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Charles Taylor – Die Quellen des Selbst

1. Einleitung

Der kanadische Philosoph Charles Taylor spielt eine zentrale Rolle in der Kontroverse
zwischen Kommunitarismus und Liberalismus, und er wird im Diskurs (ohne eigenes
Dafürhalten) dem kommunitaristischen Lager zugerechnet. Der Kommunitarismus ist eine in
Amerika in Opposition zu Rawls Theorie der Gerechtigkeit entstandene Bewegung. Sie teilt
nicht das Gesellschaftsbild liberaler Theorien, welches die Freiheit des Menschen akzentuiert.
Die Kommunitarier monieren an jenem selbstverständlich erscheinendem Axiom der Freiheit,
daß der Mensch schon immer in eine Gemeinschaft bzw.einen intersubjektiven Raum
eingebunden und von gemeinsamen Werten geprägt ist, ergo gilt es nicht die Freiheit des
Einzelnen, sondern vielmehr die Existenz des Gemeinwesens zu sichern. Aus
kommunitaristischer Perspektive sind es gerade liberale Paradigmen, die den für den Erhalt
von Gemeinschaften so wichtigen Gemeinsinn erodieren. Die Philosophie des Liberalismus,
so die Anschuldigung, führe strikt zu einem gesellschaftlichen Atomismus, dessen formelle
Regularien zwar korrekt, aber nicht inhaltlich definiert sind; Resultat ist beispielsweise eine
Demokratie ohne Demokraten. Die Gesellschaftsmitglieder sind nur noch der eigenen
Zügellosigkeit gegenüber loyal, jedwede Fremdeinmischung in Form von normativen
Vorgaben stellt das Primat der Freiheit des Individuums in Frage. Doch gerade ein gewisser
Sinn für Gemeinschaft und für Solidarität, sowie ein gemeinsames Ziel sind aus
kommunitaristischer Sicht unabdingbare Garanten für eine funktionierende Gemeinschaft.1
Genau an diesem Punkt siedeln sich Taylors Reflexionen an, er bietet zwar keine konkreten
Maßnahmen, doch stellt er das in der westlichen Kultur mit der Vorstellung von der Freiheit
des einzelnen einhergehende tief verankerte philosophische Selbstverständnis der
Wertfreiheit/Neutralität, repräsentiert durch Descartes – Kant - Rawls, zur Disposition. Nach
Taylor befinden wir uns in einem selbstkonstruierten Fehlen von Moralquellen, da sich die
westlichen Kulturen über ihre Werte nicht im klaren sind, sie gar qua Wertfreiheitspostulat
negieren. Das Soziale und das Gefühl der Verantwortung für den anderen z. B. nehmen nur
noch einen fakultativen Platz ein – sie können, aber müssen nicht, bei den Subjekten als
Werte anerkannt werden. Diese offiziell nicht präsenten Quellen der Moral und die ihnen
entspringenden Werte gilt es für Taylor freizulegen. Desweiteren ist der Mensch nicht
außerhalb der Gesellschaft denkbar, die radikale desengagierte Vernunft2 des Subjekts gilt es
im Diskurs zurechtzustutzen, und zu erkennen, daß ihre konstitutiven Faktoren bereits
normativ geprägt sind. Taylor glaubt die Relevanz einer funktionierenden Gemeinschaft (erst
sie ermöglicht Identität) begründen zu können. Dies ist die Schnittstelle zwischen der
praxisorientierten Bewegung der Kommunitarier und der komplexen Taylorischen
Rekonstruktion der okzidentalen Geistesgeschichte, welche a) die Existenz von Moralquellen
und b) die existentielle Verflochtenheit von Identität und Gesellschaft beweisen soll. In sofern
kann Taylor als theoretischer Überbau der Kommunitarier verstanden werden und für die
Debatte fruchtbar sein. In der vorliegenden Arbeit soll zuerst grob Taylors Identitäts-Theorie
dargelegt werden. Folgend werden dann die für Taylor drei zentralen Moralquellen, die
Bejahung des gewöhnlichen Lebens, das Desengagement und der Expressivismus der aus der

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Diese Sicht der Welt muß klar vor dem nordamerikanischen Hintergrund gesehen werden, denn die oft besagte
Politikverdrossenheit scheint in den USA schon länger und stärker vorhanden zu sein.
2
Auf diesen Terminus wird späterer genauer eingegangen, an dieser Stelle soll nur gesagt sein, daß damit eine
vom Selbst distanzierte Betrachtung der Welt gemeint ist.

1
Romantik entspringt dargelegt, um schließlich im Fazit die Verfaßtheit der Moderne zu
schildern.

2. Theoretischer Hintergrund

Taylors Anthropologie zufolge ist der Mensch immer in einem moralischen und sozialen
Raum, d. h. in einer Sphäre bereits vollzogener Wertsetzungen eingebettet. In diesem Raum
konstituiert das Individuum seine Identität indem es einige Werte per starker Wertung3
präferiert und konform nach diesen handelt und denkt, sich also ein Lebensmuster auswählt.
Allerdings handelt es sich bei dem Subjekt Taylors weniger um den homo clausus als um eine
Variante des homo sociologicus, dessen Wahl von Werten zum einen von dessen individueller
Lebensgeschichte und zum anderen auch von der Gesellschaft bedingt ist. Ohne Werte ist für
Taylor keine Identität möglich, diese jedoch sind immer nur in einem gesellschaftlichen
Kontext existent. Mit der Frage nach der neuzeitlichen Identität stellt sich laut Taylors
Argumentation automatisch auch die nach den in der Neuzeit anzutreffenden Werten
bzw.Lebensgütern.

Taylors Verständnis der Sprache mag zur Illustration hilfreich sein. Ohne eine Vielzahl von
Differenzierungen (also Wörtern) stände es dem Menschen gar nicht offen eine unter
ethischen Gesichtspunkten abgewogene Identität zu definieren, denn Sprache ist das Medium
um die Welt zu erschließen, sich ihrer differenziert Gewahr zu werden. Allerdings wäre es
absurd zu behaupten jeder einzelne Mensch definiere seinen Wortschatz selbst, vielmehr sind
die jedem einzelnen verfügbaren Wörter kulturspezifisch und enthalten bereits vollzogene
Wertungen. Taylor erteilt hiermit der angelsächsischen (Sprach-)Theorietradition eine klare
Absage, diese sieht nämlich in der Sprache lediglich eine Repräsentativfunktion für das
Erkennen einer neutralen Welt. Taylor hingegen weist darauf hin, daß Sprache auch a)
welterschließend, denn durch sie ist erst eine Artikulierung der Welt möglich, b)
gemeinschaftsstiftend, weil ein Miteinander im Gespräch mit anderen Personen derselben
Sprachgemeinschaft stiftet und schließlich c) moralstiftend, weil sie erst die Unterscheidung
zwischen Gut und Böse ermöglichend ist. Sprache ist sozusagen das von der Gesellschaft und
nicht vom Individuum erzeugte Rohmaterial für die Wahl eigener moralischer Dispositionen.
Durch Sprache sind die den moralischen Raum konstituierenden Werte artikulierbar, wenn sie
nicht schon in ihr enthalten sind. Konträr zu dieser Auffassung wird Sprache oft nur als
Artefakt zur Identitätsgenese betrachtet, das schließlich abgelegt wird, „ähnlich den
Spielzeugrädern im Kindergarten, die dort zurückgelassen werden und für den Erwachsenen
keine Rolle mehr spielen“ (Taylor 1999, S. 74). Aufschlußreich für die Position Taylors ist
seine Argumentation bei der Verfechtung des BA-Prinzips. Diese Methodik besagt, daß die
Begriffe, die uns für die beste Beschreibung der Welt als unentbehrlich erscheinen nicht
weggekürzt werden dürfen. Das naturwissenschaftliche Methodenarsenal jedoch unternimmt
gerade dieses, wenn es Begriffe wie z. B. Mut, Liebe, Haß als subjektive Interpretationen
stigmatisiert, die in der Sphäre der wissenschaftlichen Erklärung von gesellschaftlichen
Phänomenen nichts verloren hätten. Der Szientismus kann nicht erklären, weshalb seine
„neutrale“ Terminologie sui generis besser zur Explikation von Lebenswelten als die der
Involvierten ist, vor allem dann nicht, wenn Wörter ihren Sinn erst aus einer evaluativen
Komponente ziehen.
Taylor verdammt also die von ihm so benannte naturalistische Methodik nicht kategorisch,
doch anhand der vorgetragenen Argumentation soll ersichtlich geworden sein, weshalb er das

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Unter starker Wertung versteht Taylor eine weniger an Lust, als an ethischen Gesichtspunkten orientierte Wahl
der eigenen Werte, bei der von primären Bedürfnissen abgerückt wird.

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naturwissenschaftliche Experiment für die Analyse und Erklärung sozialer Phänomene für
absolut verfehlt hält.

Der moralische Raum setzt sich aus Moralquellen und Lebensgütern zusammen, letztere sind
mit Werten gleichzusetzen, erstere sind als Paradigmen zu verstehen, denen verschiedene
Lebensgütergruppen entspringen. Eine Moralquelle liefert dem Menschen die Begründung für
Lebensgüter und flößt dem Menschen, wenn sie artikuliert ist, Kraft bei der Umsetzung dieser
ein. In der Neuzeit besteht nun aber nach Taylor eine Grundproblematik darin, daß eben jene
Moralquellen nicht artikuliert sind, ergo Werte mit weniger Engagement verfolgt werden oder
sogar teils (auch unausgesprochen) miteinander kollidieren, so etwa die Vorstellung eines
korrekten Umgangs mit der Natur. Die Unterwerfung der Natur ist schlechterdings nicht mit
dem romantischen Ideal einer weltumfassenden Einheit unter einen Hut zu bringen. In Taylors
Terminologie handelt es sich dann nicht mehr um Moralquellen, sondern um konstitutive
Güter, also versiegte, weil unartikulierte Moralquellen. Seine Schuldzuweisung für diesen
Zustand ist eindeutig, es ist der Dominanz naturalistischer Paradigmen zu verdanken, welche
a) die Frage nach der Moral verkürzen und nur das richtige Tun ins Zentrum rücken, also die
Art des richtigen Lebens auch den Faktor Würde (selbstzugeschriebene Wertschätzung)
ignorieren und b) versuchen die gesamte Welt, insbesondere das eigene Theoriegerüst dem
Primat der Neutralität mittels Objektivation zu unterwerfen. In Taylors Worten: „Wir haben
so viele Güter aus unserer offiziellen Geschichte hinausinterpretiert und ihre Kraft derart tief
unter Schichten philosophischer Vernünftelei begraben, daß sie in Gefahr sind zu ersticken.
Da dies unsere Güter, unsere menschlichen Güter sind, sind eigentlich wir es, die da
ersticken“ (Taylor 1999, S. 898).

Für Taylor ist die naturalistische Philosophie gar in doppelter Hinsicht parasitär, denn sie
grenzt sich qua des Postulats der eigenen Wertfreiheit, nur negativ also per Diffamierung
anderer Weltbilder, ab, nutzt aber die von ihnen geschaffene (Wert-)Ordnung für sich selbst.
Die Crux des ganzen Sachverhalts besteht in der hegemonialen Stellung naturalistischer
Weltdeutungen im Diskurs der westlichen Kultur, welche nach Taylor nicht im geringsten
eine adäquate Skizzierung unserer Gesellschaft erlauben, denn sie negieren oder verdammen
die Moralquellen, obwohl sie selbst Werte proklamieren. Der Rahmen innerhalb dessen unser
Handeln Sinn bekommt ist somit sukzessive zerstört worden, wo er noch als real existent
wahrgenommen wird befindet er sich unter dem Damoklesschwert des Naturalismus. An
diesem Punkt wird Taylors Diagnose von dem Ersticken durch Nichtartikulation von
Moralquellen erneut deutlich, und selbst „der Utilitarist lebt im Rahmen eines moralischen
Horizonts, der durch seine eigene Moraltheorie nicht erläutert werden kann“ (Taylor 1999, S.
62). Festzuhalten ist, daß für Taylor Moral und Selbst unentwirrbar miteinander verflochten
sind, problematisch ist es allerdings im Zeitalter des reduktionistischen Naturalismus eine
adäquate Darstellung der Moralvorstellungen zu liefern. Um dies trotzdem zu realisieren
verfolgt er folgendes Prozedere: „Die Artikulierung neuzeitlicher Deutungen des Guten muß
ein historisches Unterfangen sein, und zwar nicht bloß aus den übrigen Gründen, die für ein
derartiges Unternehmen gelten, nämlich daß unsere gegenwärtigen Positionen stets mit Bezug
auf frühere definiert sind und diese entweder als Vorbilder oder als Hintergrund
voraussetzen“ (Taylor 1999, S. 198), sondern auch um den Nachweis zu erbringen, daß
vermeintlich neutrale Paradigmen durchaus auf Wertsetzungen fußen. Taylor beansprucht
zwar nicht die gesamte Entstehungsgeschichte heutiger, durch den Naturalismus negierten
Moralvorstellungen, zu rekonstruieren, aber er denkt anhand der Erläuterung der okzidentalen
Geistesgeschichte dem Ziel – das Freischaufeln heutiger konstitutiver Güter - nahe zu
kommen. Für Taylor von entscheidender Bedeutung sind a) die Bejahung des gewöhnlichen
Lebens, b) die desengagierte Vernunft und c) die Romantik.

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Diese zentralen geistesgeschichtlichen Themenkomplexe sollen nun folgend abgehandelt
werden. Im Fokus des folgenden Vorgehens steht neben der Skizzierung verschiedener
Moralquellen, auch das Herausfiltern von, noch heute anzutreffenden, Werten, die aus den
einzelnen Quellen entspringen.

3. Bejahung des gewöhnlichen Lebens

Der erste Strang der historischen Rekonstruktion ist das, was Taylor die Bejahung des
gewöhnlichen Lebens nennt. Bei dem Begriff des gewöhnlichen Lebens handelt es sich um
einen Terminus Technicus, „um diejenigen Aspekte des menschlichen Lebens zu bezeichnen,
die mit Produktion und Reproduktion zu tun haben, also mit der Arbeit, der Verfertigung
lebensnotwendiger Dinge und unserem Leben als Geschlechtswesen, einschließlich Ehe und
Familie.“ (Taylor 1999, S. 373 f.) Die Bejahung des gewöhnlichen Lebens setzte ein mit der
Reformation, ist also Bestandteil der „Protestantischen Ethik“. Während der Reformation
erfolgte eine Neubewertung der Tätigkeiten des gewöhnlichen Lebens, die im krassen
Gegensatz zu der Auffassung der Antike angesiedelt war. Im antiken Griechenland war die
Sphäre des gewöhnlichen Lebens zwar eine notwendige Basis, stellte jedoch keineswegs das
gute Leben dar, machte das Leben nicht lebenswert, gab ihm Sinn und Glanz. Das gute Leben,
welches in enger Verbindung mit der Würde (oder dem Selbstwert) steht, bestand aus anderen
Tätigkeiten. Dies waren zum einen die theoretische Betrachtung, also die Philosophie und
zum anderen das Leben als Staatsbürger, verbunden mit einer Staatsbürger- oder Ehrenethik.
„Diese Auffassung beinhaltete einen ausgeprägten Sinn für hierarchische Verhältnisse, wobei
das auf Ruhm oder Ehre beruhende Leben des Kriegers oder Herrschers als dem Leben
niedriger stehender Menschen, die sich bloß um das Leben kümmerten, inkommensurabel
galt.“ (Taylor 1999, S.376) Handwerk und Handel waren dem Adel bei Strafe verboten.
Nur wer philosophierte oder aktiv an der Politik als Bürger teilnahm, konnte von sich sagen
sein Leben sei ein gutes und danach galt es zu streben, auch um sich selbst Wert und Würde
zu verleihen. Dieses Verhältnis kehrte sich im Zuge der Reformation gänzlich um.
Der Ort des guten Lebens und der wertvollen Tätigkeiten wurde nun im Bereich des
gewöhnlichen Lebens angesiedelt und die alten hierarchischen Verhältnisse und „höheren“
Tätigkeiten wurden einer Kritik unterzogen. (1) Es erfolgte eine Verwerfung des Ideals der
Theoria, dem Ideal des Erfassens der kosmischen Ordnung durch reflektierte Betrachtung.
Bacon definierte, im Zuge des Aufkommens eines mechanistischen Weltbildes und der damit
verbundenen instrumentellen Haltung zur Welt, die Ziele der Wissenschaft neu, in dem das zu
Untersuchende die Funktionsweise der Dinge sei und nicht das Erfassen einer idealen
kosmischen Vernunftordnung oder ewiger Ideen. Dies, so Bacon, sei nur trügerisches Wissen.
Auch habe die Wissenschaft nützlich zu sein. Das Ziel der Wissenschaft und der Erkenntnis
ist die Lage der Menschen zu erleichtern und zu verbessern, d.h. die Wissenschaft ist
Zweckgebunden und nicht mehr Zweckfrei, allein der Wahrheit verpflichtet. Es findet eine
Verlagerung von der bloßen Betrachtung hin zur produktiven Leistungsfähigkeit statt. Auch
erfolgte eine Verlagerung der Wertschätzung hin zu den einfachen Handwerkern, da diese
dem neuen Wissenschaftsbild von der Nützlichkeit und dem eher handwerklichen Experiment
entsprachen. „ Die Wissenschaft ist keine höhere Tätigkeit, der das gewöhnliche Leben
dienen soll. Im Gegenteil, die Wissenschaft soll dem gewöhnlichen Leben Nutzen bringen“,
(Taylor 1999, S.378) in dem die Wissenschaft nach den Absichten Gottes forscht (die nun
nicht mehr unergründlich zu sein schienen), wie die Dinge richtig gebraucht werden sollen.
(2) Auch der Begriff des Heiligen, wie von der katholischen Kirche im Mittelalter propagiert,
„also die Vorstellung, es gebe besondere Orte, Zeiten oder Handlungen, bei denen die Macht
Gottes in höherem Maße gegenwärtig ist und eine Annäherung von seiten der Menschen
erlaubt“ (Taylor 1999, S.383) wurde abgelehnt. Dies implizierte zwei weitere

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Zurückweisungen der Protestanten gegenüber der katholischen Kirche. Zum einen wurden die
kirchlich –katholischen Sakramente in Frage gestellt, denn die Macht Gottes ist, laut der
Reformation, nicht an bestimmte von Menschen ausgeübte Tätigkeiten und Handlungen
gebunden. Das gleiche gilt für die Kirche als einzigem Ort des Heiligen, denn Gott ist nicht an
Orte gebunden. Zum anderen wurden vermittelnde Instanzen, wie sie die katholische Kirche
darstellt ebenfalls komplett abgelehnt. „So etwas wie hingebungsvollere oder weniger
hingebungsvolle Christen kann es gar nicht geben, denn die persönliche Bindung muß total
sein, sonst ist sie wertlos.“ (Taylor 1999, S.382) Jede Person ist direkt vor Gott und allein vor
ihm verantwortlich und kein Mensch und keine Instanz kann dem einzelnen Christen diese
Bürde abnehmen, sondern der Einzelne muß sich persönlich und direkt an Gott binden.
(3) Damit wurde auch die alte Ehren- und Staatsbürgerethik fortan abgelehnt, da sie eine
hierarchische Klasseneinteilung implizierte, die sich mit den Gleichheitsstendenzen innerhalb
des reformatorischen Gedankenguts in keinster Weise vertrug.
Die Folgen dieser reformatorischen Gedanken waren weitreichend. Durch die Ablehnung der
bis dato gültigen Anerkennung der Kirche als Vermittlerinstanz, sowie der üblichen
Unterscheidung von Heiligem und Profanem war diesen Ideen eine Tedenz zur Nivellierung
bzw. Gleichheit zu eigen, die auch in der sozialen Praxis ihren Ausdruck fand. Die Aufhebung
des Gedankens der Kirche als Vermittlerinstanz führte zu einer stärkeren Bewertung der
persönlichen Bindung des Gläubigen (an Gott), d.h. „zu den Geretteten , zum Volk Gottes
gehört man nicht mehr durch die Verbindung mit einer umfassenderen, ein sakramental
geweihtes Leben tragenden Ordnung, sondern dadurch, daß man sich persönlich von ganzem
Herzen bindet.“ (Taylor 1999, S.385)
Das Laienleben, d.h. die Lehre der Priesterschaft aller Gläubigen bekam einen spirituellen
Wert. Eine starke Betonung des individuellen Willens sowie die Idee die soziale und
politische Praxis durch Verträge (die Ausdruck eines individuellen Willens und einer
persönlichen Bindung sind) zu regeln sind Folgen dieser Entwicklungen, die bis in die
Moderne hineinreichen. Da die mittelalterliche Auffasung des Heiligen verworfen wurde,
erfuhr das bis dahin profane, gewöhnliche Leben eine Aufwertung, es fand sozusagen eine
Umwertung aller Werte statt, eine Bejahung des gewöhnlichen Lebens. Laut Taylor ist es ein
Mißverständnis zu glauben die Protestanten seien Asketen gewesen, im Gegenteil die Askese
im klassischen Sinne wurde abegelehnt, da auch sie ein Ausdruck der alten Wertordnung war
und dem mönchischen Leben angehörte, das im krassen Gegensatz zu dem Laienpriestertum
stand. Das Christentum hat für Taylor schon in seinen frühen Quellen etwas
Lebensbejahendes4 und auch die christliche Entsagung hat eine Lebens- und Seinsbejahung
als Bedingung: „Der große Unterschied zwischen stoischer und christlicher Entsagung ist der,
daß das, worauf verzichtet wird, nach stoischer Auffassung ipso facto nicht zum Guten
gehört, sofern die Entsagung in der richtigen Weise vollzogen wird. Für den Christen
dagegen, wird das, worauf verzichtet wird, damit als etwas Gutes bejaht, sowohl insofern, als
die Entsagung ihren Sinn verlöre, wenn die betreffende Sache belanglos wäre, als auch
insofern, als die Entsagung dem Willen Gottes dient, der das, worauf verzichtet wird –
Gesundheit, Freiheit, Leben- gutheißt.“ (Taylor 1999, S.388) Das christliche Martyrium ist
nur ein solches, wenn etwas wertwolles geopfert wird, wenn eine Aufopferung stattfindet.
So soll der Protestant nicht den weltlichen Dingen entsagen, da man so der Gaben Gottes
spottet. Dies würde der mönchischen (außerweltlichen) Askese entsprechen und einer
Ablehnung des gewöhnlichen Lebens gleichkommen (so die protestantische Interpretation).
Es soll also keine Entsagung stattfinden, „sondern eine bestimmte Art des Gebrauchs, bei der
man Distanz wahrt zu den Dingen und den Blick auf Gott gerichtet hält“, (Taylor 1999,
S.394) die Dinge also nicht als Zweck behandelt, somit Ausschweifungen jeder Art
vermeidet, sondern als Mittel zu Diensten Gottes und der von ihm geschaffenen Ordnung.
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Taylors einziger Beleg für diese Behauptung bleibt der Ausspruch im Buch Genesis 1,31 „Gott sah alles, was er
gemacht hatte, und führwahr, es war sehr gut.“

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Das ist das, was Weber die innerweltliche Askese nennt, eine Askese im Rahmen der
Praktiken des gewöhnlichen Lebens.
Durch die Bejahung des gewöhnlichen Lebens erfolgte eine Neubewertung der Berufe.
Der gewöhnliche Beruf ist nun Berufung, also Dienst an Gott. Diese Berufung ist jedoch nicht
mehr nur den heiligen Männern vorbehalten, sondern sie umfasst jede Beschäftigung die
nützlich ist (für das Gemeinwohl) und Gott dient. „In diesem Sinne sind alle Berufe
ebenbürtig, unabhängig von ihrer Stellung in der gesellschaftlichen Rangordnung oder in
unserer Vorstellung von der Hierarchie der menschlichen Fähigkeiten.“ (Taylor 1999, S.395)
Das hohe Leben wird nicht mehr über die Art der Tätigkeit definiert, wie noch in der
Staatsbürger- und Ehrenethik, sondern hängt von der Gesinnung ab mit der dieses Leben
geführt wird, von der persönlichen Bindung des Berufenen an Gott. Auch ist die
Ausschweifung in jeglicher Form verpönt, Müßiggang führt in die Versuchung.
Der Beruf dient der Nutzung der Dinge Gottes, die er uns für den Gebrauch gab und er darf
nicht dem eigenen Ich dienen, denn dies wäre eitel und würde zur Verschwendung führen.
Der Zweck unseres Lebens ist es „Gott zu dienen, indem wir den Menschen dienen durch die
Arbeit im Berufe.“ (Taylor 1999, S.398)
Auch die Ehe und die ehelichen Liebesgefühle gewinnen an Bedeutung im Zuge der Bejahung
des gewöhnlichen Lebens, d.h. sie werden bedeutend für das gute Leben. Die sogenannte
Kameradschaftsehe entsteht, also eine Ehe in der sich die beiden Partner lieben und wo die
Familie als Zufluchtsstätte gegenüber der Welt fungiert. Auch hier gilt wieder, die Eheleute
sollen sich zwar lieben, diese Liebe darf allerdings nie zum Selbstzweck werden, sondern
Gott bleibt das Ziel. Die Kameradschaftsehe beinhaltet auch die Notwendigkeit der
persönlichen Bindung, denn Ehen nach Absprache verlieren an Einfluß und das
Einverständnis, die Liebe als persönliche Bindung der beiden Partner untereinander, wird
Vorraussetzung der Ehe. Allgemein läßt sich sagen, daß nicht nur die später entstehenden
Vertragstheorien von Hobbes, Locke u.a. dieser Idee der persönlichen Bindung viel zu ihrer
Entstehung verdanken, sondern die protestantische Gesellschaft war tendenziell eine auf
Konsens orientierte Gesellschaft, was unser modernes Demokratieverständnis stark beeinflußt
hat. Die persönliche Bindung ist eine Bindung durch persönlichen Entschluß oder Willen.
„Der Wille und die Zwecksetzungen des Individuums gehören ihm selbst. Allein das
Individuum kann sie an etwas Größeres anbinden und die Verpflichtung zum Gehorsam
schaffen.“ (Taylor 1999, S.347) Die Autorität ist nun nichts natürlich gegebenes mehr,
sondern muß mit dem Einverständnis des Einzelnen eingesetzt werden. Hier ist der Keim der
später entstehenden Vorstellungen von Freiheit und freiem Willen angelegt, der im Konzept
der desengagierten Vernunft eine so große Rolle spielt.
Auch für die anderen Entwicklungen und Denkweisen der Moderne ist die Bejahung des
gewöhnlichen Lebens eine entscheidende Vorbedingung ohne die wir heute nicht so denken
und auch nicht so fühlen würden, wie wir es heute tun.

4. Desengagierte Vernunft

Bei dem zweiten historischen Moralstrang, den Taylor in seiner Interpretation der westlichen
Ideengeschichte liefert, handelt es sich um den der „desengagierten Vernunft“ (Taylor 1999).
Maßgeblich für diese Denktradition, die in engem Zusammenhang mit der protestantischen
Bejahung des gewöhnlichen Lebens steht, waren vor allem die Philosophen Descartes, Locke,
die Utilitaristen und Kant.
Im Zuge der wissenschaftlichen Revolution um Kopernikus, Gallileo und Bacon setzte sich
ein Weltbild durch, das man heute als mechanistisch bezeichnet. Dieses mechanistische

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Weltbild steht im Gegensatz zu der kosmischen Ordnung, wie Platon sie sah. Danach war der
Mensch ein zur Vernunft fähiges Wesen, wobei Vernunft die Fähigkeit ist „zu sehen und zu
verstehen.“ (Taylor 1999, S.225) Von der Vernunft geleitet zu sein, bedeutet daß man von der
richtigen Anschauung geleitet ist und die richtige Anschauung ist die, welche die natürliche
Ordnung (die ebenfalls vernunftgeleitet ist) erfaßt. „Die Vernunft kann demnach als
Wahrnehmung der natürlichen oder richtigen Ordnung begriffen werden; und von der
Vernunft regiert werden heißt dann: von einer Schau dieser Ordnung regiert werden.“ (Taylor
1999, S.226) Diese Auffassung von Vernunft ist eine inhaltliche im Gegensatz zu einer
prozeduralen, wie sie den Vertretern der desengagierten Vernunft und uns heutigen Menschen
zu eigen ist.
Die ewige kosmische Ordnung, die sich unter anderem in den Ideen des Guten offenbart, ist
das Gute schlechthin und um ein gutes Leben (nicht ein angenehmes, sondern das gute, also
sinnvolle Leben) zu führen muß man ein vernunftgeleitetes Leben führen. Dieses vernünftige
Leben kann man nur führen, indem man durch theoretische Betrachtungen die kosmische
Ordnung der Dinge erkennt, sie regelrecht vor sich sieht und mit der Schau dieser
vernünftigen Ordnung wird der Mensch automatisch tugendhaft, also vernünftig. Die
kosmische Ordnung ist das konstitutive Gut bzw. die Moralquelle, die sich außerhalb der
Menschen befindet. „Als etwas Immaterielles sollte sich die Seele dem zuwenden, was
seinerseits immateriell und zeitlos ist. Es kommt nicht auf das an, was in ihrem Inneren
geschieht, sondern darauf, in welche Richtung der metaphysischen Landschaft sie blickt.“
(Taylor 1999, S.229)
Das mechanistische Weltbild der desengagierten Vernunft unterscheidet sich fundamental von
dem Bild der Welt Platons: „Es ist die völlige Trennung des Geistes von einem
mechanistischen Universum der Materie, die ganz entschieden kein Medium der Gedanken
oder der Bedeutungen ist, sondern etwas in expressiver Hinsicht totes.“ (Taylor 1999, S.272)
Seit Descartes findet in der Ideengeschichte so etwas wie eine Neutralisierung oder mit
Webers Worten Entzauberung der Welt und des Kosmos statt, der von nun an nicht mehr die
Verkörperung von Ideen oder Inhalten jeglicher Art ist, er hört auf der Ort des Guten zu sein.
Es ist lediglich eine Ordnung von (harmonisch) ineinandergreifenden Einzeldingen, die nach
kausalen Gesetzen funktional (nicht vernünftig oder sinn-voll) aufeinander einwirken. Durch
diese harmonische Verzahnung der funktionalen Einzeldinge kommt es zu dem Ausspruch
„Jedes Wesen dient, indem es sich selbst nutzt, der Gesamtordnung.“ (Taylor 1999, S.489) In
der antiken Ordnungsvorstellung waren die Einzeldinge über das (vernünftige) Ganze
definiert, während die Neuzeit seit Descartes, später stärker bei Locke, das Ganze über die
Einzeldinge definiert.
Die einzelnen Dinge sind nun auch nicht mehr hierarchisch gegliedert, sondern jedes erfüllt
gleichwertig seine Funktion und trägt eben damit zum ganzen bei.Mit der „Materialisierung“
der Welt schreitet auch eine radikale Trennung von Körper und Geist einher, die für das
Westeuropäische Denken wesentlich geworden ist. Der Geist (die Vernunft, die Ideen) ist nun
also nicht mehr in der äußeren Welt zu finden, diese ist nichts weiter als Materie, sondern nur
im Menschen selbst, der zwar auch (organische) Materie, in Form des Körpers ist, aber auch
Geist, der strikt von dem materiellen Körper zu trennen ist. Somit ist auch die Erkenntnis
losgelöst von der äußeren Welt und nicht mehr abhängig von ihr, sondern der menschliche
Verstand bringt die Erkenntnis, wenn er sich an gewisse prozedurale Regeln hält. An die
Stelle der Platonischen Reflexivität, also der Fähigkeit äußere Zusammenhänge oder die
kosmische Ordnung reflexiv zu erkennen, tritt die „radikale Reflexivität“ (Taylor 1999),
mithin also die Möglichkeit nicht nur die äußere Welt reflexiv zu durchdringen, sondern auch
die innere, das eigene Bewußtsein zu Bewußtsein zu führen, sowie auch die eigenen
Emotionen. Die radikale Reflexivität ermöglicht eine Distanznahme, eine desengagierte
Perspektive, sowohl im Hinblick auf die Welt, als auch im Hinblick auf das sinnliche
Empfinden, daß der rationalen Erkenntnis, wenn es nicht durch den Geist unter Kontrolle

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gebracht ist, im Wege steht. Zu bedenken ist hier aber, daß im Gegensatz zur stoischen Lehre
die Gefühle nicht als etwas an sich schlechtes betrachtet werden. Sie sind nur schlecht oder
erkenntnisbehindernd, wenn sie vom Verstand unkontrolliert sind, sobald sie sich aber unter
der Kontrolle der Vernunft befinden, sind sie durchaus nützlich. „Anstatt uns durch die
gewöhnliche Tendenz unserer Erfahrung [und unseren Emotionen] mitreißen und zum Irrtum
verleiten zu lassen, rücken wir von ihr ab, lösen uns von ihr, deuten sie in objektiver Weise
neu und lernen dann, vertretbare Schlüsse aus ihr zu ziehen.“ (Taylor 1999, S.295) Somit ist
der Mensch in der Lage die Welt als auch die eigenen Empfindungen zu objektivieren und
einer instrumentellen (also im eigenen Sinne steuerbaren) Kontrolle zu unterziehen.
Diese Vorstellung gipfelt bei Locke dann in die des Punktförmigen Selbst. Bei der Definition
dieses Punktförmigen Selbst wird von allen konstitutiven Faktoren und daher von jeder
Taylor´schen Identitätsvorstellung abgesehen (Einbettung in einen moralischen Rahmen als
konstitutiver Bestandteil des Selbst/Identität usw.). „Seine einzige konstitutive Eigenschaft ist
das Selbstbewußtsein.“ (Taylor 1999, S.99) Locke konstruiert den Menschen als ein Wesen,
daß nicht von sich aus zur Wahrheit neigt, hat also eine antiteleologische Anschauung von der
Natur des Menschen. Der Geist ist ein unbeschriebenes Blatt, ohne alle Schriftzeichen. Im
Lauf des Lebens kommt es zu allerlei falschen Vorstellungen (mit den entsprechenden
teilweise fatalen Folgen) gespeist aus Vorurteilen, die auf Gefühlen und Gewohnheiten
beruhen, aber jeder Wahrheitsgrundlage entbehren. Das Ziel ist es nun diese Vorurteile zu
Zertrümmern und dem folgend eine Neumontage „unseres Weltbilds, diesmal auf solider
Grundlage und durch Befolgung zuverlässiger Regeln der Verkettung.“ (Taylor 1999, S.302)
Das Punktförmige Selbst besitzt eine radikale und auf Umgestaltung abzielende Haltung des
Desengagements. Das Selbst ist hierbei nicht definiert durch bestimmte Einzelmerkmale
(inhaltlich), sondern durch das, was die Fähigkeit besitzt diese Merkmale festzusetzen und zu
bearbeiten (prozedural) und dieses Vermögen liegt im Bewußtsein bzw. im Geist. Auch hier
ist die Trennung von Materie und Geist voll wirksam, welches im Grunde die Bedingung für
eine radikal desengagierte Haltung und damit Bedingung für die Objektivierung der Welt und
des eigenen Erlebens ist. Dieses Bild, „wonach wir nichts anderes sind als reines
unabhängiges Bewußtsein (...) untermauert und rechtfertigt jene Haltung und bildet zugleich
die Grundlage für das von ihm gegebene radikale Versprechen der Kontrolle und
Umgestaltung des Selbst.“(Taylor 1999, S.312) Das desengagierte Subjekt ist somit ein
unabhängiges Wesen, denn seine Ziele setzt es, auf der Basis bestimmter prozeduraler
Erkenntnisregeln selbst, d.h. diese Ziele liegen in seinem Innern und werden nicht mehr, wie
es bei Platon der Fall war, von einer umfassenden Ordnung vorgeschrieben, dessen
Bestandteil es ist. Aus einer Auffassung und einem Selbstbild, wie es hier zum Ausdruck
kommt ergeben sich viele Vorstellungen, die daran anschließen. Daraus ergibt sich „ein Bild
des souveränen Individuums, das >von Natur aus< keiner Autoriät verpflichtet ist. Der
Zustand der Unterwerfung unter eine Autorität ist etwas, was erst geschaffen werden muß.“
(Taylor 1999, S.345) Der politische Atomismus entsteht, denn nach dieser Auffassung muß
der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und der Unterwerfung unter deren
Entscheidungsgewalt erst die Zustimmung des Einzelnen vorausgehen, damit diese ihre
Wirksamkeit und Legitimität erhält, wie es bei Hobbes der Fall ist. Auch entstehen
Gemeinschaften erst durch die gemeinsame Zustimmung vorher isolierter und unabhängiger
Individuen und bestehen nicht etwa vor diesen. Diese Vorstellung des Menschen bzw, des
Selbst ist ein Individualismus durch persönliche Bindung, die maßgeblich beeinflußt und
durchtränkt ist von den Auffassungen der Reformation im Hinblick auf die persönliche
Bindung des Einzelnen an Gott und die Gemeinschaft. Früher war die äußere Autorität etwas
natürliches und durch die Ordnung der Dinge vorgegebenes, nun ist sie etwas von freien
Individuen in Übereinstimmung geschaffenes. Dies hat die Ablehnung eines Glaubens an die
Ordnung der Dinge als Wahrheit zu Folge bzw. steht mir dieser Ablehnung in engem
Zusammenhang. Alle äußeren Ordnungen seien sie politischer oder erkenntnistheoretischer

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Autorität werden nur akzeptiert, wenn sie von den Individuen akzeptiert werden oder gar von
ihnen geschaffen sind, aber sie werden nicht mehr als apriori gegeben hingenommen.

Der ganze Prozeß, bei Descartes beginnend und in Kant zum Höhepunkt kulminierend, ist ein
Prozeß in dem, verglichen mit dem Konzept Platons, die Moralquellen bzw. die konstitutiven
Güter verinnerlicht werden. Bei Kant wird dieser Prozeß für den Bereich der desengagierten
Vernunft vollendet. Die Moralquelle ist die Vernunft, das konstitutive Gut mithin das
vernünftige menschliche Handeln. Die Vernunft ist im Rahmen der Kant´schen Anschauung
etwas, „dessen Betrachtung uns Achtung abverlangt, während diese Achtung ihrerseits Kraft
verleiht. Was immer diese Rolle spielt, übernimmt die Aufgabe einer Moralquelle und hat im
ethischen Leben der Kantianer eine ähnliche Stellung wie die Idee des Guten bei
Platonikern.“ (Taylor 1999, S.181) Der Mensch der Neuzeit beherrscht nicht nur seine
materielle Umwelt und seinen eigenen Körper und nutzt ihn für seine Zwecke, die er selbst
definiert, er ist auch frei, frei von jeglicher Autoriät, die er nur akzeptiert sofern und sobald
sie seinen verünftigen Zielen nicht widersprechen und die er sogar in der Lage ist selbst zu
schaffen. Diese Schaffensleistung und diese Unabhängigkeit, die ihm durch die Vernunft
ermöglicht wird, verleiht dem einzelnen Individuum seine Würde und erheischt seine
Achtung. Die heutigen Vorstellungen von Freiheit und Vernunft bzw, rationalem Denken sind
in hohem Maße mit diesen Anschauungen des Selbst verbunden und deren Vorraussetzung,
als auch ihre Folgen. Das gleiche gilt für unser demokratisches Verständnis, welches ebenfalls
von diesen Selbstkonzeptionen in hohem Maße geprägt ist.
Auch bei Kant läßt sich das Moralgesetz nicht mehr durch eine äußere Ordnung definieren,
sondern kommt direkt aus dem Inneren, wird aus der Vernunft geboren.
Die Vernunft, zu der der Mensch an sich von Natur aus befähigt ist, stellt ein Zweck an sich
dar, alles andere sind nur Mittel und hat keinen unbedingten Wert, sondern nur einen
instrumentellen. Die Quelle des Guten liegt also im Inneren, in der Vernunft begründet und
nicht mehr in einer kosmischen Ordnung oder in Gott. Der Wegfall der kosmischen Ordnung
mit der inhaltlichen Definition dessen, was Vernunft und vernünftiges Denken ist hat zur
Folge, daß die inhaltlich ausgestaltete Vernunft von einem prozeduralen Denken abgelöst
wird. Bei der inhaltlich ausgestalteten Vernunft gilt ein Denken dann als vernünftig , wenn
das Ergebnis richtig ist, also in Übereinstimmung mit den Gesetzen der kosmischen Ordnung,
die wiederum die Vernunft als solche ist und nur durch vernünftiges Denken erkannt werden
kann. Ein Zirkelschluß und für unser Verständnis von Denken nicht mehr nachvollziehbar.
Ein modernes Beispiel für eines solche Denkart waren die kommunistischen Staaten, in denen
die Richtigkeit eines Denkens davon abhing ob es politisch „richtig“ war, also ob das
Ergebnis stimmte. Beim prozeduralen Denken ist nicht das Ergebnis entscheidend, sondern
die Methode, der Weg ist das Ziel. Wenn bestimmte Regeln eingehalten werden, so führen
diese Regeln, konsequent angewandt, das Denken automatisch zum richtigen Ergebnis. Dies
ist das Denken, das bis heute die Wissenschaft bestimmt und begründet. Das Denken wird
nicht am Ergebnis gemessen, sondern an der Art und Weise wie das Ergebnis zustande kam.
„Ausschlaggebend für das Urteil sind jetzt Eigenschaften der Denktätigkeit, nicht mehr die
inhaltlichen Überzeugungen, die daraus hervorgehen.“ (Taylor 1999, S.284)
Das gute Handeln ist bei Kant das Handeln im Einklang mit dem sittlichen Gesetz. Das
Sittengesetz „wird uns nicht von außen auferlegt, sondern es wird uns von der eigentlichen
Natur der Vernunft selbst vorgeschrieben“ (Taylor 1999, S.632), die Moralquelle wird also
verinnerlicht.
Die Gründe für unser moralisches Verhalten müssen jedoch dem Anspruch der
Allgemeingültigkeit standhalten. Diese Forderung findet in Kants kategorischem Imperativ
seinen programmatischen Ausdruck. „Was wahrhaftig von mir ausgeht, wird von der
Vernunft erzeugt; und die Vernunft verlangt, daß man Prinzipien gemäß lebe.“ (Taylor 1999,
S.633) Diese Prinzipien der Vernunft, die Allgemeingültigkeit wird jedoch nur gewährleistet,

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so die Vertreter der desengagierten Vernunft, bei einem prozeduralen, nach allgemeinen
Prinzipien ablaufenden Denkverfahren.
Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: die bereits erwähnte Freiheit. Denn das prozedurale
Denken ist geboren aus dem Anspruch auf Freiheit, auch der Freiheit des Denkens. „Ebenso
wie bei Descartes ist die Erkenntnis auch bei Locke nur dann echt, wenn man sie eigenständig
entwickelt.“ (Taylor 1999, S.303) Die platonische kosmische Ordnung mit ihrem
Vernunftinhalt wird als äußere Autorität wahrgenommen und als solche nicht mehr anerkannt.
Akzeptiert wird nur die Erkenntnis, die ich selbst errungen habe und dies ohne inhaltliche
Bindung, ohne vorgegebenes Ergebnis, allein aufgrund von prinzipieller, also prozeduraler
Denktätigkeit, also aus mir selbst heraus.„Diese ist eine radikalere Definition der Freiheit. Sie
bedeutet Auflehnung gegen die Natur im Sinne des bloß Gegebenen und verlangt, daß wir
Freiheit in einem Leben finden, dessen normative Gestalt irgendwie durch vernunftgemäßes
Tun erzeugt wird.“ (Taylor 1999, S.633) Es handelt sich im Endeffekt um eine Selbsttätigkeit
jenseits des von der Natur Gegebenen und nimmt man Locke und Kant beim Wort auch
jenseits allem Sozialen.
Mit der Steigerung der Vernunft durch das prozedurale Denken und die daraus folgende
Selbstumgestaltung des eigenen Selbst soll ein Fortschritt im allgemeinen Wohlwollen
erreicht werden, kurz gesagt, ein Fortschritt an Erkenntnis führt zu einem Fortschritt an Moral
und Solidarität, wobei nun alle Werte allgemeingültigen Anspruch erheben also für alle
Gültigkeit besitzen und alle miteinschließen. Eng damit zusammen hängt das Prinzip der
universellen Gleichheit (welches wiederum im Keim in der Bejahung des gewöhnlichen
Lebens angelegt ist).
Dies alles, so Taylor, hat jedoch zur Folge, das die Vertreter dieser Anschauung, seien es die
Klassiker oder die modernen Autoren die in ihrer Tradition stehen, zwar bestimmte
Lebensgüter (Freiheit, Allgemeingültigkeit, Wohlwollen, Gerechtigkeit etc.) propagieren,
jedoch die dazugehörigen Moralquellen leugnen und gerade die Leugnung derselben führe zu
eben jenen Lebensgütern. Ein wesentlicher Faktor hierfür ist der neuzeitliche Freiheitsbegriff,
der zu allen Moralquellen in theoretischer Distanz steht, da die Moralquelle, auch die
verinnerlichte, im Grunde etwas überindividuelles ist und sich dem Willen des Einzelnen
entzieht.
Ein zweiter wichtiger Faktor für dieses theoretische Verhalten ist die Forderung der
Allgemeingültigkeit, die, spätestens seit Kant, garantiert werden soll durch ein prozedurales
Erkenntnisverfahren. Durch dieses Verfahren sollen gruppenspezifische ethische Prinzipien
vermieden und universelle moralische Kategorien gefunden werden. Es handelt sich hier um
die Erzeugung von Legitimität durch ein Verfahren (das Prinzip unserer Demokratie).
Taylor argumentiert jedoch daß nicht klar ist, warum diese Art des Vorgehens Vorrang
genießt. Dieses Verfahren basiert ebenfalls auf moralischen Prinzipien
(Universalität/Gerechtigkeit und Freiheit), die jedoch von den jeweiligen Theorien nicht
begründet werden, obgleich eine Moralquelle vorhanden ist, nämlich die der desengagierten
Vernunft. Durch die reine Verfahrensdefinition haben prozedurale Ethiken keine qualitativen
Unterscheidungen (inhaltliche Moralvorstellungen), d.h. vielmehr sie haben sie zwar, können
sie aber weder als solche (und damit als moralisch gültige) etikettieren, noch begründen ohne
sich einen Teil ihres Anspruch streitig zu machen, nämlich den der Allgemeingültigkeit.
In dieser Hinsicht, falls der Vorwurf Taylors plausibel ist, ist auch fraglich ob das prozedurale
Verfahren als reines prozedurales Verfahren (denn nur dann wäre Allgemeingültigkeit
garantiert) ohne gegebene inhaltliche Vorannahmen überhaupt möglich ist. Zum einen sind
inhaltliche Vorgaben implizit (Freiheit, Allgemeingültigkeit, universelle Gerechtigkeit usw.)
zum anderen muß die Frage gestellt werden, und Taylors Kritik legt diese Vermutung nahe,
ob nicht ein bestimmtes Verfahren immer auch bestimmte Inhalte zur Folge hat, bzw.
bestimmte Inhalte ausschließt, was aus dem vormals prozeduralen Verfahren ein wieder zum
Teil inhaltliches machen würde, wenn auch unterschieden von dem Platons.

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Diese Theorien „verwickeln sich in einen merkwürdigen pragmatischen Selbstwiderspruch,
durch den ebendie sie anspornenden Güter sie dazu drängen, alle derartigen Güter zu leugnen
oder unbrauchbar zu machen.“ (Taylor 1999, S.170) Sie sind konstitutionell unfähig, die
tiefen Quellen ihres Denkens offen einzugestehen. Ihr Erfolg wird maßgeblich durch das
herrschende Denk- und Moralklima bestimmt, da in ihnen Lebensgüter hochgehalten werden,
die auch in der westlichen Zivilisation als non plus Ultra der Lebensgüter gelten, wie
Gerechtigkeit, Freiheit usw.

5. Romantik

Rousseau opponierte gegen das eindimensionale auf Wünsche reduzierte Menschenbild des
Naturalismus, das sich normative Wertsetzungen verbietet, denn es kann nicht erklären
weshalb dieses Konzept nicht zu einem ungezügelten/hedonistischen Leben à la Marquis de
Sade führt. Das punktförmige Selbst garantiert nicht einen sittlichen Umgang der Menschen
untereinander. Bei Rousseau ist die Natur gut und nicht, wie in seinem ersten Diskurs deutlich
wird, die Künste und Wissenschaften. Jene sind es schließlich, die den Zugang zur Natur
verschütten.5 Die innere Stimme der Natur gilt es zu hören, dann können wir unserem Inneren
entnehmen und von den Regungen unseres eigenen Wesens erfahren, was von der Natur als
bedeutsam ausgezeichnet wird; das Gute ist nichts anderes als der Elan der Natur in unserem
Inneren. Freilich ist die instrumentelle Vernunft dann für Rousseau überhaupt kein probates
Mittel für das Erschließen der Welt, im Gegenteil, sie verschüttet den Zugang zum
Guten/Inneren, verlangt sie doch konträr zu Rousseaus Forderungen vom Menschen sich von
sich selbst zu distanzieren. An dieser Stelle ist es wichtig auf die Bejahung des gewöhnlichen
Lebens hinzuweisen, denn das von ihr eingeleitete Denken ermöglichte erst die Vorstellung,
daß die bisher als profan geltenden Gefühle Wichtigkeit besitzen.
Die von Rousseau initiierte Vorstellung einer tiefen Innerlichkeit beeinflußte die
nachfolgende Romantik in hohem Maße, so daß sie als eines ihrer Hauptcharakteristika gilt.
In der Romantik ist schließlich die Sinnlichkeit das Maß sämtlicher Wertsetzungen, denn nur
so kann der Mensch, der selbst Natur ist, den Elan der Natur – das Gute - erkennen.
Empfindungen werden normativ, der Weg zum Guten führt nur über die Gefühle.
Das Entwicklungsmodell der Romantik geht von einer ursprünglichen Einheit der Natur aus,
dieses Stadium wurde durch das der Gegensätze abgelöst, Vernunft und Natur stehen sich nun
gegenüber (Vernunft – Gefühl; Subjekt – Objekt; Mensch – Natur; usw.). Vernunft und Natur
gilt es nun auf höherer Ebene wieder zu vereinigen.
Der Gedanke der Verinnerlichung der Moralquelle führt zu einer erheblich komplexeren
Vorstellung des Menschen, ihm wird nun eine innere Tiefe attestiert. Inspiriert von dieser
Annahme entwickelte sich der Expressivismus, demzufolge sich der Mensch der Natur/dem
Guten nur per Artikulation seiner Empfindungen gewahr werden kann. Unser Wille, unsere
Sicht der Dinge muß transformiert werden, es muß wieder dem Elan der Natur in unserem
Inneren Gehör verschafft werden. Der fundamentale Unterschied zu anderen Auffassungen ist
der, daß die Empfindungen nicht mehr wie bei Aristoteles hierarchisiert und nicht wie bei
Platon bereits einem objektiven Sein unterstellt, und erkenntnisstörend sind, denn die Natur
wird erst durch das eigene Empfinden und der Artikulation dessen bewußt.
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Dies ist für Rousseau die Grundproblematik, im ersten Discours äußert er sich folgendermaßen:„Alle Geister
scheinen aus derselben Form gegossen zu sein. Unaufhörlich zwingt die Höflichkeit, gebietet die
Wohlerzogenheit, unaufhörlich folgt man dem Brauch, nie seiner eigenen Eingebung. Man wagt nicht mehr als
der zu erscheinen, der man ist“ (Rousseau 1998, S.11). Im zweiten Discours prangert Rousseau das an, was
heute in der Sozialisationsforschung unter dem Terminus heteronome Moral firmiert: „Dies nämlich ist die
wirkliche Ursache all dieser Unterschiede: Der Wilde lebt in sich selbst; der gesellschaftliche Mensch ist immer
außerhalb seiner selbst und weiß nur in der Meinung der anderen zu leben; und er bezieht sozusagen allein aus
ihrem Urteil das Gefühl seiner eigenen Existenz“ (Rousseau 1998, S. 112).

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Die Differenz zu Aristoteles macht deutlich, daß ethische Vorschriften abgestreift werden und
nun das eigene Empfinden maßgebend ist.
Das maßgebliche Merkmal dieser neuen Philosophie der Natur ist, daß die Verwirklichung
der Natur in jedem von uns zugleich eine Form von Ausdruck ist. Diese Anschauung wird als
>>Expressivismus<< bezeichnet. Das Ausdrücken wird als Zur-Existenz-Bringen gedacht,
durch den Ausdruck wird das Innere, meine Natur die bisher den anderen und gar mir selbst
unbestimmt war, in die Welt gebracht, „doch das ist zugleich eine Definition in einem
stärkeren Sinne, denn ich verwirkliche diese Formulierung und verleihe dadurch meinem
Leben eine festumrissene Gestalt. Das menschliche Leben wird als Äußerung eines Potentials
gesehen, daß durch diese Äußerung zugleich gestaltet wird“ (Taylor 1999, S. 652).
Der Expressivismus leitet einen umfassend neuen Individuationsbegriff ein, jeder Mensch ist
von seinen Anlagen her verschieden, dies mag banal klingen, das Interessante daran ist, daß
diese Verschiedenartigkeit nun auch differente Lebensweisen fordert, „die Unterschiede
erlegen jedem von uns die Pflicht auf, der eigenen Originalität im Leben gerecht zu werden“
(Taylor 1999, S. 653). Jetzt wird auch zwischen reproduktiver und schöpferischer Kraft
unterschieden, diese Trennung ist für die Romantik maßgebend.
Das nicht naturwissenschaftliche Denken von Selbsterkundung und Selbstentfaltung, welches
heute permanent anzutreffen ist findet hier seinen Ursprung. Der Gedanke der Originalität
eines jeden Menschen wird ebenfalls durch die Romantik als Gut kreiert und
institutionalisiert. So beansprucht heutzutage fast jeder Mensch originell zu sein. Die
Idealvorstellung einer allumfassenden Einheit, wie z. B. in Casper David Friedrichs Bildern
evoziert, leitet sich ebenfalls aus dem von Rousseau eingeleiteten Diskurs ab, wie bei der
Darstellung des Entwicklungsmodells – dessen Ziel eine allumfassende Einheit ist - deutlich
wird. Desweiteren wird hier ein genuin menschliches Wohlwollen postuliert, welches nicht
wie zuvor unbegründet im Raume steht, denn der Theoriestrang der Romantik expliziert seine
Moralquelle, hier ist es die Natur welche gut ist, die den Menschen zu einem wohlwollenden
Wesen macht. Ein weiterer Wert der diesem Theoriestrang entspringt ist die absolute
Naturbejahung. Es findet auch eine Aufwertung der Kunst statt, Künstler werden nun oft als
Seher betrachtet, ihnen wird attestiert einen besseren Zugang zum Inneren, also zur
Natur/Wahrheit zu besitzen. Ihre Werke werden als für den Normalsterblichen schwer
decodierbare Epiphanien, also als Sichtbarmachungen einer verborgenen Realität interpretiert,
deren Gehalt aber sicherlich noch in das Vokabular der Gesellschaft eingegliedert wird, wenn
diese soweit ist. In diesem Kontext sei erwähnt, daß auch heute noch in
gesellschaftsrelevanten Diskursen dem Wort eines Künstlers, unabhängig von dessen
vorhandenem oder nichtvorhandem Fachwissen, ein hoher Stellenwert beigemessen wird.

6. Schluß – Konflikte der Moderne

Wie sich schon angedeutet hat steht Taylor den von ihm skizzierten Entwicklungen, die die
Identität der Neuzeit ausmachen nicht nur optimistisch, sondern auch skeptisch gegenüber.
Hierbei handelt es sich um die für die Neuzeit charakteristische einzigartige Verbindung von
Größe und Gefahr. Die Moderne ist nach Taylor durch einen „zersplitterten Horizont“
gekennzeichnet, gemeint ist damit, daß drei Moralquellen (bzw. konstitutive Güter, da ihnen
als Moralquelle vielfach die Anerkennung fehlt) koexistieren, namentlich der Theismus, die
desengagierte Vernunft und der Expressivismus, bei denen es sich jeweils um einen
Grenzbereich handelt. Taylor mahnt also keinen Horizontverlust an, sondern weist im
Gegenteil auf dessen Komplexität hin. Die drei Grenzbereiche schließen sich auch

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grundsätzlich nicht gegenseitig aus, vielmehr stehen sie in einem Spannungsverhältnis
zueinander. Alle drei konstitutiven Güter des „zersplitterten [Moral]Horizonts“ stehen nicht
nur in Spannung zueinander, sondern bilden ein Gesamtpaket, das den Moralischen Raum der
Moderne konstituiert und jede Reduktion auf eine der [meist inartikulierten konstitutiven
Güter] wird von Taylor abgelehnt, als Reduktionismus gebrandmarkt. Die Folgen dieser
Reduktionismen sind u.a. eine Kraftlosigkeit in der praktischen Verfolgung der Lebensgüter,
Extremismen (politische oder kulturelle, wie den Individualismus oder Hedonismus) oder
individueller und sozialer Sinnverlust.
Daraus ergeben sich drei, die neuzeitliche Identität konstitutiv bestimmende
Grundproblematiken für die Moderne:
1.) „Unter der Decke der Übereinstimmung hinsichtlich der moralischen Maßstäbe
[der Lebensgüter] liegen Ungewißheit und Meinungsverschiedenheit hinsichtlich
der konstitutiven Güter“ (Taylor 1999, S. 860).
2.) „Das zweite große Spannungsgebiet umfaßt den Konflikt zwischen desengagierten
Instrumentalismus und dem romantischen oder modernen Aufbegehren gegen
diesen Instrumentalismus“ (Taylor 1999, S. 860).
3.) Als letztes ergibt sich die Frage ob die Moral, mit ihrem Anspruch auf Ganzheit,
also auf eine absolute Einhaltung einen zu hohen Preis fordert.

Das zweite Problemfeld tritt am stärksten hervor. Die instrumentelle Vernunft wird für einen
Sinnverlust des Lebens verantwortlich gemacht. Ihre leidenschaftslose, kalkulierende Art läßt
keinen Platz für heldenmütiges oder aristokratisches Verhalten. Gemeint ist damit eine
Verflachung der Lebensinhalte, weil diese sich an das utilitaristische Denken anpassen. Die
Massenmedien oder der Begriff der Konsumgesellschaft werden als Argumente hierfür ins
Felde geführt. Nietzsche formte in diesem Kontext schon viel früher den Ausdruck vom
„erbärmlichen Behagen“. Die vor allem mit der Aufklärung einhergehenden und
beibehaltenden Lebensgüter lassen den sogenannten politischen Atomismus entstehen, also
gemeinwohlorientiertes Handeln in den Hintergrund treten, denn „die instrumentelle Haltung
gegenüber den eigenen Gefühlen spaltet unser Inneres und treibt einen Keil zwischen
Vernunft und Sinnlichkeit. Die atomistische Konzentration auf unsere individuellen Ziele
führt zur Auflösung der Gemeinschaft und zur Trennung der Mitmenschen“ (Taylor 1999,
S.864). In der Praxis bedeutet dies, daß Gesellschaftsmitglieder zwar die vom Staat
bereitgestellte Struktur, gemäß des Postulats der Selbstverwirklichung nutzen, aber zugleich
ihre Verpflichtung gegenüber diesem aus den Augen verlieren.
Desweiteren hat das technizistische Regulieren und Koordinieren von vielen Personen in
Großorganisationen die weberischen „stahlharten Gehäuse“, also ein eher kühles und
formelles zwischenmenschliches Miteinander zur Folge (oder es wird als solches
empfunden).6

Die oben zuerst aufgeführte Problematik birgt für Taylor ebenfalls viel Konfliktpotential.
Taylor prangert nicht den gesellschaftlichen Konsens über Lebensgüter an sich, sondern
dessen Umsetzung an, welche meist so aussieht, daß sorglos Werte akzeptiert werden, wenn
sie allgemeinen Zuspruch bekommen, ohne sich dabei über die verschiedenen Motivationen
die zur Affirmation dieser Güter führen zu kümmern. Diese an anderer Stelle benannte „Ethik
der Inartikuliertheit“ führt zu einem Nichtwissen der Herkunft der eigenen Lebensgüter.
Daraus resultiert zum einen, daß Lebensgüter nicht mehr konsequent verfolgt werden, da viele
ihrer Befürworter nicht genau definieren können, weshalb sie gerade diese verfechten und
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Weber zu dieser Thematik: “In den Privatbetrieben der Großindustrie sowohl wie in allen modernen
organisierten Wirtschaftsbetrieben überhaupt reicht die `Rechenhaftigkeit´, der rationale Kalkül, heute schon bis
auf den Boden hinunter. Es wird von ihm jeder Arbeiter zu einem Rädchen in dieser Maschine und innerlich
zunehmend darauf abgestimmt, sich als ein solches zu fühlen und sich nur zu fragen, ob er nicht von diesem
kleinen Rädchen zu einem größeren werden kann“ (Weber 1988, S. 413).

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diese Lebensgüter also im wahrsten Sinne des Wortes keinen Grund besitzen, sie also nicht
durch etwas begründet werden. Gerade bei der Verfolgung äußerst relevanter Lebensgüter, so
z. B. elementare Menschenrechte sind die Folgen jenes Sachverhalts der Inartikuliertheit
äußerst desaströs. Allerdings stellt Taylor als bekennender Katholik an einigen Stellen die
Wirksamkeit der Moralquelle Vernunft in Extrembereichen, so z. B. bei geistig Behinderten
oder bei Föten mit genetischen Mängeln in Zweifel: „Die Kraft der naturalistischen Quellen
mag noch so groß sein, das Potential einer bestimmten theistischen Perspektive ist
unvergleichlich viel größer“ (Taylor 1999, S. 894). Vor dem Hintergrund, daß beispielsweise
Mütter behinderter Kinder in Belgien schon sozial geächtet werden, da sie ja per moderner
Diagnoseverfahren dieses (die Gesellschaft belastende Kind) hätten abtreiben lassen können,
gewinnt Taylors Position an Brisanz.7 Taylor bleibt jedoch hinsichtlich der Frage ob alle
konstitutiven Güter der Moderne gleichwertig sind zum Teil widerspüchlich oder sehr
subjektiv. Zum anderen entsteht daraus oftmals ein Gefühl der Sinnlosigkeit, Menschen
besitzen keine feste Vorstellung von der „richtigen“ Lebensausrichtung, ihre Orientierung auf
das Gute ist verloren. Für Taylor entsteht so die Brutstätte des Extremismus jeglicher
Ausprägung, „und da das Fehlen jeglichen Sinns oft von einem Gefühl der Schuld begleitet
ist, sprechen sie in manchen Fällen auf eine Ideologie der Polarisierung an, in der man sowohl
einen Sinn für die Richtung wiederfindet als auch ein Gefühl der Reinheit, indem man in
unversöhnlicher Feindschaft gegen die Kräfte der Finsternis antritt“ (Taylor 1999, S. 892)

Der dritte Problemkreis ist in Bezug auf die Dominanz naturalistischer Paradigmen zu
verstehen, denn ihre Ideale verbieten es partout andere Anschauungen zu bejahen (was unter
anderem aus ihrem Universalitätsanspruch erwächst). Der Fehler der begangen wird ist der,
daß die selbstdestruktiven Folgen einer spirituellen Bewegung, sowohl im Privaten als auch
im öffentlichen Leben als Widerlegung dieser Werte begriffen werden. Daraus die
Ungültigkeit spezifischer Güter herzuleiten ist nach Taylors Dafürhalten zutiefst verfehlt. Es
handelt sich hier um ein Dilemma: „Die großen spirituellen Visionen der Menschengeschichte
sind zugleich Giftbecher gewesen, die Ursachen unsäglichen Elends, ja unermeßlicher
Grausamkeit“ (Taylor 1999, S. 896). Die heutige Existenz positiver Aspekte spiritueller
Strömungen können allerdings nicht geleugnet werden, insofern ist die Stigmatisierung dieser
kein probates Mittel zur Problembewältigung. Außerdem sind für Taylor, wie hoffentlich in
dieser Arbeit klar geworden, naturalistische Paradigmen den theologischen
Weltinterpretationen nicht ganz so unähnlich, wie stets behauptet wird.
Alles in allem steht Taylors „Archäologie“ erst am Anfang eines theoretischen Weges, dessen
Erfolg noch unbekannt ist, dessen Vorarbeit aber viele Fragen ausgegraben hat : „Die Absicht
dieses Buches war eine der Rückgewinnung. Es sollte der Versuch gemacht werden,
verschüttete Güter durch Neuartikulierung wiederzuentdecken und so dafür zu sorgen, daß
diese Quellen erneut Kraft verleihen. Es ging darum, wieder Luft in die beinahe versagenden
Lungen des Geistes zu pumpen“ (Taylor 1999, S. 899).

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