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O&'TERREICHISCHE .AKADEMIE DER WISSENSCH.

AFI'EN
PHILOSOPBISCH-HISTORISOHE KLASSE
VERÖFFENTLICHUNGEN
DER KOMMISSION FÜR LITERATURWISSENSCHAFT SITZUNGSBERICHTE, 336. BAND

Nr. 1: Fritz Peter Kmscn


Probleme der Romanstruktur bei Victor Hugo. (SBph 288) 1973.
VEROFFENTLICHUNGEN
Nr. 2: Leonid CERTKOI' DER KOMMISSION FüR LITERATURWISSENSCHAFT
Hilke In llußland (auf Grund neuer Materialien). (SBph 30112) 1975. NR. 5

Nr. 3: Herbert FOLTl~'EK


Ficldlngs „Tom Jones" und das österreichische Drama. (SB1)h 30812) 1976.

Nr. 4: Werner M. BM:ER AAGE A. HANSEN-LÖVE


Fiklion und Polemik. Studien Zllffi Roman der österreichischen Aufkliirung.
(SBph 340) 1978.

fl;r. 5: Aage "· HANSE.'(·UlVE


Der russische Formullsmus. Melhodolog1Sche Rekonstruktion seiner Bnt·
DER RUSSISCHE FORMALISMUS
wicklung aus dem Prinzip der Verfremdung. (SBvh 336) 1978. METHODOLOGISCHE REKONSTRUKTION
SEINER ENTWICKLUNG
Nr. 6: Herbert Sr.101.t:n
AUS DEM PRINZIP DER VERFREMDUNG
Österreichischer Vormärz und Goethezeil. Geschichte einer literarischen
Auseinandersetzung. (SBph 394) 1082.

Kr. 7: Aagc A. HANS&N•Ulv~


Der russische Symbolismus. System und Entfaltung der poetischen Motive.
1. Band: Diabolischer Symbolismus. (SBpli 544) 1ga9,

Nr. 8: Gü.nt.her WITRZEJ1s


Die slavischen und Slnvica betreffenden Drucke der Wiener MechitJuuisten.
Ein Bo,u•ag zur Wiener Druck- und zur österreichischen Kulturgeschichte.
(SBph -!60) 1085.

Nr. 9· Hermann 131.m1E;


Erns1 Freiherr von Feuchlersleben. Sämtliche Werke und Briefe. Kritische
Ausgabe in 6 Biinden. Band 1/1. Teil: Text. 2. Tell: Apparat. (S8ph 490) 1987.

Nr. 10: Gertraud MAR1NELLI·KöN1c


llußland in den Wiener Zelt5Chrlften und Almanachen des Vormärz


(1805-1848). Ein Beitrag für Geschichte der österreichisch-russischen Kultur-
und Literaturbeziehungen. (SBph 552) t990.

Nr. l l: Andreas HAPKOIEYER


Ingeborg tlachmnnn - Entwicklungslinien in Werk und Leben. (SBph 560)
1990. 2. Aufl. 1991. VERLAG
DER ÖSTERREICHISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
Nr. 12: WoUgang PocKL
Österreichische Dichter nl,i Überse1zer. Salzburger komparatistische Analy·
WIEN 1978
sen. (SBplt 571) 1091.
Vorgelegt von w. M. HERBERT HuscER 1n der Sitzung am 15. Dezember 1976

INHALTSVERZEICHNIS

VonWORT . . . . . . . 9

ERSTER TEIL:
ENTWICKLUNG DF.s RUSSISCHEN FORMALISMUS
AUS DEN ÄSTHETISCHEN GRUNDLAGEN DER MODERNE
J. Enn.lUTONO . . . . . . • . . , , , , • , , , , , , . . . , . . . , , , 19
J. Vorfromdung - Prinrip und Verfahren . . . . . . . . . . . . . 19
2. Ariatoteliaober ,,Formoliamll8" und das Prinzip des „Unge,
wöhnliohen" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
3. Die manieristische Verfremdungs-A.sthetik . . . . . . . SO
Titelgraphik aus: Fu.rurlsty. Peroyj iurna.l russkichjvtu.risiov. 1/2 (M. 1914) 4. Verfremdende Ironie und ironische Verfremdung . . . . 33
II. POETIK
FORllüJ.JSTISCBE Asl'B1lD: DER 8Yll13OL18T180'.IIJDN 43
J, Die semanU.echo Autonomie der poetiacl:ten Sprache . , '4
2. Die w&hrnehmungsäathotieche Definition dor Poetizit.llt . . . . 47
3. Artiatiache Poetik und ietheti.echer Immanentiamus . . . . . . 1)4
ID. FORllli.LLlll&O8 111'rD BILDSNl>lt Av.u<TCURDRJUl'NST DER ZER!:<ER
JABB1: . . • . . • . . . . . • • • . • . • . . • . . . . . . . • . . • • ae
1. Du neue Syatem der KUDBtfonnen . . . . . . . . . . . . . . . 59
2. Improesionismua ala Rekonat.rukUon dee vorrationalon V.' ahr-
nehmungapro- . . . . . . . . . . . . . , . . . . . . , . 61
3. Primitiviamll8 und Naivtamus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
4.. Daa Prin1.1p der ,,Entautomatiaierung der Wahrnehmung" . . 68

J
6. Du Verfremdungs-Prinzip der Neuheit und dee opatiorenden
Normbruohe im Futuriamll8 . . . . . . . . . . . . . . . . . , . 71
6. Gegenstand.lloeigkeit und Verdinglichung in Abstraktion und
Realistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . , .. . a
7. Die „große Realistik" - Theorie des Vorfremdunga-Objekta 80
8. Kubiatiaohe Multiponrpoktive als operspektivi.eche Verfremdung 82
9. Poetische Re&liaierung des Kubo-Futurismus (K1'bizm t11love) 89
A. Der Begriff dee adtlig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
B. Der Be~ der Jakt.,,a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
C. Lettristiache Collage und visuelle Poesie . . . . . . . . . . . 90
2., unveränderte Auflage 1996
IV. Dm l<UllO·rtlTUlllBTlllCH iaum'-PoETDt UND nm J'ßOJU: J'ORKA·
Alle Rechte vorbehalten LUl'1'18O1IB TB.EO&lB DER POBTISCHEl< SPRACHE . • • • • • . • • , , 09
- ISBN 3 700l 0251 8 1. Zaumnyj jazyl< als Roalisierung des Prinzips der pcoti.echou
GegenatandslOtligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
Copyright C, 1978 by 102
2. Zvuk-raum' und „konkrete Lyrik" . . . . . . . . . . . . . . .
Österreichis<:he Akademie der Wissenschaften
3. Die Lautthoorie des OPOJAZ als Vorläufer des forma.liatisohen
Wien Redukiioll8modolls (Fl) . . . . . . . . . . . . . . . 1011
Druck: Druckhaus Gras!, 2540 Bad Vöslau ,. Die „Auferweckung des Wortes" (vod:reknü 1lova) . . . . . . 111
4- Inhaltaven.eichnis lnhaltaveneichnia 5

5. Die nackte Präsontation grammatikaliaohcr Irregularitäten 3. Primäre Wahrnehmungseffekte (oRuM,,nie /) . . . . . . . . . • 215


(nepravil'noati) als primär-verfremdeter poel18oher Text . 114 4. Seknndare Wahmohmungaeffekte (u.,tanouko 1 I / olfu.f&nia I 1) 222
6. Chlebnikovs Konzept einer synthetischen Universalspmoho . 115 5. Weitorfllhrende inlelloktuelle Reaktionen b:iw. Re6exionen .. 22-l
7, Das Verfremdungs-Prinzip im poet1SChcn Neologismus 119
8. Du Wortbildungsmodell als konstruktives Pranzip poetischer Fll - DIE ZWEITE PHASE DES RUSSISCHEN FORMALISMUS
Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 (SYNTAGMATISCHES FUNKTIONSMODELL) . . . 227
A. Präaentation linearer Wortserien olmo syntakt18Che Hior-
11rclumenmg als poetiach~.r Text . . . . . . . . . . . . . . . 121 J. ALLGEJO:INE MJlTllODOLOOJSOHE CllA.RAX7EBl8TIX DES FI1 . . . . 227
B. Präsentation eoman~isch „zontnortor·' Wortaorien bzw.
paradigmat,schor Denvat.ionon als poeti8Cher Text . . . . 124 ll. DlB P'OllMAI,JSTISCRE SUJETrHEOJUI!: . • . • • . . • • . • • • • • • • 238
a) Priiecncation „poetieohor Gtoesnro·• . . . . . . . . . . . 124 1. Daa Verfremdungs-Prinzip in der formaliatiachen Sujottheorie 238
b) Priiaentation „poetischer O10881\re" und paradigrnati-
scher Abloitungon als pootischor Text . . . . . . . . . . 126 2. DM Prinzip der methodischen und konstruktiven Analogie
zwischon den Sprach- und Sojetverfahren . . . . . . . . • . . 242
9...Poet18Che Etymologie" und Kalauer als un,veraelle poetiache
Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . , .. . 128 3. Modell der Sujettypen
A. Sujettyp I (razvemutaja paraUd') 246
A. ,.Poetische Etymolog10" b:.w. Kalauer (I. Stufe des Ver- 246
fremdungs-Prinzips der konstruktiven Ree.Jis,orung) . . . 133 B. Suicttyp I l (ajukl-iagadka) .
B.. ,Etymologisierung" bzw. .,Roalis,erung der Metapher'' 4. Sujetverfrcmdung und Vorfremdunge-Sujet . 2113
(II. Stufe der konetruktivon Reali8lerung) . . . . . . . . , 136 A. Boaajuuenoaf / 8juh1noa,• . . . . . . . . . . 263
C. Die ~ealisit1rung der „poetischon Ety111olog,e'' und Meta- B. Die Sujetfunktion dee literarischen Helden 268
phorik auf der Sujetobene (lli. Roaliaiorung88tufe) . . . . 137 5. Ansätze zu einet funktionalen Kompoeitioruianalyee 260
a) Metamorphose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 A. Strukturale Folkloristik und Märchcnonalyee . 260
b) Poreonifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 B. Teleologi.aohe Kompositionstheorie . 263
o) ReaUsierung der Sujet- und Zeitinversion (pcrellanot1ka) 146
10. Kubo-futunstische Verfremdungs-Metaphorik bzw. .Met&• lli. Drr. WOIUULISTISCIIE "ElltlKLTHEOBIE • • • 27,j,
phemverfremdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
1. Methodologiac11e Charakteristik . . . . 274
11. Aspekte der form&listischen Verfremdungs-Theorie m der 2. Domina.n:t des Autor-•k~ und Demotivierung dee narrativen
Poetik dea russischen Ima!inizm . . . . . . . . . . . . . . . . 153 ,ka> 11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . · · 275
12. Vondorzoum'-zurak=-Thoorio . . . . . . . . . . . . . . . . 167 3. Dominruu des Hllld4kai wid Domotiyjerung dee nru-rativen
A. Zvuk-zaum' und prosaischo zw.l:opi.<' (Lautaohrift) . . . . 158 ,kai 11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
B. Sem-:zaum' und prosaischer „Knlauor-a.1,az" . . . . . . . . 161
C. Kalauer- und Metapb.emroalisiorung auf dor Sujot.obene 104 -l. Stilisiorung der epontanen mündUohen Rodo (t181no.tl') • 288
5. Stihetik und Formalismus . 290
A. Ronneneutieche Stihat.ik 290
B. Linguistiache Stilistik . . 293
ZWEITER TEIL: C. Stihstische •k~•Theone . 296
STADIEN DER THEORETISCHEN ENTFALTUNG IV. DIE POBMA1JQT18CHE VBBSTHEORJK 304
DER FORMALEN METHODE (VERWISSENSCHAFTLICHUNG)
1. Von der verfremdondon zur aemantiech-konstruktiven Funk•
tion des Versrbythmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304
FI - DIE ERSTE PHASE DES RUSSISCHEN FORMALISMUS 308
(PARADIGMATISCHES REDUKTJONSMODELL) . . . . . . 176 2. Dio konstruktive und semantische Funktion dor Versreile
3. l!:jchenbaums mclodil.:a-Thoorie . . . . . . . . . . . . . 310
1. TEXT· UND PBODUXTIONSÄBTDETISOUl!S REDUllTlOJ,.'SHODELL . . . 175 4. Tynjanova Vorseomantik . . . . . . . . . . . . . . . . 31~
A. Tynj&no\/11 Konzept des „konslruktivon Prinzips'" 316
1. Der „Redulctionismus" des FI als methodonimmancntes Ver- 319
fromdungs-Prinzip (Formalistischor Phlinomonalismus) . . . . 176 B. Syntagmatische Verssomantik . . . . . . . . . . .
C. Das Prinzip der Semasiologisierung 325
2. Vom statiac:hon For~-Inhalt-~ualismus zur dynamischen 333
Tranaformat,on von pr,em--wl . . . . . . . . . . . . . . . 188 11. BemAtejns Doklamationstheorio
3. Molivirovka / m<>tivacija und ihre Entblollung (obnalenie) . . t97 V. Dn: ronMALIBTIBOHB FILMTllEOJUI!: 338
4. Komik, Parodio und Groteske . . . . . . . . . . . . . . . . , . 200
J. Erate methodl8cho Phase: Monl.&f!9-l•Thoorie. 338
5. Modell der primär-konet.itutiven und eekundw-konatruktiven 343
Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 2. Zweite methodische Phase: Montage-11-Thoorio
A. 11:jchenb&Ums Konzept . . . . . . . . . . . . 3'3
211 B. Tynjanova Konzept . . . . . . . . . . . . . . 348
II. RBZBPnONSABTHETlSODES RsDUK"DON'!1!110DELL DES FI .
3. Dritte methodiJlohe Ph880: Montage-ill-Theorie 352
1. Das wn.hmehmungsästhetisohe Kon.zopt dos FI . 21 1
2. Die primär-konstitut,ve """11cnoka 1 . . . . . . . . . . 212 V!. ANSÄTZE ZU EINER WORMALIBnBcn::&N' 'fuT.011.lB DES DII.AKAS • 359
ij Inhalt<1veneichnia Inhalteverzoichnia 7

Flll - DIE DRl'ITE PHAS:E DES RUSSISCHEN J,'ORMALISMUS 2. Formaliamllll und linke Avantgardekunst (Le/) ••• : : • ;, • 478
(PRAGMATISCHES MODELL) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 A. Du utopische Konzept dar „elemeot<lren Kreal1~tät 478
B. Produkt,ooakunat und „angewandter" Konstrukt1vunnllll 486
l. 0JACllllONES MODELL DES FRÖHEN FOR)(A.LJSMUS (F ffi/1) . . . . 360 C. Das Konzept der Agit-KUO!lt . . . . . . . . . . . . . . . . • 494.
1. .,Hiatorischo Poetik" und literarhiirtoriachee Konzopt dee Fill 370 D. Sprachk-ritilt als Jdoologiekritik . . . . . . . . . . . . . . . . 498
E. Die Theorie dor liuratura. JaJcta . . . . . . . . . • . . . , , • 502
2. Litoraturgeechichte als „Syetem der Systeme" . . . . . . . . . 376 F. Dio DiakUll8ion um cüe Jcinematogrojl.ja Jaklo . . . . . . . . . 507
3. Struktur der diachronen Prozeeae . . . . . . . . . . . . . . . . 381
4. Dio c,·olutionäre Funktion der parooü,tisohen Ver!romdung . 386 II. LITEBATUIUaUT18CBll Pos.lTION Dl<S RUSSISCHEN FoRHAUS„118 ut
5. Rokon1.trulction dee synchronen appuupciomiyj Jo,i. Diachrone SYSTE„ DER LM'.ERARISOHEN GATTITNGEN DER ZWAJ<ZJOER JAUllE 510
Rozopt1008AllAlyeo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 1. Methodologiaohe Charakteristik der formali.otischen Literatur-
kritik 8.ls Realiaierung der Methode . . . . . . . . . . . . , . · 510
Il. DAS LITl'lRATURSOZIOLOOIBCHE KONZEPT D&S FIIl/2 . . . . . . . 397
2. Parteinahino für die ,juiano&t.' und ihre poetischo Roaliaierung
1. Der liUraturnyj byt als Faktor und aJs F&lctum der evolutio. in der .,form&lilltisohen Pr°""'" . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515
nliren Dynamik . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
3. Literaturkritische Einschätzung und poetische Realisierung der
2. Literatul"l!Oziologischo Analyse dos liUraturny; byt . . . . . . . 404 8 /«Ji. und Erzählthoorie in der „formali.stiechen Prosa" . . . . 530
3. Die ovolutionä.ro Funktion des Epigonontuma (tpigonatvo). der <&. Literaturkritische Einachll.tzung dor literatura. Jakta im Oonro-
zweit- und drittrangii1en Autoren, der Trivial- und M1u1een- ayatom der zwanziger Jahro . . . . . . . . . . . . . . . . . . • 537
literatur und ihro Position im liUrolur,,yj byt . . . . . . . . . . 410 A. Allthetisierung dee Faktenmaterials . . . . . . . . . . . . . 538
4 • .,Biogrephisohe" und „litera.risohe Persönlichkeit·• . . . . . . . 414 B. Lite"':i8ierung „po_riphorer Genres"_: Ansätze 7.U eino_r for-
6. Die werkimmanente Repräsentation der Autorpoeition . . . . 420 ma.listl80hen Tbeono der J"ouroaliatik und des Easayu,mllll 1142
C. Da■ Genre der Pr068montego . . . . . . . . . . . . . . . . . 546
111. Du: ÜBERWINDUNO DES l'ORlllALISnSCBJ<I< Rl!:DUKTJONISl\lUS lM O. Poet-ische _R861ieierunii _der Sujetlotrig_keit_ (bM.tju~tlO.fl'I •• 549
XO>O(tn,"TICATIO,,..STKEOJIET[SOB.EN ENTWURF L. s. VYOOT8XJJ8 E. Die poetlllcho Reall8terung dee i.rorusoh-eentlillentalon
lll<D M. BACm'JNS • • • • • . • • • . . . . . . • . . . . . • • • • . -426 Autor-•~ . . . . . , . . . . . . . •. • • • • •, • • • • · · 11117
1. Vygotskijs friihe Kunst~ychologio . . . . . . . . . . . . . . 426
F. Vom theoretisohcm Verfremdungs-Kommentar ~u den
belletristisch-wi.eeenachaftlichen Miachgenree . . . . . 1163
2. Das Strukturprinzip der „Zwieepliltigkeit" (dvoj•luonn.,.t') 429
3. Vygot.11klja Katharsistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . "32 m. Ex:urrl!:N'CLU.14lERUNO DE& ro!DIALEN MEniODI!: •••••• 571
4. Vygotakij■ Theorie der rmutronnja.jaft-ntln.jaja ru' . . . . . 434 J. Die Position des Formaliainllll im liUmlurnyj byt der i:waru:iger
5. Dio Struktur der „inneren Rede" (1>nulnm1>jaja rel') . . . . 436 und frühen dreißiger Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . 571
2. Exi■tentialiaiorungder Methode und der byt-P08It1on 675
6. Bachtin& (Voloäinova) Modell oiner semiotischen ldoologie-
w1sseosohaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43R
BIBLIOORil'HJ.lt • 587
7. Aneii~ze zu einor „metahnguiatiaahon" Kommunikations-
thoorio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2 INDBX 611
8. Molalingui.,tische Definitiot1 der polyphonen Rodo . . . . . . 446
a. Bachlins Modell einer „MetalinguiiJtik" . . . . . . . . . . . . 448
1O. Polyphonie als koruitrukti,·e Mult1pe111pektivik und idoolo-
gi■cher Pluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 L
11. Dio „Karnevaliaiornng" als Verfrerndw,ga-Prinzip 456

DRITTER TEIL:
LITERATURPOLI'fISCHE, KRITISCHE, KÜNSTLERISCHE UND
EXISTENTIELLE REALISIERUNG DES RU&slSOHEN
}'ORMALISJ\IOS Th! SYNCHRONEN ÄSTHETISCHEN PROZESS
I. D11:: PostTIOS D&8 RUSS1SC18.EN FOJIIIIALIBMUS IN DEB LITERATUR•
l'OL!TISCHl'.N DISXUBSJ:ON DEii ZWA..'tD(IER JARRE • . . . . . . . . (65
1. Dio Ausoinandcn,otzung zwischen Formalismull' und 1oa.rxiati-
scl1cm Scniologismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465
A. Streit um die „Spezifik" des Objekte und dar Mothode der
Literaturwi688118Chaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465
13. Kausal-genoli.,cher Dotormmismue contra ovolulionnron
Immanentismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470
C• .,Jnhaltlichkeit" und „Ideenhaftigko1t" . . . . . . . . . . . 470
ABKÜRZUNGEN VORWORT

FI, FII, Fill I., II. bzw. III. Phase des Formali.r,mU8 Das Grundproblem methodologischer Analysen bestebL darin, daß
V-PrinziP., V-Verfuhren, Verfremdungsprinzip, Verfromdungaverfaltren. ihr Gegenst.and, d. h. ihr „wissenschaftliches Objekt" selbst Theorien
V-Technik eto. Verfremdungstechnik eto. oder Methoden sind, die ihrerseits über ein „wissenschaftliches Obje.kt"
OPOJAZ Obicestvo po izul\eniju pootiÖ88kogo jazyka ..-erfügen (ein Objekt „zweiter Ordnung", eio Objekt II), das - als
(Geeellsohaft zum Studium der poetischen hypothetisches, abstrahiertes Konstrukt - nicht voll identisch sein
Spraohe)
MLK Moekovskij lingviatiöeskij krufok (Moskauer kann mit dem „realen Objekt" (dem Objekt III) ihrer Analyse - z. B.
Linguistikkreis) einem bestimmten Gedicht, einem Stil, einem ästhetischen System etc.
G. I. I. I. Gosudarstvonnyj i:nstitut istorii iskll88tv Spezifisches Problem der vorliegenden Untersuchung ist die pa.r.
M. lt{oekau tielle Analogie oder gar ldentitii.t des methodologischen, methodischen
L. Leningrad und „realen" Objekt~. d. h. der Objekte I, II und III und all ihrer
SPb. Peter11burg weiteren Ableitungen in bestimmten Ph-n der Analyse und der
Pg. Petrograd Entwicklung ihres Gegenstandes: Eine methodologische Analyse, die
Sb. st. - Sbornik statej ,,on der - z"·eifellos nie völlig durchführbaren - Prämisse ausgeht, ihr
Texte I = Texte der russischen Formalisten. Bd. I: ,.,l'i51lellSChaftliches bzw. methodologisches Objekt" weitgehend nach
Toxte zur allgemeinen Literaturt.heorie und zur jenen Prinzipjen uod analytischen Methoden zu untersuchen, die dieses
Thoorie der Proa&. Hg. v. Jurij Striedter. „Objekt" (konkret: die „Formale Methode", der Formalismus) selbst
Mllnchen 1969
Texte 11 Texte der russischen Form&li.st.en. Dd. II: entwicke.lt hat, um sie auf sein eigenes „ wisseoschaftliches Objekt"
Texte zur Theorie dee Ve~ und der poetischen (z.B. die kubo-futuristische Poetologie der 10er Ja.hre und im weiteren
Spraohe. Hg. v. Wolf-Dieter Stempel. München Sinne die Avantgardeästhetik der Moderne) anzuwenden - eine solche
1972 methodologische Anal~,se befreit sich zwar - !'O gut es oben geht -
Trudy Ucenye zapiski _Tartu.skogo universiteta. Trudy aus dem Einfluß theoretischer Positionen heutiger Schulen und Syst~me,
po znakovym s1stemam. Tartu gerät jedoch unweigerlich in den „Sog" und die evolutionäre Dynamik
Manifooty Manifesty i programmy ruaskich futuristov.
München 1967 ihres „wissenschaftlichen Objekts", das sich besonders in den Spät-
phasen seiner Entwicklung selbst zum Objekt theoretischer und metho-
dologischer Reflexionen macht.
Nicht genug damit: In seinen Spätphasen (v. a. im FIII, d. h. im
III. methodologischen Stadium des Formalismus) wird die bisherige
Evolution der Formalen Methode nicht nur in ihrer theoretischen
Eigenständigkeit ge.genüber dem FilI überschaubar, sondern auch als
Faktum und als Faktor der gesamten Evolution der künstlerischen
Systeme und Subsysteme bewußt.
Die methodologische Perspektive dieser Arbeit läßt sich etwa an
jenem Punkt gegen Ende der 20er Jahre lokalisieren, von dem aus -
auch für einen zeitgenössischen Formalisten - ein Großteil der bis-
ZUR ZlTIEBWEISE: herigen theoretischen Entfaltungen erkennbar war; im Unters<:hied
Titul, dfo in der Bi_blio~aphie ~m Ende des Buches vollstö.ndi~ wiederge- zur Position der „späten" Formalisten schließt meine analytische
gebon _sind, ":erden un 'Iext wtd in den Anmerkungen gckün.t zitiert (Autor, Position die der Formalisten nicht nur ein, sondern strebt auch nach
Kurztttel, Seitenzahl, bzw. bei Verfassern, von denen nur oin ninziges \Verk einer Rekonstruktion jener Positionen und Theoreme, die von den
verwendet wllrde, Autor und Seitenzahl). Formalisten selbst oft nur andcutu.agsweise, flüchtig, peripher behan-
delt wurden, die jedoch vom Standpunkt einer methodologischen -
nicht historischen - Vollständigkeit für das Modell der Formalen Methode
10 Vorwort Vorwort 11

in all ihren Stadil!ll signifikant sind. Diese Signifikanz muß s-ich aber verschiedenen mcthodologischon l'hasen (FI/Il/ill) jc,1 cils m der
clnrohaus nicht mit jenen theoretischen Ausse.gen und Prinzipien decken, Gestalt anderer Konstrukte, deren funktionale unrl kommunikat1,·c
die in bestimm~n „i,~olierton" Situationen von Formalisten selbst von Komplexität mit drm Fortschreiten der methodologischen Entfaltung
gleichzeitigen oder späteren Interpreten und Kritikern oder heutigen von FJ zu Fill gewaltig zunimmt: Während das Konstrukt rlcr
\.Yiss<-nschaftshistorikem als produktiv oder charakteristu;ch bezeichnet kUnstlerischcn Struktur und des äst-hetischen ProU!f!Sed in FI cxtrom
\\erden. Eine methodologische Rekonstruktion kann unter Umständen reduktionistische und phänomenalistische Züge aufwei.~t. "erfUgt dn,;
thoorelisch('n Bereichen und Fragestellungen in der Gesamtheit des Konstrukt de5 Fill sowohl über eine differenzierte immanente Struk-
)fodclls ein „Gewicht" beiml!6Sen, d;\JI d11reh definite, faktisch registricr- tur (syntagmatische, perspektivischo, kompo~itionelle Funktionen) als
bare Au~en allein nicht gerechtfertigt werden kann; umgekehrt wird auoh iiber eine klare Destimmung scincr Position in den üborge1ml-
ea vorkomml!ll, daß in der damaligen historischen oder in der späteren neten sozio-kommunikati\"cn Syistemen (im Genre-System, im rrz<'p-
bzw. heutigen Diskussion um den Formalismus hypertroph repräsentierte tionsiisthetischen „Hintergrund" der synohronon Periode, im lit.erntitr-
theoretische Bereiche und Thesen in der methodologischen Rekonstruk- 601.iologisoh bestimmten litt:mturnyj byl etc.}.
tion einen vergleiche" eise bescheidenen Platz zugewiesen bekommen, Wesentlich für die methodologische Kontinujtät und Kohärenz dPr
da die Häufigkeit und die Lautstärke ihres Auftretens nicht selten im Rekonstruktion der Fonnalen Methode und der V-Theorie ist dor Um-
umgekehrten Verhältnis z.u ihrer methodologischen „Qualität" steht. stand, dnß jcdel! Modell der mothodologisohen Phasen dns vorhergehemk
DM gilt auch und besonders für die Formalismus-Diskussion der 20er weniger komplexe regressiv impliziert und gleichzeitig in weiten Bereichen
Jahre, die nicht sosehr als Bestandteil der Formalen Methode, sondern ,·on diesem progressiv determiniert wird: Dies gilt sowohl für die thl'll-
eher als Phänomen des „literarischen Lebens" (dCtl literalttrnyj byt) jener retischen Modelle (des FI/II/UI) als auch für die nnalr>gon Konstrukt<'
Epoche anzusehen und zu analysieren ist. der kiinstlerisohen Struktur - und auch für deren reale Aqui\'alento -
. Der Venveis auf die historische Faktizität von Aussagen dor For- jenseits des methodischen Aspektes, im Rnhmen der gosnmten künst-
mahsten selbst über den "Formalismus genügt freilich nicht als Nach- lerischen E,,olution.
weis methodologischer Relevanz: Diese ergibt sich erst - und dßll nur Diese realen Äquiva.lente der Konstrukte sind nichtß anderes a.ls rlio
zu einem geringen Teil - ans der eingehenden Untersuchung, in wel- methodischen Prinzipien der dem Konstrukt synchronen und n.däquaten
chem kommunikativen Kontext diese (selbstinterpretierenden) Auss.~gen ästhetischen Prognurune, Praktiken, Verfahren und Regeln der zt'it-
stehen, ob sie polemisch, ironisch, literaturkritisch, litoraturwissen- genössi.schen Avantgardekunst: Der I. Teil der Arbeit beschäftigt ~ich
sohaftlich, theoretisch, methodologisch etc. gemeint waren. mit der Analyse der Theoretisierung der synchronen ästhetischen Proxis
Gleichzeitig kann aber auch das Fehlen von A11BSagen, ja von zum Reduktionsmodell des FI (d. h. der 1. methodologischen Phase de~
ganzen Theoremen nicht als „historischer Beweis" da.für dienen 0 daß Formalismus). Eine solche Ana.lyso der Theoretisierung erhebt freilich
08 dio entsprechenden Fragestellungen und Positionen überhaupt nicht duroh&us keinen Anspruch a.uf die vollständige Erfassung aller geneti-
gegeben habe; auch hierin zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zwi- schen Faktoren der Entstehung des Formalismus und des V-Prinzips,
schen ~isto~her, .,idooll!feschichtlicher" und methodologischer Rekon- da es das Wesen jeder '.I.'hcoretisierung bzw. mothodologischon Totali-
struktion: Diese mu.ß es sich zur Aufgabe machen, die heterogene Viel- Rierung von Vorfahren, Begriffen und Theoremen der (ästhoti~ohcn)
falt, die Ungleichmäßigkeit der Verteilung und Häufigkeit signifikanter Praxis ausma.cht, dieiie nicht in ihrer historiachen Gegebenheit und
Fakten, die kommunikative Vielsch.ichtigkeit des synchronen „Dialogs" mannigfaltigen VoUständigkeit „wieder-rngehen", sondern vielmehr zu
zwischen den verschiedensten „Sprechern" und „Hörern" für die pa.ra.digmatisieren, d. h. primär zu dckontextioren und damit a\11< dem
Rekonstruktion des Modells dadurch erst „sinnvoll" zu machen, da.ß Zusammenhang ihrer (hetero-) genetischen Herkunft zu reißen. Dio110
diese zunächst paradigmatisiert, soda.nn funktional analysiert und primäre Dekontoxticrung verändert den funktiona.len Stellenwert auch
schließlich neu-kontextiert werden. Dieser analytischo Prozeß der jener Begriffe und Methoden, die der ästhetischon PraxiM ohne Ver-
methodologischen Rekonstruktion entwickelt sich weitgehend analog änderung ihrer begrifflichen Benennung als Termini entnommen wer-
und (im linearen Verlauf dieser Darstellung) parallel zur evolutionären den: Gerade die5e terminologisoho Identitii.t von Begriffen der iisthl'-
Entfaltung der Formalen Methode von der paradigmatischen (.fi) über tischen Pra.xis und solchen der (frühen formalistischen) Theorie sollto
die syntagmatisch-funktionale (Fll) zur diachron-kommunikativen nicht don Blick vor ihrer funktionalen und intentionnlon Vc.rschiudcn-
(Fill) Phase. GJeichzeitig entspricht diese „Entfaltung" der Methode a.rtigkeit vel"llohließen; dies gilt v. a. für jene Termini, die aus den sym-
jener ihres Objekts, d. h. der l,."iinstlerischen Struktur, die - aus forma- lJolistischen tmd kubo-futurislischen Programmen in drui Reduktion~-
listischer Sicht - gleichfalls ans pa.radigmatischen, syntagmatisch- modell des frühen Formalismus eingegangen sind. Kompliziert wird dio
funktionalen und diachron-kommunikativen Elementen und Gosctz- Unterscheidung beider Geltungsbereiche v. a. dadurch, daß die frühen
mäßigkeiten besteht. Formalisten (v. a. Sk.lovskij) zunächst keinen Unterschied macht-On
Die künstlerische Struktur erscheint freilich unter dem Aspekt der zwischen ihrem Konstrukt der künstlerischen Struktur und scincm
12 Vorwort, Vorwort. 13

realen Aquivalent in der synchronen &<thetischen Praxi~ - oder um- 20er Jahre) ttnbieteu, da für ein solches Vorhaben nicht nur der zeit.-
gekehrt: daß die Fonnalisten eben ditl.'lc spozifi~che Praxifi (etwa dt'r liehe Abstand zu gering wäre, um clie „tektonischen Verschiebungen"
kubo-futuristischco Poetik der !Ocr Jahre) nicht nur zum ,.\\i!ISenl\chaft- der Epistemo ermessen zu können, es fehlt auch - nfoht v.uletzt in-
lichen Objekt", sondern gar zum Modell jeglicher Art kiinstlerischer folge dieser zu geringen Distanz - jene methodologische V-P-OSition,
Strukturen „totalisierten" und damit auch die Verfahren der ästheti- die übl>rhaupt enit eine Analyse „erkalteter" Systeme ermöglicht bzw.
schen Praxis zu solchen der theoretischen Analy,<c erhoben. noch „heiße" Systeme gleichsam von „außen", von der Warte des Un-
Es liegt auf der Hand. daß unter diesen Umständen eino genctisch- beteiligten, ..Unwissenden" zu ,,kalten" macht: Der russisehe Formalis-
hist-0rischc Interpretation der mcthodologi~chcn und terminologischen mus iirt. nicht nur als ";5$Cnschaftliches Objekt ein „heißer Stoff",
,.Herleitung" der .!formalen Methode aus der zeitgenö!jl,i~chen künstle- er ist auch 1n allen möglichen - v. a. den semiotischen oder „archäolo-
rischen Praxis nur größte Verwirrung stiften \\iirdo - mehr noch: Si11 gischen" - Positionen! von denen all;" er a.nalJ:'sio~ werde_n könnte, so
\\ilrdc dort genetische Abhängigkeiten kollJJtatieren, .,Beeinflussungen", stark prä.sont, daß some Interpretation unweigerlich gle1ohbedeutend
,.Obernahmen" - ja sogar „Plagiate", wo die terminologische Uhorein- mit einer Interpretation dieser Positionen sein müßte ... Dies gilt in
stimmung sich in der bloßen Aquivokation erschöpft. Aus formalisti- höchstem !tlaße gerade für solche Modelle ";" das von Michel Fouca.uJt
scher Sicht könnte man ein solchea Vorgehen alR das Ernstnehmen - "ie überhaupt für den gesamten Neoformalismus der 60or Jahre!
„methodologischer Kalauer" bezeichnen, d. h. nis clie Herstellung oiner Der II. Teil des Buches ist der methodenimmanonten Evolution der
genetischen Abhängigkeit zweier „Glieder", die nach dem Prinzip des Formalen Methode vom Reduktionsmodell des FI über dn.s syntagma,.
.,formalen Parallelismus" assoziiert werden. tische FunktionsmodelJ des FII zum cliachron-kommunikativen Modell
Es wäre ein billiges Vergnügen, alle wesentlichen Begriffe uml des 'FI.11 gewidmet: In dieaem Abschnitt der Rekonstruktion wird der
Theoreme der Formalisten als „Plagiate" aus- und inländischer Vor- ,.Motor" der evolutionären Entfaltung ausschließlich in der Eigendyna-
bilder zu „überführen", etwa die Begriffe dor Dominante, der Differen,:,. mik der Methode, im methodenimma.nenten V-Prinzip gesucht. Auch
qualitii.t, des Wahrnehmungshintergrunds in Broder ChrisUansens hier gilt das V-Prinzip nicht bloß als Gegenstand der „begriffsgeschiaht-
Philo8ophie der Kunst zu orten, den Begriff der Normabweichung, lichcn" Interpretation, sondern gleicb1,eitig als Instrument und Bestand-
des vod:rde11ie 8W~-a, der priem/makrial-Unterschcidung etc. in teil der Formalen Methode - und ihrer Ana.lyse. Es wird sich klar
symbolistischen oder kubo-futuristischen Programmen und Manifesten zeigen, daß die Entwicklung der V-Theorie nicht isoliert von jener der
aufz1U1püren und daher - nach den ideengeschiohtlichen Prinzipien der Formalen Methode und der synchronen ästhetisehen Prozesse betrachtet
,.Präze."sion·' und der „Originalität" - dem Formalismus abzusprechen. werden kann; ein „Konstrukt" des Formalismus, in dem O&tra,_ie
Einern S-Olchen Vorgehen - dn.s durchaus nicht selten ist - kann bloß eines von vielen anderen künstlerischen Verfahren darstellt, wider-
man entgegenhalten, daß methodische Prinzipien, analytische Verfah- spricht nicht bloß den historischen Gegebenheiten, S-Ondern vor allem
ren und ganz allgemein das „strukturale Handeln" nicht tler Kategorio dem „zentralen Bcwoger" der gesamten Formalen Methode: Es ist
des „Besitzes" und somit a.uch nicht jener der „Weitergabe" (trnditio) da.her auch nicht vom „Begriff" der Verfremdung die Rede, sondern vom
bzw...Übernahme" von „Person zu Person" gehorchen ... Prlnz.ip der Verfremdung als „Objekt" und (methodisches, aktives)
Am allerwc.nigston in der methodologischen Rekonstruktion spielt „Subjekt" des Formalismus und seines theoretischen „Handelns" 1
dieses Prinzip der „Präzession ... die Rolle des absoluten Maßstabes An dieser Stelle sei ein für allemal der hypothetische, behelfs-
... der geRtattet, jeden Diskurs zu mCllSCn und das Original vom Wieder- mäßige und deskriptive Charakter jener Begriffe unterstrichen, die
holten zu unterscheiden ... " - wie M. Foucault in seiner ArcMolog,e nicht „genu.ln" formalistisoho sind, die aber als methodologische „Werk-
de., Wissens (L'Archeologie du. 11aooir, Paris 1969) sch1trfainnig formuliert: zeuge" dort eingesetzt sind, wo entweder die rein formalistische Termi-
..... diCM Besoltreibung der Ursprünglichkciten stellt, obwohl sie nologie lückenhaft ist, oder wo eine Reihe formalistischer Begriffe bzw.
Relbstversl.ändlich zu sein scheint, zwei methodologisch sehr schwierige Theoreme mit einem deskriptiven „MetabogrilT" oder einer „Meta-
Probleme: das der Ähnlichkeit und das der Präzession. Sie retzl in der theorie" versehen werden mußten. Diese neu eingeführten Begriffe er-
Tat voraUB, daß man eine Art großer, einzigartiger Serie aufstellen heben keinerlei Anspruch auf ein theoretisches „Eigenleben"; sie sollen
könnte, in der jede Formulierung einen festen Zeitpunkt aufgrund nichts von „außen" beifügen, sondern nur von „innen" her sichtbar
homogener, chronologischer .Merkpunkte hätte ... Das Auffinden des machen. Dies gilt auch für jene Fälle, in denen der ursprüngliche Be-
Vorangegangenen genügt allein nicht, um eine dfakursive Ordnung zu griffsracliUB „genuin" fonruilistisaher Termini in Hinblick auf die
bestimmen: im Gegenteil, es ordnet sich dem Diskurs, den man analy- Gesamtheit der methodologischen Rekonstruktion neu fixiert odor in
siert, dem Niveau, das man wählt, der Stufenleiter, die mnn errichtet, manchen kompliiierten Fällen auoh „aufgespalten" wurde (so z. 13. clie
unter ... " (203) Aufspaltung der formalistisehen Begriffe pritm in priem 1 und priem 11,
Freilich kann und will die vorliegende Darstellw1g auch kerne von maurial in maurial 1 und maw-ial II etc.). Bisweilen wurden auf
episl-0mologisohe „Archäologie des Wissens" (der ruSilischen IOer und diese Weise auch Begriffe verdoppelt oder verdreifacht, die der Forma-
14 Vorwort, Vorwort 15

lismu~ nur peripher benützt - wie !I:. B. der Begriff der Mont.age (Mon- 1934 nicht gedruckten formalistischen 11.fänuskripte, die nur in Archi\•en
tage I, II und ill). Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß die erhalt~ sind, 2. der nach diesem Zeitpunkt entstandenen Manuskripte
methodologische Dreiteilung des Formalismus in F'I/II/Til und die damit und Pob)jkationen (,.meta.formalistische Schriften" - etwa die zahl-
verbundenen rekonstruktiven Abstraktionen (Peradigmatik, Syntag- reichen Studien t!klovekijs dar vergangenen dreißig Jahre) und 3.
matik, Diachronie, Rezeptionsästhetik etc. etc.) in den formalistischen der „ncoforma.listischen" Studien jener Literaturwiasenschafter bzw.
Schriften zwar nicht begrifflich nachzuweisen sind, "obl aber der Kunsttheoretiker, die in oder außerhalb Rußlands (v. a. als Struktura-
Struktur des gesamten theoretischen Diskurses erwachsen. listen oder Semiotikcr) auf den Formalismus zurückgegriffen haben.
Der In. Teil des Buches befaßt eich mit einer Problematik, dio Einiges Material aller drei Kategorien ist in die Anmerkungen ein-
weitgehend noch theoretisches Neuland d11J'5tellt: mit dem „feecl-baok- geHosscn; ansonsten mußte auf eine Diskussion der dort präsentierten
Ptozeß" zwischen ästhetischer Praxi3-Theorio-Praxis-Theorie etc., der Fakten und Meinungen verzichtet werden.
sich gerade am Beispiel des Formalismus so klar daratellen läßt, da nicht Alle russischen Zitate wurden für dieses Buch neu übersetzt, wo
nur die meisten Formalisten selbst kiinstleriaoh bzw. literarisch tätig nicht schon brauchbare Übersetzungen übernommen worden konnten.
waren, sondern auch die ihnen nahestehenden Kilnstlcr (die „Praktiker") Es bnndelt sich dabei um Übersetzungsvorschläge, die an den mit-
als Theoretiker den Formalismus mitge~t.alteton bzw. unter l!Ciner Ein- zitierten russischen Originaltermini kontrolliert warden können.
wirkung standen. Diosed Bucl1 steUt eine wesenWeh gekiirzte, umgearbeitete und v.a.
Der Aufbau des gesa.mten Buches folgt im gr·oßen der Linie dieses aktualisierte Fassung meiner Dissertation dar, die unter dem Titel
feed-back-Prozesses, indem es im I. Teil den Vorgnng der Theoretisierung ~ Prinzip der Verfremdung in der Entwicklung du ruBaiacht:1i Forma-
der kilnstlerischon Praxis, im II. Teil die immanente Verarbeitung zur liamtu. Ver8UCh einer 1netlwdclogiBCM11 Rekonstruktion 1975 in Wien
eigenständigen :Methode wid im m. Teil den Prozeß der Projektion der vorgelegt wurde. Das Mat.eria-1 zu dieser Arbeit habe ich z. T. während
Theorie in die Praxis verfolgt - in oino Pra.xjg, die sich parallel zur Studienaufenthalten in Prag und Moskau gesammelt. Ich möchte hier
methodologischen Entfaltung der .Methode (II. Teil) mittlerweile selbst in erster Linie Herrn Univ.-Prof. Dr. Günther Wytrzeas Dank s~,en für
weiterentwickelt hatte und sieb von jener wß!!entlich unt.ersoheidet, die die Förderung meiner Arbeit und aein Bemühen um ihro Publikation.
im I. Teil (und in den Anfangsphasen des Form&lismus) den Ausgangs- Dieser Dank gilt in besonderer Weise auch Herrn Prä.sidenten Univ.•
punkt der Theoretisierung gebildet ha.tte. Die in der JTI. Pha/18 beschrie- Prof. Dr.DDr. h. c. Herbert Hnnger, ohne dessen Einsatz das Buob nicht
bene Projektion der Theorie (bzw. der Methode im weiten Sinn) in die hätte erscheinen können.
Praxis wird a.uf zwei Ebenen analysiert: auf jener der Realisierung der Zuletzt bedankt. sich der Aut-0r bei der Österreichischen Akademie
literaturtheoretischcn Positionen und Methoden in der lit.ero.turkritisc.hen der Wissenschaften und dem Fonds zur l!'örderung der wissenschnft-
und der künstlerischen Produktion der Formalisten und der ihnen nahe- lichen Forschung für ihren organisatomchen und materiellen Beitrag
stehenden „formalistischen Prosa" - und auf jener der „Existen- zur Entstehung dieses Buches.
tialisierung" der Methode in der Position de11 Autors (des Forma- Für die unersetzliche Mithilfe bei den schwierigen Korrekturar-
listen) im Rahmen <los liurafarnyj byt seiner Epoche und in der beiten und der Überprüfung der bibliographischen Angaben gilt mein
Ex:istcntialisierung der wissenschaftlichen Methode zu einer spezifischen besonderer Dank meinem Kollegen Dr. Horst Lampl sowie meiner lieben
„formalistischen Haltung", die zum Gegenstand der künstlerischen Frau ChriAta, dio nobon den Korrekturen auch an der Erstellung des
und der öffentlichen DarsteUung wird. Damit führt aber dieser ab- Index beteiligt war.
schließende Prozeß der Ex.istentialisierung jene persönlichen (wenn AA.OE A. HANSRN•LöVE
auch nicht subjektiven!) Faktoren der WeltaiohL und der sozio-kommu-
nikativen Haltung, deren Ausschluß im Reduktionsmodell des FI
postuliert. worden war, aufs neue der }fethode zu - nun freilich auf
einer „höheren" Ebene der methodischen Transformation, a.uf der so-
wohl die Existenz der Methode als auch die Methode der Existenz
reHektierbar werden.
Dem Streben nach einer vollständigen Erfassung a.ller formalisti-
schen bzw. dem Formalismu.s nahestehenden Schriften waren praktische
und theoretische Grenten gesetzt: praktische, weil ein noch ausführ-
licheres Zitieren den Rahmen des Buches gosprengt und eeine -Ober-
sichtlichkeit beeinträchtigt hätte, theoretische, weil es ja njcht um eine
historisch-philologische Bestnndsaufuahme gegangen ist. Dies gilt auch
für die weitgehende Ausklammerung 1. der uaocüerten, d. lt. bis etwa
ERSTXR TEIL

ENTWICKLU~G DES RUSSISCHEN FORMALISMUS


AUS DEN ÄSTHETISCHEN GRUNDLAGEN DER
MODERNE
(PROZESS DER THEORETISIERUNG KONSTLERJSCHER
MODELLE)
I. EINLEITUNG
1. V.ERFREMDV"NO - PnrnZIP UNO VER.FAHRKJ{

Als Viktor Sklovskij in ooinem berühmten Aufsatz lsk1uslllvo kak


prnm (Die Kunst als Verfahren) 19 l7 erstmals den Begriff der Ver-
_fromdung (o.stranenie) als das Verführen der Kunst kat eli:ochen dcfi-
nierte1. hatte er damit nicht bloß einen nc:uetl literaturwissenschaft-
Jicben Terminu.~ geprägt, der Geschichte machen sollte, sondern
gleichzeitig &11ch das zentrale äi!thetisohe und philowphische Prinzip
der modernen Kunst und ihrer Theorie statuiert. Verfremdung im
weiten Sinn - d. h. nfoht als isoliertes ,,Verfahren" (priem), sondern
als noeti.,ohes Prinzip - motiviert nicht alleine den küo.,tleris<:hcn
Prozeß - Aie steht hinter allen Akten der theoretischen nnd praktischen
Neugierde1 , die den 'Menschen antreibt wie die Unruhe im Uhrwerk und
ihn immer wieder dazu bewegt, aufgezwungene oder freiwillig angenom-
mene Wahrnehmungs- und Erkenntnisformen, Normen und Verhaltens-
weisen als eine Brille zu entdecken, die sich zwischen das eigentliche,
unmittelbare „Sohen" und die „wirkliohe Wirklichkeit" geschoben hat:
Rat man die Brille entdeckt, kann man sie auch abnehmen und zum
Gegenstand (also nicht wie bisher zum Medium) der Betrachtnng und
Reflexion machen. Dieser Prozeß der Vergegenständlichwig• von Medien
aller Art, des Neu-Sehens allzu gewohnter Zusammenhänge, der Sensi-
bilisierung unserer Erlebnisweise, ist da.s allgemeinste Ziel des V-Prinzips
aus formalist:isel1er Siebt•. Wenn Sklovsk:ij dieses Prinzip als einen Akt
bezeichnet, der gegen das gewohnheitsmäßige „Wiedererkennen"
(wna11(mie) nnd die automatisierte Wahrnehmung gerichtet ist, dann
stellt er sioh in die Tradition des sokratischen (umwertenden) Ncu-
Sebens; erklärt er dagegen an einer anderen St.eile Verfremdung als ein
konstruktives Verfahren der „Umbenennung" üblicher ßczeiobnungen
(inoskazanie) 6 - steht er in der Tradition der aristotelischen Poetik
und auf dem Boden du konkreten literarischen Technik. Beide Aspekte
der Verfremdung - der noetiscb-philosopbisohe und der poetisoh-tech-

1 V. SKLOv8KIJ, Iskusstvo kak priem. Zit. nach: Texte I, 2-35.


1 V~. H. Bu1v.E.l<BERO, Der l'rozell der theoretischen Nougiorde.
• Zum Prozeß der VergegonsUindlichung bzw. Verdinglichung vgl.
unten, 74ff.
. • I. I. RBVZJN, K semiotiooakomu analizu „tajnyoh jazykov". In: Sim-
pm1um po strukturnomu izuaenij11 :r.nakovych sist-0m. M., 1962, 33ff.:
,.... Dae Vorfahren der Verfremdung hat oine weitaus allgemeinere sem1oti-
8Che Bedeutung und isL nicht unbedingt mit einem äathcü,chen Ziel ver-
bunden ... " '
' Der Begriff des inoaka::anie deckt sich alJgemein wohl mit dem der
„Allegorie", bedeutet jedoch in der poetiaohM Sm:nantik dor Fonnaliawn
soviel wie „vorfremdonde llmKChreibung, Umbenennung".
20 Einleitung Vorfremdung - Prin:tip und Verfahren 21

nischo - lassen aich aber immer auf eine mehr oder weniger bewußt rondcrs in dor 1-'rühphase ihrer methodischen Entwicklung, im F I)
reduzierte, periphere Optik zurückführen, die „außerhalb" des Werkes unter der Voraussetzung, daß jenes ästhetische System, in dem sie
als verfremdete Position (V-Position), .,innerhalb" des Werkes als V. doohten und lebten (etwa zu umschreiben roitdem der russischen A,•a.nt-
Perspektive auf den vezschiedensten konstruktiven Ebenen realisiert gardekun.st - vgl. dazu unten, 175f.), identisch ist mit einer absoluten,
sein kann•. universellen Bestimmung des Künstlerischen überhaupt. Daher kann
Einen ersten Ansatz zur Entwicklung einer V-Thoorio fand Sklovskij Stch Sklonkijs opodiktischer Satz, ,.das Verfahren der KUilllt besteht
- ne1>?n Anre~gen aus der zeitgonÖO!Sischen Modeme - in der PoeUk Lev in der Verfremdung der Dinge" (SKLOVSKIJ, a. 0. 12), nur auf einen
TolstoJs, wo die Kunst der verschobenen oder redu•iorten Optik der Er- nicht-affirmativen Kunsttyp beziehen, wie ihn gerade die russische
•lihlcr odor Helden beeonders reich entwickelt ist: ,\..-antgardekuost sehr extrem repräsentierte, nichL aber auf allo roög-
. .,Das Vorf~n der Verfrem~ung (~e".' oalranenija) boi Tolstoj besteht ilchen anderen Perioden der Kunstgeschichte - jn nicht einmal auf
dann, daß_or 01non Oegenstand rucht mit seinem Namen nennt, aondern ihn
so ~cb.ro1bt, als worde er zum_erston Mal geeehen ... woboi or in der Be- allo Bereiche und Vertreter der (russischen) Avantgarde•. Diese Ten-
so~1bung dce Oogenst.andes ru_oht dio gebrli.uuhlicben Bezoichnungen für denz zur •rotalisierung und Verabsolutierung konkreter, auf bestimmte
seme Teilo vorwendet, sondern sie so bononnt wie die entaprochenden Teile ästhetische Systeme beschränkter Gesetzmäßigkeiten zu allgemein-
bei an_deren Dingen." (SKLOvsxu, Iskuaatvo kak P.rlen•, 16). Dioeee hie.r gültigen Prämissen einer ied?n künstlerischen T~eorie und Prn:xi~ muß
bcsobr1ebono Verfahren der verfromdondon Beachre,bung ( V-opi,0>1ie) oder
Bon~nnung ist _nich~ nur in ~er künstl?rischon, sondern v. n. auch in der nlJ. gerade bei einer methodologischen Rekonstruktion der forroalistisohen
täglicbon Praxis weit verbreitet und diont dort ebenfälls der ,,sinnontleeren- V-Theorie besonders beachtet werden 1°.
d_en" Bloßl~gu!'g' ~onventioneUer Wortungon, die spro.chlic.h vorinnerlicht Nicht nur am Anfang des Philosopbicrens, sondern auch der Ksthe-
smd: Als _Bo1Sp10J IM?' f(!lgen~e Ch~torisiorung des Fußballspiels 2itiert, wo tischen Weltbetrachtung steht die Neugierde 11 , die zurukhst spielerische
freilich cije „nufklä.roneche noet1BCho Intention von einer zur stilisti.echen
Konve,:ition gewordenen. Techni!< der verfremdenden Umschreibung Obor- Verschiebung des gowohnt-en Gesichwpunktes, die Einnahme einrs fik.
lagert 1St: ..... So erklärt es a1cb, daß nun drei Wochen IM~ alle Welt tiven, utopischen, theoretischen Standpunktes, von dem aus die ~inge
fnaz:iniert "!)in WU'd, nur_weil (eio!) eeclw)bn mal elf junge Leute m Deut.ach. und ihre Zusammenhänge fremd erscheinen, neu und spannend. Dieses
land sich mtenst': de.mit beaohäftigcn, einen aufgeblasenen Ledorbnll mit neugierige Staun?". (als primäre_r Reßex) 12 ,~ird _dann crs~ zu eine~
don„Füßen vom eigenen To_r wog_und !'uf du To~ des Gegners hin zu treiben
••• (R. w. LEoNlUllDT, m: Dill Zffl, 14-. Juru 1974, 25 - die Fußball- methodischen Prmz1p, wenn es un BewußtseID emen Bereich cmallZl-
weltmetstenichaft bet.roffond). picrt. der als übergeordnete Perspektive, als theoretische Haltung dio
Die Theorie der Verfremdung, wie sie die russischen Formalisten Wahrnehmungs- und Denkprozesse aus ihrer konventionellen Pragma-
en~wickel!-, ist all~ andere als ein geschlossenes System (kunst-) tik herauslöst (dekontextiert) und als immanentes Phänomen reflektiert.
philosop~her oder_ literaturwiSS(lnschaftlioher Gesetzmäßigkeiten, dio Dieser V-Akt der ,.Dekontex:tierung", d. h. daa „Herausreißen
1D e~~•ten F~rmul1enmgen nicdorgolegt sind. Dieser Mangel an Syste-
eines Gegenstandes aus seiner gewohnten Umgebung", macht nicht nur
mat~ ~ußert s1_ch ~wohl a~ theoretischem wie nuoh tenninologiaohem dlo ihn begleitende konventionelle Kategorisierung bewußt, sondern
Gebiet 1D der b1swcdcn verwunmden Unmöglichkeit, zwischen Verfrem- lenkt auch die Aufmerksamkeit auf seine unmittelbar gegebene Gegen-
dung als universellem äs~etischen Prinzip einerseits und Verfremdung ..tii.ndlichkeit, anf dio nooh vorrationale Assoziation der re.inen „im-
als konkrotor, epochenbedi.ngter, systemabbängiger Einzelfunktion unter- pre!!-'lions" (Hum:) 13 , die das Produkt eines jeden „entblößenden" Neu-
schiedlichster künstlerischer Teohniken anderseits zu unterscheiden•. Sehens sind (ob,wknie)u.
. Ein bestimmtes IX>':tisohes Verführen (etwa. ein Reimtyp, ein
SuJetmodeU etc.) kann emmal im Rahmen eines konkreten Epochen- • Zur Oegenüb;,rslcllung von affirmativem und verfremdendem Kllnsl.•
systems als Verfremdung intendiert bzw. rezipiert werden - oinma.J als b-z.w. Kulturtyp vgl. dio Kulturtypologie Ju. LotmanA, kurz zusammen•
gefaßt in: Die Stn1ktur literarischer Texr.e, 410f. (Lotmans „Asthchk der
ihr Goge?te~, d. h. systemko~orm, normerfüllend odor gar merkmal- Tdentitiit" ist die hior gemeinte affirmative AstheUk.)
los fö~t1omere?. Wc_nn nun die Formalisten - v. a. Sklovskij - kon- '° Ausfübrlicber dargestellt ist dieser Prozeß der V'erwissensch&fl.lichuog
krete, ~inzelne literansche Techniken mit dem Prinzip der Verfremdung bzw. Totalis1erung ästhotiseher Modelle unten, 175ff.
11 VJAt.&SLAv lvANOV, O novejliicb teoretil!eekich iskanijach v oblast1
als umverseUe ii.sthetisohe Prämisse gleichsetzten, so taten sie d&s (be-
chudoteetvonnogo slova, besonders 176/7, wo es heißt, der Dichter stell~ die
• Vgl. dazu die eingebende Darstellung von R. LAOIDilil<N Die Ver- Dinge nicht nur „fremd" b?.w. . ,befremdlich" (atrat1nyj) dar, er nehme sie
U'!'m_dung" _und das „Neue Sehen" bei V. Sklovakij. (Mit a~llfiihriicher auf diese Weise auch wahr. Nicht. nur dio Philosoplue - auch die Poesie
Btblio~ph1e.) eei „aus der Verww1derun3" (i• udivifflija) entstanden!
' gl. _dazu D. Ts~Ja.J, Bemerkwtgen zur „Verfromdung" und u Zu den al8 H1.lfäbognffe eingeführten Termini: primäre und 6&kundo.ro
zur .,~egativon Allegorie und den,., Das Labyrinth der Welt und das Vorfähren/Effekte vgl. 2(j7f.
Paradies des Herzens von Jan Amos Comenius. 11 DAVID lh~. An Enquiry conoorning Human Underotanding,
1
~ ~onsniz daru bestreitet z. B. T80HltBV8Ja.l' die Univeraalit.ät dt. Eine Unt<!Mluchwig Ober den menschlichen Verstand. L<-ipzig 1028, 18ff.
dee V-Prinzips; Verfremdung ist für ihn ein konkn,te,i Verfobrcn (das der " Zur Erkenntnisfunktion der verfrerodonden Entbltlßung (obnaut1i•)
,,nogativen Allogorio"), das anderen „Stilmitteln" bei- oder untergoordne~ ist. ,·gl. 224.f.
Emlcitung Verfremdung - Prinzip und Verfährou 23

. Die theorefüc~c Ha_ltung l!Cl~t dort Distanz, wo sonst gowohnte d hatten auch dio Fonnalisten clie verfremdende Intention des Roman•
);uh<'_hrrri'cht, entzieht sich schon m ihrem Ursprung jedem „kosmisch. •= zu einer gattungabildenden Priimisee erhoben.. Vor Bach_tin hat 1n
rußland v. a. der dom Formalismus nahestebendo Lit.crarlust.oriker
mylh1$chen Einverständnis"", 11,jrd ironisch - ";e etwa. bei Sokrates 13. A.
d_c-r c-inr lJ<':'.'llßt ~uzie,i;te. hypot!1etisch.fragcnde, offene V-Pcrspek'. 0 JU rcovbistillchen
in eoiner Ttorija rcmana dte Herkunft des Romangenres auß
Rhetorik postuJ,e" und das Prinzip der Kontruv"'1l0'",
tl\·c dcB .,;:.;1cl11.\,', 1ss1m11 , des „N1oht-Erkcnnen.\Vollons" und - im 80
~er 0 /encn Konfrontation dialogi31ertsr Positionen, die einander wooheol-
f?~mnfäti~cheu Sinn~ - der ''.entautomati~icrtcn Wahrnehmung" roa- ei;. erfromden 0 al& dM beiden gemeinsamo konstruktivo und noot1qcho
h•1rrt D11.'Se sokratische Irome 11 als philosophisches Prinzip des be. ..,._ igi" erfaßt (g7f.). Während Bacht,o jedoch di""8 Konfront.&t.ion im
11ußfrn ,.Verlt'rnens" 17 des gesellseh11ftlichen common ~nse vrrbindet ~t1iclien Smn als aeriilse philoeophischo Au.seinandorsotzung ornst
:':twnt, betont Orifcov den freien,. epie)erischen, hypot.h~l!Chen Chnmkter
sirh in der Dialogkunst Platos mit rinc-m hochent" ickelton Instrumcn- der ep&t,en. apragmat.i!chen ~hetorik, d10-sowohl nus _piid.l\g0g1schon. aber
tnrium rhetorischer und dmmalurgischer \"-Techniken (z.B. Ironie a.ls immer mehr nuch aus iist.holtschen G;rilndon - d_emot1v1ert, d. h. ,hror p•·~k-
rhetoriAchc „dis•imulatio"J. die für die Poetiken aller nachfolgenden (.isohen Zielo entledigt, ala 8('olbstwort1goe Sptcl mit woohaelndon Perspekt" on
J_nhrhunderte maßgeblich geworden sind. Am Ursprung dieser sokrn. betrieben wurde. Hiupt.ziel dieser solbstwertigen Rhetorik iat. dor 5unt_er•
haltende) Effekt der „Sujetspa.nnung", der überraschenden Kombmnuon
t~•chen .,Ent~löß~nS;'dialektik" steht die aufklärerische, ent,mythologi. von Jl{otiven und Gesiohuiptrnkten, ~o mi~ dem ~entra.le!' V-Vorfnhro~ de,~
•1Monde, desilhmomerende Sprachkritik der Sophistik, die sowohl kalkulierton Erwartung11täuRch1.1ng &rbe1tet. Diose .,Tiluechtmgimb8loht
teclmi~ch als nuch philosophisch bis zur modernen Literatur herauf vorbindet -'~us der Sicht der V-Theorie - die Anokdoto, _d_on Witz, du,
mit dem Prinzip der Verfremdung verbündet war. Nnch der - den Novelle dio freie Rede mit d<•m entmytholog,s,ertsu, ä8thoti111ortcn ,veson
dee Li~rariachcn. So hat der primäre 1}berraschungatl!fekt (vgl. witon:
FormalisntUij ilber~h.reitenden - Kulturthcm·ie Jlfichail Bachtins'' rimäre Verfremdung", 215f.) immer auch einen komischen, _oofro1!'nden
steht hinter der sokratischen und sophistisrhon Sprnchkritik ein tiefer. ~pt;kt noben dem aufklärerUJCh-ontblößonden und dem <fos li.sthet,ochon
reioh~_ndes, :_.karneY~liatisch«:3" Prinzjp, dns - nus dem grotesken, ,.un- Sptellrieb&.
Yrrblumtcn Wcltb1ld des emfachen Volkes stammend - immer schon Die „Deforma.tion" einer Beschreibung durch dio Spezifik des
dem Absolutbcits.,n~pruoh der offizieUcn, ,,monologischen", dogmati. gewählten (verengten, verschobenen) Gesichts~unktes {des KrAnken,
11ehc!1 Nor~ _den fröhlichen V-Akt der rcJath•icrenden Umwertung, der Wilden, Fremden, Triiumenden, Trunkenen, RetSenden, Rast:nden e~c.)
Deh1erarch1s1erung und Befreiung cntgegensotzte. kann noetillche (z. B. pädagogische), komischo oder ästhctJSChe Ziele
KRcb Bnchtin entstRmmt die Romnngattun~ dem sokratischen Dialog verfolgen. In ihrer primär iisthetischen Funktion \\W die V-Perspek.
und clt'n karne,·al,aierten Conres dor „memppeischcn Satire""· Unabhängig live zu einem konstruktiven Prinzip, das der im Kunstwerk (,·. a. der
Modeme) aufgebauten Welt gegenüber der empirischen Wirklichkeit
,. Vgl. BLUllll':llll.lCRG, 26ff. generell einen Sonderstntua einräumt. Das in dieser Welt herrsobonde
11
Zur sokratischen „CJroneia'" un hier vorwondotcn Sann vgl. Br.tr11tts. künstlerische Denken" (ehudQZUt~-emwe 111y!~n~) ist 111111 der Sicht der
llt:RC, 23fT. und den Sammelband: Tronio nl• titernriechee Phtinomen (hier ~mpirischen Alltagswelt immer eine versohobene, ver-rückte Ordnung,
111Mbes. XoJL\LU.-,; KNox, Die Bedeutung der „Ironie": Emfilhrung uod zu. die aus der Sicht dieser Alltagswelt einen „künstlichen", hypothetischen,
&1mmc•nfässun~. 21-3/J, und den im soltx,n B11ncl nbgNlruokton Ausschnitt
uus Soar.N l{u:nJCl':OA.mo, Ober dnn BogrifT d(•r Ironie. Mit •Llindiger Rück• ima.ginären und daher „unseriösen" Wert besitzt. Aus der Position _der
Rocht nufAokrnt-OS. 350-3681. kil[Ultlerischen Welt wird da.gegen die empirisehe Ordnung zum OhJekt
~lchrfoch_ un_terstrcicht . Kiorkef(a<J.rd den Um9tand, ,,dnD das i:;anzo der VerfremdUJlg, sie wird ihres a.bsoluton Wertes entkleidet und zum
l>olk!m d~m IJ'(J111achen SllbJokt und diese• "1edor11m dem U080in fremd „Matorinl" einer grunr!Jegcnden Neubearbeitung gemacht. Dies gilt auch
f:owordon iet ... " (351 ).
" Heyuolcls hat an die moderMn Maier die Forderung gt1riohtot „to fUr die pragmatischen Funktionen des V-Prinzips: diese werden im
u,.'lcom ••• to si•c t.ho truth of things" jensoitB aller Konventionen; vgl, Rahmen des Kunstworkos „ästhetisiert", d. h. die direkte, praktische,
\1 ~ HonrANN, Von der N11cl11ihmung zur Erflndung dor Wirklichkeit. Köln transfüve Erkenntnisfunktion wird ebenso aufgehoben wie die rein
10,0, 74f.
•~ Zum Zusammenhang zwischcn dein Prozeß der Korncvruisierung" unterhaltende, konusohe Zielsetzung. Dieser Prozeß der iiolllhetisehcn
(1m S1rone J3a,,htm,,) und fonnnlistiecher Verfremdung v~l. 4561T.
1
. • n,e sokro.t,ache l\lt1ieutik demorurtricrt dio dialogische Nnt.ur der gleicbaam „von außen", ,.von der Seite" (80 awrony)._ mit den Augtm rn~c,,
11 nhrhc,t, ehe - nach M. D11cl1tiu - immer zwi&0hon den Menschen als .AuOenaeit.e111" ala fremde Rede zu sehen. ,Tedc Jcr1t1SChe Solbst.reflc,<1()n
11!11b1valcnfr, betlin,'rt<!, offene Wru-tung komm11111kativ entsteht und ~ollz1eht eich in einer ootohen „mnoron Dialogisiorung", d. h . .,,ner Ab3pRI•
~,cht als monQlogische Au~o (Befehl, Lehrsatz, Doirma cto.) schon tung einer a.uf sich &elbst gerichteten V-Perspektive. 7.u nll dem vgl. 431i f.
fcrt111 voryrefnnden 1vird. Sokmloe ha~ dio aw, der Sophuihk st.,unmendo • Nach Ganrcov, Teorija, romnns, 34, entet<>.nd das R-0mangonro aus
Tc~hn1k, <110 Rede des Gegners m Aporien oder durch BcgrifTeerweitcrungen
oder -vcrengunl!;('_n ad absurd':''? z~ f'uhren, in cmo positive DialojZtechitlk
Li,.:, unl&baren Kontroverse", die auch don ap,tzfindigen Aponen_ cl~r
80hon „freien Rhetorik" zugrunde liegt. Im ldoolfall kann ..Jod~r
, cm nndelt, d1u ~ ~or Syn~rts!A du, hctero~,eM1t Positionen konfrontiert Romanheld in einem dor Leser einen Verteidi!!er finden. Auf,.lnbe dos Romlln•
und tn der Annkri~UJ don D1alo!!_partncr zur ,.Sf>ll,st.üborf'uhrung" hersus- ochreiboro 1Bt .,., das Woson des Kontraren (kontro,,.rzionno.,t') ao aoharf w,o
fonlt•rt. Dadurch w,~ der (',csprilCh&partner gezwungen, suino ciguno Rede tn6glich darzua<.ellon, wogo!l"n der Leser selbet ... nach eigenem Ge,;chmack
und d10 m 1hr lhemat,s,orto oder strukturell enthalt<>ne ideologische Position dafür 0100 elhi&che Rechlfort igung (opraudania) fiodeo kann ..."
24 Einleitung Ariatoteliacher ,,Formalismus" 25

Umfunktionierung fuhrt in der Regel von der prnktisch-noetischen zur eistgelesenen und -diskutierten literaturt.heoretischen Werke, ja man
komischen Funktion. ~ sogar von einer Aristotelosrenai.ssance in der modernen Kunst-
So llißt sich z. B. gut beobachten, wie dio 11111prünglicb ideologisch- wi,s9en!lChafl, und Asthetik sprechen, die freilich zu rooht untorsohiod-
ent1a.rvende .Funktion der .,.negativen Allogorio"t1, der e.innentleercndon lichen Neuwertungen führt~. So interessierte die russischen Formalisten
Umachreibung (iooakazani") in der Tradition der monippeischen Satire w,ct ·cht sosehr die aristotelische M.imesistheorie, sondem vielmehr seine
der kyni3Ch-etoischen Diatribe (bei Dion von Prusa und besondere boi
Lukian) in den Bereich doe Komischen verlagert w1m: der „Witz" dee :!.'nerkennung der konstruktiven Autonomie der Poesie und der daraus
Überraacltunsseffekte - etwa die Fehloinschlit1.ungt>n eines Fremdlings in rwachscnden Notwendigkeit einer Immanenzanalyse, die analog zur
unvortrautor Umgebung - redu,:iort sich auf cino bloße „Differenzempfin. ~ik und Rhetorik die poetischen Werke in ihrer Ganzheit und Ko-
dun!(", doron (aelbst-)kritischer Erkenntniseffekt im Rinterirrund bleibt". hireM nach technischen Verfahren analysiert. In diesem Sinn kann
So diont auch der Held doe griochi3Chen Romans und seiner We1terfühnmg
in den trivialen Gattungen doe Abentouer-, Roiso-, Kriminalromans ";0 „
a.uch äklovl<kij in seiner Theorie des Sujetbaues (8ju.Ieto6wzenie) die
die dialogische Position doe Redners in der reinen Rhetorik als bloßer Vor- fundamentale Unterscheidung zwischen Sujet und Fabel (bzw. Material)
wand für dfo Entwicklung dee Sujote: die ursprünglich orkcnntnieorientiorte auf den aristotelischen Begriff des „Mythos" zurückführen, der die Kom-
.,:t'le':'gierdo". dea Helden reduzie_rt sich a1~f eine selb<ltwortigo „cupiclitas", position von Han_dlung~inh~iten ~u einer k?nstru.ktivcn Einheit r~-
die tnoh nut Jener des Lesers verbindet". Dies becleut,ot nbor keineswegs, daß
nicht ein eolchorme.Ben ästhetisiertes, reduziertes Erkenntnisprinzip, d88 zu präsentiort, die 1110h mcht inhaltlich-t~ematisch, ~o~dern _durch _d10
einem Verfahren der Erzä.bltechnik lite.rarisiert. wurde, in einer späteren Um- Gesetzmäßigkeiten des Aufbaus und eemcr „Techruk definieren lii.Jlt.
wertung dos Gon_~yat.ema „remoti~6!'t" werden könnte: man denke etwn So ist auch Ari8toteles' kl811Sisch-formalistischo Definition der „Schön-
MI dJe Psyohologunerung und ldeolog,s1eMJJig des Abontouor- bzw. Detektiv- heit" zu verstehen, dio sich nicht e.us den Qualitäten der dargestellten
romnns bei Dostoevskij ".
Objekte, sondern aus den Relationen (,.Größe" und „Ordnung") der
2. AIUSTOTELISCßEB „FORMAL18&1US" UND DAS PRiszll' DES eingesetzten Elemente untereinander erklärt.
.,UNOEWÖHNUOllll:N" Ebenso wie die Formalisten in ihrer Erzähltheorie die Rolle der
Jit.erarischcn Beiden e.uf ihre Sujetfunktion reduzieren und damit ihre
Nic.ht zufällig war die Poetik Aristoteles' 15 auch in den tOer und D]osionsfunktion e.ufbobcn, unterwirft auch Aristoteles die Wnhrsehein-
20er Jahren um;eres Jahrhunderts (!!O v. a. a.uch in Rußland) eines der )iohkeit der Charakterdarstellung der Eigengesetzlichkeit des Sujetbaua,
der freilich - und hier ist das ariatotelische Konzept umfe.ssender als
ll Tscmfl!:VSUJ, l25ff. das formalistische - auf eine psyohologisch und ideologisch wertende
" .Klaasiecl1es Beispiel dieser Technik ist, Lukian• Dio.lott „Anach&rSts", Reaktion 17 ausgerichtet ist und nicht bloß auf einen reinen Überra-
io dem der gloi_clmai:nigo Held, _der nJa Skyt.J1e mit der grioch\schon Kultur
mcht ,·ertraut „t, die ihm völlig fremden und absurd erschcmondon gym• schungseffokt. Bei Aristoteles sind jene „technischen Verfe.hren", die
uaetischon Übungon der Griechen besc.breibt und mißverstehend der Llicher- aus „Teilen" ein „Ga.nzes" komponieren (Podik, Kap. Vill) sowohl
hchkeit prei8gibt (LUXlAN, Anooha.rsie oder Über die gymnßlllischen 'Obun- immanent-konstruktiv als a.uch von ihrer Wirkung im Rezipienten her
gon, Obers. von Wieland. In: LtrKlAN, Särotl. Werko. 13<:rlin 1022, Bd.IV, zu bestimmen. Wird die Relation der Teile verändert, so gestaltet sich
4.Sff.). Dio komiech-w,terhaltendcn unrl ooetisob-kritischen Funktionen
solcher V-Beschreibungen sind auoh in der polemieoh-aa1irischon Literatur damit auch das Ganze um und in dor Folge die Reaktionsstruktur -
dor Rono.issonco, besonders aber der Aufkliirung gloichzeitip; vertreten: Klas- eine Aufliu!sung, die der große l'US8isohe Kunstpsyohologe Vygotskij
siker dieser verfromclend,m Beschreibung mit kulturkritieoh-nufkl!irerischon im Anschluß an die aristotelische Katha.rs.istheorie und die forma.listische
Intentionen iat MONTESQUmus Brief-Roman „Lettres persanetf' (1721), wo Wa.hrnehmungsästhotik neu begründen sollte (vgl. unten, 432lf.).
dio europiilacho bi1w. französische Leoonsart aus der Sicht, einer fremden,
exotischen Kultur beeehrioben wird. Auoh der im Formalismus so bedeutende Begriff der „Mntiviorung"
Sklovskij et.eilt lD seinem Art:ikol „Stroenio raMkazn i romnna", G2ff. d.ie (molivirovl:a) literarischer Verfahren ist in den aristotelischen Katego-
Verfromdungsteohnik Tolstoja in diese aufklärerische „fran~1sehe Traclt- rien dcr „Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit" vorgebildet (Podik,
tion" und darllber hinaus in dio NMhfolge des ,.griochischon Romans". Kap. X), die beide dafür soxgen, daß die Abfolge der Handlungseinheiten
$klov•k~ stützt sieb hier- ebenso ";e Onfcov in seiner „Tcorija rcmana" -
auf A. N. V.ESELOVSKlJ'. Greooskij rcman. In: lzbr. stnt'i, 23-60. sowohl sujetimmanent als auch in Hinblick auf die ästhetische Reak-
11 BLUME1''13EM, 90, weist darauf hin. daß die cupiditas als zentrale tion des Publikums konsequent erfolgt.
,.Triebfoder" der Helden doe antiken Romnns (z. B. des Lucius von Apuleus)
gowirkt habe.
u Dioee Motivationsumkehr •.eigt, , •. a. die Entwicklung vom reinen
Sujotrc,nan griechiechen Type zuU1 psychologiech-wcltanschauhcbon Ent- Rusman Poetios, 82ff. (zur Aristotelea-Renaieaanoe in der modernen Litera-
,ncklungs- und Ideenroman des 19. Jahrhunderts - und vnn diesem wieder turwiaaenacluüt.).
,.zurück" :<um remeo Sujetgenro, do.s freilich vor dem Wahrnehmungs- •• SltLOvBKU. Svjaz' priemov .. ., 102f. bezieht aich wörtlich auf die
hintergrund des ,.realistischen Romans" als Oenrovorfremdunl( rez1p1ert Poetik Ariatotelea'.
und kon~ipiert wird. Vgl. dazu 0RIYCOV. 2ff. tmd 60ff.; L. 0ROSSHANN, •
11
Vgl. dazu unten, 432f., Vygotekijs Analyse der a.ristotelischon Reak-
Pool.ika Doet-00vskogo, 6f. und Bachtin• Doetoovsktj-Analy.o unt.on, H8f. 110111- und Katho.rsisthoorio und ihre Beziehung zur formalial18Chen Rezep-
11 L. Dol.Eh:L, Narrative Compositioo: A link oot,-clOn Ocrman aod tionstheorie.
26 Einleitung Ariatotoliachor „ForroolismWI" "!,7

Anl!lotolaa unterscheidet hier zwischen ulllvorsollon „Formolnheiten" fonnaJistischo auf der Opposition 'l'On transitiver, konventioneller Dl'-
(in cler Tragödie z.B. Prolog, Episode, Exodua etc.), dio genrekonstitntivo o<>tation und der verfremdenden semanti.'>Chen Verschiebung (sdt-ig) und
ßedeut_ung hoben, und ~em „Kunstgriff" (µ'jXCtlnJ) im ongcn Sinn, dor z. B. Verdichtung: In der pootischcn Sprache ist r.ä.; To mxpo: -.b xup1i.v,
<'Ul SuJOI ,·crfahrf.n bezc1ohnot, das - zume1~ a.le .,dous ox machina" -
nicht aue der „Notwendigkoit und Wahrecheinlichkeit der Handlung horvor- wobei Arürt,otelce unter dem xup,ov immer die konventionelle Funktion
g<>ht". eondom - di""" demotivierend - eine „künstliche" Verbindung der „bezeichnenden Nomina." versteht (Poetilc, Kap. XXII). Ari~t-0-
odPr LösunJ? von Motivlinion herbciführt, die &U89Chlielllich von den tooh- teles' Definition der Metapher 11,l,s semantische Verschiebung zwi•l'hen
niechen Erfordernissen der HIU'ldlnnp:11fühnmg diktiert werden. Eben dicaen Gattung und Art (yivo~ und d8o;) deckt sich voll mit der formalisli-
„dou11 ex machma." u haben dio Formalisten in ihrer Proeathooric zum
zrntr&len .,Beweger", zum „Deininrgen" des Sujet,, erhoben. An!l"logt ist echen Bestimmung der Allegorie (inoaka.zanie) und der semantischen
jod~nf!,fä 8<lbon bei A;ristotclee ~o _OegenUboratc)luni: von µ 717.«v~ 1wd Verschiebung (amyalcvoj tdvig)", die ebenfalls die übliche, crwartcto
rt"l\hat,scbor (f"!Ycholofllscher) Motivßtoon, von werkimmanentor Notwendig. :Beuiiobnung (<t6 xup,ov) durch eine fremde ersetzen. Der Einsatz. von
koit und empirischer Wahnlchoinlichkeit". Ooro.de die von don Formruillten ll!etapher, ,.Gloi-se" (d. h. der okkasionellen Wortbedeutung, der Aktua-
h~l'\·orgohol:iene Unterscheidunii von Historie (als ge,K'hichtlichcs Faktun,)
und Erzählung (als künatleriBchee Faktum) - am 1maführlichsten rlemon- llsierung von Nebenbedeutungen) und aller anderen Verfahren <ler
~triert io: SKLOV81UJ, /Jfaurial i #til' v romm1& L'IJQ, To/,t/ogo ,Vojno • mir' semantischen Deformation der Nomina durch „Dehnung, Verkllnung,
- ka1u1 sich nur die o.ristotelischo Th888 atiitzen, nach der die lciinatlerisohe Veränderung" er,.ougt jenes T6 IL'll {8,oT,x6v, das immer Prod11k~
f!&ndlnng nicht eino rea.le, sondern oine intentionale Glaubwiirdigkeit M• eines (bewußten) Normbrocbs und einer V-Position ist, die Arist.otolcs
zustreben hat. die sich ,.mit dem An$Chein dor Wah1'8Cheinlichkoit" begnü-
Jl('n kann: Denn die Richtigkeit (6J>Oon1~) L8t in der Politik oino andero als freilich in einen noetisch verbindlichen und durchsichtigen Kommnnl-
in d~r Kunst (Pouik, Kap. XXV), in der das „Unmdgliche" möglich wird. kationapro:wß einbettet: T6 y«p "~ µ.e:T~~e,v, T0 611oiov &eopciv ca-:, 33•
J cno daraus erwachsende „ErwartungsUIU8Chung" "', von der oben die Rode Aristoteles hält also noch an der Übereinstimmung zwischen dom kiin~t-
wnr. ist auch in der sristott-Hschen Poetik aJa rezopl1onsäalhetiachN Grund- Jerischen Akt als T~.(V'I) (l'Clllisicrt im µcro:q>l:pcLv) und dem ErkenntniR-
prin,:ip weitaus eingehender analysiert als etwa der Begriff der Mirooeis.
Daraus ergibt sieb auch im Formalu,mus die bewußte Ausk!Ammernng dos &kt (der :kop!«) fest. Dio in dor Metapher (formal bzw. technisch) er-
F,kt,ven und lmnJ::iniiren zugunsten der roalen Empfindung (oU,l.fc!enie), der möglichte „ Verknüpfung von Dingen, die unverknüpfbru- sind" muß
Sonaitivitlit und der Reflexion! domMch so maßvoll eingeaetzt werden, daß eine gewisse Verbindung mit
Ausdriicklich führt i§klovskij in lakllMtvo kak pmm seine Definition dem „Oblichen" (a.Js Wahrnehmungshintergrund, der mitosso1,ücrt wird)
der poetischen Sprache als deformative Verfremdung der praktischen gewahrt bleibt - und damit auch dio „Klarheit" und Trnn.~parenz der
Spr11che auf die aristotelische Kategorie des ~~1x6v zurück", die der thooreti.schen Intention. Wird dieses Gleichgewicht de.durch gcatört -
poeti.schcn Sprache den „Cha.rakter delS Fremdländischen, Erstaun- odtll' gar aufgehoben -, daß die Verfahren der ::lfotapher, der Glosse u. a
lichen" (des TO J,L'IJ !8,0T1x6v) verleiht. Analog zum karnevalistischen in einem Werk absolut vorherrschen, entsteht das, wes Aristoteles alR
Prinzip der dehierarchisierenden Ambivalenz, nach dem in der Tragödie o:foyµo: und ßo:pßo:p1av,6~ bezeichnet. Er wendet sich damit gegen jeno
,.in einem Handlungsablauf Großes gestUrzt und Niedriges erhöht wird" Konsequenz aus dem Postulat des Ungewöhnlichen, die schon zu seiner
( Podik, Kap. XI), ist auch die Semantik der poetischen Sprache durch Zeit und in allen nachfolgenden Perioden als manieristisoho Antinorm
die Katogorie dos „Erstaunlichen" und der Umwertung charakterisiert. den klaaaischen Kanon und scino Einheit von noefücher und ii.slhetisohcr
Aristotelßll' Entwurf einer poetischen Semantik basiert ebenso wie der ZielBetzung a.ufzuhebon trachtete.
Obgleich Aristoteles die Riitselhaftigkeit und die „Barbarismen''
0
vom Standpunkt der „rechten Mitte" tadelt, sieht er in ihnen doch die
. A. K. Z?LKOVSKI.r, Deus ex machina. (Dio Vorbindung dee kyber- einzigen Kriterien des Poetischen, da sie im Gegensatz zu anderen Vor-
nohschen Begnffs der „Mll8<lhine" mit dem 11ristotelisch-formalistiachen
Sujotmodoll bezieht sich dnboi konkret auf Aristotoles' Poetik, Kapitel X.) fahren weder lehr- noch lernba.r sind (Kap. XXII). Damit ";derspricM
tt z;ur_Kategorie der „Wehrschoinlichkeit" (provdopodooiß) als Realia- er auch der Tendenz, die Poetik auf ein System (ehrbarer Tropen und
mus-Kritertum \"gl. J.utoosoN, 0 chudotoetvennom reruizme. In: Texte L Figuren zurückzuführen, das - ";e die weitere Entwicklung der Poeto-
372ft'.
"' Aus der Sicht der Informationstheorie ist der Begriff der Information logie zeigen sollte - vom Rioscnappara.t der Rhetorik gleichsam „ge-
- auch der ästhetischon - imm&r durob eine konstitutive „Erwartungi,- schluckt" wurde.
tiiuechung" definiert, vgl. AsnA.H.AM !lfoLES, Informationstheorie und ästhe- Bis ins 18. Jahrhundert konnte die Rhetorik weite Bereiche der
til!Che Wahrnehmung, 32ff.: .,So ist dor Wert (sc. der Information) an daa Poetik asaimilieren und die ihr immanente transitive Enthymem&t1k,
Unerwartete, dJu, UnvorhcM!Chbaro, du Ori!Qn&le l(llknüpft,, Das Milli der die jedes ihrer Verfahren (v. a. die zentralen Tropen der Kata.chrcso,
Informationsmango ist also auf das M.i.ß der Unvorhel'llllhbarkcit 1.urUckzu-
führen, d. h. auf eine Fra110 dQr Wahnieheinlichkeil:Altheonc ..."; vgl. da-
zu auch R. ZA.Praovs und V. V. IvANovs Ne.ehwert zur rugs. 1lb4'rs. von A.
Moles' Buch, 342f.
• H. LA\llloJi:so, Handbuch der literarischen Rhetorik. München 19G0.
1 ,. Zur Theorie der ,,llelDIU'ltiscben Verachiebung" vgl. unten, 208f.
§§ 1235--1237; J. D11Bo1s u. a., Allgemeino Rhetorik. MUnchen 1974. " .,Denn gut zu übertragen bedeutet, das Verwandte erkennen zn kon
Zum Begriff der „010888" vgl. auch JAXOBSON, NovojAa.jo ruaskajs. poöziJa, 67. non" (Poetik, Kapitel XXIl).
Aristotelischer „Formalismus" 29
28 Einleitung

b w worauf er seine wertende Erwartung einstellen und seine GofühJ.s.


Synekdoche und Motonymie) iu einem „Überzougungsmittel" macht",
i:se· einstimmen sollte. Jede Abweichung von dieser Einstellung (U6kl--
auf die kommunikative Funktion der poetischen Verfahren übertragen. ko) verlotzte nicht nur die ttikdnost', sondern gleichzeitig auch die
Durch dio stark produktion.eli8thotiech ausgerichteten poetischen „Teoh. ':::titlW81' t In diesem affirmativen ii.sthetischen System dienen somit
nologion", die zumeist nur einen mit ld8.S8ischen Zitaten aufgebceilerten
Tropenkatalog Wl boten, verkümmerte der Sinn für die bei Arialotelea noch di: wahrneluoungskonditionierenden Sign.ale und ihre Automatisienmg
prinzipielle Unterache1dung zwi80heo poetischem und rheloritichom Eiruit\tz (gcst.eigert noch durch das oftmalige Sehen bzw. Hören des Kunstwerks)
der Tropen. Eine bloß deekriptivo Definition der semantischen Verfahren der künstlerischen Wahrnehmung, die - wie auch alle anderen Ak~
mußte sich daher immer mit bloß nogativen Begriffsbestimmungen bognU. ln einen! affirmativen, ge&ohlossenon System - zur Selbstfindung m
gen, die darin beetanden, den „uncigontliohen", .,figilrliohen" Ausdruck rua incr sich beständig selbst legitimierenden hierarchischen Gesellschafts.
Al,weichung von der „oignntlich~o", dirokton (,.nonnolen") Beze1ebn11ng 1<uf.
zufassen. ~rdnung verhilft. De.r Mensch ortet seine Position llll;, vertikale~. Auf-
,.Lea trope,i aont des llgures par lesquelles on fait pnmdre A un mot une und Abstieg11, die ... wiedererkennende Wahrnehmung (~ovskiJ) be-
si.gnification, qui n'eet paa precia~ment 1a signiflcation propre de eo mot: stätigt nicht nur die herrschende Weltordnung, sondern immer auch
ainai pour entendre ce que o'est qu'un trope, il raut comencor par bien
aomprendre ce que c'e,it le, signification propre d'un mot." (DU MAR3AJS, Du den Wert~nden selbst.
Tropu, Paris, i. Aufl. 1801, 17) Daa Streben nach beet.iindiger Senaibilisierung un<l Auffri&cbung des
Es ist klar, daß di0808 Prinzip der Abweiahw11'1 in dor ~itiorten Tropen. Weltempfindens (miroodfu.funu), dM die Formalisten ala „Motor" dar ii.atbe-
daflnition keinen Hinweis de,muf enthält, ob es affirmierend odor verfrem. t18Cben AJ'foktion und l!:volution verstanden, hat aber in der &ffirmativen
dend eingesetzt bY.w. rczipiert wird. Eine Antwort auf die Frage ne,oh dor iuthetik ebensowenig seine Berechtigung, wie in einer. affirmotive~ E~Wk
Dominanz eu1er der beiden Hauptfunktionen l!iß~ aich nämlich nur vom b~- Ideologie das beständige Infragestellen der Koord,na.ten .un<_i die Neu•
l(ll88lDten Kullurayatem U1'0ÜMlsender Epochen her ort.eilon, von Epoohon, defini~•on dor eigenen geeellaabaftliobe!" Rolle. Faßt man . die aathotl8Cbe
dio weit Uber dio Amplitude periodischer Schwsnkw1gon hinaus em jeweils Afllrmntion nicht bloß ala epochenbechngt. eondom als umveraelle Potenz
nutonomee epistemologisches System rel?räaentieren, d&e oft durch mohroro nuf die in jedem synchronen System f'ur die Automatia,erung und darauf.
Ja.hrhunderte 11110 Lobensbereioho organisiert". folgende Dekanonioierung des. Gelll'08yatoma so~gt, läßt eic_h auch die .literar•
Mit Recht kritisiert daher D. S. Lichacev die Annahme eines uni- hlstori80he Rollo doa F·ormalismua al8 orete wuoieoacharU,che Theorto einer
verrremdunpthetik veratehen, die im Kampf gegen oin nffirmativea
versellen, für alle Epochen gleichermaßen gllltigon V-Prinzipl!, das Syatem stand, in dem die Kote11orien der tradicumnoat' un~ iliutium' .de!fl
durchaus nicht in seiner neuzeitlichen Bedeutung etwa auf die mittel- ~ten äathetiachen Bewußtaem obenao Gewalt antaten w10 du V-Pnm.,p
alterlicho Asthotik übertragen werden kann, in der das aflirmath•e dem mittala.lterlichen.
Prinzip der lradu:ionn-08t' und tliulnost' M als positive ästhetis()he Kate- Ganz anders funktioniert die Automa.tisierung in der „unperspek-
gorie funktioniert: Ebenso wie im Mittelalter (eigentlich schon seit tMschen Welt"" des Mittole.lters (JBA..'I GEBSER, I, 35 ff.), in der die
Augustinus) die theoretische Neugierde theologisch bekämpft wurde, metaphysisch begründete Autorität (a~iW·nosl') (~_oa&ll&v, _100) all.er
mußte dieselbe Theologie auch da.s ebenfalls aus der cu.pidim1' stam- ideologischen Zeichen vom Autor wie vom Rezipienten Dicht IIllt-
mende ästhetische Vergnügen und seine beständige Stimulierung durch schaffende Veranderung, sondern teilhabende Wahrung, nicht indivi-
lJberraaehungseffekte, Erwartungstäuschungen, sensuelle und intellek- duelle Identifizierung, sondern objektiv geregelte (.,liturgische") Zeichen-
tuollc Neuheitsreize ablehnen. und Symbolbenützung verlangt. Im Gegensatz zur neuzeitlichen hori-
„Die Literatur entwickelte a,ch nicht deshalb, weil in ihr etwaa für den zontal-evolutionären Perspektivi.k, die das Bewußtsein einer permanenten
,automati.tiert' war, , V tr/remdung', ,Entblößung' u. a. erfor•
Le11el' , vemltet', ,.Vervollkommnung", eines immanenten historischen „Aufstiegs" vor-
derte, aondorn doohnlb, weil dM Lebeo aelbst, clio Wirklichkeit und in erster t.U880tzt, wodurch die Kategorien der Veränderung und Erneuerung als
Linie die gesellsch&ftliehoo ldeon der Epocho die Einfuhr neuer Thomon,
die Schaffung nouor Werke erforderlich miu,hton. Die Literatur unterlag prinzipiell progressive Faktoren gewertet werden, rechnet die lln.J>Orspek·
noch in geringerem llaß ala in der Neur.eit den mncren Geeetzmäß1gkoitoo tivi.sche Welt mit einer synchronen Koexistenz der gesamten Uberliefe.
der Entwicklung (razvilie)." (Lxc&t.sv, Poetib, 100) rung, in der das Alt.er einer Bedeutung bzw. Bezeichnung diese nicht
Das Genre-System war so organisiert, daß der Loser schon aus der historisch relativiert, sondern im Gegenteil ideologisch aufwertet•. Daher
Überschrift eines Textes en;ehen konnte, womit er zu rechnen hatte spielen auch das Zitat und im weiteren Sinn jede Nachahmung in diesem
gC6Chlossenen Alluaionsraum eine produktive, schöpferische Rolle -
14 AlusTOTBLl!:8,Rhetorik I, Kapitol l. und dies nicht nur in der theoretisch-wissensoha.ftliohen, sondern auch
•• M. FouoA011.1:, Die Ordnung der Dinge. Frankf./M.. 1971 (Rekon• in der künstlerischen Literatur, wo die wiedererkennende Wahrnehmung,
struktion dea „kia88ischen ZeitaJtora" als epiatomologiaehce System.)
14 D. s. LIOIIAC>:V, Poetika drevneru.BBkoj literatury. M., 1967, 58f. 11 Vgl. dazu Bachtioa Theorie der „grotoeken Weltordnung", unten,
betont die liathetisch kolllltitutive Bedeutung der Vorinformation f,ir dio t66f.
ästhetieche Wahrnehmung im mittolalterliohen Kulturtyp llJld im Rahmen 11 JsAN OKBSER, Ursprung und Gegenwart. I. Teil. Die Fundamente
oincr jeden affirmativon Aathetik, tn deren Mittelpunkt immer das Prinzip der ':f":pektiviacben Welt. Milnohen 1973.
dor „wiedererkennenden Wahrnehmung" atobt. FOUOAULT, Die Ordnung der Dinge, 1Mf.
n BLmmNl!BR0, 100f.
30 Einleitung
r Dio manieriati,whe Verfremdungs-Asthotik 3t

das Err11ten df'.r Provenienz von Zitaten und Anspielungen als zentraler zentrti.ler Programmpnnkt jedes Manierismus ist die prinzipieUe
~thetischer ~iz empfunden ~ird. Ein großer Teil der europäisohon F rderung nach Deformation der kl&Misehen Norm mit dem Ziel, pri-
L1ten1turtrad1tton muß unter diesem Aspekt des ästhetisch-affirmativen ~re V-Effekte, d. h. Uberra.schangs- und Neuheitseffekte zu provo-
Allusionsspiels verstandeu werden, in dem ein gewaltiger Zitatenschatz :eren die - zumindest programmatisch - gleichgesetzt werden mit
in immer neuen Konfigurationen die das gesamte Schrifttum umfassende den ~thetischen Effekten selbst. Der schöpferische Akt besteht in der
lnwtextualität staudig t)räsent hält w1d im konkreten Werk aktuali- Neukombination der im klaasischen Kanon vorgegebenen Elemente,
siert. deren ursprüngliche Kontextbedeutung dem Rezipienten bekannt sein
muß damit er den Effekt der Dekontextierung überhaupt wahrnehmen
3. Dn;: llANDl.lUST.LSCHEl VERFRElMDI/NOS-ÄSTHETIK ka~- Das aristoteli.,che Prinzip des „Ungewöhnlichen" wird im Ma-
Nach Bachtin ° existierteu im :Mittelalter nebeneinander die von nierismus zur Kategorie der „novita.", der „meraviglia", deren alles
Staat und Kirche beherrschte „offizielle Weltordnung" der monologi. entstellendes Anders-Sein das .Asthetische überhaupt erst. konstituiert.'°.
sehen Alltagswelt und die „inoffizielle" groteske Weltordnung, die an ?,{et.hodi.soh bedeutsam ist hier die im frühen Formalismus volh1ogenc
den Karnevalsfesttagen den „klasirischen Kanon" und die dominierende Gleichsetzung von Neuheit (novizna) und „.Asthetizität" (utdilno.'ll'), die
\yerthienrchie ~1mslü~pte wid - wenn o.uch nur f0r begrenzte Zeit _ somit negativ-immanent als Differenzqualität definiert ist••.
eme Gegenwelt mstalherte. Im Gegen/latz zur neuzeitlichen Groteske - Einen wesentlichen Vorgriff auf dtui formalistische Reduktions-
"· a. dor Tradition der „schwarzen Romantik", wie sie etwa W. Kayser" modeU des FI stellt das rollektiorto theoretische Bewußtsein des manie-
a_ls Ausdru~ d~r .,~tfremd~" und „Weltangst" definiert, interpre- ristischen Kün.stlen; dar, der sich nicht nur über die immanente Orga-
tiert Baohtm die mittelalt,e1·hche Groteske positiv als System umwer. nisation des Artefakts Re<:hensehaft gibt, sondern auch und v. a. über
tender, dehierarchisierender, emanzipierender Verfahren die eben datu seinen rational kalkulierten Effekt, der wie die Pointe in Witz oder
dienen, den Menschen aus der ihn entfremdenden offi~iellen Welt des Rätsel genau geplant sein muß. Dabei erweist sich, daß die Emanzipa-
„Ernstes" und der autoritären Zwänge zu befreien und wenigstens tion des Kunstschaffens aus a.ußarkünstlerischen (mimetischen, ideolo-
zeiLweilig die Rückkehr in dio tellurisohe Geborgenheit des „Volks- gischen, utilitären) Determinationen eben nicht in „Willkür" ausartet,
llörpe~" ~d d&ID~t in die ästhetische Unmittelbarkeit zu ge.<rtatten. "ie die Gegner des Manierismus zu behaupten pflegten, sondern im
Ganz m diesem Sinn haben auch die Formalisten die existenzielle Gegenteil die Verlagerung des ästhetischen Interesses auf die objek-
Funktion des V-Prinzips immer positiv als Befreiw1g aus der Entfrem- tivierbaren Verführen der „Kunsttechnik", die Auffassung des Kun.st-
dung verstanden und keineswegs wie W. Kayser, 0. R. Hocke u. a. als wc.rks als „Affektmaschine" anstrebte, deren Aktion ebenso kontrollier-
ihren Ausdruck. Nicht zufällig setzt die formalistische V-Theorie in der bar sein muß wie die Reaktion im Rezipienten.
Analyse der karnevalistischen Genres des Rätsels, Witzes, Kalauers :Freilich läßt eich der Manierismus nicht auf da.a Minimalprogramm einer
(!-alam1b1tr_), Wortspiels, der Parodie, Persiflage und Stilisierung ein, bloß relationistisohen AbW1JichungMJ81M-'ik reduzieren - ein Vorwurf, der
also all Jenen Genres, wo das ursprünglich ideologisch orientierte auch dem frühen Formalismus nicht erspart blieb - , da sieb weder dio
Lachen zum konstruktiven Prinzip erhoben ist43• mani~iacho Theorie noch klln.etlerische Praxis mi, der bloß deformativen
Verüomdung begnügt. Die Asthetisienmg doa Nonnbrucb.a kann eich näm-
,.Auf dern Orund der Kunst liegt wie ein Samenkorn die Hoiterkei~ lich in verschiedenen Realiaierungsgraden vollziehen. die sich zwi.achon dom
<~•ueloat')." (SKLOVSB:l.l, Ich naatojaAcu, 39) Ext.rom der „uackten" Präaentat1on der Verfahren (ihrer „Verdingliohw1g")
Immer schon hat neben dem „klassischen Kanon" bzw. der kanonisierten und dem anderen Extrem einer konstruktiven Vennnerlichung der V-Vorfo.h-
l01111Sik ~i~e Nebenlinie existier~. die durch die Hypertrophie der metaphori- ren im Rahmen eines zwar parodistisch intendierten, abor durchaus auch
sche~ (am,gmat,achen) Verfahren Maß und Klarheit, Harmonie und Sym- iaoliert wahrnehmbaren Kunstwerks bewe~en.
met:ne der Idealtypen vorlotzte und ihre liathetiache Wirksamkeit v. a. dUJ'Ch Gerade der Spiel- und Experiment,eroharakter dur ma.nieriatiaohen
!{ontrastve_rfähreo u_nd_ d~n Normbruch errang. Dioe zei~ sich ochon klar Klll1ß iat f"dr alle nachfolgenden „Avantgarden" der Krista.lliaationspunkt
m de_n antiken ~amer1St1soh~n _Ström'!flgen doe BarbarlSmus, Asianismus ihres (oß verhüllten) ästhetischen lmmanentismus geworden. Hinter Jedem
~•- a. ''.!' al_exandrinischon ~~1erJ.Smua, m der ,,silbemon Latinität" in Rom,
1m Spatmittela.lter und v. a. m der „bewußten" ma.nisrilltischen Epoche die
0. R. Hocke um 1620-1650 ansetzt. (HOCKE, Di,, TVolt. ala Labyrinth, I, 22G)" apnlOhanden synchronen Kontext herauszulösen und „quer durch die Kunst-
geeohichto" miteinander in Verbindung - ja in genetische Abhängigkeit -
iu aetzen.. Die Fonn&liaten selbst waren aufgrund der spezifischen litera.tur-
" Vgl. duu unten, 450f. und kunsthiatonachen Tradition Rußlands mit dem Phit.nomen doo Manieris,
. " W, KAYS.&R,_Das Gro~½o in Ma.leroi und Dichtun~; G. R. HoCJt.E, mua kaum vertraut.
Die Welt al~ Labyrinth (llaru8I'l8mus I) und dere., Manior,amus in Malerei " HOOB:m, I, 21-21> wid 29ft'.
und Dichtung. Hamburg J 968/9. . " Die Asthetisieruns des „EP.atiamus" findet ihre klassische De6ni-
0
Der Begriff ,,konstruktiveH Prinzip" wird im folgenden immer in, t,on In Giamb&ttiata. Marinoa Begriff des ,,stupore" und der „biz:z:.ario. della
Sinnz_. Tynjanove verwendet (ygl. d~u unten, _315ff.). n_ovit&", obeD80 in doesen Anhängor Toaauro, der in seiner Poetik „Canno-
:8:ookea Darstellung birgt die Gofahr m sich, Emzalverfahren ,.;e 01a.le Aristotelioo" (1664'] eine kfare Verbindung i<wischen manieristischer
z.B. die Anagramm-Technik oder den Lettrismus aus ihrem jeweils ent- BildUieorie und o.ristotelischer Met.aphemdofinition hor11tellt.
32 Einleitung Verfremdende Ironie und iroD.JSohe Verfremdung 33

iiatheLieohen Immanontismue wirkt aber da8 aufkläreriaohe V-Prirwp, daa faßte. Im Kunstwerk bzw. ols Ku_nstwerk pr_äsenti?~r Red~ioni.smus
alle Phänomene - auch die Kunst - nacli dem GruodA&tz, eio eoion „niohte "ckcn jmmer die Verfahren und ihre Kombmatorik m den Mittelpunkt
anderee ala ...", auf die Summe ihrer Konsiituenton, auf ihro unmitielbar,,
Gegen.t1tändlichkoit reduziert.
:;i analytischen Aufmerksamkeit, während die mimetischen und _tl'&ll-
In di080m Sinn hat auch Sklovskij eeino Definition dor Kunst als die .~~ en -ohlotionen an der Peripherie der Wahrnehmung den Hmter-
f!lvlV • Juaruens-
-°"'die zentrale EntLlößung bilden. So wo rden 8<lh on un ,r • •
Summe der sie konstituierenden Verfahren als reduktionisti&che Provokation nd für
vorstanden - analog dom von '1'8ohi!eV11kij zitierten Beispiel jener negath·en gro die Verfahren selbst zu „Heldcn" l der Darstellung und gleich-
6
Allegorie, d10 besagt, d&fl „Gold nichts anderes eei als ghiru:endee Metall"". rnus ·" •
eitig auch der theoretischen RcueXJon. • , • d er ,, Ge•
Diese E manz1p11,1on
Die frühe form&listiBOhe Theorie der poetischen Semantik enthält - :U.1tungsmittel" aus der mimetischen Verbindlichkeit„ bilden den _Kern
wenn auch auf einer höheren Reflexionsebene und iD synchroner Ana- aU jener verfremdenden :J?esillusionieru~ffokte, die der .Forma~IS',1111_8
logie zur symbolistischen und v. a. futuristischen Poetik - allo wosent- in eeiner Rezeptionsthcor1e zu sys~ma.tweren. trac~t.ete. In ~aruer1st1-
liohen V-Verfahren der manieristi.schou Bildtheorie. Gnracle dio in der acher Siebt ist die adäquote ästhet1Bcbo Rezeption e~ Entscblussel1:n_gs-
manieristischen Malerei ganz augenfällige Deformation des zentral- rozeß der sich in der Auflösung (Dekodierung) des 10 der Kompos1t1on
porspektivisohen Kanons und seiner illUBionären Effekte realisiert die ~es Artefakts versteckten „Rätsels", der Pointe, erschöpftN.
der Poetik zugrundeliegende semantische uud symbolische Polyvalenz,
die dem Empfänger zwei oder mehrere Gesichtspunkte und damit eine 4,. VERFREMDENDE lRoNIE 'UND IRONlSOBE VERJmEMDUNO
ganze Reibe komplementärer lnterpreta.tionon gestattet. Diese kalku- ASPJ:KTll DER THJ:ORBTISCllllN UNO BXJSTll:SZIBLLEN RE)'LEXION
lierte Vieldeutigkeit muß aber so „dosiert" sein, d&ß keiner der angebo- IM VERFRBm>UNOS-l'ruNZIP
tenen Aspekte die anderen dominiert, aondem daß vielmehr gerade im Die Begriffsgesobichte der Ironie läßt sich von der dos V-Prinzips
i;imult.anen „Flimmern" bzw. ,.Oszillieren"" der Apperzeption bzw. per- nioht trennen: Von Anfang an koexistieren auch im Begriff der Ironie
spektivischen Identifikation das Zentrum des ästhetischen Effekts der noetische und der konstruktive Aspekt, was auf die gemeinsame
liegt: Klassisches Beispiel diosea perspektiviaohen Flimmerns sind die Wurzel in der rhetorischen Technik zurückzuführen ist". Die rheto-
im Manierismus hypertroph entwickelten Vexierbilder, deren optische rische Ironie formalisiert alle in der kommunik&tiven Praxis üblichen
Täuschungsmanöver das ästhetische mit dem erkenntnistheoretischen Verfahren der „uneigentlicben", doppelsinnigen Rede, deren direkte,
Interesse auf eine wissenschaJtliche Ebene stellten, auf dor kein Unter- tran$itivo Mitteilung nicht identisch ist mit dem E,ith~mau, dess~n
schied zwischen Artefakt und Experimentierexempel gemacht wurde". Zentrum im mitgemeicten, konnotierten Subtext liegt und durch om
Eben dioeee Phänomen der appen,eptiven Vieldeutigkeit eollte auch
Sklovskij in aeiner Aueeinanderaetzung mit dem Kubo-Fut.uriamue an die
Spitzo selJler Thoorie der .DuiU"'1ionurung atellen: Dieeee lnt<lt888e an allen •• JAJCOBSOK, No,,ejsaj& russkaja poezije., 33: ,,Wenn aber d~e Litcratur-
Verfahren dor Täuacbung, Simulation und Maskierung erfüllt - wie noch ~ h a f t , beet.rebt ist, eine Wisecnschaf'I. zu werden, muß s,o daa ,Ver•
zu r.aigen i,n - die gesamte erste metbodiaohe Phase dee Formalismll.11 (FI) fahren' (priem) als ihren einz.igen ,Helden' (geroj) anerkennon ..."
und w,rkt htnt.er allen Motivationadeflnitionen. Ebenso wie die methodiacbe 11 W. Bor>l.<NN', Grundlllg(lll der modernen KUD8t, 166f. .
Übertragung dee konstrukt,iven Prinzipe der optischen Tät18Chung aus dem 11 Vgl. A. HAusan, Der Ursprung der modernen Kunst und _L•~tur,
Bereich der darstellenden Kunst in die Literatur, die in vi..tfälti~n manie- 03ff., inebee. daa Kapitel „Dio Entfremdung als Schlli.allel zw:n Maru"":"mua".
rilltieQhen Oenroe nach dem Prinzip der ,,semantiBcben Täuaohung poetische Etne verwandte Position vertreten Hocke und Kayser lD den zitierten
Labyrinthe konstruierte, war auch f'ür die literarische Avantgarde der Hler Werken. Sie und ihre zahlroichon Epigonen noigon düZu, o.llo ~ Kunst-
und 20er Jahre d08 20. Jha. die Aperapektivik der Malerei und Plastik metho- werk raalisiorten V-Vorfahren aus der „verfremdeten" Woltmcht dos
disolios Vorbild 00• KUnatlers und damit aus seiner biograpbisob-hist.orisohen Situation heraus
Die bowußte Reduktion des ii.,thetischen Prozesses auf die funda- au erk!Aren. ,,Vorl'romdung" und ,,Entfremdung" werden. auf diese ·weise
vö!Ul{_Unlcritisch und inkonsequeni gleiabg~tzt bzw. ~uroheinando~eb~bt.
mentale Beziehung von Stimulus und Reflex war schon im Manierismus Der Bogritr des „Befremdlichen" muß hier romrun als metaphonsahee
(und erst recht im frühen Formalismus) als Verfremdung jener tertium oomparationis herhalten. Vgl. dazu E. HoLENSTErN, Roman Jakob-
Kunstbetrachtung angelegt, die Wahrnehmungs- und Werkinhalt bloß eons phiinomenologi80hor Strukturalismue, 52: ,,Bo2.8iohnend für die unter-
als zwei Erscheinungsformen oin und desselben Phänomens auf- schiedliche Konzeption der Jt98C},ichtlichen Situation ist. die Wabl der Be-
griffe. Die Exist<lll%pbilOSOpliie wählte für eine andersartige Sicht _als die
~ e , vertraute, den negativen Begriff der .~ntfremdung (ot6u!den«&). Dor
., Tscmh:vsJCU, 126. l'Wllliaobe Formalismus führte daf'ur den po81t1ven der Verfremdung (08tro-
.. Zum Prinzip dee „Oszillierena" der Intcrprotations/Identifikationa• n.ttta) ein."
14 Zur Ironie als rhetorischer Toohnfä vgl. LAUSDl!:RG, l, §§ 902-4 und
mögliobkeiten vgl. Ju. Lor>U.N, Chudoiest,venna.ja struktura ,Evgenija.
Onegina', 6-22. die Sammelbiinde: Ironie und Dichtung (darin: BED.< ALLEMAN!<, Ironie als
" Roou:, II, 21ft'. (Anagramme, Sprachspiele, Loporismue etc..) und literari8ches Priru:ip, 1t-38 u. a. Bciiriige) eowie: Ironio ala litcrnrisohes
I, 511f. (!isthetiaohe Täuschungstoohniken). Phlinemen (darin: WAYN~ C. BoOTH, Ironieprobleme in de.r älteren Liroro-
'° V'gl. dazu unten, 820'., den AbechniU liber die Technik und Theorie 1.Ur).
der PersP<'ktivik in der darstellendon Avantgardekunst der !Ocr Jahre. " Enthymema = rhetorieaher Syllogismus, rhetorilche Technik.
34 Einleitung Verfremdende Ironie und ironische Vsrfremdung 35

llinimum an versteckten Signa.Jen entblößt wird. Diese rhetorische betrachtet werden. Eben dieses Programm der narrativen Verfremdung
„dpc:.mkit" - dissimula.tio in orationo - beruht ganz klar auf dem Spiel v. a. in seiner „aternistisohen" und ,,rousseawstischen" Realisierung
mit der Erwartungstäuschun g, d. h. mit der transitiven Intention des hatten auch die Formalisten zum ZentTUJD ihrer frühen Erzähltheorie
Rezipienten, der sich a.uf die unmittelbare, monologische Textinter- gemacht, dio sich anfangs ausschließlich mit der sternistischen Tradition
pretation eingestellt hat, sie repriiaenüert also im weiteren Sinn den vom 18. bis zum 20. Jh. beschitftigt hatte. Die formalistische Erzähl-
Oberbegriff für alle Verfahren der Periphrase, Metaphorik, Tropik, der theorie enthält demnach als wissenschaftliches Objekt gleiohzeitig auch
rhetorischen Schemata etc. ganz im Sinn der klaS>lischen Rhetorik ... ihre methoclisoho Herkunft und es erübrigt sich da.her, um Wieder-
Der Subtext und damit da.s Enthymoma der ironischen Au.saa.ge ist nur hol1111gen zu vermeiden, ihre einleitende Charalrtcrisierung 69•
für jenen Bezipieuten dekodierbar, der über den implizierten Allusions- Die im Ma.niorismus noch undenkbare Psychologisierung der k:rea,.
horizont verfügt: Analog zu den Verfahren des Zitierens, Stilisierens, tiven Selbstreflexion des Künstlers wird in der „sternistiscbon" Poetik
Parodierena ist die Vorinformation des implizierten Empfängers im nicht bloß in isolierten Kommentaren (etwa in der Einleitung, in An-
Text dialogisch vorweggenommen und ka.nn daher nur metalinguistisch merkungen el;o.) dem poetischen Text beigeordnet, sondern vielmehr
(Bachtin) nnalysiert werden. Mit anderen Worten: Jenseit.s des kommu- in diesem selbst realisiert"'.
nikativen Prozesses, der da.s gesamte historisch, sozial und ideologisch Zuerst war die narrative Ironie ein ebeoso ästhetisches wie erkennt-
determinierte synchrone System einschließt, ist der ironische Text nistheoretisches „Spiel" nach dem Prinzip „der multiplen Umkodicrung
weder definierbar noch wahrzunehmen 61• von Systemen" (mnousltiennoj pertlcodirovki mtem, Lotman)01, seine
Zu untersche•d~n ist aber zwischen dem tran&iti"•nffu-mativen Ei1180tz Remotivation war ein sekundärer Akt, den die Formalisten aus ihrer
der Ironiaierung .., die sich im intellektuellen „Luui;ewin~" des Er~"?"9 V-Theorie zunächst völlig ausklammerten, ja bekämpften. Gerade die
des Enthymem& und damit dar Ident1fikat1on m,t llltler Bildungst.rad1t1on literarhistorischen Arbeiten der Formalisten zeigen die Tendenz, die
erschöpft, (sofern dio Rhetorik frei und eelbstwertig auftritt) - oder im sternistischo Poetik des 18. Jh.s in dio literarische Evolution des 19. und
unmittelbaren porauasiven Effekt (sofern dio Rhetonk ein Uber sie solllßt
hinausgehendee Rodezicl intendiert.), und dom intransitiv-,·erfromdonden 20. Jh.s zu projizieren und damit ein ganzes System literarhistorischer
Em.88tz der Ironie im poetisohen Kontext: In dieeem kann ee keinen klar (vornehmlich idoologischer) Wertungen zu verfremden (TYNJANOV,
definierbaren, oin für allemal aufföebe.ren Subtox1. goben. d""88n vollo Ent- Jirchaisly, 277f.). Die ldcologL,ierung der narrativen Ironie, die im
llChhlsselung rUckwirkond alle V-Verfahren aufhebt und damit ihrer wei- noetisohen V-Prinzip der Identifikationsspaltu ng wurzelt, v. a.. in der
teren Wirksamkeit beraubt (wie z. B. im Witz- oder Riitseltext). D10 im
pootisohen Text ironisch aktualJ.sierton Subtexte btldon eine Roilio ambi- romant-ischen Theorie des „poetischen Nihilismus"", war den frühen
valenter ldentilika.tionsmögliohkeiten und damit oben jenes perapektiviache Formalisten zuliefst fremd, hatten sie doch selbst und dio mit ihnen
.,Oszillieren", von dem oben die Rode war. verbündete Avantgarde gegen den Vorwurf des ästhetischen „Nihilm-
Die Neufassung des V-Prinzips sotzt nicht im verfahrenst.echnischen mus" zu kämpfen. Dennoch kann man die methodischen Analogien
Bereich ein, sondern in der reflektierten Psycbologisierung des Schaffens- zwischen der friihromantJschen Poetik w1d dor formalistischen V-Theorie
bzw. Rezcptionaaktes, die sich unmittelbar auf dio Komposition der nicht einfach übergehen, wenn man bereit ist, von den ku.nstphiloso-
narrativen Perspektivik und ihre ambivalente Aufäpaltung in der phischen Hyposta.sierungcn beider Theorien zumindest hypothetisch
Prosa des 18. Jahrhundert.s ausgewirkt ha.t. Dio Theorie der romanti- zu abstrahieren.
schen Ironie (v. a. in der Deutung Fr. Schlegels) kann - auf oiocr Dio Befreiung von ästhetischen Doktrinen, die Fr. Schlegela revolu-
höheren und universell gefe.ßten Reflexionsebene - als Folge der im tionäror Krüik~;Jf errang, rückte da.s KuMtwerk selbst und eein auto-
Sentimentalis1n,u und seiner Poetik kanonisierten na.rrativen V-Theorie nomee „Sioh-solbst-'vera'8hen" in dor kritischen Reflexion ine Zentrum dor
Aothetik (W. B.r:NJAMDl 11, Der Begriff tkr Kun#tkrilik, 66). Diese Über·
windung dee „dogmatisobon Rationalismus in der A.othotik" mündet also
" In dieeer weiten Geltunlf blieb der Ironiebe~ in allon Rhetoriken
und Poetikon bis in die Neuzo1t orhBltcn und wurilo in der Regel ziemlich u Über .,&mtimentalismus als lit.erarischcs System" vgl unt.en, 276f.
etnti.sch den a.nderen Tropenkl88Sen einfach beigeordnet. • Die einzelnen VerftuU"en dieser Realisierung haben die Formalist.en
•• Auoh in der doutachen Literaturwissell90haft zeigt. sich die Tendenz, au11führlinh in ihrer Sujet- und Erzählthoorio analysiert und theoretil,ch ver-
dio Ironie nicht mehr BWISOhlioßlich als psychologisch dofiniorto Haltung allgemeinort. Dabei k&m ihnen zwe,fellos die Kenntnis der „sternisti80hon"
bzw. Ausdruck oinor Weltanschauung nufzufussen, sondern vielmehr als und romantischen Enahlteclu1iken und -thoorion zu Hilfe, die gerade in
konetruktivee Vorfahren, daa eioh keineswegs jedoch textimmanent bestim- der ru.esi.echon Litcratu.r eine reicbo Tradition besiuon.
men lii.llt(vgl.dA.Zu B. ALLEllANN, IroniealslitemrisohesPrinzip, und I.SnoH• " LO'nU.."<, ChadozeetvenDAja Btruktura. ,Evg~nij Onogina', 17 (Lotman
BClL"lEIDER·KOH:118, Die romßllUsobe Ironie in Theorie w1d Oeiitaltung). Einer spricht dort ,•om „ll{oohanismus der Ironie ... als oinom der grundlegenden
der ganz wem~n Hmweise der Fonnalietcn euf don Zusammenhang zwischen SohJÜMel des Romanstils").
ihrer V-Theone und dor romantischen Ironie ßndot aicb bei SKLOvSKlJ, Pjat' •• Vgl. die eusiuhrliobo und mit zahlreichen Zitaten angereicherte Dar-
oolovek znakomych, 12ff. und bei Zmmn<sxu, Rezension zu Sklovskijs stellung von D11tT1t& AR1t.'<Dl", Der ,poetische Nihilismus' in der Romantik.
Ro,.anov- und Don Qaixote-AnBlyaon. In: Naöala l (1921), 216--219. 2 Bde. Tiibingen 1972.
.. ALLE.MANN, l 3ff. (.,Ironie a.ls Selbetreprä.Bentotion von KUMt"). ., W. BENJAldlli', Dor Begriff der Kunstkritik in der deutschen Rom!lntllc.
36 Einleitung Verfremdende Ironie und ironieche Verfremdung 37

kein"8wega in einen irrationai.i,,Usehon Myatiz.ismll.8 und Volunt.Rriamus (70). demotiviert, umfunktioniert), und die ko11alruktiven V-Verfahren, die
sondern „schofft zum orsten Male die Möglichkeit ein"9 widogmaiischon r.'INE!l!LU.B des Textes bzw. seiner (auch diBehronen) intertextuellen
oder freien Formalismus, eines liberalen FormalismUB, wie dor Romnnt,kcr
sagen würdo". (71) Bezüge und ilirer Rewption bzw. Reflexion wirken. Indem sich für
Schlegel de.r Autor über die Stofflichkeit des Werkes erhebt (Stoff-
Die wesentlichste methodische Analogie :twisohen dem Schlegel- ironie), ist erst die Voraussetzung für die Ironisiorung, d. h. die frei-
sehen Kritikbegriff und dem methodiachen bzw. methodenimmanenten willige Zerstörung der Form geschaffen, die freilich nach Schlegel
V-Prin:tip im Formolismus ist die Übereinstimmung zwischen der im ., ,rerletzt, um zu reizen - ohne zu 1,erstören" (J'U{Jend.achrifl~, I, 58).
We1·k realisierten Ironie und dem in der Reflexion wirksamen kritischen In diesem Sinn deckt sich die Schlegclsche Form-Ironie voll mit dem
Akt: Die das (romantische) Werk durchdringende Form-Ironie :ter- formalistischen Verfremdungebegriff61•
stört bzw. entblößt die Illusion ebenso, wie das Kunstwerk im Akt der Fr. Schlegels Satz: .,Um über einen 01:lgensta.nd gut zu schreiben,
Kritik „zerstört" wird: methodisch sind beide analytischen Akte analog, muß man sich nicht mehr für ihn interessieren", ist nicht - wie etwa
nur ihre Richtung ist entgegengesetzt. Während die Form-Ironie (ent- Wellek'° meint - das weltansclmuliche Bekenntnis des „entfremdeten"
sprechend dem formalistischen konstruktiven V-Prinzip) durch die sentimentalischen Dichters, der nicht mehr zum unrruttelbru-en Erleben
Zerstörung der kommunikativ-pragmatischen Intentiona.lität und mime- fähig oder bereit wäre, sondern meint die Voraussetzung jeder witheti-
tischen Identifikation und der mit für verbundenen kanonisierten schen Objekti,rierung, die in der St.off-Ironie Distanz zum intellektuellen
Da.rstellungefo.rm die Autonomie der Kunst und ihre Unzerstörbarkeit bzw. emotionalen „Enthusiasmus" (zur „Inspiration") gewinnt, die
a.ffirmiert und da.mit als ReAexionsmeclium sichert, Zerl!tört naoh Schle- dann erst in der Form-Ironie zum Strukturprinzip der „Selbstrepräsen-
gel die Kritik das Kunstwerk gänzlich in seiner SelbstreAexion 14 • tation von Kunst" wird. Daher auch die Ablehnung der Vorstcllu.ng
Der wahre Leser löst - a.ls „erweiterter Autor" (NovAL1s) 15 - dns einer linearen Beziehung zwischen persönlichem Erleben des Dichters
einzelne Kunstwerk im Mediwn der Kwist auf, findet aber in der und dem des Empfängers"°.
Selbstreflexion des Kunstwerkes eine Erweiterung seines Bewußtseins.
Eben in diesem Sinn versta.nden die Formalisten die aUgemein emanzi- Fr. Schlegels Schrift Über ,J,.a u-ratändliohe muß in der Konse-
quenz des aristotelischen „Ungewöhnlichon" goaehen worden, um so die
pierende Funktion der Fonnreflexion, die durob die „Selbstaufhebung" Differenzierung des V-Prinzips und seicu, erkenntnistheoretische Vertiefung
(als Konsequenz der Verfremdung) zur „Selbstfindung" (NovALLS, ermel!Son zu können. Auch Sehloge! und die Theoretiker der Frübromsntik
Schriften, 318) führt. Ist da.mit einmal der Begriff der Kritik nicht mehr haben eine Syntheoo :owiachen heuristi8Chom und konstru1.--tivem Aspekt an-
als eine von außen wertende Beurteilung verstanden, sondern a.ls ..~Ie- gestrebt, wobei sie der noeUscben Dimension der Begriffsa.utomat1sierung.
wie sie die frühen Formalisten verstanden, ganz nahe kamen: ,.Alle höchsten
thode der Vollendung" des Kunstwerks (B:1111.rilIIN, 63), kann auch der Wahrheiten jeder Art sind durchaus trivial, und oben dnrum ist nichts not-
prinzipielle - sogar arbeitet.eilig institutionalisierte - Unterschied wendiger, als sie immer neu, und womöglich immer paradoxer auszudrücken,
zwischen Kritik und Poesie fällen, die beide - ohne aufeinander ver-
zichten zu können - die dem Kunstwerk immanente Reflexion ent-
falten (Sam.EGEL, Lyeev.tn, 117) 88• Ebenso hatten die Formalisten die
kreative Autonomie der (v. a.. literaturwissenschaftlioben) Interpretation " Kaum beachtet hat aber Benjamin in seiner Dissertation, daß die
Stoff-Ironie, die er 11uf einon rein subjo1<tiven Akt hero.bmindert, nicht nur
als kreativen Akt rehabilitiert, der das Werk im neuen Kontext inter- im Schaffenaakt, eondern auch in der Rezeption als „primäre (affektivo)
pretierend neu schafft. Phase" der „sekundären (reßoktivon)" vornn~oht.
Benjamins Differenzierung des Sohlegelsohen Ironiebegriffs in eine n WEIJ,BK, Geschichte dor Literoturkritik, 242ff.
subjektivistische Stoff-Ironie und die objektive (konstruktive) Form- '° Während für den Manierismus der Zorrspiegol strukturell w1d thema-
tisch zum zentralen SchtUl"onsprinzip erhoben ist, geht die frühromantiache
Ironie entspricht der im frühen Formalismus angelegten Unterscheidung KW1Stphilosophie noch einen Schritt weiter, wenn sie die Zerspicgolung, dio
in (werkkonalüulive) Verfremdnngll?, die das A.OSSEJ1,.äatbetische Material „Spiegelung des Spiegels" a.d infinitum als konstruktives und noetisches
zu ästhetischen Fakten transformiert (und dabei primär dekontextiert, P,.mzip setzt. Auf der epra.chlichen Ebene bedeutet dies - ausgehend von
der Technik des Wortwitzes (SCHLEOEL, Schriften I, 26) - die Bedeutungs-
produktion durch wechselseitige Erhellung der Wörter: Die „zwischen dem
14 Die „formale Ironie" ist kein intentionales Verhalten bzw. eine Hal- Dw-gellte)]ten und dem Darstellenden" - d. h. zwischen signifie und signi-
tung des Autors (wie Fleiß oder Aufrichtigkeit), 80ndern ein im Werk objek- fiant - ,.frei von allen realen und idealen Interessen auf den Flügeln der
tiviertes Moment (BENJAMIN, 81). Die Form - definiert als „Organ der pootiachen Reflexion in der 1tlitte schwebende" rorrumtiaehe Poesie verviel-
k!1nstlerischen Reflexion" - realisiert und konkret.isiert somit eine transzen- facht und potenziert sich ,.in einer endloeen Reihe von Spiegeln" (S0m.EOEL,
dentale Ordnung. Formreflex:ion findet nach Benjamin immer im Kunst- Athoniiumfrngm. 116). So kommt es auch, ,.daß sich Worte selbst, oft bessor
werk aelbort statt, sie ve~n,,tiindlicht in der Sei bstreßoxion der K1111st verstehen als diejenigen, von denen sie gebraucht werden", wodurch eine
die Form, d. h. ihre objektive Gesetzmäßigkeit, zum Objekt der Kritik (77). .,Unverständlichkeit" entsteht, die ebenso beabeichtigt, wie produktiv iat.
" NOVALL9, Schriften, 34. Zur formolistischen Deutung dieses Prin,.ips der poetisclicn Unverständlich-
14 F. SCHLEGEL, Athenäums-Fragmente. In: Schriften zur Literatur. keit "IJI. die .Funktion des „Nichtverstehens" (mpo~it11<J11ie) v. n. in der
., Vgl. cmzu unten, 195f. formabatieehen Erzähltheorie unten, 248 C.
38 Einleitung Verfremdende Ironio und irooieche Verfremdung 30

damit ea nicht vergesaen wird, daß sie noch da sind, und daß aio nio oigent- es, indem er an die Stelle einer bloß wertenden Beziehung eine Haltung
Jioh ganz ausgeeprochon werden können." (Som.EOEr,)" se~t. die in ihrem primären Stadium diese Beziehung „ex.istcnzialisiert".
In dieeelbe Richtw1g weist Novalis' berühmte Formel, daß die roman-
tische Poetik be1.wecke, ,.auf oino l'ngenehme ( !) Art. zu befremden, den K1erkegaa,d beetimmt du Aatbetteobe niaht nur als objektiv gegebene
Gegenstand fremd zu machen und doch bekannt und anziehend""· Qualität, sondern als red111.iorte Poaition, die sich nogntiv QU6 dor Defizienz
der religiösen und othiechon HBltung definiert, die er beide obonfalls als
Alle diese Aspekte der konstrukUven Ironisierung venvirklkht oinMdor alll!80hließendo „Stadien &uf dem Lobow,woge" gogonr.innndor ab-
no.ch Fr. Schlegel dor Roman, den or - wie später Sklovskjj - als V. hebt. Kiorkegaard personifiziert im „Mthetiker" (d. h. im romantischen
Genre kat exochen deflniert, do. seine Komposition im Gegensatz zum Menschentyp) jene Haltung, die in einer unmittelbaren, najvtn und dadurch
ßkategorialen Unvoreingenommenheit die Wirklichkeit &Onauell erfaßt und
kon„entioneUen „epischen Stil" no.eh den Montagegesetzen dor Snjet- daher ständig auf der Sucho na,ch affektiver Erneuerung, Veränderung. nach
losigkeit (be&ajuwnost') funktioniert. prirnliron V-Effekten 80in muß". Dieees Chaot1 der Augenblioksompfindun-
gon, d10 Überfillle von Primiircindrüoken führen zur Abslumpfung (Sklo,-skijs
,,Jeder notwenruge Teil dce einen und untoilbaron RomWlB wu-d oin ar,wmati:acija V08prijatija), zu Langeweile und Verzweülung, dio über 1..ho
Syst.em für sich. Die Mittel dor Verknüpfung und der Fortachreitung sind Nogativität der Ironio den Ü"borg&ng :,,um „ethischen Stadium" ermor;licht:
ungefähr Uborall dleeelben". (SOffL!:OEL, O~r den Roman, 268) Diese das ästhetische Stadium tr&llSUlndierende ,.bcrechUgto Ironie' roali-
Diese St.renge der im prinzipiell sujetlosen Romangenre eingesetz- eiert die Schlege18cho „Ironie der Ironie", die im Mtheliscften vorborrt und
ten „Mittel der Verknüpfung", deren beschränkte Kombinatorik die dM Ungewöhnliche, ßofromdliobe w,d alle primären Y-EtTekto zur bloßen
formalistische Sujettheorie (FII) analysiert, steht im umgekehrten immanenten Rei7Atoigerung bzw. Affirmation der FUhlbarkoit (ollutimosl')
Verhältnis zur heterogenen Viclfält des eingeführten Materiu.ls und der benützt.
gemischten Gattungen (Erzählung, Gesang, Brief etc.) 71, Daher ist das ästhetische Denken multiperspektivisch, woil es keine
Wenn Sklovskij L. Sternes RomR.n TriMratn Shandy als den „typi- Präferenzen hinsichtlich der iu 111len Erscheinungen möglichen werten-
schesten Roman der Weltliteratur" bezeichnct'4, dann trifft er genau den Aspekte entwickelt, sondern im Gegenteil in einer Möglichkeits-
dieses paradoxale Wesen der konstruktiven Ironie des Romangenres, haltung verharrt, die jedes qualitativ verändernde (revolutionäre)
de&'<lln Komp<>.'!ition, ~;e der junge Luki!.cs einige Jahro .-orher in seiner Handeln, dem eine nur im Ethischen mögliche Entscheidung voraus-
Theorie du RomaM (1914/15) formuliert, ,.ein paradoxes Vorschmelzen gehen muß. ausschließt. Eben diesen weltansch1rnlichen „Aspektismus"
heterogener und diskreter Bestnudteile zu einer immer wieder gekün- hnt llfnsil in seinem Roman Der Mann ohnt Eigc,iacha~n bezeichnen-
digten Organik" (73) darstellt 75. Es würde [reilich einer eigenen Studio derweise als „E3sa.yismua" ideologisch und methodüch definiert -
bedilrfen, den Begriff der Paradoxie, den der junge Lukacs von Schlegel so im Kapitel „Leona. oder die perspektivische Verschiebung" und im
ausgehend kicrkegaardisch wie marxist,isch begreüt, in dio Genese des Kapitel „Die Utopie des Easuyismus". In genau dieaom Musilsohen
V-Prinzips einzuschließen. Sinne waren auoh die Formalisten echte Essayisten - methodisch und
Kant h&tte das „Schöne" aus dem ontologischen Bereich (als ideologisch 18. Das ironische - essayistische - Denken erfolgt nach dem
Attribut bzw. Essenz eines realen Objekts) in die Kompetenz des wahr- Prinzip des „Entweder und Oder": Es entwickelt parentheUsoh ab-
nehmenden Subjckta zuriickgefilhrt und damit das Asthetische auf dfo schweifend - im Widerspruch 1.um kausalgenet,ischen Denken - eine
Qualität der Beziehung des Subjekts zu einem bestimmten Objekt Methode, Heterogenes, Widersprüchliches, Ambivalent-es simultan zu
beschränkt. Kierkegaa.rd 71 greüt in seiner Kritik des romantischen der'lken und als (multiperspektivische) Montoge zu pröscntieN'n, Die
Subjektivi~mus auf eben dieses Relationskonzept zurück und verlieft formalistische Montagetheorie wird immer wieder Gelegenheit geben,
die Struktur dieses ästhetischen Denkens - in dem lot1.t.en Endes auch
IGerkcgaard trotz seines Kampfes um das Religiöso verharrte - llll
erhellen.
" SCHLB0&L, Über dio Unvorst.ändlichkcit. In: Schrifien. Methodisch parallel zur Kierkegaa.rdschen Be.:!timmung des Asthe-
" NovALIS, Schriften. Zitiert nach: \VELLEK, 340. tischen - wenn auch in dio entgegengesetzte ideologische Richtung -
•• Nicht zufälhg Bind auch dio von Sehloge! als Hauptvertreter di88ßr
eujctlosen V-Oenre$ z1tiortcn Autoren - RonJ!Seau, Swift, Sterne, Videro~
u. ,,. a. - gleichzeitig auch d10 Protogonislcn jener .,sujetlosen Linie", dio
m der formßlistiechen Enähllhl'Orie (bis zur AnBlyae der lüt.ratura Jakta) dio n Die9e8 „Neuheil;S!Jtr('bcn" meint Kierkegaard in seinem Werk „Über
Haur,trollo spielen sollten. den Begriff der Ironie" (1,ii. nooh: lrorue als hwrarisches Pb!momen, 360ff.),
• SKLOVSKJI, Parodijnyj roman. ,.'l'ristra:n &ndi" Sterna. In: Toxte I, wenn or davon spricht, daß d~r „Ironiker immer diM! Neue im nooh herr-
299. schondon Alten vertritt" (362). Zum ästhetischen A.epekt dnr Philosoph10
'• G. LU.KACS. l)ie 'l'hoorio des Romans. Als einziger dem 1''orrnruieten Kierko11:aards vgl. v. a. Tm:onoR. W. ADOR:<O, Kierkogaard. Konstruktion
nahORtohender Lit.eraturtheorotik~r hat B. A. Grifcov in seiner ,.Toorija rlM Ästhotischnn, Frankfurt/Main 1074, 19ft'. und 39ff. (v. 11.zu IGerkegaard~
11 Forrnalismus
0
1-omana", 0, emlwtend tiuf die Romantheorie von O. Luktlcs hingewiesen, t).
di~oo jedoch als bloße „l<omonmetaph_vsik" nbgrlchnt. " Vgl. dazu DA0MAB JiJIBw10, Dor :r.Ionscb in dor Entfremdung. Stu-
71 W. RUTrBXDECK, S. K,orkogQQ.l'd. 'O(,r christlicho Denker und eem ruen zur Entfremdungsproblemalik anhand des Werkes von Robert Musil.
Werk. Berlin 1929, München 1972.
40 Einleitung Verfremdendo Ironio und ironiache Vorfremdung 41

verläuft die frühe ~ h e Emfremdung~theorie, die naoh den reli- Ein Lebe1188tUck wird vom Dichter in eine es herauahebendo, betonende
giösen, politischen und ökonomischen Ursachen der „Verdinglichung" und ~om Lebensganzen abhebende Umwolt vorsetzt ..." {LvxJ.cs, 41) .
des Mensahen fragt. A\18 der form&listischen Definition der Verfremdung Der Zullll.lilmenhan11 mit der Brecht.sehen, ,·on Emst. Bloch knno111B1Qr•
ten Definition des V-Effekts liegt ouf der Hand:
orgibt sich - wie zu zeigen sein wird - eindeuLlg jene gegen die ver- ,.Abriickung, Verlegung einee Vorganges, Charakter11 &llll dem Gewoht\;
dinglichende Entfremdung gerichtete Intention, wie sie auch Ernst ton, damit ee als weniger selbstveratllndlich botracht<>t werden könne •••
Bloch in seinen VerfremdU111Jen (I. Band, v. a. im Kapitel „Entfremdung, (BLOCD, V•rfromdunorm, T. 82)
Verfremdung", 81 ff.), freilich ohno auch nur andeutungsweise auf die Wie der junge Luke.es und in derselben Abhängigkeit von Kierko-
Fonn&Jjsten Bezug zu nehmen, festlegt,. Jener philosophisch-anthropo- gaard „existcnzialiaicrt" auch Bloch das V-Priru:ip; analog zu Kierk~-
logische Aspekt der Entfremdungstheorie des frühen Ma.r.x, den der gaard und andeutungsweise auch Lukaos (Tlw>rie du Roman.a, 135: die
junge LukAcs aus der parallelen AnalJ6e der Frühromantik und der großen Augenblicke") spricht auch Bloch von jenen „unerträglichen
Hegelsohen Phil060phle rekonstrui.ert hatte - 80 erstma.ls in seinem Äugcnblicken", in denen ein „Riß" im Üblichen, Gewohnten ein radi-
Buch Geschiih~ und KlaaaenhelD'U{Jtsein (Berlin 1923) im Begriff der kales Neu-Sehen. Neu-Erleben erzwingt und der „Abgrund" unter den
.,Verdinglichung" - weist der Kunst eine da.s „Reich der Notwendigkeit" alltäglichen Handlungen plötzlich bewußt wird. Auch die Formalisten
negierende emanzipa.tor.isohe Funktion" zu, die den durch die entrrem- haben - wenn 3uoh verateckt und verschlüs."101t - dll6 V-Prinzip im
deo.de Arbeit verdinglichten Menschen zu sich selbst, d. h. zur kreativen mig aoznanija (Il:jchenbaum) 11 erkannt und (beispielgebend Sklovskij)
Selbstverwirklichung seiner Fähigkeiten (seiner „Totalität") bofroit. 80 auch künstlerisch umgooetzt.
LukAcs hat - parallel zu den Formalisten - erkannt, daß die Blochs Definition der Kategorie der Verfremdung als „Zurüstung
„normative Unvollendung" der Romanstrukl;ur „noch strengere und eines opaticrenden Fernspiels über allzu Vertrautem" (80), d1>mit
unfehlbarere künstlerische Gesetzmäßigkeiten vorschreibt als die „Hören und Sehen nicht vergeht" (88), ist in diesem Sinn klassisch
,geschlossenen' Formen" (63), eine Eigengesetzlichkeit, die - von formalistisch 81•
Cervnntes Uber L. Sterne bis zu Tolstojs Krieg und Frwkn - die Ironie Die radikalsten Konsequenzen aus dem frühromanUschon Ironie-
konstruktiv verinnerlicht. Nicht zu übersehen ist, daß sich hier LukAcs Prinzip zieht H. Marcuse in seinem Werk Der tirufümnaionalt Mensch 13,
auf dieselbe Genre-Genealogie stützt wio die Fonnali6ten in ihrer dessen „konscrvstiver Romantiziamus" {ISRAEL, Enlfrtrndung, 217)
Erzähltheorie. Besonders auff'"allig ist die bei Luka.cs und den Forma- durchaus nicht bloß auf seine ethische, sondern vor allem (und hier
listen parallele positive Einschätzung der „Annäherung" des Roman- positiv) auf seine ästhetischen Prämissen zu ~ichen ist. Marcul!C
genres an das „Aullerkünstlerisohe" (LuK1cs, 62f.), da..q durch seine definiert die Kunst als „eine bewußte, methodische Entfremdung
Eingliedertmg in den Roman und die dort durch die Ironie konsti- von der ganzen Gcschdfts- und Industriewelt und ihrer kalkulierbaren
tuierte ,,formale Einheit" (64) in eine völlig neue Bedeutungseinheit und einträglichen Ordnung'' (78) und verleiht damit der metbod~c~en,
gezwungen wird: So erhalten die „nur kompositionell vereinigten Teile ,,künstlerischen Entfremdung" a)]e Eigenschafren des V-Prinz1pe,
dfo Möglichkeit ,ium diskreten Eigenleben" (66), da.s ihnen im realen ja identifiziert dieses tiberha.upt mit der Kunst selbs~, _die i':'mer ßC~on
Sein ven,·chrt ist. In.aofern ist jeder Roman ein Sieg der ästhetischen eine „Trslllliend.ierung der Grenzen der Gesellschaft 1st, em VerzJcht
Totalität und ihrer eigengesetzlichen Kraft der Veroirugung des Hetero- auf konformes Denken und Handeln (lsa.ua, 213), Ausdruck de,i prin-
genen, Disparaten, über das „Außerkünst,Jerisohe". zipiellen Antagorusmus zwischen Kultur und Realität (11wous.t, 76).
Daher auoh rue „P8"'rivitiit des Romanhelden" (Lux..lcs, 78), dM „Aue, Marouse treibt seine Hypostnaierung des V-Prinzips 80 weit, daß er
ein,mderkll!.ffen von Innorliohkeit und Abenteuer" (ibid.), dM auch dio l,'or, - analog zum Formalismus - praktisch jede Form des gesollliohaft-
mo.J.isten nuf die Dominanz der Sujetgesetze über we der psychologischen liohen Normbruchs mit der „subversiven", primär negierenden Inten-
Wahrscheinlichkeit und identilikatorisohcn Adäquatheit zurückführen. Da- tionalität der Kunst gleichsetzt:
bor auoh dü, konstitutive Rolle der Zeit im Roman (108), Ihre Rea-
lisionmg in SGinor Form und die daraus folgende Desillusioniorung: Die ,.Ob ritualisiort oder wobt, enthält we Kunst we Rationalität der Ne~-
,.Einheit der Zeit" - im form1WStisohen Konzept wo „Sujetzeit" - domon- tion. 1n ihrer fortgeechrittonen Position ist eio dio große Weigerung - dor
ot.riert dos „Herausgchobensein aus drun Ablaur• (107), den „Bruch mit dor Proteet gegen daa, WM ist." {MARCUSB, 83)
transzendentalen Heimat" (108), den ,,Kampf gegen dio !\laoht der Zeit''
in ihrem objektiven Ablauf. Obwohl die Interpretation der prinzipiell de- Diese prinzipiell negie.rende Intentionalität ist somit konstitutiv,
konloxtiorendon Romanform bei Luldics oher rosigrucrend-nogativon Cha- d. h. sie charakterisiert die affirmative Kunst (etwa die des alten Agypten
rakter bat (als „Awidruck der transzendentalen Obdach10Bigke1t"), bei den
Formelistcn jedoch schon revolutioniir-welt-Ornouernd bostimmL isL, bleibt " B. EIOB.11:NBAUX, Mig 80%nanija, 9-l 7. .
dio Oemoinsamkcit der Beobachtung des Phänomens richtungswoisond, 11 Auoh ein Vergleich von Bloche „Philoeop~1e Anaic~t dee Def:ekt,v•
mothodiech produl..--tiv: romans" (in: Verfremdungen I, 37-63) - aut ffi<Jo~Ja Tbeone dee
Kriminalromans bzw. roma" taj,.(vgl. unton, UM.) bolegt.we Verwandt.echafl.
" JoAol!m l8RA&1„ Der Begriff der Entfremdung, 98. beider theoretischer Ansitze.
00 O. LUXAcs, Die Theorie doe Romans, 62f. u H. Mi.RcuSE, Der eimlimonsionalo MeJU10h.
42 Einleitung

oder dil'I mitt.elalterlicho) ebenso wie die „neg&tive" (Romantik, Mo-


rlcrne): Gefährdet wird sie a.bor nicht durch autoritären Widcl'ilt&nd,
dmch normative Beschränkung, sondern vielmehr durch die „absor-
bierende Macht," der modernen pluralistischen Gesellschaft,, dio durch
:Massenproduktion und -korummption (80/t) ihre „subversive Gewalt", Il. FORMALISTISCHE ASPEKTE DER SYMBOLISTISCHEN
ihre nntagoni~tisohcn Inhalte, ihre künstlerisch entfremdende Funktion POETIK
neutralisiert, .,entsublimiert", die au.ratischo Einmaligkeit (Benjamin)
unrl damit die dckontextierende Wirkung nimmt. Nicht &ndcrs hatten Die lautstarke Polemik des frühen Formalismus gegen die Poetik
die frühen Formalisten den Effekt rlcr Automatisierung, d. h. der Auf- des russischen Symbolismus und ihre literaturwissenschaftJiche Reflexion
hebung des V-Effekts, interpretiert,. .,Die fremden und cntfromdcodon in den Theorien A. A. Potebnjas und A. N. Veselovskijs soll nicht über
Werke der gei$ligen Kultur werden zu ,·ertraukn Gütern und Dienst- die tat-sächlichen methodologischen Beziehungen hinwegtäusohcm: So
leistungen" (llfARCUSE, 81). Dies gilt auch und v. a. für die Avantgarde. wesentlich rlie kritische Ablehnung des Symbolismus für die jungen
Kunst und die ihr zugrundeliegende V-Asthetik, die durch dieselbe OPOJAZ-Theoretiker und ihr neues methodisches Selbstven,1:-iindnis
gescllscbaftlicho Absorption ihre „künstlerische Dimension aushöhlt" auch w&r, das sich v. a. bei Sklovskij zu einer einseitigen „futuristischen"
(81) bzw. im formalist,ischen Sinn ,,kanonisiert". Dasselbe Problem stellt (und damit negativi,n) Einsohätzung des Symbolismus sLeigerte, d,..rr
auch Tb. W Adorno an die Spitze seiner A'sthdi.sckn Theorie: doch der bedeutende Einfluß der symbolistischen Poetik auf den Futu-
.. Zur Selb8tvcrständlichkeit wurde. daß wehte, wl\8 die Kunst, belr11ft, rismus selbst und auch der dem Symbolismus verbundenen Literatur-
mehr selbet\'l'tetiindlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum Gun- wissenschaft; auf den OPOJAZ nicht unterschätzt werden. Eine er-
zen, nicht einmal ihr Existenzrecht. Du, Embu.ße an .refloxionsloa oder un- schöpfende Analyse dieser Einflüsse kann hier einleitend freilich nicht
problematisch :tu Tuendem wird nicht kompensiert durch die offono Unend- geboten werden: Sie sollten vielmehr dort geortet werden, wo sie jen-
lichkeit des möglich Cowordenen, dor die Reflexion sich gogenübcrsiohl. seits der konkreten Vieldeutigkeit der poetischen Praxis in tbeoreti8Chen
En,·e,tenmg 1.eiirt in vielen Dimensionen sich als Schrumpfung ... " (9)
Marousea noctische Vorallgemeinerun&. der negierenden Poeition der Aus.'l&gen der Symbolisten aelbst bzw. den ihnen nahestehenden Theo-
Kunst, konkret der avantgardistischen V-AatheUk, verpßichtet die künst• retikern für den frühen Formalismus bedeutsam wurden••.
lorische Kommunikation o.uf don Kommunika4io11abrue,h (88) in Hinblick auf
die rezonto SprachprllJCis und auf einen Trodilio11abrmh (89) in Rmbliok
1111f den uberkommonon ,,St-off der Kunst", der horabmindomd, di8$0ziio-
rend, desillWlionierend „zitiert" "~rd. Alle weiteren Schlußfolgenrngen, die " Allgemein zur Beziehung zwischen eymbolistiacher Poetik (und
Maro1.188 im Anschluß an .Breohts Verfremdungstheorie und die Theorie des den ihr nahoetehcnden literaturwiaaenschafllichen Theoretikern Potcbnja.
,,nouveauromnn" zioht und mit seinem speußeoh.en .Freud-VensUindnisvcrbin- v.,..,Jovakij, Belyj u. a.) und frühem Formalismll8 vgl N. I. Erwo~,
det, sollen hier moht weiter verfolgt "·erden, do sie die bei Brecht schon oin- Formalwn v ruaskom literaturovedonii, 47ff., in.sbas. zur Bild-Thcor10
mol deformierte bzw. reformiert-e V-Theorie noch einmal ideoloJV8C), ab- Potebnjaa 72fT.: ausführliche bibliogroph. Angaben (mit KommenLar) bei
geleitet wiederholen. KQnsequent zu Ende gedacht führt zudem 1\,1Sl'OWIC6 A. I. BELEOKIJ u. a., Novejäaja ru88kaja literatura, lvnnovo-Vo,;n('tlellSk
Entsubhmieningsthoao zu einem zumindoa• f~digen Zirkelsohluß: Da 1927, 39ff. und v. a. 42 (PotebnjafVeeeloV11kij-Kridk dor Formalisten), 40~.
die pluralist i.cho Gcsollsch&fl. nach Marcuae die lcürun,Jerischo Entfremdung. (Bild-Theorie): A. V. ßAoru.r, Formal'nyj motod v lit.eratu.re! 10!. (Sklo,·s~'.
d. h. daa V.Prinzip neutralisiert, wäre ja vom Standpunkt des Kllnstlors und Potebnja); P. r. MEDVEDEV, Formal'nyj motod v hteraturovedonn
nichts wünl!Chen~wort.er als eine reprossive (tot.alit.iire) C',osellscheJ'tsordnung ?7 (ilklovskijs „V08kreienio alovaH und Veoolovskij), 70 (Formalismus und
und ihre ~ormen, dio immol' oret dio Voraussotzungen des Normbruche, dor Vcselovskij ), 80 (Formalil,mUB und Pot.ebnjo.), 82ft". (Formalismus und
Negation, der Rovolution schaffen und dlUI „Bewußteein der Versagungon Symbolismus), 84 (Kampf des Formaliamus iegen den Symbolismus): B. M.
wahren" (05). :E:NOEL'OARDT. Formal'nyj metod v i.etorii bteratury, 18ff. (llbor Potebnja
und die „psycholo~heSchule"), v. a. Mff. (Potebnja und W, v, Humboldt);
Spätestens in die6Cm brisanten Argument entpuppt sich der zutiefät ous der neueren Literatur: V. EILLI0H, RU88ll!Cher Formal18mll8, die Kapitel:
ä,;t-hetisohe Charakter der noomarxistischen Ukrpie ebenso wie c!er uto- .,Dio Vorlaufer" und „Wege zum Formalismus", 36tf.: I0NACIO Awn,0010,
pische Charakter des frühen formalistischen V-Konzepts, da.s ohne einen Formalismo e avanguatdia in Ruaaia, v. a. 3(tf. (Sklovakij und Potebnja),
intakten Allusionshintergrund, d. h. ohne c!as mitgedachte, historisch 401T. (,.La dott:rina dell'imagine"), 81 ff. (Symboliatiache Poetik), 89 (Belyj/
Potebnja), 90 (Potebnj~umboldt). Vgl. weiters: Akademi~k,e iikoly v
ven:niUelte Vorwissen ebensowenig bestehen ka.nn wie das Freudschc rueskom lit.eraturovedeni,. M., 1976, mit llWlführlieherund bibliographisch l{Ut
Lustprinzip ohne Realitätsprinzip oder ein „glückliches Bewußt.sein" belegter Darstellung der Theorien Veeelovskijs (204fT.) uncl PotebnJas
ohne jene gesellschaftlichen Schranken, die es transzendiert hat. Wel- (304ff.) oowio der Potebnja,Kritik durch den OPOJAZ (318f.) und durch
chen Ausweg der Formalismus au$ diesem Dilemma gesucht hnt, wird Vygotsluj (319); vgl. auch: E. BmL'Jmn>, A. Belyj i A. A. Potebnja (K posta-
novlte voprosa). In: 1'eziay I vac,eojuz. (ill.) konferoncii, 'l'o.rtu 1976,
die Darstallung seiner )jtoratursoziologisch vertieften EvolutionsLboorie 160-165; S. D. BALUCHATYI, Teorija literatury, 78-102 (kommeotio1·t.e
(FID) zeigen, die sich freilich - anders als Marcuse und der Neomarxi.q. Bibliographio der Arbeiten von und Ubcr Poteboja und V0861ovskij); V.
mus - auf eine Oesellsohaftsordnung orientiert, die alles andere als tm.MUNsia:.,, Formprobleme der russischen Literaturwissenschaft, 117-152
permissiv ist. (~um Einfluß der symbol.ist. Poetik auf den Formalismus).
44 Formalistische Aspekte der aymbolietiBChen Poetik Die t10mantiache Autonomie der poetischen Sprache 4ö

DiC6C produktiven met-hodologiachen An&logien erstrecken sich tebnje. und Veeelovalcij auf dio method.i110he Unterecheidung zw~on poet\•
11<1hom und allt.ägbch-kommurukat.ivem Sp"";Chgebrauoh einer80Jt41 und zw,.
1. auf die Definition der „poetischen Sprache", deren semnnlische 8C)ben diesen boadon und dem mtellektuell-philoeopblll':ben Sprachdo~kcn an•
Struktur ,,. &. durah die metaphorischen Funktionen (obmz-Theoric) in derseits: E111mal iot die Sprache bloßes Korn~tlonsm1ttei~• (011~ orr,an
Opposjlion 1.ur „pr&ktiachen Mitteilungssprache" steht; A:o,111>umikocii)-und damit determiniert durch ein „außersprachhcl1<l8'.Rede•
2. auf die w&hrneb.mungsiisthetischs Definition der Pootizität ,:iel, einmal das „bildende Or15an d"" Gedankens" (Hum~ldt), d. h. cme,be:
aondere Form dce eich objektivierenden Denkens (:ENGEL OA.RDT, Fomwl nyJ
(poäicno,yt') bzw. Asthefuität (tt~li<lno.tt') nach dem Grad und der ,ntu,d 64-63). Im Gegens&tz zum poetischen „Sprachdenken" (jazylt:ovoe
Qualität ihrer Wirksamksit, dis als Funktion der „Entautomatisierung mylie:.ie), das die „Harmonie der WeW' gandleitlicb ~d unmittcl~ er•
dor W&hmehmung" (Sensibiliaienmg) diaohron variiert - und fallt" und de.mit einen primlu-en. archaischon Bewuß~ansz\1$1.and repräse'\;
3. auf das PriMip der ästhetischsn Immanenr., daa sowohl prak- tiert, ist die abstrakte Begriffsapracho daa Produkt emer „Degone1:erung_
d"" Bewußisoina: die „Verbogrifflichun/.!" dor Sprache kornispondicrt ~t
tisch in der „po&sie pure", dem artistischen KuMtwerk, als auch theo- der R8tionalisierung, Abetrahierung, Utihtaris1erung des Denkens und damtt
retisch in An.sät11.cn zur immanenten Verfahrensanalyse realisiert i.st. aller Lebonsboroiche 11• . .
Im Mittelpunkt der De.n;tellung sollen jono theoretischen Ansätze Nur in der poetischen Sprach& ist dor arohrusche, ursprünglicho Bewußt.
stehen, die po11itiv &uf den frühen Formalismus und die V-Theorie ge- seinszustand dce IIIellBChen erhalten geblieben und bildet ~e.mit Soll"nü1?<>r
dem roo:ent.on begrifflioh-rationa.len Sprachdenken und eomor Logik eano
wirkt haben, auch wenn dies nicht immer an dor „OberHilohe" der Art archoiachea ROBiduum alogischen und aperspekt1vischen Donkens und
wissenschaftlichen Argumentation sichtbar wird. Sehens.
1. Dlli SEMANTISCHE All'l'O?iOMIE DER PO:&'l'IBOREN SPRAOIIE
In diesem Sinn muß das Prinzip des „Denkens in Bildern" als ein
autonomes ästhetisches Denken verstanden werden, dessen „Erkenntnis-
E., ist durchaus legitim, die literaturwie.senschall,lichen Theorien funktion" (poznavatel'naja /unJ:cija) durchaus nicht - wie äklovskij
Potebnjas und Veselovskijs &1s &uthentische Repräsentanten jener annimmt - die Kunst auf ein trangitives Erkenntnismedium reduziert.
Aspekte dee russischen Symbolismus zu werten, die für den OPOJAZ Dem widerspricht gerade Potebnje.s Bestreben, den Form-Inhalt-Duali~-
und seine Symbolismus-Rezeption weeentlich waren, hatte doch Bclyj mus auf die praktit1Che ~tteilungssprache zu beschränken, für d~e
selbst in aoinem Werk Simvolizm (1910) Potebnja und Veselovskij Sprache als „Organ des Gedankens" st, bzw. doo Sprachdenken die
pootologi8Ch „kanonisiert". Die jungen Formalisten sind schon in ihren Dichotomie von aignifi.e.nt-signifi6 (vyraknie-eyra!aemoe) auhuhebeo
Studentenjahren mit der olmzz-Theorio Potobnjas und der Epitheta- und sie durch die dynamische Beziehung zwischen „innerer Form"
Theorie Veselovskijs bekannt geworden, wie ja überhaupt zentrale (imwrm.njaja forma = obraz1I08l') und „äußerer Form" (vnunjaja
Prämissen der symbolistischen Poetik in das „thooretische Unter- forma'° = phonetische Rea_lisierung, ~~me~tie~. etc.) ~u er-
bewußtsein" der Generation abgeeunken warena&. Dies gilt v. a. für die setzen. Die Verscb.melzung beider „Formen voll%1eht sich 1m poetaschen
fundamentale Erkenntnis der symbolistischen Poetologie (und ihrer Schaffen in einem Akt der semantischen Verschiebung (advig) bzw.
wissenschaftlichen Formulierung durch Potebnja und Veselovskij, Belyj Übertragung, der in der ä~eren Form d ~ analog~ !phon~tische ~d
und Brjll80v u. a.), Poesie und Literatur primik als Spraohkunst aufau. rhythmische sowie syntaktische) Parallelismen realisiert wird - ein
fassou, die nach sprachlichen Gesetzmiißigkeiton funktioniert. So geht Prozeß, der im begrifflich-rationalen Denken der „ProsMprac~e"
auch die frUhe formaliatisohe Definition dor poelitln08t' der Sprache dc,;i (prozaileakij jaz,Jlc = prolctiwlcij jazylc~ als unzu~i_g und „fälsch" gil~.
litero.rischcn Kunstwerkes als Verfremdung der praklit11.08t', d. h. der Da., ,.ästhetische Denken" arbeitet mit dom Prinzip des „psychologi-
kommunikativen Pragmatik der alltägliohen Jlfitteilungsspro.chc klar auf
Potebnjas Differenzierung der noetischen Funktion der Spraclte in eine
poetisoh-bildhe.fte und eine intellektuell-begriffliohe zurück. Sklovskij u Vgl. W. v. Hl/'6lDOLDT, Ober die Verschiedenheit dee mell.lChlichen
unt.ersohlägt allerdings in seiner Potebnja.Kritik diese Differenzierung, Sprachbaues (1827/9), rtllJ8, 0 razli6ii stroenij& tlelov~ch je.zy_kov, SPb.
wenn er Potebnjas Begriff der „Bildhafiigkeit" (obrazno.,t') ausschließ. 18119, 48/9, 51 und l>OTMDNJA. Myal' i jazyk. 3. Aufl. 1913, 25ff. SOW18 :E:NOlEL'·
lioh als transitives Erkenntnismedium hinstellt (äKLOvsKJJ, Potebnja, OAJ1,DT, ll'ormal'nyj metod, M-63. .
3lf.) und dabei die prinzipielle Unterscheidung zwischen kommunika- ., POTll:BN.r.i. Myal' i je.zyk, 166/7; T. R.v1<ov, A. A. PotebnJa, 71/2.
" B. :M. :E:NOJCL'OAllDT, A. N. Yee<:lovskij_ (~eschrieben 1920/1) bo·
tiver und ooetischer Funktion der Sprache, die Potebnja von Rumboh.lt echroibt 64ff. die Übertragung dos Kauaal.it4t.spnnzipe aus d~ Naturwiaen-
übernommen h&t, ignoriert. achaft. in dio Ceisteswiseensoha.l\ und seine Verbindung mit den gene~i-
Während Sk!ovak:ij und der OPOJAZ dio noet1J1Che }'unktaon der poeti• echen Theorien der Ent.st.ehung der menschlichen Kultur. Zu Veeelo':'ßk:iJ8
echen Sprache, ja der Kunst überhaupt negieren, kont<lntrie~n sich Pv· Tl1oorie dos Ur-Denkens, dee Totemismus und der akauaalen AmouattO·
11en vgl. 86ff. und 153ff.; wm Prinrip der „Versteinerung" Wld Automa-
tiaJerung vgl. 165 und v. a. 188.
11
S=vsxr1, Voekreoenie slova. In: Texte ll, 4f.: :E:JCTll!:NB.\UM, Tco- •• :E.'<om.'OA.8.J)T, Formal'nyj met.od, 62. .
rija fonnal'nogo aneroda. In: Lltemtura, 124f.; ToM.i.AEvsKIJ, Toorija lito- ,. Zu den Begriffen vn!AlNJnnjqja{tmdnjaja forma v1. -'erl,or11e vgl.
ratury, 33f., 37. unten, 188f. Vgl. auch: O. 8l'ET, Vnutronnjaja forma alova.
46 Formalistiacho Aspokte der symbolistiaohen Poetik

sehen Parallelismus" 91 , da.s in jeder primitiven, reduzierten, kindlichen


r Die wahrnehmungalisthetische Doflnition der Poefo.ität

ironisch gemeint sei, im allgemeinen auf Informationen und Signale an-


47

oder pa.thologischcn Denkstruktur vorherrscht, wo Analogien zwischen gewiesen ist, die außerhalb bzw. vor der Rezeption des poetischen Textes
El'llcheinungen nicht aufgrund ihrer kausal-empirischen Zusammen- liegen und den adäquaten „Wahrnehmungshintergrund" (appercep-
gehörigkeit, sondern aufgrund ihrer anthropozentrischen Assoziierbar- cionnyj Jon) bilden. Der Versuch der Symbolisten, die ästhetische nnd
keit hergest.ellt werden: ,,ll'remde" Objekte werden mit Eigensohaft.en noetische Funktion ihrer Sprachtechniken gleichberechtigt nobonein-
schon bekannter, näherliegender belegt, um sie auf dieso Weise ijpra-0h- ander zu setze.n (formuliert v. a. in den theorotischm Schrilten Belyjs),
lich zu bewältigen, sie vertraut zu machen"· beruhte auf dem ut-0pischen Wunsch, das „.lllythonschaffen" (mifol1J0r-
Dieses primitivo Denken in Parallelismen verfährt aber nicht nur lutvo) und daa Denken in Symbolen als oine noch beute mögliche Denk-
auf der semant.isohen Ebene (der inneren Form) metaphorL'ICh, sondern st.ruktlll' hinzustellen, die ebenso lebenswichtig ist wie dea kausal-
auch auf jener der äußeren Form, die „formale Parallelismen" so prä- empirische Denken im Rahmen der Alltagssprache. Eben die.gen Ver-
sentiert,, als wären sie „inhaltliche", ,.psyohologische Pa.rallolismen": such einer realen Restitution eines archaischen Sprachdenkens durch
Auf diese Weise werden durch die „Spra.chform" ,,Sprachinhalte" er- die Remythologisierung der Kunst nnterwgen die Formalisten einer
zeugt, die freilich nur im Rahmen der autonomen poetischen Semantik scharfen Kritik, wobei sie klar zwischen den noetisch-philosophischen
und des Sprachdenkens des künstlerischen Textes Best.>nd hoben. Dieses (z. B. anthroposophischen) und den artistisch-ästhetischen Funktionen
Prinzip der bedeutungssohalfenden Determination des „Inhalts" durch des symboUstischen Sprachdenkens zu nnt.ersoheiden wußten und damit
die „Form", das zum Ausgangspunkt der formalistisahe.n Literatur- und lediglich offen aU$Sprachen, was die Vertreter des artistischen, .,ironi-
Kunsttheorie wurde, bildet auch da.s Zentrum von Potebnjas Theorie schen" SymbolismUB - wenn sie im Rahmen ihrer k.Rrnevalistischen
des obroznot my6/enie und von Vesolovsk:ijs These, daß im künstlerischen Zirkel aufeina.ndor trafen - augenzwinkernd zugaben".
Sprachdenken ein vorwi$enscba.ftlicher Bewußtaoinszust.and aktualisiert
wird.
2. DIE WAKRNE!DfCINGSÄSTB:S:TlSORB DJlJ'INl'IWN DJm PoETIZITlT
Während ober im archaischen Denken die metaphorischen Verfahren,
1.. B. da.s ino8kazanu (dio Allogorie) dazu dienen, Unbekannt.es. Bedrohliohes
Der nüchterne &uthropologische Positivismus Vesclovskijs hatte
verständlich und vertraut zu machen, dienen dieselben Verfahren im Rah,
incn des modernen. rownton, kausal-empirischen Denkens der Aufhebung ein für den Formali11JDU$ beispielgebendes Evolutionskonzept geprägt,
des Vertrauten, dem durch „Fremdmachen" bewirkten Effekt des Neu• dessen zentrale Prämisae in der Differenzierung, Vereinzelung (oboaoble-
Sehens, der Verfremdung. Dureb den Prozeß der Verbegriffliohung und n.ie) und Automatisierong der ursprünglich vereinten religiösen, noetisch-
Rntiorul.lisierung sind dio ursprünglich noetisch gebrauchten (meta.phori- pragmatischen und der ästhetischen Funktionen bestand. Veselovskij
echen) Sprachtechniken zu reinen „Sprachmetaphern" automatisiert und
vorflaaht worden (man denke z. B. a.n den AUBdruck „blinde Fanster", der hat dorohaus die Asthetisierong der anfänglich psychologisch fonk-tio-
keineswegs wörtlich gemeint ist), die drum jedoch im poetischen Kontext
ästhetisiert und aktualiaiort, werden können: Der in der Allto.gi,spraohe auto-
matisierte Ausdruck wird in seiner wörtlic.J1en, materiellen Bedeutung " Alle Symboli8ten vertraten in irgendeiner Form die Thoec Kunst ~
gloichsam „ernst" genommen, idiomatische, metaphorische Schablonen Welterkenntnis (ialcU8atvo = poinanie mira), wobei die künstlerische Denk-
(,,Figuren") werdeu „etymologisiert" (z.B. .,blinde Fenster, die nichts mehr weise oine autonome Bed&u~ung gegenüber dem empirisch-kausalen Denken
sehen ..."). Dieaer v. a. bei Voselovskij eingebend analysierte Prozeß spielt besitn,t. Dnzu vgl. V. B=ov, Klju~i tajn. In: Llteraturnye ma.nifosty I,
in der formalistisebe.n Theorie dor „poetisc.J1en Etymologie",. eine zentrale M. 1929 und München (Slav. Propyläen, Bd. 64) 1969, 29. Ebeoeo VJAÖ!:$LAV
Rollo. lvANOV, Simvolizm, kak miroponimanio. In: Literaturuyo manifeety I, Slff.
WeseoUich für die richtige Einschätzung all dieser Verfahren des (iakiuatvo ut' geni.al'·~ pornanie). J. STau:M:EB, Transparenz und Ver•
aktualisierenden Spra.chdenkens im Ra.hm.on der Poetik ist die Prämisse, fr;,rndung, 263ff. stellt d88 symbolistischo Prin7.ip der ,,Durchsichtigkeit"
(p,-orrMnDBI') in Opposition zwn futuristisch-formalistischen V-~•rinzfp:
doß für ihre ästhetische Wu-ksamkeit (bzw. Intentionslit-ät) ein ent- Dies& Opposition ist freilich nicht a~lut zu fo.ssen, sond?rn 111t . viol-
sprechendes Maß an Vorinfonniertheit des Rezipient.eo voraus1.usetzen schicbtigor, als aus der Darstellung Stnedters hervo~eht. D,e_ transitive,
ist, da die Eotsoheidung, ob ein Verfahren noetisch-crnst odt>r ästhetisch- prasmatischo Auffassung d&r prozralno#t' dee pootisohen Bildes b1.w.
Symbols als Medium zwiaohen lmm&1leriz und Transz61ldenz untorsch01dot
ei.ch weaontlich von jener Auffassung dos „Durchscheinena", daa „Oszillio-
11 Veselo,'Skijs Studie „Psichologi~eekij parallolizm i ego formy v otra.- rens", der allusiven Polysemie des poetischen Wortes, wie es die Symbolisten
ienijach pootiooskogo stilja" (1898) hat einen gewaltigen Einfluß auf die in der poetischen Praxu, auffaßten.
sema.ntische Theorie des frühen Formalismua ausgeübt (vgl. unten J o.kobsons, Die Eigenart dee Symbols „anzudeuteo, nicht zur Schau zu 81.ellen"
Brika und Sklovakija Para.lJeliamusthoorie, 138f.). (Nietzsche), auf die auch Meretkovakij (in: Literaturnyo manifeety 1, 111)
11 Zur Erkenntnisfunktion des poeliachen Bildes (obra.rn~ myiknia) hinweis~, erhält in der Entwicklung doo Symbolismus zusehends iisthotlsohen
und zur Bedeutung der Peripb.rase (ino.,ka,:an;t) vgl. POTBBNJA, h wpisok Ei~nwert, der keinOBwegs mehr a~ die (intuitive) Entdeckun~ e~es ~o-
po teorii alovesnosti, 32f. Vgl. dazu auch zuaammenfo.ssend K. M. ßUTYRJN, heunnisvollen, verborgenen, nußerrat,onalen Zusa.mmonhnnges orientiert tSt,
Problema pooticleskogo simvola v rul!8kom literaturovedenii (XIX-XX vv.~ von dem Vj. Ivanov so gorne in seinen pbilOllOphischen KWlStbetrochtungen
11 Zur Theorie der poetischen Etymologie vgl. unten, 128ft'. apriebt (Lit,iraturnye manifesty I, 30ff.).
Formalistieehe Aspekte dor symbolistieehon Poetik Die wahmchmungsäathetieche Definition der Poetizitä t 49
48

aeinem östhetischon Aspekt als Aktualisierung auf, die im vollen Bewußtse in


nierenden Sprachve rfahren erkannt und sie der Verbegrilflichung der- ihrer pragmatischen lnadäqua thoit als aprschkritischer Akt voUzogon wird.
selben Verfahre n gegenübergestellt. Damit waren aber - noob der Auf. Diese vou P. Medvedev goringschtittig als „eechatologisohoa Motiv""
fa.ssung VeselovsJ,.;js und Potcbnjo s - die obraznost' bzw. poilic1- '' bezeichnete Überzeugung von der Untauglichkeit der konventionellen Denk, Inter.
nicht mehr bloß immanen t bestimm bare Qu&litätcn (Essenzen), sondern und Sprechgewohnheiten gibt der Poetik dos Symbolismua und ihrorspraoh-
pretat10n in der1 Thoorien Po(.Obnjas und Vosclovakijs eine deutliche Holle
Funktion en der permane nt evolutionierenden Wahrnel10mngs. und laitische Komponente, die in der form&lietischon V• Thooric eino große
Denk.formen und der in ihnen wirkenden Automat isierung b,:"•· Ent- spielen aoUte (vgl. POTEBNJA, Myal' i i0%1Jlc, l43ff.).
a.utomatisierung ". Hinderlic h für eine adäquate Potebnja -Rozepti on durch den For-
„Die Vorbmdung von Mythos, SpreQhe und Pocsio besteht nicht sosehr moJismus war aber die irreführe nde Fehlinter pretation des Prinzips der
in der Einheit der Tradition als vielmehr in dor Einheit des psychologischen obraznosl' 11 als optische Imagmat ion (v. a. bei Sklovskij), der die pho-
Verfahrena (pMcholoqilu/cij priem), in der ,a.rs renovata fonna diccndi' ..."
(Vcs=ovaxr.r, Paicholog ilukij paraluli.--m-, 141) netisch-rhythmi!Klhe Natur der poetische n Sprache (formulie rt in der
formalistischen zvulc-Theorie) gegenübe rgestellt wurde.
Erst die Ausgliederung der Kunst aus dem Ursynkre tismus und Tatsächl ich halte jedoch Potebnja unt.er obra%1W8l' die konkrete
die Isolierun g des .Asthetisch-Künstlerischen als eigener Bereich der .,A.nsch1rnliohkeit" de.~ poetischen Wortes verstand en - eine Kategori e,
Kultur machte jene freien „Neubild ungen" ('IWOOObrazuvanija) möglich,
die sich durchaus mit dem frühen fonna.llstischen Prinzip der „Fühlbar -
die Phänome ne äathetiach „produzi eren", die es in der a.llt.äglichen Lebens- keit" (o.f6ulit1101JI') vergleichen läßt (POTEB::s'JA, J36fT.):
praxis nicht gibt und die auch nicht den Anspruch auf eine meta.
Das Bild ist nach Potebnja. ein BewuBta einsnkt", der die gesamte
physische Herkunf t erheben, wie dies im magisch-religiösen Spl'aoh.
,.materie lle" Seite des Wortes bedeutun gshaft macht. Eben diose „phy-
denksn geschieht.
sische", sinnliche Ansch,mlichkeit (168) garantier t erst die ästhetil!Che
Das für den frühen Forme.lismus (FJ) grundleg ende Prinzip der
Wirksam keit und verhinde rt, daß „das Wort nur als Zeichen des Ge-
Abnützu ng und Versteinerung von (sprachlichen) Verfahren b,:w. aß. 111
dankens" verstande n wird, weil es seine „Form" (170) verloren hat .
gemein von Denkweisen und Haltunge n läßt sich direkt auf die wabr- Potebnja s Begriff der „Konkre theit" (lconL.,·ehio.,f} der Dingwab r-
nehmungsäRthetischen Prämisee n der Evolution stheorie Vcselovskijs ist hier im Sinn des frühen Formalis mus
nohmung und -bozcichuung
und Potebnja.s 2:urückverfolgen: Beide sehen im Prozeß der Verbegriff.
als neuwertc nde Verfremdung auslegba r und steht in Opposition zum
lichung eine evolution simmane nte Tenden:,; von der intransiti ven zur
Prozeß der abstrahie renden Automat isierung (avtomalizacija) des Wo~
transitive n Funktion , von der Selbstwe rtigkeit mr Utilitarit ät, vom
als begriffliche Denotati on (alooo-termin). Nur durch die Belebung des
unmittel bar Lebensvollen zur Reflexion. Dio praktillChe bzw. prosa.ische
Wortes (o:Eivknie alova), durch seine Befreiun g aus dem „Einband der
Spraaho stützt sich auf eine konventionell festgeset:itc Bezeichnungs-
Begriffe" in der poetischen „Wortsch öpfung" (alovotoorlulvo) läßt sich
funktion, die in der poetischen Sprache wieder auf ihron„rur.turgegebenen"
die mechanis ierte Begriffssprache überwind en (BRLYJ, Simvolizm, 434).
Ursprung zurückge führt werden soll - dies freilich nur im Rahmen
des ästhetisc hen Spnwhde nkens, das nicht ohne den „Hinterg rund" der
konventionellen Setzunge n der rezenten Kultur a\l.8kommen kann.
Wenn sich die Symbolfu nktion der Sprache a.bnützt (automat isiert, " Mli:DVEDE V, Formal'nyj motod, 77f.
Lexikalisiert, konventi onalisiert ), .,dann verliert das Wort die Vor- „ Eine BChr klare Kritik der forrnalistieehen Potebnja -Kritik liefern
V, Obiicoetvo kuoonija pootiooekogo jazyka i Potebojo ,
I. P. PLOTNTJCO
st.ellungskraft und bleibt ein lautliche r Vermittle r zwischen dem zu v,
36f.; B. I. JAROHO, Proet.ej§ie oanova.ruja formal'nogo a.no.liza.; A. Vz:rooeo24,
Erkennen den oder zu Erklären den und der Erklärun g". (POT'E.BNJA, /z Potebnjan11tvo, 111-116 (mit Literaturangaben zum Thema). V.ch Erlich,
UJPWOlc po teorii tlo11unosti, 97; RMNOV, 78f.) ist der Meinung, daß die Mißverständnisse des OPOJAZ hinsichtli der Bild.
klhro PotebnjRS eine Folge der m&lB9lndon Kenntnis soiner Originalwerke
Dioeea Pathoa der „restituti o ad integnim ", dna die Kunsttheorie gewoeen "8ieo - eine Auffassung, die durchaus nicht den TataMhcn ent•
Potebnjas, Veeolovsk.ij und dor Symbohaten orf"ullt, bat auch tiefo Spurens Schrit\en
spricht, wie aus uhlreiebe n Potebnja-Zitat.cn in den theoretischen$klovakij
in der frühen formalistiachen V.Tbeone hintorlasacn, v. a.. in Sklovskijar der Formalisten hervorgeht. Klarer wird die Auaei.nanderaetrung Formalisst
Formel der „Auforweclrun!!: dee \Vortea" (ooakruenie •/oval, die unmittelb mit Potebnja in der Den,l.(IUung von K. PoMOBSKA, Ruasian
an Belyja „Wortku lt" (.t-..l l 8U>IJO - zarja vozrold,Jnija, Simvolitm , 4'36) an• Theory and ite Pootio Ambianoo, 15, 17 und v. a. 23f. und Mff.
knüpfl.. N VESELOVSKlJ, Psicbologil!eakij parallelizm, 194 stellt
einen klaren
Während aber Potebnja (auch die Symbolisten, v. a. Belyj) ohor dßzug Zusammenhang zwischen Bildho.ftigke1t (obrai,...,t ') und Entaut.omatisie-,
neigen, den Rückgriff auf die primitive Denkat.ruktur mit der Vorstellun rung der Wal:irnohmung bzw. Wertung her. Vgl. dazu auch l'OTEBN.TA
einee „goldenen Zeitalten1" der naiven Unmitt.elbarkeit zu verbinden,unter fallt
Myal' i jazyk, 143ff. (konkrt1M 8t' - olrraznost' = .,,,utrennjaja forma =
Veaelovakij (und mit ibm der Formalismus) di-n Rückgriff vor allem poili~' ). nach dem im „W"8prünglichen Sprachdenken" dio Sache selbat
1m Wort wesenhafL enthalten ist und erst im Vorlauf der weiteren Bewußt.
110inl,ontwioklung konvontioneliJliert und damit zu einem „loeron Zeichen"
(143) wurde.
•• Zur Evolutionstheorie vgl. unten, 369 ff. ., Ebeneo SJtLOvs,o.r, VoskreAenie slova, 3 und S:ra.ovsn.r, PoLebaja.
50 Formalistische Aspekte der eymboliatis<lhen Pootik Dio wahrnehmungl111sthetische Definition der Poet1zi!At 51

inneren Verallgemeinerung der „realen Bestimmung" des Wortes


. ~Vie Potebnj~ aet~t au~h Bclyj „lebendige" und „bildhafte Rede" (reaJ'noe opre.deknie, 83) und einer damit verbundenen Steigerung der
(fo•aJo = obroznaJo rot) gleich (a, o. 219), die „in junKfräulichor Buntheit
glänzt und funkelt" (434). Gerade d10 konnotative Vielaeutiflkeit des oooti- Expressivität des Wortes - so z.B. bei der Emotionalisierung von
schon Wortes (alO'IIO-obra.i), dio nllusive Vielsoitigkeit seiner mnoron F'orrn"
0 Farbbezeichnungen, deren idiomatische „Emanzipation" gerade in der
('!'1t1.tre,.,.j_ajo forma = ai11~im1o.s1:), ermöglicht jene soma~tJeoho Dynami- Poetik des Symbolismus zu einem der &Uffälligsten und wesentlichsten
s,erun~, die_ Ty!l.J&nOv 111_ semer poct,achen Semantik als „Somnsiologisierung"
(se100,!olo9:~•Jo) bez01chnet bat. Ihr stehen die Statik und „dono1.ative Epithete.-Verfahron kanooisiert wurde.
Gcnau1gko1t (J.u:ossoN)"'.". ~~• ,.Wort-Begriffs" (slOIIO--in) und dea in Hinzuwei&en iat hior auf dio Auseinandenietzung Voeelovak:ijs mit der
ihm wirkenden rat,onal-utilitäron Denkeru, gegenüber (BELYJ Simvoliz11l, zeitgenÖMiaehen synkret1stiachcn Metaphorik der französischen Symbolisten
-130). '
(u. a. auch Baudelaires - vgl. V&aJ:LOVIIJUJ, 89).
Wesentlich in diesem Zusammenhang ist nicht S06Chr V08Clovskijs Die originelle Kreativität ala Produkt einer „wachsenden Verselbstäo-
digung der Pereön.lichkeit" (obo,oblenie libW8li, ibid.J ist f'ur Veeelovskij,..
Evolutionstheorie selbst - sie soll im Rahmen des formalistisohen nioht gleichbedeutend 1mt subjektiver Willkür, eondom durchaus angewie-
Evolutionsmodells (Fill) behandelt werden - sondern die auch für sen auf die hiatoriecben Invarianten und die mit ihnen verbundenen ß&.
den frühen Formalismus verbindliche These, daß semantische und wahr- achränkungen der Wahl und Kombinationsmogliohkeiten (•. B. der Adjek-
nehmungspsyohologische Regeln einander bedingen. So ist die Distanz t.iva und Substantiva):
„Persönliche Epitheta (lilnye 6pituy) zu allgemein verwendet.eo zu
zwiscl~en_ der semantischen Ordnung (Reihe) des Epithetons und jener machen, das vermogon dio Energie eines etarkon Talont.e (oine individuelle
des m1t ihm verbundenen Substantivs - jene Distam, dio den noeti- Sohulo) und der Takt dea Künstlers. Jenseits der individuellen Schule gibt
schen und iü1thetischen Effekt garantiert - unmöglich außerhalb der os aber auch dio Schulo der 0"8Chioht.e: Sie wählt fUr uns die Materialien
rezeptionspsychologischen Situation bestimmbar. unaeror poetischen Sprache, den Vorrat der Fom,eln und Farben aus ..."
(VE8&LOVSlUJ, 90/ 1)
Stark vereinfacht läßt sich Veselovsk.ijs Evolutionskonzept auf den
Kampf zwischen der Beständigkeit von (aolohen loxikalischen) Verbin- Diese Auffassung der Geschichte bzw. Tradition als „Paradigmat&-
dungen (z.B. den epitheta Ol'llAiltia) und ihrer Variation, zwieohen der Vorrat" haben die Formalisten von Veselovskij übernommen und zu
Typizität (lipilnosJ') und der Individualisierung (individualizacija) oinem wahrnehmungsästhetisoh begründeten Evolutionsmodell aus-
zurückführen. Die Richtung der Evolution verläuft; von der affirmativen gebaut, daa die kunsthistorische Entwicklung in eino dynamische Ab-
tipi.cnoBt' zur verfremdenden, normbrechenden Individualisierung, d. h. folge einander ablösender und bekämpfender Epochensysteme zerlegt.
zur bewußten, willentlichen Deformotion und Neukombination•o1. Die Die einzige Konstante in diesem Prozeß ist dio Struktur des transfor-
treibende Krnft dioses evolutionären Prozesses, der in die semantische mierenden, deformierenden, demotincrende11 V-Prinzips, daa dio kon-
Struktur des Wortes eingreift., wurzelt für Veselovskij 1. inJ Gesetz des ventionellen Kategorien der prumslvennosl' und der kontinuierlichen
„Vergesse?-9 der realen Bedeutung des Epithetons" (zabvenu rt.al'nogo traditio ersetzt. Ziel der permanenten „Erneuerung" und „Belebung"
smysla ep1ltta)'Ol - hervorgerufen durch die Konventionalisierung und (obnovkn~. ()Zi11ltnie) und ovolutionsimmanenter „l\Iotor" der Ver-
Lexikalisierung einer Kombination, dio zu einer Versteinerung (oka- änderung (um ihrer oolbsi willen) ist da.s nicht weiter hinterfragb&re
men~ie) f?hrt - ein B~Jf, der in der formalistischen Rezeptions- Bodürfnis des Menschen nach Abwechslung, Sensibilisierung und Inten-
theone gleichbedeutend llllt dem der Automatisierung (avtoml.uiUJCija) sivierung des Lebensgefühls.
auftritt 103 • Nicht weniger wichtig aber ist 2. das Gesetz der semantischen Das Bestreben der Kunst und der poetischen Spracho, ,.gegen den
„Entwicklung" (VESBLOVSKU, lBloriteakaja poelika, 82) infolge einer Strom zu schwimmen" (VESELOVSKIJ, ibid.), wagt Veselovskij jedoch
noch nicht mit dem Wesen des Asthetischen gleichzuset7.en, da sein
genetisches Evolutionskonzept eine Wertabstufung impliziert, die alle
100
Wesen dea poetischen Wortes iat nn.oh Potebnja v. a. aeine Aruei-
cher?ng durch Konn_otati_onen und die Tatacho, daß die Bedoutung dee primären (mythisch-kulLischcn) Funktionen als die ursprünglichen,
poet1BChen S~!><>ls ruo „dirok_t und genau, eondom imme~ indirekt (h>awnno) eigentlichen postuliert, ihre Asthetisierung als sekundii.re, abgeleitete
und annähernd dargestellt wird (R.uNov, 70). Zum Begriffder denotativen Funktionen, die er als „dekadent" bezeichnet - v. a. dann, wenn es
Cenauigke,t" vgl. JAKOBSON, Co je pomie. "
sich um rein stilistische „Neubildungen nach einem rein ästhetischen
. 101 Während Potebnja daa Hauptgewicht auf die Relation zwischon
Ze1ohe11 (Sy!"bol, Bild) und Bedeutung. logt, kont.entriert sieb Veselovakij Prinzip" handelt1 °'.
mebr auf du, diachrone Rclat1v1tät und Voränderbarlr.eit dieser Relation
(DUTYRIN, 2~3/f.). VESZLOVBXIJ, Sobr. soo. l, 157 gebt es v. a. um daa
P"'?blem der Konventionali8ierung - und weniger um das der Analogio '"' Veselovskij sioht die Relation „uupetsönliohoe" (beu,6noef vs...pcr-
zw1SChen _Wort und Bodoutung auf psychologischer, eozialer oder ideologi- aönliohe11 Schaffen" (libloe tuorculvo) im Verhältnis zur Opposition „Symbol-
scher Bnins. Bild" (simvol-obta::) VII, ,.individueller Symbolismus" (lifuyj ai1nvolizm).
::: VESl!lL~VSKU, h istorii <lJ?)teta. llltoriooskaja poetika, 81. wobei letzterer &1$ .,Abatieg", als Dekrulenz bewertet wird. Vgl. da.zu auch
E"o"'L OARDr, VeselovskiJ, 177 zum Phänomen der Versteinerung BtJTYRIN, 255.
(o~~m„ie) der Bildhaftigkeit (obraznoat') mit der Folgo der „Entgegon- ••• Der -Obergsng vom inhaltliohen ParalleltSroUII zum formalen bleibt
st.andhchung" der Wörter. als Abusus bewußt, als Verfremdung der Mitteilungsfunktion dor Sprache,
52 Formalistisohe Aspekte der symbolistischen Poetik Die wahmehmungaäathotiache Definition der Poeti2it.ät 53

Noch verbe.nden die Symbolisten die Vorselbstii.ndigung der pooti- Dennoch läßt sich die Bedeutung der wirko.ngsästhetischen Orien-
achen Verfahren und die de.mit einhergehende Entfernung von der kon- tierung der symbolisLischen Poetik - v. n.. in der Interpretation Po-
ventionellen Sprachpraxis (d. h. ihre „Unverständlichkeit" aua der tcbnjas und Vesclovskijs - für die frühe formalistische Rezeptions-
Sicht der Alltagssprache) mit einer exiatenz.ieUen V-Position und der theoric nicht hoch genug einschätzen. Potebnja lokalisierte den ent-
Maske eines st-atk literarisierten Dichtert.ypi (obraz poeta)l°', des..<cn scheidenden Unterschied zwischen kommunikativer und künstlerischer
Habitus und Gestik mit pathologischen, primitivistischon, ne.ivistischen Spr&chpraxis in dor Rezeption 109 des Hörers selbat, die das Kunstwerk
u. e.. reduzierten Bewußtseinslagen motiviert waren; dieser vom Publikum mitschaffend konstituiert, mehr noch: Das Kunstwerk ist identisch 1nit
mit11SSOZiiert~ Typus diente der EiJ11Jtimmung auf die verfremdete, der Geß&mtheit seinor Wirkung im Empfänger (POTEBNJA, Myal' •
alogische, unsinnige, überraschende Perspektive des symbolistischen ja~k, 152ff.), mit jener subjektiven Stimmung, die es hen•orruft (154).
Tones und seiner antipragmatisohen tl4lanuvka: Im Gegensatz zur transitiven Mitteilung empfängt der Hörer nicht
,,Allmählich füllt sieb die Sprache der Poesie mit Hieroglyphen, die nicht vorgegebene Inhe.lte, 110ndern nur die „Richtung des Gedankens" (und
8090hr bildhu.f\ (obr=w) als musilcaliach versto.ndon worden, die weniger dor Affekte), die durch die „innere Form" ausgelöst wird. Der „Inhalt" 110
imagin&tlv &18 ei11t1timmend wirken {naslraiooju'6ij)." (VES'ELOVSK.U, Sril,r. des Kunstwerks entwickelt sich nicht im Künstler, sondern im Wahr-
806., 1, 168) nehmenden (152); im selben Sinn verlagert sich aber auch dio Aufmerk-
Der Unterachied ~wiechen symbolistischer „Gl°"solalie" 1°' (etwa in der
Poetik A. Bolyjs) uod der futuristischen :aum' -Diohtung boetoht nicht !IO- samkeit der Poetik von der Produktions- zur R~eptionspsychologic und
IM!br 1m unterschiedlichen Einsatz der Sprachverfahren als vielmehr i11 einer damit e.uch von oincr statischen Definition des Kunstwerks zu einer
vet8Chfodenartigon Ausrichtun~ di888r Verfahren: Die er.mbolistiechen &- dynamisch-energetischen im Ansohluß an Humboldts Auffassung der
griffe der „I11t1tru1nenlisrung" (,114tru111enl<>vka) und „Mwik&liti.it" (mu:ykal'. Spra.che als bltp·~C« (nicht als lpyov). Damit lehnt aber Potebnja. (wie
notl')lN beziehen eich auf die Mgeetrebta emot1onalo Suggestivität der
Diohl.ersprache, die den Zuhörer „gefa.ngen nimmt", ,,borauscht", ,.ent- später die Formalisten) auch jede Widerspiegelungstheorie (otraunie)
ruokt". Im Ocgen!lll\4 dazu ging ea der futuriatisch-formaliatischen Poetik 8 b und ersetzt sie durch eine Assoziationst-heorie, die in vielem den
um die BcCroiung, die &Aexiol\8fähigkeit, die Deaillwiioniorung und EmUcb- impressionistischen Scnsnalismll.!! vorwegnimmt. (PouBNJA, 107) 111
terung oinoe „eme.nzipierten" Leeors. Der ausgeprägte Anti-EmotionalismuR
der FuturiatenfFonnalisten richtete eich dabei v. a. gegen oino thematisoh-
inhaltlicho Interpretation der poetischen Suggeativitat, der aio die „gogon• ,., Daa Priru;ip des ,,Mitechöpfertums" des Reupionten ist in der
stanclsloeen Emotionen" der von ihnen zunächst rein aonauoll gedeut.oton •ymbolielischon Poetik bzw. Aathelik wei~ verbreitet, wenn auch zumeist nur
Mt.hetischen V-Effekte gegenüberstellten. nebulos formuhort: Meist ist die Aktivit.lit des Rezipient= auf die Interu,i.
vi,mrng aeinor „Empfangabereitacbaft" beschränkt, dio gloiohso.m - passiv!
- den „R880nan~körper" jener Reizung (no.,lrotinujoorbui<kni~) darstellt,
dio sich in cino ,.&iho rhythmischer Entei_>rechungen" verwandelt (VBS&· die von der „musil«iliaohen Potenz des Wortos" (AN"NENSJUI, 1, 180) sug-
LOVSIOJ, Sobr. 110<!. I, 163). Veeelovskij beze1ohnet-aua 110iner$ioht koose, geriert. wird.
qucnt-dicee Entwicklung als „d4~vo do de~nutoo", als „:terfäll" 11• POTEB!<JA, Myal' i ja.zyk, 152f. geht so woit, die tibertragung der

(n:wohnie) der poetischen Sprache, der freilich auch zu einem „Sieg des pmklischon Mitteilungsfunktion der Sprache ins Asthetisohe ulx-rhnupt in
Gedankens Uber dM an ihn gebundene phonetische Zeichen" führen kann Frage zu stellen: ,,Es ist unmöglich, mittels des Wortes dem a.ndem soine
(V&S&LOVSJOI, ibid., 168). Vgl. dazu auch f:NUICL'OAllD'l', A. Veeelovekij, Gedimken zu vcnn1tlcln - mög1icb ist nur, in ihm soine eigenen Oeclru,kcn
187/8. anzu.regl!Jl. Der Inhalt des Kunstwerks ont.wickolt sich nicht mehr im Künst-
111
Vgl. dazu etwa I. F. ANNBN8K.L1, Bal'mont-lirik. In: Knige. ler, sondern im Wahrnehmenden," Die „Einheit von Laut und Bedeutung"
otraf.onij. I, SPb. 1906. 171 ff. Annonskij untarsohoidet klar zwischen dem (148) und damit diG kü11t1Uerisebe Form kann nur im Rezipienten aktuali-
„lyrischen" und dem „biographi.sohen loh" des Autors: ,,Dor Vors ist kein siert werden.
Goeohöpf dos Autors - er gehört ihm nicht einmal ... " (I, 180). Gegenstand 111 Zu beachten iot hier freilich dor nicht unwesentliche Unterechioo

der intuitiven Einfühlung des Leser& iat nioht dai1 biographische, sondern zwischen den Bogriffen up11&ulil6l'no,1' (,,Eindrucksfähigkeit", ,.Eindrück,
aUS8Chlictllich daa „l)'l'ische leb" des Autors (I, 186). Dieeo Auff688ung liohkeit") und dom futuristisch-formalistischen Begriff der ollutimo.n' (Fllhl-
deckt aioh woitgohond mit der formalistischen Theorie der „lit.orarischen b&rkeit): Der erste meint in der symbolistischen Poetik eine emotionalo,
Persönlichkeit" (lill!1'o:tw-nafc> Utno.tt') = ,,lyrischoe loh" va. ,.b1ograpbiaohe imagin„t1ve „Begeislcrungsfahigkeit", der zweite eine v. a. sensuolle, phy-
Persönlichkeit", vgl. unten, 4Hf. eiecbe, vorbewulJte Wahmehmbe.rkeit, durch die dor dinghoh-atrukturelle
1°' Vgl. dazu unten, l09f. Charllkter dtlll !iathetischcn Objekts reflektierbar wird. Bei D.111.ßaEh:ovsxrJ,
111 Nicht nur der Begriff der Bildhaftigkoit {obrc>tno,1') - auch jener O prifinl>Ch upadka IJ()vremennoj rusakoj literatury. SPb. 1803 (zit. nach:
der '.\lusikallt.ät (muzykal'no3'') erhält aus symbolistisober und Cormalistiach- Llt.emtumye mamfesty, 16) erhält der symbolistisoho Begriff der vpdatlu~•-
futurisliechor Sicht eine jeweils andere Deutung: Die Symboliaten betrlMlh- noat' eine explizit v1Wislisch-impreesionisti~ho ~outung:_ ,.. . . Schon
teten die „Spraclunusik" (Wortmelodie, InstrumenUerung, Euphonie, Vokal- Baudelaire und E. Poe Bllgtcn, daß d88 Schöne 10 gGWISSer Weure zu verwun-
färbung etc.) einß1'88itß auf der Grun~ ihrer mehr oder weniger klar er- dern habe, unerwartet und gesucht erscheinen solle (kc>z<u'ajc> neo!idannym i
fäßten ayniistbetiscben Theorie, anderseits st.a.nd Musik im weit.en. antiken rodkim)."
Sinru, steUvertretend für jede Kunat und den Idealtyp menscWiober Ver- Potebnja und Veselovskij waren sich uber die ~dlegenden rewptiona-
vollkommnung. In diesem weiten Sinn kann auch der k!MSisch gebildete .!letheti.'ICben Problomo durchaus im klaren, ja 810 formulierten auch den
I. Annenakij von der „Musik der Symbole" (muzyka ~imwlov) sprechen diachronen Allpekt der kilrurtlerisohen We.hmehmung und Wortung: Po-
(ABNXNBlUI, 186). TBBNIA, 94, spricht klar vom „Vorhandensein einee wenn auch noch 80
54 Formalistische Aspekte der symbolistischen Poetik Arti.etischo Pootik und iilltbetisoher ImmMentuunus 55

Als Ideal einer gam.heitJichen Suggestivität schwebt den Symbo- iWlg des st&rren Form-Inhalt-Dualismus durch dio GegenUberstell~ng
listen eine Verschmelzung der lautlich-rhythmischen und semantisch- von Verfahren (priem) und Material, da.s von den Vorfähren bec.rbe,tet
met&phorischen Effekte bzw. Verfahren im Laut-Blld (wukoobraz, wird hat Bolyj bereits vollzogen (134), wobei er wörtlich Sklo,-skijs
Bm.YJ, Simvolizm, 219, 429ff.), im „Laut-Symbol" (434) vor, das aus Deiu;itionen des P™m e.la Faktor der (Neu-)Vert-eilung des Matcria~s
der Einheit von miayml'nost' und obraz111>8t' eine neuo, objektive, nicht (rozpoloknü materiala) einerseits und im weit-eren Sinn al~ ,.Umarbm-
nur im&ginierte, sondern gegenständlich empfundene Welt schsfft"2 • tWtg" (pererabotl:a)"' des außerä.sthetischen Materi~ls. anderseits _vor-
Die lautlich-rhythmische Suggestion dominiert über die vor- wegnimmt (147). Daraus folgt dio durchaus formahst,scho Defimllon
gegebene Lexik, ihre SomBBiologisierung verfremdet die begrifflichen der „Form" als „Reihe technischer Verfahren" (,jad üchnice4ki,:J,,
Wortbedeutungen. Diese „Entdinglichung" der symbolistischen Sug- pneiMV, 223) und der Ku11J1t als syntsgmatischo Kompo~ition solcher
gestioll88prache gest&ttAlt &ber in den meisten Fällen immer noch ein Reihen, als System von Vorfahren.
,.int.uitives N&cherleben" thematisch nruJ1Chreibb&rer (na.cherzählb&rer) Charakteristil!-Oh für Belyjs ambivalenten Ansatz ist aber die gleich
Phänomene und ist durchaus nooh nicht gleichzusetzen mit der ent- darauf folgende Aufhebung der poetischen „Selbstwertigkeit" (11amocd'-
blößenden Verdinglichung der Verfe.h.ron in der „konkreten Poesie" des tl06t') durch den ZU88tz, daß ein „technisches Verfahren" niemals „Ziel",
Kubo-Futurismus und der za1.1m'-1'heorie der FormaUsten. sondern immer nur „Mittel" der primär religiösen bzw. philosophischen
Gerade die von H. B1moso:< in seinem Werk Zoit 1111d Ji'roiheit (1888) Bestimmung der Kun.st sei (219, 226).
vertretene Suggestionsösthctik demonstriert dieeen Unterschied. Nach Es wUrdo viel zu weit führen, diese komplizierte Ambivalenz von ö.stho-
Bergson dient nämlich die Suggestion (durch Inijtnnnentierung, Rhylh1mk, tischom ItnmMontiomus (,.Astl1etismus") und philosophischem (bzw. theo-
Lnutmw,ik) dureheus instrumental der F.inschlllfoning_ bzw. Betäubung des aophischem) Tmns2endent(al)ismus in der Entwicklung des rU83il!<'hen Sp"f!·
Empfängers bio zum Zuot.and völliger Fügsamko1I. uni) Ptlllllh,•11.ät, wodurch bolimnWI woit.or ,:u verfolgen. Wesentlich für dio _Ent•!-"hung der formo.hot1-
daa Mitfühlen bzw. dio Identifikation mit dc-n im&g.interlAn Objekten bzw. achen V-Theorie ist jodenfe.!Ja jene zunehmende !)issoznerung von -~ch!!180h~r
Situationen ermöglicht werden soll. Dabor der Vergleich der künstlerischen ,.Selbstwertigkeit" und der Funktion der l'oe<110 als „Symbolrehg1on (rcl~-
\Virkung mit dor hypnotischen m, der gerodcr.u 0111 Topoe der symbohsti- q,ja itimvolo1'), als ömbkmatika nnyala (Bs:LvJ, 1909),_al!f dsren enite Anzo1,
tchen Poetik (vgl. BAL'Mor,-r, Poetija kak ool'lebatw. Bolyjs mc.gija alov) chen die für don späten Symbolismus cbare.lcte~180h~ Herebootzun/.!'
geworden i8t: Die duroh „Bilder und rhythm18<lhc \\'orto'' 1m Loaer erzeug- (mi!enie), die J)6l'Odisti.eche Herebmindorung dor philosoph111chen b-zw. roh•
ten Effekte sind das emotionele .Äquivalent jener Reahliit, die der Autor giöoen Symbole oiner t.ramzendent&lon Wolt" (lvANOV-RilUMNlJ<, Alek-
intendiert (BERnsoi,, 12/14 f.). Diese• auf emot,on&le Idenl ,fik&t 10n &ngel~ eandr iitok. Androj Belyj, 1919, (3) zur bloßen Motivation, zum Vorwand
Konzept, das die poetischen Verfahren zu einem bloß vorbereitenden, ein- filr die Entwicklung der Verfahren gelten können 111.. ..
stimmenden Instrumentarium degradiert, wtclerspneht der futurialtsch-for- Auch in diosom Fall liegen Parodie und Asthetunerung nahe boll!l\mmo_n
moJ.istischen Deoillwtloniorungspoetik - darOber htnaus aber auch jenon und wirken als evolutionäres V-Prin.z,p, d&a als ästhetische Tondonz zw1-
symboliotischen Tendenzen, die eher der J)OO'l!O pur;,, der Art1st1k und dem aohen (orthodox) symbolistischer Poetik und der nachfolgenden Avant~o
liathetischcu ImmanenlismW! zuneigen. Gen\do diooe Strömw1gen aind aber der 10er Jahre vermittelt. Die Poetik dieser artist.iscJ:ien Linie dee Sym~l~;
für die forma.liotische V-Theorie wo1tous produkltver geworden als der welt- muo die don Mitvollzug dce KUI18tworka eelbst als mnen Prozeß 1ntend1ort
anaohauliohe Symbolismus, der T.llr Verschleierung der !ist hotil!Chen Proze680 {TIEDB.X~-BARTELS, 111 \ und unter dom Einfluß der. Kompoo(tions-
neigte. theorie E. A. POO&m, Baude airos 111, Mallarmc!s u. a. auoh bei den rnsmschen
3. A.nTJSTlSCll& POETI.K UND ÄSTRETIBCllltR Jil™ANENTlSMUS m 13olya Begriff der p,rerallotka,. (Um!'rbe_itung, Tr~llllformstion im
weiteren Sinn) wurdo ,•on dan Formalisten m emer vergle,chl>arei> Bedeu-
Sowohl als „Dichter-Thcoretikor" u• als l!.uch in seinen poetologi- tung in ihren prillm-Begriff integriert (vgl. dazu unten, lOlf.). Percrabotka
schen Wcrkon vollzieht A. Belyj den bedeuLenclston Vorgriff des Sym- ist. auch vergleichbar mit dem von Max Deri gepriigten Begriff dor „Permu-
bolismus auf die Theorien des friihen Formali8Illus und soino roduktio- tation" (DBru, Einführung in die K1111st der G<,genwart. 1020, 47-129),
niatischen Positionen (FI). Wie die Form&lisoo11 iu ihrer Lauttheorie den H.u,s ROFSTÄ-rrBR, Symbolismus, 78, als „Vertauschung, Vorsotzung,
Veriinderung einer vorgegebenen Ordmmg" definiert (vgl. Uofatilt~ers Bo-
reduziert a.uch Belyj provokant das poetische Wort auf seinen Laut- atimm1111g der Verfremdung im Symbolismus, 90/1; ebenso allgemein Huoo
chara.kt-0r (,.Jedes Wort ist zualleren!t Laut" - in: Si111voli21n, 429), Fru:EDRJOR, Die Struktur der modernen Lyrik, 65).
das 88lbstwertig als ,,Wort-Ding" (11/ovo-t·e.ft') auftritt. Auch die Erset- n• Zum Verfahren der abwertenden Herabmindarung (811iunio) in dor
aymbolistiscben Pootik vgl. SJU.OVSJUJ, Pjat' oolovek znakomych, 12 und
unten. 152. ,
bodeutunl!Sloaon Vorrat& vorgoapeicherter We.limehmungen", die ein dia- m E. A. Pooe thoorotisohe Schriften sind über VonnitUung Daudehl-•-
chrones v'orw;-.n garantieren (vgl. ebon80 VESELOVBlUZ, Sob. aoo. I, 47ß). nicht nur in der fro.nzösisahen Moderne, sondern auch in der ruea,echon
111 B>:LYJ, Simvofü;m, 4~4: (.,DM Wort schafft eine neue, dritte Welt-
wirksam geworden. Gerade die Asthetisten im ruasiachen SymbolismU'! haben
die Welt der Laut-Symbole") und VBSBLOVSJUJ. Sobr. ooo. I, 476. Vgl. dazu sich immer wieder auf Poes „Das poetische Prinzip" berufen (E. A. Po&,
auch &lyjo Semantik-Theorie unwm. J33ff. Werke. V{, Froib,~r. 6BO: ,,Das Gedicht per ee, das Gedicht, das nur
'" ßR-Jusov, Ru88kie slmvolisty. M. 1804 nennt ebcnfülla die ,.Hypnose Oediaht ist, das allen, um seiner Blllbst willen geechrioben i••").
cles LcMrs" als Ziel oymbolisttscher Poesie. m Allgemein zum F.influß des fronzösischen Symbohamuo auf _wo
u, Zum Phänomen des „Cl-Olehrten-Dioht<lnl" (pod-400/ar, ~ doc- russische Litoratur vgl. G. DoNOIUN, The Inßuenoo of French Symbohsm
,.,~. poü-,<hnyj etc.) vgl. Po1110BSKA, 55f. und :i;:JOHEN"BAUM, Teorija, 110. on Russia.n Pootry. The Haguo 1958.
Formalist~e Aapekt.e der &ymboliatischen Pootik Artiatiache Poetik und äathet.i.lcher lmm&nentiamu& 57
56
,.AathetJzisten", die freilich auch über ein& eigene m/iohtige Tradition ver- selbst reflektierte Inkongruen2: r.wischen artistischer „Kon._'Jtruktivität"
tilgten, starken Widerhall fand, nimmt weeentlicho Argumente der for- (konstruktiVII081') und ihrer rückwirkenden Ideologisierung als mi>giscb-
mnlistiaohen immanenten Poetik vorweg. hermetische Schöpfung venrochten auch die jungen Formalisten zu
Die artistische Poetik rückt die ästhetisohe Reaktion a\18 dem BUb- entblößen, die das weltanschauliche Credo des l'art pour 1'art ebenso
jektiven Bereich der illusionären Imagination in den der immanenten ablehnten wie die Restitution eines lyrischen Ich dort, wo dje Sprache
Gesetzen gehorchenden senaibilite, die schon lfallarme im Sinn der fUr sich selbst spricht, eich als „Selbstsprache" (Novalis) objektiviert122.
impre88ionistiscben Synthetisienmg der dargestellten Objekto im Wahr- Die verfN'mdend-entblößendo Intention der Oegenstand&lO<!igkoit der
nehmungsorgan auch für die Poetik für verbindlich erklärt.: ,.Pcindre pootsie puro, der ,,Befreiung au& der Symbolik" und der Imagu1ation ohorak-
non la cbose, ma.is J'effet qu'clle produit" (MALLARri, Corn~pondana, teriaiert d10 „ironi11che Richtung" des späten Symbolismus, dio ,n Frank-
I, Paris, 1959, 137). Eben dieser sensualistische Reduktionismus kenn- reich von ,Julos Loforgue und in Rußland v. a. von VI. Solov'ev ausgegan-
gen war. Die ironische Verschiebung vom Erhabenen, R~ligiöson, llfonti-
zeichnet auoh die erkenntnistheoretische Basis des frühen Formi>lismus, schan zum Niedrigen, Erotischen. Bann.len bat. Vl. Solov'ev selbst in seiner
der wie die französischen „Asthetizisten" den Begriff der se118aJio1u ''°'""'"'" poetry demonstriert, deren parodistische Per8ifla.gen über Blok
in seiner doppelten Bedeutu~ sowohl als erkenntnistheoretischen Ter- und Bolyj hin1Ul8 v. o.. euf die epatierende Meto.phorik Majakovekija wirken
minus (im Sinne von Hu.me.s Sonsualismus) als auch in der Bedeutung eolllen 111• Am klarsten zeigt sich diese Beziehung in der im FrUhwerk M&jB•
kovskijs dominanten Tendenz des aniknio der religiÖl!en auf die soxuello
von ,.Sensation", Neubeitseffekt, Reiz, Stimulus - kurz als primäre Bedeutungs- und Bewertungsebene. Dieaen Prozeß der „Demotivation" der
Verfremdung interpretiert (vgl. Baudelaires „sensation du neu!"). ideologiJ10hen 13indung der Kunst im ironischen Symbolismus hoben dio
Freilich waren es in Rußland weniger die Symbolisten selbst als die frühen Formalisten gerne als Bestätigung ihrer eigenen polo,nischen anti-
imprel'l!ionistischen Unterströmungen des Futurismus, die - wie noch ideologischen Position gewertet, wobei sio mit dem Phänomen dor „eroti-
schen Verfremdung""', dessen tabubrochende Intention Sklovskij in Ja.
zu zeigen sein wird - die seruro.alistischen Prämissen Mallarm6s und kuutvo ltok prum der V-Theorie zuordnet, gleichzeitig Ruch dio mothodisoho
Baudolaires im engen methodischen Konto.kt i.wischen Malerei und Umorientierung vom Abstrnkt-Im~n zum Empirisoh-Fühlbaro11, von
Poetik weiterentwickelt h&benllf. der SpelculRtion •ur Induktion verbinden konnten m.
Das reine, artistische Kunstwerk ist wie alle Akte der säkularisie- ,;'l)io Kunst bedurfte oiner Befreiung von der Symbolik dor Bodoulun-
gen (rimvolika amya/ov). Die Dinge wurden rebellisch, wollten Loib annehmen
renden Reduktion auf das autonom Asthctische &ls V-Prinzip wirks&m: und fühlbar acin (byt' olfulcaemym)" (E.IOHENBAUM, Sua'bo Bloka, 62/3).
Die Selbstdat'!ltellung der Verfahren verbunden mit der Herabmindcrung Charakt-erist.iach für &!Je Symbolisten ist jedoch, da.13 sie dioee Eman:r.ipa-
des obraz poela vom Seher-Dichter zum „Handwerker"'"° und „Spicler" 1tl tion au& der spekulativen Affirmation nicht wie die Futuristen rodikal ver-
veriMerlicht noch stäcker als die romantische Ironie die &nalytische wirklichten. sondern weiterhin in jener kaznevalisohen Ambivalen:i verharrten,
dio auch in ihren Scheri.bünden - so in Vj. Iv&nova „Affenhaus"'" -
Reflexion in der Komposition selbst. heJT11Chte. Belyja halbernster Irrationalismus, der durohau& nicht.a mit dem
Im Gegensatz zur Remotivation dieses A.stholismus zum Ästhetizis- cind,mcnaionalen Antirationalismu& etwa. eines L. Seatov zu tun hat, rcdu-
m\18, der von soinen Gegnern mit Recht als ideologische Position (l'art ziert die gnoeeologische Kriae auf ein Spiel mit Worten.
pour l'art) bekämpft wurde, vermeidet die artistische Poetik die psycho-
logische Aufhebung der ii.sthetiachen Immanenz in einer „ästhetizisti-
scben" Haltung und einer mit ihr verbundenen Selbstdeutung des Dich- 111 Eine der wesentlichen WW'Z6ln der Gegenstandaloeigkeit in dor
ters als „Entrückter" oder „Entfremdeter". Diese von den Symbolisten -Poesie Rußland& ist zweifellos die Tradition der „reinen Lyrik" (liala.ja
lirika) v. a. Fots im 10. Jh., die in ofi skand.alisiorendor Opposition tll don
dominieronden Formen der engagierten, thematischen „angewandten Lyrik"
m TYNJANOV. Problem& stiohotvornogo jazyko, 87f. (Darstellung der
(prikladnaja lirika) sto.nd (vsl. dazu A. Fr.r, Veoornie ogni. Vorwort, 3 f. über
die „Nut.dosigkeit" dee lynechen Schaffens ang88icht8 der vorhe=hendon
eymboliatiachon Poetik &us der SicM der Verstheorie des FII). graldanakaja poezija). Im Zusammenhang mit einer eing_ehenden Analyeo
,,. Br~ul!Ov hat - wohl am stärksten unter den Symbolisuin - den der Poetik A. Fots vortritt V. So.i.ov'11:v, 0 liri~cekoj pooi1i, 2.llif. eine ver-
handwerklich-techniaohen Aspekt der (Vers-)Kunst.hervorgehoben; man denke wandte Auffassung, v. a. wenn er die „lyrischen Gefilhle" (244) als „wortloe
z. D. an acincn AufMtz „Poetologie" (1913) und seine Tiitigkeit in dem und ~nstruldsloe" bezeichnet. Vgl. dazu Koo&i., 37 f. zur „ironisoben Rich-
von ihm geleiteten Stutlija sticlwtvorenija (seit 1918) in Moskau und dem von tung ' des russischen Symbolillrnus und ihrem Zusammenhang mit der von
ihm gegründeten VyaMj liuratu,nw,.ch11dof.utmnnyj i11.uitut (1921-25), Julea Laforgue in Frankreich o.usgclöeten Richtung (82); dazu auoh FB.IED•
aus dem der SbomiJt „Problemy pootiki" (M.-L. 1026) hervorgegMgen ist
(vgl. dort v. a. dio programm&tiache Einleitung BrjW10va). V$!. weiters vl·.
lvANov, Po zve7.da.m. Stat'i i aforizmy, SPb., 1009, 220ff. (Kapitol: 0 relll08 e
BJOH, op. cit., 30ff. (,.Entromant.is1erung").
11• Vgl. dazu A. StoNn<SXIJ, A. Blok i Vl. Solov'ev, 267ff.
'" Zur erotischen Verfromdung v~I. unten, 162f.
1 umnom v-lii. Chudo1nik remeslennik). 111 It.'JA CRuznmv, Rull6k&ja poozaja v 1018-1923, 31 ff. roßoktiert dfo
'" Vgl. I. iu.-mwsKJJ, I. 193: .,Dor Aathotiamus (uttti:111) selbst. kann frühe fonnaliatischo Einachiit1.ung dee Sr.mboliemus und die in ihm wa.ch-
freilich kaum als Weltanschauung im phil080phischen Sinn bezeichnet aonde Bedeutung der Entblößungstoohniken v. a. auf thematiaohem Gebiot
werden." Zu don Ana.Jo~en z"'-ischen formalistillohom Reduk1.ionismus und (obna.uni• ttmy, 32).
dem Asthet111mua P. V&lerya vgl. Wotr-Du:TJCR STK>O'>:L, Zur fonnalisti- •• C. Tsc11öPL, Vjo6e61av Jvanov. Dichtung und Dichtungstheorie.
schon Theorie der pootischon Sprache. Toxto II, XVUJf. und X.XV. Vgl. MUnchen 1068.
duzu auch H. FltrBDRIOR, op. cit.., 164/IS.
58 Fonnnlistischo Aspekte dor symboli8t1echc11 Poouk

Alle bisher skizzierten Rea.liaierungen des V-Prinzips sind in seltener


Vollkommenheit im dramatischen Werk A. Bloks - am kl&ISten wohl
in seinem Stück Balaganlälc - konzentriert: Die Verfahren der szeni-
~chen Verfremdung (in der Tradition der thea.tralischen Ironie Tieck-
scher P1-ägung) umfa.'ISen die narrativen V-Verfahren (V-Sujet, V-Per-
apcktivik etc.) ebenso wie die auf der Wortebene stattfindenden scmon- IU. FORMALISMUS UND BlLDENDE AVANTOARDEKU NST
DER ZEHNER JAHRE
tischcn Verschiebungen, Semasiologisicrungen etc. Darüber hinaus <lo-
morn1tricrt das Stiick &ua{/a11lil.: 127 szenisch jene oben erwähnte Kome- 1. DAS NBOll: SYSTEM DER KuNSTFORMEN
vali~illrllng des „hohen", mysti~chen, eschatologischen Symboli.~mus in
rler Parodie einer spiritistischen S6onoe, die sich in eino Clownerie auf- Nicht nur die pral..--tischen, auch die methodischen Bez.ichungcn
löst. In dieser K&ruevalisierung (im Sinne Ba.chtins) werden die gen&nn- z"isohen den Kunstformen (Malerei, Musik, Poesie, T1mz eto.) veran-
ten konstruktiven und szeuisehon V-Vorfahren existenzialisiert bzw. dio dern sich von Epoche zu Epoche und bilden - über das jeweils domi-
existenzielle Haltung künstlerisch und methodisch roolisiort - ein Pro- nante Genresystem jeder Kun.stfonn hinaus - ein Ubergcordnctes
zeß, der sich noch klorer om poet.isohen Werk der Formalii;ten System, in dem jede Kunstform in funktionaler Abhängigkeit von der
selbst ablesen läßt: Im „portrait de l'artiate en saJtimbauquo" (STA- „nächstliegP.nden" steht. Für dio weitere Darstellung der methodischen
ROBl!!SKJ)U8 sind nicht nur die letzten Auslii.ufcr der einst öffentlichen .,Wurzeln" der form&!istischcn V-Theorie ist cüe Erkenntnis von ent-
karnevalistischen \Velt-0rdnung literarisiert, sondern aueh dB.~ produk- scheidender Bedeut1mg, daß die don Formalismus mitzeugende kubo-
ti,·ste Bild der Selb,treßexion des Avantgardekilnstlors per:;oniffaiort. futuristische Poetik in tiefer Abhängigkeit und methodischer Analogie
Die fnturistiRchcn Selbstinszenierungen (l'tfajakovskijs, KruccnychR, zu den revolutionären Veränderungen in der bildenden Avantgardekunst,
LivAics u. a.) nehmen hier ebenso ihren Anfang wie Mejerchol'ds im d. h. im weiteren Sinn der „Raumkünate", 1:xl steht. Im GegcnsMz zu
Symbolismus wun:elnde Theatralik, die auf dem Umweg über ihre jenem System der Kunstformen, das bis in den Symbolismus hinein-
Ut ilit.orisierung in der Oramaturgie S. Tret'jakovs und des späteren wirkte, stellt die Dominanz der Raumkünst.e (insbes. der l\falerei 1) im
:'tlajakovskij Bert Brechui Konzeption der V-Dramaturgie tief bocin- neuon System durchaus kein hierarchisch-wertend es Abhängigkeits-
ßußt hat1". verhältnis zwischen den Kunstformen her. sondern wirkt strukturell
auf dll8 konstruktive Prinzip der Kunstformen und Genres.
"' A. BLeK, Balagandik. In: Teatr. Pb. 1018. Noch 1910 ontwickolt Belyj in der Tradition dor romMtischon idoo.li.eti-
ug J. STAROBINSKJ, Portrait de l'art,st.e en &&!tunbtvtqu('. Paris 1070. echen A.ethetik eine hiorarchiache Detorminatioru1roihe dor Kunstformen m,
,.. Blok tritt in „Balagn.ncik" als „Autor" auf die &ono und kritieiort die deduktiv - auegohond von der Musik - und in ontologischer Entepro-
den bisherigen Verlauf der Inszenierung, die seinem e~1on Stück zuwider• chung zur hierarchischen Weltordnun!! jeweils einer Scinaobcne entsprochen,
laufo {Balaganc1k, 3/4). Mehrere widen,prllobliche loterpretauonon sind im d. h. den dort herreohonden Abatrn.ktionsgrad rea.Jisienin. In nll diOl!Cn idea-
Sr.üok gleichzeitig prWl(!nt: 1. dio Interpretation der Handlung aus myati&Ch- listisch-platoniaohon Kunsthierarchien steht selbstverständlich die ll1u•ik m
oschatologischer StcM; 2. die Int.erpretation deft Mediums 11l9 C.,lumbano an der Spitze der Kunst.formon, da ihre „abstrakte" Natur am ehesten irn-
(- Karnevalisiorung der 1. Intcrpretetion); 3. die „realisti.ac!u," Intor- stando zu sein aoheint, daiJ „Geistige" zu erfaseen. Jeder Soinsebene ent-
protation des auf der Swno auftretond.en Autors und 4. die Interpretation spricht - je nach dem Orad ihrer Abetrnktheit- eine KuN!tferrn: Je weni-
d('6 St.i1ckes als .,allogoriachos Spiol mit Wörtern" (Balage.i1~1k, 4), nJs „ont-
ger dioso a.uf materielle Faktoren ange";eson ist und je Atärker aie durch
wickolt<) Metapher" (da,.u vgl. unten, 137 f.). Alle dü,ee lntorprotalionol\ sind ihre Konstruktion eelbsi wirkt, umao eher kann oie das Abetrokte vermiltoln.
durch auftretende Personen 51,eni&Ch verkörpert w1d gleichzeitig duroh die Eben diese Unabhängigkeit priidostiniert die Musik - llllCh der Mei-
Kooxuitenz ihres Auftretens auch ontblößt und verfremdet. nung Belyjs (Sim,..xirm. 178) - :tu dieeer Führerrolle.
Im selben Jahr (1910) betont auch K&ndinskij in seiner Schrift Ooor
d,u Gwiaiige in d• KuMI die Domin8.DZ der MUBlk in der Abstrakt.iona-
hierarohie, wobei er obenao wio Bolyj in den neoplatonischen Kategorien
Rudolf Steiners, aber auch Schol'9nhauon und NietUlches denkt. Entspro-
chr.md der platonisohen Emanat,onslchro, die Belyj ouf vielfältige Weise
pootiaoh vero.rbeitot hat, redupliziert dio symbolische Ordnung eino onto-

1• Vgl. ~- CHARl>ÜEV, Majakovskij i tivop~•. 337f.; V. MA1tKOV,


Russian Futurism, 2ff.; B. Lrvho, 'Polutoragla.zyi atreloo, L. 1933, 17 lf.
. m Vgl. dazu sehr ausführlich und konapekt1v M. KAOAN, Morfologija
~tva. Istorike-teoretiooekoe iseledovanie vnutrennego stroenija mara
111ku.s3tv. L. 1972.
"'V. Jv.rnov, Simvoliz.m, kak miropou.imanie. In: Lit.eraturnye ma11l-
felfty J, 30/t (.,Pas Symbol ... ist immer musikalisch ...").
60 Formolismue und bildende Avantgardekunst dor zelmer Jahro Impre88ioniemus 61

logische St,ufung, die vom Abeoluten her mit geistigor „Enorgio" gespeist Substrate, in denen eino Kunstform realisiert ist) im Vordergrund stand,
wird, Daher k&nn auoh ein und dieselbe energetische Qualität nuf jeder strebte das nachfolgende ästhetische System der Avantgarde der JOer
Seinsebene nnders repräsentiert, werden, ein Grundsatz, der •ich - freilich Jahro nach struktlll'ellen, d. h. methodischen Analogien, nach der Über-
atnrk aälrulorisierl - im aymbolistisch-romontischen Synkretismus erhalten
hat. der von der Identitiit der dare;eatollt.in Objekte außerhalb der jeweiligen tragung von konstruktiven Prinzipien aus einer Kunstform in dfo andere.
poetischen, maleriachen oder mlll!ikalisohen Realisierung ausgebt. Die onto- Das neuo System der Kunstformen zeichnet sich also durch eine stark
logische Hie.rarahie des Objektiven determiniert somit die Beziehung dor konstruktiv-methodische Orientierung aus, die ihren Ausgang eindeutig
Kunstformen zueinander. von der „modernen Malert>i", d. h. den Entwicklungen seit dem Impres-
Neu in der romantisch-symbolistischen Ästhetik ist aber das sioniamus genommen h11tte.
Prinzip der Simulation einer Kunstform durah die andere, clie eben auf
der Voraussetzung einer Idontität des (dargestellten) Gegenst.lmdes 2. lllPRESSIONISMUS ALS REKONSTRUKTION DES VORRATIONALBN
(Themas) beruht: Die Malerei simuliert Qualitäten, die nur der Literatur WAllRNEfil!UNGSPROZESSES
strukturell eigen sind, die Literawr simuliert ihrerseits rein mtL~ika- Ausgangspunkt aller weiteren methodischen Konvergenzen zwi-
lischc Faktoren (1nuzylcai'M81', instrumentovka etc.) und so fort. Indem schen llfalerei (bzw. bildender Kunst) und Literatur bildet die psy-
so jede Kunstform ihre genuinen Strukturqualitäten transzendiert, chologisch orientierte Wa.hrnehmwigsästhetik des Neo-Impressionismus,
nimmt sie auch teil an jenem Ausdruckssystem, das ihr über- bzw. die in vieler Hinsicht die sensualistische llaais des frühen Formalismlll!
untergeordnet ist: Es handelt sich da.bei auf der Ebene der Kun8tformen mitbestimmte. Dies gilt v. a. für die formalistischen Kategorien des
um denselben Akt der Ersetzung wie auf der Ebene der immanenten Neu-Sehens, der Sensibilisierung des zivilisationsmliden Großstadt-
Einzelverfahren um die Ersetizung von denotativen semantischen Ele- menschen und der autonomen Selbsterfüllung der Kunst als vita.ler1u
menten durch suggestiv-musikalische.
Das romantische Prinzip der Entg,..nzung der KwJStformen im
Rahmen eines alle einschließenden Gesa.mtkull.$twerkes (das llOmit auch m N. KUL'snr, Svobodnoe iakusstvo k&k 08IlOva iizni, 15--22 betont die
neoimpresaioniatische und yjta.li8~i11Che Seite des frühen Futurismus. Kul'bin
den gesamten Kosmos repräsentieren würde) len.b.-t - gerade durch die atollt einen Zusrunmenhang her zwischen der bewußtlosen Automa.tjsiort-
lrethode der Ubortre.gung - die Aufmerksamkeit auf die Gron.zen heit des Lebens und der Reizlosigkeit der Symmetrie, der KollilOntw.Z -
zwischen den verschiedenen Medien bzw. zwischen den Genres. Die und umgekehrt zwischen Belebung und Dissonanz, eino Auff8.88un~, die star-
Entgrenzung der Medien, d. h. eine totale Grenzenlosigkeit b1.w. Mi- ken Einfluß aufKul'bins Schüler Sklovskij ausgeübt, hat. Der „Befren.u,gsakt"
der Kunst, bewirkt gleioherm&ßcn eine vitale. existenzielle, eeosuelle Erlö-
schung, war aber keineswegs das Ziel dieses Schrittes - sondern im sung aus der Konventionalität des „Regelmiißigen": ,.Diase Theorie des
Gegenteil: Erst im verfremdenden Akt der Entgrenzung kann dio klinst.lerischen Schaffens ist der Sohlüsael zum Oltiok, denn die Kunst ist
!ltrukturelle Id1mtität der llfed.ien bzw. der Genrekonstruktion zum Glück ... sie schiirft das Sehen (oboatrjae4 %1'enie)." (20).
Gegenstand der Wa.hmeh.mung werden. Das Transxendieren der Medien Sowohl in der Literatur als aueb in der bildenden Kunst gab ee in der
russischen Ku!Lur der lOer Jahre eine spezifische Form von vitalistischem
führt nicht zu ihrer Liquidierung, sondern zu jenem permanenten Oszil- ,.Kosmiamua", der so heterogene „Schulen" wie die der Symbolisteu (v. a..
Jationszust&nd, der jenem der Form-Reflexion in der romantischen Ironie. die Poetik BELYJS), der impreeaionistischen „Naivisten" bzw . .,Neoprimiti-
theorie entspricht. vistcn" (Guro, Nizen, Matju.sin, Kameoskij eto.), die Kuba-Futuristen (v. a.
Die v. a. an Sohopenhauer geschulte Kunstphilosophie Bolyjs $et-zt die Oileja-Gruppo). aber auch das Frühwerk von Past,ernak, der Aohmatova,
der Serapionsbrüder etc. miteinander verbindet,. Als gemeinsamer Nenner
also voraus, daß jedo Kunstform einer anderen in bebtimmt.on Bei-eichen fungiert das Intoreese Bn der poetischen Wiedergabe einer reduz:iert,en, peri-
und in Hinblick auf bestimmte Objektordnungen „überlegen" sei und 11heren, vorrationalen Wel~icht, die in einer „harmoni.kalen", koemischen
daher auf diesem Gebiet „na.chgea.hmt" werden müsse, um die höchst.i Asthetik vorwiasensohnftliobor Prägung ihr tbeoretisohea .Äquivalent findet
Ausdrucksintensitöt für den intendierten Gegenstand zu erreichen. In und jo nach Bedarf philosophisch begründet wurde (man denke etwa Wl die
gememsamen theosophischen W111"2Cln Belyjs, Ohlebnikovs, Kandinskijs u. a. ).
der artistischen Linie des Symbolismus ist dieses nnohahmendo Ubor- Einor der bedoutcndstcn Theoretiker dieser Bktualisiorten „hatmoni-
groifen in der Theorie der Synästhesie auf eine psychologische Basis kalen, kosmischen" Ästhetik war Michail Mat,ju!in, dessen pädagogische
reduziert worden, d. h. die Kunstformen stehen nicht mehr in einer Ttit;gkeit - ähnlich wie jene Kandinekijs und Malovics - oinen tiefen Ein-
ontologischen Hierarchie, sondern rcpräsontieren auf einer Ebene die fluß auf die zeit,genössische Kun.st(tboorio) ausgeübt hat und der ein weeent-
liches Korrektiv zum Konstruktivismus und Urbanismus der späroren Kubo-
jeweiligen angesprochenen sensuellen und intellektuellen Fähigkeiten Futurisien danitellt. Vgl. dazu: John E. BoWLr, Tho „Union of Youth".
des Menschen. Diese ,,Entideologisierung" des Systems der Kunst- In: Russian Modornisro. Culturo and tho Avrutt-Ga.rde, 1900-1030. Ithaoo.
formen gab erst den Blick frei für jene Beziehungen zwischen den Kunst- and London, 1976, 165ft'. Weeentlich v. a. der Hinweis auf die gesamtkünst-
formen, die nicht vom „objektiven Stellenwert" des Da.rgß'ltclltcn, lorieche Konzeption dee Malor-Dioht.ore Matjusin, seioan „Synthotismus",
sondern von den immanenten konstruktiven Aufgaben jeder einzolnen der eine metbo<liache Symbioae der verschiedenen Kunatformen anstrebte,
was ihn auch mit den Auff8.88ungen N. Kul'bins und Vl. Markovs vorband.
reguliert werden. Während im symbolistischen Modell die matoriello Wie dieeer auobt.o auoh Ma.tju!in ns.ch den konstitutiven lietbetischen Vel'-
Analogie Z\\'isahen zwei Kunstformen (d. h. die Analogie der materiellen fahren und Effekten, die mit den elementaren Ordnungen des Koemos in
Impl'088ionismus 03
02 Formalismus und bildende Avantgardokunst der zehner Jahre
die (zu.
das Kontex te bzw. Ges~~t en in_ ihre konstru ktiven Elemen te und
bzw. revitali sierend er Befreiu ngsakt. D&11 Kunstw erk soll nicht nehmen d) perspektlVlsch nicht mehr motivie rte Prii..'18n tation diPser
iorte Endres ultat des Wahr-
ratioua.l überarb eitete und konven tionalia ndteile " des W'a!tm ~hmun gskonti nuums in einer Anordn ung,
jener ,.Besta
nehmun gsproze sscs darstell en, sondern so konzip iert sein, daß ständig en, d. h. dopsy-
sprozeß , den der Betrac hter bei der Rezept ion des Kunst- deren ~~ont.age-&~el~ SJcb UDmcr mehr verselb t der
Wahme hmung chologis1ort, demoti viert werden ; was schließlich 3. zum Postula
das
werks durchlä uft, jenen Wahrne hmung sprozeß wiederh olt, den Entgegen.~tändlichung und damit zur abstrak ten Kunst führt.
struktu rell rcprii$e nticrt: In beiden Fällen ist die
Kunstw erk (Bild) selbst der
:\lethod c der Wahrn ehmun g gleich Gogen! !tand der Wahrn ehmun g. . DBS Pos~ulat _der Unmittelb~rkeit weist über den Nnturahemua, dßratell en
Diese Method e bestchi darin, alle Eindrü cke (improssions) in ihrer iucht th~tis ch 1dentifiz1erte Dmgo, aondorn ihre Eindrllcko Jh., Ruskins
TranR• wo~ro. _,ruruck zur Licht- und Land.eohaft.srnalerei des 17./18.
unmitte lbaren Frische noch vor ihrer rationa len und funktio nalen Detimtlon des „confused mode of execution" (1857) zeigt erstaunliche Po.r-
formati ou (A11,,w ahl, Neukom binatio n etc.) ,.abzuf angen" und assozia tiv
allelon zur Meth~ e der abstrak ten Kunst, aber auch desder frühen Formalunnus:
cksbild verfrem det jenes Bild, „Alle technisohe Macht der Malerei hängt von Wiedererlangung
zu montie ren. Dieses unmitte lbare Eindru man die Unschu ld des Auges nennen könnte. Es geht da.rum
. dooaon _ab, was
das wir uns aufgru nd unserer Erfahru ng, des Vorwissens, der konven •uf gleichsa.m ~dlich e Art dieae flaehen Farbfle cken als solche wahrz,meh:
Dingen gemac ht
tionollen psychologischen Kondit ionieru ng von den men, ohne s,ch ihre: Bedeut ung bewußt zu sem, eo wie der plötzlich sehend
ie- gewordene Blindo ihrer gewahr wurde. ",,.
haben. Die von Sklovsk ij im FI zum Prinzip erhobe ne „Entau tomatis houri-
rung der Wahrn ehmun g", die das Ziel jedes V-Effe kts ist, hat der Im. . In fast _wö:f,lioher Übereinstimmun~ vorbindet Sk!ovskij dieaes
nis- at18Che Y-Ptlllz1p dß8_ Neu-Sehens mit seiner V-Theono:
pressio nismus im wörtlic hen Sinn optisch realisie rt und erkennt „D10 Improsaiorusten _zeiclmcten die Dingo eo, als würden siu sio zum
die Scl1wcl le zur „große n Abstra ktion" es sich handelt
theoret isch wie ästheti sch bis an ersten Mal erblicken und mcht verstehen, um was f'ur Dinge kak ;6'.
Kandin skijs geführt . wid in ihnen nur Farbflecken sehen .. ," (9ia.ovsKIJ, Ki,1Mn41.ogroj
kuffluo, 2)
Das improoaionil!tiS<!he Bild präpari ert glo1chsa.m m einem „Quer- n,
schnitt '· jene Wahrnohmungspbase heraus, In der die Dinge so aufl.rete Damit stellt !§klovskij eine klare Verbin dung zwischen dem „nicht.
wie a10 ,,,virklichh, .,ala BOlcho'4. dem Au~e el'80heinen. k-
end auf erkenn enden Wahrn ehmen " als heurist ischem Prinzip und dem koruilru
Bei dJeecr Rekonstruktion atül2t aich dor Künstle r zw,ehm h"!' Far~- tiven V-Prinz ip der pcnphr aetisch en i?I08ka zanie-T cchnik und darübe r
Erkenn tnisse der. Wahrne hmunga peycho~ogie, der '!issel\l!Chaftlic
Ein•
theorie, der Optik, d. h. auf all Jene wlll80nl!Ohaftbohen Erkennl m88e, d10 hinaus der eujetlos on Montag e von alogischen, asyntak tischen
e8 bo- des Wahrne hmung s-
sich auf die Physiologie und Psycbologio dee Wahrnehmungaprol.089 drücke n her. Rus~in _hatte_ die Verselb ständig ung
uehon: n_oeh der :W:1rkl 1chkeit. ene.chah mung zugeor dnet, noch ist sie per-
teilo, aktes_
..Schon die Impro•ionisr.en zerlogr.en die Farbe in ihre Boaiand war nicht &pekti ~ch motme rt - aber sc~on so reduzie rt, daß das „reale
.Aqui-
wobei sie oich o.uf wiseeMChnflliche Empiri e ILUtzten. Dio Farbe B. eme Baumg ruppo) nur mohr oine unter
weiter dem EmpJindon der dargeetellton Natur unterta. n. Es iauchon Farb- v~lent der Darstel lung (z.
flecken auf, ja sogar chroma tieche (Farb-)A nordnun gnn, dio niohtAI kopieren, vielen Interpr etation smögli chkeite n ist.
(J.ucOBS ON, F.uuri:m, 2/3).
dio nicht von außen ans Bild angebu nden sind" Dio Motiva tion einer solchen Polyva lenz vorro.tionaler Eiudrü eke
ch für
Drei Postula te des Impree sionism us sind für die formali stische
V- in der Y-Poei tion des kindlic hen Bewuß tseins ist charak teristis
- auch
Theorie produk tiv geword en: 1. Auf der wahrne hmungs ä.stheti sohen ~lo _Ver~tor_ des ~sohen _litora rischen Impres sionism ua, der
cn soll; ber dem Symbo lismus
Seite das Postula t der Unmitt elbarke it, die ein Neu-Se hen bewil'k hierm. zeigt sich em wesent hoher Wande l gegenü
duk-
2. auf der VerfährenSl!eite das Prinzip der Dekom positio n vorgeg ebener - we1tgehond auf die Motiva tion durch pathog ene Bowuß tseinsro
tionen verzich tet hat.
Einklan g stehen und - im Ge~1U1&tz ,m den urbaniet iS<lb orientierte~ 1
~en voran Ele~a _Guro u, die auch oine hervorragende VertretKamen erin dea
onie, sondern der kosm•• -
Kubo-F uturime n - nicht dom Pnnz1p dor Disharm
hen Avantg arde 1md mn.Ier1Bchen Impreas,orusmus war, aber auch E. Nwm, B. Zajoev, V.
achen Harmonie gehorchen. Dieser Bereich der rw18Ü!O nden
seine kunstphilosophiS<!hen Grund.lagen bedUrfon noch einer eingebe
Analyae, die sich freilich im Rahme n dieser Darstel lung crllbrig i, dl\ ee eich
ch-weltanachau- "' Zitiert nach HoPHA.NN, Orundlagen, 65f.
hier (wie bei joder „harmonik.alcn" Asthetik) um ein iiathotie futuriat ischen V- , u, ~~ .,Impre&B1olllßlllus in Malerei und Literat ur" vgl. die
ausführ-
handelt , das nur sehr am Rande mit der ja rusake.ja
lichoo System
ihrer forma!U ltischen Theoret isierung zu tun hat. Vgl. dazu l!chen b1bhogr11p_hiscben Angaben in BELECK JJ u. a., Novejsa
.Ästheti k und
Vospom innnija M. V. hteratura, op. ~'~·• 77/8. Z~ ,,Impressionism us" 'rolstoj s vgl. MEJu:t-
weir.ers: M. V. MAT.ro llm, Ru.eakie kubo-fu turisty. skiJ, I. Pb. 1901; MARll:O V, Russian Futuris m
o avangßl 'da. Stockho lm 1976, 131 ff. mit ltOVSKIJ , TolstoJ 1 Dostoev
J\'[atjuiina. In: K istorü ru1111kog (v. zum Naivism us); TYNJAN OV, 0 Chlobnikove, 29i
(136f. Matju.§i!1 ~Ul' ,.orgn, 3ft'. uud_ 36ff. 11,.
einer ausflihrliclum Einleitu ng von N. ~tie v Elonn Ouro, die 1m Oegon• (..D~ Kind und der Wilde waren dBS neue poetisch e Gesicht ... Die neue,
nisch-naturhaften" Kunstauffassunlf &einer Frau fUr dna aus- ee!u' mfan,~•lo Sehwo ~ eTwiee aich als oino neuo Ordnun g der Worw und.
sotz zum ""6izm der Knbo-F utunste n steht. Dies gilt auch Charakt. eriat!58)1 Dtnge : •• _); vgl: W:C;tt-OMI u. a. IvANov-RAZtBCN1.JC, ,,Fut.ur
izm i „Vesö'"
0

e rnte~ der Ouro und MatjuAi ne an der ~usik. e Wcltaicl,t


geprägt
Astheti k war der Kampf gegen das konven tionell Schöne (fut~t •• In: Kmga, 1 revolJuc1{a 8/9 ( 1921 ), 2211'. (beton, dio nouc, kindlich
, 136/7 (zur Wahr-
filr diese digo" (!iiw), ursprün glich den Werken d~r E ena ~uro); GRO'oo v, Toorija romana
scher Antiäst hctiziam us) und für das „Loben ll\
en Roman , v, a. boi Tolstoj und Proust
nehmungMynam u11orun g im modern
,,Hcile", ..Gewachsene".),
Formalismus und bildende Avantgardekunst der zohnor Jahre Pnmitiviamus und Naiviamus 66
64

skij u. &, reproduzierten die kindliche Optik in einer bewußt naive~ ~prache, und dessen aiudija impreuioniatov konnongelornt und von hier die „opti-
deren deformierte Oro.mm&tik, verfremdete Semnnttk und 8BIIOZ1at1v-para- eche" Orientierung dee frühen Formalismus bezogen. (Vgl. v. a. Sw::x.ovsxr3,
ta.lctiacbe Syntax ome Brücke von der in der russischen naturol'naja lkola Tru'ja Jahrika, -t8f.) •n
praktizierten Technik dos Bewu.ßteoill88troms (v. a. L. Toletojs !) zur :own' •
Poetik dor Kubo-Futuristen echlugi,n. Eindeutig belegL diCB der l. Punkt 3. PRrnrrIVISMUS trND NAIVISMUS
doa berühmten futuristischen Manifeets Slot-o kak lakolJO<t: In Rußland hatten die primitivistischen Tendenzen der westeuro-
Wir fordern, daß in einem Augellblick (v mgnovcni-0 oln) geschrioboo
und "gesehen w"rdol (0-ng. Klal<lohon, Tanz, Niedorreißen plumpor päischen Kunstentwicklung deshalb eine viel tiefere Wirkung a.uf die
Oebii.udo, (sich) Vorgell80n, Verlernen (ra.zuäooni<>)."'" . . formalistische V-Theorie, weil sie hier unmittelb&r e.n jene archaischen
Dieee geuetiacho Rückführung dee konstruktiven V-Pnnz,p~ auf allen „primitiven Denkstrukturen" anschließen konnten, die außerhalb der
Rede- und Kompositioneebenen ist auch Sklovsloj bewußt goworden, 80 Stadtkultur - wenn auch peripher - noch reich erhalten waren.
v. 11,. in seiner Arbeit über die sujet1080 Montagetechnik Rozanove, die er
aus dem Prinzip der eemantiach,,n Verschiebung und dleees wiederum aW1 Der Neoprimitivismus v. a. in der bildenden Kunst realisiert jeno
dem dor perspeklivisohen Verschieb1mg herleitet (SKl,QvSJUJ, 0 ltorii prozy, oben im Zusammenhang mit Vesolovskijs Evolutionstheorie behandelten
178). Aktue.lisiorungsverfahren, die da.rin bestehen, archaische, unperspekti-
Der An&lyse (Dekomp0sition) von Fe.rb- und Liohteindrüoken in vische, asyntaktisch montierte und alogische Denk- und Darstellungs-
ihre Grundelemente auf der Leinwand entspricht die o.naloge Zerlegung formen einem urb&nen „Bildungspublikum" 1.u prwntieren. Diosor
dos Erlebniakontinuums bzw. der narrativen Fe.bei in kleinste Einheiten, primäre Effekt, der rein ästhetisch durch die bloße Verschiebung der
die in ihrer isolierten Betrachtung gegenstandslos sind und erst durch Denkstruktur wirkt, war aber durch ein int.ensives Studium der archai-
punktuelles Nebeneina.ndersetzen auf ein Sujet hinweisen. Dabei ergibt schen, naiven, folkloristischen Techniken nicht nur von den Künstlern
sich aber keine kause.le, emp1risch motivierbe.ro Soquenz, in der jedes selbst (Le.rionov, Gonce.rove., Kamenskij, Burljuk, Chlebnikov u. a.),
Element aufgrund seiner inneren Logik das nachfolgende 11Dd vorher- sondern auch wisseuschaf\lich von der in Rußland so traditiollJll'8iohen
gehende a.n sich bindet, sondern der Eindruck einer Simulte.neitii.t Folkloristik vertieft worden: Die Entdeckung der altrussisclten Kunst
gleichwertiger Elemente, die durch semantische Briloho scha.rf von- sowohl für die ästhetische Wa.hmehmung als auch für die kunsthisto-
einander abgcset?;t, distanziert sind. Die Elemente (konstruktiven Ein- rische Erforschung, die Neuwertung der by-zantinillohen und altmssi-
heiten) liegen also einerseita unter der Schwelle einer spe-..:ifischen Kon- schen Ikonen- und Freskerunalerei tat auch im Kunstunterricht e.n den
kretheit, die ihnen einen eigenständigen Aussagewert geben würde, Akademien, der Aufschwung der deskriptiven Folkloristik, deren ertrag-
anderseits sind sie sohr wohl imstande, in einer bestimmten Kombin&- reiche Expeditionen für viele Sludenten zukunftsweisend wurden (man
tion so gezielt auf die AssO'Zie.tionen des Rezipienten einzuwirken, daß denke nur e.n den jungen R. Jakobson, o.n P. Boge.tyrev, aber auch an
dieser selbst eine Bedeutungsfolge synthetisieren bzw. rekonstruieron Ka.ndinskijH0, der sich auch an volkskundlichen Exkursionen beteiligt
kann. In dieser Hinsirht treffen sich impressionistische Rezeptions- hatte) - all das hatte gleichzeitig mit dem künstlerischen Neoprimi-
ästhetik und symbolistische Suggcstionstheoric: In beiden Fä.llen voll- tivismus eine Hochblüte erlebt.
zieht sich die Synthese des GegeMtändlichen bzw. der intendierten Die Vertreutlioit mit folkloriatiaobem M„terial hißt sich nicht nur im
.,Stimmung" (l!Mtrotnie) nicht auf der Sujet.ebene als a.blesbat-es Fabel- ,vorl< der frühen Futuristen nachweisen, sondern auch in den eraton Arboi-
olcment, sondern erst in der Wo.hrnehmung des Rezipienten. ten der J<'ormehsten, die zunächst überhaupt nicht zwischen Folk.loro und
.,hoher" Kunst untorechoidon wollten. Auch die Künatler und Kunst-
Von dieser neoimpressionistischen P08ition ist nur mehr ein klemor historiker, die aich um die Zeitschrift Mir i.,1..-uutva scharten, waren e.n der
Schritt zur GogenBtaodalosigkeit, was M. Larionov in seinem „Luc,~m" auch Entdeckung der byzantinischen und oltrul!Sischen Kunst beteiligt., froilieh
theoretisch damit begründet, daß wir „den Gegenstand 11elbst rue sehen, mit anderen Z,olen als die primitiviatischo Avantgarde: Sie inteross1erten
aondem bloß eine Summo von Str&hlon, die unaer Auge erroichon", (I. M. sich v. a. für die ornamente.Jen Elemente der alten Kunst, die sich für die
ZDA.NJIVI(), 36f.) dekorativen Zweoko des Jugendstils auswerten ließen. Gerade dieser „Om&-
Je sponto.ner und unvoreingeno~ener „der Wah~eh.-n!ungsakt wird, mentallllIDus", der den attributivon, d,ononden Charakter der künatlenschon
um.eo düdl,iger_ und _unklarer der „Sochmhalt , umeo v1~lflilt1gor die ;!'ter•
pretationsm6ghcbko1ten (BOPMANN, 65). Steher bat der Junge SklovskiJ daa
Befroiungapatnoe dee „uouen kindlichen Sohena" im Kontakt mit Kul'bm"' finden, in dem Beiträge von S. Sudejkin, N. N. Evreinov und S. Qorodockij
11bgedruokt sind.
m B. PA.8T8ni<AK, Öernyj pokal. In: Vtoroj abornik Ceotrifugi, 1916,
und ihrem Zusammenhang mit dar modomon Malerei: in diesem Sinn aind 39-44 (zum lmpl"0811iooismus).
auch Belyj und Pic8880 zwei vergleichbare Größen). KA.'<1>L'<BKU, Tekst "" Theorell8Che Schriften zum Neoimpressionismus: SEVÖENXO, Noo-
chudo¾.nika, 10, beaahreibt don hnlbbewußtcn Zustand dos kindlichen Seh~s primitivizm. M. 1913: V. MARKOV, lskusstvo negrov. SPb. 19l9; dera.,
als Vorstufe zur Abstrakt.Ion ähnlich w,e Balyj in seinem Roman „Kohk Principy tvoroestva. SPb. J914. Zur Ikonenmalerei vgl. A. Grulic,a<KO,
Letaev" (dazu unten, l68f.). 0 ikone kak fivopi8', 191?: dere.. 0 svjo.zach rusakoj fivopisi a Vizantioj i
n• Zitiert. nach: Literaturnye manifesty I, IS3 ff. Zapadom. M. 1913; ders., Ru8"kaja ikona kak iskusstvo iivopi&i. Kak i
'" Die Atmosphäre um Kul'bin läßt sich aohr intensiv in dem Sammel- po&,mu podosli my k ruaskoj ikono. In: Voproey i!.ivopiai. Vyp. lll.
band „Kul'bin. Izdnnie obMeetva lntimnogo teatra" (SPb. 19L2) nachomp• , .. KANDl'N9KlJ, Tekat chudot.nika, 21/2.
66 Formalismus und bildende Avantgardckun.et der zehner Jahre Primitivismus und Naivismus 67

Technik als „Kunsthandwerk" kultiviorro, orsohion den jungen Primitivi- Diese Befreiung aus dem utilitären Kontext und der mit ihm ver.
s~n nls Irrweg. Sohr klar läßt eich dicae Auseinandenietzung in D. Bur- bundenen konventionellen Sehweise bewegt die frühen Futuriisten auch
lJ1tks Schrift GoldjaMio ,Bonua' , fl01/0<! ru88k0<> nocional'no, ;,km•lvo
(11 f.) orkonnon, in der - freilich Htark polemisch - dom nn- dazu, AuBStellungcn von „Kinderkunst" zu organisieren und - po.r-
gesehonen Kunstkritiker Benois (und Re_pin selbst) ein völligos Mißvet'llte- a.llel dazu in darselbcn primär rnrfremdenden Absicht - von Kindern
hon dee Eiuflu- der Ikonen- und :F reskeruuaJerei (nach Burljuk der verfaßte Verse und Erzählungen zu publizieren. Gorade diese Publika,-
,.nation&len •rrodition" !) auf dio Modeme vorgeworfen wird. Burljuk be- tioncn dwnon.strieren die weitreichenden konstruktiven An11logien zwi-
•.oiclmet dieee Tmcfüiou (Fresko, Lubok, lkone) als einen dor drei Haupt-
faktoren der „Neuen Kwist", -zu donon er 1. das Leben aelbet (Vitnliamua) schen der Kindcrsproche und der in ihr wirkenden V-Pcrspekth·e und
und 2. den Westen, Paris als Hauptstadt der „Modeme", rechnet"'. der verfremdenden Semantik der zaumnil.-i'"·
Die schon aus dem Symbolli!mus st&l1llllende zivilisatioW1kritische Kru~euych selbst, aber auch Chlebnikov u. a. zaumnilci haben die
Motivation dor Kunst führten die Primit.ivisl-en in ihrer radikalen Verfahren der kinderspra,chlicl1cn oder aphatiscben Deformation der
Parteinahme für das „Land", für den „Süden" (Kauka.s113), für Eitotik Phonetik - darüber hinaus aber auch der gesamten grammatikalischen
Ordnung - in ihren zau'1l •Gediohten häufig eingesetzt und in ihre
0

und Orient und historisch für das „vorpetrinische Rußland" bewußt


weiter, ja sie gingen sogar so weit, die Uberlegenheit der Landkultur eigene „poetische Grammatik" als w-ntlichon Bestandteil integriert"•.
über die Stadtkultur zu behauptcnm. Vielfältig und formal wider- Nnch Mo.rkov ist das freie, kreativ-\ln!prüngliohe Scha.lT"n immer
sprüchlich sind die Bilder der Primitivisten, diti - wie v. a. Larionov - „Selbstkunst" (i.sh"1$tvo dlja aebja, ibid), für dio der Zul!Ohauer ein
in dieser Phase (1910/11) einen Stilpluralismus praldä:i:ierten, der es er- völlig nebensächliches Phänomen darstellt, wodurch auch allti auf
laubt, die wideniprüchlichsten formalen Progr8Jll.lllll verfremdend gegen- Illusionierung zielenden Intentionen und Verfahren hinfällig werden.
einander auszuspielen (ZDANBVIÖ, 34). Hier kommt eines der Grund- Mit dem Illusionsziel rückt aber auch da., subjektive Autor-Ich in den
prinzipien des „freien Schaffens" zur Geltung, das dem Künatler ab.'!Olnte Hintergrund 141.
Spontaneität gestattet - eine Freiheit, die Kandinskij zur selben Zeit Markovs Kategorie der Zufalls..qchönheit (braao!a alucaj1W8li: Prin-
(1910) in eine absolut informelle Darbietung radikal umsetzt (vgl. sein cipy 1wv,,go is/russtva) deckt sich mit dem westeuropäischen fauvisti-
.,Erstes abstraktes Aquarell", 1910). schen Programm, clAS schon 1906 dio Kunst als „Primli.rakt" der Un-
Jene Prfocipy novogo is!..-w.,tva, die der j1mge Maler Vla.dimir liarkov mittelbarkeit gemäß der „Eigengesetzlichkeit der Instinkthandlung"
in den Sammelbänden des Sojuz moloddi entwickelt, enthalten die a.uffaßt (HOFMANN, 260 ff.). Jene „Niohtkonstruktivität" (nek<>nSlruk-
Hauptthesen des Primitivismus und damit auch des frühen formalisti- tivn08l') des „Orients""' b1.w. der urzeitlioben und volkstümlichen
schen Vitalismus: Kunkt, die auch Markov der korn1trukti=t' des abendlii.ndischen klassi-
schen Kanons gegenüberstellt, verbindet den primären V-Effekt des
,,Es ist eo echön, wild zu sein, Ul'8prilnglich, sich als naives Kind zu Aleatorisch-Überrnschenden mit einem hedonistischen Vitalismu~. der
ruhlen, das sieb an der echimmernden Perle obonso erfreut wie an gliturnden
Steinchen, dem jene Werte, die mi~ ihnM verbunden WUl'den, fromd und die Kunst als „Lebensvollzug" begründet - ausgehend von einer Rcor-
gleichgültig erache1non." (Soju.: moloddi ll, 1912, 6) ganisa.tiou der Wahrnehmung:
Ju. Tynjanov bezeichnet in seinem Chlebnikov-Aufsatz „das Kind .,Die glückliche Menschheit wird über oino Rozoptur der Freude (recep•
und den Wilden" als „das neue poetische Gesicht", das auf einmal die lura radoali) verf"ugen ..." (AxRNov, Pi.l:04ao i o.l:ruln06li, § 10)
festen Normen von Metrum und Wort durchein&nderbrachte." (0 Chkh-
t1ikove, 289) 143
"' Zur Geschichte der primitivistiachen Pball& des Futurismus vgl. V. 1" A. KBuru<NYOH, SobBtvennye raseka1.y detllj (b.datel'stvo 41 °).
MAlUCO\', Rul!Sie.n Futuriem, 291T.; CliAllDZIEV, Turne Kubo-Futuriatov M.1923.
1913-14 und v. a. B. Lrvkrc, Polutoraglazij streloo. 11• Zum Spielcharakter der modernen Kunst vgl. V. MAllxov, Principy
Liviic btltont ,,. a. die nat.ional-slavophile Tradition des frühen Futu- novogo iskw1,1tv1>, 6: ,.DM Spiel macht una die direkte, utiht.tiro Bedeutung
rismus, die aich übrigens auch in der ,kaz-Prosa der sog. ,,Revolutionären der Dingo vergem,en ... Der Künstler spielt ... eben&O frei (mit den Dingen
Romantik" der 20or Jahre belogen läßt. und Formon - R.-L.) wio dß8 Kmd ..." Wio später Sldovsk1j das Prinzip
m I. ZDA-'<SVJf, Gonaarova, Larionov 18f., betont, daß dieoo beiden der Stufung und Bremsung (vj!I. unten, 87f.) begründet auch Markov die
Kün.•Uer als erste die Verbindung zwischen „hoher" Kunst und Folklore ästhetische Selbetwerti11kc1t im Urbedürfnis des Menschen, .,nicht zu gehen,
m Rußland hergestellt hätten, dall jedoch der frühe futuristische „ßArba.ris- 110n<IPm zu t.anMn, rucht zu IIJ)rochcn, sondern -zn singen" ( 17).
mus" sich weeenllich vom „Skythontum" dor Symbolisten untorechoide, '" Wie die frühen Formalisten etellt auch Markov die „Möghohkoit dn.11
das sich technisch auf den mo.lorisoben A.kademi.smu• Levickijs, Brjullova, wahrhaft.igen Ausdrucks <lcs ,Ich' in roinor Form" (.Principy novogo iskus-
Repim und Levit.ans BtiitrLt und in cnt.echoidcndom Oegenao.tt zu ihrem stv&, 9) in Abn,de, da i11 der SpontanoiUit des ursprünglichen Schaffensakte&
oruamcntoJen, glatton Fo.rbauftrag (rG11lekajul&.jaaja ras.l:raaka) steht. nicht die indi„iduellen Spezifika dor einmnligon Porsönliuhkeit aondern dio
" ' :10.NDlNSKIJ, tlber die Formfr,ige, 38 f.: .,Dß8 Prn.ktisoh-Zweckmäßige kollektiven Univeti<l\lia des Krcat.Jven zur Geltung kommen ( IJ ).
l8t dem J{jnd fremd, da oe jedes Ding mit ungewohnten Augen anschaut und "' V. V. IvANov, Strukt.11ro. et.icholvoronij11 Chlebnikov1> .Menja pro•
noch die ungetrübte Fähigkeit besitzt, daa Ding &la solches wahrzunehmen". noejnt na slonovych'.111: Trudy m (1967), 166-171.
68 Forma.lismua und bildende Avani;gardekunat der 2.0hnor Jahre PrimitivismUA und Naivismus 69

Der „Jugendkult" der frühfuturistischen Gileja-Gruppo vereinte out dem ständig Keuen, Unvorherge&ehenen wachgehalten wird. Diese
noch die ox:istenzieUe mit der konstruktiven Emanzipation, den vitnlcn sensibilisierende Funktion der ästhetisch verstandenen Primärakte des
mit dem ästhetischen Naiviemua in der karnevalischen „Theat.ralisicrung Erstauneng nimmt Sklovskij in seinem Erstlin~werk Predposylki
des Lebens" (tealralizacija :Eizni)l", deren Sänger noch vor 1,(ajakovskij futurizma (1916),u zur Grundlage für seine Theorie dor Ent.autome.ti-
Vasilij Kamenakij warm. sierung, die dann in den Aufsätzen hk!Wllvo kak priem (1917) und
.,FUrwahr - ich weiß: Er muß ein freies, weites, violechichtigee. T'oskrtlenie 81.ova (1919) die Funktion der Verfremdung definiert,
al.r$!1lendoe, foonhaftee Leben haben. Ein Loben - ein D1cht.erloben. Das „Ganze (Kwu,t-)Werke sind jetzt veratoincrt (okamom!i). die Werke
Leben oinos out Goechenken reieeuden Gott.ee ... Du Leben oin!'8 Schan- der Klassiker aind für uns mit einem gläsernen Panzer überzogen ..."
spielors des ,Selbstthoatera' (w.tr d+ja Hbja) b. In Evroinov. Und für d,_, (SJCLOVSK1', PredpoayUc.i /wuri::mt:J, 7)
ganze Theatralisierung des Lebens (uatraliwcija lwn.i) sind große Mittel
nötig ... " (V. KAMl!N8KL1, Ego-Moja biografija, 18) An!llog zur Auffäa.,ung dor Entautomatisicrung bei Vcselovskij und
.,Giiste der Krim I Seid erwacbeene Kinder. nehmt euch an den Händen, Pot.ebnja versteht äklovskij unter okamemnie ganz allgemein Abwesen-
geht zum Meer, in die Berge ... Freut euch. Lachet. Liebl .... da.s Wich, heit des Erlebens (otmu.,tvit pereii11,u1ija) und das alovotvorlutvo als
tigste: eTl!taun,l mehr, ~rataunt ilber jedes auf E~en herrach_ende.Wu~der, sprachliche Rückgewinnung der Erlcbnisfii.higkeit. In diesem Punkt
preist den f_re111chöpfenschen Elan (vol'notvo,uaL-u ra.i:macht), feiert J0no,
die vor Orellfarbigkeit trunkeu. Erwartet vom Erstaunen die Wiedergeburt herrscht völlig Übereinstimmung im eymbolistiscben, futu_rist1schen und
des Geistee .. ," (V. K..uml-rSKLI, 166) frühen formalistischen Programm:
„Die Wörter storbon, dio Welt bleibt ewig jung. Der Kümtler hal die
4. DAS PIIINU!' DKR ,,EliTAt1TOIILU'IllIIRUNO DJ:R W A.B.IINlll!lroNO" Welt. aufa neue goaehen - wie Adam - und gibt allem eeino No.men. Die
Die verfremdende „Dinglichkeit" (~:m1) des Futurismus - so- Lilie ist wunderschön, ober du Wort Lilie ist 8Cluocklich abl!egriffen und
,abgetrasen'. De.her nenne ich Lilie ,euy' - und die 11repriinghohe Reinh81t
wohl in ihrer grotesken wie auch in der abstrakten ästhetischen Reali- „
ist wiederhergestellt." ('KRUÖl!:NVCU, Delc1arocijo alotia, lo:ak talcovogo. 64) 1
sierung - ist im vitalistischen Senroaliamus der westeuropäischen Fau-
visten ebenso wie der russischen Primitivisten vorgebildet und weist Somit korrespondiert der „Wahrnehmungsverlust" durch Kon-
über den Futurismus hinaus auf die dadaistißohe und BUrrealiatische vcntionalisierung und Gewöhnung mit dem „Wirklichkeitsverlust" der
Montage von V-Objekten einerseits und die „neue Sachlichkeit" der „versteinerten, verknöchert,on" Sprache, die ihrerseits wieder 11ouf die
Konst.rnktivisten &nderseits (vgl. unten, 486f.)160. Wahrnehmung 1\utomatisierend zurückwirkt. Der vitalistische Impetus 1 „
Ungeachtet der Differenzen in Programm und Praxis verbindet den des frühen Futurismus und die Zivilisationakritik des späten Symbolis-
italienischen und rnssiscben Futurismus der IOer Jahre die Überzeugung, mus treffen in dor frühen V-Theorie Sklovskijs aufeinander:
daß es Aufgabe der Kunst sei, in Erstaunen zu versetzen, um dadurch „Route ist die alte Kunst tot, eine neue noch nicht geboren; tot sind
der Automatisierung der Wahrnehmung (avtomatizacija 1!0$prijalija) auch die Dinge, wir bobon das Gefühl für die Welt verloren ... Im alltäg-
lichen Leben sind wir nicht mehr Künstler, wir lieben une.en., Riiuser und
entgegenzuwirken. Kleider nicht mehr und trennen uns leicht von einem Leben, de.e wir nicht
,,Kümmern wir uns ... um die verhängnisvolle Abnützung durch die mehr empfinden. Nur dae Schaffen neuer Formen in der Kunst kann dem
Zeit, die nicht nur den Auadrucbwcrt eines Meisterwerks zerstört, aondem Jtfonachon du Erleben der Welt {p,trt!it'Clnio mira) zuriiokgowinnen, die
auch seine Fähigkeit, in Erat.aunen zu veraetzen ... Deshalb muß in der Dingo auforwecken (wabu·it' tdc!i) und don Poeaimismus töten." (SJU.ovsKu,
Sprnoho obgeechafft, werden, was sie an Bild-Klischees und farblOBCn Mota- VOfkrtlo11ie alot'O, J3)
phe_m entbli.lb, e.lao fä.st alles." (M:A.BJNETTr, 2) 111 • Der ,,Tod der Dinge" infolge des Verlustes ihrer „Bmpfindung",
Der Futurist kämpft um die „ volli!l;änd.ige Erneuerung der mensch- df.r „Unaufmerksamkeit den Dingen und dem Loben gegenüber"
lichen Sensibilität" (M.ulmli:Tl'I, op. cit., 119), die in der Konfrontation (JAKOBSON, Not-ejsaja ru.i!Bkaja p<>bija, 7) findet in der Sprache selbst
statt:
"' Zur Kritik an Evreinova „Thee.tralisierung des Lebens" vgl. unten,
364(.
1u Cbaral<toriatisch für den naivistiscb-arche.isUe.ohen Jugendkult des
frllhcn Gileja-Futurismus ist z.B. V. KamenBkija Gedicht „VOlllla v Krymu"
(111: Dovuiki boeikom, 62-M)-mit dem Refrain bud'ie dai, odor im eelben m Sx.LOvSK.U, Predposylki Cuturiuna. In: Oolos Uzni 18 {1915).
Sammelband da11 Gedicht „Serdoe dotekoc". Dieselbe Stimmung in D. Burl- ••• Zit. noch: Manifesty i programmy rueekich futuristov. Die von den
jul<S Gedicht „Ka:idyj molod., molod, molod ..." (in:Dochlaja luna, M. 1913, Futuriilton und frühen Pormalieten gegen die Sprache des Symbohsmu.e vor-
75) oder Cblebnikova „Semero" (ibid., 49ff.) etc. gebracht-On Vorwürfe decken aioh aucb te_rminologiach mit den Vorwürfen
110 CmueTUN KE.l.r.K&ER, Objet trouv6 und Surrealismus. Zur Payoho- dor Symbolisten gegen die vor ihnen kanonisierte LiteratuniprtlCbe. V. e..
logio der modernen Kunst. Reinbolc/Hamburg 1968. Vgl. auch: K,ut1'NSJOJ, KR11ÖF.NYCH, Novye puti slova, jeeyk budt.IB<!ogo smort' aimvolizmu, ibid.
Ego-moja biograßja, 1'80'. 64ff. kriLisiort die „Vorbegriffliobung" und „Entmannung" der symboli8ti-
u1 Manifeste dee italienischen Fut.urismua, :cit. nach: Der Futurismus. 8Chcn Sprache (vgl. auch L1vä1c, Polutore.gle.zyj stroloc, 139f.; V. 1tl.ARKOV,
Manifeete und Dokumenta einer kilnetleriachen Revolution. 1909-1918. Ruaeian futurism, 112f.).
Köln 1972. "' Vgl. dozu unten, 2150'.
T
70 Formalismus und bildende Av11ntgordekunst dor zelmer Johro Doa Verfromdw1gs-Prinzip der Nouhoit 71

.,Einst sagt,o moJL boi einer Begegnung zuoirumclor ,zdrawtuuj' - jotz~ wirken {J,fa1'ife;1ty, 68/70)158, wird im frllhen Formalismus zu einer irre-
Ißt das Wort, gestorben (umerlo "1000), und ,vir sogen zuoino.ndor ,<Ulte'." versiblen Determination des Lebens durch die Kunst, des Neuerlebens
(SnovsKIJ, Vo.,kresenie 6lova, 12/3)
durch die Verfremdung, die als wahrnehmungsästhetisohe Prämj!l.ie das
Diere futuriatil!ch-formalistische „Phil0$0phie der Veränderung"'"' Kunstwerk von „innen her" organisiert.
deckt sich voll mit Vosclovskijs ovolutioosimmnnentem V-Prinzip, das
Sklovskij in seinen frühon Schriften auf alle Wahrnehmungsakte aus- 5. DAS VERl1Rf!IITT>1TNGS-PRmZIP DER NEITTIBIT (1101.>izna)
dehnt,.., lTND DES EP.ATIERENDEN NORMBBUOHS IM FUTURISMUS
Die „wiedererkennende Wahrnehmung" entspricht, somit eiern Der im futuristischen Programm zentrale Begriff der „Neuncit"
„begrifflichen Denken" im Sinn det1 Symbolismus: Es lenkt affirmativ bzw. der „Erneuerung" (ol>novlenie) deckt sich mit der früheo, weiten
die Aufmerksamkeit auf die gleichbleibenden Eigenschaften der Woh1·- Auslegung des formalistischen V-Begriffs: Zn Recht stellt Aksenov in
nehmW1gsgegenstände und schafft damit eine Diste.112, zwischen den in seiner Pioasso-Studie (§ 21) die moderne Identifizierung von 11ovi:ma und
der unvermittelten Erfahrung des naiven Empfindens gewonnenen Ein- e81dwn,a.,f in die Tradition der manieristischen Ästhetik, clio gleiohfäll~
drücken und den vermittelten. das Künstlerische auf diese Weise negativ, tautologisch bestimmt. In
„WRl1rnehmungon, dio sich hä,ücn, werden alle mochRnÜ!iort: werden diesem Sinn ist die Kategorie der Neuheit, der Überraschung (tieoiidan-
d,e Gewmst.ände nicht wahrgenommen, müssen sie geglaubt \\erden (:prini- 1108t'), der Exzentrizität (<!ksce11tntnost•, vgl. AxsEN0V, § 16) ein roiner
maiuuta na veru), Dio l\folorei kämpft gegen cuo Aut,ornatisierthmL der
Wahmoh,nung, signRlisiert den Gegenet.nnd. Doch wonn dio kiinsllerischon Rolat,ionsbegrifT, der die Differenz zwischen Erwartung und Angebot,
}'ormen altern und sterben, mUsson auch eio gegl11ubt worden." (JAKODSON, Kontext und Text, Norm und Abweichung, Affirmation und Rebellion
Fu,uri•m, 3) beachroibt. Er ersetzt den Begriff des Schönen (tt.1$ Substanzbegriff)
So rückt die neue „Weltsioht", d8S frische .,\Veltempfinden" an ebenso wie den der „Idoonhaftigkcit" (idejn.ost'), d. h. oiner themr.tisoh-
die Stelle des ideologischen Begriffs der „Weltanschauung", die Kunst ioha!Uiohen Bestimmung der Kunstuo.
ist nicht weiter eine „Denkmethode", sondern vielmehr eine „Met.hode Somit definiert sich das Asthetisohe aus seiner normbrechcnden
zur Erneuerung der Wahrnehmb&rkeit der Welt", die wiederum nur Wirkung, ans der primären Verfremdung de.~ ,.Anmutigen, Heroischen,
durch dio Veränderung (Verfremdung) der Form gamnticrt wird (SKLov- Akademischen, Harmonischen, Symmetrischen etc." (CARLO CARRA,
SKD, 0 Majakov&kmn, 68)1 01. Krieu-Malerei, 1915, in: Der Futurismus, 237ff.). Der sy11ckrone Relatio-
Die künstlerische Wahrnehmung ist diejenige, .,bei weloho1· die nismus dieser V-Ästhetik beruht auf einem diachronett R-Olativismus:
Form wahrgenommen wird" (EJOHENBAtnr, Teorija, 125), diese Form- „Die neue Kunst machte Schluß mit statisohen Formen, mochte Schluß
wahrnehmung ist aber nicht ein „psychologischer Begriff", sondern mit dem lotzton Fetisch der St.ntik - dem Schönen ... Die Aufhobung der
konstituiert die Form als „etwas Konkret-Dynamisches, das bcreit.s an Statik, die Abschaffung des Absoluten - das ist das grundlegende Pl\thos
der nen()Jl Zeit ... Die negative Philosophie und die Tanks, das wisooOBChsft-
sioh - ohne jede Korrelation - inhaltlich ist" (ibirl.). Bier wird liehe Experiment und dio ,so,-depy', das Rol&tivitiit,rprinzip ui1d das fuLu-
der Zusammenhang zwischen der symbolistischen Kategorie der ristieche ,nioder!' I\OtRtöN',n die Gemüaogärtcn der alten Kultur. Die Ei11hnit
konkrctou Anschaulichkeit (vgl. oben obraz-Thcorio) und der futu- de,· Fronton ist ergt.aunlich." (JAKOBSON, Fuluri,m, 3)
ristisch-formalistischen Kategorie der „Selbstwertigkeit" der Form „In der KWlSt iat nllos "Konvention, und die Wahrheiten von gGstern
sind für uns heute lauLor LUgon" (Die futurislm/18 ~1akrei-'l'er.lmi&ch•.1
deutlich. Dabei kündigen sich schon in den Frühschriften Sklovskijs Mani/eal, l9l0, 40) - woraus folgt, daß nllo, die Neues geach11,ffen hoben,
wesentliche Akr.entverschiebungen gegenGbru- dem futuristischen Pr(l- „logiachorwt"ise zu ihrer Zeit Futuristen gowosen sind" (42). Die Neuheit
gramm an: Kruconychs Thcso, daß „ncuo \V'orte ein neues Sehen" bc- ~bt den Grad jener Differenzqualität an, die erst eine iisthetischo Wertung
,m Wahrnehmenden ermöglicht, in ihm durch Primiiroffekte provoziert.
Je weiter diese apophatische Definition des Ästhetischen gefa.ßt ist,
'" SKLOVSKlJ, 0 Maj&kovskom, 68. umso klarer wird auoh die Gleioh.eetzung von tioviz11a und oatrantnie,
1•• SKLOVSKlJ. Iskusstvo kak priem, in: Texte I, 11-lö; ders., Litora-
tura i kinematoir-af, 11/2; den., 'l'echnika p,satel'skogo remesla. 9f.; ders., 0
Mojakovskom, lllif, (Kunst ist koine Denlanetbodo, sondern eine Mothodo m Vgl. damit dio f88t wöM,liohe Übereinstimmung bei SK.LOvsxrJ,
zur Erneuerung de.r Wnhmehmbarkeit der Viclt). 0 poozii , zawnnorn jai.yke, l3ff'.
,., Auffällig ist, daß die frühen FormBlisten die Begriffe "\Veltauschnuung ,., Bezeichnend für di"60 Auffassung is~ D. 13urljuk.s Au.$fäll gegen die
uzw. ,vellsicbt wörUioh als optisoho V,'nhrnehmung auffaßten, da sie dns traditionelle Inhaltaäethe~ik in seiner pregrarmMtlßChon Stroit„chrifL
Neu-Sehon unter dem Aspekt des darst.ellendcn Künstlers und der allgo- ,.Galdjascie 'Denua'", 12 (., ... Es gibt keinen dofuuten ßegt"iff: Schönheit ...
rnoincn Sensitivität des krentiven Menschen BtLhon. Vs:I. dnz.u die nbfiilligen Es gibt nur einen einzi~on Weg: ,Gibt ee ein Streben nach Neuheit (no„i»1a) l'
Äußerungen von .Mtoovl<.DBV, Formnl'nyj metod, lH f., der bchnupteL, die ... Daß es notwendi~ 1st, mutig zu sein - sowohl im Suchen ols fl.llch in der
ForrnnlistC)R hätten die weltansohoulichen Aspekte der „Formen dc.s Sehens" Negation ... D1.1,ß es notwendig ist, Aut.oritliten zu fürchten ... Daß es
(/fl•rmy vüknija) durch dio bloß wahmohmungspsychologische Katogorio dor nötig ist, ]formen zu hassen, die in dar KW1St bis in un.i;ere Zeit existiert
trim~,• (optischo Wahrnehmborlccit) ersetzt (70f.). haben ... ".
72 Formalismue und bildende Avantga.rdokunst der zehner Jahre
T Das Verfremdungs-Prinzip der Neuheit 73

umso stärker aber auch der Kampf gegen die äst-hetizistische Isolierung ,.Ohrfeige dom öffentlichen Geschmack" (MABINETTI, Afani.fesl., 1900,
des .Asth.etischen bzw. der ii.sthetisohen Wahrnehmung vom iibergeord- 33) nicht als Körperverletzung, sondern a.ls ästhetische Provokation mit
neten Ziel der Sensibilißierung und Vitalisiorung des ganzen Menschen tto. dem Lachen zur Reflexion roizt163.
Der Antiästhetizismus der Futuristen und Formalisten richtet sich Neben der „instrumental" als Propaganda oingeeetzhm verfremdenden
also nicht gcgon dio Autonomie des !sthetischen, sondern gegen &,ine Verblüffung des Publikwtl8, h&t sich im Futurismus der Epn.tismua sowohl
Isolation"' und dogmatische Definition in absolut gesetzten Geschmacks- äatlietisch verselbständigt als auch als existenzielle Haltung vorinnorlicht:
Dio Bemalunii der Ge8iehter, die a.bsurde Kt\rnevalskleidung, die skandn.lisie,
regeln. Hierher gehört auch Kandinslrijs Verteidigung des „Häßlichen" renden Auftritte und Publikumsbeschimpfungen, ja eelbst dio Scblligercion
als „innere Schönheit", die prinzipiell die Normen der „äußeren Schön- mit der Polizei werden als ästhetischer Aktionismus ebenso sclbstwertig bis
heit", d. h. den konventionellen Geschmack, verlebzt: zum „bappening" im heutigen Sinn gesteigert oder in konventionellen
Jitorari8chen Genres als V-Position existen:<ia.Jiaiort und thematisiert.
.~ r Zuhör~r filhlt eioh ofi in, wirklichen Sinne beleidigt, da er wie ein
Tenwsball fortwährend über das Netz geschleudert wirtl, welches dio zwoi Die vielzitierte „gelbo Weste" Maja.kovskijs, Ka.menakijs Clown-
gegnerischen Parteien trennt: die Partei des äußeren Schönen und die kostüm, Da.vid Burljuks bema.ltes Gesicht, die Schminke, Zylinder und
des innorcn Schönen. Di- innere Schöne ist das Schöne, welches mit Ver- Lorgnetten - all das diente sowohl intra.nsitiv als vitaler Akt als auch
zicht auf dOB gewohnte Schöne aus befehlender innerer Notwendigkeit an. transit-iv als Demonstration einer neuen Kunstauffassung bzw. -wer-
gewendet wird," (KA.NDrnsxu, Über da., Gaiat~ in tkr Kunai, 48f.)
tung und damit der Aufhebung der Unmittelbarkeit des reinen Aktio-
Kandin.skij spricht hier freilich von einer „inneren Notwendigkeif', nismus 116' Dieser Widerspruch zwischen der Forderung nach spontaner
die mit dem konventionell Schönen (dem zeitgenö.">Sischen Geschmacks- Unmittelbarkeit und reflektierter Demonstration der ästhetischen Be-
urteil) brechen mußtet, sieht aber durchaus nicht in der bloßen Tatsache dingtheit (U8lovn.08t'), die mit dem Hintergrund der konventionellen
der Dissonanz schon das .Ästhetische konstituiert: Diese Differenz ist künstlerischen Ka.tegorien und Genres rechnet, tritt bei den Futuristen
wesentlich fü.r die im frühen Futurismus dominierende und auch im durchaus bewußt kraß hervor: So konnte die Publikumsbeschimpfung
Reduktionsmodell des FI kanonisierte Prä.sentation der reinen appcl- nur dort als „ästhetische Aktion" gewertet werden, wo das betroffene
lativcn Funktion als Kunstwerk: Publikum (nach dem en:;ten Schock) a.ufgrund seiner Vorbildung das
„Der Futurismus brachte fast keine neuen Verfahren dor Malerei hinzu wa.hre Ziel der Verfremdung (nämlich etwa. die k111SSische Inszenierung)
da er eich aU8giebig der kubistischen Methoden bodicote. Das iltt keine neu~ durohschaut und damit schon rela.t,iviort. Das „gebildete" Publikum
Mal-Schule! sondern ehe~ eine a~uo Asthotik. ~r Zugang selbst zum Bild, war schon so ,,sophistioated'', daß es in vielen Fällen duroha.us nicht belei-
zur ~slere,, zu.r Kunst. ändert steh. Der_ Futurtsm~ lief~rt Bild-~aungen
(kcirtany-lowng,), ~er1~~e Demonstrationen. In 1hrn gibt ea keine abge- digt die Schaustellung verließ, sondem im (legenteil den Auftritt als
standeneu, loerauskristaJhs,erten Kanones." (J.u:onso::-r, Fmurizm„ 3) theatralisch-i:i.sthetischcs Phänomen - gewürzt mit dem Reiz des
Das KUJ15twcrk als reine Demonstration seiner selbst kann entweder „Besserwi85Cns" - genoß. Auf eben diesen Roiz - und durchaus nicht
als nacktes V-Objekt (Kandinskijs „große ~listik") oder als Selbst- auf die plumpe „Beleidigung" - kam es aber den Futuristen a.n.
präsentation bzw. Vertlingliahung der eingesetv.ten Verfahren (Kan-
dinskijs „große Abstraktion") realisiert sein. Hier tritt - wie noch zu
zeigen sein wird - der frühe futuristische veAmzm in zwei für die forma.- m Der Kontl'Mt des futuristiechen Epatiem11e zur noch wie vor domi-
listische V-Theorie wesentlichen Tra.nsforma.tionen auf. Beide können nierenden „!iathetiscben Haltung", die de.r SymbolismllB goerägt hatte,
sowohl primär-komisch als auch seriös als erkenntnistheoretisches „Ex- mußte dom Publikum besonders ins Au!(& fallen. Zum symbolisttsohen Welt-
periment" motiviert werden, ebenso wie die epatierende ~ession, die empfinden gehörte auch der apokalypt180be Pessimismus und jene Endzeit•
stimmun~, die Kru~enych in seiner Sehrifi „Apokalipsis v russkoj li~ra-
turo" kritisiert und parodiert. Kruöenyoh wendet sich gogon den g)eioh-
na.migen Artikel Andrej Belyjs (geschrieben 1905, gedruckt tn: Lugzolenyj,
. •• A.tc&E_NOV, H _8 und 9, gegen die Grenze zwischen schönen und häß- M. 1910), Majakovsk:ijs Antisymbolismus richtet sich v. a. gegen daa typisch
ltohen_El'Sohcmungen tm Leben und gegen den Begriff dee Schönen überhaupt: symbolistische „Diohterbild" (obrazpoila), indem erden klassischen Besohei-
0

.,Es iob~-k~mo schönen Gege1tstiinde - ea gibt (nnr) die Kunai." denhoitet,opoe" und die konventionelle oaptatio benevolentiae vielfältig
. m <>=OVS_Ku,. Voakrelie.nie !lova, 9 w1d v. a .. Predposylki futuri?.ma: verfremdet u.nd durch &8$re118ive Selbstpropaganda. und Exhibitionismus
„Dto _Kunst, dto 6Ulgea-Ohlossen m AuBStelhmgcn, ,n k0$tbo.re Bücher und 81'9etzt (V. MARKOV, RuSB1an Futurism, 63f.: ,.immodesty Connulas"). Ein
sepn11ert vom Leben war, verwandelte sich in ein braves Spielwug mit dem tyJ:>iaches Beispiel für die futuristi.aobe Verfremdung des poetischen Biogra.-
man nicht epielon kann ... " ' phismus iet V. KAME.l:<SKIJ, Ego• moja biograllja velikogo (eic!) futurista. 7
"' Vgl. dazu die Thesen dor italienischen Futuristen: .,In der Kunst dnej predislovij. M. 1918. wo Selbstpropo.ganda. mit wilder Publikutnllbe-
ist nlh,a Konvention, und die Wahrheiten von gestern sind für uru, heute sohimpfung kombiniert ist (2~26).
laut.er ~ügen .... wor~us folgt,? daß alle, die Nouos gosche.ffon haben. logi- '" Die Relativierung der vitalen, sensuellen „Unmittelbarkeit" Im
sahcrwo,so zu thror Ze,t Futuristen gewesen smd" (Der Fuhu-ismus, 40 und ästhetischen Prowß war auch den l:"uturisten z. T. durcbe.ua bewußt, vgl.
«, vgl. auch ibid. CARLO CA.RB1, Die Deformation in der Malerei, 240ff.. besonders AKsENOV, § 29 (Kritik an der Spontaneität des Sohaffenaakooa
und än der fäuviatischen Geste der Paeudo-Formloeigkeit. ,.
nech dom 08 kein Kunstwerk ohne das deformiereude Element geben kann).
u l•'onno.lismus und bildendo AvanLgardoknsnt der :c.ehner Jahre Gegonsl.6ndsl08igkeit und Verdinglichung 75

Diceet1 nußerordonUiohe Interesse dor Futumton M den Reaktionen bzw. Legitimation scinee Tuns veran~vortlich wird. Zuletzt hatten clic
des Publilrnma, an den „Markti:e<!etzen" der Publioitym, an der polemischen Symbolisten dieses „Auf-sich-allein-Gostolltscin" als Folgo einer tiefen,
Au..,innnderectzung mit den Kritikern und KUMtthooreukcm orkwt sich neg&tiv interpretierten Entfremdung zwischen KUnstler und Go:;cll.
aus dem neuen wnhrnehmungsiiathetischen Bewußt.Jein der Avn.nti:srdo. die
clfts Publikum als das eigentliche „Instrument" ihre& Scl1&ffons erkannt hatte. sch&ft (Auftraggeber, Rezipient) als V-Position künstlen;;ch sublimiert.
Dahl"r auch daa den Formalisten durchaus verwandte lntcreMO an der llode, Die nachfolgenden Primitiviston, Abstrakten, Kubo-Futuristen, Kon-
die ja ebenfalls atLSSChfü1ßbch nROh dem Geoetz der „Automatisierung der struktivisten u. a. postulierten dagegen eben diese Auftrag,!lo-1igkeit e.ls
Wohmelununp:" evolulloniert und damit - atnrk vereinfacht - dos Modell Befreiung, &ls Aufforderung zum „Selbstauftrag", der freilich - um
der Kunstevolution darstellt. Modo und Kunst verbindet der Kampf um
dio Priroiireffekle, um die epntierende tlborruchung, um die Fithlbo.rkoit kommunilmtionsfähig zu werden - einer beständigen Selbstinterpreta-
d~r E'onn (oict,lirno•t' /orm11) '"· tion und theoretischen Vorinformation des Publikums und der Kritik
Diese karnovnliatu,ohe Crundhaltu,1g hat ihro Wirkung auf don jungen bedarf: .,D88 auftraglos entstandene Kunstwerk wendet sich auf d<-r
~klovak,j. den Kul'bin.., als Schüler förderte, gowill nicht verfehlt und stimmt Suche nach Rechtfort,igung an die Reflexion" {IIonuN~, 23), die Tnwr-
gleichzeiti(( jenen skandalistischen Crundton nn. der im Werk Sklovskijs,
aber Ruch der anderen Formalisten, 8tilbildend wun:le. pretation wird zu einom une.bdingb=, konstitutiven Bestandteil der
Auf einen -.eiteren ZW!ßmmenhang muß aber nooh hingewiesen werden: ästhetischen Kommunikation, da ohne sie die Bestimmung des inten-
Der karniwalistil!Che Aktionismus der Futuristen, der in der Tournee 1913/14 dierten Kontext.ca bzw. Wahrnehmungshintergrundes und damiL auch
8-0inl'n Höhepunkt erreichte, muß auoh in der Entwioklung der eumieoben clas Empfinden der Abweichung von Ihnen unmöglich wird. Damit wird
Verfremdung 1m A,·antgardetheater der 10er w1d 20er Jahre gesehen werden.
Marinetti postuliert als Aufgabe doe V&rietee 1" , .,ständig nouo Möglich- dE'.r Künstler eein eigener Kommentator, Prope.gator und „Motivnt,or".
k-,iten ~u oninnen, um die Zuschauer z.u achockieren" und dadurch „zum der ireinem Werk - gleichsam als „Gehrauchsanwoisung" - jcm.'
Schmelztiegel einer neuen Sensibilität zu werden". zum „Siedekessel allen Theoreme beigibt, die entweder dio Kommunlk&tion begleiten {otwa
Golr.chtora, der Verrenkungen und Grimaeeen" (Da. VaritU, 1013, 171). durch Vorworte, Vorträge, Analysen, Gespräche, Expositionen, Kritiken
Die „Sujetlosigkeit" des Varie«ls wurde als azernache Mont.igo für dM
„hohe Theater" gattungsbildond: In den futuristischen Kellerloke.lauft.ritten etc.) oder werkimmanent realisiert sind 1. als montierter V-KommtintM
(im berühmten Brodici&lio aobaka n. a.) darüber hinaw, zu einem kunst- oder 2. als konstruktives Prinzip, das sioh selbst zum Hauptgegen.~l&nd
eoziologischen Phlinomon. Auoh hierin sind die russischen Futuriawn dem der Präsentat-ion macht. Diese Asthotisierung oder gar kon.~truktive
7.ürcher C&bsrot „Voltaire" der Dadaisten zuvorgekommen'"· Verinnerliohnng der Interpretation führt im weiteren aber zu einer völ-
6. GEGl!'NSTANDSLOSIGKEIT (bupredmd008f') Ul'lD VERDINOLJC!rm.o
ligen Neuwertung der Beziehung von ä.sthetiseher Theorie und Pra:ocis
(ove.fäatvlenle) DI AllSTRAK'l!ION UND Rl!ALISTIK und stellt damit den analytisch-interpretativen Akt auf eine methodi-
sche Ebene mit dem synthetisch-kreativen Akt: Diese methodische
Die schrittweise Emanzip&t.ion dea neuzeitlichen Künstlers vom Durchdringung erreichte in der wechselweisen „Rückkoppelung" 7.\1 i-
ikonographischen Auftraggeber erfolgt in dem Ma.ße, als durch die gchen der ä.sthctisehen Praxis der lOer und 20er Jahre und der forma-
Säkularisierung des Asthetischen der Künatler selbst für die Motivation listischen Theorie eine historisch einmalige Intensität, die so tief wirkt,
da.ß eine isolierte Betrachtung beider genannter Bereiche unw~igerlich
"' V~l. dazu unten :Bj:oonstejus roßexologischea Programm, 353f. zu einer Vencrrung der synchronen kommunike.tiven Situa,tion führen
'" Die frühen Futuristen hatten ein feinea Oeaplir fur die Gefnhr, in
ihrem radikalen Ep&tismus und ihrer Kunst-Revolution dadurch rol11ti• muß"9 .
viert 7.l1 wArden, daß man sie als legifonon Bestandteil clor KU118ttradition
betrachtet und als bistorischo Epieode gleichsam „entschuldigt". wie dies
r.. T. K. Cukov"kij in erunon Futurismue-Artikeln tut. Vgl. dazu Km'BI!<, ,,. Zum Rückkoppeh1ng11pr0'.teß von wissonschaftltcher und künstleri-
Kubizm. In: Streloo I (1916), 214. wo er sogar Apollinaires Picaseo-Aufse.tz scher Modollbildung 1m iistliet1schen Prozeß vgl. unten, 1110(. So vcrsuohw
Bis historisohe Rechtfertigung kritisiert. Ntoht weniger abfällig äußert aioh z.B. M. Matju~;n (wio o.uoh Kandlnakij und Maleviö), die künstlrrisehc, Pra-
Kul'bin ~gen oino Relativierung des 0patisciachon Ernstca der Avantgßrdo. xis wisaenachsfUich-thooretisoh zu untermauern und päd8j!Ogiach "eiwr-
die auf eme Art Harlekinade reduziert wud (216). - Zur wahrnehmunl!"• zulleben: Auch hior ,.eigen lrioh deutliche Verbindungen zwischen dor bloß
ästhetischen Mooba.nik der Mode und der Publicity vgl. SJt.LOVBKIJ, SegodnJa. pnmiiren Senaibililliorung und einer daraus hervorgehenden Intelloktualisio-
In: Peterburg I, 1921; Ciu.Ju>mv, Turne Kubo-l!'utu.riotov, 36lff. und 410; rung der reftektiorten ..,Veltaioht" (vgl. dazu MATJu§u,, Kommentar z1t:
Axuxov, § 33 (Entautomatisierung und wkon povwrimooti); allgemein aus O knige Glo..a i Mooenf.e Du cubisme. ln: Soju7. molodof.i 3, 1913), oino,·
etrukturali.stischer Sicht R. BAllTHl!:S, Systeme de Ja mode. J?ana 1967. neuen Raumwshmohmung (K istorii russkogo svangarda, 132f.) auf dor
'" V~I. iizn' iskuestv& 406 (1920) und 273 (1919); Knitnyj ugol 8 (1922), Crundlo.ge eines 1W008 orvanilukoe miroolluJlen~. V~. dazu B01ne thooro•
38-41: S1<1.ov8XlJ, Trct'ja fabrika, <i8ff.; STRlllDT&ll, Einleitung. In: tiseho Arbeit „Opyt chudof.n,lca. novoj mery" (In: K 181.0rii ruaskogo avw,.
Texte I, XVf. gards, 159-187), wo er das Nousehon der Wirklichkeit durch den KunstlPr
'" Vgl. da.zu unten, 350f.. formabatuiohe Thoorie dor tbcatraltsohen und mit jenem des W188enachaftera gleichsetzt. Die noue Raumwahmohmung
azemachen Verfremdung. dos modomon KUnatlera widersprich& der o.utomatiaierlen Reu,ption d<'8
10 Eine fundiort<> vergleichende Studie zum Verhältnis zwisohon rW1Si• Alltagsmenechen (160) und eoincr Penpektivik: "Der Künstler bringt, drn
schem Futurismus und weeteuropiiiacbem Dadaismus steht noch aus, dn gowöhnlichen Leuten das Schon bei" (172), er enthüll& .,die innere Welt
in den bisherigen Daratcllungen entweder nur we oino odor nur die o.nclere allos Sichtbaren und verkörpert das. was das gewöhnliobo Auge mcht IJlcht ... "
Seito borileksichtigt wurde. (174). Vgl. dazu weit<1rs: Dotetvo i junos&' Kazimiro. M"1evi6a. Glavy 11.
76 Formoliemua und bildende AvAAt.gardekunet der zchnor Jahre Gegenat.anchl~igkeit und Verdinglichung 77

Der antimimetische I111ma1t1:1uimw des frühen fonnalfatiacheo R<,. bzw. der „gegonständlich-pmk tischen Welt" (41), in der das „Sein alR
und dem utilitären Prinzip der
dukt.io=odells g~ht auf den Bruch der Abstrakten mit der affirmativen 1m,kti!<Ohe Idee", verkörpert in Ratio
Nachahmungsiisthet ik zurück. Die „Unterwanderung der mimotisohen Okonomie, herrscht. Auch die Theoretiker des ÜPOJAZ interpretierten
Sprachmittel" (HOFMANN, 162) läßt sieh als latente Tendenz weit in die die „gcgenstondslose Sprache" der zaumniki als Negation der praktischen
Renei8811noo zurückverfolgen; donnooh war die Präsentation der ab8o- Mitteilungsfunktione n analog zu Malovics Oppoeition von „Suprematis-
luten ~,egens~ndslosigkei t in den ersten abstrakten Werken Kandinskijs, mus und Pragmatismus" 111 •
lfalovacs, Lanonovs u. a. uni daa Jahr 1910 ein Durchbruch mit oll den Malevil:a berühmte These, daß für den Maler die Rel\lität „nicht
Bcglciterscheinungo n einea entblößenden V-Akte11. in der Natur, sondern auf der Bildfläche "ist, entspricht genau der frühen
formalistischen Auffass~, daß „Bilder nie Fenster in eine andere Welt
..Im 20. Jahrhundert bricht dio Malerei das eral.e Mill kon11equent m,~
d~n Tenden.ze_n dee naive'! Roaliamua. Im 19. Jahrhundert ist das Bild an die sind, sondern Dinge" (SKLOvSK.IJ, Lüemtura • ltinanal,ogra/, 7/8).
'\\ 1odorgabo einer Pon.ept,on gobundcn, der Künstler ,u Skhwe der Routmo Malevills supromatistisches Quadrat ist ein reine.« V-Objekt, da es
du, vitale und die ,rasenschrutliche Erfahrung werden von ihm bewußt als Null-Form den Endpunkt eines intellektuellen Expel'imente demon-
ignoriert." (JAKOBSO:S-, Fwurizm, 2) striert, indem es da.s V-Prinzip der btapredmd1W8t' selbst zwn Gegen-
. S? trit~ die 11,~timime~scho Kunst zuallererst als „Entll\rvung" der stand des Bildes bzw. das Bild zwn Gegenstand erhobt. Insofern be-
Wll'klichke1t l\uf, an~e~ die künstlerischen Verfahren losgelöst von ihrer zeichnet SkJovskij mit Recht den Suprematiamus als „ideelle Malerei•'
angestammten 1llus1oruerenden Funktion als solche gleiehMm ,,nackt" (idtj1mja ziwpi.t'):
dargeboten werdon. .,Häufig glauben die Kül\3tler, da8 sie rein malorischo Probleme llleen,
. . Nach Maleviö w~ dadurch „aµoe Gegenetändliohe in der K11n11t ols ohne diee r.u tun, eondem sio nur aufzuzeigen, und 110 ont.atoht eine Mal-
Kuhsso entlarvt ... die wahre W1rkhchke1t bleibt unsichtbar denn ee kann Algebrs (fivopw1<1ja alg~ra), d. h. ein ,niohtgemaltee Bild' - eine im Grunde
die gegelllllii:11dlieho K'!!"st; nicht in eio eindrinl!en". (MAuv;t, Supr~mali~- prosui.8che Angelegonheit. Zu einom solchen maloriachon Symbolismua 1st d,e
nuu, 216) D1eeer Entbloßungsakt, durch den die Aufmerksamkeit vom G<.>, Schuh, dor Suprematist.en tu rechnen. Ihre Bilder sind ohor ,vorgegeben' (w-
goneta11<:1 wog auf d!e Form b!-w· Komposition. die llfßchart dM Workllft ge, dnny) als ,gemacht' ... Ihrem Woeen nach ist dt\8 eino ,ideelle Ma.le,-oi"'
lenkt wird, deckt sich voll nut der BP.&t.eren Cormalistischoo Definition dee ($1U,OVS1UJ, 0 Ja/clu,-i • /co,ur-rel'tfach, 687)"'.
o!"tblößenden V-~. der durch Scn81bilisierung die imaginative Identiftka, Sklovakij spricht aber dom ouf die appellative Funktion reduzierlAln
t1on ~rt.odor bncht (57f.). Während aber die frül1en Formalist-On in di880r suprematistiechen Werk die Fähigkeit ab, spezifiaohe Formempfindungen
Umorient1_erung der.'.Nahmehmung auf die Komposition ein primär rexept,oru,. (oll,.Jh,iija Jormy) auszulösen, ohne die es keme ästhot.iacbo Wahrnehmung
peyohol?gtecbea Phanomen sahen, war für die ersten Abetrakt.en dor Kampf bzw. ,vertung geben kann. Daher &ind die suprematistiachen Bilder „pro-
~gen die _Ole,ohaetzung von GegenoUindlicbkeit und Roa.lit.ät eine orkonnt, saisch", da. sie niaht eme aensu.cllc, eondern eine intollokt,1.11,IJ& Reaktion be-
nu,thoo1-et18Che Hernusforder:ung. llfalevill spricht von dor ,.\Vahrhe,t ..., wirken: Formempfindungen kann ea aber nur dann geben, ,.wenn wir einon
daß 88 den Oege_nsta.nd als Wirkliohkeit gar ~iaht gibt" (lS0f.) und dovon, Gegeru,ta.nd wahrnehmen könnon" (SJU.OVSJUJ, O/wd lconja, 90ff.). An di-n
daß e,ch „der KUDBtlor von dem Amt dee Kuli880nschiobors" befreien mtis.'!o AU8S&$9n des junb'Oll Sklovskij läßt sich deutlich die starke sensualistiech-
ebeWIO_wie „von den Bemühungen, s,,in Nervensystem dor WiedO!Jlilbe vo,; rezept1onsii.athetiaobe Orientterung de8 frühen Formalil!mllB ableeen.
Erscheinungen Anzuposaon,. dio für Wirkliohkei~ g~ho.Jton werden' (216/6). Wilhelm Worringers171 bahnbrechende Schrift AINslraldion und Ein-
1n Ma!e~~ SuprematUlmus finden wir d88801be Patboe dos „nourn füJllung, die bald ne.oh ihrem Erscheinen in München 1908 auch in RuB-
Sehi:na" wie ,m vorhergeheo_d~ Primitivismus, da-lbe Streben nach
„Relnlgung der konvontionahs1erten Wahrnehmung durch das Erlebnis lond starke Be&ohtung fand, muß sowohl den abstrakten Künstlern als
der Gegensta.ndlllooigkeit" (21/2). auch den frühen Formalisten bekannt gewesen sein. Worringers Gegen-
Die Selbstdarstellung der konstruktiven Verführen im abstrakten Uberst-ellung von Abstraktions- und Einfühlungsdrang basiert in ver-
Bild ist die Folge ihrer radikalen Demotivation bzw. Dekontextie,ung, blüffender Ubcreinstlmmung mit don formalistischen Interpreten auf
da. sowohl das Ich ale auch d&s ikonographische Progmmm als uußer-
künstlerisoh~ Determinanten ausfallen. Das abstrakte Bild bzw. Sprach-
werk war emfaoh deshalb aehon als V-Objekt wirksam, da es seine m Ebenso wie Malevicl don „Pragmatismus" zur Unache von Krieg
und Tod erkliirt <•6), aohließt auch $1dovalrij aua der Automatisierung der
Autonomie gegenüber der umgebenden utilitären, pra.gmatisohen Welt. Wahrnehmung auf geeellsclll\rtliohe Erstarrung und Aggression (vgl. unten,
ordnung provokant demonstrierte. In diesem Sinn bezeichnet M11,lcvic 22if.). Dor Antiökonomiamua Sklovskijs findet gleiohfe.Ji. aine klare Ent•
die Oegensu,,ndslosigkcit als verfremdende „Aufhebung der Zweckwelt" ■prechung im Programm Malevi~.
111 Vgl. d88118lbo in S:novsJOJ, Cbod konja, 101-107.
"' Vgl. die Anmerkung bei V. M..uutov, Prinoipy novogo iskuaatva, 24:
avtobiolll'afii chudolmka. Podgotovka tekstn, prrdi~lo,•io i primecunij~ W. Worringor, Abet.ralction wid Einfühlung, russ. SPb. 1912. Zu Worringen
N. Chl.lJ'dtieva. In: K istorii ru811koll° avnngßl'da, 87ff. über EnlA!Whung EwJluß vgf. auch l\b:DVEDKV, Forrnal'nyj metod, 13f. (dort, allgemein :rum
und Bodeutung dCß Boilriffa ,uprema,tazm (95) und dBa Interesse ?.lalo,•icn on .,kunstwisaenechaftliohen Fonna.liamus" m Deuteohland, d. h. zu Fiedler,
~en w~ohmung11~hy,i1ologiac_hen ~d •J:"'YC~olo~i.scl_aen Bedini,'llngon dor Hildebrand, Moior-Griife, Riej!ler, Wölfflin und Worringer; konkret zu die■em
liethetischen Rcwpt1on (06), die seiner lwop14110Ja dt.a(}ntUtika zu Oruncle 20f., 62f. und 71/2 über Womngere idoologische Motivation der Gogenatanda,
looigkeit),
iS J,'ormalismus und bildende Avantgurdckunat dor ,:ohner Jo.hro Oegenatandaloaigkeit und Verdinglichung i9

einer Opposition, in der die Abstraktion sowohl primär-dckontextierondc a.ls Synonym für „11.bstmkte" beront eben diese Konkretion de., Ver-
nls auch sekundär-konstruktive V-Funktionen erfüllt. fahrenssystems zum „intransitiven" Objekt des oscu&e11ie. Dit'scn Pro-
Pramh.r•\"C..Cromdencl wirkt die Abeiraktion durch „das Best,roben, d8a zeß der „Verdinglichung der Gesto.ltungsmittel" {H0FMA.."l<, 201 ff.)
cin,elue O1,jekt dur Außenwelt aus aemer Verbmdung und Abhängigkeit vou defirucre.u heute zablreiclte Kunstwis.senschaft.er &ls Verft<'mdung im
den anderen Dangen zu erlöson, 06 dem Lauf dea Ocechehons zu entreiß~tt, engeren Sinne. Zumeist beziehen sie sieb )1ierin o.uf KandinskijA klare
es absolut zu machen" (33 u. 29). S<lkuttdiir-verfremdend wukl im weitere11 Darstellung in Formfrage (30):
jenes „ RnhAbodllrfnis, einzelne Drnge aua ,hror Wtllktirliohkcit und achein-
bnron Zufüll,gko,t horauS2w,chmon und durch Annuherung ua abetrokt<i „ Wenn der Leeer irgendetnon Buchstaben dieser Zetlo rruL 11ngewohnton
Formen zu vi,rowagon ... " (20). Ganz im Sinn dee eben entst.ehendea Neo- Augen an8Cln•ut, d. h. nicht als gewohntes Zeichen emtlll 'J'e,lea eone,i Wort<..,,
primit.ivismus steift Worrtnger einen „kaU11alen ZuaCUt1Jno,1.hang zwischen aoadem als ein Ding, eo sieht er in di888m Buchmben a.uß<>r cler prnktisch-
prim1t1ver Kultur und hochswr, re,natcr geeotzmäß1ger Kullllfform" her zwockmii..O,gon, vom Mon.sehen geschaffenen Form. die eino best1tndigo Be-
(ibid.), do, beim primitiven Menschen „f!loichsam der ln.8tinkt für das .Ding zeiclumng einoo. boeUmmten .Laut08 Let, noch oine körporlicho .i"orm, dio
o.n sich' om st-i\rkstcn iSL'" (30). Eben di0808 Ding an sich erscheint aber der ganz 11ClblltA1tii11dig emon boeLimmt.en äußeren tmd inneren Eindruck ma.cht,
..entautometiaiertou ,vahrnehmung·', dae durch dio Vel'f!Ohiabuug der Per- d. h. unabhängig '1'0n der erwähnten abetra.kt.en Form.
spektive aus der rer.onten Pragmat,k in e.rchAallCho. naive, patholog,scbe Der Buohst.a.bo wird t. als ein zweclcmäßiges Zeichen und 2, als Fonn
Schweison möglich wird. Der „Einfühlungsdrang" bzw. d,o .~infilhfunga- und später als innerer Klang dioser Form eolbständig und vollkommen tm•
iiathetak" basieren auf dem nnent.en 1nd1viduali8icrten ßewußtaein, d8f!8en obbllngig."
Idcntatb.t auf das humanistische ?.lenschonbild dor gr,ochischen Antike zu-
rückgeht und den li8thcL111chen Oennß po1110nal1ßti8ch 618 Bofr1ed1g,ar1g des Kondinskij scheidet hier eindeutig vom tra.nsitiv-pragmatischcn
„Selbstbc8tlU1gung11bodllrfnissca" doutet (26). Eb<>n diese ,•on V880lo\'akij Kontext die lotmnsitivität der verdinglichten W&hrnehmung, die er
10h00 als illdividuali:acija erkannte Subjckti,•iorung der m11netisch-11lusio- aUJ! der V-Perspektive des unmittelbar-naiven, spontanen &heD!J ab-
nnren Einfühluu~theLik bildet den Hint.ergnmd für den „Abetrakt1ons- leitet 111•
drong", der daa "'Eanfuhlung11bedürfnis nicht nur unterdrückt, aonder11 das
clahintor ";rkonde „Vert.rnulichkeitsverhältnis zwischon Welt und Mensch" Konsequent zu Ende gedacht führt diese verfremdende Entgegon-
(27) in Frage stellt. Indem Worriogor den „NoohahmunpLriab" nicht nur ständlichung der objektiven Gegenständlichkeit (prtdmefoosl') zur V<'r-
von der .Ästhetik, 80ndcm auch vom kunstlustonschon N&turaham11a ab- gegenständlichung des Substrat& und seiner St.ru.ktur: E00!180 wie in der
setzt, rückt er die !form und die unmittelbar mit ihr '"erbundene „liatholi- äathdi8dltn Wahn"hmung „der Stuhl, daa Bett, der Tisch nicht Zweck-
scho Wirkung" (42) an den Mittelpunkt d011 o.bsolut.on Kunatwollons (Alois
Rie$1), das er zumindest für die lfodeme mit dom Abetra.ktioll8drang iden- mäßigkoiteu, sondom zur Gestalt plastischer Empfindungen" worden
tifiziert. Dieser im Sinne Kants als ausachheßlich „ä.sthetil!Cho Ke.tt-gorie" (Malevill), gilt nun die Linie ebenso oJs Ding, ., welches ebenso einen
verstan<lono Form-Begriff steht dem doe frühon Forrnalismu.a ebon deehelb praktiscb-2:weckmäßigen Sinn hat wie ein Stuhl, ein Brunnen, ein Messer,
so nl\be, weil er in Oppo61lion gesetzt ist ,um Inhalt w,d zur individuellen ein Buch. Wenn also im Bild eine Linie von dem Ziel, ein Ding zu be-
Identifikation der Einfühlung. Worringo111 „Kritik an einer Kunst, die die
formalen Mittel zu Trägern eines außerhalb dor ä.sthotu,chen Wirkung hegen- zeichnen, befreit wird nnd selbst als ein Ding fungiert, wird ihr innerer
den litero..rischen Inhalt1!1" degrt.diort und ihnon so ihr Eigentlichoe nimmt" Klang durch keine Nebenrolle (wie noch im lmpret;Sionismus) abge-
(<l2/3), deckt Bich voll mit der formalilttischen KritJk an der Determmation sahwlicht und bekommt ihre volle innere Kraft." (KANDINSKIJ, Form-
des Astbetischeu durch nacher:zählbo.ro Inha.lto. Auch die Kritik Worringcrs. frage, 32)11'.
daß „bisher die kün.sllonschcn Erschoinun~en nio aus 11ch solbst, sondern
,mmer aus anderen Erscheinungen orkliirt.' wurden. (66), findet ihro wört,.
licho Entl!prechung m den formalistischen Frühschnfwn"'. eine konkrete. Doshalb 2:iehe ioh poraönlich vor, die sogenannte ,abstraJcte'
Kunst konkrete KW1.Bt zu nennen" (215). Der Begriff ko,akrelnoat' w.!lt sich
Die Abst.re.ktion vom Gegen.~tä.ndlich-Narrativen bedingt dio Kon- im Ra.hmoa dos l,'I run ehesten mit dem Begriff der „Dinglichkcit" tm futu-
kretion des Konstruktiven, das a.ls objektiver Oeg8Jl.8tand der W&hr- ristischen Sinn (""Uizm) m Verbindung bringen, ebenso mit dem Begriff
llehmung (v. a. der sensuellen) auftritt. Der Begriff „konkrete Kunst""" der Jaktura. Der im Prager Strukturalismus ou.s der Phänomenologie H ussorla
und lai!o.rdeua Gbgoleitete Begriff der „Konkretisierung" steht - mit nll
n ~ klar formuliert A.KsSNov, <tS dio auch von den Formalisten ver- seinen Spielorten - in engem Zusammenhang mit der formalist.ischea V-
t.toteno Kritik an der „Literari.llierung" bzw. rein thematil!Ch-ideologischen Thoorie, die sioh im tachcchischen Prinzip der aktualizaa fortpfl4.nzt.
Kunstinterpretation o.m Beispiel der Pi0ß880-Rezeption Bcrdj!levs. der "' Zu betonen iilt, daß Kandinskij ,,de.& Schwergewicht der Kunst nicht
PiC3880 nur :r.um ,,Anlaß" für die Entwicklung seiner esehatologisclien und im Bereich de1 ,Formalen', aondora auSIIChlioßlioh in dem inneren Beiltreben
kulturkritischen Ideen nimmt. Vgl. dazu sehr eingehend A. OruAÖENXO, (,Inhalt')" sieht., d. h. dnll der Rauptakun~ auf dem Rxpress"•en, dem Er-
'Krizie iskul'Stva • i sovremennaja !ivopis'; die„ SchrifL wurde eigens a\1.8 lobon lieg; (Vz~ljedy na.zoo, 31!/6). Der Bcl(riff doo „Formalen" hat boi
Anlaß des Referats Berdjaovs über die ,,Kriae der Kunst" verfaßt. Kandinskij frei.hob weitgehoud eme polemiecn-kritieoho Funktion uncl bo-
m Vgl. dazu JAXOBSON, No,·ojilaja rUIISkajo poozija, 30/1. u,ichnot ala „äuD~ro Form" (t1ndnjajojorma!) dM Opposit11m zur „inneren
n• Iri der 1. Nummer ,·oa Gualtieri di Sao Lazzaroa Zeitschri~ ,.XXe Notwendigkeit" (vnutre,uijaja mobchodimoet"f/tm1aa), die an jodor ästhoti-
Sil>cle" (Paris 1938) erklärt Kanclinskij C111tmala, warum er nun ecino Kunst Ü8l18Chon Kullllt fehlt.
ebenfalls „konkret" nennt, nachdem von Doeaburg, Arp und Ball der &griff .,. K,ummsJOl, 0 to<l.ke, 2 er. verbindet kle.r die verdiughuhende = ver-
„konkrete Kunst" ( 1930/6) oiol((llllhrt und !.hooretiaah unterbaut worden fromdendo Wt.hmehmung mit dor Entautomatasierunlf der Optik (privybiyj
war (KAl•iDINSJUJ, Esa&l• aber Kunst und Künatler, 207f.): ,.So wird aeboa
die ,Naturwelt' eine ueuo ,Kunstwolt' goetollt - eine ebenso reale Welt,

gloz ... prituplannoe 'Ucho aobircm 11/cva i ~nild/ci peralioou icJ1 ,o:,ia-
nie . .. ). Vgl. dazu auch KANI>msKI,, 0 linii, 2.
80 Formalismus und bildende Avantgardekuru,t der zehnor Jahre

Nach Jakobeon führt dieaer Prozeß zu einer Umkehr der „Eilllltellung"


T Die „große Renlistik" - Theorie des Verfremdungs-Objekte

,uJetzt die p;osamte Wahrnehmungswel~ als verfremdet und verrückt wahr-


81

auf die Natur (ua11Jnot1ka no na.curu) zu einer ,,Einstellung" auf den Aua. nehmen." (HOrMANN, 61)"'
druck (u.,ta11011ka 11a vyraunü), ein Beir,iff, den Jakobaon unverändert auf Das antiästhetische ExpE"riment - ob in Abstrnktion oder Rea-
die Definition der „poetischen Spraohe' in eeiner Chlebnikov-Studie llber- listik - stellt lrtztlich dio totale Abhängigkeit der ästhetischen Wortung
trögt (NotJejlaja riuakaja poizija, 30).
„Die Linie, die Fläche konzentrieren auf aich die Aufinork8amkeit daa vom Rezeptionskon text bloß, dessen normativer Charakter gerade durch
Künstlers, sie können nicht &UMChließlich die Grenzen der Natur kopieren." seine Verletzung afiinniert wird; auch dann, wenn der Rahmen eine
(JA.KOBIION, .Futuri::m, 2/3) völlig leere Leinwand einfaßt, bestätigt die „Nullstelle" die Herrschaft
In dieser Sicht decken eich Verdinglichung und Entblößung (obnalenic)
der Verfähroo, womit sich „die Suprematistcn aus dor Kneohtscha.Ct der des SyltltemS. Eine solche Nullstelle ist )falevics suprematistisch es
Dingo" endgültig befreiten (SK.LovSJW, Chod konja, 09). Quadrat aber ebenRO wie Duchnmps „ready mßde" oder dM „objet
Kandinskij stellt in Formfrage (25) zwei gegenläufige Richtungen trouv6" der SurrcalJ~teu.
Der primäre V-Akt volli.ieht sich o.u.."8chließlich an der Grenze zwi-
der „Intrtmsitivieru ng" gleichberechtigt nebeneinander: 1. Die Dekon-
text.ierung (= Verdinglichung) der Verfahren, die er als „große Abstr&k. schen pragmatischer Realität und oiner Realität, die durcl1 einen de-
tion" bezeichnet und 2. die Dekontcxtierun g jedes beliebigen Gegen. monstrativen Wertw1gsakt für künstlerisch cl'luärt wird: Ohne das
standes aus scin!'m konventionellen, pragmatischen Zusammenhang, .,Mitspielen" des Yorinformicrten Rezipienten kommt aber dor ästheti-
die er als „große Realist.ik" bezeichnet. Beide Richtungen lassen ßich sche Prozeß, der Produktion und Rczcption in einer kommunikative n
nach Ko.ndiru!ltij sowohl isoliert in ihrer Ausschließlichkeit realisieren, Handlung eiuRChließt, nicht zustande. Der „naive Betrachter" ist hier
als auch - wa.., jedem einzelnen Kilnstler völlig überlassen bleibt -in nicht zuslandig und auch nicht intendiort180.
Die Collage1&1 verelnt das V-Prinzip der primären Kontrast-Monta ge
freier Weise kombinieren, da beide iu einem Ziel (26) führen, wenngleich
mit dem der Realistik, das werkimmanent durch die Konfronto.tion mit
in der Moderuo dlloS klassische „Ideal der Balance beider verloren ist"
(ibid). abstrakten Elementen entblößt wird. In dieser wechselseitigeu Ver-
fremdung von Abstraktion und Realistik, Verdinglichung und Ent-
7. DIE „0BOSSE R , ~ " - TBEORIB DES VERPBIDIDITNGS-O11.TIU['tS gegenständlichung, Roprdsentation und Präsentation, transformierten
und ,itierten Elementen in einem Werkganzcn \\~rd Kandinskijs Oleich-
Der Verdinglichung von Verfahren in der Abstra.ktion steht die 118tzung von Realistik und Abstraktion anschaulich demonstriert. In
Aathetisiorung realer Gegenstände, ihre Verwandlung in Objekte kon- diesem Wechselspiel wird die gezeichnete Linie zum Ding und das
struktiver Wahrnehmung gegenüber. Der „Nullpunkt" der naturalisti- (zitierte) Objekt dckontoxtiert zu einem abstrahierlmren Gestalt-
schen Mimetik ist nicht die l<'otografie, da diese noch immer - wcmn
auch mit gesteigerter Authentizität - reproduziert; am Endo und als "' Vgl. d&zu die kompriin,erto Darstellung bei SIBGl'BIED J. SoHKmT,
Aufhebung des Naturalismus steht die no.cktc Demonstration des Ob- A.sthetteoho Pro1.esee (v. n. den Abschnitt „Ku,ut als Wirklichkeit -
jekts selbst, der Veriiicht auf jegliche immanente Strukturierung. DiQB(!II Wirklichkeit als Kunst", 20fl'.)
vorgefundene Objekt wird alleine d&durch zu einem ästhetischen Fak- Kanrlinslujs Realistik-Begriff (KANDINSICJ, Formfrage, 26ff.) richtet
lieh gegen jede „wohlschmeckendo Schönheit" .... dio ,.dem faulen körper•
tum, daß es aus dem prakt~hen Kont.ext herausgehoben, akzentuiert, liehen Auge die gewohnten Oenllsso gibt" (27). Auch M. Ducha.mps radikale
isoliert ist. Der Künstler unterläßt es, die amorphe Materie (z. B. Öl- Abkehr vom Tafelbild war bezeichnenderweise ale intellektueller V-Akt in-
farbe) stellvertretend für „etwas anderes" Oegenständliohes, Imaginäres tondien: ,.[eh intoressiero mich fil.r Ideen - nicht für visuelle Erlebnisse"
zu gestalten, er löst den seit der Renaissanoo gliltigen „materiell-homo- (DVCHA.XP, zit. nach HO.Pl,Ulm, 331).
111 Für den S11rroaliaten birw. konkret den Erzeuger (Vorfinder) von
genen Formve.rband der Malerei" (HoFM.AllN, 64) in einer diskontinuier- ,.ready mades" ist das „Schöne" identisch mit dom ,.\Vundorbaren" - also
lichen Präsentation auf. Reale Gegenstände treten entweder isoliert &ls mit einer Kategorie, die weitgehend der V-Optik des Betrachtcnl entepringt,.
V-Objekte auf, die im Rahmen ihres neuen, ungewöhnlichen Kontestea Unter dem Aspekt des Wunderbaren kann natürlich jeder Gegenstand bzw.
Differenzempfindungen auslösen, oder sie werden zu einer Kontrast- jegliche S1tuat1on „ästhetisiert "worden - mit Vorliebe solche, die nicht ,m
Cegeostandskanon der „hohen" Kuruit aufsohe,n~n (KANDINSKJJ, Vzgljady
monte.ge agglutiniert. nlW\d, 15). ln der künstlcri11ehen Prtuia reicht die Rofloktierbarkeit der „ready
Realieiert. hat diese „Objekt-Kunst" beispielgebend Duchamp in Paris mades" bzw. des „objot trouvll" weit über den primiircn ÜberrMchungaeffekt
mit aoinen „roady mades"; pan.llel dazu stellt 1D Potcrsburg Ivan Puni des V-Objekte hinaus, da die D,fforon,qualität der Dckontwttierung (Vt.JCU·
echon 1910 eeino V-Objekte aus (vgl. dazu Veit', l, 18/9) und 1912 Larionov ltni&) die imaginäro Qualitiit des Ges-enstandes voraussetzt. Vgl. ANDRi
eeino dreidimensionalen Collagen. Allen gemeinsam ist die Präsentation von BRETON, Surrealistische Manifeste. Reinbek/Hamburg 1968, 11 lf. und 127.
„Fakten ohne Kuruit". d. h. ohne dio traditionellen Tl'anaformationen dee w HERTA WESCH.ER, Die Geschichte der Collage 87-13( (leider iheo-
Materials als Kunst - im G.igensavL zur „Kunst, obno Fokten" (Ruskin) rotiach sohr oberßöohliohl); vgl. u. &. auch J. W1SSMA!<N, Collage oder rue
der Abetrakten. Integration von Roalitlit im Kunstwerk. ln: Immanente Poetik, 327ff.:
Auch die primän, Dekontoxtierung der RoeJiatik bewirkt Neu-Sehen: „Die Einbeziehung ungestalteter Reaht.ötateile eoll dio ungegenatändliohen
,,Eben durch dieee Art der Entblößung der Zeiobenkonvontion der ~ B1ldz.eichen als real qualifizieren und dom Bildgaruen einen objektiven
kann der Blick für ein neuea Dmgbewußteein freigelegt werden, sodaß wu- Charakter geben" (137/8).
82 Formalismus ond bildende Avantgardokunst der zehner Jahre

phänomen, dessen konstruktive über die obema.la pragmatische Funktion


T Kubistische Multiperspektive a.ls aperepektiviscbo Verfremdung

stallung, die den Gegenstand in eeinor simultanen Vieldeutigkeit aus der


83

herrscht. Sukwssivität der gewohnten Wahrnehmung und ihrer kausal-empirischen


Kategorisierung herauslöst. Die zweidirnonsionalo Präsentation des Oegen-
Das konstruktive Prinzip der CoUaget.eohnik ist auch litorarisoh „über- ste.ndea aus mehreren A8pekten vorfremdot nicht nur die monoperspektivi-
sctzt'.' word~n. am klarsten wohl in d„r Kombination von Sujetloaigkoit soho Repräsentütiou, sondern die gooamto dohintcr wirkende Weltordt,ung
(bella;tdet,i~t ) (Abatrakt1on) und Fakten-Montage (Roolistik) in der Fakten- w1d konventionelle afftrma.t.Jve Wehmehmungswe1BC. Der Ku_bist mout,eri
htoratur (l11erat1Aro fakta) der 20er Jahre. die in der formalistischen Prosa. auf der Bildfliiohe eine nur durch Umechrciten, Betasten, duroh VorwlSiiCn
t-~eorio oin_e zentrale Rolle spielru, wird. Eine andere Konsequom, derselbeu vermittelte rliu1nl1ch-kausale Ordnw1g und bietot dabei oine „deeeription
KombmatJon von Abstraktion und Realistik verkörpon1 die futuristischen a.nalyt,ique dont le Nlta.blissemont on un AOul objet no s'effectue ciue da.ns
Almnnocho, deren handsohrift.lioho Reproduktion die optische PriuMinz dee l'esprit du speetat-eur.'' (KAn..'<WE.ILJra, 33).
Sch.riftb1ldos mit dor lautlichen und somaotischen der To>.'"te selbst und nut Die Kubisten gingen von der Erkenntnis aus, daß die Perspektive
den obstrakton Tilustrationon konfrontiert.
nicht in der betrachteten Objektwelt existiert, sondern eine Wa.hr-
8. KU11ISTI8CHE MOLTIPERSPEKTIVE nehmungsform 18J ist, unter der wir die Dinge ordnend w&hrnehmen.
ALS Al'EBSPEKTIVISOJm V:ERJIBJDIDUNG Diese Wahrnehmungsform sollte na.ch dem Prinzip der absoluten Un-
mittelba.rkeit unterlaufen werden, um da.durch die „subjektive Trübung
Während sich die Coll&ge mit der Demonstration der gegenseitigen
des objektiven Tatbestandes" (W0RRIN0l:&, 34) zu verhindern. In dieser
E_ntblöB_un_g von Realität und Fiktion, Raum und Fläche begnügt, ist Entla.rvung der wahrnelunuugspsyohologischen Bedingtheit der Zentra.1-
die kub1st1scho Malerei darauf su.s, die Konfrontation von Drei- und
perspektive sieht auch SklovRkij die erkenntnisthooretische Priimisse
Zwcidimensiona.litä.t mit den Mitteln des homogen gema.lton Ta.felbildes
der Abstrakten und Kubisten. In seinem Aufsatz Prostranstvo :fivopisi
zu bewältigen. Auch hfor begegnen eina.nder der methodische Funda.-
i suprema.tisty (3/4f.) weist Sldovskij a.uf die wahrnehmungspsycho-
mentalismus, der dje eine Kunstform oder Gattung konstituierenden
logische Ta.tsache hin, da.ß die Wahrnehmung der Tiefe und Körperlich-
Verfahren und media.len Gegebenheiten zum Gegenstand der Präsen.
keit nicht unmittelbsr optisch gegeben ist, sondern a.u.s der Vorinforwa.
tation macht und somit auch der Reßexion preisgibt, und der Rüok.
tion einer la.ngen „ Wahmehmungstra.dition" erschlossen wird:
grilf a.uf a.rchaiscl1e Darstellungsweisen eines unperspektivisohen Den-
kens, das den technisch vorvollkommneten und weitgehend a.utomati- „Kinder und Leute, die koino Übung in der Wahrnehmung ein86 Bildoe
siert<in Illusionismus der perspektivischen Darstellung aufhebt. Na.eh ha.ben, vermögen in ihm keinesfalls die Raum-Formen (Formen der li.Aum-
da.rstellung) zu empfinden." (4)
Ka.hmveiler beschäfiigt den Kubismns primär „Ja. figu.ra.tion des choses Wio sohon im Man,erlsrnus wird auch hier die optische TiiWlchung zur
ooloreea ll. troi.s dimensions sur une surface plane, et lenr incorpor&tion l\la.nifestation dor ualo1!1l4at' doo Äathetiachon, deeeen interpretative Multi-
dans l'uruM de cette sutfa.ce." (.u e-ubumUl, 23)181, ,·alonz an der perspektivischen Vieldeutigkeit der Vexjerbilder datStellhar ist.
Die in der Rena.issa.nee kanonisierte Zentralperspektive erlaubt eine
kontinuierliche Defonna.tion der Dimensionen und F&rben jener Gegen-
stände, die den Eindruok der „Tiefe", der Räumlichkeit, der Mehr-
dim8ll5ionalität simulieren sollen. Durch Staffelung, Verkürzung, Farb-
abstufung, Auflösungsintensität und andere Illusionstechniken worden
die roolen Objekte und ihre Ordnung zwa.r in einer gewissen Annäherung
mimetisch ima.giniert, ihre phänomenale Erscheinungsweise a.uf der Bild-
fläche jedoch systematisch deformiert. Die lmpre<!Sioniat,en hatten diese
Deforma.tion selbst als Vorstufe des Wa.hrnebmungsprozesses präsen-
tiert und da.mit die Synthese der Gegenständlichkeit a.us der Bildfläche
in rue rezipierende Interpreta.tion verlagert: Die Kubisten verla.gem Dieeos bekannte Scha.ubild goetllttet zwoi heterogene riiumliche Inter-
nochma.ls j~en ..~chnitt" im Rezeptionsprozeß in Richtung analytische preta.tioneu - einmal die der „euro)?ä.isebon Perspektive", die die Aufmerk•
Interpretation, die nun a.ls solche a.uf der Bildfläche zweidimensiona.1 aamkeit auf das große Quadrat r1cht.ot und damit den Eindruck einer
rea.lisiert wird und die Gegenständlichkeit a.ls „pure CO'llstruclicn" (K.ARN- mono~poktiviscben Raumdo.rat.ellung erieugt, einmal die „vorkehrte Per,
WEIJ..l:,R, 24) entblößt.
apektwe" (obra.tnaja perapoktiva)a• der orientalischen, byzo.ntinischen, pri-
Diese rein& KoMtruktion präeontiert die Gegenetönde im Zust.&nd einer
aus mehreren Allpekten gewonnenon gloichzeit.ig aufeinander kopierten Dar- ,.. Über den Zusammenhang zwischen k-ubistischer Ästhetik und neu-
kantia.nischer Erkenntnistheorie vgl. W1ss?1U:NN, 331f.
, .. P. A. FLORENBKII, Obrotnaja porspoktiva.. In: Trudy ill (190?),
111 _DA."1.E:L-lhm>.Y KA~ILER, Confoesions Esthtltiquee, v. a.. der 3?8--410 (eingeleitet von A. A. Dorogov, V. V. lvanov und B. A. Ueponskij:
Abschnitt: Le cub1111no. Prerruöre phase. Le probleme de Ja formo. Pill8880 Floren.'lkijs Artikel bzw. Vo~ stammt aus dem Jahr 1919 (bzw,
et Broque, J9ff. 1922) und war u. U. den Fonnalisten bekannt. Florensloj stellt die
84 Formalismus und bildende Avantg&rdekunst der 1.ehnor Jahre Kubistiaeho Multipcrepektive als aperspoktiviacbo Verfromduog 85

mitivietiscben Optik, die sich auf das kleine Quadrat konuntr,ort. Unab. sprach: Bia zu einem gewiaaen Orad hat die Qualität te_i! &n der V~de~ng
hllngig von dieeen Sehweisen, die vermittelt und ala Donkatrulrtur wirkaan, der Ausdehnung. Mittels der Veränderung der Auedohnung ven,ndert a1cn
eind, läßt eich keine eindeutige Intoryrctation finden: Die unnuttolbare Optik auch die Qualit.iit." (JAIOBSON, Futuriz.m, 2/3)
etw& cloe Blindgeborenen, der plötzlich eebend wird, vermittelt nur den Ein- Gegenatandaquahtät (ko&atvo) und Räumlichkeit Bind nach Jakobaon
druck unzusammenbängender Flächen, Farbflecken (4). untrennbar und nicht iaohert darstellbar: Eine mimetiaeh orientiorto Dar-
stellung (u.,tanouko no naturu) unterwirft_ sich diesem Geeetz sänzlich, wo-
DM von den Kubisten präsentierte unmittelbare Sehen vermittelt gegen ehe den Selbat-Ausd!'uok repräsentierende ~"!'st ~-on d1oaem Gesetz
simultan widoreprüchliche Interpretationen, d. h. mehrere Wahrneh- befreit ist und do.rüber h1nRU8 zu den GeaetZDUül1gke1ten der abeoluten
mungs- und Wertungsaspekte, die in ihrem „OsziUicren" vergegen- Wirklichkeit vordringt.
wärtigt werden: Diese Multivalenz bezeichnet !§klovskij aJs raztU>pred- Tun· kubistische V-Prozeß vollzieht sich somit in zwei Stufen: Im
metnoat' (4), die im Extremfall der reinen Gegenstandslosigkeit durch die ersten Schritt wird der Raum (proalmmloo) in die zweidimensionale Ebene
ausschließliche fmmanenz der Bildoberflii.che (plo8'.:ostnye izobraienija) in Fliiohon (plo.JkoBI') zerlegt und da.mit dio Monope111pektive durch die
und die Kombination der dort realisierten Farb-Flächen ersetzt wird. MuJtiperspektive ersetzt; im zweiten Schritt wird die Bedingtheit
Auch Jakobson stellt die Transformation dor räumlichen Interpreta- (mlo1moat') der Fläche durch die Verdinglichung der Vcrf~hren und die
tion in die werkimmanente der Fläche in Zusammenhang mit der Entblößung der Oberflächenqualitäten (falct11.ra poverchnosli) zum Gegen-
rndikalen Umorientierung des „Fokus der Wahrnehmung" wog von stand der Darstellung181•
der bezeichneten Gegenständlichkeit auf die BildfUi-0he sclbsthin. Die Reduktion der mum-zeitlichen Logik auf die zweidimensionale
., ... Wenn wir einen Gegenstand sehen, so ergibt sich ein Form- Kombinatorik isolierter Flächen (aolelanu ploak08ttj) läßt sich - was
empfinde11 (OBcu.fcenie frmny) nur dann, wonn wir den Gegenstand die kubo-futuristisohen Werke anJa.ngt - durchaus niaht bloß auf die
(wieder-)erkennon" (4). reduzierte Perspektive des Schöpfers bzw. sein nai\•es, primitives, un-
Im Anschluß an die Theoretiker doe Kubismus Gleizos und Metzonger 1", geschultes Bowußtsein zurüokfllhren, sondern viel~ehr auf das he~-
deren Werk aueh in Rußland gut bekannt war, leitet J11kobeon das Geeetz ristisahe V-Prinzip einer kritisch-entblößenden Ausemanderseuzung mit
nb, d&ß „jedee Anwachsen der Form von einer Veränderung der Fube be- dem automatisierten, konventionalisierten monoperspektivischen Welt-
gleitet wird, jedo Veränderung der Farbe aber neue Formen hervorbringt.
ln dßl' Wissensohafl; bat Stumpf oJa erstßl' dieseo Geaetz formuliert, indem bild einerseits und anderseits auf das im konstruktiven V-Prinzip wir-
er über die Beziehung zwischen Färbung und der gefärbten Raum-Form kende Interesse an der Ästhetisierung nicht-rezenter Denkstrukturen m.
Durch die Realisierung der perspektivischen Dynamik auf der
,.direkte Perspektive" (p,jomaja ,-~ioo) und thre acbeinbare ,,NatOr- Bildfläche wird die Zweidimensionalität der Darst.ellung gleichzeitig zu
lichke,t und Unerachüttorlichkoit" (die dem „kla.eeiachen Kanon" der Inter- einem anolytisohen Instrument, da.s ästhetisch als Montageprinzip
pretation M. B&cbtiru, entspricht) der „wngekehrten Perspektive" (obral- realisiert ist: Das Nebeneinandersetzen zweier bzw. mehrerer Aspekte
,-.aja ~r,p8/ai~o) gegenüber, die der „unmittelb8l'On Wahrnehmung" (•ie-
pea,-edall>Onnoe 008prijati,i) entspricht - also dem formalistillchen .,Neu. verlagert die Interpretation der zwischen ihnen vermittelnde?, ihre AJJ_f.
Sehen" bzw. Worringers Unmittelbarkeit. Dieeen be1don widersprüchlichen spaltung motivierenden Dynamik (des Auges, der Perzeption etc.) m
Perepektiven entsprechen zwei gegellllii.tzliche „Zugänge zur Kun11t", zwei
Kulturen - und nicht zwei vorsobieden& Gmdo dor Vervollkommung in
der technischen Bewä.ltigung der re11listiaohon Raumdaretollun~ bzw.
-Dluaienierung: 1n diesem Sinn ist die „MpoMtd81ven714ja perspektiva" der "' WoanIN0ER, 34ff. ordnet (ebensc wie Florcnakij und die Jo'uturiston/
8Nlhaisohen, mittelalterlichen, naiven bzw. primitivist1echen Kunst kein Fonnalioten) dia monoperepektivische Raum-Simulation im Kunstwerk _der
toohniechee Unvermögen, sondern ein absiohtlichOSJ Verfahren (somat„l'nyj individualisierten, a.kt1ven, empirischen und intellektuellen Bew~ßl801n_•·
pri"m, 382), Ausdruck einer eigenen semiotischen Ordnung. Zur obrat714ja etufo zu: Dreiclimonsionalität - auf dio Fläche projiziert - 1mpUz1ert „e,_n
pm-~iva in der ostasiatischen und byumtinaohen Kunst vgl. SK.LOVSKJJ, Nacheinander von zu kombinierenden Wahrnehmungselementen, in dem die
Ohod, hmju, 96, und zu der de.mit verbundenen V-Perspektive l 19f. Vgl. gesohl0880Ile Individualit&t dea Objekte zerfließt". D!eee. SukzeasiviUlt muß
weiters ZWl&mIDenfassend B. A. USPBNBKU, Pootika kompoz1oü (v. n. Kapi- vom Betraah!M optisch erst „orlemt" werden und 1St 10 der un,P?rei>&!ct-1-
tel 7). Zu den Arbeiten P. A. Florenakijs vgl.: K. l'. Florenakij. 0 ra.botach viechen Darstellung zu einer eimultanen Präeentation mehrerer gle1ohze1t1gor
P. A. .Florenskogo. In: Ttudr. V (1971) 601-603 und P. A. Fwn.eNSKJI, Aspekte dea Gogenatandee verkürzt. ID80fem etrebt die Abetrakt1011 nach
Zakon illjuzii, ibid. 613-52 , wo er eine originelle optiaohe Theorie ent- dor „RaumdarRt<!llung" und damit nach „einer isolierten _\Yiedorgabe der
wickelt, die starke geet.altpaychologiacbe Ailpekte aufweist. Vgl. L. F. EinT.dform" (M), die von der perspekt1viechon KAtegona,erung ~d der
Z1:Q.IN, Jazrk !ivopianogo proizvedenija. (Ualovnoet' drevnego iakusst.va). mit ihr verbundenen Vori.nformabon de8 Betrachters unmer nur un Zu-
M., 1970 (eingeleitet von B. A. Uspenakij: K isaledovaniju jazyka drovnoj 88.0\Jl)ODhang, ..ts Bestandteil aufgelöet wird. Di~r Auff888_ung_ entspricht
fivopisi), mit zahlreichen Angaben zum Problem der Perspektivik und der Bacbtins Thoorio der mono- und palyphonen Eruililperepektive un Ro!D&!',
obrolnaja perapektiw. dessen Raum-Zeit-Semio&i.k mit ieoer der darsoollendon ~unst - v. a .. 111
1" Das Kubismue-Buch
von OLBJZRS und J\{J;:nn,o%B wurde von M. V. der Erziibltechnik dor Avantgnrde der 20er Jahre - twf verbunden 1st.
M.uroAn< ins Ruesiacbo übereet.7.t und übte oinen betraohtliohen Einflull auf Vgl. dazu auch 0KB!ll<R, Ursprung und Gegenwart, I, 600:. und V. V.
die Kubismua-Rezoption in Rußland eua (V. ?t'Lu.Jtov, Ruaaian Futuriam, Iv.u;ov, Kategorija vremeni v iskW11tve i kul'ture X.'{ voka.
22f.); ebenso APoLLn<A.lBB, Les peintros cubistee. Pans 1912 (vgl. CIIAB· .., AKsENOV, § 42 hebt den „Synchronismus'' dee Kubismus h~rvor, der
DUBV, Majakovakij i !ivopis', M9fr.). sich in der freien „Kombination von Flächen" (aooetani4 plo,/ro81~) äußert.
86 Formalismua und bildende Avanlgardekunat der zebner Jahre Kubistische Mult,pcl'llpOktive als aperspektivisehe Vt'rfrnmdung 87

die Reflexion des Mediwns (konkret: der Zweidimcnsiona.lit.ät des der erachwerten Form (:atrudn,,nnaja /omlß), ein Verfahren, dae d,o Solrn,o-
Ta.felhildes) und ooiner repräsentativen Möglichkeiten188• rigkeit und Dauer der Wahrnehmung ~teigert, denn der WBhmohmungs-
roz.ell ist in dor Kunst Sclbet.zweck und muß verlängert werden: dio Kunst
Der Zeit.Faktor ist in den Bildern der italienischen Fmurieten themat1- ~ ein Mittel, dae Machen einer Sache zu erleben; das Oe"!'achte hingegen
&ert. (Flugzeuge, Rennautos, urbanistische Montagen), im kubo-futurisli- ist in der Kunst unwichtig." (SKLOvsnJ, lakUll4too kaJ.: prwn. 12)
achen Bild hingegen als konstruktives Prinzip analytisch wirksam, indem es
,,d,o Bewegung in eine Roihe einzeln.,,, atali.8cher Elel'ncnte zerlegt," (JAKOB- Die Übereinstimmung zwischen der Malerei des Kubo-Futuri!<l11u,
BON', F'uturizm, 3), Wie in der Naturwisaenachaft IICi in dt1r modernen Aethe- und der kubo-futuristischen Poetik liegt hier ganz eindeuUg auf der
ttk nach JakobAon em Rel..t1vit&tsprinzip gtiltig"', daa aua der ph)'8Ulehon methodischen Ebene im konstruktiven Prinzip der Gestuftheit (tluptn-
wio &thetischen Welt die traditionelle Annahmo e;loichblcibcndcr Sub- tatosl'), dllS !§klovskij in seiner Sujettheorie (vgl. FII a-usföhrlich)
stanzen vertrieben habe. Di...- Relativit.ät.aprinzip gilt auch fUr den Zeit-
fiull, der n.ioM an allen Orten identisch 1Bt, sondern sich in nllo rliumlichen methodisch verallgemeinert: Die Zerlegung des Ra-umcs in Fliichen
Dunensionen mischt, da sich alle Gei;onat.ände im Verhältnis zu una in Bowe- ropriisentierte in den Augen der Forma-listen einen me_thodisch anal~gcn
gung befinden und uns daher stlindi$ ihre „kinot1BOho F'orm" zeigen. Di- Prozeß zur Dekomposition des narrativen Fabel-Kontinuums und semcr
w,rd freilich nur BUB einer dynami&ert.en Optik wahrnehmbar, wobei die
Dynamik in kubo-futuristischer Sicht niaht eine Frage dos Tempos, sondern kausa-lcn bzw. raum-zeitlichen Sequenz in paradigma.tische Einheiten
der lnteo.aität, der Stufung ist. 1md deren Neukombina.tion nach Montageregeln, die selbst darstellend
„Kubismus und 1''uturismua bedienen sich ausgiebig dee Verfahrell!I und dargestellt a-urtreten können. In der Auseinandersetzung mib d<'r
der oniohwerten Wahrnehmung (zatrudn•""°" t'Oitprijaiio), dom in der Poosie kubo-futuristischcn Malerei konnten die Forma-listen den d11r slupe,aca-
die von den heutigen Theoretikern entdeckte gestufte Konstruktion (•lupen- toal' bzw. Montage entsprechenden gebremsten Wahrnehrn_ungR~rozeß
laioe poalroeni~) oostpricht." (JAiossoN. Fwurizm, ")
weitaus klarer erkennen, als dies anhand der Ana.lyso des liternrischen
An dicsor Stelle wird die Relevan~ des Kubo-Futurismus fur die Rezeptionsprozes583 möglich gewesen wäre. Nach Jakobson erfolgt die
formalistiaohe V-Theorie a.uch terminologisch überprüfbar: Jene kon- optische Apperzeption montierter Elemente ebenso P~nkt für Pu~t
struktive slupematoat' und die ihr cnt~prechendc zatrudM1rn08t' der wie das Le.'ICn von Wörtern bzw. Wortgruppen: Eben diese punktweise
Wahrnehmung 180, die Jakobson aus der kubo-futuristischen (Flä.ohen-) Sequenz isolierbarer, gegeneinander verschobener, eina.ndcr wechsel-
Montage ableitet, dienen in Sklovskijs gleichzeit.igcr Definition des seitig verfromdonder Wahrnehmungsakt~ entspricht. gleichsa.m st~ktu-
kunetimme.nenten V-Prinrips identischen Zielen: rell der montierten Sequenz auf dem Bild. ParaJlelismus und Wieder-
.,Ziol der Kunst ist ee, ein Empfinden dee Oogonatanclee u, vt'rmitteln, holungen auf der Wort-, Satz. und Sujetebene, die vom Forme.lismus
als Sehen (<rid•nie), und nicht als Wiedcrerkonnon (u.:,aat-an~): das Verfahren in ihrer poetischen Semantik wie in der Sujettheorie zu zentralen, kon•
der Kunst ist das Verfahren der ,Verfremdung' der Dinge und das Verfahren
stitutiven Verfahren erklärt wurden und analog im Rezeptionsakt ver-
fremdend wirken, leitet a-uch Sklovskij in Prostramti-o :fit>opi,i i auprc-
111 JAXossoi<, Novej§&ja rusakaja poouja, 24/T. kritisiert den italioni maliaty von der kubo-futuristisehen Methode her:
sehen F1ttnriemu.s v. a. wegon eeiner themntischon lllotivation, wogen seiner ,Wenn auch die Künstler zur D8l'l!tollung von Ceg,insllindcn :mrück-
eKprossiv-emotionelen Bindung der Kunst.tnittel ßJ1 eine rcaliatischoSitua.tion, kol~n oder sogar zur Sujethaftigkeit (i,juktn08~'l, die in 11n8(>rom Vorst-i,_nd,
w,e sie etwa rlie rM&nte Bewegung eines R,,nnnutOB odor Rndfahrcni da.r, nis di8t!88 Wortes, d. h. im Sinne der Schaffung einer gostufton Konstruktion,
stellt, die in Ei11281phMen zerlegt (.Phasenphotographie!) einon pAOudokubisti- nuch bei den FuturLSten existiert (dort nllmlich, wo 816 einen Gcgenstnud m
l!Chen .Effekb en,elt. Fur den konsequenten, ru1Alytillohen Kub,amus ist der seine El,.._non ~erlegen) - a.uoh dann wird dor Weg über die Supromu.tisten
Gegenstand und aoine eKpreasivo ,,lnte1'C88llnthnit" zweitrangig - or dient kein umsonst zurückgelegter Weg sein."
nur als „jormol,er Anlaß zur Raumdarstellung und i•t nur tnBOforn inter-
eSlllll\t, ala er zur Erfüllung d!llsor Hauptaufgnbo d1ont" (JA.KOBSON, K11bi7,m, Die Montagekonsl.ruktion transformiert die Räumlichkeit der simul-
2f.). Zum Dynamismus aus der Steht der italieniachen Futuriste1\ vgl. Boc- lan präsentierten Elomonte in eine Sukz~ion der Appei::eption! d. h.
c101<1, Bildnerischer Dynamismus, 1913. In: Der Fut11riem\1B, 20~/300. in eine Zeit.folge, die - analog zur werkunmancntcn Suiet7,Clt m der
m Jakobeona lebhafte.. lntere88e nm Rclalivität.eprinzip schlägt, sich in
d,eaom Artikel in einem ausgedehnten Zitat Chwol;ion& nied<'r- Bemerkens- formalistischen Prosa-Theorie - jenseits des realen Zeitkontext!! in sich
w"rt ist übrigens du, Begeisterung, mit der Majakovskij Jtlkobeona Darstel- ruht, präsent,isch de.uertm. . .
lung der Relativimtsthoorie aufgenommen hat - und wie intensiv der Futu- Die Abstrakten, Kubisten und .Futuristen hatten erka1mt, daß dto
rist eofort den vitalistischen Aspekt des modcmon physikalischen Welt- Wahrnchmun~quenz ebenfalls über eine eigBDe Struktur. eine eigene
bildes entdeckt ba~. vgl. dazu JAXOBSON, Eine Gl<-nornt,on, die ,hre Dichter
vergeudet ha.t. 9, und I,;. Hote1<s-reu1, Roman Jakobeons _phlmomonologischer ,,Dramaturgie" verfügt, die als Apperz~ptionsbahncn in der_ Bild-
Strukturalismus, 39f. (Jakobsol'IS Zeitkonzeption inspiriert von k11bistiacbor komposition vorgegeben sinc!. Der künstlonschen Montage gebt cm nna-
bzw. futuriHtisoher Malerei und Einsteins Rolativ1tät4lthoorie: ..Dio neno
Lehre leugnet die abeolute Xatur der Zoit und, daran anschhellend, dio 111 OEBSE.R, Un1prung, 1, 62/3 definiert die eporepoktivillOh_e Darstellung
Existen7, omor universalen Zeit. Jodoe der S~teme in Bewogimg beeitzt der Kubisten e.ls „viordimcnsionnl die Zeit aufnehmend ,md sie damit kon-
eine eigeD" Zeit, die Geschwindigkeit doe Ze,tablauföe 18t nicM dio glei- kretisierend", ,.)s t"no „l3iindalung der vjelfeltigon Sohsckt.oron". KolllKl-
oho .. ,", JAKOBSOY, Futuriz.m). quent bezeichnet auch K.A.NDLNSKU, VzglJady 1\a.l\l\d, 23, dto Bilder Rom-
,,. Zum Begriff de,; ,,zatrudntnu" vgl. unten, 220. brandts als „dauernd" (hll'liny tUiW'ny).
88 Formabsmua und bildende AvantgardekunsL der zehner Jahro
Pootische Roalisierung dee Kubo-Futurismua (Kubiim a .i.,..,) 89
lytischer Prozeß voraus, der &118 einem vorgegebenen Kontinuum jene Akaonov verbindet hier die Montage konstruktiver Einheiten mit der
Grundelemente gewinnt (pamdigmatiaiert), die in der Montage selbst V-Montago 110mantiaehor Einheiten, die in der uralten ~teak-karnevalillti-
eine neue, kontextdeterminierte konstruktive Punktion erfüllen (syn. schon Tradition"' der Welt ala „hoap of broken im~ee• (T. S. Eliot) ateht.
t.Bgmatiaicrt sind) 1n. 1.n.eofern ist 11uch dor Hinweis auf den „Haufen Pliwkins"' (Mertvye dtdi.
In der ana.lytischen Phase des Kubism\18 ist der Prozeß der Zerle. Kapitel VT) gerade filr die forma.liat.ieche Monta.gethoorie bezeichnend, die
- "~o im Rahmen der poetiaehon Semantik :iru zeigen eein wird - einen
gung in (geometrische) Einheiten noch vor seiner Transformation in klaren methodischen Zuaam,nenhang zwi.BChen der grot.e8ken Poetik de,
spczifuiohe Montagege11etze entblößt dargestellt und trägt somit - in. ''°'ural"naja lltola (v. n-. Gogol's. des frühen Tolstoj u. a.) und jener dee Kubo-
folge der geringen immanenten Strukturierung - stark appellative Züge. Futuriamus herstellt. Dor Vergleich zwischen Gogol's berühmter Schildenmg
Ähn)jcb demonstrativ wirkt die rein additive Verkettung von „Laut. des Nevwkij Prospekt in aeiner gleichnamigen En:ählu.ng mit der urh&•
nietischcn Montage etwa Majakovskijs und der surrealilltischen Montage
Objekten" in der frühen .wuk-zaum' der !Oer Jahre. LautN!Amont.am und 1101ner Nachfolger liegt auf der Hand.
Die in diesor Phase dominioronde ,,nackte" Kontmstmontage bildet
vom Standpunkt der konstruktiven Kompleirität gleichsam die unterste 9. PoEnSOHl!l RBALISD!IRUNG DES Ktrao-FuTOlllSMUS (Kubizm v 8/ove)
Stufe von Montage-Typen und (primären) V-Effekten: .Je stärker sich In den Thesen zu einem Vortrag O novej§ej russkoj poe::ii (1912)
die formale Methode differenzierte, umso komplexer wurden auch die stellt Majakovskij, der selbst als Maler und Graphiker begonnen hatte,
Montage-Typen, die sie sich zum wissenschaftlichen Objekt wählte. Ana- Malerei und Poesie auf eine methodische Stufe:
log zur methodischen Entfaltung des Formalismus wird im weiteren dß8 „Die Jlfalerei und die Poesie (Lyrik) wurden sich als erste ihrer
jeweils Adäquate Montage-Modnll als llll(ad FI), Mli(a.d Fil) und MITI .Freiheit bewußt. Es herrscht eine Analogie der Wege in der Maleroi
(ad Fil.IJ bozoichnet 1" . und der Poesie", die zur Erlangung der künstlerischen Wahrheit führt.
Die kubo-futuristische Kontrost-Montage (111!) bildet neben dem (M:AJA.KOVSKIJ, I, 366)
konstruktiven Prinzip der synchronen Multiperspektivo und der mit ihr In 111ajakovskijs Sicht ist die kubo-futuristisehe Poetik die „Fort-
,•erbundenen Paradigmatisierung jenen kompositionellen Faktor, der setzung der kubo-futuristischen Malerei mit anderen Mitteln" - aber
den V-Effekt der neoiidanll.t>d' auslöst: mit demselben Konzept, denselben methodischen Prinzipien.
,.1. Der G<,genstand wird gleiohzoitig von venoohiodenen O081chta. Der enge praktische Kont.alct der kubo-futurisllecben Dichter mit der
punkten her darg88tefü; 2. anstelle dos ganzen Gegenstondos werden bloß Malerei, Graphik, Plastik fand in dom lebhafüm Interea80 der abstrakten,
omzclno Teile von ihm genommen; 3. dioeo Teile werden nnch dom C°""8Ctz kubistiaehen bzw. futuristischen ~er an der Dichtuni eeine Entsprechung.
des KontroslB gruppiert.. Die Eigentümlichkeit der kubistisohen Kompo- Weder historisch noch thooretiaoh ist die Wech90lwirkung beider Kunst-
sition bostoht de.rin, daß sie durch und d11reh aus Kontnuit.cn und Ver- bereiche in der Avantgarde der JOer und 20er Jahre auch nur annähernd
aehiebungen (Mivigi) gebildet ist.'" (JAXOBSON, Kubizm, 2) geklärt, sieht man von der grundlegenden Arbeit N. Cho.rdtieve 111oja-
Die kubistische Zerlegung (Analyse) des Raumet1 in Flächen und kowlcij i iiwpia' ab. Majakovekij BJ>tioht zwar in seinem Vortrag ,Prikdlii
,am' /1013) ausdrücklich von „.l-.,l,um 11 81,ovo·' und .,/ulur-itm 11 ~ " (Poln.
die 80 gewonnene ,.stereometrische" Darstellung des Gegcnsto.ndcs als '°'>r. ~- 1, 366), trägt aber theoretisch nicht<1 zur Klärung di- Zu-
.,überraschende Kombination von Flächen" führt zu jenen sensibilisie-
renden Neuheitserlebnissen, die Aksenov als „ungowöhnliche.<1 opti.,cbcn .,. Wenig beachtet blieb bisher Belyjs Analyse des ZUBßmmenhanga
Empfuiden" (§ 07b) bezeichnet, dessen Reiz in der „un-nützlichcn Un- zwischen der unporspoktivischen Malerei der Japaner und Gogol'a grotesker
ordnung" liegt. Technik der V-Perspektive (BELYJ. M88terstvo Gogolja, 127-ff.). Im Kapitel
,.Perspektiva v pcrvoi. tvoroeskoj fgze Gogoljs.'' (126-131) spricht BelyJ OX•
„F..e geht um dfo uberre.schonde l'011ii10n unscrca Auges hinsichthoh von plizit von dor „Fremdheit" (&lrannon') bzw. dem o.,tran~nie der Perspektivik
Ocgonatiinden, die wir gewöhnt sind, verbindlich unter be$timmton G08iohts- bei Cogol': ,.Dio Malerei Oogol'a erwächst aus dor Bowogung, da. Verfagemng
winkrln und in einer bestimmLen Kombination (einer 11l1lltifron) zu sohen. dC8 Körpeni, dom Um.eehen der Oegenständo (ogljlldka prw11W011): ,:on vorne,
Dio Stillobon PiCll6808 bcst~hen aua Gegonst.ö.ndon, mit denen man von aohräg gegenüber, von der Seite, einmal mit geneigtem Kopf, einmal mit
nicht~ o.nfan"on kann. Sie sind "· 13. nicht eßbar, aber Pice.sso zwingt uns, gehobenom .. .'' (ibid.). Belyj beaobreibt dio „japaniacho Penipektive"
eio starr zu i'Gieron - von unten nach oben und nuch om biJJchon von dor (128f.) klar als ,,crfremdet - was ebenso für die kubistische als auch für
Scito. E:r stößt 11einen Liebhaber mit der Nase in einen Haufen Plunder, die Gogol"aoho Porspektivik gilt. Die „Vermischung" der Perspektive und
an dem Pljuskin eeinc Freude hlltlo .. .'" (AlcSEl<O\', § 53) d...- Rezeption et.eilt Bolyj in einen genotiechen Zusammenhang mit dom
Prinzip der „L8-l1t-Metapher" (%uukouajo meta.fora) und der „llyperbol"
und vorbindet de.mit (wie Sklovskij und Jakobson) die konstruktiven Prin-
m Der von Wornnger horvorgehobeuo Abstraktionsdrang, dor Drang zipien der bildnorillohen V-P~ktive mit jener der epraeblichen Reali-
nach Goomctrisierung der Dingwelt in kristalline Formen, 1st III der kubo- sierung. Dazu vgl. &uch das Kapitel „Fony Oogolja v pervoj faze", v. a. den
futuristischen Montage zur Methode vermnerlicbt. In di088m Sinn spricht Abechrutt über di& Landaehafuidantellun~ ~1'• (.,Inazewerung der Land-
AJuu:sov, § 112 von einer ,.fomuil-o.nalytiaehen Methode"', die dem ,,struk- achaft", J34f.). der einen intereeaanten Vorgriff auf die houti~n Theorien
lumlen Handeln"' der FormalJSron (razcle11mio und nQVCHI 80&/onie) en~- der Semiotik des narrativen Raumee d8r11tellt. Vgl. auch VtNO0B.A.J>OV,
Bpricht. :E:tjudy o etile Oogolja, 83fr.
,.. Zur fonnahst.iscben Mont-sgetheone vgl. unten, 338ff. '" Zur surrealiatischen Kontraetmontage vgl. HOPllA..."IN, 398fr. und
A. BRSTON, Maoifeete, op. oit., 35f.
90 Formnlismue und bildoudo Avantgu.rdekuust der zehner Jtu1ro Poetische Realisierung des Kuba-Futurismus (Kubi.tm 11 alo..,) 91

sa.mmenhangfl8 bei, obonsowenig wfo rule spateren Interpreto.n des Kubo- In der kubo-futur~,tischen 11-fuleroi bedeutet 8clvig jegliche Yer-
F\1Lurismus, dioen~woder don kubistischen Aspekt überhaupt übere.shen oder schiebung von Ebenen (advig ploskoslej - BtrnI.JOK, K1tl>izm, 100) als
ihn bloll „metaphor~h" veratnnden. 111 Folge einer poTSpektivischen Verschiebung.
Tat&iohlich boroitet dio RekonRlruktion der mcthodiscbeo Trans- Im Manifest Slo,Y>, kak ta).-,,uo,, vergleicht Krui!onych die Vorliebc der
formation cler koustruktivcn Prinzipien des Kubismus aus der Malerei futuri.etischou und kubi.otieehen .Maler für dje Zerlegung (ra:loi,mia) des J.fon.
in dio Poesie und Uber sio hinaus in die frühe formalistische V-Theorio sehen in seine Körperteile bzw. Aufeplitterung von Bewegungsabläufen mit
einige Sch\\ierigkeiten: Dies ha.t sich schon bei der .Behandlung der der ad!Jig-Technik der Wortmontage.
Klltegorien der Gegenstllndslosigkeit, der Verdinglichung und zulet?:t Ebenao wie in der Malerei die irrogulfu-e Perspektive (1U!provil'1wjo
~r,veJ,:(ir,n) einen irregulären Aufbau der Gegenstände (,w,pravil'no,i po-
der Kontro.stmontage gezeigt. Die Ana.ly.i;tJ der kubo-futurist-ischen Be- atrocnit p,-tdmdot•) bed'rngt (Knum>:NYCH, ManiftJJty, 7 l ), führt die „Zor-
griffe sdi:ig (Verschiebung) und faktv.ra (llfochart), die auch in dor frühen haekung der Grammatik" zu einer Zerlegung der Gegenstände (ra,loio11io
formRlistischen V-Theorie immer ,1ieder auftauchen, könnte als „termi- predm8U>v) in der Sprachkunst. Die voraohobcne Mont&ge dor Fläohenelomnnte
nologi~cho Brücke" zwisohen beiden Kunstformen benützt werden. ha.t ihre Ent.llprechung in jener der kleinsten sprachlichen Einheiten, die
in dor asynt&ktiacben .Montage paradigmatisch präsentiert werdan: Die
Ptaxia der .,..m.zaum"' realisiert als pootischcn Text diese paradigmatische
A. Der Begriff des sdvig llfont.Age-Oramm&tik in dem Sinn, wie ~ie Morinctt,i 1912 im T•chnischtti
Genetisch gc,;chen ist der kubo-futuristisohe 8dvig-Begrilf oiner der Manifut ckr f«turistiachon Literolur (7'ff.) entworfon hatte:
,.Nur der asyntsktioche Dichter, der sieb der losgelösten Worte bodiont,
unrnit.telbaren Vorläufer des frühen !'lklovskijschcn V-Begriffs In seiner wird in das W080n der Materie eindringen und die dumpfe Feindschaft, d,e
eogen Bedeutung als scmantisoho Kontrastvorschiebung (.miyslovoj sie von una trennt. zerstören können . ... Der late.in.ischo Satzbau war oino
8dt1ig). Ebenso wie dieser umschließt er gleich mehrere, verschieden kom- Totgeburt. , ." (78)
plexe Funktionsbereiche, die sich nicht immer leicht gegeneinandor ab- Die erste ausführliche theoretische Analyse der .sd~-i'Jo/og•ja stammt
grenzen l&SSen - zumnl der advig-Begriff in den o~ stürmischen MAni- von A. $EMätrarN, der die 8dtliq-Tcchnik am Werk V. Brjusova c]11,r.=itellL,
fcstrn der Futuristen o,Js polemische Waffe und durchaw; nicht in dem nm die historische Legitimation und Kontinuität des Verfahrens zu
säuberlich geordneten terminologischen Vorrat des Kunsttheoretikers demonst;rieron:
w finden ist. „Der literarische Futurismus becüent sich des &dvig ebenso wio der
Die Kuba-Futuristen verstanden untor Bdvt(/ im weitesten Sinn malerische. In den futuri.stischeo Büchern werden die Zeilen und die ein-
jegliche Verschiebung zweier oder mehrerer Ordnungen gegeneinandor zelnen Wört-0r nicht immer mit Buchstaben ein und derselben Schrift ge-
druckt. Das Äußere einiger Bücher der Futuristen ist dergestalt, daß ill
bzw. deren Element-0 durcheinander. Sd111{J als Deformation und Norm- ihnen alles gleichsam ver8'lhobcn eraobeint (1186 .ukinul08'). Abgesehen von
bruch deckt sich hier mit der formalistisohen Auffassung der primären dieser roin 1necha.nisohen Verwendung benützten die neuen Poeteu de11
V-Verfahren. ad.uig o.uch schon als speziell litere.risohea Verfahren." (A. SEMäo1m,,
., 1. Disharmonie, 2. Disproportion, 3. 1''a.rbclissononz, 4. Diskon- F-11turizm t1 atichach V. Brjll40fJG. .111. 1913, 0).
~truktion". (D. BURLJUK, Koofrm, 101). Im engeren Sinn meint sdw; hier clie Verschiebung der Wort-
Sdvig bedeutet hier lediglich o,lle Art ,·on Dekanonisieruug, De- grcnzen 198, ein Verfahren, das wie kein anderes die graphische Deter-
kompositio1t uud Deformation jener Norm, clie a.ls Kont~intergrund mination der Semll,.'Jiologisierung demonstriert - analog zur Enjambe-
(o.ls volva akmtcmiltskogo kanona, ibid.) immer gegenwärtig bleiben ment-Technik auf der Ebene der Versgrenzeu-Vefl5cl1iebung, die in der
muß. formalistischen Verstheoric methodisch diesclbo Stello einnimmt wie in
Jm sell>cn Sinn definiert auch K.rucenych - einer der eifrigsten der frühen formalistischen zaum' -Theorie der ad·uig l ln beidon Fällen tritt
Verfechter der sdvigologija - den sdvig a.ls jenen KontrBSt, der zwischen das Wort in seiner optisch-buchstäblichen Materialität bedeutungs-
zwei heterogenen. montierten Elementen besteht: Krucenychs Uorija,
kontrastov (Kontm.~ttheorie), der a.uf der Wahrnehmungsseite das Oese~ (ka11<>n advi11utaj ko1111irukcii) als den listbetischen Kanon uberhaupt; vgl.
de,, Zufalls (zakon ilulaj11osti, =:Eidannosti) entspricht, operiert mit cbeneo KA.MENSK.L1, Ego• moja biogr&fija. 98 (.,Ich dachte de.ran, elJl Buch
diesem weitgefaßton V-Prinzip (KRocENYCll, Sdvigologija, 18/9)'"'. ru schreiben - Zemljanka - in der Form eines Romans - mit poetischen
Ver8ChiebU11gen" (s f)Oel~eakimi advigami).
111 K.Ru<'n<N:t01t, 500 novyoh ostrot i kalamburov Puskina, prii.-
'" Zur Kubismus-Formalismus-Doziohung vgl. gänz oberllii.chlich V. •~ntiert v. a. ,vortl:l"9nzenvorschiebungon als Kala.uor, wobei Krurenych
EllLICH, Formali8mu8, 62.; weitaua klaror bei Po><OIISKA, 20ff.; JAXOBSON, d1e frühe Lnutthcono des OPOJAZ vergröbert übernimmt w1d den sdvig
Solooted WriLings I, 632 ff. formalistisch als „akustiscl1e Textrczoption", gebrocbon bzw. verfrl,mdct
"' Zur Entwicklung d~ adviv-Begriffs v$l. V. MA_RKOV, ~turism_, 8, 2.9 durch eine „optische Rezeption" (der Wortgrenzen), definiert (8 und 18).
(8dvigbei Kameoskij), 48 (bei BurlJuk), 2.26 (bei Seu:wunn,Fut=m vsL1chBCh Intere...ant i11t Kruöenychs Hinweis wf die Rdvig-Verfahren in den „Vor•
V. Brjusova), 237/8 (bei Pasterna.k und Majo.kovskij), 270 (bei I. A. Akßenov). spreeh!:m" (obmoluki) im _.l,'reudschon Smn (v1;tl. I. EallA.Kov, f:tjudy o psi-
242/3 (Eindringen de,, adviq-Begriffsauader Malerei m die Pootik). B~K, chologu tvorwatva Puskinn. M.-Pg. 1023, eine psyobo..naJytisohe Untcr-
Kubizm, 08 bezeichnet den „Kanon dar verachobenon Konstruktion" suohU11g des Warkee PuAlcins).
02 Formruiemus und bildende Avantgardekune~ der zchncr Jnhro Poetische Realisierung des Kubo-Futurismus (Kubizm v 6love) 93

schaffend auf: Die gra,phiaoho Verschiebung der Silbengronze impliziert ristischen zaumniki in den tOer Jahren praktiziert wurden, sind im
eine Verschiebung der semantischen Perspektive bzw. der damit ,er. übrigen schon von den Manieristen in all ihren Variationen durchgespielt
bundenen het-erogenen Interpretationen, die mit der homophonou Ideu. worden"'°.
titiit dCII Wortes (u lica.=ulica) interferieren, die,e entblößend verfrem.
den. Auch hier wird die fundamentale Struktur des Wortes einel"l!eits als B. Der Begriff der /alduro
akwitisches, anderseits alJJ optisohea Phänomen zum Gegenstand dor Wie der adtrig-Begriff entstammt auch /aldura in jenem Sinn, wie
Reflexion und der Bedeutungsproouktion. die Formalisten später den Begriff eiru;etzten, dor kubistischen Termi•
Das anagrammatische ulica-Paradigmt\ stammt aus einer Reihe nologie: D. Burljuk 201 definiert /aldura als die Gesamtheit all jener
urbanistischer Godfohte }Iaja.kovskijs, der die Wortgren1-enverschiebung materiellen und plastischen Eigenschaften der Bildoberfläche (poverch-
mit jener der Versgrenzenverachiebung kombiniert und metathetisch 1" M81'), die im kubo-futuristiscben Bild den Raum (p,wtraMIW) und seine
wcitervariiert: zeitlich-kausalen Implikationen nicht mehr transitiv-mimetisch simu-
u. liert, sondern zu einem selbstwertigen, dreidimensionalen Objekt der
lica. haptischen Wahrnehmung verdinglicht. In diesem Sinn ist auch nach
Ließ I. Zdanevic /aktura = Oberflächenzustand der Bildfiäche (s08tojanie
u poverchnCBti karlin11<>j plo8~i. 34). Die imaginäre Dreidimensionalität
dogov
godm, der zentralperspektivischen Tilusionsmalerei wird verfremdend ersetzt
rez. durch die objektiv-greifbare Dreidimensionalität des Farbauftrags, der
~- materiellen Struktur der Leinwand, der „Materialsprache" im weiteren
ö•. Sinn. Diese haptische Dreidimensiona.lität verfremdet aber nicht nur die
rez
(In: Trebnik trofoh, 36) imt\giniire Abbildung, sondern suoh die Zweidimensione.lität der plo8-
llialevie hat dieaos Gedicht Majakovakijs als den gelungoru,ten Versuch kwl'-Montage auf dor Bildoberfläche, sodaß im kubo-futuristiS<:hen Bild
einoa 6ti,;/w1vomyj lcubizm be7.eichnet (ÜHARDi!Ev, V. Najaloov8kij, 388). In drei Ebenen „medieoimma.oent" gebrochen sind:
ihm sind die beiden Grundformen des advig - die lineere (ufü:a zu tt-lica J. proatran8lt'O dur-Oh. die Zerlegung in zweidimensionale
oder Wo-..ek) und die meta.thetische (dogoo zu godov) vexierbildal"tig oufoin- 2. plwkosti, die ihrerseits aperspektivisch neu kombiniert sind und
ander bezogen, sodaß di080lbe InterprotaUonsrunbivalenz entsf.eht wio im 3. durch ihre dreidimensionale Real.iBierung in der po-verch=t' und
Fall des obon utiert.on Schaubildes: dcrenfaktura aus der Kategorie der „großen Abstraktion"(= ploaloost'.
Analyse) in die der „großen Realistik"(= faktura als objektiv-haptische,
~~~/ räumliche Gegenstand.squalitlit) übergeführt werden. In der /aktura der
Oberfläche werden die Materialqualitäten bedeutungshaft, seme.siologi-
siert, ästhetisch autonom. Die Linie, die Farbfläche als abstrakte Kom-

I_J
position werden mit ihrer eigenen Qualität, ihrem materiellen Substrat
(Linie als Grapl1itspur auf dem Leinwandgcwebe, Farbe als Pigment-
konzentration mit PinJ!elspuren, Schraffen, Reliefen etc.) konfrontiert:
Burljuk (op. cit. 07 und 103) stellt die /aktv.ra al.!J autonome Dsrstelluoga-
kategorie neben Linienbau (linejnoe poatroenie) und Farbinstrumen-
~
tienmg (cvelovaja in8trumentovka).
/ u-lica In der „freien Malerei" (aoobcdnaja :!ivopis') wird die /aktura zum
8-elbstzweok (aamoctl') und gleichzeitig zum Garanten für ihre Authenti-
Die Verschiebung der Wortgrenzen „proouziert" bzw. ,.generiert" zität und auratiscl1e Einmaligkeit, dio nicht reproduzierbar ist - eine
gleich.sa.m textimmanent Bedeutungseinheiten bzw. -kombirmtionen - Vorstellung, dio sowohl graphisch als auch poetisch in den futuristi-
ohne in den Bestand des vorgegebenen Wortmaterials selbst transforma-
tiv einzugreifen: Die Neukombination füllt - ebenso wie in der kubo- 100 KlltrÖENYOH, Vortrag vor dem Moekauor Linguiatik-Kreia im Sep-
futuristischen Malerei - ganz in die Kompetenz des Rezipienten, der tember 1921 über IIGl>igoi,,gija und „analo Erotik", erwähnt boi Kltvö&NVOH,
Wahrnehmungseffekt lebt aus jener „Auflösungslust", die allen .,Wort- Zaumniki.
101 Btrnt.JUX, Kubizm, 102f. und I. ZDANBVIÖ, 34ff.; GruäÖBNJto, 19/20
b-pielen" zugrunde liegt. Alle sdvig-Teohniken, die von den kubo-futu•
definiert Jakluro. als obrabolka p&vercl11wmi clio/4ta (Bearbeitung der Lein-
wandoborllö.cho), &Ja Pröeontation der Pinaelhandachrift und ihrer überein•
'" Zum motathotisohen sdvig vgl. KBoÖENYCB, 500 novych ostrot, 4ff., a.ndergelagerten Strukturen und Materialien; Vgl. auch V. MA&B:ov, Futu•
erweif.ert zu einer palindromatoohon Serie wie z. B. rez,&/&,ru ot.c. riam, 49ff.
94 Formaliamua und bildende Avanr,gardekunat der zehner Jahre Poetische Realisierung dce Kubo-FuturiamUB (KubiJ.11• v ~wve) 95

sehen AlmanMhen ala Gesamtkunstwerk realisiert wurde. (Bt1111..ru1t, Ull~ da~er über keine autonome oJ~iTIIDSl' verfügen. Sklovskij geht so
108). weit, die Jalctum als das a.usscblaggebende unt~rschcidende llferkmal
jener „speziell konBtruierten Gegenstände" r.u bC't.eichncn, deren
V. Markov hat dem Phänomon der /akluro eino anafllhrliohe Studie ,.Summe wir ale Kunst 1,ezeiohnen":
gewidmet, dio eich mit d_er Jakl1'ra m Male~•• _Plastik und, Architektur vor
dem Hintergrund der onentalll!Cheo, folklOl'l8Ltschon, urzo1thchon und pri- ,.Die ge8Smte Arbeit des Kllnatlers - dee Dichtors und dea Mrucl'8 -
mitivietiaohen Trndttion befaßt: Pri11ciw h,<>rlul""' v p/a#tilukich ukvan1:ach. führt zua.Uererst dazu, emon kontinuierlichen (nepreryvnyj), "" jeder Stcllo
Fakrura. $Pb., 1914. Markov definiert Jalaura als .,:\Jatorinl-OcrliW!Ch" fühlbaren Oegenstand zu echaffou - oinon fakturiorum Ü"""nstand "
erweitert den Begriff aber um die Kategorie dor imm&toriellon /al.:ruro. (ne'. (ibid.) -o- •••
,na1,rial'1u,ja J<Jkturo.), die in der verdmglichendcn Realisierung der Kon- _Du Empfinden der /okl1,ra bzw. die Einstellung auf aie vollzieht sich
stru.kt1on ~\I 1JUchen ist und wohl dem formalistischen Bel!rlff d„ Form. m einOt' "!neuen Emp_findungawe)t,:', ja einer ne'!en ,;Taat.\Velt,0 (pwtroenia
ompfindons (oli!uile11i• Jormy), d. h. dea een.suellM Fühlena emer abstrakten 1'0VOgQ '?8}azaemogo tntra), an dor die Menschen mcht. nur punktuoll (im Kon.
Konstruktion, cntepricht'°'· Im Oegene&tz zum akademischen „vertnebenen takt nut dem Kunstwerk) teilhaben, 110ndem in einom permanenten krea-
Auftrag" bzw. der entrnaterialis,erenden Glättung des Materials in der tiven Wahrnel.unungszuatand lobeo.
Plastik erzoust dio Mat.erialdomo,,stration Uber dio primären V-Effekte
hinnua re0okuerbo.ro Reaktionen, die auf der Jaki.ura als „Entblöllun~- Von der Malerei ood Plastik auf dle Literatur übertragen bO\rirkt
ve_rfal,ren" (JAKOIISON, Futm'izm, 3) baaieron'°'· .,... Diefaktura aucht 111ch
keine Rechtfertigung mehr, aie wird autonom, fordert neue Geat,a,ltungs. die /aktura 11lova, dio Solbstprli.sentation doa phonetisch-prosodischen
möghchkeiten, neues l\lat.erial; auf dM Bild worden Po.piaratücke geklebt, Su~~rat,s, zunä~hst di~ primär verfremdende Sem1ibilisierung - so
winl Sand gcsl.reu t ... " (3) v. a. lll der ~'ram der remen ivuk-zaunl' -, die durch die Komplizierung
Im Gegcn.~atz zur booohreibenden malerischen Kontur (!ivopienyj der phonetischen Wahmohrubarkeit provoziert wird und dadurch in
hmtur), d. h. der Abgrenzung durch abstrahierende Linien und Farb. Widerspruch zur automatisierten, ,.glatten" Wahmehmbarkoit des
grenzen, gestattet die Montage heterogen fakturierter Flächen Oppo- pralaiü.,koe alovo tritt. So sind in dioscm weiten Sinn faktunwe und
sitionen, die ausschließlich aus dem Kontral!t der Materialqualitäten poelitukoe sk>vo identisch: Dieser primäre wahrnehmungshemmendo
erwachsen, d. b. die 'Fläche (plcako8t') qualitativ gliedern. Diese Gliede- ~pekt der falaura 8 ~ durch prosodische Komplizierung hebt auf der
rung erfolgt im kubo-futuristischen Bild nicht nur parataktisch, sondern einen Se~te das Wort-Ding von den medial-kommunika.tiv eingesetzten
auch „überlagernd", wobei die übereinander kopiertenpoverchno-m und Wort.Zeichen Ulld auf der anderen Seite auch (nun freilich konzeptuell)
ihre faklw-a jeweils eine eigene Sujetebene implizieren. Aksonov von don anderen Lautphänomcnen ab, die keine sprachliche Funktionen
bezeichnet diese Überlagerung verschlodon fakturierter Sujet-Ebenen erfüllen.
als prient 8kol'zja6uj p~ko8ti, einer Ebene, die gleichsam „transparent" Entblöllt iat dieee Bezieh=g ZWl&Chen reiner .wuk-zaum' und Oeriiuaoh.
wird und den Subtext (genauer rue Subtextur) entblößt. Dieee simul- phö.nomenen im futuristischem Bruitismus. Der komplizi<·rto Konsonantis-
tane Prä."6Jltation raum-zeitlich heterogener Sujetebenen setzt also fl:'US de,: russischen ~ttnmil.:i stellte ilberdiea einen bewußten Oogonaatz rur
sowohl die oben beschriebene Analyse in Flächen und Multiperspek- ~mgingigen euphoru.ec~c~ Volcalmolodie der Symbolisten dar. In der Oegen-
~benite1J1:1ng von fut_unst1BChem K?nllOn&ntil!mua und symbolistischem Vokn-
tivcn als auch autonome Realisierung der faktura voraus*. liamua wiederholt sich aus der Sicht der Kubo-Futurist.en die Opposition
In dem schon zitierten Auf11Stz O fakture i lcontr-rel'efacA defln.iert von ploskoat' und fakturo. (b,;w. 'f'O""rc/mo81') von transitiver Repräsen-
Sklo"skij dieso faktura-Technik als Y-Vcrlahren, da der primäre Effekt tation und intransitiver Präaontat1on: •
der faktumeine Komplizierung und Erschwerung (zalrudnenie) der Wah.r- „Dio Vokale oind für uns Raum und Zeit die Konsonanten - Farbe
Laut, Duft ... " (In: Sadok ~ - Manifuty, 79) '
nehmung hervorruft - im Gegensatz zur akademischen TraMparenz Im Oogensatz zur symbolurt,schon (synästhotiachon) Theorie der KOM"O·
(.Prozm~nost') der Kunstmittel, die rein instrumental eingesetzt sind spondenz vo~ Vokalen und F~bon (= Stimm=gen) behaupten d.io Fut.u-
"'!ten, daß die Koll80nanten die Farbtriigor seien, da N dte /akt"ro. be-
atunmen. lOI
.,, V. MAaKov, Principy worooatv& v plastiiSeskich iskUBSt,,acb. Die weitere Entwicklung dea fa.l:tura-Begriffs hat eine beträchtliche
Faktura. SPb. 1914, 1 (Oleichaetzung von falaura und .fum „Rauschen" - Bedeutungserweiterung gebracht. Im weitesten Sinn verstand man
ein Begriff', der mit dem informationsthoorotischcn Begriff dee „Rauschens"
durchaua deokungsipeich ist!), 64 (der ,,Kammom>n" entsteht bei Kombi- /alaura einf&C? als „verfremdete Macha.rt" oder einfach überhaupt als
nation bzw. Oborcmo.nderlagorung venichiodonor .fumy). Zum Begriff dee Synonym fllr Jede Art von Konstruktion. Dies gilt a.uoh für Krucenychs
Kammertorui vgl. auch unten die Monl,a,getheorio Ejzenatejn.s (unten, 3~2f.). Deklaration Faktura alova aus dem Jahr 1923:
'"' Die Jalauro. in der Malerei geht auf die eprezzatura-Toohnik des
16. Jh.a zurück-vgl. dazu Honu1<1<, l74ff. - . die den plastischen Farb• „Die Struktur dee Wortes oder Vel'IIOIJ - das aind soine B8'1Landt.oile
aunrag über den „literarischen Inhalt" des Bild08 setzt; vgl. Axs111<ov, f 98 (Laut, Buohat&be, Silbe eto.). Bezoiohnon wir sie als a-b-e-d. Diofaktura
(/aklum als Enmhoinungsweise des Kunstwerks als handwerldioboa Artefakt).
,.. AxsllNOV, § 55 analysiert. die penipektiviachen Aspekte der Jakl,uro
in dor darstellenden Kunst, v. a. daa 01aillioren zwischen Vorder- und
B.int.ergrund. •• Ca.umfnw, V. Majakovakij, 380f.
96 Fonnaliamus und bildendo AvMtglU'dekunat der zehner Jalu-e Poetische Realisierung des Kubo-Futurismus (Kubum 11 •low) 97

dee Wortce - das ist, die Vertoilung dioaer Bestandteile a-d-c-b, die metaphorische Analogie von Sujet u.nd Illustration; darüber hinaus
b-o-<l-. sind aber auch alle anderen Bestandteile des materiellen Substrats des
Dio/ald.ura - das ist das Machen (ddani<s) dea Wortoe, aeino Konstruk. Almanachs, Papier. Einbe.nd, Format, Buchstabenschnitt Satz
tion, die Verteilung ... von Silben, Buchlltaben und Wortern."
handschriftlicl1e Reproduktion (zumeist durch lithographische Platten:
Intereisant ist au dieser Definition, daß Kruoonyeh hier Jaktura auf denen sowohl der Text als e.uch die „Illustrationen" aufgebracht
eindeutig im Sinn der formalistischen V-Theorie versteht und den Be- waren) u. a. fühlbar gewacht und stehen in einem merk:malhafteu Wider-
griff mit dem d8'1 3dvig fast schon gleichzusetzen scheint. spruch zur konventionellen, verfeinerten, exklWliven bzw. bibliophilen
Editionst.echnik der symbolistischen Almanache.
C. Lottristische Collage u.nd visuelle Poesie im Verfremdu.ngs-Genre de11
futuristischen Almanachs ln diesem Sinn smd dio futunstischcn AJmanacho achon in der Auf-
machung epntiorcnde V-Editionen 907, man donko an das oft auch aWI Gold-
Im Phänomen der Schrlft überlagern einander in ti•~m Zeichen. mangel ,,schlechte" Papier, das plötzlich - in der Hand des bibliophilen
BUbstra.t graphisch-malerische und linguistische Intentionen, da der $&mmlera - einen anratisohcn Reiz erhält, dor eioh an der kalkulierten
„Patinn" der_ minderwertigen Materialqualität entzündet und. gl&ich2ejtig
Buchstabe einmal als sprachliches Symbol und einmal als solbstwertigl!II verfremdet \\ird durch das Bowu.Otscin dor Gowollthoit obon dieees Effekte.
graphisches bzw. optisches Phänomen angesehen werden kann. Diese Du Mochum „Buoh" sowie die f)i4'mennosf des „Gutenberg.Zeit.alters" er•
Ambivaleru: der Interpretation löst im Rahmen jedes Mediums eigene fährt durch die futuristisohon V-Editionen eine karikiorendo Entblößung
Differenzqualitäten aus: Tritt der Bucbßtabe im kubistischen Bild als - gi_mz im Smn der n?op~imitivistischen Arehnisiorung, dor bewußten Re-
dukt.1on oJJor kommuniknt1v()n Faktoren gogonübor der rezenten mtional-
konstruktiv eingesetzte Gestalt auf einer Ebene mit anderen auf, so teohmachen Perfektion, dor nut.om&tisiorton Reproduktion. Analog zu dieser
wird damit seine transitiv-bezeichnende sprachliahe Funktion (der Entblößung der p(a'mt11no3t \\;rd auch di& akat-Stilitriorung zu w.orton AOin.
pi8'me11110Bl'} verfremdet; tritt der Buchstabe (typo-)graphisoh autonom die ebenfalls nuf oinon Kommunikationsstand zurückgreift (freilich nur in
(etw& im Buchstabongedfoht, in der lettristisohen Poesie) auf, verfremdet Signalen!), der noch vor der Allmll.eht des gedruckten Wortoa im Zeitalter
der mündlichen Kommunikation lieg~.
er die transitiv-mimetische Funktion der graphisch-malerischen Dar.
stellung. Diese intentionale Ambivalenz ist im futurist.ischen Almanach Der futuristische Alme.n&ch lenkt also die Aufmerksamkeit auf das
dadurch kompliziert, daß dieser sowohl als poetisches als auch als gra. Phänomen der Reproduzierbarkeit des ästhetischen Objekts (im Sinne
phisch-malerisches Kunstwerk auftritt u.nd im Rahmen eines Genres Benjamins kulturkritisch), indem er auf die Drucklettero sogar bisweilen
beide genannten V-Intentionen realisiert. Auf der einen Seite wird daa verzichtet u.nd sie durch die Wiedergabe der persönlichen Handschrift
Graphem zu einem optischen, räumlichen, ästhetischen Faktum verding. des Autors (in lithographischer u. a. Reproduktion) ersetzt: Diese Ha.nd-
licht, auf dor anderen $eire dient dBBSelbo Graphem &ls Träger der schrift, demonstriert; nicht nur die spontane Einm&.ligkeit der gmfialkaja
sprachlichen bzw. phonetischen Bezeichnung. Beide Intentionen können zau,11' (TRET'JAKOV, BuJ:a Ml.88koj lileratury, ß), sondern auch die
außerhalb des futuristischen Almanachs, &her auch als isolierte Genres Te.tsache, daß die Jaklura der Buchstaben auf einer Ebone steht mit
im Rahmen ihrer genuinen Kunstform e.uftreten: einmal als lottristiscbe der Jakl11ra der graphi!Johen Gestaltung (Illustrationen, Papiet, Einband
Colla.ge in der kubo-futuristischon Malerei und Graphik (so achon bei etc.). Damit wird der Alm11nach zu einem Buch-Ding, in dem die &lovo-
Braque, Picasso, abor auch häufig bei den BurljukB, Le.rionev, Puni i,ell' buchstäblich verkörpert ist.
u. v. a.) - einmal als lettri&tische visuelle Poesie als litcrariaches Genre, In den ManifeRten der zaunmiki wird der graphischen QualiLiit des
das ebonfall~ auf eine alte manieristische Tradition zurückzuführen ist. Buohstabon (seines Schnitte.~, seiner Größe, Färbung ete.) dieselbe selbst.
Die lettristische CoUa.ge in der Malerei ist ein Sonderfall der /a/cJ:ura- wertige Bedeutsamkeit zugesprochen wie den lautlichen Qualitäten der
Roalistik, d. h. der Montage heterogen fakturierter Substrate, die ihrer- poetischen Sprache: dem „Wort als solchem" (alovo kak takovoe) wurde
seits über eine vorgegebone autonome Struktur verfügen: Collage von so der „Buchstabe als solcher" (buha kak takovaja) zur Seite gestellt, IIO
Zeitungsausschnitten, Fahrscheinen, Heftklammern, Aufschriften und in dem gleichnamigen Manifest von Chlebnikov und Kruöenych aus dem
gemalten u.nd gezeichneten Abschnitten, deren Relief de11 Rahmen des
Tafelbildes sprengt*. .., Häufig bemül1ten sieh die Futuristen in ihren Almanachen um eine
Im graphisch-literarischen Mischgenre des futuristischen Almanachs b_ewußte Inkongruem: zwischen der poetischen und der graph.i.11cb-illW1tra-
stehen im Zentrum die Übel'IIChneidung von lettristischer Collage und t1von „Fabel", zw,achen Text und Bild: Die Analogie zwischen beidem liegt
auf der. ":1o~hodiso_~en Ebene, nicht ~uf der inhaltlichen (v!ll. S. Boanov,
visueller zaum' als Buchstabengedicht bzw. -bild, an der Peripherie 0 novoi 1l1Justracu. In: Vertogradan nad lozami, 156). Die Technik des
Idoogram.ms war bei Burljuk. Kruoonych, Chlebnikov u. a. Futuristen
'!°'t;au& stärker parodist!sch•".~fremden~ orientiert als die Kalligramme Apol•
,.. OB.l§fE~'XO, Krizis iskusstva, 20, ■teilt eine Verbindung her zwischen linalN!e, der „S,multarusmus Cendrars u. e.. Zum Phänomen der Selbst-
falaura und Material-Co~ (.,Einfuhr verschiedenartiger M"at.erialien" - kanonisierung" (att/o.kanonua.:ija) durch Publikation von hnndBclu·til.lichcn
ein Verfahren, daa achon m der mittelalterlichen lkoneokWUlt auftritt); Texten _vr,I. CHABDta:v, V. Mojakovakij, 381/2, und Sadok eudeJ, 1914
Vgl. &ueb AurN'ov, § 104 (zu den Ziffom. und Buchstaben-Collaeon), («>mo-pw ma).
98 Formalismus und bildende Avantgardekunst der :whner Jahre

Jahr 1913: In diesem wird klar dio Autonomie des oolbstwertigen Buch.
st.oben gegenüber dem selbatwertigen mum'.Wort hervorgehoben (Mani.
Jesty, 60/1, 60/J und 78ff.). 1n den lithographiert(ln bzw. handgeschrie-
benen Almanachen - so etwa. in Krucenyohs PO'mada oder Krucenychs
und Chlebnikovs Te li le. (Stichi i riB'lmki) u. v. n.. - ist der Text so
unleserlich, daß seine Wahrnehmung tatsächlich „gebremst" und dl\mit IV. DIE KOBO-FUTURISTISOHE ZAUM'.POETIK UND DIE
intensiviert wird (tugoe tl08prijalie)tce. FRVHE FORMALIS'l'ISCHE THEORIE DER POETISCHEN
SPRACHE
Die poetischo Funktion der „graphischen Gedichte" (grajllukie poemy)
reicht vom Buchatabonbild tot, in dem die optischen Effekte die textBeman.
tischen völlig dominieren (die Konkretheit des verdinglichten Schrift-Mediums 1. Zawnnyj jazyk AL.~ REALISIERUNG DES PRINZIPS DER POETISCB.BN
steht in umgekehrter Pr?pertion zur ~bst~he1t d<:9 durch ~teeee Medium GEOENS1'AND8LOSTOKErr (bespredmetnost')
präaontiert.On Toxtca), bts zur Semas1ologis1erung dieee_r opt18oh!"' Effekto
.u autonomen Bodeutungstriigem. Es gab auch Exporunente, d1eao Buch- Theorie und Praxis der kubo-futuristischen zaum'-Sprache stehen
et,abenaemantik mit dcl' Textsemantik zu einem System zu verach,nelzen -
etwa durch eine Hierarchie von Bedeutungsp~portdonen (erzielt durc~ Ver, in komplizierter Abhängigkeit vom Prinzip der Selbstwertigkeit (o!Om~-
größerung, Verstärkung, Färbung, Deformat~n der Buohs~ben), die auf cel'1W8t', eamccemWBt', ltllmovitoot') des poetischen Wort-es in der symbo-
eine Differenzierung der rhyt~tBchen, Proso'!tBOhen, phonet18chen "':'~ Be· listischen Poetik - eine Abhängigkeit, die dadurch so unklar erscheint,
mantiechon Textelemente hinweisen sollten. Diese Veraohmolz~g reahs1ertt. daß sie J. von den Futuristen selbst immer wieder in Abrede gestellt
Ilm radil<alston ll'ja Zdan.evia in seinen „ferrokonkreten" Btld-Oed,chten,
ebenso wio V. Ko.menskij. Burljuk u. a. Kubo,Futuri.sten'"· wurde und 2. o.uf keinen eindeutigen Aussagen der symbolistischen
Poetik beruht. Die Scltwierigkeit liegt hier in der ambivalenten Wertung
der poetischen sam@'M,!lt' innerhalb des Symbolismus selbst; so be.
,.. S. TRST'uxov, Buka russkoj literatury, 6 (zur r,rajlU8kajCJ zBum'
Kruöenychs). . . stii.t.igt 2. B. Belyj auf der einl!n Seite e.nsdrüoklich die Autonomielll
,., Als einziger den Formalisten nahoetehender Theoret,ker hat SJch 0. des poetischen slot'O lcak takovoe - und relativiert sie auf der anderen
Vwo1um Kul'tura jazyka, 219, mit dem Phänomen der Buchetabonseroan, Seite da.durch, daß er sie nur gegenüber der begrifflich-prosaischen All•
tik aW10i~Mdergesetzt und bet.ont dt1n Zeichencharakter dee Buchstaben tagsspraohe gelten läßt, nicht o.ber für den Bereich des m;Jot~stvo
(,,Grafika i ja.zyk", 236ff.); J. BAUDOO'Il( de -~URTENAY, ~ teorii ,Rlova k~k
tal<ovogo' i ,bukvy kak takovoj'.. In: Otkhki 8 (1914), ubt scharfe Kritik bzw. der religiös-philosophischen Funktion der poetischen Sprach-
an dor futuristischen bukoo-'l'heone. . schöpfung. So wird die prinzipiell nominative Aufgabe dor poetischen
>to V. Kamenskij nannte seine Bilder-Oadichto iekmo-~••!'!le ~my Sprache nie in Frage gestellt: Mmoal'11ost' bedeut-et ausschließlich
(CnAJU>zl.ltV, V. Ma.jakovskij, 388) .- das berüh'?teste B1l<!-Oedicht. d,oser Autonomie gegenüber „Thcmatismus" (temalizm) und „Ideenhaftigkeit"
Art ist wohl Kamenskijs ,,Konstantinopel", abgebildet u. a. in_der c!,outeohon
Ausgo.bo Chlebnikovs: Werke, I, Abb. J0. D. BURI.JUX, PootJoosk10 nooala, (idej'M8t') der pruktisehen Mitteilung (Mirnvm>EV, Formal'nyj tMtod,
1/2 führt die lettristische Tradition a!ll° de_n Mani_eri.smU:9 und d!¼n n_ntiken 82ff., EFnlOV, 43/4 u. 46).
Alexandrismus zurück. Er seihet hat aeme Bild-Oediohte rueht nur 111 Buchern Wie dio Pot.ebnja(Veselovsluj-Rezeption des OPOJAZ (v. a.. Sklovskije)
und Zeitschrift.en, sondern auoh in Oalerien gezeigt, eo z. D. in Ls.rionovs ist auch dil) Belyj{Brjusov-R~option des frühen FormaliJ!mus (v. a. Jakob.
AUBStollung „No. 4" (Moskau, 1924). eons und ßjchenbaw:n.!1) eher einseitig nusgofallon: Wenn Jakobson in &einer
111
Brjusov-RezenBion bestreitet. daß der Symboliemue eine neue, wi811Cn•
echafUiche Poetik auf dor Grundlage dor „Theorie des oigongosetz•
liehen Wortee" (223) hervorgebracht habe, dann übersieht er in seiner
berechtigten Ablehnung dnr „unwissenschaftliohen" Veraologio Brjusovs
don auc!i für den Formalismus grundlegenden Anßat:,z Belyjs zu einer „exa.k•
ten, wissenschaftlichen .AJ!thetik", die nicht wie die Huma.nwissonsebaft,oo
wertend, sondern wie die oxakten Wisaenschart.en experimentell-empirisch
vorzugehen habe (Sitnt'lllizm, K.ap. uirilca i llcaperiment, 234) 113•
. Ebenso wie die „Form dor Künste" das Material der neuen empiri•
sehen Kunstwissenschaft darstellt (BELYJ, ibid. 236), d. h. das neue
wissen.scha.ftliche Objekt, bildet dieselbe den Gegenstand des poetischen
Schaffens, das damit schon bei Belyj auf eine methodische Ebene mit

111
TYNJ„umv, Arcbo.iety i novat.ory, li09ff. und !lKLOvs1tu, Litoratura
i kinematograf, liff.
111 JAXOBSON, Brjuaovskaja etichologija i nauka o stiche.
11
• Vgl. da.zu POMOBSXA, 62ft'.; ERLICY, 40ff,; AAl1IB0010, 30f.

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