Sie sind auf Seite 1von 33

Poetica 53 (2022) 290–322 POETICA

brill.com/poe

Am Fenster, in der „Küche des Wetters“:


Überlegungen zu einer Poetik des Synoptischen

Zornitza Kazalarska
Institut für Slawistik und Hungarologie, Humboldt-Universität zu Berlin,
Berlin, Deutschland
z.kazalarska@hu-berlin.de

Abstract

At the Window, in the “Kitchen of the Weather”: Reflections on the Poetics of the
Synoptic. The focus of this article is on the interplay between phenomenology and
meteorology and its poetics in Czech and Slovak art and literature. The first part of the
paper explores the possibilities of the interaction between non-meteorological and
meteorological atmospheres in the interwar prose of Ivan Horváth and Milena Jesenská,
using the figure of the window scene as an example. The second part of the analysis is
devoted to Zdeněk Košeks autodidactic art and the “notational iconicity” (S. Krämer)
of his diagrammatic archive of observations on everyday life and the weather in the
1990s. As methodological instruments for the exploration of the poetics of synoptic
perception serve rhythmanalytical (H. Lefebvre), meteopoetological (M. Gamper,
U. Büttner / I. Theilen) and atmosphere-oriented (G. Böhme, H.U. Gumbrecht,
B. Meyer-Sickendiek) approaches.

Die im Titel zitierte Metapher „Küche des Wetters“1 geht auf den tschechischen
Art-Brut-Künstler Zdeněk Košek zurück, der in den 1990er Jahren vom
Küchenfenster seiner Plattenbauwohnung in Ústí nad Labem minutiöse
Beobachtungen zum Wetter und seinen Phänomenen (Wolken, Regen, Wind-
richtung, Nebel), aber auch zum Verhalten von Tauben und Spatzen, zum
Balkonleben seiner Nachbarschaft, zur Dynamik des Flugverkehrs und der
Kondensstreifen am Himmel in seinen Heften notierte. Seine Aufzeichnungen
gehen aus einem besonderen Aufmerksamkeitsmodus hervor, der sich durch

1 „kuchyně počasí“ (Jaromír Typlt, „Jak se dělá počasí (Volný rozhovor se zápisky Zdeňka Koška
vede Jaromír Typlt)”, unter http://www.typlt.cz/ecrits/img/kosek-pocasi-2001/, Zugriff 4.
September 2022).

© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/25890530-05301012


A m Fenster, in der „Küche des Wetters “ 291

außerordentliche Empfindlichkeit und Empfänglichkeit für das Geschehen um


ihn herum auszeichnet: „Ich habe fast ununterbrochen auf die Uhr geschaut
und alles in meine Diagramme eingetragen. […] Ich war so AUFMERKSAM
gegenüber allem, EMPFINDLICH gegenüber allem, dass ich jede KLEINIG-
KEIT wahrnahm, jede menschliche Geste, jede Fliege, jeden Lichtschimmer.
Ich habe die Zeit und das Ereignis aufgeschrieben.“ [Hervorhebungen im
Original]2 Dabei protokolliert er nicht nur visuelle, sondern auch akustische
Eindrücke, die von außen, von der anderen Seite des Fensters, ins Innere seiner
Wohnung eindringen und sich mit den häuslichen Geräuschen des Platten-
baus vermischen:

den Autolärm, das Schreien von Menschen, das Bellen von Hunden,
das Miauen von Katzen, das Explodieren von Böllern oder von anderen,
„abenteuerlichen“ Munitionen, die Aufzeichnungen des Windes, das
Rütteln des Windes an den Fensterscheiben, sein Pfeifen, die Aufnahmen
der häuslichen Geräusche im Wohnungskern: das Rauschen, das Rasseln,
das Spülen, das Zischen, das Klopfen, das Hämmern […].3

Der Künstler, der vor seiner Erkrankung an Schizophrenie als Typograph und
Karikaturist tätig war, verwandelt seinen Körper in einen Aufzeichnungs-
apparat, funktioniert seine Sinnesorgane in präzise Messgeräte um:

Farben, Zahlen, Schlagwörter, Sätze. Ich habe jedes Schild, jede Person
beobachtet. Ich habe die Farben der Kleidung bewertet. Mein Kopf war
wie ein Bienenstock, ein Propeller, ein Karussell; die Empfänglichkeit
und Empfindlichkeit des Hörens, Riechens, Sehens, Schmeckens waren
so intensiv, dass es mir buchstäblich den Kopf verdrehte, mein Gehirn
war wie ausgelöscht; „alles“, das sich abspielte, ging durch meine
Gehirnfalten. […] mein Gehirn kam mir wie ein Radar vor […].4

2 „[…] téměř neustále [jsem] sledoval hodinky a zapisoval do obrazců. […] Byl jsem tak
POZORNÝ vůči všemu, CITLIVÝ vůči všemu, že jsem vnímal každou PRKOTINU, každé
gesto člověka, každou mušku, každé bliknutí světla. Zapsal jsem čas a děj.“ (Typlt, „Jak se dělá
počasí“ (wie Anm. 1)). Die Übersetzungen aus dem Tschechischen, wenn nicht anders ver-
merkt, stammen von der Verfasserin.
3 „[…] hluk aut, hulákání lidí, štěkot psů, mňoukání koček, odpalování dělobuchů a různých
municí ,dobrodruhy‘, záznamy foukání větru, nárazu větru do okna, meluzíny, záznamy
zvuků v bytovém jádře: crkání, drnčení, pouštění vody, hučení, klepání, bušení […].“ (Typlt,
„Jak se dělá počasí“ (wie Anm. 1)).
4 „Barvy, čísla, hesla, věty. Sledoval jsem každou ceduli, každého člověka. Hodnotil barvy jeho
oblečení. Hlavu jsem měl jako včelín, vrtuli, kolotoč; vnímavost, citlivost sluchem, čichem,
zrakem, chutí byla tak výrazná, že jsem byl z toho doslova ,vytočený‘, vygumovaný; ,vše‘, co

Poetica 53 (2022) 290–322


292 Kazalarska

Die ausgesonderten Wahrnehmungsdaten stellt er dann mithilfe von


diagrammatischen Darstellungsverfahren in Verbindung zueinander, im
Bemühen, darin Beweise für die Allverbundenheit der Welt zu finden bzw.
für diese Allverbundenheit selbst zu sorgen.5 Manche Zeichnungen hängt
er am Fenster seiner Küche auf, um dadurch mit den Vögeln draußen zu
kommunizieren und – mittels der Vogelsprache – mit dem Himmel und den
Wetterkräften in Kontakt zu treten. In einer Welt, die vor Bedeutungsauf-
ladung beinahe zu bersten droht, wird Košek von dem Phantasma bewegt,
durch seine Registrierkunst das Weltwetter mitzugestalten und ein „Herrscher
des Wetters“6 zu sein.
Diese Verbindung zwischen Phänomenologie und Meteorologie, zwischen
Wahrnehmungs- und Witterungskunde, die literarische bzw. künstlerische
Werke herstellen und inszenieren können, steht im Zentrum meiner Über-
legungen. Eine Schnittstelle beider Bereiche stellen Phänomene der
Atmosphäre dar: nicht zuletzt wegen der Spaltung des Konzepts in einen
naturwissenschaftlichen und einen ästhetischen Wissensbereich und
seiner damit zusammenhängenden „Verdoppelung“7. In ihrem Kompendium
literarischer Meteorologie schlagen die Herausgeber*innen Urs Büttner und
Ines Theilen vor, beide Diskurse – der meteorologischen Objektivierung und
der phänomenologischen Subjektivierung der Atmosphäre – nicht ausschließ-
lich in ihrer Trennung, sondern auch in ihrem Wechselspiel in den Blick zu
nehmen.8 Ihre Beziehung sei nicht nur metaphorischer Natur, so Tim Ingold:

Thus while meteorology gives us a notion of atmosphere as a gas-filled


domain evacuated of all traces of mood and affect, aesthetics gives us
what looks like the complementary opposite, a system of affects that
appears to exist in a vacuum. Both meteorologists and aestheticians, from
their respective sides, are inclined to say that their particular meaning

se odehrávalo, mi prakticky procházelo mozkovými závity. […] můj mozek [mi] připadal jako
radar […].“ (Typlt, „Jak se dělá počasí“ (wie Anm. 1)).
5 „[…] dokážu, že všechno souvisí se vším, že nic není náhoda. Že prostý člověk bude žít,
pracovat, milovat a rozhodovat o všem.“ [„[…] ich werde beweisen, dass alles mit allem
zusammenhängt, dass nichts Zufall ist. Dass ein einfacher Mensch leben, arbeiten, lieben
und über alles entscheiden wird.”] (Typlt, „Jak se dělá počasí“ (wie Anm. 1)).
6 „Myslel jsem si […], že tvořím počasí na celé naší modré planetě.“ [„Ich dachte […], dass
ich das Wetter auf unserem blauen Planeten erschaffe.“] (Typlt, „Jak se dělá počasí“ (wie
Anm. 1)).
7 Urs Büttner / Ines Theilen, „Phänomene der Atmosphäre. Zur Einleitung“, in dies. (Hg.),
Phänomene der Atmosphäre. Ein Kompendium literarischer Meteorologie, Stuttgart: Metzler
Verlag, 2017, S. 1–25, hier S. 2.
8 Vgl. Büttner / Theilen, „Phänomene der Atmosphäre“ (wie Anm. 7), S. 9.

Poetica 53 (2022) 290–322


A m Fenster, in der „Küche des Wetters “ 293

of atmosphere is primary, and the other is merely metaphorical. Their


complementarity, however, suggests that the two sides may have more in
common than meets the eye. [Hervorhebung im Original]9

Das Plädoyer, beide Bedeutungsdimensionen der Atmosphäre – die ästhetisch-


phänomenologische und die naturwissenschaftlich-meteorologische –
komplementär zueinander zu betrachten, bildet den Leitfaden meiner literatur-
wissenschaftlich ausgerichteten Analysearbeit. Dabei interessieren mich
neben den Möglichkeiten einer stimmungs- und atmosphärenorientierten
Lektüre10 auch die meteopoetologische Perspektive auf literarische Texte.
Diese sehen Büttner und Theilen weniger im referentiellen Bezug der Texte auf
Wetterphänomene, sondern vielmehr im Fokus auf die ästhetischen Heraus-
forderungen, auf die poetologische Befragung von Darstellungsproblemen:
„Ihr Interesse zielt vor allem auf diskursive Form(barkeit), auf die vielfältigen
Weisen [sic!] mit denen unterschiedliche Wissensfelder sich die Phänomene
der Atmosphäre anverwandeln, und für die Weiterentwicklung genuin
ästhetischer Zugriffe.“11
Die Metapher „Küche des Wetters“ deutet zum einen auf die Werkstatt
des tschechischen Künstlers hin, in der alle Phänomene der Atmosphäre auf
ihre Signifikanz hin untersucht und – wie die Ingredienzien eines Rezepts,
einer Zauberformel oder eines alchemischen Experiments – miteinander
gemischt werden, um eine Einheit zu bilden. Zum anderen verweist sie auf
den Ort des Küchenfensters, den Košek zur meteorologischen Beobachtungs-
station umfunktioniert. Das Produkt dieser häuslichen Schreibszene sind
Wahrnehmungs- und Wetterdaten (aber auch farbig umrandete Kaffeeflecken,
geographische Bezeichnungen, kleine Formen wie Notizen, Sprachspiele,
Tagebuchfragmente, Aphorismen und Sentenzen), die der Art-Brut-Künstler
diagrammatisch erfasst: „Sonntag, der 7. Wochentag, zuhause, in der Küche

9 Tim Ingold, The Life of Lines. London: Routledge, 2015, S. 74.


10 Vgl. beispielsweise Hans Ulrich Gumbrecht, Stimmungen lesen. Über eine verdeckte
Wirklichkeit der Literatur. München: Hanser, 2011 und Gernot Böhme, „Atmosphärisches
in der Naturerfahrung“, in: ders., Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 1995, S. 66–84.
11 Büttner / Theilen, „Phänomene der Atmosphäre“ (wie Anm. 7), S. 17. Eine Ergänzung
dieser Überlegungen stellt die dreiteilige Unterscheidung zwischen „Meteopoetik“,
„literarischer Meteorologie“ und „Meteopoetologie“ dar, die Urs Büttner und Michael
Gamper im Sammelband Verfahren literarischer Wetterdarstellung vorschlagen. Vgl. Urs
Büttner / Michael Gamper, „Meteopoetik – Literarische Meteorologie – Meteopoetologie.
Eine kritische Verhältnisbestimmung“, in: dies. (Hg.), Verfahren literarischer Wetterdar-
stellung. Meteopoetik – Literarische Meteorologie – Meteopoetologie, Berlin; Boston: De
Gruyter, 2021, S. 1–20.

Poetica 53 (2022) 290–322


294 Kazalarska

Abbildung 1 Z
 deněk Košek, „Ohne Titel“ (ca. 1990), in: Christian Berst (Hg.), Zdeněk Košek.
Dominus Mundi, Paris: Christian Berst Art Brut, 2020, S. 97.

im Norden“,12 „heute habe ich mich ausgeruht und nichts gezeichnet“,13


„unser Leben ist wie ein riesiges Vergrößerungsglas“,14 „die Tauben schauen
nie in den Himmel über den Wolken, sondern starren mich an“,15 „in einer
fremden Wohnung, heute Morgen auf der Straße rannten Amseln herum“,16
„heute Morgen habe ich vor dem Lebensmittelladen ein grünes Pappelblatt
aufgehoben, dessen Herz mir zu Füßen fiel“,17 „huu Dampfleitung, Zischen,
Lokomotive“,18 „ein Blitz ohne Donner“,19 „bis in den Morgen hinein registrierte
ich den Regen“.20

12 „neděle, 7. den týdne, doma v kuchyni na severu“ (Christian Berst (Hg.), Zdeněk Košek.
Dominus Mundi, Paris: Christian Berst Art Brut, 2020, S. 82).
13 „dnes jsem odpočíval a vůbec jsem nic nenakreslil“ (Berst, Zdeněk Košek (wie Anm. 12),
S. 84).
14 „náš život slouží jako obrovská lupa“ (Berst, Zdeněk Košek (wie Anm. 12), S. 108–109).
15 „holubi vůbec nesledují nebe nad sebou, ani oblaky, ale upřeně hledí na mne“ (Ebd.).
16 „v nějakém cizím byte, ráno po ulici běhali kosové“ (Berst, Zdeněk Košek (wie Anm. 12),
S. 157).
17 „ráno jsem před ,potraviny‘ sebral zelený list topolu, srdce které mi padl k nohám“ (Berst,
Zdeněk Košek (wie Anm. 12), S. 108–109).
18 „húú parovod sikot [sic!] locomotiv“ (Berst, Zdeněk Košek (wie Anm. 12), S. 159).
19 „blesk bez hřmění“ (Ebd.).
20 „do rána jsem registroval déšť“ (Ebd.).

Poetica 53 (2022) 290–322


A m Fenster, in der „Küche des Wetters “ 295

Zdeněk Košeks künstlerisch gestaltete Wahrnehmungsexperimente mit


dem Wetter werfen insbesondere die Frage auf, mit welchen poetischen Ver-
fahren (durch die Wahl welcher Darstellungs- und Gattungsformen) die
Komplexität und Diffusität seiner Phänomene abgebildet werden können. Von
den Himmelserscheinungen und von den Praktiken der Meteorologie (wie
zum Beispiel der synoptischen Analyse) ausgehend, entwickelt Košek eigene
Darstellungsstrategien.
Košeks „Wortwolken“ laden darüber hinaus zum Nachdenken über die
Bedeutung des Fensters als meteorologischer Beobachtungsstation ein. In
der Literaturgeschichte des Fensters spielen die Phänomene des Wetters für
den kontemplativen Beobachter zwar eine wichtige Rolle, bilden aber selten
den Kern seiner „Raumphantasien“21 über die Außenwelt. Auch wenn der
Protagonist in Košeks Aufzeichnungen Ähnlichkeiten mit dem vereinsamten
und vereinzelten Subjekt der Großstadt aufweist, geht die Intensität seiner
„Wetterfühligkeit“ über die melancholische Stimmung von Isolation und Des-
orientierung hinaus, die den „Mensch[en] und seine Fenster“22 in der Literatur
und Kunst der Moderne auszeichnet.23 Von gläsernen Wänden umgeben zu
sein, nimmt Košek geradezu als Voraussetzung dafür wahr, vom Küchenfenster
als „Rand des Universums“24 heraus eins mit dem Universum zu werden: „Was
soll ich mit dem Planeten Erde machen, der Bestandteil meines Körpers ist?“25
Das aktuell ins Zentrum der Forschungsaufmerksamkeit gerückte Ver-
hältnis zwischen Literatur und Wetter26 erlaubt es – durch neue Ansätze,
Begriffs- und Analyseinstrumente – auch Zdeněk Košeks bisher eher marginal
untersuchte und vorrangig im Kontext von Art Brut beleuchtete Diagramm-
kunst in neue (historische und poetologische) Zusammenhänge zu stellen.
Sie stellt zwar kein Produkt eines kontrollierten künstlerischen Prozesses27
dar und trägt die deutlichen Spuren einer mentalen Störung. Aber vom
Rand seiner zwischen Pathologie und Kunst, zwischen Bild und Schrift

21 Hans Brüggemann, Das andere Fenster. Einblicke in Häuser und Menschen. Frankfurt a. M.:
Fischer, 1989, S. 10.
22 Vgl. zu dieser Formulierung die gleichnamige Kapitelüberschrift in Rolf Selbmanns
Kulturgeschichte des Fensters. Rolf Selbmann, Eine Kulturgeschichte des Fensters von der
Antike bis zur Moderne. Berlin: Reimer, 2010.
23 Vgl. Brüggemann, Das andere Fenster (wie Anm. 21), S. 10.
24 „okraj ,VESMÍRŮ‘ [Hevorhebung im Original]“ (Typlt, „Jak se dělá počasí“ (wie Anm. 1)).
25 „Co mám dělat s planetou Zemí, která je součástí mého těla?“ (Typlt, „Jak se dělá počasí“
(wie Anm. 1)).
26 Vgl. zum aktuellen Forschungsstand Urs Büttner / Michael Gamper (Hg.), Verfahren
literarischer Wetterdarstellung. Meteopoetik – Literarische Meteorologie – Meteopoetologie,
Berlin; Boston: De Gruyter, 2021.
27 Barbara Safarova, „Preface“, in: Christian Berst (Hg.), Zdeněk Košek. Dominus Mundi, Paris:
Christian Berst Art Brut, 2020, S. 44–55, hier S. 51.

Poetica 53 (2022) 290–322


296 Kazalarska

changierenden Aufzeichnungen heraus lässt sich vielleicht auch die Literatur-


und Kunstgeschichte – der meteorologischen Beobachtung und der sinn-
lichen Wahrnehmung – neu denken und gestalten. Der Weg in die „Küche
des Wetters“, in der Košek in den 1990er Jahren seine Diagramme anfertigte,
geht deswegen zunächst zurück in die, für die literarischen Verhandlungen des
Wetters und des Fensters bedeutende historische Station der 1920er und 1930er
Jahre. An zwei Fallbeispielen aus der tschechischen und slowakischen Prosa
der Zwischenkriegszeit – Milena Jesenskás Wiener und Prager Feuilletons
und Ivan Horváths Novelle Laco a Bratislava (Laco und Bratislava, 1928) –
möchte ich erforschen, welche Möglichkeiten des Zusammenspiels zwischen
Meteorologie und Phänomenologie die Blickrahmung durch ein Fenster
eröffnet. Der nächste Schritt der Analyse ist Košeks Diagrammkunst gewidmet
und führt von der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung zu der der schriftbild-
lichen Darstellungsverfahren im Operationsraum der synoptischen Karte. In
einem letzten Schritt gilt es zu fragen, ob sich aus den Aufzeichnungen des
tschechischen Autodidakten Elemente zu einer übergreifenden Poetik der
Wetterbeobachtung herauskristallisieren lassen, die auch in der Medialität
literarischer Sprache ähnliche – synoptisch ausgerichtete – Schreibweisen mit
sich bringt.

1 Die „Wahrnehmungslehren“ des Fensters: Zwischen Stimmungs-


und Rhythmusanalyse

In ihrem epistolarischen Essay A Letter to a Young Poet (1932) schildert Virginia


Woolf eine Schreibszene des modernen Gedichts, deren situativer Rahmen das
Fenster ist:

All you need now is to stand at the window and let your rhythmical sense
open and shut, open and shut, boldly and freely, until one thing melts in
another, until the taxis are dancing with the daffodils, until a whole has
been made from all these separate fragments. […] let your rhythmical
sense wind itself in and out among men and women, omnibuses,
sparrows – whatever come along the street – until it has strung them
together in one harmonious whole. That perhaps is your task – to find the
relation between things that seem incompatible yet have a mysterious
affinity, to absorb every experience that comes your way fearlessly and
saturate it completely so that your poem is a whole, not a fragment; […].28

28 Virginia Woolf, A Letter to a Young Poet. London: Hogarth Press, 1932, S. 22.

Poetica 53 (2022) 290–322


A m Fenster, in der „Küche des Wetters “ 297

Auch wenn Woolf in ihrem als Brief an John Lehman inszenierten Text das
Wort „Stimmung“ nicht erwähnt, deuten Begriffe und Formulierungen
wie Harmonie, Ganzheit („harmonious whole“) und Affinität („mysterious
affinity“) indirekt auf die von David Wellbery in seinem Beitrag zum Wörter-
buch Ästhetische Grundbegriffe rekonstruierte, ursprüngliche Bedeutungs-
konnotation von Stimmung als Verhältnis und Disposition, als Stimmigkeit
eines vom Künstler wahrgenommenen Komplexes hin:

Es geht um den künstlerischen Blick, der an den vorgegebenen Objekten


einen sich als Spiel von echohaften Tonvariationen entfaltenden und
damit die disparaten Gegenstände in eine umgreifende Einheit über-
führenden Sinnüberschuss erkennt. […] Was den Künstler vom normalen
Menschen unterscheidet, ist seine Fähigkeit, diese Stimmung nicht nur
zu spüren, sondern ihre Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und sie eigens
zu produzieren.29

Wellbery zufolge steht am Anfang der Begriffsgeschichte der Stimmung die


metaphorische Übertragung aus dem Bereich des Musikalischen auf den
Bereich des Seelischen und Ästhetischen. Bei der objektiven Tätigkeit des
Stimmens eines Musikinstruments spielt die Bedeutungskomponente der
Innerlichkeit und Intimität, die bei den späteren, subjektbezogenen Trans-
formationen des Begriffs an Dominanz gewinnt, noch keine Rolle.30 Die
musikalische Komponente des Stimmungsbegriffs verweist vielmehr auf die
„Koordinierung der Schwingungsfrequenz der Saiten eines Instruments“.31
Dementsprechend steht der Stimmungsbegriff im 18. Jahrhundert – als Bei-
spiel dafür führt Wellbery Goethes Falconet-Aufsatz (1776) an – noch nicht
für „radikale Innerlichkeit“,32 sondern für allumfassende Harmonie und
Einheit, für „Vermittlung zwischen differenten Positionen“33 (zwischen
Subjekt und Objekt, zwischen Vernunft und Gefühl, zwischen Rationalem
und Emotionalem), für das „In-Verhältnis-Setzen von Teilen“.34 Auf diese
Aktualisierung der ursprünglichen, musikalisch inspirierten Bedeutungsschicht

29 David Wellbery, „Stimmung“, in: Karlheinz Barck (Hg.), Historisches Wörterbuch


Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart; Weimar: Metzler, 2003, S. 703–733, hier S. 705.
30 Wellbery, „Stimmung“ (wie Anm. 29), S. 707.
31 David Wellbery, „Der gestimmte Raum. Von der Stimmungslyrik zur absoluten Dichtung“,
in: Anna-Katharina Gisbertz (Hg.), Stimmung. Zur Wiederkehr einer ästhetischen Kategorie,
Paderborn: Fink, 2011, S. 157–176, hier S. 165.
32 Wellbery, „Stimmung“ (wie Anm. 29), S. 712.
33 Gumbrecht, Stimmungen lesen (wie Anm. 10), S. 18.
34 Wellbery, „Stimmung“ (wie Anm. 29), S. 706.

Poetica 53 (2022) 290–322


298 Kazalarska

des Begriffs deutet auch Woolfs Betonung des rhythmischen Gespürs35 hin, das
dem Dichter dazu verhelfen soll, das Zusammenspiel der heterogenen Frag-
mente zu erkennen und sie zu einem harmonischen Beziehungsgeflecht, letzt-
endlich zur Ganzheit eines Gedichts zusammenzufügen.
Woolfs poetologische Reflexionen zum Fenster als Entstehungsort des
modernen Gedichts lassen sich, nicht zuletzt wegen der Hervorhebung der
rhythmischen Dimension der Stadtwahrnehmung, auch mit Henri Lefebvres
Überlegungen zur Rhythmusanalyse (Éléments de rythmanalyse, 1992) weiter-
denken. Sein Portrait des zukünftigen, noch auszubildenden Rhythmusana-
lysators einer Stadt (einer Straße, eines Hauses) weist in mehrerer Hinsicht
Überschneidungen mit der Figur des modernen Dichters, den Virginia Woolf
am Fenster stehend imaginiert, auf:

Does the rhythmanalyst thus come close to the poet? Yes, to a large
extent, more so than he does to the psychoanalyst, and still more so
than he does to the statistician, who counts things and, quite reasonably,
describes them in their immobility. Like the poet, the rhythmana-
lyst performs a verbal action, which has an aesthetic import. The poet
concerns himself above all with words, the verbal. Whereas the rhythm-
analyst concerns himself with temporalities and their relations within
wholes. [Hervorhebung im Original]36

Der Rhytmusanalysator zeichnet sich Lefebvre zufolge durch eine außerordent-


liche Empfindlichkeit für Zeiten (und weniger für Räume), für Stimmungen
(und weniger für Bilder) und für Atmosphären (und weniger für besondere
Ereignisse) aus.37 Sein Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsmodus äußere

35 Den Begriff des Gespürs instrumentalisiert Burkhard Meyer-Sickendiek für die Theorie
der modernen Lyrik. Unter „Gespür“ versteht er die Fähigkeit, „einen verborgenen, nicht
deutlich sichtbaren Sachverhalt gefühlsmäßig [zu] erfassen“ (Burkhard Meyer-Sickendiek,
„Über das Gespür. Neuphänomenologische Überlegungen zum Begriff der Stimmungs-
lyrik“, in: Anna-Katharina Gisbertz (Hg.), Stimmung. Zur Wiederkehr einer ästhetischen
Kategorie, Paderborn, 2011, S. 45–61, hier S. 47). Als eines der fünf Indizien des lyrischen
Gespürs nennt er – neben dem atmosphärischen Indiz – auch den Rhythmus, zum Bei-
spiel zwischen Engung und Weitung, zwischen Spannung und Schwellung (vgl. Burkhard
Meyer-Sickendiek, Lyrisches Gespür. Vom geheimen Sensorium moderner Poesie. München:
Fink, 2011, S. 34).
36 Henri Lefebvre, Rhythmanalysis. Space, Time and Everyday Life. London; New York:
Continuum, 2004, S. 23–24.
37 Vgl. Henri Lefebvre / Catherine Regulier: „Attempt at the Rhythmanalysis of Mediterra­
nean Cities“, in: Henri Lefebvre, Rhythmanalysis. Space, Time and Everyday Life, London;
New York: Continuum, 2004, S. 85–100, hier S. 87.

Poetica 53 (2022) 290–322


A m Fenster, in der „Küche des Wetters “ 299

sich in einer Empfänglichkeit für akustische Sinnesreize, im Lauschen: „He is


always ‘listening out’, but he does not only hear words, discourses, noises and
sounds; he is capable of listening to a house, a street, a town as one listens to
a symphony, an opera.”38 Um den Rhythmus von flüchtigen Sinneseindrücken
und ihren Beziehungen untereinander und innerhalb des Ganzen zu erfassen,
müsse der Rhytmusanalysator (anders als der in den Großstadtstraßen
immersiv aufgelöste Spaziergänger) gleichzeitig drinnen und draußen situiert
sein, auf einem Balkon oder am besten am Fenster: „He who walks down the
street, over there, is immersed in the multiplicity of noises, murmurs, rhythms
[…]. By contrast, from the window, the noises distinguish themselves, the flows
separate out, rhythms respond to one another.”39 Das Fenster als Ort der Ver-
mittlung zwischen Drinnen und Draußen erlaubt dem Rhytmusanalysator,
die chaotisch-mannigfaltigen Sinneseindrücke auszusondern, in Beziehung
zueinander und in ein Ordnungssystem zu bringen. Durch den Fensterblick
nimmt er den Raum nicht nur visuell als Spektakel oder als statische Skulptur,40
sondern auch temporal – polyrhythmisch und symphonisch – wahr. Hinter
der Oberfläche der scheinbaren Simultaneität aller vom Fenster umrahmten
Objekte, kann er ihre Eigenzeitlichkeit erkennen:

But look at those trees, those lawns and those groves. To your eyes
they situate themselves in a permanence, in a spatial simultaneity, in a
coexistence. But look harder and longer. This simultaneity, up to a certain
point, is only apparent: a surface, a spectacle. Go deeper, dig beneath
the surface, listen attentively instead of simply looking, of reflecting the
effects of a mirror. You thus perceive that each plant, each tree, has its
rhythm, made up of several: the trees, the flowers, the seeds and fruits,
each have their time.41
No camera, no image or series of images can show these rhythms. It
requires equally attentive eyes and ears, a head and a memory and a
heart.42

Die Stellung des Rhythmusanalysators am Fenster (und somit auch an der


Peripherie des Stadtgeschehens) erinnert zwar an die Außenperspektive eines
passiven Beobachters und neutralen Zuhörers, aber durch seine körperliche

38 Lefebvre / Regulier, „Attempt at the Rhythmanalysis“ (wie Anm. 37), S. 87.


39 Lefebvre, Rhythmanalysis (wie Anm. 36), S. 28.
40 Vgl. Lefebvre, Rhythmanalysis (wie Anm. 36), S. 31.
41 Ebd.
42 Vgl. Lefebvre, Rhythmanalysis (wie Anm. 36), S. 36.

Poetica 53 (2022) 290–322


300 Kazalarska

Präsenz partizipiert er aktiv am Geschehen hinter den Glasscheiben. Sein


rhythmisches Gespür soll an der Harmonie der „Girlande aus Rhythmen“43
orientiert sein, die sein Körper produziert. Beim Erfassen des Rhythmus einer
Straße soll der Rhythmusanalysator deswegen die Eurhythmie, das poly-
rhythmische Zusammenspiel seiner Körperorgane als Referenz nehmen und
auf diese Weise Draußen und Drinnen ineinander integrieren.44
Diese Zusammenhänge zwischen Stimmungs- und Rhythmusanalyse
werfen Fragen nach den „Lehren des Fensters“ („teachings of the window“)45
in der Literatur auf. Lefebvres Konzept lässt sich – aus literaturwissenschaft-
licher Sicht – auch als Einladung zum Verfassen einer alternativen Literatur-
geschichte des Fensters verstehen, die sich jenseits seiner lyrischen und
narratologischen Instrumentalisierungen für abstrakte Introspektionen eines
auf sich selbst rückgeworfenen Subjekts bewegt, dessen Fensterblick nicht
nach außen, sondern nach innen gewandt ist:46

Could it be that the lessons of the street are exhausted, outdated, and
likewise the teachings of the window? Certainly not. They perpetuate
themselves by renewing themselves. The window overlooking the street
is not a mental space, where the inner gaze follows abstract perspectives:
a practical space, private and concrete, the window offers views that are
more than spectacles; mentally prolonged spaces.47

Die Literaturgeschichte des Fensters als urbaner Wahrnehmungsform


rekonstruiert beispielsweise Heinz Brüggemann in seiner einflussreichen
Monographie Das andere Fenster. Einblick in Häuser und Menschen (1989) – am
Beispiel von Charles Baudelaire, Franz Kafka und Rainer Maria Rilke – vor-
rangig als Geschichte der modernen Subjektivität und der melancholischen
Subjekterfahrung:

Der Fensterblick, der Ausblick auf die Stadtlandschaft, der Blick in


andere Fenster als Blick auf die Anderen ist eine Wahrnehmungsform
des vereinzelten Subjekts der großen Städte. Die Haltung, die Attitüde
des unbeweglichen, kontemplativen Beobachters, des Vereinzelten,

43 Lefebvre, Rhythmanalysis (wie Anm. 36), S. 20.


44 Ebd.
45 Lefebvre, Rhythmanalysis (wie Anm. 36), S. 33.
46 Symptomatisch für diese Perspektive ist Gianna Zoccos Auffassung vom literarischen
Motiv des Fensters als „Öffnung ins Innere“ (Gianna Zocco, Das Motiv des Fensters als
Öffnung ins Innere in Erzähltexten seit 1945. Berlin: Weidler, 2014).
47 Henri Lefebvre, Rhythmanalysis (wie Anm. 36), S. 33.

Poetica 53 (2022) 290–322


A m Fenster, in der „Küche des Wetters “ 301

der die städtische Szenerie, die anderen Fenster betrachtet, ist ein
Aspekt der melancholischen Erfahrung: als Abbruch aller lebendigen
Kommunikation mit der Außenwelt, als Rückzug auf sich selbst. So ist sie
literarisch bedeutsam geworden.48

Brüggemann geht dabei von dem „Übergewicht des Sehens über das Hören“49
in der Moderne aus und konzentriert sich auf das Fenster als Medium visueller
Wahrnehmung. Diese Vorherrschaft des Visuellen verwandelt das Fenster als
„Raum der Selbstbeziehung und der Beziehung zum Anderen“50 in einen Raum
voller Spiegelungseffekte und optischer Illusionen, in dem überwiegend ent-
stellte Selbst- und Fremdbilder entstehen. Die Bilder, die sich dem Fensterblick
darbieten, animieren die Einbildungskraft zur Produktion von Phantasmen,
eröffnen Zugang zu imaginierten Räumen. Die sichtbaren und unsichtbaren
Bilder, die Sphären des Realen und Imaginären vermischen sich dabei und
verstellen die Selbstwahrnehmung des Subjekts, deformieren sein inneres Ver-
hältnis zu sich selbst.51
Dass die literarische Fensterszene nicht nur eine optische, von Imagination
durchdrungene Kommunikation zwischen dem Subjekt und dem Anderen
zum Ausdruck bringen, sondern auch als Stimmungsdispositiv fungieren
kann, hat David Wellbery (unter anderem am Beispiel der Dichtung Rilkes)
gezeigt. Das Fenster verschaffe dem Wahrnehmungssubjekt Zugang zu einem
gestimmten Raum:52

Wie die Tür trennt das Fenster ein Innen von einem Außen, wie die
Tür weist es auch eine gewisse Durchlässigkeit, die Möglichkeit eines
Austausches, auf, die sich allerdings nicht an konkreten Handlungen der
physischen Bewegung, sondern an Prozessen der Wahrnehmung, des
Gefühls, des Begehrens verwirklicht. Aufgrund dieser a-dramatischen
Qualität eignet sich das Fenster als Sinndispositiv für die nicht-narrativen
Gattungen, zumal für die Lyrik. Und aufgrund der Suspension des für
die Sinnstrukturen von Brücke und Tür konstitutiven Moments leib-
hafter Aktion bietet sich das Fenster als Dispositiv eines zwecklosen,
präsentischen Prozesses, wie die Stimmung ja einer ist.53

48 Brüggemann, Das andere Fenster, (wie Anm. 21), S. 10.


49 Brüggemann, Das andere Fenster, (wie Anm. 21), S. 9.
50 Brüggemann, Das andere Fenster, (wie Anm. 21), S. 10.
51 Vgl. ebd.
52 Vgl. Wellbery, „Der gestimmte Raum“ (wie Anm. 31), S. 161.
53 Ebd.

Poetica 53 (2022) 290–322


302 Kazalarska

Wie würde sich die Literaturgeschichte des Fensters gestalten, wenn – im


Einklang mit Lefebvres Ausführungen zur Rhythmusanalyse – eine Akzent-
verschiebung von der gläsernen Durchsichtigkeit des Fensters auf seine
akustische Durchlässigkeit unternommen wird? Wenn das Fenster in der
Literaturgeschichte überwiegend als „Dispositiv der Stimmung“ fungiert, so
würde eine solche Verlagerung des Schwerpunkts außerdem die musikalische,
auf Harmonie und Vermittlung ausgerichtete Bedeutungsschicht des Begriffs
hervorheben, und die der „innerlichen Radikalität“ in den Hintergrund rücken.
Im Zusammenhang damit würden schließlich anstelle von krisenhaften
Subjekterfahrungen der Isolation und Entfremdung Artikulationen einer All-
verbundenheit (mit) der Welt, anstelle der Selbstversunkenheit – das Gefühl
einer Weltversunkenheit, hervortreten.
Die möglichen Konsequenzen eines solchen Perspektivenwechsels auf
die Poetik der literarischen Fensterszene in ihrer Verflechtung mit (meteoro-
logischen wie auch nicht-meteorologischen) Phänomenen der Atmosphäre
werden im Folgenden am Beispiel der Zwischenkriegsprosa von Milena
Jesenská und Ivan Horváth untersucht.

2 Am Fenster I: Milena Jesenská

Es ist sicherlich kein Zufall, dass Lefebvre am Anfang des Kapitels „Seen from
the Window“ – nicht nur wegen des gleichnamigen Titels – Sidonie Gabrielle
Colettes Feuilletons aus der Sammlung Paris de ma fenêtre (1944) erwähnt. Als
Schreibszene der kleinen Form fungiert das Fenster auch in den Feuilleton-
sammlungen der tschechischen Schriftstellerin Milena Jesenskás; sie lassen
sich, nicht zuletzt wegen der vom Fenster ihrer Wiener (und später, nach
der Rückkehr in die Erste Tschechoslowakische Republik im Jahr 1925, auch
Prager) Wohnungen in den 1920er Jahren durchführten Rhythmusanalyse, in
eine Linie mit dieser publizistischen Schreibtradition einreihen. Das Gespür
der Journalistin für die genaue Übereinstimmung („strickt concordance“)54
und Harmonie zwischen optischen und akustischen Sinnesreizen, die sich der
am Fenster stehenden Frau erschließt, zeigt sich zum Beispiel im Feuilleton
Zvuky z okolí (Geräusche aus der Umgebung, 1926):

Vielleicht wohnt ihr schon seit Monaten oder sogar Jahren in der
gleichen Wohnung oder im gleichen Zimmer, tagtäglich erwacht ihr dort
und kommt jeden Abend dorthin zurück, legt euch mit dem Gesicht zum

54 Henri Lefebvre, Rhythmanalysis (wie Anm. 36), S. 29.

Poetica 53 (2022) 290–322


A m Fenster, in der „Küche des Wetters “ 303

gleichen Fenster hin und beobachtet auf der Zimmerdecke immer das
gleiche Schattenspiel, das von der gleichen Straße und dem gleichen
Gardinenmuster darauf projiziert wird. […] Sicherlich ist irgendwo in der
Nähe eine Kirche, den Klang der Turmglocken würdet ihr vielleicht unter
Hunderten von anderen wiedererkennen, euch gegenüber, oder unter
euch, oder in der Nachbarwohnung gibt es eine Uhr, deren Ticken ihr
regelmäßig lauscht. […] in der Wohnung über euch wohnt ein Student,
der schwere Schuhe trägt und jeden Tag von seinen Sauftouren nach
Hause kommt. Ab und zu bleibt er stehen, zündet ein Streichholz an,
tastet mit dem Schlüssel nach dem Schlüsselloch, schließt auf und ab, die
Tür knarrt und dann ist wieder Ruhe. […] Auf der Straße steht vielleicht
ein Wurstverkäufer und verkauft nachts heiße Würstchen, Gurken und
Zigaretten, jemand bleibt bei ihm stehen und ein Brummen dringt bis zu
euren Fenstern hinauf. Vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung,
immer die gleichen Geräusche, ihr kennt sie, […] sie sind euch weder
angenehm noch unangenehm, aber allmählich bilden sie die besondere
Stimmung ihrer Umgebung, ihr gewöhnt euch daran und verschmelzt
damit […].55

Ähnlich wie Virginia Woolf greift Milena Jesenská auf musikalische Metaphorik
zurück, um die Verschmelzung der häuslichen Geräuschkulisse mit der Klang-
landschaft der Straße zu einer einheitlichen Stimmung zum Ausdruck zu
bringen. Den harmonischen Zusammenklang zwischen Straßen- und Haus-
geräuschen, zwischen dem Lied der Nachbarschaft und dem Lied des eigenen
Körpers – „[…] auch ich werde mit den Türen knallen, auch bei mir wird eine
Uhr ticken, auch ich werde kommen und gehen, weinen, singen, schimpfen,

55 „Možná, že bydlíte už měsíce a snad léta v témže bytě a témže pokoji, každodenně se v něm
probouzíte a každovečerně se do něho vracíte, uleháte obličejem k témuž oknu a vidíte
na stropě vždy tytéž světelné stíny, kreslené toutéž ulicí a tímtéž vzorkem na zácloně – a
že si už ani neuvědomujete, jak vlastně svůj pokoj a vše, co s ním souvisí, znáte. Jistě je
nablízku někde kostel, zvuk věžního zvonu byste asi rozeznali mezi sta jinými, naproti,
nebo dole, nebo v sousedním bytě mají hodiny, které pravidelně slýcháte […] Nahoře nad
vámi bydlí student, nosí těžké boty a chodí denně z flámu domů. Tu a tam se zastaví a
škrtne sirkou, pak hledá klíčem dírku klíčovou, odmyká, zamyká, vrzne dveřmi a utichne.
[…] Na ulici třeba stojí párkař a prodává v noci horké párky, okurky a cigarety, všeliskdo
se u něho zastaví a nějaké bzučení zalehne k vám do oken. Když den svítá a když den
usíná, vždycky se to děje podobnými zvuky, znáte je, […] nijak vám nejsou ani příjemné,
ani nepříjemné, ale pomalu tvoří určitou náladu vašeho okolí, zvyknete jim naprosto a
splynete s nimi […].“ (Milena Jesenská, „Zvuky z okolí“, in: dies., Křižovatky. Výbor z díla,
Praha: Torst, 2016, S. 354–356, hier S. 354–355).

Poetica 53 (2022) 290–322


304 Kazalarska

lachen, wie ihr […]“56 – vergleicht sie mit einem musikalischen Akkord. Die
Stimmungsanalyse des Zuhauses erweist sich großenteils als Rhythmus-
analyse, die sich auf der sprachlichen Ebene im „Spiel von echohaften Ton-
variationen“,57 insbesondere von syntaktischen Äquivalenzen niederschlägt.
In ihren Feuilletons aus den 1920er Jahren schreibt Jesenská zwar oft aus
der Perspektive einer flanierenden, durch die Gassen rennenden Frau heraus
und greift wiederholt den Stadtspaziergang als Topos der kleinen Form58 auf.
Ihre Protagonistin aber sitzt auch ganze Nächte lang am Hausfenster oder
erspürt den Wiener Straßenrhythmus, versteckt hinter den Glasscheiben „der
Straßenbahnen, der Schnellzüge, […] der Busse, vor denen der Lärm der Straße
vorübergleitet.“59 Den „quadratischen Glasscheiben“60 schreibt Jesenská zum
einen die „Zauberkraft“61 zu, Realität und Begehren miteinander zu vermengen.
Das Fenster fungiert als Grenz- und Übergangsort, an dem die vereinsamte
Frau davon träumt, aus ihrem Körper herauszuschlüpfen, hinaus in die Welt
zu fliehen, Zugang zu den ersehnten, dem menschlichen Auge unsichtbaren
Räumen der Freiheit zu erlangen:

Weil im Fenster die ganze Hoffnung auf Licht liegt, auf den Sonnenaufgang
und den Horizont; im Fenster liegen Sehnsucht und Wunsch. Hinter
einer Tür liegt nur die Wirklichkeit. […] Etwas durchs Fenster zu sehen
erscheint mir viel verlockender, unterhaltsamer, spannender, als es
unmittelbar zu sehen. Etwas durchs Fenster zu sehen heißt: nicht
involviert sein. Außerhalb. Heißt, sich ein fest umrissenes Stück eigen-
ständiger Sehnsucht nach dem, was man sieht, zu bewahren, es nicht
völlig zu beherrschen, wie den Raum, in dem wir uns physisch bewegen.

56 „[…] i já budu klapat dveřmi, i u mne budou tikat hodinky, i já budu přicházet, odcházet,
plakat, zpívat si, naříkat, smát se, jako vy […]“ (Milena Jesenská, „Zvuky z okolí“ (wie
Anm. 55), S. 356).
57 Wellbery, „Stimmung“ (wie Anm. 29), S. 705.
58 Vgl. zu dieser gattungspoetischen Verflechtung zwischen Flanerie und kleiner Form
Eckhardt Köhn, Straßenrausch. Flanerie und kleine Form. Versuch zur Literaturgeschichte
des Flaneurs bis 1933, Berlin: Das Arsenal, 1989.
59 „Miluji okna elektrik, rychlíků, okna omnibusů, před nimiž sklouzá hluk ulice.“ (tsch.
Milena Jesenská, „Okno“, in: dies., Křižovatky. Výbor z díla, Praha: Torst, 2016, S. 109–111,
hier S. 110; dt. Milena Jesenská, „Das Fenster“, in: dies., Prager Hinterhöfe im Frühling.
Feuilletons und Reportagen 1919–1939, Göttingen: Wallstein, 2020, S. 114–117, hier S. 115).
60 „kvadrátové, skleněné tabulky“ (tsch. Jesenská, „Okno“ (wie Anm. 59), S. 109; dt. Jesenská,
„Das Fenster“ (wie Anm. 59), S. 115).
61 „S mocí kouzelnou.“ (tsch. Jesenská, „Okno“ (wie Anm. 59), S. 109; dt. Jesenská, „Das
Fenster“ (wie Anm. 59), S. 115).

Poetica 53 (2022) 290–322


A m Fenster, in der „Küche des Wetters “ 305

Eine Landschaft durchs Fenster zu sehen, heißt, sie zweifach zu erkennen:


mit den Augen und mit dem Wunsch.62

Jesenskás Frauenfiguren (und ihre häufige Stellung am Fenster) verbindet


zum anderen die Wahrnehmungsintensität, der „empfindliche Nerv“ für
die Stadt als „Sphäre gespürter leiblicher Anwesenheit“:63 „[…] die Stadt in
ihrem besonderen Wesen erschnuppern, ertasten, erschmecken, sich in einen
empfindlichen Nerv verwandeln, der das Fremde und Unbekannte in der Stadt
erspüren kann […]“.64 Jede Straße, schreibt sie im Feuilleton Výkladní skříně
(Schaufenster, 1922), hat ihren „ausgesprochenen Seelencharakter“,65 ihre
eigene Stimmung, von der sie sich affizieren lassen und in der sie ihre eigenen
Gedanken und Gefühle wiederfinden kann. Bei aller scheinbaren Abgegrenzt-
heit und Unzugehörigkeit der Frau am Fenster trennt die Glasscheibe nicht
unbedingt das Innen von dem Außen, die Häuser und Menschen – von der
Großstadtstraße. Die Fenster als „Wunder des einfachen täglichen Lebens”66
dienen der Grenzziehung und Grenzüberschreitung zugleich, vermitteln
die engen und geheimnisvollen „Zusammenhänge zwischen Menschen und
Dingen“,67 die „kettenartige Verbundenheit“68 des kleinsten Gegenstands mit
der ganzen Welt.
Im Feuilleton Tajemná vykoupení (Geheimnisvolle Erlösung, 1921) ermög-
licht das Fenster als Ort dieser Allverbundenheit den affektiven Übergang von

62 „Protože v okně leží všechna naděje po světle, po východu slunce, po obzoru; v okně
leží touhy a přání. Za dveřmi leží pouze skutečnost. […] Vidět něco oknem připadá mi
mnohem půvabnější, zábavnější, poutavější než vidět něco bezprostředně. Vidět něco
oknem znamená nepatřit k tomu. Být oddělen. Znamená uchovat si kus ohraničené,
samostatné touhy po tom, co vidím, nezvládnout to úplně, jako prostor, ve kterém tělesně
jsme. Vidět krajiny okny znamená poznat je dvakrát: očima a přáním.“ (tsch. Jesenská,
„Okno“ (wie Anm. 59), S. 110; dt. Jesenská, „Das Fenster“ (wie Anm. 59), S. 115–116).
63 Gernot Böhme, Leib. Die Natur, die wir selbst sind. Berlin: Suhrkamp, 2019, S. 140.
64 „[…] pročichat, prohmatat, prochutnat město v jeho zvláštní bytosti, stát se citlivým
nervem, který procítí právě to, co je v městě cizího a neznámého […]“ (Milena Jesenská,
„Břicho měst“, in: dies., Křižovatky. Výbor z díla, Praha: Torst, 2016, S. 40–43, hier S. 40–41).
65 „vyslovenú duševnú akosť“ (Milena Jesenská, „Výkladní skříně“, in: dies., Křižovatky. Výbor
z díla, Praha: Torst, 2016, S. 127–129, hier S. 127).
66 „zázraky prostého, každodenního života“ (tsch. Jesenská, „Okno“ (wie Anm. 59), S. 109; dt.
Jesenská, „Das Fenster“ (wie Anm. 59), S. 114).
67 „lidské spojitosti s věcmi“ (tsch. Milena Jesenská, „Tajemná vykoupení“, in: dies., Křižovatky.
Výbor z díla, Praha: Torst, 2016, S. 80–82, S. 80; dt. Milena Jesenská, „Geheimnisvolle
Erlösung“, in: dies., Alles ist Leben: Feuilletons und Reportagen 1919–1938, hg. von Dorothea
Rein, Frankfurt a. M.: Neue Kritik, 1996, S. 31–35).
68 „řetězité spojitostí“ (Milena Jesenská, „Do deště“, in: dies., Křižovatky. Výbor z díla, Praha:
Torst, 2016, S. 170–171, hier S. 171).

Poetica 53 (2022) 290–322


306 Kazalarska

den (auch körperlich gespürten) Symptomen der modernen Melancholie zu


lebensbejahenden Gefühlen wie Euphorie und Freude:

[…] so blieb ich auf dem Fensterbrett sitzen. Mein Körper war starr
vor Entsetzen: Wie den kommenden Tag überleben? Ich stellte mir in
tödlicher Angst all die Stunden vor, die Glieder wurden steif, der Kopf
schmerzte, das Herz blieb stehen, die Brust hörte auf zu atmen. […]
Auf einmal durchschnitt ein holperndes Rattern die Stille, das erste
Vorstadtwägelchen fuhr wohlgelaunt in die Straße, das abgeschundene
Pferdchen wiegte seine Mähne, und das Wunder geschah. Die Welt
schüttelte sich, entfachte das Tagwerk; Laden, Toreinfahrten, Schenken,
Trafiken, alles bewegte sich, die Glocken auf dem Turm bewegten sich,
überall wurden mit weitem Schwung Fenster geöffnet, in der Straße, in
der ganzen Stadt, am ganzen Himmel, der Tag ergoß sich auf die Erde,
und ein leiser Segen wehte durch die Lüfte. […] in der halben Sekunde,
die den ganzen Raum erfaßt, die Sonne, den Himmel, die Welt, wurde
ich geschüttelt, bevor ich bewußt in mildes Weinen ausbrach: Wie schön,
wie schön, wie schön ist es zu leben!69

Bei aller Leere im Herzen der von einem geliebten Menschen verlassenen, auf
ihn wartenden Frau, erscheint das Fenster als „der einzige Ort in der Wohnung,
der nicht leer war.“70 Die Glasscheibe macht einen anders gestimmten Raum
zugänglich, von dessen innerer Bewegtheit ihr vor Entsetzen erstarrter
Körper – „die Glieder wurden steif, der Kopf schmerzte, das Herz blieb stehen,
die Brust hörte auf zu atmen“ – ergriffen und mitbewegt wird. Eingetaucht
in die frühmorgendliche Atmosphäre der Stadt und mitgetragen von ihrem
Rhythmus, findet die Erzählerin die verlorene Harmonie jener „Girlande aus

69 „[…] zůstala jsem opět na okně. Od paty až do hlavy strnula jediná hrůza: jak přežit den,
který přichází? Představou proběhly všechny hodiny v smrtelné úzkosti, údy znehybněly,
hlava rozbolela, srdce se zastavilo, prsa přestaly dýchat. […] Najednou prořízlo ticho
drkotavé klapání a jakoby rozmarně vjel do ulice první předměstský vozíček […] a zázrak
se stal. Svět se zatřepal, zadýchal v denní práci, krámy, průjezdy, výčepy, trafika, všecko
se pohnulo, zvony se pohnuly na věži, okna se pohnula na domech širokým pohybem
po celé ulici, po celém městě, po celém nebi, daleko, daleko rozlétl se den a vzduchem
projelo tiché požehnání. […] v půl vteřině, která obejme celý prostor, všecko slunce,
všecko nebe, všecken svět, zatřáslo mnou, než jsem upadla v unavený pláč vědomí: jak
sladké, jak sladké je žít!“ (tsch. Jesenská, „Tajemná vykoupení“ (wie Anm. 67), S. 81–82;
dt. Jesenská, „Geheimnisvolle Erlösung“ (wie Anm. 67), S. 34).
70 „jediným bodem v bytě, které nebylo prázdné“ (tsch. Jesenská, „Tajemná vykoupení“ (wie
Anm. 67), S. 81; dt. Jesenská, „Geheimnisvolle Erlösung“ (wie Anm. 67), S. 34).

Poetica 53 (2022) 290–322


A m Fenster, in der „Küche des Wetters “ 307

Rhythmen“71 wieder, die der menschliche Körper Lefebvre zufolge in sich trägt.
Starke Gefühle wie Angst, Wehmut und Entsetzen misst die Frau am Fenster
am gestörten Rhythmus ihrer Körperorgane. Das rhythmische Gespür verhilft
ihr dazu, sich in einen Resonanzboden für die Stadtatmosphäre am frühen
Morgen zu verwandeln. Ganz im Sinne der Rhythmusanalyse realisiert sich
der Zugang zu diesem gestimmten Raum weniger über optische, sondern viel-
mehr über akustische Sinneseindrücke. Die Vibrationen der erwachenden,
holpernden und ratternden, sich schüttelnden Stadt spürt die Frau am ganzen
Körper und atmet – tief in die Leere der Lungen und des Herzens hinein –
seine lebenserfüllte Luft ein.
Ein geeignetes Instrument zum Entdecken der Stimmungen und für
ihre Artikulationen in Jesenskás Feuilletons ist Gernot Böhmes Verständ-
nis von Atmosphären als „räumliche[n] Träger[n] von Stimmungen“,72 als
„unbestimmt räumlich ausgebreitet[n] Stimmungen“.73 In den gestimmten
Großstadtraum, der – im Einklang mit der meteorologischen Bedeutungs-
dimension der Atmosphäre als „Luft- oder Gashülle, die einen Stern oder
Planeten umgibt“74 – definitorisch schwer abgrenzbar ist, kann das Subjekt
hineintreten, sich vorübergehend befinden und wieder hinaustreten. Dort
breitet sich die Atmosphäre in der Luft über die Stadtstraßen aus, erfühlt sie
mit einem bestimmten Gefühlston und umgibt das Subjekt allseitig – als etwas
Fluidales und Unsichtbares – wie eine Lufthülle. Ähnlich wie meteorologische
Phänomene üben auch Atmosphären einen bestimmten, mit dem Luftdruck
vergleichbaren Druck auf das Subjekt aus, der körperlich spürbar ist.
Mit dieser Akzentverschiebung vom Drinnen (der Seele) auf das Draußen
(der räumlichen Umgebung) setzt sich Böhme mit dem Verständnis von
Stimmung als Introspektion des Subjekts kritisch auseinander:

Atmosphären sind ja offenbar weder Zustände des Subjektes noch


Eigenschaften des Objektes. Gleichwohl werden sie nur in aktueller
Wahrnehmung eines Subjekts erfahren und sind durch die Subjektivität
des Wahrnehmenden in ihrem Was-Sein, ihrem Charakter, mit-
konstituiert. Und obgleich sie nicht Eigenschaften der Objekte sind,

71 Lefebvre, Rhythmanalysis (wie Anm. 36), S. 20.


72 Gernot Böhme, „Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen Ästhetik“, in: ders.,
Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1995, S. 9.
73 Gernot Böhme, Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre.
München: Fink, 2001 S. 47.
74 Andreas Rauh, „Versuche zur aisthetischen Atmosphäre“, in: Rainer Goetz (Hg.),
Atmosphäre(n). Interdisziplinäre Annäherungen an einen unscharfen Begriff, München:
Kopaed, 2007, S. 123–142, hier S. 124.

Poetica 53 (2022) 290–322


308 Kazalarska

so werden sie doch offenbar durch die Eigenschaften der Objekte in


deren Zusammenspiel erzeugt. Das heißt also, Atmosphären sind etwas
zwischen Subjekt und Objekt.75

Das Fenster kann folglich nicht nur Ort der melancholischen Introspektion
bzw. der Projektion der inneren Gefühlswelt auf die Außenwelt, sondern auch
Medium der Diskrepanz- und Ingressionserfahrung von Atmosphären sein.
Zum Gegenstand der Wahrnehmung können Atmosphären, Böhme zufolge,
auf zweierlei Weise werden: durch Hineintreten in eine Atmosphäre, die auf
die eigene Gestimmtheit wirkt oder von der eigenen Gestimmtheit abweicht.
Die Atmosphären überlappen sich, verändern sich beständig, gehen ineinander
über und werden an den Grenzstellen auffällig, an denen die Stimmungs-
intensität steigt oder ein Stimmungskontrast entsteht.76
Auch die heitere Stimmung der Wiener Straße am frühen Morgen wird auf
der Basis der Diskrepanz zu der wehmütigen Stimmung der Frau am Fenster
entdeckt und wahrgenommen;77 sie gerät zunächst gleichzeitig in zwei ver-
schiedene Atmosphären, deren Kontrast gerade an der Grenzstelle des Fensters
auffällig und spürbar wird. Die Durchlässigkeit der Glasscheibe (für optische
sowie akustische Sinneseindrücke) macht dann den Wahrnehmungswechsel
von Diskrepanz in Ingression – d.h. „die Überwindung eines anfänglichen
Stimmungskontrastes durch Eintauchen in die Atmosphäre“78 – möglich.

3 Am Fenster II: Ivan Horváth

Um die „Lehren“ der Straße und des Fensters in ihrer von Lefebvre vor-
geschlagenen, auf das rhythmische Gespür für Stimmungen und Atmosphären
ausgerichteten Verflechtung, zu erkunden, bietet sich weiterhin die Lektüre
von Ivan Horváths Zwischenkriegsprosa aus den 1920er Jahren an. In seiner,
als Gipfel der slowakischen Moderne gefeierten Prosasammlung Človek na
ulici (Mensch auf der Straße, 1928) lässt der slowakische Schriftsteller die
(männlichen) Figuren auffällig oft am Fenster stehen. Aus dieser erhobenen
Position betrachten sie die Straßen von oben und registrieren die kleinsten

75 Böhme, Aisthetik (wie Anm. 73), S. 54.


76 Vgl. Andreas Rauh, „Versuche zur aisthetischen Atmosphäre“ (wie Anm. 74), S. 137.
77 „Die Heiterkeit eines Frühlingsmorgens kann keine Projektion sein, wenn sie entdeckt
wird auf der Basis und in der Diskrepanz zur eigenen traurigen Gemütsstimmung.“
(Böhme, Aisthetik (wie Anm. 73), S. 49).
78 Andreas Rauh, „Versuche zur aisthetischen Atmosphäre“ (wie Anm. 74), S. 137.

Poetica 53 (2022) 290–322


A m Fenster, in der „Küche des Wetters “ 309

Veränderungen der Himmelserscheinungen, der Licht- und Geräuschkulisse


der Stadt, der eigenen Gefühlslagen:

Tomáš saß den ganzen Tag zuhause, schaute aus dem Fenster und wusste,
dass er sich in dieser Stadt unwohl fühlte. Der Himmel war blau, rief nach
ihm, auch die Häuser machten einen unruhigen Eindruck, so, als ob sie
ihre Koffer packen und sich gleich auf den Weg machen würden. […]
Tomáš saß oft am Fenster, allein mit seiner Sehnsucht, die er nicht ver-
stand, und mit seiner Trauer, die er sich nicht erklären konnte.79 (Človek
na ulici)
Dann mache ich das Fenster mit dem Ausblick auf die schmutzigen
Gewässer der Donau auf und schaue gedankenlos vor mich hin. Ich
höre die Abendstimme der Kathedralenglocken, das Geklimper der
Straßenbahnen.80 (Miriam)
Laco stand am Fenster, schaute auf die Kapitulská-Straße und in sein
Herz hinein. Beide waren von den Menschen und von der Liebe ver-
lassen, auf der Straße wehte ein kalter Wind, der die Hoffnungen, die
erblühen wollten, erfrieren ließ.81 (Laco a Bratislava)

In der Literaturforschung herrscht ein gewisser Konsens über den lyrischen,


nicht-narrativen Charakter der slowakischen Zwischenkriegsprosa, der
so genannten „zweiten Moderne“,82 deren Vertreter Ivan Horváth ist. Laut
Miloš Tomčík bestehen Horváths Novellen aus Stimmungsvariationen;83

79 „Tomáš sedel celý deň doma, díval sa von oknom a vedel, že sa v tom meste necíti dobre.
Obloha bola modrá, volala, i domy mali nepokojný vzor, ako keby balili a chystali sa na
cestu. […] Tomáš sedával pri okne, sám so svojou túhou, ktorú nechápal, a so žiaľom, ktorý
nebolo možno vysvetliť.“ (Ivan Horváth, „Človek na ulici“, in: Michal Habaj (hg.), Druhá
moderna. Slovenská modernistická próza 1920–1930, Bratislava: Literárne informačné
centrum 2018, S. 159–169, hier S. 162, S. 167).
80 „Tu otvorím okno s výhľadom na špinavý tok Dunaja a temné geto a dívam sa stále
vpred bez myšlienky. Počúvam večerný hlas zvonov domu, brnkanie električiek.“ (Ivan
Horváth, „Miriam“, in: Michal Habaj (Hg.), Druhá moderna. Slovenská modernistická próza
1920–1930, Bratislava: Literárne informačné centrum, 2018, S. 145–147, hier S. 146–147).
81 „Laco stál pri okne, díval sa na Kapitulskú ulicu a na svoje srdce. Oboje bolo opustené
ľuďmi i láskou, ulicou dýchal chladný vietor, ten mrazil nádeje, ktoré chceli rozkvitnúť.“
(Ivan Horváth, „Laco a Bratislava“, in: ders., Dom s dvoma amormi, Bratislava: Tatran, 1973,
S. 64–129, hier S. 112).
82 Vgl. zu diesem literaturhistorischen Begriff Michal Habaj, „Druhá moderna (doslov)“, in:
ders. (Hg.), Druhá moderna. Slovenská modernistická próza 1920–1930, Bratislava: Literárne
informačné centrum, 2018, S. 467–495.
83 Vgl. Miloš Tomčík, „Smerové zaradenie Ivana Horvátha“, in: Ivan Horváth, Prózy, Bratislava:
Kalligram a Ústav slovenskej literatúry, 2010, S. 530.

Poetica 53 (2022) 290–322


310 Kazalarska

Jan Hamaliar bezeichnet den Autor als einen feinfühligen Vertreter des
slowakischen Impressionismus.84 Den typischen Protagonisten der zweiten
Moderne, schreibt Michal Habaj, zeichnen seine labile Psyche und Launen-
haftigkeit aus; seine monologischen Aussagen enthalten keine Informationen,
sondern sind Träger von Stimmungen.85 Die im Forschungsfeld dominante
und relativ homogene Interpretation der Stimmungskomponente in Horváths
Prosa ist die, dass die schnellen Stimmungsschwankungen sowie die extreme
„Wetterfühligkeit“ seiner Figuren Signale für ihre psychische Unausgeglichen-
heit, Vereinsamung und sogar Deformierung darstellen.
Die Fensterszene in ihren Variationen im Werk Horváths verdient eine
eigene, auf Details und Nuancen fokussierte Untersuchung; für meine, auf
das Wechselspiel zwischen Meteorologie und Phänomenologie ausgerichtete
Lektürearbeit ist ihre markante Dominanz ein Befund, dessen Hintergründen
ich nachspüren möchte.
Alle Fensterszenen verbindet eine Doppelstruktur, die Raum- und Gefühls-
elemente vereinigt. Tomáš, der Protagonist aus der Novelle Človek na ulici
(Mensch auf der Straße), betrachtet den Raum vor seinem Fenster und fühlt
sich auf eine bestimmte Art und Weise: trauert, sehnt sich, ist melancholisch.
Auch das Fenster, an dem Laco – die Hauptfigur in der Novelle Laco a Bratislava
(Laco und Bratislava), die im gleichen Prosaband erschien – steht, trennt und
verbindet zugleich seine innere Gefühlswelt und die Außenwelt der Straße.
Dabei ist er in den emotionalen Zustand der Melancholie (Traurigkeit, Ver-
lassenheit, Hoffnungslosigkeit) nicht völlig aufgelöst, sondern es ist die
Melancholie selbst, die zum Gegenstand seiner Wahrnehmung wird, und zwar
gerade dadurch, dass er zwischen sich selbst (dem Inneren seines Herzens)
und der Atmosphäre (der Kapitulská-Straße) draußen unterscheiden kann.
Den Charakter dieser Atmosphäre kann er dabei nicht von einem neutralen
Beobachterstandpunkt aus bestimmen, sondern nur indem er sich ihr aussetzt
und von ihr affektiv betroffen wird. Die Melancholie bezeichnet folglich zum
einen den subjektiv-emotionalen Zustand der Figuren, zum anderen – die
diffuse, „chaotisch-mannigfaltige Ganzheit“,86 das atmosphärische Etwas, das

84 Vgl. Jan Hamaliar, „Slovenský impresionista“, in: Ivan Horváth, Prózy, Bratislava: Kalligram
a Ústav slovenskej literatúry, 2010, S. 523.
85 Michal Habaj, Druhá moderna. Bratislava: Ars Poetica, 2005, S. 141.
86 Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie,
Bonn: Bouvier, 2007, S. 115. Auf den Begriff der Situation als „chaotisch-mannigfaltiger
Ganzheit“ greift Burkhard Meyer-Sickendiek in seinem Plädoyer zum Verständnis
von Stimmungslyrik als Situationslyrik zurück. Vgl. Burkhard Meyer-Sickendiek,
„Großstadtlyrik als Stimmungslyrik. Fünf Beispiele und ein theoretisches Modell“, in:

Poetica 53 (2022) 290–322


A m Fenster, in der „Küche des Wetters “ 311

sich „unbestimmt in die Weite“87 und in die Luft der Nachkriegsstadt Bratislava
ergießt.
Ähnlich wie die Frauenfiguren in Milena Jesenskás Feuilletons, nimmt
auch Laco, ein auf den Straßen Bratislavas herumstreifender Student, die
Atmosphäre der Großstadt mit besonderer Intensität wahr. Auffällig ist dabei
insbesondere seine Empfänglichkeit für rein Atmosphärisches, für „Halb-
dinge“,88 die sich durch fehlende Substanzialität und Subjektivität auszeichnen
und den objektiven Pol von Atmosphären bilden. Solche Phänomene – wie
zum Beispiel Wind und Wetter, Jahres- und Tageszeiten, Lichtverhältnisse,
aber auch akustische Phänomene wie Musik, Stimme, Schrei – stellen Böhme
zufolge eine „Brücke des Begriffs der Atmosphäre im ästhetischen Sinne zum
Begriff der Atmosphäre im meteorologischen Sinne“89 dar.
Der häufige Standort Lacos am Fenster lässt vorerst eine Vorherrschaft der
visuellen Wahrnehmung vermuten. Diese scheinbare Dominanz des Optischen
wird in der Novelle mehrmals betont: „Er riss die Augen weit auf, wollte alles
sehen, mit seinem Blick umarmen […]“,90 „[…] die Augen hatte er weit geöffnet
[…].91 Ein näherer Blick auf die Fensterszenen zeigt indes, dass der Fenster-
raum nur selten eine gerahmte Bildperspektive vermittelt, sondern vielmehr
als Ort des Nicht-Sehens oder des verhinderten bzw. gestörten Sehens fungiert.
Diese Beeinträchtigung des Sehsinns durch einen Schleier,92 der über allem
liegt, lässt allerdings Lacos Blick nicht einwärts kehren, von der sinnlichen
Wahrnehmung zur Kontemplation übergehen. Vielmehr regt sie die inter-
modale Tätigkeit der anderen Sinne, insbesondere des Hör- und Geruchssinns
an. Auf ihre Stimulierung wirken vor allem die Lichtverhältnisse in der Stadt.
Entweder versteckt sich das Licht hinter Regen- und Nebelschleiern, lässt die
Stadt gräulich und matt erscheinen, oder es strahlt viel zu grell, erzeugt ver-
wirrende Spiegelungen und blendet den Protagonisten: „Laco schaute aus dem
Fenster. Die untergehende Sonne schien so herrlich, dass sie ihn blendete. Die
Baumkronen waren schon fast grün, auf der Straße sang jemand […].“93

ders. / Friederike Reents (Hg.), Stimmung und Methode, Tübingen: Mohr Siebeck, 2013,
S. 291–312.
87 Böhme, Aisthetik (wie Anm. 73), S. 65.
88 Böhme, Aisthetik (wie Anm. 73), S. 46.
89 Böhme, Aisthetik (wie Anm. 73), S. 64.
90 „Otváral naširoko oči, chcel všetko vidieť, všetko objať zrakom […]“ (Horváth, „Laco a
Bratislava“ (wie Anm. 81), S. 72).
91 „[…] oči mal otvorené dokorán […]“ (Horváth, „Laco a Bratislava“ (wie Anm. 81), S. 73).
92 „akousi clonou“ (Horváth, „Laco a Bratislava“ (wie Anm. 81), S. 77).
93 „Laco pozrel von oblokom. Zapadajúce slnce tak nádherne svietilo, že ho až oslepilo.
Koruny stromov boli už celkom zelené, na ulici niekto spieval […].“ (Horváth, „Laco a
Bratislava“ (wie Anm. 81), S. 121).

Poetica 53 (2022) 290–322


312 Kazalarska

Die außergewöhnlichen Lichtverhältnisse intensivieren Lacos Gespür


für den geheimnisvollen Zauber Bratislavas, den er zuerst vergeblich auf der
Oberfläche – in den Gebäuden „aus Stein, Ziegeln und Beton“94 sowie auf
den lebendigen Straßen voller Menschen – sucht, um sie letztendlich mit der
Empfindlichkeit einer radiotelegraphischen Antenne in der Luft über der Ober-
fläche zu finden: „In der Luft hingen verschiedene Klänge, Düfte und Farben
und bildeten eine merkwürdige Melodie, eine Symphonie der Versöhnung.
Von rechts erklang die Stimme der Mandoline, auch sehr angenehm. Jemand
stimmte ein Lied an […].“95 In der Luft über der Stadtoberfläche lokalisiert
auch Hermann Schmitz die subjektive Erfahrung der Stadtwirklichkeit, die die
Stadtbewohner*innen zwar miteinander teilen, die aber dennoch unbestimmt
und unaussprechbar ist: „[…] es scheint etwas gleichsam in der Luft zu liegen
und unwillkürlich auf Menschen zu wirken, das man nur im Spüren erhaschen,
aber mit allgemeinen Begriffen nicht dingfest machen kann, abgesehen von
der Aufzählung einzelner Faktoren.“96
Räumlichkeit, Intermodalität der Sinneseindrücke, Einschränkung und Ver-
schleierung des Sehsinns, Unbestimmtheit, Flüchtigkeit der atmosphärischen
Phänomene, die in der Luft der Stadt schweben, kurz auftauchend und
wieder verschwindend „wie Kamphor“:97 Das sind die Indizien, die Lacos
atmosphärisches Gespür für Bratislava bestimmen. Das Medium des Fensters
regelt dabei nicht nur das Verhältnis zwischen Drinnen und Draußen, sondern
markiert jene „Grenzstellen“98 im Raum, an denen Atmosphären ingressiv
oder diskrepant wahrgenommen werden: Grenzstellen zwischen Räumen des
Glücks und der Euphorie einerseits und Räumen der Melancholie, Angst und
Einsamkeit andererseits. Der Protagonist tritt beständig in gestimmte Räume
hinein und wird auf der Basis bestimmter atmosphärischen Qualitäten auf
solche Grenzstellen aufmerksam: zwischen Jahres- und Tageszeiten, zwischen
Intensitäten von Wetterphänomenen wie Wind, Licht und Regen, zwischen
Tonqualitäten von Musik und Menschenstimmen, die auf der Straße erklingen:

94 „z kameňa, tehál a betónu“ (Horváth, „Laco a Bratislava“ (wie Anm. 81), S. 75).
95 „Vo vzduchu viseli rozličné zvuky, vône i farby, tie tvoril čudnú melódiu, symfóniu
zmierenia. Sprava zaznel hlas mandolíny, bol tiež veľmi príjemný. Niekto zaspieval […].“
(Horváth, „Laco a Bratislava“ (wie Anm. 81), S. 126).
96 Hermann Schmitz, „Die Atmosphäre einer Stadt“, in: ders., Atmosphären, München;
Freiburg: Karl Alber, 2014, S. 92–108, hier S. 93.
97 „ako gáfor“ (Horváth, „Laco a Bratislava“ (wie Anm. 81), S. 105).
98 Vgl. Andreas Rauh, „Versuche zur aisthetischen Atmosphäre“ (wie Anm. 74), S. 137.

Poetica 53 (2022) 290–322


A m Fenster, in der „Küche des Wetters “ 313

Draußen war noch Winter, er dachte aber, dass in seinem Herzen schon
der Frühling herrschte.99
Er spürte, wie draußen riesige Wolken am Himmel vorbeizogen, deren
Schatten viel zu schwer für die Erde waren. Alle seine Gefühle, seine
Freude und Berauschtheit wurden plötzlich so stark, dass sie ihn fast
ängstigten.100
Der Atem des Frühlings zwang ihm ein konvulsives Lachen auf, das alle
Wolken zerriss, die ihn so lange erstickt hatten.101

Sein doppelter Blick – auf Winter und Frühling, auf Wolken und Sonne
zugleich – bestätigt Böhmes These, dass Stimmungen nicht nur Innerlich-
keit, Subjektivität und „Launen des Ichs“102 zum Ausdruck bringen. Horváths
Zwischenkriegsprosa artikuliert selten Introspektion (im Geiste des Symbolis-
mus und Impressionismus) bzw. Projektion von innerseelischen Zuständen auf
die Außenwelt, sondern viel häufiger Ingression: das Versinken der Figuren ins
Atmosphärische der Großstadt. Auch das Doppelgesicht Bratislavas zeugt in
dieser Hinsicht nicht nur von der launenhaften Veränderlichkeit der Gemüts-
zustände Lacos in ihrer Abhängigkeit von der wechselhaften Intensität seiner
ersten Liebe, sondern auch von der Veränderlichkeit der Stadtatmosphäre in
ihrer Abhängigkeit von wechselhaften Licht- und Wetterverhältnissen. Die
Novelle Laco a Bratislava mag zwar zu den Texten gehören, deren narrative
Struktur im Registrieren von feinen oder viel zu schnellen Stimmungs-
schwankungen ihrer Figuren bestehen; Laco scheint aber – mindestens auf der
Ebene der Selbstreflexion – keinen Zugang zur eigenen Gefühlswelt zu haben:
„Er begann darüber nachzudenken, was ihm geschehen war. Aber er konnte
es selbst nicht begreifen […].“,103 „[…] etwas drang in sein Zimmer ein und
machte ihn unglücklich […].“104 Die Nuancen seiner psychischen Welt werden
stattdessen über die Ebene der sinnlichen Wahrnehmung von flüchtigen
und veränderlichen atmosphärischen Phänomenen wie Musik und Wetter

99 „Vonku bola ešte zima, myslel však, že má v srdci jar.“ (Horváth, „Laco a Bratislava“ (wie
Anm. 81), S. 103).
100 „Cítil, že vonku tiahnu nebom ohromné mračna, ktorých tieň je príliš ťažký pre zem.
Všetky jeho pocity, radosť, opojenie stávali sa zrazu veľmi veľkými, že sa ich skoro zľakol.“
(Horváth, „Laco a Bratislava“ (wie Anm. 81), S. 108).
101 „Dych jari mu vnútil kŕčovitý smiech, ten roztrhal všetky mračná, ktoré ho tak dlho dusili.“
(Horváth, „Laco a Bratislava“ (wie Anm. 81), S. 121).
102 Meyer-Sickendiek, Lyrisches Gespür (wie Anm. 35), S. 22.
103 „Začal rozmýšľať, čo sa vlastne stalo s ním. Ale sám to nevedel pochopiť […].“ (Horváth,
„Laco a Bratislava“ (wie Anm. 81), S. 73).
104 „[…] niečo vstúpilo do izby a to ho urobilo nešťastným […].“ (Horváth, „Laco a Bratislava“
(wie Anm. 81), S. 98).

Poetica 53 (2022) 290–322


314 Kazalarska

vermittelt.105 Sein Seelenzustand ist dabei mit seinem Standort am Fenster


inmitten der Großstadt eng verflochten, von deren Straßen bis zu ihm hinauf
ununterbrochen Stimmen, Klänge, Düfte dringen.
Das Fenster – so mein Zwischenfazit – initiiert einen gemeinsamen Zustand
von Subjekt und Objekt106 und eröffnet eine experimentelle Wahrnehmungs-
situation, die in Horváths Novelle – ähnlich wie in Jesenskás Feuilletons –
weniger auf die Krise eines (isolierten, entwurzelten, desorientierten) Subjekts
verweist, sondern sein ausgeprägtes Gespür für die Großstadt als gestimmten
Raum zum Ausdruck bringt. Die synästhetische Wahrnehmung einer urbanen
Atmosphäre, jener „diffusen Mischungen aus Geruch, spezifischer Akustik
und typischen Lichtverhältnissen“,107 jenes komplexen „Zusammenspiel[s]
von Geräuschen, Gerüchen, Strukturen, Farben, Symbolen, Zeichen und
Formen“,108 schreibt Burkhard Meyer-Sickendiek, stellt ein völlig alltägliches
Phänomen dar. Sie stehe weder unbedingt im Zeichen einer schockhaften (im
Sinne Walter Benjamins) sinnlichen Reizüberflutung, noch deute sie immer
auf psychische Störungen wie Ich-Dissoziation hin.109 Sie kann auch eine
Sehnsucht nach Stimmungen indizieren: ein Verlangen nach der „leichtesten
Berührung unseres Körpers durch die materielle Umwelt“,110 d.h. – mit Hans
Ulrich Gumbrecht – nach Präsenz und nach einer körpergestützten Begegnung
mit der Welt.

4 Am Fenster III: Zdeněk Košek

Nach einer in ihrer Intensität ähnlichen Aufmerksamkeit und Empfäng-


lichkeit für Wahrnehmungsdaten unterschiedlichster Art verlangt auch die
Wetterbeobachtung. Es ist deswegen kein Zufall, dass das Küchenfenster in

105 In diesem Sinne weist Horváths Novelle Ähnlichkeiten mit der stimmungsorientierten
Erzählstrategie von Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig auf: „Aber selbst dieser
Prozess der Bewusstwerdung des alternden Liebhabers wird dem Leser weniger über
eine Ebene der Selbstreflexion vermittelt als über die Sequenz der Wetterlagen über
Venedig, die sich auf verschiedenen Ebenen sinnlicher Wahrnehmung verästeln und ver-
stärken.“ (Hans Ulrich Gumbrecht, „Die Schwere von Thomas Manns Venedig“, in: ders.,
Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur, München: Hanser, 2011,
S. 99–111, hier S. 101).
106 Vgl. zur Definition der Atmosphäre als „Anregung eines gemeinsamen Zustandes von
Subjekt und Objekt [Hervorhebung im Original]“ Böhme, Aisthetik (wie Anm. 73), S. 57.
107 Meyer-Sickendiek, „Großstadtlyrik als Stimmungslyrik“ (wie Anm. 86), S. 292.
108 Ebd.
109 Vgl. Meyer-Sickendiek, „Großstadtlyrik als Stimmungslyrik“ (wie Anm. 86), S. 292–293.
110 Gumbrecht, Stimmungen lesen, S. 12 (wie Anm. 10).

Poetica 53 (2022) 290–322


A m Fenster, in der „Küche des Wetters “ 315

Košeks Aufzeichnungen nicht nur als Stimmungsdispositiv, sondern auch


als Ort meteorologischer Beobachtungskunst fungiert. In ihrer Komplexität
und Unübersichtlichkeit, so Büttner und Theilen, begegnet das Wetter dem
Beobachter als „Hyperobjekt“:111

Es ist daher kaum möglich, Distanz zu schaffen, um die Atmosphäre


in Gänze in den Blick zu bekommen. Zwar verfügt jeder und jede
Interessierte lokal begrenzt über konkrete Anschauungen von einzelnen
atmosphärischen Phänomenen, doch bleibt die Vorstellung, dass all diese
Phänomene in einem Zusammenhang stehen, abstrakt und überkomplex.
Diverse Naturerscheinungen stehen innerhalb der Atmosphäre in
Wechselwirkung zueinander oder durchdringen einander. Auch wandeln
sich viele Phänomene sehr rasch, sind flüchtig oder verändern sich in
kaum wahrnehmbarer Weise. Hinzu kommt noch, dass sich eine Reihe
von atmosphärischen Prozessen ganz oder teilweise außerhalb des sinn-
lich wahrnehmbaren Bereichs abspielt.112

Genauso wie nicht-meteorologische können auch meteorologische


Atmosphären nebulös, unbeständig und mysteriös sein.113 Košeks obsessiver
Drang, die Veränderlichkeit der Wetterphänomene in ihrer Interdependenz
mit kleinen Alltagsszenen aus der Nachbarschaft feinfühlig zu registrieren,
verlangt nach Darstellungsmöglichkeiten, die dieser Diffusität und Flüchtig-
keit gerecht werden und über das sukzessiv verlaufende Tagebuchschreiben
hinausgehen. Die gesammelten Sinneseindrücke sollen wie meteorologische
Messdaten systematisch, d.h. in ihrer Wechselwirkung zueinander, fest-
gehalten, um im Anschluss analysiert zu werden.
Dieser Wunsch führt ihn – wie selbstverständlich – zum Darstellungsmodell
der synoptischen Karte. Bereits in den 1980er Jahren fertigt der Künstler
eine Bildserie an, die aus Wetterkarten für Ústí nad Labem (zum Beispiel für
Dezember 1954, Januar 1955, Juli 1963 und Mai 1975) besteht. Als Grundlage für
seine Bilder dient ihm eine Landkarte des Gebiets, in die er Niederschlagwerte
einträgt und nach einer selbst erstellten Legende farbig übermalt. Die Bildserie
demonstriert die Dynamik der synoptischen Karte, die das „Territorium in

111 Vgl. zu diesem Begriff Timothy Morton, Hyperobjects. Philosophy and Ecology after the End
of the World. Minneapolis; London: University of Minnesota Press, 2013.
112 Büttner / Theilen, „Phänomene der Atmosphäre“ (wie Anm. 7), S. 1.
113 Vgl. Kathryn Schulz, „Writers in the Storm. How Weather Went from Symbol to Science
and Back Again“, The New Yorker 91 (2015), S. 105–110.

Poetica 53 (2022) 290–322


316 Kazalarska

Abbildung 2 Z
 deněk Košek, „Ohne Titel“ (ca. 1985), in: Christian Berst (Hg.), Zdeněk
Košek. Dominus Mundi, Paris: Christian Berst Art Brut, 2020, S. 92.

Bewegung“114 und in der Zeit zeigt, den Raum über der Landschaftsoberfläche
sichtbar macht.115 Diese Dynamik hebt der tschechische Art Brut-Künstler
zusätzlich dadurch hervor, dass er auch die Farblegende von Bild zu Bild
variieren lässt.
Die Struktur dieser mehr oder weniger unsichtbaren Welt, die Košek in
geschwungene Linien und bunte Farben übersetzt, ist, dem slowakischen
Meteorologen und Literaturwissenschaftler Pavel Matejovič zufolge, äußerst
fragil: „Sie oszilliert zwischen Gesetzmäßigkeit und Zufall, zwischen Außen
und Innen, zwischen Gleichgewicht und Schwankungen.“116 Diese fließende,
ständig veränderliche, offene Struktur entspricht dem Wesen der unüber-
sichtlichen und instabilen Prozesse, die sich in der Atmosphäre abspielen.
Sie schwingt zwischen dem Bemühen, das Chaos im Luftraum mittels ver-
schiedener Synopsen zu beschreiben und in eine Ordnung zu bringen, und
seiner Dynamik, die sich jeglicher exakten Beschreibung entzieht.117

114 Peter Zajac, „Literaturgeschichtsschreibung als synoptische Karte“, in: ders., Ästhetik des
Schwingens, Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2015, S. 59–74, hier S. 65.
115 Vgl. Pavel Matejovič, „Synopsen“, in: Jeff Bernard u. a. (Hg.), Form – Struktur – Komposition.
Pragmatik & Rezeption, Semiotische Berichte 1–4 (2002), S. 255–263, hier S. 260.
116 Ebd.
117 Vgl. Pavel Matejovič, Synoptici. Bratislava: Kalligram, 2000, S. 145.

Poetica 53 (2022) 290–322


A m Fenster, in der „Küche des Wetters “ 317

Der Wetterkarte kommt, Isabell Schrickel zufolge, die Funktion zu, „Wirbel,
Strömungen, Stürme, Fronten und andere Phänomene durch das Mapping
meteorologischer Messwerte mit diagrammatischen Mitteln wie Isolinien für
Luftdruck, Temperatur oder Niederschlagsart, Strömungslinien, Wind-Pfeilen,
schraffierte Flächen usw. zu einer Art Feldbild zu konfigurieren. [Hervor-
hebung im Original]“118 Es werden nicht nur Messwerte desselben Elements
an mehreren Stellen, sondern auch Werte verschiedener Elemente an der-
selben Stelle oder auch an verschiedenen Stellen untersucht.119 Dabei handelt
es sich primär um die Erforschung der wechselseitigen Durchdringung der
meteorologischen Prozesse, um die Untersuchung ihrer Ähnlichkeiten und
Differenzen.
Von der diagrammatischen Struktur der Wetterkarte, die Peter Zajac mit der
von fließenden Wolken vergleicht,120 ist auch das Darstellungsmodell inspiriert,
das Košek für seine Beobachtungen zum Alltag- und Wettergeschehen hinter
den Fensterscheiben seiner Plattenbauwohnung in Ústí nad Labem wählt.
Die unzähligen Notizen und Skizzen des Künstlers häufen und verdichten
sich in diagrammatischen „Wortwolken“ in mehrfarbiger, oft unleserlicher
Miniaturschrift. Durch Zeichen, Zahlen, Linien, Pfeile und Farben werden die
Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Elementen
graphisch markiert; das meteorologische Tagebuch des Künstlers wird dadurch
um die Dimension des Raums erweitert. Die bis auf die Minute genauen Zeit-
angaben bzw. die nachträgliche Nummerierung der einzelnen Fragmente
ermöglichen zusätzlich eine chronologische Rekonstruktion des Geschehens.
Es sind gerade Eigenschaften wie Gleichzeitigkeit, Parallelität und Überein-
stimmung des Mannigfaltigen, die Košek dem Modell der synoptischen Karte
entnimmt und in seine Diagramme hineinfließen lässt. Für Sybille Krämer
wurzelt das Darstellungspotenzial von synoptischen Wetterkarten (bzw. von
Diagrammen und Karten im Allgemeinen, die Schrift und Zeichnung mit-
einander verbinden) in der Sichtbarmachung von Relationen, die zwei-
dimensional und simultan auf der Fläche präsentiert werden können.121
Gegenüber der linearen Aufeinanderfolge von Buchstaben (Wörtern, Sätzen,
Notizen, Tagebucheinträgen) kann das Diagrammatische die „synoptische

118 Isabell Schrickel, „Bypassing Mathematics. Das Verhältnis von Bild und Zahl in der
Geschichte der Meteorologie“, in: Bildwelten des Wissens, 7,2 (2010), S. 9–18, S. 9.
119 Vgl. Matejovič, „Synopsen“ (wie Anm. 115), S. 262.
120 Vgl. Zajac, „Literaturgeschichtsschreibung als synoptische Karte“ (wie Anm. 114), S. 65.
121 Vgl. Sybille Krämer, „Operative Bildlichkeit. Von der ‚Grammatologie‘ zu einer
‚Diagrammatologie‘? Reflexionen über ‚erkennendes Sehen‘“, in: Martina Hessler / Dieter
Mersch (Hg.), Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld: Transkript,
2009, S. 94–122, hier S. 95.

Poetica 53 (2022) 290–322


318 Kazalarska

Abbildung 3 Z
 deněk Košek, „Diptychon“ (ca. 1990), in: Christian Berst (Hg.), Zdeněk Košek.
Dominus Mundi, Paris: Christian Berst Art Brut, 2020, S. 109.

Gleichzeitigkeit“122 von ephemeren Sinneseindrücken zur Anschauung


bringen. Darüber hinaus nutzt Košek die „Zweidimensionalität der Fläche als
Ordnungs- und Anordnungsraum“,123 um die Verhältnisse der akustischen und
optischen Phänomene untereinander, die Allverbundenheit der Dinge in der
Welt- und Sprachordnung graphisch auszudrücken. Dabei ist es sein eigener
Körper, der für Orientierung in seiner Umgebung sorgt. Die Gerichtetheit
des Raums, die Krämer zu den grundlegenden Eigenschaften der operativen
Bildlichkeit zählt,124 äußert sich in Košeks Diagrammen insbesondere in den
Skizzen, die seine Körperposition beim Schreiben festhalten und ins Verhält-
nis zu anderen räumlichen Koordinaten – zu den Himmelsrichtungen, zum
Fenster, zur Sonne usw. – setzen.
Im Sinne Krämers zeichnen sich die „Wortwolken“ Košeks durch eine
„operative Bildlichkeit“ aus: Sie stellen ein operatives Medium dar, mithilfe
dessen der Künstler – infolge eines Zusammenspiels zwischen „Einbildungs-
kraft, Hand und Auge“125 – zwischen den Dimensionen des Sinnlichen und

122 Sybille Krämer, „Operative Bildlichkeit“ (wie Anm. 121), S. 99.


123 Ebd.
124 Vgl. ebd.
125 Sybille Krämer, „Operative Bildlichkeit“ (wie Anm. 121), S. 105.

Poetica 53 (2022) 290–322


A m Fenster, in der „Küche des Wetters “ 319

Abbildung 4 Z
 deněk Košek, „Ohne Titel“ (2003), in: Christian Berst (Hg.), Zdeněk Košek.
Dominus Mundi, Paris: Christian Berst Art Brut, 2020, S. 88. (Detail)

Unsinnlichen, des Sichtbaren und Unsichtbaren vermitteln kann.126 Das Dia-


grammatische verhilft ihm dazu, die abstrakte Theorie einer Allverbundenheit
der Welt, deren Sinn sich ausschließlich ihm unmittelbar erschließt, in einem
Netzwerk aus Knotenpunkten und Verbindungslinien zu veranschaulichen:

Ich konnte nicht alles aufschreiben, was aufgrund meiner Überempfind-


lichkeit auf mich zuströmte, deswegen sind immer neue und neue bunte
Figuren entstanden, ich nahm das ganze Universum oder Tausende von
Universen, das physische Phänomen der Raum-Zeit, wahr. Bei diesem
Fall in die Tiefe der Zusammenhänge wollte ich mich an „jemandem“
festklammern.127

Die über die Jahre tagtäglich gesammelten Wahrnehmungs- und Wetterdaten


können auf diese Weise in ein erkenntnisversprechendes graphisches System

126 Vgl. ebd.


127 „Nestačil jsem vše, co se na mne přecitlivělostí hrnulo, zapisovat, proto vznikaly nové
a nové obrazce, barevné, vnímal jsem celý vesmír nebo tisíc vesmírů časoprostoru,
hmotného to jevu. Chtěl jsem se ,kohosi‘ zachytit v tom pádu do hlubin souvislostí.“
(Typlt, „Jak se dělá počasí“ (wie Anm. 1)).

Poetica 53 (2022) 290–322


320 Kazalarska

überführt werden: „In dem, was sich unseren Augen gleichzeitig und neben-
einander liegend darbietet, gewinnen wir Überblick, wir können Verschiedenes
vergleichen und damit Gleichartigkeiten und Abweichungen feststellen, wir
können Relationen, Proportionen und Muster in der Fülle des Mannigfaltigen
erkennen.“128
Im Hinblick darauf weist Košeks diagrammatisches Schreiben Elemente
des wilden Denkens129 auf, das nach Claude Lévi-Strauss ein ausgearbeitetes
System zur Klassifizierung darstellt. Als Hauptkriterium der Systematisierung
dienen dabei Äquivalenzen, Übereinstimmungen zwischen benachbarten
Elementen der sinnlich wahrnehmbaren Welt. Mit dem wilden Denken teilt
Košek den Anspruch, Dinge in Bezug zueinander zu setzen, Zusammenhänge
zu verstehen, „auf dem kürzesten Wege zu einem allgemeinen Verständ-
nis des Universums zu gelangen, und zwar nicht nur zu einem allgemeinen,
sondern auch zu einem totalen [Hervorhebung im Original]“,130 ohne Schritt
für Schritt wissenschaftliche Erklärungen für die einzelnen Phänomene liefern
zu müssen.

5 Eine Poetik des Synoptischen?

Das Modell der synoptischen Karte operationalisiert Peter Zajac für die Ent-
wicklung von innovativen Modellen der Literaturgeschichtsschreibung. Er
sieht in der Wetterkarte das Darstellungspotenzial, die „Aporie zwischen Zeit
und Raum“,131 zwischen diachronischen und synchronischen Perspektiven
zu überwinden. In der synoptischen Betrachtung seien Diachronie und
Synchronie voneinander abhängig; sie verbinde Informationen über den
momentanen Zustand der Atmosphäre mit der Zeitachse und erlaube vertikale

128 Vgl. Krämer, „Operative Bildlichkeit“ (wie Anm. 121), S. 99.


129 Auch Barbara Safarova schreibt in ihrem Vorwort zum Ausstellungskatalog Zdeněk Košek.
Dominus Mundi: „Can we then speak of ‘magic behavior’ or ‘mystical participation’ as for
the shaman in other cultures?“ (Safarova, „Preface“ (wie Anm. 27), S. 54). Diese Frage stellt
sich auch Lyle Rexer und bringt Košeks Zeichnungen in einen Zusammenhang mit der
Kunst der Aborigines (vgl. Lyle Rexer, „Weather Magic. Making Sense of Zdenek Kosek’s
Drawings“, in: Art on Paper 13 (May/June 2009), S. 36–45).
130 Claude Lévi-Strauss, Mythos und Bedeutung. Fünf Radiovorträge. Gespräche mit Claude
Lévi-Strauss, hg. von Adelbert Reif, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1980, S. 29.
131 Peter Zajac, „Interferenzialität als mitteleuropäisches Raumparadigma“, in: Moritz Csáky /
Christoph Leitgeb (Hg.), Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach
dem „Spatial Turn“, Bielefeld: Transcript, 2009, S. 133–148, hier S. 138.

Poetica 53 (2022) 290–322


A m Fenster, in der „Küche des Wetters “ 321

wie auch horizontale Lesarten.132 Die synoptische Analyse als Veranschau-


lichungsmodell kann aber auch auf andere Forschungsgebiete angewandt
werden. Synoptisch lassen sich Zajac zufolge zum Beispiel Metaphern und
Synästhesien, Beziehungen zwischen Figurations- und Abstraktionskunst,
intermediale und intertextuelle Bezüge, Schwellen- und Übergangssituationen
und im Wesentlichen „alle kulturellen Prozesse, deren Grundlagen interne
Differenziertheit und Dynamik“133 sind, untersuchen.134 Einer synoptischen
Analyse lassen sich – wie das Beispiel der Rhythmus- und Stimmungsanalyse
gezeigt hat – auch die ästhetische Wahrnehmung und poetische Herstellung
von Atmosphären unterziehen. Atmosphären stellen ein „diffuses Ganzes“135
dar, das – in der künstlerischen Verarbeitung – durch das simultane Neben-
einander von Elementen aus verschiedenen Sinnesbereichen, durch das „Spiel
von echohaften Tonvariationen“,136 von Nuancen und Wiederholungen, zum
Ausdruck gebracht werden kann.
Dem Operationsraum der synoptischen Karte entnimmt Košek das poetische
Potenzial zur Verräumlichung und Materialisierung der Zeit.137 Ein Beispiel
dafür, wie Košek die Verflechtung des Synchronischen und Diachronischen
von der Ebene der Wetterbetrachtung auf die Ebene der (poetischen) Sprache
überträgt, stellen die kombinatorischen und multilingualen Wortspiele (zum
Beispiel Anagramme und Permutationen) dar, in die seine Aufzeichnungen oft
münden: „ADAM – MADA – DAMA – AMAD – AMDA – DAAM – ADAM“.138
So führt ihn beispielsweise die Geschichte von Adam und Eva und ihrer Ver-
treibung aus dem Paradies zu kombinatorischen Experimenten mit den
Wörtern „Eva“, „Adam“ und „Eden“, die „spannende Befunde“139 ergeben: zum
Beispiel die latente Präsenz des Weiblichen im Namen des biblischen

132 Ebd. Zajac beruft sich hier auf Pavel Matejovičs Monographie Synoptici (Matejovič,
Synoptici (wie Anm. 117)).
133 Peter Zajac, „Synoptické mapy“, in: .Týždeň 46 (2007), 2. November 2007, unter:
https://www.tyzden.sk/casopis/1344/synopticke-mapy/, Zugriff 4. September 2022.
134 Vgl. Zajac, „Synoptické mapy“ (wie Anm. 133).
135 Böhme, „Atmosphärisches in der Naturerfahrung“ (wie Anm. 10), S. 75.
136 Wellbery, „Stimmung“, (wie Anm. 29), S. 705.
137 „Takže jediným zhmotněním času je jeho zapsání ZÁPIS, podobne ZÁ PAS, BOJ.
[Hervorhebung im Original]“ [„Die einzige Materialisierung der Zeit ist folglich ihre
AUFZEICHNUNG, die einem WETTKAMPF, einem GEFECHT ähnlich ist.“] (Berst,
Zdeněk Košek (wie Anm. 12), S. 74). Die Lautäquivalenzen zwischen „zápis“ und „zápas“ im
Tschechischen können in der deutschen Übersetzung nicht wiedergegeben werden.
138 Vgl. zum Verfahren der Kombinatorik in Zdeněk Košeks Diagrammen Jaromír Typlt,
„Zdeněk ze dne“, in: Logos. Sborník pro esoterní chápání života a kultury. Alchymie slova,
Praha: Trigon, 2020, S. 94–102.
139 „zjistení zajímavé“ (Berst, Zdeněk Košek (wie Anm. 12), S. 89).

Poetica 53 (2022) 290–322


322 Kazalarska

Stammvaters („DAMA“ – „ADAM“) oder die im paradiesischen Zustand


der Menschheit („EDEN“) anagrammatisch eingeschriebene Endlichkeit
(„ENDE“).
Aus den synoptischen „Wahrnehmungslehren“ des Küchenfensters gehen
poetische Verfahren wie Zusammenschau und Fragmentierung hervor. Der
Blick aus dem Fenster gibt nur ein fragmentarisches Moment – der Stadt, der
Straße, des Himmels – wieder. Fensterrahmen und Fensterkreuz, schreibt Otto
Friedrich Bollnow, schneiden nur einen bestimmten, zufälligen Ausschnitt
aus der Umwelt heraus, zerstückeln die Welt und halten sie zugleich – als
Bild – zusammen.140 Analog dazu erschließt sich zwar dem Kunst- bzw. Wetter-
schaffenden am Fenster nur ein Teil der Himmelserscheinungen, aber er kann
die einzelnen Fragmente dennoch zu einer – atmosphärischen – Ganzheit
zusammenfügen, die der Komplexität synoptischer Karten (der Verknüpfung
der Berechnungsdaten der meteorologischen Beobachtungsstationen und
ihrer Visualisierung) gleichkommt.
Eine Poetik des Synoptischen entfaltet sich an der Schnittstelle zwischen
Phänomenologie und Meteorologie, dort, wo ihre Aufmerksamkeits- und Dar-
stellungsmodi fließend ineinander übergehen. Als Medium ihrer wechsel-
seitigen Durchdringung fungiert in den Texten von Milena Jesenská und Ivan
Horváth das Fenster als Stimmungsdispositiv. Eine mögliche Antwort auf die
ästhetische Herausforderung dieses Wechselspiels (zwischen Subjektivierung
und Objektivierung, zwischen Drinnen und Draußen) stellen Zdeněk Košeks
schriftbildliche Diagramme dar. In ihnen versprachlicht (bzw. veranschau-
licht) er Phänomene der Atmosphäre und nimmt – gleichzeitig – auch die
Sprache mitsamt ihren dynamischen Strukturen und Prozessen „meteoro-
logisch“ wahr: synoptisch, synchron und diachron zugleich, auf kleinste Unter-
schiede und entfernteste Affinitäten achtend. Auch wenn diese Verflechtung
nicht nur metaphorischer Natur ist, bedient er sich doch einer Metapher, um
sie zu erfassen: „Aber das Leben ist einfach Bewegung, Dynamik, Wetter.“141

140 Vgl. Otto Friedrich Bollnow, „Tür und Fenster“, in: Die Sammlung 14 (1959), S. 113–120.
141 „Ale život je prostě pohyb, dynamika, poČASÍ. [Hervorhebung im Original]“ (Typlt, „Jak se
dělá počasí“ (wie Anm. 1). Das Wortspiel im Tschechischen – „poČASÍ” – deutet auf einen
Zusammenhang zwischen Wetter und Zeit hin. Eine mögliche Interpretation könnte die
Verortung des Wetters jenseits bzw. „nach“ („po“) der Zeit sein.

Poetica 53 (2022) 290–322

Das könnte Ihnen auch gefallen