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DEBATTE

Hirnersatz oder mehr "Wiener Zeitung" in die


Köpfe
Schriftsteller Franzobel will das Ende der gedruckten Tageszeitung nicht akzeptieren.
vom 20.11.2022, 06:30 Uhr | Update: 21.11.2022, 10:49 Uhr

Nahrung fürs Gehirn: Die "Wiener Zeitung" "gießt die Haut der Wirklichkeit in Druckerschwärze". Schon seit 1703.
© WZ

F Franzobel

Die Menschheit hat die Tendenz, immer wieder sehenden Auges alles gegen eine Wand zu fahren. Kriege, Umweltkatastrophen, Zerstörung
des öffentlichen Verkehrs, Hunger. Dabei wäre etwas mehr Barmherzigkeit gar nicht so schwer. Jeder weiß, mit hundert Euro kann man Leben
retten, aber trotzdem tut man nichts. Warum? Weil die Welt zu vielfältig ist, man sich nicht für alle zuständig fühlt? Weil es einem an Ausreden
nie mangelt?

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Jetzt lässt man achselzuckend die "Wiener Zeitung" sterben, weil, wie es heißt, Printmedien tot sind, wir uns in Zeiten von Inflation und
Energiekrise so ein etwas aus der Zeit gefallenes Format nicht mehr leisten können.

Mich stimmt das traurig. Zu wissen, dass es eine "Wiener Zeitung" gibt, hat mich immer beruhigt, sogar dann, wenn ich sie nicht gelesen habe.
Manchmal wirkt etwas einfach, indem es da ist. Die "Wiener Zeitung" strahlte stets etwas Gelassenes und Repräsentatives aus - wie der
Bundespräsident. Keine billige Kollaboration mit dem Zeitgeist. Keine Anbiederung an die allgegenwärtige Trivialität und Banalität. Die "Wiener
Zeitung" hat viele andere Organe und Käseblätter überlebt, deren Verschwinden bedauerlich oder verschmerzbar ist: "Arbeiterzeitung", "Basta",
"täglich alles", "Spatzenpost", nein, die gibt es noch... Und was haben wir bekommen? "Österreich" und "heute"!

Franzobel, Schriftsteller, geboren 1967 in Vöcklabruck, erhielt unter anderem den Ingeborg-Bachmann-Preis (1995), den Arthur-Schnitzler-Preis (2002) und den Nicolas-Born-Preis (2017). Für
den vielfach übersetzten historischen Roman "Das Floß der Medusa" war er auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Zuletzt erschien 2021 "Die Eroberung Amerikas". - © Georg Wendt /
dpa / picturedesk.

Eine freie, unabhängige Presse ist eines der allerhöchsten Güter. Bei uns schaut es damit leider bedenklich aus. Der Österreicher ist von Haus
aus sich selbst der Nächste und mit dem Übernächsten verhabert. Das beginnt beim kleinen Gewerbetreibenden, der den Bürgermeister fragt,
ob er nicht etwas für den missratenen Nachwuchs machen kann, und er eh den nächsten öffentlichen Auftrag an den Richtigen (nämlich an
ihn) erteilt, wofür der Dorfkaiser dann eine betonierte Einfahrt, einen neuen Hausanstrich oder was auch immer bekommt. Mittlerweile gibt es
Compliance-Richtlinien, aber der Österreicher ist gerissen genug, die leichtfüßig zu umgehen. Wenn man meint, so etwas bleibe auf rurale
Gebiete beschränkt, muss man sich nur die diversen Chatverläufe ansehen, die aktuell zu Rücktritten bei der "Presse" und dem ORF geführt
haben. Gegen einen andren Medienzampano läuft ein Verfahren wegen sexueller Belästigung, und wenn man sich ansieht, auf welchen Events
sich manche Medienmacher durchbusseln, muss einem angst und bange werden ob der Verschmelzungen ins Schleimige. Nun ist das
ungehörige Gebärden in Kombination mit einer Wir-werden-es-uns-richten-Mentalität keineswegs neu.

Österreich hat keine Tradition in aufgeklärtem Bürgertum, alles, was hier jemals etwas war, gehörte zum Adel oder zur Kirche. Und daran hat
sich nie etwas geändert. Jeder, der hierzulande nach oben kommt, fühlt sich sofort als neuer Aristokrat, was stillschweigend impliziert, den
Pöbel arm und dumm zu halten. Wenn man meint, die Neureichen wären mitfühlend, weil sie selbst von unten kommen, ist man auf dem
Holzweg. Im Gegenteil, da heißt es dann: "Die hätte es ja auch schaffen können." Aber alle wollen es vielleicht gar nicht schaffen, weil ihnen
andere Dinge wichtiger sind. Da geht es um Würde und Anstand. Das hat einen Wert - bei Menschen als auch bei Zeitungen.

Gesellige Erbärmlichkeit

Österreich ist zu klein, um nicht korrupt zu sein. Guglhupf essen, Prosecco trinken. Das ist menschlich und in seiner geselligen Erbärmlichkeit
fast sympathisch, aber was kommt dabei heraus?

Die "Kronenzeitung" ist der Hirnersatz der Österreicher! Das hat ein befreundeter Chirurg einmal gesagt und es wörtlicher gemeint, als man
vielleicht meint. Früher nämlich, als Spitäler noch Kapazitäten hatten, war es Usus, jeden Toten zu sezieren, und dabei wurde auch das Hirn
untersucht. Weil die Pathologen bequem waren, gaben sie im Anschluss an die Prozedur das entnommene Gehirn nicht mehr zurück in den
Schädel, sondern stopften es in den offenen Bauchraum der Leiche. Damit nun nicht die Augen in den leeren Kopf fielen, musste man ihn
ausstopfen und dafür nahm man im Regelfall die "Kronenzeitung". Daher war und ist die "Kronenzeitung" der Hirnersatz der Österreicher. Sie
ist wie Bayern München, unschlagbar, Klassenprimus, Liebes- oder Hassobjekt, aber wenn es darauf ankommt auch sozial. Sogar die
"Kronenzeitung" hat verstanden, dass die "Wiener Zeitung" richtig liebenswert, wichtig und notwendig ist. Chapeau.

Die "Wiener Zeitung" hätte ich als Toter gern im Kopf. Sie eignet sich aber auch zum Abdecken von Parkettböden, Einpacken von
Pausenbroten, Anzündhilfe, als Maus-Dummie für Katzen, Bespannung von Flugdrachen und vieles mehr. Nicht zuletzt ist sie einfach eine gute
Zeitung. Keine, die viel Lärm macht, aber doch ein sanftes Hintergrundgeräusch erzeugt, wenn sie die Haut der Wirklichkeit in
Druckerschwärze gießt.

Keine aufmerksamkeitsheischende Clickfarm

Man lässt die "Wiener Zeitung" sterben, absichtlich, weil sie keine aufmerksamkeitsheischende Clickfarm ist. Keine Presseförderung. Sieht
man sich an, was sonst so gefördert wird, kommt einem das kalte Grausen. 420.000 Euro an KroneHit, zwei Millionen an den TV-Sender oe24,
einskommavier Millionen an ATV. Lauter Medien, die jeden Bildungsauftrag nicht nur konsequent nicht erfüllen, sondern auch noch der
Verblödung Vorschub leisten. Und Zeitungen? Die bekommen zig Millionen von diversen Ministerien und Parteien. Die "Wiener Zeitung" nicht,
das spricht für sie.

Sind Österreichs Medien unabhängig? Es scheint, als wäre gerade bei florierenden Zeitungen ihr pekuniärer Erfolg ein Beweis ihrer
Abgängigkeit. Die Flüssigen sind deshalb keineswegs überflüssig, aber doch hat man den Eindruck, die Stumpfsinn verbreitenden Medien, die
zum Beispiel unter der Rubrik Gesellschaft das subsumieren, was selfiesüchtige Kunstfiguren von sich geben, verbreiten sich wie invasive
Neophyten, während alles, was Substanz hat, konsequent vernichtet wird.

Die Medienlandschaft in Österreich war immer schon eine mit Scherben und Glassplittern übersäte Gstätten, aber durch die elektronischen
Medien wird nun vieles unnachvollziehbar Anrüchige nachvollziehbar und bruchstückhaft öffentlich. Wenn man dann irgendwann den durch
Verhaberung kompromittierten Medien nicht mehr trauen kann, führt das unweigerlich zu Chaos und Verschwörungstheorien.

Seit es die sozialen Netzwerke gibt, gehen Differenzierung und Diskussionsbereitschaft verloren. Die apokalyptischen Reiter kommen nicht mit
Flammenschwertern und Pestleichen, sondern mit eigenen Meinungen, neben denen nichts geduldet wird. Alle wollen sich moralisch
überlegen fühlen: vegan, woke, Nichtraucher, divers, Suppen-auf-Kunst-Schütter, Impfgegner, Impfbefürworter... Und alle nehmen sich das
Recht, in dem sie sich zu sein glauben.

Da passt das von der Politik tolerierte Abmurksen der für Meinungspluralität stehenden "Wiener Zeitung" gut dazu. Aber muss das wirklich
sein? Sollen wir jede Verschlechterung akzeptieren? Nein, diesmal nicht, die "Wiener Zeitung" darf nicht sterben. Punkt.

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