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Schwerpunkt: Digitale Psychotherapie – Originalien

Psychotherapeut 2021 · 66:398–405


https://doi.org/10.1007/s00278-021-00532-3
Angenommen: 20. Juli 2021
Videobasierte Behandlungen in
Online publiziert: 25. August 2021
© Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von der psychodynamischen
Springer Nature 2021
Psychotherapie in Zeiten der
COVID-19-Pandemie
Interviewstudie mit Psychotherapeut*innen und
Patient*innen
Alena Leukhardt1 · Maximilian Heider1 · Katharina Reboly1 · Georg Franzen1 ·
Christiane Eichenberg2
1
Department Psychotherapiewissenschaft, Sigmund Freud PrivatUniversität Berlin, Berlin, Deutschland
2
Institut für Psychosomatik, Fakultät für Medizin, Sigmund Freud PrivatUniversität Wien, Wien, Österreich

Zusammenfassung

In diesem Beitrag Hintergrund: Im Zuge der durch die „coronavirus disease 2019“ (COVID-19) ausgelösten
Pandemie haben videobasierte Therapien (VBT) eine Trendwende erfahren. Es lässt
– Material und Methoden sich vermuten, dass der abrupte Wechsel von der traditionellen Psychotherapie auf
·
Stichprobe Datenerhebung Daten-
analyse
· das Video-Setting (VS) einen Einfluss auf die therapeutische Beziehung und damit auf
den therapeutischen Prozess ausübt. Im Rahmen dieser Studie wird untersucht, wie
– Ergebnisse der Wechsel von der traditionellen Behandlung zur videobasierten Behandlung (und
·
I. Kernkategorie II. Kernkategorie
III. Kernkategorie
· wieder zurück) während der COVID-19-Pandemie im Hinblick auf die therapeutische
Beziehung und den therapeutischen Prozess von Patient*innen und Therapeut*innen
– Diskussion erlebt wurde.
Interpretation der Ergebnisse und zukünftig
Methodik: Gruppenspezifische, halbstrukturierte Interviews mit approbierten
·
zu falsifizierende Erkenntnisse Methodi-
sche Limitationen und Forschungsausblick Therapeut*innen (n = 8), Therapeut*innen in Ausbildung (n = 6) und Patient*innen
(n = 9).
Ergebnisse: Die Mehrheit der Teilnehmer*innen, sowohl Therapeut*innen als auch
Patient*innen, hat die therapeutische Situation im VS als durchlässiger und weniger
berechenbar erlebt. Obwohl das VS zum Erhalt der therapeutischen Beziehung
beiträgt, wird die Interaktion als flacher und weniger gerichtet beschrieben. Weiterhin
zeigte sich, dass jeder Setting-Wechsel mit einem Habituationsprozess verbunden ist.
Die therapeutische Arbeit kann dadurch erst nach einigen Sitzungen mit der höchst
möglichen Intensität innerhalb des jeweiligen Settings durchgeführt werden.
Diskussion: In der VBT kann es durch den Erhalt der Beziehung zu einer Stärkung
in der therapeutischen Allianz kommen. Obwohl das VS mit Unsicherheiten
verbunden ist, konnten schambesetzte Themen leichter angesprochen werden.
Zusatzmaterial online
Besonders Angstpatient*innen konnten sich nach einer universell beobachtbaren
Die Online-Version dieses Beitrags (https:// Habituationsphase auf einen intensiveren therapeutischen Prozess einlassen.
doi.org/10.1007/s00278-021-00532-3)
enthält Tabellen für Hintergrundinforma- Schlüsselwörter
tionen. Setting-Wechsel · Therapeutischer Prozess · Therapeut-Patient-Beziehung · Patient-Therapeut-
Interaktion · Online-Therapie

Im Zuge der durch die „coronavirus dis- kassenärztlichen Vereinigungen (KV)


ease 2019“ (COVID-19) ausgelösten Pan- sind hinsichtlich der Rahmenbedingun-
demie wurden Psychotherapeut*innen gen von Therapien im Video-Setting (VS)
in Deutschland mit der Notwendigkeit, an diese Notlage angepasst worden. We-
videobasierte Therapien (VBT) durchzu- niger Therapieausfälle waren die Folge,
QR-Code scannen & Beitrag online lesen führen, konfrontiert. Die Richtlinien der wodurch die therapeutische Beziehung

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aufrechterhalten werden konnte. Es be- den Argumente für und wider die VBT en im therapeutischen Kontext sei außer-
steht bisher allerdings kein fundiertes ambivalent diskutiert und zugleich, ver- dem die Gefahr hoch, dass Grenzen verletzt
Wissen darüber, welchen Einfluss das glichen mit Unternehmungen im Bereich werden (Eichenberg 2020). Die vorliegen-
VS auf psychodynamische Therapiepro- der Verhaltenstherapie, kaum systema- de Arbeit beschäftigt sich mit der Frage-
zesse in Zeiten der COVID-19-Pandemie tisch untersucht (Backhaus et al. 2012; stellung, ob und inwiefern der abrupte
ausübt. Berryhill et al. 2019). Es zeigte sich, dass Wechsel vom Präsenz-Setting (PS) ins VS
Verhaltenstherapeut*innen signifikant (und wieder zurück) mit Veränderungen
Einleitung positivere Einstellungen zum videoba- innerhalb der therapeutischen Beziehung
sierten Behandlungsformat aufweisen und des psychodynamischen Therapiepro-
Der Einsatz digitaler Medien im psychothe- als psychodynamisch orientierte Psycho- zesses im Zusammenhang steht.
rapeutischen Kontext wurde von Beginn therapeut*innen (Békés und Aafjes-van
ankontrovers diskutiert(Eichenberg2021). Doorn 2020). Weiterhin wurde im Rah- Material und Methoden
Obwohl sich, basierend auf einer Umfrage men der Umfrage der DPtV im Frühjahr

Schwerpunkt
der Deutschen Psychotherapeutenvereini- 2020 durch die befragten Psychothera- Ausgehend von der Universitätsambulanz
gung(DPtV) im April 2020,73 %der befrag- peut*innen vermehrt angegeben, dass der Sigmund Freud PrivatUniversität Ber-
ten Psychotherapeut*innen kurzfristig für psychotherapeutische Videositzungen für lin wurden im Zeitraum vom 01.07.2020
den Wechsel ins VS entschieden haben, die psychodynamische Psychotherapie bis zum 30.11.2020 approbierte Psycho-
schätzten 59 % der Befragten die Wirk- wenig adäquat seien (Deutsche Psycho- therapeut*innen, Psychotherapeut*innen
samkeit der videobasierten Behandlung, therapeutenvereinigung 2020). in Ausbildung (PiA) und Psychotherapie-
im Vergleich zum traditionellen „Face-to- Da sich persönliche Einstellungen und patient*innen telefonisch befragt.
face“-Setting, als schlechter ein (Deutsche Erwartungen gegenüber der VBT als mög-
Psychotherapeutenvereinigung 2020). Da liche Einflussgrößen hinsichtlich der Wirk- Stichprobe
sich die therapeutische Interaktion im VS samkeit der Behandlung erwiesen haben
jedoch in vielerlei Hinsicht vom Face-to- (Reese et al. 2016; Tonn et al. 2017), ist Grundlage dieser Studie sind anony-
face-Setting unterscheidet, ist eine fun- das individuelle Erleben dieses abrupten misierte Daten von insgesamt 23 Pro-
dierte Aufklärung hinsichtlich Setting-spe- und im Rahmen der Pandemie häufig auf- band*innen, die sich in folgende Grup-
zifischer Besonderheiten und möglicher erlegten Wechsels ins VS von zentraler Be- pen unterteilen: 1. approbierte Psycho-
Risiken, v. a. im Hinblick auf die weniger deutung. Es kann angenommen werden, therapeut*innen (n = 8; durchschnittli-
erfahrenen Praktiker*innen, unerlässlich. dass der kurzfristige Setting-Wechsel einen ches Alter = 53,93 Jahre, Standardabwei-
Verglichen mit dem angloamerika- nicht zu vernachlässigenden Einfluss auf chung [SD] ± 8,02 Jahre; w: n = 7; m:
nischen Sprachraum wurden innerhalb die therapeutische Beziehung und damit n = 1), 2. PiA (n = 6; durchschnittliches Al-
Deutschlands bisher wenige Untersuchun- auf den therapeutischen Prozess ausübt. ter = 38,33 Jahre, SD ± 8,01 Jahre; w: n = 5;
gen zu dieser Thematik unternommen. Im VS entstehe eine lediglich vordergrün- m: n = 1), 3. Psychotherapiepatient*innen
Scharff (2013) präsentierte bereits vor eini- dige Nähe, deren therapeutische Wirksam- (n = 9; durchschnittliches Alter = 42,5 Jah-
gen Jahren umfassende Überlegungen zu keit infrage zu stellen sei (Jaeger und Furck re, SD ± 10,9 Jahre; w: n = 5; m: n = 4)
den aus der Virtualisierung des Therapie- 2014; White 2020). White (2020) beschreibt mit unterschiedlichen F-Diagnosen: F3x.x:
Settings entstehenden Konsequenzen für die physische Präsenz als eine Kernkom- n = 7; F4x.x: n = 6; F6x.x: n = 2 (Zusatz-
psychodynamisch ausgerichtete Therapie- ponente der psychodynamischen Arbeit. material online: Tab. 1 und 2 für eine
verfahren. Entsprechende Unternehmun- Im VS können Übertragungssignale we- genauere Stichprobenbeschreibung).
gen, mit dem Ziel, die Behandlungstechnik niger gut aufgenommen werden, was ei- Alle Proband*innen sind volljährig,
der VBT innerhalb Deutschlands zu manu- ne Verletzung der Neutralität und Absti- deutschsprachig und im Rahmen des
alisieren, wurden erst mit dem Einbruch nenz mit sich bringe (Scharff 2013). Ein deutschen Kassensystems praktizierend
der Pandemie angestoßen (Hartmann- verringerter Transport unbewusster, non- bzw. in psychotherapeutischer Behand-
Strauss 2020). Hierbei wurden bisher verbaler Signale könne einen erschwerten lung mit psychodynamischer Ausrich-
jedoch kaum konkrete Hinweise zur Be- Aufbau des therapeutischen Arbeitsbünd- tung. In die Erhebung eingeschlossene
handlungstechnik vorgestellt. nisses zur Folge haben, wodurch Therapie- Psychotherapeut*innen (n = 14) konnten
Obwohl die Wirksamkeit videobasier- erfolge weniger wahrscheinlich würden entweder die psychotherapeutische Ap-
ter Therapien als mit dem Face-to-face- (Hoffmann et al. 2020; Roesler 2017). Da probation mit psychoanalytischer (AP;
Setting vergleichbar beschrieben wurde emotionale Sicherheit stärker über non- n = 2) und/oder tiefenpsychologischer
(Backhaus et al. 2012; Berryhill et al. verbale als über verbale Signale vermit- Fachkunde (TP; n = 6) vorweisen oder
2019; Norwood et al. 2018), ist weiter- telt werde, könne dieser Informations- befanden sich in einer psychotherapeuti-
hin eine allgemeine Skepsis hinsichtlich verlust besonders für Patient*innen von schen Approbationsausbildung (AP: n = 0;
dieser Behandlungsform zu beobach- Bedeutung sein, die Schwierigkeiten ha- TP: n = 6). Zur Gewährleistung einer aus-
ten (Deutsche Psychotherapeutenverei- ben, sich auf eine vertrauensvolle thera- reichenden Erfahrung mit dem VS war
nigung 2020; Roesler 2017). Vor allem peutische Beziehung einzulassen (Roesler außerdem die Durchführung bzw. die
in psychodynamischen Fachkreisen wer- 2017). Durch den Einsatz moderner Medi- Inanspruchnahme von mindestens 5 Sit-

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Schwerpunkt: Digitale Psychotherapie – Originalien
zungen (einschließlich der Probatorik) in bogen- und Interviewdaten anonymisiert therapeutischer Ausbildung mit psycho-
Einzeltherapie Einschlusskriterium. Inklu- erfolgen. dynamischer Ausrichtung bzw. mit Fach-
dierte Therapeut*innen sollten mindes- kunde in analytischer Psychotherapie. Die
tens 3 Patient*innen im VS behandelt Datenerhebung beiden Mitarbeiter*innen, die für die Ko-
haben. dierung zuständig waren, haben im Zuge
Basierend auf 2 offenen Pilotinter- Die Erfahrungen der Studienteilneh- der Pandemie selbst VBT angeboten und
views mit einer Psychotherapeutin sowie mer*innen wurden anhand halbstruktu- hierbei überwiegend positive Erfahrungen
einer Patientin, die sich zu dem Zeitpunkt rierter Interviews erfragt. Für die oben ge- gemacht, wohingegen die Mitarbeiterin,
in psychodynamisch ausgerichteter Psy- nannten Gruppen wurde jeweils ein*eine die im Rahmen des Peer debriefing betei-
chotherapie befand, wurden im ersten Interviewer*in festgelegt, der*die alle In- ligt war, zum Zeitpunkt der Auswertung
Schritt entsprechend dem „theoretical terviews innerhalb dieser Gruppe durch- keine persönliche Erfahrung mit der VBT
sampling“ (Breuer et al. 2019) relevante führte. Alle Interviews wurden telefonisch vorweisen konnte und der Therapieform
Fallgruppen definiert: approbierte Psycho- durchgeführt und mithilfe eines exter- gegenüber unvoreingenommen war. Alle
therapeut*innen, Psychotherapeut*innen nen Aufnahmegeräts aufgezeichnet und am Analyseprozess beteiligten Personen
in Ausbildung und Psychotherapiepati- gespeichert. Die Dauer der Interviews waren sich ihrer Subjektivität innerhalb
ent*innen. Der Grounded-Theory-Metho- variierte zwischen 30 und 50 min. Im der Datenanalyse und -interpretation be-
dologie (Corbin und Strauss 2015; Glaser Anschluss an die Interviews wurden die wusst. Die Prozesse des Peer debriefing,
und Strauss 1967) folgend entstanden be- Audiodateien transkribiert und in die Aus- der Einsatz einer unabhängigen Kodiererin
reits zentrale Kategorien (selektive Kodes), wertungssoftware MAXQDA 2020 (VERBI sowie die ständige Reflexion des persönli-
auf deren Grundlage gruppenspezifische Software 2019) überführt (ausgewählte chen Einflusses auf die Studienergebnisse
Interviewleitfäden erstellt wurden. Im Interviewzitate werden im Zusatzmaterial dienen der Sicherstellung einer möglichst
Anschluss wurde mit 3 Proband*innen online: Tab. 4, präsentiert). umfassenden Gültigkeit der vorliegenden
aus der jeweiligen Fallgruppe jeweils Ergebnisse (Breuer et al. 2019; Corbin und
ein weiteres Interview geführt, das zur Datenanalyse Strauss 2015).
Überarbeitung der bisherigen Kategori-
en sowie des Interviewleitfadens führte Im Rahmen der präsentierten Ergebnisse Ergebnisse
(Zusatzmaterial online: Tab. 3). wurde der thematische Fokus des pan-
Geprägt durch die zeitliche Begrenzt- demiebedingten Setting-Wechsels auf Im Folgenden werden die ermittelten
heit, in die das Phänomen des abrupten die therapeutische Beziehung und den Metakategorien für Patient*innen (P) und
Wechsels ins VS eingebettet war, wurde therapeutischen Prozess eingegrenzt. Die Therapeut*innen (mit Approbation oder
im weiteren Verlauf entsprechend dem Auswertung der Daten erfolgte in Anleh- PiA; T) beschrieben. Es werden also die
„convenience sampling“ rekrutiert. Die nung an die Grounded-Theory-Methodo- Inhalte vorgestellt, die sich innerhalb
Rekrutierung der Patient*innen erfolg- logie nach Glaser und Strauss (Corbin und der jeweiligen Gruppe, entsprechend der
te in einigen Fällen über deren Thera- Strauss 2015; Glaser und Strauss 1967). thematischen Eingrenzung des pande-
peut*innen. Eine Studienteilnahme dieser Der Ablauf dieses Vorgehens beinhaltet miebedingten Setting-Wechsels, auf die
Therapeut*innen war nicht vorgesehen. das offene, axiale und selektive Kodie- therapeutische Beziehung und den the-
Alternativ wurden Proband*innen über ren mit dem Ziel der Formulierung eines rapeutischen Prozess am deutlichsten
Informationsmaterial, das über fachnahe theoretischen Modells eingeschränkter herausgestellt haben. Da sich zwischen
Newsletter, Onlineforen oder in psycho- Reichweite (Breuer et al. 2019). Die Aus- den approbierten Therapeut*innen und
therapeutischen Einrichtungen bereitge- wertungsschritte wurden parallel durch den PiA im Zuge der axialen Kodie-
stellt wurde, auf die Studie aufmerksam zwei Mitarbeiter*innen ausgeführt („in- rung kaum systematische Unterschiede
gemacht. Mit dem Ziel der Abbildung dependent coding“, Barber und Walczak ergeben haben, werden diese in einer
möglichst großer Stichprobenheteroge- 2009). In regelmäßigen Abständen wur- Gruppe zusammengefasst (T). Einzelne
nität wurde ein Stichprobenumfang von den die Zwischenergebnisse durch eine Abweichungen zwischen approbierten
mindestens 6 Proband*innen/Gruppe fest- weitere Mitarbeiterin, die vom eigent- Therapeut*innen und PiA werden ex-
gelegt. Eine weitere Stichprobenziehung lichen Analyseprozess unabhängig war, plizit hervorgehoben. Für alle Gruppen
wurde bei Erreichen einer konsensuell gegengeprüft und kommentiert („peer konnten bereits in der zuvor beschrie-
festgelegten theoretischen Sättigung be- debriefing“; Barber und Walczak 2009). benen Phase des Theoretical sampling
endet. Die im Rahmen dieses Austauschs ent- insgesamt 10 selektive Kodes ermittelt
Alle Studienteilnehmer*innen wurden standenen Erkenntnisse flossen in den werden (Zusatzmaterial online: Tab. 5).
hinsichtlich der Teilnahme umfassend Prozess der Theoriebildung ein, was eine Durch eine weitere Ausdifferenzierung
aufgeklärt und erhielten im Zuge eines Validierung der Kodierung ermöglichte der axialen Kodes konnten die Ergebnisse
Onlinefragebogens zur Erhebung der so- (Breuer et al. 2019; Dourdouma und Mörtl im Zuge der vertieften Analyse abduktiv
ziodemografischen Daten die Möglichkeit, 2012). zu 3 Kernkategorien verdichtet werden
eine persönliche Chiffre zu erstellen. So Die an der Auswertung beteiligten Per- (Zusatzmaterial online: Tab. 4).
konnte die Zuordnung zwischen Frage- sonen sind Psycholog*innen in psycho-

400 Psychotherapeut 5 · 2021


I. Kernkategorie Unterschiede im Setting persönliche Kontakt und die physische Nä-
T. Das VS unterscheidet sich am deut- he hier fehlen. Auffällig ist eine Verschie-
Die therapeutische Situation wird im VS lichsten vom PS hinsichtlich der begrenz- bung der empfundenen Kontrolle im VS in
durchlässiger und weniger berechenbar. ten Möglichkeit, auf nonverbaler Ebene Richtung der Patient*innen. Die therapeu-
zu kommunizieren. Im Vergleich zum PS tischen Gespräche ähneln dem Austausch
Therapeutischer Raum wird der Kontakt im VS als weniger persön- mit Angehörigen und Freunden. Je länger
T. Der therapeutische Raum geht im VS lich empfunden. Die Phänomenologie der vor dem Setting-Wechsel Kontakt bestan-
verloren; dies erschwert das Zustandekom- vorliegenden Erkrankung verändert sich den hat, desto besser entwickelt sich der
men von Resonanz und das Einnehmen außerdem im VS. therapeutische Prozess. Ein begünstigen-
der Position eines containenden Gegen- der Faktor für den Einsatz der VBT ist nach
übers. Verglichen mit dem PS haben die P. Im VS besteht im Vergleich zum PS mehr Einschätzung der PiA eine „gemeinsame
Therapeut*innen im VS nur begrenzten Distanz zum*zur Therapeut*in. Er*sie ist Repräsentation vom Gegenüber“ im Sinne
Einfluss auf die Gestaltung des therapeu- weniger greifbar und wird als weniger real eines Introjekts.

Schwerpunkt
tischen Rahmens. Hierdurch wird das im empfunden. Die eingeschränkte oder feh-
traditionellen Setting vorhandene Gefühl lende Wahrnehmbarkeit von Körperspra- P. Eine schon vor dem Übergang ins VS be-
von Sicherheit gestört. Besonders irritie- che, Mimik und Olfaktorik wird als Mangel stehende, tragfähige Beziehung wird im VS
rend erleben dies Patient*innen, denen es erlebt. Weiterhin werden sowohl der Weg als förderlich erlebt. Eine solche Beziehung
ohnehin schwerfällt, Vertrauen aufzubau- zur Therapie als auch der Rückweg von der konnte im VS mitunter vertieft werden. Das
en. Therapie im PS als Ressource und Wirkfak- VS gestattet außerdem neue Beziehungs-
tor erlebt, was im VS entfällt. Das Wegfallen erfahrungen, die als therapiefördernd er-
P. Im VS ist es wichtig, einen ruhigen und des Wegs in die und von der therapeuti- lebt werden, wie etwa das Erleben des
geschützten Raum zur Verfügung zu ha- schen Praxis empfinden Patient*innen mit Zusammenhalts in der Beziehung. Auch
ben. Bei einer Neigung zu sozialer Vermei- Angsterkrankungen jedoch als angenehm. die Patient*innen selbst nehmen einen Zu-
dung wird das VS als angenehmer und wachs ihrer Kontrolle über die Interaktion
sicherer wahrgenommen als der Besuch Technische Voraussetzungen durch das VS wahr. Wenn technische Pro-
in der Praxis des*der Therapeut*in. T. Technische Störungen verhindern den bleme gemeinsam gelöst werden, hat dies
therapeutischen Prozess. Zur Schaffung eine Stärkung der therapeutischen Allianz
Organisation des Video-Settings der notwendigen technischen Grund- zur Folge. Mehrheitlich sind die befrag-
T. Obwohl dem*der Patient*in innerhalb voraussetzungen im VS müssen Thera- ten Patient*innen für die Möglichkeit, das
des VS eine vertraute Umgebung, ausge- peut*innen vergleichsweise mehr Zeit für VS im Sinne einer Aufrechterhaltung der
hend von der Praxis des*der Therapeut*in die einzelnen therapeutischen Sitzungen therapeutischen Beziehung nutzen zu kön-
als Behandlungsort, präsentiert werden aufwenden. Die Nutzung zertifizierter nen, dankbar.
kann, führten einige Therapeut*innen Sit- Programme wirkt vertrauenserweckend,
zungenim VS auchinihrem Zuhausedurch. sowohl auf Therapeut*innen als auch auf Therapeutischer Prozess
Dies kann einerseits zur Auflockerung der Patient*innen. T. Der therapeutische Prozess ist im VS
therapeutischen Atmosphäre beitragen, weniger flüssig und dadurch erschwert.
andererseits auch mit der Empfindung von P. Die Technik stellt bei Vorkenntnissen Patient*innen nutzten das VS mitunter,
Stress einhergehen. Tiefenpsychologisch mit Videotelefonie kein ernsthaftes Prob- um etwas auszuagieren oder zu ver-
orientierte Psychotherapeut*innen bevor- lem dar. Da ein reibungsloser Ablauf der meiden. Ängstliche oder vermeidende
zugen den Blickkontakt im VS, während Sitzungen als sehr wichtig wahrgenom- Patient*innen können sich im VS, laut
analytisch arbeitende Therapeut*innen men wird, lösen technische Störungen in- PiA, leichter öffnen, wodurch neue The-
ein Abschalten der Kamera bevorzugen. nerhalb der Sitzungen negative Gefühle men aufbrechen und der therapeutische
aus. Meistens funktioniert die verwendete Prozess angeregt wird.
P. Bei der Organisation des Settings wird Technik jedoch ausreichend gut.
darauf geachtet, immer am selben Platz P. Der therapeutische Prozess wird im VS als
zu sitzen und einen neutralen Hintergrund II. Kernkategorie flacher und weniger intensiv erlebt, was
zu schaffen. Mitbewohner*innen und An- den therapeutischen Fortschritt hemmt.
gehörige werden gebeten, dem Raum, in Obwohl das VS zum Erhalt der therapeu- Patient*innen bekommen weniger von ih-
dem die Therapie durchgeführt wird, fern- tischen Beziehung beiträgt, wird die In- ren Therapeut*innen mit. Im Anschluss an
zubleiben. Darüber hinaus spielt es eine teraktion flacher und weniger gerichtet. die Sitzungen im VS fällt es ihnen schwerer,
Rolle, in welchem Raum sich der*die Thera- Gleichzeitig konnte die intersubjektive innerlich mit der Sitzung abzuschließen.
peut*in befindet. Sind im Hintergrund die Ebene verstärkt thematisiert werden. Es ist außerdem eine Gewöhnungszeit an
gewohnten Praxisräume erkennbar, wird das VS notwendig. Im VS ist es v. a. ängstli-
dies als beruhigend erlebt. Therapeutische Beziehung chen Patient*innen möglich, ihre Abwehr
T. Die therapeutische Beziehung kann im partiell zu überwinden, was dazu führt,
VS aufrechterhalten werden, obwohl der

Psychotherapeut 5 · 2021 401


Schwerpunkt: Digitale Psychotherapie – Originalien
dass sie sich sowohl inhaltlich als auch P. Im VS werdeneinigeThemen oberflächli- schrieben, obwohl einige Patient*innen
emotional besser öffnen können. cher behandelt. Nach einem Verbindungs- von verstärkten Ablenkungen innerhalb
abbruch nimmt die Hemmung zu. Einige ihres privaten Umfelds berichten.
Therapeutische Technik Themen sind deshalb nur im PS zu the-
T. Im VS wird die Übertragung schwä- matisieren. Diskussion
cher, seltener und dabei anstrengender.
Zudem wird ein verstärktes Auftreten von III. Kernkategorie Interpretation der Ergebnisse
Abwehrmechanismen beobachtet. Stabi- und zukünftig zu falsifizierende
lisierende, strukturstärkende Arbeit sowie Jeder Setting-Wechsel ist mit einem Ha- Erkenntnisse
Eye Movement Desensitization and Re- bituationsprozess verbunden. Erst nach
processing (EMDR) sind im VS möglich. einigen Sitzungen kann die therapeuti- Im Rahmen der vorliegenden Studie wur-
Erlebnisorientierte Techniken werden je- sche Arbeit daher wieder mit der höchst de untersucht, wie der Wechsel vom
doch seltener umgesetzt. Die therapeuti- möglichen Intensität, innerhalb des je- PS ins VS (und wieder zurück) von Pa-
sche Ich-Spaltung gelingt im VS weniger weiligen Settings, durchgeführt werden. tient*innen und Therapeut*innen erlebt
gut, und die Arbeit an Konflikten sowie die wurde. Es zeigte sich, dass alle Studien-
„Leerer-Stuhl-Technik“ sind im VS schwer Erleben des Setting-Wechsels teilnehmer*innen von der VBT profitiert
umsetzbar. Achtsamkeitsübungen, imagi- T. Mit Vorerfahrung im VS fällt der Wech- haben. Besonders hervorgehoben wurde
native Techniken und weitere Techniken, sel leichter. Die Entscheidung, ob sich die die vom VS ausgehende Flexibilität. Ne-
die die Fantasie verstärkt ansprechen, sind Patient*innen auf das VS einlassen oder ben einigen in erster Linie praktischen
im VS ebenso weniger möglich. Analyti- nicht, hängt von der Einstellung der The- Vorteilen wurden jedoch auch Nachteile,
sche Techniken wie Traumdeutung, freies rapeut*innen ab. Jeder Setting-Wechsel, etwa bezüglich der empfundenen, einge-
Assoziieren und die aufdeckende Arbeit sowohl ins VS als auch wieder zurück ins schränkten Wirksamkeit der Behandlung
sind im VS nur eingeschränkt möglich. Dies PS, erfordert eine Gewöhnungsphase. Im im VS benannt. Eine erhöhte Variabilität in
trifft auch auf das emotionale „Mitschwin- Laufe der Zeit ist es jedoch möglich, fle- der Gestaltung des Settings wurde außer-
gen“ sowie auf die Funktionen „holding“ xibler mit dem Setting-Wechsel umzuge- dem sowohl von Patient*innen als auch
und „containing“ zu. Im VS wird tendenziell hen. Nach dem Wechsel zurück ins PS wer- von Therapeut*innen als verunsichernd
schneller interveniert als im PS. den Patient*innen intensiver wahrgenom- beschrieben. Die therapeutische Situation
men. wird im VS als durchlässiger und weniger
P. Im VS kommentieren Therapeut*innen berechenbar erlebt. Es besteht die Gefahr
den therapeutischen Prozess verstärkt. P. Der Setting-Wechsel wird von stressbe- einer Entgrenzung des professionellen
Hierbei wird speziell auf die Körperspra- haftet und ungewohnt bis hin zu problem- psychotherapeutischen Raums (Eichen-
che der Patient*innen eingegangen. Falls los erlebt. Mit dem neuen Setting kon- berg 2020). Das zeigte sich z. B. darin, dass
diese im Rahmen des VS nicht sichtbar frontiert, wird das VS, insbesondere von manche Psychotherapeut*innen angaben,
ist, wird sie zudem erfragt. Patient*innen mit Angsterkrankungen, so- die VBT auch von zu Hause aus durch-
gar bevorzugt. Sind Therapeut*innen noch zuführen. Dies widerspricht der Vorgabe
Themen unerfahren im VS, wird dies z. T. von den der Bundespsychotherapeutenkammer
T. Die intersubjektive Ebene der therapeu- Patient*innen bemerkt. (BPtK), die VBT nur innerhalb der eige-
tischen Beziehung fließt im VS plötzlich nen Praxisräume, d. h. dem zugelassenen
verstärkt in die besprochenen Themen ein, Allgemeine Erfahrungen mit dem Dienstsitz, durchzuführen (Bundespsycho-
ebenso die Abwesenheit von der Praxis, Videosetting therapeutenkammer 2020). Gleichzeitig
die Abwehrstruktur sowie spezifische Wi- T. Im VS fehlt die „Natürlichkeit“ des PS. Die ergeben sich im VS jedoch auch Chancen
derstände. Mit dem VS verbundene Fragen Psychotherapie beinhaltet im VS vermehrt für den psychotherapeutischen Prozess.
der therapeutischen Technik, des persönli- edukative Elemente, sodass sie eher ei- Zunächst erfüllt die VBT in Zeiten
chen Kompetenzerlebens sowie die beste- ner Beratung oder einem Coaching gleicht. der COVID-19-Pandemie die Funktion ei-
hende Vertrautheit unter den neuen Um- Behandlungen werden als anstrengender ner Erhaltungstherapie, indem sie dem
ständen werden innerhalb der Sitzungen erlebt, weshalb sich häufig das Gefühl, ge- Kontakt zwischen Patient*in und Thera-
zum Thema. Als die zentralsten Themen stresst oder genervt zu sein, einstellt. Dem peut*in Kontinuität verleiht. Gleichzeitig
stellen sich jedoch COVID-19, Quarantäne, schließt sich überdies die Vermutung einer flachen die Interaktionen im therapeu-
existenzielle Krisen sowie Ängste im Zu- verringerten Wirksamkeit der Therapie im tischen Prozess ab. Übertragung und
sammenhang mit der Pandemie heraus. VS an. Gegenübertragung werden als verändert
Schambesetzte Themen, wie die Sexuali- erlebt, wofür das Fehlen wichtiger Wahr-
tät, können nach Einschätzung der PiA im P. Hinsichtlich seiner Wirksamkeit wird das nehmungsinhalte entscheidend zu sein
VS leichter angesprochen werden als im VS im Vergleich zum PS als ambivalent scheint (Roesler 2017). Diese Deprivation
PS. erlebt. Das VS wird außerdem als eigen- könnte eine weniger gerichtete therapeu-
ständige Therapieform wahrgenommen. tische Interaktion zur Folge haben, die
Insgesamt wird das VS als angenehm be- nach Roesler (2017) auf projektive Prozes-

402 Psychotherapeut 5 · 2021


se, durch die die fehlenden Informationen tuative Bedürfnisse angeglichen werden, tieren sich in Abhängigkeit von der
ersetzt werden sollen, zurückgeführt wer- wie etwa durch das Ausschalten der Ka- Struktur der Patient*innen anders als
den kann. Weiterhin könnte angenommen mera in Momenten überfordernder emo- im PS.
werden, dass innerhalb des VS auf beiden tionaler Nähe. Das Auftreten von Stress 4. Insgesamt kommt es im Rahmen
Seiten eine vergleichsweise verstärkte und Unsicherheit kann als Teil eines Ha- des VS zu einer Regression hin zu
kognitive Wahrnehmungs- und Verar- bituationsprozesses an einen neuen Mög- ontogenetisch früher durchlaufenen
beitungsebene aktiviert wird (Simpson lichkeitsraum verstanden werden, der ei- Themen wie Nähe, Kontrolle und
et al. 2021), während im PS unter Ein- nerseits depriviert und andererseits Zu- Bindung.
wirkung der physischen (vs. virtuellen) gang zu neuen Möglichkeiten gewährt. 5. Das Phänomen der Übertragung ver-
Präsenz des Gegenübers eine sinnlichere Dennoch wird die Wirksamkeit des VS so- ändert sich im VS, wodurch die Arbeit
Ebene und damit ein ganzheitlicheres wohl von den Therapeut*innen als auch mit der Übertragung, zum einen als
emotionales Erleben möglich werden den Patient*innen als insgesamt geringer Diagnostikum, zum anderen als Basis
(Roesler 2017). Dieser Zusammenhang eingeschätzt. Dem stehen in begrenztem deutender Interventionen, erschwert

Schwerpunkt
könnte mitunter dazu beigetragen haben, Umfang Beobachtungen gegenüber, die werden kann. Gleichzeitig sind im
dass einige Studienteilnehmer*innen von zunächst eine Nichtunterlegenheit der VBT VS andere Übertragungsangebote
einem abgeschwächten Übertragungsge- nahelegen (Backhaus et al. 2012; Berryhill vorhanden, wie z. B. im Hinblick auf
schehen berichtet haben. Dies ist v. a. im et al. 2019; Norwood et al. 2018). Im psy- den privaten Raum, der, wenn der*die
Hinblick auf Behandlungen im Bereich chodynamischen Bereich liegen aktuell je- Therapeut*in das VS von zu Hause
der AP von Bedeutung, da Übertragung doch lediglich Einzelfallberichte bezüglich aus durchführt, von beiden Seiten
und Gegenübertragung hier eine zentrale der Wirksamkeit der VBT vor (Eichenberg mehr oder weniger in den Prozess
Rolle spielen. Das Angebot der VBT, in und Hübner 2018). Psychodynamisch ar- einfließen kann. Auch der Umgang
Verbindung mit der gemeinsamen Über- beitende Therapeut*innen sind, auch auf- mit technischen Störungen, wobei
windung von Hindernissen, scheint sich grund des Mangels an vorliegenden schu- der*die Therapeut*in durchaus hilflos
jedoch insgesamt positiv auf die the- lenspezifischen Wirksamkeitsnachweisen, erlebt werden kann, könnte bezüglich
rapeutische Allianz auszuwirken. Einige vermutlich eher skeptisch in Bezug auf des Übertragungsgeschehens von
Themen, wie z. B. die Sexualität, konnten die zu erwartende Wirksamkeit der VBT Bedeutung sein.
im VS sogar besser thematisiert werden. bei ihren Patient*innen. Es erscheint ange- 6. Für vermeidende Patient*innen wirkt
Es kann in einigen Fällen also von ei- sichts der beschriebenen Veränderungen, das VS insofern erleichternd, als angst-
nem „intensification loop“ ausgegangen welche im Zuge eines Wechsels zwischen besetzte Themen angesprochen wer-
werden (Eichenberg 2011). Auch dies ist den verschiedenen Therapiesettings (VS, den bzw. überhaupt eine Therapie
anhand der in den Hintergrund tretenden PS) zum Tragen kommen, jedoch sinnvoll, initiiert wird, da der Weg zur Therapie-
emotionalen Ebene erklärbar. Es kann zu hinterfragen, inwiefern vereinzelt inter- praxis entfällt.
angenommen werden, dass im VS zuvor mittierende Sitzungen im VS für den The- 7. Die Kontrollüberzeugung der Pa-
schwerer thematisierbare Inhalte auf- rapieprozess bereichernd sein könnten. tient*innen (Hovenkamp-Hermelink
grund der abgeschwächten emotionalen Nachfolgend werden einige Hypo- et al. 2019) verschiebt sich im VS zu
Intensität, in Verbindung mit der Beto- thesen dargestellt, die innerhalb des ihren Gunsten. Einerseits wird so die
nung einer kognitiven, sachlichen Ebene, Forschungsteams durch die Arbeit am Bearbeitung der sonst vermiedenen
zumindest inhaltlich leichter zu bespre- Material entstanden sind. Im weitesten Themen möglich, andererseits kann es
chen, wenn auch schwerer erlebbar sind. Sinne erfassen sie die vorläufigen Erkennt- bei Angstpatient*innen dazu führen,
Gleichzeitig könnte dies erklären, weshalb nisse, die in zukünftigen Studien noch zu dass die Begegnung mit dem*der The-
beispielsweise das freie Assoziieren, das falsifizieren sind: rapeut*in vermieden wird. Demnach
das Verlassen einer kontrolliert kognitiven 1. Die Dauer der therapeutischen Be- kommt es nach einem Wechsel ins
Ebene voraussetzt, im VS vergleichsweise ziehung im PS hat einen Einfluss auf VS auch zu einer Veränderung in der
schwerer fiel. Auch liefert dieser Ansatz die Intensität und Tiefe des therapeu- Abwehr der Patient*innen.
eine Erklärung für die Bevorzugung des tischen Prozesses im VS, wobei eine
VS bei vermeidenden oder ängstlichen Pa- bereits länger bestehende Therapie Methodische Limitationen und
tient*innen („online calming hypothesis“; einen positiveren Prozess erwarten Forschungsausblick
Reynolds et al. 2013). lässt.
Dem folgend lässt sich das VS auch als 2. Der Umgang mit technischen Proble- Im Zuge der Rekrutierung wurde im Sinne
Übergangsraum verstehen, der den Pa- men im VS erfordert beidseitig eine einer entsprechenden Vorauswahl bezüg-
tient*innen einen flexibleren Umgang mit höhere Ich-Leistung, da die Fähigkeit lich der Stichprobenzusammensetzung,
dem Selbst und der eigenen Identität er- zur therapeutischen Ich-Spaltung gemäß einem qualitativen Forschungsan-
möglicht(Roesler 2017).Der*diePatient*in relevant ist. satz, wenig Einfluss genommen, sodass
bekommt durch das VS mehr Kontrolle und 3. Die Phänomenologie der Erkrankun- die befragten Personen nicht repräsenta-
Gestaltungsmöglichkeiten. So können z. B. gen ändert sich nach einem Wechsel tiv für die Gruppe der Therapeut*innen
Audio- und Videorepräsentationen an si- zum VS. Die Erkrankungen präsen- oder Patient*innen ausgewählt wurden.

Psychotherapeut 5 · 2021 403


Schwerpunkt: Digitale Psychotherapie – Originalien
Weiterhin wurde durch das angewand- Ergebnisse und zukünftig zu falsifizieren- therapeutischen Beziehung führt. Zudem
te Convenience sampling eine weitere de Erkenntnisse), wäre es perspektivisch sollte ein im Vergleich zur Wegstrecke
zwischen zu Hause und Therapiepraxis al-
Differenzierung zwischen den selekti- sinnvoll, länger andauernde Therapie- ternativer Übergang zwischen Alltag und
ven Kodes gehemmt, wodurch auch die prozesse im VS zu untersuchen, da sich Therapie gefunden werden, der in der
theoretische Gültigkeit der vorgestell- diese Veränderungen möglicherweise erst Therapie thematisiert wird.
ten Annahmen entsprechend limitiert ist. im Laufe des Prozesses ergeben. Weitere 4 Therapeut*innenseits wäre ein empirisch
Die vorgestellten Thesen sollen vielmehr Studiendesigns sollten außerdem so kon- fundiertes Manual zur Durchführung psy-
chodynamisch fundierter videobasier-
zur Diskussion anregen und zu weiterer zipiert sein, dass auch Therapeut*innen- ter Therapien (VBT) ein enormer Zuge-
Forschung innerhalb dieses Themenfelds Patient*innen-Paare befragt werden, wo- winn. Bisherige allgemeine Manuale zur
inspirieren. Eine weitere Schwachstelle durch es möglich wäre, Abstimmungs- VBT enthalten kaum Hinweise zur Be-
ist, dass zwischen den psychodynami- prozesse sowie bestimmte Übertragungs- handlungstechnik.
schen Verfahren (AP, TP) oder zwischen und Gegenübertragungskonstellationen
dem Ausmaß gemachter Erfahrung mit innerhalb der therapeutischen Dyade zu
dem VS nicht systematisch unterschieden untersuchen. Korrespondenzadresse
wurde. Im Sinne einer zusätzlichen Absi- Vor dem Hintergrund der beschriebe- Alena Leukhardt
cherung der Ergebnisse hätten diese den nen Einschränkungen dieser Studie sind Department Psychotherapiewissenschaft,
Studienteilnehmer*innen im Anschluss an weitere Bemühungen zur Theoriebildung Sigmund Freud PrivatUniversität Berlin
Columbiadamm 10, 12101 Berlin, Deutschland
die Auswertung zur Evaluierung außer- im Zusammenhang mit quantitativen Un-
alena.leukhardt@sfu-berlin.de
dem vorgelegt werden können. Weiterhin tersuchungen notwendig. Nur so kann ei-
wurden die gemachten Erfahrungen re- ne empirisch fundierte Theorie zum psy-
trospektiv erfragt, und in einigen Fällen chodynamischen Prozess im VS entste- Einhaltung ethischer Richtlinien
lag eine größere Zeitspanne zwischen Set- hen. Die gebildeten Hypothesen können
Interessenkonflikt. A. Leukhardt, M. Heider, K. Rebo-
ting-Wechsel und Interview. Außerdem letztendlich nur die Grundlage für wei- ly, G. Franzen und C. Eichenberg geben an, dass kein
könnte es eine Rolle spielen, zu welchem terführende und v. a. gerichtetere Unter- Interessenkonflikt besteht.
Zeitpunkt der Pandemie und innerhalb suchungen bilden. Abschließend ist zu-
Alle beschriebenen Untersuchungen am Menschen
des therapeutischen Verlaufs ein Wech- dem festzuhalten, dass dem untersuchten wurden mit Zustimmung der Ethikkommission der
sel stattfand und zu wie vielen Setting- abrupten Wechsel ins VS das Einsetzen Sigmund Freud PrivatUniversität (Nummer des Ethik-
Wechseln es insgesamt kam, was im Rah- der Pandemie zugrunde liegt. Die hiervon votums: CBQDRZLBAPCQYK87996), im Einklang mit
nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration von
men dieser Untersuchung ebenfalls nicht ausgehende Belastung, der alle an dieser Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeite-
gezielt berücksichtigt wurde. Auch wurde Untersuchung beteiligten Personen aus- ten Fassung), durchgeführt. Von allen befragten
die Dauer der Behandlungen im VS nicht gesetzt waren, führt zu einer möglichen Patient*innen und Therapeut*innen liegt eine Ein-
verständniserklärung vor.
erhoben, was im Hinblick auf den be- Einschränkung der Generalisierbarkeit der
schriebenen Habituationsprozess jedoch formulierten Hypothesen auf nichtpande-
von erheblicher Bedeutung sein könnte. mische Bedingungen. Aus den vorliegen- Literatur
Eine Habituierung an das neue Thera- den Beobachtungen lassen sich weiterhin
pie-Setting kann möglicherweise nicht vorläufigeEmpfehlungen, einerseits für die Backhaus A et al (2012) Videoconferencing psy-
chotherapy: a systematic review. Psychol
bei allen Therapieverfahren innerhalb Entwickler*innen zertifizierter Programme Serv 9(2):111–131. https://doi.org/10.1037/
der als Einschlusskriterium vorgegebe- für die VBT und andererseits für die The- a0027924
nen Mindestanzahl von 5 Sitzungen im rapeut*innen in der Praxis, ableiten. Barber JP, Walczak KK (2009) Conscience and critic:
peer debriefing strategies in grounded theory
VS erreicht werden. Aus diesem Grund research. In: Annual meeting of the American
könnten bestimmte Techniken, wie das Fazit für die Praxis Educational Research Association San Diego
freie Assoziieren oder die Traumdeutung, Békés V, Aafjes-van Doorn K (2020) Psychothera-
4 Programmseitig ist es notwendig, Voraus- pists’ attitudes toward online therapy during
als im VS eher ungeeignet beschrieben setzungen für einen weitestgehend un- the COVID-19 pandemic. J Psychother In-
worden sein. Dies würde im Hinblick auf mittelbaren Kontakt zu schaffen. Gestik tegr 30(2):238–247. https://doi.org/10.1037/
die AP beispielsweise gegen einen häu- und Mimik sollten mit kleinstmöglichen int0000214
Latenzen übertragen werden, da dies für Berryhill MB et al (2019) Videoconferencing psycholo-
figeren Setting-Wechsel sprechen, da die gical therapy and anxiety: a systematic review.
den Prozess der Affektabstimmung ele-
immer wieder stattfindenden Habituati- mentar ist. Therapeut*innen sollten die
Fam Pract 36(1):53–63. https://doi.org/10.1093/
onsprozesse die Arbeit in der Regression fampra/cmy072
zertifizierten Programme – nicht nur auf- Breuer F, Muckel P, Dieris B (2019) Reflexive grounded
behindern würden. Dem gegenüberge- grund der rechtlichen Vorschriften – aus- theory. Springer, Wiesbaden https://doi.org/10.
stellt ist innerhalb der TP eine geringere schließlich von ihrem Dienstsitz aus nut- 1007/978-3-658-22219-2
Habituationsdauer vorstellbar. Vor diesem zen, da dies den Patient*innen Sicherheit Bundespsychotherapeutenkammer (2020) Praxisinfo
vermittelt. Videobehandlung. https://www.bptk.de/wp-
Hintergrund scheint es wichtig, diese Pro- 4 Patient*innenseits ist zentral, den Um- content/uploads/2020/03/bptk_praxisInfo_
zesse für AP und TP in weiteren Studien gang mit technischen Störungen explizit videobehandlung_21_web.pdf. Zugegriffen: 2.
getrennt zu beleuchten. Auch bezüglich zu besprechen, da die Nichtbewältigung Juli 2021
Corbin J, Strauss A (2015) Basics of qualitative research.
eines Setting-spezifischen Übertragungs- zu einer größeren Verunsicherung, die Be-
Techniques and procedures for developing
angebots (s. oben: Interpretation der wältigung hingehen zu einer Stärkung der grounded theory. SAGE, USA

404 Psychotherapeut 5 · 2021


Abstract

Deutsche Psychotherapeuten Vereinigung (2020) Um-


frage Psychotherapeutische Videobehandlung. Video-based treatment in psychodynamic psychotherapy in times of
https://www. the COVID-19 pandemic. Interview study with patients and
deutschepsychotherapeutenvereinigung.de/
index.php?eID=dumpFile&t=f&f=11152& psychotherapists
token=
8efba22d7afdbd29ab5f0a824eb29c7d2aa94b9c. Background: In the course of the pandemic triggered by the coronavirus disease 2019
Zugegriffen: 15. Mai 2020 (COVID-19), video-based treatment (VBT) has undergone a trend reversal. It must be
Dourdouma A, Mörtl K (2012) The creative journey assumed that the abrupt switch from traditional psychotherapy to the video setting
of grounded theory analysis: a guide to its
principles and applications. Res Psychother
(VS) has an impact on the therapeutic relationship and thus on the therapeutic process.
15(2):96–106. https://doi.org/10.4081/ripppo. This study examined how the switch from traditional treatment to VBT (and back
2012.108 again) during the COVID-19 pandemic was experienced by patients and therapists with
Eichenberg C (2011) Psychotherapie und Internet. respect to the therapeutic relationship and the therapeutic process.
Psychotherapeut 56(6):468–474. https://doi.
org/10.1007/s00278-011-0865-9
Methods: Group-specific, semi-structured interviews with therapists (n = 8), therapists
EichenbergC(2020)PsychotherapieimOnline-Setting: in training (n = 6), and patients (n = 9).

Schwerpunkt
Varianten, Besonderheiten und potenzielle Results: The results show that the majority of participants, both therapists as well
Grenzverletzungen. Imagination 4:17–29 as patients, experienced the therapeutic situation in VS as more permeable and less
Eichenberg C (2021) Onlinepsychotherapie in Zeiten
der Coronapandemie. Psychotherapeut. https:// predictable. Although the VS contributes to maintenance of the therapeutic situation,
doi.org/10.1007/s00278-020-00484-0 the interaction was described as shallow and less oriented. Furthermore, every setting
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Internet: Aktueller Stand der Diskussion um can only be carried out with the highest possible intensity after several sessions within
Möglichkeiten und Grenzen. Psychothera-
peut 63(4):283–290. https://doi.org/10.1007/ each setting.
s00278-018-0294-0 Conclusion: The possibility of maintaining the therapeutic relationship using VBT can
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theory. Strategies for qualitative research. Aldine
uncertainties, shame-ridden topics can be addressed more freely. Anxiety patients,
Publishing Company, Chicago
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therapie und Beratung Online. Springer, Berlin,
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Setting change · Therapeutic process · Professional-patient relation · Patient-therapist interaction ·
care within primary care via video consultation: a
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Psychotherapeut 5 · 2021 405

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