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Tanz als
Anthropologie
Wilhelm Fink
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Sonderforschungsbereichs
Kulturen des Performativen (Sfb 447).
Umschlagabbildung:
© Bild: Monroe Warshaw. Brygida Maria Ochaim:
Loie Fuller- Danse des Couleurs (Lyon). Photographie, 1990
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und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung
einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung
und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien,
soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten.
Internet: www.fink.de
ISBN 978-3-7705-4344-1
INHALT
BERNHARD W ALDENFELS . 14
Sichbewegen
KAI V AN EIKELS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
Schwärme, Smart Mobs, verteilte Öffentlichkeiten
Bewegungsmuster als soziale und politische Organisation?
ISABELGIL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
Die Schwere
Ein Versuch über Tanz und Macht in der Modeme
GABRIELE BRANDSTETIER . . . . . . 84
Tanz als Szeno-Graphie des Wissens
EINLEITUNG
1 Brandstetter 1995.
2 Wulf2004.
10 Gabriele Brandstetter/Christoph Wulf
nären ausdrückt. Im weiten Spektrum der Tänze ist der Bühnentanz nur eine
der vielen tänzerischen Bewegungsformen. Tänze entstehen auch in Verbin-
dung mit Ritualen, Festen, religiösen Zeremonien und Events der Popkultur.
Ihre Darstellungs- und Ausdrucksformen sind äußerst vielfiiltig und lassen
sich nicht unter wenige allgemeingültige Prinzipien subsumieren. Tänze insze-
nieren Körperbilder und Bewegungscodes. Sie erzeugen und dekonstruieren
Körpermythen; sie sind Ausdruck ästhetischer Repräsentationen und Inventio-
nen und als solche Medien menschlicher Selbstdarstellung und -verständi-
gung.
Tänze haben eine historische, soziale, ethnologische und ästhetische Rele-
vanz. Dementsprechend ist ihre kulturwissenschaftliche Erforschung eine inter-
disziplinäre Aufgabe. Tänze sind als Gegenstand von Forschung nicht tixierbar
und nicht scharf zu stellen. Ebenso bleibt die Wahrnehmung von Bewegung in
der Blick-Begegnung und in den jeweiligen diskursiven und medialen Bedin-
gungen unscharf. „Unschärfe" ist daher ein Bestandteil der wissenschaftlichen
Auseinandersetzung mit dem Tanz. 3 Der Versuch, von dieser abzusehen, führt
zu unzulässiger Komplexitätsreduktion. Zur Erforschung von Tänzen bedarf
es daher vielfiiltiger methodischer Zugänge und disziplinärer Selbstreflexion.
Aus anthropologischer ebenso wie aus tanz- und perfonnancetheoretischer
Perspektive lassen sich einige Bedingungen angeben, die für Tanz konstitutiv
sind. Zu diesen gehört der Zusammenhang zwischen Bewegung, Rhythmus
und Raum. Tänze bestehen aus Körperbewegungen, in denen ein bestimmtes
Verhältnis zwischen Mensch und Welt seine Darstellung findet. In den Bewe-
gungen der Tänze überlagern sich die beiden Modi des Körper-Seins und des
Körper-Habens. Der Tanz antwortet auf kollektive und individuelle Bilder und
Rhythmen des Imaginären und hat teil an ihrer Gestaltung und Umgestaltung.
In mimetischen Prozessen erfolgt eine Anähnlichung der Tanzbewegungen an
die dynamischen Figurationen des kollektiven und individuellen Imaginären.
Es entstehen symbolische und performative Bewegungsräume, die bestimmte
Bewegungen in Gang setzen und andere unterbinden. In mimetischen Prozes-
sen4 werden traditionelle Bewegungen erworben, und es wird mit neuen Be-
wegungsformen experimentiert, aus denen innovative ästhetische und soziale
Erfahrungen entstehen. In tänzerischen Performances werden neue Bewe-
gungsformen und Rhythmen entdeckt, die sich ausbreiten und zu kreativen
Nachschöpfungen führen.
Zeitgenössischer Tanz arbeitet genau an diesen Rändern, an den Rändern
der kodifizierten Schritte, der beherrschten Bewegung und der Disziplinar-
Strategien aktueller Körperpolitik. Das Wissen um die je geltenden Ordnun-
gen und ihre Beherrschung wird im Tanz zu der Frage: Kann sich die Praxis
alltäglichen Handelns - das Schritte-Setzen, die mechanisierte Arbeitsbewe-
gung oder die schematische Kommunikationshandlung - umkehren? Kann so
ken der Martial Arts im zeitgenössischen westlich-modernen Tanz bis zur Re-
zeption von Grundlagen des Ausdruckstanzes im japanischen Butö oder der
Amalgarnierung von Ballett und Modem Dance mit chinesischer Bewegungs-
und Schrift-Tradition in den Produktionen des taiwanesischen Cloud Gate
Theatre.
In den Beiträgen des vorliegenden Bandes werden die angesprochenen Fra-
gen und Probleme weiter verfolgt. Dabei zeigt sich, wie komplex das Wissen
vom Menschen im Tanz ist. Im Spektrum dieses Wissens kommt dem prakti-
schen Körperwissen besondere Bedeutung zu, das weniger ein sprachliches
Wissen als vielmehr ein Wissen ist, das sich nur in Fonn von Tänzen und den
je spezifischen Körperbewegungen, Interaktionen und Raum-Zeit-Mustern zur
Darstellung bringen lässt. Der perfonnative Charakter dieses Wissens ist das
Ergebnis mimetischer Prozesse, in denen tänzerische Figurationen und Prakti-
ken inkorporiert und weiterentwickelt werden. Dabei findet eine kontinuier-
liche Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen statt, an de-
ren Gestaltung auch Tänze ihren Anteil haben.
Literatur
Brandstetter, Gabriele: Tanz-Lektüren. Körperhi/der und Raumfiguren der Avant-
garde. Frankfurtnvt. 1995
-: Ritual als Szene und Diskurs. Kunst und Wissenschaft um 1900 - am Beispiel von
Le Sacre du printemps. In: Gerhart von Graevenitz (Hg.), Konzepte der Moderne.
Stuttgart, Weimar 1999, S. 367-388.
-: Zu einer Poetologie des Medienwechsels. Aufführung und Aufzeichnung - Kunst der
Wissenschaft? In: dies., Bild-Sprung. TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien.
Berlin 2005, S.199-210.
Wulf, Christoph: Anthropologie. Geschichte, Kultur, Philosophie. Reinbek 2004.
Wulf, Christoph/Gebauer, Gunter: Mimesis: Kultur - Kunst - Gesellschaft. Reinbek
1998.
Bernhard Waldenfels
SICHBEWEGEN
Für ein Denken, das auf Klarheit und Stringenz bedacht ist und überall nach
Sinn und Regel sucht, scheint das Tanzen etwas allzu Extravagantes. Begin-
nen wir also bescheidener mit der Bewegung, von der die Tanzbewegung nur
eine Spielart darstellt. Wie ein kurzer historischer Überblick zeigt, ist die Be-
achtung, die das Denken der Bewegung zuteil werden lässt, weder eindeutig
noch einhellig, vor allem dann nicht, wenn wir die Selbstbewegung als ausge-
zeichnete Bewegungsart in den Mittelpunkt rücken.
1. Historische Bewegungsmuster
Für das klassische griechische Denken bildet die Kinesis einen Schlüsselbe-
griff, selbst die Bestimmung des Seins als Unbewegtes nimmt Bezug auf die
Bewegung. Kinesis steht allgemein für Veränderung, sei es der Ortswechsel,
das Anderswerden oder die Zu- und Abnahme. Dabei bedeutet Bewegung zu
allererst Selbstbewegung, nicht Bewegtwerden von außen. Die Selbstbewe-
gung ist ein Wesensmerkmal alles Lebendigen und Natürlichen. Als natürlich
gilt, was den Ursprung seiner Bewegung wie auch seiner Ruhe in sich selbst
hat, im Gegensatz zu Artefakten, die auf einen äußeren Hersteller oder Benut-
zer angewiesen sind. So erklärt sich, dass Platon die Seele als „sich selbst be-
wegend" bestimmt (Phaidros 245c) und dass er Ruhe und Bewegung unter die
Grundbestimmungen des Seins aufnimmt (Sophistes 248e-25 l a). Die physi-
sche Bewegung, die Aristoteles höchst detailliert erforscht, stellt sich aber
nicht nur als Selbstbewegung dar, sondern ebenso sehr als Zielbewegung.
Diese Zielbewegung ist von verschiedenem Rang. Die Kreisbewegung, die
den Gestirnen vergönnt ist, gilt als die vollkommenste Bewegung, da sie in
ihrer Rückläufigkeit nur ein Minimum an Veränderung mit sich bringt und da
sie der inneren Ruhe am nächsten kommt. Alle Bewegung findet schließlich
ihre Quelle in Gott als dem ersten und unbewegten Beweger, der „als gelieb-
ter" bewegt, ohne selbst bewegt zu werden (Met. XII, 1072 b3). Einen Wider-
hall dessen vernehmen wir im Schlussvers der Divina Commedia: „l'amor ehe
Sichbewegen 15
move il sole e l'altre stelle". Im ersten Beweger verkörpert sich die reine Ener-
geia, eine Aktualität, die durch keine Potentialität, durch kein Noch-nicht-Sein
getrübt ist und die als Ordnung stiftende Tätigkeit Denken heißt. Das Denken
tritt der Bewegung nicht als ihr anderes gegenüber, sondern diese gipfelt im
Denken des Denkens, das selbstgenügsam in sich ruht, ohne sich ewig stre-
bend zu bemühen. Ruhe bedeutet also keinen Mangel an Bewegung, sondern
deren Quelle; sie verhindert, dass die allgemeine Bewegung in regellose Ein-
zelbewegungen auseinanderstiebt.
Diese kosmische Vision beruht auf Voraussetzungen, die sich auf die Dauer
als fraglich erweisen. Doch Spuren davon begegnen uns weiterhin, nicht selten
in der Form paradoxer Erfahrungen wie in Kafkas Erzählung Der Kreisel.
Hier ist es ein Philosoph, der in der „kleinsten Kleinigkeit" eines Kreisels alles
Erdenkliche zu fassen erhofft. Anders als die spielenden Kinder begnügt er
sich nicht damit, sich schlicht am Drehen des Kreisels zu ergötzen, vielmehr
macht er sich daran, den Kreisel im Drehen zu fangen, ohne ihn anzuhalten.
Doch die Hoffnung auf ein solches nunc stans täuscht. Was er immer wieder
in seiner Hand zurückbehält, ist nichts weiter als das „dumme Holzstück".
Was er hat, bewegt sich nicht, was sich bewegt, hat er nicht. Zu „atemlosem
Laufen" angetrieben durch das Kindergeschrei, wird der Kreiselfänger selbst
zum Kreisel: „er taumelte wie ein Kreisel unter einer ungeschickten Peitsche".
Gehört dies zu jener ,,Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes", mit der Ador-
no seine Negative Dialektik beschließt?
Die Entzauberung des Kosmos, die der Siegeszug der mathematischen Phy-
sik mit sich bringt, entzieht der klassischen Bewegungslehre den Boden. Bei
Descartes, dem das Denken der Neuzeit seinen prägnanten Ausdruck verdankt,
scheinen alle Paradoxien getilgt. Das Phänomen der Bewegung gerät in das
Kreuzfeuer eines dualistischen Denkens, das den Geist bzw. die Seele strikt
vom Körper abscheidet. Damit treten auch Bewegung und Bewegtwerden aus-
einander. Der unbewegte Geist löst im Bereich der Dinge und so auch in der
Körpermaschine Bewegungen aus, ohne dass diese in ihm ihr Ziel finden und
zu ihm zurückkehren. Dies gilt auch für die Gehbewegung: ,,Denn allein da-
raus, dass wir den Willen haben, spazieren zu gehen, ergibt es sich, dass unsere
Beine sich bewegen und wir gehen" (Les passions de /'time, Art. 18). Mit der
Reduktion der Dinge auf ihre räumliche Ausdehnung beschränken Bewegun-
gen sich auf eine bloße Ortsveränderung, und die Trägheit, die allen Körpern
zugeschrieben wird, impliziert, dass Körper sich nicht von selbst bewegen,
sondern von anderen bewegt werden (vgl. Zweite Meditation, AT VII, 26). Be-
wegungen werden von fremden Kräften erzeugt, nicht von eigenen Zielen ge-
leitet. Das Wort „Sichbewegen" hat streng genommen keinen Sinn mehr. Gas-
sendis Rekurs auf ein ambulo ergo sum erscheint unter diesen Umständen als
ein kruder Materialismus, der das Denken der Seele durch Mechanismen des
Körpers ersetzt (vgl. Descartes' Sechste Responsiones, AT VII, 352). Zwischen
cogito und ambulo gibt es keine Vermittlung. Dies bedeutet auch: Geist und
16 Bernhard Waldenfels
Seele tanzen nicht, der tanzende Körper denkt nicht. In seiner Erzählung Gehen
treibt Thomas Bernhard diese Doppelheit bis zur pathogenen Spaltung: „Wir
können nicht sagen, wir denken, wie wir gehen, wie wir nicht sagen können,
wir gehen, wie wir denken, weil wir nicht gehen können, wie wir denken, nicht
denken, wie wir gehen." 1 Doch wer ist dieses „Wir" oder „Ich", das beides
sagt, ohne doch „Gehen und Denken zu einem totalen Vorgang" zu machen? 2
Damit stehen wir bereits in der Gegenwart, wo sich vieles ändert. Großen
Anteil hat daran die Phänomenologie, die mit dem Leib als „Umschlagstelle"
zwischen Natur und Geist3 auch die leibliche Selbstbewegung neu entdeckt.
Sie findet Schützenhilfe in einer umweltorientierten Biologie und Ethologie,
in den psychosomatischen Ansätzen einer medizinischen Anthropologie und
mehr und mehr auch in kulturanthropologischen Studien. Schützenhilfe kommt
aber auch von der modernen Physik, in der Kräftefelder an die Stelle des leeren
Raumschemas treten und die Instabilität dynamischer Systeme der Gleichför-
migkeit der Bewegungen Grenzen setzt. Uns stellt sich die Frage, wie wir die
cartesianische Zerstückelung der Bewegung rückgängig machen können, ohne
dass wir zum Anachronismus einer kosmischen Allbeseelung zurückkehren.
Nietzsche liefert wie so oft das Stichwort. Wenn Zarathustra von sich bekennt:
„Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde", 4 so fordert er
nicht nur die moderne, sondern auch die klassische Tradition in die Schranken.
Gleich Platon, seinem intimen Widersacher, erhebt er den Tanz in die höchs-
ten Sphären. Doch was wäre das für ein Gott, der zu tanzen verstünde?
Ich habe nicht vor, die Phänomenologie der leiblichen Bewegung in extenso
zu präsentieren. 5 Vielmehr konzentriere ich mich auf einige Gesichtspunkte, die
gerade auch im Hinblick auf die Tanzbewegung ein besonderes Augenmerk er-
fordern. Der Akzent liegt also auf der leiblichen Bewegung in Raum und Zeit.
2. Selbstbewegung
Wenn wir von einem Sich bewegen sprechen, so benutzen wir ein reflexives
Verb wie „sich freuen" oder „sich irren", dem im Griechischen das mittlere
Genus des Mediums entspricht.
Das Rätsel dieser Fonnel liegt in dem Sich, das wir als Reflexivpronomen
zu bezeichnen pflegen. 6 Auf wen bezieht sich dieses Pronomen zurück, gibt es
da überhaupt ein Nomen, das zu vertreten ist? Nehmen wir einen Satz wie
„Ich bewege mich", der einem Satz wie „Ich freue mich" an die Seite zu stel-
len ist. Solange wir den Satz mithilfe der geläufigen Schemata von Subjekt
und Objekt, von Aktion und Passion interpretieren, scheint die Besonderheit
einzig darin zu liegen, dass das Objekt, auf das ich einwirke, nicht etwas oder
jemand ist, sondern ich selbst. Doch Ich und Mich fallen nicht völlig zusam-
men; zumindest unterscheide ich mich von mir selbst, sofern ich einerseits be-
wege, andererseits bewegt werde. Descartes begnügt sich damit, Bewegen und
Bewegtwerden auf zwei Arten von Substanz zu verteilen, die imstande sind,
entweder zu bewegen oder bewegt zu werden. Eine Alternative, die Descartes
nur als nachträgliche Vermischung von Seele und Körper gelten lässt (s.
Sechste Meditation, AT VII, 81), bestünde in der Annahme, dass ein leibliches
Wesen sich eben dadurch auszeichnet, dass es sowohl bewegt als auch bewegt
wird. Soll diese doppelte Bestimmung nicht auf eine Zuschreibung wider-
sprüchlicher Attribute hinauslaufen, so müssen wir Bewegung anders denken.
Eben dazu lädt die grammatische Form des Mediums ein. Betrachten wir eine
alltägliche Eigenbewegung wie das Gehen oder eine unalltägliche Bewegung
wie das Tanzen, so sehen wir, wie der Gehende oder die Tanzende an der Be-
wegung beteiligt sind, wie sie in Gang oder in Schwung kommen, wie sie
anhalten oder aufhören, ohne doch die Ausführung der Bewegung willentlich
und wissentlich hervorzubringen. Handlungen werden inszeniert, nicht produ-
ziert, wie schon Husserl in den Ideen II bemerkt, 7 und dies trifft eben deshalb
zu, weil das „ich tue" ein „ich bewege mich" einschließt. Würde die leibliche
Bewegung produziert, so müsste sich der Gehende abmühen wie ein Roboter,
der beim Treppensteigen Stufe für Stufe ein kinetisches Programm absolviert,
oder wie ein Tausendfüßler, dem man das Gehen beibringt.
Das Wunder der leiblichen Bewegung liegt aber gerade darin, dass eine Phan-
tasie sich organisiert, eine Inkohärenz funktioniert, eine Unordnung Wirkungen
entfaltet und dass aus einer „Kakophonie von Ursachen und Wirkungen" eine
Gesamtbewegung entsteht. 8 Dass unsere Eigenbewegungen sich einer techni-
schen Steuerung annähern, wenn etwa Marschschritte, Fingergriffe oder Tanz-
stellungen eingeübt werden, und dass unsere Bewegungen vielfach etwas Me-
chanisches an sich haben, besagt nicht, dass sie ablaufen wie ein Uhrwerk. Die
Tatsache, dass auch die Naturwissenschaften inzwischen mit Modellen der
Selbstorganisation arbeiten, vor denen die weitaus grobschlächtigeren mecha-
nischen Modelle verblassen, erleichtert es uns, eine leibliche Selbstbewegung
zu denken, ohne neue Barrieren zwischen eigenem Erleben und äußeren Natur-
vorgängen aufZurichten.
Wenn wir also darauf verzichten, das Sichbewegen in reines Bewegen und
reines Bewegtwerden, in Bewegungssubjekt und Bewegungsobjekt zu zerteilen,
worauf bezieht sich dann das Reflexivpronomen sich? Die Antwort kann nur
lauten: Es bezieht sich auf die Bewegung selbst. Wenn wir der Bewegung nicht
einen Bewegungsträger Wlterschieben wollen, so sehen wir uns genötigt, von Be-
wegungsereignissen auszugehen, die jemandem widerfahren und in die jemand
eingreift, ohne dass diese Ereignisse den impersonalen Charakter eines „es be-
wegt sich" je völlig abstreifen. Das „es bewegt sich" entspricht Lichtenbergs
„es denkt"; dies besagt nicht, dass etwas dem Denken vorausgeht, sondern dass
dieses sich selbst vorausgeht. Nietzsche greift diesen Gedanken in Jenseits von
Gut und Böse auf, wenn er sich gegen den ,,Aberglauben der Logiker" wendet,
die eine Notwendigkeit von Subjekt und Objekt, von Tun und Leiden erschlei-
chen, indem sie ganz selbstverständlich von einer Tätigkeit ausgehen: ,,Denken
ist eine Thätigkeit, zu jeder Thätigkeit gehört einer, der thätig ist, folglich „. " 9
Wir könnten fortfahren: „Sichbewegen ist eine Tätigkeit .„, folglich „."
3. Fremdbewegung
Wenn jemand, der sich bewegt, seiner Bewegungen niemals völlig Herr ist, so
entfällt auch die Alternative zwischen einer Selbstbewegung, die ihre Ursache
in sich hat, und einer Fremdbewegung, bei der die Ursache außerhalb zu suchen
ist. Für eine teleologische Betrachtungsweise versteht es sich von selbst, dass
auch die Handlung als spontane und willentliche Bewegung von anderem be-
wegt wird, nämlich von dem Ziel, um dessentwillen sie in Gang gesetzt wird.
Was uns angenehm berührt, löst eine Suchbewegung, was uns unangenehm
berührt, eine Fluchtbewegung aus. Dies gilt bereits für das tierische Verhalten.
Beim Menschen wird diese Doppelbewegung durch die Einsicht in das, was
auf die Dauer und im Ganzen gut oder schlecht ist, gesteuert. Diese Bewegung
auf das Ziel hin ist aber im Grunde eine verzögerte Kreisbewegung; das Gute
macht zugleich unser Eigenstes aus, und so kommt das zielstrebige Wesen im
Ziel zu sich selbst. Gehen wir hingegen davon aus, dass wir uns nicht nur auf
vorgegebene Ziele zu bewegen, dass vielmehr jede Zielordnung aufgrund ihrer
Selektivität mit Kontingenz behaftet ist, so müssen wir unterscheiden zwi-
schen normalen Bewegungen, die auf zielgerechten Bahnen verlaufen, und
anomalen Bewegungen, die durch überraschende Widerfahrnisse aus der Bahn
geworfen werden und nirgends einen festen Halt finden. Es gibt gestaute Be-
wegungen, die auf Unerwartetes stoßen, das alles Suchen durchkreuzt. Sie fal-
len nicht unter die klassische aristotelische Definition der Bewegung als einer
„Verwirklichung oder Vollendung 10 des Möglichen als eines Möglichen"
(Physik III, 1, 20la 10), bei der das Wirkliche seinen Errnöglichungsgrund in
sich selbst findet, vielmehr konfrontieren sie uns mit Wirkungen, die ihrer Er-
möglichung vorauseilen. Das Bewegungspotential erschöpft sich nicht in einem
4. Zwischenbewegungen
11 Das Wort ecart, das Valery unentwegt gebraucht, um Formen und Prozesse des Abweichens
und Differierens zu bezeichnen (vgl. das Stichwort ecarts im Register der Cahiers), bedeutet
ursprünglich einen Seitenschritt, der auch als Tanzfigur auftritt.
20 Bernhard Waldenfels
in die andere einstimmt und nicht nur mit ihr zusammenstimmt. 12 Ähnliches
gilt für Tanzfiguren wie den Pas de deux oder den Gruppentanz, wo ein Schritt
den anderen ergibt. Das Ineinander eigener und fremder Bewegungen findet
man selbst in Kampfhandlungen, wo einer den Hieb des anderen pariert, als
hätte er ihn selbst ausgeführt. Der Bär, von dem Kleist in seinem Essay Über
das Marionettentheater berichtet, geht noch darüber hinaus. Er übertrifft den
menschlichen Fechter darin, dass er nicht nur die Hiebe des Gegners in Win-
deseile pariert, sondern selbst Finten als Finten errät, „als ob er meine Seele
darin lesen könnte", wie der Erzähler erstaunt bemerkt. Die Unverzüglichkeit
der Reaktion ist allerdings erkauft mit einem Maß an Bedenkenlosigkeit, das
für die Frage, ob man so oder so reagieren solle, keinen Raum lässt. Was
Kleist hier beschreibt, ist eine Grenzerfahrung, die uns im Vor- und Über-
menschlichen der Gebrochenheit menschlicher Erfahrung innewerden lässt. 13
Zwischenbewegungen würden ihren Zwischencharakter verlieren, wenn das
Eigene im Gemeinsamen aufginge. Das Zwischen, das sich hier abzeichnet,
bildet ein eigenes Kräftefeld. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern,
dass jedes kindliche Lernen stark mimetisch bestimmt und dass auch späteres
Lernen nie ganz frei davon ist. Mimesis bedeutet nicht, dass jemand eine
fremde Bewegung bloß nachmacht, sondern dass er sie mitmacht, dass er sich
mitreißen lässt, ohne dass wie bei der Massenpsychose das Heterogene im Ho-
mogenen versinkt. 14 Im bloßen Nachmachen entsteht dasselbe noch einmal,
im Mitmachen entsteht Eigenes aus dem Fremden. Dies betrifft auch bestimmte
Formen der Automimesis wie etwa die Echolalie beim Kinde. Die Interferenz
von Eigenbewegung und Fremdbewegung greift ferner über den alltäglichen
Umgang mit den Dingen hinaus. Wie Erwin Straus bemerkt, füllt der Einzelne
seine Entscheidung nicht aus einer objektiven Distanz heraus: „Aus seiner
Kommunikation mit den Dingen stellt er fest, ob sie sich mit ihm, der sich
selbst bewegt, mitbewegen oder nicht. Er urteilt über die Art der Partnerschaft,
ohne über die Weise seiner eigenen Bewegung zu reflektieren." 15 Alles Mit-
sein hat Züge einer Mitbewegung.
gungen fügen sich in ein fertiges Raum- und Zeitschema ein, sie lassen sich
messen, lokalisieren und datieren. Anders steht es mit der Selbstbewegung; sie
trägt selbst zur Raum- und Zeitbildung bei. Die Selbstbewegung findet statt.
Das Hier als der Ausgangspunkt und das Dort als der Zielpunkt einer Bewe-
gung sind keine beliebigen Raumstellen innerhalb eines homogenen Raumes
und keine beliebigen Zeitpunkte auf einer ins Endlose verlaufenden Zeitlinie,
sondern bevorzugte Zeit-Orte. Das Hier-Jetzt, das die Situation des Sprechers
anzeigt, verweist ebenso auf die Situation des Sichbewegenden.
In eins damit zeichnen sich verschiedene Bewegungsrichtungen ab, die den
einzelnen Bewegungen eine besondere Qualität verleihen. In diesen Qualitäten
spiegelt sich die leibliche Verfassung des Sichbewegenden wider. Für jemanden,
der sich auf ein Ziel zu bewegt, der vorankommt oder zurückweicht, sondert
sich die Bewegung in Vor- und Rückbewegung. Diese Doppelheit entspricht
keinem bloßen Richtungswechsel, der sich nach Belieben umkehren lässt, viel-
mehr ändert sich die Bewegungsart je nachdem, ob es voran- oder zurückgeht.
Die Symbolik von Fortschritt und Rückschritt bezieht daraus ihre Aussagekraft.
Ähnliches gilt für die Aufetiegs- und Abstiegsbewegung, die gegen die Schwer-
kraft des eigenen Leibes ankämpft oder sie zu nutzen versteht. Alltäglich ist das
Auf und Ab der Treppenstufen, das Oben und Unten von Ober- und Unterstadt,
von Berg und Tal. Die Aufwärtsbewegung hat nicht nur gegen die Eigenlast
des Körpers anzukämpfen, sondern auch gegen die Ermüdung, die sich im Er-
lahmen der Kräfte bemerkbar macht. In der Ermüdung wird uns nicht nur der
eigene Leib fremd, sondern dies gilt auch für die Bewegungen, die er vollführt.
Der aufrechte Gang, der den Menschen auszeichnet und der in der Absetzung
vom Kriecherischen eine ethische Note erhält, ist ebenfalls von Bedeutung; wir
müssen uns im Gleichgewicht halten und uns vor dem Fall hüten. Gehen und
Stehen sind auf Bodenhaftung angewiesen. Im äußersten Fall droht der Absturz.
Absturz bedeutet nicht, dass unsere Bewegung eine Gegenrichtung einschlägt,
sondern dass wir in eine richtungslose Tiefe gezogen werden. Der Grund wan-
delt sich in einen Abgrund, von dem ein Sog ausgeht; uns schwindelt, wir ver-
lieren den Halt. Die Bodenlosigkeit wird in der Angst als Bedrohung erlebt
und durch die Angst noch gesteigert. Erwin Straus beschreibt den Sturz als das
Gegenbild der lebendigen Bewegung. „Vor dem Sturz verwandelt sich dem
vom Schwindel Ergriffenen der Raum. Das räumliche Kontinuum scheint zer-
rissen. Kein stetiger Übergang führt voa.-der Höhe zur Tiefe. Kein Weg ver-
bindet das Hier mit dem Dort. Ja, es gibt eigentlich kein Hier und Dort mehr.
Die Tiefe, aber auch die Höbe, die Weite sind das schlechthin Andere. Eben
damit verwandelt sich auch die Stelle, an der der Schwindlige steht. Sie ist
kein festes Hier mehr. Der Schwindlige verliert seinen Halt, er kann nicht vor
und nicht zurück, er kann nicht weiter und kann sich nicht halten." 16
Von der Räumlichkeit der Bewegung lässt sieb nicht sprechen, ohne die Zeit-
lichkeit zu erwähnen. Selbst wer nicht von der Stelle weicht, ist nicht eingewur-
16 Ebd„ S. 270.
22 Bernhard Waldenfels
zeit wie ein Baum, er steht nicht herum wie ein Besen oder eine Schreibmaschine.
Das Hier ist nicht nur der Ausgangspunkt oder der Durchgangsort einer Bewe-
gung, es markiert zugleich den Aufenthaltsort. Doch selbst der Aufenthalt geht
zurück auf eine Bewegung. „Das Hier ist eine verhaltende Bewegung; es ist
mein Aufenthalt, mein Haltepunkt oder meine Haltestelle, es ist das, was mich
hält, wo ich ermüdet halten und mich niederlassen kann." 17 Die Ruhe gleicht
dem Schweigen in der Rede. Sie ist nicht das Gegenteil der Bewegung, sondern
deren Unterbrechung und der Grund, von dem die Bewegungsfiguren sich ab-
heben. Wenn wir stehen bleiben, so nicht wie eine Uhr, die läuft oder stillsteht.
Die Zeit bleibt im Spiel, sofern jedes Hier von sich selbst durch einen winzigen
Spalt geschieden ist, um als Hier in Form eines räumlichen Kontrastes hervor-
zutreten. Das Hier erhasche ich ebenso wenig wie meinen eigenen Schatten.
Da das Hier einen Bewegungsort und keinen bloßen Standort bezeichnet, ver-
weist es immerzu auf einstige Orte, wo ich nicht mehr bin, und auf künftige
Orte, wo ich noch nicht bin und vielleicht nie sein werde. Das Sichbewegen von
hier nach dort gibt den Grundakkord ab für eine Bewegungsgeschichte. Wer
hier ist, ist zugleich anderswo. Es gibt kein Ibi ohne Alibi. Selbst der Stillstand
bedeutet ein Stillhalten, in dem das sich wiederholende Hier zur Bleibe wird.
Auch das Anderswo ist nicht einförmig. Es staffelt sich nach Nähe und
Ferne. Etwas kann zu nah oder zu fern sein; es kann sich uns aufdrängen oder
sich unserem Zugriff entziehen. Anders als messbare Abstände zwischen den
Dingen, die sich in einen geometrischen Raum einfügen, verweisen Nähe und
Feme auf Spielräume der Bewegung, auf ein Sichbewegenkönnen. Jede Bewe-
gung, auch die Tanzbewegung, die dazu führt, dass der Raum sich dehnt und
zusammenschrumpft, oszilliert zwischen Annäherung und Entfernung, zwi-
schen Ankunft und Abschied, und beides tritt zugleich auf, da kein Hier sich
in ein Überall verwandeln lässt. In diesem Spiel von Nähe und Feme bekundet
sich eine eigentümliche Form der Fremdheit einschließlich der Möglichkeit,
dass Naheliegendes in die Feme rückt und Vertrautes uns unheimlich anmutet.
Schließlich spielt sich die Bewegung im offenen Feld oder im geschlossenen
Raum ab. Die Differenz von Draußen und Drinnen, die sich für die Außenbe-
obachtung völlig relativiert, bezieht sich auf eine hier und jetzt stattfindende
Bewegung, die freie Bahn hat oder auf Hindernisse stößt. „Der von den Wänden
eines Zimmers umschlossene Raum wird zu einem Binnenraum, zu einem Drin-
nen überhaupt nur für ein Lebewesen, das sich als Ganzes zur Welt verhält und
das in der Möglichkeit seiner allseitigen Aktion Grenzen errichtet findet [... ]" 18
Die Bewegungen eines Gefangenen in seiner Zelle sind gebremst, er ,,rennt ge-
gen Wände an", so wie umgekehrt der Wüstenwanderer, dem die üblichen An-
haltspunkte fehlen, sich in der unendlichen Weite verlieren - oder finden kann. 19
17 Ebd., S. 275.
18 Ebd., S. 250.
19 Dazu Edmond Jab/:s: „Man kann von der Wüste nicht wie von einer Landschaft sprechen,
denn sie ist, trotz ihrer Vielfalt, Abwesenheit von Landschaft. Aus dieser Abwesenheit be-
zieht sie ihre Wirklichkeit. [... ) Man kann nicht behaupten, dass die Wüste eine Strecke sei,
Sichbewegen 23
Die Schwelle von Drinnen und Draußen ist auch der Entstehungsort für eine
Raumpathologie, die in der Klaustrophobie und der Agoraphobie polare For-
men annimmt. Die Schwelle macht sich vielfältig bemerkbar. Eine Oper wie
der Fide/io spielt szenisch und musikalisch ganz und gar mit dem Kontrast
von Enge und Weite, in dem die Freiheit ihren leiblich-räumlichen Ausdruck
findet, der sonst so oft hinter den Kleidern der Ideen und der Ideologien ver-
schwindet. Freiheit bedeutet weder ein inneres Reservat noch eine äußere
Spielwiese. So notiert Valery in den Cahiers: ,,Die Freiheit ist Kennzeichen,
Lohn, Ergebnis kundiger Disziplin. Allein der Tänzer versteht zu gehen; der
Sänger zu sprechen; der Denker zu lächeln."20
denn sie ist zugleich reale Strecke und absolute Nicht-Strecke aufgrund ihrer Abwesenheit
von Orientierungspunkten. Ihre Grenzen sind die vier Horizonte; sie sind ihre eigene Teilung,
wo diese zum offenen Ort wird; Offenheit des Ortes" (Ein Fremder, 1993, S. l 05).
20 Valery 1973-74, Bel l, s. 340, dt. Bd. 2, s. 421.
21 Straus 1978, S. 263.
24 Bernhard Waldenfels
22 Verwiesen sei auf Kap. 3 der Sinnesschwellen ( 1999), das sich mit dem Rhythmus der Sinne
befasst.
23 Das griechische Wort ÖPX11m0> leitet sich her von ÖPX,ooo (= Reihe, z.B. eine Baumreihe).
Dass unser Wort „Orchester" auf die opxtjmpa, also auf den Tanzplatz als den Platz der
Chortänze und Chorgesänge zwilckgeht, erinnert an die ursprüngliche Bedeutung von „Mu-
sik" als Einheit von Ton, Gesang und Tanz. Vgl. dazu Georgiades 1958.
24 Ich beziehe mich hiermit auf den Beitrag von Silke Leopold zu Tanz und Macht im Ancien
Regime, wo Ludwig XIV. nicht gerade als Philosophenkönig, aber doch als Tanzkönig in Er-
scheinung tritt.
Sichbewegen 25
Rhythmen und Techniken der Bewegung finden ihren leiblichen Halt in Be-
wegungsfähigkeiten und Bewegungsgewohnheiten, die uns in Fleisch und Blut
übergehen. Bewegungen, die sich wiederholen, habitualisieren sich, so dass es
am Ende in der Tat so aussieht, als würden unsere Füße und Beine gehen, als
würden unsere Hände und Finger zugreifen, als würde der Leib sich bewegen
und nicht wir selbst. Als Fußgänger oder auch als Radfahrer ertappt man sich
bisweilen dabei, dass man blindlings den gewohnten Pfaden folgt, als wäre der
Körper ein heimlicher Navigator. Gliederpuppen und Automaten scheinen das
menschliche Verhalten nur nachzuäffen, doch gleichzeitig halten sie uns den
Spiegel vor, indem sie uns aus den Schlupfwinkeln einer reinen und unbe-
fleckten Innerlichkeit vertreiben. Die Mechanisierung und Automatisierung
der Eigenbewegung, die zur Annäherung von Mensch und Maschine führt, ist
durch und durch ambivalent. Sie entlastet uns von dem Zwang zur Bewe-
gungskontrolle, sie kann uns aber ebenso sehr an das Gewohnte und Normale
fesseln. Die künstliche Feststellung des „nicht festgestellten Tieres", die daraus
resultiert, hat zur Folge, dass Fremdheitsimpulse, die uns aus unseren Gewohn-
heiten reißen, sich verringern oder absterben. Kunst und Technik würden sich
auf diese Weise in eine zweite Natur zurückverwandeln. 28
Zu den Zwischeninstanzen gehören schließlich Bewegungssymbole, die das
Sichbewegen bei aller verbleibenden Materialität einer Deutung zuführen, die
auf das Leben und die Welt im Ganzen übergreift. Bewegungen, deren Sinn
überdeterminiert ist, nehmen einen politischen, ethischen, religiösen Sinn an,
auch einen sexuellen Sinn, wie Freud ihn in Flug- oder Steigträumen zutage
fördert. Selbst die philosophische Sprache greift in ihrer Metaphorik immer
wieder auf kinetische Elemente zurück. Zu erinnern ist, wie schon angedeutet,
an Motive wie Fortschritt und Rückschritt, Auf- und Abstieg, Erhöhung und
Abfall, Überheblichkeit und Unterwürfigkeit. Hinsichtlich dieses immensen
Feldes der Bewegungssymbolik begnügen wir uns mit einigen Andeutungen,
die sich aus der Nähe zur Tanzbewegung ergeben.
Dem Sonderbereich des Tanzes nähern wir uns, indem wir zwischen gebunde-
ner und freigesetzter oder frei schwebender Beweglichkeit unterscheiden. Be-
wegungen sind auf mannigfache Weise mit unserem gewöhnlichen Erleben
und Verhalten verwoben, etwa in Form der Blickbewegung, des Redeflusses,
des Gedankengangs, des Umgangs mit Dingen und Werkzeugen, des Arbeits-
ganges, der Gemütsbewegung, lateinisch: E-motion, der sozialen Annäherung
und Distanzierung oder schließlich in Form von Ortsbewegungen wie Boten-
gang, Besuchsfahrt, Fahrt zur Arbeitsstätte oder Ferienreise. Die Bewegung hat
hier einen dienenden Charakter, sie dient vornehmlich der Erreichung eines
Ziels, der Bedienung eines Geräts oder Ausführung einer Reparatur. Die Be-
wegung kann ihre Funktion besser oder schlechter erfüllen je nach Treffsicher-
heit, Kräfteaufwand oder Geschwindigkeit. Es gibt ausgesprochene Bewe-
gungsberufe wie den Boten, der zur Zeit Goethes noch schlicht Läufer hieß,
den Chauffeur, den Piloten oder den Kranführer.
Eine erste Form freier Beweglichkeit schreiben wir solchen Bewegungen zu,
die sich von der Zweckmäßigkeit der Alltags- und Berufswelt weitgehend oder
völlig ablösen, so etwa das Spazierengehen, das Herumschlendern, neuerdings
das Joggen, dazu das Schwimmen,29 das Herumstehen, auch das Ausruhen. Es
stellt sich dann allerdings die Frage, wie diese Bewegungen positiv zu beschrei-
ben sind. Wenn sie nicht zweckmäßig ablaufen, woran nehmen sie dann Maß?
Was besagt es, dass eine Bewegung um ihrer selbst willen geschieht? Was un-
terscheidet die Ruhepause vom bloßen Aufhören einer Bewegung? 30 In seiner
Auflistung elementarer Körpertechniken rechnet Marcel Mauss das Tanzen zu
den Techniken des „aktiven Ausruhens". 31 Die Freizügigkeit der Bewegung
schließt nicht aus, dass die freie Bewegung ihrerseits erlernt, verfeinert, techni-
siert, professionalisiert und kommerzialisiert wird. Im kleinen Maßstab betriffi
dies alte Künste wie die des Seiltanzes, im großen Maßstab den heutigen Leis-
tungssport. Die völlige Professionalisierung scheitert daran, dass solch außer-
gewöhnliche Bewegungen mit besonderen Risiken verbunden sind, sei es der
drohende Absturz beim Seiltänzer, sei es die mögliche Niederlage im Rennen,
und dass sie nicht völlig erlernbar und planbar sind wie ein Arbeitsvorgang.
Entscheidend ist aber, dass die Freisetzung der Beweglichkeit nicht möglich
wäre, wenn die gebundene Bewegung ganz und gar durch ihre Funktion be-
stimmt wäre und wenn nicht schon die schlichtesten Betätigungen und Ver-
richtungen einen Überschuss an Form und alle Bewegungen einen bestimmten
Bewegungsstil aufwiesen. 32 Wenn Merleau-Ponty in seiner Prosa der Welt im
Anschluss an Malraux bemerkt: „Schon die Wahrnehmung stilisiert",33 so
könnte man hinzufügen: „Schon die Bewegung stilisiert". Der Autor deutet
29 Valery, Cahiers, Bd. l, S. 365, dt. Bd. 2, S. 451: „ ,Sportliche' Philosophie ohne Illusionen -
der Schwimmer, der Tänzer, die sich nirgendwohin bewegen". Das Baden im flüssigen Ele-
ment taucht wiederholt bei Valery auf.
30 Das griechische Wort avanaum~, das Ruhe Rast und Erholung bezeichnet, bedeutet wörtlich,
dass man aufhört, dass man eine Pause (nauA.a) einlegt. Für Platon fallen Aufhören der Be-
wegung und Aufhören des Lebens zusammen (vgl. Phaidros 245c). Zu den philosophisch all-
zu wenig beachteten Motiven der Pause und der Zäsur, ohne die es keine neue Erfahrung
gäbe, vgl. Waldenfels 2002, S. 215-222.
31 Mauss 1975, S. 214.
32 Der Überschuss von Formen und Symbolen gegenüber der bloßen Funktion ist eine Grund-
these, die Andre Leroi-Gourhan mit Vehemenz vertritt und durch reiche paläontologische
Funde belegt. Vgl. 1984, speziell S.371-386. Valery unterscheidet zwischen einem ,,reinen
Bewegungstanz" und einer Art „Bedeutungstanz" als einer „skandierten Aktion"; das letzt-
genannte Genre ist ,,nach seinem Abstand (ecart) zur realistischen Aktion" zu bewerten (Ca-
hiers, Bd. II, S. 965, dt. Bd. 6, S. 7lf.).
33 Merleau-Ponty 1984, S. 80.
28 Bernhard Waldenfels
selbst etwas Derartiges an, wenn er fortfährt: „Eine Frau, die vorbeigeht, ist
für mich nicht zuerst ein körperlicher Umriss, eine angemalte Gliederpuppe, 34
ein Schauspiel an einem bestimmten Ort, sondern sie ist [... ] ein Leib, der mit
seiner eigenen Stärke und Schwäche, in ihrem Gang oder im Klappern ihres
Absatzes auf dem harten Boden ganz und gar gegenwärtig ist."
Ergänzend sei verwiesen auf einen Überschuss an Affekten. Keine Bewe-
gung ohne Bewegungslust oder Bewegungsunlust. Die Bewegungsunlust kann
sich bis zur Trägheit, die Bewegungslust bis zum Bewegungsrausch steigern.
Letzteres gilt im besonderen Maße für die Drehbewegung im Tanz. Der Tanz,
in dem der Tänzer nicht mehr eine bestimmte Bewegungsrichtung einschlägt,
sondern sich um seine eigene Achse dreht, erzeugt Schwindelgefühle, die eine
drogenförmige Wirkung ausstrahlen können. 35 Ähnliche Affektsteigerungen
gehen von stakkatoartigen musikalischen Rhythmen aus, die fern aller aus-
schwingenden Melodik dazu führen, dass der Tänzer beharrlich auf der Stelle
tritt und auf den Boden stampft. Die Verbindung von Melos, Rhythmus und
Pathos, die sich in solchen Bewegungsformen andeutet, gehört nicht umsonst
zu den ältesten Bestandteilen einer lebensweltlich ausgerichteten Ton- und Be-
wegungslehre, die auch den Tanz umfasst.
Der Tanz lebt von den Überschüssen einer Beweglichkeit, die sich nicht in
Zwecken und Regeln fassen lässt. Er ist zweck- und regellos, gemessen an den
Zwecken und Regeln des gewöhnlichen Lebens. Anhänger einer Hochkultur
neigen dazu, all das, was sich nicht durch kulturelle Werke hervortut, der blo-
ßen Alltäglichkeit zu überantworten, obwohl doch die Unalltäglichkeit so alt
ist wie die Alltäglichkeit selbst. Anders der schon erwähnte Paläontologe Andre
Leroi-Gourhan. Er rechnet den Tanz neben der Akrobatik zur uralten Einrich-
tung eines imaginären Universums, in dem körperliches Gewicht und Gleich-
gewicht außer Kraft treten; in diesen Formen von Bewegungsenthaltung ent-
deckt er das Bestreben, „etwas zu schaffen, das den alltäglichen Zyklus der Po-
sitionen im Raum zerbricht''. 36 Der Akrobat schafft im Wachzustand, was in
den Flugträumen infolge der muskulären Ruhelage spontan zustande kommt.
Diese Entregelung der gewöhnlichen Erfahrung schließt nicht aus, dass der
Tanz auf die Dauer eigene Formen und Regeln entstehen lässt, indem er als
37 Das Kapitel ,,Lebenswelt als Hörwelt" aus den Sinnesschwellen ließe sich also ergänzen durch
ein Kapitel „Lebenswelt als Bewegungswelt". Eine Skizze dazu enthält die vorliegende Studie.
38 In dem schon erwähnten Essay über die Philosophie des Tanzes betrachtet Valery den Tanz
als eine „allgemeine Poesie vom Handeln des Lebewesens", die in den übrigen Künsten ihre
Äquivalente findet (<Euvres, Bd. II, S. 1400-1402, dt. Bd. 6, S. 254-256).
39 Der Kontrast zwischen Leichtigkeit und Schwere, der in den Beiträgen von lsabel Gil, Rainer
Gruber und Renate Schlesier eine besondere Rolle spielt, hat eine lange Geschichte. Die Be-
vorzugung der Leichtigkeit reicht vom „Leichtwerden (Kou<p~Ecr0m)" der beflügelten Seele
in Platons Phaidros (248c) über Zarathustras „Tanz- und Spottlied auf den Geist der Schwere"
(KSA 4, S. 140) bis zu dem Kontrast von Klarheit und Leichtigkeit, den Valerys Phaidros in
L 'dme et Ja danse ins Spiel bringt. Er fragt sich, wie es wäre, wenn der „unbewegte und hell-
sichtige Beobachter" des Lebens wie durch ein Wunder „von einer plötzlichen Leidenschaft
für den Tanz" erfasst würde? „Wenn er aufhören wollte, klar zu sein, um leicht zu werden; und
wenn er im Versuche, von sich selbst abzuweichen, Wert darauf legen würde, die Freiheit des
Urteils zu vertauschen mit der Freiheit der Bewegung?" (<Euvres, Bd. II, S. 169, dt. 2, S. 109).
Der moderne Tanz legt es nahe, Valerys Essay, dessen Leichtigkeitsideal noch weitgehend an
den Pirouetten des klassischen Balletts Maß nimmt, auf den Titel Le corps et Ja dance umzu-
stellen; doch einer radikalen Umstellung bedarf es nicht, da die Seele sich bei Nietzsche und
so auch bei Valery als eine ganz und gar verkörperte Seele erweist.
30 Bernhard Waldenfels
sehen Epoche sprechen. Ich verstehe darunter ein Anhalten der gewohnten Be-
wegung, eine Suspendierung von Bewegungszielen und Bewegungsumstän-
den, eine Erfindung von Gegenbewegungen, auch eine Überschreitung der
vorgegebenen Bewegungsgrenzen. Alles in allem handelt es sich um eine Ver-
fremdung der vertrauten Beweglichkeit und in eins damit um eine Verfrem-
dung der Lebenswelt. Der interkulturelle Austausch trägt das seine dazu bei.
Damit betreten wir das Gebiet der Tanzpraxis und einer Kulturgeschichte
des Tanzes. Ich werde hier anhalten. In meinem phänomenologischen Versuch
kam es mir darauf an, das Potential freizulegen, das schon der einfachsten
leiblichen Bewegung innewohnt. Wenn das leibliche Selbst sich bewegt, be-
wegt sich stets mehr als der bloße Körper. Ordnungen kommen ins Wanken,
wenn unsere Bewegungen aus der Reihe tanzen. Der Tanz bedeutet dann mehr
als eine Bewegungsart unter anderen, in ihm erflihrt die Bewegung eine Stei-
gerung und Erprobung. Dies betrifft auch die Lebensbewegung mit all ihren
Höhen und Tiefen.
Literatur
Bernhard, Thomas: Gehen. Frankfurt/M. 1971.
Georgiades, Thrasybulos: Musik und Rhythmus bei den Griechen. Hamburg 1958.
Freud, Sigmund ( 1921 ): Massenpsychologie und Ich-Analyse. In: Gesammelte Werke,
Bd. XIII. London.
Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen
Philosophie, 2. Buch (Hua IV). Den Haag 1952.
Jabes, Edmond: Ein Fremder. Übersetzt von J. Ritte. München 1993.
Kafka, Franz: Der Kreisel. In: Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Apho-
rismen aus dem Nachlaß. Gesammelte Werke in 7 Bänden. Frankfurt!M. 1983.
Leroi-Gourhan, Andre: Hand und Wort. Übersetzt von M. Bischoff. Frankfurt!M. 1984.
Mauss, Marcel: Techniken des Körpers. In: Soziologie und Anthropologie, Bd. II.
München 1975.
Merleau-Ponty, Maurice: La prose du monde. Paris 1969 (dt. Die Prosa der Welt,
übers. von R. Giuliani. München 1984).
Meyer-Drawe, Käte: Menschen im Spiegel ihrer Maschinen. München 1996.
Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe (KSA). Hg. v. G. Colli/M. Montinari.
Berlin 1980.
Schütz, Alfred: Gemeinsam Musizieren. In: Gesammelte Aufsätze, Bd. II. Den Haag 1972.
Straus, Erwin: Vom Sinn der Sinne. Berlin, New York, Heidelberg 1978.
Valery, Paul: L 'dme et la danse und Philosophie de la danse. In: <Euvres, Bd.11. Paris
1960; dt. Die Seele und der Tanz. In: Werke, Bd. 2. Frankfurt!M. 1990; Philosophie
des Tanzes. In: Werke, Bd. 6. Frankfurt!M. 1995.
-:Cahiers, 2 Bde. Paris 1973-74; dt. Cahiers/Hefte, 6 Bde. Frankfurt!M. 1987-93.
Waldenfels, Bernhard: Antwortregister. Frankfurt!M. 1994.
-: Sinnesschwellen. Frankfurt/M. 1999.
-:Das leibliche Selbst. Frankfurt!M. 2000.
-: Bruchlinien der Erfahrung. Frankfurt!M. 2002.
Bewegung, Rhythmus, Raum
Kai van Eikels
Ein Vogelschwarm am Himmel - aus der Feme, von der Position eines irdi-
schen Beobachters aus betrachtet, ein komplexer, leicht verwirrender, aber
nicht beunruhigender, in seiner harmonisch wirkenden Ausgelassenheit schö-
ner und für den Betrachter erhebender Anblick:
Die Vögel bewegen sich nicht auf Strecken, sondern in einem dreidimensionalen Raum;
eigentlich auch das nicht, sondern im Medium der Luft, die sie trägt, die ihren Flügel-
schlägen einen Widerstand bietet, die sich selber bewegt und die sie bewegen mit den
Schlägen ihrer so kleinen Schwingen. Sie antworten mit jeder ihrer gefiederten Bewe-
gungen auf alle diese Fast-Berührungen zu den anderen Vögeln, mit denen, unter denen
sie scheinbar nur diese Bahn ziehen. Kaum nämlich sind die einen unter dem Schwarm
der anderen hindurchgegangen, verwandeln sie die eben noch für mich unsichtbaren Be-
ziehungen zu den anderen Vögeln in ebenso viele und zweifellos von einander verschie-
dene Schwenkbewegungen, die alle zusammen nun in die Bahnen der Gruppe mit hin-
eingehen, die während dessen, die zweite Gruppe wohl fühlend, scheinbar nur ihren
Kurs gehalten hat, der ein gemeinsamer werden sollte. Als breites Band ziehen sie mit-
einander in die Schneise über dem Wasser und verschwinden wie die fiilheren. 1
Tokio mittels SMS und ziehen auf einer gewundenen Bahn in ständig wech-
selnden Formationen zwischen Shopping-Malls, Warenhäusern, Cafes, Bars,
Parks, Bahnhöfen, Fußgängerbrücken und Straßenecken umher. Ein Web-
basierter Dating-Service schickt eingetragenen Mitgliedern automatisch eine
Nachricht auf ihr Handy, wenn sich ein zu ihrem Profil passendes anderes
Mitglied irgendwo im Stadtgewimmel in ihrer Nähe befindet, so dass jede
Menschenansammlung zu einem potenziellen Partner-Pool wird und sich auf
Wunsch ad hoc Rendezvous ergeben. Ein Warnsystem, in dem alle zugleich
Informanten und lnfonnierte sind, hält Schwarzfahrer über die Einsatzrouten
von Kontrolleuren in der U-Bahn auf dem laufenden.
Andere Beispiele führen indes zu durchaus prominenten wirtschaftlichen,
sozialen und politischen Ereignissen: Die Kunden eines amerikanischen Strom-
anbieters, der über Gebühr die Preise erhöht hat, schließen sich nach kurzer
Diskussion in Webchats zu einem Zahlungsboykott zusammen und erreichen,
dass das Unternehmen die Preisänderung zurücknimmt. Im sog. ,,Battle of Seattle",
einer Straßenschlacht im Umfeld des WTO-Treffens 1999, arbeiten die De-
monstranten in kleinen Einheiten und arrangieren sich mit Hilfe von Note-
books und Handys über Websites unablässig neu, so dass sie die Polizeistrate-
gie ein ums andere Mal unterlaufen. 2001 findet auf den Philippinen eine
wesentlich durch das Forwarding von SMS organisierte politische Blitzrevolte
statt, in der ein jäher Aufmarsch von Protestierenden auf einer der Hauptstra-
ßen von Manila den Präsidenten Estrada zum Rücktritt zwingt.
Und schließlich finden sich unter den Beispielen einige der heikelsten und
meist diskutierten Probleme unserer Zeit: Das Terror-Netzwerk Al Quaida und
andere terroristische Assoziationen ziehen ihre Aktionseinheiten offenbar in
kurzer Zeit aus einer Menge verstreuter „Schläfer" zusammen, die zuschlagen
und sich, falls sie dabei nicht sterben, wieder zerstreuen. Die sog. „organisierte
Kriminalität" entzieht sich der Verfolgung durch die staatlichen und interna-
tionalen Behörden zunehmend dadurch, dass sie die klassischen familialen
Mafia-Strukturen durch flexiblere und eher pragmatisch ausgerichtete Operati-
ven ersetzt. Und im Herbst 2005 konnten Unruhen in Frankreich, die anlässlich
eines eher unglücklichen Missverständnisses ausgebrochen waren, ein beacht-
liches Gewaltpotenzial entwickeln und freisetzen, da sich die Jugendlieben aus
der banlieue über Weblogs für die jeweils folgende Nacht zu Anschlägen ver-
abredeten, während der Staat mit seinen Ordnungskräften häufig zu spät am
Ort war.
Das Thema Bewegung als Organisation von Bewegung bringt all diese Phä-
nomene zusammen, legt eine ihnen gemeinsame dynamische Matrix frei. Be-
deutet die Fokussierung der Dynamik (statt der beteiligten Personen, ihrer Mo-
tive und Mittel, ihres jeweiligen Handlungskontextes, ihrer psychologischen,
gesellschaftlichen und historischen Situation) aber nicht eine ungeheure Ent-
differenzierung? Lässt nicht schon der Katalog von Beispielen ersehen, dass
der soziale Schwarm ein grobes, zur Erklärung von menschlichen Handlungen
38 Kai van Eikels
kaum taugliches Paradigma darstellt? Ähnlich wie man in den 80er Jahren den
„Second Order Cybemetics" vorwarf, alle Prozesse über denselben Kamm
ihres „Wie funktioniert es?" zu scheren, ruft auch das Konzept des sozialen
Schwarms Widerstände gegen eine radikale Vereinfachung dessen hervor, was
uns als irreduzible phänomenale Komplexität der menschlichen Kultur in der
Vielfalt ihrer Erscheinungsformen für einen besonderen Wert gilt. Offensicht-
lich vernachlässigt eine Bewegungsanalyse des Sozialen eine ganze Reihe tra-
ditionell verbürgter Unterscheidungen. Worin genau besteht aber die Vereinfa-
chung? Was entfällt hier?
Der Biologismus besteht nicht einfach darin, dass man Menschen wie Tiere
behandelt. Es geht eher um eine bestimmte Verschiebung, die sich innerhalb
des Menschlichen vollzieht. Diese Verschiebung betrifft den Begriff des Han-
delns: Was eine Anwendung des Schwarm-Paradigmas auf die menschliche
Gesellschaft mehr oder weniger stillschweigend vollzieht und in ihrer Ambi-
valenz instrumentalisiert, ist die Gleichsetzung von Bewegung und Handeln.
Man erklärt rhythmische Synchronisierungsmuster bei der Bewegungsorgani-
sation zur Entsprechung sozialer Interaktionen. Bewegungslinien verweisen so
auf Handlungsvektoren. Und das in einer bisher unbekannten Direktheit.
Was bedeutet das für das menschliche Handeln? Welchen Stellenwert hat
das Paradigma des sozialen Schwarms, das ein biologisches Phänomen derart
unmittelbar auf kulturelle Techniken bezieht, innerhalb eines Wissens vom
Menschen am Beginn des 21. Jahrhunderts, nachdem ein Begriff wie ,,Bio-
politik" unsere Aufinerksamkeit für die Macht dieses Wissens geschärft hat?
Selbstbestimmungen des menschlichen Handelns vertrauten bislang darauf,
dass eine Handlung zwar immer auch eine Bewegung darstellte, deshalb aber
nicht auch schon jede Bewegung den Status einer Handlung verdiente. 9 Hand-
lung war in der Tat ein Status und verlangte neben der Bewegungsspur, als die
sich das Getane in die kulturellen Erinnerungstexte einschrieb, den Nachweis
bestimmter Zurechnungsfähigkeiten: Das Subjekt einer Handlung musste vor
allem zu den Bedingungen eines juridischen Diskurses als Person, als Instanz
der Verantwortlichkeit, identifizierbar sein. Die Einheit der juridischen Person
bildete zugleich den Rahmen für Fragen nach dem Motiv, der (guten oder
schlechten) Intention, der Proportionalität von Zweck und Mittel usw. Grup-
pen brauchten dementsprechend einen Anführer oder einen Verantwortungs-
träger, große Gruppen einen institutionellen Repräsentanten, um zur Welt des
Handelns zugelassen zu werden. All dies scheint nicht mehr garantiert, wo ein
Konzept der Selbstorganisation von Bewegung sich als neue Theorie des Han-
delns ausgibt und die Jurisdiktion der Verantwortung durch eine Kybernetik
der Kontrolle ersetzt. Nach welchen Kriterien sollen wir Aktivitäten beurtei-
len, wenn die Akteure ebenso gut ein Haufen Teenager sein können wie die
Kunden eines Stromanbieters, ebenso gut ein „People Power Movement" wie
9 Ich verweise noch einmal auf den Beitrag von Bernhard Waldenfels in diesem Band (bes.
S. I 7f.), der dies sehr klar nachzeichnet.
Schwärme 39
eine Bande von Terroristen? Was soll uns vom Gelingen oder Scheitern, von
der Konsistenz oder vom Abdriften der Initiativen unterrichten? Was unter-
scheidet hier noch gewalttätige von gewaltlosen, vermessene von angemesse-
nen, zynische von respektvollen Aktionsformen?
Man kann vermuten, dass die Popularität des Schwarm-Konzepts nicht zu-
letzt auf der seit Ende des 20. Jahrhunderts notorischen Krise des Handelns,
insbesondere des politischen Handelns beruht, die Paolo Vimo mit einem iro-
nisch resignativen Anklang an Augustinus einmal so formuliert hat: „Nothing
appears so enigmatic today as the question of what it means to act. lf nobody
asks me what political action is, I seem to know; but if 1 have to explain it to
somebody who asks, this presumed knowledge evaporates into incoherence." 10
Die Beschreibungen von Sehwarmaktivitäten verweisen dagegen auf die Evi-
denz, dass dennoch - und heute mehr denn je - etwas sich tut: Es kommt zu
sozialen und politischen Veränderungen, jedoch ohne dass diese noch den for-
malen Voraussetzungen für den theoretischen Status des Handelns genügen
würden. Initiativen erlangen ihre Wirksamkeit gerade dadurch, dass sie sich
nicht um ihre Möglichkeitsbedingungen kümmern, sondern geradezu der Sog-
kraft einer bestimmten Eigendynamik folgen, ihre Identität in der Gelegenheit
finden und auf diese beschränken. Haben wir es dabei mit einer gangbaren Al-
ternative zu traditionellen Handlungskonzepten zu tun? Mit der Illusion einer
Alternative - einem falschen Versprechen oder einem, dessen Erfüllung ledig-
lich eine Kompensation für die Ohnmacht des Handelnden bietet? Ist der Bio~
logismus des Schwarm-Paradigmas ein Kompromiss mit der Ökonomie des
Lebens, den der Mensch schließt, um neuen Zugang zur Effizienz seines Han-
delns zu finden und sich endlich wieder sozial und politisch zu engagieren?
Oder bringt diese Kompromittierung, indem sie das humane Wesen des Han-
delns aushebelt, auch das Ende einer Definition des Menschen als politisches
Lebewesen?
Untersuchen wir genauer, wie die Entdifferenzierung von Bewegung und
Handlung sich einstellt - wie jene Übertragung zustande kommt, bei der eine
Metapher (der Tierschwarm als Bild des menschlichen Kollektivs) zugleich
eine Art Ansteckung bewirkt (die Weitergabe eines Bewegungsimpulses: vom
Tierschwarm auf die Selbstbewegung seines Betrachters, der die Distanz al1f-
gibt oder zu leugnen beginnt, dass sie je existiert hat).
Auch der Organisationstheoretiker spricht vom Schwarm zunächst als ein
faszinierter menschlicher Beobachter, der die tänzerisch anmutende Bewe-
gung der Tiere wahrnimmt und den ästhetischen Raum dieser Wahrnehmung
auf den sozialen Raum projiziert, innerhalb dessen er selbst sich bewegt. „Ich
habe Sonnen- und Mondfinsternisse gesehen, und ich habe Bienenschwänne
gesehen", schreibt Kevin Kelly emphatisch in einem Kapitel von The End of
Control.
Finsternisse sind Spektakel, die ich nur halbherzig beobachte, ich schätze, meist aus einem
Pflichtgefühl gegenüber ihrer Seltenheit und aus Tradition heraus, etwa so, wie ich einer
Parade zum 4. Juli beiwohne. Bienenschwärme dagegen erwecken eine ganz andere Art
von Ehrfurcht in mir. l I
An die Stelle der Erfahrung von Distanz angesichts des erhabenen Naturphä-
nomens tritt eine identifikatorische Ehrfurcht, eine Art kybernetisches Stau-
nen, das sich von der Unterscheidung von Natur und Kultur frei macht, um
sich begeistert der Effizienz organisatorischer Leistungen zuzuwenden. Diese
Organisationsleistungen haben einen spielerischen Charakter: Beim motori-
schen Gefüge im Schwarm hat man es offenbar mit einer Verselbständigung
des Reagierens zu tun, mit einer Aktivität, die nur aus Reaktionen aufeinander
besteht. Die unzähligen Richtungswechsel, Bögen und Schleifen dienen, selbst
wenn der ganze Schwarm auf einer bestimmten Route dahinzieht, niemals
zum direkten Erreichen einzelner Ziele, sondern bezeugen zunächst den Über-
schuss von Energie, den sie verbrauchen. Ob Insektenschwärme in der Luft,
Vogelschwärme am Himmel, Fischschwärme im Wasser - stets ist das Me-
dium das des Schwebens oder Gleitens, einer besonderen, der Inertialität des
Irdischen durchaus unähnlichen Leichtigkeit. So meint der Beobachter, bei
dem „grandiose[n] Spiel des Umspielens" (zur Lippe) einem Tanz beizuwoh-
nen. Was sich ihm zeigt, ist eine überreichlich gegenwärtige kollektive Bewe-
gung, die sich in ihrer Gleichzeitigkeit dennoch als eine Figur, als ein sich
selbst als Figur exponierendes Ereignis der Figuration zu erkennen gibt. Han-
delte es sich bloß um eine Metapher, so wären die neueren Reden vom Schwarm
in die Tradition von Mandevilles Bienenfabel einzuordnen, und ihre Verspre-
chen von Effizienz mündeten in eine beruhigende, idyllische Genealogie des
Fleißes. Doch die rhetorische Figur ist hier ebenso, ja vor allem Bewegungs-
figur. Sie teilt sich demjenigen, der sie vernimmt, mit jenem figurativen Mehr-
als-Bewegung mit, das den ästhetischen Wert von Bewegungen ausmacht: als
tänzerische Bewegung. 12
Das Wort „Tanz" taucht nicht nur regelmäßig in den Beschreibungen von
Schwärmen auf (Kelly spricht sogar von einem „Tanzwettbewerb"). Die Vor-
stellung des Tanzes, die in den Naturwissenschaften seit dem demokrit'schen
Tanz der Atome hintergründig präsent gewesen ist, spielt bei der Übertragung
zwischen Naturphänomen und menschlichem Verhalten eine hintergründig be-
stimmende Rolle. Unter den biologischen Kriterien zur Definition des Lebens
war Bewegung immer schon das prominenteste und dasjenige, aus dem man
die weitreichendsten Schlüsse gezogen hat. Mit den gegenwärtigen Theorien
des Schwarms erhält dieses Kriterium ein dezidiert ökonomisches Profil (Öko-
nomie im umfassenden, auf das Leben als etwas zu Unterhaltendes und zu
Mehrendes verweisenden Sinne verstanden), und diese Ökonomisierung im-
pliziert auf eine bemerkenswerte Weise die ästhetische Selbstbezüglichkeit von
Bewegung im Tanz. Die Bewegungs-Figur des Tanzes bewegt uns dazu, den
sozialen Raum, den Raum der Kommunikationen, der Interaktionen und inter-
personalen Effekte nach dem Vorbild des ästhetischen Raumes zu denken: als
Raum einer Ökonomie der lenkenden und fonnenden Verschwendung, einer
organisatorischen Effizienz des Verspielten. In diesem Raum bringt gerade die
immanente Exzessivität eines Agierens, das sich ganz auf seine exzessive Dy-
namik einlässt und sozusagen fortwährend im Augenblick dieses Sich-Einlas-
sens agiert, einen starken Mehrwert hervor. Der Tanz des Schwarms dient
nicht so sehr zur Bestätigung und Bekräftigung einer bestimmten Ordnung
(wie bei den rituellen und repräsentativen Funktionen des Tanzes); er macht
die Fähigkeit der sich selbst überlassenen, auf sich selbst antwortenden Bewe-
gung evident, ein Surplus zu erzeugen und es zu ihrer eigenen Kollektivierung
zu verwenden.
Diese gleichsam transökonomische Finesse ihrer Disposition macht die
Tanzbewegung für eine Wissenschaft von der Organisation interessant, deren
Begriffe und Wertungen zumeist deutlich auf ein neoliberales Denken verwei-
sen. Es geht, wenn man so will, um Organisationsleistung als ästhetischen
Mehrwert - und um eine Pragmatik des Sozialen und Politischen, die diesen
ästhetischen Mehrwert in das Leben, in eine von der Differenz Natur-Kultur
befreite Faktizität des Lebens als „survival of the most mobile" reinvestiert.
Tanzen-Können, oder genauer: am Tanz teilnehmen zu können, zeichnet sich
als ein neues Lebens- und Überlebenskriterium ab. „0 Mensch lerne tanzen,
sonst wissen die Engel im Himmel mit dir nichts anzufangen", heißt es in einem
berühmten, Augustinus zugeschriebenen Gedicht. Es könnte sein, dass sich
diese Empfehlung heute zu einem sozialen Imperativ säkularisiert.
sich bei ihren Streifzügen durch die überfüllten Straßen der Metropole zu ori-
entieren. Auch hier entsteht durch Verknüpfung kleiner Einheiten und Poten-
zierung bilateraler Kommunikation ein größeres Gefüge, zu dem im Verlauf
eines Tages oder einer Nacht neue Beteiligte dazustoßen, während andere sich
ausklinken. Die meisten der Jugendlichen haben über hundert Nummern und
E-Mail-Adressen von Bekannten auf ihrem Handy gespeichert, in ständigem
Kontakt stehen sie jedoch nur mit drei oder vier Freunden, die dann ihrerseits
andere und wieder andere kontaktieren. Die Aktivität des Schwarms ist nicht
oder nur phasenweise zielgerichtet. Sie stellt insgesamt einen Zeitvertreib dar,
die Verausgabung eines Überschusses an arbeitsfreier Zeit, Geld, Energie.
Einzelne Orte können für eine gewisse Zeit zum Attraktionspunkt werden,
aber solche Zielsetzungen bleiben episodisch, es sind Ausrichtungen eher
denn umfassende Sinnbestimmungen des Agierens.
Durch die Mobiltechnologie konnte das notorisch unruhige Herumhängen
(das nicht neu ist und das man früher, etwa in der Soziologie der Chicago
School, als Gruppenphänomen untersucht hat) sich zu einem Schwärmen ent-
wickeln, wo Beteiligte, die außer ein paar Freunden oder Bekannten nur die
Gleichzeitigkeit ihrer Bewegung gemeinsam haben, von jedem Ort in der
Stadt aus miteinander kommunizieren und ihre Bewegungen on the move neu
abstimmen. Das verändert nicht nur das Erlebnis des urbanen Raumes, es
räumt vor allem den Aktivitäten, die zur Abstimmung mit anderen dienen,
eine solche Präsenz und einen so hohen Stellenwert ein, dass der Gebrauch,
den die Jugendlieben von ihren Telekommunikations-Tools machen, in stei-
gendem Maße ihre tatsächlichen Bewegungen bestimmt und nicht bloß dazu
dient, Informationen über eine vorgesehene Route zu verbreiten. Es ist also
nicht ein „natürlicher Rhythmus" des Teenager-Daseins (man ist träge, ziellos,
aber zugleich rastlos), der sich hier auf ein Kollektiv ausweitet. Vielmehr re-
determinieren Optionen zur kollektiven Synchronisierung eben diesen Rhyth-
mus, indem sie einen geteilten oder teilbaren temporalen Horizont anbieten.
Sie schalten sich, ganz direkt, in den Lebenspuls ein.
Die Nachrichten, die zirkulieren, haben zumeist den Charakter eines Signals,
einer Art Stimmfühlung:
[M]any of these messages are of the intimacy-maintaining „thinking of you"-variety.
[They] use text messages to say „good night", „good morning", or even ,,I'm bored". [„.]
Such chatting hardly resembles real exchange of information or even intercourse, as much
as merely sharing one's life with others in real time. lt is a question ofbeing in the same
rhythm or wave with one 's closest friends, the feeling of a continuously shared life. 13
14 Mobiltechnologie bestimmt sich so als Sozialtechnologie - und das rilckt die Frage nach dem
Technischen in eine neue Perspektive, die zwischen apparativer Technologie und Handlungs-
technik ein Kontinuum sichtbar werden lässt. Mit den Worten von Vicente Rafael: „lt is in
this sense that we might also think of the crowd not merely as an effect of technological de-
vices, but as a kind oftechnology itself' (Rafael 2003; vgl. Rheingold 2002, S. 160).
44 Kai van Eikels
Socia/ Revolution anführt: die Revolte in Manila. Rheingolds Art, die Vor-
gänge, die 2001 zum Sturz des Präsidenten Estrada führten, als Schwann-Per-
fonnance zu erzählen, deutet an, dass im Zusammenhang mit Smart Mobs
einer der traditionellen, zuletzt fast obsolet erscheinenden Kernbegriffe unse-
res Politikverständnisses einen neuen Sinn erhält: die Versammlung. 15
Das Außergewöhnliche der philippinischen ,,People Power„-Bewegung lag,
so Rheingolds These, in der Dynamik, mit der sie sich bildete. Als Präsident
Estrada mit Hilfe seiner Freunde im Senat eine Einstellung des gegen ihn lau-
fenden Amtsenthebungsverfahrens erwirkte, versammelten sich innerhalb kur-
zer Zeit 20000 Menschen, um dagegen zu protestieren, und innerhalb von vier
Tagen wuchs die Zahl der Demonstranten auf der „Edsa", der zentralen Avenue
von Manila, auf eine Million. 16 Die Koordination erfolgte hauptsächlich durch
das Forwarding von SMS. Große institutionelle Kräfte wie politische Parteien
oder die Kirche spielten bei der Initiierung dieser Bewegung eine weitaus ge-
ringere Rolle als diese freie Zirkulation kurzer Nachrichten (darunter eine
Reihe politischer Witze 17). Und schließlich reichte, ähnlich wie bei den De-
monstrationen vor dem Zusammenbruch der DDR, die bloße Anwesenheit der
Menge auf der Straße und die Manifestation ihres Unwillens aus, um den
Machtwechsel durchzusetzen oder zumindest entscheidend zu katalysieren.
Man könnte sofort die Frage einwerfen, ob diese Darstellung der Sache
historisch korrekt ist. Abgesehen davon, dass die Evaluierung der politischen
Aktion eines Schwanns die Historiker vor neue technische und technologische
Herausforderungen stellt (selbst wenn man die Protokolle der philippinischen
Mobilfunk-Anbieter prüfen und die Nachrichtenübermittlung verifizieren
könnte, wäre es schwierig, ihre Relevanz für das Engagement der Empfänger
zu beurteilen), scheint aber nicht einmal sicher, ob ein so ungreifbarer kollek-
15 Ein neues Nachdenken über die Versammlung versuchte u. a. die von Bruno Latour und Peter
Weibel organisierte Ausstellung Making Things Public am ZKM Karlsruhe 2005; vgl. Latour/
Weibel 2005. Eine kritische Diskussion traditioneller Konzepte der Versammlung und eine
Bestandsaufnahme von Initiativen zur Bildung von Gegenöffentlichkeiten und anderen For-
men des Versammelns durch künstlerische Performance-Aktionen findet sich bei Schwarte
2005.
16 Rheingold 2002, S. 160.
17 Vgl. ebd., S. l 59f. Der Witz ist zum einen eins der prominentesten Beispiele filr die spieleri-
sche Selbstbezüglichkeit von Kommunikation (darin entspricht er der Vorstellung von der
tänzerischen Selbstbezüglichkeit des Schwarms, der aus reinem Genuss an der eigenen Bewe-
gung zu fliegen oder zu schwimmen scheint). Zum anderen hat er ein anarchisches Potenzial,
nicht nur dort, wo er mit explizit politischen Inhalten aufgeladen wird und die politischen Au-
toritäten lächerlich macht, sondern auch dadurch, dass er durch seinen Erfolg, durch die Ge-
schwindigkeit und Weite seines Zirkulierens ein distinguiertes Gefühl für jene Netzwerke
verschafft, die sich im Schatten der politischen Ordnung etabliert haben. Witze und Gerüchte
verweisen traditionell auf die Macht der sozialen Eigendynamik gegenüber politischen Syste-
men. Der Witz ist zudem eine Zuspitzung, eine Verkürzung komplexer Problematiken auf
eine Pointe. Er gehört also selbst zu einer Praxis der extrem effizienten Übermittlung von
Nachrichten oder Signalen, und in Rheingolds Darstellung erscheint es so, als ob diese Poin-
tierung des Witzes und die Beschleunigung der Kommunikation durch Mobiltelefone mit
Forward-Funktion einander entsprochen und verstärkt hätten.
Schwärme 45
tiver Agent wie der Schwarm überhaupt das Objekt historischer Analysen des
gegenwärtig üblichen Typs werden kann. Der Aufmarsch der Demonstrieren-
den auf der Straße fügt sich zweifellos in die Chronologie historischer Ereig-
nisse - doch von woher die Bewegung kommt, deren Beteiligte schließlich diese
Szene des historischen Ereignisses einnehmen, bleibt offen. Die historische
Rekonstruktion des politischen Geschehens registriert kollektive Bewegungen
in dem Moment, wo sie sich als Ausdruck eines Willens zu erkennen geben
(sei es in den Aussagen von Vertretern des Kollektivs oder imaginär in der Zu-
schreibbarkeit von Motiven). Doch stellt der Wille vielleicht nur den Effekt
(oder die Konsequenz) einer Gelegenheit dar, und es käme darauf an, die Dis-
position des Gelegentlichen zu untersuchen und die Bewegung bis in die diffu-
se Gleichzeitigkeit gewisser Tendenzen, Impulse, erster oder zweiter Schritte
zurückzuverfolgen. Die politische Versammlung endet an einem bestimmten
Ort in der repräsentativen Topographie der Hauptstadt. Doch wo beginnt sie?
Die traditionellen politischen Bewegungen („Women's Lib", „die AntiFa", die
Arbeiterbewegung usw.) unterhalten ihr je eigenes mythisches Gedächtnis, in
der die Berichte vom Anfang eine quasi tautegorische, die Bewegung als sol-
che etablierende Funktion haben, und diese oralen Diskurse treten zur offiziel-
len Historiographie hinzu und finden darin auch zunehmend Beachtung. Doch
im Fall von Schwärmen eignet die Evidenz der Gelegenheit sich nicht zum
Mythos. Schwärme kommen aus den ersten verstreuten Spuren eines Erfolgs.
Sie haben sich dort gebildet, wo sich im gleichzeitigen Auftreten einiger loka-
ler Feedback-Verstärkungen eine Bewegungs-Figur abzeichnete. Ihre einzige
Vergangenheit ist der ursprungslose Ursprung der Figuration.
Rheingolds Darstellung der Revolte in Manila, wenn wir sie zumindest als
Erzählung ernst nehmen, zeigt das Geschehen quasi diesseits des historischen
Ereignisses. Sie hebt eine bestimmte technologische Anwendung hervor, um
damit den verteilten, in die konstitutive Zerstreutheit des spätmodernen sozia-
len Lebens eingelassenen Vorgang der Synchronisierung sichtbar werden zu
lassen - jenen Prozess, der, in der Terminologie einer Tanzwissenschaft, aus
dem Gehen einen Gang macht: Obwohl die Kommunikationen über Mobil-
technologie ablaufen und die Mitglieder des Schwarms zunächst keineswegs
im Sinne einer geschlossenen Gruppe zusammen sind, konfiguriert ihr Kom-
munizieren eine Szene des Handelns. Die eigentliche politische Aktion besteht
dann in nichts anderem als darin, dass sie diese Szene betreten. Auch hier also
ein Vorgang der Relokalisierung: eine virtuell konfigurierte Szene der politi-
schen Versammlung wird von den an der Kommunikation Beteiligten an einem
konkreten Ort im öffentlichen Raum eingenommen. Diese relokalisierte Ver-
sammlung erlangt daher eine außerordentliche manifeste Kraft, die über die
Bekundung eines Willens oder die Vertretung eines Interesses hinausgeht. Die
Anwesenheit der Menschen, die sich schließlich in einem bestimmten Hier
und Jetzt einfinden, scheint durch diese Durchquerung des Virtuellen modifi-
ziert. Sie bringt eine andere Faktizität zur Geltung, und es ist diese andere Dy-
46 Kai van Eikels
namik des Faktischen, die der Versammlung eine politische Wirksamkeit ver-
leiht, wie reguläre Demonstrationen sie kaum je erreichen.
Dabei spielt die Geschwindigkeit (oder: Leichtigkeit) des Sichversammelns
eine ebenso wichtige Rolle wie die Tatsache, dass es die Geschwindigkeit einer
Reaktion ist, denn diese Demonstration demonstriert vor allem ihre eigene „In-
telligenz". Sie demonstriert, dass es sich bei dem Zusammenströmen von
immer mehr Menschen keineswegs um die träge-hysterische Beschleunigung
einer Eskalation handelt, sondern dass der Staat es mit einem hochgradig kon-
trollierten Gegner zu tun bekommt, der seiner Disziplin etwas Ebenbürtiges,
wenn nicht Überlegenes entgegensetzt. Es gehört zu den üblichen Praktiken,
SMS und E-Mails auf dem Handy einfach an möglicherweise interessierte Be-
kannte weiterzuleiten. Rheingolds Schilderung legt jedoch nahe, das Forwar-
ding als organisatorisches Prinzip, als soziale Infrastruktur politischer Aktio-
nen zu würdigen: Die Distribution von Mitteilungen gewinnt gegenüber inhalt-
lichen Debatten, in denen es um gemeinsame Zielsetzungen, um Konsens und
Dissens hinsichtlich des geplanten Vorgehens und der einzusetzenden Mittel
geht, eine Eigendynamik. Die Versammlung reduziert sich auf das leichte, nur
der Gelegenheit verbundene Weitergeben von Bewegungsimpulsen, und sie
bekommt eben kraft dieser Reduktion auch dort eine neue Effizienz, wo sie
den letzten Schritt hin zur wiedererkennbaren Figur des Handelns vollzieht
und ihre kollektive Bewegung in eines der populären Aufmerksamkeitszentren
hineinführt. 18
Wir haben es also bei der Versammlung des Schwanns mit einem Modell
der politischen Initiative zu tun, das die politische Handlung durch eine Bewe-
gung ersetzt bzw. das, was wir traditionell als „politische Bewegung" bezeich-
nen, in neuer Weise tatsächlich aus einer Bewegung hervorgehen lässt. Statt
das Sichversammeln von Menschen lediglich als Vorbereitung oder Rahmen
eines gemeinsamen Handelns zu sehen, erklärt Rheingold die Versammlung als
Einnehmen der Szene des Handelns durch die Bewegung des Schwarms selbst
zur zentralen politischen Aktivität. Die Bewegung betritt direkt die Szene des
Handelns, ohne auf die Ankunft jenes Sinnes zu warten, der sie als anerken-
nenswertes Kollektivsubjekt identifiziert haben wird. Sie ist in dem Moment,
da sie auf dieser Szene erscheint, nichts als Bewegung, aber eine Bewegung,
die ihr eigenes Mehr in sich trägt und ihrem Vorgehen dadurch eine erhöhte
Prägnanz zu geben vermag. Das Erscheinen selbst, die Manifestation, dieser
18 Auch diese Darstellung kann man bezweifeln: Glich das, was auf den Philippinen passierte,
nicht eher der bekannten „Telefonlawine", bei der etwas einmal ins Rollen kommt und dann
nicht mehr aufzuhalten ist? Eine jüngere Entwicklung, bei der wiederum Handys eine Rolle
spielen, scheint Rheingolds These von einer besonderen Intelligenz der philippinischen Ak-
teure in Bezug auf das Medium dagegen zu stützen: Als Präsidentin Arroyo, die Estrada im
Amt nachfolgte und ihrerseits schnell an Ansehen verlor, im Sommer 2005 die Verbreitung
einer belastenden Aufuahme verbieten ließ, die sie angeblich des Wahlbetrugs überfllhrte,
tauchte die entsprechende Aufnahme als Handy-Klingelton auf und wurde millionenfach wei-
tergeleitet und heruntergeladen.
Schwärme 47
Wiedereintritt der Netzwerk-Performance in einen territorial geregelten, mehr
oder weniger souverän regierten Raum, verleiht ihr die Kraft einer Aktion, die
wirkt wie eine unmittelbare Verwendung dieses Mehr.
Die flexible Einheit „Schwarm" rekalibriert in einem solchen Modell der
politischen Aktion damit die klassisch-moderne politische Größe des Vielen:
die Masse. Das Paradigma der Masse hat in den Sozialwissenschaften des 20.
Jahrhunderts dazu beigetragen (und teilweise auch den Zweck verfolgt), den
Zusammenhang zwischen dem Sozialen und dem Politischen zu entkräften
und das Kollektive stattdessen zu psychologisieren. Von Gustave LeBon, dem
Begründer der Sozialpsychologie, bis zur Applizierung von Chaostheorie, wie
sie in den 90er Jahren in Mode kam, erschien die Masse nicht mehr als eine
Organisation von sozialen Beziehungen, Interaktionen, kommunikativen Pro-
zessen, die auf eine politische Praxis oder gar verschiedene Praxen verwies,
sondern wie eine homogene Substanz zwischen den Polen Trägheit (die physi-
kalische Masse) und nervöser Reizbarkeit (die Masse gleicht einem Nerven-
system: Sie reagiert entweder ornamental, gemäß der Ordnung des Verzwei-
gungsmusters, oder sprunghaft, hysterisch, katastrophal). Die einzige politi-
sche Dimension der Masse war der Staat, eine äußere, gewaltsam etablierte
Form, der sie sich widerstrebend fügte, die sie aber unablässig von innen aus-
höhlte und im Fall einer Schwächung der Ordnungskräfte zu zerstören drohte.
Seit Hobbes steht die schlechte Multitude, die bloße Vielzahl, dem guten, zu
einem Körper gefügten Volk entgegen, und der Begriff der Masse reprodu-
zierte diese Logik der Souveränität, indem er sozusagen die substanzielle, der
staatlichen Form vorgängige Bindung bezeichnete - den „sozialen Kleister".
Mit der Masse gerät daher ein Kollektiv auf die historische Bühne, das per
definitionem nicht handeln kann, sondern sich nur in Form von Bewegungen
in den Prozess der Geschichte einträgt (einer Geschichte, in der die Zeit nichts
tut, als weiterzugehen, und Veränderung daher immer der Erklärung bedarf).
Die tiefere Wahrheit dieser Bewegungen aber liegt, sogar in den wildesten
Phasen des Umsturzes, in der inertia. Der Akzent auf der Bindung erlaubt es,
von der Menschenmasse in mechanischen Kategorien zu sprechen: Sie de-
monstriert, wie jeder mechanische irdische Körper, vor allem das „natürliche"
Regime der Schwerkraft, das sich proportional zur Größe verfestigt. Gerät sie
von irgendeinem Punkt her in Bewegung, erhält sich diese Bewegung in ihr,
gibt sich weiter, weitet sich aus; doch aufgrund derselben Trägheit, die wirk-
lich durchschlagende Massenbewegungen zu etwas Seltenem macht, ist die
Masse unfiihig, den Bewegungsimpuls zu stoppen, zu drosseln oder umzulen-
ken, und die einmal ausgelöste Bewegung schießt daher weit über ihr Ziel hin-
aus und verwandelt sich dort, wo nicht eine starke äußere Gewalt ihr entge-
genwirkt und sie aufhält, nahezu zwanghaft von etwas Förderlichem in etwas
Zerstörerisches. Alain Badiou, der die Verwendung des Begriffes Masse zur
Erklärung historischer Veränderungen vehement kritisiert, hat das Portrait die-
ses depraviertesten aller Kollektive sehr anschaulich auf die folgende Formu-
48 Kai van Eikels
lierung gebracht: „eine blinde Kompaktheit, die der imaginäre Zement ihres
Zusammenhalts der Idolatrie, der Grausamkeit, der Dummheit und am Ende
dem Elend der Auflösung und des Verzichts ausliefert." 19
Obwohl man das annehmen könnte, emanzipiert das Paradigma des
Schwarms Kollektivität keineswegs von der Mechanik der Bindung. Es führt
die mechanistische Soziologie der Ver- und Gebundenheit vielmehr in die
Epoche der neoliberalen Anforderungen an das Kollektive: Wendigkeit und
Flexibilität, spontane Bildung und Auflösung, frei flottierende Lokalität, Ge-
spür für die Möglichkeit lokaler Mehrheiten und Interventionscharakter erwei-
sen sich als die neuen Kriterien für das soziale Band. Der Soziometriker Mark
Granovetter stellte in den 70er Jahren fest, dass schwache Bindungen (weak
lies) für die gesellschaftliche Distribution von Informationen förderlicher sind
als starke Bindungen (strong ties). In einem engen Kreis von Freunden oder
Verbündeten kennt fast jeder jeden, und diese Symmetrie führt zu einer Schlie-
ßung der Gruppe und blockiert die Kommunikation an ihren Rändern. Schwache
Bindungen in einem Netzwerk dagegen fungieren häufig als Brücken zu ande-
ren Netzwerken und erhöhen die transmission probabilities. 20 Granovetters
Studie, der man heute neue Aufmerksamkeit widmet, verrät etwas über die
Mikrodynamik der Beziehungen, die den Schwarm zusammenhalten. Die Inte-
grität des Schwarms verdankt sich einer hohen Disziplin der schwachen Bin-
dung. Der Zusammenhalt ist lockerer als in der zementartigen Verklumpung
der Masse, dafür allerdings auch ohne starke Gegenkraft: Die geringere Bin-
dungsenergie von Schwärmen wird sich niemals in Form einer Explosion frei-
setzen (und auf eine derartige Umwandlung von Bindungs- in Explosionsener-
gie spekulierten bislang alle politischen Strategien der Radikalisierung).
Eine politische Theorie des Zusammen-Handelns, wie etwa Hannah Arendt
sie entwickelt hat, geht davon aus, dass der Mensch zunächst einmal lernen
muss, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, die Welt mit ihren Augen,
d. h. im Licht der von ihnen getroffenen Urteile zu sehen, ehe eine gemeinsame
Initiative gelingt. Der konkreten Koordination geht eine Art ästhetischer Ge-
meinschaft im kantischen Sinne voraus, die den Raum der Öffentlichkeit ein-
richtet und es den Individuen gestattet, sich trotz oder gerade wegen ihrer Indi-
vidualität einander mitzuteilen und über Koordinaten zu verständigen. 21 Dem-
gegenüber setzen Konzepte wie die des sozialen Schwarms auf die Faktizität
von Kooperation: Es ist hier und da vorteilhaft zu kooperieren, und folglich ist
es, auch moralisch, gut, wenn man kooperiert, ohne dass die Kooperierenden
sich als in einer gemeinschaftlichen Sphäre inbegriffen erfahren müssten, um
das zu wissen und zu beherzigen. Es genügt, wenn sie spezifisch richtig auf
19 Badiou 2003, S. 81. Badiou zufolge müsste die Dekonstruktion des historischen Begriffes der
Masse damit beginnen, die Masse als Trennung und Teilung, als „Signifikant der äußersten
Partikularität, der Nichtbindung" (ebd., S. 86) und ihre Aktivität aus der Tatsache des Ge-
trenntseins und nicht aus dem Verbundensein zu erklären.
20 Granovetter 1973.
21 Vgl. Arendt 1985.
Schwärme 49
experience sorgen, wenn sie durchlaufen werden. Tatsächlich zeichneten sich die meisten
dieser Netze aber durch eine eher gleichmäßig geringe Dichte aus. Das Primat der Ausdeh-
nung vor der Verdichtung ftihrte zu einem niedrigen Informationsgehalt und zu schleppenden,
häufig ganz absterbenden Interaktionen. Das Surfen in solchen Architekturen stellte eine
langwierige und wenig aufregende Angelegenheit dar, weshalb von den zahlreichen Hyper-
text-Projekten, die nicht zuletzt in der Wissenschaft begonnen wurden, die meisten als Daten-
friedhöfe endeten. Zudem bot der Hypertext praktisch keine Szene für die Partizipierenden,
um als Akteure hervorzutreten: Die textuelle Matrix neutralisierte den Handlungscharakter
dessen, was passierte, so weitgehend, dass nicht einmal der Teilnehmer selbst seine Beteili-
gung als Handeln erleben konnte. Demgegenüber zeichnen sich Initiativen vom Typ der Smart
Mobs dadurch aus, dass sie zum einen der Vernetzung eine Szene eröffnen, auf der alle Betei-
ligten als Agierende in Erscheinung treten können (auch wenn es sich dabei zunächst um eine
virtuelle Szene handelt), und zum anderen die relationale Aktivität der Interaktion im Netz
selbst zu einem Medium der Steigerung machen.
52 Kai van Eikels
sich nirgends außer im Erfolgen der Synchronisierung. Und das Vertrauen, das
damit entsteht, ist (und bleibt) nichts als die performative Gewissheit der eige-
nen Bewegung, mit anderen eine gemeinsame Zeit orten und sich innerhalb ei-
nes solchen lokalen kontemporalen Horizontes steigern zu können - ein sense
of synchronicity statt eines sense ofcommunity.
Vertrauen bezeichnet hier also weniger eine Grundlage als eine beflügelnde
Bodenlosigkeit: Der Schwarm emergiert in dem Sinne, dass er selbst als sein
eigener Attraktor funktioniert. Wo sich keinerlei schwärmende Aktivität (vor-)
findet, bleiben die Tätigen atomisiert. Das heißt, der Schwarm ist in einem
neuen Sinn buchstäblich nichts als die Tatsache, dass ein paar Vögel zusam-
men fliegen. Seine Emergenz unterbricht die Glätte des Faktischen nicht, sie
schließt das Ereignishafte in der Faktizität des Erfolgens ein. Die volatile
Wirklichkeit von Sehwarmbildung ist keine Zäsur, keine überraschende Unter-
brechung des Laufs der Dinge, die im Kontinuum dessen, was sich tut, eine
andere Zeit aufscheinen lässt, sondern eine Totalisierung des Faktischen als
dasjenige, was sich erfolgreich selbst vorausgesetzt hat.
3. Welche Veränderungen?
Eine Kritik des kollektiven Handelns (im Kantischen Sinne von Kritik) be-
kommt mit dem sozialen Schwarm ein prekäres Objekt. Selbst wenn wir ein-
mal annehmen, dass es solche Schwärme gibt, dass die Hypothese von der
Effizienz sich spontan bildender lockerer Verbände zumindest über eine hin-
reichende Suggestivität verfügt, um die gegenwärtigen Praxen zu beeinflussen
und die Ideen von Kollektivität in unserer Gesellschaft neu zu beleben - lässt
sich von Veränderungen, die Aktionen sozialer Schwärme als Erfolge verbu-
chen, sagen, dass es politische Veränderungen gewesen sind?
Obgleich die Verfechter des Schwarm-Konzeptes gern die Formulierung
„Politiken von unten" verwenden, steht der Diskurs zum social swarming bis-
lang im Verdacht, zu einer neoliberalen Rhetorik zu gehören. Linke reagieren
eher entsetzt oder angeekelt, und zwar besonders dort, wo jemand wie Rhein-
gold ihnen Erfolgsbeispiele aus den „eigenen Reihen" (wie den erwähnten
,,Battle of Seattle") vorlegt. Tatsächlich wirkt gerade die offensichtliche Alterna-
tivlosigkeit des Gelingens an den Apotheosen des Schwarms, die Kelly oder
Rheingold verkünden, bedenklich. Soziale Schwärme existieren nur dort, wo
sie erfolgreich sind. Bildung des Kollektivs und Handlungserfolg sind in der
Dynamik des Schwarms so eng miteinander verbunden, dass keinerlei Zeit
bleibt für jenen berühmten Vorabend der Revolution, der in der Geschichte
linker politischer Bewegungen die eigentliche Szene des Miteinanders zu sein
scheint.
Man ist daher versucht, sich reflexartig auf die Evidenz eines Scheiterns zu
berufen: Das hat doch da und da auch nicht funktioniert! Das bat bestenfalls
Schwärme 53
kurzfristig etwas gebracht, und auf Dauer ist alles beim Alten geblieben! Das
ist nur wieder so ein klingelndes Wort, um uns über die ungelösten (und im
Kapitalismus auch unlösbaren) Probleme mit dem menschlichen Egoismus
hinwegzutäuschen! Wo kollektive Aktivitäten sich nicht durch ein gemeinsa-
mes Ziel oder eine Gruppen- oder Klassenidentität definieren, sondern nur
mehr die Gelegenheit als Horizont brauchen, entfallt das Störende, die Unter-
brechung, der Einbruch dessen, was sich nicht mehr ökonomisch ausschlach-
ten und zum Vorteil der schnellen, glatten Aktion wenden lässt - und damit
implodieren auch jene großen Augenblicke des Scheiterns, in denen sich die
Utopien eines anderen Handelns und einer anderen Gemeinschaft des Han-
delns verwahren. 27
Denn die ad-hocracy des Schwarms ist die Herrschaft der Initiative. Eine
Privilegierung des anfangenden Handelns, die seit dem platonischen Begriff
des archein das abendländische Denken der Herrschaft durchzieht, erreicht da-
mit ein neues Stadium. Platon unterschied das Beginnen einer Handlung, den
ersten Moment, da dem Handelnden das eidos, die Gestalt des zu Vollbringen-
den, vor Augen tritt, vom prattein, das er als bloßes Ausführen verstand; und
er ging so weit, die Differenz von Wissen und Tun in der Handlung mit der
Differenz von Herrscher (archon) und Beherrschten zu identifizieren. 28 Diese
Überzeugung von der Überlegenheit der arche oder des initium, des wahrneh-
menden Anfangens, über die bloß ausführende Praxis hat sich bis in die zeit-
genössische Hypostasierung des Managements erhalten: Der Manager betritt
die Szene des Handelns als der Experte des Anfangs, der über das nötige
Know-how verfügt, um Impulse zu geben und Initiativen in die Wege zu lei-
ten. Und je stärker die Selbstreflexion des Managements sich in die Eigenlo-
gik der Initiative hineinsteigert, desto mehr konzentriert sich Steuerung auf
den ersten Moment, auf das Ergreifen der Gelegenheit und auf die Etablierung
eines temporalen Horizonts für das weitere Geschehen. Die jüngeren Paradig-
menwechsel oder -verschiebungen in der Organisationstheorie, aus denen auch
das Konzept des sozialen Schwarms hervorgegangen ist, zeugen davon, wie
das Management-Wissen einem „Realen" hinterherläuft und es sich anzueig-
27 Bei der Synchronisierung von Bewegungen, auf der Sehwarmbildung beruht, sind Störung
und funktionelles Moment tendenziell dasselbe: Mehrere Individuen, von denen jenes seinen
eigenen Rhythmus hat (in der Sprache einer „theoretischen Ökologie": ein „Oscillator" ist),
stören einander gegenseitig, so dass die jeweiligen Rhythmen sich verändern und schließlich
ungefthr (aber niemals vollkommen) gleich schwingen. Im Verlauf dieses Vorgangs gibt es
einen Moment, wo die Störung noch als Störung erkennbar ist: Eine Art Synkope macht den
Unterschied zwischen den verschiedenen Rhythmen deutlich, ehe der Übergang in die syn-
chrone Bewegung erfolgt. Das Modell „Synchronisierung" wertet also die Störung des Sys-
tems um in einen konstruktiven organisatorischen Effekt. Ab einem bestimmten Punkt haben
die Störungen den Effekt einer Stabilisierung. Synchronisierung ist und bleibt dabei ein Pro-
zess; sie erfolgt nicht als einmaliger Vorgang, sondern bedarf der unablässigen Wiederholung
der Stabilisierung. Bleibt diese aus, kehren die Individuen in ihre verschiedenen Rhythmen
(dieselben wie zuvor oder andere) zurück. Vgl. Pikovsky u. a. 2003.
28 Vgl. Platon, Staatsmann, 305. Eine erhellende Diskussion dazu findet sich bei Arendt 2002,
S. 282ff.
54 Kai van Eikels
nen versucht. Dies Reale ist einfach die Tatsache, dass manche beiläufig ent-
standenen kooperativen Konstellationen hervorragend funktionieren. Sie funk-
tionieren von allein, ohne dass jemand das Ganze geplant, lenkend beaufsich-
tigt oder zu irgendeinem Zeitpunkt institutionell gefestigt hätte. Sie funktionie-
ren besser als irgendeine geplante, geleitete, systematische Anordnung. Aber
sie funktionieren offenbar nur an einem gewissen Ort, der irgendwo am Rand
fester Strukturen liegt, einen Teil ihrer Ordnungsleistungen nutzt, ohne sich
ihnen jedoch fonnell zu unterstellen oder einzugliedern, sind weder herstellbar
noch verlängerbar. 29 Handlungsmacht zu erlangen heißt daher: diesen gewissen
Ort aufzuspüren. Sich zusammen mit ein paar anderen rechtzeitig dort einzu-
finden, wo es zu einer lokalen Mehrheit kommen wird. 30
Die Erfolge der sozialen Schwärme scheinen auf eine neue Macht der Pra-
xis zu verweisen. Doch geht es womöglich darum, schließlich auch inmitten
jenes Raumes, den die Vielfalt sozialer Praxen kultiviert, die Herrschaft des
archein über das prattein zu errichten, indem man das Bestehen der Praxis als
Konsequenz einer überragend effizienten Initiative interpretiert. Der unerbitt-
liche Hinweis auf das ökonomische Moment, den das Wort Organisation ent-
hält - gerade da, wo es nicht mehr eine gewaltsame Strukturierung, sondern
das Einholen des Realen durch ein adaptives Wissen bezeichnet -, raubt der
spielerischen Leichtigkeit von Kollektivität im Schwarm ihre Unschuld. Das
Spielerische, so verrät die Organisationstheorie, ist als Tänzerisches immer
schon ein disponibles, zur Selbststeigerung seiner Präsenz disponiertes Mehr.
Seine De- und Refiguration stellt sich immer schon darauf ein, mit einer neuen
Prägnanz hervorzutreten. Die zeitliche Begrenztheit des Sehwarmkollektivs
auf die temporale Ausstrahlungssphäre einer Gelegenheit bedeutet im selben
Zug Befreiung von weiter gehenden Verpflichtungen und gesteigerte Abhän-
gigkeit von jener Erfolgschance, die eine wahrgenommene Gelegenheit be-
zeugt. Wer an einer Sehwarmbewegung teilnimmt, ist sofort auch Teilhaber
eines Unternehmens geworden, das dem Gebrauch der Zeit sein bislang deut-
lichstes ökonomisches Profil gibt. Effizienz ist hier kein persönliches Motiv,
das einzelne Mitglieder in einen Schwarm hineintragen oder einzelne Schwärme
im Gegensatz zu anderen verfolgen. ,,Effizienz" benennt die allen Sehwarm-
aktivitäten gemeinsame Bedingung eines Paktes mit dem initium und des darin
besiegelten Einvernehmens in die Herrschaft des archein, des überlegenen Er-
kennens dessen, was an Neuem gelingen wird, das den Übrigen, die es nicht
oder zu spät erkannt haben, nur die Rolle von Restverwaltern hinterlässt, die
auf schon wieder aufgelassenen Szenen des Handelns Sachen zu Ende bringen. 31
29 Vgl. zur Bedeutung solcher communities of practice in der Management-Theorie van Eikels/
Peters 2005, S. 93-108.
30 Bruno Latour hat einen entsprechenden „performativen" Machtbegriff entwickelt, ohne den
Komplikationen einer solchen „Macht der Assoziation" allerdings große Aufmerksamkeit zu
schenken. Vgl. Latour 1986.
31 Demgegenüber wäre zu überlegen. ob eine Macht der Praxis, wenn es sie gibt, nicht in deren
Anachronismus liegt: darin, dass immer noch oder immer wieder mal irgendwer das macht,
Schwärme 55
Auch hier also ein kollektives Gebilde, das unter dem Namen des Schwarms,
aber ebenso unter denen des Rudels, der Meute, der Gruppe oder des Gewim-
mels auftaucht. Diese Formationen, die bei Deleuze und Guattari ineinander
übergehen, teilen alle dasselbe Medium oder Milieu - den „organlosen Kör-
per". Die Autoren erläutern den bekanntesten ihrer Begriffe in diesem Zusam-
menhang so: „Der organlose Körper ist kein toter Körper, sondern ein lebendi-
ger Körper, der um so lebendiger ist und von Leben wimmelt, als er das Orga-
nische und seine Organisation auffliegen läßt." 33
Das Milieu des Schwarms bildet ein Raum, mit dem etwas passiert ist, was
aus ihm etwas anderes als eine Umgebung macht. Die Konstitution dieses
Raumes hat sich von der geometrischen Logik des Ortes emanzipiert. Der Ort
ist vor allem Disposition; er ist weder bloß das abstrakte Ensemble von Koor-
dinaten, welche die relative Position eines festen Körpers angeben, noch selbst
in der Positivität eines bestimmten Körpers verfestigt. Der Raum des organlo-
sen Körpers geht weder der Materie voraus (als Dimension ihrer Form), noch
bliebe er als Selbstkonstanz zurück, wenn man, wie Kant es in seinem Gedan-
kenexperiment getan hat, alle Materie aus ihm abziehen würde. Er ist selbst
teilweise materiell und stellt die ubiquitäre Gelegenheit eines Übergangs zwi-
schen dem Materiellen und dem Immateriellen dar, eine Art pragmatisch-hal-
luzinogener Querachse, auf der z. B. Körperteile wie Hand oder Fuß zu einer
Vielheit gehören, statt die Elemente eines Organismus oder von diesem abge-
trennte Partialobjekte zu sein.
dass einige es weiter machen und jemand in diesem Weitermachen weiter geht. Bis die Initia-
tiven diese vernachlässigte Performanz irgendwann wieder als Neues entdecken und zum
Startpunkt einer populären Bewegung machen, mag sich im Weitergehen beim Weitmachen
die Gelegenheit zu einer Meisterschaft ergeben, die vielleicht der Schlüssel zu einer Größe
der Praxis ist. Vgl. dazu van Eikels 2006.
32 Deleuze/Guattari 1992, S. 4 7.
33 Ebd„ S. 48 (Hervorhebung K.v.E.).
56 Kai van Eikels
Dieser Über-Gang vom Abstand zur Gestalt, von der Positionsverlagerung ge-
geneinander zur Verwandlung ineinander und durcheinander macht das Agie-
ren des Schwarms aus. Die Bewegung des Vielen hält es nicht im Zustand der
Bewegung; sie drängt unmittelbar dazu, ihren eigenen Überschuss zu realisie-
ren. Im Tanz geschieht das in der ästhetischen Verdopplung der Bewegung
(die Bewegung ist mehr als sie selbst, weil sie gleichzeitig zu dem, was sie ist,
auch ihre Reflexion ist). Und die Organisationstheorie schließt, wie gesehen,
daran an, indem sie den ästhetischen Mehrwert abschöpft und als Mehr-an-
Effizienz in die Bewegung reinvestiert. Im Schizo-Schwarm geschieht es hin-
gegen durch das Verwandlung-Werden der Bewegung (die Bewegung wird
mehr als sie selbst, da sie alles, was sich bewegt, in einer anderen Gestalt im
Raum verteilt). Diese Poetik der Verwandlung könnte man als eine Romanti-
sierung von Vielheit bezeichnen: Verinnerlichung des Vielen - bzw. reflexiver
Austausch zwischen Innen und Außen durch eine quasi magische Transforma-
tion.
Tierschwärme, wie die Biologie sie untersucht, sind homogen in ihrer Art.
Es gibt weder gemischte Schwärme noch einen Austausch zwischen Schwär-
men unterschiedlicher Spezies, deren Bahn einander kreuzt. Trotz seiner Indif-
ferenz hinsichtlich vieler klassischer Unterscheidungsparameter (Klasse oder
Schicht, Herkunft, Besitz usw.) impliziert auch das Konzept des sozialen
Schwarms eine Konstanz der Beteiligten: lhr Handeln auf Distanz lässt ihre
bürgerlichen Identitäten unbehelligt. Sie können gerade deshalb effizient agie-
ren, ihr Mehr an Aktivität mit der Gelegenheit zum Erreichen eines kurzfristig
34 Ebd., S. 49.
Schwärme 57
37 Ebd., S. 325.
38 Ebd., S. 327.
Schwärme 59
weder mit den schwachen Minderheiten vom Typ der Devianten noch mit mi-
noritären Kräften im Sinne von Foucault oder Deleuze und Guattari identifi-
ziert. Schwärme sind majoritäre Eliten. Ihre Besonderheit, das, was sie zur
Elite macht, ist die lokale Initiative. Sie manifestiert sich nicht auf der Ebene
des Repräsentativen, sondern nur in einer verstärkten Performanz, doch geht
auch aus einer solchen Differenzierung des Performativen eine soziale Ord-
nung hervor. Diese Ordnung etabliert sich kraft dessen, was die Menschen tun;
und sie verortet Ungleichheiten nunmehr schlicht in der Faktizität dieses Tuns.
Um eine große Menge so zu organisieren, dass sie mobilisierbar ist (also
klassischerweise: im Krieg einsetzbar), bedarf es zweier Operationen: Man
muss sie zählen und in zahlenmäßig gegliederte Einheiten aufteilen, Divisio-
nen mit zehn, hundert, tausend Mann usw. Und man muss einige Individuen
aus diesen Einheiten herausnehmen, um daraus eine Elite zu bilden, eine Son-
dereinheit, die die Ordnung der Einheiten ergänzt und zugleich in einer gewis-
sen Bewegung hält. Die aktuellen Militärstrategien bei den Interventionskrie-
gen, bei denen es sich der Definition nach stets um Sondereinsätze handelt, die
ein besonderes Maß an Mobilität verlangen, folgen immer expliziter der Vision
einer Armee, die nur noch aus Elite-Einheiten besteht. 39 Der soziale Schwarm
scheint die freie, „zivile" Reorganisation einer solchen prinzipiellen Elite zu
sein. Ohne einen zentralen Befehl treten wie von selbst ein paar der Fähigsten
aus den institutionellen Strukturen der Gesellschaft heraus, um sich Sonder-
aufgaben zu stellen und diese mit unvergleichlicher Effizienz zu lösen. Der
Schwarm präsentiert die Elite als bloßes soziales Faktum. Er soll den Beweis
dafür erbringen, dass die Elite nicht auf einer gewaltsamen Selektion von
oben, d. h. auf einem Vorenthalten von Gleichheit beruht, sondern dass es sie
wirklich, mitten im Wirklichen gibt - ja, mehr noch: dass die Elite als ein kon-
kretes Sichausnehmen einiger aus der starren Architektur des Ganzen in ihrer
Eigendynamik zur Mehrheit tendiert.
Sind soziale Schwärme somit eine Art höherer Gesellschaft in einer post-
stratifikatorischen Gesellschaft? In Mille plateaux findet sich eine sonderbare
Verteidigung der „höheren Gesellschaft":
Es gibt nicht nur Menschen-Rudel, sondern auch solche, die besonders fein entwickelt
sind; die „höhere Gesellschaft" unterscheidet sich von der „Gesellschaft", weil sie der
Meute viel näher steht, und der Durchschnittsbürger macht sich vom Angehörigen der
„High society" ein bestimmtes, neidisches und unzutreffendes Bild, weil er die entspre-
chenden Positionen und Hierarchien, die Kräfteverhältnisse und die ganz besonderen
Ambitionen und Projekte nicht richtig erkennt. Die Beziehungen der „höheren Gesell-
schaft" decken sich nie mit gesellschaftlichen Beziehungen, sie stimmen nicht mit ihnen
überein. Selbst die „Manierismen" (die es in allen Rudeln gibt) gehören zu den Mikro-
Mannigfaltigkeiten und unterscheiden sich von den allgemeinen gesellschaftlichen Um-
gangsweisen oder Gebräuchen.40
Man kann dies als eine sehr präzise Vorstudie zum aktuellen Elitarismus des
Schwanns lesen: Schwänne erlangen erst dort die Prominenz wichtiger Hand-
lungsträger, wo die fonnalen Trennungen der sozialen Architektur aufweichen
oder ihren alten Sinn verlieren. Dennoch geht die Dynamik des Schwarms auf
eine Differenz des Sozialen zurück: eine immanente Differenz, die gleichwohl
den Sinn dessen, was hier „sozial" oder „gesellschaftlich" heißt, maßgeblich
verändert. Was in einem Schwarm passiert, was an kommunikativen Prozessen
vor sich geht, an Zeichen zirkuliert, an interpersonaler Arbeit verrichtet wird,
ist nichts anderes als das, was in der Gesellschaft allgemein passiert oder pas-
sieren kann (in diesem Sinn ist der Schwarm Teil „unserer" Gesellschaft). Und
doch entfalten diese kommunikativen Prozesse im Schwarm intensivere Wir-
kungen, induzieren die Zeichen, die im Schwarm zirkulieren, einen vielfältige-
ren, diskreteren und zugleich gehaltvolleren Gebrauch, erlangen die Beziehun-
gen zwischen den Mitgliedern des Schwarms eine gesteigerte performative
Relevanz (ohne ins tendenziell Asoziale der Freundschaft oder Liebe zu ent-
weichen) - so sehr gesteigert, dass die Verwaltung dieser Beziehungen als
Performance des Schwarms ausreicht, damit über dieses intensive, diskret ge-
haltvolle, in sich selbst gesteigerte und die Steigerung jeweils neu einrichtende
Beziehungsmanagement hinaus gar nichts mehr zu geschehen braucht, um
dem Schwarm eine privilegierte Handlungsmacht zu verleihen. Der Schwarm
als „höhere Gesellschaft" benötigt kein gemeinsames Projekt, in dem seine
Mitglieder sich umfassend über Ziele und Mittel verständigen. Die Ambitio-
nen und Projekte sind im Spiel der wechselseitig aufeinander abgestimmten
Bewegung bereits impliziert; und sie vergleichen sich nicht in einem Akt der
repräsentativen Explikation, sondern verbleiben im Zustand des vielfältigen
Impliziten, dessen, was Deleuze und Guattari die „Mikro-Mannigfaltigkeiten"
nennen.
Derartige Schwärme, Rudel oder Meuten stehen, wie schon Deleuze und
Guattari erkennen, nicht im Gegensatz zur Masse. Sie bilden sich innerhalb
von Massen und diffundieren an bestimmten Punkten selbst in die Masse
(„Meuten in Massen und umgekehrt"41 ). Die Rede von der höheren Gesell-
schaft meint hier nicht einen gehobenen Stand, eine Klasse oder Schicht, son-
dern das Höhere bezieht sich auf eine Steigerung des Sozialen inmitten einer
Gesellschaft. Die Angehörigen dieses Schwarms sind Aristokraten in einem
Sinne von aristeuein (dem griechischen Verb, das das Bessere als Handlung
bezeichnet), der erst in einer „deterritorialisierten", von festen Segmentierun-
gen und allgemein verbindlichen Verhaltensformen weitgehend befreiten Ge-
sellschaft evident wird. Das aristokratische Besser verweist hier auf ein sozia-
les Mehr, eine Steigerung, die das Soziale von sich selbst abhebt und es selbst
zu einem Medium der Steigerung (und nichts anderem mehr als der Steige-
rung) macht.
41 Ebd., S. 55.
Schwärme 61
Das Mitglied des sozialen Schwarms ist sozialer als der Massen-Mensch.
Dies nicht in dem Sinne, wie man häufig von Menschen sagt oder sie von sich
selbst sagen hört, dass sie „besonders sozial" seien - was eine persönliche Be-
reitschaft zu jener umfassenden Integration meint, als die man sich den sozia-
len Körper (die „Große Solidarität") vorstellt. Sozialer bedeutet hier vielmehr:
mit dem eigenen Agieren näher an jenem Ort, wo die sozialen Beziehungen,
die man unterhält, das Potenzial von „Mikro-Mannigfaltigkeiten" erschließen,
wo sie Zugang zu einem intensiven Austausch innerhalb eines Mannigfaltigen
gewähren, der ganz direkt eine starke soziale Performance ergibt. Nicht So-
zial-Arbeiter sein mit dem, was man für sich und andere tut, sondern sozialer
Virtuose: jemand, dessen Interaktionen immer schon eine Steigerung dessen,
was Kommunikation ausmacht, bedeuten (und so bewirken), dessen Aktivität
in einem Netzwerk von Beziehungen dieses Netwerk unaufhörlich differenziert,
statt es bloß passiv zu nutzen oder sich in einem umständlichen Plan von dessen
Aufbau und Bestandserhaltung zu verfangen. Sehwarmakteure sind, analog zu
dem populären Begriff „Multiplikatoren", vor allem Differenziatoren.42
Die Differenz, um die es bei der Frage nach der Zugehörigkeit zum Schwarm
geht, ist ihrem Wesen nach ein kommunikatives Limit - oder genauer: ein be-
stimmtes Verhältnis zum Limit, ein Umgang mit dem Limit oder eine Verwen-
dung des Limits zur eigenen Positionierung. Der Schwarm hat keinen inner
circ/e, keinen Kader, keine Führungselite, denn die Mitglieder des Schwanns
bilden alle einen gemeinsamen Rand. Die Formation des Schwarms ist eine
Verteilung des Randes, und man sollte die o.g. Bewegungs-Regeln von Rey-
nolds als Definitoren einer Randbildung lesen, die als solche um so definitiver
wird, als Zuschreibungen wie „Peripherie" und „Zentrum" dafür nur provisori-
schen Charakter haben. Der Schwarm entsteht vom Rand her, durch die Akti-
vität von Individuen, die der Linie, auf der sie sich bewegen, den Status eines
Randes geben, indem sie als Brücke zu einer anderen Assoziation fungieren
(Deleuze und Guattari gebrauchen in diesem Zusammenhang ein Vokabular,
das sich um Wörter wie ,,Ansteckung" und „Bündnis" organisiert). Diese Brü-
cken-Funktion, mit der sie andere ins Spiel bringen, verschafft den Individuen
einen besonderen Einfluss auf die „eigene" Gruppe. Und dieser Vorgang der
Randbildung wird im Schwarm selbst zu einem kollektiven Phänomen, zu
einem durchgängig Besonderen, da jedes Individuum Rand bildet - was einen
geschlossenen Verband ergibt, der doch etwas anderes ist als das Produkt
einer Schließung:
Jedenfalls gibt es immer dann, wenn ein Tier sich im Raum auf einer Linie befindet oder
im Begriff ist, eine Linie zu ziehen, der gegenüber alle anderen Mitglieder der Meute
sich links oder rechts auf einer Seite befinden, den Rand der Meute und eine anomale
Stellung: eine periphere Position, die bewirkt, daß man nicht mehr weiß, ob das Ano-
42 Zur Problematik der sozialen Virtuosität verweise ich auf mein Forschungsprojekt „Soziale
Virtuosität. Zur Ökonomie des Performativen in den Kulturen der Gegenwart" im Rahmen
der Projektgruppe ,,Die Szene des Virtuosen - Grenzfiguren des Performativen" (http://www.
stb-performativ.de/seitenlb 12.httnl).
62 Kai van Eikels
male noch zur Bande gehört, außerhalb steht oder sich an der beweglichen Grenze der
Bande befindet. Aber manchmal erreichen alle Tiere diese Linie oder nehmen diese dy-
namische Stellung ein, zum Beispiel in einem Mückenschwarm, wo ,jedes Individuum
der Gruppe willkürlich so lange eine andere Position einnimmt, bis es alle seine Artge-
nossen in ein und demselben Halbraum sieht und sich dann bemüht, seine Bewegung so
zu verändern, daß es in die Gruppe zurückkehrt, so daß die Stabilität im Ernstfall durch
eine Barriere gesichert wird".43
Kann ein solcher Ort erhöhter sozialer Performanz zur neuen Sphäre des Poli-
tischen werden? Ist der von einem solchen Rand her erschlossene Ort des
Handelns, an dem es keine Repräsentation der wechselseitigen Interaktionen
gibt, wo man einfach tanzt und wo das Tanzen reines Hervortreten, bis hinein
in seine äußerste Steigerung nichts als Organisation seiner selbst ist, tatsäch-
lich noch eine politische Öffentlichkeit? Die funktionelle Internalisierung des-
sen, was nur noch physisch extern bleibt, nimmt dem Öffentlichen als gemein-
samer Verwaltung des kommunikativen Limits einiger Akteure den Charakter
jenes Außen, der es klassischerweise ausgezeichnet hat: einer Umgebung für
das Handeln, die selbst immer auch Gegenstand des Handelns ist und somit
Gegenstand von Aussagen, die in ihr die Brüchigkeit eines symbolon erlangen.
Die Konfiguration des Raumes durch die vernetzte Sehwarmaktivität gibt
offenbar keinen symbolischen Ort mehr frei, an dem es eine Spaltung dieser
Aktivität in etwas geben könnte, was den Status einer politischen Entschei-
dung behauptete. Der soziale Schwarm setzt im Bereich des Gesellschaft-
lichen eine Etablierung des aktiven Lebens durch, die schließlich genau jenen
immanenten Bruch des Handelns tilgt, der aus etwas, was jemand tut, eine öf-
fentliche Handlung macht.
Was folgt aber daraus? Sind wir dort, wo der öffentliche Raum zum Ak-
tionsfeld des Schwarms wird, weiter denn je von einem politischen Handeln
entfernt? Oder gilt es angesichts jenes eigenartigen Mehr, das den Schwarm
auszeichnet, die sehr alten Vorurteile der politischen Philosophie gegen das
Kollektiv als Handlungsinstanz neu zu überdenken? Gäbe es einen zeitgemä-
ßen Begriff des Politischen, der den deregulierten Aktivismus des Schwär-
mens auf etwas wie eine politische Entscheidung zu beziehen vermag? Oder
müssen wir davon ausgehen, dass politisch motiviertes Handeln heute nur
noch in der Faktizität seines Erfolgs wiederzufinden ist, wie alles andere auch,
so dass Veränderung zu einem ausschließlich ökonomischen Phänomen wird:
als Effekt einer Gelegenheit, durch die Besetzung einer Szene des Handelns in
strategischer Allianz mit ein paar anderen die eigene Performance zu steigern?
Und wenn ja - ginge es für ein politisches Denken nicht darum, eben das
Faktische des Erfolgs in dieser Hinsicht neu zu differenzieren?44
43 Deleuze/Guattari 1992, S. 335 (Hervorhebung K.v.E.). Die zitierte Passage über den Mücken-
schwarm stammt aus Rene Thom, Stabilite structurelle et morphogenese, Paris 1977, S. 319.
44 Die Überlegungen und Fragen, die ich in diesem Beitrag formuliert habe, gehen zurück auf
Diskussionen in der Arbeitsgruppe „Bewegung, Rhythmus, Raum" des Sonderforschungsbe-
reichs Kulturen des Performativen, die wir von Januar 2005 bis Februar 2006 geführt haben.
Ich möchte allen Beteiligten an dieser Arbeitsgruppe herzlich danken.
Schwärme 63
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Isabel Gil
DIE SCHWERE
1. Der Gründliche
Ein Forscher ich? Oh spart dies Wort! -
Ich bin nur schwer - so manche Pfund'!
Ich falle, falle immerfort
Und endlich auf den Grund!2
Für Hinweise auf Almada Negreiros Prinzessin mit den eisernen Schuhen danke ich Paulo
Campos Pinto und dem Theater-Museum Lissabons. Klemens Detering danke ich für die Ma-
nuskriptrevision.
2 Nietzsche 1988, S. 363.
Die Schwere 65
In der Tat sind dichotomische Metaphern wie „leicht" und „schwer'' grund-
legende Mechanismen, die unsere Erfahrungen und Erkenntnisse strukturieren,
wie es George Lakoff und Mark Johnson 1986 in Metaphors we live by aus-
führlich erörtert haben. Groß und klein, dick und dünn, richtig und falsch,
leicht und schwer sind Orientierungsmetaphern, die durch Ausdifferenzierung
unserer Welt Kohärenz und Bedeutung geben. In der Tat impliziert jede Aus-
sage einen Bezug auf ihr Gegenteil, so dass das „Große" das „Kleine" mit auf-
ruft und „das Böse" „das Gute" - und Leichtigkeit auf den Begriff der Schwere
verweist. 3
In dieser Hinsicht wird auch dem Diskurs der Leichtigkeit, der sich auf das
Kontingente, das Ephemere und das Vorübergehende gründet, eine Strategie
der Schwere entgegengestellt. Dabei sollte dieser Diskurs der Schwere nicht
bloß als das ausdifferenzierte Andere des vorherrschenden Topos der Leichtig-
keit verstanden werden, sondern als alternative Erzählung derselben Modeme. 4
Im Sinne Julia Kristevas wird die Schwere zu einer genotextuellen Erzählung
der phänotextuellen Auffassung des Leichten als Habitus der Modeme.
Um die diskursive Auffassung von Schwere und Leichtigkeit als antagonis-
tische, aber auch interreferenzielle Topoi der Modeme zu ergründen, werde
ich mich im Folgenden dem Tanz zuwenden. Ich möchte diese konflikthaften
Strategien kultureller Kommunikation diskutieren und ihre Sinnkonstellatio-
nen in Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen epistemischen Diskur-
sen wie der Anthropologie, der Semiotik, der Philosophie, der Politik und der
Soziologie erörtern. Als repräsentative Beispiele für Körper- und Rhythmus-
Figurationen als Verkörperungen sozialer und ästhetischen Kommunikations-
strategien werde ich mich zwei besonderen Formen der Remediation zuwen-
den. Die Medienwissenschaftler Jay David Boiler und Richard Grusin nennen
Remediation den anthropomorphischen Prozess, durch den eine gewisse Forrn
medialer Repräsentation frühere Formen verbessert oder verändert. 5 Dieser
Begriff lässt sich besonders produktiv auf eine gewisse Archäologie der mo-
dernen Tanzästhetik der Schwere anwenden: Zum einen soll es darum gehen,
die Ballets Russes als Vermittler eines neuen Körperhabitus zu würdigen, zum
anderen darum, die epigonale Nachahmung dieses Habitus im Rahmen der
ersten portugiesischen Modeme zu diskutieren, die den Impuls zur Gründung
3 Schon Ferdinand de Saussure in Cours de Linguistique Generale (1908-1909) verweist auf die
in die Sprache eingearbeiteten Differenzen als Grundlage jedes Bedeutungssystems: „Ce qui im-
porte dans le mot, ce n'est pas le son lui-meme, mais !es differences phoniques qui permellent
de distinguer le mot de tous !es autres, car ce sont elles qui portent la signification. [„.] Dans
la langue i1 n'y a que des diffärences sans terme positif' (de Saussure 1972, S. 163, 166).
4 Gabriele Brandsteller hat schon 1995 in der Studie Tanz-Lektüren auf die paradigmatische
Bedeutung des modernen Tanzes für den Topos des leichten hingewiesen (1995, S. 38f.). Ni-
jinskys Le Sacre d11 Printemps leitete 1913 einen Umbruch in dieser ästhetischen Weltauffas-
sung ein, indem der Choreograph und Tänzer das Paradigma der Leichtigkeit durch heftige,
schwere, erdgebundene Gebärden und Bewegungen subvertierte. Siebe hierzu Brandsteller
1999, S.385ff.
5 Siehe Bolter/Grusin 2000, S. 273.
66 Isabel Gil
einer modernen Tanzkultur in Portugal gab. Zuletzt möchte ich versuchen, die
im Jahr 2004 durch den algerischen Choreographen Heddy Maalem vorge-
nommene postkoloniale Refiguration von Le Sacre du Printemps und seine
postmoderne Auffassung des Diskurses der Schwere neu zu interpretieren.
Schon fast ein Jahrhundert vor Kundera wurde die Leichtigkeit als paradigma-
tischer Skandal der Modeme wahrgenommen, als ihr Glanz und Elend. Einer-
seits wurde sie im Rahmen einer materialistischen Ontologie denunziert, die
die Schwere der realen Produktionsverhältnisse den „leichten" geistigen Er-
rungenschaften gegenüber privilegierte. 1848 treten Karl Marx und Friedrich
Engels in ihrem Kommunistischen Manifest als Propheten düsterer Zeiten auf:
„Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen
Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veral-
ten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft,
alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre
Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzu-
sehen."6 Die Leichtigkeit der Modeme erweist sich für die Verfasser des Ma-
nifests als unüberwindbare Aporie. Einerseits ist sie Inbegriff der Überwin-
dung gesellschaftlicher Starrheit, der Zerstörung bzw. Verdampfung aller fest
stehenden Verhältnisse und Privilegien der herrschenden Schichten. Anderer-
seits ist Leichtigkeit eine Konsequenz von Kapitalflüssigkeit und -flüchtigkeit.
Die zweite Hälfte des Satzes befasst sich mit dem Ruf nach einer neuen Form
der Festigkeit, einer erneuerten Schwere als Gegengewicht zur flüchtigen Di-
mension des leichten. Dieser materialistischen Sichtweise zufolge ist Leich-
tigkeit das Symptom einer Dysfunktion, die eine neue, auf einer erneuerten
Begrenzung basierende Art von Schwere verlangt. Zygmunt Bauman, der in
seinem Buch Liquid Modernity (2000) auf die produktive Spannung zwischen
der Schwere- und der Leichtigkeits-Metapher der Modeme hinweist, vertritt
die Ansicht, dass es der frühen Verurteilung des Festen durch die Modeme
nicht darum ging, die Aspekte Gewicht und Solidität ganz zu beseitigen, son-
dern um eine Bewegung hin „to clear the site for new and improved solids". 7
Die totalitaristische marxistische Utopie zielte auf eine Serie der Ersetzung
von mangelhaften und defekten Festkörpern durch andere, die verbessert und
besser auf diejenigen abgestimmt waren, die an eine „ vorzuziehende Zukunft"
glaubten.
Andererseits wurde Leichtigkeit sowohl aus der Perspektive einer kritischen
Ontologie wie der Nietzsches als auch aus einem ästhetisch-sozialen Gesichts-
punkt wie dem Baudelaires als Movens einer neuen Ontologie und als ein
neuer symbolischer Horizont allen Seins gefeiert. Für Nietzsche trägt Leich-
tigkeit die Zeichen eines Transzendenzdiskurses, eines Weges, um den Geist
der Schwere - wie er es nannte - zu überwinden, also die Last der moralischen
Tradition abzuschütteln und die Unfähigkeiten einer zerfallenden kulturellen
Struktur zu überwinden. Obwohl dieser Ausdruck zu einem oft wiederholten
Topos einer philosophischen Unternehmung wurde, die die sarkastische Kritik
des sozio-kulturellen Systems inszenierte, gibt es ein Zitat aus Die fröhliche
Wissenschaft, mit dem der Philosoph ein bemerkenswertes Portrait der Leich-
tigkeits-Schwere-Dichotomie zeichnet:
„Gedanken über moralische Vorurtheile", falls sie nicht Vorurtheile über Vorurtheilc
sein sollen, setzen eine Stellung ausserhalb der Moral voraus, irgend ein Jenseits von
Gut und Böse, zu dem man steigen, klettern, fliegen muss, - und, im gegebenen Falle,
jedenfalls ein Jenseits von unsrem Gut und Böse, eine Freiheit von allem „Europa", letz-
teres als eine Summe von kommandirenden Werthurtheilen verstanden, welche uns in
Fleisch und Blut übergegangen sind. Dass man gerade dorthinaus. dorthinauf will, ist
vielleicht eine kleine Tollheit, ein absonderliches unvernünftiges „du musst" - denn
auch wir Erkennenden haben unsre Idiosynkrasien des „unfreien Willens"-: die Frage
ist, ob man wirklich dorthinauf kann. Dies mag an vielfachen Bedingungen hängen, in
der Hauptsache ist es die Frage darnach, wie leicht oder wie schwer wir sind, das Pro-
blem unsrer „spezifischen Schwere". Man muss sehr leicht sein, um seinen Willen zur
Erkenntniss bis in eine solche Feme und gleichsam über seine Zeit hinaus zu treiben [.. .].
Man muss sich von Vielem losgebunden haben, was gerade uns Europäer von Heute
drückt, hemmt, niederhält, schwer macht. 8
lösbares Paradox durch die Materie des schweren Körpers und die Diskurssys-
teme, mit denen er beladen ist.
Baudelaires Portrait des Malers Constantine Guys als Le peintre de la vie
moderne von 1863 präsentiert dasselbe konzeptuelle Paradox und dieselbe
Ambivalenz als grundlegend für den Geist der Modeme. Das berühmte Zitat
über die Modeme daraus wird oft nur halb zitiert. Tatsächlich schreibt der
Dichter: „La modemite, c'est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitie
de l'art, dont l'autre moitie est l'etemel et l'immuable."9 Die vergängliche
Leichtigkeit der Modeme ist nur die eine Hälfte eines tieferen Fundaments,
das auf jener anderen Hälfte des Ewigen, Schweren, Unveränderbaren aufbaut.
In der Tat bedeuten die kontrastiven Metaphern von Leichtigkeit und Schwere
das Zusammenprallen der Machtdiskurse, die die Energien der Modeme bün-
deln: der Drang, die Bewegung von sich abzutrennen, sie zu konservieren, zu
de-konstruieren und wieder neu aufzubauen. Die obsessive Beziehung der
Epoche zum Schaffen und Zerstören kommt komprimiert im Film der Brüder
Lumiere, Demolition d'un mur (1895), zum Ausdruck. Der Film, der die Zer-
störung zeigt, wurde durch seine Rückwärtsprojektion ergänzt, so dass der
Zerstörungsprozess zugleich als Antizipation von Konstruktion wahrnehmbar
wurde.
Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, auf die die Makroerzählung der
Modeme verweist, ist zugleich in einer zu tragenden und zu ertragenden
Schwere verkörperlicht. Sie wird immer schon von einer subversiven Semiose
der Schwere unterminiert. Schwere stellt deshalb eine Art unsichtbares Perfor-
mativ dar; der Diskurs der Schwere zeigt, dass Leichtigkeit auf einem Gesetz
basiert, das sie, weil sie keine absolute Transzendenz erreichen kann, nur in je
relativen Bewegungen durchbrechen kann. Und sie ist auch als ein im Sinne
Derridas zusätzlicher Bedeutungsträger (supplement) 10 produktiv, d. h. als eine
Form der Repräsentation, die jenseits der Grenzen derselben liegt und das Pro-
jekt der Gewichtlosigkeit gleichzeitig unterstützt und zerstört.
Auf der künstlerisch-ästhetischen Ebene manifestiert sich dieses Projekt
von Leichtigkeit, das auf Schwere basiert, in seiner ganzen Aporie im Tanz-
akt. Lässt das ephemere Fließen der Bewegung den modernen Tanz selbst zu
einem Symbol der Modeme werden, so verhält sich Schwere wie seine supple-
mentäre Figur- und zwar auf drei Ebenen:
Die erste ist ästhetisch und selbstreferenziell und bezieht sich auf die Ge-
burt des modernen Tanzes aus dem Geiste des Steins. Wie Gabriele Brandstet-
ter ausführlich gezeigt hat, 11 entstand der frühe moderne Tanz zu Beginn des
20. Jahrhunderts aus einem Steinarchiv; die zahlreichen Reliefs der griechi-
schen und römischen Antike ergaben einen Gebärdenkatalog für die prime
movers wie Isadora Duncan, Ruth St. Denis oder Ida Rubinstein. In der Tat
wurde diese Erneuerung des Tanzes in zweifacher Hinsicht aus der kulturellen
Erinnerung geboren und in Stein geschrieben - einerseits, weil in dieser Reme-
diation die antiken Steinbilder durch den Tanz selbst neu vermessen wurden,
und andererseits, da die Gebärden der Tänzer sich wiederum als neue Steinbil-
der präsentierten. Ein bemerkenswertes Beispiel ist sicherlich Bourdelles La
danse. /sadora et Nijinsky, ein 1913 für das Theatre des Champs-Elysees ge-
schaffenes Relief, ein Zitat des Geistes der Antike, aber auch ein Statement
des ultimativen Wunsches nach der Fixierung des Schweren, das in der flüch-
tigen Transzendenz der Performance fortwährend entschwindet. Wie schon
Domenico da Piacenza Mitte des 15. Jahrhunderts in seinem Traktat De /a arte
di balare et danzare schrieb, ist Tanz letztlich eine Frage der Erinnerung, weil
sein Ankerpunkt nicht der Körper mit seinen fließenden Gebärden ist, sondern
die schwere und strukturierte Oberfläche des Bildes oder der Skulptur. 12 Dar-
über hinaus postuliert Carlo Blasis in seinem Code of Terpsichore, publiziert
in London 1830, nicht die Virtuosität des Tanzes, sondern eher seine schwere
materielle Gravur als Ziel und Höhepunkt jeglicher Tanzperformance. Indem
er die Lust des Tanzes mit der des Maiens vergleicht, argumentiert er: „A
good dancer ought always to serve for a model to the sculptor and painter.
This is perhaps the acme of perfection and the goal that all should endeavour
to reach. Throw a sort of abandon into your positions, groups and arabesques;
let your countenance be animated and expressive." 13 Die Möglichkeit des Ein-
rahmens und Einfassens in Stein, in die Photographie oder die Malerei macht
die Fixierung der Leichtigkeit zu einer Vorbedingung ihrer Anziehungskraft in
der Modeme.
Auf einer zweiten Ebene ·erscheint Schwere als eine Metapher innerhalb
von Machtdiskursen, die den bewegenden Körper durchdringen. Als solche
gehört sie zu einer Strategie, die den dominierenden, hegemonialen Begriff
von Performance stützt, aber ebenso auch subversive Effekte der Unterbre-
chung hervorbringt. Ich benutze den Begriff der Macht im Foucault'schen
Sinne als eine produktive Subjekt-konstituierende Struktur, die Wissen ver-
breitet und sowohl Momente der Unterdrückung als auch solche der Emanzi-
pation impliziert. Macht wird so am besten als soziale und politische Erzie-
hung des Körpers verstanden, so dass alle Macht Bio-Macht wird. 14 Zwischen
Training, Koerzivkraft und Virtuosität baut der Tanz in der Tat auf einer star-
ken Struktur der Dressur auf, um die Freiheit der Bewegung zu vermitteln. Zu-
dem ist der Tanzakt oder die Choreographie immer situiert, historisch bedingt
12 Da Piacenzas Theorie wird von Giorgio Agamben im Buch Nymphae aufgegriffen. Dort heißt
es: „Für Domenico ist folglich der Tanz eine Tätigkeit, die im Wesentlichen auf der Ebene
des Gedächtnisses abläuft, er ist die Zusammenstellung einer zeitlich und räumlich geordne-
ten Abfolge von Phantasmen. Der eigentliche Ort des Tänzers ist nicht im Körper und dessen
Bewegung, sondern im Bild als ,Medusenhaupt', als nicht starre, sondern sowohl mit Erinne-
rung als auch dynamischer Energie geladene Unterbrechung" (Agamben 2005, S. 12).
13 Kirstein 1969, S. 238.
14 Siehe hierzu Foucault 1975, S. 185ff. und auch Mauss 1934, S.455.
70 Isabel Gil
und ebenso wie von der Subjektivität des Künstlers auch von sozialen, politi-
schen, sexuellen, ökonomischen oder religiösen Diskursen bestimmt.
Die dritte Ebene beruht auf der realen Materialität des Tänzer-Körpers als
ernüchternder Gegebenheit, die den Traum von Grazie und Transzendenz be-
droht. Vaclav Nijinskys grandjetes haben das Publikum nicht wegen der au-
ßerordentlichen in sie gelegten Energien beeindruckt, sondern durch die Illu-
sion eines ätherischen Körpers, der in der Luft innezuhalten schien. Tamara
Karsavina erzählt in ihren Memoiren Theatre Street die Anekdote davon, dass
Nijinsky einmal auf die Frage, ob er es schwierig gefunden habe, sich beim
Sprung so lange in der Luft zu halten, entgegnete: „No! No! Absolutely! One
just has to jump up and then, once you're up there, put in a slight pause." 15
Eines der Versprechen und eine der Enttäuschungen des Tanzes, besonders in
der Art des ballet d'etevation, ist eben die Illusion der Gewichtsaufhebung,
eine Illusion, die alsbald durch die Berührung des festen Bodens durch die
Füße des Tänzers zerstört wird.
Der portugiesische Philosoph Jose Gil vertritt in seinem einflussreichen Es-
say über den Tanz, Movimento Total. 0 Corpo e a Danfa (2001 ), die Ansicht,
dass die Bezwingung des Gewichts das ultimative Ziel des Tänzers sei. Da der
Tänzer nicht in der Lage ist, die schwere Materialität von Fleisch und Muskeln
zu überwinden, jedoch trainiert, sich dieser Wirklichkeit zu widersetzen, ist er
in einem unauflöslichen Paradox gefangen. Bewegung kämpft darum, „Gewicht
in reine Schwerkraft umzuformen", 16 so dass der Tänzer, befreit von seinem
wirklichen Gewicht, sein „spezifisch virtuelles Gewicht" erreichen kann. So
wie für Nietzsche das spezifische Gewicht des Menschen mit konventionellen
moralischen Werten beladen ist, entsteht Jose Gils „spezifisch virtuelles Ge-
wicht" von jenem spezifischen Verhandlungs-Punkt aus, an dem des Tänzers
Konzentration, Training und Emotionen in einer Kinesis zusammenlaufen, die
die Materie und die der Gravitation entgegenwirkenden Kräfte ausbalanciert.
So wird das Paradox des schweren Körpers durch die Balance des Körper-
systems gelöst, und zwar, wie Susanne Langer meint, nicht nur physisch und
mechanisch, sondern auch virtuell, da das, was sich bewegt, ein „virtueller
Körper" ist und eben keine muskuläre Fleischmasse. Gewicht gilt hier nicht
mehr als ein (zu kontrollierender) Nachteil, der auf ein System von Körperge-
setzen der Schönheit, Leichtigkeit und Eleganz zurückverweist, sondern es
wird zu einer Bedingung der Balance, des Gleichgewichts, das die von der Be-
wegung verursachte Instabilität auffängt. Bill T. Jones' Arbeit mit stark be-
leibten Tänzern in seinen Performances, etwa in Still/Here von 1994, ist ein
repräsentatives Beispiel für eine Gewichtsrekonstruktion, die nicht als Gegen-
modell zur fließenden Bewegung verstanden werden will, sondern eher als ein
anderer Diskurs der Bewegung, der das Muster der Leichtigkeit in der Schwere
findet und ergründet.
17 Die erste portugiesische Modeme umfasst die Generation von Dichtern und Künstlern, die
sich rund wn die Zeitschrift Orpheu (1915) versammelte und. von Symbolismus und Decadence
ausgehend, eine Wende zur Ästhetik der Avantgarde, insbesondere nach dem Muster des
italienischen Futurismus, durchlief. Bekannte Namen dieser Gruppe sind die Dichter Fernan-
do Pessoa und Märio de Sa Cameiro, oder die Künstler Amadeo de Souza-Cardoso, Almada
Negreiros und Santa Rita Pintor. Die Wende zum Futurismus ist in der Zeitschrift Portugal
Futurista (1917) beispielhaft verkörpert. Diese Gruppe unterscheidet sich von späteren For-
men der portugiesischen Modeme, wie der Presenr;a, die weniger avantgardistisch, aber stär-
ker politisch engagiert waren.
18 Appiah weist auf eine erneuerte Form des Kosmopolitismus hin, die aus dem Liberalismus
hervorgeht, ihn verbessert oder umformt. Das Ziel ist, „to construct a state and society that
take into account the ethics of identity without losing sight of the values of personal auto-
nomy. [„.] Cosmopolitanism values human variety for what it makes possible for human
agency, and some kinds of cultural variety constrain more than they enable. („.] But the
fundamental idea that every society should respect hwnan dignity and personal autonomy is
more basic than the cosmopolitan love of variety; indeed, as 1 say, it is the autonomy that
variety enables that is its fundamental justification" (Appiah 2004, S. 268).
19 Vgl. de Certeau 1984.
72 Isabel Gil
Prozess, so dass man, wenn man dieses Konzept auf die genannten Performan-
ces anwendet, in der Tat beide Bewegungen als Hinüberführung durch Raum,
Zeit, Diskurse und Machtsysteme verstehen könnte. Maalems Choreographie
scheint zudem, metaphorisch, den Geist des toten Körpers von Stravinsky und
Nijinskys Ballett in eine neue Art von postkolonialer Darstellung zu überset-
zen.20
20 Zum Nachleben von Nijinskys Sacre siehe Berg 1988 und Brandsteuer 1999.
21 Performance wird hier im Sinne von Peggy Phelans Konzept verstanden, als eine ästhetische
und kontingente Form der Inszenierung, die auf der flüchtigen Erfahrung von Verkörperung
basiert, auch wenn sie das Publikum mit nicht-theatralischen Medien interpelliert (Phelan
Die Schwere 73
l 998, S. 2). Hans-Friedrich Bormann und Gabriele Brandstetter ( 1999, S. 50) bezeichnen Per-
formance als „die Erfahrbarkeit von Medialität selbst". Eine umfangreiche Erklärung des Be-
griffs und seiner Verlagerung in der zeitgenössischen Kulturtheorie vom Fokus auf Sprech-
akten (Austin) hin zu körperlich erfahrbaren Handlungen wird von Erika Fischer-Lichte erör-
tert (2004, S. 31-42).
22 So beschreibt Almada die Ambivalenz der Frau in Mima-Fataxa: ,,Aquella que ri nos relam-
pagos/e que me beija nas margens dos espelho s; Aquella cujo chäle embrulha o sol quando
cai no chilo;/e que tem as mil.os flexfveis como as ligas a meio das coxas;/Aquella que tem a
forma do que faz calar,/Aquella que falla co'o andar,/Aquella que sabe mentir,/Aquella cujo
olhar da Ilusll.o/ e que tem na voz o timbre dos repuxos;/A dos olhos transparentes da distan-
cia a deformar-se em Vicio que regressa;/ Aquella que se sente nos joelhos;/Celle qui est de
plus en plus danseuse depuis Degas;/Duncan dansant toute nue la Marchc Militaire;/Atten-
tion!" (Portugal Futurista 1917, S. 26).
23 Almada Negreiros 1982, S.47.
24 „Portuguez, aten~il.o! E a ti-proprio que nos dirigimos. Vimos propor-te a tua liberdade!
Escuta!'' (Portugal Futurista l 917, S. 1).
74 Isabel Gil
Die wunderbare Dimension der Ballets Russes liegt in der kompletten Serie dieser allge-
meinen Aspekte [ ...] Bestialität, Männlichkeit, dem Spontanen, dem Kindlichen, dem
Zweifelnden, der Naivität, dem Abstrakten, dem Konkreten, dem Positiven, dem Nütz-
lichen, dem Intelligenten, dem Synthetischen, dem Vollendeten [ ... ]25
Für Almada bedeuteten die Ballets Russes nicht die Verwirklichung freiheitli-
cher Ideale, sondern die völlige Ausdehnung der Bewegung, die Beherrschung
und Ausschöpfung des Körpers bis hin zur Verdrehung und die Formulierung
der physikalischen Unmöglichkeit mittels Disziplin.
Die außerordentlichen Errungenschaften der modernen Kunst und der Wissenschaft ver-
körpernd, haben die BALLETS RUSSES alle Vorteile, um das Verständnis der Synthese
der Einstellungen der Jugend bis auf den Großen Sieg der modernen europäischen Zivi-
lisation zu ermöglichen: das Maximum an Disziplin und die absolute Beherrschung der
Individualität. 26
25 Ebd.
26 „Tendo reunido em si extraordinärias rializai;:öes da Arte modema e maravilhosas aplicai;:öes
da sciencia os BAlLADOS RUSSOS dispöem de todas as vantagens para facilitarem a com-
prehensilo das atitudes syntheses de toda a durai;:ilo da juventude ate esta Grande Victoria da
Civilizacilo Modema Europeia; 0 mäximo da disciplina individual. o dominio absoluto da
personalidade" (ebd., S. 2).
27 Die Ballets Russes wurden später auch für nationalistische Zwecke benutzt, insbesondere
durch die Gründung des Balletts Verde Gaio (Grüne Aster) 1936 durch den Propaganda-Sek-
retär des Salazar-Regimes, Antonio Ferro. Die Ballets Russes galten als Inspiration für die
Aufführung traditioneller oder eher folkloristischer Tänze, die dazu dienen sollten, das Natio-
nalgefühl zu stärken.
e
28 „A expressilo de Arte BAILADO nilo inteiramente ignorada em Portugal e näo o porque e
n6s somos autores de BAILADOS alguns dos quais ja rializados" (ebd.).
29 Die Prinzessin mit den eisernen Schuhen (A Princesa das Sapatos de Ferro), 1912; Der Traum
der Rose (0 Sonho da Rosa), 1915; Märchen (Historia da Carochinha), 1916; Die Legende
von lgnez (Lenda d'Jgnez). 1916; Marktballett (Bailado da Feira) und Joujous (als „in Vor-
bereitung" angekündigt).
Die Schwere 75
behauptet, mit Sicherheit zu wissen, dass es erst am 10. April 1918 im Säo
Carlos-Theater uraufgeführt wurde. Dies wäre eine von den ,,marraines de
guerre" (einer Prominentengruppe, die Gelder zur Unterstützung der Truppen
sammelte) organisierte Aufführung. Es ist nicht mit Sicherheit zu klären, wann
°
und ob dieses Ballett tatsächlich aufgeführt wurde. 3 Für unsere Betrachtung
gibt es jedoch zwei wichtige Elemente, denen Beachtung geschenkt werden
muss, da sie die Geburt des modernen Tanzes in Portugal ermöglichten: einer-
seits ein Element sozio-ökonomischer Art, andererseits ein ästhetisches. Zu-
nächst gab es in der Zeit zwischen 1912 und 1918, besonders im annus mira-
bilis 1917, seitens der einflussreichen Bourgeoisie und bestimmter Kreise des
Adels eine bewusste Unterstützung der neuen Formen des Körperausdrucks,
die als eifenständige Kunst und emanzipierte Form ins Theater aufgenommen
wurden. 3 Das zweite Ereignis vollzog sich im Bereich der Kunstszene in der
Lissabonner Ballets Russes-Saison vom Winter 1917/1918.
Seit der ersten Aufführung der Tanzgruppe Dhiaghilews am 18. Mai 1909
in Paris waren die portugiesischen Futuristen enthusiastische Bewunderer die-
ser Truppe. Almada Negreiros erfuhr von den Pariser Aufführungen nur über
seine portugiesischen Freunde, die in Paris oder Berlin die Ballets Russes ge-
sehen hatten, und über Theatermagazine, in denen die Stücke diskutiert wur-
den, wie z.B. der Comoedia, die ihm Sa Carneiro regelmäßig schickte.
Sein Interesse wuchs mit der Ankunft eines berühmten Exilantenpaars, das
vor dem Krieg floh: den Künstlern Robert und Sonia Delaunay. Ihre Schilde-
rungen wirkten so stark auf Almada, dass er plante, ein Madame Sonia Delau-
nay-Terk gewidmetes Ballett mit dem Titel Ballet Veronese et Bleu zu schrei-
ben, das er jedoch nie vollendete.
Die Saison der Ballets Russes in Portugal mag eine der ärmsten in ihrer Ge-
schichte gewesen sein. Lydia Sokolova (Hilda Munnings) erinnert in ihren
Memoiren Dancing with Dhiaghi/ev die Aufführungen in Lissabon als die
schlechtesten, die sie je gegeben hätten. 32 Der Zeitabschnitt 1915-1918 war
eine eher dürftige Zeit für Dhiaghilew und seine Tanztruppe. Trotzdem wurde
in dieser unglücklichen Zeit Leonid Massine als Choreograph ausgebildet, und
Stravinsky und Prokofiev arbeiteten an Stücken, die direkt nach Kriegsende
aufgeführt wurden. Darüber hinaus experimentierte die Truppe mit abstrakten
und kubistischen Verfahren, was sich besonders in Cocteaus/Saties und Picas-
sos Gemeinschaftsarbeit Parade ( 1917) zeigt.
1917, nach einer Tournee durch die USA, Brasilien und Argentinien, war es
für Dhiaghilew sehr schwer, Engagements im vom Krieg geschüttelten Europa
zu finden. Der spanische König Alfonso Xlll. war ein enthusiastischer Be-
30 Sichere Daten gibt es bezüglich der Aufführung vom Traum der Rose (1916). Siehe Santos
1993, s. 11.
31 Am Schloss der Rose in Lissabon organisierte Helena da Silveira de Vasconcelos e Sousa
(*1886), die Tochter des Grafen von Castelo Melhor, verschiedene Divertissements und Bal-
letts, die insbesondere von Adligen vorgeführt wurden.
32 Sokolova 1960, S. 63.
76 Isabel Gil
wunderer der Gruppe und lud Dhiaghilew für eine Vorstellung nach Madrid
ein. Die erste spanische Saison begann am 26. Mai, und im Herbst kehrten sie
für eine weitere Vorstellung zurück; danach jedoch war keine Arbeit mehr zu
finden. Schließlich bekam Dhiaghilew eine Einladung für die Wintersaison
1917 in Lissabon. Die Compagnie kam am 2. Dezember in der Hauptstadt an
und wollte ab dem 6. Dezember im zirkusartigen Theater Coliseu dos Recreios
auftreten. Die Zeitungen kündigten die Saison großartig an, 33 aber das portu-
giesische Publikum kam dem Aufruf nicht im erwarteten Maße nach. Die Vor-
stellungen im Coliseu-Theater wurden vor allem von der Mittelschicht und
einfacheren Bevölkerungsschichten besucht, während die gehobenen Schich-
ten und der Adel die nationale Oper, das Theatro S. Carlos, bevorzugten, das
seit Kriegsbeginn geschlossen war. 34
Es gab aber noch einen anderen, tiefer liegenden Grund für das Scheitern
der ersten Aufführung. Als am 5. Dezember Massine, Dhiaghilew und der sie
begleitende Almada zum Theater wollten, um die Aufführung des folgenden
Tages vorzubereiten, wurden sie von den Bewegungen der stattfindenden poli-
tischen Revolution überrascht, die den Diktator Sid6nio Pais zu einer kurzlebi-
gen, knapp ein Jahr dauernden Diktatur führte (er wurde im Dezember 1918
umgebracht). Dhiaghilew, der Revolutionen hasste, beschimpfte die Revolu-
tionäre so stark, dass sie zurück ins Hotel (Avenida Palace) flüchten, sich in
ihren Räumen verbarrikadieren und die Fenster zum Schutz vor Kugeln mit
Matratzen verstellen mussten. Almada war gezwungen, mit den Gästen meh-
rere Tage im Hotel zu bleiben, während auf den Straßen die Kämpfe tobten;
auch das Hotel wurde getroffen. 35 Sokolova erinnert, dass es sogar zu Lebens-
mittelmangel kam, da niemand das Hotel verlassen konnte, um Proviant zu be-
sorgen. 36 Am 9. Dezember endeten die Kämpfe auf den Straßen, aber sie for-
derten ihren Tribut: 70 Tote und über 500 Verletzte. Das Coliseum war so
stark getroffen, dass bei der am 13. Dezember endlich stattfindenden ersten
Aufführung überall Geschosslöcher zu sehen waren; das Dach war halb zer-
stört, und es herrschte eisige Kälte. Ein Zuschauer berichtete später, dass in
C/eopatre eine Tänzerin mit den Zähnen klapperte, während sie tanzte. 37
Obwohl keine der innovativsten Schöpfungen zu sehen war (wie Nijinskys
Choreographien, Stravinskys Musikstücke oder Parade), hinterließen die Bal-
letts einen starken Eindruck von Neuheit beim Publikum. Das Programm der
ersten acht Aufführungen beinhaltete Les Sy/phides (1909), Sheherazade
(1910), Le Spectre de /a Rose (1911), Fürst lgors „Polowetzer Tänze" (1909),
Le Solei/ de /a Nuit (1915), getanzt und choreographiert von Massine, und Le
Carnava/ ( 1910). Letzteres sollte einen starken Einfluss auf Almada ausüben,
was sowohl an den Skizzen, die er auf ihrer Basis erarbeitete, als auch an sei-
nen späteren Zeichnungen Thamar und Cleopatre zu sehen ist (Abb. 1).
'l•SCl"dr1rJ..IAll.ou·-
.tJ.„_.,..s,.,o,....ni;.,
L)'di. ~op:iilo ...
Die Zeitungen, die in Tanzkritik nicht geschult waren, lobten die Dekoration,
die Kostüme und natürlich die Abendtoilette des Publikums, aber sie verstan-
den nicht die tiefe künstlerische Bedeutung des Events. Ein ignoranter Kriti-
ker, F. Rodrigues, schrieb in der Zeitung Luta (Kampf) über le so/eil de la
nuit: „Dies ist eine Irrenhausphantasie, unwidersprechlich eine Karikatur. Es
ist eine Art futuristischer Ode, geschaffen von ,Buffons' und getanzt von Ver-
rückten. Das Stück ist wertlos." Dieselbe Art von Kommentar erschien zu den
Schöpfungen von Bakst, Benois und Larionov. 38 Enttäuscht von den Auffüh-
rungen im Coliseum. konnte Dhiaghilew mit Hilfe seiner Bekannten in den ge-
38 0 lmparcial 191 7, S. 2.
78 Isabel Gil
39 Massine war von Almada so angetan, dass er später jeden Portugiesen, den er in Paris traf,
Almada nannte (Santos 1993, S. 23). Der Tanz war ein wichtiger Topos im Repertoire der
portugiesischen literarischen Modeme. Sa Cameiro zum Beispiel hat mehrere Tanzgedichte
geschrieben und beschäftigt sich mit dem Tanz in einem seiner wichtigen Werke, dem Roman
Die Bekenntnisse des lucio. Hierzu siehe Gil 2000, S. 580f.
40 Gilpin 1996, S. 115.
Die Schwere 79
In starker Anlehnung an die Handlung von Die Roten Schuhe basiert das
Ballett Die Prinzessin mit den eisernen Schuhen auf einem Märchen, einer
traumhaften Extravaganz, mit der Musik von Ruy Coelho, Bildern von Jose
Pacheko und der Choreographie von Almada Negreiros. Der Einfluss der Bal-
lets Russes blieb nicht unbemerkt. Die Zeitung llustra<;iio Portuguesa schrieb,
dass das Ballett direkt vom Ballet Russe beeinflusst wurde: „Es hat bei der
jungen portugiesischen Generation den Willen zu einer ähnlichen Erfahrung
geweckt."41 Außerdem kommentiert sie die deutliche slawische Inspiration
der Geschichte. Das Ballett erzählt die Geschichte einer kleinen stolzen Prin-
zessin, die sich gerade im Spiegel betrachtet, als eine böse Hexe erscheint, die
sie darum bittet, ihr Haar zu kämmen. Als die Prinzessin ihre Bitte ablehnt,
verflucht sie sie, jeden Tag mit dem Teufel in der Hölle zu tanzen, bis sie sie-
ben Paar eiserne Schuhe verbraucht habe. Noch in derselben Nacht wird die
Prinzessin im Schlaf vom Teufel geholt. Almada tanzte die Partien der Hexe
und des Teufels und machte sich „unvergesslich", wie die Kritik schrieb.42 Es
wird gesagt, dass er auf der Bühne gesprungen sei und in seinem einzigen
Versuch in der Kunst des Balletts frenetisch getanzt habe. Ein Verwandter er-
innert, Almada sei nach seiner hohen Erwartung von seiner Unerfahrenheit
und dem fehlenden Training völlig frustriert gewesen. 43 Nach der Großartig-
keit der Ballets Russes wurde für Almada seine einzige und letzte Tanz-Per-
formance zu einer traumatischen Konfrontation mit der Wirklichkeit, die ihm
klar machte, dass er sein Ziel, Exzellenz in allen Künsten, nicht erreichen
konnte und dass der Tanz für ihn kein Ort der Freude war.
Das Ballett zeigte das unlösbare Paradox der Modeme zwischen der Dämo-
nisierung der Bewegung, die durch den Plot des Balletts dramatisiert und
durch die schweren eisernen Schuhe versinnbildlicht wird, und dem Willen
zur Bewegung, zur Transzendenz und Leichtigkeit. Trotzdem misslang die
Aufführung in technischer Hinsicht. Dies verleitete einige führende zeitgenös-
sische Tanzhistoriker zu der Annahme, dass es sich um nichts als ein snobisti-
sches Experiment gehandelt habe. 44 Hervorgegangen aus einem rückwärtsge-
wandten sozio-kulturellen System in einer hilflosen Gesellschaft, die an Strenge
statt an freien Rhythmus glaubte, war Almadas Anstrengung trotz allem die
Urzelle dessen, was man vielleicht die moderne portugiesische Tanzkultur
nennen kann: ein perfonnatives Abenteuer und eine Reise in eine neue Sphäre
- obwohl Tanz für die ersten portugiesischen Modernisten (Sa Carneiro, Ama-
deo oder Santa Rita, Jose Pacheko) schon längst ein künstlerischer Topos ge-
des Individuums durch die im Konflikt stehenden Mächte. Der erste Teil der
Trilogie, Black Spring (2000), stellt Klischees der Darstellung von Schwarzen
in der europäischen Tradition vor. Exhibitionistisch stellen die muskelschwe-
ren und zarten schwarzen Körper Momente der Annäherung an die westliche
Blickweise zur Schau, indem eine nachhaltige Sensualität mit dem rassisti-
schen Topos der Naivität des Schwarzen und dem blinden Gehorsam gegen-
über seinem westlichen Meister vermischt wird. Im doppelten Fokus von Kli-
schee und Gewalt geht es darum, durch groteske Bewegungen die Aneignung
des Körpers des Schwarzen durch die westliche Vorstellungskraft zu ersetzen,
was in gewisser Weise an Frantz Fanons Forderung in Les damnes de Ja terre
nach der Wiederaneignung der Körper durch die schwarze Subjektivität erin-
nert.
Der zweite Teil der Trilogie, L 'Ordre de Ja batai/le (2002), zeichnet den
Zustand des Südens nach, der durch den Krieg zerrissen wurde, und zeigt die
chaotische Wanderung der Afrikaner in Richtung Westen mit eindringlichen
Bildern von Gewalt, die durch eine mitreißende Filmprojektion auf die Bühne
gebracht werden. Entweder stampfen die Füße der Tänzer wie die einer geord-
neten Armee, die in die Schlacht zieht, oder sie zeigen mit starkem Schütteln
die Gewalt, die ihre Körper bewegt. Außerdem deutet Maalem eine Gegenper-
spektive durch einen schwankenden und fliehenden pas de deur: an, der die
Möglichkeit einer Erneuerung portraitiert.
Mit Stravinskys Sacre verschreibt sich Maalem den Idealen, die in den vor-
hergehenden Choreographien in die Erzählung der westlichen Modeme ein-
flossen, und verschiebt sie gleichzeitig. Nach dem Ende der Schlacht des vor-
hergehenden Stückes zeigt er die Gewalt des Anfangs. In einem Interview
vom Juni 2003 erinnert sich Maalem, der übrigens weißer Hautfarbe ist, dass
er den Rhythmus von Stravinskys Sacre zu hören begann, während er in Lagos
an Black Spring arbeitete. Das Wagnis zu diesem neuen Projekt stellt sich als
eine Neuschreibung des Ursprungs dar. Er sagt:
La voici donc notre aube. Elle nous trouve occupes a l'etrange metier qui est de recon-
naitre les forces nouees ensembJe dans Jes corps: danser. [... ] Danser ce qui est mort et
qui renait et qui mourra. Dire le rite, ceJa qui mele le mort au vif, l'os a la cendre. Redire
ce qu'un homme inscrivit de fa~on si unique pour ceJebrer encore Je don d'une joie si
terrible. En respirer le rythme pour la derniere et la premiere fois, quand deja, sur nos
yeux, retombera le voile. Et l'Afrique: un continent tout entier contenu dans l'espace qui
separe le jour qui finit de celui qui commence, une aurore. La fin et le debut du monde.
Un autre monde encore agenouille quand Stravinsky voit se Jever a l'Est, les soleils
rouges. Un continent d'ou sourd en meme temps qu'une promesse: /'epaisse angoisse du
printemps. Une terre qui Supporte l'enorme russee de l'univers, la force du demain
bondissant. Un dernier royaume ou marcher.4
Mit vierzehn Tänzern aus Mali, Nigeria, Senegal, Benim und Guadaloupe er-
neuert Maalem das Ritual des Ursprungs in Afrika, indem er die Bewegungen
auf der Bühne mit der Gestik der traditionellen und erdgebundenen Tänze Af-
47 Maalem 2003, S. 2.
82 Isabel Gil
Literatur
Agamben, Giorgio: Nymphae. Berlin 2005.
-: (2003): Movement (http://www.globalproject.info/JMG/mp3/03_agamben.mp3).
31.03.2006.
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Sistemas Socio-Comunicativos desde fins do seculo XVIII aos Nossos Dias. Lissa-
bon 1993.
Die Schwere 83
„Was man alles wissen muss" - mit dieser Formel stellte das Magazin der
Süddeutschen Zeitung im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 2006 die Teil-
nehmer-Länder vor: „Was man alles wissen muss", z.B. über die Trainingsbe-
dingungen und die Bedeutung dieses Mannschaftssports in der jeweiligen Kul-
tur, um die Chancen auf einen Sieg einschätzen zu können. An erster Stelle
der Rubrik mit Informationen stand: ,.Alphabetisierungsrate". Man könnte sich
trefflich streiten, wie Fußball und Alphabetisierung eines Landes zusammen-
hängen. Hat dieselbe Frage schon einmal jemand für den Tanz gestellt? Ja.
Aber sie wurde nicht in einer prominenten Tageszeitung propagiert. Sondern
sie verhallte (immer wieder) in den Echoräumen einer labyrinthischen, einer
fragmentarischen Tanzgeschichte.
„Warum", fragt Noa Eshkol, die Begründerin der Eshkol-Wachman-Bewe-
gungs-Notation, „warum sind wir solche Analphabeten, wenn es um Bewe-
gung geht? [.„] Warum hat die Kultur keine taugliche Bewegungsschrift, kein
Mittel, um Bewegung zu denken, sie zu konzipieren, hervorgebracht, wo wir
doch eine Notenschrift für Musik haben? Wir haben doch auch einen Körper,
nicht nur eine Stimme?" Und sie gibt dann - neben der Schrift, die sie ent-
wickelt hat - eine zweite Antwort: „We change all the time. So how can you
make a notation about change [„.]?" 1
Warum sind wir - in Bezug auf den Tanz und die Überlieferung von Bewe-
gung - Analphabeten? Diese Frage stellte auch Rudolf von Laban. Er stellte
sein Konzept einer Kinetographie auf dem ersten deutschen Tänzerkongress in
Magdeburg 1927 einer breiten Öffentlichkeit vor. Und auf dem zweiten Tän-
zerkongress in Essen, 1928, wurde nach heftigen Diskussionen in der Resolu-
tion einer von über tausend Tänzern besuchten Plenarversammlung niederge-
legt, dass man die Institutionalisierung von Tanz als selbständiger Bilhnengat-
tung fordere sowie die Einrichtung einer „Hochschule für Tanz" und die Schaf-
fung einer „wissenschaftlich-soziologischen Forschungsstätte für Bewegung".
Bezüglich der brennenden Frage einer verbindlichen Tanzschrift wurde folgen-
der Beschluss einstimmig angenommen: 2 ,,Der Tänzerkongress erkennt die
Wichtigkeit und Notwendigkeit einer Tanzschrift allgemein an und betrachtet
die von Rudolf von Laban geschaffene Choreographie als eine geistige Leis-
tung ersten Ranges und empfiehlt sie als praktisches Tanznotierungsmittel."
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3 Vgl. Ewald Moll, Die neue Tanzschrift. In: Schrifttanz 1928, Mitteilungen der Deutschen Ge-
sellschaft für Schrifttanz, S. 16. Deutlich wird hier, in welcher Weise dem Tanz „Werkcha-
rakter" - im Sinne von Schrift-Erbe und Kanonisierbarkeit - zugedacht ist; die Problematik
dieses seinerzeit umstrittenen Versuchs wird dabei ebenfalls sichtbar: „Nur der Schrifttanz
kann helfen, Wertvolles von Wertlosem zu sondern. Eine Tradition und Vergleichsmöglich-
keiten zu schaffen. Denn es gibt keinen alten oder neuen Tanz. Es gibt nur wertvolle Tanz-
kunst oder wertlose Surrogate. Das Gleiche gilt von den Methoden tänzerischer Körperbil-
dung, vom geselligen Tanz und Volkstanz" (ebd.).
4 Ebd.
5 Vgl. Karina/Kant 1996; Müller/Stöckemann 1993.
6 Vgl. Müller/Stabel/Stöckemann 2003.
Tanz als Szeno-Graphie des Wissens 87
unserem Bildungskanon gehört. Vor allem aber gibt es andere Medien der
Aufzeichnung; auch wenn sich im Feld von Choreographie und ebenso in der
Wissenschaft niemand Illusionen macht über die Brauchbarkeit von Videos als
Archiv-Träger des Tanzes: Die große Bedeutung der Medien, der Digitalisie-
rung von Bewegung ist heute aus der Praxis des Tanzes nicht mehr wegzuden-
ken. Das Wissen vom Menschen, das heute in umfassender Hinsicht über elek-
tronische Datenträger vermittelt ist, wurde auch zu einem wesentlichen Be-
standteil einer Anthropologie des Tanzes. Das bedeutet unter anderem, dass
die Fragen nach dem Gedächtnis von Tanz-Bewegung heute anders betrachtet
werden. Die Möglichkeiten des Aufzeichnens und auch der digitalen Generie-
rung von Bewegung und Raum-Szenarien bringen vielfältige Wirkungen für
zeitgenössische Performer und Wissenschaftler mit sich, wie dies beispiels-
weise die Rezeption der analytica/ too/s von William Forsythes Modell der
,Jmprovisation Technologies"7 zeigt. Umgekehrt ist es besonders der Tanz in
seiner vergänglichen Raum-Zeit-Gestalt, der uns darauf aufmerksam macht,
dass das traditionelle Bild vom Gedächtnis der Kultur statisch, architektonisch,
quantitativ und enzyklopädisch angelegt ist; das Performative und Mobile
einer jeden Gedächtnis-Praxis wird dabei häufig gekappt. Tanz hingegen, ge-
rade sein Fehlen in den Archiven der Kunst und Kultur, macht sichtbar, dass
auch das vermeintlich statische, manifeste und in Ordnungen des Wissens
standardisierte Gedächtnis der Kultur dynamisch ist: kontingent und in un-
überschaubarer Bewegung.
Tanz als Anthropologie: Welches Wissen liegt in der Bewegung des Tanzes?
Was wissen wir über und durch (diese) Bewegung? Und umgekehrt: Wie wirkt
Bewegung und was bewirkt sie in unserem Wissen und in der Wissenschaft
vom Menschen? Die erste Fragerichtung ist spannend und weit verzweigt -
Tänzer und Choreographen ebenso wie Phänomenologen und Hirnforscher
fragen: Worin besteht das spezifische Wissen des Tanzes? Ein anderes Wissen
als jenes, das wir üblicherweise als rationales, technisches oder diskursives
Wissen akzeptieren. Der Schauplatz dieses anderen Wissens ist der sich bewe-
gende Körper. Das Wissen, das sich in Tänzen und Choreographien zeigt und
überträgt, ist dynamisch: ein körperlich-sinnliches und implizites Wissen. Es
vermittelt sich kinetisch und kinästhetisch. Ist das überhaupt ein Wissen?
Diese Zweifel erheben sich immer wieder; und obgleich wir in einer Gesell-
schaft leben, in der parallel höchst unterschiedliche und widersprüchliche For-
men von Wissen existieren, ist die Frage der Akzeptanz eines solchen schein-
bar subjektiven und emotional besetzten Wissens-Modells brisant. Woher
kommt die Abwehr einer solchen korporalen und performativen Idee vom
Wissen, so dass wir an unseren alten Oppositionen von Theorie und Praxis,
7 Vgl. Forsythe 1999; und dazu auch die zahlreichen Bezugnahmen in den letzten Jahren, die -
bezeichnenderweise? - freilich mehr in tanzpublizistischen Texten als in choreographischen
Adaptionen zu finden sind.
88 Gabriele Brandstetter
von Rationalität und Emotionalität, von Geist und Körper festhalten? Dabei ist
das Wissen des Körpers und des Tänzers als Bewegungsforscher schon längst
und vielfach thematisiert- Formulierungen wie „The Thinking Body" (1937)
von Mabel E. Todd8 oder „Tanzdenker" (William Forsythe9 ) weisen darauf
hin. Ist es eine mangelnde Leidenschaft, dies genauer zu „wissen"? Oder die
Angst vor der Entzauberung?
Hier öffnet sich die zweite Frage-Richtung des Themas Tanz als Anthropo-
logie - und sie ist mindestens ebenso brisant: Denn wenn Tanz als „Szenogra-
phie des Wissens", d. h. als Schauplatz eines anderen, eines sinnlich-dynami-
schen Wissens auftritt und akzeptiert wird, so kann dies nicht ohne Einfluss
auf unser generelles Verständnis von Wissen und Wissenschaft bleiben. Tanz
würde dann die Grenzen dessen, was wir für Wissen und Wissenschaft halten,
verschieben und damit unser Verständnis von Wissen selbst in Bewegung set-
zen; beispielsweise wenn wir - ausgehend vom Tanz, der nicht wie unbeweg-
liche Objekte als Untersuchungsgegenstand fixierbar ist - feststellen, dass die
Objekt-Unschärfe und eine temporale Struktur auch die vermeintlich sicheren
Artefakte, Monumente oder Experimentanordnungen des Wissens betreffen;
dass eine dynamische und kontingente Beziehung zwischen Forscher und Un-
tersuchungsgegenstand auch in anderen Bereichen der Wissenschaft sich her-
stellt und im Forschungsprozess sich wandelt: auch in Disziplinen, die mit
scheinbar fixierten Objekten und verlässlichen Ergebnissen operieren. Die
Idee der Wahrheit, der Überprüfbarkeit von Versuchsanordnungen wird einer
Probe ausgesetzt, wenn durch eine vom Tanz inspirierte, dynamische Refle-
xion die Rahmenbedingungen von wissenschaftlicher Erkenntnis berührt und
gar verletzt werden: z.B. durch das Eingeständnis, dass auch die Körper-Be-
wegung, die Sinnlichkeit, die Emotion des Forschers den Prozess beeinflussen. 10
Der Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn hat die „Struktur wissen-
schaftlicher Revolutionen" 11 mit dem Begriff des „Paradigmenwandels" be-
schrieben. Demnach gibt es nicht (wie man seit der Aufklärung annahm) eine
lineare Entwicklung eines Fortschritts des Wissens. Das Neue, eine Entde-
ckung z.B., befindet sich vielmehr im Feld der herrschenden Wissenschafts-
normen wie ein Fremdkörper. Erst durch eine Krise des geltenden Paradigmas
und in einem langen sozialen Prozess der Akzeptanz (d. h. aber der Diskussion
etwa in Fachzeitschriften oder Kongressen als Wissens-Politik) kann sich ein
neues Paradigma des Wissens durchsetzen. Dabei geht es - soviel ist heute
klar - nicht um die Alleinherrschaft eines einzigen Wissensmodells. Sondern
das vorherrschende Paradigma befindet sich in Konkurrenz und in einer Ver-
flechtung unterschiedlicher Ansätze. In modernen Kulturen existieren - nicht
zuletzt unter dem Einfluss der sog. Globalisierung - unterschiedliche und auf
Wissenschaft und Kunst überzeugen je auf eigene Weise durch Evidenz; 12 auch
wenn die Szenarien und die Effekte dieser Evidenz verschieden sind: kognitiv,
12 Peters/Schäfer 2006.
90 Gabriele Brandstetter
aber doch nicht nur kognitiv im Fall der Wissenschaft; sinnlich, aber doch auch
kognitiv im Fall der Kunst. Hypothesen, Experimente, Argumentations-Strate-
gien und Diskurse formieren das Szenario der (Wissens-)Evidenz in der Wis-
senschaft. In der Kunst hingegen ist es die Evidenz des ästhetischen (Er-)Schei-
nens; 13 und diese ist (oder: diese macht) sprachlos. Gewiss gibt es auch hier
Begleit-Diskurse aller Art. Von der Programmschrift und den Künstler-Selbst-
Kommentaren bis zu Rezensionen und Katalogen werden Informationen, Mei-
nungen, Interpretationen aus unterschiedlichen Wissensgebieten um die Perfor-
mance des Tanzes gelagert. Die Frage, was muss man wissen (oder nicht wis-
sen), um Tanz zu verstehen, ist - wie auch bei anderen Kunstformen - eigent-
lich schon deshalb obsolet, weil Kunst und gerade auch Tanz ohne diesen Text-
Rand praktisch nicht existiert: ob es sich dabei um die Kommentar-Bedürftigkeit
der modernen Kunst (wie Arnold Gehlen formulierte) handelt oder eher um
Kommentar-Lust?! Es sind zuletzt die Künstler - wie kürzlich etwa Tino
Seghal 14 -, die durch konsequente Verweigerung dieser Vorschriften und Um-
schriften der Performance die Frage nach der Evidenz von Kunst als Perfor-
mance, als „Tanz" erneut thematisieren. Ästhetische Erfahrung - die Evidenz
von Kunst - findet jenseits von Informationswissen über Kunst statt - wenn
auch vielleicht nicht ganz unabhängig davon, da die Komplexität der Erfah-
rung ja in einem individuellen Gemisch von Erinnerung, Wissen, Wahrneh-
mung, Erwartung, Begehren besteht. Die ästhetische Erfahrung aber ist in
erster Linie sinnlich und emotional - und aktiviert damit ein anderes Wissen
als beispielsweise die Lösung einer mathematischen Aufgabe. Tanz vermag in
besonderer Weise jenen Moment der Bezauberung, der Begeisterung oder des
Schocks, der in gewisser Weise „stumm" macht, zu evozieren; wobei eben
diese Erfahrung der Sprachlosigkeit wiederum häufig das Vorurteil, hier könne
es nicht um Wissen gehen, stützt. Es geht jedoch um ein anderes Wissen:
sensuell, erotisch und instabil - und selbstverständlich auch kognitiv; ein Wis-
sen, das Grenzen des Wissens und Zonen des Nicht-Wissens (auch und gerade
des „Sich-Selbst-Nicht-Wissens") auslotet. Eine dieser Grenzen ist bezeichnet
durch das Fehlen der Sprache für dieses Erfahrungswissen. Roland Barthes hat
dieses Versagen der Sprache (die Sprachlosigkeit) für die Begegnung mit Mu-
sik formuliert; eine Einsicht, die auch auf die Erfahrung von Tanz übertragbar
ist: „Jeder Diskurs über die Musik kann nur, so scheint es, in der Evidenz be-
ginnen."15 Und weiter: „Wie stellt es nun die Sprache an, wenn sie die Musik
zu interpretieren hat?" Barthes stellt fest, dass wir oft zur „ärmsten linguisti-
schen Kategorie" 16 greifen, zum Adjektiv, mit dem wir in der „einfachsten
und trivialsten Form" der Prädikation ein „Sujet" aus dem Gehörten und Gese-
henen machen, über das wir urteilen: gut, schlecht, schön oder stark usw.
Reden über Bewegung. Eine Sprache für die Erfahrung und die Wahrneh-
mung finden - dies ist eine Herausforderung, die nie gelingen kann. Dennoch
lohnt es sich, sie anzunehmen, denn es ist die einzige Möglichkeit, die unter-
schiedlichen Erfahrungen und Wissensformen zum Ausdruck zu bringen und
sie in ein Verhältnis zu setzen, das die Spannungen, Widersprüche, die Lücken
und die Grenzen sichtbar werden lässt.
„Irgendwie" ist das alles selbstverständlich - und dennoch ist genau diese
Situation, als eine produktive, ja kreative ein Gegenstand intensiver Forschung
in jüngster Zeit. Die neurophysiologische Forschung interessiert sich für die
Zusammenhänge von Bewegung und neuronaler Aktivität im Gehirn, für die
Vorgänge bei der Fokussierung von Aufmerksamkeit, für die Verknüpfung
von affektiven und kognitiven Prozessen. Die Philosophie, insbesondere die
Phänomenologie, und aus anderer Perspektive die Theater- und Tanzwissen-
schaft interessieren sich für die theoretischen und ästhetischen Probleme die-
ser Begegnungs- und Erfahrungs-Situationen. Und auch die Choreographen
und Performer verlegen das Feld ihres Interesses in die Erforschung dieser
Aufmerksamkeits-Zone zwischen Aufführung und Beobachtung: etwa die Ar-
beiten von Felix Ruckert; oder die Gruppe She She Pop, die in jeder Auffüh-
rung ihres Stücks Warum tanzt ihr nicht? je neu und anders in Dialog und In-
teraktion mit dem Publikum tritt und einen Raum öffnet für grundlegende Fra-
gen des Tanzens: für die Wünsche „in Bewegung" und auch für die Hemmun-
gen gegenüber dem Tanzen; für die Fragen nach dem ,.richtigen Schritt" und
ebenso die Fragen nach dem „richtigen" Mann bzw. der richtigen Partnerin für
den Tanz oder fürs Leben; für die Ausmessungen von Nähe und Distanz und
für die Entscheidungen über das „Dazu-Gehören" oder das „Nicht-Mitma-
chen" und die Folgen.
Ein Beispiel aus dem zeitgenössischen „Konzepttanz" ist Jeröme Bel mit sei-
nem Stück Veronique Doisneau (VA Opera National de Paris 2004), in dem er
eine einzige Corps de ballet-Tänzerin auf der Bühne Ausschnitte aus den gro-
ßen Ballettwerken Giselle und Schwanensee repräsentieren lässt. Die Aus-
schnitte aus der subjektiven Erfahrung der Tänzerin und das Fehlen der Ge-
Tanz als Szeno-Graphie des Wissens 93
das neue Sichtweisen erprobt, das „den Rahmen sprengt" 19 und inkompatible
Strukturierungen bezeichnet. 20 Dies wäre die Verfassung einer Aufinerksarnkeit,
die offen ist für die je präsente Tanz-Aufführung als kinästhetische Erfahrung,
als Szenographie eines anderen Wissens. Es ist ein sehr freier Dialog-Raum
der Wahrnehmung, der sich auf diese Weise öffnet: unhierarchisch, anders als
in jenen Tanz-Aufführungen, die den Experten-Zuschauer fordern (wobei wir
wissen, dass diese Kompetenz nichts über das sehende bzw. kinästhetische
Wahrnehmen aussagt). So erhält der Betrachter - mit der Autonomie der Tän-
zer und durch die Offenheit von Verlaufsstrukturen des Tanzes - ebenfalls
Abb. 4: annahuber.compagnie, „die anderen und die gleichen" (Foto: Matthias Zölle)
seine Autonomie: die Freiheit, das „als Tanz" Gesehene, das Wahrgenommene
auf seine Weise mit den Szenographien des eigenen Wissens auszustatten.
William Forsythe äußerte sich kürzlich in einem Interview über die Berechti-
gung, ja die produktive Bedeutung solcher Inkongruenz der Wissensfelder und
über die Freiheit des Betrachters: „Ich erinnere mich, wie einmal ein Mann
nach einer Aufführung zu mir kam. Es hatte ihm sehr gefallen, und er wollte
mir seine Interpretation mitteilen. Er schaute mich wissend an und sagte: ,Mö-
wen!' Selbstverständlich habe ich genickt. " 21
Tanz öffnet Assoziations-Räume. Und in dieser Szenographie zeigt sich bei-
des: die Begrenztheit und die Fehlbarkeit des Wissens; und die Grenzenlosig-
19 Ebd., S. 139
20 Das, was Merleau-Ponty als „Incompossibilitäten" bezeichnet.
21 Vgl. Forsythe 2006, S. 18.
96 Gabriele Brandstetter
Eine Choreographie des Alltags. Der Beobachter ist der Physiker und Philosoph
Georg Christoph Lichtenberg. Das geometrische Schema, das Quadrat mit seiner
Diagonale, wird in dieser Versuchsanordnung zum Muster einer Bewegungs-
studie: Die alltägliche Praxis der Wegabkürzung ist- scheinbar- eine rationale.
Der Hinweis auf die „weisen Männer" und ihr Wissen von der Geometrie, der
kürzesten Verbindung im Parallelogramm, kommentiert dies. Die tatsächliche
Spur im Schnee ist aber durch zufällige Bedingungen zustande gekommen -
und die Fußgänger folgen ihr blindlings. Die krumme Linie ist nur vermeintlich
der kürzeste Weg. Lichtenbergs Experiment überlagert zwei Wissensmuster in
einer einfachen Szenographie: die streng rationale Ordnung der Geometrie und
eine durch Zufall bestimmte, intuitive Ordnung - ein Praxis-Wissen, das ge-
wissermaßen die Energie- und Entscheidungs-Seite mit der gebahnten Spur
auf der krummen Linie abgleicht. Die beiden übereinander gelegten konfligie-
renden Bewegungs- und Raum-Muster veranschaulichen in Lichtenbergs klei-
nem Experiment zwei Ordnungen: ein Geflecht von rationalen und irrationalen
Komponenten - das rationale Schema wird durch einen a-rationalen Zusam-
menhang aufgebrochen. Ein Quadrat wird von krummen Linien durchkreuzt -
Geometrie wird somit durch Phantasie und Intuition relativiert. Der Punkt, an
dem die scheinbar unwidersprechliche Wissensordnung (der Geometrie) durch
Bewegung in Unordnung kommt - durch Zufall -, ist nicht exakt vorhersehbar.
Die vergängliche Spur im Schnee bezeugt mit jedem Gang eine veränderte
Szenographie. Lichtenbergs Versuchsanordnung, die ein Test auf das Verhält-
nis von System und Hypothese, von statischer Form und dynamischer Über-
Formung ist, könnte Pate sein für vergleichbare choreographische Experimente
in der Kunst des 20. Jahrhunderts: etwa für Samuel Becketts kleine Fernseh-
choreographie Quadrat (Abb. 5 u. 6), in der vier Performer die Kanten und
Diagonalen eines Quadrats nach einem exakt vorgegebenen Schema abschrei-
ten, wobei der Kreuzungspunkt in der Mitte der Diagonalen den Punkt der Un-
vorhersehbarkeit und der Ordnungsstönmg markiert. An die Stelle des Lichten-
berg 'sehen Fenster-Beobachters tritt bei Beckett die Kamera. Man könnte auch
an Bruce Naumanns „walking performances" denken, oder an Anna Hubers
Quadrat-Choreographie mit dem Titel two, too (2001) - oder William For-
sythes „Szenographie" von sich kreuzenden Wegen und wie in Hohlspiegeln
sich „verflüssigenden" Körpern in der Installation City ofAbstracts (2006) .
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Abb. 7: Anna Huber, Kristina Lhotak6va, two, too (Foto: Tanja Hertling)
Es ist der Vorstoß in Bereiche, die nicht mehr allein mit einem Begriff des
kontrollierbaren und operationalisierbaren Wissens zu decken sind - das Feld
des Unvorhersehbaren, des Nicht-Wissens, des Unkontrollierbaren als Anspruch
einer anderen Erfahrung und eines anderen politischen Engagements. An
dieser Stelle ist die Öffentlichkeit, die Sichtbarkeit solcher Szenographien des
Wissens vielleicht am herausforderndsten und am wichtigsten - an der Grenze
von Wissen, einem anderen Wissen um Nicht-Wissen. Samuel Beckett, ein
Experte auf diesem Gebiet, hat das in die Worte gebracht: ,,Künstler sein heißt
scheitern, wie kein anderer zu scheitern wagt."
Literatur
Barthes, Roland: Der romantische Gesang/Die Rauheit der Stimme. In: ders., Was singt
mir, der ich höre in meinem Körper das Lied. Berlin l 979a,b, S. 7-18/19-37.
-:Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt/M. 1989.
Beckett, Samuel: Quadrat. Stücke.fiir das Fernsehen. Mit einem Essay von Gilles De-
leuze. Frankfurt/M. 1996.
Brandstetter, Gabriele: Zu einer Poetologie des Medienwechsels. Aufführung und Auf-
zeichnung - Kunst der Wissenschaft? In: dies., Bild-Sprung. TanzTheaterBewegung
im Wechsel der Medien. Berlin 2005, S.199-210.
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Martin Jörg Schäfer, Intellektuelle Anschauung. Figurationen von Evidenz zwischen
Kunst und Wissen. Bielefeld 2006, S. 295-300.
Forsythe, William: Improvisation Technologies. A Tool for the Analytical Eye. Ostfil-
dern 1999.
-: Interview. Tanzdenker William Forsythe im Gespräch mit Wiebke Hüster. In: DU
765, April 2006, S. 16-18.
Holländer, Katarina: Noten des Tanzes. Vom Versuch, das Tanzen mit Worten und
Zeichen festzuhalten. Und ein Besuch in Noa Eshkols Werkstatt der Verschrift-
lichung. In: DU 165, April 2006, S. 65-74.
Karina, Lilian/Kant, Marion: Tanz unterm Hakenkreuz. Eine Dokumentation. Berlin 1996.
Katalog „La biennale di Venezia" - Participating Countries - Co/lateral Events.
Bd. 3, Germany. Venedig 2005.
Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt/M. 1976
Lichtenberg, Georg Christoph: Schriften und Briefe. Erster Band: Sudelbücher, Heft J,
528, S. 730f., hg. von Wolfgang Promies. Darmstadt 1968.
Müller, Hedwig/Stöckemann, Patricia: „.„ jeder Mensch ist ein Tänzer." Ausdrucks-
tanz in Deutschland zwischen 1900 und 1945. Gießen 1993.
Müller, Hedwig/Stabe!, Rolf/Stöckemann, Patricia: Krokodil im Schwanensee. Tanz in
Deutschland seit 1945. Frankfurt/M. 2003.
Peters, Sibylle/Schäfer, Martin Jörg: Intellektuelle Anschauung. Figurationen von Evi-
denz zwischen Kunst und Wissen. Bielefeld 2006.
Seel, Martin: Asthetik des Erscheinens. München, Wien 2000.
Todd, Mabel E.: The Thinking Body. A Study of the Balancing Forces of Dynamic
Man. London 1937.
Waldenfels, Bernhard: Sinnesschwel/en. Frankfurt/M. 1999.
Rainer Gruber
Oben
i
Unten
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' Gravitations-
~ VJ.-
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-1A~
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+-
2.1 Der Sturz und sein Korrelat: die Herausbildung eines Bodens
Gravitation heißt in erster Linie Sturz, vorbehaltloser Sturz entlang der Feld-
linien. Zwei Massen ziehen sich an und stürzen aufeinander zu. Eine beschleu-
nigte Bewegung: je näher sie sich kommen, desto größer die Anziehungskraft,
desto schneller die Annäherung: ein circulus vitiosus der Beschleunigung.
Und: wo mehr Masse ist, da ist auch die Anziehungskraft größer.
Wenn dem aber so ist, dass alle Massen sich unerbittlich anziehen: Warum
stürzt dann nicht alles? Oder aus Sicht des Tänzers die grundlegende Frage:
Wie kriege ich Boden unter die Füße?
Um die Genese des Bodens zu untersuchen, beginnen wir beim frühen Uni-
versum, vor 13 Milliarden Jahren.
Abb. 2: Gas- und Staubnebel sind Gebiete intensiver Sternentstehung. Links der 7000
Lichtjahre entfernte Adlernebel im Sternbild der Schlange (Anglo-Australian
Observatory). Die Detailaufnahme des Hubble Space Telescope rechts zeigt
monströse Gassäulen, bis zu mehreren Lichtjahren lang, in deren Innern das
Gas unter seinem eigenen Gewicht kollabiert zu jungen Sternen, die weiter
wachsen, indem sie mehr und mehr Masse aus ihrer Umgebung absaugen.
Das Besondere des Fallens 103
Das Universum ist zu dieser Zeit ziemlich gleichmäßig angefüllt mit Molekülen
der leichtesten Elemente: Wasserstoff, Deuterium, Helium, Lithium. An diesem
,,ziemlich" hängt unsere Existenz. Wären diese Moleküle wirklich gleichmäßig
verteilt, so könnte sich an dieser Homogenität im Verlauf der Zeit nichts ändern.
Keine Sterne, keine Galaxien, keine Galaxienhaufen hätten sich ausgebildet.
Geringste Verdichtungen in der Gasverteilung bewirken, dass die Schwer-
kraft dort stärker wirkt. Die umgebenden Gasmoleküle zieht es zu dieser Ver-
dichtung. Das Gas bildet Wolken, die wachsende Masse einer einmal ausgebil-
deten Wolke zieht die umliegenden Gase an wie ein Magnet. Gravitation führt
zur Klumpung. Wir kennen das vom Geld. Wo Geld ist, kommt Geld hin.
Mit stets steigender Wucht stürzen schließlich die Gasmoleküle aufeinander
zu, bodenlos, ein Gasball auf dem Weg zur Implosion. Gravitation heißt Sturz,
und man könnte das zentrale Anliegen der Astrophysik so formulieren: Was
sind die Haltepunkte des Sturzes?
Der erste Stopp entsteht, weil die Gaswolke sich aufgrund des Sturzes der
Gasmoleküle so aufheizt, dass schließlich eine Kernfusion zündet. Die Atom-
kerne verschmelzen und diese Verschmelzung erzeugt eine Energie, die schließ-
lich den Fall der Moleküle stoppt. Ein stabiler Stern ist entstanden (Abb. 2).
Wollten wir in diesem Stadium bereits das Bild eines Bodens anwenden, so
wäre er zu kennzeichnen als ein hitziges Gleichgewicht von Molekülen, die nach
unten fallen wollen, aber von Strahlung und durch den Bewegungsdruck der hei-
ßeren Moleküle daran gehindert werden. Immer neu zündende Kernfusionspro-
zesse stabilisieren dieses Gleichgewicht und generieren gleichzeitig die Voraus-
setzungen unseres Lebens: die höheren chemischen Elemente wie Kohlenstoff,
Stickstoff, Sauerstoff bis hin zum Eisen werden in diesem Glutofen erzeugt.
Irgendwann jedoch wird der Kernbrennstoff erloschen sein. Der gravitative
Sturz beginnt aufs Neue. Aber die Entwicklung spaltet sich nun in zwei Stränge.
Die äußere Hülle der Sonne, diese erste Andeutung von Boden, wird in einer
gewaltigen Explosion mitsamt allen dort erzeugten chemischen Elementen ab-
gesprengt und als Supernova-Überrest in den Weltraum geschleudert (Abb. 3).
Die Zerstäubung dieses Bodens ins All ist die Voraussetzung für einen er-
neuten Zyklus der gravitativen Klumpung - und damit die Voraussetzung unse-
rer, der menschlichen Existenz. Das Calcium unserer Knochen und das Eisen
in unserem Blut sind der Beleg, dass wir Menschen erst in einer solchen zwei-
ten Sternengeneration entstanden sein können. Und wer Gold im Mund hat,
kann sicher sein, dass es wie alle Elemente jenseits des Eisens erst im Inferno
dieser Supernova entstanden ist. - Der innere Kern der Sonne aber stürzt.
Interessanterweise sind es diesmal die Elektronen, die kleinsten Mitspieler,
die den Sturz dieses Sonnenkerns aufhalten. Die Gesetze der Quantenmechanik
verbieten, sie näher aneinander zu pressen, als es das Planck'sche Wirkungs-
quantum zulässt. Dieser Teil unserer Sonne wird als ein Gebilde von der Größe
unserer Erde enden. Ein Weißer Zwerg mit einer enormen Packungsdichte, der
Restmasse unserer Sonne im Volumen einer Erde. Ein unglaublich fester Boden.
104 Rainer Gruber
Für unsere Sonne wird das das Ende vom Lied sein. Nicht aber für Sterne, die
massiver als unsere Sonne sind. Für sie ist die Wucht des gravitativen Sturzes
zu groß, als dass die Elektronen ihn noch aufhalten könnten. Diese verschmel-
zen mit den Protonen zu Neutronen, die nun weiter stürzen. Das Spiel wieder-
holt sich. Auch die Neutronen können nicht beliebig zusammengepresst wer-
den, ein Neutronenstern entsteht, eine Masse von mehreren Sonnen wird in
einem Radius von ungeführ 13 km zusammengepresst. Kaum vorzustellen,
wie haltbar und widerstandsfähig das neu entstandene Parkett ist.
Ist aber die im Sturz kollabierende Masse größer als 3,2 Sonnenmassen, so
gibt es auch für die Neutronen kein Halten mehr. Der unendliche Sturz ins
Das Besondere des Fallens 105
Endliche beginnt. Zu diesem Zeitpunkt ist der Vorstellung eines Bodens unter
den Füßen endgültig der Boden entzogen. Ein Schwarzes Loch entsteht, in
dem sich Raum und Zeit in uns ungewohnter Weise ineinander umwandeln.
Raum wird Zeit und Zeit wird Raum.
Unser gewohnter Boden, die Erde, ist demgegenüber nichts als ein kleiner
Balkonvorsprung an einem zufälligen Ort dieses Weltalls, temporär nur, als
kleine Atempause, eingebettet in schwindelnde Abstürze und abrupte Um-
wandlungen der Aggregatzustände der Materie.
Abb. 4: Das Zentrum unserer Milchstraße (links). Das kleine Viereck in der Mitte zeigt
vergrößert (rechts) die elliptischen Bahnen von Sonnen um ein Schwarzes Loch
mit 3.6 Millionen Sonnenmassen im Zentrum (Kreuz). Die hellen Kreuze sind
Beobachtungspunkte.
2.2 Sonnenrudel: Das Schweben der Planeten und der Übergang zum Fallen
Historisch gesehen gab es in der Entwicklung der Physik andere Schwerpunkte.
Durch Jahrhunderte hindurch stand die Bewegung der Planeten im Zentrum
der Aufmerksamkeit, ein scheinbar schwereloses Schweben auf geometrischen
Bahnen göttlichen Ursprungs. Erst als mit Newton auch die irdische Banalität
eines fallenden Apfels ins Blickfeld geriet, wurde als Ursache der Erscheinun-
gen die Gravitation bestimmt. Die Interpretation in Termini der Bewegung
wurde abgelöst durch die Beschreibung der Dynamik einer Kraft.
In der generellen Wahmehmungjedoeh hat auch seit Newton das Schweben
der Planeten dominiert. Das Faszinosum, dass die himmlischen Planeten der
irdischen Vernunft unterworfen werden konnten, übertrug sich auf das Schwe-
ben, das bereits im christlichen Bildrepertoire als Hinweis auf das Medium des
106 Rainer Gruber
Himmlischen interpretiert wurde, und addierte sich nun zur Metapher für die
Überwindung irdischer Mühsal überhaupt.
Die Stabilität der Planetenbahnen erklärt sich ebenso aus der Gravitation
wie die Labilität des Sturzes in ein Schwarzes Loch; eines ist gewissermaßen
die Rückseite des andern. Wie nah sich die beiden Vorstellungen kommen, ist
im Zentrum unserer Galaxie zu sehen (Abb. 4). Zoomen wir in das kleine
Viereck im Zentrum, so entdecken wir ein Rudel von Sonnen, die wie Plane-
ten in unmittelbarer Nähe um das Schwarze Loch im Zentrum unserer Milch-
straße kreisen (Abb. 4, rechts) - eine Kinematisierung von Aufnahmen, die
von den Infrarot-Forschem am Max-Planck-Institut für Extraterrestrische Phy-
sik in Garching kontinuierlich von 1992 bis heute gemacht werden. 1
Abb. 5: Diese malerische Lllustration (rechts) zeigt zwei weiße Zwerge, 2005 vom
Röntgensatelliten Cbanclra beobachtet (links), die aufgrund ihrer enormen Be-
wegung umeinander Gravitationswellen abstrahlen und irgendwann ineinander
stürzen werden (s. Text).
Auch der Übergang vom stabilen Kreisen in den freien Fall lässt sieb seit kur-
zem verfolgen (Abb. 5). Das 2005 vom Röntgensatelliten Chandra beobachtete
Objekt besteht aus zwei Weißen Zwergen (RXJ0806.3+ 1527), Endprodukten
von Sternen wie unserer Sonne. Sie umkreisen sich mit einer Periode von nur
321 5 Sekunden(!), mit einer Geschwindigkeit von über einer Mirnon Meilen
pro Stunde, im Abstand von nur einem Fünftel der Distanz der Erde zum
Mond. Diese heftige Bewegung zwingt sie, Gravitationswellen abzustrahlen.
Die Umlauf-Periode verringert sieb dadurch um 1,2 msec pro Jahr, so dass sie
irgendwann ineinander stürzen werden.
Eine Kinematisierung der Bewegung des Sonnenrudels ist zu sehen unter http: //www.mpe.
mpg.de/ir/GC/images/movie2003.mpg.
Das Besondere des Fallens 107
8
1
Abb. 6: Im „frei" fallenden Lift wird eine Tasse Kaffee, die los-
gelassen wird, neben der Kaffeetrinkerin schweben.
Der Grund für dieses überhaupt nicht selbstverständliche Phänomen ist eine
bereits von Galilei aufgefundene experimentelle Tatsache: Im luftleeren Raum
werden alle Körper gleich schnell beschleunigt, völlig unabhängig von ihrer
physikalisch-chemischen Zusammensetzung, ihrer Beschaffenheit oder Form.
Bei gleicher Anfangsbedingung fällt eine Bleikugel gleich schnell wie eine
Flaumfeder. Eine tiefgründige Abstraktion von jeder Gegenständlichkeit wird
hier signalisiert. Dass Einstein sein Augenmerk auf dieses geheime Gesetz des
Fallens richtete, ermöglichte ihm, die Newton 'sehe Theorie, die auf einer fem-
wirkenden Kraft aufbaute, durch eine Theorie zu ersetzen, in der eine gekrümmte
108 Rainer Gruber
Geometrie die Rolle der Kraft übernimmt. Zur Veranschaulichung stellen wir
uns vor, wir legen eine massive Kugel - oder einen Apfel - auf ein gespanntes
Gummituch. Was flache Ebene war, wird sich nun zur Delle krümmen (Abb. 7).
Lassen wir eine Munnel auf diese Kuhle zurollen - und denken uns dabei den
Apfel weg -, so wird sie wie eine Roulettekugel in der Kuhle ihre Kreise zie-
hen, als ob eine Sonne einen Planeten anzöge (Abb. 8, links). Hat die Munnel
aber genügend Energie, so wird sie jenseits der Kuhle mit abgewinkelter Bahn
weiterrollen - wie ein Komet, der nicht eingefangen wird (Abb. 8, rechts).
Abb. 8: Die Murmel wird, aufgrund der Krümmung des Raumes, den Apfel umkreisen,
wie ein Planet seine Sonne (links). Hat die Murmel genügend Energie, wird sie -
wie ein Komet - von der Sonne nicht eingefangen, sondern nur abgelenkt.
Das Besondere des Fallens 109
Die historische Akzentverschiebung vom Schweben zum Fallen legt den Blick
frei auf zwei erstaunliche Sachverhalte:
Erstens: Der Kern des Fallens, der den Erfolg der Allgemeinen Relativitäts-
theorie ermöglichte - die Abstraktion vom Gegenständlichen -, entpuppt sich
gleichzeitig als das Schlüsselwort der Malerei der Modeme.
Und zweitens: Die Rehabilitierung des Fallens, die in der Physik mit der
analytischen Fähigkeit Einsteins verbunden ist, wurde ungeflihr zeitgleich kör-
perpraktisch von den Solo-Tänzerinnen im Modem Dance vollzogen - mit in-
teressanten zeitlichen Versetzungen.
Während der Bezug zur modernen Malerei hier nur kurz gestreift werden
soll, wird das Fallen im Tanz den Schwerpunkt der restlichen Überlegungen
bilden.
Modeme selbst einen Bezug zum Fallen und wird gelöst von der Kopplung an
die vermutete Schlüsselposition eines Schwebemotivs, die Simmen im An-
schluss an Newton vomimmt. 2
2 Simrnen verwirft die Position Einsteins mit leichter Hand: ,,Albert Einstein", sagt er, „be-
stimmte das Gravitationsfeld als umfassende und gleichmacherische Kraft, dem alle Gegen-
stände gleichartig, ob hart oder weich, ob schwer oder leicht, unterliegen: Körper, die sich unter
ausschließlicher Wirkung des Schwerefeldes bewegen, erfahren eine Beschleunigung. welche
weder vom Material noch vom physikalischen Zustande des Körpers im geringsten abhängt
(Einstein). Ein Abstraktum", so das bemerkenswerte Urteil Simrnens, „das nicht nur der bil-
dende Kilnstler als Widerspruch empfindet, als eine idealtypische, nur physikalische Gleich-
setzung zur alltäglichen Schwere-Erfahrung, zu den nächtlichen Albträumen mit bleiern-schwe-
ren Belastungen" (Simmen 1990, S. 25f. ). Simmen entgeht, dass just dieses Zitat Einsteins die
Basis der Allgemeinen Relativitätstheorie ist. Ihm entgeht, dass diese von ihm als gleichma-
cherisch diskreditierte Aussage keine neue Bestimmung von Einstein ist, sondern nur die ex-
perimentelle Erfahrung von Galilei wiedergibt. Und ihm entgeht, dass diese von ihm zu Recht
als Abstraktum bezeichnete Basis der Allgemeinen Relativitätstheorie womöglich den Schlüs-
sel zum Verständnis der abstrakten Kunst bieten könnte. Er verpasst damit den Kern der his-
torischen Akzentverschiebung vom Schweben zum Fallen, diese Rehabilitierung des Faltens,
die mit dem Namen Einstein verbunden ist und die im Tanz praktisch vollzogen wurde.
3 Garfield 2005, S. 35.
4 Encyclopedia 1977, S. 160.
Das Besondere des Fallens 111
5 Der Begriff „Delsarte" wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Nordamerika populär. Wal-
kowitz: „[l]t was enormously popular in North America; it was taught not only in drama
schools but also as an exercise program that enabled middle-class women and girls to remake
their bodies into noble bodies, into the bodies of the best type." Vgl. für Veröffentlichungen
dazu Walkowitz 2003, Anm. 71, und Ruyter 1999.
6 Shawn 1963, S. 88.
7 „Unfortunately, there is little coverage ofwhat, if any, teaching she may have done in a more
serious context" (Ruyter 1999, S. 40).
112 Rainer Gruber
Delsarte, die plausibel werden lässt, warum Henrietta Hovey, neben ihrem als
schillernd bezeichneten Auftreten in der High Society, die eindrucksvolle
Mentorin von Ted Shawn sein konnte. Die Zitate stammen von 1892, lange
bevor Henrietta Russell mit Tanz in Berührung kommen sollte:
Oppositions are physical. They are based upon the law of Gravitation, being always a
balancing, actual or metaphorical. They symbolize contrast, and are useful for dramatic
effect. They give strength and dignity in motion or attitude, force in harmonies, self-
assertion and hence vulgarity if used out of place - that is, where strength is not needed.
[ ... ]
Parallelisms also arise out ofthe relation ofthings to Gravity, but on the negative side.
They are the absence of Opposition of movement, and lack balance or a harmonious
relation to the greatest pbysical force we deal with - Gravitation. Physically of course
they express weakness. [„.]
Balance is opposing Gravitation by setting Gravitation to opposing itself. lt therefore
expresses dignity, as it obtains force easily on the lines of least resistance. Parallelism is
weak, because it opposes human strength to the great strength of mother Earth. Delsarte
described opposition of movement as two organs moving in opposite direction at the
same time; parallelism as two organs moving in the same direction at the same time. [„.]
Successions are the language of the emotions. Oppositions appear in the earliest expe-
rience of the race, successions in its highest development. Opposition and its negation,
parallelism, arise from man's economic relation to the Earth through Gravitation, while
successions arise from man's economic relation to himselfthrough the laws ofbis own
chemistry and the vibratory condition ofhis nervous system. 8
Diese Zitate lassen erkennen, wie tiefgehend die Ideen Delsartes auf einer
Analyse der Gravitation basierten - obwohl sie doch im Zusammenhang mit
Rhetorik und Gebärden entwickelt worden waren. So ist es vielleicht nicht ohne
Grund, warum die Prinzipien „Opposition" (und ihre Entfaltung, die Balance),
„Parallelism" und „Succession" später gerade im Tanz ihre Wirkung entfalten
konnten.
Ted Shawn widmet sein Buch Every Little Movement: A book about Fran-
{:Ois Delsarte9 der zentralen Bedeutung der Delsarte'schen Ideen für die Ent-
wicklung des Modem Dance. Im Kapitel „The Application of the Science of
Delsarte to the Art of Dance" begründet er, „why the application of these laws
completely changed the calibre, quality and significance of dancing in the 20th
century". 10 „[„.] without the principles of Delsarte", so schreibt er, „we pio-
neers could not have done our pioneering work, and without our pioneering
work, the American modern dance of today would not exist." 11 „The con-
8 Diese Zitate sind überliefert von Richard Hovey in einem Artikel The Technic of Poetry 1 (The
Independent, New York, 7. April 1892, zit. n. http: //www.canadianpoetry.ca/confederation/
Bliss%20Carman/hovey_essays/delsarte_and_poetry.htm.), in dem er als begeisterter Del-
sarte-Anbänger dessen Prinzipien anhand der Gesetze der Dichtkunst entwickelt. Richard
Hovey war zum Zeitpunkt des Artikels seit gerade zwei Monaten der Vater eines Kindes von
Henrietta Russell. Zwei Jahre später heirateten sie. Das spricht für die Authentizität dieser
Zitate. Bei Nancy Ruyter, der die gründlichste Beschreibung des Delsartism zu verdanken ist,
sind sie nicht erwähnt.
9 Shawn 1963.
10 Ebd„ S. 61.
11 Ebd„ S. 88.
Das Besondere des Fallens 113
scious use of the law of successions was one of the major principles used by
Duncan, St. Denis and mtself, which changed the whole picture of dance in
America in this century." 2
Bei Ted Shawn finden wir auch die Bedeutung des Fallens für den modernen
Tanz herausgearbeitet: „In the ballet prior to 1900, falling was also used almost
entirely for dramatic purposes, and to express the same things as the actor does.
But the American modern dancer has taken falling as a fundamental movement
pattem ofthe human body, and has made much abstract use of falling." 13
Ted Shawn konzentriert sich auf das dem Fallen zugrunde liegende Prinzip:
„[ ... ] so here 1 will limit myselfto the principle of falling - which is an inverse
or reverse succession which always has a negative or evil suggestion from the
standpoint of the expression of human emotions." 14
Aus dem Delsarte'schen Prinzip der reversen Sukzession entwickelt er de-
tailliert, wie sich die Aufeinanderfolge der einzelnen Bewegungselemente er-
gibt, und folgert dann:
Based on this general principle, there are 'gymnastics' of falling, by which one can fall
spirally, directly backward, directly forward, sideways, preceded by a complete turn of
the body, from a leap, etc., etc. The fonns offalling are infinite - the principle offalling
is one [„.]. When one learns to fall so thoroughly that the technique is no longer con-
sciously in mind, falling can become a delightful and relaxiog exercise - really fun to do. 15
Tatsächlich lässt sich bereits Anfang der l 890er Jahre bei Henrietta Russell
das Fallen als eigenständige Figur explizit nachweisen. Nancy Ruyter zitiert
aus einem Zeitungsbericht von 1893:
The floor of the clubroom of the Coates house was carpeted yesterday aftemoon with
society ladies [„.]. [After work on voice culture and yawning, Mrs. Russell] introduced
her great speciality, and feil down. Then she had the whole class stand up and fall down
[„.]. Mrs. Russell says that there is no better gyrnnastic exercise in the world, than
falling down. 16
Und schon für die Saison 1890/91 hebt sie „and, of course, the notorious and
apparently highly enjoyable falling" 17 hervor. - Auch in Genevieve Stebbins'
Delsarte System of Expression 18 tauchen Elemente des Fallens auf, zumindest
in der stark erweiterten 6. Ausgabe von 1901. 19
12 Ebd., S.49.
13 Ebd., S. 52ff.
14 Ebd., S. 53.
15 Ebd.
16 Gymnasticsfor Ladies, in: Kansas City Journal, January 24, 1893, zit. n. Ruyter 1999, S. 31.
17 „By the 1890-1891 season, Henrietta was developing her fashionable clientele in a number of
locations. A particular important venue for her was Newport, Rhode Island, which drew a
wealthy and prestigious crowd in the summer. The women of families such as the Vander-
bilts, Whitneys, and Astors flocked to Henrietta's lessons (held in one oftheir homes) to work
on moving gracefully, wearing jewels and clothing that were aesthetically complementary,
and, of course, the notorious and apparently highly enjoyable falling" (Ruyter 1999, S. 39).
18 Stebbins 1901.
19 Nancy Ruyter: „In the 21 lessons of the Delsarte System, Stebbins' aesthetic gyrnnastics are
very close to those of Mackaye. Her relaxation exercises only differ in that she places some-
114 Rainer Gruber
what less emphasis on facial parts and adds one completely new element - a fall, in which the
total body relaxes and drops to the floor" (Ruyter 1999, S. 105). Ruyter bezieht sich auf die 6.
Ausgabe von 1901, die 1977 wieder aufgelegt wurde. Mir ist nicht bekannt, ob das Fallen be-
reits in der 1. Auflage von 1885 enthalten ist. Es ist interessant festzustellen, dass sich bei
Nancy Ruyter wenig Verständnis findet für die eigenständige Bedeutung des Fallens beim
Tanzen, wie sie z. B. Ted Shawn betont. Sie ordnet es vielmehr der Routineausbildung von
Schauspielern zu: „Teaching falls makes sense in the training of actors since scripts often call
for a character to collapse in one way or another. We have seen a slight indication that Del-
sarte might have incorporated falling into his practical work, and there is no doubt that Hen-
riette Hovey taught them, although in the physical culture rather than dramatic context" (ebd.).
20 Shawn 1963, S. 63.
21 Clarke 1973, S. 115.
22 Ebd„ S. 118. Diese Einschätzung findet sich auch bei Ted Shawn: „The influence of Duncan
and St. Denis [auf die romantische Revolution des russ. Balletts Ober Diaghilev] could be
seen already in 1910 and the immediate years to follow in such ballets as Firebird which has
one group ofbarefoot dancers [„.]" (Shawn 1963, S. 87).
Das Besondere des Fallens 115
Ab den 30er Jahren ist die Attraktivität des Bodens bereits weit entwickelt.
Die Bodenarbeit Martha Grahams gilt als einer der innovativsten Aspekte
ihrer Technik. Ein beträchtlicher Teil ihrer Technik-Kurse ist auf den Boden
ausgerichtet. Graham lässt die erste halbe Stunde nur auf dem Boden üben und
die Laufsequenzen in der dritten halben Stunde barfuß laufen, weil Schuhe
ihre spezifischen Weisen des Gebens nicht erlaubt hätten. 23
Die Bedeutung, die der Boden beim Übergang vom Klassischen Ballett zum
Modem Dance gewinnt, hat ihre eigentümliche Entsprechung im Übergang
von Newton zu Einstein. Bei Newton wird der Boden noch stillschweigend
vorausgesetzt, ist keiner Rede wert. Dagegen kommt im Zusammenwirken von
Astrophysik und Kosmologie - dem mit der Expansion des Universums und
der Existenz Schwarzer Löcher spektakulärsten Anwendungsgebiet von Ein-
steins Theorie - der Herausbildung eines Bodens grundlegende Bedeutung zu.
23 Encyclopedia 1977. Das Fallen und ein wachsendes Liebesverhältnis zum Boden haben sich
zu wichtigen Charakteristika auch des zeitgenössischen Tanzes weiterentwickelt. Ich denke
bspw. an Pina Bausch oder an Wim Vandekeybus, „developpaot a!'extreme Ja confrontation
d'un acteur avec les elements reels, imminents, incontoumables: pesanteur, duree, chute, ap-
nee" (Vandekeybus 2004). Der Boden als Gegenspieler des Falls ruckt nun in attraktive
Reichweite. Dem Butö, der sich in den 60er Jahren als „revolutionäre" Alternative zum Bujö
präsentierte, sind die Bewegungen am Boden ein Kennzeichen geworden; ich denke an Ushio
Amagatsu und die Gruppe Saokai Juku (Paszkowska 1983). In ihren „Hängeinstallationen"
bspw. hängen die Tänzer mit dem Kopf nach unten an Seilen und werden langsam herabge-
lassen, wobei sie ihren Körper langsam entfalten. Der Kopf weist aufreizend zum Boden hin,
nicht vom Boden weg, wie es die Normalstellung vorgibt. Ich denke auch an die massenhafte
Fonn des Breakdance, dessen Charakteristikum neben akrobatischen Einlagen die bodenna-
hen Drehbewegungen bis hin zu Kopfpirouetten sind.
116 Rainer Gruber
Und eine zweite Bemerkung: Das Fallen gewinnt Bedeutung in der Allge-
meinen Relativitätstheorie, weil es den Übergang markiert von einer gleich-
mäßigen zur beschleunigten Bewegung. Es ist dies nicht einfach der Übergang
von einer Bewegungsform zu einer anderen. In der Allgemeinen Relativitäts-
theorie stellt das beschleunigte Bezugssystem den unauflöslichen Zusammen-
hang der Bewegung - und das heißt hier von Raum und Zeit - mit der funda-
mentalen Wechselwirkung der Gravitation her. Mir stellt sich die Frage, ob
das Fallen, das den Übergang vom klassischen Ballett zum Modem Dance
markiert, als „Figur des Fallens" ausreichend gekennzeichnet ist. Könnte es
sein, dass es auch im Zusammenhang des Tanzes nicht einfach um eine Figur
unter anderen geht? Birgt die Beschleunigung eine neue Qualität?
Was hat es endlich mit der merkwürdigen zeitgeschichtlichen Entsprechung
von Tanz und Physik auf sich, in der das Fallen einerseits körperpraktisch, an-
dererseits geistesanalytisch seine Bedeutung gewann? Ist es möglich, dass
nicht nur die Naturwissenschaft eine Wirkung auf das kulturelle Umfeld aus-
strahlt, sondern umgekehrt auch das kulturelle Umfeld einen Einfluss auf die
Entwicklung der Physik ausübt? Einstein stieß 1907 unvermutet auf die Be-
deutung des Fallens, und er beschrieb das so:
Ich saß auf meinem Sessel im Berner Patentamt, als mir plötzlich folgender Gedanke
kam: „Wenn sich eine Person im freien Fall befmdet, dann spürt sie ihr eigenes Gewicht
nicht." Ich war verblüfft. Dieser einfache Gedanke machte auf mich einen tiefen Ein-
druck. Er trieb mich in Richtung einer Theorie der Gravitation. 24
Literatur
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1994.
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American Delsartism. London 1999.
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zit. n. http: www.historycooperative.org/joumals/ahr/l 08.2/walkowitz.html.
Sakralität: Opfer, Ekstase, Tod
Christoph Wulf
1 Vgl. Junk 1977; Sorell 1983; Baxmann 1991; Brandstetter 1995; McFee 1999.
2 Vgl. hierzu UNESCO 2001, 2003, 2004.
122 Christoph Wulf
Wenn der menschliche Körper das Medium des Tanzes ist, dann ergeben sich
daraus Konsequenzen für die Wahrnehmung und das Verständnis von Tänzen.
Sie resultieren aus der Zeitlichkeit des menschlichen Körpers und werden
3 Zur Perspektive der doppelten Historizität in der historischen Anthropologie vgl. Wulf/Kam-
per 2002.
4 Vgl. hierzu UNESCO 2001, 2003, 2004.
Anthropologische Dimensionen 123
durch die Dynamik von Raum und Zeit bestimmt. Die Praktiken des Tanzes
sind nicht fixiert, sondern unterliegen wichtigen Transformationsprozessen,
die an den gesellschaftlichen Wandel und Austausch gebunden sind. Da Tänze
mit dem Körper vollzogen werden, gilt es, der körperlichen Seite ihrer Insze-
nierungen und Aufführungen besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Dabei
kommt der Frage, auf welchen historischen und kulturellen Körperbildern
Tänze beruhen, besondere Bedeutung zu.
Damit Tänze erfolgreich inszeniert und aufgeführt werden können, bedarf es
eines individuellen Körperwissens und eines Wissens datiiber, wie man sich zu
den anderen Tänzern verhält. Die Momente eines Tanzes, die eine Gemeinschaft
schaffen, sind eng mit seiner Körperlichkeit und Materialität verbunden. In seiner
Inszenierung und Aufführung entsteht aus der Körperlichkeit und Materialität
der einzelnen Körper ein kollektiver Körper, der vielfältig in sich gebrochen
sein kann und von dem ästhetische Wirkungen auf die Zuschauer ausgehen.
Für die Performativität des Tanzes sind zwei Aspekte besonders wichtig.
Der eine besteht darin, dass Tänze kulturelle Aufführungen sind, in denen sich
Gesellschaften darstellen und ausdrücken und mit deren Hilfe sie dazu beitra-
gen, Gemeinschaften zu erzeugen. Der zweite Aspekt der Performativität cha-
rakterisiert die ästhetische Seite der körperbasierten Performance von Tänzen,
ohne deren Verständnis Tänze nicht angemessen begriffen werden können. 5
Aufgrund ihres performativen Charakters bringen Tänze Gemeinschaften
hervor und erzeugen kulturelle Identität; ebenso bearbeiten sie Differenz und
Alterität. Sie sind wichtige Praktiken des kulturellen Erbes, die traditionelle
Werte vermitteln und dazu beitragen, diese an die aktuellen Bedürfnisse der
Menschen anzupassen. Wenn dies nur unzulänglich möglich ist, werden neue
Tänze „importiert", die dann häufig dem aktuellen Lebensgefühl einer Gesell-
schaft besser gerecht werden. Dadurch kommt es zu neuen kulturellen Produk-
ten, in denen sich unterschiedliche kulturelle Traditionen mischen; es entste-
hen hybride Tänze mit neuen Formen des Ausdrucks und der körperlichen
Darstellung.
mung, der Raum für die individuelle Gestaltung des Tanzes lässt, wie die tän-
zerischen Vorbilder zu werden.
Der Prozess der Anähnlichung ist von Mensch zu Mensch verschieden und
hängt von vielen individuellen Faktoren ab. Wird eine Tanzhandlung auf eine
frühere bezogen und in Ähnlichkeit zu dieser durchgeführt, dann besteht der
Wunsch, etwas wie die anderen Tanzenden zu machen, auf die sich die Bezie-
hung richtet, und sich ihnen anzuähneln. Diesem Wunsch liegt das Begehren
zugrunde, wie die Anderen zu werden, sich jedoch gleichzeitig auch von ihnen
zu unterscheiden. Trotz des Begehrens, ähnlich zu werden, besteht ein Verlan-
gen nach Unterscheidung und Eigenständigkeit. 6 Die Dynamik von Tänzen
drängt gleichzeitig auf Wiederholung und Differenz und erzeugt damit Ener-
gien, die die Inszenierungen und Aufführungen von Tänzen vorantreiben.
Bei der Wiederholung geht es darum, in einem mimetischen Prozess gleich-
sam einen „Abdruck" früherer Tänze zu nehmen und ihn auf neue Situationen
zu beziehen. Die Wiederholung des Tanzes führt nie zur genauen Reproduk-
tion des früheren Tanzes, sondern stets zur Erzeugung einer neuen Inszenie-
rung und Aufführung, in der die Differenz zur früheren ein konstruktives Ele-
ment ist. In dieser Dynamik liegt der Grund für die Produktivität mimetischer
Handlungen. Unter Wahrung der Kontinuität bietet sie Raum für Diskontinui-
tät. Inszenierungen und Aufführungen von Tänzen machen es möglich, das
Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität auszuhandeln. Dabei spielen die
jeweiligen Bedingungen der Individuen und Gruppen für die unterschiedlichen
Handhabungen impliziter Muster und Schemata eine wichtige Rolle.
Filr die Weitergabe eines praktischen Wissens vom Tanz ist die Sinnlichkeit
der mimetischen Prozesse konstitutiv, die an den menschlichen Körper gebun-
den sind, sich auf das menschliche Verhalten beziehen und häufig unbewusst
sind. Durch mimetische Prozesse inkorporieren Menschen Bilder und Schemata
von Tänzen und machen sie zum Teil ihrer inneren Bilder- und Vorstellungs-
welt. Mimetische Prozesse überführen die Welt des tänzerischen Ausdrucks in
die innere Welt der Menschen. Sie tragen dazu bei, diese innere Welt durch
Bilder vom Tanz kulturell anzureichern und zu erweitern. Die so entstandenen
mentalen Bilder und die mit ihnen zusammenhängenden synästhetischen Er-
fahrungen sind von Kultur zu Kultur, Generation zu Generation, Milieu zu
Milieu unterschiedlich.
Da praktisches Wissen, Mimesis und Performativität wechselseitig mitein-
ander verschränkt sind, spielt die Wiederholung bei der Weitergabe des Wis-
sens vom Tanz eine wichtige Rolle. Tänzerische Kompetenz entsteht nur in
Fällen, in denen ein geformtes Verhalten wiederholt und in der Wiederholung
verändert wird. Ohne Wiederholung, ohne den mimetischen Bezug zu etwas
Gegenwärtigem oder Vergangenem entsteht keine kulturelle Kompetenz. Des-
wegen ist Wiederholung ein zentraler Aspekt der Vermittlung eines prakti-
schen Tanz-Wissens.
Wenn Tänze kulturelle Identität darstellen, dann gewähren sie Menschen auch
Erfahrungen von Alterität. 7 Sie sind Ausdruck kultureller Vielfalt und können
für kulturelle Heterogenität, d. h. für Andersheit und Alterität sensibilisieren.
Nur dadurch, dass ein Sinn für Alterität entwickelt wird, kann eine Vereinheit-
lichung von Kultur als Folge unifonnierender Globalisierungsprozesse vermie-
den werden. Mit Hilfe von Tänzen aus anderen Kulturen können Menschen
für die Bedeutung der Vielfalt des kulturellen Erbes sensibilisiert werden. Nur
mit Hilfe dieser Erfahrung sind sie in der Lage, mit Fremdheit und Differenz
umzugehen und ein Interesse am Nicht-Identischen zu entwickeln. Neben
Tänzen aus fremden Kulturen tragen dazu auch viele zeitgenössische Tänze
hoher ästhetischer Qualität bei.
Individuen sind keine in sich geschlossenen Entitäten. Sie bestehen aus
vielen widersprüchlichen und fragmentarischen Elementen. Rimbaud fand für
diese Erfahrung den nach wie vor gültigen Ausdruck „Ich ist ein Anderer".
Auch Freuds Erfahrung, dass das Ich nicht Herr im eigenen Haus ist, weist in
diese Richtung. Die Integration der aus dem Selbstbild ausgeschlossenen Teile
der Subjekte ist eine Bedingung dafür, dass Andersartigkeit und Alterität im
Außen wahrgenommen und respektiert werden können. Nur wenn Menschen
ihre eigene Alterität wahrzunehmen vermögen, sind sie in der Lage, die Alteri-
tät von Tänzen und die Andersartigkeit anderer Menschen wahrzunehmen und
mit beidem produktiv umzugehen. Gelingt es, das Andere in der eigenen Kul-
tur wahrzunehmen, entsteht Interesse am Fremden in anderen Kulturen und
die Möglichkeit, dieses wertzuschätzen. Dazu ist es notwendig, die Fähigkeit
zu entwickeln, vom Anderen her, also heterologisch zu empfinden und zu ver-
suchen, sich selbst mit den Augen anderer zu sehen.
Der Entwicklung dieser Fähigkeit stehen einige Faktoren entgegen. Zu den
wichtigsten gehören die in den europäischen Kulturen besonders geschätzten
Faktoren der Rationalität und Individualität, die bestimmte Muster der Welt-
erfahrung und Weltdeutung enthalten. Häufig sind diese so bestimmend, dass
sie Erfahrungen der Alterität nicht zulassen. Bei Tänzen spielen diese beiden
Formen verbreiteter Reduktion von Fremdheit eine eher geringe Rolle. Denn
bei ihnen sind es die Körperlichkeit, die Bewegungen und Rhythmen, die Al-
terität vermitteln und die kaum durch Rationalität und Individualität einge-
schränkt werden. In Tänzen wird Alterität durch Performativität vermittelt. In
mimetischen Prozessen machen Tänzer und Zuschauer fremde Figurationen
nach, lassen sich durch diese erfassen und inkorporieren sie. Insofern dabei
Bewegungen, Rhythmen und Figurationen aus fremden Kulturen assimiliert
werden, entstehen neue Form-, Rhythmus- und Bewegungsverbindungen. Im
Zeitalter der Globalisierung sind diese Hybridbildungen besonders verbreitet,
bei denen sich die Herkunft einzelner Strukturelemente nicht mehr oder nicht
mehr eindeutig angeben lässt. Angesichts der Tatsache, dass heute immer
mehr Menschen in mehreren Kulturen gleichzeitig leben, nehmen hybride
Darstellungs- und Ausdrucksformen besonders an Bedeutung zu. 8 Die transna-
tionale Jugendkultur und die Avantgarde des zeitgenössischen Tanztheaters
enthalten dafür viele Beispiele. 9
4. Anthropologische Strukturmerkmale
Betrachtet man Tänze als zentrale Elemente des immateriellen kulturellen Er-
bes und damit unter einer anthropologischen Perspektive, so lassen sich einige
Strukturmerkmale von Tänzen skizzieren, die wichtige Dimensionen kenn-
zeichnen, aber notwendigerweise unvollständig sind.
Raum und Zeit im Tanz. Tänze sind an die Räumlichkeit und Zeitlichkeit
des menschlichen Körpers gebunden und entfalten ihre Figurationen im Raum
und in der Zeit. Sie werden verbunden durch Bewegungen, in denen sich der
menschliche Körper allein oder mit anderen Körpern in zeitlichen Sequenzie-
rungen im Raum bewegt. In diesem Prozess spielen der Kontext und die Rah-
mung des Raums und der Zeit eine wichtige Rolle. In diese gehen historische
und kulturelle, kollektive und individuelle Elemente ein, die die Darstellung,
den Ausdruck und die Atmosphäre des Tanzes bestimmen. Die Bildszenarien,
die virtuellen Räume und die mehrdimensionalen Zeitordnungen des zeitge-
nössischen Avantgarde-Tanzes schaffen Bedingungen von Raum und Zeit,
welche die Potentiale des Tanzes erweitern.
Tanz und Bewegung. In den Bewegungen des Tanzes macht der Körper
Erfahrungen mit sich, mit der Musik und den Bewegungen der Mittänzer. In
seinen Bewegungen entwickelt er die Fähigkeit des Entwurfs, er formt sich
und wird zu einem Instrument, das eingesetzt wird, ohne im funktionalen Ge-
brauch aufzugehen. Die Bewegungen des Tanzes enthalten einen „Überschuss"
in Darstellung und Ausdruck. In ihnen werden Figurationen imaginiert und
handelnd eingeholt. Die Bewegungen des Tanzes formen den Körper, der sie
hervorbringt; sie erzeugen Imaginationen und realisieren diese in wiederholten
Inszenierungen und Aufführungen. Sie sind regelmäßig und Ausdruck von
Ordnung. In den Bewegungen des Tanzes zeigt sich die Gelehrigkeit des Kör-
pers; sie stellt sich in Übungen und Wiederholungen dar. In den Bewegungen
des Tanzes entsteht ein implizites Wissen, dessen Spektrum sehr umfangreich
ist. Je nach Tanz sind seine Bewegungen mehr oder weniger in soziale Macht-
strukturen eingebettet oder wie bei der zeitgenössischen Avantgarde von die-
sen weitgehend freigesetzt.
Tanz und Gemeinschaft. Gemeinschaften ohne Tänze sind undenkbar. Über
den symbolischen Gehalt der Interaktionsformen und vor allem über die per-
Ihre Tanzbewegungen gelingen nur, wenn sie sich aufeinander beziehen und
kooperieren. Sie bearbeiten die sie trennenden Differenzen, indem sie sich im
Tanz mimetisch zueinander verhalten und sich einander anähneln. Unter der
momentanen Zurückstellung von Differenzen erzeugen sie in rhythmischen
Bewegungen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Im Tanz, in dem gemein-
schaftliche Gefühle erzeugt, bestätigt und verändert werden, rücken rituali-
sierte Inszenierungsformen, körperliche Handlungs- und Spielpraktiken sowie
mimetische Zirkulationsformen in den Mittelpunkt. Unter einer performativen
Gemeinschaft der Tanzenden wird deshalb ein Handlungs- und Erfahrungs-
raum verstanden, der sich durch inszenatorische, mimetische und ludische Ele-
mente auszeichnet. 11
Tanz und Transzendenz. In vielen Kulturen haben Tänze einen Bezug zur
kosmischen Ordnung, zu Göttern, Geistern, Toten und Ungeborenen. Mit Hilfe
von Tänzen wird versucht, Einfluss auf die Mächte des Jenseits zu gewinnen.
In vielen Fällen sind diese Tänze Teil von Opferritualen, mit denen Götter und
Geister wohlgesonnen gestimmt werden sollen. Meistens geschieht dies mit
magischen Tänzen, in denen sich die Menschen mit Hilfe von Masken und
anderen „Requisiten" übernatürliche Kräfte zuschreiben, mit denen sie dann
die bösen Götter und Geister vertreiben und bannen können. Nicht selten mo-
bilisieren diese Tänze durch Rausch und Ekstase „übermenschliche" Kräfte,
mit denen die Bedrohung und Gefährdung der Welt abgewehrt werden soll. In
diesen Tänzen etablieren die Menschen mit Hilfe von Exklusion und Inklusion
Ordnung und Macht, durch die sie auch die kosmische Ordnung zu sichern
trachten.
Tanz und praktisches Wissen. Wer tanzt, lernt viel mehr als nur tanzen. Im
Tanzen entwickelt sich eine weit über den Tanz hinaus reichende, auch für an-
dere Lebenszusammenhänge wichtige körperliche Kompetenz. Mit ihr einher
geht eine Sensibilität für Bewegungen und Rhythmen, für Raum und Zeit, für
Klänge und Atmosphären. Im Tanz entsteht ein praktisches, körperbasiertes
Wissen, das in mimetischen Prozessen erworben wird. 12 In dieses nehmen die
Handelnden Bilder, Rhythmen, Schemata, Bewegungen in ihre Vorstellungs-
welt auf. Ihre mimetische Aneignung führt bei den Handelnden zu einem
praktischen Wissen, das auf andere Situationen übertragbar ist. Das praktische
Wissen wird in der Wiederholung geübt, entwickelt und verändert. Das so in-
korporierte Wissen hat einen historischen und kulturellen Charakter und ist als
solches für Veränderungen offen. 13
Tanz und Asthetik. Auf Grund ihres Darstellungs- und Ausdruckscharakters
sowie ihrer Performativität haben alle Tänze eine ästhetische Dimension, die
deutlich macht, dass Tänze menschliche Ausdrucksformen sind, die sie zu
wertvollen Bestandteilen des kulturellen Erbes der Menschheit machen, die
Wenn Tänze Darstellungsformen von Kulturen sind, dann spiegelt sich in ihnen
auch die kulturelle Vielfalt wider, die trotz der vereinheitlichenden Tendenzen
der Globalisierung das kulturelle Leben in der Welt bestimmt. Geht man davon
aus, dass es für die Weiterentwicklung des menschlichen Zusammenlebens
mehr denn je erforderlich ist, mit kultureller Diversität umgehen zu können,
dann bieten die Praktiken des „immateriellen" - nicht in Monumenten festge-
haltenen - kulturellen Erbes und insbesondere die Tänze Möglichkeiten, sich
gegenüber dem Fremden zu öffnen und Erfahrungen im Umgang mit kulturel-
ler Vielfalt zu machen. Auch für den Bereich der Bildung liegt hier eine Her-
ausforderung und Chance; Bildung muss heute mehr denn je als interkulturelle
Aufgabe begriffen werden. 14
Tänze sind Darstellungs- und Ausdrucksformen der Menschen, die etwas
erfahrbar machen, was ohne sie nicht erfahrbar wäre. In vielen Tänzen experi-
mentieren die Menschen mit sich, mit ihrer Geschichte und ihrer Kultur und
versuchen etwas auszudrücken, was sich anders nicht darstellen und aufführen
lässt. Daher haben viele Tänze, vor allem aus dem Bereich der Tanzkunst,
einen experimentellen Anspruch, der die Tänzer dazu anregt, etwas mit den
Mitteln der Inszenierung und Aufführung des Körpers zu erfinden und zu
erforschen, was zum Wissen vom Menschen beiträgt. Nähert man sich diesem
Wissen heute von Seiten der Anthropologie, so bieten sich vor allem drei
Paradigmen anthropologischer Forschung an, mit denen sich eine anthropolo-
gisch orientierte Tanzforschung konstituieren kann. Dabei handelt es sich um
die philosophische Anthropologie, wie sie in Deutschland entwickelt wurde,
die den prinzipiell offenen Charakter menschlicher Geschichte und die Mög-
lichkeiten menschlicher Perfektibilität betont; die historische Anthropologie
der „Schule der Annales", die den historischen Charakter menschlicher Kultur
und Fragen der Erforschung von Mentalitäten ins Zentrum stellt; sowie die
angelsächsische Kulturanthropologie oder Ethnologie mit ihrem Interesse an
kultureller Vielfalt und Heterogenität. 15 Auf der Basis dieser Paradigmen steht
Literatur
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Renate Schlesier
Der Tanz gehörte lange, und gehört weithin noch heute, zu den Stiefkindern
der Anthropologie. Das ist nicht selbstverständlich. Denn menschliche Tänze
sind seit den Felsbildern steinzeitlicher Höhlen dokumentiert und haben auch
in den modernsten Gesellschaften nichts von ihrer Attraktion und Antriebskraft
verloren. Kaum eine geformte Verhaltensweise des Menschen ist, durch alle
Zeiten und Räume hindurch, so weit verbreitet wie der Tanz. Dennoch ließ die
wissenschaftliche Aufinerksamkeit der Kulturhistoriker, Ethnologen und Anthro-
pologen für den Tanz, wie von den wenigen Spezialisten (vorwiegend übrigens
Spezialistinnen) auf diesem Gebiet beklagt wird, bis in die jüngste Zeit sowohl
quantitativ wie qualitativ sehr zu wünschen übrig. 1 Wie ist das zu erklären?
Zwei Schwierigkeiten scheinen es vor allem zu sein, die der anthropologi-
schen Analyse des Tanzes im Wege stehen: die Schwierigkeit, Tanz zu defi-
nieren, und die Schwierigkeit, Tanz zu beschreiben und aufzuzeichnen. Dass
es sich in beiden Fällen überhaupt um Schwierigkeiten handelt, ist erst im 20.
Jahrhundert ins wissenschaftliche Blickfeld gerückt.
Die Definition des Tanzes erweist sich zunächst als ein Problem der kultur-
abhängigen Benennung. Was Tanz ist, schien europäischen Wissenschaftlern
früherer Zeitalter sonnenklar. Man ging von dem aus, was in den modernen
europäischen Sprachen „Tanz" genannt wurde, und zögerte nicht, alles das
ebenfalls „Tanz" zu nennen, was in anderen Kulturen dem ähnlich zu sein
schien. Seit wenigen Jahrzehnten nur wird ernst genommen, dass es in vielen
Gesellschaften kein Wort gibt, das dem okzidentalen Konzept „Tanz" ent-
spricht, und dass andererseits manche Gesellschaften über Begriffe verfügen,
die zwar auch „Tanz" im okzidentalen Sinne, aber zugleich sehr viel mehr um-
fassen. Schon das altgriechische Wort choros etwa, das durchaus mit „Tanz"
übersetzt werden kann, ist mehrfach performativ konnotiert und bezeichnet
darüber hinaus zugleich den „Chor" (von Sängern) und den Platz, an dem die
Darbietungen von Chören und Tänzern aufgeführt werden. 2
Sogar in Arbeiten über die Anthropologie des Körpers oder der Bewegung kommt der Tanz
bis in die jüngste Zeit oft gar nicht vor (vgl. z. 8. Asad 1997) oder wird nur am Rande er-
wähnt (z. 8. Gebauer/Wulf 1998; Gebauer 2004). Zu einem Gegenbeispiel vgl. Godelier 1995.
Zu neueren ethnologischen Fallstudien zum Tanz vgl. z. 8. Rein 1994; Krasberg 2002.
2 Siehe hierzu z.B. Fitton 1973; Petersmann 1991; Lonsdale 1993; Naerebout 1995.
Kulturelle Artefakte 133
3 Kaeppler 1996.
4 Spencer 1985; Mohr 2004.
5 Zu Laban siehe Oberzaucher-Schüller 2003.
6 Vgl. dazu z.B. Bernard 2001 sowie in Frankreich die Arbeiten des Centre national de la danse:
Rousier/Sebillotte 2004. Siehe auch einen aktuellen Überblick zu Choreographie und Tanz
bei Brandstetter 2005a. Zur angelsächsischen „Ethnochoreologie" vgl. Nahachewsky 1993.
134 Renate Schlesier
eher: sieb ,,noch im Embryo- oder Foetus-Stadium" befindet,7 und dass weder
eine sichere Materialbasis existiere noch die gängigen, an den Universitäten
bibliographisch sanktionierten Tanz-Definitionen der Sache adäquat seien (sie
selbst vertritt einen pragmatisch-eklektischen, vor allem von Saussures Lingu-
istik angeregten strukturalistischen Standpunkt).
Die unkomfortable Lage der gegenwärtigen anthropologischen Tanzfor-
schung hängt jedoch nicht allein mit den bisher genannten Schwierigkeiten zu-
sammen, sondern erklärt sich auch durch einen wissenschaftsgeschicbtlicben
Umstand, der die Tanzanthropologie zu einem besonders lehrreichen Parade-
beispiel für die spezifische Wirkung eines aus divergierenden Elementen be-
stehenden Traditionsgefüges macht. In diesem Traditionsgefüge überdauern
nämlich Versatzstücke und Voraussetzungen der prominentesten Interpreta-
tionsmodelle des modernen anthropologischen Universalismus bis beute, ob-
wohl die Modelle selbst längst ihre allgemeine Akzeptanz verloren haben.
Der aufklärerische Universalismus, die Auffassung von der Zeiten und
Räume verbindenden Einheit des Menschengeschlechts und seiner Berufung
zum Fortschritt, stand an der Wiege der Anthropologie. 8 Den kosmopolitischen
Pionieren der Anthropologie seit dem 18. Jahrhundert war nicht verborgen ge-
blieben, dass auch der Tanz einem universalistischen Paradigma dienstbar ge-
macht werden kann. Georg Forster etwa, in seiner mit der Französischen Re-
volution zeitgleichen Schrift Leitfaden zu einer küf'!ftigen Geschichte der
Menschheit von 1789, schätzte die Tänze der „Wilden", in ihrer Verknüpfung
mit destruktiver Kampfeslust, als Zeichen der Abkehr des Menschen vom Sta-
dium der Tierheit ein:
Tanz und Kampf sind die ersten Fertigkeiten des Wilden, der sich um eine einzige Stufe
nur über das Bedürfniß der Thierheit erhebt. Er fühlt seine Kraft im Vernichten; im Tau-
mel der Siegesfreude stampft er unwillkürlich die Erde mit seinen Füßen; alles an ihm ist
unbändiger Knabenmutwille, und inneres Streben ohne Richtung. 9
Die dem zugrunde liegende Auffassung der „Wildheit" als Kindheitsstufe der
Menschheit wird bis ins 20. Jahrhundert, bis in Freuds Psychoanalyse hinein,
lebendig bleiben, wenn auch Freud die angebliche Richtungslosigkeit des
„Knabenmutwillens" phylogenetisch wie ontogenetisch unwiederbringlich ins
Reich der Illusion verwiesen hat. Die Möglichkeit aber, von den gegenwärti-
gen „Wilden", und nicht zuletzt den Kindern, den ,,kleinen Primitiven" (wie
Freud sie nennt), 10 auf die Anfänge der Menschheit zu schließen, wurde von
Freud nicht nur nicht angezweifelt, sondern theoretisch umfangreich ausge-
baut, bekanntlich mit Hilfe anderer Indikatoren als des Tanzes. 11
Als Indikator für die Entstehung der Idee der Religion bei den ,,Primitiven"
begegnet der Tanz jedoch, und zwar in einer höchst riskanten, wilden und
kämpferischen Form, bei einem Altersgenossen Freuds, Emile Durkheim
(1858-1917), an einer zentralen Stelle seines Hauptwerks Lesformes elemen-
taires de la vie religieuse (1912), im Kapitel über den Ursprung der totemisti-
schen Glaubensvorstellungen (croyances). Durkheim rekurriert dort auf die
Beschreibung des Feuerrituals der australischen Warramunga durch die briti-
schen Verwaltungsbeamten Baldwin Spencer und F. J. Gillen (The Native Tri-
bes o/Central Australia, 1899), deren Berichte fast gleichzeitig mit Durkheim
auch Freud zu eigenen Spekulationen über den Totemismus und den Ursprung
der Religion angeregt haben. Durkheim paraphrasiert den Höhepunkt des Ri-
tuals wie folgt:
Schon seit der Abenddämmerung fanden allerlei Arten von Prozessionen, von Tänzen,
von Gesängen im Licht der Fackeln statt; auch wuchs die allgemeine Aufregung ständig.
In einem bestimmten Moment nahmen zwölf Helfer jeweils eine Art von großer, flam-
mender Fackel in die Hand, und einer von ihnen, der seine Fackel wie ein Bajonett hielt,
griff damit eine Gruppe von Eingeborenen an. Die Stöße wurden mit Stöcken und Lan-
zen pariert. Ein allgemeines Handgemenge entwickelte sich. Die Männer sprangen.
bäumten sich auf, stießen wildes Gebrüll aus; die Fackeln leuchteten, knisterten pras-
selnd beim Schlag auf die Köpfe und Körper, schlugen funken in alle Richtungen. „Der
Rauch, die sämtlich in Flammen stehenden Fackeln, dieser Regen von funken, die Masse
von tanzenden und brüllenden Männern, alles dies, sagen Spencer und Gillen, bildete
eine Szene von einer Wildheit, über die man mit Worten unmöglich eine Vorstellung
vermitteln kann." 12
12 Durkheim 191211968, S.31 If.: „Deja, depuis Ja tombee de Ja nuit, toutes sortes de proces-
sions. de danses, de chants avaient eu Iieu a la lumiere des flambeaux; aussi l'effervescence
generale allait-elle croissant. A un moment donne, douze assistants prirent chacun en main
une sorte de grande torche enflammee et l'un d'eux, tenant Ja sienne comme une baionnette,
chargea un groupe d'indigenes. Les coups etaient pares au moyen de bätons et de lances. Une
melee generale s'engagea. Les hommes sautaient. se cabraient, poussaient des hurlements
sauvages; les torches brillaient, crepitaient en frappant les tetes et les corps, lan~aient des
etincelles dans toutes les directions. ,La fumee, les torches toutes flamboyantes, cette pluie
d'etincelles, cette masse d'hommes dansant et hurlant, tout cela, disent Spencer et Gillen, for-
mait une scene d'une sauvagerie dont il est impossible de donner une idee avec des mots.' " -
Die Zitate aus dem Französischen sind von der Verf. übersetzt.
136 Renate Schlesier
selbst waren es also, aus denen die religiöse Idee geboren worden zu sein
scheint." 13
Vierzig Jahre zuvor hatte Nietzsche in seinem berühmt-berüchtigten Werk
Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) den exaltierten
Tanz ebenfalls als religiöses Signum gewertet. Von Durkheims soziologi-
schem Ernst und von seiner beklommenen Nüchternheit ist bei Nietzsche je-
doch nichts zu spüren. Im Gegenteil. Nietzsche, von dem imaginierten „glü-
henden Leben dionysischer Schwärmer" selbst entflammt, lässt sich davon zu
ekstatischer Verkündigung eines ,,Evangeliums der Weltenharmonie", 14 ja gar
einer Vergöttlichung des Menschen hinreißen:
Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsam-
keit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die
Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung. Wie jetzt die
Thiere reden, und die Erde Milch und Honig giebt, so tönt auch aus ihm etwas Ueber-
natürliches: als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er
die Götter im Traume wandeln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunst-
werk geworden [... ]. 15
Nicht nur ein paganes Gegenmodell zum Christentum wird hier beschworen.
Wenn es zuvor heißt, dass bei solchen Tänzen „der Sklave freier Mann" 16 ge-
worden ist, klingt die von heutigen Kulturanthropologen (und wohl auch von
heutigen Tänzern) meistens kaum ernst genommene, sozial befreiende, poli-
tisch-utopische Macht des Tanzes bei Nietzsche an. Im Zeichen dieser subver-
siven Macht des Tanzes hatte schon Heine in Die Götter im Exil (1853) die
Dionysosfeste des Altertums wehmütig als „Cancan der antiken Welt", „ganz
ohne hypokritische Verhüllung, ganz ohne Dazwischenkunft der Sergeants-de-
ville einer spiritualistischen Moral" 17 in Erinnerung gerufen. Und unter eben
diesen Auspizien wurde Marx, zur Zeit seiner Freundschaft mit Heine, in
seiner Einleitung zur Kritik der Hege/sehen Rechtsphilosophie (1844) zu einer
optimistischen Metaphorik inspiriert: „man muß diese versteinerten Verhält-
nisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigene Melodie vor-
singt". 18
Das Traditionsgefüge, in das die vielfältig universalistischen Motive einge-
gangen sind, die bei Forster und Durkheim, bei Nietzsche, Heine und Marx
divergierende und sich überschneidende Spuren hinterlassen haben, wurde im
Jahre 1933 in einem Buch neu akzentuiert, von dem jetzt die Rede sein soll:
Eine Weltgeschichte des Tanzes von Curt Sachs. 19 Dieses Werk war jahrzehn-
telang tanztheoretisch richtungweisend und ist bis heute, obwohl seit mehr als
13 Ebd., S. 313: „C'est donc dans ces milieux sociaux et effervescents et de cette effervescence
meme que parait etre nee l'idee religieuse."
14 Nietzsche 187211972, S. 25.
15 Ebd., S. 26.
16 Ebd., S. 25.
17 Heine 185311981, S. 406; siehe dazu Schlesier 2001.
18 Marx 184411956, S. 381.
19 Sachs 1933; vgl. dazu vor allem Youngerman 1974.
Kulturelle Artefakte 137
drei Jahrzehnten scharfer Kritik ausgesetzt, eines der meistbenutzten und -zi-
tierten Standardwerke geblieben.
Curt Sachs ( l 881-1959), der aus einer seit dem 16. Jahrhundert in Deutsch-
land ansässigen jüdischen Familie stammte, war einer der führenden Musik-
wissenschaftler des 20. Jahrhunderts. 20 Sachs hatte nach einer musikprakti-
schen Ausbildung in Kunstgeschichte promoviert, leitete von 19 l 9 an die
Staatliche Instrumentensammlung in Berlin und lehrte bis zu seiner Emigra-
tion 1933 Instrumentenkunde in verschiedenen akademischen Institutionen
Berlins (nach seiner musikwissenschaftlichen Habilitation seit 1921 auch als
Professor an der Berliner Universität). Während der Weimarer Republik inau-
gurierte er mit Regierungsauftrag Anfang der dreißiger Jahre in Kairo die Re-
form der ägyptischen Musikpädagogik. Zwischen 1933 und 1937 arbeitete er
am Pariser Musee du Trocadero (Musee de l'homme), wo er die erste umfas-
sende und multikulturelle Schallplattensammlung (Anthologie sonore) heraus-
gab. Seit 1937 wirkte er in den USA, vor allem an der New York University,
der Columbia University und als Konsultant der Musikabteilung der berühm-
ten New York Public Library. Sachs war ein Polyhistor und Universalgelehr-
ter, der zahlreiche lebende und tote Sprachen beherrschte und dessen akademi-
sche Publikationstätigkeit bis in die Ägyptologie, Altorientalististik, Sinologie
und Ethnologie hineinreichte.
Dass Sachs sein umfassendes Wissen in den Dienst übergreifender kultur-
historischer Interessen stellte und morphologisch zu strukturieren suchte, do-
kumentiert auch die Weltgeschichte des Tanzes, noch 1933 im Berliner Reimer-
Verlag publiziert. Das Buch hat seine Wirkung bis in die siebziger Jahre hinein
vorwiegend außerhalb Deutschlands entfalten können, in Frankreich (durch die
französische Übersetzung 1938) und vor allem in den USA, wo die englische
Übersetzung schon 1937 erschien und durch die Paperback-Edition von 1963
einem breiten Publikum zugänglich wurde. (In Deutschland ist das Buch, in
einem 1976 bei Olms aufgelegten und noch 1992 reproduzierten Nachdruck,
nach wie vor auf dem Markt zugänglich.)
Die Rezeption des Buches in den USA, wo Sachs schon bald zur wichtigs-
ten tanzgeschichtlichen Autorität avancierte, ist ein besonders lehrreiches Bei-
spiel für eine wissenschaftsgeschichtliche Weichenstellung, die sich aus der
Verquickung divergierender Wissenschaftstraditionen ergeben kann. Es lässt
sich wohl ohne Übertreibung sagen, dass der Aufschwung der modernen eng-
lischsprachigen Tanzethnologie Sachs' Konzepten und Synthesen entschei-
dende Anregungen verdankt. Eine der frühesten Pionierinnen der „Choreolo-
gie", die amerikanische Kunst- und Theaterwissenschaftlerin Gertrude Pro-
kosch Kurath, die sich auch als Tänzerin und Choreographin betätigte und in
den vierziger Jahren vom Tanz zur Tanzforschung übergegangen war, beruft
sich in ihrem für die neue Forschungsrichtung bahnbrechenden Panorama of
Dance Ethnology von 1960 in zentralen Materialfragen und methodologischen
Orientierungen auf Sachs. 21 Mit Sachs plädiert Kurath vor allem für die Auf-
hebung der Trennung von Kunsttanz und ethnischem Tanz und übernimmt
von Sachs die Unterscheidung von „extravertierten" und „introvertierten"
Tänzen. Skeptisch ist sie allenfalls gegenüber seiner These vom Tanz als einer
„Universalsprache" des Menschen.
Erst seit Anfang der siebziger Jahre wurde Sachs' Buch massiver Kritik aus-
gesetzt, zunächst durch eine der Wegbereiterinnen linguistischer Tanzethnolo-
gie, Joann Wheeler Kealiinohomoku, 22 vor allem aber durch eine grundlegende
Rezension von Suzanne Youngerman. 23 Y oungermans Studie zeichnet sich
besonders dadurch aus, dass sie den wissenschaftshistorischen Zusammenhang
von Sachs' Buch offen legt und zeigt, wie sehr es durch Paradigmen der deut-
schen und österreichischen Ethnologie der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhun-
derts geprägt ist, die in den englischsprachigen Ländern nie Fuß gefasst haben:
vor allem die von deutschen Kulturmorphologen entwickelte, universalge-
schichtlich ausgerichtete „Kulturkreislehre", die in Wien von einem der
schärfsten Gegner Freuds, Pater Wilhelm Schmidt (1868-1954), dem Vertreter
der „Urmonotheismus"-Theorie, zu einem christlich-apologetisch motivierten
System ausgebaut worden war. 24
Nach der Kulturkreislehre sind Kulturen geographisch begrenzte, morpho-
logisch streng voneinander unterschiedene und in sich geschlossene „organi-
sche" Gebilde, die so lange unverändert bleiben, wie sie nicht mit einer ande-
ren Kultur in Kontakt geraten. Eine aus der inneren historischen Dynamik
einer Kultur herrührende Entwicklung, wie sie vom Evolutionismus propagiert
wurde, sollte mit der Kulturkreislehre ausdrücklich ausgeschlossen werden.
Sachs' morphologischen Neigungen kommt diese Lehre verständlicherweise
sehr entgegen. Da die Kulturkreislehre aber auf möglichst handgreifliche Un-
terscheidungsmerkmale angewiesen ist, wie etwa den Gebrauch oder Nicht-
Gebrauch bestimmter Gegenstände, solche materiellen Kriterien aber für eine
Tanz-Typologie kaum zu gebrauchen sind, kombiniert Sachs das Kulturkreis-
Paradigma mit Elementen anderer universalistischer Deutungsmodelle. Dazu
gehört zunächst ein geschichtsphilosophisches Modell von Geschlechtsspezifi-
tät, das auf Johann Jakob Bachofens „Mutterrecht"-Theorie (von 1861) zu-
rückgeht. Daran anknüpfend unterscheidet Sachs zwischen mutterrechtlichen
und vaterrechtlichen Kulturen, denen unterschiedliche Tanz-Typen zugeordnet
werden. Sachs charakterisiert „männlich betonte Kulturen" beispielsweise, mit
nicht weiter reflektierter, angeblicher Selbstverständlichkeit, durch „Spring-
tänze", „Schlagtänze" und „Hubtänze", „weiblich betonte Kulturen" hingegen
durch „Wirbeltänze" und „Bauchtänze". 25 Der zusätzlichen Stereotypisierung
nach ihnen festgehalten hatten), 32 sondern bemüht sich meist auch um eine
peinliche Vermeidung von Anleihen aus der Vor- und Frühgeschichte. 33 Die
lang anhaltende Konkurrenzlosigkeit von Sachs' historisch-typologisch allum-
fassendem Erklärungsmodell menschlicher Tänze hat jedoch bewirkt, dass auf
Sachs zurückgehende, statische und unhistorische Kulturauffassungen, die der
Kulturkreislehre oder einem schematischen Evolutionismus verpflichtet sind,
auch in neueren ethnologischen Tanztheorien überdauern konnten, wie auf im-
plizite Weise z.B. seit Ende der sechziger Jahre in dem „Choreometrik"-Kon-
zept von Alan Lomax, einer Kultur-Taxonomie. 34 Als ein besonders eklatantes
Beispiel einer expliziten epigonalen Verwendung von Sachs' Tanzgeschichte
ist hier die 1992 publizierte und unter Tanz-Interessierten nach wie vor ein-
flussreiche Dissertation der Sozialwissenschaftlerin und Historikerin Gabriele
Klein zu nennen. 35
Die Schwächen von Sachs' theoretischen Prämissen sind bereits einem der
bedeutendsten Soziologen und Anthropologen der ersten Jahrhunderthälfte,
Marcel Mauss, nicht entgangen. In einem 1934 vor der Pariser Societe de So-
ciologie gehaltenen Vortrag mit dem Titel Les techniques du corps empfiehlt
Mauss zwar seinen Zuhörern, unter Hinweis auf Sachs' zu dieser Zeit in Paris
gehaltene Vorlesungen, dessen „tres belle histoire de la danse" zur Lektüre
und schließt sich ausdrücklich Sachs' Unterteilung der Tänze in „extravertierte"
und „introvertierte" an, nicht ohne die Bedeutung der Psychoanalyse für eine
solche Klassifikation zu betonen. Von Sachs' damit verknüpfter Kulturunter-
scheidung in Gesellschaften männlicher und weiblicher Abstammung distan-
ziert sich Mauss jedoch ausdrücklich. 36 Von anderen Sachs-Lesern wurde be-
sonders seine weiterhin keineswegs unumstrittene Ableitung des menschlichen
Tanzes vom Tiertanz schon bald zurückgewiesen, folgenreich vor allem für
die Tanzethnologie der angelsächsischen Länder, durch die amerikanische
neukantianische Kunstphilosophin Susanne langer, die den menschlichen
Tanz als ursprüngliche religiöse Praxis versteht. 37
Dass Sachs' Weltgeschichte des Tanzes aber dennoch gerade innerhalb der
Ethnologie der USA so außerordentlich wirksam werden konnte, ist vielleicht
am ehesten dadurch zu erklären, dass sein Plädoyer für ein Studium der
38 Zu Franz Boas und seiner Schule: Stocking 1996; vgl. auch Schlesier 2000.
142 Renate Schlesier
Vater noch kurz vor seinem Tode beitrug. 39 In Franziska Boas' Tanztheorie
und -praxis werden, ähnlich wie bei Sachs, die enge Verbindung zwischen
Kunsttanz und ethnischem Tanz, die psychologischen Aspekte des Tanzes und
die Bedeutung der Musikinstrumente besonders stark betont.
Zu den wichtigsten neueren Tanz-Anthropologen der Boas-Schule gehörte
seit den sechziger Jahren Joann Wheeler Kealiinohomoku. Bei ihr kommen
auch, trotz massiver Vorbehalte gegenüber dem bei Sachs zuweilen aufschei-
nenden Evolutionismus, seine holistischen Deutungsmodelle wieder zu Ehren.
Kealiinohomoku, eine Schülerin von Gertrude Prokosch Kurath, definiert
„dance culture" als eine die einzelnen Performances übergreifende ganzheit-
liche ,J(onfiguration", in der „diachronische" und „synchronische" Kulturele-
mente sich verschränken. 40
Dass in den vergangenen Jahrzehnten, entsprechend dem auch in anderen
geisteswissenschaftlichen Disziplinen normativ wirksam gewordenen „linguis-
tic turn", vor allem in der exponierten englischsprachigen Tanz-Ethnologie der
linguistische Ansatz dominierte, der sich bereits in der Begriffswahl (diachro-
nisch-synchronisch usw.) und in methodischen Analogien zur Linguistik spie-
gelt, hängt nicht allein mit der Übernahme von Schemata des französischen
Strukturalismus zusammen. Linguistische Fragestellungen standen von An-
fang an im Mittelpunkt der Kulturanthropologie von Boas und seiner Schule
(siehe z.B. Edward Sapir), und auch für Sachs gehörte das Operieren mit der
Sprach-Analogie zu seinen entscheidenden tanztheoretischen Hilfsmitteln.
Erst vor diesem Hintergrund sind nicht allein die von der Boas-Tradition sti-
mulierten Arbeiten von Joann Kealiinohomoku (oder auch von Anya Peterson
Royce41 ), sondern auch beispielsweise diejenigen der Begründerin der sema-
siologischen Tanz-Forschung, Drid Williams, zu verstehen, wobei sie die Frage,
warum Menschen tanzen, zugunsten der behavioristischen, an die Sprechakt-
Theorie angelehnten Frage, was Menschen tun, wenn sie tanzen, am liebsten
ganz aus der Wissenschaft verbannen möchte. 42
Am wenigsten dogmatisch wird die linguistische Interpretation des Tanzes
heute durch Adrienne L. Kaeppler vertreten. In einem der aktuelleren kultur-
anthropologischen Handbücher, Encyclopedia of Cultural Anthropology, hat
sie in einem programmatischen Artikel eine Summe der Tanz-Anthropologie
in Geschichte und Gegenwart (bis zur Mitte der neunziger Jahre des 20. Jahr-
hunderts) vorgelegt. 43 Tanz besteht für Kaeppler aus „grammatisch" struktu-
rierten Bewegungsmotiven. Sie begreift Tanz sowohl als formalisiertes Bewe-
gungssystem, das wie eine Sprache gelernt und aufgezeichnet werden kann,
als auch - vor dem Hintergrund des „cultural turn" - als kulturspezifisches
39 Zu einem Beispiel für Franziska Boas' Pionierarbeit auf dem Gebiet der Tanz-Anthropologie
vgl. Boas 1944.
40 Kealiinohomoku 1974, S. 99.
41 Zum Beispiel Royce 1977.
42 Siehe Williams 1991, passim.
43 Kaeppler 1996; vgl. auch Kaeppler 1978.
Kulturelle Artefakte 143
Wissens- und Bedeutungssystem und räumt dem Tanz eine entscheidende Rolle
unter den „kulturellen Artefakten" ein.
Die Analyse von Tänzen, darin stimmen die Tanzanthropologen seit Boas
und Sachs überein, ist zum Verständnis menschlicher Kulturen unentbehrlich.
Die Favorisierung linguistischer Interpretationsmethoden hat es mit sich ge-
bracht, dass die unsprachlichen, ja antisprachlichen Elemente des Tanzes in
ihrer Spezifität von modernen Anthropologen lange Zeit kaum gewürdigt wur-
den. Gegenüber dem Programm möglichst restlos durchrationalisierter Tanz-
grammatiken gerät das erklärte Ziel auch der linguistisch orientierten Tanz-
anthropologen, das Erfassen kultureller Bedeutungen, leicht aus dem Blick.
Die Suggestion einer „Göttlichkeit" des Menschen im Tanz, wie sie Sachs auf
den Spuren Nietzsches beschworen hatte, ist darüber weitgehend in Verges-
senheit geraten, mehr noch als die subversive politische, ästhetische und eroti-
sche Qualität des Tanzes. 44 Doch wenn der Eindruck nicht trügt, ist abzuse-
hen, dass sich heutige Tanzanthropologen wieder stärker vom performativen
Reiz der Tanzekstase, die linguistisch nicht zu fassen ist und auch in „Kathar-
tik" nicht aufgeht, zu religions- und ästhetikgeschichtlichen Reflexionen pro-
vozieren lassen werden, wie dies etwa Durkheim oder Susanne Langer getan
hatten und wie dies, auf der Basis der britischen sozialanthropologischen Tra-
dition, von Paul Spencer inauguriert wurde. 45 An der Geschichte der Tanz-
Anthropologie lässt sich immerhin ablesen, dass auch ihre Verhältnisse ,.,zum
Tanzen gebracht" werden können, und sei es durch Kulturtransfer von Wis-
senschaftstraditionen.46
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44 Vgl. aber Brandsteuer 1995; Bollack 1997; Brandsteuer 2005b. Siehe auch, mit Berufung auf
Sachs, Breton 1949/ 1999, S. 1003.
45 Spencer 1985, S. 3-8.
46 frühere Versionen dieses Textes waren Gegenstand von Vorträgen ( 1997 bei der Tagung zum
Thema „Tanz und Literatur in der Modeme" am Deutschen Literaturarchiv in Marbach; 1999
am Frobenius-Institut der Universität Frankfurt/M.; 2005 bei der Jahrestagung des DFG-Son-
derforschungsbereichs 447 „Kulturen des Perfonnativen" in Berlin). Den Einladenden sowie
den Diskutanten bei diesen Anlässen, aber nicht zuletzt auch meinen Mitarbeitern im For-
schungsprojekt ,,Ritual und Risiko" am Stb 447, sei für produktive Debatten herzlich gedankt.
144 Renate Schlesier
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Axel Michaels
1. Einleitung
Was ist für Götter angemessen? Stillstand oder Bewegung? Stabilitas oder
Mobilitas? Wenn es normal ist, sich zu bewegen und zu stehen, dann kann es
- einer strukturalistischen und etwas unmodischen, aber dadurch nicht fal-
schen Maxime Edmund Leachs 1 folgend - für Götter angemessen sein, nur
das eine oder andere zu tun. Gott bewegt, ohne sich zu bewegen.2 Menschen
hingegen gehen und sitzen oder sind immer unterwegs. ,,Alle Beweglichkeit
ist Sterben", sagt Meister Eckhart,3 und im indischen Kontext gilt Statik,
Ruhe, das kosmische Equilibrium als besonders heilsfördemd. Beriihmt ge-
worden sind auch die syrischen Säulensteher, die Styliten, die im 4. bis 6.
Jahrhundert auf säulenartigen Plattformen (griechisch stylos) in der freien Luft
verweilten. Sie wollten damit das Stehen vor Gott zum Ausdruck bringen
oder, indem sie vor Ostern vierzig Tage mit ausgestreckten Armen beteten, das
Auferstehungsmotiv in Szene setzen. Im Jinismus hat die Statue von Gomma-
teshvara große Bekanntheit erlangt. Sie repräsentiert Bähubali, den legendären
Sohn des ersten irrtharikara, genannt Ädinätha, der in die Askese ging und
nackt ein Jahr stehend in Versenkung verbrachte - so lange, bis sich Schling-
pflanzen um seinen Körper rankten und Ameisenhaufen um die Füße bildeten.
In dem südindischen Pilgerort Shravana Belgola ist aus einem Bergfelsen eine
etwa fünfundzwanzig Meter hohe Statue dieses Heiligen gehauen worden.
Andererseits: Wenn Götter nur an einem Ort und unbeweglich sind, dann
können sie kaum omnipräsent sein. Diese Spannung zwischen stabi/itas und
mobilitas dei zeigt sich in vielen Religionen auf vielen Ebenen. 4 Asketen, diese
Halbgötter in Schwarz oder Orange, leben sie aus: Sie verharren in Klöstern
oder im meditativen Zazen oder in Yoga-Positionen (sanskrit äsana), oder sie
begeben sich auf die permanente Wanderschaft (peregrinatio perennis). 5 Götter
aber können beides zugleich: unbeweglich und beweglich sein. Die gewöhn-
lichen Menschen hingegen müssen sich entscheiden: Sie können die Nähe zu
den Göttern im Inneren suchen oder sie ausleben. Wenn diese Handlungen mit
Göttern zu tun haben, redet man meist von Ritualen. Eine besonders weiträumige
Ritualhandlung ist zum Beispiel die Prozession, eine andere der Ritualtanz.
Die Fragen, die mich in diesem Spannungsverhältnis beschäftigen, sind:
Was macht das Besondere eines Ritualtanzes innerhalb eines komplexen ritu-
ellen Handlungsgeschehens aus? Sind dann Ritual und Tanz überhaupt von-
einander zu trennen? Ist dann nicht jede Form choreographierter Bewegung
eine Form des Tanzes? Oder ist es sinnvoll, dem Tanz eine eigenständige An-
thropologie zuzusprechen? Und wie sehen dies Kulturen, in denen die Götter
(noch) tanzen - also Regionen, in die sich Friedrich Nietzsche wünschte?
Paul Spencer hat 1985 in dem von ihm herausgegebenen, einflussreichen
Band Society and the Dance: The Social Anthropology of Process and Perfor-
mance sehr treffend herausgearbeitet, wie sehr sich eine Anthropologie des
Tanzes von traditionellen Tanzkonzeptionen abheben muss, wenn sie sich kul-
turellen Kontexten öfthet. Er konnte dies natürlich nur tun, weil längst durch
Victor Turner und Richard Schechner der Boden poliert worden war. Und
doch hat er, gleich zu Beginn, auf eine bemerkenswerte Parallele zwischen
Tanz und Ritual hingewiesen, indem er die traditionelle Auffassung des Tan-
zes als ein „patterned movement as an end in itself that transcends utility" kri-
tisiert: „Such definitions assume that dance is self-contained, to be justified es-
sentially on aesthetic grounds; one is lulled into looking no further". 6
Solche traditionellen Definitionen lassen den Ritualforscher aufhorchen. Man
fühlt sich unweigerlich an Jack Goodys berühmte Definition des Rituals als „a
category of standardized behavior (custom) in which the relationship between
the means and the end is not ,intrinsic'" erinnert. 7 Oder an Victor Turners De-
finition: ,,Formal behavior prescribed for occasions not given over to techno-
logical routine that have reference to beliefs in mystical beings or powers. " 8
Spencer aber negiert die Eigenbedeutung des Tanzes und spricht sich im Wei-
teren dafür aus, Tanz als rituelle Handlung zu verstehen und dadurch sozio-kul-
turell einzubetten: ,,Dance is not an entity in itself, but belongs rightfully to the
wider analysis of ritual action, and it is in this context that one can approach it
analytically and grant it the attention it demands. In a very important sense, so-
ciety creates the dance, and it is to society that we must turn to understand it. " 9
Der soziokulturellen Einbettung des Tanzes ist grundsätzlich zuzustimmen,
um essentialistische Fragen und dadurch unsinnige Antworten zu vermeiden.
Ich selbst habe sogleich vor, den Tanz der Navadurga-Göttinnen in seinem so-
ziokulturellen Umfeld in Nepal zu erläutern. Aber - um es gleich vorweg zu
6 Spencer 1985, S. 1.
7 Goody 1961, S. 159.
8 Tumerffumer 1978, S. 243.
9 Spencer1985,S.38.
148 Alex Michaels
sagen - die Nivellierung von Tanz und Ritual erscheint mir ebenso problema-
tisch wie deren strikte Trennung.
Wenn nämlich trotz der soziokulturellen Einbettung Tanz und Ritual wesent-
lich durch das Kriterium der Zwecklosigkeit charakterisiert sind, gilt es nach
weiteren Spezifika des Tanzes zu fragen. Schechner hat in dieser Hinsicht da-
durch viel geleistet, dass er die Unterschiede zwischen rituellen und theatrali-
schen Handlungen im Performanz-Begriff fusionierte. Zwar polarisierte er zu-
nächst noch, indem er unter anderem die Wirksamkeit des Rituals dem Unter-
haltungscharakter des Theaters gegenüberstellte, 10 aber er fügte auch hinzu:
„The entire binary ,efficacy/ritual - entertainrnent/theatre' is performance: per-
formance includes the impulse to be serious and to entertain, to collect meanings
and to pass the time; to display symbolic behaviour that actualizes ,there and
then' and to exist only ,here and now'; to be oneself and to play at being
others; to be in trance and to be conscious; to get results and to fool around; to
focus the action on and for a select group sharing a hermetic language and to
broadcast to the largest possible audiences of strangers who buy tickets." 11
Auch Fischer-Liebte sieht mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwi-
schen Ritual und Tanz. Für sie teilen künstlerische und rituelle Aufführungen
Skript, Improvisation, Konstituierung von Wirklichkeit, Entertainment, Einbe-
ziehung und Rollenwechsel von Akteuren und Zuschauern sowie schwache
Rahmensetzung. 12 Aber das Ritual kennzeichnet sie zusätzlich durch die in
Schwellenerfahrungen hervorgerufenen Transformationen und das „Kollabo-
rieren von Kunst und Wirklichkeit".
Für beide, Schechner und Fischer-Liebte, ist also die Frage, wie sehr eine
Performanz eine Transformation beim aktiven bzw. passiven Teilnehmer be-
wirkt, die Trennlinie zwischen rituellen und künstlerischen Handlungskonzep-
ten. Ich will diesen Thesen nicht grundsätzlich widersprechen, aber ich möchte
sie testen, indem ich mich einem Geschehen zuwende, bei dem nicht nur ein-
zelne Personen und Götter, sondern eine ganze Stadt in (ritualisierte) Bewe-
gung gerät. Wie mir scheint, reichen die bisherigen Kategorien nicht aus, um
diesem Geschehen gerecht zu werden. Ich werde daher versuchen, zusätzliche
Kategorien einzuführen, aber zuvor muss ich versuchen, in aller gebotenen
Kürze das Geschehen möglichst dicht zu erfassen.
Noch bevor die Ausläufer der mächtigen Gipfel des Himalaya das indische
Tiefland erreichen, gibt es auf der gesamten Strecke zwischen Burma und
Kaschmir nur ein einziges Tal, in dem sich vor etwa zweitausend Jahren eine
zu Jassen: Büffel, Schaf, Ziege, Schwein und Huhn. Man bekommt dafür ihren
Segen, ein Stirnmal, Fäden, die man um den Hals bindet, etwas Zinnober, Blu-
men oder Oleanderblätter.
Die Navadurgäs repräsentieren auch die Mätfkäs, die ,.Mütter" genannten
acht Göttinnen, deren Sitze (pi{ha) das alte Bhaktapur umgeben und schützen.
Hinzu kommt eine neunte Göttin, Tripurasundari, im Zentrum der Stadt. Ro-
bert Levy ( 1990) nennt diese Göttinnengruppe die mru;u;lalischen Göttinnen
und deutet damit an, dass deren Orte ein Kraftfeld (mW}gala), eben die Stadt,
markieren und begrenzen. Tatsächlich sind die Acht Mütter (A~!amätfkäs) und
Neun Durgäs im Grunde identisch - mit der Einschränkung, dass die Namen
und auch die Anzahl teilweise variieren. Immer handelt es sich aber um eine
Gruppe im Grunde gleichrangiger, unverheirateter Göttinnen. Während jedoch
die A~!amätfkäs weitgehend unbeweglich sind, können die Navadurgäs ver-
schiedene Orte aufsuchen und damit ein weiteres Territorium abdecken. So
tanzen sie an den einundzwanzig Quartieren der Stadt und an etwa zwölf ver-
schiedenen Orten des ehemaligen Königtums von Bhaktapur. 18
Hier haben wir wieder die eingangs angesprochene Polarität von Statik und
Dynamik. Die Acht Mütter verkörpern mit ihren Sitzen den statischen Aspekt,
die Neun Durgäs mit ihren Bewegungen den dynamischen. Nur, um was für
Bewegungen handelt es sich, wenn die Navadurgäs gemeinsam meist mit Be-
gleitung einer Kapelle oder Band von Trommlern und Flötenspielern verschie-
dene Orte aufsuchen? Etwa am neunten Tag des Dasai-Festes, wenn ein gro-
ßer Büffel geopfert wird, bei dem bestimmte Tänzer auch das Blut des Büffels
trinken, geht nahezu jeder Bewohner Bhaktapurs zum Schrein der Göttin
BrahmäyäQ.i außerhalb von Bhaktapur, um sich ein Stück Fleisch vom Büffel
abzureißen, bis am Ende nur das nackte Gerippe übrig bleibt. Danach kehren
die „Göttinnen" und deren Repräsentanten beziehungsweise Verkörperungen
wieder in die Stadt zurück. Dabei werden ihnen immer lange weiße Stoffbah-
nen vor die Füße gelegt, gewissermaßen ein weißer Teppich ausgebreitet. Für
Götter ziemt es sich nicht, den Boden zu betreten.
Bei solchen choreographierten Bewegungen tanzen die Götter nach ihrem
eigenen Verständnis nicht, nach einem oberflächlichen Eindruck mitunter sehr
wohl. Immerhin machen die Navadurgäs bestimmte vorgeschriebene Bewe-
gungen, die sich deutlich von alltäglichen Bewegungen abheben. Sie schrei-
ten, hüpfen teilweise, drehen sich, manchmal schütteln sie sich, wie wenn sie
besessen sind. Auch werden sie von einer Musikkapelle begleitet. Aber für die
Navadurgä-Repräsentanten und die Bevölkerung sind dies keine Tänze. Dies
wird terminologisch deutlich unterschieden: Prozessionen heißen yätrii, Tänze
hingegen (in Neväd) phyiikha. Prozession und Tanz werden aber auch im Mu-
sik-, vor allem im Trommelstil unterschieden. Der Rhythmus ändert sich, und
so ist zu hören, ob die Navadurgäs tanzen oder nicht. Auch sind die Orte be-
kannt, an denen explizit getanzt wird.
All dies zusammen macht die spezifische Qualität der Navadurgä-Tänze aus.
Nur wenn diese Faktoren auch berücksichtigt werden, hat man den Ritualkom-
plex „in its own right" 20 und als ein „special mode of action"21 erfasst. Die
Rituale haben dabei eine Autonomie und folgen einer inneren „Logik": Die
Navadurgä-Tänze sind also nicht zu trennen von den Navadurgä-Ritualen,
auch wenn sie sich formal abheben. Tatsächlich gerät bei den Navadurgä-Fes-
ten die ganze Stadt in Bewegung. An Dasai lässt man Drachen fliegen, Schau-
keln werden aufgestellt und Götter wie Menschen stehen von ihren Sitzen auf:
die Götter von ihren angestammten und mit dem Erdboden verwurzelten Göt-
tersitzen (Sanskrit p'ifha), um in Prozessionen herumgetragen zu werden oder
um zu tanzen; die Menschen von ihren Häusern, um Verwandte und Freunde
zu besuchen. Dasai ist die Neubelebung einer ganzen Stadt, bei der das Soziale
und Kollektive vorgeht und das Individuwn hintan steht. Die Navadurgä-Tänze
bilden dabei nur ein Element der rituellen Choreographie in einem durch Be-
wegung verdichteten Raum. Diese Bewegungen sind rituelle oder ritualisierte
Bewegungen, aber sie bedeuten nicht nur, wie Schechner (siehe oben) es will,
loco und in illo tempore könnten in il/o sonore und in illo corpore hinzu-
kommen. Ritualtanz ist sakrale beziehungsweise mythische Bewegung, und
daher gilt für ihn, was auch für mythische Räume und Zeiten zutrifft. 25 So
sind Ritualtanz und Ritual nicht komplementär, sondern eine Einheit. Ein
Ritualtanz ist dann nicht nur in Raum und Zeit, sondern auch jenseits davon.
Er ist nicht in dem Ritual oder während des Rituals, sondern selbst die ganze
Kraft des Rituals. Ritualtanz ist damit eine sakrale Potenz, die verschiedene
Dinge zugleich haben können: die sakrale Arena beziehungsweise der sakrale
Raum (etwa das malJ-tf.ala), der Priester, der Tänzer, die Statue bzw. Maske
oder ein Musik- bzw. Tanzstück. Wie die Farbe Rot selbst nur sichtbar ist,
wenn sie verschiedenen Gegenständen zukommt, ohne sich selbst dadurch zu
ändern, so ist ein Ritualtanz als eine bestimmte überhöhende Färbung oder
Atmosphäre zu verstehen, die sowohl visuellen wie akustischen Objekten zu-
kommen kann, als solche aber absolut bleibt. Jede wahrnehmbare Gleichheit
ist Identität, Ausdruck der gleichen sakralen Potenz. Die Navadurgäs sind
Masken, Bilder, Statuen, Tänze und Tänzer zugleich. Für den rituell gebunde-
nen Menschen ist es keine Äußerlichkeit, wo und wann etwas ist; vielmehr be-
steht für ihn eine bindende Beziehung zwischen dem Gegenstand und seinem
Ausdruck, etwa zwischen Gottheit und Tanz oder zwischen Ort und Tanz.
Zu dieser Glaubensgewissheit gehört auch die Identität von Teil und Gan-
zem. Die Navadurgä-Göttinnen sind - wie gesagt - in Steinen, Masken, Trom-
meln, Personen oder der Oleander-Pflanze. Sie sind überall, und sie sind so-
wohl statisch als auch dynamisch, sowohl unbeweglich als auch beweglich. In
einem religiösen Verständnis ist das Einzelne zugleich das Ganze. Sobald
etwas als Teil des Absoluten, etwa eines Gottes, ausgemacht ist, muss es alles
und überall sein können, da das Absolute oder Gott nicht teilbar sind. Das
setzt das Prinzip der Bewegung voraus, durch die der Einzelne des Ganzen
teilhaftig wird, das heißt mit ihm identifiziert wird. Mit anderen Worten, das
Ganze kann selbst nicht relational sein, es kann selbst nicht in Beziehung
stehen. Ritualtanz steht nicht für etwas außerhalb, sondern ist es in sich selbst.
Innen und außen sind in diesem Fall identisch, ruhig, statisch, still, das heißt
trotz aller Bewegung ohne Bewegung.
4. Zusammenfassung
Ritualtänze können nur in ihrem rituellen Umfeld angemessen und als spezifi-
sche Ereignisse verstanden werden. In diesen Handlungskomplexen verschrän-
ken sich Tanz und andere rituelle Bewegungen, sind aber - zumindest bei den
Navadurgä-Ritualen in Nepal - dennoch begrifflich und formal deutlich unter-
scheidbar. Dies geschieht durch markante Wechsel im Dekor der Tänzer, der
25 Hierzu Hübner 1985 und mit Bezug auf Südasien Michaels 1998, S.314-346 (mit weiteren
Nachweisen).
Wenn Götter tanzen 157
Musik, der Orte und der Bewegungen. Auch hinsichtlich der Funktionen und
Intentionen bestehen erkennbare Differenzen. Bei den Ritualtänzen ist der Fak-
tor der Unterhaltung und des Vergnügens nicht zu unterschätzen, auch wenn
die sakrale Wirkung und die religiöse Signifikanz der Ritualtänze hervorstechen.
Denn in Ritualtänzen sind es die Götter, die tanzen, nicht die Menschen.
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Silke Leopold
Macht des Tanzes - Tanz der Mächtigen' lautet der Titel eines Buches, in dem
Rudolf Braun und David Gugerli einen Gang durch die Geschichte des höfi-
schen Tanzes vom 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert, von Elizabeth 1. von Eng-
land über LouisXIV. von Frankreich und den „egalitären"2 Walzer der von
Reinhard Koselleck so genannten Sattelzeit3 bis hin zu Kaiser Wilhelmll.
unternehmen und die vielfiiltigen Verflechtungen von Tanz und Herrschaft,
von gesellschaftlichen Hierarchien durch die Konstruktion von Raumbewe-
gungen, Sitzordnungen und Blickrichtungen beschreiben. Das Kapitel über
LouisXIV. widmet sich dabei besonders den als Teil einer umfassenderen
politische Strategie zu verstehenden Bestrebungen des Königs, die Künste zu
reglementieren und auf diese Weise auch zu kontrollieren, sowie den Bezie-
hungen zwischen Bühnenballett und höfischem Gesellschaftstanz als Teil einer
„innere[n] Logik absolutistischer Weltauffassung [... ], welche in ganz Europa
die höfische Tanzkultur des 18. Jahrhunderts dominieren wird."4
Tatsächlich lag Louis XIV. gerade der Tanz nicht nur als ein Mittel der
Kunstübung und des Zeitvertreibs, sondern auch und vor allem als Herrschafts-
instrument am Herzen. Wie sich Musiktheater und insbesondere die Bühnen-
ballette mit ihren Huldigungen an den König und ihren allegorischen Verherr-
lichungen zu politischer Propaganda eigneten, hatte nicht erst Louis XIV. ver-
standen; die frühe Geschichte der Oper, namentlich am Medici-Hof in Florenz
und am Gonzaga-Hof in Mantua, ist generell auch eine Geschichte fürstlicher
Selbstdarstellung. 5 Die Erkenntnis freilich, dass sich auch der Gesellschafts-
tanz für politische Ziele wie das Streben nach Hegemonie in Europa instru-
mentalisieren ließ, setzte erst Louis XIV. gezielt und nachhaltig in die Tat um
- so nachhaltig, dass die von ihm kodifizierten Tänze bis über die Französi-
sche Revolution hinaus in ganz Europa getanzt wurden und noch weit im 19.
Jahrhundert als musikalische Chiffren für die höfische Ballkultur des Ancien
Regime verwendet wurden.
Mit der Herrschaft über das Tanzen hatte es der junge französische König
eilig. Unter den zahlreichen Akademien, die er im ersten Jahrzehnt seiner Re-
1 Braun/Gugerli 1993.
2 Ebd., S. 179.
3 Koselleck 1972, S. XIV.
4 Braun/Gugerli 1993, S. 165.
5 Zusammenfassend hierzu Leopold 2000.
160 Silke Leopold
vermittelte, gin3 auf diesen Aspekt des Tanzens in seiner Beschreibung wah-
rer Tantz-Kunst explizit ein:
So ist dieses der Trieb der Natur mit seinen daraus unformlichen motionibus und gesti-
bus des Leibes / welche durch gute Disciplinirung sollen reguliret und vemünfftig exe-
quieret werden. 8
Auch ist nicht zu tadeln,/ wenn die Schritte und Gestus in Mensur, Tempo und pon-
dere regel-recht gemacht werden. Eine sehr schöne Decoration aber ist es / wenn diese
Dinge durch Schärffe und Sänfftigung dermassen moderiret / und gleichsam abgewürtzet
sind / daß sie zierlich und angenehm in die Augen fallen I und zeigen allemal einen mo-
deraten und regulirten Menschen an / indem nicht zu vermuthen ist / daß ein Mensch /
welcher auch in seinen geringsten motionibus regulair ist / in irnportanten Dingen nach-
lässiger seyn sollte.9
Pasch, dem der Zutritt zum Hof des Sonnenkönigs verwehrt war, konnte die
Versailler Tanzkunst in Leipzig dennoch, aber nur deshalb vermitteln, weil er
auf Bücher zurückgreifen konnte, in denen die Tänze minuziös bis ins kleinste
Detail der Körperhaltung beschrieben waren. Er trat damit den lebendigen Be-
weis für den Erfolg jener Strategie an, das Tanzen als Mittel zum Zweck der
Machtausübung zu nutzen. Mit der Entwicklung einer Tanzschrift, die die
vom König getanzten Choreographien dokumentierte und für andere Tänzer
reproduzierbar machte, vollzog die Academie Royale de Danse den entschei-
denden Schritt für die europaweite Verbreitung der Versailler Hoftänze. Denn
diese von Pierre Beauchamp entwickelte und von Raoul Auger Feuillet 10 in
gedruckten Schriften verbreitete Tanzschrift, die die Fußhaltung, die Schritte,
die Schrittfolgen und Raumwege, die Körperhaltung und die Armbewegungen
bis ins kleinste Detail beschrieb und wie eine eigene Sprache lehrte, wobei die
Positionen die Rolle der Buchstaben, die Schritte die der Wörter und die Cho-
reographien die der Sätze übernahmen, ermöglichte etwas, was bis dato im
Tanzen unmöglich gewesen war: den Tanzunterricht von dem direkten Kon-
takt von Lehrer und Schüler unabhängig zu machen und die am französischen
Hof getanzten Tänze gleichsam zu globalisieren. Von nun an waren die Augen
des höfischen Europas nicht nur hinsichtlich der Baukunst und der Mode, son-
dern auch hinsichtlich des Gesellschaftstanzes auf Versailles gerichtet. Es ge-
nügte, Feuillets gedruckte Bücher genau zu studieren, um auch in Stockholm
und Lissabon, aber auch in der Provinz, ohne jemals in Versailles gewesen zu
sein, genauso zu tanzen wie am dortigen Hof. Die französische, d. h. die Tanz-
kunst Louis' XIV. beherrschte die Residenzen ganz Europas weit über Frank-
reichs Grenzen hinaus und bald auch, mit der Übernahme des Feuillet'schen
Systems oder auch nur der dort beschriebenen Tänze durch englische oder
deutsche Autoren bürgerlicher Herkunft, die Tanzkultur des Bürgertums.
7 Pasch 1707.
8 Ebd., S. 19.
9 Ebd., S. 21.
10 Feuillet 1700.
162 Silke Leopold
11 Siehe hierzu etwa die Anfangsgründe zur musicalischen Setzkunst von Joseph Riepel, 1752.
12 Zuerst bei de Brossard 1703.
13 Der Rigaudon etwa wird bei Andre Lorin, Livre de la Contredanse du Roy, Paris 1688, erst-
mals als provenzalischer Tanz bezeichnet; siehe Marsh/Schroedter 1998, Sp. 334.
Tanz und Macht 163
Die Beispiele für die Verwendung des Menuetts als rhythmische Chiffre für
höfisches Verhalten finden sich vor allem in der italienischen Oper - mithin
dort, wo der Affektausbruch, das Außer-sich-Geraten integraler Bestandteil
des dramatischen Konzepts darstellt. Unter den Komponisten, die von Tanz-
rhythmen als Affektchiffren exzessiven Gebrauch machten, muss Georg Fried-
rich Händel an erster Stelle genannt werden. 16 Dies hat auch und vor allem
damit zu tun, dass Händel seine Opern mit Ausnahme einiger früherer Werke
für ein adliges Londoner Publikum komponierte, das der italienischen Sprache
nur bedingt mächtig war. Händel bemühte sich, musikalische Zeichen zu ent-
wickeln, die sich in ihrem Affektgehalt auch ohne ein genaues Verständnis der
Textworte dem Zuschauer unmittelbar mitzuteilen in der Lage waren. Vor
einem Publikum, das mit dem höfischen Verhaltenskodex seit Kindesbeinen
vertraut war, eigneten sich Tanzrhythmen dafür in besonderer Weise. In Hän-
dels Opern finden sich unzählige Beispiele musikalischer Affektkontrolle, und
zumeist dient ihm der Menuettgestus als Chiffre für den Kampf um die Be-
herrschung. Als ein Muster derartiger höfischer Selbstkontrolle darf wohl
Carilda gelten, die kretische Prinzessin, die in seiner Oper Arianna in Creta
( 1734) heimlich denselben Theseus liebt, der Ariadne sein Herz geschenkt hat.
Carilda ist eine der sieben Jungfrauen, die Athen dem kretischen König Minos
nach einem alten Vertrag als Fraß für den Minotaurus zur Verfügung stellen
muss. Teseo hat die athenischen Geiseln nach Kreta begleitet und versucht, die
verzweifelte Carilda zu trösten, bevor sie von den Kretern ins Labyrinth ge-
führt werden soll. In einer Situation höchster Seelenpein, den Tod vor Augen,
gelingt es Carilda in bewundernswerter Weise, ihre Contenance zu bewahren
und ihre beiden Gesprächspartner Arianna und Teseo über ihre wahren Ge-
fühle restlos im Unklaren zu lassen.
Dille ehe nel mio seno Sag ihr, dass ich in meiner Brust
serbo quest' a\ma forte diese starke Seele bewahre
e da si fiera morte und sag ihr, dass ich von so grausamem Tod
dille eh 'ho liberta, non ho catene. Freiheit habe, keine Ketten.
lo lieta moro o almeno Ich sterbe fi"oh, oder wenigstens
vile non moriro, werde ich nicht elend sterben.
dille ehe a morir vo Sag ihr, dass ich zum Sterben gehe
e non chiedo pietil delle mic pene. Und kein Mitleid für meine Qualen erbitte.
Dass Händel diese tragischen Worte des Abschieds im Rhythmus des Menu-
etts mit einigen zierlichen Trillern im Orchesterritomell, eleganten kleinen
Koloraturen in der Singstimme und in einer so harmlosen Tonart wie A-Moll
vertont, wird erst verständlich, wenn man bedenkt, dass Carilda hier nicht
etwa ihren Schmerz zum Ausdruck bringt, sondern im Gegenteil alle ihre
Kraft zusammennimmt, um das Liebespaar nicht merken zu lassen, wie ihr
ums Herz ist. Kein anderer musikalischer Gestus aber war dafür besser geeig-
net als der des Menuetts, der höfische Gesellschaftstanz schlechthin. Wenn
Carilda es fertig brachte, in einer ausweglosen Situation sich derart ,,moderat
und regulirt", wie Johann Pasch es beschrieben hatte, zu betragen, so offen-
barte sie damit ihre wahre Seelenstärke - und, was in diesem Zusammenhang
vielleicht noch wichtiger ist, ihre gute Erziehung. In der Musik, d. h. im Grund-
rhythmus der Arie, ist ein Hinweis auf die Personenregie verborgen - auf
einen inneren Kampf der Protagonistin, den diese gegen sich selbst gewinnt.
Schon in Händels Scipione von 1726 findet sich ein vergleichbares Bei-
spiel. Scipione, der römische Eroberer Hispaniens, liebt Berenice, die schöne
Gefangene und macht ihr vergeblich den Hof. Als er ihr in der Mitte des zwei-
ten Aktes seine Liebe gesteht, weist sie ihn mit der Bemerkung zurück, sie
Tanz und Macht 165
liebe einen anderen. Außer sich vor Schmerz vergisst Scipione seine guten
Manieren, erkennbar daran, dass er Berenice ins Wort fällt, und seine rezitati-
vischen Worte künden von äußerster Bestürzung:
Spietato mio destin, misero core, Mein grausames Schicksal, elendes Herz
scoppierai di tormento e di furore. Du wirst vor Qual und Wut bersten.
Dieser Zweizeiler scheint aus nichts anderem zu bestehen als aus lauter
Schlüsselwörtern der Seelenqual, und man würde an dieser Stelle eine aria di
agitazione mit wüsten Koloraturen oder einen extrem langsamen, stockenden
Ausbruch des Schmerzes erwarten. Stattdessen ruft sich Scipione mit einer
Arie gleichsam selbst zur Ordnung, die beherrschter kaum sein könnte. „Pensa
o bella" („Denk daran, Schöne") ist nicht etwa ein Affektausbruch, sondern
ein Musterbeispiel der Affektkontrolle. Hinter dem Menuettrhythmus dieser
Arie und einer geradezu schulmäßig durchgehaltenen Viertaktperiodik ver-
birgt Scipione seine wahren Gefühle, denen er sozusagen unbemerkt und bei-
seite in seinem Rezitativ Ausdruck gegeben hatte, und zeigt sich vor Berenice
als vollendeter Hofmann. Die nichtssagende Glattheit des musikalischen Aus-
drucks ist nicht etwa ein Hinweis auf Händels Einfallslosigkeit, sondern gibt
Scipione unter größter emotionaler Anstrengung die Contenance zurück, die er
zuvor zu seinem eigenen Schaden verloren hatte.
Bis in die Zeit Mozarts hinein (und darüber hinaus) behielt der Menuett-
gestus seine Bedeutung als musikalisches Emblem höfischen Verhaltens. In
der Tanzszene im ersten Finale von Mozarts Don Giovanni ( 1787) diente das
Menuett als Tanz des adligen Paares, während Don Giovanni mit Zerlina
einen Contredanse und Leporello mit Masetto einen Deutschen tanzte. Subtiler
noch verwendete Mozart den Menuettrhythmus aber vor allem in Le nozze di
Figaro (1786), jener musikalischen Komödie, die vom Gegeneinander der
Stände handelte, von Herren, die sich wie die Kesselflicker benahmen, und
von Dienerinnen, die selbst in den Kleidern der Herrin eine gute Figur mach-
ten. Figaros Kampfansage an den Grafen, seine Arie „Se vuoi ballare, Signor
Contino" („Will der Herr Graf den Tanz mit mir wagen"), ist im Rhythmus
des Menuetts komponiert. Dieser zeigt seine disziplinierende Wirkung aber
vor allem in jener Szene im zweiten Akt, in der der eifersüchtig polternde Graf
seine Gemahlin der Untreue verdächtigt und mit entsprechendem Werkzeug
die Tür zum Kabinett aufbrechen will, aus dem dann nicht Cherubino, sondern
Susanna heraustritt: Denn die Zofe betritt das Durcheinander zum Rhythmus
eines Menuetts. Es ist, als bliebe die Zeit für einen Moment stehen, als sei die
Welt, die da aus dem Kabinett in den Streit des gräflichen Paares hineinleuchte,
heiler als das unmanierliche Gebaren des Adels. Und es ist, als würde Susanna
durch den musikalischen Verweis auf höfisches Verhalten ihren Herren eine
unausgesprochene, aber dennoch unmissverständliche Lektion erteilen, wie sie
sich eigentlich zu benehmen hätten. Am Vorabend der Französischen Revolu-
tion, mehr als ein Jahrhundert nach der Kodifizierung des Menuetts als höfi-
scher Tanz schlechthin, hat diese Konnotation eines Tanzes nichts von ihrer
166 Silke Leopold
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1977.
Performanz: Raum, Zeit, Wahrnehmung
Alain Montandon
Ich habe mir vorgenommen, über die Performativität des Tanzes nachzuden-
ken, wie sie von der Tänzerin wahrgenommen wird. Ausgangspunkt meiner
Überlegungen wird ein Korpus von Autobiographien einiger Tänzerinnen sein,
die eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufweisen.
Sie können uns helfen, etwas darüber in Erfahrung zu bringen, was eine
Tänzerin über ihren Tanz denkt, über die Art und Weise, wie sie seine Schöp-
fung und seine Ausführung wahrnimmt und wie sie seine Wirkung auf das
Publikum einschätzt. Unter Performativität verstehen wir also sowohl die kon-
krete Aufführung dieser Kunst als auch ihre Rezeption durch das Publikum,
ihre beabsichtigten Wirkungen.
Ziehen wir als erstes Beispiel die Autobiographie von Loie Fuller1 heran,
dann können wir zunächst einen ausgeprägten Narzissmus konstatieren - was
bei einer Startänzerin nicht weiter verwundert. Außerdem lässt sich eine starke
Präsenz und eine große Nähe zur Mutter beobachten („seit dem Frühling nach
meinem Debüt in den Folies-Bergeres bis zu ihrem Tod hat sie mich auf allen
meinen Reisen begleitet") - ein Phänomen, das zahlreichen Tänzerinnen eigen
zu sein scheint. Die Mutter als Anstandsdame befreit die Tänzerin gegenüber
dem Publikum von dem schlechten Ruf, der dieser Kunst anhaftet (die Unter-
scheidung zwischen Prostituierter, Kurtisane und Tänzerin war eher unscharf),
und bestätigt zugleich ihren Narzissmus (diese Mütter waren oft Künstlerin-
nen, die ihre Berufung nicht ausleben konnten und deshalb ihre eigenen Sehn-
süchte auf ihr Kind übertrugen 2). Die Mutter erscheint zudem als Garantin der
Ausgeglichenheit in einem schwankenden, instabilen Universum und bietet
die nötige affektive Sicherheit - ob es sich um Loie Fuller, lsadora Duncan
oder Cleo de Merode handelt. Loi"e Fuller wiederholt immer wieder, wie nah
ihre Mutter ihr stehe, und gibt an, wie viele Aufführungen sie aufgrund von
deren Erkrankung3 absagen musste, denn sie weigerte sich, ihre Mutter allein
1 Fuller 2002.
2 Ein solches Verhältnis lässt sich auch zwischen lsadora Duncan und ihrer Schwester Augusta
beobachten: „Sie hatte eine schöne Stimme und sie hätte eine große Karriere als Sängerin
machen können, hätten ihr Vater und ihre Mutter nicht alles, was das Theater berührt, als
Teufelswerk angesehen" (Duncan 2004, S. 30).
3 So wurde sie etwa auf einer Russlandreise vertragsbrüchig, denn sie unterbrach die Reise, um
zu ihrer zu dieser Zeit sehr kranken Mutter zu eilen.
170 Alain Montandon
zu lassen, und wollte bei ihr bleiben - eine Ambivalenz, die den Wunsch, sich
selbst in ein gutes Licht zu rücken, tendenziell kaschiert.
Ein anderes Merkmal, das sich ebenfalls in vielen Autobiographien von
Tänzerinnen findet, ist die Funktionalisierung der Kindheitsdarstellung zum
Nachweis für die Vorherbestimmtheit der Idealfigur, die in der Folge konstru-
iert wird. Bei Tänzerinnen ist das autobiographische Schreiben vor allem eine
Selbstzelebrierung des Stars, die durch eine Reihe von Anekdoten in Szene
gesetzt wird. Sie dienen dazu, ein positives Bild ihrer Figur und ihrer Güte zu
entwerfen, und helfen außerdem, die Rolle von Zufällen und Unglücksfüllen
auf einem bewegten und ungewöhnlichen Lebensweg zu ermitteln.
Die Tänzerin entwirft eine doppelte Figur: die eines menschlichen Wesens,
einer Frau, und zugleich die einer Göttin. Die Autobiographie oszilliert be-
ständig zwischen diesen beiden gegensätzlichen und unvereinbaren Polen. Das
zeigt sich etwa, als Lore Fuller von Kindern berichtet, die sich für wunderbare
Geschichten, Feenmärchen und Übernatürliches begeistern und die von ihren
Tänzen fasziniert sind:
Meine Tänze sollten also durch den unstoffiichen Charakter, den ihnen das Licht und die
Farben verliehen, in besonderer Weise die jugendlichen Gemüter ansprechen und ihnen
vermitteln, dass das Wesen, das sich da vor ihnen drehte, mit seinen Verwandlungen und
Lichteffekten der unwirklichen Welt angehörte, die sie gefangen hielt.4
Die Autobiographie von Loie Fuller beginnt mit einer Art Familienroman, in
dem sie erzählt, sie sei in gewisser Weise ein Findelkind gewesen: „,Wem ge-
4 Fuller 2002, S. 79. Wenn für die nachfolgenden Zitate französische Textausgaben angegeben
werden, stammt die deutsche Übersetzung von Annette Keilhauer.
5 Ebd., S. 142.
6 Merode 1985, S. 137.
Das Performative des Tanzes 171
hört dieses Kind?' ,Ich weiß nicht.' ,Gut, aber lassen Sie es jedenfalls nicht
hier, nehmen Sie es mit.• " 7
Allerdings ist der Ort, an dem sich dieses kleine Wesen befindet, nicht un-
schuldig und bedeutungslos: Es handelt sich um einen Tanzsaal. Die Gründe,
aus denen das sechs Wochen alte Baby sich dort befindet, sind unwichtig; ent-
scheidend ist, dass wir einer Geburt an einem dem Tanz gewidmeten Ort bei-
wohnen. Ohne dass dies explizit gesagt wird, besitzt diese Darstellung der ers-
ten Lebensjahre der Tänzerin in einer Art von Familienroman unterschwellig
etwas Magisches. 8 Dies wird später immer wieder bestätigt, so etwa, wenn
Lole Fuller sich vor den Augen der Kinder als Fabelwesen und als Fee aus-
gibt. Da diese ihr die Rolle zuschreiben, spielt sie sie auch perfekt und erzählt
davon mit offensichtlicher Befriedigung, denn solche Situationen bestätigen
eine unterschwellige Selbstmythisierung. Wir werden sehen, dass alle diese
Autobiographien zwischen Maske und Sein oszillieren, zwischen der Kon-
struktion kleiner Mythen, die die Figur des Stars in Szene setzen, und der Dar-
stellung eines menschlichen Wesens.
Kommen wir zum Ausgangspunkt zurück: Das im Ballsaal ausgesetzte
Baby, dieses „putzige kleine menschliche Paket, mit langen schwarzen locki-
gen Haaren, das kaum mehr als sechs Pfund wog", wird die Glanznummer des
Abends. Eine der Tänzerinnen erklärt: „Sie hat ihr Entree in die Welt gemacht,
jetzt muss sie auch bleiben." Damit wären schon die Hauptkomponenten einer
mythischen Figur bestimmt, die konstitutiv sind für die Imaginierung der Per-
formativität der Tänzerin: ein außergewöhnliches Wesen von bereits exempla-
rischer Einzigartigkeit, ein „Ich" („Dieses Kind, das war also ich"), das seinen
außergewöhnlichen Charakter zeigt.
Um die Lektüre, die wir hier vorschlagen, besser nachvollziehen zu können,
bedarf es einiger methodologischer Bemerkungen. Es geht hier nicht darum,
die Authentizität der berichteten Fakten in Frage zu stellen. Ob sie wahr oder
erfunden, treu wiedergegeben oder willentlich oder unwillentlich entstellt und
von der Erinnerung modifiziert worden sind, ist unwichtig. Was uns interes-
siert und entscheidend ist, ist einerseits die Auswahl der Anekdoten (die in
diesem Fall Teil einer Familienerinnerung sind) und andererseits die Einfü-
gung des Ganzen in einen Lebensbericht, dessen Struktur Aufschluss darüber
geben kann, wie ein Leben im Tanz, ein Leben für den Tanz betrachtet wird.
Die nachfolgenden Beispiele zeigen die außergewöhnlichen Begabungen
von Loi"e Fuller: die Art etwa, wie sie im Alter von zweieinhalb Jahren Ge-
dichte rezitiert „wie eine vollendete Künstlerin". Begabungen, die ihr später
erlauben werden, die Rolle der Marguerite Gauthier in La Dame aux Camelias
in nur vier Stunden zu lernen.
Der Bericht von der eher zufälligen Erfindung des Schlangentanzes (es han-
delte sich ursprünglich darum, einer Hypnosesitzung Atmosphäre zu verlei-
hen) zeigt uns, wie die verschiedenen Tanzarten oft zunächst als Versuche und
Experimente in kleinen Theatern entstanden, bevor sie auf den großen Bühnen
aufgeführt wurden. Das Spiel mit dem Kleid provoziert Rufe aus dem Publi-
kum: „Ein Schmetterling!" - „Eine Orchidee!" Die Überraschung wird nur
vom späteren Erfolg eingeholt, der sich sicherlich nicht sofort einstellte. Das
Stück Dr. med. Quack, für den Lore Fuller den Schlangentanz kreiert hatte,
war zwar kein unvergessliches Ereignis, aber es war der Ausgangspunkt für
das Experimentieren mit Stoffen, die Loie Fuller zur Entdeckung eines ganzen
Universums von Wellenbewegungen führten. Indem sie sich darüber bewusst
wurde, dass jede Körperbewegung ihren Niederschlag in einer Bewegung des
Stoffes und in einem Changieren des Faltenwurfes findet, die systematisch
und geradezu mathematisch vorhersehbar sind, erfindet Loi'e Fuller einen neuen
Tanz, dessen Originalität weniger in der Verlängerung des Körpers als in der
Auslösung von bunten Bewegungen und Lichtspielen zu finden ist.
Die Wirkung dieses Tanzes wird besonders deutlich erklärt, als Lore Fuller
einen Produzenten überzeugen will. Zahlreiche Theaterdirektoren lehnen sie
aufgrund ihrer schauspielerischen Vergangenheit als Tänzerin ab, bis schließ-
lich einer von ihnen zu einer kleinen Demonstration bereit ist (die natürlich
unter sehr widrigen Bedingungen stattfindet, da sie nicht technisch vorbereitet
werden konnte: keine Loge, kein Klavier etc.):
Ich trällerte eine Melodie und begann, ganz sacht im Halbdunkel zu tanzen. Der Direktor
kam näher, noch näher und stieg schließlich auf die Bühne. Seine Augen wurden seltsam
lebendig. Ich tanzte weiter, indem ich im Schatten im hinteren Teil der Bühne ver-
schwand und dann wieder unter die Gaslampe kam und mich frenetisch drehte. Schließ-
lich hob ich einen Teil meines Kleides über meine Schultern, erzeugte dadurch eine Art
von Wolke, die mich ganz umhüllte, und ließ mich als zitternder Haufen leichter Seide
fallen - zu Füßen des Direktors. 9
Dieser bleibt stumm, denkt an die zukünftigen Erfolge und tauft den Tanz
dann Schlangentanz, La Serpentine.
Solche Szenen werden sich wiederholen, so als sie einen Direktor, M. Mar-
chand, überzeugen muss, dass ihr Tanz besser ist als der ihrer lmitatorin und
er diese entlassen muss: ,,Mit gänzlich niedergeschlagener Miene begann ich
zu tanzen. Das Orchester bestand aus einer einzigen Violine. Als Beleuchtung
hatte ich nur die Rampe." Auch die schlechtesten Rahmenbedingungen kön-
nen die uneingeschränkte Anerkennung nicht verhindern. Dies bedeutet also
die Anerkennung einer authentischen, ursprünglichen und einzigartigen Quali-
tät. In diesem Bericht gibt Lore Fuller vor allem die Wirkung ihrer Tänze auf
das Publikum wieder. So findet man regelmäßig Feststellungen wie diese:
Der Saal war voll besetzt und das Publikum absolut enthusiastisch. [.„] Der ganze Saal
brachte stehende Ovationen. [„.] Es gab Ovationen, wie sie, glaube ich, noch nie ein
menschliches Wesen empfangen hatte. [ ...] Der Enthusiasmus sprengte alle Grenzen.
Der Applaus hallte in meinen Ohren wieder wie Glockengeläut. Ich war trunken vor
freudiger Dankbarkeit. 10
In der friedlichen Atmosphäre eines Glashauses mit grünen Scheiben machen wir ganz
andere Bewegungen als in einem Glashaus mit roten, gelben oder blauen Scheiben. Aber
wir achten nicht auf diese Korrelation der Bewegungen mit ihren Ursachen. Allerdings
muss man darauf achten, wenn man mit Licht- und Musikbegleitung harmonisch tanzen
will.13
Loie Fuller verwirft die Regeln der Choreographie zugunsten eines spontanen
Ausdrucks: „Was ist Tanz? Bewegung. Was ist Bewegung? Der Ausdruck von
Gefühl. Was ist Gefühl? Der Einfluss, den ein vom Geist wahrgenommener
Eindruck oder eine Idee auf den Körper hat." 14 Der menschliche Körper ist
genau wie der Körper des Tieres in der Lage, alle Gefühle auszudrücken: „In-
dem ich die Konventionen ignoriere und nur meinem Instinkt folge, kann ich
die Empfindungen übersetzen, die wir alle gefühlt haben, ohne zu wissen, dass
man sie auch ausdrücken kann." 15
Die Performativität des Tanzes wirkt für Loie Fuller, so scheint uns, auf
zwei Ebenen. Einerseits ist das Spiel des Stoffes eine Verlängerung ihres Kör-
pers und entfaltet vor den Augen der Zuschauer ein narzisstisches und buntes
Bild, das so stark schillert und leuchtet, dass es sich fast in dessen Verlänge-
rung auflöst. Wir können davon ausgehen, dass das Bild des eigenen Körpers
(das „putzige kleine Paket", das zu Beginn evoziert wird - und es ist bekannt,
dass Loie Fuller ihr ganzes Leben lang klein und untersetzt war) nicht dem im
Spiegel erwarteten Bild entsprach. Man versteht deshalb, dass dessen Zur-
schaustellung mit der Metamorphose spielt: „Oh! Ein Schmetterling!" Die
Tänzerin ist keine Frau mehr, sondern ein Tier, eine Pflanze (Schmetterling,
Orchidee), ein hybrides Wesen, eine phantasmatische Erscheinung mit einer
vielfältigen Identität, hinter der der Körper der Tänzerin verschwindet 16 unter
ausgebreiteten und autonom gewordenen Flügeln und mithilfe einer durch die
leuchtende Färbung erzeugten Abstraktion. Julius Meier-Graefe scheint das in
der Zeitschrift Die Insel ( 1900) gut zu verstehen:
Aber das Frappanteste bleiben ihre Ornamente. In einem der tollen Tänze, wo man kaum
noch den Farben und Linien zu folgen vermag und man wieder mit der Sehnsucht dahin-
terherhetzt, um einmal nichts mehr von ihr zu sehen, nur dieses Steigen und Fallen der
Schleier, da verschwindet sie plötzlich, löscht aus. Es ist ganz dunkel, aber in dem Dun-
kel bewegt sichs, es sind glühende Punkte, die tanzen, es ist wie ein Tanz von Glüh-
würmchen, wie von Sternen. Sie ziehen weite, feurige Kreise, stellen sich in leuchtenden
Bergen neben einander, durchschlängeln sich, nur Punkte; kein Atom von menschlichen
Bewegungen, von etwas Körperlichem; Ornamente, von einer Kühnheit, einer Reinheit,
einer Mystik [.„] Da hält man wirklich den Atem an.1 7
Plötzlich ist der Tanz eine Bewegung um das eigene Verschwinden und wird
so zum Kreisen um ein verstecktes und leeres Zentrum. Er erzeugt damit die
13 Ebd.
14 Ebd., S. 47.
15 Ebd.
16 Dies gibt auf wunderbare Weise die Zeichnung von Will Bradley wieder, auf der im Wirbel
der schlangenartigen Schleier nur noch die Füße zu sehen sind.
17 Meier-Graefe 1900, S. 105.
Das Performative des Tanzes 175
absolute Arabeske, die frei ist von jeder Referentialität, ein Phänomen, das
Gabriele Brandstetter zurecht zur Ästhetik als Verschwinden des Selbst bei
Mallarme in Bezug gesetzt hat: „La destruction fut ma Beatrice" - die Zerstö-
rung war meine Beatrice. 18 Als Loi'e Fuller ihre körperliche Hülle wieder in
Besitz nehmen will, wird die Aufführung zum grandiosen Misserfolg, glaubt
man dem Bericht Jean Lorrains von der Aufführung der Salome im Jahr 1895:
Zu spät erkennt man, dass die unglückliche Akrobatin weder eine Pantomime noch eine
Tänzerin ist: schwerfllllig, ohne Anmut, schwitzend und ungeschminkt nach zehnminüti-
gen Übungen, manövriert sie ihre Segel und Stoffmengen wie eine Waschfrau ohne
Wäscheklopfer. In den Folies-Bergeres sah man sie kaum und wollte sie noch länger
sehen, die leuchtende Traumblume, in der Comedie-Parisienne sieht man sie zu gut, der
Kniff wird offensichtlich [„.) leuchtend, ohne Grazie mit den Gesten eines englischen
Boxers [„.] 19
Andererseits zeigt sich diese Performativität explizit in der Absicht, dem Geist
und dem Gefühl des Zuschauers einen Impuls zu geben: „Um den Eindruck
einer Idee zu erzeugen, versuche ich, sie durch meine Bewegungen im Geist
des Zuschauers zu erzeugen, ihre Imagination zu wecken, ob sie nun darauf
vorbereitet sind, das Bild zu empfangen oder nicht."20 Alle menschlichen Ge-
fühle können in der Tat durch die Kunst des Tanzes wiedergegeben werden.
So kann man „alle Gefühle ausdrücken, die in uns die Musik erzeugt, ob es
nun ein Nocturne von Chopin, eine Sonate von Beethoven, ein langsamer Satz
von Mendelssohn, ein Lied von Schumann oder eine Kadenz von Wörtern in
Versen ist"21 (eine Position, die im Übrigen auch lsadora Duncan teilt, die bei
Loi'e Fuller in die Schule gegangen ist).
Eines der herausstechenden Merkmale der Tänzerin ist ihre Verehrung gro-
ßer Modelle und insbesondere ihres Idols Sarah Bemard, die sie in New York
unbedingt sehen will. Die Schlüsselszene findet sich in der Anerkennung durch
Sarah Bemard, die sie empfiingt und auf beide Wangen küsst. Die Episode, in
der sie ihre Beziehung zu Sarah Bemard erzählt, ist lehrreich. Die große
Schauspielerin sitzt auf einem enormen Sockel - ihrer Berühmtheit entspre-
chend. Das Idol platziert die Tänzerin auf gleicher Ebene neben sich. Das Spiel
der narzisstischen Gabe und Gegengabe wird befriedigt. Aber hier kommt es
zu einem Missverständnis, und das Ende der Geschichte folgt abrupt mit der
Desillusionierung: „Ich hatte mir sonst etwas vorgestellt, denn Sarah Bemardt
ist eine geniale Künstlerin. Aber sie ist auch eine Frau, und ich habe zwanzig
Jahre gebraucht, um das zu lernen. Sie ist eine Frau, ich werde es jetzt nicht
mehr vergessen, aber sie bleibt dennoch mein Idol." 22
18 Gabriele Brandstetter hat dieses Zitat von Mailarme subtil im Titel ihres Artikels zu Lo\e
Fuller wiederaufgenommen; vgl. Brandstetter 1991.
19 Zit. n. Ducrey 1996, S. 525f.
20 Fuller 2002, S. 47.
21 Ebd„ S.48.
22 Ebd„ S. 62.
176 Alain Montandon
Zu den Idolen, die sie als ebenbürtig anerkennen, zählen Alexandre Dumas,
Camille Flammarion, Pierre und Marie Curie, Rodin, Anatole France und
zahlreiche Persönlichkeiten, die ihrer huldigen durch Geschenke, Briefe und
Komplimente, wie etwa jener Herr Groult, dessen wertvolle Sammlung nur
ein Abglanz der Schönheit der Loi'e Fuller ist. So meint er, während er ihr
seine Schmetterlingssammlung zeigt: „Diese Farben, das sind Sie, sagte er mir
fast barsch. Schauen Sie diesen Reichtum an. Dieses Rosa, dieses Blau, das
sind Sie, das sind wirklich Sie."23 Ähnlich äußert er sich über seine Tumer-
Sammlung: ,,Das sind Ihre Farben. Turner hat Sie sicher vorgefühlt, als er
diese Bilder malte. " 24
In einer Art Spiegelszene findet sich der Engel des Tanzes Prinzessinnen
gegenüber, die ihn als ihresgleichen behandeln. ,,Also meint man, eine Prin-
zessin müsse immer kühl und zeremoniös sein, wenn sie eine Fremde emp-
fängt? Aber für mich sind Sie keine Fremde. Nachdem ich Sie mit Ihren schö-
nen Tänzen gesehen habe, meine ich, Sie gut zu kennen, und ich bin sehr froh,
dass Sie mich besuchen kommen." 25 Diese hübsche Prinzessin mit goldenem
Haar ist die Prinzessin Marie in Bukarest. Hier proliferieren Anekdoten mit
einem schwarzen König, mit der Königin Alexandra und zahlreichen anderen
Herrschern, die alle die gleiche Funktion haben.
Ihre Güte den Blinden (sie fürchtet im Übrigen, blind zu werden - man
weiß, dass ihre Augen rot sind von den Lampen 26 ) und den Proteges gegen-
über wird nicht immer gewürdigt. Im Kapitel „Eine Erfahrung" erzählt sie von
der Undankbarkeit der Isadora Duncan, ohne diese direkt zu erwähnen. Zwei
Schicksale kreuzen sich: Die eine ist im Niedergang begriffen, die andere be-
ginnt gerade, Erfolg auf der Bühne zu haben. Lore Fuller hat den Körper aus-
gelöscht und die Künstlichkeit eingeführt, um den Tanz für die Modernität des
Multimedialen zu öffnen. lsadora dagegen will die antike Gestik der Bacchan-
ten wiederfinden, diese spontane und ursprüngliche Sprache des Körpers, die
im Einklang mit den chtonischen Kräften steht und ihr erlauben, universelle
Harmonie zu erreichen. Der Zynismus von Isadora wird als Verrat und tiefe
Enttäuschung erlebt. Lore Fuller fühlt sich zurückgestoßen, missachtet nicht
nur als Tänzerin, sondern auch als Impresario und als Frau. Zum ersten Mal,
so Giovanni Lista, fühlt sie sich unfähig, Respekt, Bewunderung und Sehn-
sucht hervorzurufen.
Die Performativität, die in diesen Texten (Gedichte, Briefe, Autobiogra-
phie) zum Tragen kommt, zeigt sich einerseits in der konstanten Suche nach
dem Effekt. Lore Fuller stellt sich als eine Person dar, die keine Angst vor
23 Ebd., S. 77.
24 Ebd.
25 Ebd., S. 86.
26 „Die Gefahr der Erblindung brachte einen Beweis für die Schwäche des Fleisches, als sie sich
exponierte, um zum Instrument der spirituellen Wirklichkeit zu werden. So hatte Loie Fuller
ihr Augenlicht riskiert, damit die anderen sehen konnten" (Giovanni Lista, Loie Fuller en
pionniere des arts, in Fuller 2002, S. 14).
Das Perfonnative des Tanzes 177
Überarbeitung hat, immer bereit zu proben und auf der Suche nach neuen
Effekten und neuen Beleuchtungen. In einem Artikel von M. Claretie aus Le
Temps (5. November 1907) heißt es im Anschluss an die Evozierung ihres
Tanzes der Salome:
Lore Fuller hat in einem besonderen Laboratorium alle diese Lichtspiele studiert, die die
Kulisse des Toten Meeres verwandeln, wie man es von der Höhe der Terrasse des Hero-
despalastes sieht Es ist ihr gelungen, durch verschiedene Projektionen den Anschein des
Gewitters, eine Vision des Mondes über den Fluten und das Grauen eines Meeres von
Blut zu erzeugen. 27
In der Tat ist Lore Fuller eine Magierin, eine elektrische Fee, eine Revolutio-
närin, deren Leistung darin besteht, dem Publikum eine Reihe von Emotionen
aufzuerlegen, die wie ein reiner Ausdruck der Natur erscheinen. Claretie sieht
in ihr eine bewundernswerte „impresaria", die ihre Truppe genauso gut führt
wie sie die Menge beherrscht, und die zugleich einen grundlegenden Einfluss
auf die Mode und die Stofffarben hatte. So jedenfalls präsentiert sich Loie Ful-
ler in ihrer Autobiographie Mein Leben und der Tanz, 28 die sie nach eigener
Angabe auf die Bitte von Jules Claretie hin geschrieben habe - ein Unterneh-
men, das sie nach dem Tod ihrer Mutter und einigen Jahren des Pausierens in
Angriff genommen hat.
Das Nachdenken über Perfonnativität führt uns zu der Frage: Tanzen ja,
aber wofür und weshalb?
Es scheint reizvoll, diese Autobiographie mit einer anderen, ~änzlich anders
gestrickten zu vergleichen, nämlich der von Jo Ann Endicott, 2 die sich zwar
an ihr Publikum richtet, zugleich in gewisser Weise aber auch an Pina Bausch
adressiert ist. Wo findet sich hier die Perfonnativität? Ist es die Tatsache, dass
sie sich mit ihrer Rolle identifiziert? In Bezug auf die Sieben Todsünden gibt
sie an, die Rolle der Anna geliebt zu haben. „Eigentlich spielte ich keine Rolle,
ich war Anna. Mit Anna konnte ich mich besonders gut identifizieren. " 30 In
Walzer schreibt sie: „Ja, bei Walzer bin ich vor mir selbst erschrocken. Ich
wollte nicht so sein. Ich wurde so. " 31
Sie gesteht, immer sehr gern auf der Bühne gestanden und den klassischen
Tanz in Australien nur begonnen zu haben, um ihre Schüchternheit zu über-
winden.32 Eine Möglichkeit also, eine andere zu werden, um sie selbst sein zu
können. Es handelt sich um eine Metamorphose, eine Transfonnation, eine
Berufung im starken Sinne des Wortes. „Tanzen ist so great, und auf die Bühne
27 Ebd., S. 150.
28 Der ursprüngliche Titel des Werkes war Quinze ans de ma vie, was einigermaßen verwunder-
lich war, da sie eigentlich dreißig Jahre ihrer Existenz abhandelte; der Titel wurde ersetzt
durch Fifteen Years of a Dancer 's life.
29 Endicon 1999.
30 Ebd„ S. l lf.
31 Ebd„ S. 20ff.
32 „Ihr könnt das vielleicht nicht glauben, aber ich bin richtig schüchtern. Nur auf der Bühne
war ich frei" (ebd„ S. 129).
178 Alain Montandon
zu gehen vor Zuschauern, das ist das Größte. Mit 14, 15 wollte ich Nonne
werden, daraus ist nichts geworden. Für mich ist die Bühne ein heiliger Ort,
und das größte Geschenk ist, Euch was sagen, was zeigen zu können, Euch
mitzuteilen, was mir wichtig ist. " 33
Hier zeigt sich eine mystische Dimension der Körperbewegung: „Unglaub-
lich, was man alles mit Körpern machen kann. Tanz aus dem Versinken, Hoff-
nung und Freedom des Körpers, Atmen für die Seele."34 Die Tanzschritte sind
die Worte eines Schauspielers, der keine klare Rede anbietet, sondern ein
,.Fest für die Augen". 35 Indem sie diesen mysteriösen, unerklärlichen, verwir-
renden, destabilisierenden und ohne Zweifel gelegentlich auch auflösenden
Aspekt der Werke von Pina Bausch hervorhebt, schreibt Jo Endicott:
Ich habe es auf der Bühne erlebt, getanzt und gemacht, wie ich es empfunden habe. Von
innen nach außen. Auf mein Gespür gehört, was zu viel und was zu wenig ist, wieviel
Zeit kann ich mir hier erlauben, wie lange muß die Pause sein, wie laut der letzte Schrei,
wie lange darf ich weinen, bevor es umkippt ins Lachen, und dabei gleichzeitig doch
noch alles unter voller Kontrolle haben. [... ] Nennt man so was Kunst? Bin ich Tänzerin?
Schauspielerin? Schreiberin? Oder Jo, die macht, was ihr wichtig ist? 36
Die Kunst des Tanzes wird hier als Improvisation wahrgenommen, bei der
man niemals das gleiche zweimal sagt, bei der man gelegentlich nicht weiß,
was man überhaupt sagen wird. Ein besonderer Genuss entsteht durch den
Eindruck, etwas Neues, Überraschendes, Unvorhergesehenes zu erleben, das
ein langwieriges und in den Proben intensives Tasten nötig macht: Ich würde
das gerne mal ausprobieren, und dann das, dann nach dem vielleicht auch
noch das dazu und ein Ding noch hinterher, etc. 37 Die Improvisation ist auch
eine andere Art, die Zeitlichkeit zu leben. Jo Endicott unterbricht ihre häus-
lichen Pflichten, um eine neue Rolle zu spielen.
Die Autobiographie (,,retrospektive Prosaerzählung, die eine reale Person
von ihrer eigenen Existenz macht, indem sie den Akzent auf ihr persönliches
Leben und insbesondere die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt", um die De-
finition von Philippe Lejeune aufzugreifen 38 ) dient nicht nur dazu, sich selbst
darzustellen und zu verteidigen. Das Bedürfnis nach Anerkennung kommt den
Erwartungen des Publikums entgegen und kämpft zugleich gegen die Vorur-
teile und die fehlende öffentliche Anerkennung, die auf den Tänzerinnen las-
ten: Cleo de Merode (die sich nicht traut, den Ordensschwestern zu gestehen,
dass sie eigentlich im Opernballett tanzt), zeichnet von sich das Bild einer
tugendhaften und sensiblen Frau. Carotine Otero rettet Kinder aus einer Feuers-
brunst, verzichtet auf einen Liebhaber, damit dessen Geliebte nicht leiden muss,
etc. Das Schreiben über sich selbst dient dazu, die zahlreichen möglichen
33 Ebd., S. 39.
34 Ebd. S. 46.
35 Ebd.
36 Ebd. S. 101.
37 Ebd. S. l 70f.
38 Lejeune 1996, S. 14.
Das Perfonnative des Tanzes 179
Identitäten der Tänzerin zu bündeln in dieser zweiten, anderen Art der Auffiih-
rung, die das Schreiben ist.
Es gibt das Bild, das unsere Freunde sich von uns machen, das Bild, das wir uns von uns
selbst machen, und das, das unser Geliebter sich von uns macht. Es gibt das Bild, das un-
sere Feinde sich von uns machen, und all diese Bilder sind unterschiedlich. (... ] Wenn
also auf jeden Fall die anderen in uns eine andere Person sehen, wie können wir noch in
uns selbst eine neue Person fmden, von der wir in unseren Memoiren sprechen wür-
den. 39
Mary Wigman ihrerseits erklärt, sie habe keine Zeit, ihr Leben aufzuschreiben,
und im Übrigen: „Ich bin keine Schriftstellerin". Zugleich sind ihre Aufzeich-
nungen über den Tanz stark autobiographisch gefärbt, wenn sie etwa erklärt,
der Ausdruckstanz sei auch eine Art Verlängerung ihres Ich, womit auch das
Innerste und Unbewussteste ihres Wesens gemeint sei, wie etwa beim Hexen-
tanz. Die große Priesterin des modernen Tanzes erklärt detailliert, wie die
Konzentration den Körper vergrößert und ausdehnt: Sie behauptet, dass aus
der Kraft der Konzentration ein nie gekanntes Gefühl der Stärke und der Ver-
fügbarkeit entsteht und dass der Körper eine neue Dimension hinzugewinnt,
indem er sich frei in einem lebendigeren Raum bewegt.
Und der Tanz erscheint nicht nur als Befreiung des weiblichen Körpers und
eine nachdrückliche Ausrufung der Freiheit der Frau, wie Duncan, ähnlich wie
andere Tänzerinnen der Belle Epoque, unterstreicht („Wenn mein Kunst nur
eine Sache symbolisiert, dann die Freiheit der Frau und ihre Befreiung aus
dem Joch der Konventionen, die Kette und Schuss des Puritanismus von Neu-
england sind."41 ), sondern dann ist dies zugleich eine Inbesitznahme der Welt
durch den Körper, eine Ausdehnung des Körpers ins Universum.
Die Tänzerin gehört nicht einer Nation an, sondern sie gehört der ganzen Menschheit.
Sie wird nicht wie eine Nymphe, eine Fee oder eine Kokette tanzen, sondern wie eine
Frau in der Fülle ihres Seins. Sie wird das wechselnde Leben der Natur tanzen, die Ver-
änderungen jedes ihrer Elemente zeigen. Ihr ganzer Körper strömt eine strahlende Intel-
ligenz aus, die der Welt die Nachricht der Gedanken und des Strebens von Millionen
Frauen übermittelt. Sie wird die Freiheit der Frau tanzen. 42
Isadora nimmt für sich das große Vorbild der Natur43 in Anspruch, deren Aus-
tausch und deren Wechsel zwischen verschiedenen Spannungen: ,,Es ist der
Wechsel zwischen Anziehung und Abstoßung des Gesetzes der Schwerkraft,
der die Wellen erzeugt.'M Eine solcherart ausgespielte Spannung erzeugt das
Bild einer übergreifenden Ebene, wie Gabriele Klein sehr zutreffend bemerkt:
„Durch die im Ich hergestellte Spannung erscheint der Tanzende nach außen
hin als vollkommen, als eine Einheit, als ein androgyner Menschentyp."45 In
ihrem Lebensbericht evoziert Isadora Duncan die Offenbarung eines solchen
Moments durch die Duse im Jahr 1899:
ln diesem Moment hatte die Duse einen solch extremen Zustand der Exaltiertheit er-
reicht, dass sie an der Bewegung der Sphären teilhatte. Dass ein menschliches Wesen
seine menschliche Erscheinung transzendieren und sich in eine Sphärenbewegung ver-
wandeln kann, erscheint als der äußerste Ausdruck des Religiösen im Tanz. 46
42 Ebd., S. 60.
43 Sie bezieht sich insbesondere auf die Wogen und die universellen Wellenbewegungen: ,,Als
ich ganz klein war, kam mir durch die Betrachtung der Wellen die erste Idee filr einen Tanz.
Ich versuchte, ihrer Bewegung zu folgen und nach ihrem Rhythmus zu tanzen" (ebd., S. 19).
44 Duncan 2004, S. 64.
45 Klein 1992, S. 273.
46 Duncan 2003, S. 73.
47 Mary Wigman gibt hiervon ein Beispiel anlässlich von Drehmonotonie, einem Tanz, bei dem
sie beginnt, sich zu drehen: „Wölbung und Kuppel, kein freier Himmel über mir - keine Rich-
tung, kein Ziel - kreisend und drehend in spiralischem Auf und Ab, ohne Anfang, ohne Ende
- zärtliches Wiegen, greifende Anne, leidvoll und wonnevoll - in se\bstzerstörerische Lust
wieder sich steigernd, anschwellend und abschwellend, zurückflutend - höher und schneller,
immer noch schneller - der Wirbel hat mich erfaßt, die Wasser steigen. Der Strudel reißt
mich in die Tiefe. Noch höher, noch schneller, gejagt, gepeitscht, gehetzt. - Wird es nie mehr
aufhören? Warum spricht keiner das erlösende Wort, das dem Wahnsinn Einhalt gebietet?
Mit einer letzten verzweifelten Anstrengung gelingt die Wiedereinschaltung des Willens.
Ein Ruck geht durch den Körper, ihn im Augenblick der rasendsten Umdrehung zum Still-
stand zwingend, hochaufgereckt, auf die Fußspitzen gehoben, die Arme hinaufgeworfen, sich
an einen nicht vorhandenen Halt klammernd. Atemverhaltene Pause, eine Ewigkeit lang, die
doch nur Sekunden dauert. Und dann das plötzliche Sich-Loslassen und der Sturz des ent-
spannten Körpers in die Tiefe. Lebendig nur noch ein Gefühl: das der Körperlosigkeit. Und
ein Wunsch: nie mehr aufstehen zu müssen, so liegenbleiben zu dürfen bis in alle Ewigkeit.
Aber da waren Menschen, da applaudierte nach kurzer, atemloser Stille ein Publikum. Ich
hatte gelernt, mich zu disziplinieren. Ob der Zuschauerraum sich drehte, ob der Kopf dröhnte,
das Herz wie rasend schlug und der Atem keuchend ging - im Augenblick, wo der Vorhang
sich wieder hob, mußte und wollte ich wieder dasein und konnte mich verbeugen. - Es war
noch einmal gut gegangen. Ich war noch einmal davongekommen" (Wigman 1986, S. 39).
Das Perfonnative des Tanzes 181
Seins übersteigt, ein über sich selbst Hinauswachsen, das der maximalen Per-
formativität entspricht.
Das autobiographische Schreiben als Dialog mit sich selbst wird so zur
Aufführung, die ihrerseits versucht, bestimmte Wirkungen wiederzufinden
und zu reproduzieren, deren Performativität allerdings einer eigenen Analyse
bedürfte.
Literatur
Brandstetter, Gabriele: ,,La Destruction fut ma Beatrice" - Zwischen Modeme und
Postmoderne. Der Tanz Lore Fullers und seine Wirkung auf Theater und Literatur.
In: Erika Fischer-Lichte/Klaus Schwind (Hg.), Avantgarde und Postmoderne. Pro-
zesse struktureller und.funktioneller VerCJnderungen. Tübingen 1991, S. 191-208.
Ducrey, Guy: Corps et graphies. Paris 1996.
Duncan, Isadora: Isadora danse la Revolution. Monaco 2002.
-: La Danse de / 'avenir. Brüssel 2003.
-: Ma vie. Paris 2004.
Endicott, Josephine Ann: Ich bin eine anständige Frau. Frankfurt/M. 1999.
Fuller, Lore: Ma vie et la danse. Suivie de ecrils sur la danse. Paris 2002.
Klein, Gabriele: FrauenKörperTanz. Eine Zivilisationsgeschichte des Tanzes. Wein-
heim, Berlin 1992.
Lejeune, Philippe: Le pacte autobiographique. Paris 1996.
Meier-Graefe, Julius (1900): Loie Fuller. In: Die Insel Jg. 1, Bd. 3, S. 100-105. Reprint
Nendeln 1970.
de Merode, Cleo: Le ballet de ma vie. Paris 1985.
Wigman, Mary: Die Sprache des Tanzes. München 1986.
Max Peter Baumann
Siva ist nach Subramuniyaswami (1993, S. 33) ein symbolisches Konzept der göttlichen Liebe.
Im Sivaismus wird diese sowohl immanent als auch transzendent verstanden. Siva als gött-
liches Prinzip ist sowohl Schöpfer als auch Schöpfung, dual und nicht-dual zugleich, er ist im
Menschen und außerhalb des Menschen. Gott ist beides manifest und unmanifest, weder aus-
schließlich pantheistisch, polytheistisch noch monotheistisch. Als monistischer Theismus,
Panentheismus ist diese Theologie bekannt als Advaita ISvaraväda. - Die einzelnen Narra-
tionsstränge haben sich in den hinduistischen Traditionen und Philosophien mit unterschied-
lichen Schwerpunkten entwickelt. Sowohl die Anhänger Sivas (Saivas) als auch die Anhänger
Visnus (Vaisnavas) haben sich - u. a. auch in Differenz zum Brahmanismus und Saktismus -
in ~~rschiede~e Schulen ausgerichtet und befanden sich in der ,,nominellen Zustimmung zur
Autorität der Veden" uneingestanden auch im Dialog mit dem Buddhismus (Smart 2000,
S. 43). - Als einer der bedeutendsten Vertreter einer modernen Präsentation der alten Lehren
gilt Satguru Sivaya Subramuniyaswami (1927-2001), dessen Katechismus Dancing with Siva
(1993) zu einem hinduistischen Grundlagenwerk von globaler Bedeutung wurde. Vgl. auch
Danlielou 1992; Desai-Breun 2005.
2 Desai-Breun 2005, S. 41. Man vgl. hierzu auch etwa die Upanischaden ( 1.) mit der Lehre von
der Seele (ätman: „ausgehaucht"), die mehrfach stirbt und in einem neuen Organismus wie-
der geboren wird (sarirsara) und (2.) mit der Lehre, dass der Mensch die Folgen seiner Taten
Na!aräja -der kosmische Tanz 183
Wahrheit, die viele Stufen kennt und die Spannung zwischen dem Bezeichnen-
den und dem Bezeichneten aufhebt. Die sinnliche Anschauung durchlebt kör-
perhaft die bewegte Form als Innehalten in der Selbstbegegnung und konzen-
triert sich im Akt der Bewusstwerdung auf die geistige Schau des Absoluten.
Abb. 1: Siva Na~aräja - der kosmische Tänzer als Schöpfer, Erhalter und Zerstörer
bzw. Transfonner des Universums. Bronze, 12./13. Jh., National Museum
New Delhi (Yaldiz 1992, Abb. 159, S. 228).
Die Repräsentation des tanzenden Siva ist als dynamische Pose eingefroren in
den ewigen Augenblick, an der Schnittstelle aller Zeiten und Räume. Das bewegt
Gestaltete ist das erstarrte lnnesein des dynamischen Flusses in der anschauba-
ren Materialisation gebündelter Energien. Die Ruhe selber zerfällt im Moment
der Bewusstwerdung. Die dramatische Szene, die den Augenblick als materiali-
sierten Aspekt von Zeit und Raum begreift, ist zugleich das Sinnbild des ewigen
Kreislaufs von Werden und Vergehen. Der vierarmige Na!aräja liest sich mit
den ikonographischen Attributen der sanduhrförmigen Trommel, der Flamme
in diesem oder im späteren Leben zu tragen habe (karma), sowie (3.) mit der Lehre, dass es
einen Weg gibt, sich von dem ewigen und leidvollen Kreislauf von Tod und Wiedergeburt zu
befreien (moksha, nirvana). Letztere leitet sich daraus ab, dass die Identität des innersten
Selbst (ätman) zugleich mit dem Absoluten (brahaman) identisch ist („Ich bin Brahrnan"/
,,Das Brahman bist Du!"). Die Geheimlehre beinhaltet zudem auch das Wissen in der heiligen
Silbe OM.
184 Max Peter Baumann
von Werden und Vergehen, von Halbmond, Kobra und Gesten (mudräs) als
offenes Buch des mythologischen Wissens. Der Tänzer, umgeben von einem
Mandala des Flammenmeers, manifestiert das lichterfüllte und bewegte Herz
des Menschen, das den innersten Schrein des manifesten Kosmos umschließt
und die höchste Bewusstwerdung im Aum-Mantra der Schöpfung erfiihrt. 3
Es ist die interkulturelle Lektüre, die das mythische Wissen transgrediert,
indem es die Grundlagen der Narrationen aus der Innensicht einer Kultur in
den erweiterten und kulturüberschreitenden Diskurs bringt, um „die von der
Neuzeit , verworfenen' Bestände der Überlieferung des Menschengeschlechts"
als Schlüsselzeichen anders zu sichten und innerhalb der ,,reichhaltigen Archive
des Symbolischen, Imaginären und Realen" neu zu verstehen. 4
3 Die Hauptfunktion von Mantras ist es, dass der Rezitierende oder derjenige, der ein Mantra
schweigend wiederholt, das göttliche Prinzip oder ihre Energie verinnerlicht und sich mit ihr
identifiziert. Die Geböiwahrnehmung wird damit verankert und in den Mittelpunkt gestellt,
so dass die äußeren und zerstreuten Gedanken zur Ruhe kommen. „Mit der Verdichtung des
Kraftfeldes wird die göttliche Gestalt sozusagen zum Übenden hingezogen, bis sie völlig ver-
innerlicht ist" (Mookerje/Khanna 1987, S. 171 ). Beim Singen wird der Geist - so die Auffas-
sung - von den energietragenden Silben erfüllt, es werden die göttlichen Essenzen der spiritu-
ellen Energie im physischen Körper aufgeweckt. Die Rezitation ruft amrila („Unsterblich-
keit") bzw. den Nektar des Entzückens (Ambrosius) hervor. Dies geschieht in der Meditation
unter verändertem Bewusstsein. Der Klang steigt im physischen Körper auf und führt zur Er-
leuchtung über A, dem Wurzel-Chakra am unteren Ende der Wirbelsäule (Erinnerung, Zeit,
Raum) bzw. Lord Giqiesa - zu U, dem Herz- und Kehlkopf-Chakra (göttliche Liebe) bzw.
Lord Murugan - und von da zum M, dem Schädel-Chakra (Erleuchtung, Göttlichkeit) und
letztlich zur obersten „Gottheit" bzw. Erleuchtung. Vgl. auch Alper 1989; Rudhar 1982.
4 Kamper 1990, S. 258.
5 Vgl. Assmann 1999, S. 52ff.
Na~aräja - der kosmische Tanz 185
6 Die Dichter bzw. Seher (!ishis) der Veden galten als inspiriert von übermenschlichem Ursprung
und göttlicher Autorität. Ihre Visionen erlangten sie durch eine große geistige, nach innen ge-
richtete Konzentration. Für die orthodoxen Hindu gelten die Veden als heilige Offenbarung,
die seit Ewigkeit besteht und Wort für Wort von göttlicher Herkunft ist. „Veda" (skrt. veda)
bedeutet „Wissen", ,,heilige Lehre". Die Veden sind die ältesten heiligen Schriften Indiens und
wurden Ober Hunderte von Jahren mündlich überliefert und von einer Priesterkaste (zw. 1750
und 500 v. u. Z.) zusammengetragen. Ihre endgültige Form erhielten sie in einer Zusammen-
186 Max Peter Baumann
Abb. 2: Perlesreut (Bayerischer Wald), Christus am Kreuz mit den beiden Marien,
umgeben von den Marterwerkzeugen und weiteren symbolischen lkons, die
in der Narration einzelne Zeitaspekte symbolisieren und das kulturelle Ge-
dächtnis in der Synopsis als Gesamtschau erfahren lassen (Foto: Verf. 2005).
stellung (sari1hitä) von vier Hymnensammlungen: 1. ~ig-Veda („Weisheit der Verse"; 1028
Hymnen an vedische Gottheiten; sie gelten als das älteste Werk der indoeuropäischen Litera-
tur); 2. Säma-Veda („Weisheit der Gesänge"), Gesangstexte für Priester; 3. Jadschur-Veda
(„Weisheit der Opfersprüche'' für die Opferhandlungen) und 4. Atharva-Veda (Weisheit der
Gebete"), Zauberformeln und Beschwörungen für medizinische Zwecke des Feuerpriesters
Atharvan. Einzelne Interpretationen schlossen sich diesem Schriftenkorpus an als Brährnanas,
Aranjakas und Upanischaden. Brähmanas (etwa 800-600 v. u. Z.) sind theologische Erläute-
rungen zu Hymnen, Ritualen und Mythologie. Aranjakas (um 600 v. u. Z.) sind ,.Abhandlungen
Ober den Wald bzw. die Wildnis", d. h. über Orte, wo man Erleuchtung erlangt. Sie umfassen
zudem esoterisches und mystisches Wissen Ober Opfergaben, Rituale und Feuerzeremonien.
Upanischaden („Verehrungen", um 600-300 v. u. Z.) sind mystische Texte der altindischen
Brähmanen-Religion (wörtl. 11pa, nahe; ni, nieder; !fad, sich setzen; sich nahe zu jemandem,
d. h. einem Guru sich zu Füßen niedersetzen, um die Geheimen Lehren zu empfangen). Sie
bilden den Schlussteil des offenbarten (fruti)-Teils der Veden und die Basis der Vedanta, der
philosophischen Schlussfolgemngen. Vgl. weiterführend Geldsetzer 2003; Thieme 1966.
Nataräja - der kosmische Tanz 187
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Abb. 3: Die Narrationen der beiden großen religiösen Strömungen:
Vedische und Abrahamische Religionen (Grieder 1990, S.116).
ihrerseits selbst als einer der drei Teilaspekte (trimürti) der allumfassenden, alles
transzendierenden absoluten, nicht-dualen, d. h. fonnlosen einen Wirklichkeit
Brahmans gilt. Brahman ist das transzendierende Absolute, die alles durchdrin-
gende Energie oder gleichsam die formlose Urseele des ganzen Universums.
Abb. 4: Trimürti: Die Dreigestalt des Mahädeva (der große Gott, Ahnherr aller
Welt) als Schöpfer, Erhalter und Zerstörer (Schleberger 1986, S. 51 ).
Im Konzept von Trimiirti manifestieren sich auf mimetische Weise die drei
Teilaspekte des Absoluten als Brahmä (nicht zu verwechseln mit Brahman),
Vi~QU und Siva. Diese gelten als manifeste Teilaspekte, die das Unbenennbare
benennbar machen und je in sich die Teileigenschaften des Ganzen in der hier-
archisch unteren Ebene sowohl immanent als auch transzendent in sich tragen.
Je nach hinduistischer Tradition wird der eine oder andere Aspekt anders ge-
wichtet, betont und verehrt. 8 Und jedem dieser männlich konnotierten Aspekte
wird auch ein weiblicher Aspekt der Komplementarität zugeordnet, so dass
das Eine nicht ohne das Andere denkbar ist und in jeder Teilmanifestation das
Besondere besonders betont wird, wobei das Ganze allerdings zugleich schon
mitgedacht ist, ohne dass einer dieser Gesichtspunkte verabsolutiert würde. 9
Das Eine kann sich jeweils in den verschiedenen Aspekten des Daseins verkör-
pern und trägt dementsprechend auch viele Namen. Jede Gottheit ist jeweils ein
hervorgehobener Aspekt des zugrunde liegenden und allumfassenden Brahman. 10
Abb. 5: Siva und seine Gemahlin Pä.rvatT (Coomaraswami 2004, PI. lll).
Rechts: der sildindische Siva mit Axt und Antilope und der nord-
indische Siva mit Dreizack und Kobra (Schleberger 1986, S. 85).
Abb. 6: Siva Na~aräja - der König des Tanzes. Brahmanische Bronze, Süd-
indien, 12. Jh., Museum von Madras (Coomaraswami 2004, P. II).
Der Symbolismus des Siva Na~ja-Tänzers umfasst alle Aspekte von Religion,
Kunst und Wissenschaft. 12 Im Tanz der Schöpfung, der Bewahrung und Zer-
störung, der gepaart ist durch die Anmut von Verhüllung und Enthüllung, ver-
steckt sich ein tiefgehendes Verständnis des Universums, ausgedrückt und
wahrgenommen durch die Metapher des kosmischen Tanzes und durch die in
der Darstellung verhüllten und enthüllten Symbole mit der besonderen Refe-
renz zu dem Mantra (Aum) Namah Sivaya (Aum: Ehre [sei] Siva). Dieses be-
deutendste und esoterischste Mantra des Sivaismus ist bekannt als paiichäk-
shara und steht für die fünf Silben na, ma, si, vä, ya.
Na steht für die Anmut des Verschleierns, ma bezeichnet die Welt, si steht
für Siva, vä bezieht sich auf dessen Anmut des Enthüllens und ya symbolisiert
die Seele. Die fünf Silben beziehen sich aber in ihrem spezifischen Teilaspekt
auch auf den physischen Körper. Na repräsentiert die Beine, ma den Bauch, si
die Schultern, vä den Mund und ya die Augen. 13 Aurn bzw. Om ist das Wur-
zel-Mantra (müla mantra) und geht als solches den meisten Rezitationen (japa)
von anderen Mantras voraus. Es steht für den ganzen Kosmos und für seine
Teile, einschließlich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, bzw. für das
Kreationsprinzip (Brahmä), ~as Erhaltungsprinzip (Vi~t.J.u) und das Prinzip des
Zerstörens bzw. Erneuerns (Siva). Aus den drei Ur-Vibrationen von a-u-m sind
alle Kräfte der Schöpfung hervorgegangen und sie beinhalten die Quintessenz
des kosmischen Tanzes. Es sind drei Grundkräfte, die Nalafäja in der tänzeri-
schen Bewegung und im tänzerischen Innehalten in sich vereinigt, erstens die
zentrifugalen und zweitens die zentripetalen Kräfte (tamas und sattva) sowie
drittens die Friktion der beiden Grundkräfte, welche die Leidenschaft (rajas)
des Tänzers hervorbringt und die Welt vibrieren und den Boden bersten lässt.
Im Tempel von Chidambaram, der Siva Nalfiläja geweiht ist und als mysti-
scher Ort gilt, weil der kosmische Tänzer vor seiner Begleiterin der Legende
nach dort zum ersten Mal getanzt haben soll, ist Nalfiläja mit Pärvati in der
goldenen Halle (als metaphorischer Nukleus eines Atoms) auf einem Gemälde
des 19. Jahrhunderts im Tanz der Atome dargestellt.
14 Vgl. auch Text wid Musik zur kTrttana/ bzw. krti „Sabbäpatikku" von Gopälakrishna Bhärati
(1810-1896). Sabhäpati ist ein anderer Name für Nafaräja Die rituelle Musik im Tempel von
Chidambaram ist Siva und zugleich auch Vi~i,u gewidmet (Talotte 2003 - CD Nr. 3). Das
periya me/am-Ensemble, bestehend aus zwei nägasvaram-Oboen, tavi/-Trommeln und tä/am-
Zymbeln, repräsentien die Stimmen der Gottheiten. Vgl. auch Matsunami 1983.
192 Max Peter Baumann
Abb. 8: Darstellung von Nararäja mit Pärvati in der Goldenen Halle von Chi-
dambaram mit Atomen, deren Tanz er symbolisiert. Gemälde des 19.
Jahrhunderts aus Tanjore, Tamil Nadu (Waterstone 1995, S. 135).
15 Glasenapp ( 1992, S. 5) erblickt insbesondere in der Bhagavadgita eine Art von „Pan-en-theis-
mus (Alles-in-Gott-Lehre)" unter dem Aspekt einer Verbindung von Theismus und Pantheis-
mus. Die Bhagavadgita - „Der Gesang (gitä) des Erhabenen (bhagavad)" - gilt neben den
Veden, den „alten Erzählungen" (puranas) und den beiden Volksepen (Mahäbhärata und Rä-
mäyana) als eines der heiligsten Bücher der Hindus. Das Buch entstammt dem 6. Buch des
Nataräja - der kosmische Tanz 193
DicWcltdn
„ Tausmd Dillgc
00
Mahäbhärata-Epos und stellt den philosophischen Dialog dar, in welchem Krishna (als achte
Inkarnation von Vi~i:iu) die höchsten Fragen über Gott, Welt und Seele beantwortet. „Das
Lied der Gottheit" erllutert u. a. die Seelenwanderung: „Wie ein Mensch die abgenutzten
Kleider ablegt und andere, neuere nimmt, so legt die Seele die verbrauchten Körper ab und
tritt in andere, neue ein."
16 Zu BegiM der Schöpfung sollen sich alle drei Qualitäten ohne Wechselbeziehungen zueinan-
der im Gleichgewicht (Hannonie) befunden haben. Erst durch die beginnende Fluktuation er-
gab sich eine Störung des Gleichgewichts (Dishannonie) durch die Einwirkung des Bewusst-
seins (purusa) auf den zeitlosen Urgrund (pra/q"iti). Die drei Qualitliten (bindu - purusa -
prakrit1) entfalteten eine schöpferische Bewegung (parispanda) in der Evolution der Welt als
Vielfalt der „Tausend Dinge" (vgl. Mookerjee!KhaMa 1987, S. 124).
17 Vgl. Schleberger 1986, S. 95.
194 Max Peter Baumann
l f (yom)
• Athcr: Drittes Auge
m(l.tnga)
= Tronunel als
•
Feuer als S~111bol
der Zerstönwg
und Emeuemng
Symbol der (im Aspekt \'Oll
Kreation; Sn·a)
Emanation t (im
Aspekt \'Oll
Brahmä)
Elefanten·
Der Fuß zerquetscht _ __ .-....,..._
Mudn 1U1d
die Macht des Pose des
\'erhollcns in der erhobenen
Gestalt des Dimons Beines
1wd befreit ,·011 E11thfilhn1 g
desm1 U11~i~sc1ili.eit (En clllW[t :
E.rlcuchllmg)
Abb. 10: Siva Na!aräja - der König des Tanzes: Elemente und Symbole
(wie Abb. 1; Beschriftung Verf.)
Auf der fj,aman1 trommelt der Tänzer das paranäda, den Urklang, mit dem der
Ursprung der Evolution und des klanggezeugten Wortes symbolisiert wird, so-
wie die Rhythmen von Werden und Vergehen in all ihren unterschiedlichen
Zyklen der Kreation (yugas). Die rechte, tiefer liegende Hand hebt sich in der
Geste des Segnens (abhaya mudrä) und verkündet „Fürchte dich nicht". Furcht-
losigkeit gilt als die Frucht der Selbstverwirklichung. Die nach oben gehaltene
linke Hand mit der Gebärde des Halbmonds (ardhachandra mudrä) hält das
Feuer. Dieses symbolisiert die Vernichtung der Welt am Ende eines jeden Zeit-
alters und die phönixhafte Erneuerung im Aufstieg aus der Asche. Der linke
untere Arm schwingt in der Elefantengeste (gajahasta mudrä) und lädt ein, sich
zu nähern. Sie signalisiert zugleich Macht und Kraft des Gai:iesa. Der linke Fuß
des Tänzers zerquetscht das Rückgrat des Zwergdämonen Apasmärapu-Rusha,
Symbol der Unwissenheit, Ignoranz und Weltvergessenheit, und befreit die
Menschheit von Unbesonnenheit, indem er den Weg zur Befreiung von allen
Fesseln des Daseins weist. Der andere Fuß des Tänzers ist erhoben und ver-
sinnbildlicht den Zustand der erhöhten Bewusstwerdung. Der Tanz vollzieht
sich innerhalb der Materialität, sowohl in der Verkörperung des Individuellen
als auch des Überindividuell-Kosmischen. Es ist ein ekstatischer Tanz, der so
Nataräja-der kosmische Tanz 195
wohl die Weltzerstörung als auch die Rettung der Seelen zum Inhalt hat. Das
dynamische Wehen und Wirbeln der zu beiden Seiten des Hauptes geflochtenen
Büßer-Haare (jatäbhära), durch die der sündentilgende Gangä-Fluss fließt und
die häufig mit Schlangen sowie floralem Beiwerk verziert sind, unterstreicht
die Ekstase des Tänzers. Gangä, die Flussgöttin, erinnert daran, wie Siva einst
mit seinem mächtigen Haar die Welt vor ihren Wasserfluten gerettet hatte. 18
sattrakunduJa
Ohnuig1wt
weiblichem
C'hmaktcr
Abb. 11: Siva Natariija - der König des Tanzes. Details von Kopf, Haar, und Augen
(wie Abb. 1, Ausschnitt, Beschriftung Verf.; Ohrring-Attribute Schleberger
1986, S. 258; Ganges-Attribut Yaldiz 1992, Abb. 108, S. 171 ).
Die Bewegung des Tänzers geht auch aus dem flatternden Haaren und dem
Tuch an seine Hüften hervor. In den Haaren erkennt man die Mondsichel als
Haarkrone und die Kobra (näga), beides Embleme von Siva. Die Kobra, oft
auch als Armreifschmuck vorhanden, ist ein Hinweis auf die Erweckung der
Kundalini Sakti im Kontext der Chakra-Lehre von den Kraftzentren des Be-
wusstseins. Sivas senkrechtes drittes Auge ist das feurige ,,Auge der Weisheit"
(inänanetra), das des unverhüllten Sehens, das nach innen blickt und kontem-
plative Erleuchtung bringt, transformative Zerstörung jedoch, wenn es nach
außen blickt. Zusammen mit seinen beiden anderen Augen, die Sonne und
Mond symbolisieren, bilden alle drei Augen die drei unterschiedlichen Licht-
quellen von Feuer, Sonne und Mond und repräsentieren zugleich die transzen-
dentale Weisheit in der Gesamtschau von Vergangenheit, Gegenwart und Zu-
kunft. 19 Des Tänzers Ohren sind mit unterschiedlichen Ohrringen behangen.
Das rechte Ohr ist behängt mit dem Schlangen-Ring (sarpakundula) mit männ-
lichem Charakter, das linke mit dem weiblichen, breiten Ohrring, hergestellt
aus Goldfolien (pattrakundula). Beide zeugen von Sivas ursprünglich absolu-
ter Gestalt des uranflinglichen Neutrums, das sich in der Evolution der Kreation
in die „androgyne Form" des Männlich-Weiblichen (Ardhanärisvara) transfor-
mierte, um im Akt der Selbstzeugung in die beiden komplementären Aspekte
des göttlichen Paares von Siva-Sakti zu emanieren.
SIVA~
solutes / Neutrum
er Aufspaltung
Sivan: Sivä
rechte maskuline Hälfte linke feminine Hälfte
-pra/mt:J:
ständig sich
wa11deb1de
Unuaterie
in der Zeit
(manifc ste
Realität)
Körpcrsirlandc (mdlä)
Mitscfühl zur
Rezitation (Japa)
Kobra (näga)
Spicscl (darpana)
Di·eizack (trisüWa) '* am (Ardbanäri ' ·ar, )
Si Lohts (padma)
Rad (cakra)
Die komplementären M-pekte als Siva-Sakti
Abb. 12: Siva als Absolutes und Neutrum spaltet sich auf in die komplementären
Hälften des männlichen Aspektes Sivan und des weiblichen Aspektes Sivä.
Siva manifestiert sich in der Folge als „androgyne" Gestalt des Sivam (Ar-
dhanärisvara), halb Mann und halb Frau, bekannt auch als Siva-Sakti Paar
(Abb. links und Mitte: Schleberger 1986, Titelbild und S. 99; rechts: Yaldiz
1992, Abb.140, S.207; Beschriftung Verf).
Fllllllweubogeo: Nimbus
0 fü1· 001 (Aum) / prabh/J-
I müla mantra · / mandala
A: B.-.lmii
EriwienlllJ. Zeit.
R111U1 lpll)'\liscbe Ap1mlinp11-
Welt) - Feuer. Rusb1 Dilwon
W1u-zd-C'han der tTuwisseu-
beit 1111d
U: VL,1110 lp1orauz
Jllltbd1e Liebe
(mentale Welt) -
Luft. He.-z-C1Pkra
1\1: stn
Edcuchh1UJ
(spaitucllc Welt) - Pilba Loh1s~ockel
Ad1cr: Scbidcl- (t.hllterscboss I yom)
C'baki1 ab Thron c1Ue1 Ootthnt
Abb. 13: Der Feuerbogen steht für die Weite des Ganzen Kosmos, für das allumfassende
Bewusstsein und im Besonderen für die mystische Silbe Aum bzw. Om. Diese
ist die Grundsilbe der Schöpfung und steht sowohl für die ganze Welt als auch
für ihre Teile, für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. a-u-m sind Aspekte
von Brahmä, Vi~1,1u und Siva (wie Abb. l; Beschriftung Verf.).
Zugleich beziehen sich die drei Klänge von Aum auf die drei Haupt-Chakren.
Die Silbe a steht stellvertretend für den Aspekt von Brahmä im Sinne der phy-
sischen Welt und den Prozess des erwachenden und schöpferischen Bewusst-
seins in der Erinnerung, innerhalb von Zeit und Raum. Mit der Silbe a verbin-
det sich das Element des Feuers im Bezug auf das Wurzel-Chakra. Die Silbe u
umfasst den Aspekt der göttlichen und erhaltenden Liebe von Vi~l)u im schlum-
mernden Bewusstsein der mentalen Welt, konnotiert mit dem Element der Luft
und umfasst in der Chakra-Lehre das Herz- und Kehl-Zentrum. Der dritte Klang
m steht dagegen in Verbindung zum Element des Äthers, ist dem Schädelzen-
trum zugeordnet und repräsentiert mit Bezug auf das Höchste und Absolute
(Siva) die spirituelle Welt der Erneuerung des Überbewussten und der Erleuch-
tung sowie der Zerstörung des alten Ichs, das weiterhin in der Illusion der
Wirklichkeit gefangen bleibt. 21
Siva Na1aJiijas Tanzdarstellung bringt in der Synopsis des Allumfassenden und
seiner Einzelaspekte transgredierend zugleich das Allgemeine und Individuelle
zum Ausdruck. Die Narrationen des über die vedische Tradition Gehörten (sroti)
sind versinnbildlicht in den Skulpturen und ihren formalisierten Bilder- und
Symbolsprachen, deren ikonographische Ausdeutung abhängig ist von den ge-
spiegelten Daseinserscheinungen im Wechselspiel unterschiedlicher Aspekte zu
Geist und Leere, Zeit und Raum und deren Reflektion im Spiegel des Vergäng-
lichen, zu Aspekten von Materie und Bewusstsein im Widerhall von Selbst, Asche
und Phönix. Skulpturen sind Kultbilder und ähnlich wie Mantras, Y antras und
Mandalas auf einen Punkt konzentrierte Wegweiser mit dem Gehalt und Stel-
lenwert mythischer Erzählungen. Es sind konkret metaphorische und anthropo-
morphe Konzentrate, mit denen höchst abstrakte Prozesse der Evolution und
Involution, Gesetze der Kausalität und der Natur sowie Kategorien von Raum,
Zeit, Energie und Masse verbildlicht werden. Integrativer Bestandteil sind zu-
gleich die ihnen zugrunde liegenden Epen Mahäbhärata, Rärnäyana und Bha-
o Psychisches Zentrum -
Erleuchtungszentnun (OM)
Q
Ü
CerebraJ-Zentrum (A)
Gutttu·aJ-Plexus (HAM)
}
"(X C'ordial-Plexus (YAM)
D Basis-C'hakra (LAM) }
Vertikal-Linie: susumnd-n&if(Syuthese aller Polaritäten; Weltachse).
Gewundene solare Linie p1ngaJd-n4df rechts nach oben (llll1llateriell; mälwlich
KrAfte des Ta~es). Gewundene hmare Doppellinie zdd-nddl linJ.."S nach unten
(materiell; weiblich KrAfte du Nacht).
Abb. 15: Chakra-Zentren (Hirn, Kehle, Herz, Nabel, Wurzel), ihre Elemente
(Äther, Luft, Feuer, Wasser, Erde) und ihre Symbole im Kontext der
Keimsilben (of!I, a, haf!I, yaf!I, ram vaf!I. la'!I bzw. Öf!I, aum, ya, vä,
si, ma, na) und der Kundalini (Govinda 1966, S.165; Beschriftung
nach ebd.; Subramuniyaswami 1993, S. 868; Waterstone 1995, S. 94f.).
22 Der Name des wohl ältesten klassischen indischen Tanzstiles ist vermutlich ein Akronym aus
drei Wörtern: bhava (bha), Gefllhl; räga (ra), Melodie und täla (ta), Rhythmus (Lusti-Nara-
simham 2000, S. 27). Nätyam heißt Tanz und ist definiert durch die Verbindung von Aus-
drucksgehalt, Melodie und Rhythmus (bha-ra-la).
200 Max Peter Baumann
Die Welt der Symbole des tanzenden Siva, in Bezug gesetzt zu dem Abstrakt-
Absoluten von Brahman einerseits und der Konkretisierung in der individuel-
len Person des Tänzers andererseits, ist die Reflexionsbewegung zwischen
dem Allgemeinen und Besonderen. Das Besondere ist auf holografische Weise
das Ganze im Kleinsten zugleich, und das Ganze schließt das Besondere in
sich ein. Im Besonderen enthüllt sich das Allgemeine auf individuelle Weise,
enthüllt also, was im Allgemeinen verhüllt bleiben muss. Im übertragenen
Sinn lässt sich hierin die Konstruktion von Wirklichkeit verstehen, die im
Siva-Prinzip die schöpferische Kreation, deren Fortdauer als Identität der
Selbstfindung und deren De-Identifizierung in der Dekonstruktion auf analoge
Weise vollziehen lässt. Zugleich bewirkt der Tanz als künstlerische Darstellung
die Verzauberung der Wirklichkeit in dem Maße, als die zugrunde liegende
Unbegründbarkeit der Welt verhüllt bleibt, die jedoch im gleichen Augenblick
bereits als Illusion dadurch entzaubert wird, dass der Tänzer den Boden der
Realität mit stampfendem Fuß zerquetscht. Siva Natafäja ist die imaginierte
Inszenierung der Zeit im kosmischen Raum, wo Vor-Mythos und Post-Mo-
deme sich verquicken: „Der Mythos spiegelt die Modeme und umgekehrt. Das
Früheste erscheint im Spätesten und umgekehrt. Je mehr Vergangenheit, desto
mehr Zukunft und umgekehrt. [ ... ] Die Stillstellung der historischen Dynamik
zugunsten des Augenblicks, der im Imaginären zum weitesten Reflexionsme-
dium wird, macht Differenz unmöglich, die man für lebenswichtig hielt". 23
Literatur
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Argüelles, Jose/Argüelles, Miriam: Mandala. Boulder 1972.
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schr!fl, Erinnerung und politische Identität
in frühen Hochkulturen. München 1999 (2. Aufl.).
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-: The Essential Ananda K. Coomaraswami, hg. v. Rama P. Coomaraswami. Bloo-
mington/lnd. 2004.
Danlielou, Alain: Gods of Love and Ecstasy. The Traditions of Shiva and Dionysus.
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trachtung. Nordhausen 2005.
Gass, Robert/Brehony, Kathleen: Chanting. Discovering Spirit in Sound New York 1999.
Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Mimesis: Kultur - Kunst- Gesellschaft. Reinbek 1992.
Geldsetzer, Lutz (Hg.): Asiatische Philosophie. Indien und China. Berlin 2003 (Digi-
tale Bibliothek Bd. 94).
von Glasenapp, Helmuth (Hg.): Bhagavadgita. Stuttgart 1992.
Diskografie
Gass, Robert: Spirit in Sound. The Best o/ the World Chant. Boulder 1999 (mit 2 CDs,
SGM 6021).
Lusti-Narasirnhan, Manjula: South India. Margam. The Comp/ete Bharatanatyam. Com-
positions by Vidwan Madurai Sri N. Krishnan. Genf2000 (2 CDs, VDE 1004/1005).
Ragunathan, Sudha: Shakti. Sudha Ragunathan. Sacred Songs .from Southern India.
Text von Caroline Bourgine. Accords Croises 2004 (CD AC 108).
Tallotte, William: South India. Periya Mi/am. Temple de Chidambaram. Paris 2003
(CDC 560178).
Georges Didi-Hubennan
REGLOS TANZEND
Israel Galvan ist ein Tänzer der „Geburt der Tragödie". 1 Ein tragischer Tänzer,
weil er nur tanzt, um, wie Nietzsche es nennt, „sich selbst aufzugeben"; weil
er als Individuum ,,zerbrochen" ist; weil er verwandelt aus seiner ,,Einkehr in
eine fremde Natur" heraustritt und „der Bann der Individuation zersprengt
wird". 2 Tragisch, weil er nicht nur eine Darstellung schaffi, sondern eine Mu-
sikalität, und weil diese Musikalität dauernd den Konflikt aufbrechen lässt, die
Trennung, den „ewigen Widerspruch, de[n] Vater der Dinge"3 . Musikalisch
gesprochen: die Dissonanz.
Was aber ist eine dissonante Geste? Was ist eine Geste der „Geburt der Tra-
gödie"? Es ist eben keine „tragische" Geste im üblichen Wortsinn. Es ist keine
„dramatische", „schreckliche" oder „traurige" Geste. Der psychologische Ge-
brauch des Begriffs tragisch geht auf eine Zeit zurück, in der die Tragödie
eine klassische literarische Gattung geworden war, die der Komödie offenkun-
dig gegenüberstand. Die Gesten Israel Galvans sind Gesten der „Geburt der
Tragödie" in dem Sinne. dass in ihnen das Tragische noch nicht als Gattung
isoliert ist. Es sind Gesten vor jeder Gattung, Gesten, die den Begriff Gattung
falsch klingen lassen, die den Psychologismus und Akademismus, der damit
zusammenhängt, zersprengen. Diese Gesten haben so viel vom Erhabenen als
der „künstlerische[n] Bändigung des Entsetzlichen" wie vom Komischen als
der ,,künstlerische[n] Entladung vom Ekel des Absurden". 4
Eine andere Art der „Verbindung der Gegensätze": Israel Galvan fordert so-
wohl das Erhabene und die „Würde der Angst" als auch das Groteske der
Angst, wenn sie zur Panik gerät. Hierin steht er den berühmten „Stierkarnpf-
künstlern" („toreros artistes") nahe, bei denen sich auf unerklärliche Weise
der Höhepunkt des poetischen Kämpfers und der Fall des pathetischen Pos-
Diese Überlegungen sind Teil einer Arbeit, die den Titel Le danseur des solitudes (Der Tän-
zer der Einsamkeiten) trllgt und die sich vor allem auf die Analyse der Vorführung stützt. die
Israel Galvän im Oktober 2004 auf der Biennale des Flamencos in Sevilla auffilhrte.
2 Nietzsche 1972: ,,hier ist bereits ein Aufgeben des Individuums durch Einkehr in eine fremde
Natur" (S. 57), „das Zerbrechen des Individuums" (S. 58), „während unter dem mystischen
Jubelruf des Dionysus der Bann der Individuation zersprengt wird" (S. 99).
3 Ebd., S. 35: „Widerschein des ewigen Widerspruchs, des Vaters der Dinge".
4 Ebd., S. 53: „das Erhabene als die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und das Komi-
sche als die künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden".
Reglos tanzend 203
senreißers abwechseln, wie z.B. Rafael EI Gallo, „le Toto de la corrida", 5 oder
Curro Romero, abwechselnd „erhaben" und „possenhaft". 6
Israel Galvän fällt nie in das Possenhafte; aber er entwickelt immer einen
Affekt, der von der „ widerspruchsvollen Gleichzeitigkeit" (ein Ausdruck, den
Freud verwendete, um die psychische Krise zu beschreiben) bestimmt ist. So
bringt er uns wie die großen burlesken Künstler Harold Lloyd, Charlie Chaplin
oder Buster Keaton (aber man müsste noch Nijinsky oder vor allem Valeska
Gert hinzufügen) aus dem Gleichgewicht. Eine ausdruckslose Person, die den-
noch ans Verborgenste, ja ans Tiefste des Affekts rührt. Es ist der Tänzer, der
immerzu sein Unglück wie seine Virtuosität nicht zu kennen scheint und der
uns - nahe an der Katastrophe, am Fall - durch eine plötzliche Darstellung der
Anmut erleuchtet, durch die klare Schönheit seiner Gesten, zwischen Verrückt-
heit und Tiefe, /ocura undjondura.
Galvän hat mir einmal von einem Tänzer erzählt, der ihn vor allen anderen
geprägt hat. Er wurde EI Carrete de Malaga genannt, das heißt „die Spule"
(wie die Filmspule oder die Spule einer Angel). Er führte in den Touristenorten
der Costa del Sol ein Schauspiel burlesken Flamencos auf. Inmitten der Lach-
salven der Touristen weinte Israel. Er hat mir auch von Felix EI Loco (Felix
dem Verrückten) erzählt, einem Tänzer, der zur Truppe von Diaghilev gehörte
und der ohne Unterlass tanzte, selbst wenn er aß, von dem Picasso ein Portrait
malte und der 1941 in einer Anstalt landete, nachdem er por farruca in einer
Londoner Kirche getanzt hatte. 7
Wie Juan Beimonte einst das „Theorem von Lagartijo" widerlegt hatte, in-
dem er sich einfach ruhig an einen bestimmten Platz in der Arena begab, so
widerlegt Israel Galvän die kanonische Opposition zwischen anmutiger und
komischer Geste, die Bergson aufgestellt hatte, indem er einfach - unschuldig,
aber verrückt, waghalsig - auf den Brettern eines Theaters tanzt. Dass Chaplin
und Keaton diese Widerlegung schon vor der Kamera vollzogen hatten, zeigt
uns, wenn dies nötig wäre, die Verbindung Galväns zum Kino. Aber diese
Verbindung ist nicht einseitig als Einfluss des Kinos auf die Kunst des Tän-
zers zu begreifen. Die Umkehrung ist ebenso wahr. In eben der Zeit, in der
Bergson die „Illusion" des ,.kinematographischen Mechanismus" 8 geißelte, er-
fanden Etienne-Jules Marey und die ersten Praktiker des Kinos die moderne
Zeitlichkeit par excellence, eine Zeitlichkeit, die nach dem Bilde des Tanzes -
vor allem von Loie Fuller, deren berühmte Serpentine neben anderen Quellen
der bata de co/a des Flamenco-Tanzes viel verdankt - aus Kontinuitäten und
Diskontinuitäten, aus Fluiditäten und „Anhalten" (arrets) zugleich bestand. 9
*
Wenn große Künstler wie Belmonte, wie Galvan stottern, dann funktioniert
vielleicht ihre Sprache oder sogar, wenn sie eine Geste machen, ihr ganzer
Körper ähnlich wie ein Seismograph von zahlreichen und stets gegenläufigen
Rhythmen - und sei es nur durch die Koexistenz von Fluiditäten und Akzentu-
ierungen -, in die uns die Zeit in jedem Fall taucht. Die remates, durch die
Galvan nicht aufhört, seine Gesten aufhören zu lassen, sie unterbrechen zu las-
sen oder sie hervorzuheben, zeigen uns, dass sich der Tanz keinesfalls auf die
Ausführung „anmutiger Bewegungen, die einem Rhythmus gehorchen", be-
schränkt, wie Bergson annahm. Auch der geringste Tanz ist immer polyrhyth-
misch, so wie auch das kleinste Gedicht immer vieldeutig ist. Daher kann das
Stottern nicht als Verlust des Rhythmus, sondern als Veränderung des Rhyth-
mus verstanden werden, das heißt als Bestimmung zur Andersheit, zur Viel-
heit, zur Komplexität. Ein Mensch, der stottert, macht nur eine rhythmische
Komplexität hörbarer, die schon seine Herzschläge von seinen Atemzügen
und dies alles vom Blinzeln der Augen etc. trennt. Der Tänzer ist derjenige,
der diese organische Komplexität sichtbar zu machen, sie ins Werk zu setzen,
sie auf den Raum jenseits seiner selbst auszudehnen weiß.
Tiefe und Nähe werden so sichtbar. Israel Galvan tanzt in Distanz - er
scheint sogar die Rückzugsgebiete, den Hintergrund der Bühne, die Ränder
des Lichtstrahls zu suchen -, und dennoch erweckt er in uns den Eindruck,
dass wir ganz nah bei ihm sind, dass wir seinen Herzschlag und seine Atmung
hören. Der glänzende Schweißfleck, der auf seinem Rücken immer größer
wird, erinnert daran, wie in der Arena das Blut das dunkle Gewand des Stiers
glänzen lässt. Man sieht ihn also von ferne, aber er zwingt uns, ihn aus der
Nähe zu betrachten und uns seiner Verletzung nah zu fühlen. Ein Effekt der
Aura, aber in umgekehrter Form: einmalige Erscheinung einer Nähe, so fern
auch der Ort sein mag, wo sie erscheint. 10 Effekt der „photogenie", hätte Jean
Epstein zweifellos gesagt. 11
Denn diese Art von nahem Blick, der aus der Distanz hervorgerufen wird, in
einer entfernten Vision, ist charakteristisch für das Zeitalter des Kinos, das in
gewisser Weise das Zeitalter der in der Distanz der Leinwand gesehenen Ver-
größerung ist:
Abrupt enthüllt die Leinwand ein Gesicht und das Drama, unter vier Augen, duzt mich
und schwillt an zu unerwarteter Intensität. Hypnose. Jetzt ist die Tragödie anatomisch.
[... ] Alles ist in Bewegung, aus dem Gleichgewicht, Krise. Schnitt. [...] Die Großauf-
nahme ist die Seele des Kinos. Sie kann kurz sein, denn die „photogenie" ist eine Sache
von Sekunden. [... )Aussetzende Höhepunkte bewegen mich wie Stiche. Bis heute habe
ich nie eine Minute lang eine reine „photogenie" gesehen. Man muss also annehmen,
dass sie ein Blitzstrahl und eine unregelmäßige Ausnahme ist. Dies verlangt einen Schnitt.
(... ]Gehacktes. Das Gesicht, das auf das Lachen zusteuert, ist von einer größeren Schön-
heit als das Lachen. Zu unterbrechen. Ich mag den Mund, der sprechen wird und noch
schweigt, die Geste, die zwischen der linken und rechten schwankt, das Zurückweichen
vor dem Sprung und den Sprung vor dem Auftreffen, die Zukunft, das Zögern (... ] die
kleinen kurzen, schnellen, trockenen Gesten[ ... ] von Lilian Gish [... ], Louise Glaum [... ],
Mai! Murray, Buster Keaton etc. Die Großaufnahme ist das Drama im unmittelbaren Zu-
griff.12
Es ist wirklich ein Phänomen dieser Art, das die Polyrhythmien und remates
von Israel Galvan hervorbringen: wenn die Szene abrupt von seinem körper-
lichen Drama erobert wird, dieser „anatomischen Tragödie", die ,,zu unerwar-
teter Intensität anschwillt"; wenn sein Schatten sich bewegt, zittert, zögert;
wenn ein Hauch von Emotion die Beugung seines Rückens unterstreicht;
wenn sich seismische Erschütterungen, Wellen, Fluiditäten, Akzentuierungen,
aussetzende Höhepunkte, Abweichung in der Geste, Sprünge überschneiden;
wenn berauschende Schnitte erscheinen, die Demontagen und Remontagen der
Bewegung; wenn sein Körper auf den Fall zusteuert, kleine, knappe Gesten
und große, feierliche Gesten zugleich; wenn die Furcht und das Lachen (Bus-
ter Keaton) untrennbar über all dem schweben.
*
Rematar, dieses Verb klingt seltsam: Man meint, es handele sich um wieder-
holtes Töten (matar). Die charakteristische Intensität des Kinos, von der Andre
Bazin in Bezug auf den Film La Course de taureaux sprach, in der Intensität
des wiederholten Anhaltens (arret repete) zu finden, in diesen Gesten, die
nicht authören, in Schönheit zu enden. Form und formlos, Statue und Wirbel
vereinigt in einer einzigen Geste. Nebenbei gesagt liegt hier das, was Man Ray
in seinen Photographien wie in seinen Filmen so gut verstanden hat, wenn er
Fran~aise, Paris 2004). Wenn bei Epstein oder Didi-Hubennan von ,,la photogenie" gespro-
chen wird, ist jedoch mehr gemeint als bloß die „Photogenität", ein besonderer, außerge-
wöhnlicher Moment, der erscheint - ein „Blitzstrahl" in den Worten Epsteins -, etwas, das
sich nicht fassen lässt und das den Betrachter triffi.]
12 Epstein 1921.
206 Georges Didi-Huberman
sich dem Tänzer Vicente Escudero annähert, wenn er die saeta der Nina de
Los Peines für seinen Film l 'Etoile de mer verwendet oder wenn er vor einer
jungen Flamenco-Tänzerin diesen Moment der „photogenie de !'imponderable"
einfängt, den Andre Breton so wunderbar Explosante:fue nennen wird. 13
Aus welchen Zeiten - vielfältigen, gegensätzlichen, verwickelten - kommt
diese paradoxe Intensität der „explodierend-fixen" Geste? Die traditionellsten
Beschreibungen des baile jondo sprechen davon wie von einer uralten Be-
schaffenheit, der höheren Dynamik des Tanzes, die sich oft in einer bewe-
gungslosen Dynamik verkörpert:
Die „brises" werden sozusagen am Platz ausgeführt. Eine Zigeunertänzerin von einem
Können wie die Venus de Bronze konnte den besten Teil ihres Repertoires auf einem
Stuhl sitzend durch einfache Anspielungen der Schultern, der Brust, der Hände, der Hüf-
ten tanzen. Dies ist die bewegungslose Dynamik dieser pythischen Kunst. 14
Eine „Venus de Bronze", die auf ihrem Stuhl tanzt? Das erinnert an eine antike
Skulptur, die schon sehr weit von den Antikenmuseen entfernt ist. Aber beides
ist nötig: sowohl die Antike wie ihre Verschiebung. Goyas Kunst hat sich im
Kontakt mit dem klassischen Rom geformt; 15 aber sie hat sich entschieden
gewandelt, als er sich auf dem Rückweg nach Spanien der Art zugewandt hat,
in der die „Nymphen" des Volkes und die zahnlosen Greise auf ihrem Stuhl
tanzen können (wenn es nicht mit einem Stuhl auf dem Kopf ist, wie man es
z.B. in den Caprichos sehen kann und wie es Galvän fast in Arena macht).
Kurz gesagt, die bewegungslose Dynamik ist ein Moment von langer Dauer,
das die Modeme in leidenschaftlicher Weise aufzugreifen gesucht hat. Diebe-
wegendsten Tänzerinnen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sind zu-
mindest schon in der Literatur die Tänzerinnen des Anhaltens auf dem Bild,
der Versteinerung und der Fragmentierung der Zeit: Sie verfallen in Agonie
oder Lethargie, sie bewegen sich wie Geister, sie bestehen aus Asche oder er-
kalteter Lava (wie die Arria Marcella von Theophile Gautier), sie bewegen
sich durch den Raum wie die Flachreliefs von Sarkophagen (das ist die Gra-
diva von Jensen 16).
Zu der Zeit, als er dem „angehaltenen Stierkampf' (Ja tauromachie arrete),
der von Beimonte vertreten wurde, noch ablehnend gegenüber stand, schrieb
Jose Bergamin einen zugleich labyrinthischen, anfechtbaren und bewunderns-
werten Essay über die Beziehungen zwischen westlicher Modernität und spa-
nischem Stierkampf (ein Problem, das nichts von seiner Aktualität verloren
hat). Zu Beginn stellt er dem wahrhaften toreo, das souverän, fröhlich, diony-
sisch, tanzend ist, um es kurz zu sagen, wie das des Joselito, zwei zeitgleich zu
Beginn des 20. Jahrhunderts entstandene kulturelle Phänomene gegenüber.
13 Vgl. Didi-Hubennan 2005. [A.d. 0.: La Photogenie de /'imponderable ist der Titel eines
Aufsatzes von J. Epstein, vgl. Anm. 11; imponderable - „unvorhersehbar".]
14 Hilaire 1954, S. 30.
15 Vgl. Mena Marques/Urrea 1994.
16 Vgl. Ducrey 1996, S.117-219.
Reglos tanzend 207
Das erste stellt den „säkularen Universalismus der Welt" dar und hat uns des-
halb ,,nichts zu sagen": Es ist der Eiffelturm, der für die Weltausstellung von
1900 gebaut wurde, „das stumme Gerüst, das hohle Skelett", Bergamin zu-
folge das vollendetste Beispiel „des abstrakten Pyramidalen, des absoluten
und nutzlosen Babel". 17
Das zweite ist eine ganz andere Art von Gerüst: eine burleske „Vorstellung"
vom 1. Januar 1901 in der Stierkampfarena von Madrid, die zur „Eröffuung
des neuen Jahrhunderts" bestimmt war, wie es das Plakat ankündigte, auf dem
Folgendes stand:
Beim vierten Stier wird der berühmte Magnetiseur Don Tancredo L6pez, seiner Toll-
kühnheit und Unerschrockenheit wegen König des Mutes genannt, das folgende Experi-
ment ausführen: Bevor die Tore zu den Stierzwingem geöffnet werden, wird Don Tan-
credo, dessen Kleidung die Statue von Pepe Illo nachahmt, auf einem 50 cm hohen Pos-
tament im Zentrum der Stierkampfarena Aufstellung nehmen. Und nachdem er auf die
Anwesenheit des genannten Magnetiseurs aufmerksam gemacht worden ist, wird der
vierte Stier, der fünf Jahre zählt und aus der berühmten Zucht der Miura aus Sevilla
stammt, losgelassen. Don Tancredo wird unbeweglich auf seinem Platze verharren und
die Angriffe der Bestie ohne Angst, von ihr verletzt zu werden, erwarten. [... ] Don Tan-
credo bittet das Publikum, während dieser äußerst gefllhrlichen Darbietung absolute
Ruhe zu bewahren. t 8
In der Sonderausgabe von EI Toreo C6mico konnte man am nächsten Tag Fol-
gendes lesen:
Zurdito, aus der Zucht der Miura, betritt gelassen, doch selbstbewusst die Arena, nähert
sich dem Postament, greift an und wirft Don Tancredo hinunter, der seine Beine unter
den Arm nimmt. So endet das Possenspiel und Don Tancredo wurde ausgepfiffen, nicht
sehr, aber genug. 19
17 Bergamin 1934, S. 260. [A. d. 0.: Da die französische und die deutsche Übersetzung deutlich
voneinander abweichen, wird im folgenden die deutsche Übersetzung dem französischen
Text angepasst. Zitiert wird nach dem französischen Text, die deutsche Übersetzung wird in
Klammem angegeben. - Vgl. Bergamin 1940, S. 21: „des materialistisch-banalen Universalis-
mus"; „das stumme Gerüst, das hohle Skelett einer pyramidenhaften Abstraktion, eines baby-
lonisch-sinnlosen Absolutismus".]
18 Ebd., S. 256 [ebd., S. l 7f.: „Beim vierten Stier wird der berühmte Stierhypnotiseur Don Tan-
credo Lopez, seiner Tollkühnheit und Unerschrockenheit wegen Der König des Mutes ge-
nannt, das folgende Experiment ausführen: Bevor die Tore zu den Stierzwingem geöffnet
werden, wird Don Tancredo, als Statue Pepe lllos, auf einem 40 cm hohen Postament Auf-
stellung nehmen. Nach dem Zeichen, das er gibt, wird der vierte Stier, der volle fünf Jahre
zählt und aus der berühmten Zucht der Miura aus Sevilla stammt, losgelassen. Don Tancredo
wird unbeweglich auf seinem Platze verharren und die Angriffe der Bestie ohne die geringste
Furcht vor ihnen erwarten. [... ] Don Tancredo bittet das Publikum, während dieser äußerst ge-
führlichen Darbietung absolute Ruhe zu bewahren."]
19 Ebd., S. 257 [ebd., S. 18: ,,Zurdito, aus der Zucht der Miura, betritt gelassen, doch selbstbe-
wusst die Arena, gelangt ans Postament, greift an und wirft Don Tancredo hinunter, ehe die-
ser die Situation richtig erfasst hat. So endet das Possenspiel und Don Tancredo wurde ge-
linde ausgepfiffen."]
208 Georges Didi-Hubennan
nimmt Don Tancredo eine Haltung der Einsamkeit in der Mitte der Arena ein.
„Vollkommen allein", schreibt Bergamin, das heißt „allein vor dem Stier, vor
dem Tod, daher allein, vollkommen allein". 20 Aber diese Einsamkeit ist nicht
großartig, weit davon entfernt, noch ist sie anmutig, nicht einmal stierkämpfe-
risch. Während der Torero handelt, seine Einsamkeit tanzt vor der Bestie und
mit Anmut gegen sie kämpft, verweigert Don Tancredo Handlung, Tanz und
Kampf: Er bedeckt sich mit Kalk, steigt auf seinen Sockel und wartet, ohne
etwas zu tun. „Eine paradoxe Art von Heldentum", schreibt Bergamin, denn es
ist der Heroismus, „das Geheimnis des scheinbaren Mutes in der Bewegungs-
losigkeit der großen Angst gefunden zu haben, die durch Schrecken lähmt, die
Lots Frau, in Angst versetzt, in eine Statue verwandelte". 21
Bergamin wird sich selbst seinem Gegenstand gegenüber auf paradoxe
Weise verhalten: Je höher er ihn zur Höhe einer philosophischen Wahl empor-
hebt, desto mehr erniedrigt er ihn angesichts dessen, was er schlussendlich als
armselige Parodie beurteilt. Don Tancredo verkleidet sich als Statue von Pepe
Illo, anders gesagt „als das Standbild dessen, der im wahrsten Sinn des Wortes
ein Torero war, des Schöpfers und Erfinders der Kunst, den Kampf mit dem
Stier zu bestehen". 22 Er lässt somit die Kunst des Stierkampfs zur Statue wer-
den, möchte Marmor oder vielmehr Gips machen aus einer essentiell luftigen
Anmut, einer Anmut der wahren suertes des Stierkampfes, die den wirklichen
Mut verlangen und nicht den Mut, den Toten zu spielen, indem man die Un-
sterblichkeit der Statuen nachahmt. Nun sehen wir aber, dass man, wenn man
die Stierkampf-Kunst zur Statue machen möchte, am Ende in der völligen
Auflösung seine Beine unter den Ann nimmt. Don Tancredo wäre also die
Nachahmung oder die „apollinische" Version - anner Apollon! - der „diony-
sischen" Kunst par excellence, der Kunst des Stierkampfes. 23 Er ist vermutlich
die notwendige Possenreißerei, die Komödie, der dieses große tragische Ritual
bedarf.
Bergamin nennt sie jedoch „Stoizismus". Seneca war, wie man weiß, Anda-
lusier, und Nietzsche nannte ihn den „Torero der Tugend". Aber Bergamin
korrigiert dies: Er ist vielmehr der „Don Tancredo der Tugend", in der Hin-
sicht, dass Don Tancredo selbst den „in die dritte Potenz erhobenen spani-
schen Senecismus"24 darstellt. Wahrlich ein seltsamer Stoizismus: stoisch
durch „die ausschließliche Meisterschaft einer souveränen Untätigkeit, die da-
mit anflingt, ruhig zu bleiben, nichts zu tun, nichts angesichts des Lebens und
20 Ebd., S. 261. [ebd., S. 22: „wahrhaft allein in Gegenwart des Stieres, allein in Gegenwart des
Todes".]
21 Ebd., S. 26lf. [ebd., S. 22: „eine paradoxe Art von Heldentum", „das Geheimnis jenes äußers-
ten Mutes, der nur dort gedeiht, wo man sich der äußersten Furcht aussetzt, jener Furcht die
vor Angst lähmt. die Lots Weib in ein Standbild verwandelt hat."]
22 Ebd., S. 272 [ebd., S. 31.]
23 Ebd., S. 280. [ebd., S. 39: ,,Der apollinische Don Tancredo und der dionysische Pepe Illo".]
24 Ebd., S. 265 [ebd., S. 26: „Don Tancredo bezeichnet den in die dritte Potenz erhobenen Stoi-
zismus, er wird zum spanischen Seneca."] (Bergamin widmet später Seneca einen ganzen Es-
say in Fronteras infernales de fa poesia, Madrid 1959, S. 9-32.)
Reglos tanzend 209
folglich nichts angesichts des Todes". 25 Es ist aber ein burlesker Stoizismus,
weil er nur eine nicht einmal gelungene, der Niederlage und der Flucht ge-
weihte Karikatur der Ästhetik (Anmut) und Ethik (Würde) ist, die der Stier-
kampfkünstler vor einer tödlichen Gefahr entwickelt. Bergamin führt wie
nebenbei einen schnellen und überraschenden Katalog der „tancredistischen"
Dichter und Denker auf: Platon, Pascal, Calder6n, Goethe und sogar Georges
Bataille, den er zwar nicht nennt, den er aber durch eine genaue Anspielung
bezeichnet. 26 Man versteht also, wie die höhere Dynamik des toreo bei Berga-
min sogar zu einem Werkzeug der Kritik oder der Unterscheidung für die
ganze europäische kulturelle Tradition und Modeme werden konnte.
*
Ist es nun möglich, die formale Charakteristik zu entwickeln, die es erlaubt,
ein „tancredistisches" Werk, eine „tancredistiscbe" Geste oder körperliche
Haltung zu erkennen? Bergamin antwortet, ohne zu zögern, dass es sich eben
um das Anhalten (/ 'arret) handelt: „Dieser mickrige Trancredismus (tancre-
disme trotte-menu*) zeigt sich oft, nach seinem Maß in ,,Anhalten" (arrets,
paradas), wenn er es in komischer Art und Weise durch die Zurschaustellung
der Furcht tut, und in ,,Abschlüssen" (arretes, parados) in der tragischen Folge
desselben Schreckens."27 Was aber heißt anhalten in diesem Sinne? Es bedeu-
tet, darauf zu verzichten, dem Tod entgegenzutreten, elegant und würdevoll,
wie ein Torero, der etwas auf sich hält, ihm entgegentritt. Don Tancredo will
die Statue von Pepe Illo sein: Die Statue spielen, das ist seine eigene Art, den
Toten zu spielen, um dem Tod nicht entgegentreten zu müssen. Es ist seine
Art, nicht nur den Pfiffigen zu spielen, sondern auch den Unsterblichen (Un-
sterblichkeit ist die Eigenschaft, die Statuen zugeschrieben wird oder vielmehr
den in Statuen dargestellten Helden): „Er beschließt, sich als Statue zu verklei-
den, um den Tod zu besiegen, nur um unsterblich zu werden, der Unsterb-
liche".28 Welch eine Uneleganz!
Der „tancredistische" Statuen-Mensch verweigert sich jedoch nicht nur, son-
dern er täuscht auch, was den Tod angeht, und schließlich mortifiziert er das
Leben: Er imitiert, weiß vor Furcht, einen Tod, der sich ihm nicht einmal vor-
25 Ebd., S. 263 [Ebd„ S. 24: „seine eigene Situation, die des freiwilligen, des selbstbewussten
Arbeitslosen", „sich ruhig zu halten und nichts zu tun, nichts gegen das Leben und nichts ge-
gen den Tod".]
26 Ebd„ S. 274, 276, 281 f„ 287. [ebd., S. 33-35, 40)
a
• A. d. 0.: „trotte-menu" - ein älterer, literarischer Ausdruck: „qui trotte petit pas" - „trippeln".
„La gent trotte-menu" bezeichnet bei La Fontaine das „Mäusevolk". Vgl. Rey/Rey-Debove,
a.a.0. Der Ausdruck ist negativ konnotiert, er bedeutet etwas Kleines, Mickriges, Lächerliches,
von geringer Moral.
27 Ebd„ S. 284f. In der deutschen Übersetzung fehlt diese Textpassage.
28 Ebd„ S. 264 [ebd„ S. 24: „Er beschließt, zur Statue zu werden, als Standbild seiner selbst sich
sein Schicksal zu erzwingen und so den Tod zu besiegen."]
210 Georges Didi-Hubennan
gestellt hat. Um nicht dem Tod entgegentreten zu müssen, trägt er das blasse
Ansehen des Grabes zur Schau: „Dieser Mann, getüncht wie ein Grab, wie die
Statue eines Grabes, [ist] bloß ein Schwindler, ein Heuchler, ein Pharisäer, ein
wahrhaftes getünchtes Grab, wonach er ganz aussieht, eine Statue und kein
Mensch". 29 Alles ist gesagt. Denn ein Fälscher ist kein Mensch im würdigen
Sinn des Wortes (wie der Heilige Simeon Stylit nur ein Manierist des Stils ist,
nach der These Bergamins, dass „das einzige, das sich nicht stilisieren lässt,
der Stil ist"30). Und natürlich, weil eine Statue kein Mensch ist.
Dies erklärt die systematische Gegenüberstellung von Torero-Mensch und
Statuen-Mensch:
Wer hat nun recht? Der Torero, der mit der wunderbaren, exakten, mathematischen Prä-
zision eines vollkommenen Spiels der Bewegungen und einer dynamischen, harmoni-
schen Aktivität nach allen Regeln der Kunst mit dem Stier spielt, oder der unbewegliche,
feststehende Don Tancredo, der seine ganze menschliche Energie, angefangen beim Zit-
tern, dem Schauder der plötzlichen Angst bis hin zu dem der Gottesfurcht selbst, kon-
zentriert, um ruhig zu bleiben. 31
Selbst wenn es ins Unheil führt, weigert sich der Statuen-Mensch, sich im
Kreis zu bewegen wie jener Stern, der den anderen, schwarzen Stern, der der
Stier ist, anzieht: „Der Torero aber denkt das Gegenteil und entscheidet sich
dafür, alles sich im Kreis bewegen zu lassen, den Stier sich im Kreis bewegen
zu lassen und wenn nötig sich selbst im Kreis zu drehen, alles im Kreis drehen
und tanzen zu lassen. 32
Dies erklärt genauer die Haltung Bergamins gegenüber dem modernen Stier-
kampf par excellence, das heißt dem des Juan Belmonte. Wenn Bergamin die
„tancredistische" Tendenz des Stierkampfs der dreißiger Jahre geißelt - „ein
heuchlerischer, verkleideter Tartuffe-Tancredismus" -, dann vor allem in Op-
position zum Stil des Joselito, „des wunderbaren Joselito [„.], des Toreros, der
das geringste Gewicht, den geringsten Ballast an Tancredismus trug". 33 Nun
kennen wir die leidenschaftliche Antithese, die Bergamin in diesen Jahren zwi-
29 Ebd., S. 274f. [ebd„ S. 33: ,,Don Tancredo, weiss wie die Statue eines Grabmals,[ ... ] ein ganz
gewöhnlicher Schwindler, ein Scheinheiliger, ein Pharisäer, wirklich bloss eine gemachte
Statue und kein Mensch."]
30 Ebd„ S. 283f. [ebd„ S. 42: .,Das einzige, das sich nicht stilisieren lässt - habe ich einmal ge-
schrieben - ist der Stil."]
31 Ebd., S. 277f. [ebd., S. 36: „Wer hat nun die grössere Wahrheit für sich, der Torero, der den
Stier dynamisch und zugleich harmonisch mit der mathematischen Genauigkeit eines vollen-
deten Spieles der Bewegungen tauscht, oder aber der unbewegliche Don Tancredo, der seine
ganze menschliche Energie, angefangen von seinem Erzittern und seiner augenblicklichen
Angst bis zu seiner tiefsten Gottesfurcht, einzig darauf konzentriert, ruhig stehen zu bleiben?"]
32 Ebd., S. 279. [ebd., S. 37: „Der Torero aber denkt das Gegenteil und vertritt das entgegenge-
setzte Prinzip: alles muss man in Fluss und Bewegung setzen; den Stier muss man zwingen,
sich zu bewegen, und wo immer nötig, muss der Torero selbst in der Bewegung den Ton an-
geben."]
33 Ebd., S. 267f. [ebd., S. 27: ,,Der auf diese Weise verflllschte, ,tancredisierte' Stierkampf ver-
wandelt sich dann in einen scheinheiligen und maskeradenhaften, in einen wahren Tartuffe-
Tancredismus"; „einzigartigen Joselito [.„] Joselito, der am wenigsten mit Tancredismus be-
lastet war".]
Reglos tanzend 211
sehen Joselito und Beimonte aufbaute. Der Schriftsteller wollte in der Arena
nur eine höhere Dynamik betrachten, die ihm zufolge vom lebhaften Stierkampf
Joselitos dargestellt wurde; dagegen verachtete er „die, die sich für die gelähmte
Betrachtung des statischen, tancredistischen Stierkampfes begeistem". 34
Der Irrtum Bergamins besteht darin, dass er eine dialektische Möglichkeit
verkennt, die schon im baile jondo vorhanden ist und die vor seinen Augen
begann - eben gerade dank Beimonte -, sich in der Kunst des toreo zu entwi-
ckeln. Diese Möglichkeit, die sich in der Stierkampfkunst eröffnet, erlaubte
ganz einfach, den Gegensatz zwischen Mensch und Statue, das heißt zwischen
Bewegung und Bewegungslosigkeit zu überwinden. Garcia Lorca hatte dies
gut begriffen und verwies 1929 darauf - insbesondere in seinen Überlegungen
zur „Sarkophag"-Schönheit der Passagen des Stierkampfes oder in seinem Aus-
druck „Windprofil, Feuerprofil und Steinprofil"35 : Ein Wesen, das sich bewegt,
kann sich buchstäblich vor oder unter unseren Augen kristallisieren oder zur
Statue werden. Michel Leiris wird in den vierziger Jahren klar und eindeutig
den modernen Standpunkt eingenommen haben, indem er anerkennt, dass die
wechselseitigen Bewegungen von Mensch und Stier ineinander aufgehen, wo-
bei sie einen sku/pturalen Effekt der Bewegung selbst hervorbringen:
In dem Maß, in dem seine Füße in einer Reihe von wohlgesetzten und eng verbundenen
Passagen unbewegt bleiben, während sich der Umhang langsam bewegt, bildet er mit
dem Tier dieses wunderbare Gesamt, in dem Mensch, Stoff und schwere Masse durch
ein Spiel wechselseitiger Einflüsse miteinander verbunden sind; alles trägt. um es kurz
zu sagen, dazu bei, der Konfrontation von Stier und Torero einen skulpt11ralen Charakter
aufzuprägen. 36
Don Tancredo war zweifellos ein Betrüger, ein mickriger Typ (un trotte-menu).
Aber an diesem 1. Januar des 20. Jahrhunderts bekommt seine Geste eine tie-
fere Bedeutung, wenn man zugibt, dass er - selbst unfähig, die Revolution Bel-
montes zu erfassen - sich in die Mitte der Arena stellt, um sie nachzuahmen -
schlecht natürlich, da er sie nicht kennt-, und vor allem, um anzukünden, dass
er sie erwartet. Man kann den zerbrechlichen und winzigen Sockel Don Tan-
credos dem riesigen Metall-Gerüst des Eiffelturms gegenüberstellen, wie es
Bergamin tut. Aber es wäre zweifellos richtiger, diesen Statuen-Menschen, der
seine Beine unter den Arm nimmt, in Verbindung mit der Epoche zu denken,
die sich gerade eröffnet und die neue Perspektiven - Vision, Wissen, Denken,
Dichtung - für die Augen aller auftut. Es ist natürlich die Epoche des Kinos.
Als Don Tancredo am 1. Januar 1901 in die Stierkampfarena von Madrid
einzieht, hat sich der Kinematograph der Brüder Lumiere dem Stierkampf
schon im wörtlichen Sinne angenähert: Luis Mazzantini wurde von dem Ka-
meramann Alexandre Promio gefilmt, als er im Juni 1896 in derselben Arena
von Madrid ankam; von Alexandre Promio stammen auch zwei weitere Film-
rollen, die Course de taureaux betitelt sind; 1898 wurden zwölf Filmrollen in
der Arena von Nizza produziert, um jede Phase des Kampfes im Detail wie-
dergeben zu können; Ende 1897 filmt der Kameramann Frederick Blechynden
eine Corrida in der Arena von Durango in Mexiko, diese Bilder werden im
Jahr darauf in drei Kurzfilmen von Edison veröffentlicht. 37 Unmittelbar darauf
folgt die Epoche, in der Bombita, Rafael El Gallo, Joselito und Belmonte in
Großaufnahme auf den Kinoleinwänden erscheinen. Louis Feuillade - früherer
revistero der Wochenzeitung Le Torero - regt 1906 an, dass man die Passagen
von Machaquito aus so großer Nähe wie möglich filme. Später filmt Man Ray
den Tod der Stiere in der Arena wie langsame schwarze Kreisel, 38 und Abel
Gance filmt für ein leider nach fünfzehn Drehtagen abgebrochenes Projekt
„zahlreiche Corridas von Manolete mit dem Kameramann Enrique Guemer,
wobei er mehrere Apparate verwendete, die mit Objektiven variabler Brenn-
weite ausgestattet waren, und gewagte Aufnahmen aus der Froschperspektive
verwirklichte". 39
In La Course de taureaux von Pierre Braunberger ist ein Mann zu sehen,
der Don Trancredo nachahmt, indem er dessen Pose auf einem weiß gemalten
Fass einnimmt, bevor er, wie es sich gehört, türmt. Und Michel Leiris spielt in
seinem Kommentar auf den Essay von Bergamin an, 40 und schaffi dann den
passenden Anachronismus, den entscheidenden Anachronismus, indem er
sagt: „[Der moderne Stierkampf] hat sich auf das Niveau der Tragödie erho-
ben." Und kurzerhand im folgenden Satz: „Das Kino - das sich zu dieser Zeit
in seinen Anfängen befindet - fiingt in Madrid im Jahre 1895 die Ankunft der
Picadores und der Toreros auf der Plaza ein [ ... ]"41 Diese Verbindung führt
von Anfang an einen Grundwert des Kinos ein, der unter anderem auch von
Jean Epstein in Anspruch genommen wird: ,)etzt ist die Tragödie anato-
misch",42 da man dank des Kinos die Tragödie auf einem Gesicht, einem
Mund, einem Mundwinkel, einer „winzige Falte" oder einer einzigen Geste,
die in Großaufnahme oder sogar - und das ist heute sehr banal geworden - in
Zeitlupe gefilmt ist, sehen kann. 1931 wollte Eisenstein aus dem Stierkampf
das Hauptmotiv der ersten, Fiesta betitelten Episode von jQue viva Mexico!
machen. 43
Beimonte hat den „bewegungslosen Stierkampf' nicht einfach eingeführt,
weil er „rheumatisch" war, „tot vor Erschöpfung" oder „starr vor Angst", wie
es Bergamin unterstellt. Wie jede ästhetische Revolution gewinnt seine Wahl
ihre Neuartigkeit aus der unerhörten Montage von zwei Ordnungen der Reali-
tät, die bis dahin auf Distanz gehalten waren. Man kann die Hypothese aufstel-
len, dass der bewegungslose Dynamismus von Belmonte - vor dem Stier zu-
gleich Statue und Mensch sein zu können - nur das Tageslicht erblicken konnte,
wenn er wahrnehmbar war; und er konnte nur wahrnehmbar werden, wenn
dem Publikum eine neue ,,Beobachtungstechnik" aufgedrängt wurde, zu der
die Erfindung des Kinos ohne Zweifel in entscheidendem Maße beigetragen
hat. 44 Beimonte ist der moderne Torero par excellence, er ist auch der Torero
der Tragödie, die einzig im Zittern der Bewegungslosigkeit erkennbar ist, der
Torero des kinematographischen Zeitalters nach Epstein.
Fast erkennt Bergamin dies zwischen zwei Verneinungen: „Der Kreisel, der
in höchster Geschwindigkeit tanzt, scheint ruhig und unbewegt zu sein. Seine
scheinbare Unbeweglichkeit, ähnelt sie nicht weniger der des Don Tandredo
als vielmehr der der Sterne? Es sei denn, beide ähneln einander, eine Unbe-
wegtheit aus Unruhe, wie es die der kinematographischen Wand ist". 45 Diese
unruhige Unbewegtheit ist im Übrigen um so mehr eine Sache des Blicks, als
Bergamin sie zunächst als einen hypnotischen Zustand geißelt, wenn er von
Don Tancredo als einem „Hypnotiseur, einem Stiermagnetiseur durch seine
scheinbare absolute Bewegungslosigkeit"46 spricht.
Diese kleine Lektion von Don Tancredo greift das burleske Kino und der
Zeichentrickfilm bis ins Letzte auf, von Calino toreador von Jean Durand
( 1909) und Max toreador von Max Linder ( 1912) bis zu den Filmen von Laurel
und Hardy, den Carmen-Parodien von Walt Disney und den vergnüglichen
Virtuosenstücken von Walter Lantz oder Tex Avery, die Woody Woodpecker
oder Droopy in der Arena darstellen: diese komische Lektion wäre also nur die
notwendige Gegenseite der großen tragischen Lektion, die in den wirklichen
Kämpfen von Jean Beimonte steckt. Wenn Israel Galvan die Gesten des bur-
lesken Cowboys zwischen ernsten siguiriyas oder soleares andeutet, zeigt er
keine zynische Distanz: Er konstruiert vielmehr die Tiefe des Tanzes auf
Grundlage der Intuition, dass Einsamkeit und Burleske ein und dasselbe Ganze
der „Geburt der Tragödie" bilden. Der Tänzer por so/eares muss letztendlich
auch ein Tänzer soleares por bulerias sein. 47
Wenn andererseits Israel Galvan anhält (s 'arrete), um die sevillanas zu tan-
zen, auf einem kümmerlichen Sockel von 50 Zentimetern, dann ruft er uns
44 Dies wäre ein weiteres Kapitel - oder sogar eine Korrektur-, das den Studien von J. Crary
(1990; 1999) hinzuzufügen wäre.
45 Bergamin 1934, S. 279 [Bergamin 1940, S. 38: „Aber der in höchster Geschwindigkeit rotie-
rende Kreisel scheint ja die Unbeweglichkeit selbst zu sein, und wer sich seine Erscheinung
vor Augen führt, kann fragen: Ist diese Standhaftigkeit, die aus der schnellsten aller möglichen
Bewegungen hervorgeht, dem ewigen Stand der Gestirne nicht mehr, nicht tiefer verwandt als
etwa die Statuen-Haltung eines Don Tancredo?" A. d. Ü.: der deutsche Text weicht im Fol-
genden deutlich vom französischen Text ab.]
46 Ebd., S. 271 [ebd., S. 17, 30: „Stierhypnotiseur"; „mit seinem System, den Stier durch Hyp-
nose, durch die Suggestionskraft der eigenen starren Unbeweglichkeit zu bannen".]
47 Die Verbindungen von Tragischem und Burleskem im Tanz erkannte schon Aby Warburg,
wo er den Tod des Orpheus und die moresca in Verbindung brachte. Vgl. Warburg 2000,
S. 54f. (Tafel 32) und 66f. (Tafel 38). Vgl. hierzu die Studie von Careri 2003.
214 Georges Didi-Huberman
eindeutig die kleine stoische Lektion von Don Tancredo in Erinnerung. Aber
seine Bewegungslosigkeit selbst - die Form, der Stil, die Entwicklung dieser
Bewegungslosigkeit - führt mehr noch die große ästhetische Lektion Juan
Belmontes fort. Eine Lektion, die zeitgleich zum Kino und im Einklang mit
ihm stattfand: Sie lehrt uns, dass jede Sache und jeder Körperzustand als
Kreisel gesehen werden können, als in der Zeit skulptierte Bewegungen, als
Bewegungslosigkeiten aus Unruhe. Dank des Kinos weiß man besser, dass der
Gegensatz von Mensch und Statue von Nuancen und Zwischenlösungen durch-
kreuzt und verwandelt wird. Auf der einen Seite entdeckt man, dass „auch die
Statuen sterben", wie es Alain Resnais zeigen wird; auf der anderen Seite
entdeckt man, dass ein bewegungsloser Körper nicht aufhört, sich zu bewegen,
zu zittern, zu tanzen. Dank Belmonte weiß man parallel hierzu, dass die bewe-
gungslose Dynamik unter bestimmten Bedingungen die Form par excellence
der höheren Dynamik sein kann.
Durch die Fragmentierung der Zeit, das angehaltene Bild und die Montage
bebt das Kino den üblichen Gegensatz zwischen Bewegung und Bewegungs-
losigkeit auf. Sein Dispositiv selbst zeigt uns dies: Die Photogramme sind
„angehaltene Bilder'' (a"ets) - was in den Augen Bergsons ihren Mangel aus-
zumachen schien-, aber das Abspielen des Films lässt jedes Ding vor unseren
Augen tanzen, auch das, was zuvor bewegungslos erschien. Es genügt, sich zu
nähern, anders zu betrachten, wie wenn Rilke die Skulptur Rodins betrachtet -
er „erfaßte das Leben, das überall war, wo er hinsah[ ... ] an den kleinen Stellen
[... ] an den Übergängen, wo es zögerte'°"8 -, es genügt, wenn Eisenstein sei-
nerseits Rilke und Rodin unter dem Blickwinkel des kinematographischen
Dynamismus betracbtet.49 Israel Galvän hört nur durch die Fragmentierung
der Zeit, das angehaltene Bild und die Arbeit der Montage auf (s 'arrete) zu
tanzen. Es ist ein „belmontischer" Tänzer zur Zeit des Kinos.
*
Wenn er also anhält (s 'arrete), hört er dennoch nicht auf zu tanzen. Er tanzt
ohne anzuhalten, also tanzt er sein Anhalten. Er erinnert mich an einen Vogel,
den ich einmal in den Alpujarras gesehen habe, einen bewegungslosen Vogel am
Himmel. Es war ein kleiner Raubvogel. Sein Körper vollzog, wenn man genauer
hinschaute, einige minimale Gesten: nur eben das, was notwendig war, um am
Himmel an einem ebenso genauen wie unerreichbaren Punkt zu bleiben. Es
war zweifellos der angemessene sitio, um seine Beute gut zu erspähen. Hierzu
musste er aber darauf verzichten, zu einem Ziel hin zu fliegen, durfte vor allem
nicht „durch die Luft schießen", musste er mit allem für eine unbestimmte Zeit
aufhören. Weil er sich gegen den Wind gestellt hatte - weil das Milieu, die
Luft selbst in Bewegung war-, konnte der Körper des Vogels so spielen, indem
er die normale Ordnung der Dinge außer Kraft setzte und diese Bewegungs-
losigkeit eines Seiltänzers entwickelte, diese virtuose Bewegungslosigkeit. Das
eben, sagte ich mir damals, bedeutet es zu tanzen: aus seinem Körper eine Form
zu machen, die sich, sei sie auch bewegungslos, aus vielfachen Kräften ableitet.
Zu zeigen, dass eine Geste nicht das einfache Ergebnis einer Muskelbewegung
und einer gerichteten Intention ist, sondern etwas viel Subtileres und Dialekti-
scheres: die Begegnung von mindestens zwei entgegengesetzten Bewegungen -
in unserem Fall der des Körpers und des Milieus der Luft-, die eben im Punkt
ihres Gleichgewichts einen Bereich des Anhaltens, der Bewegungslosigkeit,
der Synkope hervorbringen. Eine Art des Schweigens der Geste.
Ein wenig ist dies rematar. Darauf zu verzichten, in die eine Richtung zu
laufen oder in die andere zu fliehen. Aus dem Anhalten einen Schock machen,
eine Intensität. Im Stierkampf sind die remates die Passagen, die eine Serie
beschließen und den Stier fixieren, damit sich der Stierkämpfer befreien und
die folgende Serie beginnen kann (man sagt im Stierkämpferjargon auch, dass
ein Tier ,,remata aux planches" ist, wenn es das Holz des burladero schlägt,
wie Galvan es mit seinem Kopf tut, in dem Teil von Arena, der Playero beti-
telt ist). Die beeindruckende Vervielfältigung der ornamentalen Figuren der
remates geht offensichtlich auf eine Zeit zurück, wo der Stierkampf bewe-
gungslos wird und „choreographiert", d. h. auf die Zeit Belmontes. 50
Rematar heißt also nicht einfach anhalten. Es bedeutet in Schönheit anhalten,
aus dem Anhalten eine Figur machen. Nicht einfach die Schönheit der Schritte
(für den Tänzer) zu unterbrechen oder der Passagen (für den Torero), sondern
den Glanz in dieser Unterbrechung selbst erstrahlen zu lassen. Georges Bataille
hat einmal eine Photographie des Toreros Villalta veröffentlicht, der bewegungs-
los vor dem wilden Tier steht, dem er gerade den Todesstoß versetzt hat: Er
wollte damit in einem Artikel über den Begriff des Heiligen veranschaulichen,
was er einen privilegierten Augenblick nennt. Der privilegierte Augenblick wäre
der Moment, wo die Tiefe erscheint. In diesem Augenblick hält alles an, und
dennoch ist nichts fu:iert. Die Kunst - Schreiben, Malerei, aber auch der Tanz
- täte nichts, als diesen winzigen Punkt des Gleichgewichts zwischen dem
Nicht-Fixierbarendes Moments und dem, was man Form nennt, zu suchen.
Der Ausdruck privilegierter Augenblick ist der einzige, der das wiedergibt, was man an-
treffen kann [.„], das flieht, sobald es erschienen ist und sich nicht fassen lässt. Der
Wunsch, derartige Augenblicke festzuhalten, der tatsächlich der Malerei und der Schrift-
stellerei zukommt, ist nur das Mittel, um sie wiedererscheinen zu lassen, [als ob] die
Kunst nicht mehr leben könnte, wenn sie nicht die Kraft besäße, den heiligen Augenblick
durch eigene Mittel zu erreichen. 51
50 Vgl. Ramon 1998, S. 119-149 („Remates con el capote") und 299-373 (,,Adornos y remantes
con la muleta").
51 Bataille 1939, S. 560f. Zum „privilegierten Augenblick", den Bataille in Spanien durch die
Erlebnisse von Stierkampf, Tanz und Gesang erfährt, vgl. G. Didi-Huberman, Dans / 'ail de
l 'experience (erscheint demnächst).
216 Georges Didi-Huberman
Ein Ereignis also: eine Art von Sprung, wo Tiefe und Humor verschmelzen.
Eine Geste, die sowohl das Unglück wie auch den Glanz enthält, die sie kris-
tallisiert: „Daß es in jedem Ereignis mein Unglück gibt, aber auch eine Pracht
und einen Glanz, die das Unglück austrocknen und bewirken, daß das Ereig-
nis, gewollt, sich auf seiner verengtesten Spitze, im Schnitte einer Operation
verwirklicht", 53 das heißt, einen Moment von remate. Nun ist dieser Moment,
so Deleuze, der Moment par excellence des Handelnden: des Handelnden im
Nietzscheanischen Sinne, also im Sinne des dionysischen Tänzers. „Der
Akteur gleicht nicht einem Gott, eher einem Gegen-Gott [„.] ist die Gegenwart
des Akteurs äußerst verengt, sehr stark zusammengezogen, die augenblick-
lichste, punktuellste [„.] ist immer noch künftig und schon vergangen [ ... ] Er
bleibt im Augenblick, um etwas zu spielen, das ständig voraus ist oder hinter-
herhinkt, das hofft oder in Erinnerung ruft" 54 . Die ganze Struktur des baile
jondo ist dort, zwischen Erinnerung und Begehren, zwischen /lamar und re-
matar, Fluidität und Akzentsetzung.
Die remates des Flamenco-Tanzes wie die Passagen der Stierkampfes bieten
oft Bewegungen, die in sich selbst gewendet sind, unterbrochene oder in der
Luft hängende Ringe. Es ist das Gegenteil davon, eine orientierte, zielgerichtete
Handlung darzustellen. Oder es ist die plötzliche Desorientierung der Geste
und von allem, was man von ihr erwartete. Es bedeutet, die Erwartung zu ent-
täuschen und das Begehren zu wecken. Nun besitzt diese unerwartete körper-
52 Deleuze 1993, S. 187. Vgl. das französische Original: Deleuze 1969, S. 175: „Une sorte de
saut sur place de tout Je corps qui troque sa voJonte organique contre une volonte spirituelle,
qui veut maintenant non pas exactement ce qui arrive, mais quelque chose dans ce qui arrive,
quelque chose a venir de conforme a ce qui arrive, suivant les lois d'une obscure confonnite
humoristique: L'Evenement."
53 Deleuze 1993, S.187. Vgl. Deleuze 1969, S. 175: „Qu'il ait dans tout evenement un maJheur.
mais aussi une splendeur et un ecJat qui seche le maJheur, et qui fait que, vouJu, l'evenement
s'effectue sur sa pointe la plus resserree, au tranchant d'une operation."
54 Deleuze 1993, S.188. Vgl. Deleuze J969, S.176: ,,L'acteur n'est pas comme un dieu, plutöt
comme un contre-dieu. [... ] Le present de l'acteur est le plus etroit, Je plus resserre, Je plus
instantane, Je plus ponctueJ (... ], toujours encore futur et deja passe[ ... ]: il reste dans l'instant,
pour jouer quelque chose qui ne cesse de devancer et de retarder, d'esperer et de rappeler."
Reglos tanzend 217
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Rolf Elberfeld
Mit der Wendung „Tanz als Anthropologie" ist der Leitgedanke verbunden,
die Bewegungen des Körpers bzw. des Leibes insgesamt auch in philosophi-
scher Hinsicht als Grunddimension des Menschen überhaupt zu verstehen.
Auch wenn der Gesamtrahmen körperlicher bzw. leiblicher Bewegungen weit
über das hinaus geht, was wir gewöhnlich „Tanz" nennen, so kommt doch
dem „Tanz" in all seinen verschiedenen geschichtlichen und kulturellen Aus-
prägungsformen eine besondere Rolle für die Erschließung menschlicher Be-
wegung nicht nur in praktischer, sondern gerade auch in theoretischer Hinsicht
zu. Tanz im Rahmen ritueller Vollzüge, von Festen, des Alltags und auf der
Bühne war immer schon ein besonderer Anlass, bei dem die menschliche Be-
wegung als Bewegung gestaltet wurde und bewusst werden konnte. 1
Um den besonderen Anspruch - Tanz als Anthropologie im philosophi-
schen Sinne zu verstehen - auch nur annähernd einlösen zu können, bedarf es
eines philosophischen Zugangs, der dem Leib und der körperlichen Bewegung
einen grundsätzlichen Ort in der anthropologischen Bestimmung des Mensch-
seins zu geben vermag. Die Frage nach einem solchen Ansatz soll im Folgen-
den mit der Frage nach der Tanzentwicklung in verschiedenen Modemen ver-
bunden werden. Denn die Pluralität der Tanzentwicklung kann heute nicht
mehr nur vor dem Hintergrund verschiedener Kulturen verstanden werden,
sondern ist von den unterschiedlichen Modemen, die sich weltweit entwickeln,
neu zu denken. Der Beitrag gliedert sich daher in drei Abschnitte: l. Der Leib
als „symbolische Form"; 2. Tanzentwicklung in verschiedenen Modemen; 3.
Zwei Beispiele aus Taiwan und Japan.
Nach Feuerbach und Nietzsche, die dem Leib eine neue Rolle in der Begrün-
dung der Philosophie zugewiesen haben, 2 ist es im 20. Jahrhundert die Phäno-
Für eine Diskursgeschichte zum Thema Leib und Bewegung in Europa seit der Renaissance
vgl. zur Lippe 1974, 1978.
2 Ich halte mit Waldenfels an dem Wort „Leib" fest: „Die Ausdrucke ,Leib' und ,Körper' bil-
den ein sprachliches Kapital, das man nicht einfach verschleudern sollte" (Waldenfels 2000,
S. 15). Ein Grund dafür ist auch, dass die philosophische Tradition Europas seit dem 19. Jahr·
220 Rolf Elberfeld
menologie, die den Leib und die körperliche Bewegung ins Zentrum philoso-
phischer Aufmerksamkeit gerückt hat. 3 Die Analysen der Leiblichkeit bei
Husserl und vor allem bei Merleau-Ponty sind immer noch wegweisend auch
für kulturwissenschaftlich orientierte Untersuchungen. Problematisch bleibt
aber bei den genannten Ansätzen, wie diese genau in der Interpretation der
kulturellen Vielfalt verschiedener Bewegungsformen fruchtbar gemacht wer-
den können. Die phänomenologischen Ansätze beziehen sich letztlich auf das
Thema der Verankerung des Menschen in der Welt ohne Rücksicht auf die
verschiedenkulturellen Ausprägungen, die ausgehend von diesen Ansätzen eher
als sekundäre Phänomene erscheinen. Weder Husserl noch Merleau-Ponty
verknüpfen das Thema der Leiblichkeit und der Bewegung mit der Frage nach
den verschiedenen Kulturen.
Um die Zusammengehörigkeit von phänomenologischer Analyse der Leib-
lichkeit und verschieden geprägten Bewegungskulturen zu stärken, möchte ich
vorschlagen, im Anschluss an Cassirer den ,,Leib" als eine eigenständige „sym-
bolische Form" zu verstehen. Ein Gedanke, den Cassirer selbst nicht entwickelt
hat und der modifizierende Konsequenzen für den gesamten Ansatz Cassirers
haben würde. Mit dieser Verbindung von phänomenologischer Analyse und
Philosophie der symbolischen Formen soll vor allem auch die Anschlussfiihig-
keit phänomenologischer Analysen an die Kulturwissenschaften gestärkt wer-
den. Da Cassirer jede symbolische Form als eigenständige und grundlegende
Vollzugsform von „Kultur" interpretiert, ist der Leib - als eigenständige sym-
bolische Form verstanden - bereits auf der Ebene seiner Konstitution ein Ort
kultureller Praxis. Dieses Verständnis gibt dem Leib als „Kulturform" ein kla-
res und starkes Eigengewicht im Rahmen anthropologischer Reflexionen.
Mit der Bestimmung des Leibes als einer eigenständigen symbolischen Form
steht er neben anderen symbolischen Formen wie Sprache, Mythos, Kunst und
Wissenschaft als eine Grunddimension kultureller Praxis. Der Leib selbst ist
eine kulturelle Praxis und ist uns niemals außerhalb dieser Tätigkeit gegeben.
Diese Tätigkeit muss nicht von einem voll bewussten Ich vollzogen werden. 4
Denn aus der kulturellen Praxis des Leibes geht ja erst ein Verständnis unserer
selbst und die jeweils verschiedenkulturell geprägte Differenzierung von Ich
und Welt hervor. Der Leib als symbolische Form bildet Formen des Selbst-
hundert mit diesem Wort einen neuen philosophischen Anfang verbunden hat: „Wenn die alte
Philosophie zu ihrem Ausgangspunkt den Satz hatte, Jch bin ein abstraktes, ein nur denkendes
Wesen, der Leib gehört nicht zu meinem Wesen, so beginnt dagegen die neue Philosophie mit
dem Satz: Ich bin ein wirkliches, ein sinnliches Wesen, der Leib gehört zu meinem Wesen: ja,
der Leib in seiner Totalität ist mein Ich, mein Wesen selber'' (Feuerbach 1996, S. 78); „Leib
bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; [... ) Der Leib ist eine grosse Vernunft" (Nietz-
sche 1988, S. 39).
3 Es sei hier aus der deutschen Tradition an E. Husserl, H. Plessner, E. Strauss, B. Waldenfels,
G. Böhme, H. Rombach erinnert, die das Phänomen „Leib" in je eigener Weise erschließen
und beschreiben.
4 An dieser Stelle ergäben sich konkrete Veränderungen im Hinblick auf Cassirers Ansatz, der
insgesamt stark bewusstseinsphilosophisch geprägt ist.
Bewegungskulturen 221
verhältnisses auf der Ebene des Körpers und seiner Beziehungen aus, aus
denen gleichursprünglich mit den physischen Möglichkeiten des Körpers auch
ein Bewusstsein von uns selbst und allem anderen hervorgeht.
Als Leib stiftet der Mensch ein Selbstverhältnis zu seinem Körper als der
Natur, die er selber ist. Der Körper bietet verschiedene Möglichkeiten, dieses
leibliche Selbstverhältnis zu stiften. Der Tastsinn ist eine der grundlegenden
Selbstverhältnis-Formen, die zudem schon sehr früh in der kindlichen Ent-
wicklung zu einer Vorstellung von sich selbst führen kann. Condillac hat in
seiner Abhandlung über die Empfindungen eindringlich beschrieben, wie sich
durch die Selbstbetastung des Kindes die Vorstellung einer Ganzheit seiner
selbst herausbilden kann, da in jeder Selbstberührung der Körper sich selbst
antwortet und diese Erfahrung mehr und mehr zu dem Empfinden des eigenen
Körpers als einer Ganzheit zusammenwachsen kann. 5 Nach Condillac gibt die
Tastempfindung darüber hinaus auch die sich von der Selbstempfindung deut-
lich unterscheidende Empfindung von einem Außen, das ich nicht selbst bin:
So lange die Statue nur sich selbst mit den Händen berührt, so kommt es ihr vor, als
wenn sie Alles wäre, was da ist. Allein wenn sie einen fremden Körper betastet, so fühlt
sich das Ich wohl in der Hand, aber nicht auch in diesem Körper modifiziert. Wenn die
Hand Ich sagt, so empfängt sie nicht dieselbe Antwort. Die Statue verlegt demgemäß
ihre Daseinsweisen ganz und gar außer sich. Wie sie aus ihnen ihren Körper gebildet hat,
so bildet sie daraus alle andern Objekte. Die Empfindung der Festigkeit, die ihnen in
dem einen Falle Dichtigkeit gegeben hat, gibt ihnen diese auch in dem andern, mit dem
Unterschied, dass das Ich, welches sich antwortete, es jetzt nicht mehr tut. 6
Im Rahmen der Tastempfindung kann sich die Vorstellung von einer Ganzheit
aufbauen, die ich selbst bin, die aber zeitgleich auch eine Differenz in mir
selbst erzeugt, aus der der einzelne Mensch sich als sich selbst erfahren kann.
Denn im Ertasten meiner selbst werde ich zu mir selbst. Wiederum zeitgleich
entsteht die Differenzerfahrung zu einem Außen, zu dem ich zwar von Anfang
an einen Zugang habe, wobei dieser Zugang sich aber spezifisch anders gestal-
tet als der zu mir selbst.
Die Entstehung dieses reflexiven Verhältnisses zu mir und zum Anderen als
Leiblichkeit scheint mir in sehr grundsätzlicher Weise zu erlauben, vom Leib
als einer „symbolischen Form" im engeren Sinne des Wortes zu sprechen.
Denn körperlich wird etwas gegeben, in und an dem sich Leib und Ich ausbil-
den. Die Unterscheidung von Körper und Leib gewinnt im Rahmen der Be-
grifflichkeit symbolischer Formen einen spezifischen Sinn. 7 Der Leib ist die
5 Husserl wird die Weise dieser Tastempfindungen, die dies ermöglicht, später „Empfindnisse"
bzw. ,,Doppelempfindung" nennen.
6 de Condillac 1983, S. 79.
7 Ich bin mir bewusst, dass das festhalten an dem Wort ,,Leib" vermutlich auf Kritik stoßen
wird. Ob es sinnvoll ist, an der Unterscheidung festzuhalten oder nicht, muss meines Erach-
tens der theoretische Ertrag zeigen, der mit der Unterscheidung verbunden wird. Mit der Idee,
den ,,Leib" als symbolische Form zu verstehen, ist kein bloßes Festhalten an der Tradition
dieser Unterscheidung verbunden, sondern hier wird eine bisher nicht gesehene theoretische
Perspektive zu erkunden versucht.
222 Rolf Elberfeld
kulturelle Vollzugsform des Körpers, die mit der Ausbildung eines Selbstver-
hältnisses einsetzt. Leiblichkeit ist somit die kulturelle Form der Beziehung,
die sich in mir selbst und in der Beziehung zu anderen Menschen und Dingen
ausprägt, wobei beides auf das Engste miteinander verknüpft ist. Denn mein
Leib ist zugleich immer schon Spiegel der kulturell geformten Beziehung zum
Anderen. Ähnlich wie das Sprechen einer Sprache nur als das gemeinsame
Sprechen einer Sprache möglich ist, 8 steht die kulturelle Praxis des Leibes im
einzelnen Menschen in eng verwobener mimetischer Resonanz zur sozialen
Praxis einer Gruppe oder Gemeinschaft.
Cassirer entwickelte seine Philosophie der symbolischen Formen als Anthro-
pologie, in der die Grundformen der menschlichen Weltbildung zum Thema
werden. Sollte der Gedanke, den Leib als eine eigenständige symbolische Form
zu verstehen, fruchtbar sein, so würde neben eine Sprachwissenschaft, Reli-
gionswissenschaft, Kunstwissenschaft eine eigenständige „ Wissenschaft vom
Leib" treten müssen, die den Leib als eigenständige anthropologische Grund-
dimension im Zusammenhang der verschiedenen Kulturen behandelt.
Im Rahmen einer solchen „Wissenschaft vom Leib" kommt dem Tanz ne-
ben der Medizin, dem Sport, religiösen Bewegungspraktiken wie Yoga und
anderen Bewegungskünsten wie Aikidö und Taiji eine besondere Bedeutung
zu. Denn spätestens seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts etablieren sich For-
men des Tanzes, die mehr und mehr den Leib selbst - so könnte man vor dem
Hintergrund des bisher Gesaren in zugespitzter Weise behaupten - als sym-
bolische Form thematisieren. Es geht im Tanz als Kunstform im 20. Jahrhun-
dert immer weniger darum, etwas darzustellen, als vielmehr darum, die ver-
schiedenen kulturellen Vollzugsformen des Leibes selbst zu thematisieren und
zu befragen. Dabei werden nicht nur Tanzbewegungen im klassischen Sinne
einbezogen, sondern es sind gerade auch die Alltagsbewegungen, die bei-
spielsweise im Tanztheater eine zentrale Rolle spielen.
Zusammenfassend kann gesagt werden: Versteht man den modernen Tanz
als einen Bereich, in dem der Leib eigens als symbolische Form in grundle-
gender Hinsicht untersucht und erforscht wird, so ist mit vollem Recht von
Tanz als Anthropologie im philosophischen Sinne zu sprechen, und zwar nicht
nur im Sinne einer Historisierung des Leibes bzw. des Körpers.
8 Hinter meiner Bestimmung des Leibes als einer symbolischen Form steht vor allem auch Wil-
helm von Humboldts Bestimmung der Sprache als „energeia". Sprache wie Leib sind niemals
einfach „vorhanden", sondern gewinnen erst in ihrer „Wirksamkeit" bzw. im „Vollzug" an
Wirklichkeit.
9 Es wlire eine reizvolle Aufgabe, den Ansatz der ,,Pathosfonneln" von Aby Warburg und den
in enger Verbundenheit dazu entwickelten Ansatz Cassirers der symbolischen Formen im
Hinblick auf die Analyse von Tanz und Bewegung zu vergleichen.
Bewegungskulturen 223
Ich möchte den bisher entwickelten Zusammenhang von Leiblichkeit als „sym-
bolischer Form" und der Tanzentwicklung in verschiedenen Modemen an
Beispielen aus zwei verschiedenen Modemen verdeutlichen. Bei dem ersten
Beispiel handelt es sich um das häufig auch in Deutschland gastierende Yun-
men wuji (Cloud Gate Dance Theatre), das 1973 von Lin Huai-Min in Taiwan
gegründet wurde. Bei dem zweiten Beispiel handelt es sich um einen japani-
schen Performer mit dem Namen Kubikukuri, der bisher international noch
kaum bekannt ist. 15
In Bezug auf das erste Beispiel seien drei Punkte hervorgehoben, die im
vorliegenden Zusammenhang besonders bemerkenswert und hilfreich erschei-
nen.
1. Um den Zugang zur Bewegungswelt einer Tanz-Compagnie zu erleich-
t.~rn. ist es vor allem wichtig, sich vor Augen zu führen, von welcher täglichen
Ubungspraxis der Tanz getragen wird. Im Falle der Tänzer des Yunmen wuji
handelt es sich um eine Mischung, die einen Schwerpunkt auf ostasiatische
Bewegungskünste legt. Die Tänzer üben vor allem Taiji und bestimmte For-
men des Qigong und zudem Bewegungsformen aus der chinesischen Oper, des
Modem Dance und des Balletts. Darüber hinaus üben sie Sitzmeditation, um
spezielle Formen der Bewusstheit zu entwickeln. Auf der Ebene der Übungs-
praxis zeichnet sich somit eine von der europäischen Praxis grundlegend ver-
schiedene Entfaltungsform des Leibes ab, die allerdings in nachhaltiger Form
erst nach einem jahrelangen Prozess der Übung auch im Tanz wirklich sicht-
bar und erfahrbar wird. Denn es handelt sich bei den geübten Bewegungen
nicht einfach um „Techniken", sondern um Übungswege, die den Menschen
nicht nur mit sich selbst, sondern letztlich sogar mit dem gesamten Kosmos
verbinden sollen.
2. Für die Ausprägung der Leiblichkeit als einer jeweils kulturell erzeugten
symbolischen Form spielt im Fall der Tänzer des Yunmen Wuji als Hinter-
grund auch die alte chinesische Philosophie und Ästhetik eine wichtige Rolle.
An dieser Stelle sei nur ein Wort hervorgehoben, das nach Aussage eines chi-
nesischen Experten das beziehungsreichste Wort der gesamten chinesischen
Sprache ist. Es handelt sich um das Wort Qi, 16 das man auch in der japanischen
Lesung Ki kennt. 17 Ausgebend von diesem Wort ist im Rahmen ästhetischer
Reflexionen eine Kriteriologie entwickelt worden, ohne deren zumindest parti-
kulare Kenntnis die Bewegungen, die in den Choreographien von Lin Huai-
Min daraus folgen, in den Augen europäischer Kritiker leicht kitschig erschei-
nen mögen. Es gilt hier, auch die Wahrnehmung auf der Grundlage der älteren
chinesischen Philosophie zu schulen, denn auch die Wahrnehmung selbst wird
dort anders gedeutet.
3. Als letzten Punkt möchte ich auf die Qualität der Bewegungen zu spre-
chen kommen, in denen auch eine spezifische Konzeption der Zeit zum Tra-
gen kommt, die sich ganz unabhängig von der europäischen Unterscheidung
von Zeit und Ewigkeit entwickelt hat. Die Bewegungen der Tänzer des Yun-
men Wuji erscheinen vor allem in den letzten Stücken, die ausgehen von der
Erfahrung der chinesischen Kalligraphie, ohne Anfang und ohne Ende zu sein.
Denn alles ist immer in Bewegung. Hier wird ein Umgang mit dem beständi-
gen Wandel präsent, der insbesondere auch durch die philosophische und
ästhetische Erschließung im alten China motiviert ist. Nicht ein Ich setzt die
Bewegung in Gang, sondern alles ist durchströmt von Bewegungen des Qi. Qi
hält sich weder an ein Innen noch an ein Außen. Man könnte es das Medium
nennen, in dem sich Form findet, um hier auf eine neokonfuzianische Wen-
dung des Gedankens anzuspielen. Die Tänzer finden sich im ständigen Wan-
del, so dass ein Transformationsprozess sichtbar wird, in dem der Leib des Ein-
zelnen zum Resonanzmoment einer größeren Bewegung wird. Die Zeiterfah-
rung, die mit diesen Bewegungen einhergeht, ist die einer bewegten Ruhe, in
16 Kubny 1998.
17 Yamaguchi 1997.
Bewegungskulturen 227
der Ruhe zugleich Bewegung und Bewegung zugleich Ruhe ist, ohne das eine
gegen das andere aufzuwerten. 111
Sicher lassen sich für die Bewegungsformen des Yunmen Wuji auch Ent-
sprechungen in Europa und den USA finden, und auf den ersten Blick mögen
bestimmte Bewegungen als bereits bekannt aus anderen Tanztechniken identi-
fiziert werden. 19 In schnellen Vergleichen verliert man allzu leicht die oft tief
greifenden Differenzen aus dem Auge, die erst bei längerer Beschäftigung mit
der chinesischen Tradition und ihren Bewegungsformen oder auch anderen
Traditionen in ihrer ganzen Tragweite zum Vorschein kommen. Die Frage
nach der Leiblichkeit als einer „symbolischen Form" erlaubt es, bis zu den
kulturell geprägten Unterscheidungsweisen von Leib, Ich und Welt selbst zu-
rückzufragen. Denn auch diese Unterscheidung ist selbst noch einmal in ihren
Unterschieden zu unterscheiden.
Anhand des zweiten aus Japan stammenden Beispiels soll die Frage nach
der Leiblichkeit als einer symbolischen Form noch einmal zuspitzt werden. Es
handelt sich um eine Performance, die 2003 in Japan zum ersten Mal aufge-
führt wurde. Der Performer nennt sich selbst ,.Kubikukuri-san". ,,San" ist die
Bezeichnung für „Herr", und „Kubikukuri" bedeutet wörtlich „sich am Hals
aufhängen" im Sinne von „sich selbst erhängen". Dem Namen nach handelt es
sich also um den „Herrn Selbstmörder''. Die Performance, die er seit etwa zwei
Jahren in dem kleinen Garten seines Hauses - er selbst nennt den Ort Niwage-
kijö (Garten-Theater) - in Tokyo vor einer geringen Zahl von Zuschauern auf-
führt, besteht in der Tat vor allem darin, dass Kubikukuri sich selbst am Hals
aufhängt, wobei sein Leben nicht in physischer Weise bedroht ist. In sehr
langsamen Schritten und mit hoher, aber dennoch gelassener Bewusstheit und
Konzentration bewegt er sich auf einen Strick zu, den er sich selbst so um den
Hals legt, dass er mit dem gesamten Körper daran hängen kann. Hängt er dann
mehrere Minuten in der Schlinge, wird der Körper auf der einen Seite ganz
zum Körper als physischer Lebensrealität, und zugleich wird eine durchdrin-
gende Bewusstheit spürbar, die den Körper als Leiblichkeit im ausgezeichne-
ten Sinne erscheinen lässt. In dem hängenden Körper, der zwischen Tod und
höchster Bewusstheit schwebt, wird die Differenz von Körper und Leib selbst
thematisiert und zum Vexierbild ihrer selbst. Denn Körper und Leib beginnen
in dem zu vexieren, was als leichtes Atmen des Performers sichtbar und spür-
bar wird. Der Körper in seiner Ausgeliefertheit am Strick ist zugleich durch-
drungen von hoher leiblicher Bewusstheit, so dass physischer Körper und kul-
turell geprägter Leib als ein Vollzug erscheinen. Der aufgehängte Leib geht
ein in die Zeitlichkeit und Vergänglichkeit des Körpers. Kubikukuri atmet in
seinen eigenen Tod hinein und lässt darin den Leib als symbolische Form in
zutiefst körperlicher Weise aufscheinen. Der Leib geht ein in die radikale Ver-
gänglichkeit seines eigenen Körpers und wird auf diese Weise eins mit seinem
eigenen Vergehen. In dieser Zuspitzung wird die Unterscheidung von Körper
und Leib sowie von Natur und Kultur selbst in fundamentaler Weise in Frage
gestellt und in ihrer jeweiligen Grenze erfahrbar. Der Tod des Körpers wird
gewöhnlich aus der Leiblichkeit ausgegrenzt, da er dem Leib die absolute
Grenze und das schlechthin Fremde ist. Dies in ästhetischer Überhöhung zu
beleuchten und erfahrbar zu machen, ist eine zentrale Besonderheit der be-
schriebenen Performance, die gerade in ihrer radikalen Modernität in der Ge-
staltung der ästhetischen Erfahrung weit in die Künste des alten Japans zu-
rückreicht.
In der Performance von Kubikukuri-san wird im modernen Tanz erfahrbar,
was in der älteren Tradition Japans von Philosophen in der Kunst des Blumen-
steckens gesehen wurde. Keiji Nishitani unterscheidet
zwei Richtungen der Kunst, die jeweils völlig voneinander unterschiedene Geisteshal-
tungen haben. Eine Kunst, die unmittelbar im „Leben" steht, und eine Kunst, die in dem
Leben steht, welches selbst im Tode steht; mit anderen Worten, eine Kunst, die die
Ewigkeit dadurch erstrebt, dass sie die Zeit auszustoßen versucht, und eine Kunst, die
die Ewigkeit dadurch öffnen will, dass sie ganz zur Zeit wird. Die erstere geht vom na-
türlichen Begehren des Lebens aus, die letztere geht von der „Leere" aus, die dieses na-
türliche Begehren völlig abschneidet. 20
Als Beispiel für eine Kunst, in der diese selber völlig zur Zeit wird, interpre-
tiert Nishitani die Kunst des Blumensteckens, das Ikebana: „Von der Seins-
weise als ,Leben', das die Zeit ausstoßen will, abgeschnitten und entfernt, geht
die Blume wesentlich in die Zeit und ihre Flüchtigkeit ein." 21
Nur als Andeutung kann an dieser Stelle darauf verwiesen werden, in welch
überraschender Weise die alte Tradition Japans und ihre Interpretation durch
einen modernen japanischen Philosophen in der gegenwärtigen Performance-
Praxis einen unnachahmlich neuen Ausdruck gefunden hat. Hier kann weder
einfach von „alter Tradition" die Rede sein noch von modernem Tanz, der
einfach mit dem in Europa zu identifizieren wäre. Es sind gerade die
widersprüchlichen und spannungsreichen Neuverbindungen, die - wenn sie
gelingen - von multimoderner Tanzentwicklung zu sprechen erlauben und die
für die Entfaltung dessen, was Leib als symbolische Form genannt wurde,
noch einige Überraschungen bereithalten.
Für die Kunstgeschichte, die erneut Anregungen aus Anthropologie und Ethno-
logie aufnimmt, 1 gibt die Formulierung „Tanz als Anthropologie" Anlass zur
Frage, ob denn die Malerei abgesehen davon, dass sie zum Gegenstand anthro-
pologisch informierter Untersuchungen gemacht werden kann, nicht Themen
und Problemstellungen der Anthropologie als ihre eigenen aufwirft. 2 Damit ist
nicht jenes Verhältnis zwischen Kunst, Wissen und Macht gemeint, um welches
die Diskussionen zu „Primitivismus" oder „Orientalismus" kreisen. Diese beiden
Stichwörter bezeichnen Deutungsmuster, denen zufolge die Malerei eine Allianz
mit Anthropologie, Ethnologie, Orientalistik, Archäologie und anderen der Er-
forschung fremder Kulturen gewidmeten Wissenschaften eingegangen ist, um
durch dieses Bündnis an der Konstruktion und damit auch Beherrschung des
Fremden mitzuwirken. Edward Said hatte zwischen dem Orient des französi-
schen Malers Eugene Delacroix', der sich durch ein changierendes Bündel von
Eigenschaften wie „sensuality, promise, terror, sublimity, idyllic pleasure, intense
energy" auszeichnet, und dem uniformen Herrschaftswissen der Orientforschung
noch scharf unterschieden. 3 Seine Nachfolgerinnen im Feld der postcolonial
studies (wobei ich meine Auswahl im folgenden auf die durchaus repräsenta-
tive Diskussion um Delacroix beschränke) wiesen hingegen nach, dass eine
derartige Distinktion nicht aufrechtzuhalten ist: dass das westliche Wissen um
den Orient ebenfalls zwischen Terror und Genuss wechselnde Qualitäten pro-
duzierte und dass diese in das politische Imaginäre des Kolonialismus eingespeist
wurden; 4 und umgekehrt, dass der romantische Maler vielfach von der anthro-
pologischen und altertumkundlichen Literatur abhängig war bzw. einzelne sei-
ner Werke als dokumentarische Beiträge zu solchen Studien begriffen hatte. 5
Was bei einer solchen Betrachtung, der das nicht geringe Verdienst zu-
kommt, die Verschränkung von Gewalt und Schönheit in der orientalistischen
Malerei in eine historische Perspektive zu rücken, auf der Strecke bleibt oder
als ästhetische Angelegenheit beiseite geschoben wird, ist die nahe liegende
Frage nach dem Wert dieser Orientreisen und -phantasien für die Malerei als
Kunst. Die romantische und moderne Malerei war bekanntlich dem Programm
verpflichtet, im Dargestellten die ihr eigenen Mittel der Darstellung zu reflek-
tieren und auf diese Weise im gemalten tableau immer auch etwas zur An-
schauung zu bringen, das als Ursprung der peinture gelten konnte. Wenn die
Produktion des Eigenen aber eine so dringende, in jedem Werk neu zu leistende
Aufgabe ist, wird dieses Eigene, das immer erst geschaffen werden muss, zu
etwas noch Unbekanntem. Es wird umso fremdartiger wirken, je weiter sich
die künstlerische Selbstentfaltung von der gängigen Praxis entfernt. So gese-
hen, kann die Formulierung „Malerei als Anthropologie" daher auch auf den
Umstand hinweisen, dass die Malerei in dem Moment, da sie ihr Eigenes sucht,
dieses als Fremdes erfährt und infolgedessen die anthropologische Frage nach
dem kulturell Anderen für sich und aus sich heraus entwickelt.
Zu den Fragen der postkolonialen Kritik kehrt man auch auf diesem Weg
wieder zurück, da die Malerei sich ja nicht dem Fremden tout court zuwendet,
sondern einem unter bestimmten historischen Bedingungen relevanten Muster von
Alterität. Wenn dem aber so ist, dass die romantische und moderne Malerei auf
das Fremde als Medium der Selbstver(un)sicherung angewiesen war, so werden
die Mittel der Malerei, die aus diesem Prozess der Selbstverfremdung und Fremd-
aneignung hervorgehen, dahingehend zu untersuchen sein, was sie aus dem
Orient machen, den sie benötigen und deswegen zum Bild machen. Diese Frage
kann nicht allgemein, sondern nur angesichts spezifischer Werke oder Werk-
gruppen gestellt werden. Ich werde mich auf ein Gemälde konzentrieren, Eugene
Delacroix' Une noce juive au Maroc (Abb. l), in dem die anthropologische
Praxis der Malerei besonders deutlich hervortritt, weil das Bild auf eingehender
Beobachtung, Analyse und Ausdeutung fremder Künste und Feste - von Tanz,
Musik, Architektur, Bekleidung und Schminke, von Frauentausch und Fest-
opfer - beruht.
Delacroix' Haltung zum eigentümlichen Wunsch der Europäer, den Orient
sichtbar zu machen, 6 war nicht so eindeutig, wie ein flüchtiger Blick auf seine
zahlreichen Bilder mit orientalischen Themen vielleicht nahe legen mag. Das
erste Halbjahr 1832 reiste er im Gefolge einer diplomatischen Mission unter
Leitung von Charles de Momay, die der Sicherung französischer Interessen im
eben eroberten Algerien dienen sollte, nach Marokko. 7 In seinen Briefen und
Aufzeichnungen berichtete er von aggressiven Reaktionen, die sein Beobachten
und Zeichnen bei den Moslems hervorrief. 8 Nur im besetzten Algier, wohin er für
drei Tage einen Abstecher machte, gelang es ihm durch Bestechung und wohl
auch dank der französischen Militärpräsenz, das Innere eines moslemischen Pri-
6 Zur Reflexion ägyptischer Reisender Ober Sichtbannachung im Europa des 19. Jahrhunderts
vgl. Mitchell 1989.
7 Zusammenfassend zu Delacroix' Orientreise vgl. Jobert 1997, S. 139-176; die sechs erhalte-
nen Skizzen- und Notizbücher sind reproduziert und kommentiert in Arama 1992.
8 Delacroix 1936, Bd. 1, S. 326f.
Der Tanz, die Braut und das Opfer 235
vathauses zu betreten und bis in den Harem vorzudringen. 9 Einige Jahre nach
seiner Rückkehr, als er bereits mit der Arbeit an Une noce juive begonnen hatte,
formulierte Delacroix allerdings eine eindringliche Kritik an der französischen
Kolonial- und Militärverwaltung. Im Entwurf zu einem (unpublizierten) Reise-
bericht prangerte er deren städtebaulichen Maßnahmen an, da sie zur Zerstörung
der traditionellen Architektur führten, die aufgrund ihrer verwinkelten Morpho-
logie und ihres nach innen ausgerichteten Aufbaus ungleich besser auf die Hitze
Nordafrikas abgestimmt war als die neu errichteten Boulevards mit ihren fens-
terreichen Fassaden. Indem sie ihren Wunsch nach Sichtbarkeit mit Gewalt
durchsetzten, bewiesen die Kolonialherren ihre Dummheit und zivilisatorische
Unterlegenheit. 10
Abb. 1: Eugene Delacroix: Une nocejuive au Maroc, 1837/41, 104 x 145 cm,
Öl auf Leinwand, Paris, Musee du Louvre
Der Schauplatz von Une noce juive ist allerdings nicht das besetzte Algier, son-
dern der Hof eines jüdischen Hauses in Tanger. Während Delacroix im freien
9 Auf diesen Besuch rekurriert Les femmes d'Afger dans leur appartement, das erste großfor-
matige Bild, das Delacroix als Ergebnis seiner Orientreise öffentlich ausgestellt hatte; zu den
unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten vgl. Grigsby 2001 und Ubl 2006.
10 Delacroix 1999, S. 95, 107tT, 128; zu den städtebaulichen Eingriffen vgl. <;elik 1997, S. 27-38.
236 Ralph Ubl
Marokko die Moslems als aggressiv und verschlossen beschrieb und erst im
eroberten Algerien eine Gelegenheit fand, ein Privathaus zu besuchen, hatte er
mit einigen marokkanischen Juden näheren Kontakt. Unter den diskriminieren-
den Gesetzen, denen sie unterworfen waren, bot ihnen die Funktion als Mittler
zwischen Christen und Moslems noch die besten ökonomischen und sozialen
Aussichten. Dieser Aufgabe konnten sie in Tanger, wo sie anders als im rest-
lichen Marokko nicht gezwungen waren, in einem abgetrennten Stadtteil, der
me//ah, zu leben, mit etwas größerer Freiheit nachgehen. Die in der Stadt an-
gesiedelten europäischen Konsulate und Handelsniederlassungen boten zudem
verschiedene Arbeitsmöglichkeiten. 11 Delacroix verkehrte denn auch häufig
mit Abraham Benchimol, dem Übersetzer des französischen Konsuls. Er wurde
auch im Haus der Familie Bouzaglo empfangen und durfte bei dieser Gelegen-
heit verschiedene Zeichnungen anfertigen, unter anderem auch von den beiden
Töchtern. Auf einem dieser Blätter hat die Dargestellte in Sephardisch (und in
einer Mischung aus lateinischer und hebräischer Schrift) festgehalten: „Herr
Delacroix, Herr de Mornay, Herr Fraissinet, Herr Marcussen beehrten uns mit
ihrem Besuch heute am Sonntag, den 28. April 1832, Jamila Bouzaglo." 12 Bei
den Juden von Tanger bekam Delacroix also vieles von dem zu sehen, was ihm
die Moslems im freien Marokko vorenthielten - nicht zuletzt unverschleierte
Frauen in ihren eigenen Gemächern -, und er konnte zudem seine Zeichen
gegen orientalische eintauschen. Beide Möglichkeiten führten zu Une noce
juive; überraschenderweise ist es aber genau dieses Gemälde, in dem Dela-
croix eine auffiillige Zurückhaltung bei der Sichtbarmachung des Orients bzw.
der Orientalin an den Tag legte. Es scheint, als hätte ihn sein besonderes Ver-
hältnis zu einigen Juden von Tanger dazu geführt, die Darstellung kultureller
Alterität einer erneuten Reflexion oder zumindest Komplikation zu unterzie-
hen.
Die Betrachtung von Une noce juive könnte mit einer provisorischen Unter-
scheidung in zwei Ordnungen beginnen: der Figuren einerseits, der perspekti-
visch-architektonischen Konstruktion andererseits. Die Figuren bilden einen
unregelmäßig angeordneten Kreis, der die Raumgrenzen des Hofes umspielt
und nach links wie auch nach rechts in das Gebäudeinnere ausfranst. Die Ar-
chitektur indes ist in einer für Delacroix ganz ungewöhnlich klaren Zeichnung
und starken Verkürzung wiedergegeben. Wenn wir die Figuren betrachten, ihre
reichen Gewänder und vielfiiltigen Beziehungen zueinander, wird unsere Auf-
merksamkeit zerstreut, und wir verlieren uns in einem lebhaften Geschehen, in
dem keine Figur ruhig zu stehen oder zu sitzen scheint, in dem alles pulsiert,
vibriert und zirkuliert. Die architektonisch-perspektivische Konstruktion hin-
gegen bündelt unsere Aufmerksamkeit, richtet sie auf die Mittelzone und rahmt
dort die weiße Wand zu einem bildimmanenten tab/eau, das die Tänzerin und
die Musiker enthält.
Wo aber befindet sich der Betrachter? Diese Frage erlaubt zwei Antworten je
nachdem, in welcher Ordnung - in der figuralen oder der architektonischen -
wir nach seiner Position suchen. Der Kreis der Figuren ist so angelegt, dass
sich an der uns zugewandten Seite eine Lücke öffitet, die wir besetzen können.
Wir wären dann Teil der Hochzeitsgesellschaft, hätten ebenso wie die anwe-
senden Marokkaner unsere Pantoffeln ausgezogen und würden genauso wie
unsere beiden Nachbarn - der stehende links und der sitzende rechts - gebannt
auf die Tänzerin schauen. Aber dieser Platz innerhalb des Geschehens ist nicht
der einzige, der dem Betrachter zugewiesen wird. Die Perspektive ist beson-
ders deutlich betont und der Fluchtpunkt in den Putz der weißen Mauer einge-
zeichnet - etwas rechts von der Mitte, gleich neben der schmalen grünen Tür,
238 Ralph Ubl
an der ein Mann lehnt, der misstrauisch auf uns schaut und uns vom Gesehe-
nen fernhält (Abb. 3). Dieser Blick verlangt von uns, den Kreis der Hochzeits-
gäste zu verlassen und die Feier von jenem diesseits des Hofs liegenden Blick-
punkt zu beobachten, den uns auch die perspektivische Konstruktion zuweist.
Dem Gemälde sind also zwei verschiedene Betrachterpositionen zuzuordnen,
eine innerhalb der Bildwirklichkeit und eine zweite außerhalb; und es verfügt
ebenso über zwei verschiedene Foci: einen erzählerischen in der Figur der
Tänzerin und einen perspektivischen in der Markierung im Wandverputz.
13 Delacroix 1936, Bd. 1, S.307, 310f., 316, 319, 327; später wird Delacroix die Funktion der
Erinnerung als Verarbeitungsmedium hervorheben, vgl. Delacroix 1981, S. 369.
14 Johnson 1986, S. l 76ff.
15 Zit. n. ebd., S. 176.
16 Delacroix 1923, Bd. 2, S. 103ff.
240 Ralph Ubl
Bild gesprochen werden; es ist vielmehr so, dass wir uns in ein und derselben
Entfernung zum Bild zwischen diesen beiden Positionen befinden bzw. dass
wir keine der beiden ausschließlich einnehmen können. Genau genommen
sind wir weder Teilnehmer noch distanziertes Publikum, sondern stets an der
Schwelle zum einen oder zum anderen, in einer optischen Vor- und Rückwärts-
bewegung, so als würde unsere Netzhaut vom Bild zum Schwingen gebracht.
Damit wäre auch schon beschrieben, welcher Effekt von Delacroix' Kolo-
rismus ausgeht. Die Farbwirkung trägt nämlich entscheidend dazu bei, die bei-
den Standpunkte in die Amplituden einer einzigen rhythmischen Bewegung,
die zwischen Nähe und Feme pulsiert, zu verwandeln. Zwei Farbflächen sind
für diese Mobilisierung des Bildraumes verantwortlich. Zunächst ist auf die
weiße Mauer hinzuweisen, die ja auch durch eine Binnenrahmung extra hervor-
gehoben wird. Sie ist überaus dicht gemalt, sitzt fest im Bildgefüge und bildet
das stabile Widerlager zu der eben beschriebenen oszillierenden Bewegung.
Diese äußert sich hingegen besonders stark in der blass violetten Bodenfläche,
die ihre räumliche Wirkung je nachdem, von welcher Position aus das Bild
betrachtet wird, erheblich verändert. Von der Feme gesehen, erstreckt sie sich
horizontal in die Tiefe und dient den Figuren als Sitz-, Stand- oder Tanzfläche.
Wenn wir das Bild aber nicht als Ganzes wahrnehmen, sondern uns in den An-
blick der Tänzerin versenken, zieht sich der Boden zusammen und wird zu
einem Farbfleck auf der Leinwand. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass
eine Farbfläche, die weder linear- noch farbperspektivisch differenziert ist, die
Stabilität der illusionistischen Raumdarstellung auf die Probe stellt. Umso un-
gewöhnlicher ist die Entscheidung, eine solche Farbfläche für den Boden zu
verwenden, der bekanntlich besonders wichtig ist für die illusionistische Raum-
wirkung. In der klassischen Tradition wurde er daher als gerastertes Muster
dargestellt, auf dem die Tiefenerstreckung regelrecht ablesbar war. Dergleichen
ist auf Delacroix' Boden nicht möglich, er pulsiert.
„Pulsieren" ist das Stichwort, um nach der künstlerischen Bedeutung des
nordafrikanischen Themas und insbesondere des Tanzes zu fragen. Kurz nach
der Rückkehr aus Marokko bekannte Delacroix, wie fremd und langweilig ihm
Paris nun erscheine:
Paris m'ennuie profondement: les hommes et les choses m'apparaissent sous unjour tout
particulier depuis mon voyage: tres peu d'hommes me semblent avoir du bon sens: les
pieces du Vaudeville ne me semblent pas amusantes ni trop morales, et l'opera, le ballet
surtout, ne me fait pas l'effet de reproduire exactement la nature. Si ce n'etait !es
pirouettes, je prefärais la danse des juives de Tanger.1 7
Was zeichnete den Tanz der Jüdinnen von Tanger nun aus, dass er in den Au-
gen von Delacroix eine genauere Nachahmung der Natur darstellt? Wenn man
Delacroix' Mimesis-Postulat in „Vorahnung der Kunst" - und zwar seiner ei-
genen - übersetzt, so kommt man seinem Interesse an der orientalischen Tän-
zerin am ehesten auf die Spur. Er war offenbar an zwei choreographischen Be-
18 Der Schriftsteller und Tanzkritiker Theophile Gautier, übrigens einer der treuesten Bewunderer
von Delacroix. wird 1845 in seinem Feuilleton Debut de danseuses moresques, in dem er sich
übrigens ausdrücklich auf Delacroix bezieht, diesen Unterschied beschreiben und kulturkri-
tisch gegen die europäische Damenmode bzw. Sexualität wenden: „La danse moresque con-
trarie nos idc!ees choreographiques. L'art supr&ne, pour les almees, consiste ane jamais quit-
ter la terre et Ja progresser par des deplacements de pieds imperceptibles; c' est le corps qui
dans, tandis que les jambes sont immobiles, juste le contraire de ce qui se pratique chez nous.
On ne saurait imaginer quelles souplesse deploient ces almees; ce sont des ondulations ser-
pentines, rythmees, tantöt lentes, tantöt rapides, qu'on ne croirait pas executables par un corps
hurnain. On ne SOUJ)\:Onne pas, en Europe, tout ce que l'habitude du corset öte de gräce aux
mouvements de la femme" (Gautier 1989, S. 124); zu Gautiers eigener Tanzkritik, in der die
Schwerelosigkeit des Balletts durch eine disinkarnierende Arbeit der Sprache wiederholt
wird, vgl. Thumer 2006.
19 de Planet 1929, S. 33; Badt 1965, S. 42ff.
20 Apter 1996.
242 Ralph Ubl
Abb. 4: Eugene Delacroix: Vorstudie zu Une nocejuive, 1837 (?), 23,5 x 37,5 cm,
Aquarell, Privatsammlung
und im Inneren verborgenen Braut beschreibt? Die Bewegung der Tänzerin ist
für Delacroix, wie gesagt, ein willkommenes Motiv, denn sie führt das Pulsie-
ren und Vibrieren seiner eigenen Kunst thematisch vor Augen. Die Figur der
Braut hingegen ist keine Figur der Malerei, da sie - wie Delacroix mehrfach
betont - statuarisch und stark geschminkt ausharren muss. Während der orien-
talische Tanz eine Fremdheit verkörpert, die für Delacroix' Malerei anverwan-
delbar ist: als bebende Unruhe, die den perspektivisch-konstruierten Bildraum
dynamisiert und verfremdet, steht die Braut für eine ganz andere Alterität, die
aus Delacroix' Malerei ausgeschlossen bleibt: die Fremdheit des Erstarrten.
Doch wenn die Braut auch nicht gezeigt wird, ihre Abwesenheit fällt auf, da
die soziale Funktion des Gebäudes, als Schwelle und Abschirmung des ver-
borgenen Interieurs zu dienen, mit dargestellt wird. Delacroix interessierte
sich für das orientalische Haus als Regulator, der dazu dient, die Gewalt so-
wohl der Hitze als auch der Blicke zu mildem. In den zahlreichen Zeichnun-
gen und Skizzen, die er der marokkanischen Architektur widmete, sind es vor
allem zwei Aspekte, auf die er sich unter diesem doppelten Gesichtspunkt
einer thermischen und visuellen Ökonomie konzentrierte: zum einen auf die
weißen, nur durch kleine Fenster unterbrochenen Außenwände, die nicht als
Fassade bzw. Schauwand, sondern als Reflektoren dienen, die das Licht, die
Wärme und die Blicke zurückwerfen, und zum anderen auf die labyrinthische
Innenstruktur, die durch enge Flure, verwinkelte Treppen, schattige Nischen
und abgedunkelte Zimmer hindurchführt, um auf diese Weise das Eindringen
der Hitze wie auch von aggressiver Neugier zu verhindem. 23
Beide Vorzüge des orientalischen Hauses werden auch in Une noce juive au
Maroc betont und dabei auf je verschiedene Weise weiblich kodiert: Der laby-
rinthische Innenraum, auf den die dunkle Öffnung links, die schmale geschlos-
sene Tür in der Mitte, die geschwungene Treppe rechts sowie das enge Fenster,
durch das sich zwei Frauen.köpfe zwängen, hinweisen, verbindet sich mit der
Tänzerin, deren Bewegung und faltenreiches Gewand ebenfalls als labyrin-
thisch beschrieben werden können. 24 Dagegen wird die Wand mit der Braut
assoziiert. In dem hohen weißen Streifen ist nur eine einzige kleine Öffnung
vorhanden, ein Fenster, in dem eine vom Schwarz des schattigen Innenraumes
kaum unterscheidbare, auf das Sims gestellte braune Vase erkennbar wird.
Dass bei genauerem Hinsehen im halb geöffneten Fensterladen ein solches
Detail 25 zu erkennen ist, verführt den Betrachter, sich von dem für ihn unein-
sehbaren Interieur adressiert zu fühlen, zumal dann, wenn er Delacroix' Text
über die dort verborgene Braut gelesen hat. Je stärker er von dieser Neugier
erfasst wird, desto mehr wird auch die reflektierende, das Licht und die Blicke
zurückwerfende Strahlkraft des Weiß zunehmen, und desto enger wird sich die
physische Dichte dieser Farbfläche mit dem von ihr umschlossenen Frauen-
körper verbinden.
Delacroix stellt die Tänzerin dar, weil seine Malerei schwingt und pulsiert;
er malt keine Braut, weil sie die starre Unbewegtheit des Dekorierten und Ge-
schminkten verkörpert; und er macht diese Undarstellbarkeit der Braut erfahr-
bar, indem er unsere Aufmerksamkeit für die Schwellen und Mauem weckt,
die den Zugang zum Innenraum regulieren. Der Orient des Malers bietet also
zwei verschiedene Formen von Fremdheit: zum einen die des Tanzes, in der
Delacroix die Bewegungsform seiner eigenen Kunst wiedererkennt, zum ande-
ren aber auch diejenige des unbewegten Idols, die mit seiner Malerei unverein-
23 Ubl 2006.
24 Zu Tanz, Architektur und Labyrinth vgl. Brandstetter 1995, S. 21 Of., 317ff.
25 Zur Binde- und Lösekraft des Details vgl. Pichler 2006.
Der Tanz, die Braut und das Opfer 245
bar ist. Die ausgeschlossene Braut wird jedoch auch wieder eingeschlossen,
und zwar genau dort, wo Delacroix' Malerei die ihr eigene Stärke, Dicke oder
Dichte („epaisseur'')26 als ursprüngliche Qualität vorführt: im Weiß der Mauer.
Diese Mauer ist der „muraille de peinture" aus Balzacs Le Chef-d'oeuvre
inconnu verwandt. In seiner Lektüre der Erzählung hat Hubert Damisch darge-
legt, wie es dazu kommt, dass die „epaisseur" der Malerei aus dem Einschluss
einer Frau in die Maischichten entsteht. Deren Dichte ist das Resultat einer
Verflechtung der oberen und unteren Lagen des Gemäldes, also eines Austau-
sches, dem in der Erzählung jener andere Tausch entspricht, dessen Objekte
Frauen und Gemälde sind. 27 Eine vergleichbare Ökonomie findet in Une noce
juive statt. Das Gemälde vollzieht einen doppelten inneren Tausch: Die Wand
figuriert die erste und unterste Schicht des Maivorgangs, und sie ist zugleich
die äußerste und oberste Lage, hinter der sich zudem die nicht dargestellte
Hauptfigur des Bildes verbirgt, die als solche für die Malerei eingetauscht
wurde. Dichte als Austausch verschiedener Maischichten setzt auch für Dela-
croix den Einschluss einer Frau voraus.
Doch der Begriff der malerischen Dichte, wie ihn in anderen Zusammen-
hängen Damisch entwickelt hat,28 ist damit noch nicht hinreichend bestimmt,
und auch der Handel zwischen Braut und Malerei ist komplizierter. Andere
Frauen kommen hinzu, auch Geld ist im Spiel. Betrachten wir die Szene noch
einmal und lassen uns dabei von Delacroix' Beschreibung des Festes leiten: 29
In seinem Artikel hebt der Maler hervor, dass ausschließlich die Frauen tanzen,
und zwar immer nur eine, aber eine nach der anderen. Die Tänzerin, die wir
sehen, steht also für die Vielheit der Frauen, die bereits getanzt haben oder
noch tanzen werden. Im selben Rhythmus, in dem die Tänzerinnen auftreten,
wird auch Geld gesammelt. Wohl gehört es den Musikern, aber jeder Mann,
der etwas gibt, zeichnet mit seiner Münze diejenige Tänzerin aus, die ihm am
besten gefallen hat. Tanz und Geld mobilisieren, jener pulsiert, dieses glitzert.
Der Tanz hält die Frauen, das Geld das männliche Publikum in Bewegung,
26 Dichte, Dicke und Stärke kommen im französischen Ausdruck „epaisseur" zusammen, einem
Begriff aus der Künstler- und Kritikersprache des 18. und 19. Jahrhunderts, der erstens die
substanzhafte Schwere eines dargestellten Körpers, zweitens die Dichte der dargestellten At-
mosphäre und drittens auch die Dicke des Maiauftrags bezeichnen kann. In Delacroix' Tage-
buch gewinnt er zudem eine neue Bedeutung, nämlich als perzeptive Qualität des Gemäldes
als solchem, die weder auf das Dargestellte noch auf die Materialität des Bildes reduzierbar
ist. Hubert Damisch ist die entsprechende, auch in Auseinandersetzung mit Delacroix entwi-
ckelte Einsicht zu verdanken, dass die moderne Malerei keine Oberfläche („surface") bildet,
sondern eine Ebene („plan"), der eine eigene „epaisseur" zukommt; vgl. u. a. Damisch 2004,
S. 44f.; 200 l, S. 11 O; 1984, S. l Sf., 80, 275-305.
27 Damisch 1984, S. II ff.
28 Vgl. Anm. 26.
29 Delacroix 1923, Bd. 2, S. 103ff. Es geht mir natürlich nicht um eine eigene ethnographische
Lektüre des Gemäldes, sondern um diejenige, die Delacroix durch Publikation seines Textes
vorlegt. Ein fehlerhafter Venuch, das Bild nach Maßgabe des modernen Wissens um die Ge-
bräuche der marokkanischen Juden ikonographisch zu entschlüsseln, findet sich in Grossman
1988.
246 Ralph Ubl
beide erfüllen die Szene mit oszillierender Unruhe und dem Kreisen sinnlicher
Reize. Mittelpunkt dieser Zirkulation ist die Braut, die selbst jedoch nicht an
dieser Ökonomie teilnimmt. In Delacroix' Gemälde ist sie die absolute Deckung
und notwendige Reserve, die die Möglichkeit des Tausches begründet, ohne
selbst tauschbar zu sein.
Diese These mag paradox klingen angesichts eines Hochzeitsbildes, das ja
von den Vorbereitungen eines Tausches handelt, dessen Objekt niemand anders
ist als die Braut. Delacroix ist sich dieser Tatsache natürlich bewusst, er unter-
zieht sie aber einer eigenwilligen Interpretation. In seinem Aufsatz über das
jüdische Hochzeitsfest beschreibt er ausführlich, wie die Braut geschmückt
wird, um danach allen Gästen gezeigt und öffentlich durch die Straßen getragen
zu werden. Die Braut ist das Opfer des Festes, aber nicht erst, wie man anneh-
men würde, durch die Vermählung und Entjungferung, sondern bereits durch
diese Zurschaustellung:
D'autres vieilles lui peignet les joues, le front, etc., avec du cinabre ou du henne, ou lui
a
noircissent I' interieur des paupieres avec Je kohl. L' infortunee exposee ces empresse-
ments fatigants ne peut meme, chose difficile a croire, ouvrir les yeux pendant cette der-
niere operation, car ce serait de tres mauvais augure. On lui insinue entre !es paupieres
fermees Je petit stylet d'argent ou de bois qui sert a les teindre; enfin, eile est Ja patiente
a
resignee et la victime offerte en sacrifice la curiosite de ce public turbulent. 30
Was für die jüdische Hochzeit in Tanger gilt, so wie sie Delacroix in seinem
Text interpretiert: dass die Braut durch ihre öffentliche Präsentation geopfert
wird, gilt jedoch nicht für Delacroix' Gemälde, in dem die Braut ja gerade
nicht der „curiosite de ce public turbulent" ausgesetzt wird. Ihre Bestimmung
ist vielmehr, mit der Malerei selbst getauscht zu werden: anstelle der statuen-
haften Jungfrau eine schimmernde Mauer, die uns die Dichte der Malerei vor
Augen stellt - eine Dichte, die weder nur materieller noch motivischer Natur
ist, sondern das Ergebnis eines Zusammenspiels von Erscheinendem und dem,
was sich ihm entzieht: dem Weiß der Mauer und dem undarstellbaren, aber in-
korporierten Idol.
Delacroix wiederholt also nicht die Opferung der Braut, wie er sie in Tanger
gesehen hatte. Anstatt sie zu zeigen, schließt er sie für immer in sein tab/eau
ein. Ein solches Verbergen und Zurückhalten von Reizen ist jedoch ebenfalls
ein Opfer - und zwar der Malerei. Auch seine eigene Kunst, als deren höchstes
Verdienst Delacroix einmal bezeichnte, dass sie dem Auge ein Fest bereitet,31
benötigt ein Festopfer. In das Wörterbuch der Malerei, das Delacroix in den
l 850er Jahren plante, sollte daher auch das Stichwort sacrifice aufgenommen
werden: ,,Le prernier des principes, c'est celui de la necessite des sacrifices."32
Wenn Delacroix' Überzeugung, ein gelungenes Bild beruhe auf dem, was
der Künstler nicht zeigt, auf eine Reflexion über die Sichtbarmachung und
Literatur
Apter, Emily: Figura Serpentinata: Visual Seducation and the Colonial Gaze. In: Mar-
garet Cohen/Christopher Prendergast (Hg.), Spectacles of Realism: Body, Gender,
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Badt, Kurt: Eugene Delacroix. Werke und /deale. Köln 1965.
Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe fiir eine Bildwissenschaft. München 2001.
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a
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Delacroix, Eugene: CEuvres litteraires. 2 Bde. Paris 1923.
Tanz der Bewohner der westindischen Inseln" hielt. Sie erforschte die Maroons
aus dem Dorf Accompong auf Jamaika und freute sich, als die Einwohner
ihren berühmten Cormorantee-Kriegstanz zum ersten Mal für sie vorführten.
Ihre Erwartung verwandelte sich in Erstaunen und dann in Enttäuschung, als
sie feststellte, dass die Maroons eine Version der Quadrille tanzten.
seln. Die Reichweite seiner Verbreitung um den Erdball bis zu den karibischen
Inseln ist ziemlich erstaunlich. Die Quadrille wurde auf Jamaika am Anfang
des 19. Jahrhunderts zuerst von britischen Kolonisten eingeführt. Möglicher-
weise gab es ein früheres Auftauchen auf französisch kolonisierten karibischen
Inseln wie St. Lucia und Dominica. Die Quadrille nach europäischem Stil ist
ein Set-Dance mit vier bzw. fünf Figuren oder Bewegungen, oder manchmal
auf Jamaika auch sechs Figuren, bei dem jeweils vier Paare eine Seite eines
Quadrates bilden. In der ersten Figur bewegen sich beispielsweise die ersten
und dritten Partner aufeinander zu, gefolgt von den zweiten und vierten. Die
Quadrille war auf den karibischen Inseln äußerst beliebt und wurde bei allen
größeren gesellschaftlichen Ereignissen bedeutender Häuser auf der Insel ge-
tanzt. Sie wurde von den Sklaven kopiert und durchlief anschließend einen
Prozess, den ein Musikwissenschaftler und Ethnologe als „afrokaribische Con-
tredanse-Transformation" bezeichnet hat. Im Quadrille-Workshop in Penge
lernen die Tänzer die jamaikanische Quadrille, weshalb meine Erörterung sich
auf die jamaikanische Form konzentriert.
Die Auffassung des Quadrille-Lehrers Desmond findet sich in verschiede-
nen Studien über jamaikanische Volkskunde und Kunst des späten 20. Jahr-
hunderts und in mündlich überlieferten jamaikanischen Berichten wieder, die
im Allgemeinen einen Ansatz ,,kreolischer Gesellschaft" verfolgen. Desmonds
Ansatz ist jedoch tief in einer afrozentristischen Perspektive verwurzelt. lvy
Baxter erklärt in ihrer Studie von 1970, dass das Interesse an der Quadrille in
jamaikanischen Ballsälen seit Anfang des 20. Jahrhunderts abnahm. Dennoch
zeigen ihre Nachforschungen, dass der Tanz in einigen ländlichen Gemeinden
und unter einer gewissen Anzahl von Enthusiasten in den städtischen Zentren
von Kingston und St. Andrews weiterhin überlebte. In den 60er Jahren tauchte
die Quadrille unter der Schirmherrschaft der Jamaikanischen Wohlfahrt als
öffentliches Spektakel wieder auf und wurde als Form der Unterhaltung für
Menschen aufgeführt, die sich der Tradition nicht bewusst waren. Außerdem
wurde sie in den Bereich ,,Folk und Traditionelles" der jamaikanischen Festi-
val-Tanzwettbewerbe aufgenommen. Heutzutage wird die Quadrille meistens
von Schulkindern bei festlichen Wettbewerben oder von älteren Menschen in
ländlicheren Gegenden getanzt
Wie bei den meisten performativen Phänomenen ist es auch hier eine schwie-
rige Aufgabe, die Quadrille durch Geschichtsbücher und Tanzanleitungen
zurückzuverfolgen. Die Ursprünge der Quadrille sind komplex, und sie sind
Gegenstand ausführlicher Debatten, die ich hier nicht im Detail wiedergeben
kann. Das Zurückverfolgen der Quadrille von der Ethnographie durch die Ge-
252 Helen Thomas
schichte hat jedoch meine Überzeugung bestärkt, dass die Suche nach den „Ur-
sprüngen" vergeblich und es angemessener ist, bei solchen Forschungen vom
Aufspüren von Schichten, die der Herstellung von Bezügen dienen, zu sprechen.
Die Kommentatoren stimmen normalerweise darin überein, dass die Quadrille
irgendwann im späten 18. Jahrhundert in Frankreich entstanden ist. Wahr-
scheinlich entwickelte sie sich aus der Verbindung von zwei beliebten franzö-
sischen Tanzformen des 18. Jahrhunderts, /e cotillon und contredanse Fran-
9aise. Der Contredanse war eine französische Entwicklung des englischen
Volkstanzes, der, als er im späten 17. Jahrhundert durch französische Tanzleh-
rer nach Frankreich kam, zuerst als contredance Anglais bekannt wurde. Die
Namen Cotillon und Contredanse werden oft als untereinander austauschbar
benutzt, und unter Tanzhistorikern herrscht Unstimmigkeit darüber, ob die
Quadrille aus dem Cotillon entstand oder aus dem Contredanse. Phillip Richard-
son zufolge nennt man, wenn verschiedene Contredanses oder Cotillons in einer
Suite von derselben Gruppe von Tänzern getanzt werden, diese Quadrille. 1
Es wird angenommen, dass die französische Quadrille in London erstmals
1815 in der Almack's Versammlungshalle von Lady Jersey eingeführt wurde
und bald darauf auf den Bällen und in den Versammlungshallen quer durch
das Land getanzt wurde. Trotzdem sollte erwähnt werden, dass zumindest ein
weiterer Forscher behauptet, die Quadrille sei in England erstmals im vorher-
gehenden Jahr getanzt worden. Lady Jerseys Quadrille-Set ist jedoch das be-
rühmteste geblieben und daher allgemein als das erste Quadrille-Set bekannt.
Es setzte sich aus vier Figuren zusammen, denen später eine Schlussfigur hin-
zugefügt wurde. In späteren Jahren gewannen Quadrillen wie die Lancer und
die Caledonians, die sehr viel lebhafter waren, an Beliebtheit.
Anfangs enthielt die Quadrille eine Reihe von schwierigen Schritten, die im
Grunde nur von den besten „Vorführ"-Tänzem ausgeführt werden konnten.
Später wurden die Schritte etwas vereinfacht, und die Tänzer „schritten" den
Tanz. Dieser „schreitende" Tanzstil ist es, der die Basis für den jamaikani-
schen „Ballsaal-Stil" bildete.
Die Quadrille wurde wahrscheinlich irgendwann um 1820 herum nach Ja-
maika gebracht. James Stewarts Augenzeugenbericht über die Bräuche und
Vergnügungen auf Jamaika, der 1823, ein paar Jahre nach seiner Rückkehr
nach Großbritannien, veröffentlicht wurde, enthüllt, dass auf den Bällen der
Plantagenbesitzer zu dieser Zeit in der Regel nicht Quadrillen oder der (deut-
sche) Walzer (die Allemande) getanzt wurde. Die schriftlichen Berichte über
die „Bräuche und Vergnügungen" der afrikanischen und kreolischen Sklaven
auf Jamaika wurden jedoch von den Kolonialherren, den Tagebuchschreibern
auf den Plantagen, den Missionaren und Reisenden niedergeschrieben und
nicht von den Praktizierenden - den Sklaven. Deshalb muss man diese aufge-
zeichneten Texte mit einiger kultureller Selbstreflexion lesen. Die Aufzeich-
nungen der Kolonisten aus dem 18. und 19. Jahrhundert kommentieren das
„Spielen" (die Musik und das Tanzen) der afrikanischen Sklaven in meist -
jedoch nicht immer - abflilligen Begriffen. Es ist wichtig festzuhalten, dass
Tanzen und Musik hier keine getrennten Einheiten sind, wie das oft in der
westlichen Kultur der Fall ist, und das wirft die Frage auf, inwieweit wir vom
„Tanzen" als einem globalen Begriff sprechen können. Im Journal of a West
Indian Proprietor erzählt Matthew Lewis' Bericht in einfühlsamerer Weise
von der Geschicklichkeit und Gewandtheit der Sklaven beim Tanzen, während
Stewart ihr Tanzen als „anzüglich" und unkultiviert bezeichnet und ihre Ver-
suche beklagt, die Tänze und das Verhalten der Europäer zu imitieren. Vom
heutigen Standpunkt aus wirken diese Kolonialberichte eher schizophren. Sie
scheinen die Ehrfurcht vor der Kraft der Sklaven zu spiegeln, die ununterbro-
chen tanzen können und dies auch mit erstaunlicher Energie tun, vom Sams-
tagabend durchgehend bis zum Sonntag, nachdem sie die ganze Woche schwer
auf dem Feld gearbeitet haben. Die Autoren dieser Berichte scheinen zudem
Angst zu haben, dass die Sklaven diese Gelegenheiten nutzen könnten, um
eine Rebellion vorzubereiten. Dass die Plantagenbesitzer die „spielerischen"
Aktivitäten der Sklaven während der offiziellen Feiertage geduldet und sogar
unterstützt haben und an diesen Aktivitäten teilgenommen haben, scheint auch
als Mittel der Kontrolle über die Sklaven gesehen worden zu sein, die dadurch
passiv und mit ihrem Schicksal zufrieden bleiben sollten. So benutzten z.B.
Sklavenhalter und Aufseher das Beispiel des angeblich beim Spiel glücklichen
„Negers" als Gegenbeweis zu den Behauptungen der Abolitionisten, dass die
Sklaven schlecht behandelt würden.
Jamaikanische Zeitgenossen wie lvy Baxter, Hilary Carty und der Quadrille-
Lehrer Desmond versuchen andererseits, die Geschichte der Quadrille in einer
afrokaribischen Perspektive zu rekonstruieren, um dem ,.Anderen", dessen ei-
gene Geschichten von Kultur und Bräuchen selten kundgetan oder als authen-
tisch anerkannt wurden, eine Stimme zu geben. Andere kulturelle Praktiken
wurden eher als mimetisch und repetitiv gesehen, was beides in der westlichen
ästhetischen Tradition negative Konnotationen aufweist. Die Sklaven-„Ge-
schichten" sind nicht schriftlich festgehalten; anders als in den USA gibt es
keine Biographien von ehemaligen Sklaven in der Karibik. Ihre Geschichten
wurden eher über das Zuhören und durch signifikante kulturelle Praktiken wie
Musik, Tanz oder Musik in Kombination mit Tanz weitergegeben. In diesem
Sinne kann man Tanz und Musik als Formen kulturellen Wissens sehen, wel-
che von Generation zu Generation durch situative, ästhetische, nicht-textliche
Praktiken weitergegeben werden.
Abgesehen von einem Theater in Kingston waren die „monatlichen oder
vierteljährlichen" Bälle die einzige bedeutende Gelegenheit für die Kolonisten
(und vor allem für ihre Ehefrauen) auf Jamaika, sich zu vergnügen. Die Fami-
lien reisten viele Meilen, um an Bällen teilzunehmen. Der Quadrille-Lehrer
Desmond weist darauf hin, dass der formale europäische Ballsaal-Stil der
Quadrille ursprünglich von den Sklaven nachgeahmt und anschließend von
254 Helen Thomas
2 Desmonds Website.
3 Desmonds Website.
„Mimesis und Alteritas" 255
Bert sich auch zu der Tatsache, dass die weißen kreolischen Frauen während
der Bälle lange Zeit mit ungeheurer Energie tanzten (ähnlich wie die Sklaven),
und vermutet, dass, sollte eine Engländerin versuchen, auf diesen Bällen zu
tanzen, dies zum Fieber oder ihrem Tod führen werde.
Es scheint deshalb, dass die europäischen Kulturformen nicht so resistent
gegen afrikanische Einflüsse waren, wie oft angenommen wird, und dass
„Kreolisierung" ein wechselseitiger Prozess ist. In der Tat war insbesondere
die Kreolisierung von weißen Europäerinnen, die nicht in England ausgebildet
worden waren, eine ständige Quelle der Angst für diejenigen, die Aufzeich-
nungen über die Plantagen machten, und für die Reisenden, die sich oft über
deren ungehobeltes Benehmen, Sitten, häusliche Gegebenheiten und den Ver-
fall der englischen Sprache ausließen. Der wahrgenommene Abfall vom Zivi-
lisationsprozess englischer Verhaltensweisen und Bräuche wurde nicht nur
dem Klima Jamaikas oder seiner Entfernung zu den Zentren der „Kultur" zu-
geschrieben, sondern auch der ansteckenden Anwesenheit von Schwarzen, die
immer all das repräsentierten, was anstößig und in der Natur ungezähmt war.
Viele der Reisenden und derer, die das Plantagenleben aufgezeichnet haben,
fixierten ihren kolonialen Blick auf die tänzerischen und musikalischen Prakti-
ken der Sklaven und fanden in den meisten Fällen durch die vorgeführten Be-
wegungen ihre Auffassung bestätigt, die Kultur sei als Zivilisation auf dem
afrikanischen Kontinent abwesend. Zur selben Zeit herrschte auch Ambiva-
lenz, was den Einfluss kultureller Praktiken aus Europa wie z.B. des Tanzes
auf die schwarze und braune kreolische Bevölkerung betraf. Beobachter nutz-
ten die Versuche von im Land geborenen Sklaven, die Freizeitunterhaltung der
Plantagenbesitzer zu imitieren, als Mittel, um das Ausmaß des Zivilisierungs-
prozesses unter der ansässigen Bevölkerung der Sklaven festzustellen und so
auf der Grundlage von „Vorlieben" für kulturelle Praktiken aus Europa eine
„Kultur der Unterschiede" zwischen kreolischen und in Afrika geborenen Skla-
ven sichern zu helfen. Stewart räumt z.B. ein, dass die ,,kreolischen Neger"
durch die Aneignung von europäischer Unterhaltung eine leichte Verbesserung
ihres Geschmacks zeigten und sie „eine gewisse Geschicklichkeit in der Vor-
führung" bewiesen. Allerdings bleibt er dabei, dass die Sklaven die kulturellen
Praktiken, die sie so genau zu imitieren versuchten, nicht verstanden. Aber es
ist auch sicher, dass er ziemlich beunruhigt war von der genauen Aufmerk-
samkeit fürs Detail, die die kreolischen Sklaven bei ihrer Nachahmung euro-
päischer Tänze und Unterhaltung erkennen ließen.
Die nahe liegende Frage ist, warum die Sklaven die Tänze und Vergnügungen
der Europäer überhaupt imitiert haben. Desmond beantwortet dies damit, dass
den Sklaven untersagt wurde, ihre eigene (afrikanische) Kultur auszuüben,
256 Helen Thomas
weil die Farmer fürchteten, dies könne zu einem Aufstand führen. Tatsächlich
gab es auf Jamaika von weitaus mehr Aufständen zu berichten als in anderen
britischen Sklavengesellschaften der Neuen Welt. Im 17. und 18. Jahrhundert
waren bei der Mehrheit der Aufstände afrikanische Sklaven beteiligt. Die Kreo-
len wurden im frühen 19. Jahrhundert aufständischer und waren insbesondere
in die Rebellion von 1831 involviert, die nur drei Jahre vor Abschaffung der
Sklaverei ausbrach. Es ist jedoch belegt, dass die Sklaven, obwohl sie sich
außer zu speziell festgesetzten Zeiten nicht in einer Gruppe zum Tanzen und
Singen versammeln durften und das Trommeln während der Erholungszeiten
nach einer bestimmten Zeit am Abend nicht gestattet war, dies trotzdem taten,
wann immer es möglich war, und das oft unter der Schirmherrschaft ihrer wei-
ßen Besitzer. In seinem Journal of a West Indian Proprietor erzählt Lewis z.B.,
dass er die Sklaven um halb vier Uhr morgens in seinem Haus aufrief, mit dem
Tanzen, Singen und Trommeln aufzuhören, um noch Schlaf zu bekommen.
Desmond gibt ebenso wie Carty und andere an, dass die afrikanischen Mu-
siker und die kreolischen Haussklaven die Musik und die Tänze von den Euro-
päern lernten und sie dann zu ihren Camps brachten, wo sie sie umwandelten,
indem sie die europäischen Elemente mit westafrikanischen Traditionen wie
der Mento-Form kombinierten. Szwed und Marks behaupten, die Sklaven
wollten europäische Formen der Musik und des Tanzes kopieren und sich mit
ihnen befassen, weil diese mit „gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Macht"
assoziiert wurden und sie darauf spekulierten, dass diese Macht in gewisser
Weise auf sie übertragen würde. Michael Taussigs faszinierende Abhandlung
über „Mimesis und Alterität" mit Blick auf die Heilrituale der Cuna-Indianer
in Panama eröffnet den Weg zu einer interessanteren und differenzierteren
Interpretation mit höherer „Dichte". Taussigs Abhandlung befasst sich mit den
Holzfigurinen, die in Heilungsritualen der Cuna verwendet werden. Die Figu-
rinen, die in den Ritualen verwendet werden, wecken seine Neugier, weil sie
eindeutig „europäische Typen" repräsentieren und nicht „einheimische" India-
ner. Die Frage, die Taussig im Hinblick auf die europäisierten Cuna-Figurinen
stellt, ist: Warum sind sie „Andere", und warum sind sie ,,koloniale Andere"?
Bei der Heilung der Cuna wird das äußere Selbst der geschnitzten Bildnisse,
die nach dem Bild des kolonialen Anderen hergestellt werden, nicht als das
höchst Wirksame angesehen. Vielmehr wird eine Trennung wahrgenommen
zwischen dem äußeren und dem inneren Teil des Holzes, wobei der innere der
entscheidende ist. Entsprechend könnte man sagen, dass die Tänzer beim Ball-
saal-Stil der Quadrille die Erscheinungsform des kolonialen Anderen an der
Oberfläche ihres Körpers annehmen, aber bewusst nicht das Andere sind. Bei
der Camp-Stil-Quadrille sei andererseits darauf hingewiesen, dass es keinen
Unterschied zwischen dem außen erscheinenden Körper und dem inneren Kör-
per gibt; das Erleben von außen/innen ist eins: ein afro-jamaikanisches Erleben.
Wie Taussig argumentiert, liegt die Magie der Mimesis in der Tatsache,
dass auf die eine oder andere Weise die Herstellung und die Existenz eines
,,Mimesis und Alteritas" 257
Artefakts, das etwas darstellt, einem die Macht über das gibt, was dargestellt
wurde. 4 Vielleicht gewannen die jamaikanischen Quadrille-Tänzer auf diese
Weise, durch die Eroberung der Unterschiede der Europäer, des Andersseins
der Kolonialherren, durch den tanzenden Körper und die Musik eine gewisse
Macht über die, die sie versklavt hatten, und behielten zur selben Zeit ihre
eigene Unterschiedlichkeit bei, entwickelten ein Bewusstsein für ihr eigenes
Selbst, indem sie es nach dem Bilde der Kolonialherren kleideten. Auf diese
Weise kann „Imitation" als kreativer Akt verstanden werden, nicht nur als
blasse Reproduktion des Originals oder als nicht zu Ende gedachte Handlung,
und stellt sich so der Nichtauthentizität gegenüber, die in der westlichen ästhe-
tischen Tradition lange Zeit mit Repetition und Mimesis assoziiert wurde. Die
Umwandlungen des Ballsaal-Stils in den Camp-Stil durch die Kreolen bekräf-
tigen durch innovative Tanzpraktiken, die afrikanische Traditionen der Mehr-
stimmigkeit aufnahmen, ein Gefühl von Einheit oder Gleichsein, ein Anders-
sein dem kolonialen Anderen gegenüber. Auf diese Weise berufen sich Mime-
sis und Alteritas aufeinander und implizieren sich gegenseitig.
Aus dieser Perspektive hat Stewart mit seiner Behauptung, dass die Sklaven
die kulturellen Praktiken, die sie imitierten, nicht verstanden, das Ziel weit
verfehlt. Man sollte eher vermuten, dass sie sie nur zu gut verstanden; es war
eine Methode, die Macht des Herren an sich zu nehmen, ihr kulturelles Selbst
zu nähren und gleichzeitig dem Herrn zu zeigen, dass sowohl Herr als auch
Sklave unentrinnbar in denselben Strukturen eingeschlossen sind.
Nun können wir fragen, worum es geht, wenn wir in der heutigen Zeit im
Südosten von London die karibischen Stile der Quadrille lernen. Desmond
bedient sich der Quadrille, um durch körperlichen Ausdruck mehr als durch
gesprochenen oder geschriebenen Text spezifische Ideen aus dem historischen
Gedächtnis und der Spiritualität zu vermitteln, die für ihn auf einer afrozentri-
schen Perspektive beruhen; das heißt, er sieht eine starke Kontinuität zwischen
afrikanischer und afrojamaikanischer kultureller Form im Gegensatz zu den
Generationen von neuer kreolisierter kultureller Form:
Die Quadrille ist ein Magnet, und ich benutze sie als Magnet. Beim Tanzen der Quadrille
zeigen wir, dass Tanzen nicht nur der Unterhaltung dient, sondern dass sie bedeutet, die
Zähigkeit anzuerkennen, die unsere Vorfahren im Angesicht des Elends bewiesen. [„.]
Einer der Hauptgründe hierfür ist, dass wir unsere (afrikanische) Geschichte verloren ha-
ben und das Tanzen anscheinend nur als gesellschaftliche Aktivität betrachten; deshalb
stellt man fest, dass eine Menge - vor allem schwarzer - Menschen, die zur Kirche ge-
hen, das nicht mit dem Tanzen vermischen wollen, da sie nicht die Wichtigkeit des Tan-
zens in der Entwicklung ihrer eigenen (afrikanischen) Spiritualität erkennen. 5
Für Desmond ist die Quadrille die Verkörperung eines historischen Rassen-
kampfes und eines spirituellen Erwachens. Die verlorene Geschichte der Erin-
nerung an die Versklavung und die kulturellen afrikanischen Wurzeln liegen
im Tanzen. Als Teil dieses verkörperten Ausdrucks von Spiritualität bildet
Desmond mit den Tänzern am Anfang und am Ende des Kurses einen Kreis.
Der Kreis ist hierbei eine Möglichkeit, die Verbindung mit einer höheren Spi-
ritualität und eine Gemeinschaft und ein Einssein miteinander zu spüren. Die
jamaikanischen Protokolle beschreiben auch die zentrale Rolle der ,,Ringtänze"
bei den „Spielen" der Sklaven. Desmond erkennt die Notwendigkeit von Syn-
chronizität, Symmetrie und Teamwork, um ein gutes ,,Bild" zu erarbeiten. Er
bittet seine Tänzer zu fühlen, was die anderen tun, und mit ihnen räumlich und
zeitlich zu interagieren. Wenn sie es richtig machen, präsentieren sie ein schö-
nes Bild. Deshalb finden wir in der jamaikanischen Quadrille einen Tanz, der
speziell auf ältere afrokaribische Tänzer zugeschnitten ist, bei dem Vorstellun-
gen von Spiritualität und historische körperliche Erinnerung, Communitas und
die ästhetische Form des Tanzes und der Musik zusammenhängen. Es ist auch
ein Tanz, der Turners Definition einer „ideologischen Cornmunitas" veran-
schaulicht, und zwar dadurch, dass der Lehrer versucht, eine Neuinszenierung
des symholischen Kampfes gegen die Unterdrückung der weißen Herren her-
zustelh.:n; mcJ.::•·,; er das tut, gibt er seinen Tänzern ein Gefühl von Stolz auf
sich selbst und auf ihre eigene spezifisch afrojamaikanische Geschichte von
kultureller Widerstandskraft und Einfallsreichtum im Angesicht der Not: eine
Geschichte, in der das Volk nicht länger ausgelöscht wird, sondern eine Stimme
bekommt durch das Nachahmen der Praktiken des kolonialen europäischen
Anderen in einer parodierenden Weise und das Feiern der eigenen Subjektivi-
tät und der Unterschiede durch eine unterschiedlich zum Ausdruck gebrachte
Praxis.
Literatur
Abrahams, Roger D./Szwed, John F. (Hg.): AFTER AFRICA: Extracts from British
Travel Accounts and Journals of the Seventeenth, Eighteenth, and Nineteenth Centu-
ries concerning the Slaves, their Manners and Customs in the British West Indies.
New Haven, London 1983.
Baxter, Ivy: The Arts of an Island: The Developmenl of the Culture and of the Folk
and Creative Arts in Jamaica. Metuchen/N.J. 1970.
Carty, Hilary S.: Folk Dances ofJamaica: An Insight. London 1988.
Dunham, Katherine: Journey to Accompong. New York 1946.
Lewis, Matthew G.: Journal of a West Indian Proprietor. Kept During his Residence
in the Island ofJamaica. London 1834.
Richardson, Philip J. S.: The Social Dances of the Nineteenth Century. London 1960.
Stewart, James: A View Of The Past and Present State of Jamaica. With Remarks on
the Moral and Physical Condition of the Slaves and on The Abolition Of Slavery in
the Colonies. Edinburgh 1823.
Stolzsoff, Nonnan C.: Wake the Town and Tell the People: Dance Hall Culture in Ja-
maica. Durham, London 2000.
,,Mimesis und Alteritas" 259
Web-Adressen
http//dance.gold.ac.uk (web-based videos on Dancing into the Third Age project)
http://vzone.virgin.net/abe.oppel/html/body_ quadrille_dance
Gerald Siegmund
Im August 2005 hielt ich in Kopenhagen auf Einladung des Nordic Centrefor
Performing Arts einen Workshop zum Thema des Blicks ab. Nach etlichen
ebenso anstrengenden, ermüdenden wie spannenden Diskussionen über theo-
retische Implikationen des Konzepts für das Theater entschieden wir uns, die-
sen Blick zu suchen. 1 Wir wollten ihn dort aufspüren, wo er wirksam wird,
noch bevor er auf die Theaterbühne gehoben wird: im öffentlichen Raum. Wir
wollten den Blick herstellen, ihn provozieren, herausfordern, um ihn auf diese
Weise selbst zu erfahren. Zu diesem Zweck fanden wir uns also vor dem
Schlossplatz von Amalienborg ein.
Der Schlossplatz von Amalienborg im Herzen Kopenhagens diente König
Frederik V. zunächst als Paradeplatz für das Militär, bevor er 1794 in den Be-
sitz des Königshauses überging. Es ist ein achteckiger Platz, dessen Seiten von
vier Palais gebildet werden. Zwei im rechten Winkel aufeinander treffende
Straßen, an deren Kreuzpunkt eine Reiterstatue von Frederik V. errichtet wurde,
durchqueren den Platz und öffnen Sichtachsen in jede Himmelsrichtung. In
westlicher Richtung befindet sich eine Kirche. Die Marmorkirche, erst 1894
von privater Hand fertig gestellt, bildet eine Achse mit der ebenfalls privat
finanzierten Holmen-Oper im Osten, in deren Mitte sich die Reiterstatue von
König Fredrik V befindet. Über den Blick der göttlichen Macht und ihres
weltlichen Repräsentanten legt sich der allsehende Blick des globalisierten
Kapitals, der sich in Dänemarks Hauptstadt kurzerhand der Kultur bemächtigt
und sich mit ihrer Hilfe ein Denkmal setzt.
In diesem ausgeklügelten Arrangement, in dem sich göttliche und weltliche
Macht kreuzen, versuchten wir, durch kleine gezielte Aktionen die Blicke der
Touristen und der königlichen Garde auf uns zu lenken. Wir kopierten den
schweifenden Rundblick der Besucher auf die Gebäude, indem wir uns als
Gruppe zusammenrotteten und in die Luft stierten, während wir uns um die
Teilnehmer/innen des Workshops waren: Merete Elnan, Christine Fentz, Lise Klitten, Tho-
mas Wiesener, Barbo Smeds, Henrik Vestergaard Pedersen, Ame Bergren, Mikael Olsson,
Magnus Throbergsson, Bim de Verdier, Grete Lunde, Outti-llluusia Parvianen und Kassandra
Wellendorf.
Bewegung als Wiederherstellungsversuch 261
eigene Achse drehten. Wir kopierten den Gang der Wachposten, indem wir in
einer Reihe die durch farbige Pflasterung im Boden vorgegebenen Wege ab-
schritten. Wir gaben ihre raumstrukturierende Wirkung choreographisch den
Blicken Preis, immer und immer wieder, vor und zurück, bis uns nicht nur die
Wachen misstrauisch beäugten. Wir zogen die Blicke der Passanten und
Touristen auf uns. Einige schlossen sich uns an und gingen ein paar Schritte
mit. Wir existierten in einem anderen Raum, der sich fast deckungsgleich über
den Platz legte. Von diesem anderen Ort aus vermochten wir den Blick freizu-
legen und ihn selbst den Blicken der Passanten preiszugeben.
2 Feral 2002.
262 Gerald Siegmund
3 Legendre 2000.
4 Lehmann 1999.
Bewegung als Wiederherstellungsversuch 263
ihnen teilt er auch den gespaltenen, doppelten Blick auf die Bühne. Um diesen
in die Kulturanthropologie des Theaters eingeschriebenen, verdeckten Blick
wieder sichtbar zu machen, greifen verschiedene Künstler auf den Einsatz von
Bildmedien zurück. Das Videobild auf der Bühne kann damit, so meine These,
einer Selbstreflexion der Gesetze der Bühne dienen und nicht, wie landläufig
immer wieder unterstellt, einer Anpassung an den Mediengeschmack unserer
Zeit oder gar einer Abkehr von dem, was Theater „eigentlich" sei. Das Bild ist
ein fremder Blick von außen, der sich in den Rahmen des Theaters einschreibt,
um dessen konstitutive Grenzen offen zu legen. Dies soll mein erstes Beispiel
verdeutlichen.
Das ca. 20-minütige Stück Private Room der amerikanischen Tänzerin und
Choreographin Meg Stuart wurde in den Jahren 2000 und 2001 zunächst als
Teil ihres mehrere Stationen und Städte umfassenden Projekts Highway 101
aufgeführt. Seither wird es als eigenständiges Stück gezeigt und war im Som-
mer 2001 u. a. auch beim Festival „Tanz im August" in Berlin zu sehen. In
Private Room macht Meg Stuart den Blick einer Überwachungskamera zum
Thema.
Die Choreographin sitzt in einem Sessel schräg vor einer riesigen Lein-
wand, die die Bühne dominiert (Abb. 1). Ihr Blick fällt seitlich auf das Bild,
das einen unwirtlichen Raum von schräg oben zeigt. Der Tänzer Rachid
Ouramdane sitzt darin auf einem ähnlichen Möbelstück, die Hände wie Meg
Stuart brav auf die Armlehnen des Sessels gelegt, als handle es sich um eine
Art Spiegelung. Der Raum, zumindest wie er auf dem gräulich getönten
Schwarzweißbild zu erkennen ist, ist ansonsten leer. Die hellen kahlen Wände
werden auf dem Boden gesäumt von Kachelreihen, die den Eindruck einer
kalten Zelle unterstreichen. Durch die Kameraeinstellung wird der Blick einer
Überwachungskamera in den Videoraum suggeriert. Doch diese Kamera bleibt
bezeichnenderweise unsichtbar. Der Ort, an dem das Auge der Überwachung
zu lokalisieren wäre, bleibt unbesetzt. Dennoch ist dieses Auge in das Bild
eingeschrieben. Weder Meg Stuart noch Rachid Ouramdane schauen in die
Kamera, so dass der Eindruck eines unheimlichen Dritten entsteht, der zwar
alles sieht, selbst aber nicht erscheint.
Ihre Blicke gehen aneinander vorbei. Die Blickräume überlagern sich nicht.
Der Tänzer starrt geradeaus ins Leere, dorthin, wo sein Gegenüber in einer
Gesprächssituation anzunehmen wäre. Doch die Kontinuität und Kontiguität
der Räume ist hier aufgehoben. Der Blick trifft ihn von schräg hinten aus einem
anderen Raum, wo er ihn, ohne sich umzudrehen, nur ahnen und spüren kann.
Und doch steht der reale Bühnenraum mit dem imaginären Bildraum in Bezie-
hung. Meg Stuart gibt Kommentare zu seinem Verhalten ab: „You are not in
264 Gerald Siegmund
the right position", sagt sie. woraufhin der Mann sich umsetzt. Wie genau
jedoch die Verbindung zwischen den beiden Räumen beschaffen ist, bleibt,
wie Jeroen Peeters bemerkt hat, in der Schwebe. 5 Für den Zuschauer, der diese
Szene zum ersten Mal sieht, muss unklar bleiben, ob das Videobild aufgezeich-
net wurde oder ob es sich tatsächlich um eine Live-Übertragung aus einem an-
deren Raum hinter der Bühne handelt. Weitere Fragen drängen sich auf. Kann
Ouramdane Stuarts Kommentare und Anweisungen hören? Weiß er überhaupt,
dass er beobachtet wird? Handelt es sich um eine Szene, die Meg Stuart kennt,
vielleicht sogar um eine Erinnerung an das, was sie selbst schon einmal ausge-
führt hat? Ist der Mann dann möglicherweise nur eine Projektion oder eine
Vorstellung ihrer selbst?
Nicht nur der Raum spaltet sich damit auf. Auch die Linearität der Zeit erfährt
einen Riss. Wenn es sich beim Videobild um ein im Wortsinn vor-gestelltes
Bild handelt, so ist es auch ein Bild, das aus einer anderen Zeit auf Meg Stuart
zurückkommt. Als Idealbild würde es zu einer Zukunft gehören, die sie durch
ihre Kommentare überhaupt erst modelliert. Als Bild aus der Vergangenheit
würde sie es an ein noch nicht erreichtes und deshalb zukünftiges Ideal anzu-
passen versuchen.
Wie lässt sich die Szene nun in Bezug auf meine These von der Selbstrefle-
xion des Theaters verstehen? Der Theaterraum erscheint in Private Room als
anonymer Kontrollraum, aus dem der Bürger normalerweise auch im öffentli-
chen Leben einer Stadt ausgeschlossen bleibt. Er oder sie mag zwar die Über-
wachungskamera beim Einkaufen oder im Parkhaus entdecken. Doch was das
Auge, das hinter der Kamera sieht, aufzeichnet, verwertet oder, glaubt man
Untersuchungen zur Kontrolle durch Überwachungen, in den meisten Fällen
einfach ignorieren muss, entzieht sich unserer Kontrolle. Die Zuschauer sitzen
hinter Meg Stuart, die auf die Leinwand vor ihr schaut. Es findet demnach eine
Verschmelzung von Theaterraum und voyeuristischem Kontrollraum statt. Dies
wird dadurch erreicht, dass die Bühne als Fortsetzung des Zuschauerraums
konzipiert wird. Die eigentliche Grenze, die den Raum spaltet, ist nicht mehr
die Rampe. Die Grenze wurde nach hinten verschoben und zwischen Überwa-
chem und Überwachtem, zwischen Raum und Leinwand gezogen. Die Spaltung
verweist damit auf etwas, was normalerweise im Off der Bühne liegt, auf
etwas, das auf ihr nicht dargestellt, wohl aber als Imaginäres in einem anderen
Bildmedium gezeigt werden kann. Dieses Undarstellbare ist der Blick der
Kamera, die selbst nicht im Bild erscheint. Unser Blick aus dem Kontrollraum
ist nicht identisch mit dem Blick, der das Bild generiert. Das Auge, das sich
unserer Kontrolle entzieht, weil es draußen ist und uns indirekt gleichermaßen
ins Bild setzt, hat die Funktion des göttlichen, dritten Blicks übernommen, der
immer schon ins Theater eingeschrieben war. In seiner Funktion als das, was
das individuelle Subjekt übersteigt, kann man diesen Blick heute als Instanz
gesellschaftlicher Regeln und Codes sowie ihrer sprachlichen Festlegung ver-
stehen. Durch das Video haben wir plötzlich einen Blick auf diesen gesell-
schaftlichen Blick, weil wir uns selbst der Position dieses Dritten annähern,
ohne sie jedoch besetzen zu können (wir sind nicht die Kamera) - auf Kosten
unserer Position im Parkett, die hier eliminiert wird. Diese erlaubt uns in der
Regel keinen souveränen Blick auf das Geschehen, sondern lediglich einen be-
wegten und damit fragmentierten Blick, der gerade im Tanz niemals das ganze
Bühnengeschehen auf einmal und die Bewegung in ihrer Flüchtigkeit einfan-
gen und arretieren kann. Ich werde auf den damit verbundenen Verlust später
noch genauer eingehen.
Doch Meg Stuarts Stück endet hier nicht. Private Room reflektiert den ge-
sellschaftlichen Blick, leitet diesen aber auch um. Denn das Idealbild entzieht
sich immer mehr ihrer Kontrolle. An die Stelle einen allsehenden Blicks tritt
die verunsichernde Erfahrung des Entzugs. Das Objekt der Betrachtung folgt
anderen Bildern, es folgt seinem eigenen souveränen, kontrollierenden Blick.
Man kann an dieser Stelle natürlich an Richard Sennetts alte These von der
narzisstischen Gesellschaft denken, die mit ihrem „Terror der Intimität" den
öffentlichen Raum zerstört. Doch Meg Stuarts Stück ist viel unheimlicher.
Statt das Subjekt im Bild selbst zu bespiegeln und zu erhöhen, entzieht es dem
Subjekt den Boden und lässt es sich im Blick fremd werden. Rachid Ouram-
266 Cierald Sieginund
dane zieht sich aus, als befände er sich bei sich zu Hause, in seinem Private
Room eben, und läuft immer wieder vom Sessel aus nach vorne, als bediene er
ein Fernseh- oder Videogerät. Vielleicht kann auch er uns sehen, ohne dass
wir, als Bild im Bild sozusagen, tatsächlich erscheinen würden - ohne dass
wir jemals sicher sein können, dass er uns überwacht und nicht wir ihn? Was
auch immer sein Bild für Meg Stuart und damit auch für die Zuschauer dar-
stellen mag, es gewinnt auf jeden Fall zunehmend an Eigenleben.
Hier zeichnet sich zum ersten Mal das ab, was ich im Folgenden als „Wie-
derherstellungsversuch" bezeichnen möchte. 6 Meg Stuarts Private Room re-
flektiert die Theatersituation auch und gerade deshalb, weil sie den kontrollie-
renden, allsehenden göttlichen Blick aufs Spiel setzt. Das Stück verhindert die
Ineinssetzung mit dem Blick, weil sich der im Bild gefangene und zum Bild
gewordene Körper aus dem Bild herausbewegt. Er sprengt den Rahmen und
bleibt für Sekunden für uns unsichtbar. Dieser Entzug hat wesentlich mit der
Bewegung zu tun, die sich dem arretierenden Blick ständig entzieht. Der Tän-
zer lässt sich nicht still stellen. Er bricht aus unserem Blickfeld aus und eröff-
net dadurch einen Spielraum, der auch unseren Blick in Bewegung versetzt,
der ihn vorantreibt, ohne dass die beiden Blicke zur Deckung kämen. Neben
dem institutionalisierten festschreibenden Blickregime des Theaters etabliert
sich hier durch die Bewegung eine Art der Interaktion zwischen Tänzer und
Zuschauern, die Anschluss sucht an das Lebendige, das nicht zu Rahmende,
weil letztlich Unkontrollierbare. Die Bewegung lässt sich von daher - und da-
rauf gehe ich im Folgenden noch genauer ein - als Wiederherstellungsversuch
von Kontinuität und Leben denken. Sie bewegt sich aus dem Bereich des Todes,
des Stillstands, des kontrollierten Bildes zurück ins Leben.
Die Inkongruenz der hier beschriebenen verschiedenen Blickräume eröffnet
den dritten Raum eines gesellschaftlichen Imaginären, in dem sich die Bilder
gegenseitig bespiegeln, ohne an einen Referenten zurilckgebunden werden zu
können. Auch darauf zielt Meg Stuarts Stück. Privates wird durch den Kon-
trollblick immer mehr in den öffentlichen Raum hineingezogen, und Beobach-
tetwerden wird zum Normalfall. Dieser öffentliche Raum verliert damit wie-
derum seinen Charakter als intersubjektiv frei zugänglicher Raum und privati-
siert sich. Cileichermaßen verliert das Subjekt den Zugriff auf seine Bilder, die
nun ohne sein Wissen verwertet werden. Das Subjekt vermag seine Bilder
nicht mehr zu integrieren. 7
Eine solche psychotische Abspaltung des Bildes vom Körper als seinem
Träger hat Meg Stuart in ihrem Stück Alibi, das im Jahr 2002 im Schiffbau-
Theater in Zürich uraufgeführt wurde, inszeniert. Das Setting ist ähnlich wie
in Private Room. Ein Mann sitzt an einem Tisch und beschreibt in französi-
scher Sprache sein Gesicht, das auf einem Video seitlich versetzt hinter ihm
auf die Wand projiziert wird. Augenscheinlich handelt es sich um die gleiche
Person, die wir beim Spazieren durch öffentliche Räume, aber auch beim Ra-
sieren vor einem Spiegel beobachten dürfen. Plötzlich fängt das Bild an zu
sprechen. Der Mann bewegt die Lippen, doch seine Stimme wird von einem
Tänzer am anderen Ende des Raumes souffliert. Sein Gesicht kommt der Ka-
meralinse immer näher, als wolle er ihr ein Geheimnis anvertrauen. „Let's get
this clear", sagt er auf Englisch, was Verstörung auslöst, hätten wir doch er-
wartet, dass auch er wie sein Vorbild Französisch spricht. „1 don't remember
you. If you close your eyes you won't ever see me again." Der Mann im Bild
dreht sich um und geht weg. Das Bild löst sich von der Spur, die es zurückver-
weist auf etwas, das tatsächlich einmal gewesen ist, und gewinnt ein Eigenle-
ben. Das Bild kippt in die Realität, wo es agiert, als sei es die Sache selbst, die
es doch nur abbilden soll, und wird dabei zu seiner eigenen Sache.
Weist das Überwachungsbild in Meg Stuarts Private Room das Theater als Ort
des gesellschaftlichen Angeblicktwerdens und damit als Ort der gesellschaft-
lichen Überwachung aus, so setzt es uns darüber immer auch ins Bild. Wir
sind immer schon angeblickt, stehen in einem asymmetrischen Blickraum, der
sich auf die gesellschaftliche Instanz, die unsichtbare Kamera, die uns das Bild
zu sehen gibt, abschattet. Es macht daher auch deutlich, dass wir, um Subjekte
zu sein, uns dem Blick des Anderen zeigen müssen. Wir müssen uns stellen,
im doppelten Sinn des Wortes als überführen und still stellen, um anerkannt
werden zu können. Das dies zunehmend schwieriger wird, weil die Bilder uns
davonlaufen, sich von uns wegbewegen, auch darauf hat Meg Stuart hingewie-
sen. Wir begehren den Blick, um Subjekte sein zu können, oder wie es in einer
amerikanischen Werbung der Modefirma Kenneth Cole heißt: „You are on a
video camera an average of ten times a day. Are you dressed for it?"9 Der
Werbeslogan dreht unser common sense-Verständnis, dass Überwachung eine
Bedrohung darstellt, einfach um. In diesem Umkehrvorgang formuliert er tat-
sächlich das, was jedem Big Brother-Szenario als Grundlage eingeschrieben
ist, einen verschwiegenen Rest, ohne den keine der Reality-Shows im Fernse-
hen funktionieren würde: Wir begehren, gesehen zu werden. Wir gewinnen
Lust daraus, dass uns jemand oder etwas anblickt.
In diesem Abschnitt soll es mir also darum gehen, den Blick mit dem Sub-
jekt und seinem Oszillieren zwischen Anwesenheit und Abwesenheit in Ver-
8 Zum Begriff des subjektiven Raums, der auch ein psychischer Raum ist, vgl. Finter 1990.
9 Zit. n. Kammerer 2005, S. 97.
268 Gerald Siegmund
bindung zu bringen. In der Abwesenheit, die mit der Bewegung verbunden ist,
sehe ich eine wesentliche anthropologische Dimension des Tanzes. Dieser ist
die Kunst der Bewegung, die trotz des ihr beständig inhärenten Verlusts von
Präsenz aber paradoxerweise doch stets als lebensbejahende, dynamisch-ener-
getische Kunstform verstanden wird. Wie haben wir das zu verstehen?
Der Trieb, den wir in unserem Kontext dafür ins Auge fassen müssen, ist
selbstredend der Schautrieb, der sich begehrend auf die Bewegung richtet. Für
Freud sind die vier Entwicklungsstufen des Schautriebs, die er in Triebe und
Triebschicksale im Zusammenhang mit den neurotischen Störungen Voyeuris-
mus und Exhibitionismus behandelt, verbunden sowohl mit einem Wechsel des
Triebziels von aktivem Anschauen zu passivem Angeschautwerden als auch
mit einem Objektwechsel. 10 Der Voyeur sucht den Blick eines Anderen; der
Exhibitionist zeigt sich dem Blick des Anderen. Für Freud ist jedoch offen-
sichtlich, dass auf jeder der Stufen die vorangehenden weiter wirksam bleiben.
Eine klare Trennung zwischen Subjekt und Objekt unterbleibt, so dass auch
der Voyeur letztlich ein Exhibitionist ist, der sich selbst als Objekt an die Stelle
des Anderen setzt, der ihn lediglich vertritt.
Was macht also der Trieb als Form der Energie? Der Trieb lässt das Subjekt
hinüber gleiten an den Ort des Anderen. Der Trieb stülpt den Körper nach au-
ßen, in den leeren Raum hinein, um das begehrte Objekt einzufangen. Ziel des
begehrenden Blicks ist es, den Körper zum Objekt zu machen, ihn zu mortifi-
zieren, damit er nicht mehr entkommen kann. Wir möchten über den anderen
verfügen. Doch die Bewegung entgleitet dem feststellenden Blick immer wie-
der aufs Neue. Sie entkommt dem Tod, indem sie dem Blick verführerisch ent-
geht und ihn mit jeder Wendung erneut verstellt. Auf der einen Seite haben wir
also den zum Bild gewordenen mortifizierten Körper, mit dem Meg Stuarts
Private Room spielt. Auf der anderen Seite haben wir die endlose, rastlose Be-
wegung, die sich dem Objektstatus des Körpers verweigert und den Blick mit
sich fortreißt, die ihm keinen Halt und damit auch keine Möglichkeit der stabi-
lisierenden Bindung gibt. Davon soll mein zweites Beispiel, William Forsythe,
handeln. Tanz, von der Position des Zuschauers aus betrachtet, oszilliert so
immer zwischen der Bewegung einerseits, die das Faszinosum des Blicks mit
„Hast, Elan, Vorwärtsbewegung" 11 verschleiert, und dem Stillstand anderer-
seits, in dem sich aber der Blick, der den Tanz bewegt, um den Preis der Be-
wegung zu erkennen gibt. Das Freilegen des Blicks führt zum Tod der Bewe-
gung. Umgekehrt erscheint die Bewegung heraus aus dem Bild als Wiederher-
stellungsversuch des Lebens.
Der Schautrieb wird damit zum Negativ des Körpers, das ein scheinbar
Volles im äußerlich Leeren markiert. Für Lacan markiert das Objekt daher le-
diglich „das Dasein einer Höhle, einer Leere, die, wie Freud anmerkt, mit jedem
beliebigen Objekt besetzt werden kann". 12 Der Übergang vom Inneren des
Körpers zum äußeren Objekt, von einer Leere in eine scheinbare Fülle, die den
Mangel des Subjekts ausfüllen soll, wird durch den Trieb veranlasst. Der Trieb
ist jene Energie, die sich vom Körper löst, um das Objekt einzukreisen, um er-
neut zum Körper als erogene Zone zurückzukehren. In der Bewegung des
Triebes stülpt sich der Körper um, um sich im Objekt, das er einfangen und
besetzen möchte, zu komplettieren. Die Bewegung höhlt diese Höhlung aus
und besetzt sie mit Körperbildern. Sowohl die Bewegung als auch das aus ihr
resultierende Körperbild berühren an ihren jeweiligen Enden des Spektrums
von Bewegtheit den Tod des Subjekts, seine Abwesenheit. Ihre Bewegtheit ist
allzu flüchtig und zu rasch wieder verschwunden, als dass sie das Subjekt sta-
bilisieren könnte. Und Stillstand im Bild droht seinerseits wieder das Subjekt
mit seinem medusenhaften Blick zu mortifizieren.
Die Bewegung setzt sich an die Stelle der Abwesenheit, vermag sie aber
aufgrund ihrer Flüchtigkeit nie zu füllen. Was wir beim Sehen von Tanz dem-
nach erfahren, ist die eigene Abwesenheit am Ort des Anderen, das eigene
Fehlen im Bild, das uns als Negativ aber immer schon enthält. Unser Ort ist
der leere Raum, der negative Raum um die tanzenden Subjekte herum, der uns
anblickt, der uns aufnehmen könnte, beflinden wir uns dort, wo wir im Theater
wie im Leben nicht sein können: im Bild, das wir sehen und suchen. Es ist
diese Abwesenheit, die uns bewegt, die unsere Imagination in Bewegung ver-
setzt, um sie mit Körper-Bildern zu füllen. Sie bewegt uns emotional, weil sie
gerade in der Bewegung dem Verlust und im Bild dem eigenen Tod ins Auge
blickt. Was uns schließlich vorgeführt wird, ist das Produzieren von Abwesen-
heit, das Übereignen des Gegenwärtigen an den Tod, der mit jedem Moment
neu entsteht.
Das klassische Ballett hat diesen Tod im Fetisch des Spitzentanzes und des
Spitzenschuhs im klassisch Freud'schen Sinne zu bannen versucht: als Objekt,
das die Kastration leugnet und eine allmächtige Fülle verspricht, deren Schön-
heit, um Lacan zu zitieren, nur die letzte Bastion einer hässlichen Fratze ist,
die als Bilderschirm das traumatische Reale verdeckt: den Sturz der Ballerina.
Die Modeme, wenn ich deren verschiedene Ansätze in diesem einen Punkt
einmal so grob zusammenfassen darf, hat die werdende Bewegung selbst feti-
schisiert. Martha Graham, bei der die Phantasmen der Modeme derart offen
liegen wie bei keinem anderen Künstler, hat die Abspannung des Körpers aus
ihrem Srtem radikal ausgeschlossen, weil diese einen toten Körper bedeuten
würde. 1 Doris Humphrey hat im Gegensatz dazu die Bewegung als Bogen
zwischen zwei Toden anthropologisiert. ,,At either end of the movement there
is death", schreibt sie in ihren Notizen, „the static death or constant equilibrium
12 Ebd., S. 125.
13 „The word ,relaxation' is not used because it has come to mean a devitalized body" (Graham
1992, s. 142).
270 Gerald Siegmund
Der Blick, der ein abwesendes Objekt umzingelt, ein Verweben und Einweben
der Abwesenheit mit Bewegung -das ist das Strukturprinzip von William For-
sythes 1995 in der Frankfurter Oper uraufgeführtem Stück Eidos:Telos. Darin
hat er die Abwesenheit eines Körpers oder, allgemeiner, einer Form zur me-
thodischen Grundfrage des Balletts erhoben.
lt was using the space that the body occupies as a kind ofbrain, as a way to remember. lt
came about because, after my wife died, I bad this sensation of her arms around my
neck. lt was so real that I could really feel it, I was aware that this was a wish but it was
a sensation that actually could be experienced and so 1 thought „what if we tried to
intensify the body's memory of itself, wrapped around itself, so to speak". 16
Ausgangspunkt für Forsythes Überlegungen war also eine in der Tat phantas-
matische, halluzinatorische Berührung: die Berührung einer Toten, seiner ver-
storbenen Frau, der Ballerina Tracy-Kai Meier. Ihr Tod hätte seine Welt voll-
ends zum Einsturz gebracht, wenn da nicht jene phantasmatische Berührung
gewesen wäre, die es ihm erlaubte, sich in der glückseligen Sicherheit zu wie-
gen, dass alles in Ordnung sei. Die halluzinatorische Berührung ist in der Tat
ein „Wiederherstellungsversuch", um die Desintegration zu verhindern und
das Subjekt für den drohenden Realitätsverlust zu entschädigen. Die phantas-
matische Berührung durch seine verstorbene Frau schützt Forsythe also davor,
selbst vom Tod berührt und mit ihm fortgezogen zu werden. Die Berührung
der Toten, die einer Grenzerfahrung gleichkommt (hinter der Grenze liegt die
Auflösung des Subjekts), löst sowohl emotionales Bewegtsein als auch Bewe-
gung aus, die fortan in dem Stück um jenes verworfene und im Realen halluzi-
natorisch wiedergekehrte Moment der Abwesenheit kreist. Der Tanz, der doch
vom vollen gegenwärtigen Leben zeugen soll, holt hier sein Anderes, den Tod,
in die Grenzen seines Systems, die Ballettsprache, zurück. Auch das Stück
Eidos:Telos und, so meine These, jedes Tanzstück ist aus anthropologischer
Sicht ein „Wiederherstellungsversuch", der im Falle von Forsythe jedoch sei-
nen phantasmatischen Grund, die Abwesenheit des Subjekts, seinen Tod, in
die Kreation mit einbezieht und reflektiert. Forsythe zeigt die Rückseite der
spiegelbildlichen Identifikation, die vom Tod markierte und fortgerissene Be-
wegung, die den symbolischen Ballettcode als geschlossenes System letztlich
zum Einsturz bringt.
Tanz und damit die Bewegung sind aus dieser anthropologischen Perspek-
tive heraus betrachtet kein Ausdruck des vollen Lebens oder der ungezügelten
Lebensfreude. Sie markieren vielmehr einen qualitativen Sprung des Subjekts
aus der Abwesenheit und dem Tod heraus ins Leben. Sie springen ins Leben
hinein und wiederholen doch mit jeder Bewegung den drohenden Verlust des
Subjekts. Das ist nicht nur im Tanz die Gefahr des Sprungs. Wie Freud in der
Beschreibung des Fort!-Da!-Spiels des kleinen Jungen mit der Holzspule er-
kennen lässt, setzt sich die Bewegung an die Stelle des abwesenden Objekts. 17
Mit dem Wegwerfen und Zurückholen der Holzspule soll die Abwesenheit des
Objekts, der Mutter, kompensiert werden, um damit die Kontinuität des emo-
tionalen Raums zwischen dem Subjekt und dem anderen wiederherzustellen.
Tanz und Bewegung markieren damit die Höhlung des Todes im Leben. Die
Bewegung sucht Anschluss ans Leben, obwohl sie dem Tod abgetrotzt und
ihm aufgrund ihrer Vergänglichkeit geweiht ist.
Der abwesende, tote Körper von William Forsythes Frau löst in ihm eine
körperliche Empfindung aus, deren Ort zum Ausgangspunkt für neue Bewe-
gungen wird. Der Körper schlingt sich um sich selbst wie um ein leeres Zen-
trum. Denn er erinnert sich an den Ort, an dem er nicht mehr sein kann, und an
die Form, die wie der Körper seiner Frau nicht mehr da ist. Die erhöhte Selbst-
wahrnehmung im Moment des Erinnerns führt zu einer verstärkten Präsenz
des Tänzers, die auf nichts anderem gründet als auf der Abwesenheit einmal
gefühlter oder wahrgenommener Formen. Der tanzende Körper wird gleichsam
zum Gefilß für die Abwesenheit, die er umschlingt und die er mit jeder Bewe-
selbst und auf den Ort, an dem sie gerade noch waren, von dem sie aber bereits
schon wieder weggerissen wurden. Persephone ist die Figur des Wechsels und
der Wiederkehr; sie wechselt ihre Gestalt im Übergang der Welten, ohne dass
von ihnen Spuren zurückblieben.
Von der Partie, die einstmals zwischen der einen Form und der anderen gespielt wurde
[den Metamorphosen], bleibt jetzt nichts weiter übrig als der Wechsel von Erscheinen
und Verschwinden. Zu akzeptieren war nicht mehr bloß das Leben in Gestalt einer fest-
gefügten Form, sondern die Gewißheit, daß diese Form verschwinden würde, ohne eine
Spur zu hinterlassen. l 9
Dieses spurlose Verschwinden, das so spurlos gar nicht ist, weil es eben in der
körperlichen Wahrnehmung der Tänzer Spuren hinterlässt, ihr Körpergedächt-
nis affiziert (das wäre der dramaturgischen Idee Heidi Gilpins entgegenzuset-
zen), wird hier übertragen auf das Verschwinden der Bewegungsformen. Mit
ihnen verschwindet auch die Kinesphäre als der Raum, den die Tänzer gerade
noch schufen und in dem ihre Bewegungen stattfanden. Es macht eine Rück-
erinnerung notwendig, die nur eine Erinnerung an das Abwesende sein kann.
Der Blick der Kore fungiert damit als eidolon, als Urbild, das der reinen Idee
des Subjekts, d. h. seiner zentralen Leere, am nächsten ist. Dieses eidolon blickt
sozusagen dem Unsichtbaren ins Gesicht. Die Erinnerung des eido/on an die
Idee ist damit eine Erinnerung an etwas, was es vor dem Akt der Erinnerung
als Form nicht geben kann. Diese Idee, die nur durch das eidolon als erste
ästhetische Form zu schauen ist, korrespondiert mit der Idee des Balletts, des-
sen Formen und Figuren letztlich nur leere Formen sind, die der Tänzer schauen
muss und in deren Abglanz er steht. Auch sie sind Artikulation dessen, was
man im Unsichtbaren sieht, deren Kehrseite allerdings die Kontingenz der
Figuren und Formen ist. Was man im Unsichtbaren sieht, ist daher notwendi-
gerweise eine imaginär-phantasmatisch wuchernde Konstruktion, die, wie im
Falle des sich als klassisch verstehenden Balletts, ihre substanzielle Leere und
damit ihren eigenen Tod als Essenz verbirgt.
Die Abwesenheit eröffnet den Raum für den „Wiederherstellungsversuch"
einer Fülle, einer Präsenz, die in Forsythes jüngsten Stücken, die er Performance-
Installationen nennt, immer deutlicher Züge einer Wiederkehr des Traumas im
Realen trägt. Sie zeigen die Desintegration des Subjekts in eine formlose Masse,
die es mit seinem Tod in Berührung bringt. Das Phantasma markiert demnach
jenen Ort, an dem die Unmöglichkeit der Repräsentation des traumatischen
Kerns des Subjekts in die Repräsentation der Unmöglichkeit, in das Einschrei-
ben eines Mangels in den Körper umschlägt. Diese Repräsentation der Unmög-
lichkeit ist genau jener „Wiederherstellungsversuch" einer Form, die durch
das Phantasma der Abwesenheit hindurchgegangen ist. In der bereits erwähn-
ten Performance You Made Me A Monster kann sich das Publikum frei in einem
Raum bewegen, in dem auf elf Tischen Bastelbögen aus Pappe herumliegen.
Vorsichtig kann man einzelne Körperteile, Becken, Oberschenkelknochen
19 Ebd., S. 232.
274 Gerald Siegmund
oder etwa eine knochige Hand herausbrechen und sie an einer Stange über
dem Tisch befestigen. Was zunächst noch der menschlichen Anatomie ähnelt,
beginnt mit der Zeit mehr und mehr aus der Form zu geraten. Die Skelette
wuchern wie Krebszellen, die die Funktionsweise des Körpers lahm legen und
ihn zu verformen beginnen. Die Körperteile aus Pappe hängen an ihren Stan-
gen wie unförmige Klumpen.
Zwischen den Zuschauern tauchen unvermittelt und in unmittelbarer Nähe
drei Tänzer auf, die ihre Körper auf extreme Art und Weise verbiegen. Immer
wieder stoßen sie fast unmenschliche Laute aus, die sich mit einer Klangcollage
aus verfremdeten Schluchzlauten und Schmerzesschreien, die den Raum erfül-
len, verbinden. Wie Fremdkörper bewegen sie sich durch die Zuschauer hin-
durch nach vorne, wo auf drei Notenständern Blätter mit Bleistiftstrichen be-
festigt sind: eine Art Notation, die den Tänzern als Vorlage für ihre Bewegun-
gen dient. Auf einer Videoleinwand sind schemenhafte, gespenstische Umrisse
von Körpern zu sehen, die mitzubasteln scheinen. Von rechts nach links läuft
ein Text über die Leinwand, den William Forsythe selbst geschrieben hat. Elf
Jahre danach setzt er sich darin mit dem Krebstod seiner Frau Tracy-Kai Meier
auseinander. ,,My wife bad been bleeding for quite a while, perhaps six months.
1 can't remember exactly anymore." 20 Der Krebs hatte auch sie im übertrage-
nen Sinn zu einem „Monster", zu einem sich selbst fremden Wesen, gemacht,
indem er ihren Körper beugte. Zwei Monate vor ihrem Tod hatte sie zu Weih-
nachten ein solches Pappskelett geschenkt bekommen, das Forsythe nun zum
Ausgangspunkt für seine Performance-Installation diente.
Zum Zeitpunkt der Erkrankung 1992/93, erinnert sich Forsythe in dem Text,
habe er mit dem Ballett Frankfurt im Zusammenhang mit dem Stück ALIE/l:f.
A(c>Tion an dem Thema Fremdenfeindlichkeit und der damit verbundenen
Vorstellung von ,,Eindringlingen" in den Körper des Gemeinwesens gearbeitet.
Xenophobia constitutes a fear that the seeds of one's internal destruction reside in a for-
eign body. A body that has penetrated one's own physical territory. There arises the sus-
picion that one will be ambushed, sabotaged perhaps, by invisible, latent forces that now
reside within. That is how the aliens in the film are portrayed. Repulsive, occult, lethal. 21
Doch was nach außen projiziert wird, ist der Kern des Subjekts selbst. So sind
die Bewegungen der Tänzer, die uns so befremdlich erscheinen und die sie zu
verzerrten Körpern machen, von den Zuschauern selbst hervorgebracht wor-
den. Die Tänzer greifen entweder selbst zum Bleistift und übertragen Formen
der Skelette aufs Papier, Linien, die sie schließlich in Bewegungen umsetzen.
Oder sie nehmen ihre Bewegungsformen direkt von den wuchernden Formen
der Skelette ab. Das fremde, das sind wir selbst. Wir bringen es selbst hervor
und projizieren es nach außen. Die Performance-Installation zeigt die Rück-
kehr dessen, was wir produziert haben, in unsere Mitte. Sie ist der „Wieder-
Literatur
Calasso, Roberto: Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia. Übers. v. Moshe Kahn.
München 2001.
Copeland, Julie (2003): Eidos:Telos and William Forsythe: Radio National's „Arts
Talk" Presenter Julie Copeland interviews Choreographer William Forsythe about
Eidos:Telos. 13. Dezember 2001. In: ABC Arts Online 2003 www.abc.net.au/arts/
performance/stories/s439792. htm.
Feral, Josette: Theatricality: The Specificity ofTheatrical Language. In: Substance No.
98/99, Vol 31. Madison 2002, S. 94-108.
Finter, Helga: Der subjektive Raum. Tübingen 1990.
Freud, Sigmund: Triebe und Triebschicksale. In: ders., Studienausgabe. Band III, Psy-
chologie des Unbewußten. Frankfurt/M. 1982, S. 75-102.
-: Jenseits des Lustprinzips. In: ders., Studienausgabe. Band III, Psychologie des Un-
bewußten. Frankfurt/M. 1982, S. 213-272.
Graham, Martha: A Modem Dancer's Primer for Action. In: Selma Jeanne Cohen
(Hg.), Dance as a Theatre Art. Source Readings in Dance History .from 1581 to the
Present. Princeton 1992, S. 135-143.
Hempel, Leon/Metelmann, Jörg (Hg.): Bild-Raum-Kontrolle. Videoüberwachung als
Zeichen gesellschaftlichen Wandels. Frankfurt/M. 2005.
Der „Tanz ums goldene Kalb" ist inzwischen nicht mehr als eine sprichwört-
liche Redewendung. Zeitgenössische „goldene Kälber" können konkrete Zei-
chen sein, wie bspw. die Börse, um die das Finanzkapital trotz regelmäßigem
Platzen der Spekulationsblasen permanent kreist, oder die Expo als narzissti-
sche Selbstinszenierung der New Economy. Die Metapher kann sich auch dif-
fuser auf politische Lobbyarbeit oder medialen Starkult beziehen. Sie ist eher
in den Print- und elektronischen Medien als im alltäglichen Sprachgebrauch
zu finden - auf Internetseiten, in Buch(unter)titeln und programmatischen
Schriften - und wird mitunter in politischen Spektakeln - wie der globalisie-
rungskritischen Demonstration auf dem WTO-Gipfel in Davos - inszeniert.
Diese metaphorischen „Tänze" besitzen zwei charakteristische Merkmale: Sie
bedeuten ein andauerndes und unbelehrbares Streben nach materiellen Werten,
nach Macht, Luxus oder Profit, wobei das Verb „tanzen" im übertragenen
Sinne ein Nachlaufen oder Umkreisen bezeichnet. Und es „tanzen" immer die
anderen. Die Metapher fungiert im Sinne einer klassischen pädagogischen
Geste: Mit dem erhobenen Zeigefinger werden die ,,Anderen" identifiziert, ihr
Verhalten wird als falsch gebrandmarkt und vor seinen Auswirkungen nach-
drücklich gewarnt.
Trotz aller Metaphorik trägt die Redewendung ein zweifaches kulturelles
Erbe mit sich und bezieht sich sowohl auf die biblische Überlieferung als auch
auf ein antisemitisches Stereotyp. Um dieses Erbe der Abgrenzung zu rekon-
struieren, wird hier zum einen eine Interpretation der biblischen Mythologie
aus pädagogisch-anthropologischer Perspektive vorgestellt, als deren Ergebnis
der biblische Tanz als transgressiver Akt erscheint. Zum anderen wird der
„Tanz ums goldene Kalb" in Hitlers „Gutachten über den Antisemitismus" aus
dem Jahr 1919 als Akt einer stereotypen Differenzierung diskutiert, der für das
nazistische Repräsentationsregime der Juden als „Rasse" grundlegend war.
Abschließend wird anhand einer Party junger Israelis die Problematik des Hy-
briden erörtert.
280 Kathrin Audehm
Die alttestamentlichen Texte erzählen von Gott mit besonderer Vorliebe über
den Umweg der menschlichen Geschichte und ihrer gesellschaftlichen Ver-
hältnisse, 1 was sie auch für die pädagogische Anthropologie interessant wer-
den lässt. Im Rückgriff auf die biblische Mythologie lässt sich der Tanz ums
goldene Kalb im Buch Exodus (2. Moses, 32ff.) als dramatischer Auftakt einer
Volkswerdung mittels Erziehung lesen. Er steht am Anfang einer laut Text 40
Jahre währenden Habitustransformation, in der die semitischen Stämme in ihrer
gemeinsamen Verbindung mit Gott zum gelehrigen Volk Israel werden, und
erhält schließlich im fünften Buch Moses eine dauerhafte kulturelle Funktion. 2
Drei Monate nach ihrer Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft lagern
die Israeliten am Berg Sinai. Zuvor hatte Gott, der bis dahin ausschließlich mit
Moses sprach, am Berg Horeb direkt zu ihnen gesprochen. Die semitischen
Stämme lernen Gott als Jahwe, den Kriegsgott, der absoluten Gehorsam ge-
genüber den von ihm erteilten Zehn Geboten verlangt, kennen und schwören
ihm die Treue. Der am Berg Horeb mit Gott geschlossene Bund beruht auf
einem mündlichen Vertrag, der das auserwählte Volk in vollkommener Ab-
hängigkeit hält. Gott hält seinem Volk mit den wiederkehrenden Wundern von
Speise und Trank die Treue, nimmt ihm am Berg Sinai aber für 40 Tage und
Nächte den religiösen Führer, um die mündlich erteilten Gesetze in eine
schriftlich niedergelegte Rechtsordnung zu überführen. Der Herr selbst prägt
seine Gebote und die Kult- und Rechtsnormen auf zwei Steintafeln, Moses ist
hier ein eher passiver Empfänger. Als dieser Prozess abgeschlossen ist, muss
die neue Ordnung nur noch überbracht werden (2. Moses, 31, 18). In diesem
entscheidenden Moment aber begeht das Volk einen folgenschweren Fehler:
Es tanzt um das goldene Kalb.
Monatelang waren die Israeliten durch eine gefährliche und lebensfeindliche
Wüste gewandert, bevor sie ihr Lager am Fuße des Berges aufschlugen, und
nach 40 Tagen ist ihre Geduld am Ende. Schließlich bittet das Volk Moses' Bru-
der Aaron um ein bildliches, göttliches Idol - gemäß dem ersten und zweiten
Gebot um einen Götzen -, dem sie opfern und folgen können. Aaron erlaubt
diese Untreue gegen die Gebote des Herrn und fordert sie auf, ihm ihr Gold zu
geben (2. Moses, 31, 1-6). Von diesem Gold fertigt er über Nacht die goldene
Statue, der die Israeliten am letzten der 40 Tage Brand- und Schlachtopfer
darbringen. Danach stehen sie auf, „um ihre Lust zu treiben" (2. Moses, 32, 6).
Der Allwissende reagiert auf diesen Verstoß nicht weise, sondern Jahwe tobt
auf dem Berg. Voll Zorn über das „halsstarrige" Volk droht er, sich von ihm
abzuwenden, was den sicheren Tod bedeutete, und versucht - als Gott ohne
Volk - Moses zu erpressen, indem er ihm anbietet, ihn (und seinen Stamm)
zum neuen auserwählten Volk zu erheben. In diesem entscheidenden Moment
erweist sich Moses jedoch nicht nur als wahrer Repräsentant seines Volkes,
sondern auch als gelehriger Schüler, der selbst seinen Meister belehren kann.
Moses weist Gott darauf hin, dass kein Volk ihm je wieder vertrauen könnte,
denn kein Gott ist glaubwürdig, der den Fehler begeht, sich erst ein falsches
Volk zu erwählen und es dann fallen zu lassen. Und den Herrn gereut sein
Zorn, er ist bereit zur Vergebung, d.h. zu Verhandlungen (2. Moses 32, 14).
Moses flillt die Aufgabe zu, die Erneuerung des Bundes zu managen.
Der 80 Jahre alte Mann nimmt die zwei großen, schweren Steintafeln und
eilt zum Lager. Dort hört er „Geschrei", nicht wie im Krieg, sondern Geschrei
„wie beim Tanz". Erst hier erfahren Leserin und Leser, dass „ihre Lust zu trei-
ben" tanzen bedeutet. Moses, der weiß, dass der Herr zur Vergebung bereit ist,
holt nun zur Gegeninszenierung aus. Die Liederlichkeit und das Chaos des
Tanzes bieten Moses ein Publikum und eine Bühne für seinen übernatürlichen
Zorn, der ihm die Kraft gibt, die Steintafeln zu zertrümmern und die Statue zu
Staub zu zermalmen (2. Moses 32, 19f.). Außerdem verhängt Moses die Todes-
strafe und 3000 Söhne Israels verlieren ihr Leben, was außer der gerechten
Strafe für den größtmöglichen Fehler, den das Volk begehen konnte, auch die
schockierende Wirkung des dramaturgischen Aktes sicherstellt. Das Volk weiß
nun, in welcher Not es sich befindet. Moses' heiliger Zorn wird so zur gött-
lichen Gabe und er selbst zum Hoffnungsträger des Volkes.
In den folgenden Verhandlungen bringt Moses das Wunder fertig, die Israe-
liten als auserwähltes Volk zu retten und aus ihrer Not zu befreien. Sein Cha-
risma bewährt sich und Moses gewinnt an Autorität vor dem Volk. Insofern
wird das Ende des Tanzes zum Einsetzungsakt des charismatischen Lehrers und
Erziehers, dem das Volk sich nun bereitwillig unterwirft und sich in Demut
vor dem Herrn übt. Dies ist die Voraussetzung für eine geglückte Überbrin-
gung des Textes als schriftliche Absicherung der Worte des Herm. 3 Insofern
unterbricht der Tanz eine mediale Transformation und verdeutlicht vor Gott -
vermittelt durch Moses - die Notwendigkeit zu Geduld und weisem Umgang
mit seinem Volk. Moses' Zorn wiederum führt dem Volk die Notwendigkeit
von Demut und Disziplin vor Augen. Im Zuge der Verhandlungen wird Moses
zum wahren Sohn Gottes, d. h„ er ist nicht mehr nur der Knecht seines Herrn,
sondern Gott erkennt ihn als Freund an und lässt ihn schließlich seine Herrlich-
keit schauen, was auch das Volk auf Moses Antlitz erkennt. 4 In den zweiten
40 Tagen und Nächten, die Moses mit Gott auf dem Berg Sinai verbringt,
schreibt er selbst Gottes Wort nieder und diesmal gelingt die Übergabe und
der Bund wird erneuert. Das Volk hat sich als lernfähig erwiesen.
Der Tanz erfährt seine Bedeutung als Verstoß gegen Gottes Gebote durch
die goldene Statue. Das Verbot einer bildhaften Vorstellung ist bereits durch
das Wort des Herrn festgelegt. Die Statue hatte Aaron gefertigt, erst die rituel-
len Opfer und der Tanz sind selbsttätige Akte des Volks. Der Tanz wird in den
folgenden Jahren von Moses als Ausdruck des größten Ungehorsams des Vol-
kes überliefert und das Tanzen selbst als Ausdruck des Glaubens prinzipiell ver-
dächtig bleiben. In den nächsten 40 Jahren begeht das Volk noch einige und
auch schwere Fehler, aber der göttliche Bund ist niemals wieder infrage gestellt.
Als die Israeliten vor Kanaan stehen, predigt Moses ein letztes Mal zu ihnen.
Er erinnert sie noch einmal an ihren ungeheuerlichen Fehler, preist Gottes Herr-
lichkeit und Weisheit und gemahnt an die Notwendigkeit, dessen Wort zu stu-
dieren (5. Moses, 9, 7ff.). Zur Treue gegenüber den Geboten Gottes wird aus-
drücklich die Liebe zu Gott sowie die Notwendigkeit des Lernens gestellt. Die
vierzigjährige Erziehung der Israeliten durch Moses schuf die Voraussetzung,
um über ein Schriftstudium zu religiösem Gehorsam und zur Liebe in Gott zu
gelangen: die Disposition zur Liebe einer abstrakten Gottheit und zur Teilhabe
an dessen Weisheit. Damit hat Moses seine Aufgabe als charismatischer Päd-
agoge erfüllt. Der Bibeltext lässt den 120jährigen Mann friedlich sterben. 5
Die Schrift ist zum wirksamen pädagogischen Medium geworden, denn das
Volk ist nun prinzipiell fähig, Gottes Willen aus Textlektüre und Textinterpre-
tation zu erfahren und zu überliefern. Dies sichert nach dem Tod des charismati-
schen Führers die Macht der Weisen und Gelehrten, d. h. die Autorität der pries-
terlichen Tradition. Diese allmähliche mediale, pädagogische und politische
Überführung wird durch Moses' heiligen Zorn, der mit dem Tanz eine Bühne
findet, eröffnet. Zudem hat sich das Verhältnis zwischen dem Herrn und seinem
Volk grundlegend verändert: Aus einer Befehlskultur ist eine Lernkultur ge-
worden. Das „halsstarrige" Volk wandelt sich im Laufe der Erziehung durch
Moses nicht lediglich zum gehorsamen Volk, sondern wird zum disziplinierten
und gebildeten Volk. Der Verstoß gegen Gottes Gebot ist demnach nicht nur
ein Skandal, der mit der zu erwartenden Sanktion bestraft wird, sondern aus der
Übertretung einer Norm wird eine Überschreitung des bisherigen Verhältnisses
zwischen Gott und Volk. Der Tanz bietet die Bühne für den dramatischen
Auftakt dieser allmählichen Verschiebung und ist in diesem Sinne ein trans-
gressiver Akt. 6
Das „Gutachten über den Antisemitismus" aus dem Jahr L919 wurde im Auf-
trag militärischer Vorgesetzter erstellt und vom Verfasser „Mit vorzüglicher
Hochachtung, Adolf Hitler" unterzeichnet. 7 Niemand wird erwarten, dass die-
ser Autor der biblischen Überlieferung auch nur annähernd gerecht wird. Zu-
nächst scheint der Verfasser lediglich auf den zeitgenössischen Begriff der
,,Rasse" und auf die zu seiner Zeit übliche Bedeutung des „Tanzes ums goldene
Kalb" als antisemitisches Klischee zu rekurrieren. 8 Bei genauem Hinsehen er-
weist sich die Metapher in diesem „Gutachten" jedoch als zentraler Punkt einer
politisch radikalen Stereotypisierung, die zur Grundlage des nazistischen Re-
präsentationsregimes der Juden als „Rasse" werden wird.
Im „Gutachten" von 1919 werden die Lust und das für die Statue geopferte
Gold der Bibel konsequent aufeinander bezogen und in die Gier nach Geld
umgedeutet. Diese wird zudem zur dauerhaften Störung im Wesen des jüdi-
schen Volkes erklärt: „Bewegt sich schon das Gefühl des Juden im rein Mate-
riellen, so noch mehr sein Denken und Streben. Der Tanz ums goldene Kalb
wird zum erbarmungslosen Kampf um all jene Güter, die nach unserem inne-
ren Gefühl nicht die Höchsten und einzig erstrebenswerten auf dieser Erde
sein sollen." Diese angebliche, moralisch verwerfliche materielle Aspiration
wird ausdrücklich als das entscheidende Wesensmerkmal „des Juden" gesetzt.
Es sind weder ,,Religion" noch ,,Blut", es ist ein unterstelltes ,,Denken und
Streben", das die Juden zu besonderen Fremden unter anderen macht. Das
„Wesen" der jüdischen Bevölkerung wird zu ihrem unabänderlichen Schicksal
naturalisiert und ausgewählte Verhaltensweisen werden auf dieses „Wesen"
hin essentialisiert. 9
Mit dem „Tanz ums goldene Kalb" wird im „Gutachten" ein moralisch ver-
werfliches Profitstreben bezeichnet, aus dem sich die permanente Gefahr ergibt,
dass die Angehörigen dieser besonderen „Rasse" das politische System unter-
wandern, um für sich Privilegien durchzusetzen. Ohne es explizit zu benennen,
beschreibt der Verfasser damit das typisch Parasitäre einer fremden „Rasse",
die zum gefährlichen, moralischen und politischen Feind erhoben wird. Alle
bisherigen Regierungsformen - insbesondere die Demokratie - wären zu
schwach, um sich gegen diesen Feind behaupten. Nur eine „antisemitische
Bewegung", die einem Führer unterstellt ist, wird sich gegen diesen Feind
durchsetzen können. Das politische Programm dieser Bewegung ist im „Gut-
achten" von der Entrechtung mittels „Fremdengesetzgebung" bis zur „Entfer-
nung der Juden überhaupt" vollständig entfaltet. Die „antisemitische Bewe-
gung" unterscheidet sich damit von einem ,,Antisemitismus aus rein gefühls-
mäßigen Gründen", der „seinen letzten Ausdruck in Form von Progromen fin-
den" wird.
Das „Gutachten über den Antisemitismus" ist ein „Gutachten" über die Not-
wendigkeit eines Antisemitismus neuer Qualität. Er trägt als politische Bewe-
gung gegenüber den militärischen Vorgesetzten des späteren Führers explizit
antidemokratischen Charakter und ist ausgerichtet auf die Vernichtung der zur
„Rasse" stereotypisierten jüdischen Bevölkerungsgruppe. Da die Juden im
„Gutachten" zu Statthaltern der Profitgier gemacht werden, ist das zur Mobili-
sierung der Massen in politischen Krisenzeiten zweckmäßige Verständnis als
antikapitalistische Bewegung bereits vorgezeichnet. Sie wird sich dann auch
den Begriff der Nation gegen die angeblich von Juden unterwanderte Demo-
kratie und den Begriff des Sozialismus gegen das der jüdischen Bevölkerung
wesensmäßig und schuldhaft zugeschriebene Kapital aneignen. Für die Reali-
sierung des im „Gutachten" festgeschriebenen Vernichtungsprogramms muss
der Nationalsozialismus neben politischer Herrschaft vor allem Hegemonie er-
langen.
Das „Gutachten" enthält bis auf gnadenlose ökonomische Gier und hinter-
listiges politisches Geschick keine weiteren Hinweise auf angebliche Wesens-
merkmale. Der Verfasser rekurriert mit der Metapher vom „Tanz um das gol-
dene Kalb" auf ein imaginäres Klischee, das nicht mit weiteren spezifischen
antisemitischen Stereotypen verbunden wird. Auch fehlen Attribute, die als
Zeichen einer Disposition eingesetzt werden bzw. mit symbolischer Gewalt
der sozialen Definition als andere „Rasse" konkrete äußere Zeichen zuweisen. IO
Ein Medium, das die Verbindung zwischen äußeren Merkmalen und inneren
Dispositionen dauerhaft sicherstellt und tradiert, ist ebenfalls nicht benannt.
Insofern bleibt die Repräsentation der Juden als „Rasse" im „Gutachten" un-
vollständig und weitere, intensive Diskursproduktion ist notwendig. 11
Das nazistische Repräsentationsregime wird die fehlenden Attribute einer
jüdischen „Rasse" nachreichen, z.B. in Form von Schmähschriften, Zeitungs-
artikeln, Karikaturen, Plakaten und Fotografien, die ebenfalls ein jüdisches
„Wesen" naturalisieren, ,jüdisches" Handeln auf spezifische Verhaltenswei-
sen reduzieren und darüber hinaus den Juden als „Rasse" signifikante Körper-
merkmale zuweisen. Insbesondere die zeitgenössische Anthropologie wird
ihren Beitrag leisten, um Juden auch dann identifizieren zu können, wenn sie
die äußeren rassisierten Merkmale nicht aufweisen. Das ,,Blut" wird den „Tanz
ums goldene Kalb" in seiner Bedeutung für die nazistische diskursive Forma-
tion ergänzen. 12 Zur Propagierung des mit dieser Metapher verbundenen Ste-
reotyps nutzten die faschistischen Machthaber verstärkt Theater und Film. So
erfreute sich Der Kaufmann von Venedig bis 1938 hoher Aufführungszahlen. 13
Ab 1940 verbanden die antisemitischen Filme das Stereotyp des geldgierigen
und verschwörerischen Juden mit den Stereotypen des bindungslosen Kosmo-
politen, des verstockten Frevlers und des lüsternen Parasiten. Am wirksamsten
l 0 Zur sozialen Magie von Anrufungen und Einsetzungen vgl. Bourdieu 1990, S. 84ff.
11 Zur politischen Funktion der Konstruktion von Stereo-Typen im Unterschied zu Sozio-Typen
vgl. Dyer 1986.
12 Die Bedeutung der Metapher für die nazistische Repräsentation ,,rassischer" Differenz war
international so bekannt, dass bspw. die US-amerikanische zionistische Bewegung, die ab
1933 Protestaktionen gegen den Antisemitismus und Unterstützung für die deutschen und eu-
ropäischen Juden organisierte, in ihren regelmäßig vor einem Massenpublikum aufgeführten
Singspielen, die über die jüdische Religion und jüdisches Leben aufklären sollten, auf Szenen
verzichtete, die den biblischen „Tanz ums goldene Kalb" darstellen. Vgl. Fischer-lichte 2005.
13 Vgl. Hirsch/Schuder 1988, S. 65ff.
Der Tanz ums goldene Kalb 285
Am 21. Januar 2004 erscheint eine Meldung aus Israel auf der Internetseite der
Reformierten Nachrichten, 15 in der als Quelle u. a. die dpa angegeben und die
israelische Zeitung Maariv zitiert wird: „ln Anlehnung an den biblischen Tanz
ums goldene Kalb haben Hunderte junge Israeli in der Wüste eine ausgelassene
Party gefeiert. Die überdimensional vergoldete Stier-Statue mit Nasenring war
als Gag auf einer wilden Party in einem Wadi nahe der Ferienmetropole Eilat
am Roten Meer aufgestellt worden." Anschließend wird die religiöse Bedeu-
tung des Tanzes um das goldene Kalb kurz erklärt, um fortzufahren: „Einige
Besucher hätten sich angesichts der symbolträchtigen Gold-Statue bei den
Veranstaltern beschwert, schrieb das Blatt. ,Wir wollten doch nur Spaß auf
einer Party haben und fühlten uns hinterher wie Götzenanbeter in Sodom und
Gomorrha', erzählte ein 35-Jähriger aus Tel Aviv. Einer der Veranstalter sagte,
er verstehe die ganze Aufregung nicht. ,Hier geht es doch letztlich nur um
Kunst und Fantasie', meinte er."
Eilat ist eine bekannte Partymetropole und eine organisierte Party im Wadi
ist keine Seltenheit. Interessant an dieser Meldung ist vor allem, dass sie in Is-
rael Schlagzeilen machte. Offenbar waren die Beschwerden der Teilnehmer so
zahlreich und massiv, dass sich nicht nur die anderen Teilnehmer und Veran-
stalter am Ende verurteilt fühlten, sondern die Party als Zeitungsmeldung zur
Nachricht wurde. Bei aller Vorsicht angesichts der nur kurzen Meldung stellt
sich die Frage, welche Bedeutung die Statue auf der Party gewinnt bzw. wel-
che kulturelle Dynamik dazu führt, dass einige (und nicht nur Partybesucher)
den Spaß nicht verstehen.
Einer der Veranstalter flüchtet zur Rechtfertigung in den Bereich der Kunst
und Phantasie. Eine überdimensionale Stierstatue auf einer Party lässt sich je-
doch eher in den Bereich des Kitsches als in den der Kunst einordnen. Und ein
Nasenring bezeichnet einen von Menschen gebändigten, unterworfenen Stier.
Insofern gehen von der Statue, ihrer Gestaltung und dem Anlass Provokatio-
nen aus, denn die Statue wirkt auf mehreren Ebenen deplatziert und eine wilde
Party deshalb verdächtig. Die Provokation muss für diejenigen, die sich be-
schweren, so groß gewesen sein, dass sie weder ihre Phantasie noch ihre Kom-
promissbereitschaft anregt.
Die Party spaltet die zeitgenössische Ambivalenz des „Tanzes ums goldene
Kalb" auf, interveniert in ihren Bedeutungsgehalt und führt zur Unordnung im
Symbolsystem. Dieser verstörende Faktor wird für diejenigen Teilnehmer wie
für die Journalisten, die sich irritieren lassen, zu einer Provokation des Imagi-
nären. Die Party ruft die Überlieferung eines mythischen Kontinuums auf: die
Erinnerung an den schweren Fehler des von Gott auserwählten Volkes und die
sexuelle Konnotation des Verstoßes gegen Gottes Gebot. Zugleich aber kann
der mit einem Nasenring gebändigte, überdimensionale, kitschige Stier nicht
göttlich sein. Die Anrufung der Phantasie ist daher zweischneidig, sie verstößt
doppelt gegen eine überlieferte Bedeutung und der Verstoß wird entweder zu-
viel oder nicht mehr einsichtig. Der Partywitz zündet nicht, sondern die kitschige
Stierstatue mit Nasenring verdirbt den Spaß.
Die Zeitungsmeldung beschreibt einen Akt des Einbruchs ins Imaginäre,
der das Einverständnis zur Party auseinander brechen lässt. Die Beschwerden
und die Zeitungsmeldung zeigen, dass diese Party nicht zum transgressiven
oder geglückten Akt einer Verwischung von Grenzlinien wird. Während solche
Akte inzwischen gern als hybrid bezeichnet werden, wird hier darauf rekurriert,
dass Deplatzierung und die Aufspaltung von Ambivalenz, das damit verbun-
dene Aufbrechen von Grenzlinien und die Heimsuchung des Imaginären Merk-
male von Hybridität sind. 16 In diesem Sinn kann die Party als hybrider Akt be-
zeichnet werden, bestätigt durch ihren Eingang in die Nachrichten, auch wenn
die Grenzen sich hier auf Aspekte der kulturellen Identität unter Gleichen be-
ziehen und die Differenz zum Anderen der israelischen Gesellschaft nur im
Ort- dem verlassenen Wadi - präsent ist und von der Party nicht berührt wird.
16 Hybriditlit wird von Homi Bhabha aus postkolonialer Perspektive auf den Umstand bezogen,
dass der Ort, von dem aus Differenz besetzt wird, nicht fixiert ist bzw. dass Differenz nicht
lediglich von politischen Autoritäten gesetzt, sondern performativ hergestellt wird. Vgl. Bha-
bha 2001, S. 3ff. Zu Aspekten der Deplatzierung und des Unheimlichen vgl. ebd„ S. 13tf. Zur
Kritik an der deutschsprachigen Rezeption des Begriffs der Hybriditllt vgl. Ha 2004.
Der Tanz ums goldene Kalb 287
über die Dynamik kultureller Grenzen, ihrer Aufführung und Verschiebung in-
nerhalb kultureller Kontexte, literarischer Texte und künstlerischer Praktiken
zu gewinnen sind, wenn die drei Begrifflichkeiten als Analysekategorien auf-
einander bezogen werden.
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Weber, Max: Schriften zur Soziologie. Stuttgart 1995.
Danilyn Rutherford
Mein Dank gilt Amaya Wang und Lucia Ruprecht, außerdem Gabriele Brandstetter und
Christoph Wulf.
2 Nach der Lektüre von Webb Keanes außerordentlicher Studie von Sumba bspw. würde man
niemals annehmen, dass das Tanzen Teil von Szenen der Begegnung war, die er beschreibt.
Vgl. Keane 1997.
3 Vgl. Ranger 1975; siehe auch Mitchell 1956.
Der Tanz, Durkheim und das Fremde 289
nimmt. Früher bekannt als Irian Jaya, ist die Provinz heute offiziell als Papua
bekannt; von papuanischen Separatisten und ihren Anhängern, die das Territo-
rium gern als unabhängigen Nationalstaat sehen würden, wird sie West-Papua
genannt. Ich untersuche, wie meine Arbeiten über das Wiederaufleben eines
einheimischen Performance-Genres - bekannt als Wor - zunächst in der Aus-
einandersetzung mit den Auswirkungen der Transfonnation eines ursprünglich
als Gesangsstil bekannten Genres zu einem Tanz scheiterten. Ich versuche
dann mittels eines Streifzugs durch das Werk des Vorgängers unserer Diszi-
plin, Emile Durkheim, in diesem Übersehen einen Sinn zu finden. Exempla-
risch für eine viel umfangreichere Reihe von Annahmen, die weniger die so-
ziale Natur des Tanzes betreffen, sehe ich in Durkheims Beschreibung der
Rolle sich rhythmisch bewegender Körper bei der Entstehung von Religion
und Gesellschaft einen möglichen Ursprung einerseits für das Unbehagen, das
der Tanz gegenwärtigen Anthropologen verursacht hat, andererseits für seine
Anziehungskraft auf diejenigen, die auf der Suche nach Zeichen kultureller
Authentizität sind. Allerdings ist meine Lektüre von Durkheim auch versöhn-
lich. Ich zeige, wie Durkheims Ansatz vielversprechende anthropologische
Betrachtungen menschlicher Bewegung vorwegnimmt und die ambivalente
Wirkung erforscht, die vom Tänzer erfahren wird, dessen Körper gleichzeitig
Instrument und Ausführender ist, ein unsichtbares Werkzeug und ein alternati-
ves „lch". 4 Am Ende meiner Ausführungen betrachte ich, was die Lektüre von
Durkheim uns über die Rolle des Tanzes in nationalistischen Inszenierungen
West-Papuas sagen könnte. Was bei Durkheim implizit ist, wird in West-Papua
explizit. Während Durkheim uns dahin führt, sich dem Tanz als Gegenstand
spontaner Aufwallung eines momentanen Gefühls zu nähern, bezieht der Tanz
in West-Papua immer den sozialen Anderen mit ein. Tanz entfaltet sich immer
unter den Augen eines entfernten Publikums, dem die Kraft zugeschrieben
wird, die einheimische Szene zu verwandeln.
Durkheims Tanz bietet uns einen besonders fruchtbaren Grund, die Fremd-
heit in unserem eigenen Inneren zu erforschen. Dasselbe könnte man über
West-Papua sagen. Meine Abhandlung über den Einfluss entfernter Zuschauer
in der nationalistischen Bewegung West-Papuas gründet sich auf meine frühe-
ren Forschungen über die Bedeutung des Fremden als Quelle der Identität,
Autorität und Freude in Biak. 5 Was ich eine Fetischisierung des fremden ge-
nannt habe, bewahrte die Menschen in Biak davor, die ihnen von Außenste-
henden zugewiesenen Identitäten zu internalisieren. Die Biaks versuchten lie-
ber, Ausländer zu werden, als sich selbst durch die Augen von Ausländern zu
sehen; je mehr die Biaks dem Fremden folgten, desto mehr hielten sie sich die
Außenstehenden vom Leibe. Wie die folgende Diskussion zeigen soll, haben
sowohl Tanz als auch Gesang die Biaks befähigt, sich fremde Macht anzueig-
nen - und fremde Herrschaft zu untergraben. In diesem Sinne bestätigt das,
was wir in Biak finden, Durkheims Einsichten und gibt ihnen darüber hinaus
eine bedeutsame Wendung. Durkheim lehrt uns, dass „die Gesellschaft", um
existieren zu können, sich selbst in der verfremdeten Form eines materiellen
Zeichens repräsentieren muss: im Totemzeichen. Praktiken der Biaks zeigen
uns, dass der Tanz gleichermaßen ein effektives Medium für die Repräsenta-
tion verfremdeter Formen gesellschaftlicher Macht zur Verfügung stellt. Diese
Erkenntnis sollte uns nicht nur dazu führen, die Rolle des Tanzes in den von
uns studierten Gesellschaften zu überdenken, sondern auch in Frage zu stellen,
ob wir vollständig gelernt haben, den verkörperten und in ambivalenter Weise
verfremdeten Charakter aller gesellschaftlichen Praktiken wertzuschätzen.
Aber bevor ich mich diesen Punkten zuwende, komme ich auf ein früheres
Rätsel zurück, in dem es um Authentizität und Vögel geht.
Abb. 1
Der Tanz, Durkheim und das fremde 291
Kurz nachdem ich 1994 meine Feldforschungen in Biak beendet hatte, las ich
einen Artikel in Anthropology Today, der geradezu ein Geschenk war, da er
meinen Schriften über die Politik und Kultur in der Regentschaft Starthilfe
gab. 6 Mike Hitchcock erörterte Darstellungen regionaler Kultur in einer Reihe
von Schultexten, die im Auftrag der indonesischen Regierung geschrieben
worden waren und fragte, nachdem er die Photographie eines irianesischen
Paares beschrieben hatte, das „traditionelle" Trachten trug, ob jemand, der tat-
sächlich in der Provinz gewesen war, ihm sagen könnte, ob die Einwohner
wirklich Vögel auf ihren Köpfen trugen.
Die Tänzer waren mit den Federn von Paradiesvögeln geschmückt (Abb. 1),
und die westindonesischen Schulkinder fanden diese Aufmachung offensicht-
lich amüsant. Auf eine produktive Weise fand ich Hitchcocks Frage amüsant.
Sie brachte mich dazu, über die offiziellen Bemühungen nachzudenken, eine
„authentische" Identität der Biaks zu beschreiben, die in eine vom autoritären
New-Order-Staat gefürderte, kulturelle Topographie einbezogen werden kann.
Wie das Poster mit dem Titel „Einheit in der Vielfalt" (Abb. 2) veranschau-
licht, wird mit dieser Topographie eine homogene Ordnung von organisierten
kulturellen Unterschieden postuliert.
MtlttttMttttfttl
Abb. 2
Auf dem Poster zeigen traditionelle Paare ein Wahrzeichen für jede der Pro-
vinzen Indonesiens. In ähnlicher Weise wurden bei offiziellen Ereignissen und
Veröffentlichungen jeder Provinz und Region ihr eigenes traditionelles Haus
und ihr „Willkomrnenstanz" zugeordnet, der zur Begrüßung von Würdenträ-
gern, die zu Besuch kamen, diente.
Abb. 3
Bewohner von Irian Jaya stellten eine besondere Herausforderung für diese
Ordnung dar. Die Niederlande hatten das Territorium als separate Kolonie zu-
rückbehalten, nachdem der Rest von Niederländisch-Indien als Indonesien Un-
abhängigkeit erlangt hatte. 7 Die Holländer legitimierten ihre Ansprüche auf
dieses angebliche „Steinzeit"-Land mit dem Argument, dass die primitiven
„melanesischen" Bewohner des Territoriums, anders als die „asiatischen" Völ-
ker westlich von ihnen, eine längere Zeit holländischer Vormundschaft bräuch-
ten, bevor sie in der Lage wären, sich selbst zu regieren. Nachdem die Nieder-
lande das Territorium an Indonesien abgetreten hatte, entstand eine sporadi-
sche, aber beharrliche Unabhängigkeitsbewegung West-Papuas, gegen die das
indonesische Militär hart vorging. Wohl hießen die Einwohner der neuen Pro-
vinz ihre indonesischen Herrscher „willkommen", aber nur unter Zwang. Als
meine Feldforschungen begannen, hatte sich die Aktivität der Separatisten ge-
legt und die indonesische Regierung schien willens, Elemente „melanesischer"
7 Zur Geschichte von West-Neuguinea vgl. Lijphart 1966; Osbome 1985; Saltford 2002.
Der Tanz, Durkheim und das fremde 293
Abb. 4
2. Wor
Zum ersten Mal begegnete mir der Wor im Oktober 1992 in Nord-Biak. In der
Nacht zuvor war ich stundenlang durch die Dunkelheit gelaufen, um den Küs-
tenort zu erreichen. in dem ich bleiben sollte, während ich nach möglichen
Forschungsorten suchte. Nach einem Treffen mit dem Frauenverband in einer
nahe gelegenen Kirchengemeinde geleiteten mich die Vorsitzende des Ver-
bandes und ein Diakon zusammen mit anderen Gemeindemitgliedern zum
Strand, um die Ruinen eines Alliiertencamps zu besuchen. Nachdem wir um
eine Ecke gebogen waren, trafen wir auf einen alten Mann mit einem Lenden-
schurz, der anfing ein Lied zu singen. das langsam und für mich unverständ-
lich war. Er starrte mir in die Augen und wiederholte die Verse zum Schlag
der Trommel und der zitternden Begleitung von zwei Freunden. Viele Monate
später bekam ich schließlich eine Transkription des Liedes. Zum damaligen
Zeitpunkt sagte man mir nur, dass es die dortige Geschichte nacherzählte und
mich an dem Ort „wieder willkommen hieß".
Ich war erstaunt, als ich herausfand. dass der Wor mich in Biak erwartete.
Ich hatte über ihn in Berichten des Koreri gelesen, einer messianischen Bewe-
gung, die während der Kolonialzeit plötzlich wiederholt in der Gegend auf-
tauchte, L939 in höchst dramatischer Weise. 8 Beim Aufstand von 1939 ver-
sammelten sich Tausende von Menschen, um den „Itchy Old Man" zu sehen,
den Ahnen von Biak, von dem man glaubte, er hätte im Ausland Wohlstand
und Macht geschaffen. Zeugen beschrieben, wie der Rhythmus der Trommel
die Anhänger in einen Zustand der Ekstase versetzte, während sie sangen und
tanzten, um die Ankunft des neuen Zeitalters zu beschleunigen. Die „Unru-
hen" endeten schließlich 1943, nachdem japanische Truppen das Feuer auf die
Gläubigen eröffneten, was Hunderte Biaks das Leben kostete. 1992 gab es
immer noch die Assoziation von Wor mit Koreri - und Koreri mit Politik -
unter den älteren Biaks, die sich noch an eine Zeit erinnerten, in der sie wegen
unerlaubten Singens aus einer Gemeinde ausgestoßen oder ins Gefängnis ge-
steckt werden konnten. Viele Menschen assoziierten das Genre mit papuani-
schem Nationalismus. Sie neigten dazu, von Wor als einer verbotenen Waffe
zu sprechen, etwas Geflihrlichem, Mächtigem und Seltenem.
Wie man mir oftmals bei der Aufnahme von Liedern gesagt hatte, kann
,,nicht jeder Beliebige" Wor singen. Wie die Älteren stets betonten, war das
nicht von jeher so. War in der jüngsten Vergangenheit der Wor tabu, so konnte
ihn in der ferneren Vergangenheit jeder singen. Das Wort wor bezeichnete
damals drei untrennbare Festaktivitäten der Biaks: Singen, Tanzen und Feiern.
Ebenso wie der Party-Yospan wurde der Wor von den Familienangehörigen
der Gastgeberin gesungen, die die Nacht damit zubrachten, in einer Gruppe
über die Tanzfläche zu wirbeln. An vorderster Front waren zwei junge Män-
ner, die mit ihren Trommeln sprangen, stießen, schoben und abwehrten, wäh-
rend sie einen kraftvollen Takt schlugen. Hinter ihnen kamen andere Trommler,
dann ein Grüppchen männlicher Sänger, das sich allmählich verkleinerte, und
dann Frauen, die den Abschluss bildeten. Die Männer vorne tanzten einen
Männerschritt, bekannt als mas; die Frauen im Hintergrund tanzten den Frauen-
schritt .fier, bei dem sie mit den Fersen ihr Gesäß berührten. Wie beim Yospan
kam am Schluss gelegentlich ein Clown.
Beim Wor war nicht der mehr oder weniger einheitliche Tanzstil entschei-
dend, sondern die Lieder. Erfahrene Sänger kannten unzählige Arten von
ihnen, die sich in Melodie, Rhythmus oder gesellschaftlicher Funktion unter-
schieden. Die Menschen sangen bestimmte Arten des Wor zur See, bei beson-
deren Opfergaben oder wenn sie allein waren. Wenn ältere Menschen den
Wor sangen, wetteiferten ihre einzelnen Stimmen spielerisch miteinander.
Jeder Wor ist in eine „Spitze" und einen „Stamm" unterteilt. Eine einzelne
Stimme begann zum Beispiel ein neues Lied, und dann antwortete eine zweite
Stimme der ersten. Andere Sänger folgten schnell und bildeten einander ge-
genüberstehende Einheiten. Die Trommler nahmen den Rhythmus auf und die
Lautstärke nahm zu, je mehr Sänger die Texte lernten. Innerhalb jeder Gruppe
wählten einzelne ihre eigene Tonlage und stimmten in den Chor mit ein, wie
es ihnen gefiel, und variierten die Melodie auf dramatische Weise, bevor sie
jede Zeile einstimmig beendeten. Das Lied hatte keine Hauptstimme, und je-
der Sänger variierte die Melodie in dem Versuch, sich von den anderen abzu-
heben. Ebenso versuchte jeder Chor, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu
296 Danilyn Rutherford
stehen, und die Stamm-Sänger begannen ihren Vers, bevor die Spitzen-Sänger
fertig waren, und dann konterten die Spitzen-Sänger, um sich das Lied zurück-
zuerobern. Das Ergebnis war eine „Heterophonie", eine reiche Mischung aus
Tonlagen, Phrasierungen und Lautstärken, die nebeneinanderher in der Struk-
tur eines einzelnen Liedes erklangen.
Wenn sie im Höchstmaß heterophon war, konnte Wor-Musik für das west-
liche Ohr befremdlich klingen. Der volle Genuss des Genres war den Mitglie-
dern der Biak-Sprachwelt vorbehalten. Die Wor-Dichtung verwendet eine
Ausdrucksweise, die ausgefeilt und voller Anspielungen ist, verschleiert in
einer Komplexität archaischer und veränderter Begriffe. Das Lied, das ich am
Strand gehört habe, war alles andere als unüblich, denn die Biaks bestanden
darauf, dass im New-Order-Wor die Komposition nicht länger zu zählen
schien. Und auch die Heterophonie nicht. Ich fragte einen Hochschulabsolven-
ten, der in der Jury eines nationalen Literacy Day Contes/ war, nach den Krite-
rien, die für die Auswahl von Gewinnern herangezogen werden. Die Trachten
und die ,,harmonische Zusammenarbeit" der Teilnehmer standen ganz oben
auf seiner Liste. Nicht ein einziges Mal erwähnte er die Musik, außer um die
Kategorien aufzustellen, in denen jede Gruppe singen musste.
Die Geschichte von Y ospan und Wor endete in einem offenkundigen Sieg
für das Poster. Durch das Eintauschen des domestizierten Y ospans gegen den
domestizierten Wor dienten die Autoritäten der Sache der „Einheit in der Viel-
falt". Ihr Erfolg kann auf die unterschiedlichen Stärken des Genres zurückge-
führt werden. Wo der Yospan eine visuelle Poetik der Überraschung anbot,
verwandelte der Wor unerwartete Begegnungen in gesungene Texte. In einer
Umkehrung, die weniger ironisch ist als sie klingen mag, ist die „Oralität" des
Wor, die verschleiert und schwer fassbar ist, das, was sie zum wirkungsvollen
visuellen Wegweiser macht. Das veränderliche Gesicht des Fremden legten
die Darsteller des Worin ihre gesungenen Texte hinein, nicht in die körperli-
chen Bewegungen, die sie begleiteten, und die mit der Zeit so gut wie unver-
ändert blieben. Aus diesem Grund bietet der New-Order-Wor dem indonesi-
schen Nationalismus unerschrocken die Stirn.
Aber es scheint mir wert, sich nicht nur darüber Gedanken zu machen, wie
diese Transformation den Wor domestiziert hat, indem sie seine visuellen
Merkmale hochgespielt hat, sondern ebenso darüber, wie sie dem Tanz einen
besonderen Status gegeben hat. Foucault hat uns beigebracht, auf die Diszipli-
narmaßnahmen zu achten, die die ,,Körper" in den „Seelen" gefangen halten,
und natürlich spiegelten die drillähnlichen Proben des Wor die Ordnungsbe-
sessenheit der Autoritäten wider. Aber Disziplin allein erschöpft nicht den
Charakter der beiden Biak-Genres. Was wäre, wenn die Art, Wor und Yospan
zu tanzen, die beiden Genres zu überzeugenden Wahrzeichen einheimischer
Identität gemacht hat? Um diese Frage zu untersuchen, möchte ich in die Ver-
gangenheit unserer Disziplin und zu derem Vorfahren zurückgehen.
Der Tanz, Durkheim und das Fremde 297
Es war nicht einzig der Freude am Erzählen von Eigenarten und Besonder-
heiten wegen, dass Durkheim sich den Aborigines in Australien zuwandte, um
Beweise für seine Theorie über die gesellschaftlichen Ursprünge von Religion
und Wissenschaft zu finden, die er in Elementary Forms of the Religious Life
entwickelte. Durkheim bemühte sich, in seiner „positiven Wissenschaft" der
Gesellschaft die „eigentliche Realität" des „Menschen von heute" zu beleuch-
ten, indem er Licht auf seine „religiöse Natur" warf. 9 Religion war ein „we-
sentlicher und dauerhafter Aspekt" der Menschheit, aus der sich die apriori-
schen Kategorien der Zeit, des Raums und der Kausalität ableiteten, durch wel-
che wir die Welt wahrnehmen. Die Phänomene, die Durkheim in Australien
beobachtete, lebten in Europa weiter: im ,,kollektiven Überschäumen" moder-
ner politischer Revolutionen und in der kultischen Verehrung von National-
flaggen. Aber im Laufe der Zeit fielen bestimmte Aspekte der grundlegenden
Form weg. Der moderne Mensch betet vielleicht Totems an, aber er tanzt nicht.
Oder besser gesagt, wenn er doch tanzt, repräsentiert diese Aktivität nicht
mehr als ein „Überbleibsel", ganz ähnlich den Formen des Aberglaubens, die
übrig bleiben, wenn sie aus ihrer heiligen Verankerung gelöst sind, nachdem
°
moderne Gesetze Tabus ersetzen. 1 Für die gesellschaftliche Ordnung nicht
bedeutsamer als das Vermeiden von schwarzen Katzen, mag der Tanz als
Kunstform oder zur Erholung dienen, in beiden Fällen ist er von den Orten
verbannt, an denen sich die Gesellschaft fortpflanzt.
Um Menschen auf authentische Weise in der Gesellschaft tanzen zu sehen,
muss Durkheim zum Corroboree und anderen Ritualen der Aborigines reisen.
Es ist eine vertraute These, dass Durkheim zeigen wollte, dass Religion nicht
eine „unerklärliche Wahnvorstellung", sondern vielmehr „in der Realität ver-
ankert" ist. 11 Im Falle der Aborigines gründet sich diese Realität einerseits auf
Tatsachen der Demographie und des Lebensunterhalts, andererseits auf die
,,rudimentäre Intelligenz" und angeborene Erregbarkeit der Angehörigen dieser
primitiven Stämme. Gelangweilt von den Mühen des Jagens und Sammelns,
lechzt der typische Aborigine nach Aufregung:
Er erhält gute Nachrichten? Sofort sind da Ausbrüche von Enthusiasmus. In der entge-
gengesetzten Situation sieht man ihn wie einen Verrückten hierhin und dorthin rennen
und er gibt sich allen möglichen übertriebenen Bewegungen hin, schreit, kreischt, wälzt
sich im Schmutz, wirft ihn in jede Richtung, beißt sich selber, fuchtelt wild mit seinen
Armen umher usw. 12
Wenn sich der Clan zu Riten und Feiern versammelt, wird es richtig wild.
9 Siehe Durkheim 1915, S. 13. (Übers. a. d Engl. hier und im Folgenden Comelia Brabant).
10 Siehe Durkheim 1984, S. 26.
11 Durkheim 1915, S. 246.
12 Ebd.
298 Danilyn Rutherford
Es entsteht eine Art Elektrizität durch ihr Zusammensein, was sie schnell zu einem
außerordentlichen Maß an Begeisterung führt Jedes zum Ausdruck gebrachte Gefühl
findet widerstandslos seinen Platz in allen Köpfen, die für Eindrücke von außen sehr
offen sind; jeder ist ein Widerhall für die Anderen, und die Anderen für ihn. So setzt sich
der ursptilnglicbe Impuls fort und wird dabei immer größer, wie eine Lawine, die ins
Rollen kommt.13
Man beachte die Logik: ,.Ein geordneter Tumult bleibt ein Tumult". Auf eine
sonderbar befangene Art bietet die Ekstase, wenn sie sich eingebürgert hat,
Ressourcen, um schließlich über sich selbst hinauszugehen; jedoch lässt man
auch an diesem Punkt der Einführung einer „Regulierung" die Natur nicht
ganz hinter sich. Das Tanzen führt zu Promiskuität. 15 Aber es führt auch zu
gesellschaftlicher Ordnung, die ein „geordneter Tumult" andeutet, wenn auch
nicht ganz erreicht. Das führt uns zum Totem, einem „Emblem", das ein Tier
oder eine Pflanze darstellt, die als Ahne der Gruppe erwählt wurde - eine hei-
lige Figur, die die Grundlage für eine moralische Ordnung schaffi und die Ka-
tegorien, die die natürliche und gesellschaftliche Welt organisieren. Als „Un-
terstützung", die unter der „idealen Infrastruktur" der Gefühle verschwindet,
die es repräsentiert, symbolisiert das Totemzeichen den Clan und bildet ihn
gleichzeitig. 16
Es ist ein bekanntes Gesetz, dass die Gefühle, die in uns hervorgerufen werden, sich
spontan an das Symbol heften, welches für sie steht. Diese Verknüpfung ist deutlicher
und vollständiger, wenn das Symbol ein einfaches, eindeutiges uod leicht darzustellen-
des ist, während der Auslöser selbst, aufgrund seiner Dimensionen, der Anzahl seiner
einzelnen Komponenten und der Komplellität ihrer Zusammensetzung schwer im Be-
wusstsein zu halten ist. Denn wir sind nicht in der Lage, eine abstrakte Einheit, die wir
nur mühsam und verworren darstellen können, als Quelle unserer starken Gefühle zu
betrachten. Wir können sie uns nicht erklären, außer in Verbindung mit einem konkreten
Objekt, dessen Realität wir uos lebhaft bewusst sind. Dies ist es, was geliebt, gefürchtet,
respektiert wird; diesem gegenüber sind wir dankbar, dafür opfern wir uos selbst. Der
Soldat, der für die Flagge stirbt, stirbt für sein Land; aber in Wirklichkeit, in seinem ei-
genen Bewusstsein, ist es die Flagge, die an erster Stelle steht. 17
Der tanzende Aborigine kann im Zustand größter Nähe zur „abstrakten Einheit",
die das Kollektiv ist, diese Erfahrung nur begrifflich erfassen, indem er den
„tatsächlichen" Ursprung dieser Energie nach außen richtet. Dieser Ursprung
liegt in der nackten Tatsache der gemeinsamen Präsenz in den regelmäßigen
„Versammlungen" der Einzelnen, die auf einmal an der gesteigert wirkenden
Kraft der Gruppe teilhaben. Der Aborigine assoziiert die Erfahrung, „außerhalb
seiner selbst" zu sein, mit einem Objekt außerhalb seines Körpers: mit dem
Totem, dessen Bild künftig die Kraft des kollektiven Gefühls aufrechterhält
und wiederbelebt. Diese Kraft entsteht im Tanz, scheint Durkheim uns sagen
zu wollen. Gedanken, die sich gemeinsam bewegen, werden in Körper über-
setzt, die sich gemeinsam bewegen, und analog der Frage nach Henne oder Ei
bleibt unentschieden, ob das „Gefühl" seinen Anfang im Gehirn oder in den
Lenden und Füßen nimmt. Aber im Verlauf der weiteren Diskussion fällt der
Tanz bei Durkheim weg; als „Gegenstand an sich" ist er zu „abstrakt", um als
„anerkannte Basis für das wahrgenommene Gefühl" zu dienen, dass sich als
„komplexe" Erfahrung nicht auf das Tanzen, sondern auf die Dazugehörigkeit
zum Land oder zum Clan bezieht. 18 Obwohl die „homogenen Bewegungen"
tanzender Körper ideal wären, um dem Clan ein „Bewusstsein seiner selbst"
zu geben und ihn „folglich existieren zu lassen", kann der Tanz niemals als ein
dauerhaftes Zeichen der Gesellschaft dienen; menschliche Bewegung kann
niemals als Totemzeichen fungieren. 19 Das kollektive Gefühl kann nur andau-
ern, wenn es in einer materiellen Form sicher behütet wird, die realer und
fremder ist als die tanzenden Körper. Der Tanz ist einfach zu vertraut.
Durkheims spezielle Definition der Gesellschaft beruht auf der Unterschei-
dung von „individueller Natur" und dem, was im gesellschaftlichen Leben Be-
stand hat. Das Weglassen des Tanzes basiert auf der Dichotomie seines Reli-
gionsmodells: auf dem Gegensatz zwischen Profanem und Heiligem, der im
Verlauf des Buches zwar postuliert, jedoch wiederholt verschleiert wird. 20
Manchmal bringt Durkheim das Profane mit der alltäglichen Welt in Verbin-
dung, in der die Einzelnen ihre materiellen Interessen verfolgen. 21 Aber seine
Erörterung der Seele erschwert uns die Vorstellung der Vertreter dieser Inter-
essen, da er am Modell eines menschlichen Subjekts festhält, in dem das
18 Ebd.
19 Ebd., S. 263.
20 Man sieht Durkheim darum kämpfen, diese Grenze durch sein ganzes Buch aufrechtzuerhalten.
In einigen Fällen wird das Profane mit dem „Instinktiven" assoziiert. Und doch sind scheinbar
,,natürliche" Triebe nach Durkheim für die zentrale Dynamik ritueller Aktion entscheidend.
Man denke nicht nur an das „natürliche" Verlangen von Stammesangehörigen, das Totem mit
Gesten und Worten zu repräsentieren, wenn sie einander treffen - ein Bedürfnis, das zur Aus-
sage „Gleiches bewirkt Gleiches" führt, einer zentralen Komponente der apriorischen Kate-
gorie der Kausalität. Man denke auch an die Momente, in denen die Erfahrung des Sozialen
sexuelle Begierde eher auslöst, als sie einzuschränken. In einigen Fällen wird das Profane mit
der alltäglichen Welt assoziiert, in der es um die „maximierende" Verfolgung individueller
Interessen geht.
21 Ebd., S. 390.
300 Danilyn Rutherford
Trotzdem muss man sich daran erinnern, dass „unsere individuelle Natur" für
Durkheim eine zentrale Stellung in der Struktur des Sozialen einnimmt. In der
Corroboree-Szene sind es die „fundamentalen Neigungen und Instinkte", die
ihre „überschäumende" Reaktion auf ihr eigenes Zusammenkommen anheizen.
Aus diesen „natürlichen" Quellen entstehen Ekstase und Rhythmus, Gesang
und Sexualität. Für Durkheim sind Körper, die sich bewegen, gleichzeitig Re-
präsentation und Gefüß der Gesellschaft. Der Ursprung der Gesellschaft und
die „Realität" hängen vom menschlichen „Agieren" ab, das in der Natur be-
gründet ist und in bestimmten Momenten und an bestimmten Orten ausfindig
gemacht werden kann. Es ist nicht einfach konzeptuelle Nachlässigkeit, die in
Durkheims Text Verwirrung stiftet; eher scheint diese Nachlässigkeit eine not-
wendige Komponente in Durkheims Vorhaben zu sein, die konzeptuellen Be-
dingungen für eine Wissenschaft zu erschaffen, die gesellschaftliche ,,Fakten"
isolieren kann. Das „Gefühl" muss echt genug sein, um zwischen den Zusam-
menkünften des Stammes zu erodieren; der „Rhythmus" des gesellschaftlichen
Lebens formt sich nach dem Vorbild des Kosmos und ist gleichzeitig abhängig
von physikalischen Kräften, einschließlich der Entropie und der Trägheit. Die-
ser notwendige Abstand zwischen dem Profanen und dem Heiligen findet sei-
nen deutlichsten Ausdruck in Durkheims Behandlung des Tanzes, die an dem
Punkt gefangen bleibt, an dem Natur und Gesellschaft aufeinander treffen. In
seiner Diskussion über ,,nachahmende Riten" besteht Durkheim darauf, dass
Gesten ein „nicht weniger natürliches" Ausdrucksmittel gemeinsamer Gedan-
ken sind als Worte; sie „platzen genauso spontan aus dem Organismus her-
22 Ebd., S. 305.
23 All dies wird weiter verkompliziert durch Durkheims Hinweis, nach welchem die Aborigines
darauf bestehen, dass die Körper der Vorfahren in materieller Fonn an ihre Nachkommen
weitergegeben werden. Vgl. ebd„ S. 286.
24 Ebd„ S. 237.
Der Tanz, Durkheim und das fremde 301
aus". 25 Dennoch können solche Gesten, wie wir gesehen haben, soziale Identi-
täten nicht in nachhaltiger Weise versachlichen. Die Gesellschaft braucht
menschliche - vor allem tanzende - Körper, die sie jedoch ebenso zurücklas-
sen muss.
Durkheim beschreibt den Tanz in einer Art und Weise, die ihn sinnbildlich
für das Soziale sein lässt - um ihn dann zu ignorieren, sobald das „wirkliche"
Totem in Sicht kommt. 26 Durkheims Portrait vom Tanzen als „kollektiver Ef-
ferveszenz" hat sich für seine Nachkommen als peinlich erwiesen, so sehr sie
seine Abhandlung über den kollektiven Ursprung von Werten und Ideen gut-
geheißen haben. Für Mauss bezieht die Kraft, die in heiligen und magischen
Dingen konzentriert ist, ihre Stärke aus der Konvention und nicht aus der Ver-
bindung von Körpern, die sich gemeinsam bewegen. 27 Für Levi-Strauss wurde
diese Kraft zur rätselhaften Gestalt des „fließenden Signifikanten", einer Re-
präsentation der Symbolkraft, die das System negativer Unterscheidungen ver-
ankert, indem sie Sprache und gesellschaftliches Leben strukturiert. 28 Die Vor-
lesung von Mauss über „Techniken des Körpers" scheint gegen diese Tendenz
anzugehen, indem für die Formbarkeit des menschlichen Habitus alles heran-
gezogen wird - vom Schwimmstil der Menschen bis zu ihrer Art, miteinander
zu schlafen. Damit veranschaulicht Mauss, wie individuelle Körper durch die
Gesellschaft geformt werden, nicht jedoch, wie die Gesellschaft durch Prakti-
ken der Verkörperung geformt wird. Im Gegensatz dazu benutzte Durkheim
den Tanz, um sich mit der Herausforderung auseinanderzusetzen, die Gesell-
schaft aus der Natur abzuleiten. Durkheims Tanz verweilt in einem dazwischen
liegenden Moment, in dem Menschen dem Sozialen nahe kommen, ohne völ-
lig dem Griff der Natur zu entfliehen. Wir mögen Durkheims Erben sein, aber
wir machen uns weitaus weniger Gedanken über die natürlichen Ursprünge
der Gesellschaft als er, und sein Einsatz des Tanzes kommt uns bizarr vor. So-
gar Gelehrte, die den Tanz und die menschliche Bewegung als ein allgemeines
Objekt der Analyse ernst genommen haben, zitieren nur selten die Passagen,
die ich diskutiert habe.
Was aber wäre, wenn wir Durkheims Formulierungen dahingehend verbes-
serten, davon auszugehen, dass die menschliche Bewegung als Totemzeichen
funktionieren könnte? Wie würde diese Wiedergutmachung dazu beitragen,
die Erfahrung menschlicher Verkörperung, die dem Tanz immanent ist, be-
grifflich zu erfassen? Ein solcher Vorstoß könnte uns helfen, die beständige
Annahme zu erklären, dass etwas sowohl Prä-Soziales als auch im höchsten
Sinne Soziales vor sich geht, wenn Körper sich gemeinsam bewegen. Indem
indonesische Amtspersonen und andere kulturelle Vermittler den Tanz als
Emblem fungieren lassen und Trachten zum Leben erwecken, kehren sie die
25 Ebd., S.40lf.
26 Ebenso verlässt Hegel die tanzenden Körper Afrikas, wenn er sich Orten mit „Geschichte, zu
Recht so genannt" zuwendet (1822, S. 99).
27 Mauss 1972.
28 Levi-Strauss 1950.
302 Danilyn Rutherford
31 Rutherford, o. J.
32 Ebd.
304 Danilyn Rutherford
5. Schlussbetrachtung
In der Geschichte vom Wiederaufleben des Wor finden wir einerseits Themen
vor, die für Biak charakteristisch sind, andererseits Probleme, die viel weiter
verbreitet sind. Biaks schnelle Adaption der Faszination Außenstehender für
das Genre reflektiert die Aufwertung des fremden, die für so viele ihrer Prak-
tiken zentral war. Eine ähnliche Aufwertung zeigt sich in der Annahme, dass
es so etwas wie einen authentischen „Willkommenstanz" geben könnte. Das
Authentische zu verkörpern, heißt immer, sich selbst aus der Perspektive von
Außenstehenden zu sehen. Aber die Übernahme dieser Perspektive ist niemals
problemlos; es bleibt ein Nachgeschmack des fremden bestehen, der auf die
„traditionellste" der Erfahrungen folgt, sobald „Tradition" als solche konzep-
tionalisiert ist. Es ist nicht nur der Reiz einer authentischen Identität, auf den
die Einwohner von West-Papua reagieren, wenn sie Trachten anziehen und
tanzen; es ist ebenso der Reiz, sich eine fremde Sichtweise anzueignen. Ab-
schließend möchte ich einen aktuellen Bericht aus einer englischsprachigen
Zeitung Indonesiens betrachten, in dem ein eher ungewöhnlicher papuanischer
Tänzer interviewt wurde. Jecko Siompo war neunzehn, als er sich am Jakarta
Institute of the Arts einschrieb, um „verschiedene sowohl traditionelle als auch
moderne Tanzstile" zu studieren.
„Es ist eigenartig- je mehr ich über diese ,fremden' Tänze gelernt habe, desto mehr ver-
stehe ich die papuanischen Tänze. Ich habe sie aus einer Gewohnheit heraus getanzt; da-
mit meine ich, dass wir sie zu jeder Gelegenheit tanzen - zum Jagen, zum Fischen oder
zu einer Hochzeit", sagte er. [„.] In einem seiner jüngeren Tanzstücke, In Front Papua,
verarbeitete Jecko seine eigene Geschichte - seine ,,Reisen", was aber nicht wörtlich zu
verstehen ist. Stattdessen vermittelte er Bilder und Eindrücke von Papua durch tanzende
Körper, die in die natürliche Landschaft Papuas verwoben waren. Die Bühne verwandelte
sich in diverse Kultur- bzw. Naturschauplätze seiner Erinnerung: die aus Baumwurzeln
bestehenden hängenden Brücken über den Membramo Fluss mit all seinen Alligatoren,
Fußgänger in Jayapura oder Manhattan, Strände, Berge. Außerdem vereinigte er unter-
schiedliche Körperbewegungen - stilisierte Schritte eines papuanischen Stammestanzes,
Der Tanz, Durkheim und das Fremde 305
einfache Gesten und den Moonwalk, den er offensichtlich vom King of Pop kopiert hat.
,,Natürlich werde ich immer nach Papua zurückkehren, aber manchmal brauche ich den
Abstand. Ich positioniere mich selbst gegenüber von Papua, von außen. Nur dann kann
ich wieder hineinkommen."33
Jecko muss sich selbst „gegenüber von Papua" positionieren, „von außen", um
„wieder hinein[zu]kommen". 34 Die im höchsten Maße authentisch verkörperten
Ausdrucksformen beinhalten die Identifikation mit einer fremden Sichtweise.
Eine Anthropologie, die der Komplexität der Methode Jeckos Gerechtigkeit
widerfahren ließe, würde viel dazu beitragen, eine ganze Reihe schädlicher
Gegensätze zu überwinden: die Trennung des Steinzeitalters vom Weltraum-
zeitalter, des Verkörperten vom Sozialen, der Geste vom materiellen Zeichen.
Der Tanz hält sich niemals in einer privilegierten Zone der Authentizität auf.
Aber in dem Moment, in dem es unmöglich ist, sich einen menschlichen Kör-
per vorzustellen, der außerhalb der Reichweite sozialer Kräfte existiert, zirku-
lieren soziale Kräfte nur in materiellen Formen. Die scheinbar „mentalsten"
sozialen Praktiken - von der Beantwortung von E-Mails bis zur Präsentation
eines Vortrags - erfordern den Einsatz humaner wie nicht-humaner Hilfsmittel
- Gesichter, Hände, Gliedmaßen und Oberkörper ebenso wie Gedanken. Durk-
heim war näher an dieser Einsicht, als er zugeben mochte. Könnten wir in dem
Maße, in dem soziales Leben immer konkret in Raum und Zeit situiert ist und
immer von mannigfaltigen Rhythmen „bewegt" wird, nicht argumentieren,
dass es immer getanzt wird?
Literatur
Derrida, Jacgues: Declarations oflndependence. In: New Political Science 15, 1986.
Durkheim, Emile (1915): Elementary Forms ofthe Religious Life. Übers. J. W. Swain.
The Free Press 1965.
-: The Division of Labor in Society. Übers. von W. D. Halls. MacMillan 1984.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1822): The Philosophy of History. Übers. J. Sibree.
Dover 1956.
Hitchcock, Mike: Images of an Ethnic Minority in Indonesia. In: Anthropology Today
11(1),1985, s. 2-4.
Hunt, Lynn: The World We Have Gained: The Future of the French Revolution. In:
American Historical Review 108 ( 1), 2003, S. 1-19.
Kamma, Freerk C.: Koreri: Messianic Movements in the Biak-Numfor Culture Area.
Martinus Nijhoff 1972.
33 Minarti 2005.
34 Im Außen findet er das Innere, wie seine Abhandlung über die Ähnlichkeit der „Körper- und
Tanzkulturen" in Amerika und Papua nahe legt. „Wenn Papua technologisch auf demselben
Stand wie Amerika wäre, würden wir alle tanzen wie die Menschen in Manhattan, denn wir
haben dieselben Wurzeln."
306 Danilyn Rutherford
TANZWUT
Die kulturelle Erinnerung an Tänze im Mittelalter ist eher düster. Zwar kennen
wir höfische Feste, die hoves vreude, zu denen in der Regel auch Tänze gehö-
ren. Wir wissen von bäuerlichen Tanzvergnügungen, von urbanen Festen u.ä.,
die ganz selbstverständlich auch mit Tänzen gefeiert wurden. Daneben aber
wird vor allem von dunklen, ja bedrohlichen Seiten des Tanzes berichtet. So
zum Beispiel hören wir von Teufelstänzen und Hexentänzen, von Menschen,
die sich auf Tänze mit dem Teufel einlassen und dafür nicht nur mit ihrem
Leben, sondern auch mit ihrem Seelenheil bezahlt haben; von Totentänzen,
von Geister- und Seelentänzen, die nicht nur nicht geheuer sind, sondern vor
allem als außerordentlich gefährlich gelten. Tänze dieser Art sind Inszenierun-
gen der Angst und der Angstbewältigung, in denen aber gleichwohl noch die
Erinnerung an die - allerdings verbotene - Freude des Tanzes aufscheint. Sie
bewegen sich zwischen Vergnügen und Verbot; Freude am Körper, an seinen
Bewegungen, am Spiel der Geschlechter und des sexuellen Begehrens einer-
seits, an der Verurteilung und Verteufelung gerade der Lust am Tanz anderer-
seits. Tänze des Mittelalters also sind Spiele an der Grenze und mit der Grenze,
die ihnen gesetzt wird. Sie überschreiten die Grenze zwischen Freude und Be-
drohung, Diesseits und Jenseits, Leben und Tod, schaffen aber damit auch
Zwischen- und Spielräume, die sich gerade durch ihr liminales ,,Dazwischen"
(Turner) zwischen Norm und Normbruch auszeichnen.
Von den Theologen des Mittelalters sind vor allem die Grenzen und Begren-
zungen des Tanzes betont worden. Tänze gelten ihnen als Werk des Teufels,
dieser selbst als Zentrum und Brennpunkt des Tanzes: „chorea enim circulus
est cujus centrum est diabolus" - davon ist schon Jacques de Vitry überzeugt 1
und hat damit die theologisch herrschende Meinung präzise auf den Punkt ge-
bracht, die für das ganze Mittelalter gilt und in einer Fülle von Lehrschriften,
Predigten, Traktaten je neu variiert und bestätigt worden ist. Dementsprechend
können dann nur der „Schaden des Tanzes"2 behauptet, seine fatalen Konse-
Jacques de Vitry: Sermones vulgares, zit. n. Harding 1973, S. 71; weitere Belege für die kirch-
liche Dämonisierung des Tanzes vgl. ebd. S. 70-82. Vgl. zudem de Vitry 1890; Bremond 1993.
2 Was schaden tantzen bringt: anonyme deutsche Predigt aus dem fiilhen 15. Jahrhundert mit
einer scharfen, aber auch sehr differenzierten Polemik gegen Gesang und Tanz, insbesondere
308 Werner Röcke/Hans Rudolf Velten
quenzen für das Seelenheil beklagt und vor diesem Zugriff des Teufels ge-
warnt werden.
Dennoch ist diese einhellige Verurteilung des Tanzes durch theologische
Rigoristen nicht die einzige Art und Weise, wie im Mittelalter über Legitimität
oder Illegitimität von Tänzen nachgedacht worden ist. Es sind vor allem litera-
rische Texte, aber auch Berichte von historischen bzw. als historisch behaup-
teten Ereignissen, die nicht nur das Tanzverbot, sondern auch die Lust am Tanz
erzählen. Spielräume dieser Art zwischen Norm und Normbruch nun sind au-
ßerordentlich produktiv. Zwar werden auch sie durch je neue Normierungen
und Verbote umstellt, bedroht, verteufelt, zugleich aber bieten sie auch Mög-
lichkeiten, derlei Normierungen zu unterlaufen und darüber hinaus sogar Di-
mensionen des menschlichen Körpers und menschlichen Verhaltens zu entde-
cken, die bislang unbekannt oder zumindest verdrängt waren. Das betriffi nicht
zuletzt solche Züge des Tanzes, die trotz aller theologischen Erklärungen und
Abwehrgesten unverständlich, ja beängstigend blieben: Zwar bemühte man
sich um plausible theologische Deutungen, doch wurde meist deutlich genug,
dass sie diesen Seiten des Tanzes nicht oder jedenfalls nicht hinreichend ge-
rech! wurden. Zum Beispiel wird von Massen von Menschen berichtet, die
,,Anne, 1374 zu mitten sommer [... ] anhuben zu dantzen und zu rasen"; 3 von
Menschen, die, obwohl sie gesund und - wie eigens betont wird - „ihrer Sinne
mächtig waren", von Dämonen ergriffen wurden und sich mit anderen Tan-
zenden zu einer kollektiven „Tanzraserei" vereinigt haben: Die Tänzer fassten
sich an den Händen, drangen in Aachen in das Münster ein, tanzten halbnackt
vor dem Altar, wurden aber offensichtlich auch von Schmerzen gequält und
stießen unverständliche „teuflische" Worte aus. 4
Natürlich sieht man hier Dämonen und Teufel am Werk. Zugleich aber sind
die körperlichen und mentalen Reaktionen der Tänzer so bizarr, dass die tradi-
tionelle dämonologische Deutung nicht recht greift, sondern im Hinblick auf
medizinische Erklärungsmuster erweitert werden muss. Dafür spricht jedenfalls
der Umstand, dass in dem zuletzt genannten Beispiel der Aachener „Tanzwut"5
zunächst gesunde Menschen („sani"), die bei klarem Verstand waren (,,mentis
der „vmme gende tantz", der vor allem zur Unkeuschheit verführe. Vgl. Vom Schaden des
Tanzes. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters, S. 593f. Wir zit. nach Böhme 1886 (Aus der
Wiener Hs. 3009 (philos. 586, Pap., 15. Jh., 240 811. 8°), BI. 73a-85b. In: Altdeutsche Blätter 1
(1836), hg. v. Moriz Haupt/Heinrich Hoffmann, S. 52-63). Bei Böhme auch zahlreiche andere
Zeugnisse zur kirchlichen Verurteilung des Tanzes im Spätmittelalter. Dies gilt auch noch im
frühen Protestantismus, wie z.B. in den sog. Teufelsbüchern des 16. Jh. (vgl. ausführlich dazu
Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft Jll, 2003, S. 592-594); vgl. dazu Daul 1569.
3 Limburger Chronik: ,,An. 1374 zu mittem Sommer da erhub sich ein wunderlich ding auf
Erdreich, vnd sonderlich in Teutschen landen, auf dem Rein vnd auf der Mosel, also daß Jeut
anhuben zu dantzen vnd zu rasen [„.]"; zit. n. Martin 1914, S. 227.
4 Radulfus de Rivo, Decani Tongrensis: Gesta pontificum Leodiensium Jl/, 19; zit. n. Martin
1914, S. 229f.
5 Der Begriff „Tanzwut" stammt aus der Medizingeschichte des 19. Jhs., zuerst bei Hecker 1832
in Anlehnung an eine Stelle in v. Königshovens Elsässischer und Straßburger Chronik ( 1698).
Tanzwut 309
6 Vgl. z.B. die außerordentlich materialreiche und deshalb zweifellos verdienstvolle Studie von
Harding 1973.
7 Zu Theorie und Denkmodus der Transgression vgl. demnächst Audehm/Velten 2007, entstan-
den im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 447 Kulturen des Peiformativen.
8 Vgl. dazu u. a. die Predigt Was schaden tantzen bringt (wie Anm. 2); das Kap. 61 Van dantzen
in Sebastian Brants Narrenschiff (Basel 1494) sowie Geilers von Kaiserberg Predigt über die-
ses Kapitel, beide abgedr. in Böhme 1886; die Lehre gegen das Tanzen und von dem maibaum
(vgl. dazu Stöllinger-Löser 1985); Meister lngold~ .. Guldin spil". ein Predigtzyklus über die
sieben Todsünden, vor allem der 5. Abschnitt: „Vom Dantzenspil" (vgl. dazu Rosenfeld 1983).
310 Werner Röcke/Hans Rudolf Velten
frühen Bericht werden Reste eines Tanzlieds überliefert - von Interesse; 9 für
die Religionsgeschichte ebenso wie für die europäische Ethnologie; für die
Medizingeschichte ebenso wie für die Erforschung der Dämonologie des Tan-
zes.10 Dabei blieben die einzelnen Frageansätze meist voneinander getrennt;
lediglich in den Arbeiten des Germanisten Edward Schröder sind diese Fach-
grenzen schon auf eine sehr produktive Weise überwunden worden. 11 Im An-
schluss daran konzentrieren wir uns im Folgenden auf die Frage, wie in der
Tanzerzählung von Kölbigk theologisch-dämonologische und medizinisch-pa-
thologische Erklärungsmuster für diesen - wie Schröder schreibt - „frühesten
überlieferten Fall von Tanzwut" 12 ineinander greifen, wie aber auch im Spät-
mittelalter das pathologische Verständnis des Tanzes gegenüber der dämono-
logischen Deutung die Oberhand gewinnt.
Doch was heißt „Tanzerzählung von Kölbigk"? Wir meinen damit keinen
bestimmten Text, sondern ein Ensemble verschiedener Texte, die vom 12. bis
ins 17. Jahrhundert überliefert werden, einander ergänzen und kommentieren
und auf diese Weise ein recht kohärentes Bild des Geschehens präsentieren.
Dennoch gibt es Abweichungen und Differenzen, die für unsere Frage nach
dem Verhältnis von dämonologischen und pathologischen Erzählungsmustern
sehr wichtig sind. Sie stehen im Folgenden im Mittelpunkt. Dabei folgt unsere
Spurensuche zunächst stärker den dämonologischen, anschließend den patho-
logischen Deutungsmustem des Tanzes von Kölbigk.
Die erste Erwähnung des Tanzes von Kölbigk datiert bereits - in der Chronik
des Lampert von Hersfeld - im 11. Jahrhundert (1074). Es folgen - in Hand-
schriften des 12./13. Jahrhunderts - drei Berichte des Geschehens, von denen
zwei sich- in Ich-Form geschrieben - als Berichte von Teilnehmern des Tan-
zes von Kölbigk ausgeben. 13 Im Anschluss daran finden wir bis ins 16./ 17.
Jahrhundert eine ganze Flut von Exempelerzählungen. die - in Traktaten gegen
das Tanzen, in Exempelsammlungen u.ä. - dazu dienen, die Gefahren des Tan-
zens, die Macht des Teufels und die fatalen Konsequenzen für das Seelenheil
zu beschwören, was gerade am Tanz von Kölbigk besonders deutlich werde.
9 Diesen philologischen, vorwiegend auf Fragen der Lieddichtung konzentrierten Arbeiten ver-
danken wir die kritische Edition und Kommentierung der Berichte; vgl. Schröder 1897; Borck
1951, 1954, insbes. S. 312-320; Holtorf 1969; Metzner 1972.
10 Vgl. Wiora 1953; Hammerstein 1974, Kap. Teufelstänze.
11 Wir benutzen die erste lateinische Edition der Berichte von Schröder 1897.
12 Ebd„ S. 149.
13 Es handelt sich um die in mehreren Hss überlieferten, als Bettelausweise dienenden Berichte
des Othbertus und des Theodericus, sowie des Lütticher Anonymus (in einer Hs überliefert).
Zur Überlieferungsgeschichte vgl. Schröder 1897; Borck 1951, 1954; Metzner 1972.
Tanzwut 311
Doch auch schon der Beginn der Erzählung ist eindeutig. Am Anfang steht
ein bewusster Verstoß gegen den heiligen Ort der Kirche und die heilige Zeit
der Weihnacht. Zwar tanzt die Gruppe der Achtzehn vor der Kirche, doch dringt
der Lärm ihres Gesangs und Tanzes in die Kirche ein, zumal die Tänzer - wie
der Bericht des Theoderich betont - „mit noch größerem Lärm" („maiori stre-
pitu") das „Gotteslob übertönen wollten und tobten/rasten" („debachamur"). 18
Schon damit aber überschreiten sie die Grenze zwischen dem Profanen und
dem Heiligen, die der Priester mit seinem Appell, das Tanzen zu beenden und
die Messe zu besuchen, unterstreicht. Ebenso wie ihr Geschrei die Kirchen-
mauern durchdringt, 19 setzen sie sich auch über das Gebot des Priesters hinweg,
das er gegen den Teufelstanz aufgestellt hat. Mit diesem bewussten Verstoß
gegen den Appell des Priesters aber verfallen sie endgültig dem Bösen. Denn
das Böse ist weder ontologisch noch als Normensystem definierbar, sondern
muss getan werden, um als solches verstanden zu werden. 20 Dieser performa-
tive Aspekt des Bösen ist für unsere Erzählung insofern konstitutiv, als die
Tanzenden sich über das Gebot des Priesters und über die Kirchenmauern hin-
wegsetzen und erst auf diese Weise tanzend das Böse vollziehen.
Jeder Tanz ist - davon waren die Theologen des Mittelalters überzeugt -
eine Inszenierung des Teufels. Die Tänzer von Kölbigk zeigen das in Form
und Darstellungsmodus ihres Tanzes, so dass der Fluch des Priesters hier an-
schließen kann, nun aber als Banngewalt erzwingt, was die Tanzenden vorher
als bewussten Normverstoß realisiert haben. Signifikant ist das Diabolische
des Tanzes schon in der Form des Tanzes: Denn der „vmme gende tantz" oder
Ringtanz, bei dem sich die Tanzenden mit ausgestreckten Armen an den Hän-
den fassen, ist „ein ring oder circkel, des mittel der tufel ist." Dabei stiftet der
Teufel gerade zu diesem Ringtanz an, „uff daz sich die vnkuschen menschen
an sehen, an griffen und [... ] dar durch entzundt werdent durch vnkuscheit,
vnd böse fleischlich begirde gewynnen." 21
In diesem Zusammenhang fungieren die ausgestreckten Arme der Tanzenden
als Stricke des Teufels, die auch jenseits derartiger Tanzphobien als wichtigs-
tes Attribut des Teufels gelten, da die Sünder von den Teufeln vor allem mit
Stricken oder gar Ketten gebunden in die Hölle geführt werden. Nach dem
Fluch des Priesters setzt sich diese Teufelslogik insofern fort, als die Tänzer in
die Erde hineintanzen und sich auf diese Weise schon der Hölle nähern. Denn
ebenso wie die Sprünge der Tanzenden „ein Sprung sey zur tieffen Höllen", 22
ist auch die Abkehr der Tänzer von Kölbigk vom Himmel und ihr Weg zur
Hölle schon an ihrer Tanzgrube erkennbar, die sie im Verlauf ihres Fluchjahres
ertanzt haben. Damit sind sie unterwegs zur Hölle, aber noch nicht in ihr ange-
langt. Sie haben die Grenze zwischen Gut und Böse überschritten, die nun
ihrerseits verräumlicht wird und einen Übergangs- oder Zwischenraum eröff-
net, in welchem die Macht der Magie die Regeln der Natur, aber auch die Ver-
fügungsgewalt des Menschen über den eigenen Körper außer Kraft setzt. In
tus hoch ans Kreuz gesprungen und so die Menschen zur himmlischen Seligkeit gebracht
habe, sprängen die Tänzer in die Tiefe der Hölle. (Dritter/schönster und letzter Theil der gul-
denen Sendschreiben weiland! deß ... Antonij de Gueuara ... darinn vil schöne Tractätl, subtile
Discursen, artliche Historien ... durch .„ Aegidium Albertinum auß der Hispanischen in die
Teutsche Sprach „. verwendet .„ München 1603).
314 Werner Röcke/Hans Rudolf Velten
Natur also noch untetworfen und auch schon entzogen. Deutlich wird dieses
Zwischenstadium zwischen Natur und Übernatur auch an dem Umstand, dass
die Tanzenden den natürlichen Körperfunktionen entzogen sind und „on essen
und trincken vnd on schlaffen" auskamen, 23 ihnen aber auch weder Regen noch
Schnee etwas anhaben konnten. Ebenso also, wie ihr Körper ihrem Willen ent-
zogen wird, sich verselbständigt und sogar schon in seine Einzelteile aufzulö-
sen droht, wird er auch gegen äußere Einflüsse gänzlich unempfindlich. 24
Dieser liminale Raum zwischen Gut und Böse, Kirche und Hölle ist zudem
zeitlich kodiert. Er ist im Fluch des Priesters auf ein Jahr begrenzt worden und
endet deshalb erst in der nächsten heiligen Nacht. Allerdings - und das ist für
unsere Frage nach Dämonisierung und Pathologisierung des Tanzes besonders
wichtig - ist damit die Tanzwut nicht vorbei. Sie nimmt nur andere Formen
an. Es gehört zum festen Bestandteil aller Berichte und Erzählungen vom
Tanz zu Kölbigk, dass die Tänzer nach dem Fluchjahr in die Kirche des heili-
gen Magnus zurückgekehrt und von ihren Sünden freigesprochen worden
seien. Allerdings hätten sie unterschiedlich darauf reagiert: Einige seien gleich
gestorben, einige seien in eine Art Heilschlaf gefallen, seien aber - wie es im
Bericht des Othbertus heißt - anschließend von einem heftigen „tremor mem-
brorum", einem „Zittern ihrer Glieder"25 befallen worden, was Einzelne von
ihnen - das hebt der Bericht des Theoderich hervor - dazu gebracht habe, sich
in ihrer Unruhe und Raserei über verschiedene Länder zu verstreuen. Alle drei
Gesichtspunkte:
dass sich Zittern und Bewegungszwang auch nach dem Heilschlaf fortge-
setzt haben;
dass nun Einzelne, nicht mehr eine Gruppe von Tanzenden von diesem tre-
mor membrorum befallen werden; und
dass sie über viele Länder verstreut werden,
markieren - so lautet unserer These - eine neue Qualität des zwanghaften
Tanzens. Zwar weist Theodericus darauf hin, dass er bei seinem erneuten
Zwangstanz dieselben Sprünge, Drehungen und Bewegungen der Glieder wie
vorher („saltus et rotatus, iactus membrorum" 26) habe vollziehen müssen,
doch sei es jetzt mehr ein „unfreiwilliges Springen und Händeklatschen" („sal-
tus et flausus [... ] iniocundus") gewesen, das ihn zudem ganz allein gequält
habe. 2 Wir verstehen diese Modifikation des Kölbigker Tanzes so, dass die
Dämonie des Ring- und Gruppentanzes, dessen Mittelpunkt der Teufel selber
sei (s.o.) beendet ist, an seine Stelle aber ein neuer Tanz getreten ist, dessen
Der erste Philologe, der sich mit dem Tanz zu Kölbigk befasst hat, Edward
Schröder, spricht von den „unglücklichen Bauern, die dort im Jahre 1021 einen
Anfall von Tanzwut durchmachten: den frühesten, der uns aus dem Mittelalter
bezeugt ist. " 29 Er identifiziert die Überlieferungs träger der Tanzberichte, die
Bettler, denen sie als Bettelausweis dienten, als „Nervenleidende, Epileptiker,
Neuralgiker - vielleicht auch bare Simulanten, die ein wirkliches oder geheu-
cheltes Leiden mit der furchtbaren Gottesstrafe jenes jahrelangen Tanzes zu-
sammenbrachten". 30
Ereignis und Überlieferung stehen bei Schröder so im Licht einer epidemi-
schen nervlichen Erkrankung. Schröder ist nicht der erste, der diese Verbindung
zieht: die Protestanten Fincelius und Spangenberg bezogen schon im 16. Jahr-
hundert die Ereignisse von Kölbigk auf den Veitstanz, den Kern der Tanz-
wut. 31 Kölbigk kann somit als erstes belegtes Veitstanzphänomen angesehen
werden, es wurde als solches aber noch nicht untersucht.
28 Ebd.
29 Ebd., S. 149. Auch Georg Baesecke hat die Erzählungen vom Tanz in Kölbigk als einen
„mündlichen Bericht von einer ausbrechenden Tanzkrankheit" bezeichnet, „der zur Nieder-
schrift mit urkundlicher Datierung und Umgestaltung zu einem Strafwunder führte". Vgl.
Baesecke 1966, S. 284.
30 Schröder 1897, S. 104.
31 Fincelius 1556.
316 Werner Röcke/Hans Rudolf Velten
Wir haben oben die krankhaften Folgen des Tanzes nach dem Heilschlaf er-
wähnt, wie sie in den Tanzberichten geschildert werden: Die Tänzer leiden für
den Rest ihres Lebens an Tremor und einer zwanghaften Hyperkinesie - inquie-
tudo venarum et motus membrorum, wie es im Othbertusbericht heißt -, sicht-
bare pathologische Reminiszenzen der symbolischen Transgression im Tanz.
Diese Leiden haben jedoch eine Beweisfunktion: Sie dienen als lebendes Kör-
perzeichen dem Nachweis der Teilnahme am Tanzwunder, was wiederum das
Heischen von Almosen legitimiert. Die körperliche Präsenz des Wunders und
das autorisierte Schriftstück des Bettelausweises32 machen die Bettler zu legi-
tim Bedürftigen, deren Geschichte doppelt verbürgt ist: durch die Schrift und
durch die pathologischen Residuen des Strafrituals. Das Pathologische ist hier
gleichsam im Mirakulösen eingebettet, ist geradezu eine Funktion des Heil-
wunders.33
Im Tanz von Kölbigk ist somit eine doppelt kodierte Transgression zu er-
kennen: Sie besteht in einer Profanation des Heiligen durch den Tanz und
gleichzeitig einer krankhaften Zwangswiederholung seiner körperlichen Per-
formanz. Die kulturelle und symbolische Bedeutung dieser Transgression be-
steht darin, dass sie die Nonnen der sozialen Ordnung und ihre Differenzie-
rung in gut und böse, in krank und gesund und in eigen und fremd verhandelt
und bestätigt. Alle diese Differenzen macht die Transgression erst sichtbar.
Transgression bedeutet deshalb in unserem Zusammenhang nicht nur das Über-
schreiten von Grenzen, sondern die Öffnung eines Schwellenraumes, wo Alte-
rität als ein Zustand des Außer-sich-Geratens, der vernunftlosen Ekstase und
des körperlichen Exzesses erfahren und wahrgenommen werden kann.
Damit gibt die Ausgrenzung des Tanzes in den Erzählungen von Kölbigk
auch Einblicke in physische und psychische Grenzerfahrungen - mehr als die
Nonnverletzung selbst ist es das Strafritual des Tanzes und seine wunderbaren
Begebenheiten, die hier im Mittelpunkt stehen -, zeigt aber gleichermaßen
auch die Möglichkeiten seiner Kontrolle auf. Diese Kontrolle besteht weitge-
hend in den Formen der Heilung und Therapie durch Asketen der Kirche,
nämlich den verfluchenden Pfarrer und die verschiedenen Schutzheiligen, die
hier auftreten. 34 Dass auch für die klerikalen Verfasser der Berichte die Thera-
pie das Entscheidende war, zeigen die Fälle von Tanzwut, auf die wir im Fol-
genden zu sprechen kommen: Bis ins 16. Jahrhundert behält die Kirche die
Kontrolle über die Heilpraxis des Tanzzwanges.
Ab dem späten 13. Jahrhundert gibt es verlässliche Quellen, vor allem Stadt-
chroniken, Ratsverlässe und bürgerliche Hauschroniken, die vom Veitstanz
(oder in minderem Maße: Johannestanz) als epidemischem Tanzzwang berich-
ten. Sie enthalten teilweise genaue Beschreibungen der Vorkommnisse, ange-
fangen vom Ausbruch des Tanzes, der Dauer und Formen der pathologischen
Phänomene, über die soziale Herkunft der Tänzer bis zu den verschiedenen
Formen des öffentlichen Umgangs mit ihnen und den Heilungspraktiken. In den
Quellen wird durchgängig der Begriff Veitstanz benutzt, denn der heilige Veit
war spätestens seit Mitte des 12. Jahrhunderts als Schutzheiliger der an den
verschiedenen Formen der Fallsucht Leidenden angesehen, 35 ihm wurden Kir-
chen und Kapellen als Pilgerstätten geweiht. Der spätantike Märtyrer Vitus
hatte sich als Nothelfer für Bewegungsleiden auf Grund der Heilung des Soh-
nes Kaiser Diokletians, den er von einer Zitterkrankheit befreite, durchgesetzt.
Nun aber zum Phänomen des Veitstanzes im Spätmittelalter. Wir können
hier nur stichwortartig einige wichtige Daten aus dem reichen Material zusam-
menfassen: Wichtig sind vor allem sieben Punkte:
1. In allen Fällen handelt es sich um tagelanges Tanzen bis zur Erschöpfung
und ohnmächtigem Umfallen, teilweise mit Todesfolge.
2. Es geht immer um Gruppen- oder Massenphänomene: 1278 brach die
Brücke zu Maastricht zusammen, weil 200 Menschen darauf tanzten; in Ech-
ternach schwankt die Zahl der Teilnehmer an der berühmten Springprozession
zwischen 300 und 1000; in Köln werden 1347 500 Tänzer gezählt, in Straßburg
1518 an die 200.
3. Die geographische Verbreitung der Tanzwut in Deutschland und Mittel-
europa ist mehr oder weniger auf das Rheinland, vom Oberrhein bis nach Flan-
dern und Brabant beschränkt. Zentren sind Köln, Aachen, Lüttich, Maastricht,
Straßburg und Zürich.
4. Die Veitstänze finden, wie übrigens auch der Kölbigker Tanz, öffentlich
statt: Wie bei den Geißlerzügen gibt es viele Zuschauer, die von der Fremdheit
der Vorgänge wie magisch angezogen werden. Von unterschiedlichen Reaktio-
nen der Zuschauer und affektiven Wirkungen auf sie wird berichtet: Empörung
über Entblößungen der Tänzer, Abscheu, Angst davor, angesteckt zu werden,
bis zur Lust zum Mittanzen. Das öffentliche Zuschauen macht das Ganze zum
Spektakel, zu einer theatralen lnszenierung. 36 Dazu tragen manchmal auch die
behördlichen Maßnahmen bei: Bei den Vorfällen in Straßburg 1518 stellt der
Rat den Tänzern öffentliche Tanzplätze auf Märkten und Zunftstuben zur Ver-
fügung, auf denen sie sich austanzen konnten. Daraus ergibt sich, dass man
den Tanz als Krankheit und gleichzeitig als Heilmittel wahrnahm: Es wurden
Trommler und Pauker abgestellt, sowie gesunde Mittänzer, die die Kranken
nach Bedarf stützten. 37
5. Die Heilung vom Veitstanz oblag bis ins 16. Jahrhundert der Kirche. Die
erschöpften Kranken wurden in Veitskapellen geführt, wo sie unter der Auf-
sicht von Priestern um den Altar tanzten und um Heilung baten. Die Quellen
berichten übereinstimmend, dass diese Heilrituale Wirkung zeitigten. Dies gilt
auch für die Johannestänze der epileptisch Kranken. Die schützende und hel-
fende Rolle der Heiligen beruhte nach mittelalterlichem Denken auf dem ma-
gischen Ähnlichkeitsprinzip: Similia similibus curentur; Gleiches soll durch
Gleiches geheilt oder verhindert werden. Wer an Bewegungsstörungen und
Tanzzwang litt, der sollte durch eine kultische Tanzhandlung sein Motilitäts-
problem überwinden. 38 Wer noch nicht befallen war, der konnte durch St. Veit
oder St. Johann vor der Krankheit geschützt werden. Dafür spricht der gut be-
legte Volksglaube, Fasten und Feiern am Veitstag oder Wallfahrten zu Veits-
und Johanneskapellen bewahrten vor dem Leiden. Ein bekanntes Beispiel für
einen jährlich wiederkehrenden, kirchlich beaufsichtigten und gepflegten ritu-
ellen Heiltanz ist die Echternacher Springprozession, die sich seit dem 13. Jahr-
hundert durch die Stadt zur Kirche und zum Grab des heiligen Willibrord zog. 39
6. Dort, wo der Veitstanz auftrat, lagerten sich eine Reihe anderer Phänomene
an ihn an: So berichtet die Limburger Chronik 1347 davon, dass die erschöpf-
ten Tänzer in Köln anfingen, um Almosen zu betteln - hier haben wir eine
direkte Verbindung zu den Kölbigker Bettelausweisen. Sie liefen von Kirche
zu Kirche „vnd huben gelt auf von den leuten, wo es jhnen mocht gewerden".
Durch die Offenheit des Veitstanzes ergab sich somit die Möglichkeit zur Si-
mulation, zur jugendlichen und bürgerlichen Transgression hinter der Fassade
des Pathologischen. Von sexuellen Ausschweifungen und Exzessen ist die
Rede, „dass jhr ein theil Frauw vnd Man in vnkeuschheit mochten kommen
vnd die volnbringen". 40 Der Chronist hält die meisten Tänzer für Betrüger, die
aus Wollust oder für Geld mittanzten. 41 Auch die Kölner Chronik von 1374
dieses am Körper vollzogene Ritual zum Ort eines Schauspiels wird, bei dem sich Strafe und
Buße, Scham und Laszivität, Schmerz, Qual und Lust, Askese und Ekstase auf besondere
Weise verbinden und exemplarisch dem Blick aussetzen."
37 So in Straßburg. Vgl. Martin 1914, S. 120.
38 Vgl. Karenberg 2005, S. 145.
39 Die Springprozession zeigt, dass die Kirche „wenigstens dem Heil- und vorbeugenden Tanze
am Tage eines der Krankheitspatrone nicht feindlich gegenüberstand, im Gegenteil ihn pflegte"
(Martin 1914, S.235.; vgl. auch Meisen 1951).
40 Limburger Chronik, zit. n. Martin 1914, S.228.
41 Dass sich Pathologisierung und Dämonisierung in den Städten untrennbar miteinander vermi-
schen, zeigt die Flut von Verhaltensmaßregeln dem Tanz gegenüber seit dem 15. Jh. Verstöße
wurden meist mit Geldstrafen geahndet, es gab jedoch auch Gefängnisstrafen. Von den Pries-
Tanzwut 319
betont die Unkeuschheit und die Simulation als dominante Erscheinungen des
Tanzes: „Die anderen vinsden sich krank, vp dat Sij mochten vnkuyschheit be-
drijuen mit den vrauwen."42
~~~ «:i
~ ...·---··-- .„.„ ...................... ~;··7~;....
Abb. 2: Zeichnung von Pieter Brueghel d. Ä. auf blaugrauem Papier von 1564
(Wien, Albertina).43
tern wird gefordert, den Tänzern die Kommunion zu verweigern. In der Stadt Essen muss
jedes Kind vor der Erstkommunion öffentlich dem Tanz entsagen. Die Bestrafung für den
Tanz geht bis zur Exkommunikation. Hier setzt sich der alte Verdacht wieder durch, der Tanz
sei Teufelswerk, das die Menschen verführe. Vgl. dazu Jungmann 2002, S. 166.
42 Zit. n. Martin 1914, S. 226.
43 Inschrift: dit sin dye pelgerommen die up sint Jans dach buyten bruessel de muelebec danssen
moeten ende als sy ouer een brugge gedanst oft gesprongen hebben dan sin sy genesen vor
een heel Jaer van sint Jans siechte. M ccccc lxiiij. - Die Zeichnung stellt an Tanzwut leidende
Frauen dar, die sich tanzend unter musikalischer Begleitung jeweils von zwei Männern ge-
stützt zur Johanneskirche in Moelenbeck bei Brtlssel in Westflandern begeben. Deutlich sichtbar
sind die um den Leib geschnürten Blinder, eine Maßnahme gegen die erhöhte Motilität, von
der auch deutsche Chroniken berichten.
320 Werner Röcke/Hans Rudolf Velten
jeder burger sin kind, der massen behaffi, und gesind die daz vermögen, inn
iren husern behalten und zutuschen [ruhigstellen, die Verf.] soll."
Hieraus spricht die Furcht der Obrigkeit, der Veitstanz könnte zu einem all-
gemeinen Exzess ausarten, was die Aufforderung des Wegschließens poten-
tiell Gefiihrdeter - Jugendlicher und Dienstboten - zur Folge hatte. 44
7. Dies führt uns zum letzten Punkt, nämlich den Tänzern selbst. Nach den
Angaben in den Quellen kamen sie vor allem aus den Unterschichten, aus bäu-
erlichen wie städtischen, wobei die Frauen einen hohen Anteil hatten. Die pa-
thologischen Phänomene, choreatische Hyperkinesien, also plötzlich einset-
zende, unwillkürliche Bewegungen verschiedener Muskeln, Grimassieren und
Überstreckungen in Rückenlage usw. lassen darauf schließen, dass sowohl
Nervenleidende und Geisteskranke wie auch Hysteriker beteiligt waren, anders
wäre die Ansteckung nicht zu erklären (darauf kommen wir später noch zurück).
Dazu kamen wohl gesunde Simulanten mit verschiedenen Intentionen.
Diese komplexe Phänomenologie macht zum einen deutlich, dass die Ereig-
nisse von Kölbigk wohl, wie Schröder vermutete, als exempelhaft verkleideter
Fall für die Tanzwut zu deuten sind, dass aber andererseits die Versuche der
modernen Medizin, den Veitstanz als rein pathologisches Phänomen zu erklä-
ren. unzureichend sind. 45 Die Bezeichnungen Chorea Huntington und Chorea
m„wr46 verkennen die Vielschichtigkeit eines öffentlichen Tanzrituals, das
verschiedene Gruppen von Menschen in Bann zog und ganz unterschiedlichen
Bedürfnissen diente. Gemeinsam ist diesen differenten Bedürfnissen die Trans-
gression zum Kontrollverlust des Körpers, die Neigung zur Ekstase und zum
Exzess. Diese Transgression äußert sich in einer rituellen Dimension, die man
auch als Schwellenzustand bezeichnen könnte, und sie betrifft besonders Arme,
Frauen und Jugendliebe, d. h. sie ist sozial, geschlechts- und altersspezifisch
distinkt.
Die Frage der epidemischen Natur des Veitstanzes und ihrer Ansteckungs-
wirkung bleibt auch in den Hypothesen zur Ätiologie unterbelichtet. Im 19.
Jahrhundert wurde in diesem Zusammenhang auch der Begriff „epidemische
Geisteskrankheiten" geprägt und nach einem identifizierbaren nervösen Erre-
44 Auch die Zünfte und Bruderschaften sollten auf ihre Mitglieder achten und bei den geringsten
Anzeichen von St. Veitstanz nach St. Veit schicken, „domit sie nit also öffiich uff der gassen,
zu beswemis anderer menschen, sich des dantzes annemen, dann welcher den sinen nit also
verwaret, den wöllen unser herren darumb heffteklich straffen" (Archiv der Stadt Straßburg
GUP 200, zit. n. Martin 1914, S. 122).
45 So etwa Schechter 1975 und Winkle 2000, der die Veitstanzphänomene einsinnig mit Enze-
phalitis erklärt.
46 Heute werden mit Chorea allgemein plötzlich einsetzende, vielgestaltige unwillkürliche Be-
wegungen verschiedener Muskeln, besonders der distalen Extremitäten bezeichnet, die bei
verschiedenen Erkrankungen auftreten können. Der Begriff bleibt bis heute unscharf; medizin-
historisch gebrauchte ihn zuerst Sydenham 1686 in Anlehnung an die Veitstanzphänomene
für postinfektiöse Bewegungsstörungen infolge eines rheumatischen Fiebers (Chorea minor
bzw. Chorea Sydenham). Die erbliche Chorea (Chorea maior bzw. Chorea Huntington) wurde
durch George Huntingtons Veröffentlichung 1872 bekannt, obwohl bereits frühere Beschrei-
bungen vorlagen. Vgl. Karenberg 2005, S. 148.
Tanzwut 321
ger gesucht. 47 Die Pest und andere Seuchen sollen dafür den Grund geliefert
haben, von Medizinhistorikern sind aber auch eine Übertragung heidnischer
Veits- und Johannistänze, die gesellschaftlichen und ideologischen Zerfallser-
scheinungen des Spätmittelalters und seine Zukunftsängste zur Begründung
herangezogen worden. 48 Als ätiologisch am wahrscheinlichsten gilt heute die
These des italienischen Kulturhistorikers Piero Camporesi, der die Tanzwut-
epidemien vor allem in Verbindung mit dem Hunger und den Ernährungsbe-
dingungen des späten Mittelalters gesehen hatte. Chronische Unterernährung
und billiges Brotgetreide, das mit halluzinogenen Stoffen wie Mutterkorn und
anderen betäubenden Gräsern und Samen versetzt war, konnte zu Phantasmen,
Zitteranfällen, Krämpfen und Psychosen führen. 49 Diese ernährungsgeschicht-
liche These klärt zwar den Punkt der sozialen Zusammensetzung der Veitstän-
zer, kann jedoch weder die Frage der Ansteckung, wie sie im Beispiel der
Aachener Ereignisse auftrat (Gesunde werden zu Rasenden), klären noch die
geographische Lokalisation der Tanzwut im Rheinland und das Rätsel der An-
fälligkeit von Frauen. 50 Dazu hat erstaunlicherweise schon ein Zeitgenosse
des Tanzwut-Phänomens, Theophrast von Hohenheim, besser bekannt unter
dem Namen Paracelsus, erhellende Überlegungen angestellt.
47 Vgl. Leppmann 1885. Kriterien für die Zuordnung sind: Eine ganze Gruppe von Individuen
wird in gleichartiger Weise angesteckt; kein Einzelner sei aber wirklich geisteskrank; eine
wenig widerstandsfiihige Person macht den Anfang, dann folgen die anderen. Interessant ist
aber, dass Leppmann sich auf die soziale Dcvianz dieser Phänomene konzentriert. Er inter-
pretiert das Auftreten der Tanzwut im Gefolge der Pest. Er führt sie in einer Fallstudie auf
soziale Zwänge und Naturanlagen zurück.
48 Vgl. Schmitz-Cliever 1953.
49 Vgl. Camporesi 1990, S. 131ff. Um den Hunger zu ertragen, wurden auch verschiedenste be-
täubende Gräser und Samen nach alchemischcn Rezepturen· mit verbacken, wie etwa Apolli-
niakraut und Mohn, gemeiner Stechapfel oder Hexenkraut, Rasewurz und das Tollkom oder
Taumelkom, das häufig in großer Menge dem Brotgetreide oder dessen Substitut beigemischt
war. Dies führte häufig zu Lebensmittelvergiftungen, welche als Fonnen der Verhexung, Teu-
felsbeschwörung, des Visionären und des Mirakulösen wahrgenommen wurden. In Faenza,
wo in der Kirche San Picro ein wundertätiges Kruzifix angebetet wurde, kam es bspw. zu kol-
lektiven Ausbrüchen zwanghafter Tanzwut: .,Als sie zum Altar gehen wollten, begannen
Männer und Frauen am Altar zu beben und zu tanzen wie Irre, und sie schlugen hier und da in
der Kirche um sich und blieben drei oder vier Tage [... ] Schließlich sah man, daß der Grund
dafür die Bezauberung durch irgendeinen schlechten Menschen war" (ebd„ S. 134).
50 Hier wären vergleichende Überlegungen zum süditalienischen Phänomen des Tarantismus
anzustellen, der überraschend ähnliche Züge wie der Veitstanz trägt: ein ritueller. seit dem
Mittelalter durch die Kirche beaufsichtigter und unter dem Schutz des HI. Paul stehender
Zwangstanz als Therapie für den Tarantelbiss. Er trat tenningebunden (29. Juni; Peter u.
Paul) im Sommer auf und versammelte die „tarantati" aus der gesamten Region (Salento) in
der Pauluskapelle in Galatina. Mittelalterliche Berichte belegen den Zwang zum Tanzen beim
Hören des Klangs von Musik und Trommeln. Der Tanz ahmt den Tarantelbiss bis zum Tod
(in der Auffilhrung bis zur völligen Erschöpfung) nach, worauf auch wie beim Veitstanz se-
xuelle Exzesse folgen konnten. Betroffen waren vor allem Frauen und Mädchen aus der bäu-
erlichen Schicht. Vgl. di Mitri 2006. Aus Platzgründen kann auf diese Diskussion leider nicht
näher eingegangen werden; vgl. auf dt. dazu ausführlich auch Katner 1956.
322 Werner Röcke/Hans Rudolf Velten
Paracelsus war einer der ersten, der den Veitstanz völlig von Dämonie und
Magie trennte und ausschließlich als eine Form der Pathologie interpretierte.
Anhand einer detaillierten empirischen Beschreibung des Krankheitsbildes im
7. Buch in der Arznei Von den krankheiten, die der vernunft berauben (1527)
erkannte er im Veitstanz einen krank.haften Bewegungszwang, der in den meis-
ten Fällen auf eine die Vernunft dominierende Einbildungskraft zurückgeht,
was er als „leichtfertikeit des gemüts [ ... ] mit verhengung des willens" bezeich-
nete. Dies sei auch der Grund, warum die Krankheit besonders Frauen, Kinder
und Arme befiel, welche mit hoher Phantasie und Einbildungskraft begabt
seien. Paracelsus unterscheidet neben der natürlichen, erblichen Form des
Veitstanzes (chorea naturalis) zwei weitere Formen, die uns hier besonders
interessieren: „nun also seind zwo ursachen diser krankheit des tanzes: ein na-
türliche aus den lachenden adern und ein zufällige aus den gegenbildungen". 51
Die „lachenden Adern", wie Paracelsus sie nennt, sind ein Teil des humo-
ral-pathologischen Körperverständnisses. Sie werden vom Lebensgeist unter-
halten, der sich verändern und schlecht werden kann. Wenn er in Unordnung
gerät und hüpft, wütet das Blut, es entsteht ein Kitzeln und daraus ein Lachen.
Der Lebensgeist kann schlecht werden, weil er besonders fein und sensibel ist:
„aus dem wüten kompt ein küzlen demnach ein lachen. aus dem entspringt das
der spiritus in den adem sich ie lenger ie mer rüret [ ... ] das er also subtil wird
und das blut bewegt in die krankheit. " 52 Paracelsus kann so auch die empiri-
sche Beobachtung des zwanghaften Lachens bei vielen Veitstänzern klären,
von der mehrere Chronisten berichten. 53
Die Hauptform des Veitstanzes beruht auf Glauben und Einbildung. Para-
celsus nennt sie Chorea lasciva. „so ist die ursach der krankheit choreae lasci-
vae alein ein aestimaz und ein angenomen imaginaz, die da wirkt in dem der
sich also ein solcher aestimaz schezet und des gleichen im selbs ein solche
sach imaginirt. dise aestimaz und imaginaz ist der ursprung diser krankheit
und des tanzes". 54
Paracelsus erklärt den Tanzzwang hier überaus modern mit einer Art visuel-
len und akustischen Ansteckung: Gesichtssinn und Gehörsinn werden auf et-
51 Theophrast Bombast von Hohenheim, genannt Paracelsus: Das sibent buch/Theophrasti Bom-
bast/von Hohenheirn in der arznei/von den Krankheiten, die der vernunft berauben./Das erste
tractat und/das erste capitel/von fallenden siechtagen. In: ders. 1930, S. 408.
52 Ebd.
53 Der Veitstanz, so Paracelsus aus Erfahrung, erscheine manchmal ausschließlich von Lachen
begleitet, nicht aber von Heulen, Schreien oder Springen. Er komme z.B. auch nur im Zu-
sammenhang mit Lachen und Gehen vor: Die Kranken könnten nicht ruhig sitzen, sondern
müssten immer gehen und lachen. Auch dafür sind nach Paracelsus die lachenden Adern die
Ursache, mit dem Unterschied, dass der Geist und das Blut sich nur temporär verändern und
verschlechtern.
54 Ebd., S.407.
Tanzwut 323
Mit seiner Theorie der mimetischen Ansteckung des Körpers durch die Ver-
festigung imaginativer Bilder hat der Zeitgenosse Paracelsus die hysterische
Form des Veitstanzes bereits erkannt und als gleichwertig neben die somati-
sche gestellt. Auch Marsilio Ficino hatte in einer seiner Hauptschriften De vita
triplici ( 1489) die Möglichkeit einer Ansteckung des Körpers durch Bilder an-
genommen, die über die körperliche Kategorie der Einbildungskraft erfolgt. 56
300 Jahre später spricht der Arzt Philippe Hecquet von einer „epidemischen
hysterischen Begeisterung" oder auch einer „Ansteckung durch Einbildungs-
kraft". 57 Paracelsus legt hier auch den Grundstein für ein hysterisches Veits-
tanzverständnis, das dann erst wieder im 18. Jahrhundert von Charcot als Bei-
spiel für seine Hysterietheorie aufgenommen wurde.
Interessant ist der Therapievorschlag Theophrasts für die chorea aestima-
tiva: Die oder der Befallene solle sich ein Bild von sich aus Wachs fertigen,
die ihm angehängten Veitsflüche darauf projizieren und anschließend das Bild
restlos verbrennen, um sich von dem Leiden zu befreien. Diese Art magisches
Ritual, das an afrikanische Voodoo-Praktiken erinnert, bedient sich des popu-
lären Glaubens an die Übertragung und Entledigung böser Kräfte, um eine Be-
freiung vom Fluch und somit psychische Entlastung herbeizuführen. Ganz
ähnlich beschreibt auch Montaigne in seinem Essa~ über die Einbildungskraft
die Wirkung magischer Rituale als rein psychisch. 5
5. Ansteckung
Wir sehen, dass bei den Therapievorschlägen Paracelsus' für die imaginative
Ansteckung mit Veitstanz die Psychopathologie des Fluches eine besondere
Rolle spielt; auch dies beruht auf Beobachtung. So heißt es in der Straßburger
55 Ebd., S. 410.
56 Pomponazzi weist später den Einfluss von länger anhaltender Imagination auf die Herrschaft
über das Blut und die spiriti eines anderen Körpers nach. Vgl. dazu Baader 2005, S. l 45ff.
57 Philippe Hecquet: Le naturalisme des convulsions dans les maladies de l'epidemie convul-
sionnaire". Bd. l. Solothum 1733, S. 151. Zit. n. Didi-Hubermann 2005, S. 161.
58 „Solcherart Affentheater macht den Hauptteil der Wirkung aus, weil unser Geist nicht von dem
Vorurteil lassen kann, solch ausgefallene Mittel müssten irgendeiner Geheimwissenschaft
entstammen" (de Montaigne 1992, S. 142).
324 Werner Röcke/Hans Rudolf Velten
Chronik des Daniel Specklin: „Und kam solches viel leuth an, denen man St.
Veitstantz fluchte, lieff auch viel schelmenwerk mit unter." 59
Die Veitstänzer erscheinen häufig als Verfluchte: „Gott geb dir St. Veit",
„Dass dich St. Veit ankäme" sind auch Jahrhunderte später noch übliche Ver-
wünschungsfonneln. Doch im Zusammenhang mit dem Veitstanz haben sie
offensichtlich eine starke performative Wirkung entfaltet, so dass der Glaube
an die Verfluchung zahlreiche Menschen in den Tanz getrieben hat, um den
Fluch wieder loszuwerden. Denn der Fluch, und das zeigt auch der Fluch des
asketischen Priesters von Kölbigk, ist eine der stärksten Waffen der Trennung
von Reinheit und Unreinheit. Der Fluch macht den Verfluchten zum Befleck-
ten, Unreinen, zum Ausgeschlossenen.
Unreinheit und Kontamination stehen auch bei der mimetischen Form der
Ansteckung über die vis imaginativa im Zentrum, die für Paracelsus ungleich
wichtiger als der Fluch ist. Bei der Unterdrückung der Vernunft und der Isolie-
rung der sinnlichen Wahrnehmung durch die Einbildungskraft muss ein starker
Ersteindruck vorhanden sein, der einen Schock oder zumindest große Angst
erzeugt. 60 Dieser Ersteindruck ist meist mit der Erfahrung des Anormalen oder
Anderen verbunden, häufig mit der visuellen und auditiven Wahrnehmung
körperlich Anderer. Gerade ein an Epilepsie gemahnender Tanz wie der Veits-
tanz kann unmittelbare sinnliche Wirkung auf die Umstehenden ausüben und
starke, überwältigende Affekte in ihnen auslösen. Über visuelle und akustische
Reize nimmt der Zuschauer die Tänzer und ihre Körper und Gebärden wahr,
die sich in ihm verfestigen („also wirts mir imprimiert"). Der Blick im Beson-
deren entfaltet transformierende Kraft und führt eine körperliche Veränderung
herbei. 61
Die Ansteckunf erfolgt somit über die mimetische Kraft des Blickes, aber
auch des Gehörs; 2 sie versetzt den so Kontaminierten in einen gefährlichen
Schwellenzustand, der von der Transgression des Tanzes geschaffen wird und
in dem die Ansteckung stattfinden kann oder nicht. In den Straßburger Rats-
protokollen ist eine Aussage des Lehrers Balthasar Burgauer enthalten, der
gesagt habe, „sin Son Bernhart hab zugesehen und hüt morgen angefangen
dantzen, do er jm die kindt solt helffen vnderwisen."63
Hier trifft das vorhin Zitierte von Paracelsus zu: „und nach meiner imaginaz
wie ichs betracht hab oder vor mir gesehen, tun ich demselbigen gleich; dan
mein verwilligung ist ursach der krankheit. ·<64
Dies ist nicht weit von der Theorie des Pariser Nervenarztes Jean-Marie
Charcot entfernt, der in der Tanzwut einen epidemischen hysterischen Wahn
sah, in dem sich die Hysterie als Ansteckung der Einbildungskraft, als Verstel-
lung durch den Blick, als mimetische Unbändigkeit darstellt. 65 Somit hat Para-
celsus, ohne den Begriff zu benutzen, mit seiner chorea imaginativa schon
sehr früh eine Form der Hysterie beschrieben, sie jedoch eindeutig als Krank-
heit klassifiziert.
6. Fazit
65 Charcot machte in diesem Zusammenhang auf die Ansteckung des Gähnens aufmerksam. das
er als „bedrohlichen Reiz" charakterisierte. Man müsste sicherlich auch das Lachen hinzuneh-
men. Vgl. Schaps 1982, S. 119.
326 Werner Röcke/Hans Rudolf Velten
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Wiora, Walter: Der Brautreigen zu Kölbigk in der Heiligen Nacht des Jahres 1020. In:
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CHIDORI IV-SHIWASU
CHIDORI IV - shiwasu ist eine Produktion im Rahmen einer Reihe von Tanz-
stücken, die unter dem Obertitel CHIDORI laufen. Angefangen mit CHIDORI
- crazy heat 1995 haben Junko Wada und Hans Peter Kuhn bisher vier Stücke
gemeinsam entwickelt. Chidori ist der Name eines kleinen japanischen Vogels,
der auf vielen landesüblichen Textilien und Bildern symbolisch dargestellt ist.
In der Größe eines Sperlings fliegt er taumelnd, mit dem Auge schwer zu ver-
folgen und mit hoher Geschwindigkeit. Auch wenn bereits die unwirkliche
Leichtigkeit der Bewegung dieses Vogels die Assoziation zu Junko Wadas
Tanz erweckt, gibt es noch eine weitere Beziehung, die sehr persönlicher Art
ist. Als die Tänzerin im Alter von drei Jahren einen längeren Krankenhausauf-
enthalt überstehen musste, bekam sie einen Schlafanzug geschenkt, der über-
sät war mit Chidori-Symbolen. Seitdem ist es ihr Lieblingsvogel.
Die Produktion im Rahmen des Symposiums „Tanz als Anthropologie" war
eine Auftragsarbeit, die auf den Raum des Theaters in der Akademie der
Künste im Berliner Hansaviertel zugeschnitten war. Die Bühne war vollstän-
dig schwarz abgehängt und mit schwarzem Tanzboden ausgelegt. Tanzboden
ist ein gummiartiger Bodenbelag, der handelsüblich auf einer Seite schwarz
und auf der anderen Seite weiß ist. Diese Eigenschaft hat Junko Wada für Ihre
Bühnenbild- und Spielidee zum Hauptelement gemacht. Auf den ausgelegten
Boden wurden drei weitere kurze Streifen Tanzbodens parallel zur Rampe gelegt.
Dabei war am Anfang einer der drei Teile umgedreht, also mit der weißen Seite
nach oben. Während der drei Teile des Tanzstückes wurden von zwei Herren
in schwarz die drei Tanzbodenteile mehrfach umgewendet, so dass unter-
schiedliche Sequenzen von ganz schwarz bis ganz weiß entstanden (Abb. 1-3).
Sowohl die Unterteilung der Komposition in die drei Teile Ff(Jo), ~(Ha)
und :fü- (Kyu) als auch die Wahl der schwarz vermummten Bühnenhelfer ha-
ben ihren Ursprung in der japanischen Theatertradition, im No-Theater res-
pektive im Bunraku-Puppenspiel. Selbst wenn die Art der Bewegungen der
Tänzerin an traditionelle asiatische Tanzformen erinnert, liegt hier doch ganz
eigenständige, zeitgenössische Formensprache vor. Unterstützt wurde die
Choregraphie von einer vierkanaligen raumgreifenden Klangkomposition von
Hans Peter Kuhn, die den drei Teilen unterschiedliche Tempi und Ausdruck
verlieh.
330 Junko Wada/Hans Peter Kuhn
Die Arbeiten von Wada und Kuhn sind alle eher als abstrakt zu bezeichnen, es
werden keine konkreten Geschichten erzählt, sondern Konzentrationsfelder
angeboten, auf die der Zuschauer sich einlassen kann. Jeder erlebt dabei seine
eigene Geschichte und dennoch gibt es ein gemeinschaftliches Erleben. Die
zusammen erlebte Spannung, die der Tanz ausdrückt und die räumliche Erfah-
rung, die durch die Musik gegeben wird, lassen die Zuschauer sehr direkt be-
teiligt sein. Junko Wadas gestenreiche, aber dennoch minimalistische Bewe-
gungssprache erlaubt dem Betrachter, eine große Nähe zu entwickeln; man
fühlt sich direkt und sehr persönlich angesprochen. Die formale Struktur des
Stückes und das schlichte Bühnenbild sorgen dabei für die notwendige Klar-
heit des Hintergrundes, vor dem dies stattfindet.
CHIDORI IV shiwasu 331
Vor Ort
Die Konzeption des Soloabends ist in mehrfacher Weise angeregt durch zwei
Orte: Berlin und das Ruhrgebiet. Von beiden Orten, die zum einen tanzhisto-
risch, zum anderen biographisch für Reinhild Hoffmann prägend waren, nimmt
das Stück seinen Ausgang und präzisiert sie in zwei Ausschnitten: dem „Berli-
ner Zimmer" und der „Waschkaue". Der dritte Ort, den beiden äußeren Orten
gegenüber, ist losgelöst von einem Umraum: der Körper. Das Spannungsfeld
dieser drei Orte ist Impuls für die choreographische Arbeit. Sie konfrontiert
sich in zwei Abschnitten mit dem Medium Film/Video und seinen spezifi-
schen Möglichkeiten. Intendiert ist nicht ein einfaches Nebeneinander, son-
dern ein Dialog von Choreographie und Film. von körperlicher Bewegung und
bewegtem Bild, von realer und projizierter Figur, von realem und projiziertem
Raum. Für die eine Bewegungs- und Film-Sequenz gibt es eine räumliche
Motivation: Sie ist charakterisiert durch das Spiel. Die zweite Sequenz ist aus
zeitlichen Motivationen entstanden: aus dem gleichmäßigen Ostinato einer Ar-
beits-Bewegung, die das Zeitmaß für die Choreographie und den Wechsel von
hell zu dunkel in der filmischen Projektion vorgibt.
Vor Ort 333
AUTORINNEN UND AUTOREN
Georges Didi-Huberman ist Kunsthistoriker und Philosoph und lehrt an der Ecole
des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris. Gastprofessuren u. a. an der Johns
Hopkins University, in Berkeley, am Londoner Courtauld Institute, der FU Berlin
und in Tokyo. Ausstellungsleitungen u. a. 1997 l 'Empreinte im Pariser Centre
Georges Pompidou und 2001 Fahles du /ieu im Studio national des Arts contem-
porains Tourcoing. Zuletzt erschienen: Le danseur des solitudes (2006) und auf
deutsch Venus öffnen (2006).
Rolf E/berfe/d ist seit 2002 an verschiedenen Universitäten als Privatdozent tätig.
Er erhielt 2001 für seine Habilitationsschrift Phänomenologie der Zeit im Bud-
dhismus den Straniak-Philosophie-Preis 2001 und 2002 den Karl-Jaspers-Förder-
preis. Bücher: Kitarö Nishida (1870-1945). Moderne japanische Philosophie und
die Frage nach der Interkulturalität ( 1999); Phänomenologie der Zeit im Buddhis-
mus. Methoden interkulturellen Philosophierens (2004 ).
Jsabel Cape/oa Gil ist Professorin für Literatur- und Kulturwissenschaft an der
Katholischen Universität in Lissabon. Zahlreiche Publikationen zu Tanz und Lite-
ratur, Film, Geschlechterdifferenz, Wissenschaft und Literatur und Kultur um 1900.
Gastprofessuren an den Universitäten Hamburg, Saarbrücken, Western Michigan
(USA), UF Rio Grande do Sul (Brasilien), Wales und National University of lre-
land (Galway). Sie ist Vize-Präsidentin des Portugiesischen Germanistenverbandes.
Axel Michaels ist seit 1996 Professor für Klassische Indologie am Südasien-Insti-
tut der Universität Heidelberg. Seit 2002 ist er Sprecher des Sfb 619 „Ritualdyna-
mik" an der Universität Heidelberg und seit 2004 Sprecher des DFG-Kollegiums
106 („Ethnologie, Religionswissenschaft, Außereuropäische Kulturen"). Arbeits-
und Forschungsschwerpunkte umfassen Praxis und Geschichte des Hinduismus,
Sozial- und Religionsgeschichte Nepals und allgemeine Ritualforschung. Zuletzt
erschien: Die Kunst des einfachen Lebens. Eine Kulturgeschichte der Askese (2004).
Werner Röcke ist seit 1993 Professor für Ältere deutsche Literatur an der Hum-
boldt-Universität zu Berlin und seit 1994 Dekan der Phil. Fak. II der Humboldt-
Universität. Er leitet das Teilprojekt ,,Lachkulturen" im Stb 447 ,,Kulturen des Per-
formativen" sowie das Teilprojekt „Transformationen des antiken Liebes- und
Reiseromans" im Stb 644 „Transformationen der Antike". Seine Forschungs-
schwerpunkte sind u. a. Lachkulturen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit,
Geschichte des Romans und Inszenierungen von Gewalt und Gewaltvermeidung
in Literatur und Kultur des Mittelalters.
Renate Schlesier ist seit 2002 Inhaberin des Lehrstuhls für Religionswissenschaft
an der freien Universität Berlin und Leiterin des Projektes ,,Ritual und Risiko. Zur
Performativität des Spiels zwischen Kulturanthropologie, Religion und Kunst" im
Stb 447. Ihre Arbeitsgebiete umfassen u.a. Wissenschaftsgeschichte der Religions-
wissenschaft, Kultur- und Religionsgeschichte der griechischen und römischen
Antike und Transfer und Transformation religiöser Vorstellungen und Praktiken in
der europäischen kulturellen Tradition bis in die Modeme. Sie ist Mit-Herausge-
berin von Reisen über Grenzen: Kontakt und Konfrontation, Maskerade und Mi-
mikry (2003 ).
Gerald Siegmund ist seit 2005 Professor am Institut für Theaterwissenschaft der
Universität Bern. Als Tanzkritiker für mehrere Zeitungen und Zeitschriften ver-
fasste er zahlreiche Essays und Aufsätze zum zeitgenössischen Tanz und Theater.
Seine Habilitation Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes ist 2006
erschienen.
Helen Thomas ist Research Director am London College of Fashion und Ko-Di-
rektorin des University Research Centre for Fashion, the Body and Material Cul-
tures. Zuletzt leitete sie drei Forschungsprojekte über Tanz und soziale Integration
für die South East Dance National Dance Agency. Zurzeit leitet sie ein Projekt
über Schmerz und Verletzungen im kulturellen Kontext.
Ralph Ub/ ist seit 2003 Assistenzprofessor am Kunsthistorischen Seminar der Uni-
versität Basel (Laurenz-Professur für zeitgenössische Kunst). Veröffentlichungen
zu Dada und Surrealismus, Kunst nach 1960, Malerei der französischen Romantik.
Gemeinsam mit Wolfram Pichler (Wien) bereitet er einen Sammelband zur topo-
logischen Imagination in Kunst und Theorie vor und arbeitet an einer Habilitations-
schrift zu Delacroix und Gericault.
Hans Rudolf Velten ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Stb 447 „Kulturen des
Performativen". Seine Forschungsschwerpunkte umfassen u. a. Frühgeschichte
338 Autorinnen und Autoren
und Theorie der Autobiographie, Theorien des Lachens und des Komischen, Nar-
renfigurationen in Text und Bild und utopische Literatur des 15. und 16. Jahrhun-
derts. Er ist zusammen mit Werner Röcke Herausgeber von Lachgemeinschaften.
Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter
und in der frühen Neuzeit (2005).