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Jane Addams – Demokratie und Soziale Ethik

– Text –
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Kapitel VII Politische Reform

Das ganze Buch hindurch sind wir davon ausgegangen, dass ein Großteil un-
serer ethisch schlechten Regelungen in sozialen Angelegenheiten aus der Tat-
sache resultiert, dass wir nach einem ethischen Kodex handeln, der auf indi-
viduelle Beziehungen zugeschnitten ist, aber nicht auf die umfassenderen
5 sozialen Beziehungen, in denen er geradezu stümperhaft angewendet wird.
Die daraus resultierenden Belastungen und Schwierigkeiten werden aber
auch oft begleitet von einem echten mangelhaften Wahrnehmungsvermögen
für die Erfordernisse der Situation.
Dies wird nirgendwo deutlicher als in unserem politischen Leben, in der
10 Art, wie es in bestimmten Vierteln jeder Großstadt zu Tage tritt. Wenn wir
uns nicht bemühen, uns mit unseren menschlichen Erfahrungen auf einen ge-
meinsamen Boden zu stellen, ist es äußerst schwierig, an unserer politischen
Demokratie festzuhalten und ihr dabei in irgendeiner Weise ein soziales Ge-
sicht zu geben, und nicht nur das eines rein behördlichen Apparates. Ohne
15 einen gemeinsamen Boden besteht in den verschiedenen Teilen der Ge-
meinde eine unvermeidliche Abweichung zwischen den ethischen Standards,
die für viele Missverständnisse verantwortlich ist.
Es ist schwierig, gleichzeitig die Motive und Ideale von denjenigen einfüh-
lend auszulegen, deren Verhaltensregeln durch Erfahrungen erworben wur-
20 den, die sich von den unseren stark unterscheiden, und sich dabei zugleich
ausreichend zu bemühen, die bereits erreichten Errungenschaften nicht nur
zu schützen, sondern das unvollkommene, so mühsame erworbene Gute
auch hoch genug zu schätzen, das doch im günstigsten Fall ein durchwachse-
nes Gutes ist. Dieser große Unterschied in der täglichen Erfahrung zeigt sich
25 in zwei verschiedenen Haltungen gegenüber der Politik. Die wohlhabenden
Männer der Gemeinde betrachten die Politik als etwas in sich Geschlossenes;
sie mögen die politische Pflicht als Teil der guten Staatsbürgerschaft gewis-
senhaft anerkennen, aber die politische Arbeit ist davon abgetrennt und ge-
hört nicht zum Ausdruck ihres moralischen oder sozialen Lebens. Als Ergebnis
30 dieser Trennung sind „Reformbewegungen“, die von Geschäftsleuten und
dem um Verbesserung bemühten Gesellschaftsmitglied ins Leben gerufen
werden, fast ausschließlich mit der Korrektur der politischen Maschinerie und
mit der Sorge um die bessere Verwaltungsmethode beschäftigt, anstatt mit
dem Endzweck, nämlich das Wohlergehen des Volkes sicherzustellen. Sie rich-
35 ten ihre Aufmerksamkeit so ausschließlich auf Verfahrensweisen, dass sie es
versäumen, die wirklichen Ziele der Stadtregierung zu bedenken. Dies erklärt
die wachsende Tendenz, auf Kosten der Machtbeschränkung der direkten
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Vertreter der Wähler mehr und mehr Verantwortung auf Exekutivbeamte


und einberufene Ausschüsse zu übertragen. Reformbewegungen pflegen er-
40 folglos zu werden und ihren aufklärerischen Wert für die Masse des Volkes zu
verlieren. Die Reformer nehmen die Rolle der Opposition ein. Sie beschäfti-
gen sich weitgehend mit der Kritik an den bestehenden Verhältnissen, schrei-
ben und reden darüber, wie die Zukunft sein muss und welche sicheren Er-
gebnisse erzielt werden sollten. Bei ihrem Versuch, die Dinge zu verbessern,
45 haben sie jedoch nur politische Erfolge im Sinn, die sie auf merkwürdige
Weise vom übrigen Leben abtrennen, und sie sprechen und schreiben von der
Vervollkommnung der Politik wie von einer Sache, die nicht für das alltägliche
Leben bestimmt ist.
Demgegenüber sind die wirklichen Führungspersonen des Volkes ein Teil
50 des gesamten Lebens der Gemeinde, auf die sie Einfluss nehmen. Soweit sie
überhaupt maßgeblich sind, verleihen sie der Demokratie ein soziales Ge-
sicht. Sie sind oft politisch korrupt, aber nichtsdestotrotz verfahren sie nach
einem vernünftigeren Grundsatz. Obwohl sie gar nicht in der Lage wären, ih-
rem Handeln einen theoretischen Ausdruck zu verleihen, verfahren sie tat-
55 sächlich in einer Weise, die ein kluger englischer Beobachter formuliert hat,
nämlich dass „nach der Erteilung des Wahlrechts für die Massen soziale Ideale
in politische Programme aufgenommen worden sind. Sie sind zwar nicht als
etwas aufgenommen worden, was günstigstenfalls auf indirektem Wege von
der Regierung befördert wird, sondern als etwas, dessen direkte Förderung
60 die Hauptaufgabe der Regierung ist.“
Männer, die in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Wählermassen leben
und sie genau kennen, wissen das und handeln danach; sie kümmern sich in
direkter Weise um das Leben und um die sozialen Bedürfnisse. Sie erkennen
klar, dass das ganze Volk lautstark soziale Werte fordert, und sie behaupten ihre
65 Macht, weil sie auf diese Forderung reagieren. Sie sind korrupt und machen ihre
Arbeit oft schlecht, aber sie vermeiden zumindest den Fehler eines bestimmten
Typs von Geschäftsleuten, die sich vor der Demokratie fürchten und das Ver-
trauen zum Volk verloren haben. Die beiden Positionen ähneln denen, die man
bei einer populären Bilderausstellung erlebt, wo die gebildeten Menschen sich
70 am meisten um die Technik eines bestimmten Gemäldes kümmern, die be-
wegte Masse aber um ein Sujet, das häuslich und menschlich sein soll.
Gut zu veranschaulichen ist dieser Unterschied durch die Erfahrung der
Autorin in einem bestimmten Bezirk in Chicago, als im Verlauf von drei Kam-
pagnen Versuche unternommen wurden, ein Mitglied des Bezirksrats aus
75 dem Amt zu entfernen, das den Bezirk viele Jahre lang vertreten hatte. In die-
sem Bezirk sind fünfzigtausend Menschen zusammengefasst, die circa zwan-
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zig Nationalitäten repräsentieren. Die neu ausgewanderten Latinos, Deut-


schen, Kelten, Griechen und Slawen, die dort leben, haben wenig gemein, au-
ßer den elementaren Erfahrungen, die die Menschen in allen Ländern und
80 unter allen Gegebenheiten sammeln. Um fünfzigtausend Menschen, die in
Bezug auf Nationalität, Religion und Sitten so heterogen sind, dazu zu bringen,
sich auf irgendeine Forderung zu einigen, muss diese auf allgemeingültigen
Erfahrungen beruhen, die aber zwangsläufig zunächst einmal auf der indivi-
duellen Erkenntnis jedes Einzelnen basieren und nicht sozial bedingt sind.
85 Eine instinktive Erkenntnis dieser Tatsache seitens des Ratsherrn macht
die individualistische Grundlage seines politischen Erfolgs verständlich. Es
bleibt aber trotzdem äußerst schwierig, die Gründe für seine extreme Nach-
sicht bei der Beurteilung von politischer Korruption zu ermitteln, einer Nach-
sicht, der er sich ständig schuldig macht.
90 Diese Nachsicht ist nur vor dem Hintergrund seiner Wähler erklärbar, die
individuelle Tugenden sehr bewundern und gleichzeitig nicht in der Lage sind,
grobe Verstöße gegen den sozialen Anstand zu erkennen, die der Ratsherr
möglicherweise begeht. Sie sprechen also den Ratsherrn von jeder Schuld
frei, weil seine Korruption ein soziales Verhalten ist, und sie bewundern ihn
95 aufrichtig als großen Mann und Helden, weil seine individuellen Handlungen
im Großen und Ganzen freundlich und großzügig sind.
In bestimmten Stadien der moralischen Entwicklung ist ein Mensch zur
Handlung unfähig, es sei denn, ihre Ergebnisse kommen ihm selbst oder ei-
nem seiner Bekannten zugute. Ein großer Schritt im moralischen Fortschritt
100 ist es, wenn das Wohl der Vielen über das Interesse der Wenigen gestellt wird,
und man sich für das Wohlergehen einer Gemeinschaft einsetzt, ohne auf
eine individuelle Gegenleistung zu hoffen. Inwiefern der selbstsüchtige Politi-
ker seine Wähler täuscht, indem er sie glauben macht, ihre Interessen seien
mit seinen eigenen identisch, und inwiefern er ihnen die Unfähigkeit unter-
105 stellt, zwischen individuellen und sozialen Tugenden unterscheiden zu kön-
nen – eine Unfähigkeit, die er selbst mit ihnen teilt – und inwiefern er sie
durch das Selbstwertgefühl seiner Größe blendet und durch die Überzeugung,
dass sie daran teilhätten, dies alles ist schwer festzustellen.
Die Moral entwickelt sich sicherlich viel eher in Form von moralischen Tat-
110 sachen als in Form von moralischen Ideen, und es ist offensichtlich, dass die
Ideen nur durch Willensbekundung und Charakterstärke auf die gängige Mei-
nung einwirken. Diese Ideen müssen dramatisiert werden, bevor sie die
Masse der Menschen erreichen, so wie die Lebensgeschichte der Heiligen
schließlich „der Hauptwegweiser für die strauchelnden Füße von Tausenden
115 von Christen gewesen ist, für die das Credo nur geheimnisvolle Worte waren.“
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Ethik ebenso wie politische Meinungen können unter den Gebildeten


durch Vorträge und Druckseiten besprochen und verbreitet werden, aber
dem einfachen Volk können sie nur durch das Beispiel vermittelt werden –
durch eine Persönlichkeit, die in der Lage ist, die Vorstellungskraft des Volkes
120 zu wecken. Der Vorteil einer Wohngegend von schlichten Leuten ist, dass die
Einwohner ihre Ideen nicht als Schätze hüten. Deren Ansammlung, so wie sie
es mit Wissen oder Geld tun würden, ist ihnen nicht in den Sinn gekommen,
und sie handeln unumwunden nach den Ideen, die sie besitzen. Das persönli-
che Beispiel regt sofort zur Nachahmung an. In einer Wohngegend, in der die
125 politische Normen formbar und nicht entwickelt sind, und in der es wenig vor-
gängige Erfahrungen in Selbstverwaltung gab, dort gibt der Amtsinhaber
selbst die Norm vor, und die Ideen, die sich um ihn herum zusammenballen,
üben einen konkreten und dauerhaften Einfluss auf die politische Moral sei-
ner Wähler aus.
130 Nichts ist gewisser als die Tatsache, dass eine heterogene Bevölkerung in
einer der anspruchsloseren Wohngegenden am meisten die Eigenschaft be-
wundert, die die Eigenschaft der einfachen Güte ist, und dass der Mann, der
sie anzieht, der ist, von dem sie glauben, dass er ein guter Mensch sei. Wir
alle wissen, dass Kinder keiner anderen Sache mehr Intensität widmen als
135 dem Wunsch, „gut zu sein“. Wir können uns alle daran erinnern, dass die frü-
hesten Sehnsüchte unserer Kindheit in diese Richtung gingen, und dass wir
erwachsene Menschen verehrten, weil sie Vollkommenheit erreicht hatten.
Einfache Menschen, wie die süditalienischen Bauern, befinden sich noch
in diesem Stadium. Sie wollen gut sein, und tief in ihrem Herzen bewundern
140 sie nichts so sehr wie den guten Menschen. Abstrakte Tugenden sind für ihren
ungeschulten Verstand zu schwer zu begreifen, und viele von ihnen sind im-
mer noch einfältig genug, zu glauben, dass Macht und Reichtum nur zu guten
Menschen kommen.
Entsprechend der Moral seiner Wähler muss der erfolgreiche Stadtrat-
145 Kandidat also ein guter Mensch sein. Er darf nicht versuchen, einen zu hohen
moralischen Standard aufrechtzuerhalten, noch darf er versuchen, die Nor-
men seiner Wähler zu verbessern oder auszuwechseln. Er liegt auf der siche-
ren Seite, wenn es ihm gelingt, im größeren Rahmen die guten Taten zu be-
gehen, zu denen seine Wähler nur im engeren Rahmen in der Lage sind. Wenn
150 er glaubt, was sie glauben, und das tut, von dem sie alle insgeheim den Ehr-
geiz pflegen, es tun zu können, wird er sie durch seinen Erfolg blenden und
ihr Vertrauen gewinnen. In diesem Vorgehen liegt eine gewisse Weisheit. In
der Menschenmasse gibt es einen gesunden Menschenverstand, der nicht
ungestraft vernachlässigt werden kann, genauso wie es sicher eine Absonder-
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155 lichkeit in dem Einzelnen gibt, der von der Menge abweicht und ein reforme-
risches Bestreben hat. Auch diese Abweichung sollte man vielleicht besser
hinterfragen.
In einem früheren Kapitel wurde auf die ständige Gefälligkeit der Armen
untereinander hingewiesen, und dass sie zuverlässig auf die Not und Bedräng-
160 nis ihrer ärmeren Nachbarn reagieren, sogar wenn sie selber in Gefahr sind,
zahlungsunfähig zu werden. Die Freundlichkeit, die ein armer Mann seinem
in Not geratenen Nachbarn entgegenbringt, wird zweifellos in ihrem Wert
noch durch das Wissen darum erhöht, dass er selbst nächste Woche in Not
geraten könnte. Er steht also seinem Freund bei, wenn der sich zu sehr be-
165 trunken hat, um auf sich selbst aufzupassen, wenn der seine Frau oder sein
Kind verliert, wenn der wegen Mietverzug aus dem Haus geworfen wird, oder
wenn der wegen eines belanglosen Vergehens verhaftet wird. Einem solchen
Mann erscheint es völlig angemessen, dass sein Ratsherr dasselbe in größe-
rem Rahmen tut – dass er einem Wähler nur deswegen aus der Patsche hilft,
170 weil der in Schwierigkeiten steckt, ungeachtet der Rechtslage, die damit ver-
bunden ist.
Der Ratsherr bürgt folglich für seine Wähler, wenn sie verhaftet werden,
oder legt ein gutes Wort für sie beim Polizeigericht ein, wenn sie dort zur Ver-
handlung erscheinen, er nutzt seinen Einfluss beim Friedensrichter, wenn
175 ihnen für ein ziviles Vergehen die Verurteilung zu einer Geldstrafe droht, oder
er kümmert sich um die Frage, was er tun kann, um die Angelegenheit mit
dem Staatsanwalt „in Ordnung zu bringen“, wenn es sich wirklich um eine
ernste Anklage handelt. Indem er all dies tut, folgt er der Ethik, die auch von
seinen Wählern vertreten und praktiziert wird. Dies alles erweckt in dem ein-
180 fach denkenden Menschen den Eindruck, dass dem Gesetz dann keine Gel-
tung verschafft wird, wenn der Gesetzesbrecher einen mächtigen Freund hat.
Ein Beispiel dafür ist das Vorgehen des Ratsherrn, der einem Padrone im
Stadtbezirk beistand, als dieser wegen einer Verletzung der Dienstvorschrif-
ten des Öffentlichen Dienstes angeklagt worden war. In diesem Fall hatten
185 die Bevollmächtigten Mitteilungen an einige italienische Tagelöhner ver-
schickt, die auf der Liste der Anspruchsberechtigten standen, und sie dazu
aufgefordert, dass sie sich an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten
Uhrzeit zur Arbeit melden sollten. Einer der Padrones fing diese Benachrich-
tigungen ab und verkaufte sie an die Männer für fünf Dollar pro Stück; wie
190 üblich handelte er dabei ebenfalls seinen Anteil an ihrem Lohn aus. Das ge-
samte Vorgehen des Padrone entsprach dem seit Jahren vorherrschenden
Gepflogenheiten, die vor der Einführung des Öffentlichen Dienstrechts gang
und gäbe waren. Zehn der Arbeiter stellten Strafanzeigen gegen den Padrone,
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der zu einer Geldstrafe von fünfundsiebzig Dollar verurteilt wurde. Diese


195 Summe wurde von dem Ratsherrn umgehend bezahlt, und der Padrone
kehrte in der Gewissheit, vor weiterem Ärger geschützt zu sein, unbehelligt in
seine Siedlung zurück. Die einfachen Italiener waren über diese Machtde-
monstration sehr verwundert, die sich als stärker erwies als das Öffentliche
Dienstrecht, dem sie vertraut hatten, ganz so wie dem in Italien. Durch diesen
200 Vorgang wurde zum ersten Mal die Autorität des Gesetzes infrage gestellt,
und verschiedene finstere Handlungen folgten, bis kein Italiener, der eine Ka-
nalisation grub oder eine Straße für die Stadt fegte, sich ganz sicher fühlen
konnte, seinen Job zu behalten, wenn er nicht durch die Freundschaft des
Ratsherrn unterstützt wurde. Nach dem Öffentlichen Dienstrecht hat ein Ar-
205 beiter kein Recht darauf, vor Gericht zu ziehen. Viele werden vom Bauleiter
entlassen und sind der Meinung, dass sie nur auf Empfehlung des Ratsherrn
wieder eingestellt werden können. Auf diese Weise hält dieser praktisch seine
alte Macht über die Arbeiter aufrecht, die für die Stadt arbeiten. In der gän-
gigen Meinung herrscht die Überzeugung, dass eine ehrliche Verwaltung des
210 Öffentlichen Dienstes unmöglich sei. Die Verwaltung sei lediglich ein weiteres
Instrument in den Händen der Mächtigen.
Einen anerkannten Öffentlichen Dienst unter diesen Männern zu etablie-
ren, die nur durch Erfahrung lernen, wird schwierig sein, da aufgrund ihrer
bisherigen Erfahrungen ihr einstimmiges Votum sicherlich lauten würde, dass
215 der „Öffentliche Dienst“ „nichts taugt.“
Wie in diesem Fall viele Wähler von der Tatsache beeindruckt sind, dass
die Ratsherrenmacht der des Staates überlegen ist, so könnten auch un-
schwer Vorkommnisse von gegenwärtigen Gesetzesverstößen angeführt wer-
den. So kann ein junger Mann einen Saloon lange nach Mitternacht, der ge-
220 setzlichen Sperrstunde, betreten und sich an einen Spieltisch setzen und
vollkommen sicher vor Unterbrechung oder Verhaftung sein, weil das Lokal
einem Ratsherrn gehört. Um die Unangreifbarkeit dieses jungen Mannes zu
schützen, muss dann der Streifenpolizist allerdings jedes Mal, wenn er an dem
Lokal vorbeikommt, vorgeben, nicht in die Fenster zu schauen, und er weiß –
225 und der junge Mann weiß, dass er es weiß –, dass nichts das „Polizeihaupt-
quartier“ mehr in Verlegenheit bringen würde als eine Verhaftung in diesen
Räumlichkeiten. So wird natürlich auf leichte Weise eine gewisse Verachtung
für den gesamten Apparat von Recht und Ordnung gefördert.
Vom Ratsherrn wird erwartet, dass er aus reiner Freundlichkeit die Miete
230 für den schwer bedrängten Bewohner zahlt, wenn es bei der Miete kein Ent-
gegenkommen gibt, dass er „Jobs“ findet, wenn eine Arbeit nur schwer zu
finden ist, und dass er alle Stellen herbeibeschafft, denen er sich im Rathaus
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bemächtigen kann und sie unter seinen Wählern verteilt. Der Ratsherr des
Bezirks, den wir hier betrachten, konnte sich einmal stolz damit brüsten, dass
235 er in seinem Bezirk zweitausendsechshundert Menschen auf der öffentlichen
Lohnliste hatte. Darunter befanden sich natürlich auch Tagelöhner, aber jeder
einzelne fühlte eine deutliche Verpflichtung ihm gegenüber, weil er eine
Stelle bekommen hatte. Wenn wir bedenken, dass dies ein Drittel der gesam-
ten Stimmen des Bezirks ist, dann ist uns klar, dass es sehr wichtig ist, für den
240 richtigen Mann zu stimmen, da die Chancen zumindest eins zu drei stehen,
Arbeit zu sichern.
Wenn wir uns darüber hinaus ins Gedächtnis rufen, dass Unternehmen,
die Franchisenehmer als Partner suchen, solchen Bewerbern besonderen
Respekt zollen, die vom Stadtrat unterstützt werden, dann wird die Frage der
245 Wählerstimme für den erfolgreichen Mann ebenso sehr zu einer wirtschaftli-
chen wie zu einer politischen Frage. Ein italienischer Arbeiter will einen „Job“
mehr als alles andere und wählt ganz einfach den Mann, der ihm einen sol-
chen verspricht. Dies unterscheidet sich nicht so sehr von seiner Beziehung
zum Padrone, und in der Tat stärken sich die beiden gegenseitig.
250 Es mag durchaus sein, dass der Ratsherr mit seinen freundlichen Taten
durchaus ganz aufrichtig ist, denn es könnte sein, dass ein Amtsanwärter mit
dem einfachen Wunsch beginnt, Leiden zu lindern, und sich dieser allmählich
in den Wunsch verwandelt, seine Wähler in eine Verpflichtung ihm gegenüber
zu bringen. Doch das Handeln eines solchen Individuums wird dann zu einem
255 demoralisierenden Sachverhalt in der Gemeinde, wenn ein freundlicher Im-
puls als Deckmantel für die Befriedigung des persönlichen Ehrgeizes benutzt
wird, und wenn die formbare Moral seiner Wähler allmählich seinen eigenen
unentwickelten Normen entspricht.
Der Ratsherr macht Geschenke bei Hochzeiten und Taufen. Er nutzt solche
260 Tage der Familienfeiern, um sich Freunde zu machen. Am einfachsten erreicht
man die Bürger in der Stimmung des herzlichen Entgegenkommens an Feier-
tagen und von ihrer Seite gesehen, scheint es lediglich natürlich und freund-
lich, dass er so wohlwollend ist. Der Ratsherr besorgt Fahrkarten für die Bahn,
wenn seine Wähler Freunde besuchen wollen oder vorhaben, an der Beerdi-
265 gung entfernter Verwandter teilzunehmen; er kauft Eintrittskarten in Hülle
und Fülle für Benefizveranstaltungen, die an eine Witwe oder einen Schwind-
süchtigen in besonderer Not weitergegeben werden; er spendet Geld für
Preise, die an die schönste Dame oder den beliebtesten Mann vergeben wer-
den. Der Kirchenbasar zum Beispiel ist für den Ratsherrn die geeignete Bühne
270 für seinen pathetischen Auftritt. Wo andere Pennys ausgeben, gibt er Dollars
aus. Wenn bemühte Verwandte um Stimmen für die beiden zur Wahl stehen-
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den schönsten Kinder werben, kauft er unbekümmert Stimmen für die Kandi-
daten beider Seiten und lehnt es lachend ab, zu verraten, welche der beiden
Seiten ihm besser gefällt, und von der jungen Dame, die das unbedingt von
275 ihm herausfinden will, kauft er sich frei, indem er ihr fünf Dollar für den Blu-
menbasar gibt, wobei der Strauß dann natürlich an die Kranken der Gemeinde
weitergeschickt wird. Die moralische Atmosphäre eines Basars ist genau das
Richtige für ihn. Oft murmelt er: „Macht nichts, das Geld geht ja alles an die
Armen; es ist alles ausreichend ehrlich, wenn die Kirche das Geld bekommt,
280 werden die Armen nicht so viele Fragen stellen.“ Je öfter er in seine Wähler
solche Empfindungen einpflanzen kann, desto zufriedener ist er, und nichts
schafft bei seinen Wählern schneller die Bereitschaft, seine Ansicht über
Geldbeschaffung und Geldausgaben zu übernehmen. Wir sehen hier wieder,
dass das Vorgehen selbst nicht beachtet wird, weil der Zweck als solcher für
285 so lobenswert gehalten wird.
In der Gemeinschaft von einfachen Menschen liegt in ihrer Haltung gegen-
über Tod und Beerdigung etwas Archaisches. Für nichts lässt sich so leicht
Geld sammeln wie für ein Begräbnis, und man erinnert sich unwillkürlich da-
ran, dass anfängliche religiöse Zehntabgaben gezahlt wurden, um Tod und
290 Geister abzuwehren. Zuweilen begegnet man in der Frage der Beerdigung fast
dem antiken griechischen Lebensgefühl. Wenn der Ratsherr Zeiten der Fest-
lichkeit gierig aufgreift, um sein Wohlwollen zu bekunden, so macht er dies
erst recht mit Zeiten des Leids. Bei einer Beerdigung hat er den doppelten
Vorteil, dass er ein echtes Bedürfnis nach Trost und Zuspruch befriedigen und
295 gleichzeitig einem leidtragenden Wähler helfen kann, jenes merkwürdige Ge-
fühl der Reue auszudrücken, das immer mit lebendiger Trauer einhergeht,
nämlich jenes ebenso natürliche wie universelle Verlangen, vergangene Ver-
fehlungen „wiedergutzumachen“ und der Welt zu zeigen, wie sehr er die Per-
son geliebt hat, die gerade gestorben ist.
300 Hinzu kommt, dass es unter den Armen, die nur wenige gesellschaftliche
Anlässe haben, ein großes Verlangen nach einer gut ausgerichteten Beerdi-
gung gibt, deren Güteklasse fast ausschlaggebend für ihr soziales Ansehen in
der Nachbarschaft ist. Der Ratsherr bewahrt die Ärmsten seiner Wähler vor
dem schrecklichen Grauen eines durch den Bezirk finanzierten Armenbegräb-
305 nisses; er besorgt für die Armen Kutschen, die sie sich sonst nicht leisten
könnten. Es wäre vielleicht zu viel gesagt, dass alle Verwandten und Freunde,
die in den vom Ratsherrn spendierten Kutschen mitfahren, auch für ihn stim-
men, aber sie sind sicherlich von seiner Freundlichkeit beeindruckt und spre-
chen während der langen Stunden der Hin- und Rückfahrt zum Vorstadtfried-
310 hof über seine Tugenden. Ein Mann, der zu diesem Zeitpunkt fragen würde,
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woher denn all das Geld kommt, das auf diese Art und Weise ausgegeben
wird, würde als Übel wollend angesehen werden. Die Neigung, milde über die
Fehler der Toten zu sprechen und gelinde über sie zu urteilen, wird auf die
Lebenden übertragen, und so mancher hat bei solcher Gelegenheit sowohl
315 selber ein nachsichtiges Urteil über politische Korruption abgegeben als auch
freundliche Reden gehört, an die er sich dann am Wahltag erinnert hat. „Nun
gut, er hat ein großes irisches Herz. Er ist gütig zu den Witwen und den Vater-
losen.“ „Er kennt die Armen besser als die hohen Tiere, die ständig über den
öffentlichen Dienst und Reformen reden.“
320 In der Tat, was kann der Begriff der bürgerlichen Lauterkeit und des An-
stands der Verwaltung gegen diese große Bekundung menschlicher Freund-
lichkeit ausrichten, gegen dieses unterschwellige Fortleben dörflicher Hilfsbe-
reitschaft? Ihr gegenüber sind die Ideen des bürgerlichen Reformpolitikers
erfolglos und machtlos. Ein solcher Ratsherr wird ein Dauerkonto bei einem
325 Bestatter haben und jede Woche, und manchmal mehr als einmal, telefonisch
seine Wünsche durchsagen, welche Art von Bestattung für einen trauernden
Wähler ausgerichtet werden soll, bis die Summe auf „Hunderte im Jahr“ an-
wächst. Er versteht, was die Menschen wollen, und kümmert sich genauso
um ein großes menschliches Bedürfnis wie es der Musiker oder der Künstler
330 tut. Einmal wurde der Versuch unternommen, etwas an diese Stelle zu setzen,
was wir als einen späteren Standard bezeichnen könnten, nämlich als ein zar-
ter Säugling im Kinderzimmer des Hull House ausgesetzt wurde. Eine Unter-
suchung ergab, dass er zehn Tage zuvor im Cook County Krankenhaus gebo-
ren worden war, aber von der unglücklichen Mutter war keine Spur zu finden.
335 Das Baby lebte noch einige Wochen, dann starb es trotz aller Fürsorge. Man
beschloss, es von der Bezirksbehörde beerdigen zu lassen, und der Leichen-
wagen sollte um elf Uhr eintreffen. Gegen neun Uhr morgens erfuhren die
Nachbarn das Gerücht über diese fürchterliche Handlung. Ein halbes Dutzend
von ihnen erschien in sehr aufgeregtem Zustand, um zu protestieren. Sie sam-
340 melten trotz ihrer Armut Spenden, um ein Begräbnis zu finanzieren. Die Be-
wohner des Hull House waren damals vergleichsweise neu in der Wohnge-
gend und erkannten nicht, dass sie mit ihrem Vorgehen wirklich ein echtes
moralisches Gefühl der Gemeinde erschüttert hatten. Etwas schroff führten
sie als Beispiel an, mit welcher Sorgfalt und Zärtlichkeit das kleine Geschöpf
345 zu Lebzeiten behandelt worden war, und dass es jede mögliche Aufmerksam-
keit eines erfahrenen Arztes und einer ausgebildeten Krankenschwester er-
halten habe. Sie deuteten sogar an, dass sich die aufgeregten Mitglieder der
Gruppe an der Pflege ja gar nicht beteiligt hätten, und dass die Entscheidung
nun beim Säuglingsheim läge, und das Kind jetzt so begraben werden sollte,
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350 wie es geboren worden war, nämlich auf Kosten der Gemeinde. Es ist zu be-
zweifeln, ob das Hull House jemals etwas Vergleichbares getan hat, das seinen
Ruf in den Augen mancher Nachbarn so sehr beschädigt hat. Nur die Nach-
sichtigsten verziehen dies mit der Begründung, dass die Bewohnerinnen alte
Jungfern seien und daher nichts über ein Mutterherz wissen könnten. Nie-
355 mand, der in der Gemeinde geboren und aufgewachsen war, hätte wohl ei-
nen solchen Fehler begehen können. Niemand, der die ethischen Normen mit
Sorgfalt studiert hatte, wäre in der Lage gewesen, so stümperhaft zu handeln.
Wir unterschätzen ständig das Ausmaß von Gefühlen, wie es unter den
einfachen Leuten besteht. Die beliebtesten Lieder sind bei ihnen diejenigen,
360 die nostalgische Anklänge an das hohe Alter haben, in dem die gereifte Seele
gelassen von den Sünden ihrer Jugend und von ihrem Bedauern darüber er-
zählt. Es sind Lieder, in denen die liebenden Eltern ihrer eigensinnigen Tochter
vergeben, in denen die Liebenden durch die Wechselfälle des Lebens hin-
durch großmütig und treu bleiben. Ihre Neigung ist es, etwas zu billigen und
365 zu verzeihen und nicht zu starr an einer Norm festzuhalten. In den Theatern
ist es der großmütige Mann, der freundliche, verwegene Schelm, der immer
Applaus bekommt. Ein so scharfsinniger Beobachter wie Samuel Johnson be-
merkte einmal, dass es eine überraschende Feststellung sei, wie sehr die
Freundlichkeit in der Gesellschaft die Gerechtigkeit überwiege. Auf eben ei-
370 ner solchen Grundlage betreibt der Ratsherr mehrere Saloons, einen davon
in der Innenstadt in unmittelbarer Nähe des Rathauses, wo er die wichtigeren
seiner Freunde treffen kann. Auch hier hat er eine alte Tradition und urtümli-
che Sitte aufgegriffen, die gute Kameradschaft, die seit langem am besten ih-
ren Ausdruck darin findet, wenn Männer „einen zusammen trinken“. Die Sa-
375 loons bieten einen gemeinsamen Treffpunkt, der ausreichend Anregung
bietet, um die Männer, die sich dort treffen, geistreich werden zu lassen und
ihre Zungen zu lösen.
Der Ratsherr verteilt zu jedem Weihnachtsfest Unmengen von Truthäh-
nen nicht nur an Wähler, sondern auch an Familien, in denen es keine Wäh-
380 lerstimme gibt. Durch eine umsichtige Handhabung erhalten einige Familien
drei oder vier Truthähne pro Kopf; aber was soll’s, der Ratsherr muss sich we-
der an die strengen Regeln der Wohltätigkeitsvereine halten, noch erklärt er,
dass ein Mann, der sich zwei Truthähne zu Weihnachten wünscht, ein Schurke
sei, der nie wieder Truthahn essen dürfe. Da er seine Weihnachtsgeschenke
385 nicht aus einem frisch erworbenen philanthropischen Motiv heraus verteilt,
besteht auch keine Veranlassung, die sorgfältig entwickelten Regeln der
Wohltätigkeitsvereine auf seine Begünstigten anzuwenden. Natürlich gibt es
immer diejenigen, die vermuten, dass die Wohltätigkeit auf selbstsüchtigen
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Motiven beruht und dadurch fühlen sie sich von jeglichem Gefühl der Dank-
390 barkeit befreit; andere gehen noch weiter und frohlocken über die Tatsache,
dass sie auf diese Weise „den Ratsherrn schröpfen“ können. Hierfür ist der
junge Mann ein Beispiel, der sich die Taschen mit einer Handvoll Zigarren füllt
und dabei den anderen listig zuzwinkert. Aber diese Losgelöstheit von jegli-
cher Verpflichtung ist oft der erste Schritt abwärts in die Richtung, an deren
395 Ende er bereit ist, seine Wählerstimme an beide Parteien zu verkaufen und
dann danach – seiner eigenen Vorliebe folgend – einen seiner Wahlscheine
zu zerreißen. Die Autorin erinnert sich an ein Gespräch mit einem Mann, in
dem dieser sich ganz offen und ohne Schamgefühl darüber beklagte, dass
seine Stimme „dieses Jahr nur für zwei Dollar verkauft wurde“ und dass er
400 „sehr enttäuscht“ sei. Die Autorin wusste zufällig, dass sein Einkommen in den
neun vorangegangenen Monaten nur achtundzwanzig Dollar betragen hatte,
und dass er Schulden von zweiunddreißig Dollar hatte, und sie konnte sich gut
vorstellen, mit welcher Ungeduld er mit dieser Einnahmenquelle gerechnet
hatte. Einige Jahre später wird dann der Verkauf von Wählerstimmen zu einer
405 Selbstverständlichkeit, und es wird von Seiten des Käufers oder Verkäufers
kaum noch versucht, diese Tatsache zu verbergen, wenn die Transaktion rei-
bungslos verläuft.
Ein gewisser Inhaber einer Herberge verkaufte einmal die Stimmen all sei-
ner Mieter an eine politische Partei und wurde „auch gut dafür bezahlt“. Weil
410 er nun einmal den habgierigen Dreh gefunden hatte, verkaufte er das Haus
für dieselbe Wahl auch an die rivalisierende Partei. Ein solcher Skandal konnte
nicht zugelassen werden. Der Mann wurde einer modernen Variante von Tee-
ren und Federn unterzogen, und als Folge davon, dass er im November unter
einem Straßenhydranten festgehalten worden war, zog er sich eine Lungen-
415 entzündung zu, die zu seinem Tod führte. Eine offizielle Untersuchung fand
nicht statt, da das Attest des Arztes über die Lungenentzündung für eine le-
gale Beerdigung ausreichte, und die öffentliche Stimmung die Aktion unter-
stützte. In verschiedenen Gesprächen, die die Autorin über den gesamten
Vorgang führte, entdeckte sie große Empörung über sein Doppelspiel und sei-
420 nen Verrat, aber keinerlei Empörung für sein ursprüngliches Vergehen, näm-
lich den Verkauf der Wählerstimmen seines Hauses.
Ein Club wird zu dem ausdrücklichen Zweck gegründet, sich einen guten
Namen im Bereich der politischen Macht zu machen, dem man dann später
wieder untreu werden kann. Der Präsident und das Exekutivkomitee eines
425 solchen Clubs erhalten natürlich die Gelder und versprechen, das Geld mit
„den Jungs“ zu teilen, die die Mitgliederzahl aufblähen. Eine Reformbewe-
gung wird zuallererst mit solchen Nachwuchskräften aufgefüllt, die engagiert
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und lautstark die Zahl der Wählerstimmen zusichern, die sie „liefern“ können.
Die Reformer sind erfreut über diese Bekundung von Eifer und finden erst
430 allmählich heraus, dass viele der Nachwuchskräfte mit der ausdrücklichen Ab-
sicht da sind, von der anderen Seite gekauft zu werden, und dass sie so stark
engagiert sind, um wertvoll zu erscheinen und so den Preis für ihre Loyalität
zu erhöhen, wenn sie so weit sind, sich zu verkaufen. Die Reformer, die erle-
ben, wie einer nach dem anderen verloren geht, sprechen von „Fahnenflucht“
435 aus den Reformreihen und von der Macht des Geldes über wohlmeinende
Männer, die zu schwach sind, um einer Versuchung zu widerstehen. In Wirk-
lichkeit jedoch sind diese Männer keine Deserteure, weil sie tatsächlich nie
als Mitglied der Reformpartei eingetragen waren. Das Geld, das sie anneh-
men, ist weder eine Bestechung noch der Preis für ihre Loyalität, es stellt
440 schlicht das Ziel eines lang gehegten Plans dar und ist eine wohlverdiente Be-
lohnung. Sie traten in die neue Bewegung mit dem Ziel ein, daraus abgekauft
zu werden, und sie haben dieses Ziel erfolgreich erreicht.
Das Hull House half bei der Durchführung von zwei erfolglosen Wahlkam-
pagnen gegen denselben Ratsherrn. In den zwei Jahren nach dem Ende der
445 ersten Wahlkampagne hatte fast jeder Mann, der in dieser Kampagne eine
führende Rolle gespielt hatte, ein Amt von dem wiedergewählten Ratsherrn
erhalten. So hatte ein Drucker eine Schreiberstelle im Rathaus bekommen,
ein Fahrer erhielt ein hohes Gehalt für Dienste in den Polizeistationen, und
der Kandidat selbst, ein Maurer, hatte eine Stelle in der städtischen Bauabtei-
450 lung. Zu Beginn der nächsten Kampagne bestand die größte Schwierigkeit da-
rin, einen geeigneten Gegenkandidaten gegen den noch amtierenden Rats-
herrn zu finden, und jeder, der vorgeschlagen wurde, bat um eine gewisse
Bedenkzeit, um über den Vorschlag nachzudenken. Während dieser Bedenk-
zeit empfing der vorgeschlagene Kandidat unweigerlich Zuwendungen von
455 dem Ratsherrn. Über den ersten Kandidaten, der Werkmeister einer großen
Fabrik war, munkelte man, dass er mit dem Versprechen gekauft worden sei,
die städtischen Institutionen würden zukünftig das Produkt seiner Firma re-
gelmäßig einsetzen. Der zweite, ein Inhaber eines Lebensmittelladens und ei-
nes familienbetriebenen Saloons, der sich großer Beliebtheit erfreute, erhielt
460 die Zusage für die Nominierung zum Ratsherrn als planmäßiges Mandat nach
Ablauf der Amtszeit des jetzigen Kollegen des Ratsherrn im Stadtrat. Es ist
sicherlich gut, am Rande zu erwähnen, dass er dann auch so nominiert und
erfolgreich gewählt wurde. Der dritte vorgeschlagene Kandidat erhielt eine
Stelle für seinen Sohn im Büro des städtischen Anwalts.
465 Der Ratsherr verteilt nicht nur Ämter als Gabe, sondern auch jegliche klei-
neren Gefälligkeiten. Alle Anträge an die Ratsversammlung oder die Vergabe
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von Sondergenehmigungen müssen vom Ratsherrn desjenigen Bezirks vorge-


legt werden, in dem die Person wohnt, die um den entsprechenden Gefallen
bittet. Dadurch findet der Ratsherr ständig eine Gelegenheit, bei seinen Wäh-
470 lern eine Verpflichtung ihm gegenüber aufzubauen. Auf diese Weise macht er
es einem Wähler schwer, ihm standzuhalten, oder er verhindert sogar, dass
ein Wähler mit einem größeren Anliegen überhaupt einen politischen Weg
beschreitet. Vom italienischen Straßenverkäufer, der eine Lizenz zum Verkauf
von Früchten auf der Straße braucht, bis hin zur großen Produktionsfirma, die
475 wegen der Verlegung von Förderrohren von einem Gebäude zum anderen
eine Gasse untertunneln möchte, jeder ist immer seinem Ratsherrn gegen-
über in der Schuld und bekommt dies auch ständig zu spüren. Kurz gesagt,
diese Vorschriften zur Antragsstellung beim Stadtrat wurden von den Rats-
herren selbst mit dem erklärten Ziel geschaffen, die Abhängigkeit ihrer Wäh-
480 ler zu vergrößern und dadurch die Macht und das Ansehen von Ratsherren zu
stärken.
Auch die Grundstückseigentümer in seinem Bezirk hat der Ratsherr ganz
besonders eigenartig in seinem Griff. Die Pflasterung, sowohl der Straßen als
auch der Bürgersteige ist in seinem ganzen Bezirk erbärmlich, und in den
485 Wahlreden macht die Reformpartei ihn für diesen Zustand verantwortlich
und verspricht eine bessere Pflasterung unter einem anderen Regierungssys-
tem. Aber die Straßen neu pflastern zu lassen, würde wiederum eine Sonder-
besteuerung der Grundstückseigentümer in der Umgebung bedeuten, und
mehr Steuern zahlen, genau das wollen seine Wähler gerade nicht. In Wirk-
490 lichkeit besteht der eigentliche Gefallen, den der Ratsherr seinen Wählern
macht, darin, dass er die Reformpolitiker abwehrt, und im schlechtesten Fall
schiebt er den Zeitpunkt der Ausbesserungen hinaus. Einer Maßnahme, die
Pflasterung aus einem allgemeinen Topf durchführen zu lassen, würden sich
zweifellos die Grundstückseigentümer in anderen Teilen der Stadt widerset-
495 zen, denn diese haben bereits für die an ihren eigenen Besitz angrenzende
Asphaltierung bezahlt. Von den Nöten und dem möglichen Bankrott, in die
kleinere Grundstückseigentümer durch eine Neupflasterung geraten können,
haben sie keine Vorstellung, noch davon, dass dessen Hauptsorge darin be-
steht, einen Ratsherrn zu wählen, der sich mehr um die Gefühle und den Geld-
500 beutel seiner Wähler kümmert als um den guten Ruf und die Sauberkeit sei-
ner Stadt.
Der Ratsherr bewies große Weisheit, als er von einigen seiner Freunde in
der Stadt die Summe von dreitausend Dollar beschaffte, um damit die Unifor-
men und Ausrüstung einer Jungenbrigade aus der Abstinenzbewegung zu fi-
505 nanzieren, die ein paar Monate vor seiner Wahlkampagne in einer der Kirchen
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des Bezirks gegründet worden war. Ist es daher verwunderlich, wenn der gut-
herzige Gruppenanführer, der mit unschuldigem Stolz im Herzen auf die viel-
versprechenden jungen Tugendvertreter guckte, es ablehnen würde, an einer
Wahlkampagne für die Reformer teilzunehmen? Was nützt es, darauf hinzu-
510 weisen, dass Uniformen und Bajonette zur Förderung der Abstinenz, gekauft
mit dem Geld eines Mannes, der Besitzer eines Saloons und einer Spielhölle
war, vielleicht die Moral der jungen Kämpfer irritieren könnten? Warum sollte
man die Mühe auf sich nehmen, darauf hinzuweisen, dass es vergeblich ge-
wesen sei, ihnen abstrakte Tugenden beizubringen und sie dafür marschieren
515 zu lassen, solange der „Meisterbestecher“ der Stadt derjenige Mann war, den
die Jungen als loyalen und gutherzigen Freund kannten, als den sozial gesinn-
ten Bürger, für den ihre Väter mit Begeisterung stimmten und den ihre Mütter
„den Freund der Armen“ nannten. Solange der tatsächliche und greifbare Er-
folg auf diese Weise verkörpert wird, ändert das Marschieren, ob in Kinder-
520 gärten oder Brigaden, oder das Reden, ob in Vereinen oder Klassen, wenig an
den ethischen Grundsätzen.
Natürlich kam vielen in der Gemeinde die Frage in den Sinn, woher das
Geld kommt, das so erfolgreich ausgegeben wird. Die einfacheren Menschen
akzeptieren die wahrheitsgetreue Erklärung über die Herkunft des Geldes
525 ohne jegliche Erschütterung ihres moralischen Empfindens. Für ihr einfaches
Gemüt bekommt er es „von den Reichen“, und solange er es als echter Robin
Hood mit offenen Händen wieder an die Armen verteilt, erheben sie auch
keine Einwände dagegen. Völlig aufrichtig gleicht ihre Moral der von vergnüg-
ten Waldbewohner. Die etwas weniger einfachen Leute der Umgebung sind
530 durchaus bereit, zuzugestehen, dass er die „Verbrecherbande“ im Stadtrat
anführt und die städtischen Konzessionen ausverkauft, dass er mit den Fran-
chise-suchenden Unternehmen Geschäfte macht, dass er zusichert, fragwür-
dige Maßnahmen durch den Stadtrat zu lotsen, wofür er eine großzügige Be-
zahlung verlangt, und dass er, kurz gesagt, ein erfolgreicher „Bestecher“ ist.
535 Wenn bei den Menschen jedoch genug Denkvermögen vorhanden ist, um
diese Sichtweise zu verstehen, dann ist auch genug davon vorhanden, um die
Behauptung aufzustellen, dass dies überall so gehandhabt wird, dass dies alle
Ratsherren mehr oder weniger erfolgreich tun, dass aber der Ratsherr dieses
speziellen Bezirks einzigartig ist, weil er so großzügig ist, und dass ein solcher
540 Zustand natürlich zu bedauern ist. Aber so läuft das Geschäft nun mal, und
wir können uns glücklich schätzen, wenn ein gutherziger Mann, der dem Volk
nahesteht, ein großes Stück vom Kuchen abbekommt, dass er solchen Fran-
chise-Firmen Gefälligkeiten erweist, die Leute im Bauwesen ihrer Unterneh-
men beschäftigen, und dass diese im Gegenzug verpflichtet sind, seinen Wäh-
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545 lern Arbeit zu geben. Hier finden wir wieder die Rechtfertigung des „von den
Reichen stehlen, um es den Armen zu geben“. Selbst wenn diese Menschen
intelligent genug sind, um den Denkkreis zu schließen und zu erkennen, dass
das Geld nicht aus den Taschen der Unternehmensvertreter stammt, sondern
aus den Straßenbahntarifen von Menschen wie sie selbst, scheint es fast so,
550 als würden sie lieber bei jeder Fahrt zwei Penny mehr bezahlen, als dass sie
den Gedanken aufgeben würden, sie hätten einen großen, warmherzigen
Freund bei Hofe, der ihnen in einer Notlage beisteht. Das Gefühl für recht-
schaffenes Verhalten rangiert offenbar weit hinter dem Wunsch nach Schutz
und Vergünstigung. Im Großen und Ganzen werden die Geschenke und Ge-
555 fälligkeiten ganz einfach als Beweis echter Herzensgüte aufgefasst. Der Rats-
herr wird wirklich gewählt, weil er ein guter Freund und Nachbar ist. Natürlich
ist er korrupt, aber er wird nicht gewählt, weil er korrupt ist, sondern obwohl
er korrupt ist. Sein ethischer Standard passt zu seinen Wählern. Er verkörpert
und übertreibt den populären Typus eines guten Menschen. Er hat das er-
560 reicht, wonach sich seine Wähler insgeheim sehnen.
An einem Ende des Bezirks gibt es eine Straße mit schönen Häusern, die
im Volksmund „Con Row“ genannt wird, was so etwas wie „Gaunerzeile“ be-
deuten soll. Der Name wird vielleicht völlig zu Unrecht benutzt, ist aber den-
noch allgemein gebräuchlich, weil viele dieser Häuser von berufsmäßigen
565 Amtsinhabern bewohnt werden. Diese Häuserzeile wird als ein ideales Jagd-
revier für den erfolgreichen Politiker betrachtet, wo er in Wohlstand leben
kann und trotzdem seine Stimme und seinen Einfluss im Bezirk behält. Es
wäre schwierig, den Einfluss richtig einzuschätzen, den diese Gruppe erfolg-
reicher, prominenter Männer, einschließlich des dort wohnenden Ratsherrn,
570 auf die Ideale der Jugend in der Umgebung gehabt hat. Der Weg, der zu Reich-
tum und Erfolg, zu bürgerlicher Bekanntheit und Ehrbarkeit führt, ist der Weg
der politischen Korruption. Wir könnten ihn mit dem von Benjamin Franklin
vorgezeichneten Weg vergleichen, der auch all diese Kriterien für sich erwor-
ben hat und dabei den jungen Männern vermittelte, dass sie nur etwas er-
575 reichen könnten, wenn sie ein Leben der unermüdlichen Anstrengung und
Genügsamkeit, der Kultivierung des Geistes und des Festhaltens an Recht-
schaffenheit führten. Oder wir könnten diesen Weg den Idealen gegenüber-
stellen, die der amerikanischen Jugend vor fünfzig Jahren vorgehalten wur-
den. Diese Ideale waren sicherlich weniger hoch als die revolutionären Ideale,
580 aber sie waren dennoch immer noch edel und strebten ein ehrenhaftes und
gewissenhaftes Leben an. Der Jugend wurde erzählt, dass die Karriere vom
Selfmademan jedem amerikanischen Jungen offenstünde, sofern er nur hart
arbeitete und sein Geld sparte, seinen Verstand verbesserte und einem be-
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ständigen Ehrgeiz folgte. Die Autorin erinnert sich an die Zeit, als sie zehn
585 Jahre alt war und der Dorfschulmeister seiner kleinen Herde ohne abschwä-
chende Einschränkungen erzählte, dass Jay Gould den Grundstein für sein ko-
lossales Vermögen gelegt habe, indem er immer Enden von Zwirnfäden auf-
hob. Nach dieser Erzählung sammelte jedes Kind im Dorf fleißig farbige
Zwirnknäuel. Ein aufgeweckter Junge aus Chicago könnte daraus wohl den
590 Schluss ziehen, dass der Weg des korrupten Politikers nicht nur zu bürgerli-
chen Ehren führt, sondern auch den Ruhm der Wohltätigkeit und Philanthro-
pie einbringt. Dieses Senken moralischer Standards, diese Art Idealvorgabe,
ist vielleicht das Schlimmste an der Situation, denn wir bestimmen Ideale, wie
wir im ersten Kapitel bereits sagten, durch unsere täglichen Handlungen und
595 Entscheidungen nicht nur für uns selbst, sondern größtenteils auch für an-
dere.
Wir alle sind in diese politische Korruption verwickelt, und als Mitglieder
der Gemeinschaft stehen wir alle unter Anklage. Dies ist der Preis, den wir für
die Demokratie zahlen müssen, dass wir verpflichtet sind, entweder zusam-
600 men vorwärtszugehen oder gemeinsam Rückschritte zu machen. Keiner von
uns kann abseitsstehen, denn unsere Füße versinken im selben Sumpf, und
unsere Lungen atmen dieselbe Luft.
Der folgende Vorfall kann veranschaulichen, wie sehr der Ratsherr daran
beteiligt ist, den Lebensstandard und den begehrenswerten Wohlstand fest-
605 zulegen: Während einer der Wahlkampagnen zeichnete ein geschickter Kari-
katurist ein Plakat, das den erfolgreichen Ratsherrn als Porträtmalerei zeigte,
wie er an einem mit protzigem Geschirr beladenen Tisch Champagner trank
und von anderen Zechern umgeben war. Im Kontrast dazu saß sein Gegen-
kandidat, ein Maurer, auf einer halbfertigen Mauer und aß ein karges Abend-
610 essen aus einem Arbeiter-Essgeschirr. Der Passant wurde gefragt, welche Art
von Volksvertreter er bevorzuge, und man ging davon aus, dass zumindest in
einem Arbeiterviertel der Maurer die Nase vorn haben würde. Zum Leidwe-
sen der Reformer entdeckte man jedoch langsam, dass ein Mann, der Ziegel-
steine verlegte und eine Latzhose trug, nach der gängigen Ansicht als Ratsherr
615 nicht annähernd so wünschenswert war wie der Mann, der Champagner
trank und einen Diamanten an seiner Hemdbrust trug. Der Bezirk wollte, dass
sein Vertreter „mit den Besten mithalten kann“, und mit Sicherheit hätten
sich einige der Wähler geschämt, von einem Maurer vertreten zu werden. Für
viele ist dies ein Teil des allgemeinen Wunsches, einen guten Eindruck zu ma-
620 chen und auch ein Teil der optimistischen und zutiefst amerikanischen Über-
zeugung, dass – selbst, wenn ein Mann heute noch mit den Händen arbeitet
– er und seine Kinder mit großer Wahrscheinlichkeit in naher Zukunft eine
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bessere Position erlangen werden, und dass es nicht nötig sei, zu sehr mit den
gewöhnlichen Werktätigen in Verbindung gebracht zu werden. Es fehlt ein
625 echtes Klassenbewusstsein, und doch existiert ein naiver Glaube, dass die Art
der Beschäftigung weitgehend die soziale Position bestimme. In einer Nach-
barschaft von Ausländern wird dies zweifelsohne noch durch die Tatsache zu-
gespitzt, dass mit der zunehmenden Anpassung jeder Nationalität an die ame-
rikanischen Verhältnisse auch das Spektrum ihrer Beschäftigung steigt. Vor
630 fünfzig Jahren wurde in Amerika „ein Holländer“ als Schimpfwort verwendet,
womit ein Mann gemeint war, dessen Sprache man nicht verstand, ein Mann,
der minderwertige Arbeiten verrichtete, wie etwa das Buddeln von Abwas-
serkanälen und den Bau von Bahndämmen. Später übernahmen die Iren die
gleiche Arbeit in der Gemeinde, gaben sie aber so schnell wie möglich an die
635 Italiener weiter, denen in der Folge der Name „Dago“ anhaften sollte, der aus
der Buddelei („Digging“) abgeleitet war, die der Ire an ihn abgetreten hatte.
Der Italiener selbst ist sich jetzt zumindest dieser Tatsache bewusst gewor-
den. In einer politischen Rede, die ein italienischer Padrone kürzlich hielt,
machte er dem Ratsherrn bittere Vorwürfe, weil er an die Iren die Vier-Dollar-
640 Tagesjobs fürs Sitzen im Büro vergab und den Italienern nur die Anderthalb-
Dollar-Tagesjobs für das Fegen der Straßen überließ. Dieser allgemeine
Kampf, im Leben aufzusteigen, oder zumindest politisch von einem der Bes-
ten vertreten zu werden, was dessen Beruf und sozialen Status angeht, hat
auch seine negative Seite. Wir müssen bedenken, dass der Nachahmungstrieb
645 eine wichtige Rolle im Leben spielt, und dass der Verlust der sozialen Wert-
schätzung, den wir alle sehr stark spüren, vielleicht von den Geringsten am
meisten gefürchtet wird, denn bei ihnen ist die Freiheit des individuellen Ver-
haltens nur schwach entwickelt, und es fehlt auch die Stärke, der Meinung
der Nachbarn nur ein geringes Gewicht beizumessen. Eine Form des Zwangs
650 – sanft, aber mächtig – wird durch den einfachen Wunsch erzeugt, das zu tun,
was andere tun, um wie sie auch an der Anerkennung der Gemeinschaft teil-
zuhaben. Je größer die Zahl der Menschen ist, unter denen sich Gewohnhei-
ten in den Verhaltensweisen ausgeprägt haben, desto größer ist natürlich der
Zwang, der auf den Willen des Einzelnen ausgeübt wird. So kommt es, dass
655 der Druck der politischen Korruption in der Stadt dort am stärksten lastet, wo
man der Korruption am wenigsten entgegensetzen kann, und wo die Wahr-
scheinlichkeit am größten ist, dass sie nachgeahmt wird.
Nach demselben Gesetz sind zwangsläufig die Ärmsten und die Unfähigs-
ten von den eindeutigen Übelständen einer korrupten Regierung am stärks-
660 ten betroffen. Wenn das Wasser in Chicago verdorben ist, kaufen die Wohl-
habenden Wasser in Flaschen von entfernten Quellen; die Armen haben keine
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andere Wahl als den Typhus, der durch die Nutzung der städtischen Wasser-
versorgung übertragen wird. Wenn die Verträge für die Müllentsorgung nicht
eingehalten werden, zahlen die Wohlhabenden für die private Müllabfuhr;
665 die Armen erleiden die Unannehmlichkeiten und Krankheiten, die durch eine
verunreinigte Umgebung unvermeidlich sind. Der wohlhabende Geschäfts-
mann hat eine gewisse Wahl, ob er mit dem „Chef“-Politiker Umgang pflegt
oder seine Unabhängigkeit mit einem geringeren Einkommen bewahrt, aber
für einen italienischen Tagelöhner ist es eine Wahl zwischen dem Gehorsam
670 gegenüber den Befehlen eines politischen „Chefs“ oder dem faktischen Ver-
hungern. Und erneut gilt, dass ein intelligenterer Mann ein wenig über den
gegenwärtigen Zustand der Korruption philosophieren und denken kann, dass
es nur eine Phase unseres Kommerzialismus’ sei, aus der wir zwangsläufig
herauswachsen werden. Auf jeden Fall kann er sich mit Literatur und Idealen
675 in anderen Bereichen trösten, aber der unwissende Mann, der nur in seiner
beschränkten Gegenwart lebt, hat solche Mittel nicht zur Verfügung. Langsam
drängt sich ihm daher die Überzeugung auf, dass Politik eine Angelegenheit
von Gefälligkeiten und Positionen sei, und dass Selbstverwaltung bedeute,
dem „Boss“ zu gefallen und mit der „Bande“ zusammenzuarbeiten. Dieses
680 langsam erworbene Wissen gibt er an seine Familie weiter. Im Monat Februar
kann es sein, dass sein Junge von der Schule nach Hause kommt und ziemlich
unzusammenhängende Geschichten über Washington und Lincoln erzählt,
und der Vater könnte in dem Moment so beflügelt sein, dass er von Guiseppe
Garibaldi erzählt, aber solche Gespräche entstehen nur zu bestimmten Zei-
685 ten, denn das ganze Jahr über hängt das Schicksal der gesamten Familie vom
„Boss“ ab, bis hin zu der Möglichkeit, Nahrung und Unterkunft zu verdienen.
Von dem Boss hängen in gewissem Maße auch die Möglichkeiten für Ver-
gnügen und Erholung ab. Um ein früheres Beispiel zu verwenden: Wenn es
passiert, dass ein Mann eine Vorliebe für Glücksspiele hat, und wenn der
690 Spielautomat ihm Ablenkung bietet, geht er in jene Häuser, die durch politi-
schen Einfluss geschützt sind. Wenn er und seine Freunde nach Mitternacht
in einen Saloon gehen oder wenn sie ein wenig Musik hören wollen, während
sie am frühen Abend zusammen trinken, dann verstößt er in beiden Fällen
gegen das Gesetz und kann nur deshalb von einer Verhaftung oder Geldstrafe
695 verschont werden, weil die große politische Maschine freundlich zu ihm ist
und im Gegenzug aber seine Loyalität erwartet.
Während des Wahlkampfs, als es sich als schwierig erwies, genügend lo-
kale Redner der gewollten moralischen Klangfarbe zu finden, wurden Redner
aus anderen Teilen der Stadt, aus dem sogenannten „besseren Teil der Ge-
700 sellschaft“, hinzugezogen. Plötzlich wurde auf allen Seiten gemunkelt, das
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Geld und die Redner für den Reformkandidaten stamme von den „feinen Leu-
ten“, die gleichzeitig mit Geld aus einer anderen vornehmen Quelle auch den
korrupten Ratsherrn unterstützten. Auch gingen die Gerüchte, dass der Vor-
sitzende eines Straßenbahnverbunds, für den der Ratsherr die ganze Zeit Ver-
705 mittlungsdienste im Stadtrat wahrgenommen hat, bereit sei, ihn in Höhe von
fünfzigtausend Dollar zu unterstützen, und dass dieser Vorsitzende auch ein
guter Mann sei und in hohen Positionen säße. Er habe vor kurzem eine große
Summe Geld an eine Bildungseinrichtung gespendet und sei daher so phi-
lanthropisch – um nicht zu sagen gut und aufrichtig – wie jeder andere Mann
710 in der Stadt. Außerdem wurde betont, dass der korrupte Ratsherr die Zustim-
mung der höchsten Autoritäten habe, und dass die Redner, die gegen Korrup-
tion und den Verkauf und Kauf von Konzessionen aufträten, nur Spinner
seien, und nicht etwa wie die soliden Geschäftsleute, die Chicago entwickelt
und aufgebaut hätten.
715 Alle Teile der Gemeinde sind in ihrer ethischen Entwicklung miteinander
verbunden. Wenn die so genannten aufgeklärteren Mitglieder Firmenge-
schenke von dem Mann annehmen, der den Stadtrat aufkauft, und die so ge-
nannten weniger aufgeklärten Mitglieder individuelle Geschenke von dem
Mann annehmen, der den Stadtrat ausverkauft, müssen wir unsere Strafe si-
720 cherlich gemeinsam auf uns nehmen. Es gibt natürlich den Unterschied, dass
wir im ersten Fall kollektiv handeln und im zweiten Fall individuell. Aber ist
die Strafe, die auf den ersten Fall folgt, in ihren Konsequenzen milder oder
weniger einschneidend als die offensichtlichere, die auf den zweiten folgt?
Ist unsere Moral so sehr vom Kommerzialismus erfasst worden – um Mr.
725 Chapmans Verallgemeinerung zu verwenden –, dass wir keine moralische
Pflichtverletzung sehen, wenn dadurch Geschäfts- oder Bildungsinteressen
bedient werden, obwohl wir immer noch schockiert sind, wenn dadurch die
Interessenlage des Saloons befördert wird?
Die Straßenbahngesellschaft, die erklärt, dass es unmöglich sei, Geschäfte
730 zu machen, ohne den Stadtrat zu bedienen, befindet sich auf genau derselben
moralischen Ebene wie der Mann, der seine politische Macht nur dann auf-
rechterhalten kann, wenn er einen Saloon besitzt, über eine zahlreiche Be-
kanntschaft in der halbkriminellen Klasse verfügt, und wenn er Geld aus frag-
würdigen Quellen hat, mit dem er seine Wählerschaft korrumpieren kann.
735 Beide Gruppen von Männern gehen von der Annahme aus, dass der einzig
mögliche Anreiz entlang der Linie des Eigeninteresses gegeben ist. Sie geben
offen zu, dass ihre eigene Triebfeder das Geldverdienen ist, und sie glauben
an die Gier aller Menschen, denen sie begegnen. In beiden Fällen wird kein
Versuch unternommen, die Ansprüche der Öffentlichkeit voranzubringen
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740 oder eine moralische Grundlage für das Handeln zu finden. Genauso wie der
korrupte Politiker davon ausgeht, dass öffentliche Moral unmöglich ist, ge-
nauso sind viele Geschäftsleute davon überzeugt, dass es im Großen und Gan-
zen billiger sei, den korrupten Ratsherren Tribut zu zollen, als zu hohe Steuern
zu zahlen, und dass es besser sei, exorbitante Gebühren für Konzessionen zu
745 zahlen, als sich zu unwilligen Partnern bei Experimenten im Verkehrswesen
machen zu lassen.
Solche Menschen beginnen schließlich, politische Reformer als Monoma-
nen zu betrachten, die eine fixe Idee im Kopf haben und nicht vernünftig ge-
nug sind, um die Notwendigkeit der gegenwärtigen Ordnung zu sehen, die
750 sich langsam herausgebildet hat und weiterentwickelt wurde, und auf deren
Basis die Geschäfte ohne Risiko geführt werden. Ein Reformer, der die Men-
schen und ihre beträchtlichen menschlichen Bedürfnisse wirklich kennt, der
glaubt, dass es die Aufgabe der Regierung sei, ihnen zu dienen, und der au-
ßerdem die erzieherische Kraft des Verantwortungsbewusstseins erkennt,
755 würde einen Leitfaden haben, an dem entlang er die Situation analysieren
könnte. Er würde herausfinden, welche der Bedürfnisse, die der Ratsherr un-
terstützt, legitime Ansprüche sind, und welche Erfordernisse die Stadt selbst
abdecken könnte, im Gegensatz zu den Ansprüchen, die den niederen Instink-
ten der Wählerschaft nachgeben. Eine Mutter, die ihren Weihnachtstruthahn
760 in einem andächtigen Geist der Dankbarkeit gegenüber dem Ratsherrn ver-
zehrt, der ihn ihr geschenkt hat, könnte allmählich zu einem echten Gefühl
der Wertschätzung und Dankbarkeit der Stadt gegenüber gebracht werden,
die ihren kleinen Kindern einen Kindergarten zur Verfügung stellt. Sie könnte
auch dankbar anerkennen, dass das Gesundheitsamt einen Fall von Scharlach
765 nebenan ordnungsgemäß mit Aushängen angezeigt hat und ihr dadurch
schlaflose Nächte und zermürbende Ängste erspart hat, gar nicht zu reden
vom Geld, das sie unter großen Schwierigkeiten an den Arzt und den Drogis-
ten hätte zahlen müssen. Der Mann, der in seiner emotionalen Dankbarkeit
fast vor dem politischen Freund kniet, der seinen Jungen aus dem Gefängnis
770 holt, könnte dazu gebracht werden, die Freundlichkeit und den praktischen
Verstand der städtischen Behörden zu erkennen, die dem Jungen einen Spiel-
platz und ein Lesezimmer zur Verfügung gestellt haben, wo er seine Stunden
der Untätigkeit und der Ruhelosigkeit verbringen kann, und durch die die Ver-
lockung zur Kleinkriminalität gebannt werden kann. Ein Mann, der dem Rats-
775 herrn für dessen Bemühung dankbar ist, dass er eine Einmischung in sein
Glücksspiel und seine Rennwetten verhindert, könnte lernen, sich der Stadt
gegenüber loyal und verantwortlich zu fühlen, die ihm eine Turnhalle und ein
Schwimmbad zur Verfügung gestellt hat, wo geregelter Sport für Männer
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möglich ist. Der Wähler, der darauf erpicht ist, dem Ratsherrn jederzeit nütz-
780 lich zu sein, weil sein Arbeitsplatz von der Gunst des Ratsherrn abhängt,
könnte aber auch eine große Erleichterung und Freude daran finden, für die
Stadt zu arbeiten, in der seine Stelle durch ein gut verwaltetes Öffentliches
Dienstrecht gesichert wäre.
Was der korrupte Ratsherr von seinen Anhängern verlangt, und wovon er
785 auch weitgehend abhängig ist, ist letzten Endes ein Sinn für Loyalität, das
heißt, treu an der Seite des Mannes zu stehen, der gut zu ihnen ist, der sie
versteht, und der sie aus ihren Schwierigkeiten herausholt. Das ganze soziale
Leben des Wählers basiert auf genau diesem Gefühl der Loyalität und des Ein-
stehens für seine Freunde, von der Zeit an, als er ein kleiner Junge war und
790 das Würfelspiel „Craps Shooting“ spielte, wo er mit seinem eigenen Wurf, und
nicht durch den Wurf irgendeines anderen, das Spiel für alle gewonnen hat.
Jetzt als Mann schätzt er das Gefühl, in einer politischen Organisation und mit
politischem Klatsch und Tratsch vertraut zu sein, und zu einer Gruppe von
Leuten zu gehören, die die Dinge des Lebens verstehen, und deren Interessen
795 von einem starken Freund im Stadtrat selbst wahrgenommen werden. All dies
ist vollkommen legitim und befindet sich ganz im Einklang mit der Entwick-
lung einer starken bürgerlichen Loyalität, sofern sie nur gemeinschaftlich ent-
wickelt und ausgebaut würde. Ein solcher Wähler ist dann bereits in Richtung
einer Vorwärtsrichtung vorangekommen, insoweit er das Gefühl der Verein-
800 zelung verloren und die Überzeugung aufgegeben hat, dass die Stadtverwal-
tung seine individuellen Angelegenheiten nicht beträfe. Sogar (John Stuart)
Mill behauptet, dass die sozialen Gefühle des Menschen, sein Wunsch nach
Verbundenheit mit seinen Mitmenschen, die natürliche Grundlage der Moral
seien, und einen Menschen von hoher moralischer Gesinnung charakterisiert
805 er als einen, der sich nicht als isoliertes Individuum, sondern als Teil eines so-
zialen Organismus betrachtet.
Auf dieser Basis sollte es nicht schwer sein, ein Gebäude der bürgerlichen
Tugend aufzubauen. Man muss dem Wähler nur klar machen, dass seine indivi-
duellen Bedürfnisse gemeinschaftliche Bedürfnisse sind, d. h. öffentliche Be-
810 dürfnisse, und dass diese nur dann für ihn legitim erfüllt werden können, wenn
sie auch für alle erfüllt werden. Wenn wir glauben, dass der Kampf des Einzel-
nen ums Leben zu einem gemeinsamen Kampf um das Leben aller ausgeweitet
werden kann, dann ist es sicherlich auch möglich, dass die Forderung eines Ein-
zelnen nach Ehrbarkeit und Zufriedenheit, seine Forderung nach der Möglich-
815 keit, zu arbeiten und die Fülle des Lebens zu erreichen, dass diese Forderung
ausgeweitet werden kann, bis sie allmählich alle Mitglieder der Gemeinschaft
umfasst und sich zu einem allgemeinen Sinn für Gemeinwohl entfaltet.
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Der Aufruf dazu kann aber nicht über die Ausrichtung am Eigeninteresse
erfolgen, wenn man dem Einzelnen eine innere Gewissheit vermitteln
820 möchte, dass seine individuellen Bedürfnisse in den Bedürfnissen der Vielen
aufgehen müssen und dass sie nur dadurch wichtig sind, weil sie dementspre-
chend zum Ganzen verschmelzen. Die Forderung sollte verallgemeinert wer-
den; in diesem Prozess würde sie auch so verdeutlicht werden, dass die
Grundlage unserer politischen Ordnung zwangsläufig sozial und ethisch wer-
825 den würde.
Wäre es eine gewagte Schlussfolgerung aus dem zuvor Gesagten, dass der
korrupte Politiker selbst, weil er demokratisch in seinem Vorgehen ist, eine
ethischere Ausrichtung auf die soziale Entwicklung hat als der Reformer, der
glaubt, dass „gute Bürger“ das Volk umarbeiten müssten und dass es von „Ex-
830 perten“ regiert werden müsse? Dabei sind die „guten Bürger“ aber wenigs-
tens jener großen moralischen Anstrengung verpflichtet, die die Masse dazu
bringt, sich selbst auszudrücken, und tragen dazu bei, die Energie und Weis-
heit der Masse der Gemeinschaft als Ganzes hinzuzufügen.
Die große Divergenz der Erfahrungen macht es dem guten Bürger schwer,
835 diesen gewagten Gesichtspunkt zu verstehen, und viele Dinge treffen zusam-
men, die es für ihn anstrengend machen, nach ihm zu handeln. Er ist mehr
oder weniger ein Opfer jenes merkwürdigen Gefühls, das der gute Mensch so
oft hat, nämlich, dass die Gerechten es nicht nötig hätten, liebenswürdig zu
sein, dass ihre Güte allein ausreiche, und dass sie es den Selbstsüchtigen über-
840 lassen könnten, sich die Gunst des Volkes mit Kunst und List zu sichern. Diese
Haltung mündet in einer gewissen abstoßenden Verhaltensweise, die ge-
meinhin als das Gewand der Rechtschaffenheit angesehen wird, und sie ist
außerdem für den fatalen Fehler verantwortlich, durch den das Milieu der
„guten Einflüsse“ besonders unattraktiv gemacht wird. Dieser Fehler verdient
845 eigentlich einen ebenso strengen Tadel wie die nicht minder verwerfliche Tat,
die Umgebung der „bösen Einflüsse“ so verführerisch zu machen. Beides ent-
spricht jener Geisteshaltung, die den Zugang zu einer umfassenderen Moral
auf ein Nadelöhr verengt, und die die Ursache dafür ist, dass neue moralische
Bewegungen immer wieder von jenen ins Leben gerufen wurden, die sich in
850 der Revolte gegen das konventionell dargestellte Gute befanden.
Der Erfolg des Reformpolitikers, der auf der bloßen Rechtschaffenheit der
Verwaltung besteht und darauf, dass Kontrolle und Unterdrückung die wider-
spenstigen Elemente in der Gemeinde in den Griff bekommen sollen, kann
auch das schlichte Ergebnis eines sich beschränkenden und selbstbezogenen
855 Prozesses sein. Es bedeutet auf unvermeidliche Schwierigkeiten des Über-
gangs zu einer neuen Art demokratischer Beziehungen zu stoßen, wenn man
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sich unter schwierigen Bedingungen darum bemüht, mit Hilfe politischer Me-
chanismen für die wirklichen sozialen Bedürfnisse zu sorgen, während man
dabei gleichzeitig diese Mechanismen so umgestaltet, dass sie ihrer neuen
860 Aufgabe angemessen sind. Die verwirrenden Erfahrungen mit der bestehen-
den Verwaltung sind jedoch in sich selbst wertvoll. Sowohl der Ökonom, der
die einzelnen Fälle als bloße Daten behandelt, als auch der Sozialreformer,
der aus reinem Appell an seine Vernunft daran arbeitet, solche Fälle zu ver-
hindern, beide müssen wohl diese Ratlosigkeit solange teilen, bis sie ein Ver-
865 ständnis für das Wachstumsprinzip entwickeln, das von innen nach außen
wirkt, und bis sie das Hochgefühl und den Auftrieb erreichen können, die sich
einstellen, wenn das Mitgefühl und die Intelligenz des Einzelnen von der intu-
itiven Vorwärtsbewegung der Masse ergriffen wird. Diese allgemeine Bewe-
gung existiert nicht ohne ihre intellektuellen Komponenten, aber sie muss von
870 der Ebene der geistigen Wahrnehmung auf die Ebene des Gefühls überführt
werden, bevor sie wirklich begriffen wird. Ohne einen emotionalen Anreiz be-
wegt sich die Masse der Menschen selten gemeinsam. Der Mann, der sich
entscheidet, abseits zu stehen, vermeidet einen Großteil der Ratlosigkeit,
aber gleichzeitig verliert er den Kontakt mit einer großen Quelle der Lebens-
875 kraft.
Die letzte und größte Schwierigkeit auf dem Weg all derer, die versuchen,
eine soziale Moral zu definieren und zu verwirklichen, ist vielleicht diejenige,
die sich aus der Tatsache ergibt, dass sie den Wert ihrer Bemühungen nicht
ausreichend testen können. Tatsächlich können sie sich ihrer Motive nicht
880 wirklich sicher sein, bis ihre Bemühungen durch Handlung festgeschrieben
werden und in einer funktionsfähigen Form von sozialem Verhalten oder Kon-
trolle vorführbar sind. Denn das Handeln ist in der Tat das einzige Ausdrucks-
medium der Ethik. Wir vergessen immer wieder, dass das Feld der Moral das
Feld des Handelns ist, und dass das Nachdenken über die Moral nur eine Be-
885 trachtung ist, die in dem Bereich der verstandesmäßigen Erklärung bleiben
muss. Wir vergessen damit auch, dass Sachverhalte solange nicht wirklich als
moralische betrachtet werden können, bis wir mit der Frage konfrontiert wer-
den, was in einem konkreten Fall zu tun ist, und bis wir gezwungen sind, un-
serer Theorie entsprechend zu handeln. Ein ergreifender Aufruf wurde vor
890 kurzem von einem anerkannten Ethik-Dozenten verfasst, der erklärte: „Es ist
Wahnsinn, zu erwarten, dass man die Werte der Weisheit durch Zuschauen
erwirbt. Wir gelangen zu moralischem Wissen nur durch eine tastende und
aufmerksame Praxis. Wir lernen, wie wir die neue Erkenntnis anwenden müs-
sen, indem wir versucht haben, die alte Erkenntnis anzuwenden und dabei
895 gescheitert sind.“
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Diese Notwendigkeit, das Experiment auf konkrete Handlung zurückzu-


führen, wirft alle ängstlichen und unentschlossenen Personen aus dem Un-
terfangen heraus, und mehr noch, auch all jene, die vor der Notwendigkeit
zurückschrecken, Schulter an Schulter mit den ungehobelteren Männern vor-
900 wärtszustreben. Diese mögen vielleicht als einzige Tugend die soziale Bemü-
hung besitzen, und selbst diese Tugend könnte den Makel der Selbstsucht ha-
ben. Und dennoch sind es diese Männer, die die soziale Moral vorantreiben,
dies aber irrational und gefühlsmäßig tun und oft auf Kosten der wohletab-
lierten moralischen Normen.
905 Die Fähigkeit, zwischen dem echten Bemühen und den zufälligen Fehlern
zu unterscheiden, ist vielleicht die schwierigste Prüfung, die auf unseren fehl-
baren Verstand zukommt. Im Bereich der Individualmoral haben wir gelernt,
demjenigen zu misstrauen, der Spiritualität erreichen will, indem er einfach
der Welt entsagt oder nur über ihre Übel spekuliert. Tugenden, die durch Un-
910 terdrückung erzwungen werden, sind für uns sowohl in ihrer Auswirkung als
auch in ihrem Entwicklungsprozess verabscheuenswürdig. Wenn die gesamte
moralische Energie eines Individuums in die Kultivierung seiner persönlichen
Integrität gesteckt wird, wissen wir alle, wie unschön das Ergebnis werden
kann; der Charakter ist natürlich aufrichtig, aber es umhüllt ihn dennoch das
915 Ergebnis seines eigenen Bemühens, gefällig zu wirken. Bei diesem Bestreben
nach einer höheren Moral in unseren sozialen Beziehungen müssen wir ver-
langen, dass der Einzelne bereit sein soll, auf das Gefühl des persönlichen Er-
folgs zu verzichten, und dass er sich damit begnügen soll, sein Handeln nur in
Verbindung mit dem Handeln der Vielen zu verwirklichen.
920 Wenn wir den Ruf „Zurück zum Volk“ vernehmen, hören wir immer zu-
gleich die Forderung des Propheten nach Umkehr oder den religiösen Ruf „Zu-
rück zu Christus“, als ob wir Zuflucht bei unseren Mitmenschen suchten und
an unsere gemeinsamen Erfahrungen glaubten, die einen neuen moralischen
Kampf vorbereiten.
925 So wie die Zustimmung zur Demokratie eine gewisse lebensspendende
Kraft mit sich bringt, so bringt die Demokratie selber auch Ermutigungen und
Wohltaten. Die vielleicht offensichtlichste ist das uns manchmal überkom-
mende seltsame Gefühl, dass wir zu einem Ganzen gehören, und dass uns ein
gewisses Grundwohl nie genommen werden kann, egal wie das Schicksal sich
930 wendet. Tolstoi hat diese Erfahrung in seiner Erzählung Herr und Knecht ge-
schildert. Ersterer rettet seinen Knecht vor dem Erfrieren, indem er ihn mit
der Wärme seines Körpers schützt, und seine eigenen Sterbestunden sind von
einem unbeschreiblichen Gefühl der Heilung und des Wohlbefindens erfüllt.
Solche Erfahrungen, von denen wir vielleicht alle schon einmal gestreift wur-
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935 den, nehmen in unserer Beziehung zu den Lebenden jenen Seelenfrieden vor-
weg, der uns einhüllt, wenn wir über die große Schar der Toten nachdenken.
Der Seelenfrieden ist vergleichbar mit der Gewissheit, dass die Toten alles
verstehen, weil sie in die „Große Erfahrung“ eingetreten sind, und sie daher
wohl alle weniger bedeutenden Erfahrungen begreifen müssen. Es ist die
940 Gewissheit, dass alle unsere Missverständnisse im Leben auf einseitige Erfah-
rungen zurückzuführen sind, und dass alle unsere Ärgernisse im Leben von
unserer begrenzten Vernunft herrühren. Wenn diese „Letzte und Große Er-
fahrung“ kommt, wird sie unweigerlich von Barmherzigkeit und Vergebung
begleitet. Die Demokratie und ihre vielfältigen Erfahrungen bewusst zu ak-
945 zeptieren, bedeutet, diesen Frieden und diese Freiheit vorwegzunehmen.
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