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Anatomie, Vivisektion und Plastination in Gedichten der Frühen Neuzeit (Gryphius,

Wiedemann, Brockes)
Author(s): Alexander Košenina
Source: Zeitschrift für Germanistik , 2009, Neue Folge, Vol. 19, No. 1 (2009), pp. 63-76
Published by: Peter Lang AG

Stable URL: https://www.jstor.org/stable/23978480

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Alexander Kosenina

Anatomie, Vivisektion und Piastination in Gedichten der


Frühen Neuzeit (Gryphius, Wiedemann, Brockes)

Als Rainald Goetz sich im Juni 1983 beim Klagenfurter Ingeborg-Bachm


bewerb mit einer Rasierklinge die Stirn ritzte, konnte er großen Eindru
Der Schnitt ins eigene Fleisch hat sich - der Redensart zum Trotz —
lohnt, die Performance wurde als spektakuläre Einleitung zum grellen
(1986) wahrgenommen. Doch die grenzverletzende Inszenierung war
wie die — vor allem religiös motivierte — Aufregung über Gunther von
weit gezeigte Ausstellungen menschlicher Plastinate unter dem Titel Bo
(1995 ff.). Beide Ereignisse stehen in der langen Tradition einer Ästhet
ckens, die den Zuschauer in unentrinnbarer Weise bannt. Seit der Früh
zählen Hinrichtungen, Irrenhäuser und anatomische Theater zu den belieb
lichen Sensationen, die ein kontrolliertes Spiel mit der Lust an der Angs
Die seit Ende des 14. Jahrhunderts in Italien durchgeführten Sektion
erstmals an der Universität Padua einen eigenen Schauplatz.2 Um 1
Alessandro Benedetti dort das erste Theatrum anatomicum, das sich archi
antiken Amphitheater orientierte und in ganz Europa als Vorbild für ä
ten des 16. und 17. Jahrhunderts diente. An solchen Orten wurden Sek
Vivisektionen durchgeführt, nicht allein für die medizinische Ausbildung
zur Belehrung und Unterhaltung eines größeren Publikums — durchaus
Horaz'schen Wirkungskategorien des docere und delectare. Die meisten L
Andreas Vesals klassischer Abhandlung De humani corporis fabrica (1543
dungen solcher Theater. Gegen ein entsprechendes Eintrittsgeld hatten z
gehobenen Kreise Zutritt: Als etwa 1780 der Jenaer Medizinprofessor J
an Loder in Weimar ein Gehirn zergliederte, kamen außer der Herzogin
und Herder. Gedruckte Plakate dienten der Ankündigung, seziert wurd
gerichtete männlichen oder weiblichen Geschlechts. Schwangere oder d
tion der Geburtsglieder — etwa zur Eröffnung des Berliner Theatrum anatom
galten dabei als besondere Attraktion.
William Hogarths Kupferstich The Reward of Cruelty zeigt eine solche
rer ganzen Drastik. Es ist das letzte Blatt der Four Stages of Cruelty (175
Verbrecherlaufbahn Tom Neros erzählen: Das Spektrum reicht von Tier
Diebstahl, Hehlerei und Schwängerung bis Mord, nach der Hinrichtung

Zu den drei Schreckensorten vgl. exemplarisch: Jürgen Martschukat: Inszeniertes Töten. E


der Todesstrafe vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, Köln 2000; Alexander Kosenina: Von
Steinhof: Irrenhausbesuche in der Frühen Neuzeit und Moderne. In: ZfGerm NF 17 (20
Stefanie Stockhorst: Unterweisung und Ostentation auf dem anatomischen Theater der
Die öffentliche Leichensektion als Modellfall des theatrum mundi. In: Zeitsprünge 9 (2005),
Einen Uberblick und weiterführende Literatur bietet Wolfgang U. Eckart: Art.: Anatomie,
Theater. In: F.Jäger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1, Stuttgart 2005, Sp. 361-36

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I t*Ci Ar»'/f/S I Hir.ltttrtriMinf t'Sfiaitir.
(Abb. 1)

auf dem Seziertisch (vgl. Abb. I). Solche Spektakel auf dem anatomischen Theater folg
ten einer festen Ordnung: Zunächst wurde die scharfrichterliche Unreinheit in ei
nem symbolischen Akt der ,Ehrlichmachung' durch ein entsprechendes Sigel aufge
hoben, nach Musikeinlagen und einem Eröffnungsvortag sezierte der Prosektor bei
gedämpftem Kerzenlicht die vom vorlesenden Hochschullehrer erläuterten Körper
teile, was mehrere, über Tage verteilte Sitzungen erfordern konnte.
Die Feierlichkeit vieler Darstellungen der Renaissance ist bei Hogarth einer scho
nungslosen Karikatur gewichen. Im inneren Zirkel des Londoner „Cutlerian Theatre",
nahe des Gefängnisses Newgate, weiden Schlächter Tom Neros Körper regelrecht aus:
Der von einer derben Schraube durchbohrte Kopf mit dem durch leidende Züge entstell
ten Gesicht hängt an einem Flaschenzug; Augen, Innereien und Fußmuskeln werden
gerade freigelegt; der Demonstrator — hier der Anatomieprofessor selbst — deutet mit
seinem Zeigestab auf die behandelten Körperteile. Die Eingeweide sammelt ein Gehilfe
im Vordergrund in einem Eimer, ein Hund beseitigt Uberreste und sorgt so für Hy
giene. Links werden Knochen zur Maseration ausgekocht, anschließend entstehen daraus
Skelette, wie sie im Hintergrund zu sehen sind. Die Akademiker in der ersten Reihe

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sowie das dahinter postierte Publikum nehmen sehr unterschiedlichen Anteil an der
Vorführung, die über Studienzwecke hinaus der öffentlichen Abschreckung dienen soll.
Besonders spektakulär und grausam sind Vivisektionen, also die experimentelle Öff
nung lebender Wesen. Im Januar 1540 zerlegte Andreas Vesal in Bologna vor 150
Zuschauern einen Hund und demonstrierte, wie mittels Durchtrennung zweier Ner
ven nahe des Kehlkopfes das klägliche Jaulen abzustellen war, während die weiter be
stehende Bissigkeit auf starke Schmerzempfindungen deutete. Am Ende legte er das
Herz frei und stellte dessen Bewegungen zur Beobachtung aus.
Das anatomische Zeremoniell mit seinen theatralischen Begleiterscheinungen ist in
der Forschung ebenso wie eine Fülle bildlicher Darstellungen — etwa Rembrandts
berühmtes Gemälde Die Anatomie des Dr. Tulp (1632) - ausgiebig diskutiert worden.3
Literarische Repräsentationen hat man dabei aber meist übergangen, nicht zuletzt
aufgrund ihrer Seltenheit.4 Im Folgenden sollen drei Gedichte aus der Frühen Neu
zeit zeigen, dass die literarische Auseinandersetzung mit Anatomie und Tod zentrale
Epochenkonzepte profiliert: I. die Idee der Vergänglichkeit bei Andreas Gryphius,
II. das christliche Verdikt naturwissenschaftlicher Neugierde und Anmaßung bei
Michael Wiedemann, III. der physikotheologische Lobpreis Gottes angesichts geöffne
ter und plastinierter Körper bei Barthold Heinrich Brockes.

I. Andreas Gryphius' Gedancken über den Kirchhoff und Ruhestädte der Verstorbenen (1657)
ist eine Reflexion über Vergänglichkeit und Tod. Jede der 50 Strophen besteht aus acht
regelmäßig gereimten Verszeilen mit vierhebigen Jamben. Das Gedicht behandelt zwar
keine Sektion im engeren Sinne, doch die sehr plastisch visionierten Toten sind durch
die Macht der Zeit und der Verwesung „Zerstückt / entädert vnd zerlegt" (V. 192).5 Die
so verschwundenen „Wunder der Geschöpff" (V. 161) werden systematisch rekonstru
iert, das durch Maseration „gantz entfleischete Gerippe" (V. 170) erhält ein neues Ge
wand aus Sprache. In der barocken Liebeslyrik - etwa in Martin Opitz' Ach Liebste / Laß
uns eilen oder Hoffmann von Hoffmanswaldaus Vergänglichkeit der Schönheit — überredet
der Mann die Geliebte durch Aufzählung der vom zeitlichen Verfall (vanitas) bedrohten
körperlichen Schönheiten zur Hingabe und Nutzung des Augenblicks (carpe diem).
In Gryphius' Gedicht orientiert sich die Überlegung auf dem Friedhof am gleichen
Schema: Der Blick gleitet von Kopf bis Fuß über alle Körperpartien, die einst von
Leben erfüllt waren, also von den Haaren, Ohren, Lippen, Wangen über die Schultern
Vgl. Anna Maria Cetto: Die anatomische Sektion in bildlicher Darstellung, Basel, New York 1968; Jona
than Sawday: The Body Emblazoned. Dissection and the human body in Renaissance culture, London,
New York 1996; Karin Stukenbrock: „Der zerstückte Cörper". Zur Sozialgeschichte der anatomischen
Sektionen in der frühen Neuzeit (1650-1800), Stuttgart 2001; Ulrike Zeuch (Hrsg.): Verborgen im Buch.
Verborgen im Körper: Haut, zwischen 1500 und 1800, Wolfenbüttel 2003; Albert Schirrmeister (Hrsg.):
Zergliederung. Anatomie und Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2005.
Ausnahmen sind Jürgen Söring: Poetische Anatomie. Zum Funktionswandel des Dichtens. In: E. Iwasaki
(Hrsg.): Begegnungen mit dem .Fremden'. Grenzen - Traditionen - Vergleiche. Akten des VIII. Inter
nationalen Germanisten-Kongresses, Bd. 9, München 1991, S. 171-188; Mathias Pozsgai: Topographien
des Authentischen. Körperbilder in Anatomie und Literatur. In: J. Funk, C. Brück (Hrsg.): Körper-Kon
zepte, Tübingen 1999, S. 165-189.
Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke, hrsg. v. Marian Szyrocki u. Hugh Powell,
Bd. 3, Tübingen 1964, S. 1-18, hier S. 11.

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zum Busen, den Händen, dem Schoß und den Füßen. Uberall hat „die Zeit / Ihr
grimmes Recht" (V. 201 f.) geltend gemacht; und wo das Skelett so noch nicht rein
gewaschen ist, sieht man die Verwesung in Aktion: Würmer und Schlangen haben sich
hier - wie später ganz ähnlich in Gottfried Benns Morgue-Zyklus (1911) - eingenistet,
um sich vom toten Leib zu nähren und so zu wachsen. Nichts wird in diesem Stillleben
beschönigt oder ausgespart; nur ist — wie Moses Mendelssohn im 18. Jahrhundert beto
nen wird — der Verfall eines höheren Tieres oder Menschen schwerer erträglich als das
Verfaulen von Pflanzen und Früchten,6 wie man es von zahllosen Barockgemälden
kennt. Diese Topik des memento mori ist im 17. Jahrhundert weit verbreitet, Ferdinand
van Ingens große Studie hat das Feld bereits vor über 40 Jahren eingehend bearbeitet.7
Gryphius illustriert das fehlende Tabu einer Ästhetik des Ekelhaften in Strophe 31:

Der Därmer Wust reist durch die Haut /


So von den Maden gantz durch bissen;
Ich schau die Därmer (ach mir graut!)
In Eiter / Blutt vnd Wasser fliessen!
Das Fleisch / das nicht die Zeit verletzt
Wird vnter Schlangen=blauen Schimmel
Von vnersätlichem gewimmel
Vielfalter Würmer abgefretzt. (V. 241-248)

Nicht nur dieser Text zeigt, dass Gryphius' zentrale Idee der vanitas sich keineswegs allein
dem Dreißigjährigen Krieg oder der Pest verdankt, sondern auch dem Erlebnis der
Anatomie. „Mein Cörper ist nicht mehr als ädern / feil vnd bein", heißt es etwa im
Sonett An sich Selbst,8 Zu solchen Einsichten gelangt Gryphius nicht zuletzt im Anatomi
schen Theater zu Leiden, das er 1638 als Jurastudent immer wieder besucht. Sein erster
Biograph Baltzer Siegmund von Stosch erklärt dazu 1665: „Zu welchem Studio er solche
Lust bekommen / daß er selbst hernach etliche Sectiones vorgenommen." Zur Erläute
rung fugt Stosch die rhetorische Frage hinzu, wen es wohl nicht interessieren würde, „in
des Menschen Leibe einen Außzug und Modell der grossen Welt zu sehen? dergleichen
Sceleta in dieser Anatomi-Kammer unzehlich viel sollen gefunden werden."9
Erst in der Frühen Neuzeit ist es möglich geworden, diese theoretische Neugierde
über sich und den Menschen zu befriedigen. Sie gibt eine erste Antwort auf die in
der 34. und letzten Strophe der Kirchhofsgedanken fast gleich lautend gestellte Frage:
„Ach Todten! ach was lern ich hier! // Was bin ich / vnd was werd ich werden!"
(V. 265£, V. 393f.) Der Friedhof wird so zu einer „Schule der Sterbekunst", zu einer
„schola artis moriendi".10 Doch die curiositas ist lediglich Mittel und nicht Zweck, die

6 Moses Mendelssohn: Über die Frage: was heißt aufklären? In: E. Bahr (Hrsg.): Was ist Aufklärung. The
sen und Definitionen, Stuttgart 1974, S. 3-8, hier S. 7.
7 Ferdinand van Ingen: Vanitas und Memento mori in der deutschen Barocklyrik, Groningen 1966.
8 Gryphius (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 61.
9 Baltzer Siegmund von Stosch: Danck= und Denck=Seule des ANDREAE GRYPI1. In: Andreas Gryphius,
text + kritik, Bd. 7/8, München 21980, S. 2—11, hier S. 6.
10 Vgl. Johann Anselm Steiger: Schule des Sterbens. Die ,Kirchofgedanken' des Andreas Gryphius (1616 bis
1664) als poetologische Theologie im Vollzug, Heidelberg 2000, S. 36 f. Steigers Deutung basiert auf den
theologischen Gehalten, vor allem der Auferstehungsvision und der Vorstellung vom Jüngsten Gericht.

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Anatomie, Vivisektion und Piastination in Gedichten der Frühen Neuzeit 67

Frage nach der Bestimmung des Menschen beantwortet der Sprecher im letzten Vers
paar, mit Verweis auf das ewige Leben: „Wenn ich die Welt zum Abschied griisse /
Mög' auß dem Tod ins Leben gehn!" (V· 399f.) Um möglichst eindringlich die Ve
gänglichkeit und Eitelkeit des irdischen Daseins zu demonstrieren, gehen die Schluss
folgerungen aus Tod und Verwesung in Strophe 48 unmissverständlich voran:

Sie [die Leiche] zeigt dir / daß du must vergehn!


In Faul / in Angst / in Stanck / in Erden!
Daß auff der Welt nichts könne stehn!
Daß iedes Fleisch muß Aschen werden!
Daß / ob wir hier nicht gleiche sind /
Der Tod doch alle gleiche mache!
Geh vnd beschicke deine Sache /
Daß dich der Richter wachend find. (V. 377-384)

II. Das zweite Beispiel verspricht eine weitere Steigerung der drastischen Schild
rungen, aus denen Gryphius seine Heilsbotschaften ableitet: Michael Wiedemann ge
staltet in dem insgesamt 444 Alexandriner umfassenden Versepos Souvenello oder der
abgestrafte Vorwitz (1689) einen mehr auf Gerüchten als der Wirklichkeit beruhenden
Kriminalfall aus Padua.11 Wie Zeitungen sogar in Deutschland berichteten, soll dort
im Jahre 1661 ein Chirurg einen Soldaten bei lebendigem Leib aufgeschnitten haben,
um auf den Spuren von William Harveys bahnbrechender Exercitatio Anatomica de Motu
Cordis et Sanguinis in Animalibus (1628) die neue Lehre von der Blutzirkulation und
der Herzaktivität zu beobachten. Das Gedicht besteht aus einer monologischen Selbst
anklage des verbrecherischen Anatomen, dem man für seine Mordtat angeblich zuerst
die rechte Hand und den Kopf abschlug. Dann soll er aufs Rad gebunden und nochmal
symbolisch exekutiert worden sein.
Das Bekenntnis des grausamen Arztes, für den Wiedemann den Namen Souvenello
erfindet, gipfelt im selbst geschaffenen Epitaph der epigrammatischen Schlussverse: „Hier
faulet ein Spion verborgner Heimligkeiten / Hier strafft Natur und Recht den bösen
Vorwitz ab."12 Der Naturforscher bereut zwar seine Hybris und erklärt sich letztlich
damit einverstanden, ,,[d]aß jener Hertzens-Schnitt nach Recht vergolten sey",13 doch
die curiositas mag er riicht pauschal im Sinne von Augustinus als „impia superbia" ver
dammen.14 Nur in Verbindung mit Grobheit, Grausamkeit und Gefahr gilt der „Vor

11 Vgl. Achim Aurnhammer: Harvey und der Paduaner Herzaufschneider. Zur Resonanz der Vivisektion
in der deutschen Barockdichtung (Mitternacht, Ernst, Wiedemann). In: W. Kühlmann (Hrsg.): Iiiaster.
Literatur und Naturkunde in der Frühen Neuzeit, Festgabe für Joachim Teile zum 60. Geburtstag, Hei
delberg 1999, S. 13-39, bes. S. 15 (Anm. 9).
12 Michael Wiedemann: Souvenello oder der abgestrafte Vorwitz. In: Historisch-poetische Gefangenschaff
ten. Dritter Monat Martius, Leipzig 1689, S. 23.
13 Ebenda.

14 Der Prozeß der theoretischen Neugierde von der antiken Naivität über die mittelalterliche Verteufelung b
zur Nobilitierung in der Aufklärung ist Gegenstand der meisterhaften Geschichte von Hans Blumenberg:
Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1966 (Teil 3). Vgl. knapp Götz Müller, Art.: Neugierde. In
J. Ritter u. a. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Darmstadt 1984, Sp. 732-736.

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witz" als strafbar, in


der Natur und zur Nu

Jedoch was ists nunme


Man muß doch der Natur Geheimnisse besehn /
Denn kein gelehrtes Buch wil ungelesen bleiben /
Und was man nicht versucht / das bleibet ungeschehn.
Man muß das grosse Buch der Welt doch ausstudieren /
Wir haben ja die Lust mit auff die Welt gebracht /
Die Schule der Vernunfft lehrt uns ja buchstabiren /
Biß Übung / Fleiß und Kunst uns gar zu Meistern macht. [...]
Denn unser Vorwitz wil stets nach Verborgnem streben /
Er künstelt an der weit lang biß es gelückt. (V. 105-112; 231 f.)

Diese Rechtfertigung theoretischer Neugierde im modernen Sinne von Francis Baco


oder René Descartes ist freilich kein strafmildernder Umstand fiir die begangene Mordtat
Wiedemann spricht in der Prosavorrede zu dieser dritten der auf zwölf Monate ang
legten Historisch-poetischen Gefangenschafften vielmehr von der „Schuld eines Majest
Lästerers der Natur / und eines Diebes ihrer Geheimnisse".15 Souvenello nimmt diese
Schuld ohne Einschränkung an, offenbar mit Verweis auf die dann folgende Strafe
verflucht er seinen Kopf als planendes und seine Hand als ausführendes Instrument un
stimmt zu, ,,[d]aß jener Hertzens-Schnitt nach Recht vergolten sey" (V. 438).
Bemerkenswert ist die Figur der Selbsterkenntnis oder Selbstreflexion, die sich scho
in Gryphius' Vanitas-Lehre abzeichnet: Bei der Leichenschau und Sektion entfaltet
der Grundsatz „Hic mors vivos docet", der noch heute den Präpariersaal der Anato
mie in Heidelberg ziert, seinen doppelten Sinn - zum einen des Todes als lehrreiche
zu untersuchender Gegenstand für die Lebenden, zum anderen als aktiv lehrendes Su
jekt. Anatomie verspricht nicht nur neue Objekterkenntnisse, sondern Selbsteinsic
ten. Der sezierende Eingriff in einen anderen menschlichen Leib bietet kaum Mög
lichkeiten für eine Distanzierung des tätigen und erkennenden Subjekts. Darstellunge
von (paradoxen) Selbsthäutungen16 — die auf den Mythos von Marsyas zurückgehen
der Apoll im Wettstreit unterlag und zur Strafe bei lebendigem Leib geschunden wird —
mögen auch das Bekenntnis des grausamen Chirurgen aus Padua beeinflusst haben:
In seiner neugierigen Hybris sieht er sich bereits selbst bestraft:

Unschuldiger Soldat! ich schnitt dir nach dem Hertzen /


Und habe mir hiermit mein eigen Hertz verwundt:
Der Schnitt macht dich zwar kranck / und bracht dir Todes-Schmertzen /
Mir bringt er grössern Schmertz / und bin doch noch gesund.
Ich wolte gern dein Hertz im Blute zappeln sehen /
Und habe mir das Blut vom Hertzen abgezäpfft /
Der Blut-Strom floß von dir / so bald der Schnitt geschehen /
Und davon hab ich mir die Blut-Schuld auffgeschöpfft. (V. 37—44)

15 Wiedemann (wie Anm. 12), S. 6.


16 Vgl. Zeuch (wie Anm. 3), S. 104-115.

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fU'jUn(.< (r'JZ

The ANATOMIST.. (Abb. 2)

Aus der physischen Verletzung eines Anderen ist eine metaphysische Selbstverletzung
geworden, „die Gewissens-Noth" (V. 58 f.) wird als Messer im eigenen Herzen meta
phorisiert. Vivisektionen an Tieren, die für den medizinischen Fortschritt notwendig
sind, gelten Wiedemann in ihrer Übertragung auf den Menschen offenbar als Grenz
frage medizinischer Ethik, sie fuhren zu einer psychischen Selbstvivisektion. Dass medi
zinischer Zynismus und faustischer Wissensdrang sich immer wieder über die gebo
tene Vorsicht und Sensibilität hinwegsetzen, karikiert Thomas Rowlandson 1811 in
Gestalt eines fahrlässigen Anatomen, den es nicht zu kümmern scheint, dass sein Op
fer noch lebt (vgl. Abb. 2)}1 Unter dem grimmigen Blick des Hippokrates, der als
Büste über der Tür thront, entnimmt er seiner Instrumententasche Messer und Säge.
Ob die warnende Gehilfin ihn noch von seinem blutigen Geschäft abhalten können
wird, lässt die Darstellung offen.

17 Rowlandsons handkolorierter Kupferstich ist am leichtesten in der Bilddatenbank des British Museum
einsehbar: <http://www.britishmuseum.org/research/search_the_collection _database.aspx>.

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70 Alexander Kosenitia

III. Barthold Heinrich Br


und der Erneuerung alt
die physikotheologisch
lichen Glauben entgegen
GOTT in neun Teilen
schreitenden Untertite
Gedanken bey der Sectio
als die vorangehende
den Betrachter. Es gew
geöffneten Leib einer
Affekte zu entwickeln
angesichts der erblick
ganzen Staffel „weit sü

Furcht, Grauen, Ekel wa


Mich nahm Bewundrung
Dem folgt Erniedrigung
Und diesem auf den Fuß
Es fing ein helles Feur v
In meiner, Gott zum Ru

Indem metaphysische
Affekte wie „Furcht,
benen auf den Plan: „F
der Betrachter hat sic
die zunächst negativen
besänftigen vermag.19
der bloße Gedanke an ein anatomisches Theater mit unüberwindlichem Grauen er
füllt,20 gewinnt bei Brockes die naturkundliche Perspektive zusammen mit der phys
kotheologischen rasch die Oberhand über abstoßende Regungen. Ehrfurchtig erkenn
er, dass in des „Körpers Wunderbau" (V. 17), in „diesem Meisterstück der bildenden
Natur" (V. 22), Gott selbst sich unmittelbar zeigt, deutlicher noch als in jedem ande
ren Schöpfungswerk. Die Sektion wird damit enttabuisiert, gerade an diesem Ort eins
starker christlicher Vorbehalte zeigt sich die göttliche Vollkommenheit als überwälti
gende Offenbarung. Die fünffache Wiederholung des Wortes ,Wunder' in verschie
denen Fügungen (V. 7, 11,16,17,21) betont die Überraschung und Beglückung durch
dieses Erlebnis. Dadurch würde selbst der nüchternste und säkularste Naturforscher

18 Am einfachsten zugänglich in: Walther Killy (Hrsg.): Die Deutsche Literatur vom Mittelalter bis zum
20. Jahrhundert, Bd. 4: 18. Jahrhundert, München 1983, S. 374f.
19 Zum „angenehmen Grauen" bei Brockes vgl. ausfuhrlich Carsten Zelle: „Angenehmes Grauen". Literarh
torische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert, Hamburg 1987, S. 203—251
20 In dem um 1777 entstandenen siebten Spaziergang aus den Träumereien eines einsamen Spaziergängers (1782
heißt es: „Welch gräuliche Einrichtung ist ein anatomisches Theater, stinkende Leichname, fahles, schle
miges Fleisch, Blut, die ekelhaften Gedärme, scheußliche Gerippe und pestilenzartige Ausdünstungen
Wahrlich, auf mein Wort, dort wird J.J. nie seinen Zeitvertreib suchen." (J.-J. Rousseau: Schriften, hrsg
v. Henning Ritter, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1988, S. 724)

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so die Pointe im letzten Vers, zum physikotheologischen Glauben bekehrt: „Hier


kein Atheist ein Atheiste bleiben" (V. 26). Schon Papst Benedikt XIV. witterte übr
Anfang des 18. Jahrhunderts in der Sektion die Möglichkeit eines Gottesbeweises
plädierte deshalb für eine Anerkennung durch die Kirche.21
Brockes harmonisiert dadurch geschickt die physische und metaphysische Ordn
vermittelt also den neuen naturwissenschaftlichen Geist mit der .natürlichen Reli
und Kosmologie der Frühaufklärung. Darin treten klare und kausale Einsicht in
vernünftige und wohlgeordnete Welt zunehmend an die Stelle eines blinden Glau
an orthodoxe Grundsätze. Von einem Eingriff der Naturforschung in die providen
Macht des Schöpfers, die bei Gryphius und Wiedemann noch gefurchtet wird, fehlt hi
jede Spur. Leonardo da Vinci rechtfertigt bereits Ende des 15. Jahrhunderts seine
brechenden anatomischen Illustrationen damit, dass man nur so den Werkmeist
vieler bewundernswerter Dinge kennenlernen könne. Die Physikotheologen der Frü
klärung machen diese Überlegung zum zentralen Argument gegen christlich motiv
Beschränkungen der theoretischen und experimentellen Neugierde: Da Gottes w
Schöpfungsplan überall in der Natur manifestiert ist, sollte kein Objekt der Natur
wissenschaftlichen Untersuchungen ausgeschlossen bleiben, schon gar nicht der Me
Jedes Detail der Natur einer besonderen Absicht Gottes zuzuschreiben, fuhrt in
zu einem philosophisch nichtssagenden Argument, wie Kant in seiner frühen Sch
über den einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes (176
zeigt. Schiller fasst diesen Einwand knapper und witziger im Xenion Der Teleolog:
che Verehrung verdient der Weltenschöpfer, der gnädig, / Als er den Korkbaum s
gleich auch die Stöpsel erfand!"22 Im Unterschied zu vielen anderen Beispielen a
dem Irdischen Vergnügen in Gott vermeidet Brockes in seinem Gedicht über die Se
eines Körpers indes eine lange Aufzählung von Indizien göttlicher Vollkommenh
und wechselt auf die Seite des Rezipienten. Arno Schmidts Kritik, Brockes inter
siere sich nicht für „das Mikroklima der Seelen", weil die „bloße Aufzählung" als
gnetberg der Realisten" im Vordergrund stehe, trifft auf dieses Beispiel also nicht zu.2
Der bemerkenswerte Umschlag in Brockes' Gedicht von Abscheu und Ekel angesi
des sezierten Leibes in Bewunderung der körperlichen Schönheit greift eine Trad
aus der Kunstgeschichte auf. Seit dem 16. Jahrhundert erscheinen anatomische D
lungen stark idealisiert: Höchst paradox bewegen sich Figuren scheinbar lebendig
geöffnetem Leib in Renaissancelandschaften oder inmitten von klassizistischen A
tekturkulissen, sitzen in konventionellen Posen Modell und präsentieren sich dem
trachter oftmals mit lasziver erotischer Herausforderung.24 Besonders beliebt sind
liche Anatomiemodelle, die ihren Urogenitaltrakt - ein selbst für Medizinstuden
lange gehütetes Geheimnis - zur Schau stellen.25 Brockes' Entscheidung, seinen Le
21 Vgl. Ulrike Enke, Manfred Wenzel: Wißbegierde contra Menschlichkeit. Goethes ambivalentes Verh
zur Anatomie in seiner Dichtung und Biographie. In: Goethe-Jahrbuch 115 (1998), S. 155-170, hier S. 1
22 Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 1, Weimar 1943, S. 311.
23 Arno Schmidt: Barthold Heinrich Brockes. Nichts ist mir zu klein. In: Sämtliche Nachtprogramm
Aufsätze, Bd. 1, Bargfeld 1988, S. 11-35, hier S. 17, 27.
24 Vgl. Ulrike Zeuch: Anatomie als die Herausforderung für die Schönheitsbestimmung des mensch
Körpers in der Frühen Neuzeit. In: Zeitsprünge 9 (2005), S. 252-268.
25 Vgl. Abb. in: Zeuch (wie Anm. 3), S. 96, 106, 123 f., 129.

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72 Alexander Kosenina

(Abb. 3)
Kupferstich aus Gaetano Petrioli: Tabulae anatomicae a celeberrimo pictore
Pietro Berrettino Cortonensi delineate [...], Rom 1741
(Expl. HAB Wolfenbüttel, Sign.: Mb 2° 35).

nicht irgendeinen Körper, sondern ein „zerstückte [s] Weib" (V. 1) vor Augen zu fuh
ren, zielt also auf die Befriedigung berechtigter Neugierde. Zwei Jahre nach seinem
Gedicht erscheint die abgebildete Darstellung einer jungen Frau, die ihre aufgeschnit
tene Bauchhöhle für das Publikum selbst aktiv noch weiter öffnet. Der Stich geht auf
den italienischen Künstler und Architekten Pietro Berretino da Cortona (1597—1669)
zurück (vgl. Abb. 3), doch erst 1741 kann Gaetano Petrioli diese Tafel in einem Buch
mit 26 weiteren herausbringen. Möglicherweise fügt er selbst die leicht vergrößerte
Variante des Unterleibs mit dem im Uterus .sitzenden' Fötus hinzu.
Durch die bildliche Darstellung der Anatomie — und erst recht durch deren Asthe
tisierung — wird der sinnliche Schock des Authentischen im Seziersaal, vor allem der
beißende Geruch, aufgehoben. Den gleichen Effekt erzielt die Kunst der plastischen

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Anatomie, Vivisektion und Piastination in Gedichten der Frühen Neuzeit 73

Anatomie (anatomica plastica), die im 18. Jahrhundert vor allem in Italien perfektioniert
wird. In Bologna macht sich der Künstler Ercole Lelli (1702—1766) darin einen Namen,
in Florenz — wo 1775 dafür das Museo di Fisica e Storia Naturale eröffnet wird — sind es
die Naturforscher Feiice Fontana (1720-1805) und der Künstler demente Susini (1754
bis 1814).26 Bis heute ist dort die „anatomische Venus" zu sehen, ein wächserner Hybrid
zwischen einer schönen Frau und einem körperlichen Objekt mit geöffneter Brust- und
Bauchdecke,27 dem Kupfer von Pietro Berretino da Cortona nicht unähnlich.
Die Vorteile der Piastination gegenüber der Sektion liegen auf der Hand, die Präparate
stehen in gleichbleibender Qualität zur Verfügung und können an jedem beliebigen
Ort und ohne den durch die Verwesung bestehenden Zeitdruck studiert werden. Goethe,
der das Museum in Florenz auf seiner Italienreise besuchte, fügt in seinem Todesjahr
ein weiteres praktisches Argument für die Plastische Anatomie (1832) hinzu: Durch
Rechtsreformen und die Abschaffung der Todesstrafe in vielen Territorien standen -
zynischer Weise — allmählich nicht mehr genügend Hingerichtete und Selbstmörder
für die Anatomie zur Verfügung. In England und Schottland hätten gar nur „Auf
erstehungsmänner", also Leichenräuber (body-snatchers) und Mörder, den „Leichenhan
del nicht stocken" lassen. Deshalb sei diese künstliche „Idealnachhülfe" so wertvoll.28
Die relativ junge Mode der plastischen Anatomie macht Brockes zum Gegenstand
eines Gedichtes mit dem Titel Die wächserne Anatomie (1724).29 Darin weist er einen
Ausweg aus dem heiklen Zwiespalt zwischen modernem Erkenntnisinteresse und dem
pietätvollen Umgang mit dem Leichnam. Der Text (vgl. Abb. 4) ist mit dem Sektions
gedicht eng verwandt, hier schafft „die Zergliedrungs-Kunst" (V. 4) aber täuschend
echte Plastinate. Die wächserne Anatomie, also das „Wunder-Werck vom Wachs" (V. 5),
stellt „Des Menschen Cörper, Fleisch, Blut, Adern, Muskeln, Sehnen, / Gehirn und
Eingeweid'" (V. 6f.) so realistisch dar, dass sogar gemischte Gefühle wie „holde Furcht",
„angenehmes Grauen", „frohe Angst" und „bange Lust" (V. 21) aufkommen. Diese
klassischen Auslöser des Erhabenen entzünden sich sonst eigentlich nur an tatsächlich
bedrohlichen oder überwältigenden Zuständen, hier reicht hingegen — ähnlich wie in
der Tragödie — deren verwechselbare Nachahmung. Doch der Betrachter lässt sich
nicht einfach nur täuschen, vielmehr steuern die Plastinate seinen Sinn „Auf dieses
Kunst-Stücks Urbild hin" (V. 12), seine Einbildungskraft befeuert also die Phantasie
einer wirklichen Sektion.
Folgerecht stellt sich ab der zweiten Strophe eben jene physikotheologische Begeis
terung wie in dem späteren Gedicht ein — allerdings nicht aufgrund unmittelbarer

26 Vgl. Heike Kleindienst: Ästhetisierte Anatomie aus Wachs. Ursprung - Genese - Integration, Diss. phil.
Marburg 1989. Zur Sammlung des heutigen „Museo della Specola" vgl. Francesco de Cegha: Rotten corpses,
a disembowelled woman, a flayed man. Images of the body from the end of the 17th to the beginning of
the 19th Century. Florentine wax models in the first-hand accounts ofvisitors. In: Perspectives on Science
14 (2006), S. 417-456.
27 Zu dieser eigenwilligen Ästhetik vgl. Irmela Marei Krüger-FürhofF: Der vervollständigte Torso und die
verstümmelte Venus. Zur Rezeption antiker Plastik und plastischer Anatomie in Ästhetik und Reiselite
ratur des 18. Jahrhunderts. In: ZfGerm NF 8 (1998), S. 361-373.
28 Goethes Werke. Weimarer Ausgabe (WA), Abt. I, Bd. 49.2, Weimar 1900, S. 68, 66.
29 Barthold Heinrich Brockes: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem [...] Irdischen Vergnügen in
Gott, Hamburg 1738 (Nachdr., hrsg. v. Dietrich Bode, Stuttgart 1965), S. 425 f.

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74 Alexander Koknina

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Sin' golbe gutd)( etwetft, ein angenegmeS ©rauen.

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2(uf biefes Sunft - ©tucfo Utbiib f)in:
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®omit ©ott unfetn ieib, in fo DoWomm'nem ©tab,
©0 rounberbntlirf) ju bereiten,
©o rounberbat gerotitbigt gat.

SBicI gunbett tanfenb Sieinigfeitcn,


®otaus bet Seib bejtegt, bie ungejdgite ®enge
©et gang mit SBCut gefufft=fafi unficgtbaten ©ange
SJetroirtfen meinen ©eifi, etfiiKtcn meine Stujt
9J5it einet frozen "Jingft, mit einer 6angen fuft.
3<b fpradj mit rcdjt gerugrtet ©eelen:

©ev fungen (uftigs g(eifrf), bee ®agcnS fdjarfe Staff


©es .^etgens gcut unb 3>ucf( bet Sebet Sigen(egaft,
■%aut, gidgel, gleifd), nnb Sein,
©et Sftetben unfidjtbate §6(en,
©ie boilet ©eiftigfeit, unb tiidjt ju jagien,
9tid)t ju begteifen fepn,
ffiemeifen ein ailmacgtigS ®unber = ®efen.

©otfj roenn man redjt erroeg't; mas ©Jenfcgcn infigemein


gut title ©inge tgun, ftarf) roclcbcm tanb fie ffreben;
@o fcgeint bet gangs SRcnfd), in feinem ganbeti feben,
©o Dieiet Sunft nidjt rccrtg ju fepn.

3a, fptadj ju mit gietauf ein gtoffct ®ei|7,


©cr roogi mit allem fHerfjt bet ©tabt Otacfel gcitTt:
©ieg fdjeinet roagr, bod) mit failt biefes cin:
®ie iiebreidj mug bod) unfet ©djopfet fetjn,
©et, menn mit alict ©iicbet ©aben
■Jur Xgorbeit angemenbet baben,
3a gat an 3bm gbdjft.gtob(id) unS berfcgulbet,
Uns bennocf) bulbct!

(Abb. 4)

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Anatomie, Vivisektion und Piastination in Gedichten der Frühen Neuzeit 75

Reizung der Sinne, sondern durch eine Selbststimulation. In der Vorstellung er


nen in der vierten Strophe die einzelnen Organe — Lunge, Magen, Herz, Leber, H
Nägel, Bein, Nerven —, für die „ein allmächtiges Wunder-Wesen" (V. 29) als Ursac
gelten hat. Die letzten beiden Strophen wenden diese metaphysische Ableitung in
moralische Frage: Lässt die tändelnde Eitelkeit des Menschen den kunstfertigen
wand der wächsernen Anatomie überhaupt gerechtfertigt erscheinen? Ein „grosser Gei
(V. 34) scheint diesen Einwand abschließend zwar anzuerkennen, hält dann aber
gewitzte Argument entgegen, dass Gottes Großherzigkeit (magnaminitas) sich gera
der Duldsamkeit gegenüber aller menschlichen „Thorheit" (V. 39) zeige, entsprech
sei auch die wächserne Anatomie keine ganz vergebliche Bemühung.
Während in beiden Gedichten von Brockes die Aussicht auf eine göttliche Of
barung in der körperlichen Vollkommenheit das reale oder eingebildete Grauen
sezierten Leichen überwinden hilft, ist es beim jungen Goethe die säkulare theo
sche Neugierde. Der Straßburger Student schätzt seine Erfahrung auf dem anat
schen Theater so hoch ein, „weil sie mich den widerwärtigsten Anblick ertragen le
indem sie meine Wißbegierde befriedigte".30 Aus dem gleichen Antrieb seziert
später in Weimar — vor allem unter Anleitung des Anatomen Justus Christian L
— Ratten, aber auch Menschen, „um ihren innern Bau kennenzulernen"31. Goet
reizt ganz offenbar das Zusammenspiel aus analytischem Vordringen in die innere
und der synthetischen Idee des aus dem Einzelnen hervorgehenden Ganzen.
nem Entwurf einer vergleichenden Anatomie (1796) wird dieser Gedanke besonders deu
entwickelt. Die „Zergliederung", heißt es da, kann

[...] zwar nur trennen, sie gibt aber dem menschlichen Geiste Gelegenheit das Todte
dem Lebenden, das Abgesonderte mit dem Zusammenhängenden, das Zerstörte mit dem
denden zu vergleichen, und eröffnet uns die Tiefen der Natur mehr als jede andere B
hung und Betrachtung.32

Der damit angedeutete Ausweg aus der schroffen Entgegenstellung von analytisc
Trennen und synthetischem Zusammenfugen wird im Roman Wilhelm Meisters W
derjahre (1829) als zentrales Motiv gestaltet. Wilhelm erzählt in Kapitel III.3 von
ner Ausbildung zum Wundarzt und den zugehörigen anatomischen Übungen
Aufgabe, den Arm eines schönen Mädchens, einer Selbstmörderin aus Liebe
mer, zu sezieren, lässt in ihm den Widerwillen vor der Zerstörung mit dem Wi
durst streiten. Aus diesem Konflikt erlöst ihn ein Bildhauer, der sich als plasti
Anatom erweist und Wilhelm mit folgenden Worten anwirbt:

Sie sollen in kurzem erfahren, daß Aufbauen mehr belehrt als Einreißen, Verbinden meh
Trennen, Todtes beleben mehr als das Getödtete noch weiter tödten; kurz also, wolle
mein Schüler sein?33

30 Goethes Werke, WA I 27, S. 257.


31 Ebenda, IV 5, S. 75.
32 Ebenda, II 8, S. 64 f.
33 Ebenda, I 25.1, S. 89.

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76 Alexander Kosenina

Nun legt er Wilhelm


same Masse, Stäbchen
seinem Glück und Ge
sich gegen die (ablehn
nibalische" durchsetzt
als Trennen, Nachbild
parate für die „genaus
deren Vertrieb - bis i
lichung des „lebendig
bedient sich dabei kau
säkularer oder panth
nochmals zu seiner ei
das Romankapitel eine
einer „kosmopolitisch
Goethes versöhnliche
damit am Schluss des D
über die Auseinanders
Wiedemann bis zum
über die Szenen auf de
Präsentation elementa
wie himmlisches Seele
aus, findet man das T
allerdings radikal ins G
Traditionen nutzen A
fasser eines Morgue-G
— Kontexte der Anat
gezielt zu verletzen.39
Laboureur in Fleurs du
um darin „mystérieus
liche, Abstoßende, Ex
seit Albrecht Schöne
auf den Expressionism
einem Projekt könnte

Anschrift des Verfass


Deutsches Seminar, K

34 Ebenda.
35 Ebenda, 125.1, S. 100.
36 Ebenda, S. 91.
37 Ebenda, S. 96.
38 Ebenda, I 49.2, S. 64 f.
39 Vgl. Marcus Hahn: Innere Besichtigung 1912. Gottfried Benn und die Anatomie. In: Weimarer B
52 (2006), S. 325-352.
40 Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen / Les Fleurs du Mal, hrsg. v. Friedhelm Kemp, München
S. 200.

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