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Gymnasium – mündliche Abiturprüfung (1.

Teil) - Geschichte
Prüflinge
Datum und Uhrzeit
Prüfungskommission Prüfer:
Vorsitz:
Protokoll:
Aufgabentyp A (Analyse von Darstellungen und kritische Auseinandersetzung mit ihnen)
Materialgrundlage Thierry Lentz: 1815. Der Wiener Kongress und die Neugründung Europas,
München 2014, S.351ff.
Aufgabenstellung
Interpretiere den vorliegenden Textauszug in einem flüssigen Vortrag, indem du …
1.) ihn analysierst,
2.) anhand des Textes die Grundsätze und Ziele des Wiener Kongresses sowie deren Folgen für die
Entstehung eines deutschen Nationalstaates erläuterst,
3.) und darauf aufbauend den Standpunkt des Autors begründet beurteilst.

Der französische Historiker Thierry Lentz schreibt zur historischen Bewertung des Wiener Kongresses:
Der Wiener Kongress hat sich immer wieder harscher Kritik ausgesetzt gesehen, von
Zeitgenossen, aber auch bis in die heutige Zeit. […] Im Gegensatz zu dieser […] Darstellung
begründeten die Wiener Abkommen, verfochten von Menschen die den Krieg gelitten hatten
und einen neuerlichen Krieg verhindern wollten, in Wirklichkeit eine neue politische
5 Geographie des Kontinents, die nach fünfundzwanzig schrecklichen Jahren vor allem eines
sein wollte und es tatsächlich auch war: stabilisierend und ausgewogen.
Denn Russland war in Polen zufriedengestellt1, aber im Westen durch den Deutschen Bund
und im Süden durch Österreich blockiert; Preußen hatte an Ländereien gewonnen, wurde aber
durch die Neuordnung Deutschlands gezügelt; der Unruhestifter Frankreich wurde nicht
10 zerstört, sondern unter die Beaufsichtigung gestärkter Nachbarn gestellt; […] Österreich
genehmigte sich zugegebenermaßen den Löwenanteil, war aber nach wie vor – und im Grunde
sogar mehr denn je – eine zwischen ihren deutschen, ungarischen und italienischen Anteilen
zersplitterte Monarchie. Mithin war der große moralische, politische und ökonomische Sieger
des Kongresses England: Ein Gleichgewicht war etabliert, der Frieden sorgte wieder für gute
15 Geschäfte, und es gab keine Grundsatzdiskussionen über Kolonien, so dass England seine
Dominanz auf dem Meer ausdehnen konnte. […] In gewisser Weise waren die Wiener
Abkommen eine Pax britannica2, von der indes die Wirtschaft des gesamten Kontinents
profitierte. […]
Bei Licht betrachtet, hatte Wien – wenngleich unter turbulenten Umständen – ein höchst
20 intelligentes und raffiniertes geopolitisches Räderwerk errichtet. […] Waren punktuelle
Konflikte nicht immer zu vermeiden, so konnte doch verhindert werden, dass sie sich zu einem
allgemeinen Krieg auswuchsen. […] Dieser Frieden sollte sich als derart stabil erweisen, dass
man zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Gefahr eines weiteren „Großen Krieges“, wie man die
Auseinandersetzungen zwischen 1792 und 1815 getauft hatte, tatsächlich gebannt sah.

1
Russland wurde mit dem sog. Kongresspolen der größte Teil des geteilten Polens zugesprochen.
2
Gemeint ist in Anlehnung an die antike Pax romana das Prinzip der britischen Welt- und Kolonialherrschaft im
19. Jahrhundert.

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