
2 D. HUME: The Natural History of Religion, The Philosophical Works,
vol. IV, Edinburgh 1826, S. 446.
3 D. HUME, a. a. 0., S.454.
4 D. HUME, a. a. 0., S.465.
5 L. FEUERBACII: Das Wesen des Christentums, Sämtliche Werke, hrsg. v.
W. BOLIN-F. JODL, Bd. VI, Stuttgart 1903, S. 25f.
6 L. FEUERBACII, a. a. 0., S. 330.

Topitsch, Metaphysik. 18
274 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

Wesens macht. Durch diese Rückbezüglichkeit bezweckt er letztlich


sich selbst in und durch Gott!.
Auch andere Gedanken Feuerbachs sind für die Strukturanalyse der
Weltanschauungen bedeutsam. Er betont, daß der Mensch bei der Er-
klärung seiner Umgebung von dem ihm Nächsten, dem Gegenwärtigen
ausgeht und von da auf das Entferntere schließt2 • Dabei spielt die Inten-
tionalität, das planende Denken, Wollen und Handeln, als Modellvor-
stellung eine besondere RolleS. Oft wird die Natur, die Welt als ein Wohn-
haus, eine Uhr oder ein sonstiges mechanisches Kunstwerk angesehen,
dessen Urheber ein Werk- oder Kunstmeister ist. Der Mensch "macht
also die Kunst zum Original der Natur, die menschlichen Werke sind es,
nach denen er die Naturwerke deutet'''. Auch die soziomorphen Analogien
hat Feuerbach als solche erkannt. Der Glaube an die göttliche Welt-
herrschaft ist "eine Vorstellung, die der Mensch nur von sich, von dem
politischen Regimente abgezogen und auf die Natur übertragen hat5 ".
Im jüdisch-christlichen Monotheismus ist Gott ein absoluter Monarch,
dessen Willen sich alles fügt und der durch einen bloßen Befehl die Welt
ins Dasein gerufen hat6 , doch besitzen oft auch für die traditionelle
Theologie die Naturgegenstände als "mittlere Ursachen" eine gewisse
Eigengesetzlichkeit. Dann regiert der kosmische Herrscher bloß als
konstitutioneller Monarch, der an jene Gesetze gebunden ist und nicht
unmittelbar "in das Gouvernement der Welt eingreüt7 ". Allein die Natur
ist keine Monarchie, weder eine absolute noch eine konstitutionelle,
sondern "eine Republik, ein Resultat .•. gleichberechtigter Wesen oder
Kräfte" und der lebendige Organismus ist "ein republikanisches Gemein-
wesen, das nur aus dem Zusammenwirken gleichberechtigter Wesen
·entsteht8 ". So ist beispielsweise der Kopf zwar der Präsident des
Körpers, aber nicht dessen absoluter Monarch oder Regent von Gottes
GnadenD.
Es ist für die Eigenart der Philosophie Feuerbachs als Übergangs-
erscheinung bezeichnend, daß der Denker die der intentionalen W elt-
auffassung zugrunde liegenden analogiehaften Übertragungen weitgehend
durchschaut, ohne sich völlig von ihnen lösen zu können. So deutet er
noch ganz wie Alkmaion von Kroton die Natur nach seinem Staatsideal,
der Republik1o , um dadurch zumindest implicite diese Staatsform als die
naturgegebene erscheinen zu lassen. Überhaupt leidet seine Lehre daran,
daß sie zugleich Ideologie kritisiert und Ideologie produziert. Oft werden

1L. FEUERBACH, a. a. 0., S.37.


2L. FEUERBACH: Vorlesungen über das Wesen der Religion, Sämtl.
Werke Bd. VIII, Stuttgart 1908, S. 188.
3 L. FEUERBACH, a. a. 0., S.156.
4 L. FEUERBACH, a. a. 0., S. 189.
5 L. FEUERBACH, a. a. 0., S.175.
6 L. FEUERBACH, a. a. 0., S.182.
7 L. FEUERBACH, a. a. 0., S.186.
8 L. FEUERBACH, a. a. 0., S.171.
9 L. FEUERBACH, a. a. 0., S.174.
10 L. FEUERBACH, a. a. 0., S. 424f.
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 275

die bewußt bekämpften Denkformen unbewußt weiterverwendet, wenn


auch mit anderen Zwecksetzungen. Auch folgt Feuerbach unter dem
Einfluß Hegels dem schon seit der alexandrinischen Philosophie gebräuch-
lichen Schema der "Entäußerungl ", nur ist es nicht der Urgrund oder
Weltgeist, der sich zur Welt entäußert und aus dieser wieder zu sich
zurückkehrt,! sondern es ist der Mensch, der unter dem Druck der N ot2
sein eigenes Wesen und Ideal zu einem illusionären Gottesbild entäußert
hat und sich durch die Zurücknahme dieser Projektion in sich selbst
erlösen soll. Man könnte sogar sagen, daß Feuerbach, wie so viele
Propheten, die traditionelle Religion kritisiert, um sie durch seine eigene,
"wahre" Religion zu ersetzen. Wenn der Mensch die Gottesillusion als sein
eigenes Spiegelbild durchschaut hat, dann hat er sich selbst oder richtiger
sein wahres Wesen als Gott erkannt. Die Aufhebung der religiösen Schein-
welt und die Rückkehr zur vollen Wirklichkeit des mit sich selbst einigen
Menschen ist also nicht nur eine restitutio, sondern geradezu eine deificatio
hominis: Gott ist nichts anderes als "das offenbare Innere, das ausgespro-
chene Selbst des Menschen3 ".
Ein ähnliches Doppelgesicht trägt der teilweise von Feuerbach ab-
hängige Marxismus, dessen Verwurzelung im intentionalen Weltbild
bereits eingehend analysiert wurde, der aber andererseits auch die grund-
legende Bedeutung erkannt hat, die das menschliche Handeln in Werk-
tätigkeit und Gemeinschaftsordnung für den Aufbau der Welt-
anschauungen besitzt. Schon der junge Marx wollte die rationelle Lösung
aller Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, in
der menschlichen Praxis und dem Begreifen dieser Praxis finden', und
der späte Engels ist noch einen entscheidenden Schritt weitergegangen,
wenn er an den russischen Philosophen Lawrow 5 schrieb: "Die ganze
Darwinsehe Lehre vom Kampf ums Dasein ist einfach die Übertragung
der Hobbesschen Lehre vom bellum omnium contra omnes, und der
bürgerlich-ökonomischen von der Konkurrenz, nebst der Malthusschen
Bevölkerungstheorie in die belebte Natur. Nachdem man dieses Kunst-
stück fertiggebracht . .. so rücküberträgt man dieselben Theorien aus
der organischen Natur wieder in die Geschichte, und behauptet nun,
man habe ihre Gültigkeit als ewige Gesetze der menschlichen Gesellschaft
nachgewiesen." Damit hat Engels nicht nur erkannt, daß man die Natur
nach der Analogie der Gesellschaft deutet, sondern daß dieser Vorgang
auch rückwendbar ist und die in die Natur hineingetragenen sozialen
Gesichtspunkte als "unwandelbare Gesetze" aus dieser wieder heraus-

1 H. DE LUBAC: Die Tragödie des Humanismus ohne Gott, Salzburg 1950,


S.28ff.
Z L. FEUERBACH: Philosophische Kritiken und Grundsätze, Sämtl. Werke
Bd. H, Stuttgart 1904, S. 292.
3 L. FEUERBACH: Wesen des Christentums, S.15. - Sperrungen im
Original.
, K. MARX: VIII. These über Feuerbach (Frühschriften H, S.5).
I; Brief vom 15. bis 17. November 1875.
276 Tradition, Ideologie und 1Vissenschaft

gelesen werden. .Daß ein solches Vorgehen nur zu Irrtümern und Er-
schleichungen führen kann, ist ihm wohl klar gewesen!.
Gleichfalls in die Geschichte der Aufdeckung der soziomorphen
Deutung des Weltgeschehens gehört die Lehre vom Ursprung der Kate-
gorien, welche Emile Durkheim entwickelt hat. Nach seinen Thesen
soll die Kategorie der Klasse von der menschlichen Gruppe abgeleitet
sein, die Kategorie der Zeit vom Rhythmus des sozialen Lebens, die des
Raumes vom Lebensraum des Sozialverbandes und die der Kraft, welche
ein wesentliches Element der Kausalkategorie bildet, vom kollektiven
Machtbewußtsein. Durkheim hat sich auch über die wissenschaftstheore-
tische Problematik dieser soziomorphen Logik und Erkenntnislehre
Rechenschaft abzulegen gesucht. Wenn die Kategorien ursprünglich nur
auf Übertragungen sozialer Urbilder beruhen, so scheint daraus zu folgen,
daß sie auf die übrige Welt nur als Metaphern angewendet werden können,
welche bloß den Wert willkürlicher Symbole haben. Der französische
Soziologe meint sich dieser Konsequenz mit dem Hinweis darauf entziehen
zu können, daß die Gesellschaft ja selbst nur der höchstentwickelte Teil
der Natur ist und daher keine wesentliche Verschiedenheit zwischen den
naturwissenschaftlichen und den gesellschaftswissenschaftlichen Kate-
gorien bestehenkann2 • Man kann diese - keineswegs zwingenden -
Argumentationen aus der Eigenart und den Zielsetzungen der Soziologie
Durkheims erklären. Doch haben sie die sorgsame Untersuchung der
Eigentümlichkeit und Brauchbarkeit der sehr verschiedenen Formen
soziomorpher Modelle und die ideologische Auswertung der Ergebnisse
einer solchen Analyse nicht unbedingt gefördert. Vor allem ist Durkheim
durch sein Bestreben, die gedanklichen Strukturen der reinen Logik
und die allgemeinsten formalen Kategorien soziologisch zu interpretieren,
in Gebiete geraten, die einer solchen Interpretation kaum zugänglich
sind. Dennoch verdanken wir ihm zahlreiche Einsichten in den Aufbau
des sozio·kosmischen Weltbildes. Er hat gezeigt, wie bei primitiven Völ-
kern die Naturdinge einschließlich der Gestirne in die totemistische
Gesellschaftsordnung einbezogen werden, indem man jenen Gegenständen
ein Geschlecht und eine Sippenzugehörigkeit verleiht3 • Aber er hat auoh
beobachtet, wie umgekehrt kosmische Elemente auf die Sozialordnung
zurückwirken, so daß diese ihrerseits dem Universum eingefügt wird:
der Mikrokosmos der Gesellschaft und der Makrokosmos der Natur

1 Daß der" Sozialdarwinismus" aus der gesellschaftlichen Sphäre entlehnte


Vorstellungen in die Natur hineinträgt und aus dieser dann wieder abliest,
ist auch sonst bemerkt worden, z. B. von P. BARTH: Die Philosophie der
Geschichte als Soziologie, I. Teil, 3. u. 4. Aufl., Leipzig 1922, S. 263 und
neuerdings von A. PORTMANN: Natur und Kultur im Sozialleben, 2. Aufl.,
Baselo. J., S. 18ff. - Der rein naturwissenschaftliche Gehalt der Darwinschen
Theorien bleibt bei diesen Erwägungen außer Betracht.
2 E. DURKHEIM: Les formes elementaires de la vie religieuse, Paris 1912,
S. 627f., 25f.
3 E. DURKHEIM U. M. MAUSS: De quelques formes primitives de classifi-
cation, "Annee Sociologique" VI (1901/02), S. 9ff., 23ff.
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 277

stehen in enger Wechselbeziehung1 . Derartige sozio-kosmische Vor-


stellungen haben auch die chinesische Kultur durchdrungen und waren
noch im griechischen Denken und darüber hinaus wirksam. Selbst der
philosophische Gedanke, daß das Universum ein einziges, einheitliches
System bildet, hat nach Durkheim seinen Ursprung und sein Urbild
in der einheitlichen Ordnung der Gesellschaft2 • So soll die soziologische
Methode sogar zur Klärung metaphysischer Probleme beitragen3 _
Doch ist die Analyse des intentionalen Weltbildes und der mit ihm
zusammenhängenden Erscheinungen noch über die im Marxismus und
von Durkheim und seiner Schule erreichten Einsichten hinaus vorwärts-
getrieben worden. Vilfredo Pareto hat die verschiedenen Wege, auf denen
die traditionelle Philosophie die Welt werthaft zu deuten oder Handlungs-
anweisungen theoretisch zn begründen versucht hat, einer einschneidenden
Kritik unterzogen. Die .Rolle, welche die verschiedensten Analogien in
diesem Zusammenhang spielen, ist ihm in ihrer ganzen Tragweite
bekannt, ja er zeigt auf, daß man - zum Teil mit Hilfe vermensch-
lichender Gleichnisse - selbst so wertneutralen Gebilden wie Zahlen
bestimmte Wertbedeutungen zuschreiben konnte4 • Während aber solche
Zahlenspekulationen heute nicht mehr wissenschaftlich ernst genommen
werden, ist ein ähnliches Verfahren in den Naturrechtslehren noch immer
üblich. Pareto nennt es die logica dei sentimenti. Diese besteht in einem
Assoziieren und Kombinieren von Begriffen, Vorstellungen und oft bloßen
Worten, die häufig nicht mehr miteinander gemeinsam haben als vage
Ähnlichkeiten, ja manchmal nicht mehr als einen positiven oder negativen
Wertakzent. Dabei gebraucht man unbestimmte Ausdrücke zur Erregung
von Gefühlen, Definitionen von Unbekannten durch Unbekannte und
Kombinationen von Definitionen und unbewiesenen Behauptungen mit
dem Zweck, dem Leser gefühlsmäßig eine vorausgesetzte Wertüberzeugung
einzuflößen. Oft verschiebt man auch Probleme von einer Ebene auf
eine andere und läßt sie dort ungelöst, sucht aber den Eindruck einer
Lösung zu erwecken5 • Soweit solche Methoden zur Begründung von
Werten und Normen angewendet werden, bilden sie nur derivazioni,
pseudo-theoretische Argumente ohne wirkliche Beweiskraft6 • Man kann -
wie Pareto immer wieder betont - zur Rechtfertigung der gleichen,
jeweils schon vorgegebenen Handlungsanweisungen und Wertpositionen
die verschiedensten Derivationen gebrauchen, aber ebensogut auch ein

1 E. DURKHEIM-M.MAUSS, a. a. 0., S. 39ff., 50ff., 54.


2 E. DURKHEIM-M.MAUSS, a. a. 0., S. 68.
3 E. DURKHEIM-M. MAUSS, a. a. 0., S. 72: "La meme methode pourrait
aider egalement a comprendre la maniere dont se sont formees les idees de
cause, de substance, les differentes formes du raisonnement, etc. Toutes ces
questions, que metaphysiciens et psychologues agitent depuis si longtemps,
seront enfin liberees de redites Oll elles s'attardent, du jour Oll elles seront
posees en termes sociologiques."
4 V. PARETO: Trattato di sociologia generale, 2. ed., Firenze 1923,
§§ 960-965.
5 V. PARETO, a. a. 0., § 442.
6 V. PARETO, a. a. 0., §§ 1413ff., 1543ff.
278 Tradition, Ideologie und Wissenschaft

und dieselbe Derivation zur "Legitimierung" der verschiedensten, oft


völlig entgegengesetzten Ziele und Ideale. Pareto hat also erkannt, daß
viele Grundsätze und Beweisführungen des vorphilosophischen und zumal
des philosophischen Denkens in letzter Linie Leerformeln sind, die man
je nach Bedarf entweder leer lassen oder unter Benützung von Zirkel-
schlüssen mit ganz beliebigen Wertgehalten und Direktiven erfüllen
kannl .
Werden schon bei Pareto einige der Querverbindungen zwischen
intentionalen Analogien, wertenden Interpretationen der Welt und nichts-
sagenden Ausdrücken aufgedeckt, so geht diese Aufdeckung bei Hans
Kelsen weiter, der eine umfassende Darstellung und Analyse der sozio-
morphen Modellvorstellungen gegeben hat und mit großem Scharfsinn
den inhaltslosen Formeln und zirkelhaften Argumentationen in der
traditionellen Rechts- und Moralphilosophie nachgegangen ist. Ihm und
seiner Schule ist diese Untersuchung besonders verpflichtet 2 •
Am tiefsten ist aber bisher wohl Heinrich Gomperz in die Struktur
und innere Problematik der intentionalen Weltauffassung eingedrungen.
Er hat schon früh erkannt, daß scheinbar rein theoretische Denkformen
in praktischen Lebenssituationen verwurzelt sind und nur aus ihnen
wirklich verstanden werden können. Bestimmte, oft ganz einfache und
elementare Erlebnis- und Handlungszusammenhänge des menschlichen
Alltages bilden die Modelle, mit deren Hilfe weniger vertraute Erschei-
nungen und Vorgänge gedeutet werden, wobei man zumeist über ver-
hältnismäßig oberflächlichen Analogien tiefgreifende Unterschiede unbe-
achtet läßt. Diese Unterschiede machen sich aber schließlich doch
bemerkbar, und so entstehen viele der "ewigen Probleme", mit denen
sich die Philosophie manchmal Jahrtausende ergebnislos abgemüht hat.
Dies ist besonders dort der Fall, wo bestimmte Formen des Handelns
und ErIebens als Vorstellungsmodelle auf ein andersgeartetes Gebiet
übertragen werden, mit den dortigen Ordnungen verschmelzen und die
so entstandenen zwitterhaften Denkgebilde schließlich zur Rückanwendung
auf die ursprünglichen Handlungen und Erlebnisse gelangen. Gomperz
hat mit unübertrefflicher Klarheit gezeigt, daß ein solcher Prozeß der
Übertragung und Rückübertragung in dem sogenannten Problem der
Willensfreiheit eine entscheidende Rolle spielt. Man unterlegt nämlich
oft das Aktivitätserlebnis des "Bewirkens", "Nötigens" oder gar "Er-
zwingens" und das entsprechende Passivitätserlebnis des Genötigt- oder
Gezwungenwerdens dem rein funktionalen Verhältnis der Glieder des
Kausalzusammenhanges. So entsteht die Vorstellung einer "aktiven"
Ursache, welche die "passive" Wirkung "determiniert". Diese Vor-
stellungen erweitern zwar unser Wissen um die Kausalbeziehungen nicht,

1 V. PARETO, a. a. 0., §§ 401-463.


2 Neben den bereits erwähnten Werken KELSENS wären noch zu nennen:
Gott und Staat, "Logos" XI (1922/23), S.261ff. - Die philosophischen
Grundlagen der Naturrechtslehre und der Rechtspositivismus, Char1otten-
burg 1928. - "Was ist Gerechtigkeit Y", Wien 1953.
Tradition, Ideologie und Wissenschaft 279

doch bleiben sie so lange verhältnismäßig harmlose Bilder, als sie nicht
auf das aktive Handeln des Menschen rückangewendet werden. In diesem
letzteren Falle entsteht eine eigenartige Problemverschlingung. Die
Frage, ob die als aktiv erlebten Handlungen in bestimmten funktionalen
Zusammenhängen mit anderen Ereignissen stehen, erscheint dann nämlich
zugleich als die Frage, ob dieses spontane Tun nicht "in Wirklichkeit"
ein erzwungenes ist. Erst die scharfe begriffliche Trennung der Kausalität
als objektiver Regelmäßigkeit von ihrer Verbildlichung durch bestimmte
Handlungs- und Erlebnisweisen vermag dieses Scheinproblem aufzulösen!.
Auch einen anderen Fall der Rückanwendung intentionaler Modelle hat
Gomperz als solchen erkannt, nämlich die Problematik des Verhältnisses
zwischen einer "teleologischen", also nach dem Muster unseres Zweck-
handelns aufgebauten "Weltordnung" und dem wirklichen Handeln und
Entscheiden der Menschen.
Ferner verdanken wir Heinrich Gomperz die bisher vollständigste
Aufdeckung der grundlegenden Bedeutung des intentionalen Vorstellungs-
apparates für das Denken der vorsokratischen Naturphilosophen. Knapp
vor seinem Tode hat er die Ergebnisse seiner Lebensarbeit auf diesem
Gebiete in dem mehrfach erwähnten Aufsatz "Problems and Methods
of Early Greek Science" zusammengefaßt. Sie in Buchform auszuarbeiten
war ihm nicht mehr vergönnt. Überhaupt finden sich in seinen Werken
zahlreiche Beobachtungen, die für das Verständnis unserer Problematik
ungemein wertvoll sind, aber noch nicht in systematischer Ordnung auf-
treten.
Parallel zu der eben skizzierten philosophisch-soziologischen Ent-
wicklung sind Einzelforschungen der verschiedensten kulturwissenschaft-
lichen Disziplinen Urgeschichte, Völkerkunde, Kunstgeschichte,
Philologie und allgemeine Geistesgeschichte - meist unabhängig von-
einander auf intentionale Modellvorstellungen und Denkformen gestoßen,
ohne jedoch in der Regel auf die weitverzweigten Zusammenhänge ein-
gehen zu können oder zu wollen.
So schließen sich heute die leitenden Gesichtspunkte und bisher
gewonnene Ergebnisse der Arbeit von Denkern und Forschern der ver-
schiedensten philosophischen Richtungen, wissenschaftlichen Fachgebiete
und nationalen Eigentümlichkeiten mehr und mehr zusammen. Die
grundlegende Wichtigkeit der intentionalen Analogien für den Aufbau
von werthaften Deutungen des Weltgeschehens wird immer deutlicher
erkennbar. Doch zugleich treten auch ihre Schwächen unabweislich hervor.
Nicht nur die Denkformen der modernen Wissenschaft haben sich von
jenen Gleichnissen gelöst, sondern auch die innere Problematik des ganzen
Apparates intentionaler Modellvorstellungen ist als solche zu durch-
schauen. Es zeigt sich, daß er gerade an den entscheidenden Stellen nur
nichtssagende Leerformeln und unauflösliche Widersprüche bietet.

1 H. GOMPERZ: Some simple Thoughts on Freedom and Responsibility,


"Philosophy" XII (1937), S. 61-76; neu abgedr. in "Philosophical Studies",
Boston 1953, S. 159ff.
280 Ergebnisse und Folgerungen

Hier setzt nun die vorliegende Arbeit ein. Sie versucht, die einander
ergänzenden und bestätigenden Einsichten in die Struktur des inten-
tionalen Weltbildes wenigstens vorläufig zusammenzufassen und damit
einen ersten Überblick über Denkformen zu geben, die das menschliche
Geistesleben durch Jahrtausende entscheidend beeinflußt haben und
zum Teil noch heute wirksam sind. Die Fülle des historischen Materials,
mit der ein solches Vorhaben auch dann zu ringen hat, wenn es Voll-
ständigkeit nicht anstrebt und nicht anstreben kann, führt freilich dazu,
daß in der bisherigen Darstellung die eigentlich entscheidenden systemati-
schen Sachverhalte nicht immer mit der entsprechenden Prägnanz heraus-
gearbeitet sind. Es ist daher zweckmäßig, in einer streng systematischen
Zusammenfassung die wichtigsten strukturanalytischen Einsichten ideal-
typisch vereinfacht wiederzugeben. Dazu kommt eine weitere unerledigte
Aufgabe. Selbst wenn die kritische Analyse der intentionalen Weltauf-
fassung vom rein wissenschaftlichen Standpunkt unanfechtbar sein
sollte, ist damit die Frage nach den möglichen Folgen einer solchen
"Entzauberung" noch nicht einmal berührt. Noch heute ist das Gefühl
weit verbreitet, daß die konsequente Kritik an jenen Denkformen -
möge sie auch als Theorie richtig sein - den Menschen ihren inneren
Halt raube, sie seelisch verarmen lasse und sie aus der Geborgenheit der
kosmischen Ordnung in den Nihilismus der wertfreien Faktizität verstoße.
Zumal im deutschen Sprachgebiet sind solche und ähnliche Bedenken
zu erwarten. Ob sie nun berechtigt sind oder nicht, sie sind eine Tatsache,
mit der sich der weltanschauungsanalytisch und ideologiekritisch arbei-
tende Forscher auseinanderzusetzen hat.

Ergebnisse und Folgerungen


Wir haben gesehen, wie sich eine Weltauffassung entfaltete und
langsam wieder auflöste, die das gesamte Universum in den Lebenskreis
des Menschen einbezieht, indem sie das Fremde und Unbekannte nach
der Analogie dessen erklärt, was dem Menschen aus der unmittelbaren
Erfahrung bekannt ist, und dies ist zugleich meist das Lebenswichtige
und emotional Wirksame. Die Sachverhalte, welche auf diese Weise als
erklärende Modellvorstellungen verwendet werden, sind sehr verschieden
und wechseln mit der Umgebung und Kulturstufe, doch lassen sich einige
Klassen derartiger Analogien hervorheben, die eine besondere geistes-
geschichtliche Rolle gespielt haben. Sie gruppieren sich um das Erlebnis
des Vermögens und Wirkens, das der Mensch in sich vorfindet und mit
Recht oder Unrecht den ihn umgebenden Wesen unterlegt. Diese Wirk-
samkeit erscheint manchmal mehr als eine unbestimmte "Macht",
manchmal speziell als Lebens- und Zeugungskraft, oft aber auch als
absichtsgeleitetes, planmäßiges Wollen und Vollbringen, als intentionales
Verhalten. Ein solches Verhalten ist als künstlerisch-handwerkliches Ver-
fertigen und als Zusammenwirken mit den Mitmenschen für den Prozeß
der sozialen Produktion und Reproduktion des Lebens von besonderer
Wichtigkeit. Darum werden Werktätigkeit und SO;l.:ialordnung als inten-
Ergebnisse und Folgerungen 281

tionale Leitbilder bevorzugt; nach ihrer Analogie hat man immer wieder
einzelne Erscheinungen ebenso wie das Weltganze zu verstehen gesucht.
Die Grenzen sind hier - wie meist im Mythos - fließend. Beispielsweise
können Sozialverbände, die auf Verwandtschaftsbeziehungen beruhen,
zugleich als intentionale und als biomorphe Modelle fungieren.
Indem der Mensch wichtige Inhalte seiner unmittelbaren Erfahrung
und Umgebung auf diese Weise in das Universum projiziert, bildet er
die Vorstellung eines "Makrokosmos", der quantitativ unvergleichlich
größer und gewaltiger, qualitativ aber gleich oder ganz ähnlich geartet
ist wie der vertraute Lebensbereich, der gegenüber seinem vergrößerten
Spiegelbild zum bloßen "Mikrokosmos" zusammenschrumpft. Die Be-
ziehungen zwischen diesen beiden Welten hat man sich verschieden vor-
gestellt. Manchmal bestehen verwandtschaftliche Bande, manchmal bloß
sympathetische Entsprechungen zwischen "oben" und "unten"; bald
haben die Himmelskörper Zwangsgewalt über die Erdenschicksale, bald
zeigen sie diese nur an. Im allgemeinen ist aber die "große Welt" die vor-
bildliche, ursprüngliche und überlegene. Die Lebenskraft des Individuums
oder der Sippe ist nur ein Ausfluß der universellen; der irdische König
ist bloß ein Sprößling, Abbild oder Beauftragter des Himmelsherrn, aus
dessen Macbtfülle sich sein Herrschertum ableitet; der menschliche Staat
ist nichts anderes als eine Wiedergabe des kosmischen und muß in diesen
eingebaut oder ihm nachgeformt werden; das Haus, der Tempel oder die
Stadt sollen dem Weltgebäude, die Kleidung und Rüstung des Macht-
habers dem Himmelsmantel entsprechen. So wird der intentional oder
biomorph gedeutete K08mo8 auf 8ein Urbild, das menschliche Leben, Wollen
und Handeln rückbezogen und ihm übergeordnet.
Diese Weltauffassung, die man nach einer ihrer wichtigsten Formen
die sozio·kosmische nennen kann, hat verschiedene Funktionen ausgeübt,
welche sich allerdings erst im Laufe der Zeit deutlich voneinander abge-
hoben haben. Ihre eindrucksvollste und inhaltlich reichste Ausprägung
trägt einen vorwiegend empirisch·pragmati8chen Charakter. Sie bietet in
ihrer Art nicht weniger als eine vollständige Welterklärung, nämlich ein
Gefüge von Zusammenhängen erfahrbarer Daten, besonders solcher, die
für den Menschen wichtig sind. Oft sind dies Zusammenhänge von Hand-
lungen und Handlungsfolgen. In diesem Falle können sie bestimmte
Verhaltensregeln - hypothetische Imperative - begründen. Beispiels-
weise muß der Hieros Gamos regelmäßig rituell nachvollzogen werden,
um die Fruchtbarkeit des Landes zu sichern, und der rechtmäßige Häupt-
ling oder König ist zu respektieren, denn nur er vermag den Wesen in
seinem Machtbereich die kosmische Lebenskraft zu vermitteln. Die
Beobachtung der sozialen und sakralen Ordnung ist zur Aufrechterhaltung
des regelmäßigen Laufes der Natur notwendig, denn jede Störung im
Mikrokosmos zieht eine entsprechende Anomalie im Makrokosmos nach
sich; Naturkatastrophen sind Strafen oder Folgen von menschlichen
Verfehlungen, und die Elemente beruhigen sich erst, wenn Recht und
Sitte wiederhergestellt sind. Auch die Einfügung in den Aufbau des
Universums, wie sie etwa durch die "kosmologische" Anlage von Bau-
282 Ergebnisse und Folgerungen

werken oder Organisation von Staaten vollzogen wird, soll bestimmte


Folgen zeitigen, vor allem Glück und Gedeihen gewährleisten. In allen
diesen Fällen gründen sich Handlungsanweisungen auf Annahmen über
Handlungs/olgen.
Durchaus empirisch-pragmatisch ist auch die Astrologie eingestellt,
die gleichfalls auf jenem Prozeß der Projektion und Reflexion beruht, in
welchem der nach dem Modell des Menschen und seiner unmittelbaren
Umgebung gedeutete Makrokosmos - hier speziell die Sternenwelt -
seinem mikrokosmischen Urbild übergeordnet wird und es "beherrscht".
Das Wissen um den Einfluß der Sterne, der übrigens den ihnen beigelegten
irdischen Prädikaten entspricht, soll Vorhersagen über menschliche
Schicksale und bedeutsame Naturereignisse - also über Erfahrungs-
tatsachen - ermöglichen. Diese Voraussagen sind manchmal absolut
und verkünden eine unentrinnbare Notwendigkeit, oft sind sie aber
hypothetisch und geben Richtlinien für ein Handeln, etwa im Sinne der
astrologischen Medizin, Politik oder Strategie. Dann haben sie die aus-
gesprochen pragmatische Funktion, die besten Mittel und den günstigsten
Zeitpunkt für die Erreichung gewünschter Erfolge - z. B. Gesundheit,
Wohlstand, Macht oder Sieg - anzugeben oder drohendes Unheil abwenden
zu helfen.
Doch alle derartigen Behauptungen über Zusammenhänge zwischen
Erfahrungstatsachen und im besonderen über erfahrbare Handlungsfolgen
sind grundsätzlich empirisch überprü/bar. Sie können sich bei einer solchen
Überprüfung als richtig oder falsch erweisen, verifiziert oder falsifiziert
werden. Die fortschreitende Einsicht in die tatsächlichen Zusammenhänge
des empirischen Geschehens zeigt nun die Unhaltbarkeit der diesbezüg-
lichen Annahmen des biomorphen und intentionalen Weltbildes, vor
allem dessen Unbrauchbarkeit als Instrument der Vorhersagel. Es kommt
zu einem Zusammenstoß zwischen Mythos und Erfahrungswissen, dessen
Ausgang am deutlichsten durch das Schicksal der Astrologie illustriert
wird. Je mehr auf diese Weise die empirisch-pragmatische Komponente
jenes Weltbildes ausfällt, desto stärker verlagert sich dessen Schwerpunkt
auf Gebiete, die einer erfahrungsmäßigen Prüfung entzogen sind. Dieses
Ausweichen in den Bereich des empirisch nicht Falsijizierbaren2 vollzieht
sich in verschiedenen Formen.
Oft gibt man weiterhin empirische Behauptungen und zumal Vorher-
sagen, doch diese sind mehrdeutig oder so unbestimmt, daß sie auf jeden

1 Es ist allerdings möglich, daß manche auf Grund derartiger Annahmen


gemachte Vorhersagen durch ihre Wirkung auf das menschliche Motivations-
bewußtsein und Handeln ihr eigenes Eintreffen herbeiführen (oder aber ver-
hindern), wie dies oben (S. 91) von astrologischen Prophezeiungen gezeigt
wurde. über die allgemeine Problematik der self-fulfilling bzw. self-destroying
predictions vgL R. K. MERTON: Social Theory and Social Structure, 2. Aufl.,
Glencoe/lII. 1951, S. 179ff. - A. GEWIRTH: Can Men Change Laws of Social
ScienceY, "Philosophy of Science" XXI (1954), S.229ff.
a Zum Begriff und der Bedeutung der Falsifizierbarkeit vgL K. POPPER:
Logik der Forschung. Zur Erkenntnistheorie der modemen N aturwissen-
schaft, Wien 1935.
Ergebnisse und Folgerungen 283

nur möglichen Sachverhalt passen und daher im Grunde nichts behaupten


oder aussagen - ein Kunstgriff, dessen sich übrigens die Orakelpraxis
seit unvordenklichen Zeiten bedient hat. Nicht selten wird auch die
Unbestimmtheit in die Methode als solche eingeführt, etwa wenn die
Astrologie ihren Horoskopen neben dem feststellbaren Zeitpunkt der
Geburt auch den ungewissen der Empfängnis zugrunde legt, der dann
immer dazu dient, Fehlprognosen nachträglich zu erklären und zu ent-
schuldigen. Dadurch wird allerdings das ganze Verfahren entwertet, denn
man erhält nie eine verläßliche Voraussage. Ferner ist es möglich, einen
anderweitig empirisch bekannten und gesicherten Zusammenhang rein vor-
stellungsmäßig in das intentionale Weltbild einzubeziehen. Beispielsweise
kann man die Regeln der klassischen Mechanik als Ergebnisse einer gött-
lichen Gesetzgebung interpretieren, ohne an ihnen und ihrem Erfahrungs-
gehalt das geringste zu ändern. In allen diesen Fällen werden die betreffen-
den Aussagen gegen die empirische Falsifizierung dadurch geschützt, daß
sie nichts, nichts Bestimmtes oder nichts N eues über Erfahrungsgehalte
behaupten. Ihre "Unwiderlegbarkeit" ist eine Folge ihrer Leerheit.
Doch ist auch ein Ausweichen in die außertheoretischen Bereiche
des Werthaft·Emotionalen möglich. Dann beansprucht die intentionale
Weltauffassung nicht mehr, Aufschluß über erfahrbare Sachzusammen-
hänge und Handlungsfolgen geben zu können. Ihre empirisch.pragmati-
schen Elemente sind verschwunden, dafür treten ihre bisherigen moralisch-
politischen und ästhetischen Funktionen - wenn auch in etwas anderer
Form - um so deutlicher hervor oder sie nimmt solche neu an. Statt
über Tatsachen etwas auszusagen, wendet sie sich an das Seelenleben
und zumal die Wertüberzeugungen des Menschen.
So hatte etwa im altorientalischen Mythos der Grundsatz, das
menschliche Handeln müsse sich nach der kosmischen und zumal der
makrokosmischen Ordnung richten, einen konkreten Inhalt, nämlich
jene ganze Fülle von kosmologischen Richtlinien, deren Beachtung
vermeintlich Erfolg und deren Mißachtung vermeintlich Unheil brachte.
Das ganze Universum sanktionierte gewissermaßen seine immanenten
Gesetze. Doch schon in der griechischen Philosophie ist von einer
solchen Sanktion keine Rede mehr. Platon beschränkt sich darauf, die
Regelmäßigkeit der Gestirnbewegungen als Vorbild für die moralische
Disziplin, die Festigkeit, Folgerichtigkeit und Unerschütterlichkeit
hinzustellen. Vom Reichtum des Mythos ist hier nur mehr eine rein
formale, auf der Stetigkeit als tertium comparationis beruhende Analogie
zwischen den Umläufen der Sterne und der Charakterfestigkeit des
Menschen übriggeblieben. Der Sternenstaat wird zum Friedensreich
der Ideen spiritualisiert, welches nun seinerseits das Urbild der "bloß
sinnlichen" Himmelsordnung sein soll. Dieser Parallelismus zwischen
physischem und moralischem "Gesetz" hat noch bei Kant mächtig
nachgewirkt. Eine ähnliche Spiritualisierung und Entleerung zeigt sich
auch in der stoischen Kosmosspekulation. Man wußte eben, daß die
Nilschwelle nicht von der Gerechtigkeit des Königs abhängt und daß die
Orientierung einer Stadt nach den Kardinalpunkten auf ihr Schicksal
284 Ergebnisse und Folgerungen

keinen magischen Einfluß hat. Die Idee der "Einfügung in die kos-
mische Ordnung", des naturae convenienter vivere, der imitatio mundi
etc. ist damit ihrer wesentlichsten Voraussetzung und ihres konkreten
Gehaltes beraubt. Hypothetische Imperative, welche die Erreichung
bestimmter Handlungserfolge versprechen, vermag der sozio-Imsmische
Mythos in dieser Gestalt nicht mehr zu geben, sondern nur kategori8che
Forderungen, etwa des Wortlautes, daß die Staatsordnung in die Welt-
ordnung eingefügt werden oder daß man die "naturgegebenen" Rechts-
prinzipien beachten soll. Doch derartige Formeln haben als solche keinen
normativen Gehalt, sie sagen - zum Unterschied von den mythischen
Kosmosritualen - nichts darüber aus, was man nun wirklich tun oder
lassen muß, um sich in die Harmonie des Universums einzufügen.
So entzieht zwar das Ausweichen in den moralisch-rechtlichen und
politischen Bereich die betreffenden Formen der intentionalen Welt-
auffassung tatsächlich der Falsifizierbarkeit durch die Erfahrung und
verfährt auch insofern korrekt, als es keine empirisch leeren Sätze für
sachhaltige Behauptungen ausgibt. Wenn aber bei diesem Verfahren auch
keine pseudo-empirischen Leerformeln resultieren, so ergibt es doch nicht
mehr als pseudo-normative Leerformeln, also Ausdrücke, die einen Norm-
gehalt vorspiegeln, ohne ihn wirklich zu besitzen. Doch derartige Formeln
können, solange sie nicht durchschaut sind, eine erhebliche ,Virkung
auf das menschliche Motivationsbewußtsein ausüben. Der Glaube, daß
bestimmte Normen in einer über aller empirischen Gesetzgebung stehenden
"Naturrechtsordnung" verankert sind, hat die Menschen oft veranlaßt,
sich ihnen bereitwillig zu unterwerfen oder sie anderen Handlungs-
anweisungen vorzuziehen. Wegen dieser psychologischen Wirkung haben
sich weltanschauliche und politische Führungsmächte immer wieder der
naturrechtlichen Leerformeln bedient, indem sie sie mit ihren jeweiligen
Rechtsidealen erfüllten und diesen dadurch den Schein einer höheren
Legitimation verliehen.
Doch kann die intentionale Weltauffassung auch in einer Form ent-
wickelt werden, die weder Behauptungen über Erfahrungstatsachen noch
Normen für ein tätiges Eingreifen in diese aufstellt. Sie wendet sich nicht
an unser Wissen, auch nicht an unser Wollen und Handeln, sondern nur
an unser Werten; sie will die Welt nicht erklären und nicht verändern,
sondern verklären. Ihr geht es vor allem um unsere werthaft-gefühlsmäßige
Einstellung zu dem, was wir durch unser Tun nicht beeinflussen können.
So zielt also auch sie letztlich auf einen psychologischen Effekt, doch ist
sie nur aus der Haltung eines Menschen vollziehbar, der sich rein betrach-
tend mit den Dingen versöhnen, sich in die Harmonie, Schönheit und
Göttlichkeit des Universums versenken will oder wenigstens seinen Frieden
mit dem Unabänderlichen machen möchte. So ist diese Sonderform der
Kosmosidee mit Vorliebe für die "Tröstungen der Philosophie"! heran-
1 Es ist bezeichnend, daß eines der eindrllckvollsten Beispiele betrach-
tenden Lobpreises des Kosmos bzw. seines göttlichen Beherrschers genau
in der Mitte des dritten Buches und damit der ganzen "Consolatio" des
BOETHIus steht. .
Ergebnisse und Folgerungen 285

gezogen worden, aber auch in der dichterischen Verherrlichung der Welt


hat sie immer wieder ihren Ausdruck erhalten.
Mit Tatsachen konnte eine derartige kontemplativ-ästhetische, bald
mehr dichterische und bald mehr religiöse Welt betrachtung nicht in
Konflikt kommen, da sie nichts über Tatsachen aussagt, wohl aber mit
den Notwendigkeiten und Normen des Handeins. Diese Spannung zwischen
Ethik und Kontemplation ist in der Philosophie und Theologie aufgebrochen
oder richtiger: ihr Aufbrechen ist zu einem der erregenden Momente im
Werden dieser Disziplinen geworden. Die meisten der Gegensatzpaare
der traditionellen Problematik jener Gebiete hängen irgendwie mit dem
Gegensatz zwischen Handlung und Schau zusammen: Monismus und
Dualismus, Notwendigkeit und Freiheit, Gnade und Verdienst, objektiver
und subjektiver Idealismus usw. Doch darüber wird in anderem Zusammen-
hang näheres gesagt werden.
Aber es gibt auch eine innere Einstellung, die weder Wissen und
Können noch Tat und Norm will, auch nicht betrachtende Versenkung in
ein verklärtes Universum, sondern kontemplative Erhebung über die
Vielfalt der Gegenstandswelt und unmittelbares Einswerden mit derem
"Urgrund" oder überhaupt mit der "Seinsfülle" als solcher - also ein nicht
genau bestimmbares, aber höchst intensiv werthaftes Erlebnis. Aus dieser
Mystik als Praxis hat sich später eine theologisch-philosophische Theorie
entwickelt, die lange Zeit hindurch der eigentliche Widerpart der in der
intentionalen Weltauffassung verwurzelten Philosophie war. Doch fällt
die. Mystik keineswegs völlig aus dem hier umrissenen Rahmen. In ihrer
Grundhaltung - und nur von dieser soll vorläufig die Rede sein - ist
sie ebenso betrachtend-inaktiv wie die kontemplative Form der Kosmos-
spekulation; wie diese sagt sie nichts über empirische Verhältnisse aus
und ist daher aus der Erfahrung unwiderlegbar, aber wie diese gerät sie
auch notwendig in Spannung zum Handeln und zur Ethik .

. Aus solchen Voraussetzungen ist ein beträchtlicher Teil der sogenannten


philosophischen Problematik erwachsen, ohne daß sich allerdings die
Denker dieser Tatsache bewußt waren oder sich gar kritisch darüber
Rechenschaft ablegten. Oft kannte man schon in der Antike die mythischen
Archetypen der philosophischen Doktrinen nicht mehr oder wußte nicht,
daß sie es waren - so mag Cicero kaum noch die Zusammenhänge zwischen
den sozio-Imsmischen Vorstellungen des Alten Orients und seiner N atur-
rechtslehre geahnt haben. Oder man kannte und erwähnte zwar die
mythischen Bilder, betrachtete sie aber als naive und volkstümliche
Vorformen der eigenen Erkenntnisse, die bloß in sinnlichen Bildern
umschreiben, was der Geist in begrifflichem Denken erfaßt, und die
allenfalls zur Illustration der philosophischen Wahrheiten brauchbar sein
mochten. Hier wie so oft in der Philosophie werden die tatsächlichen
Verhältnisse genau umgekehrt. Die rationalisierten und verblaßten, aber
in dieser abgeschwächten Gestalt noch glaubhaften Spätformen des inten-
tionalen Weltbildes gelten nun als die eigentlich gültigen Kategorien,
sie erhalten den Vorrang, während ihre mythischen Urbilder zu einer
286 Ergebnisse und Folgerungen

dienenden Rolle herabsinken. Mit dieser teilweisen Preisgabe bereits


unglaubhaft gewordener Ausprägungen jenes Weltbildes vermeint die
Philosophie in der Regel, den Erfordernissen der Kritik Genüge getan
zu haben, und erspart sich darum gerne die Rechenschaft über die Tat-
sache, daß sie die alten Handlungsanalogien im Prinzipiellen unverändert
weiterverwendet, ja ihren Anwendungsbereich noch ausdehnt.
Es fehlt also in der Philosophie zwar die volle Bildhaftigkeit und die
empirisch-pragmatische Tendenz des Mythos, doch sie hat die wertende
Deutung der Welt nach dem Modell des menschlichen Handelns und die
Rückbeziehung des so entstandenen Weltbildes auf unser Werten und Tun
mit größter Folgerichtigkeit durchgeführt, und man darf behaupten,
daß viele ihrer Probleme nur den Schwierigkeiten entstammen, die bei
einer konsequenten Durchführung der intentionalen Weltauffassung auf-
brechen.
Schon bei den Vorsokratikern ist klar zu erkennen, wie die inten-
tionalen Modelle aus dem Bereich des Handelns und zumal der sozialen
Ordnungen in den "Makrokosmos" des Universums und den "Mikrokosmos"
des Individuums übertragen werden. Anaximander faßt den Kosmos als
Polis auf, Alkmaion den menschlichen Körper, und für Demokrit sind
Welt und Einzelmensch parallele Herrschaftsordnungen. Bald trägt der
"kosmische Staat" entsprechend der politischen Einstellung der betref-
fenden Denker einen mehr demokratisch-föderalistischen, bald einen mehr
monarchisch-zentralistischen Charakter, wie andererseits auch der sozio-
morphe "Aufbau der Menschennatur" bei Platon ganz von dessen Staats-
ideal bestimmt ist. Daneben wird von technomorphen Modellen häufig
Gebrauch gemacht, wobei man zunächst die großen Zusammenhänge
nach Analogie des intentionalen Planens und Entwerfens, die Einzel-
erscheinungen nach jener des Verhaltens der Werkmaterialien interpretiert.
Alle diese Deutungen sind stark werthaft und tragen den Erfahrungs-
tatsachen wenig Rechnung, ja sie machen oft auf Grund reiner Wert-
postulate Aussagen über Dinge, die der empirischen Forschung nicht
zugänglich waren oder sind. Wenn sich die Gegenstände auf Grund der
sozialen Funktion und des Ranges, der künstlerischen Schönheit oder
technischen Zweckmäßigkeit, die ihnen durch die intentionalen Modelle
zugeschrieben wird, in einer bestimmten Weise verhalten sollten, so
schließt man daraus unmittelbar, daß sie sich tatsächlich so verhalten.
Das Weltprinzip muß in einer Weise beschaffen sein und wirken, die
durch seine Würde gefordert ist, der Bau des Universums muß Propor-
tionen aufweisen, die ästhetisch vollkommen befriedigen. In der Atomistik
tritt das Wertmoment zwar stark zurück, doch es bleibt die Tendenz,
sich zugunsten der technomorph-mechanistischen Leitbilder über Erfah-
rungsgehalte hinwegzusetzen. Was nicht in das Schema paßt, wird als
"Sinnenschein" beiseite geschoben. Auf diese Weise kann man seine
Behauptungen der empirischen Falsifikation praktisch ebenso entziehen,
wie wenn man von vorneherein Thesen über das Unerfahrbare aufstellt.
Platon und Aristoteles bauen die philosophische Form der inten-
tionalen Weltauffassung weiter aus und gestalten sie in mancher Hinsicht
Ergebnisse und Folgerungen 287

um. Das platonische Grunderlebnis der Wertirrationalität der Erfahrungs~


welt macht es dem Denker unmöglich, den sinnlichen Makrokosmos als
vollkommene Rechtsordnung zu verklären. Die Harmonie der Gestirn-
bewegungen erscheint ihm daher nur als Abglanz der viel erhabeneren
Gerechtigkeit in der rein geistigen "Himmelsstadt" der Ideen, die Gesetze
des mundus sensibilis sind bloß Hinweise auf die des mundus intelligibilis.
In seinen späteren Werken nähert sich Platon jedoch der Vorstellung eines
einheitlichen Kosmos, der von einer intentionalen Herrschaftsmacht
geordnet und fürsorglich verwaltet wird. Aristoteles, der sich unter dem
Eindruck der Schönheit und Erhabenheit der Welt von seinem Lehrer
losgelöst hat, entwickelt dieselbe Anschauung, doch überschneidet sie
sich bei ihm mit dem Gedanken, daß die Vollkommenheit des göttlichen
Wesens es verbiete, ihm ein Wollen und äußeres Handeln zuzuschreiben.
Erst die Stoa sollte die Idee des von einer einzigen Vernunftmacht bis
ins kleinste gelenkten Universums mit kompromißloser Folgerichtigkeit
durchführen, und diese Idee ist seit dem Hellenismus und dem Triumph
des willensgewaltigen Gottes der Bibel für den größten Teil der euro-
päischen Philosophie maßgebend geblieben.
Auch die soziomorphe Deutung des Individuums wirkt von Platon
über Aristoteles in die Spätantike und darüber hinaus weiter. Nach dieser
Auffassung bilden die "Seelenteile" oder "Seelenvermögen" eine streng
rangmäßig abgestufte Hierarchie, in welcher die "höheren" Fähigkeiten
die niedrigeren "beherrschen" und diese ihnen "gehorchen" sollen;
ähnliches gilt für das Verhältnis von "Leib" und "Seele" oder "Geist".
Diese Auffassung gerät allerdings bei Aristoteles mit einer vorwiegend
technomorphen in Konflikt und überhaupt mit jedem Versuch einer
wissenschaftlich-beschreibenden Psychologie.
Hatten die Vorsokratiker die intentionalen Modelle vor allem auf
die großen Zusammenhänge des Universums angewendet, so werden durch
die platonische Idee und die aristotelische Entelechie auch die Einzel-
gegenstände klassenweise als empirisch.materielle Verwirklichungen eines
urbildlichen Werkplanes interpretiert. Von größter Bedeutung ist die
technomorphe Theorie der Kausalität, die Aristoteles entwickelt. Während
andere Denker die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung soziomorph
nach dem Modell derjenigen zwischen Schuld und Sühne auffassen,
orientiert sich der aristotelische Begriff der Kausalität in der Lehre von
den "vier Ursachen" an der Tätigkeit des Künstlers oder Handwerkers,
der aus einem gegebenen Werkstoff (materia) ein Werkstück von vorher
entworfener Gestalt (forma) zu einem bestimmten Zwecke (finis) her-
stellt (efficit). Alles Werden ist die wechselnde Formung eines bleibenden
Stoffes, wobei jeweils ein vorher bloß potentiell Vorhandenes zum Aktuellen
verwirklicht wird. Auch das Begriffspaar Potenz und Akt stammt vom
Herstellungsprozeß, bei welchem das menschliche Können aus latenter
Ruhe zur Tätigkeit übergeht und dadurch aus den in der Material-
beschaffenheit gegebenen Gestaltungsmöglichkeiten eine bestimmte
aktualisiert. Diese dem "Kunstwerden" entlehnten Vorstellungen über-
trägt Aristoteles auf den organischen Werdeprozeß und von dort auf den
288. Ergebnisse und Folgerungen

gesamten Weltzusammenhang, aber auch auf den "Mikrokosmos" des


Individuums, das gleich einem Werkstück ein Kompositum aus Form
("Seele") und Stoff ("Leib") darstellen soll. Dabei werden nicht nur die
biologischen Funktionen der Lebewesen und zumal des Menschen nach
den technomorphen Kategorien erklärt, sondern auch die Erkenntnis
gilt als "Formung" eines "Materiales". So dehnt sich hier die intentionale
Weltauffassung über die gesamte Realität aus.
Durch Akademie und Neuplatonismus, Peripatos und Stoa, Patristik
und Scholastik haben diese Vorstellungen das europäische Denken bis
zur Moralmetaphysik und Erkenntnislehre Kants und zur Logosspeku-
lation Hegels entscheidend beeinflußt, doch ist im Laufe der Zeit ihre
Problematik immer deutlicher bewußt geworden, ohne daß man sich
aber in der Regel dazu entschließen konnte, die intentionale Weltauf-
fassung als solche fallen zu lassen.

Doch sollen hier jene Fragen außer Betracht bleiben, die bloß daraus
resultieren, daß die verschiedenen Analogien nicht zu den Sachverhalten
passen, auf die sie angewendet werden. Vielmehr beschränkt und konzen-
triert sich die Untersuchung auf die Probleme oder Scheinprobleme, die
sich aus der Rückbezüglichkeit der intentionalen Weltauffassung ergeben.
Je nach der Art, in der die intentionale Weltdeutung ausgebildet ist,
nimmt diese Rückbeziehuug verschiedene Formen an. Manchmal be-
schränkt man sich darauf, über der Erfahrungswirklichkeit eine wert-
rationale, angeblich "wahre" oder "höhere" Wirklichkeit aufzubauen,
sich kontemplativ in diese zu versenken und dabei das Glück zu finden,
welches das Diesseits versagt. Doch handelt es sich in diesem verhältnis-
mäßig unproblematischen Falle höchstens um den Ansatz einer
Reflexivität.
Eine echte Rückbeziehung ist es jedoch, wenn aus dem "Weltgesetz"
oder den "normativen Urbildern der Dinge" Anweisungen für menschliches
VerhaUen abgeleitet werden, wenn man etwa fordert, daß das positive
Recht nach den in der "Natur" des Alls oder des Menschen vorgegebenen
Normen gestaltet werden solle. Diese Form der Rückbeziehung bietet
eine Reihe bedeutsamer Probleme im Zusammenhang mit der Begründung,
dem Inhalt und der sozialen Funktion der Sätze jener "natürlichen"
Rechtsordnung oder Sittlichkeit. Sie läßt aber die grundlegenden Vor-
aussetzungen aller Wertung und N ormgebung unberührt, nämlich den
Gegensatz von Wert und Unwert, Normgerechtem und Normwidrigem
und die "Freiheit" des Menschen in dem schlicht alltäglichen Sinne,
daß er die an ihn gerichteten Vorschriften befolgen oder verletzen kann.
Diese Voraussetzungen sind jedoch dort beseitigt, wo in folgerichtiger
Durchführung der intentionalen Weltauffassung angenommen wird, daß
alles Sein und Geschehen durch den planenden Willen eines einzigen Welt-
prinzips bestimmt und verursacht ist und dieses Prinzip zugleich den
Inbegriff alles Werthaften darstellt. Ist das schlechthin Wertvolle auch das
schlechthin Mächtige und der einzige Ursprung allen Daseins, so ist alles
Seiende gut und es fehlt jede rationale Grundlage für ein Vorziehen oder
Ergebnisse und Folgerungen 289

Nachsetzen. Noch weittragender ist die Interferenz zwischen der mensch-


lichen Intentionalität und ihrer Projektion, der Intentionalität des Welt-
grundes. Wenn das "zweite Handlungsschema" unser Handeln in einem
Maße mediatisiert, daß der kosmische Logos unsere Willensakte und Taten
direkt bewirkt, so ist es nicht notwendig, ja gar nicht möglich, daß uns
dieser Logos noch einmal als Gesetzgeber gegenübertritt. Hier gerät die
Tendenz, dem universellen Herrschaftsprinzip grenzenlose JJlacht zuzu-
schreiben, mit der Struktur der gesellschaftlichen Beziehungen, also des
Urbildes der soziomorphen Weltdeutung, in Konflikt. Die sozialen
Kategorien von Herrscher und Beherrschtem, Gesetzgeber und Gesetzes-
unterworfenem, Befehl und Gehorsam, Verdienst und Schuld implizieren
nämlich ein gewisses Mindestmaß von Selbständigkeit, das der Befehls-
empfänger oder Normadressat gegenüber dem Träger der Autorität besitzt.
So ergibt sich die Alternative, entweder jene Wertpostulate zu opfern,
welche die Allursächlichkeit des Weltprinzips fordern, oder auf die
soziomorphenModelie zu verzichten. Versucht man dennoch, dem Urgrund
die sozialen Wertattribute der Macht und vVürde in unendlichem Maße
zuzuerkennen und gleichzeitig das Universum als Gesellschaftsordnung
zu deuten, so verstrickt man sich in Widersprüche, die schon aus ihrem
Ansatz heraus unlösbar sind.
Die These, daß ein werthaftes Prinzip die ausschließliche Ursache
·und Herrschaftsmacht des Kosmos darstellt, ist fernerhin mit der Wert-
irrationalität der Lebenswirklichlceit unvereinbar. Auch diese Schwierigkeit
taucht nicht auf, solange man nur ein "Weltgesetz" oder "Naturrecht"
annimmt, das als Norm befolgt oder verletzt werden kann, oder ideelle
Urbilder, die von den Sinnendingen nur in unvollkommener Weise wieder-
gegeben werden. Erst wenn sich die Denker nicht damit zufrieden geben,
das an sich Gute und Vernünftige als bloßes Sollen zu verstehen, sondern
ihm unbeschränkte Macht über die Welt verleihen, schaffen sie eine
Problematik, mit der die Philosophie durch Jahrtausende ergebnislos
gerungen hat. Doch sollen die Wege, die man zur Überwindung dieser
Aporien eingeschlagen hat, erst später im Zusammenhang dargestellt und
kritisiert werden.

Wenn nach dieser ersten Übersicht über die grundsätzlichen V erhält-


nisse bei der Rückanwendung der Handlungsmodelle nun die Problemlage
im einzelnen zur Erörterung gelangt, zeigt es sich noch deutlicher, um
wieviel einfacher die Struktur der Lehren ist, welche sich auf eine bloß
normativ-"naturrechtliche" Rückbeziehung beschränken, als die der-
jenigen, welche das "zweite Handlungsschema " bis zur letzten Konsequenz
durchführen. Vor allem liegen bei der naturrechtlichen Form der inten-
tionalen Weltauffassung nicht schon prinzipielle Widersprüche in den
Voraussetzungen beschlossen. Doch auch sie leistet nicht, was sie zu leisten
vorgibt, nämlich die objektive Begründung absoluter Werte und Normen.
Vielmehr verlaufen ihre Argumentationen entweder in einem Zirkel,
wobei die jeweils schon vorausgesetzten werthaft-normativen Gehalte
als scheinbare Resultate einer Beweisführung auftreten, oder sie ergeben

Topitsch, Metaphysik. 19
290 Ergebnisse und Folgerungen

lediglich Leerformeln, die gar keine Aussage über das Gute und Gesollte
enthalten.
Die normative Rückanwendung der intentionalen Analogien setzt
nämlich auf jeden Fall voraus, daß vermittels der soziomorphen und
technomorphen Modelle den Dingen gewisse Wertbedeutungen unterlegt
werden, die man dann wieder aus ihnen herauslesen kann. Wenn man etwa
die Regelmäßigkeiten der Gestimbahnen oder des Gezeitenwechsels als
Indizien für das Bestehen einer moralisch-rechtlichen Ordnung im Uni-
versum und als Ausdruck der Gerechtigkeit und Pflichterfüllung auffaßt,
so hat man ihnen damit bereits einen spezifisch ethisch.juristischen Wert-
charakter zugeschrieben, den sie als rein physikalische Geschehensabläufe
nicht besitzen. Erst vermöge dieser soziomorphen Interpretation kann
man die makrokosmischen Gleichförmigkeiten dem menschlichen Gemein-
schaftsleben als Norm und Vorbild gegenüberstellen und überordnen,
indem man beispielsweise fordert, die irdische Polis solle der himmlischen
nachgebildet werden oder der Mensch solle den nnwandelbaren Lauf der
Sterne als Muster der Charakterfestigkeit und Pflichttreue betrachten.
Nun ist es entweder möglich, derartige Forderungen in einer ganz vagen
und allgemeinen Form aufzustellen, oder ihnen bestimmte Inhalte zu
verleihen, die gleichfalls vorher in die "Natur" hineingelesen werden
müssen. Natürlich läßt sich auf diese Weise jedes moralisch-politische
Ideal mit dem Schein einer höheren Rechtfertigung versehen. Der gleiche
Zirkelschluß liegt auch dort vor, wo letztgültige Richtlinien für den
Aufbau des Staates aus dem Aufbau der Natur des menschlichen Indivi-
duums gewonnen werden sollen. Wie besonders bei Platon deutlich zu
erkennen ist, wird in diesem Falle nach der Analogie eines vorher erdachten
Idealstaates eine ebenso strukturierte "Menschennatur" entworfen, die
dann ihrerseits das bereits vorausgesetzte Staatsideal als das der wahren
Menschennatur entsprechende ausweisen muß. Man überträgt also gesell-
schaftliche Modellvorstellungen und Wertungen hier nicht auf das Uni-
versum, sondern auf das Individuum und rücküberträgt sie von diesem
mit normativem Anspruch auf die Sozialordnung.
Ähnlich liegen die Dinge bei jenen ethisch-politischen Theorien, die
sich auf technomorphe Leitbilder stützen. Auch hier geht die Argumen-
tation davon aus, daß gewissen Naturvorgängen mit Hilfe der Handlungs-
analogien eine Wertbedeutung zugeschrieben wird, die man dann wieder -
zumindest indirekt - auf das Handeln rückbezieht. So gilt der organische
Werdeprozeß als Verwirklichung eines vorbildlichen Werkplanes und
damit als Erreichung eines objektiv wertvollen Zweckes. Diese Gesichts-
punkte werden auch auf den Menschen angewendet, nur daß bei ihm
nicht bloß die volle physische Entwicklung, sondern auch die moralisch-
charakterliche Tüchtigkeit in dem "Plan der Natur", der Normgestalt
im weitesten Siune, inbegriffen ist. Diese wesentliche Erweiterung des
Verwendungsbereiches der Vorstellung eines normativen Urbildes stößt
aber auf eine entscheidende Schwierigkeit. Die Entwicklungsvorgänge
der Lebewesen sind beobachtbare Prozesse, die unter normalen Bedin-
gungen mit großer Regelmäßigkeit zu einem feststehenden Ergebnis
Ergebnisse und Folgerungen 291

führen. Dadurch ist ein objektiver Sachverhalt gegeben, den man mit
Hilfe von Analogien aus dem Kunstwerden umschreiben und werthaft
deuten kann. Doch ein solcher Sachverhalt fehlt auf moralischem Gebiet,
und selbst wenn es eine vergleichbare Regelmäßigkeit menschlichen
HandeIns gäbe, so würde aus ihrer Faktizität nichts über ihre ethische
Richtigkeit folgen. Daher entbehrt die Vorstellung, daß die Maßstäbe
sittlicher Vollkommenheit und überhaupt die Prinzipien der Moral als
"objektive Zwecke" gewissermaßen im Entwurf des menschlichen Wesens
enthalten sind, jeder Begründung und jedes angebbaren Gehaltes. Die
auf ihr aufgebauten Überlegungen können daher nur leere Formeln ergeben,
die man je nach Belieben und Zweckmäßigkeit mit irgendwelchen Wert-
gehalten erfüllen oder auch .leer lassen mag. Das gleiche gilt für die
platonische Variante der Moralbegründung mittels urbildlicher Norm-
gestalten, die irrtümlich mit den Allgemeinbegriffen vermengt werden.
Die Begriffe sind nämlich nur insofern auf die Erfahrungswelt anwendbar,
als diese gewisse Gleichförmigkeiten zeigt, welche die Klassenbildung
ermöglichen. Vor allem aber sind sie wertneutral, sie umfassen Wertvolles
und Wertwidriges in gleicher Weise. Setzt man die Idee mit dem Allgemein-
begriff gleich, so bleibt sie also an bereits vorhandene Invarianzen gebunden
und besitzt keinen Wertgehalt. Sie vermag also nieht normierend zu
wirken. Sie vermag dies auch dann nicht, wenn man sie als einheitlichen
"Werkplan" gleichartiger Gegenstände auffaßt, denn auch in diesem
Falle müßte es gleicherweise Ideen von positiv und negativ zu Bewertendem
geben. Will man aber nur das Wertvolle in das Ideenreich aufnehmen, so
setzt man bei dessen Konstituierung bereits den Wertmaßstab voraus,
den die Ideen garantieren sollen. Damit gerät man abermals in eine zirkel-
hafte Scheinbegründung jeweils schon vorgegebener Werte und Normen.
Man mag es als eigenartig empfinden, daß die normativ rückange-
wandten Formen der intentionalen Weltauffassung im Gegensatz zu den
gar nicht in die Philosophie aufgenommenen empirisch-pragmatischen
Formen eine äußerst nachhaltige Wirkung erzielen konnten. Argumen-
tationen solcher Art haben schon bei den Vorsokratikern, besonders aber
seit Platon, Aristoteles und der Stoa die ethisch-politische Theorie maß-
geblich beeinflußt und beeinflussen sie teilweise heute noch. Wer überdies
bedenkt, daß die Fehlschlüsse, auf denen diese Lehren beruhen, ohne
besondere Schwierigkeiten zu entdecken sind, wird von dem weltgeschicht-
lichen Erfolg derartiger Doktrinen geradezu befremdet sein.
Doch gerade diejenigen Eigenschaften der Naturrechtslehren, die vom
wissenschaftstheoretischen Standpunkt ihre entscheidende Schwäche aus-
machen, sind die Grundlagen ihres außerordentlichen Erfolges. Wohl ist
der Anspruch jener Konstruktionen, wahre und unverrückbare, über
allem positiven Gesetz stehende Werte und Normen zu begründen,
völlig unhaltbar, da sie bloß leere Formeln darstellen, die mit beliebigen
werthaft-normativen Inhalten erfüllt werden können. Solange dies jedoch
noch nicht bekannt ist, vermögen sie die Überzeugung zu erwecken, daß
bestimmten - eben den im Namen des "Naturrechtes" verkündeten -
moralischen oder politischen Idealen und Programmen der absolute

19*
292 Ergebnisse und Folgerungen

Vorrang vor anderen zukomme, und dadurch die Bereitschaft hervor-


zurufen, gerade diesen Forderungen zu gehorchen und entgegengesetzte
abzulehnen. Doch da die naturrechtlichen Denkformen in Wirklichkeit
leer sind, unterlegt ihnen jeder Denker und jeder soziale Verband seine
eigenen Werte und Ziele und bestärkt sich dadurch im Glauben an deren
absolute Richtigkeit und Berechtigung. Im Laufe der Jahrhunderte hat
man auf diese Weise Monarchie und Republik, Aristokratie und Demo-
kratie, Sklaverei und Menschenrechte, Freihandel und Gemeinwirtschaft
verteidigt. Die Herrschenden und Besitzenden konnten ihre Vorrechte
unter Berufung auf die "Natur" oder die "Vernunft" genau so legitimieren
wie die Revolutionäre ihre Auflehnung gegen eben diese Vorrechte. Die
heidnische Antike vermochte sich jener Denkformen gleicherweise zu
bedienen wie das Christentum und jene neuzeitlichen Strömungen, die
den christlichen Glauben ablösen wollen. Schließlich darf man nicht
vergessen, daß selbst noch die weltanschaulichen Auseinandersetzungen
der Gegenwart im Rahmen der intentionalen WeItauffassung ausgetragen
werden. Christlicher Konservatismus, aufklärerischer Liberalismus und
marxistischer Sozialismus berufen sich auf ein vorgegebenes normatives
"Menschenbild" oder ein "Weltgesetz" - nur verbindet jeder damit
ein anderes politisch-wirtschaftliches Ideal oder Programm.
Die naturrechtlichen Kategorien sind also nicht etwa die Ideologie
eines bestimmten Sozialverbandes, die mit dessen Auflösung aus der
Geschichte verschwindet, sondern ein System von Leerformeln, das jede
Gesellschaftsgruppe mit den ihr genehmen Gehalten erfüllen kann und
das daher den jeweiligen Siegern unterschiedslos zur Verfügung steht.
Daher ist es möglich, daß diese Denkformen durch lange Zeitabschnitte
unverändert erhalten bleiben und so den Eindruck "ewiger", dem ge-
schichtlichen Wandel entzogener "Wahrheiten" erwecken, während sie
sich in Wirklichkeit den jeweils herrschenden Ideologien mühelos und
unbemerkt anpassen lassen und infolgedessen auch stets den Schutz der
Mächtigen genießen. Darin gleichen sie ihren mythischen Vorgängern,
den kosmischen Herrschaftssymbolen, die ebenfalls von den verschie-
densten Machtträgern gebraucht wurden, wobei jeder mit einer gewissen
Selbstverständlichkeit annahm, daß die eigenen Symbole die einzig
wahren und legitimen seien, während die des Gegners deren hoffärtige
Nachahmung oder dämonischen Mißbrauch darstelltenl .
Doch damit ist die staunenswerte Vielseitigkeit, der jene Denkformen
ihren historischen Erfolg verdanken, noch lange nicht erschöpft. Gerade
infolge ihrer Inhaltslosigkeit können sie nicht nur zur scheinbaren Be-
l Beispielsweise haben die Byzantiner in den kosmischen Insignien der
Sassaniden eine dem Geiste Luzüers entstammende Profanation der Herr-
schaftsattribute erblickt, die rechtmäßig allein dem Kaiser zu Konstantinopel
als dem Ebenbild des christlichen Pantokrators zustehen (H. P. L'ORANGE:
Studies, S. 114ff.). Daß es sich um ein gemeinsames hellenistisch-orientalisches
Erbe handelt und daß die betreffenden Herrschaftszeichen ihrem Wesen nach
jedem zur Verfügung stehen, der sich ihrer bedienen will, hat man damals
allerdings ebensowenig erfaßt wie heute den prinzipiell gleichen Charakter
der naturrechtlichen Denkformen.
Ergebnisse und Folgerungen 293

gründung und Rechtfertigung der verschiedensten moralisch-politischen


Prinzipien und Ideale verwendet werden, sondern auch zur Verschleierung
der Preisgabe oder des Fehlens von solchen. Der gleichbleibende Wortlaut
der obersten Grundsätze, der in Wirklichkeit nichts besagt, ist mit einer
ausschließlich von Zweckmäßigkeitserwägungen geleiteten Praxis ver-
einbar und vermag besonders im Bewußtsein der Geführten den Eindruck
unwandelbarer Stetigkeit der letztgültigen Normen zu erwecken, ohne
die Führenden in ihren konkreten Entschlüssen zu behindernl . Weiterhin
sind derartige Leerformeln auch geeignet, Gegensätze zwischen verschie-
denen moralisch-politischen Anschauungen zu verdecken, Binnen- und
Außenmoral einer Gruppe scheinbar auf einen gemeinsamen Nenner zu
bringen und das Gefühl ihrer weltanschaulichen Geschlossenheit und
Einigkeit auch dann aufrechtzuerhalten, wenn in ihrem Inneren tief-
greifende Meinungsverschiedenheiten bestehen. Manchmal wird die
gleiche "naturrechtliche" Doktrin von den herrschenden und beherrschten
Schichten innerhalb eines Sozialverbandes verschieden ausgelegt, so daß
eine esoterische und eine exoterische Auffassung einander überlagern2 ,
ohne den Bruch offen hervortreten zu lassen. Doch nicht nur der politisch
Handelnde, sondern auch der mitfühlende Betrachter, der erschüttert
vor dem historischen Wandel der Werte und Ideale steht, findet bei
jenen Formeln, was er sucht, nämlich ewige und unveränderliche Prin-
zipien, die hoch über dem blutigen Chaos der Geschichte schweben und
die ihm ein G~fühl metaphysischer Geborgenheit verleihen.
Es ergeben sich also aus der normativen Rückanwendung der
intentionalen Modelle nur leere Formeln, die für eine wissenschaftlich
tragfähige Begründung eines letztgültigen Sollens völlig wertlos und
unbrauchbar sind, aber gerade infolge ihrer Inhaltslosigkeit psychologisch-
politisch eine schlechthin universelle Verwendbarkeit besitzen. Statt eine
klare Entscheidung über Wert und Unwert zu ermöglichen, geben sie
jedem, was er wünscht, und werden gerade darum von jedem geschätzt
und verteidigt. Niemand will das eigenartige Doppelspiel durchschauen,
das auf diese Weise zustande kommt: während man auf der einen Seite
den "Relativismus" im Namen der "Idee", der "Menschennatur" oder
des "Weltgesetzes" feierlich in Bann tut, kehrt er von der anderen Seite
in Gestalt der mannigfaltigen und miteinander unvereinbaren Gehalte
wieder, die man jenen Leerformeln verleiht.

Die normative Rückanwendung der Handlungsmodelle ist aber


wenigstens frei von Widersprüchen in ihrem Ansatz. Solche Widersprüche
treten jedoch auf, wenn die intentionale Weltauffassung in einer Weise
auf die Spitze getrieben wird, daß sie mit ihren eigenen Voraussetzungen
und mit den Tatsachen des Weltlau/es in Konflikt gerät. Das ist der Fall,
sobald man durch das Streben nach systematischer Konsequenz und vor
allem nach höchstmöglicher Steigerung der Würde des werthaften Welt-

1 Vgl. PH. FRANK: Wahrheit, S.76ff.


2 E. TOPITSCH: Sozialtheorie, S. 176ff.
294 Ergebnisse und Folgerungen

prinzips dazu geführt wird, dieses als ausschließliche Herrschaftsmacht


und einzige Ursache des Universums zu verherrlichen - denn weder
der Sachverhalt des Wertes noch die intentionalen Modelle lassen sich
auf solche Weise ins "Absolute" steigern.
Allem Werten, allem handelnden Entscheiden und dessen Leitung
durch Handlungsanweisungen ist ein unvermeidlicher "Dualismus" eigen-
tümlich. Er bekundet sich im Gegensatz von Wert und Unwert, Vorziehen
und Hintansetzen - in Brentanos drastischer Ausdrucksweise "Lieben"
und "Hassen" -, Vorschreiben und Verbieten usw. Wenn man nun alles
von dem einzigen Weltgrund, der zugleich der Inbegriff des Wertvollen
ist, beherrscht, bewirkt und hervorgebracht sein läßt, so hebt man dadurch
diesen Gegensatz und damit die Grundlage der Wertphänomene über-
haupt auf. Es kann dann gar nichts Wertwidriges, Hassenswürdiges oder
Verbotenes geben, aber auch nichts, was vor allem anderen als wertvoll,
erhaben und göttlich ausgezeichnet ist. So wird, wenn der "monistische"
Grundgedanke zur folgerichtigen Durchführung gelangt, überhaupt nicht
gewertet. Will man aber dennoch werten, dann muß man offen oder
heimlich den "Dualismus" einführen, indem man einen Faktor annimmt,
der nicht aus dem Weltgrund hergeleitet werden kann und an dem dessen
Macht ihre Schranken findet - mag man diesen Faktor nun als "Materie",
"FinBternis" oder "Nichtsein" bezeichnen. Diese Notwendigkeit ist auch
nicht durch die Behauptung zu umgehen, das Wertwidrige sei bloß ein
"Mindergutes", denn die Wertminderung läßt sich ebenfalls nicht aus
dem absolut Wertvollen erklären. Die Annahme der alleinigen Wirklichkeit
und unbeschränkten Wirkungsmacht des schlechthin Guten bleibt mit
dem Gegensatz von Wert und Unwert, ohne den es kein Werten gibt,
unvereinbar.
Doch trägt diese Annahme nicht nur einen Widerspruch in sich,
sondern sie stößt auch auf das Faktum der Wertirrationalität der Erfah-
rungswelt und muß ihm Zugeständnisse machen, die ihrer Preisgabe
gleichkommen. Die verschiedenen Versuche der Logodizee, der Recht-
fertigung der universellen Vernunftmacht, zeigen dies deutlich.
Die Tatsache, daß sich das Menschenschicksal nicht nach Wert-
gesichtspunkten richtet, konnte man nicht beseitigen und so mußte man
ihr die philosophische Doktrin anpassen. Am einfachsten war es, zu diesem
Zwecke das Werten überhaupt auszuschalten und zu erklären, die soge-
nannten Übel seien in Wirklichkeit wertneutral. Daß man dann auch die
Güter als wertneutral ansprechen könnte oder folgerichtigerweise sogar
müßte, hat man dabei allerdings nicht bedacht. Ebenso fragwürdig ist
die Methode, Sein und Wert zur Deckung zu bringen, indem nur dem
Wertvollen das Prädikat des Seins zuerkannt, allem anderen jedoch
abgesprochen wird. Häufig geschieht dies mit Hilfe der sogenannten
Privationstheorie, nach welcher das Übel und das Böse nichts "Seiendes"
darstellen, sondern einen bloßen Mangel, ein Zurückbleiben hinter der
geschuldeten Vollkommenheit, etwa wie ein mißlungenes Werkstück
hinter seinem fehlerlosen Entwurf zurückbleibt. Doch diese Definition
des Seins durch den Wert ändert nichts an dem faktischen Vorhandensein
Ergebnisse und Folgerungen 295

und der praktischen Lebensbedeutsamkeit des Minderwertigen; sie ändert


auch nichts daran, daß das angeblich "Nichtseiende" sich als eine Macht
erweist, an welcher die Vernunftmacht des "Seins" ihre Schranken findet.
Wer aber solche Wege nicht einschlagen will, muß das Wertwidrige
als Realität anerkennen und versuchen, diese Realität in irgendeiner
Weise mit der Annahme einer wertrationalen Weltordnung in Einklang
zu bringen. Das ist jedoch nur möglich, wenn man die Absolutheit und
Lückenlosigkeit dieser Ordnung preisgibt und sie auf das Niveau mensch-
licher Unvollkommenheit zurücknimmt, wo das Übel oft notwendig und
unvermeidlich ist. Diese Zurücknahme vollzieht sich meist in den ge-
wohnten soziomorphen und technomorphen Kategorien. Der kosmische
Logos ist wie ein irdischer Herrscher oder Künstler durch Umstände
gehemmt, die sich seinem Einfluß entziehen. Er muß zur Erreichung
wertvoller Ziele fragwürdige Mittel und Nebenfolgen in Kauf nehmen
und ist an die von ihm unabhängige Eigenart der Werkstoffe gebunden.
Die Verwaltung des Universums kann sich nicht um alle Kleinigkeiten
kümmern - und alles Menschenlos mag als "Kleinigkeit" gelten - oder
die Staatsräson der "großen Polis" fordert in manchen Fällen sogar die
Leiden der Gerechten. Soziomorph ist auch die Annahme, das Übel diene
der kosmischen Vernunftmacht als Mittel der Strafe, der Prüfung oder
der Erziehung. Wenn dagegen eingewendet wird, daß Glück und Unglück
den Menschen nicht nach Verdienst und Schuld zufallen, so läßt sich die
"ausgleichende Gerechtigkeit" leicht über die Grenzen des Erkennbaren
hinaus verschieben, etwa durch die Verlegung in eine noch unbekannte
Zukunft oder ein Jenseits, durch die Annahme der Seelenwanderung
oder der Bestrafung von Verwandten und nicht zuletzt durch das Macht-
wort, es stehe irdischem Aberwitz nicht zu, mit den unerforschlichen
Ratschlüssen der Vorsehung zu rechten.
Alle diese Überlegungen gehen zwar im rein philosophischen Sinne
auf die Notwendigkeit zurück, die Idee einer wertrationalen Weltordnung
zu verteidigen, aber sie wurzeln in einer tieferen und bedeutsameren
Schicht der Auseinandersetzung mit der Welt und sind überhaupt nur
aus einer ganz bestimmten menschlichen Grundhaltung verständlich und
in ihr vollziehbar. Es ist dies eine Haltung, die das Wertwidrige nicht
zu überwinden sucht, indem sie es handelnd zurückdrängt und im idealen
Grenzfall aus der Erfahrungswelt beseitigt, sondern die sich mit ihm
innerlich abfindet und versöhnt, es verharmlosend abschwächt und es
schließlich zu überwinden meint, wenn sie seine Realität leugnet. Sie ist
eine Einstellung der Kontemplation im Gegensatz zu jener des aktiven
Handelns.

Damit sind wir wieder bei den Grundlagen aller Weltanschauungs-


konstruktionen angelangt, nämlich bei den elementaren Beziehungen des
wertenden und handelnden Menschen zu seiner Umwelt. Wo der Mensch
den Weltlauf zu beeinflussen vermag, dort kann er ihn in höherem oder
geringerem Grade seinen Wertungen anpassen. Er kann und muß Ent-
scheidungen über alles treffen, was seinem handehiden Eingriff zugänglich
296 Ergebnisse und Folgerungen

ist, und er gibt und erhält Anweisungen für solche Entscheidungen. Das
Hantieren mit Sachen und der Umgang mit den Mitmenschen wird auf
diese Weise durch ein Netz von Normen geregelt, über deren Einhaltung
die Gemeinschaft wacht und deren Verletzung sie moralisch oder rechtlich
verurteilt. Alles das dient letztlich dem Zweck, die Tatsachen der Welt,
sofern sie gestaltbar sind, nach vorgegebenen Wertungen zu gestalten.
Grundsätzlich anders gelagert ist die Situation dort, wo der Lauf
der Dinge durch menschliches Handeln nicht beeinflußt werden kann.
Hier lassen sich wertwidrige Tatsachen nicht beseitigen, sondern stellen
den Menschen vor die Alternative, entweder an seinen Wertungen fest-
zuhalten und ohnmächtig gegen das Unabänderliche aufzubegehren oder
sich durch Anpassung der Wertgrundsätze mit den Fakten zu versöhnen
und sich dadurch seelische Belastungen zu ersparen oder wenigstens zu
erleichtern. Gerade eine solche innere Entlastung hat man immer wieder
bei der Philosophie gesucht und auch gefunden. Ein großer Teil der
metaphysischen Spekulation dient vornehmlich diesem Zweck. Das
Erlebnis der eigenen Ohnmacht und Erfolglosigkeit und das Streben,
dieses Erlebnis seelisch zu verarbeiten und ihm seinen Stachel zu nehmen,
haben stets zu den hauptsächlichen Triebkräften des Philosophierens
gehört, während der Tatmensch, der seine Lebenserfüllung in der aktiven
Weltgestaltung erstrebt und im Erfolge erreicht, meist weder Zeit noch
Anlaß zu philosophischen Reflexionen findet. Wir haben es also letztlich
mit zwei Situationen und Haltungen zu tun, deren Voraussetzungen und
Ziele einander ausschließen.
Beide Grundhaltungen können als Basis weltanschaulicher Konstruk-
tionen dienen, die eine gewisse innere Folgerichtigkeit besitzen und auch
im Leben durchführbar sind - freilich nur im Rahmen ihrer Voraus-
setzungen. Wer handeln kann und will, der wird die Erfahrungswirklich-
keit ernst nehmen, denn in ihrer Gestaltung und der Überwindung ihrer
Widerstände sieht er seine Leistung und Bewährung. Er wird einer
Theorie anhängen, welche die Wertgrundsätze stärkt und bestätigt,
nach denen er die Dinge formen will. Selbst wenn er sich einer Zwei-
weltenlehre anschließt, ist ihm die ideelle Überwelt nicht Zufluchtsstätte,
sondern Inbegriff von Handlungsnormen, von Anweisungen für diesseitige
Wirksamkeit. Diese aktive, ethisch-politische Haltung kann allerdings
nur dort zur Entfaltung gelangen, wo ein tätiges Gestalten der Welt
möglich ist. Will man angesichts unüberwindlicher Widerstände an einer
solchen Gesinnung festhalten, so bietet sie keinen Trost, sondern man
muß das Wertwidrige als brutales, übermächtiges Faktum hinnehmen,
sei es in heroischem Trotz, sei es in nüchterner, illusionsloser Gelassenheit.
Doch so hart es vom psychologischen oder menschlichen Standpunkt
sein mag, die der Situation des HandeIns angemessene und aus ihr ent-
sprungene Weltauffassung auch dort aufrechtzuerhalten, wo es kein
Handeln mehr gibt, so führt dieser Versuch wenigstens zu keinen grund-
sätzlichen gedanklichen Schwierigkeiten.
Zu viel ernsteren, auch für die Entwicklung der Philosophie hoch-
bedeutsamen Fragestellungen kann jedoch jene andere Haltung Anlaß
Ergebnisse und Folgerungen 297

geben, welche die Wertrationalität der Welt dadurch herstellen will,


daß sie die Wertungen so lange ändert, bis keine unentriunbaren Tat-
sachen mehr als wertwidrig empfunden werden. Es gibt nun zweifellos
Situationen, in denen diese Einstellung insofern sinnvoll ist, als sie uns
das Ertragen eines harten Schicksals erleichtert, ohne uns direkt in
Widerspruche zu verstricken. Wer als unheilbar Kranker oder als ver-
urteilter Gefangener das unabwendbare Ende nahe vor Augen hat oder
wer sich über den Verlust eines geliebten Menschen hinweghelfen möchte,
kann von jenen Möglichkeiten ebenso Gebrauch machen wie der Priester,
der die Unglücklichen tröstet und die Herrlichkeit des Kosmos oder seines
göttlichen Schöpfers und Beherrschers lobpreist. Doch der Sieche oder
Eingekerkerte wird kaum unter Berufung auf die Argumente, mit deren
Hilfe er sich sein Los erträglicher gemacht hat, eine konkrete Rettungs-
möglichkeit ausschlagen; der Hinterbliebene hätte niemals dem Hin-
geschiedenen das Leben etwa mit der Begründung abgesprochen, daß
es ein Glück sei, dem irdischen Jammertal zu entfliehen; der Priester,
der als Trostspender und als kontemplativer Theologe mit dem Wert-
widrigen versöhnt, wird im praktischen Leben und als moralischer Er-
zieher oder Berater das Übel bekämpfen und die Sünde verurteilen.
In diesem Gegensatz der Verhaltensweisen tritt eine grundsätzliche
Problematik zutage. Bei dem Prozeß der Anpassung an wertwidrige,
alJer durch unser Tun unbeeinflußbare Tat8achen werden die ursprünglichen,
dem Bereich des H andelns und des unreflektierten Fühlens entstammenden
WerthaUungen erheblich verändert, ja oft in ihr genaues Gegenteil verkehrt.
So bilden sich zwei verschiedene, einander oft direkt entgegengesetzte
Formen wertender Einstellung zu den Dingen, deren eine, praktisch
orientierte, für das handelnde Verändern des Weltlaufes maßgebend ist,
während die andere, vorwiegend kontemplative, mit dem Unveränder-
lichen versöhnen soll. In der Regel nimmt der Mensch rein instinktiv
die der jeweiligen Situation entsprechende Werthaltung ein, er strebt
das erreichbare Gut herzhaft an und tröstet sich über das unvermeidliche
Übel resigniert hinweg. Vor allem wird kaum jemand in der Resignation
verharren, wenn sich ihm erfolgversprechende Handlungsmöglichkeiten
bieten, und so die kontemplativen Wertmaßstäbe in den Bereich des
Tuns übertragen. Infolge dieser weitgehend unbewußt und als Selbst-
verständlichkeit geübten Praxis kommt der Gegensatz zwischen den
beiden Einstellungen in der Lebenswirklichkeit nicht allzu auffällig zur
Geltung.
Erst die philosophische Spekulation, die jene Haltungen zu welt-
anschaulichen Systemen ausbaut, stößt auf die hier vorliegenden Schwie-
rigkeiten, doch kann sie sie in der Regel nicht meistern, da sie ihre Vor-
aussetzungen nicht durchschaut. Die Problematik ist dort besonders
ernst, wo die kontemplative Rechtfertigung des Seienden zu einer Welt-
auffassung ausge8taltet wird, die universell gültig 8ein und damit auch den
Bereich der Aktivität einbeziehen soll. Dadurch kommt es zum direkten
Konflikt zwischen den beiden einander widersprechenden Werthaltungen,
und dieser Konflikt wird um so heftiger, je größer die systematische
298 Ergebnisse und Folgerungen

Folgerichtigkeit ist, mit der die kontemplative Haltung ihren Absolutheits-


anspruch geltend macht. Er äußert sich philosophisch vor allem im
Gegensatz zwischen betrachtend-verklärender Metaphysik auf der einen,
moralisch bestimmter Metaphysik oder Ethik auf der anderen Seite. Was
die Logodizee rechtfertigt oder entschuldigt, das muß das ethische Denken
verbieten oder verurteilen und umgekehrt. Vor der letzten Konsequenz
metaphysischer Seinsverklärung, der Aufhebung aller Ethik, ist angesichts
der praktischen Folgen einer solchen Lehre die Philosophie ebenso zurück-
geschreckt wie die kirchliche Theologie. Höchstens im Rahmen von Sekten
konnte man mit der These ernst machen, daß alles Sein und daher auch
alles menschliche Handeln gut sei. Immerhin sind auch manche Philo-
sophen durch den Zwang ihres metaphysischen Systems erstaunlich weit
in diese Richtung gedrängt worden, etwa wenn selbst ein so milder und
sittlich untadeliger Mensch wie Plotin die tatsächlich oft bestehende
Herrschaft der moralisch Minderwertigen rechtfertigt, nur um die Idee
einer gerechten Weltordnung zu retten. Zwar haben schon in der Spät-
antike einzelne Scharfsinnige erkannt, daß mit den Argumenten der
Logodizee jedes Verbrechen zu entschuldigen ist, aber ihre Einsichten
vermochten sich nicht gegen die mächtigen Zeitströmungen durchzu-
setzen. Doch hat man wenigstens die Spannung zwischen aktiver und
kontemplativer Weltauffassung stets mehr oder minder deutlich emp-
funden, ja das Problem einer ausgleichenden Vermittlung zwischen beiden
ist eines der großen Themen der traditionellen Philosophie. Zu diesem
Zweck wurde oft auf die beliebte Unterscheidung zwischen dem "Sein"
schlechthin, dem "wahren" und dem "nur empirischen" Sein zurück-
gegriffen. Sollte die philosophische Theorie bloß den Weltlauf betrachtend
verklären und mit ihm versöhnen, so war aIIes vernünftig, gut und gött-
lich; soIIten aber handelnde Entscheidungen ethisch-politisch gelenkt
oder beurteilt werden, so betonte man, daß jene Wertprädikate selbst-
verständlich nicht jeder "bloß sinnlichen, zufälligen oder faulen", sondern
nur der "wahren" Wirklichkeit zukämen, wobei allerdings durch diese
beiden Formen der "Wirklichkeit" genau das bezeichnet wurde, was den
vorausgesetzten praktischen Wertmaßstäben entsprach beziehungsweise
widersprach. Daß solche Aushilfen den Gegensatz jener beiden Wert-
haltungen nicht überbrücken oder überwinden können, ist offenkundig.
Allenfalls mögen sie ihn verdecken, so daß der Philosoph den Übergang
von der einen zur anderen, den der einfache Mann in unproblematischer
Selbstverständlichkeit vollzieht, hinter einem Schleier mehrdeutiger
Ausdrücke verbergen kann, die wenigstens rein sprachlich das Bestehen
einer einheitlichen und widerspruchsfreien Weltanschauung vortäuschen.
Das Streben nach der "Einheit des Weltbildes" und das Denken in
abgeleiteten weltanschaulichen Kategorien statt in ursprünglichen, konkreten
Lebenssituationen haben es den Philosophen meist nicht zu Bewußtsein
kommen lassen, daß die Voraussetzungen der vorliegenden Problematik
jede wirkliche Vermittlung ausschließen. Hier gibt es nur Alternativen.
Entweder können wir handelnd die Tatsachen unseren Wertungen an·
passen oder nicht, und wenn wir es nicht können, so haben wir die Wahl,
Ergebnisse und Folgerungen 299

an unseren Wertungen festzuhalten und den wertwidrigen Fakten machtlos


gegenüberzustehen oder die Wertungen den unabänderlichen Tatsachen
anzupassen. Im letzteren Falle muß die aus der Anpassung entstandene
Wertordnung der ursprünglichen widersprechen, da sie ja eigens zu dem
Zweck geschaffen wurde, für wertvoll oder wenigstens wertneutral zu
erklären, was nach jener als wertwidrig gilt. Zwischen beiden ist nur
eine Entscheidung möglich. So lange nun die eine auf die beeinflußbaren,
die andere auf die unbeeinflußbaren Sachverhalte angewendet wird, ist
diese Entscheidung durch die Fakten vorgezeichnet und eine leidlich
klare Grenze zwischen den beiden Anwendungsbereichen gezogen. Wird
aber die dem Unveränderlichen angepaßte, kontemplativ-versöhnende
Werthaltung auf das Gebiet handelnder Weltgestaltung übertragen, so
kommt es zum direkten Konflikt. Dabei setzen sich jedoch die dem
Handeln entsprechenden Wertungen in ihrem Bereich wenigstens de facto
durch und es bleibt bei rein terminologischen Zugeständnissen an die
Gegenseite, denn das unmittelbare Interesse an der Regelung der Lebens-
verhältnisse läßt sich nicht dauernd unterdrücken. Keine soziale Gruppe
wird Raub und Mord unter ihren Mitgliedern gutheißen, bloß weil diese
Missetaten angeblich keine wahren Übel sind, kein "wirkliches Sein"
besitzen oder im Rahmen der kosmischen Ordnung eine Notwendigkeit
darstellen.
Es ergibt sich aber noch eine weitere Schwierigkeit. Wo nämlich die
Tatsachen unverrückbar feststehen, dort ist es klar, mit welchen Gegeben-
heiten wir uns kontemplativ versöhnen sollen; wo aber unser Handeln
über die Gestaltung der Dinge zu entscheiden vermag, dort gibt es gar
keine eindeutig gegebene, unabänderliche Wirklichkeit, der die Wertungen
angepaßt werden könnten. So kommt es, daß die kontemplativen Grund-
sätze auf dem Gebiet der Aktivität oft jedes Inhaltes entbehren. Wer etwa
vor der Berufswahl steht, für den ist die Aufforderung, mit seinem Schicksal
innerlich einig zu werden, einfach nichtssagend, da in seiner Situation
ein vorgegebenes "Schicksal" gerade fehlt, und ebensowenig wird ihm
die Belehrung, daß alles Wirkliche gut sei, eine der wählbaren Möglich-
keiten als die vorzüglichste erscheinen lassen. Auf alle diese Schwierig-
keiten muß notwendig jeder Versuch stoßen, philosophische Doktrinen,
die aus dem Streben nach versöhnender Betrachtung des Weltlaufes
entstanden sind, zu universalen Weltanschauungen auszubauen. Es ist
daher verständlich, wenn gerade bedeutende Denker den Schwerpunkt
ihrer Logodizee im Bereich des Unbeeinflußbaren und endgültig Ent-
schiedenen belassen haben, wie dies bei der Geschichtsphilosophie Hegels
der Fall ist.
So läßt sich auch hier wieder dartun, daß philosophische Probleme
aus bestimmten Grundsituationen der wertenden und handelnden Aus-
einandersetzung des Menschen mit der Welt erwachsen und nur dann
völlig durchschaubar werden, wenn man jene Situationen und die in
ihnen gegebenen Möglichkeiten unverwandt im Auge behält. Freilich
zeigt es sich oft, daß wir vor Alternativen stehen, in denen uns kein
rationaler Beweis die Entscheidung abzunehmen vermag. Ob wir ange-
300 Ergebnisse und Folgerungen

sichts unüberwindlicher Übel an den Wertgrundsätzen, die für unser


Handeln maßgebend sind, festhalten oder sie den übermächtigen Um-
ständen anpassen sollen, kann uns keine Erkenntnis sagen. Wir erkennen
nur die verschiedenen Möglichkeiten und ihre Konsequenzen, nämlich
daß wir entweder die Einheitlichkeit unserer Wertordnung mit dem
Risiko schwerer seelischer Belastungen oder die seelische Entlastung mit
einer "doppelten Buchführung" des Wertens erkaufen müssen. Doch
wollen viele diese Alternative nicht in ihrer ganzen Härte wahrhaben
und nicht selten ist dieser Wille zum Vater philosophischer Theorien
geworden, die zugleich eine einheitliche Wertordnung und eine Entlastung
vom Druck der Wertirrationalität der Lebenswirklichkeit versprachen.
Solche Lehren haben ähnlich wie die Naturrechtsspekulationen gerade
dadurch einen gewaltigen Erfolg errungen, daß sie zu leisten vorgeben,
was sie nicht leisten können. Wie die Naturrechtsdoktrinen die angeblich
überwundene Mehrheit von Rechtsidealen hinter einem sprachlichen
Schleier von Leerformeln bestehen lassen, so vermag auch die Logodizee
den "Dualismus" von handelnder Entscheidung und betrachtender
Versöhnung höchstens terminologisch zu beseitigen. Doch kann hier wie
dort eine theoretisch unhaltbare Gedankenkonstruktion psychologisch
erhebliche Wirkungen ausüben, indem sie unliebsame Sachverhalte aus
dem Bewußtsein der Menschen verdrängt.

Noch weiter verschärft sich die Problematik des intentionalen Welt-


bildes dort, wo nicht nur die allgemeine Vorstellung einer wertrationalen
Weltordnung zur Frage steht, sondern das kosmische Vernunftprinzip
als handelnde Macht auftritt. Dann muß das Verhältnis zwischen diesem
in das Universum projizierten "zweiten Handlungsschema" und seinem
Urbild, dem menschlichen Handeln, geklärt werden. Allerdings sind die
vielfältigen Schwierigkeiten, denen sich die Anhänger der intentionalen
Weltauffassung hier gegenübersehen, für denjenigen, der den ganzen
Prozeß von Projektion und Reflexion durchschaut hat, nur Schein-
probleme, die verschwinden, wenn man jene Weltauffassung als unhaltbar
fallenläßt. Doch ist ihre nähere Untersuchung vom geistesgeschichtlichen
und weltanschauungskritischen Standpunkt sehr wichtig, da sie wesent-
liche Einblicke in die Struktur eines erheblichen Teiles der traditionellen
Philosophie eröffnet.
Es ist denkbar, daß die kosmische Vernunftmacht bloß die Ergebnisse
der menschlichen Entschlüsse und Handlungen festlegt, diese selbst aber
unbeeiuflußt läßt. Die größere Folgerichtigkeit hat aber jene Auffassung
für sich, nach welcher jene Macht auch unsere Entscheidungen und Taten
bewirkt, so daß das "zweite Handlungsschema" unser Handeln völlig
mediatisiert.
Die erstere Möglichkeit, die meist als Fatalismus bezeichnet wird,
spielt in der westlichen Philosophie nur eine geringe Rolle. Es ist nämlich
leicht einzusehen, daß man an die Beeinflussung der Erfolge unseres
Tuns durch ein Fatum nur dort glauben kann, wo die ursächlichen
Beziehungen zwischen Handlungen und Handlungsfolgen nicht oder
Ergebnisse und Folgerungen 301

nicht lückenlos erkennbar sind. Wo jene Beziehungen restlos klarliegen,


fehlt jede Eingriffsmöglichkeit für eine angebliche Schicksalsmacht.
Deshalb vermag der Fatalismus keine rationalen Voraussagen zu geben,
sondern muß sich darauf beschränken, unvorhersehbare Ereignisse nach
ihrem Eintreten als "Fügungen des Schicksals" zu erklären. Da also der
Schicksalsglaube wenigstens in der hier erörterten Gestalt auf der Un-
kenntnis der kausalen Zusammenhänge beruht, wird er durch deren fort-
schreitende Aufdeckung seiner Voraussetzungen beraubt und in das
Reich des Aberglaubens verbannt.
Die direkten praktischen Auswirkungen dieser Lehre waren gleichfalls
nicht allzu bedeutend. Wo es bewährte Regeln zur Vorhersage der Hand-
lungsfolgen gab, hielt man sich an sie und schrieb höchstens unerwartete
Erfolge oder Mißerfolge dem Schicksal zu. Auch läßt sich keine Schuld
auf das Fatum abwälzen, wenigstens sofern der Handelnde nur für
dasjenige als verantwortlich gilt, was er voraussehen oder dessen V oraus-
sicht ihm zugemutet werden kann. Immerhin hat der Schicksalsglaube
die Haltung des Menschen gegenüber dem Ungewissen wesentlich beein-
flußt, indem er etwa den Krieger dadurch anspornte, daß er ihm vorhielt,
es würde ihn die Feigheit nicht schützen, wenn ihm der Tod, die Tapferkeit
nicht gefährden, wenn ihm das Leben bestimmt sei.
Seine konsequenteste Durchführung erreicht aber das intentionale
Weltbild mit der Annahme, daß der kosmische Vernunftwille auch die
menschlichen WillensentschlÜ8se und Handlungen hervorbringt oder bewirkt.
Wie noch näher dargetan werden wird, besitzt diese These keinerlei angeb-
baren Sachgehalt. Daher haben in den diesbezüglichen philosophischen
Auseinandersetzungen nicht empirische Fakten - etwa solche der Psycho-
logie - die Hauptrolle gespielt, sondern Wertpostulate verschiedener
Herkunft, zu denen sich allenfalls noch Gesichtspunkte der formalen
Logik und einer wenigstens vermeintlichen Folgerichtigkeit des Denkens
gesellten. Auf der einen Seite stand das Streben nach einer lückenlosen,
systematisch geschlossenen Weltauffassung und nach möglichster Er-
höhung der Macht und Würde des Urgrundes, auf der anderen der Dualis-
mus des Wertens und besonders der Moral.
So ergibt sich eine grundsätzliche Alternative. Man kann der Ansicht
sein, alles menschliche Handeln sei in Wahrheit ein Werk des Logos
und daher gut. Dann geht aber die Möglichkeit verloren, dieses Handeln
nach moralischen Normen zu lenken und zu beurteilen. Sollen aber jene
Wertungen und Normen aufrechterhalten werden, so muß die Urheber-
schaft jeder Missetat und die Verantwortung für sie dem Weltprinzip
zufallen. Der erste Weg wird selten eingeschlagen, und zwar nicht nur
seiner praktischen Konsequenzen wegen, sondern vor allem deshalb,
weil die kosmische Vernunftmacht meist die Rolle des Gesetzgebers und
oft auch die des Richters innehat. Um dem vVeltgrund diese Funktionen
zu ermöglichen und ihn von der Verantwortlichkeit für die menschlichen
Verfehlungen zu entlasten, hat man in der Regel seine Allursächlichkeit
eingeschränkt, freilich meist nur in dem Maße, das man für absolut
unumgänglich hielt, und dem MenSchen einen gewissen Spielraum der
302 Ergebnisse und Folgerungen

"Freiheit" zugestanden. Wie man diesen Spielraum abgrenzen und wie


man ihn mit der universellen Ursächlichkeit des Weltlogos und darüber
hinaus mit der Allwissenheit eines persönlichen Gottes in Einklang
bringen sollte, war lange Zeit hindurch der Kern des sogenannten Freiheits-
problems.
Diese Schwierigkeiten gehen in letzter Linie auf die Tatsache zurück,
daß die gesellschaftlichen Kategorien der Gesetzgebung und Verantwort-
lichkeit nur dort anwendbar sind, wo der Gesetzesunterworfene wenigstens
prinzipiell imstande ist, die für ihn erlassenen Normen zu verletzen. Das
gleichfalls soziale Wertprädikat machtvoller Majestät, das man dem
Weltgrund verleiht, kann also nicht bis zur völligen Aufhebung der mensch-
lichen Selbständigkeit gesteigert werden, ohne die Anwendung jener
Kategorien auszuschließen (vgl. S. 289).
Manche Denker sind dieser Problematik ausgewichen, indem sie der
göttlichen Macht jedes planende Wirken abgesprochen haben. Wo man
aber an den intentionalen Modellen festhielt, dort hat man das Ver-
hältnis zwischen dem menschlichen Handeln und dem ihm übergeordneten
"zweiten Handlungsschema" etwa nach dem Vorbild desjenigen zwischen
Untergebenem und Vorgesetztem aufgefaßt. Die kosmische Vernunftmacht
bewirkt die Übeltaten der Menschen ebensowenig wie beispielsweise der
König die Mißgriffe seiner Beamten. So ist sie zwar von der direkten
Urheberschaft der menschlichen Vergehen entlastet, nicht aber von der
Mitschuld an ihnen, denn eine solche bedeutet ja die stillschweigende
oder gar absichtliche Zulassung und Duldung von Mißbräuchen.
Manchmal sollte auch die dem technomorphen Bereich entstammende
Privationstheorie des Bösen diese Schwierigkeiten überwinden helfen,
denn sie gestattete es, dem göttlichen Wirken alles das zuzuschreiben,
was an Vollkommenheit oder an "Sein" in unseren Entschlüssen und
Taten vorhanden ist, während wir selbst die Schuld an aller Unvoll-
kommenheit und Mangelhaftigkeit tragen. Eine solche Annahme wäre
auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Leitbilder nicht statthaft, denn hier
ist die Befolgung wie die Übertretung der Normen gleicherweise die Tat
des Gesetzesunterworfenen; es wäre ganz undenkbar, das normgerechte
Handeln dem Gesetzgeber, das normwidrige dem Gesetzesunterworfenen
zuzurechnen. Die Privationstheorie - deren Fragwürdigkeit hier nicht
nochmals erörtert werden soll - ermöglicht es jedoch, eine Lösung zu
umreißen, die dem Wertpostulat der göttlichen Macht und Güte ungemein
entgegenkommt, indem sie Gott das Gute und nns nur das Schlechte
in unseren Taten wirken läßt. Doch diese Überlegungen bleiben in einen
Zusammenhang ausgesprochen soziomorpher Leitbilder hineingestellt, in
welchem sie als Fremdkörper wirken und zu neuen Schwierigkeiten
Anlaß geben müssen. Für den Gesamtaufbau des Weltbildes bleibt
nämlich die Vorstellung maßgebend, daß das göttliche Wesen dem
Menschen nicht gegenübertritt wie ein Werkmeister der Materie, deren
Widerstand die Mängel des Werkstückes angelastet werden können,
sondern in der spezifisch sozialen Rolle des Trägers von Macht und
Autorität.
Ergebnisse und Folgerungen 303

Dadurch ergibt sich eine eigenartige Interferenzerscheinung zwischen


soziomorphen und technomorphen Denkformen. Wenn man mit Hilfe
der Privationstheorie annimmt, daß alles Gute von Gott und nur das
Schlechte vom Menschen ausgeht, so bedeutet dies die Leugnung aller
menschlichen Verdienste; folgerichtigerweise kann dann der Seele das
Heil nicht kraft eines gerechten Richterspruches, sondern nur vermöge
eines grundlosen Gnadenaktes des göttlichen Souveräns zuteil werden.
Durch die dem soziomorphen Denken fremde These, daß nur die Norm-
verletzung dem Menschen zuzurechnen ist, wird überhaupt die Vorstellung
der "gerechten Weltordnung" eigenartig verzerrt. Wo der Gesetzes-
unterworfene gar keine Möglichkeit normgerechten Verhaltens hat,
sondern auf Grund einer axiomatischen Voraussetzung nur Gesetzes-
brecher sein kann, dort ist einer Gesetzgebung und Rechtswahrung im
üblichen Sinne die Basis entzogen. Gesetze als Handlungsanweisungen
sind nur dann sinnvoll, wenn der Handelnde ihnen gehorchen kann, und
die Rechtsprechung hat zu beurteilen, ob er ihnen gehorcht hat oder nicht.
Bejaht man diese Bedingungen nicht, so muß man alle derartigen Vor-
stellungen fallen lassen oder wenigstens völlig umdeuten. Das "Gesetz"
wird dann etwa aus einer Vorschrift, der unser Handeln entsprechen kann
und soll, zu einem unerreichbaren Richtmaß der Vollkommenheit, das
dem Menschen vor Augen gestellt ist, um ihm seine Nichtigkeit vor der
Gottesmajestät demütigend bewußt zu machen. Das himmlische Gericht,
das ursprünglich in streng soziomorphem Sinne die Gerechten mit der
ewigen Seligkeit belohnt und die Sünder zur Höllenstrafe verdammt,
interpretiert man dahingehend um, daß die Errettung vor der Verdammnis
nur durch einen unergründlichen Gnadenerweis erfolgen kann. Dadurch
wird aber auch die Idee der göttlichen Vollkommenheit, deren höchst-
möglicher Steigerung alle jene Annahmen dienen sollen, in eigentümlicher
Weise umgebogen. Die Gottesmacht verliert den Charakter eines gerechten
Herrschers und nimmt - wenn man die üblichen Wertungen zugrunde
legt - die Züge eines Tyrannen an, der nach Willkür und Laune über das
ewige Heil der Seele entscheidet. Will man dieser Konsequenz ausweichen,
dann muß man jene Wertungen für unmaßgeblich oder wenigstens nicht
letztverbindlich erklären oder jegliches Urteil über das göttliche Wirken
als Anmaßung verbieten. Ein solches Vorgehen vermag aber keine posi-
tiven Argumente zur Erhöhung der Vollkommenheit des Weltenherrschers
beizubringen, sondern gleicht eher dem Versuch, die hier vorliegenden
Schwierigkeiten der Diskussion zu entziehen.
Auf jeden Fall wird dadurch das ganze Problem aus dem Wertbereich
des praktischen HandeIns und seiner sittlich-rechtlichen Regelung wieder
in den einer kontemplativen Haltung verschoben, nämlich der bedingungs-
losen Demütigung vor der unfaßbaren Gottesmacht, und nur derjenige
wird der hier versuchten Lösung zustimmen können, welcher die Haltung
der Demut von vorneherein so hoch bewertet, daß er die Rangminderung
der Ethik und die eben aufgezeigten gedanklichen Schwierigkeiten in
Kauf nimmt. So werden auch hier empirisch gehaltlose Fragen erörtert,
indem man bestimmte Leitbilder aus dem Alltagsleben auf Grund vor-
304 Ergebnisse und Folgerungen

gegebener Wertungen miteinander kombiniert und kontaminiert, ohne


daß man sich über die Eigenart und Zulässigkeit eines solchen Verfahrens
Rechenschaft ablegt.
Aus allem bisher Gesagten geht hervor, daß das sogenannte Freiheits·
problem als Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Handeln des
lVlenschen und jenem des Weltgrundes ein Scheinproblem darstellt. Dies
wird noch klarer, wenn man überlegt, ob sich über das Zusammenwirken
der beiden Faktoren grundsätzlich sachhaltige Thesen aufstellen und
beweisen lassen.
Allgemeine Behauptungen, wie "Durch dein Wollen und Tun voIIzieht
sich der ,Wille der Weltvernunft' (oder das ,Weltgesetz') als wert·
gerichtete Vorsehung und unabänderliche Notwendigkeit", sind - vom
Standpunkt des Handelnden gesehen - leer. Sie sagen ihm weder was
er tun wird, noch was er tun soll. Er kann also nur ohne Rücksicht auf
den "Weltgeist" den Entschluß fassen, welchen er aus anderen Gründen
für richtig hält, und allenfalls im nachhinein die vollzogene Tat als Wir.
kung jener Mächte deuten.
Soll aber die Vorstellung eines" Weltplanes, der sich durch das mensch·
liehe Ich hindurch verwirklicht" irgendeinen sachlichen Gehalt besitzen,
so müssen bestimmte und prüfbare Angaben über die Art jenes Vorganges
und besonders über die Zielsetzungen und Mittelanordnungen des angeb.
lichen Planes der Vorsehung gemacht werden. Die diesbezüglichen
Annahmen sind oft unklar und wesentlich voneinander verschieden,
doch gehören sie im allgemeinen zwei Gruppen an. Die eine beschränkt
sich auf die reine Betrachtung der Vergangenheit, die andere will auch die
Zukunft erkennen und zukünftiges Verhalten beeinflussen. Demgemäß
ist auch ihre Beziehung zum menschlichen Handeln eine prinzipiell
verschiedene.
Wer sich darauf beschränkt, aus den bereits vorliegenden und be-
kannten historischen Tatsachen einen Plan herauszulesen und die ursäch-
lichen Zusammenhänge der Geschichte als Zweckzusammenhänge zu
interpretieren, wird meist mit der Lehre von der "List der Vernunft"
sein Auslangen finden. Nach dieser wissen die geschichtlich Handelnden
nichts von den Absichten der universellen Vernunftmacht ; sie verfolgen,
von ihren Leidenschaften getrieben, ihre eigenen Ziele und verwirklichen
dabei unwillentlich die Pläne der Vorsehung, deren Aufdeckung dem
rückblickenden Philosophen vorbehalten bleibt. Nähere Angaben über
das Verhältnis zwischen dem Tun des Menschen und dem Wirken der
Vorsehungsmacht bleibt uns diese Lehre allerdings schuldig. Nicht selten
nähert sie sich dem Fatalismus (Begriff oben, S. 300), und zwar besonders
dann, wenn sie sich darauf beruft, daß die menschlichen Bemühungen oft
zu ganz anderen als den beabsichtigten Ergebnissen führen. In diesem
Falle ist sie genau wie der Schicksalsglaube nur insofern möglich, als die
Zusammenhänge zwischen den Handlungen und ihren Auswirkungen nicht
vollkommen übersehbar sind und man unvorhergesehene und ungewollte
Handlungsfolgen im nachhinein als providentielle Fügungen deuten kann.
Dadurch ist diese Form des Glaubens an die "List der Vernunft" not·
Ergebnisse und Folgerungen 305

wendig auf die Betrachtung vergangener, grundsätzlich nicht mehr


beeinflußbarer Ereignisse beschränkt und nur mit der kontemplativen
Werthaltung der versöhnenden Verklärung des Tatsächlichen (oben S. 296 f.)
vereinbar. So hat sie auch oft bei den konservativ gesinnten herrschenden
Mächten Anklang gefunden, die ihren faktischen geschichtlichen Erfolg
zur "Erfüllung eines vorsehungshaften Geschichtsplanes" überhöhen
wollten - dies gilt für die katholisch-französische Geschichtsdeutung
Bossuets ebenso wie für die preußisch-deutsche und protestantische
Hegels.
Wesentlich verwickeltere Fragen ergeben sich jedoch aus der Annahme,
daß der "Weltplan" durchschaubar ist und dem Handelnden bewußt
gemacht werden kann. Lehren dieser Art beschränken sich nicht auf
die Interpretation des schon Geschehenen und Bekannten, sondern stellen
Behauptungen darüber auf, was auf Grund der wertrationalen W elt- und
zumal Geschichtsordnung 1 kommen wird und zugleich kommen soll.
Auch diese Theorien haben verschiedene Formen angenommen. Oft
wollen sie nur beweisen, daß das Endergebnis einer bestimmten Entwick-
lung notwendig und unvermeidlich eintritt und das menschliche Handeln
dies zwar fördern oder verzögern, aber nicht verhindern kann. Solche
Vorhersagen sind zwar prinzipiell möglich und sinnvoll (beispielsweise
müssen alle Menschen sterben, aber sie können ihren Tod beschleunigen
oder hinausschieben), doch bedürfen sie einer verläßlichen Begründung.
Gerade eine solche vermag die intentionale Geschichtsauffassung nicht
zu bieten. Deshalb konnten aus dem sogenannten Geschichtsgesetz keine
eindeutigen, durch den faktischen Ablauf der Ereignisse regelmäßig
bestätigten Vorhersagen gewonnen werden, sondern es war im Gegenteil
möglich, mit seiner Hilfe die verschiedensten politischen Wunschziele
als "historische Notwendigkeiten" hinzustellen. Die tatsächliche Ent-
wicklung der Geschichte entsprach solchen willkürlichen Prophezeiungen
höchstens durch Zufall. Freilich hat man oft - ähnlich wie in der Astro-
logie - die Voraussagen so unbestimmt formuliert, daß sie gegen jede
direkte Widerlegung durch die Ereignisse geschützt waren, oder hat
eklatante Fehlschläge nachträglich durch Hilfshypothesen hinwegerklärt.
Nicht weniger schwer wiegt der Einwand, daß aus der Unabwendbarkeit
eines Faktums keine Schlüsse auf seinen Wert gezogen werden können.
Ob und in welchem Maße sich eine Entwicklung unserem Einfluß entzieht,
ist ein reines Tatsachenproblem, das die Wertfrage, ob wir jene Entwick-
lung begrüßen, bedauern oder einfach hinnehmen sollen, nicht einmal
berührt - es sei denn, daß man im Sinne kontemplativer Weltverklärung
die Wertungen den unabänderlichen Umständen anpaßt oder umgekehrt
dem Glauben huldigt, die geschichtlichen Tatsachen würden sich gemäß
den vorausgesetzten eigenen Wertungen verhalten. Dieser Glaube ist es

1 Zur Kritik der Idee des wertgerichteten Geschichtsgesetzes vgl. auch


K. POPPER: The Poverty of Historicism, "Economica" New Sero XI (1944),
S.86ff., II 9ff. und XII (1945), S.69ff. sowie: Prediction and Prophecy
and their Significance for Social Theory, "Proceedings of the Tenth Inter-
national Congress of Philosophy", vol. 1., Amsterdam 1949, S.82ff;

Topitsch, Metaphysik. 20
306 Ergebnisse und Folgerungen

aber, der den meisten zukunftsbezogenen Lehren vom wertrationalen


Geschichtsplan zugrunde liegt. Wo es jedoch nicht nur um Bewertung,
sondern um handelnde Entscheidung geht, ergibt sich noch zusätzlich
ein ernstes Dilemma aus dem Umstand, daß Notwendigkeit und Norm
einander ausschließen. Je geringer der mögliche Einfluß menschlichen
Tuns auf die Gestaltung des Kommenden ist, desto bedeutungsloser ist
die Rolle der Handlungsanweisungen - etwa daß man auf die Erreichung
des objektiven Geschichtszieles hinarbeiten solle - und bei völliger
Vorherbestimmtheit der Zukunft wird jede S?llensforderung sinnlos.
Folgerichtiger scheint jene Auffassung zu sein, nach welcher das
"zweite Handlungsschema" angeblich auch die menschlichen Entschei-
dungen bewirkt und in einer bestimmten, dem Handelnden bewußten
Weise festlegt. Allein diese Vorstellung einer "bewußten Notwendigkeit",
die besonders im Marxismus eine Rolle spielt, führt zu neuen Schwierig-
keiten. Sie entfernt sich weit vom Kausalbegriff, wie ihn die modeme
Wissenschaft gebraucht, denn diese sagt dem tätigen Menschen nur,
was geschieht, wenn er eine bestimmte Entscheidung fällt, nicht aber,
welche Entscheidung er fällen wird. Selbst der vermeintlich streng wissen-
schaftliche "Determinismus" der vergangenen Jahrhunderte hat nicht
einmal eine Andeutung darüber zu geben vermocht, wie es der Handelnde
überhaupt bewerkstelligen soll, auf Grund eines "allgemeinen Kausal-
gesetzes" im konkreten Falle seine Entschlüsse vorherzusagen. Dieser
Sachverhalt ist in der Eigenart des Bewußtseins begründet: weiß der
Mensch um das Bestehen bestimmter ursächlicher oder zweckhafter
Zusammenhänge, so werden diese zu Objekten der Bewertung und Ent-
scheidung, und zwar auch dann, wenn sie dem eigenen Seelenleben ange-
hören. In diesem Falle ist eine erkannte Kausalverknüpfung nur insofern
"notwendig", als sie; unserer Einflußnahme entzogen ist, und eine
durchschaute "List der Vernunft" - wenn es eine solche gäbe - wäre
eben keine List mehr. Weiß der Mensch jedoch nicht darum - und nur
so läßt sich eine Ursachenreihe oder ein Zweckzusammenhang denken,
der "durch das wertende und entscheidende Subjekt hindurch" verläuft
und nicht der Objektwelt angehört - dann ist für ihn keiner der möglichen
Entschlüsse als der "notwendige" vor den übrigen ausgezeichnet und erst
im nachhinein kann die getroffene Wahl als das Ergebnis kausaler oder
teleologischer Verknüpfungen gedeutet werden1 . Doch die Lehre von der
"bewußten Notwendigkeit" dient nicht dazu, dem noch Unentschlossenen
seine künftigen Entscheidungen vorauszusagen, etwa wie die Natur-
wissenschaft noch unbekannte Phänomene vorhersagt. Vielmehr soll sie
dem Menschen seine bereits gefaßten Entschlüsse als "notwendige Glieder
einer notwendigen Entwicklung" erscheinen lassen und dadurch auf sein
Motivationsbewußtsein zurückwirken, denn unter gewissen Voraus-
setzungen wird der Handelnde durch die Überzeugung, daß sein Wollen
und Tun ein Werkzeug der Vorsehung oder der geschichtlichen Not-

1 Vgl. R. REININGER: Wertphilosophie und Ethik, 3. Aufl., Wien 1947,


S.164ff.
Ergebnisse und Folgerungen 307

wendigkeit ist, in der Verfolgung seiner Absichten bestärkt. So geht es


also auch hier nicht wie in der Wissenschaft um die Erkenntnis des noch
Unbekannten, sondern um die psychologische Selbstbestärkung in einem
bereits feststehenden Wollen.

Damit ist die Behandlung des Aufbaues und der inneren Problematik
der intentionalen Weltauffassung abgeschlossen. Es bleiben nur noch
wenige Worte über jene Haltung und Lehre zu sagen, die durch Jahr-
tausende die Gegenspielerin aller intentionalen Kosmosspekulation
gewesen ist. Diese will nicht die Welt als gegliederte Vielheit erkennen,
erklären oder verklären, sie will auch keine Anweisungen für innerwelt-
liches Handeln geben. Vielmehr erstrebt sie - meist auf Grund einer
radikal negativen Bewertung der empirischen Lebenswirklichkeit - nach
der Erhebung über diese durch das Heilserlebnis einer unmittelbaren
Vereinigung der Seele mit dem Urgrund allen Seins. Als praktische
Mystik ist eine solche Heilssuche mit allem begrifflichen Denken schlecht-
hin unvergleichbar. Wo sie aber als philosophische Theorie auftritt, muß
sie sich mit dem Denken auseinandersetzen und gerät dabei in prinzipielle
Schwierigkeiten. Sie beruht nämlich auf einem Wertaxiom der Voll-
kommenheit, nach welchem dem numinosen Etwas alle wertwidrigen
Eigenschaften und in weiterer Folge alle Prädikate abgesprochen werden,
da es über alle befleckenden Beziehungen zur Erfahrungswelt, ja über
alle Vergleichbarkeit mit dieser erhaben und von jeder Beschränkung
durch begriffliche Bestimmungen frei sein muß. Die konsequente Durch-
führung dieser Wertgesichtspunkte würde implizieren, daß die höchste
Wesenheit sich weder vorstellen noch in einen gedanklichen Zusammen-
hang einordnen läßt, nichts für die Welterklärung leistet - wenn sie
absolut beziehungslos ist, kann sie auch nicht als Weltgrund fungieren -
und infolge ihrer völligen Gegenstandslosigkeit das menschliche Gefühl
nicht anspricht, mit anderen Worten, daß sie für uns intellektuell und
emotional bedeutungslos wird. Es zeigt sich also, daß die vermeintlich
höchste Wertsteigerung recht eigentlich mit den Voraussetzungen des
Wertens und weiterhin des Erkennens in Widerspruch gerät. Man wollte
aber dennoch werten und erkennen, über jenes "Eine" nachdenken, aus
ihm die Welt ableiten und die Begegnung mit ihm als ekstatisches Erlebnis
genießen. So sah man sich vor der Alternative, entweder strikt an der
indifferenten Funktions- und Prädikatlosigkeit festzuhalten oder dem
"Weltgrund" doch irgendwelche Eigenschaften und Funktionen zuzu-
schreiben. Oft hat man beide Möglichkeiten miteinander zu vereinen
gesucht, obwohl sie auf Grund ihrer Voraussetzungen unvereinbar sind,
und ist dadurch in ein Dickicht von Problemen oder richtiger Schein-
problemen geraten. Das "Eine" durfte nicht denken, aber das Denken
mußte aus ihm entspringen, es durfte nicht handeln, aber es sollte Ursache
der Welt sein, es durfte keine Form besitzen, denn jede Form wäre eine
Begrenzung, aber gleichzeitig galt das Formlose als das schlechthin
Minderwertige. Im Ringen mit diesen Widersprüchen ist man auf eigen-
artige Wege abgedrängt worden. Wenn jedes planende Wollen und Handeln
308 Ergebnisse uud Folgerungen

der Vollkommenheit des Urgrundes widerspricht, so muß dieser die Dinge


~?f andere Weise hervorgebracht haben, etwa durch Ausstrahlung,
Uberfließen oder Zeugung. Statt der unzulässigen intentionalen Modelle,
die immerhin einem spezifisch menschlichen Bereich entstammen, be-
diente man sich also gewisser Bilder aus einem Gebiet, das sonst gerne
als "untermenschliehe Natur" geringgeschätzt wird. Das Postulat der
Vollkommenheit, das die Handlungsanalogien verbietet, ist also stärker
als die Bedenken, welche sich aus der gebräuchlichen Bewertung physi-
kalischer und biologischer Vorgänge ergeben könnten. Es zeigt sich hier
wieder, welchen Einfluß Wertverhältnisse auf die Wahl der Modell-
vorstellungen besitzen.
Der wohl bedeutsamste Versuch, die Spannung zwischen dem Voll-
kommenheitsideal der Prädikatlosigkeit und dem Streben nach gedank-
licher und gefühlsmäßiger Erfaßbarkeit des Weltgrundes zu überbrücken,
war die mittelalterliche Lehre von der sogenannten analogia entis. Nach
dieser dürfen Gott zwar bestimmte irdische Eigenschaften zugeschrieben
werden, doch kommen sie ihm nicht in der gleichen Weise zu wie den
Wesen der Erfahrungswelt. Was jene Eigenschaften an Unvollkommenheit
enthalten, ist nicht auf den Schöpfer übertragbar, sondern nur ihr reiner
Gehalt an Vollkommenheit. Doch selbst die so gesäuberten Prädikate
sind bei Gott in einer höheren Weise verwirklicht als bei den Geschöpfen.
Wir können diese Art der Verwirldichung in unserer Sprache nicht
adäquat kennzeichnen, sondern nur sagen, daß sie von der irdischen
wesentlich verschieden ist. So scheint einerseits dem V ollkommenheits-
postulat Genüge getan, andererseits kann man mittels der Unterscheidung
zwischen einer Eigenschaft als solcher und ihrer VerwirkIichungsart die
Schroffheit der Alternative von negativer und anthropomorpher Theologie
verschleiern, indem man je nach Bedarf mehr die Gleichheit der Prädikate
oder die Verschiedenheit von deren Seinsweisen in den Vordergrund
stellt. Wertpostulate bilden also hier wie bei der intentionalen Welt-
auffassung, ja vielleicht in einem noch höheren Maße, die Grundlagen
und die entscheidenden Argumente der philosophischen Erörterung.
So hat es sich bei der Analyse der "Metaphysik" - der "negativen"
ebenso wie der intentionalen - immer wieder gezeigt, daß werthafte
Forderungen und wertbestimmte Modellvorstellungen hier die eigentlich
entscheidende Rolle spielen. Die metaphysischen Probleme ergeben sich
folgerichtig aus dieser Tatsache. Oft erwachsen sie aus WertkonfIikten,
wobei man in der Regel diejenige Lösung wählt, hinter der die stärkeren
emotionalen Motive stehen. Viele unauflösliche Fragen resultieren auch
daraus, daß die den verschiedenen Annahmen zugrunde liegenden Wert-
postulate mit den Voraussetzungen der Erkenntnis, ja des Wertens
selbst unvereinbar sind, daß sie sich über die Struktur der verwendeten
Modellvorstellungen hinwegsetzen oder auf Lebenssituationen angewendet
werden, in denen sie unvollziehbar sind. Die Auswahl und die gegenseitige
Verknüpfung dieser Modellvorstellungen wird gleichfalls meist auf Grund
von Wertgesichtspunkten verschiedenster Herkunft vorgenommen und
die innere Problematik des intentionalen Weltbildes nach denselben
Ergebnisse und Folgeruugen 309

Gesichtspunkten behandelt. So kommt es schließlich zu einer Anhäufung


von Scheinproblemen, die mangels eines Sachgehaltes gar nicht erkenntnis-
mäßig entschieden werden können und die sich daher im ganzen unver-
ändert durch die Jahrhunderte und Jahrtausende erhalten haben. Zu-
sammen mit einer Fülle von Tautologien und anderen Leerformeln, die
infolge ihrer Inhaltslosigkeit mit jedem möglichen empirischen oder
normativen Gehalt vereinbar sind und daher als "ewige Wahrheiten"
auftreten können, bilden diese "ewigen Probleme" den Hauptteil des Be-
standes,der sogenannten traditionellen Philosophie. Die weltanschauungs-
analytische und ideologiekritische Forschung vermag jedoch jene Wahr-
heiten und Probleme nicht als solche anzuerkennen, sondern deckt ihre
Voraussetzungen, ihre Eigenart und damit ihre Nichtigkeit auf.

Sind die Ergebnisse unserer Untersuchung richtig, dann ist der Wahr-
heitsanspruch der intentionalen Weltauffassung ebenso unhaltbar wie
jener der Lehre vom eigenschafts- und funktionslosen Urgrund. Aber auch
wenn die Richtigkeit der hier durchgeführten Analysen unanfechtbar
sein sollte, so kann doch noch die Frage nach den weltanschaulich-
psychologischen Folgen dieser Einsichten erhoben werden. Besonders
heute ist ja wieder die Meinung verbreitet, daß die Preisgabe jener Denk-
formen schwerwiegende Auswirkungen auf das menschliche Lebensgefühl
habe und uns in die tiefste innere Unsicherheit stürze.
Wohl ist und bleibt die Ermittlung der Wahrheit die erste und vor-
nehmste Aufgabe des Forschers, doch sind derartige Bedenken nicht
kurzerhand abzuweisen. Da die Welt eben kein wertrationaler Kosmos
ist, in welchem das Wahre zugleich immer das Gute und Schöne sein
muß, ist mit der Möglichkeit zu rechnen, daß es Erkemltnisse gibt, die
entweder selbst oder deren Folgen von bestimmten Wertstandpunkten
als höchst unerwünscht und nachteilig erscheinen. Dennoch darf man sich
von den heute üblichen Klagen und Anklagen, das moderne Denken habe
durch die Zerstörung traditioneller Weltanschauungsformen den Menschen
seiner Heimat im Universum beraubt und ihn ins Nichts hinausgestoßen,
keineswegs über Gebühr beeindrucken lassen. Auch hier ist eine nüchterne
Beurteilung der Sachlage notwendig.
Freilich ist eine solche nicht ganz einfach. Während die Geschichte
und der innere Aufbau einer Lehre der Forschung verhältnismäßig leicht
zugänglich sind, kann man ihre psychologischen Effekte nicht immer
mit der gleichen Sicherheit erfassen. Am allerschwierigsten sind aber
Vorhersagen über die seelischen Reaktionen, welche die Veränderung
oder Auflösung einer Weltanschauungsform hervorrufen wird. Dennoch
lassen sich auch darüber begründete Hypothesen aufstellen. Solche
Annahmen müssen von der Tatsache ausgehen, daß die intentionale
Weltauffassung .auf das menschliche Situations- und Motivationsbewußt-
sein ganz spezifische Wirkungen ausübt, wie es sich im Laufe dieser
Untersuchung immer wieder gezeigt hat. Dazu kommen die Erfahrungen aus
dem bisherigen Verlauf des AufIösungsprozesses jener Weltauffassung und
allgemeine psychologische und zumal sozialpsychologische Gesichtspunkte.
310 Ergebnisse und Folgerungen

Die Eigenart und Tragweite der gegenwärtigen Krise des intentionalen


Weltbildes wird nur dann voll verständlich, wenn man nicht vergißt,
daß dessen philosophische Ausprägung, die heute allein noch ernstlich
zur Diskussion steht, selbst nur ein Restbestand einer älteren Vollform ist.
Während die Handlungsmodelle im Mythos - beispielsweise in der
Astrologie - noch zur Vorhersage von Erfahrungstatsachen dienen, sind
ihre empirisch-pragmatischen Funktionen in der Philosophie bereits
verschwunden. Statt etwas über die Wirklichkeit auszusagen, sieht sich
die intentionale Weltauffassung in der Regel darauf beschränkt, das
Fühlen, Werten und Handeln der Menschen zu beeinflussen. Diese Rück-
entwicklung ist vor allem dadurch bedingt, daß die Unzulänglichkeit der
intentionalen Modelle als Mittel der Erkenntnis verhältnismäßig leicht
durchschau bar ist und daß verläßlichere Methoden der theoretischen
Erfassung und praktischen Beherrschung der Erfahrungswelt entdeckt
wurden. Auf dem Gebiet des Wertens sind die Fehler jener Weltauffassung
jedoch viel schwerer erkennbar, da hier keine direkten Widersprüche zu
unleugbaren Fakten auftreten können. Vor allem aber übt sie hier eine
ganz eigenartige und einzigartige Funktion aus, in der sie durch keine
wissenschaftliche Theorie ersetzt werden kann, da ihre außerordentliche
psychologische Wirksamkeit und pädagogisch-politische Brauchbarkeit
gerade auf denjenigen ihrer Behauptungen beruht, die vom Standpunkt
der Erkenntnis als unhaltbar und irreführend gelten müssen. So erklärt
sich auch die Leidenschaftlichkeit, mit der man sich noch heute vielerorts
gegen die Bewußtmachung jener Unrichtigkeiten wehrt.
Die Idee eines wertrationalen "Weltplanes" oder "Weltgesetzes", aber
auch die einer vorgegebenen normativen "Menschennatur" kann (vgl.
oben S. 290ff.) in verschiedener Weise auf unser Lebensgefühl einwirken.
Vor allem erweckt sie den Eindruck, als gäbe es über den sozialen
Verhaltensregeln und Lebensformen, die von den wechselnden Macht-
verhältnissen und vor allem von ihrer Wirksamkeit im menschlichen
Motivationsbewußtsein abhängig sind, ein System von sittlich-recht-
lichen Werten und Normen, das grundsätzlich davon unabhängig ist,
ob es von einer faktischen Macht sanktioniert und von den Menschen
"geglaubt" wird. Nun erfahren Wertungen und Glaubensgehalte, die
nur dadurch und insofern wirklich sind, als sie in unserem Bewußtsein
wirksam werden, eine erhebliche Verstärkung ihrer Motivationskraft,
wenn sie in der Gestalt objektiver, von unserer Einschätzung und
unserem Glauben unabhängiger Gegebenheiten auftretenl . So kann die
praktische Durchschlagskraft einer Soziallehre wesentlich gesteigert
werden, wenn sie sich als ein derartiges "Naturrecht" ausgibt. Da nun
die intentionale Weltauffassung über den Inhalt ihres angeblichen Natur-
oder Vernunftgesetzes keinen Aufschluß zu bieten vermag, ist es
möglich, daß jedes beliebige moralisch-politische Ideal oder Aktions-
programm jenem "Gesetz" unterlegt wird und mit seiner Autorität
auftritt. Daher vermochte jeder sie in den mehr als zwei Jahrtausenden

1 E. TOPITSCH: Sozialtheorie, S.191.


Ergebnisse und Folgerungen 311

ihres Bestehens für seine Zwecke in Anspruch nehmen, der sich ihrer
bedienen wollte.
Noch größer ist der motivierende Einfluß, den jene Doktrinen ausüben,
die nicht nur die absolute Gerechtigkeit oder Richtigkeit irgendeines
Gesellschaftsideales behaupten, sondern auch seinen Endsieg als provi-
dentielles Ziel der Geschichte hinstellen, denn diese vermeintliche Erfolgs-
garantie vermindert oder beseitigt die Furcht vor eventuellen Risken.
Eine solche Verbindung von absoluten Direktiven und Garantien ist nicht
selten imstande, einen Glauben an eine "historische Sendung" zu erwecken,
der sich souverän über alle sittlichen Bedenken hinwegsetzt; die "Träger
der. geschichtlichen Notwendigkeit" stehen als Geschäftsführer einer
höheren Macht über dem gewöhnlichen Moralkodex, der von ihrem Stand-
punkt als Inbegriff der Vorurteile eines geschichtsblinden Alltagsmenschen-
tums erscheint. Die Bedenkenlosigkeit, mit welcher die von jenem Glauben
durchdrungenen Gruppen vorzugehen pflegen, hat ihnen manchmal
große Erfolge gebracht, aber nicht selten auch zu ihrem schließlichen
Scheitern geführt. Doch selbst eklatante Niederlagen vermeintlicher
"Werkzeuge der Vorsehung" haben diesen Denkformen als solchen wenig
geschadet, denn sie standen infolge ihrer Leerheit auch dem jeweiligen
Sieger zur Verfügung.
Wird der wahre Charakter und damit die sachliche Unhaltbarkeit der
intentionalen Denkformen bewußt gemacht, so werden sie psychologisch
unwirksam und damit auch politisch-pragmatisch unbrauchbar. Die
Erkenntnis, daß es ein über den verschiedenen Rechtsidealen und positiven
Rechtsordnungen stehendes Normensystem nicht gibt, zerstört die Moti-
vationskraft der Naturrechtsidee. Der Abbau des Glaubens' an eine
"Naturrechtsordnung", ein "Weltgesetz" oder einen "Plan der Ge-
schichte" und der Nachweis, daß es sich hier meist um Leerformeln oder
Zirkelschlüsse handelt, nimmt dem Sieger die Möglichkeit, den eigenen
Erfolg als "Verwirklichung der wahren Gerechtigkeit" oder als "Erfüllung
einer geschichtlichen Sendung" zu verklären. Andererseits muß der
Unterlegene auf die Genugtuung eines moralischen Triumphes über seinen
Überwinder verzichten, dessen Forderungen er nicht mehr zum "bloßen
Machtgebot" abwerten kann, indem er sie an den "ewigen Gesetzen"
mißt - welch letztere ihm natürlich nur dann diesen Dienst erweisen
können, wenn sie ideologische Rationalisierungen seiner eigenen Lebens-
ansprüche sind. Dem Trostbedürftigen ist es nunmehr versagt, sich
damit zu beruhigen, daß über dem geschichtlichen Strom der sich
wandelnden menschlichen Wertungen die Sterne unveränderlicher Prin-
zipien leuchten, und den Politikern oder weltanschaulichen Führungs-
instanzen dürften Formulierungen wenig helfen, deren Leerheit allgemein
bekannt ist.
Es ist begreiflich, daß in einer so unruhigen Zeit wie der unseren
niemand auf jene psychologischen Entlastungs- und Verstärkerwirkungen
verzichten möchte. Die Führer der einander bekämpfenden Gruppen
wollen sich selbst und besonders ihre Anhänger mit fanatischem Glauben
an ihre Weltanschauung und den Endsieg erfüllen, während die Leid-
312 Ergebnisse und Folgerungen

tragenden der Kämpfe nach irgendeinem Heilen und Festen inmitten des
ständigen Wandels suchen. Doch das Bedürfnis nach sozialer Ideologie
und persönlichem Herzenstrost, das stets in höherem oder geringerem
Grade vorhanden war, hat den Auflösungsprozeß der intentionalen Welt·
auffassung bisher zwar erheblich verzögert, aber nicht verhindert, und es
ist kaum anzunehmen, daß es ihre heute noch wirksamen Restbestände
dauernd wird konservieren können.
Die Erfahrungen aus diesem schon lange andauernden und weit fort·
geschrittenen Auflösungsprozeß rechtfertigen auch kaum die meist stark
dramatisierte Angst vor dem endgültigen Verschwinden der intentionalen
Weltdeutung. Der größte Teil jener Vorstellungen hat bereits heute jede
psychologische Motivationswirkung auf uns verloren, sondern vermag
höchstens eine gewisse Sympathie des historischen Verständnisses zu
erwecken. Die Symbolik und das Zeremoniell des kosmischen Herrscher.
turns, welche frühere Geschlechter vor Ehrfurcht erschauern ließen, sind
für den Menschen der Gegenwart allenfalls ästhetische Erlebnisse, aber
nicht mehr. Der König im "Weltenmantel" ist nur noch im Märchen, auf
der Bühne und im Museum möglich. Doch auch viele andere Ideen, die
einstmals eine starke Motivationskraft besaßen, sind aus dem Bereich
der politischen Ernstsituationen in den der Kunst und der Historie
abgedrängt worden!, ohne daß sich daraus gefährliche Folgen ergeben
hätten.
Es ist daher nicht sehr wahrscheinlich, daß ein endgültiges Ver.
schwinden der intentionalen Weltauffassung zu so weittragenden Konse-
quenzen führen würde, wie dies von vielen Seiten behauptet wird. Man
darf nicht vergessen, daß jene Denkformen nie von sich aus wertschaffend
gewirkt haben, sondern nur imstande sind, jeweils schon vorgegebenen
Wertungen erhöhte Autorität zu verleihen. Diese primären Wertungen
entspringen ganz anderen Quellen, nämlich meist einfachen mensch-
lichen Lebensnotwendigkeiten und Lebensansprüchen, die von allen
ideologischen Verkleidungen und Verklärungen unabhängig sind. Sie
werden weiterbestehen und weitenvirken, mag nun die intentionale
Weltauffassung erhalten bleiben oder endgültig zusammenbrechen.
Darum sollte man dem Fortgang des Auflösungsprozesses jener V or-
stellungswelt keine allzu große praktische Bedeutung beimessen und sich
vor übertriebenen Befürchtungen - wie sie heute üblich sind - oder
Hoffnungen - wie sie ein unkritischer Intellektualismus hegen könnte -
gleicherweise hüten. So steht auch der weltanschauungsanalytischen und
ideologiekritischen Forschung in der Einschätzung ihrer eigenen Tragweite
eine gewisse Zurückhaltung an. Sie ist weder Wegbereiterin des Nichts,
noch darf sie sich in der Rolle einer Bringerin des Heils gefallen, sondern
sie kann sich nur als ein Bemühen um Erkenntnis verstehen, das wie alles
menschliche Streben in einen wertirrationalen Weltlauf hineingestellt
bleibt.

1 Ähnliche Erscheinungen beobachtet M. RIESER: Three Stages of the


Contemplation of Nature, "The Journal of Philosophy" LII (1955), S. 169ff.
Ergebnisse und Folgerungen 313

Daher entwirft sie von dem möglichen Verschwinden der intentionalen


Weltauffassung weder ein Angst- noch ein Wunschbild. Vielmehr legt sie
die Annahme nahe, daß deren Auflösung sich künftig in ähnlicher Weise
abspielt wie bisher, daß also ihre Denkformen langsam weiter verblassen,
ihren Einfluß auf das menschliche Situationsbewußtsein und Handeln
verlieren und dadurch auch ihre praktische Aktualität einbüßen. Weml
beispielsweise die Berufung auf eine "Weltordnung" oder ein "Geschichts-
gesetz" dem politisch Handelnden ebensowenig nützt wie heute etwa der
Gebrauch kosmischer Symbole, so wird er sich dieser untauglich gewordenen
Mittel nicht mehr bedienen. Der Erfolgreiche, dem diese Vorstellungen
keinen zusätzlichen Glanz mehr verleihen können, wird an ihnen ebenso
desinteressiert werden wie der Unterlegene, dem sie keinen Rückhalt zu
geben und keinen Trost zu spenden vermögen. Man mag sich auch daran
gewöhnt haben, daß eine Politik nach "absoluten Grundsätzen" unmöglich
ist, und den Politil{ern keinen Vorwurf machen, wenn sie in gewissen
Grenzen Elastizität üben. Ist es schließlich zur Selbstverständlichkeit
geworden, daß der Weltlauf unseren Wertpostulaten gegenüber indifferent
ist, dann wird man sich über dieses Faktum kaum mehr erregen und
ähnlich könnte es sich auf den übrigen Gebieten verhalten, wo heute
noch das ideologische Denken eine große Rolle spielt.
Allerdings treten im Zuge dieses "Aufklärungs"prozesses - wie ja
schließlich auch in der geistig-moralischen Entwicklung der Individuen -
manchmal Anpassungskrisen auf. Doch können solche Schwierigkeiten
kaum dadurch auf die Dauer gemeistert werden, daß man wider besseres
Wissen an den überholten Vorstellungen festhält oder die neuen Einsichten
aus dem Bewußtsein verdrängt, um die vermeintlich unentbehrlichen
Lebenshilfen nicht zu verlieren. Derartige Verdrängungen erzeugen nur
eine Atmosphäre schleichender intellektueller Unredlichkeit, und früher
oder später kommt es meist doch zu einem eruptiven Aufbrechen der zurück-
gestauten Problematik. Die Leidenschaft, die bei solchen Anlässen hervor-
tritt, erschwert jede nüchterne, gedanklich klare und gefühlsmäßig
entspannte Behandlung jener Fragen. Es ist darum nicht nur ehrlicher,
sondern auch zweckmäßiger, die Lage von vorneherein ruhig ins Auge zu
fassen. Je weniger man die Schwierigkeiten dramatisiert - wie dies die
gegenwärtige Kulturkrisenliteratur tut - und sie dadurch konserviert
oder vergrößert, desto eher sind sie zu überwinden. Denn die Bedürfnisse
der Regelung des Alltagslebens und die Notwendigkeiten der Politik
machen sich auch in solchen Situationen auf die Dauer geltend und die
Menschen gewöhnen sich an die "Entzauberung der Welt", bis sie den
ganzen Vorgang nicht mehr als solche empfinden: die Anpassung des
Gefühlslebens an die Erkenntnis ist vollzogen. Auf diese Weise erledigen
sich weltanschauliche Probleme von selbst, nicht indem sie eine Antwort
finden, sondern indem sie gegenstandslos werden.
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Albright, W. F. 50 Bradwardinus, Th. 216
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AlfÖldi, A. 9, 71, 74f. Brinton, G. 22
Alkmaion v. Kroton 103, 105, 127, Brunner, O. 107
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Anaxagoras 104, 106f., 109 Buddha 57
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Anaximenes 102f., 107, 136 Caird, E. 191
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Aristoteles29, 98,107,119,131, 135ff., Capelle, W. 97, 100
151,179,184, 194, 198f., 201, 203, Cassirer, E. 5, 8, 2lf., 31, 244
214, 286f., 291 Caudwell, Ch. 239
Arleth, E. 140, 146f. Christensen, A. 52
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Augustinus 196, 20lff., 210, 212f., Cicero 156f., 161, 194, 198, 202, 221
219, 242 Clemens v. Rom 73
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Barker, E. 72, 185 Comte, A. 245
Barth, H. 254 Condorcet, M. J. N. 245
Barth, P. 167, 276 Cornford, F.l\I. 11, 70, 96, 125
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Berthelot, R. 28 Demokrit 103, 107, HOff., 286
Bertholet, A. 12 Dempf, A. 200
Bezold, C. 43, 87 ff. Descartes, R. 224ff., 238ff.
Bidez, J. 69, 154f., 157, 163 Deussen, P. 18, 56f.
Billicsich, F., 164, 167, 177, 185, 187, Diels, 13, 100
191, 210, 249f. Dieterlen, G. 68
Binswanger, L. 6 Dietrich, E. L. 12ff.
Bleeker, C. J. 33f. Dijksterhuis, E. J. 266
Bloch, M. 81 Dilthey, W. 194, 228ff., 27lf.
Bodin, J. 207, 228 Dio Cassius 75
Boehm, Ä. 144 Diodor 154
Boehme, J. 9, 13, 15, 17 Diogenes v. Apollonia 106, 136
Boehner, Ph. 207 Dion v. Prusa 71
Boiithius 284 Dionysios Areopagita 73, 197ff.
Boisacq, E. 102 Diotogenes 72
Boll, F. 43, 87ff., 150, 154 Dittrich, O. 120, 204, 207
318 Namenverzeichnis

Dölger, F. 84 Hautecoeur, L. 70, 74, 85


Dölger, F. J. 42 Hegel, G. W. F. 243, 246ff., 261, 275,
Dombart, Th. 45 288, 299, 305
Duhem, P. II 0 Hehn, J. 42, 45, 47
Duns Scotus 206 Heimsoeth, H. 178, 192, 211, 241
Durkheim, E. 276f. Heine-Geldern, R. 65
Dutt B. B. 54f. Heinemann, F. 179, 181ff.
Eberhard, W. 60f., 64 Hellmann, S. 82
Eckstein, W. 147 Henoch-Buch 47, 56, 105, 116
Ehrenberg, V. 99 Hentze, C. 61
Eisler, R. 9f., 23, 38, 41, 44, 70, 76, Heraklit 56, 112, 114ff., 136, 188
84, 88, 107 Herbert v. Cherbury 229
Ekphantos 72 Herrmann, F. 12
Eliade, M. 9f., 14f., 28 Herter, H. 69
Elser, K. 143ff. Hertling, G. v. 137
Empedokles 104ff., 108ff. Hesiod 1lf., 28, 97, 104
Engels, F. 256, 258, 275 Hierokles 105
Epiktet 166 Hieronymus 73
Eucken, R. 149 Hildegard v. Bingen 17
Euripides 120 Hobbes, Th. 275
EusebiuB 73, 76, 81 Hochstetter, E. 268
Evans·Pritchard, E. E. 16 Hoffmann, E. 125
Feckes, K. 218f. Hofmann, P. 6
Festugiere,A.-J .13,69,89,134,151,163 Höfler, O. 8lf.
Feuerbach, L. 255f., 274ff. Homer 28, 70, 102, 104
Fichte, J. G. 257 Horaz 165
Fischer, H. Th. 10, 15 Hume, D. 221, 238ff., 269, 273
Flasche, H. 76, 85 H uyghens, eh. 226
Forke, A. 57f., 63 Jacobsen, Th. 39ff.
Frank, Ph. 223, 266f., 293 Jacobsohn, H. 34
Frank, S. 79f. Jaeger, W. 96,98ff., 109, ll3, 116ff.,
Franke, O. 33, 58ff. 120, 135, 138, 143, 146
Frankfort, H. 6, 34, 37, 39, 43, 118 Jaspers, K. 265
Friedrich, A. 67 Jaures, J. 257ff.
Frobenius, L. 28, 31, 66f. Jesaias 76
Gage, J. 77 Ignatius v. Antiochia 73
Galilei 224 Iljin, I. 246, 249
Gassendi, P. II 0 Joachim v. Fiore 242
Geffcken, J. 177 Jodl, F. 202, 240f.
Gerkan, A. v. 70 Joel, K. 96, 99, 109, 115
Gerson, J. 207 Johannes Ev. 50, 74
Gewirth, A. 282 Jonas, H. 175, 196
Gierke, O. 200 JosephuB Flavius 76
Gigon, O. 96, 98ff., 113ff. Jung, C. G. 11, 15
Glück, H. 74 Junker, H. 37, 51
Gomperz, H. 56, 96f., 100, 107, 115, Kabbala 9, 13f.
117,147, 149, 164,200, 212f., 217, Kampers, F. 82
221, 226, 278f. Kant, I. 221, 237ff., 246, 258, 269,
Gomperz, Th. 95, 98, 147 283, 288
Goodenough, E. R. 72 Kautilya Mf.
Grabmann, M. 205 Keiling, K. 185
Graebner, F. 35 Kelsen, H. 25, 30, 99, 110, 121,233,
Granet, M. 57f. 240, 254, 271, 278
Groot, J. J. M. de 61, 64 Kepler, J. 224
Gundei, W_ 23, 30, 43, 87ff. Kern, F. 24f., 81
Hansen, W. 19f. Kerschensteiner, J. 69
Hasbach, W. 232, 236 Kleanthes 154, 161, 167, 170, 173
Namenverzeichnis 319

Klinz, A. 10 Nestle, W. 95, 135, 170, 264


Kopernikus, N. 11, 223 Newton, I. 226f.
Koppers, W. 22, 24, 27 Nietzsche, F. 162
Kosmas Indikopleustes 76 Nikolaus v. Kues 200
Kraft, G. 16, 22, 26 Nissen, H. 38
Kraft, V. 266 Nonnos 75f.
Kranz, W. 13, 26, 69, 100, 102 Norden, E. 13, 113
Krautheimer, R. 84 Numazawa, F. K. 11
Kretschmer, K. 76 Numenios 24, 176f., 180
Krickeberg, W. 68 Ockham, W. v. 206, 268
Kugler, F. X. 43 Oetinger, F. Ch. 14
Kurfess, H. 141 Oldenberg, H. 12f., 56
Labat, R. 41 Olerud, A. 98, 123f.
Lassalle, F. 257 Oncken, A. 234
Le Coq, A. v. 150 Oppenheim, M. v. 44
Leibniz, G. W. 225, 241 Origenes 49, 195f., 210, 212
Leisegang, H. 11, 122, 175f. Orosius 242
Le Mercier, P. 234 Otto, E. 37
Lenin, W. I. 80, 263 Palladio, A. 85
Lesky, A. 120 Pareto, V. 277f.
Liddell Hart, B. H. 29 Parmenides 112ff.
Litt, Th. 247f., 250 Parrot, A. 45
Lietzmann, H. 73 Patrizzi, F. 223
L'Orange, H. P. 45, 5If., 74f., 78f., Paulus 48f., 72
82, 113, 292 Peirce, Ch. S. 271
Löwith, K. 242 Pelagius 212
Lubac, H. de 275 Peterson, E. 78, 197
Lucan 74 Petron 99, 107
Lucrez 105, 107 Petzet, W. 233f.
Lukacs, G. 255 Pfeiffer, J. 6
Luther, M. 216f. Pfleiderer, E. 125
Lyttkens, H. 220 Pherekydes 11, 70
Philolaos 106
Malebranche, N. 269 Philon v. Alexandreia 76, 158ff., 163,
Malthus, Th. R. 275 175
Mandeville, B. 236 Piaget, J. 19f., 104, 108
Marck, S. 254 Piggott, St. 54, 69
Martiny, G. 44 Platon 8, 13, 18, 53, 69, 71, 74, 103,
Marx, K. 222, 246, 252ff., 275 107, 119, 121ff., 136, 140, 15lf.,
Maspero, H. 61 172,181, 183f., 186, 189, 194,209,
Mauss, M. 276f. 237, 241, 283, 286f., 290f.
Meek, C. K. 66 Plechanow, G. W. 260f.
Meissner, B. E. 43f. Plinius 71
Melanchthon, Ph. 229 Plotin 13, 113, 176ff., 298
Menzel, A. 115 Plutarch 74, 155
Merton, R. K. 282 Pohlenz, M. 125, 152, 156, 161, 169f.,
Meyer, E. 43, 54 172f.
Meyer, H. 137ff., 14lf., 152, 156 Popper, K. 282, 305
Meyer, J. J. 54 Portmann, A. 276
Meyerowitz, E. L. 67f. Poseidonios 157
Mitterer, A. 138, 20lf. Possoz, E. 26
Moleschott, K. 256 Pritchard, J. B. 101
Montesquieu 227 Proudhon, P. J. 256
Morenz, S. 10, 28 Quesnay, F. 234
Mullach, F. W. A. 105 Reding, 1\1:. 147
Müller, W. 68 Reichenbach, H. 240
Nagel, G. 34 Reininger, R. 238, 241, 266, 306
Needham, J. 226f. Reitzenstein, R. 16f.
320 Namenverzeichnis

Rhys Di:tvids T. W. 55 Tannery, P. 95


Rickert, H. 270 Tempels, P. 27
Rieser, M. 312 Thales 136
Rikli, E. 263 Thedinga, F. 177
Ritter, H. 88 Theiler, W. 123, 135
Robin, L. 105 Theimer, W. 255, 263
Robson, W. A. 226 Thomas v. Aquin 29, 198ff., 209,
Röck, F. 68, 87 213ff., 218f., 241
Rohde, E. 102 Thukydides 121, 264f.
Roretz, K. 28 Tien Tcheou.Kang, A. 62
Ross, A. 147, 240, 245, 271 Tillyard, E. M. W. 224
Rothacker, E. 272f. Tönnies, F. 204
Rousseau J. J. 204 Tolstov, S. P. 79
Rousselle, E. 32 Topitsch, E. 251, 263, 265, 270, 293,310
Rudd, H. F. 58 Treitinger, O. 77ff.
Troeltsch, E. 202, 230, 251, 257
Saintyves, P. 8 Trubetzkoy, E. N. 79
Sarkisyanz, E. 79f. Tucci, G. 64
Sauer, J. 31, 83f. Turgot, A. R. J. 244f., 250
Sauter, J. 206 Ungnad, A. 43
Schaeder, H. H. 17
Schäfer, H. 37 Valentinos 13, 175
Scheibert, P. 80 Vallentin, B. 150, 199
Scheler, M. 19 Verdross-Drossberg, A. 116
Schindler, K. 161 Verweyen, J. 212, 216
Schink, 1V. 238 Virolleaud, Ch. 42
Schlick, M. 266 Vitruv 18, 75
Schlier, H. 48 Vlastos, G. 97
Schmidt, K. L. 48f. Voegelin, E. 205
Schmidt, W. 22 Vogt, C. 256
Schmitt, C. 208 Volney, C. F. 230
Schmitt, P. 72, 74 Voltaire 227, 243ff.
Schmökel, H. 45f. Vorländer, K. 258
Scholem, G. 14, 220 Wach, J. 32
Schott, A. 44 Weber, M. 5, 35, 259, 270
Schramm, P. E. 76, 84, 86 Welzel, H.117, 147, 202, 204, 206f., 271
Schubert, K. 152 Werner, K. 206
Schuhl, P.-M. 99, 102, 105, 113f. Wesendonk, O. G. v. 51
Schulz, W. 247 Wetter, G. A. 263
Schulze, W. A. 14f. Wilhelm v. Auvergne 199
Sedlmayr, H. 78, 83, 86 Wilhelm v. Auxerre 205
Segerstedt, T. 5 Willey, B. 230
Se·Ma-Ts'ien 58f., 90 Winckler, H. 43
Seneca 71, 166, 173, 194 Windelband, W. 211
Sidgwick, H. 27Of. Winthuis, J. 12
Smith, A. 235, 243, 250 Wittkower, R. 18, 85
Sinith, E. B. 9, 52, 76, 78 Wolf, W. 37
Sophokles 120 Woltmann, L. 258f.
Soustelle, J. 68 Wundt, M. 188, 206
Spannaus, G. 66
Spiegel, J. 34ff. Xenophanes 103f., 107f.
Spinoza, B, 225f., 269 Xenophon 151
Stammler, R. 259f. Zenker, E. V. 64
Staudacher, W. 11 Zenkovski, V. V. 79f.
Stegemann, V. 45, 75, 150 Zenon 152, 163, 170
Stelzenberger, J. 202 Zielinski, Th. 194
Strauss, O. 57 Zilsel, E. 223f., 226f.
Suarez, F. 206 Zimmer, H. 22
Sueton 74 Zwingli, u. 229
Berichtigungen.
S. 37, Zeile 9 von oben lies: Amon·Verehrung statt Ahon.
Verehrung.
S. 114, Zeile 8 von oben lies: TO BOV statt TO B6v.
S. 154, Anm. 2, letzte Zeile lies: DIODOR II 30 ff. statt
DIODOR H, S. 30 ff.

Topitsch, Metaphysik

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