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Jugend, Zugehörigkeit
und Migration
Subjektpositionierung im
Kontext von Jugendkultur,
Ethnizitäts- und
Geschlechterkonstruktionen
2., durchgesehene Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
.
1. Auflage 2007
2., durchgesehene Auflage 2010
ISBN 978-3-531-16744-2
Inhaltsverzeichnis
„Und ich fühl mich als Kölner, speziell als Nippeser“ ..................................................... 99
Lokale Verortung als widersprüchlicher Prozess
Erika Schulze
Die Frage der Zugehörigkeit stellt sich für Jugendliche nicht nur im Rahmen
adoleszenter Identitätsentwicklung und in der Bezugnahme auf soziale Gruppen
und Räume. Sie ist auch bedeutsam im Kontext ihrer gesellschaftlichen Integra-
tion, dem ‘Hineinentwickeln’ in die Gesellschaft, in der sie leben. Dabei werden
unterschiedliche Zugehörigkeitskontexte relevant: nationalstaatlich gefasste
Gesellschaften, internationale und globale Orientierungen, ebenso wie lokale
und regionale Bezugspunkte, der familiäre Herkunftskontext, das heißt die Fa-
milie und deren sozialen und kulturellen Bezüge, Institutionen wie Schule und
Betrieb, die Peer-Group, informelle Cliquen und jugendkulturelle Szenen im
lokalen, globalisierten oder virtuellen Raum, Sport- oder Kultur-Vereine, religi-
öse Einrichtungen, politische Gruppierungen usw. Die verschiedenen gesell-
schaftlichen, sozialen und kulturellen Kontexte sind bedeutsam für vielfältige
Identifikationen und subjektive Selbstverortungen. Sie sind aber auch entschei-
dend, um über sozial umstrittene und womöglich knappe Ressourcen zu verfü-
gen, und Wirkungsmacht und Handlungsfähigkeit zu entfalten.1
Da Zugehörigkeitsmerkmale keine festen, unveränderlichen Größen sind,
sondern über soziale Differenzbildung hergestellt werden, sind Zugehörigkeiten
immer auch Gegenstand von Aushandlungsprozessen. Ausgehandelt werden
nicht nur die Kriterien der Zugehörigkeit oder der symbolischen Mitgliedschaft,
sondern auch welche Folgen es jeweils hat, wenn jemand als zugehörig gilt oder
als nicht-zugehörig ausgegrenzt wird. Zugehörigkeiten haben daher sowohl eine
subjektiv-biografische Komponente im Sinne einer Affinität und Verbundenheit
bzw. subjektiver Selbstverortung innerhalb eines sozialen oder räumlichen Kon-
textes als auch eine objektive Komponente im Sinne einer sozial-strukturellen
Positionierung des Individuums im gesellschaftlichen Raum. Hieraus resultieren
je individuell unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten und Perspektiven für
die Lebensgestaltung.
1
Paul Mecheril unterscheidet hier drei Aspekte von Zugehörigkeit: die symbolische Mitglied-
schaft, die habituelle Wirksamkeit und die biografische Verbundenheit (Mecheril 2003: 136).
8 Christine Riegel und Thomas Geisen
Auch wenn die Auseinandersetzung mit Zugehörigkeiten für alle Menschen von
Relevanz ist, gestaltet sich diese jeweils in ganz unterschiedlicher Weise – je
nach (Zugehörigkeits-)Kontext und je nach gesellschaftlich-sozialer und biogra-
fischer Positionierung. Allerdings gilt: Für diejenigen, deren Zugehörigkeit als
selbstverständlich angesehen wird, spielt die Frage der Zugehörigkeit eine ande-
re Rolle als für diejenigen, deren Zugehörigkeit umstritten ist oder gar abgelehnt
wird. So wird das Thema vor allem für diejenigen relevant, die als Andere kate-
gorisiert und nicht als zugehörig anerkannt werden. Dies trifft unter anderem auf
Jugendliche mit Migrationshintergrund zu. Ihre Zugehörigkeiten sind äußerst
prekär und sozial umstritten (vgl. Mecheril 2003; Schramkowski 2007). Sie
verfügen durch ihre familiär biografische Erfahrung der Migration im ‘natio-
ethno-kulturellen Kontext’ (vgl. Mecheril 2003) zwar über vielfältige Zugehö-
rigkeitsbezüge, sind jedoch gleichzeitig in nationalstaatlich oder ethnisch defi-
nierten Gemeinschaften auch mit Erfahrungen der Aussonderung als Andere
und mit Fremdzuschreibungen konfrontiert. Aufgrund der Alltäglichkeit der
Thematisierung als Andere wird die Frage der Zugehörigkeiten omnipräsent und
zwingt zur Positionierung. Die Frage der Zugehörigkeit wird daher entscheidend
über die Grenzen von Zugehörigkeitskontexten ausgehandelt. Die von außen
vorgenommenen Zuordnungen und Kategorisierungen stimmen jedoch nur be-
dingt mit den subjektiven Selbstverortungen und Affinitäten von jugendlichen
MigrantInnen überein. Daher bestehen vielfach Widersprüche und Spannungen
zwischen Selbst- und Fremdzuordnungen.
Jugendliche sind jedoch nicht nur passiv diesen Zuordnungen und Positio-
nierungen ausgeliefert, sie sind selbst an den Aushandlungsprozessen beteiligt,
positionieren sich und werden positioniert. Hieraus ergeben sich ambivalente
Relationen: So kann etwa die positive Identifikation mit einer sozialen oder
kulturellen Gruppe subjektiv orientierungsleitend und identitätsstiftend sein.
Das damit verbundene Wir-Gefühl geht jedoch zugleich auch mit Abgrenzungen
und verweigerten Zugehörigkeiten gegenüber Anderen einher.
Bis weit in die 1980er Jahre wurde die Frage der Zugehörigkeit in der sozialwis-
senschaftlichen Forschung zu Jugend und Migration vor allem über den Identi-
tätsbegriff thematisiert. Dabei standen Akkulturations- und Sozialisationspro-
zesse von Kindern und Jugendlichen aus Migrationsfamilien im Vordergrund.
Deren Situation wurde mit dem Begriff des Kulturkonflikts charakterisiert und
als ‘defizitär’ eingeordnet. Dabei wurde von einer auf kulturelle Differenzen
konzentrierten Polaritätsfigur zwischen Herkunftsland und Einwanderungsland
Zugehörigkeit(en) im Kontext 9
2
Eine Reihe von Arbeiten setzte sich kritisch mit der Ethnisierung und Kulturalisierung der
Lebens- und Problemlagen von jugendlichen MigrantInnen sowie mit dem damit verbundenen
bipolaren und statischen Kulturverständnis auseinander. Stellvertretend dafür sind Bukow und
Llaryora (1993), als frühe Kritiker der Kulturdifferenz-These, zu nennen. Sie weisen insbeson-
dere auf die Problematik der statischen und bipolaren Konstruktion von Kultur hin. AutorInnen
wie Auernheimer (1995), Lutz und Huth-Hildebrand (1998) kritisieren das aus der Kulturdiffe-
renz resultierende Modernitäts-Traditionalitäts-Paradigma, das unter anderem am Geschlechter-
verhältnis aufgezeigt wird. Darüber hinaus wurde an der Kulturdifferenz-These die Gleichset-
zung von Kultur und (National-)Gesellschaft als problematisch beurteilt, weil soziale und struk-
turelle Ungleichheitsverhältnisse als bloß kulturelle Differenzen konzeptionalisiert werden (vgl.
Auernheimer 1994; Marvakis 1998).
3
In poststrukturalistischen Ansätzen werden soziale Differenzen unter dem Blickwinkel von Wir-
Formationen und damit verbundenen sozialen Konstruktionen von ‘Wir’ und ‘Anderen’ vor al-
lem auf der Ebene von diskursiven Symbolen und asymmetrischen Begriffsbildungen analy-
siert. Dabei wird auf gesellschaftliche Machtsysteme Bezug genommen. Es wird davon ausge-
gangen, dass Differenzierungen, Klassifizierungen und Kategorisierungen auf symbolischer
Ebene soziale Bedeutung erhalten und als Ein- und Ausgrenzungsprozesse sozial wirksam wer-
den (vgl. Singer 1997).
10 Christine Riegel und Thomas Geisen
Die neueren Debatten und theoretischen Ansätze nehmen Bezug auf gesell-
schaftliche Veränderungen und Entwicklungen im Kontext von Globalisierung
und Internationalisierung. Dabei werden die an das nationalstaatliche Prinzip
anknüpfenden Raumvorstellungen und damit verbundenen Identitäten und Zu-
gehörigkeitskonzepte, die stark auf eine Gleichsetzung von Geografie, Ort und
Kultur hin argumentieren, zunehmend in Frage gestellt. Darauf weisen insbe-
sondere Vertreter der Cultural Studies hin (vgl. Hall 1999; Chambers 1999).
Entlang von Globalisierungsprozessen, die über eine flexible Mobilität von
Kapital, Gütern, Informationen und Dienstleistungen, sowie über internationalen
Migrationsbewegungen Gestalt annehmen (vgl. Lenz 2000; Parnreiter 2000),
sind neue (trans-)nationale Formen von Gemeinschaft entstanden. MigrantIn-
nen, und insbesondere TransmigrantInnen (vgl. Parnreiter 2000: 39ff.), gestalten
4
Diese positive Wendung in der Bewertung von hybriden Identitäten von MigrantInnen sieht
Mark Terkessidis (2000) jedoch als problematisch, da hierin auch eine Instrumentalisierung
durch die Mehrheitskultur und die damit verbundene Ablenkung von strukturellen Behinderun-
gen zum Tragen kommt. Auch Sedef Gümen (1996) führt die Bedenken an, dass mögocherwei-
se durch eine einseitige Konzentration auf Kompetenzen und Ressourcen, die Konzentration auf
kulturelle Differenzen bestehen bleibt, lediglich positiv umgedeutet und dadurch letztlich struk-
turelle Ausgrenzungsprozesse verschleiert werden.
5
Hinsichtlich des Zusammenspiels von Selbst- und Fremdzuordnungen sowie dem Zusammen-
hang von sozialer Identität, sozialer Kategorisierung und Wir-Gruppenbildung spielen die sozi-
alpsychologischen Arbeiten in der Theorietradition Henri Tajfels und J.C. Turner zu sozialer
Identität (Tajfel 1973/1982) und zum „sozialen Kategorisieren“ (Turner 1982; Turner et al.
1987) eine bedeutsame Rolle, wenngleich in diesen Theorien die gesellschaftlichen Vorausset-
zungen (als Ungleichheits- und Dominanzverhältnisse) vernachlässigt werden.
Zugehörigkeit(en) im Kontext 11
ihr Leben in und zwischen verschiedenen geografischen Orten. Dies prägt nicht
nur ihre individuelle Biografie und Lebensführung, sie gestalten dadurch auch
die Orte und Räume, in denen sie sich aufhalten.
Eine Folge von Migrationsprozessen ist das Entstehen pluriformer und he-
terogener Sozialräume. Diesbezüglich ist von einem dialektischen Verhältnis
zwischen lokalen und globalen Prozessen auszugehen, die sich gegenseitig be-
einflussen und so zum Entstehen von neuen sozialen und kulturellen Übergangs-
und Zwischen-Räumen auf lokaler Ebene beitragen (vgl. Yildiz 2001: 223).
MigrantInnen üben also auf die Gestalt und Vielfalt von Milieus und Subkultu-
ren einen prägenden Einfluss aus, was beispielsweise an ethnisch gemischten
und heterogen zusammengesetzten Stadtteilen deutlich sichtbar wird (vgl. Bu-
kow et al. 2001; Riegel 2004). Aus dem Ineinandergreifen von Globalem und
Lokalem haben sich neue kulturelle Formen entwickelt, die als „hybride Kultu-
ren“ bzw. „new ethnicities“ (Hall 1999) oder als transnationale Räume und
Kulturen bezeichnet werden (vgl. Pries 1997; Faist 2000). Bei diesen Formen
transnationaler Kulturen ist zwar eine Betonung und Verbindung zum Lokalen
und Regionalen festzustellen, sie zeichnen sich aber gleichzeitig durch eine
grenzüberschreitende Orientierung aus. Diese Neubestimmung des lokalen
Raums setzt nicht mehr an dem Phänomen des Traditionellen und Homogenen
an, sondern an Vielfalt und Heterogenität. Diesbezüglich gewinnt der lokale
Raum insbesondere für Jugendliche mit Migrationshintergrund und für Men-
schen mit nicht klar einzuordnenden ethnisch-nationalen Zugehörigkeiten an
Bedeutung (vgl. Riegel 1999/2004). Kulturelle und territoriale Zugehörigkeits-
kontexte jenseits nationalstaatlicher Zuordnungen und Kategorien bieten hier
neue Möglichkeiten der Verortung: lokale Elemente verbinden sich mit transna-
tionalen oder kosmopolitischen Einflüssen, territorial nicht verortbare Kulturen
bilden relevante Zugehörigkeitskontexte, aber auch lokale und regionale Be-
zugspunkte, die mit globalisierten, transkulturell entstandenen Trends, Mode-
und Musikstilen zusammengebracht und zu einem eigenen Stil oder Markenzei-
chen entwickelt werden. Daraus entstehen kulturelle Ausdrucksformen, die
nicht auf eindeutige und homogene Ethnizitätskonstruktionen zurückgreifen,
sondern neue kulturelle Mischformen hervorbringen.
Die Selbstverortung von Jugendlichen (mit und ohne Migrationshinter-
grund) ist als pluriformer Prozess zu verstehen, als aktive und flexible Bezug-
nahme auf ein Netz von Zugehörigkeitskontexten, in denen unterschiedliche
Kriterien (Geschlecht, Nation, Ethnizität, Jugendkulturen, der geografische
Raum u.a.m.) wirksam sind und sich gegenseitig überlagern. Auch Jugendliche
mit Migrationshintergrund, so zeigen jüngere Studien (Govaris 1995; Bukow et
al. 2001; Dannenbeck 2002; Riegel 2004), weisen zu verschiedenen Zugehörig-
keitskontexten eine emotionale Verbundenheit auf und ihre subjektive Selbst-
12 Christine Riegel und Thomas Geisen
6
Denn es stellt sich immer auch die Frage, von welcher sozialen Positionierung aus Zugehörig-
keiten vorgenommen werden (vgl. Haraway 1995).
Zugehörigkeit(en) im Kontext 13
7
Die Intersektionalitätsanalyse wurde zu Beginn der 1990er Jahre im Kontext der schwarzen
anglo-amerikanischen feministischen Theoriebildung entwickelt, unter anderem über die Dis-
kussion um den Zusammenhang von gender, race and class hinsichtlich der Analyse von Disk-
riminierungserfahrungen schwarzer Frauen in den USA. Sie wird seit Ende der 1990er Jahre
zunehmend auch in der deutschsprachigen feministischen Forschung rezipiert (vgl. Lutz 2001;
Leiprecht/Lutz 2005; Klinger/Knapp 2005).
Zugehörigkeit(en) im Kontext 15
4 Gesellschaftliche Zuschreibungsprozesse
8
1998 erfolgte dies in Deutschland beispielsweise am Beispiel des Falles ‘Mehmed’. Aktuell
wird in der Schweiz die Diskussion um ‘zunehmende Jugendgewalt’ – die vor allem als ‘Mig-
ranten-Problem’ charakterisiert wird – dazu genutzt, um die Möglichkeit der Ausweisung uner-
wünschter EinwanderInnen zu forcieren.
16 Christine Riegel und Thomas Geisen
tive Sonderfälle markiert wird. Das dominante Bild vor allem von Mädchen und
jungen Frauen mit islamischem Herkunftskontext entspricht jedoch dem der
unterdrückten und in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkten Opfer
patriarchaler Familienverhältnisse. Sie stellen aber – anders als gewalttätige
männliche Jugendliche – keine Bedrohung oder Herausforderung für die Mehr-
heitsgesellschaft dar, da ihre problematische Lebenslage ethnisiert und hier-
durch einem anderen natiokulturellen Kontext zugeordnet wird. Die Lebenssi-
tuation weiblicher Migrantinnen bleibt dabei von geringerem Interesse oder
wird auf vergeschlechtlicht-ethnisierte Aspekte reduziert, wie beispielsweise auf
das Tragen eines Kopftuches.
Diese Tendenz spiegelt sich auch in der Thematisierung durch die Migrati-
ons- und Jugendforschung wider. Hier richtet sich der Fokus vor allem auf die
Aspekte Kriminalität, Gewaltbereitschaft, Bandenbildung oder politischen Ex-
tremismus bzw. religiösen Fundamentalismus. Dies hat zur Folge, dass einge-
wanderte Jugendliche bzw. deren Schwierigkeiten einseitig unter dem Blick-
winkel von Ethnizität und mangelnder Integrationsfähigkeit betrachtet werden.
Daher besteht zum einen die Gefahr der Ethnisierung von jugendspezifischen
Problemlagen oder Umgangsweisen9, zum anderen wird die gesellschaftliche
Aufgabenstellung der Integration von EinwanderInnen personalisiert und die
Verantwortung einseitig auf die eingewanderten Jugendlichen übertragen. In
beiden Klischees über weibliche und männliche Jugendliche zeigen sich die
Kategorien Ethnizität und Geschlecht in der Gestalt wirksam, dass das Ge-
schlechterverhältnis kulturalisiert und in einen ethnisierten Zusammenhang
gebracht wird. Auf diese Weise werden Zugehörigkeitskontexte definiert und
voneinander abgegrenzt.
5 Zu den Beiträgen
9
So etwa in der Untersuchung von Heitmeyer et al. (1997) zu fundamentalistischen Orientierun-
gen von türkischen Jugendlichen.
Zugehörigkeit(en) im Kontext 17
Christine Riegel. Unter dem Titel „Zwischen Kämpfen und Leiden. Handlungs-
fähigkeit im Spannungsfeld ungleicher Geschlechter-, Generationen- und Ethni-
zitätsverhältnisse“ arbeitet sie anhand einer Fallanalyse und unter Einbezug des
Intersektionalitätsansatzes die Umgangsstrategien einer jungen Türkin mit fami-
liären Repressionen und Bewegungseinschränkungen heraus, die mit dem Ge-
schlecht sowie der ethnischen Zugehörigkeit begründet werden. Sie zeigt aber
auch, wie es der jungen Frau gelingt, unter restriktiven Lebensverhältnissen
handlungsfähig zu bleiben.
In den folgenden Beiträgen von Paul Scheibelhofer, Susanne Spindler und
Martina Weber wird die Verbindung von Migrations- und Männlichkeitsfor-
schung hergestellt und der Zusammenhang von hegemonialer Männlichkeit,
ethnisierten Zuschreibungen und Rassismuserfahrungen sowie sozialer Klassen-
zugehörigkeit thematisiert. Die AutorInnen arbeiten mit theoretischem Bezug
auf das Konzept der hegemonialen Männlichkeit von Connell, dem Habituskon-
zept von Bourdieu (Beitrag von Weber) sowie der Intersektionalitätsanalyse
(Beitrag von Spindler) die Komplexität der Lebenssituation männlicher Migran-
tenjugendlichen heraus und analysieren männliche Selbstinszenierungen und
Männlichkeitsgebaren im Kontext ihrer untergeordneten gesellschaftlichen
Position sowie prekärer Zugehörigkeiten und Ausgrenzungserfahrungen. Den
Ausgangspunkt dieser Beiträge stellen Beschreibungsmetaphern über Jugendli-
che mit türkischem Migrationshintergrund dar, die auf ethnisierte Vorstellungen
über männliche Identitätskonstruktionen und Handlungsweisen (wie zum Bei-
spiel der ‘türkischen Ehre’ oder ‘Macho-Allüren’) basieren. In dem Kapitel „A
Question of Honour?“ werden von Paul Scheibelhofer diese verkürzenden An-
nahmen kritisch diskutiert und einer empirischen Analyse der Männlichkeits-
konstruktionen von in Wien lebenden Jungen mit türkischem Migrationshinter-
grund gegenübergestellt. Dabei wird deutlich, dass sich sowohl Überschneidun-
gen als auch Differenzen in den Positionierungen der Jugendlichen wiederfin-
den. Diese werden als Taktiken interpretiert mittels derer die Jungen Anerken-
nung für ihre Lebensentwürfe einfordern. Susanne Spindler zeigt in ihrer Analy-
se der Lebensgeschichten inhaftierter Jugendlicher mit Migrationshintergrund
auf, wie sich Männlichkeitskonstruktionen und Rassismus wechselweise ver-
stärken und schließlich zum gesellschaftlichen Ausschluss führen können. In
ihrem Beitrag „Eine andere Seite männlicher Gewalt“ wird deutlich, wie Männ-
lichkeit und Herkunft im sozialen Aushandlungsprozess zur Orientierung, in der
Dynamik von personaler und struktureller Gewalt aber auch zur Falle werden
kann. Auch der Beitrag von Martina Weber greift das Phänomen der Inszenie-
rung von Männlichkeit unter Ausgrenzungserfahrungen auf. Bezugnehmend auf
zwei qualitative Studien über delinquente Jungen schlägt sie mit ihrem Beitrag
„Ethnisierung und Männlichkeitsinszenierung. Symbolische Kämpfe von Ju-
Zugehörigkeit(en) im Kontext 21
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Teil I
Verortungen in sozialen und kulturellen Räumen
Der Blick der Forschung
auf Jugendliche mit Migrationshintergrund1
Thomas Geisen
Im Rückblick auf die Entwicklung der Forschung über Kinder und Jugendliche
mit Migrationshintergrund lassen sich unterschiedliche Schwerpunktsetzungen
ausmachen: Zunächst steht die kulturelle Andersheit als Defizit im Vorder-
grund, dann folgt eine Periode, in der kulturelle Andersheit als Differenz sich zu
einem forschungsleitenden Paradigma entwickelt und schließlich erfolgt vor
allem im Kontext von Biografieforschung der Versuch einer Synthetisierung
dieser Forschungsansätze. Diese Periodisierung stellt jedoch keinen phasentypi-
schen Verlauf dar, in dem die jeweiligen Paradigmen einander ablösen, viel-
mehr handelt es sich hier um einen Prozess, in dem sich die Forschung der
Komplexität ihres Gegenstandes zunehmend bewusster wird und sich hierdurch
neue Perspektiven erschließt. Dieser selbstreflexive Prozess innerhalb der sozi-
alwissenschaftlichen Debatte um Migration insgesamt und um jugendliche Mig-
rantInnen im Besonderen, geht einher mit einer vehementen Kritik und der Zu-
rückweisung allzu einfacher Modellierungen und Konzepte, mit denen auf die
Prozesse des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshin-
tergrund Bezug genommen wurde. In diesem Sinne findet auch keine Ersetzung
der in früheren Phasen der Forschung dominierenden Paradigmen statt. Viel-
mehr kommt es zu Ergänzungen und Erweiterungen.
1.1 Die Betonung von Andersheit als Defizit in der empirischen Forschung
zurückgeführt wurden. Merle Hummrich weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass diese
Forschungen keine einheitlichen Ergebnisse gebracht haben: „So wurde zum Beispiel von
Bayer u.a. (1975; oder auch Schulte u.a. 1976; Schwarzer u.a. 1981; von Klitzing 1984) eine
höhere Problembelastung im Bereich psychischer Störungen und Erkrankungen konstatiert, von
Poustka (1984; auch: Steinhausen 1982; Steinhausen/Remschmidt 1982) das Gegenteil empi-
risch untermauert“ (vgl. Hummrich 2002: 16).
6
Defizite der Migrantenkinder resultiert nach diesen Studien aus den „‘inadäquaten und einseitig
autoritär-machtorientierten Erziehungsziele(n) und negativ sanktionierenden Erziehungsprakti-
ken der Eltern’ (vgl. Mantas 1982), ‘der fehlenden Ausrichtung der Erziehungsziele auf Selbst-
ändigkeit und Verantwortung’ (vgl. Holtbrügge 1975), ‘der Verhinderung von Kreativität, Neu-
gier und Entdeckungsdrang’ (vgl. Neumann 1980), ‘der durch die Eltern gering stimulierten
Leistungsmotivation’ (vgl. Schrader et al. 1976), der überhaupt ‘erheblich eingeschränkten So-
zialisationskapazität der Familie mit dysfunktionaler Wirkung auf das Erlernen von individuel-
ler und gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit und die Entwicklung von Leistungsmotivation
und kognitiven Fähigkeiten’ (vgl. Akpinar et al. 1977; Mantas 1982) etc. Dazu kämen aufgrund
der inadäquaten Wohnverhältnisse ‘defizitäre Lernmöglichkeiten der Kinder im außerschuli-
schen Bereich mit gravierenden negativen Auswirkungen auf die kognitive und motivationale
Entwicklung’ (vgl. Akpinar et al. 1977; alle Zitate nach Bender-Szymanski/Hesse 1987: 40f.;
vgl. dazu auch Bukow/Llaryora 1988; Stüwe 1988).“ (Czock 1993: 77f.)
Der Blick der Forschung 31
7
Zu Begriff und Konzept von Kultur in diachroner und synchroner Perspektive vgl. Geisen 2008.
32 Thomas Geisen
Aus einer Kritik an bisherigen Konzepten und Ansätzen haben sich neue theore-
tische und empirische Forschungskonzepte entwickelt. Ausgehend von dieser
Der Blick der Forschung 33
kritischen Debatte haben sich ab Mitte der 1980er Jahre verstärkt Forschungsak-
tivitäten entfaltet, in denen die Defizitperspektive stärker zugunsten der Diffe-
renzperspektive in den Hintergrund tritt. Die Forschung richtet sich hier vor
allem auf die positiven Aspekte einer differenten Lebensgestaltung, wie sie sich
unter anderem im Kontext der multikulturellen Gesellschaft als ‘Bereicherungs-
diskurs’ etablierten. Sprache und Kultur wurden als positive, die MigrantInnen
selbst und die Gesellschaft gleichermaßen bereichernde Faktoren angesehen.
Beim Differenzdiskurs stellt sich ebenfalls die Frage nach dem Verhältnis und
der Bedeutung unterschiedlicher kultureller Lagerungen in der Gesellschaft.
Dieser findet jedoch unter anderen Vorzeichen statt: Das als kulturell-negativ
beurteilte Defizit wird in eine kulturell-positiv bewertete Differenz transfor-
miert. Begrifflich und konzeptionell verweisen die politisch-theoretischen Kon-
zepte von ‘Interkulturalität’ und/oder ‘Multikulturalität’ damit immer auch auf
bestehende kulturelle Grenzziehungen – und zwar ohne, dass diese zwangsläu-
fig infrage gestellt werden. Vielmehr kann gerade auch die positive Konnotie-
rung kultureller Differenz zur Stabilisierung und Verfestigung von ‘Kulturen’
führen und damit einer Auffassung Vorschub leisten, die Kulturen weiterhin als
homogene, in sich geschlossene und voneinander getrennte Einheiten betrachtet.
Dies gilt sowohl für die „universalistisch“ als auch für die „kulturrelativistisch“
orientierte Richtung interkultureller Pädagogik (vgl. Prengel 1995: 77ff.). Die
universalistische Orientierung vertritt in diesem Zusammenhang die Zielsetzung
einer „allgemeinen Menschenbildung“ (Borrelli 1988: 35), während die kultur-
relativistische Richtung von einem Verständnis von Kultur ausgeht, das diese
als das „Repertoire an Kommunikations- und Repräsentationsmitteln“ von Ge-
sellschaft oder gesellschaftlichen Gruppen begreift (vgl. Auernheimer 1989:
386). Diehm und Radtke verweisen hierauf, sie betonen: „‘Multikulturalismus’
und ‘Interkulturelle Pädagogik’ argumentieren wie der Nationalismus deutscher
Prägung in den Figuren des Kulturalismus, dessen zentrale Annahme die unhin-
tergehbare Realität ethnischer Differenz ist, wenn sie auch programmatisch die
Richtung ändern und dabei helfen wollen, die ‘Fremdheit’ zu überwinden“
(Diehm/Radtke 1999: 154). In dieser Kritik an der Interkulturellen Pädagogik
bleibt die soziale Relevanz von kulturellen Prägungen für die Handlungsfähig-
keit der Menschen allerdings unberücksichtigt.
Für Paul Mecheril ist die soziale Relevanz kultureller Prägungen demgege-
nüber „das bedeutsamste Argument, Kulturen und die von ihnen gestifteten
Identitäten anzuerkennen“ (Mecheril 2003: 20). Formen kultureller Anerken-
nung beinhalten jedoch eine zweifache Problematik: Erstens wird in diesem Akt
der Anerkennung immer auch der ‘anerkannte Andere’ auf sein ‘Anderssein’
(Othering) festgelegt. Und zweitens „beschränkt sich diese Festlegung der und
des Anderen ganz auf Kulturmerkmale im Sinne von Aspekten eines Symbol-
34 Thomas Geisen
8
Eine Kritik am Anerkennungsparadigma findet sich bei Mecheril 2005.
9
Wolf-Dietrich Bukow und Isabel Heimel verweisen darauf in ihrer Bilanzierung der qualitativen
Migrationsforschung: „Ihre spezifische Perspektive, wie sie beispielsweise in der Diskursanaly-
se oder in der Biographieforschung zum Ausdruck kommt, lenkt die Aufmerksamkeit auf Kons-
truktionsprozesse. Nimmt man sie ernst, so wird man schnell zu einem Paradigmenwechsel ge-
nötigt, um die Befunde überhaupt noch angemessen interpretieren zu können. Nicht zufällig ha-
ben sich Begriffe wie ‘Ethnisierung’ und ‘Selbstethnisierung’ durchgesetzt. (...) Vor dem Hin-
tergrund eines konstruktivistischen Paradigmas erscheint also die Migrationsthematik als Be-
standteil einer Fragestellung, in der es um die Produktion von Normalität, Gewohnheit und All-
täglichkeit beziehungsweise vice versa die Produktion von Abweichung, Ungewohntem und
Fremden geht“ (Bukow/Heimel 2003: 37).
10
Isabell Diehm und Frank-Olaf Radtke weisen darauf hin, dass die Idee der ‘multikulturellen
Gesellschaft’ im Programm der ‘Interkulturellen Pädagogik’ ihre „pädagogische Formulierung“
gefunden habe. „Dieses Programm fordert, in Erziehungsziele gegossen, was als Strukturanpas-
sung politisch bis heute nicht durchgesetzt werden konnte: soziale Anerkennung und Respekt
auch für Migranten und ihre kulturellen Eigenheiten“ (Diehm/Radtke 1999: 143).
Der Blick der Forschung 35
Die beiden Paradigmen von Defizit und Differenz, über die sich bestimmte
Traditionen in der Forschung etablierten und miteinander konkurrierten, wurde
ab den 1990er Jahren durch das ‘biografische Paradigma’ ergänzt. Den Aus-
gangspunkt hierzu bildete die trotz kontroverser Debatten für die sozialwissen-
schaftliche Forschung äußerst bedeutsam gewordene Individualisierungsthese
(vgl. Beck 1986). Mit Individualisierung beschreibt Ulrich Beck eine auf Pro-
zessen der Enttraditionalisierung beruhende gesellschaftliche Entwicklung, die
den Menschen nicht mehr in gesellschaftlich vorgegebene Traditionen hineinz-
wingt. Vielmehr wird die Gestaltung der eigenen biografischen Entwicklung zur
neuen, individuellen Aufgabe. Diese Gestaltung beinhaltet sowohl Chancen des
Gelingens als auch Risiken des Scheiterns, entscheidend hierbei ist, dass die
Verantwortung jeweils beim Individuum selbst liegt. Ausgangspunkt und
Grundlage für die Individualisierung bildet jedoch die gesellschaftliche Absi-
cherung der Individuen durch einen entwickelten und tragfähigen Sozialstaat
(vgl. Beck 1986/2000). Im Anschluss an die Auseinandersetzungen mit der
Individualisierungsthese und den damit verbundenen Pluralisierungsprozessen
tritt – obschon mit einer deutlichen Verzögerung – auch in der Migrationsfor-
schung das seine Identität aktiv gestaltende und entwickelnde Individuum stär-
ker in den Fokus der Forschung (vgl. Dannenbeck 2002; Badawia 2002).11
Ein weiterer für die Forschung zu Kindern und Jugendlichen mit Migrati-
onshintergrund wichtiger theoretischer Diskursstrang war die poststrukturalisti-
sche Debatte, auch und gerade innerhalb des feministischen Theoriediskurses.
Hier rückte nicht nur die Kritik an essentialisierenden und ontologisierenden
Zuschreibungen in den Mittelpunkt, die hinterfragt und dekonstruiert werden.
Zugleich werden Formen der Selbstpositionierung als widerständige Strategien
und subversive Praxen gegen dominante Formen der Zuschreibung begriffen.
Christine Riegel bilanziert diese Entwicklung der 1990er Jahre als eine weitere
Wende, denn: „Dem essentialistischen Kulturverständnis wurden konstruktivis-
tische Ansätze (...) und poststrukturalistische Ansätze entgegengestellt. Zuneh-
mend wurde auch in der Forschung in Deutschland auf postkoloniale Theorien
und die Cultural Studies (...) Bezug genommen. Nun wurde der Blick primär auf
soziale Konstruktionsprozesse von ethnischen Kategorisierungen, Grenzziehun-
gen und Zuschreibungen und deren Folgen für die Lebenslage von MigrantIn-
nen gerichtet, anstatt auf essentialistisch und kulturalistisch konzipierte Identi-
11
Im Unterschied zu den 1970er Jahren, in denen es ebenfalls um die Identität der MigrantInnen
ging, allerdings um Identitätsdefizite und Identitätsverluste, geht es hier also um Identitätsbil-
dung als Resultat eines aktiven, subjektiven Gestaltungsprozesses.
36 Thomas Geisen
12
Soziale Ungleichheit schien ab Mitte der 1980er Jahre unter der Dominanz des Indivdiualisie-
rungstheorems für die Gesellschaftsanalyse zunächst bedeutungslos zu werden. Mit der Rück-
kehr der sozialen Frage als ‘Neue Soziale Frage’ ab Mitte/Ende der 1990er Jahre hat sich dies
jedoch wieder grundlegend geändert, sodass die Frage nach Klasse, Ethnizität und Geschlecht in
der Gesellschaftstheorie wieder stark an Bedeutung gewonnen hat (vgl. Klinger 2003;
Knapp/Wetterer 2003).
13
Im Kontext ihrer Forschungen über die Lebenssituation von Mädchen und jungen Frauen mit
Migrationshintergrund benennen Ursula Boos-Nünning und Yasemin Karakaolu das theoreti-
sche Defizit bisheriger sozialwissenschaftlicher Forschung am Beispiel der Auseinandersetzung
mit weiblicher Adoleszenz. Denn hier werde zwar die Vielfalt der weiblichen Lebensentwürfe
im Zusammenhang mit der Wirkung von Geschlechtsstereotypen und der Entstehung ge-
schlechtsbezogener Identität untersucht. Diese Forschung erfolge jedoch „weitgehend losgelöst
von einer Reflexion über die ‘Kulturgebundenheit’ dieses Diskurses (...) oder Kategorien wer-
den unreflektiert auf die Forschung zu Frauen und Mädchen mit Migrationshintergrund übertra-
gen“ (Boos-Nünning/Karakaolu 2005: 13). Die in der bisherige Forschung geführte Debatte
über die Wirkung und Bedeutung kultureller Prägungen für das Aufwachsen stellt sich daher
auch für den Zusammenhang von Migration, Jugend und Geschlecht. Denn Boos-Nünning und
Karakaolu sehen es als empirisch und theoretisch folgenreich an, wenn die Bedeutung der
‘Kulturgebundenheit’ der menschlichen Entwicklung nicht berücksichtigt werde. Die deutsch-
sprachige Forschung über Jugendliche mit Migrationshintergrund ab Mitte der 1970er Jahre be-
findet sich damit in einem Spannungsverhältnis, das durch die unterschiedliche Auffassung über
die Bedeutung der Kultur im Aufwachsen der Jugendlichen bestimmt wird.
Der Blick der Forschung 37
14
Neben den Forschungen über soziale und kulturelle Konstruktionsprozess bei Jugendlichen mit
Migrationshintergrund werden inzwischen auch die sozialen und kulturellen Konstruktionspro-
zesse von Jugendlichen der Mehrheitsgesellschaft untersucht. Damit wird als Gegenstück zu
den Prozessen der Partikularisierung des Anderen auch der Prozess der Universalisierung des
Eigenen in den Blick genommen. Im englischen Sprachraum wird diese Forschungsrichtung als
‘Whiteness’-Studies bezeichnet: „Studies of ‘race’, racism, ethnicity, identities and migration
historically have tended to focus on black people and those from other minority ethnic groups.
Over the last decade, however, there has been increasing recognition, largely inspired by de-
bates within feminist scholarship, that ‘whiteness’ is as much a social construction as is ‘black-
ness’” (Phoenix 1998: 109). Auch hierbei handelt es sich um eine ‘contested identity’, wie Ann
Phoenix in ihrer Studie über „’Whiteness’ as Contested Identity in Young People’s Ac-
counts“(1998) ausführt. Vlg. auch Phoenix (1995).
38 Thomas Geisen
soziale und kulturelle Produktivität hin zu untersuchen. Biografie wird hier nicht
mehr als Resultat eines sozialen Prozesses aufgefasst, sondern vielmehr als eine
Aufgabe, die es individuell zu bewältigen und zu gestalten gilt. Jugendliche
MigrantInnen werden daher trotz bestehender Formen sozialer und kultureller
Ausgrenzung nicht primär als Opfer, sondern als aktive GestalterInnen ihrer
Biografie gesehen. Das Bild von Jugendlichen mit Migrationshintergrund wird
damit einerseits pluralisiert, andererseits kommt es aber auch zur Ausbildung
neuer gruppen- oder lebensstilbezogenen Zuschreibungsprozesse. Kennzeichen
dieser Prozesse ist jedoch nicht mehr ihre Kontinuität, sondern vielmehr ihre
Variabilität, die sich in wechselnden Zugehörigkeitskontexten ausdrückt.
15
Exemplarisch werden hier theoretische Konzepte, wie sie in der qualitativen Forschung entwi-
ckelt wurden, anhand ausgewählter Studien vorgestellt. Die Ergebnisse quantitativer Studien zu
jugendlichen MigrantInnen, wie etwas die Studie von Heitmeyer et al. (1997) oder Boos-
Nünning/Karakaolu (2005), werden daher in den nachfolgenden Ausführungen nicht weiter
berücksichtigt.
Der Blick der Forschung 39
vorgestellt und in einem abschließenden Kapitel auf ihre Potenziale und Gren-
zen hin diskutiert. Dabei wird aufgezeigt, welchen Konstruktionsprozessen
Jugendliche mit Migrationshintergrund in der Forschung unterworfen werden.
Der soziale und politische Integrationsanspruch besteht daher im Kern auf der
fraglosen Einordnung der MigrantInnen in das national-kulturelle Kollektiv der
Mehrheitsgesellschaft. Die in der qualitativen Migrationsforschung zu Jugendli-
chen und jungen Erwachsenen zur Sprache kommende Zugehörigkeits-
Thematik (vgl. Mecheril 2003; Riegel 2004; Schramkowski 2007) stellt im
eigentlichen Sinne die ‘andere Seite’ des Integrationsdiskurses dar. In der empi-
rischen Forschung über jugendliche MigrantInnen erscheint ‘Zugehörigkeit’
vielfach als besondere Problemlage im Migrationskontext. Sie beschreibt eine
spezifische Beziehung zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den MigrantIn-
nen als Angehörige von alten oder neuen Minderheiten. Der von den Jugendli-
chen subjektiv zum Ausdruck gebrachte Mangel an Zugehörigkeit kann damit
als die andere Seite der ‘Integration’ betrachtet werden. In ihrer Studie „Integra-
tion unter Vorbehalt“ beschreibt Barbara Schramkowski diesen Zusammenhang
wie folgt: „Besonders im Zentrum steht für die jungen Erwachsenen die Aner-
kennung ihrer gesellschaftlichen Zugehörigkeit, welche als Grundlage für die
Entwicklung positiver Integrationsempfindungen, die mit Identifikationgefühlen
zur aufnehmenden Gesellschaft einhergeht, benannt wird. Diese Aussage ma-
chen sie infolge ihrer Erfahrung mit etablierten (Nicht-)Zugehörigkeitsdefini-
tionen. Diese basieren vielfach auf der Annahme, Eingewanderte könnten auf-
grund ihrer ‘ausländischen’ Herkunft keine Mitglieder der ‘deutschen’ Gesell-
schaft sein, so dass sie wie ‘selbstverständlich’ vom gesellschaftlichen ‘Wir’
ausgeschlossen werden“ (Schramkowski 2007: 368). Der hier beschriebene
Zusammenhang beruht auf einem doppelten Zuordnungsprozess. Einerseits
werden abstrakte Integrationsforderungen vonseiten der (Mehrheits-)Gesell-
schaft mit ebensolchen abstrakten, tatsächlichen oder vermeintlichen Integrati-
onsdefiziten begründet. Im gesellschaftlichen Diskurs über Integration findet
also ein sozialer Zuschreibungsprozess statt, der sich nicht an konkrete Indivi-
duen richtet, sondern an sozial und kulturell homogenisierte, abstrakte Kollekti-
ve. Der Integrationsdiskurs stellt damit eine gesellschaftliche Praxis dar, durch
die Menschen bestimmten Kollektiven zugeordnet werden. Andererseits werden
vor dem Hintergrund abstrakter Integrationsforderungen Zugehörigkeiten indi-
viduell als prekär angesehen. Durch den sozialen und politischen Diskurs über
40 Thomas Geisen
Integration wird nicht nur implizit oder explizit das subjektive Empfinden von
MigrantInnen über ihre (soziale, kulturelle und politische) Zugehörigkeit, also
das jeweils individuelle Verhältnis von MigrantInnen zur (Mehrheits-)Ge-
sellschaft, infrage gestellt. Auch das Verhältnis der MigrantInnen zur inkrimi-
nierten Minderheit wird im Integrationsdiskurs thematisiert. Denn in der Forde-
rung nach Integration realisiert sich auch eine (Integrations-) Zumutung, die
unterschiedslos an die MigrantInnen gerichtet wird und zugleich eine Aufforde-
rung zur Distanzierung von der eigenen Migrationskultur enthält.
Für jugendliche MigrantInnen ist die Zugehörigkeitsthematik von besonde-
rer biografischer Relevanz. Denn sie haben in der Adoleszenz nicht nur den
familiären Ablösungsprozess zu vollziehen. In der Hinwendung zur Gesellschaft
werden sie zugleich mit gesellschaftlichen Formen der Abwertung und Aus-
grenzung konfrontiert, denen kulturelle Zuschreibungsprozesse zugrunde liegen.
Die hierdurch entstehende besondere Schwierigkeit in der Adoleszenz besteht
daher nicht in der Ambivalenz des adoleszenten Prozesses, sondern vielmehr in
dem über die Integrationszumutung artikulierten Zwang zur Eindeutigkeit. Die-
se beinhaltet entweder eine Distanzierung von den Eltern und ihren kulturellen
Traditionen oder eine Distanzierung und Ablehnung der Gesellschaft. Im ersten
Fall erfolgt die ‘Integration’ in die Gesellschaft um den Preis der Entwertung
der eigenen frühkindlich erfahrenen Prägungen. Im zweiten Fall findet umge-
kehrt die Verstärkung der Bindung an die Eltern und die von ihnen repräsentier-
ten kulturellen Formen um den Peis der Aufgabe der Ausbildung individueller
Formen von Autonomie und Unabhängigkeit in der Gesellschaft statt. Es ist also
das Integrationsparadigma selbst, das Zugehörigkeit für MigrantInnen im All-
gemeinen und für jugendliche MigrantInnen im Besonderen zu einem biogra-
fisch bedeutsamen Thema macht. Denn die Selbstverständlichkeit pluraler For-
men von Zugehörigkeit wird im Integrations-/Zugehörigkeits-Kontext infrage
gestellt. Auf welche Weise dies konzeptionell gefasst wird, wird nachfolgend
anhand der Studien von Paul Mecheril, Christine Riegel und Sabine Mannitz
aufgezeigt.
Die Infragestellung der Legitimität von Mehrfachzugehörigkeiten wird von
Paul Mecheril auf die gesellschaftliche Forderung nach „exklusiven Bekenn-
tnissen und reinen Identitäten“ (Mecheril 2003: 388) zur nationalen Gesellschaft
zurückgeführt. Die Grundlage hierfür bilden sich national unterscheidende Ge-
sellschaften. Bezogen auf die generative Repräsentation sozialer Zugehörig-
keitspraxis sind konkrete Zugehörigkeitserfahrungen in sozialen Zusammen-
hängen daher für ihn in zweifacher Weise prädisponiert: Einerseits aufgrund der
in dem jeweiligen Zusammenhang vorherrschenden Zugehörigkeitskonzepte
und andererseits durch die individuelle Bedeutung als subjektivem Zugehörig-
keitsverständnis (vgl. 2003: 127). Zugehörigkeitskonzepte können als Grundla-
Der Blick der Forschung 41
16
In der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung haben Ulrich Beck (1986) und Anthony Gid-
dens (1991) diese Form des ‘Umgangs mit sich selbst’ als einen Aspekt neuer Formen von ‘In-
dividualisierung’ unter den gesellschaftlichen Bedingungen der ‘reflexiven Moderne’ (Beck)
oder der ‘Spätmoderne’ (Giddens) betrachtet. Die biografische Entwicklung wird damit zu-
gleich dynamisiert. Giddens beschreibt dies wie folgt: „In the context of a post-traditional order,
the self becomes a reflexive project. Transitions in individuals’ lives have always demanded
psychic reorganisation, something which was often ritualised in traditional cultures in the shape
of rites de passage. (...) In the settings of modernity, by contrast, the altered self has to be ex-
42 Thomas Geisen
plored and constructed as part of a reflexive process of connecting personal and social change“
(Giddens 1991: 32f.).
Der Blick der Forschung 43
In den Studien von Riegel und Mannitz zeigt sich die Bedeutung von Bildung
und Ausbildung im „Kampf um Zugehörigkeit“ und in den „neuen sozialen
Identifikationen“. Denn auf der Grundlage erfolgreicher Bildungs- und Ausbil-
dungsverläufe können die Jugendlichen für sich individuelle Strategien der
Selbstermächtigung und Selbstpositionierung realisieren, die es ihnen ermögli-
chen sowohl gegenüber den Eltern und der Familie als auch gegenüber ein-
schränkenden sozialen Bedingungen ein höheres Maß an Autonomie und Unab-
hängigkeit zu erreichen. Denn Bildungserfolge, die etwa eine attraktive Ausbil-
dung oder ein Studium ermöglichen, können letztlich zu ökonomischer Unab-
hängigkeit von den Eltern führen. Auf diese Weise erschließen sich für die Ju-
gendlichen und jungen Erwachsenen neue individuelle und soziale Handlungs-
möglichkeiten. Die Realisierung von Bildungsaspirationen und das Gelingen
von sozialem Aufstieg über Bildung wurden in der Forschung zu einem eigenen
Schwerpunkt gemacht und am Phänomen der bildungserfolgreichen Immigran-
tInnen untersucht.
In der Studie „Der Dritte Stuhl“ (2002) von Tarek Badawia steht der Um-
gang bildungserfolgreicher ImmigrantInnen mit kulturellen Differenzen im
Mittelpunkt. Die Studie knüpft damit an die Debatte um die Wirkung tatsächli-
cher oder vorgeblicher ‘Kulturkonflikte’ an, denen eine nachteilige Wirkung auf
die Sozialisations- und Bildungsprozesse von jugendlichen MigrantInnen zuge-
schrieben wird. Dem Bild vom Leben „zwischen zwei Kulturen“ wird von Ba-
dawia ein Leben „in zwei Kulturen“, also „Mehr-Kulturalität“ als „eine neue
produktive Form der Verarbeitung“ gegenübergestellt. Kultur wir hier also nicht
mehr als eine Hindernis für Bildungsprozesse angesehen. Biografischer Aus-
gangspunkt der „Mehr-Kulturalität“ ist die „Bikulturalität“ (vgl. Badawia 2002:
308) als empirisch nachweisbare „kognitiv umweltstrukturierende Leistung“
(ebd.), die für die Jugendlichen mit Migrationshintergrund einen Teil der sozia-
Der Blick der Forschung 45
len Wirklichkeit abbildet. Diese wird nunmehr zum Ausgangspunkt und Ge-
genstand subjektiver Identitätsbildungsprozesse, die zu eigenen Identitätsaspira-
tionen führen. Die Metapher vom ‘Dritten Stuhl‘17 hat sich in der Studie als
Kernkategorie herausgeschält. Sie stellt eine „sozialkreative Variante der Identi-
tätstransformation entlang einer bikulturellen Entwicklungslinie“ (ebd.) dar. In
dieser Metapher werden vor allem Prozess und Resultat der subjektiven Bemü-
hungen um Eigenständigkeit und Autonomie jenseits kultureller Festschreibun-
gen und Verortungen vergegenständlicht. Sie umfasst erstens den produktiven
Umgang mit Vorurteilen, die die Jugendlichen auf bestimmte kulturelle Identitä-
ten festlegen wollen; zweitens die selbstaktualisierende, individuelle Integrati-
onsleistung der verschiedenen kulturellen Einflüsse, und drittens die Fokussie-
rung auf die Doppelrolle als Teilnehmer und Beobachter gleichermaßen, was im
Kern auf die Fähigkeit zu Reflexivität verweist (vgl. 2002: 308). Die ‘bikulturel-
le Situation’ wird von den jugendlichen MigrantInnen „trotz aller Schwierigkei-
ten, Herausforderungen und des Stresscharakters des gesamten Prozesses als
‘faszinierend’, ‘bereichernd’ und vor allem als eine gegebene ‚Chance’“ emp-
funden (2002:309). Der ‘Dritte Stuhl’ kann damit auch „als Ausdruck von iden-
titätstransformatorischen Leistungen und individueller Selbstverortung im Be-
zug auf soziobikulturelle Überschneidungssituationen und Lebensbedingungen
im eigenen Lebenslauf“ (2002: 311) verstanden werden. Differenz und Konflikt
haben daher für die bildungserfolgreichen Jugendlichen eine positive Bedeu-
tung, die sich mit einer ausgeprägten Sach- und Selbstkompetenz verbindet (vgl.
2002: 311f.). Individuelle Integrationsleistungen werden hier nicht nur in Bezug
auf eine Kultur, sondern vielmehr „im Sinne der Herstellung von bikultureller
Kompatibilität für mehr als ein Kultursystem“ (2002: 315) erbracht. Auf diese
Weise werden biografisch Alternativlösungen entwickelt und Umorientierungen
realisiert, indem Spielräume kreativ ausgenutzt werden. Im Zuge von Prozessen
der Selbstaktualisierung und Selbstvergewisserung wird hier eine „Doppelablö-
sungsleistung“ (2002: 322) erbracht. Diese besteht sowohl in einer Ablösung
von der eingewanderten Elterngeneration als auch von der Mehrheitsgesell-
schaft, für die ‘Bikulturalität’ keine sozial anerkannte Identitätsvariante dar-
stellt. In ihrem Verständnis und in ihrer Wahrnehmung der Umwelt sehen die
jugendlichen MigrantInnen sich jedoch nicht als ‘Außenseiter’, sondern viel-
mehr als ‘Außenstehende’ und damit als Teil der Mehrheitsgesellschaft.
17
Die Metapher ‘Dritter Stuhl’ dient der Illustration von Mehrfachzugehörigkeit, sie richtet sich
explizit gegen die Annahme eines ‘Leben zwischen den Kulturen’. Riegel verweist auf weitere
positive Gegenkonzepte die im Rahmen verschiedener Studien entwickelt wurden, etwa auf
„Formulierungen wie ‘auf allen Stühlen’ (Otyakmaz 1995), ‘interkulturelle Zwischenwelten’
(Gemende 2002) oder der Begriff ‘Patchwork-Identität’ (Gaitanides 1996: 43).“ (Riegel 2004:
45).
46 Thomas Geisen
18
Ergänzend sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass auch eine intergenerationale Transmis-
sion stattfindet. Alejandro Portes und Rubén G. Rumbaut haben dies in ihrer Studie über die
zweite Generation in den USA hervorgehoben: „There is (...) strong evidence on the intergene-
rational transmission of both privilege and disadvantage“ (Portes/Rumbaut 2001: 283).
Der Blick der Forschung 47
Indem den jungen Frauen der soziale Aufstieg gelingt, verwirklichen sich so-
wohl Wünsche und Vorstellungen ihrer Väter, etwa in Bezug auf das familiäre
Migrationsprojekt, als auch ihrer Mütter, etwa in Bezug auf Autonomie. Im
‘externen’ Transformationsprozess zeigen sich vor allem soziale Ungleichheiten
als Hindernisse zur Realisierung eines imaginären Autonomieideals. Die Erfah-
rung von Diskriminierung tritt in der biografischen Konstruktion mit dem
Schuleintritt in den Vordergrund. Sie ist durch geringere Anerkennung und
durch die Stigmatisierung von Differenz gekennzeichnet, die sich auch in For-
men institutionellen Rassismus realisiert. „Die Leistung der aufstiegsorientierten
Migrantinnen ist nun gerade darin zu sehen, dass sie aufgrund von Diskriminie-
rungserfahrungen keinen Rückzug antreten und in Passivität verfallen, sondern
dass sie dem Autonomieideal reaktiv begegnen, d.h. Autonomie gegenüber der
Schule entfalten, indem sie deren Bildungsangebot nutzen, auf die Beziehungen
innerhalb der Schule zu den Lehrenden jedoch verzichten. Damit begrenzen sie
die Zugriffsmöglichkeiten auf sich selbst und behaupten ihre familiale Verbun-
denheit“ (2002: 319f.). In den biografischen Interviews zeigt sich jedoch auch,
dass die Migrantinnen Schule und Universität zum Teil als eine Art Schonzeit
ansehen, offen bleibt in dieser Studie daher, inwieweit es sich hierbei um eine
dauerhafte Transformation handelt (2002: 317). Für Hummrich zeigt sich die
Besonderheit der biografischen Entwicklung von Migrantinnen jedoch nicht in
den spezifischen Chancen oder Risiken, denen sie in ihren Transformationspro-
zessen unterworfen sind und die je spezifische Bewältigungsstrategien zutage
bringen oder belastend wirken. Vielmehr gelte es auch Migrantinnen in den
Kategorien der allgemeinen Sozialisationsforschung zu erfassen, denn auch ihre
„Fähigkeit“ ist eine allgemeine Form der Lebensbewältigung (2002: 336).
Am Beispiel bildungserfolgreicher MigrantInnen zeigt sich, dass es den ju-
gendlichen MigrantInnen im biografischen Verlauf über Bildungsprozesse ge-
lingen kann, Formen der ‘Identitätstransformation’ und Selbstpositionierung zu
realisieren. Dabei werden eigene Strategien entwickelt, um bestehende Hand-
lungsmöglichkeiten auszuschöpfen und zu erweitern. Das Streben nach Unab-
hängigkeit und Autonomie ist dabei sowohl auf den eigenen familiären Kontext
bezogen als auch auf eine von sozialer Ungleichheit gekennzeichnete Gesell-
schaft. Identitätsarbeit, Bildung und die Bewältigung der Adoleszenz zeigen
sich hier als Kernkategorien, die das Aufwachsen der MigrantInnen in moder-
nen Gesellschaften bestimmen. Das Bild von den jugendlichen MigrantInnen ist
hier geprägt durch die Fähigkeit, eigene Ziel zu entwickeln und zu realisieren.
48 Thomas Geisen
Die Frage nach der Besonderheit der Situation von Jugendlichen mit Migrati-
onshintergrund ist auch die Frage nach dem Stellenwert kultureller Differenzen
für die biografische Entwicklung. Anne Juhasz und Eva Mey nehmen in ihrer
Untersuchung „Die zweite Generation: Etablierte oder Außenseiter?“ (2003),
eine biografische Studie über Jugendliche und junge Erwachsene der zweiten
Generation, eine Perspektive ein, die sich auf soziale Ungleichheit und soziale
Mobilität richtet. Sie heben hervor, dass hierdurch eine Verlagerung „weg von
der ‘Kultur’ und hin zu der ‘Struktur’ einer Gesellschaft“ stattfinde (Juhasz/Mey
2003: 336).19 In den Biografien interessiert sie daher vor allem das „Zusammen-
spiel von kapital- und figurationsbedingter Ungleichheitslogik“ (2003: 297).
Diese Perspektive wird ergänzt durch die Analyse der „individuellen Wahrneh-
mungs- und Handlungsmuster, die die soziale Positionierung einer Person ent-
scheidend prägen“ (ebd.). Aktive und intentionale Handlungsformen werden
damit einerseits innerhalb spezifischer sozialer und struktureller Kontexte si-
tuiert, andererseits wird aber auch die Chance gesehen, den individuellen Mög-
lichkeitsraum zu vergrößern und biografische Ziele, etwa angestrebte soziale
Positionen, zu erreichen. Migrationsspezifische Themen, die für die intentionale
und aktive Form der Positionierung bedeutsam sind, sind vor allem die Rück-
kehrorientierung der Eltern, die Beziehungen zum Herkunftsland und zur dorti-
gen Verwandtschaft (vgl. 2003: 298). Die Rückkehr kann etwa zu einer emotio-
nalen Belastung in der Familie werden oder dazu führen, dass man sich im Im-
migrationsland ein ‘Leben im Provisorium’ einrichtet. Die Beziehungen ins
Herkunftsland sind vor allem für die nachwachsenden Generationen belastend,
da sie bei Aufenthalten dort auch als AusländerInnen angesehen werden.
Durch die Migration entstehen jedoch nicht nur emotionale Belastungen.
Im Anschluss an Bourdieu führen Juhasz und Mey aus, dass die Migration auch
zu einer „‘faktischen Enteignung’ (...) [der, T.G.] kulturellen Ressourcen des
Alltagswissens“ führt (2003: 299). Dies habe vielfach niedrige Einkommen im
Einwanderungsland zur Folge, was zu einer gesteigerten Erwerbstätigkeit
zwingt, um das Familieneinkommen zu sichern. Auch das soziale Kapital ist
häufig gering, da die bestehenden Netzwerke nur über eine niedrige Kapitalaus-
stattung verfügen. „Die Jugendlichen ausländischer Herkunft, deren Eltern als
ArbeitsmigrantInnen in die Schweiz gekommen sind, wachsen somit mehrheit-
19
Die Kritik am Kulturparadigma, wie es etwa der sogenannten ‘Kulturkonfliktthese’ zugrunde
liegt, und die Hinwendung zu sozialstrukturellen Erklärungsansätzen in der Migrationsfor-
schung wurde in den 1990er Jahren unter anderem von Eckhard J. Dittrich und Frank-Olaf
Radtke (1990) und Athanasios Marvakis (1998) vorgetragen.
Der Blick der Forschung 49
lich in Familien auf, deren Situation von struktureller Benachteiligung und rela-
tiver Armut geprägt ist“ (2003: 299).
Dem Streben der Jugendlichen nach sozialem Aufstieg stehen aufgrund
dieser Ausgangslage erhebliche Hindernisse entgegen. Die Verweigerung des
Zugangs zu höheren Positionen und die Stigmatisierung der Angehörigen von
Außenseitergruppen werden hier im Anschluss an Norbert Elias als Mechanis-
men des sozialen Ausschlusses eingeführt. Diese finden in den Biografien „ih-
ren Niederschlag in Gestalt erfahrener Einschränkungen des Möglichkeitsrau-
mes und Diskriminierungen, erfahrener Stigmatisierungen und verweigerter
Anerkennung. Es handelt sich dabei um jene Schliessungsprozesse, die den
Zugang zu verschiedenen Kapitalformen regeln und über die Verwertbarkeit
vorhandenen Kapitals entscheiden“ (Juhasz/Mey 2003: 300). Im Einzelnen
werden hier beschränkte und versperrte Zugänge zu kulturellem, ökonomischem
und sozialem Kapital angegeben (2003: 300ff.), wie sie sich etwa in Aus-
schlussprozessen in der Schule, in der begrenzten Verfügbarkeit der Eltern über
Ressourcen, in den Stigmatisierungsprozessen aufgrund mangelnder Sprach-
kenntnisse oder bei der Lehrstellensuche zeigen. Von verweigerten Zugehörig-
keiten ist nach Juhasz und Mey dann zu sprechen, wenn aufgrund fehlender
Gruppenzugehörigkeit der Zugang zu sozialem Kapital und sozialer Anerken-
nung in Form von emotionaler Zuwendung, kognitiver Achtung und sozialer
Wertschätzung vorenthalten wird (2003: 304ff.).
Trotz dieser Begrenzungen ist die soziale Mobilität für Jugendliche mit
Migrationshintergrund ein wichtiges Thema. So zeigt sich bei ihnen etwa eine
starke Aufstiegsorientierung, die unter anderem im „Familienprojekt der Migra-
tion“ (2003: 314) begründet sein kann. Damit bewegen sie sich auf Orte im
sozialen Raum zu, die bislang von Familienangehörigen noch nicht erreicht
wurden. Sie können daher als ‘Pioniere’ bezeichnet werden. Mit dem sozialen
Aufstieg vollzieht sich also auch ein Prozess der Distanzierung vom Herkunfts-
milieu. Diese Distanz werde Juhasz und Mey zufolge vielfach „vorschnell und
fälschlicherweise als eine ‘kulturelle Distanz’ im Sinne einer Distanz zwischen
nationalen Kulturen interpretiert“ (2003: 315). Demnach können familiäre
Konflikte in ausländischen Familien „in erster Linie auf solche milieuspezifische
Distanzen in Folge von sozialer Mobilität und nicht, wie in der Literatur häufig
postuliert, auf den Konflikt zwischen zwei nationalen Kulturen zurückgeführt
werden“ (ebd.). Ein weiterer Grund für diesen in der Literatur als ‘Kulturkonf-
likt’ bezeichneten Zusammenhang, so Juhasz und Mey, seien die adoleszenzbe-
dingten Ablösungsprozesse Jugendlicher von ihren Eltern (2003: 316). Diese
‘Zugehörigkeitskonflikte’ werden allerdings vielfach durch ‘Weggefährten’
relativiert. Dabei handelt es sich um Personen, „die aus der gleichen Region des
sozialen Raumes stammen und den gleichen Weg im sozialen Raum zurückle-
50 Thomas Geisen
3 Abschließende Bemerkungen
20
Zum Thema der ethnozentrischen Begrenztheit vgl. Ernest Jouhy (1996).
Der Blick der Forschung 55
Orientierung gewichen. Dieser liegt eine Perspektive auf die modernen Gesell-
schaften zugrunde, die durch eine Pluralisierung der Lebenswelten gekenn-
zeichnet ist und mit Individualisierungsprozessen einhergeht. Bestehende tradi-
tionelle Milieus werden hier infrage gestellt und sind im Auflösen begriffen.
Bezogen auf die migrantisch geprägten Milieus bedeutet dies, dass die Lebens-
weise der MigrantInnen zunehmend auch als Teil der posttraditionalen Gesell-
schaftsformation begriffen und nicht mehr als rückständige Enklaven betrachtet
werden, die von Traditionalismus bestimmt werden. Dies zeigt sich insbesonde-
re in den neueren qualitativen Studien über Jugendliche mit Migrationshinter-
grund, in denen die sozialen Konstruktionen über jugendliche MigrantInnen
hinterfragt und dekonstruiert werden.
Damit hat eine entscheidende Veränderung stattgefunden, denn lange Zeit
wurden jugendliche MigrantInnen gesellschaftlich und in der Forschung über
die Metapher ‘zwischen zwei Stühlen’ sozial konstruiert.21 Das Bild der jugend-
lichen MigrantInnen, als ‘zwischen zwei Stühlen’22 sitzend und von sozialer
Ort- und kultureller Heimatlosigkeit gezeichnet, wurde nicht zuletzt aufgrund
der Entwicklung neuer Forschungskonzepte und -methoden – hier vor allem
durch die qualitative Forschung seit den 1990er Jahren – hinterfragt. Dabei
wurden neue Bilder und Konzepte entwickelt, wie die des ‘Dritten Stuhls’ (Ba-
dawia) oder der ‘Mehrfachzugehörigkeit’ (Mecheril), mit denen versucht wurde,
die Pluralität der Versuche kultureller Neupositionierungen von jugendlichen
MigrantInnen jenseits dominanter sozial-kultureller Zuschreibungsprozesse
adäquat zu beschreiben. In dieser von der Forschung erbrachten Differenzie-
rungsleistung zeigt sich eine Ablösung von vereinfachenden (Konflikt-)Model-
len und homogenisierenden Identifizierungen des Anderen. Gerade die hier-
durch sichtbar gemachten Weigerungen und Widerstände der jugendlichen Mig-
rantInnen gegen die ihnen aufgezwungenen sozialen und kulturellen Zuschrei-
bungs- und Stigmatisierungsprozesse, die von ihnen geleistete ‘Zugehörigkeits-
arbeit’ (Mecheril) und der subjektiv geführte ‘Kampf um Zugehörigkeit’ (Rie-
gel) unterstreichen eindrücklich, dass Autonomie und Handlungsfähigkeit wich-
tige Vorsaussetzungen für soziale und kulturelle Neupositionierungen darstel-
len.
21
Daneben werden jedoch auch immer wieder Debatten über neue Segregationstendenzen unter
den MigrantInnen geführt, etwa unter dem Stichwort ‘Parallelgesellschaft’ (vgl. unter anderem
Heitmeyer et al. 1997; Heitmeyer/Dollase 1996).
22
Empirisch hat vermutlich erstmals Berrin Ö. Otyakmaz (1995) die Metapher ‘zwischen zwei
Stühlen’ in ihrer Studie über das Selbstverständnis junger türkischer Migrantinnen in Deutsch-
land hinterfragt und die Metapher ‘auf allen Stühlen’ als Gegenbild geprägt (vgl. Riegel 2004:
45).
56 Thomas Geisen
Literatur
1
Wir können analytisch also drei Typen von Praxen/Mechanismen unterscheiden: Praxen der
machtvollen Unterscheidung, Praxen der Verhüllung dieser Praxen, Praxen der Enthüllung der
Verhüllungspraxen.
62 Paul Mecheril und Bernhard Rigelsky
den Praxen, die ‘AusländerInnen’ erzeugen. ‘Ausländer’, so wie wir den Begriff
benutzen, ist mithin ein Wort und eine Betrachtungsweise der Kritik.2
[...] Und hier bin ich aufgewachsen, hier bin ich groß geworden, also ich weiß auch nicht, ich
bin, ich sag ja also, ich hab hier geheiratet, ich bin hier zur Schule gegangen, also mein ganzes
Leben ist praktisch in Deutschland gegangen, also bis jetzt 30 Jahren. Also aber ich weiß
nicht, aber hier wird man auch als Ausländer angesehen, weil man ja schwarze Haare hat und
braune Augen und was weiß ich, nee. Auch wenn ich `n deutschen Pass hätte, dann würd ich
trotzdem eine Ausländerin sein. Ist doch egal was man macht, man ist aber trotzdem `n Aus-
länder, also in Deutschland (Mecheril 2003: 57ff.)[...].
Weil die hier Auskunft Gebende, Aye Solmaz, ein MmM ist, ‘ausländisch’, ‘nicht-
deutsch’, ‘türkisch’ aussieht, wird sie als Ausländerin behandelt und wird sie auch
weiterhin als Ausländerin behandelt werden, selbst, wenn formelle Voraussetzun-
gen der Zugehörigkeit erfüllt wären (‘Pass’). Denn in der für Aye alltäglich rele-
vanten Wirklichkeit hat vor allen anderen Kriterien, die Deutsch-Sein anzeigen und
legitimieren, die Physiognomie Bedeutung: Wer in Deutschland ‘schwarze Haare
und braune Augen hat’, bleibt selbst mit nicht-ausländischem Pass ausländisch.Der
von Aye berichteten Erfahrung liegt eine Konstruktion der natio-ethno-kulturellen
Anderen zugrunde. Aye wird als einer anderen, an sozialen und physiognomi-
schen Merkmalen identifizierbaren natio-ethno-kulturellen Gruppe zugehörig
wahrgenommen und behandelt. Aye wird von sich selbst und anderen als Auslän-
derin angesehen, deshalb ist sie Ausländerin. Diese Wahrnehmungs- und Behand-
lungserfahrungen präsentiert Aye nicht als einmalige oder gelegentliche, sondern
als eine diachron und synchron generelle Lebenserfahrung.
[...] ich hab mich immer so wie `ne Ausländerin gefühlt, wenn mir, ich sag ja, wenn mir mit
dem Finger gezeigt wurde und wenn einem ins Gesicht gesagt wurde „Hier Ausländer“. Und
das find ich schon schlimm (kleine Pause). Also dann fühlt man sich auch fremd (Mecheril
2003: 58).
Da der öffentlichen Ordnung des für Aye bedeutsamen Alltags das Wahrneh-
mungs- und Behandlungsschema eingeschrieben ist, das Aye zu einer Ausländerin
macht, wird Ayes Selbstpositionierung und -verständnis sozial sinnvoll, und nur
dann sinnvoll, wenn sie auf die geltenden Zugehörigkeitsordnungen Bezug nimmt.
Solange Aye an äußeren Merkmalen als Ausländerin identifizierbar ist, fühlt sie
sich fremd. Aber Aye fühlt ‘sich auch fremd’, weil die Gleichsetzung ihres Er-
scheinungsbildes mit Ausländisch-Sein und die unmissverständliche Entschieden-
2
Kritik verstehen wir hier in erster Linie nicht als Praxis der Erwiderung, nicht als argumentative
Zurückweisung, sondern als eine Haltung. Mit der schönen Redewendung, die sich in dem kur-
zen Text von Michel Foucault (1990) findet, der eine Tugend nicht nur anspricht, nicht nur an-
bietet, sondern vielmehr auch attraktiv macht, kann diese Haltung beschrieben werden als
Kunst nicht dermaßen regiert zu werden.
Nationaler Notstand, Ausländerdispositiv 63
heit (‘Hier Ausländer’) sie befremdet und ihr vor Augen führt, dass sie in Deutsch-
land eine Fremde ist und bleiben wird. Die Anstrengung, der Zuschreibung Aus-
länderin zu entgehen, wird formell (weitestgehend) nicht sanktioniert. Jeder kann
es versuchen (oder auch nicht), jede darf sich anstrengen (oder nicht). Strenge
äußere Verbote, die den Körper betreffen, kennen moderne Gesellschaften für
Gefängnisinsassen, Psychiatrisierte und Flüchtlinge. MmM aber können machen,
was sie wollen, es ist ‘egal’. Dies nicht so sehr, weil sich die Zugehörigkeitsord-
nung durch Zuwiderhandlungen nicht erschüttern lässt, sondern weil durch die
Zugehörigkeitsordnung hervorgebrachte ‘ausländische Subjekte’ in dem, was sie
tun, der Zugehörigkeitsordnung verpflichtet bleiben und sie dadurch bestätigen.
Was aber bedeutet ‘Ausländer’?
‘Ausländer’ ist ausgedehnt und nicht einheitlich. Der Begriff ist diffus, ihm
kommen in unterschiedlichen sozialen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen
zu. In einem Amt etwa wird die Bezeichnung völlig anders, nämlich administra-
tiv-ordnend, verwendet, als auf dem Schulhof, wo der Begriff Ausländer viel-
leicht mit der Intention benutzt wird, einen Unterschied zu machen, der belei-
digt.
Die terminologische und praktische Heterogenität des Ausdrucks Auslän-
der und die Vielfalt der ihn hervorbringenden Praxen wollen wir mithilfe der
analytischen Perspektive ‘Dispositiv’ betrachten. Das Wort Dispositiv be-
schreibt den Zusammenhang komplex und dynamisch aufeinander bezogener
und voneinander abhängiger Elemente, ein Netz von interaktiven Praktiken, von
institutionellen Mechanismen und Handlungseinsätzen, seien sie sprachlicher
oder außersprachlicher Art, ein Netz, das machtvoll und strategisch ist, da „es
sich dabei um eine bestimmte Manipulation von Kräfteverhältnissen handelt,
um ein rationelles und abgestimmtes Eingreifen in diese Kräfteverhältnisse, sei
es, um sie zu blockieren oder zu stabilisieren oder auch nutzbar zu machen
usw.“ (Foucault 1978: 123). Dispositive sind strukturierte, gleichwohl bewegli-
che Bündel von Praktiken, die in einer irgendwie spezifischen Weise, dies
macht ihren Zusammenhang aus, intervenieren, dazwischengehen. Dispositive
haken positiv und negativ ein, sie bestätigen und behindern, sie leiten den Fluss
des Gesagten, des Sagbaren, des vergegenständlichten Wissens und des nicht
sagbaren Wissens um und ab, sie sichern und modifizieren diesen Fluss, ebenso
wie sie Effekte dieses Flusses sind. Nicht Dispositive sind es also, die das Flie-
ßen, das Spiel der Kräfte verhindern oder ermöglichen, aber sie kanalisieren es,
indem sie es, so könnte man vielleicht sagen, thematisch indizieren, Indizes
64 Paul Mecheril und Bernhard Rigelsky
3
„Was man im allgemeinen ‘Institution’ nennt, meint jedes mehr oder weniger aufgezwungene
Verhalten. Alles, was in einer Gesellschaft als Zwangssystem funktioniert, und keine Aussage
ist, kurz: alles nicht-diskursive Soziale ist Institution“ (Foucault 1978: 125).
Nationaler Notstand, Ausländerdispositiv 65
samt mit einem enormen regulativen Aufwand verbunden. Die neuen Techniken
richten den Blick auf eine übergeordnete Einheit, zu der die Menschen zusam-
mengefasst werden: auf die Gesamtheit der zu normierenden Gesellschaftsmitg-
lieder, auf die Bevölkerung. Mittels des Bevölkerungsdispositivs wird auf das
Leben der Einzelnen, die als Einzelne gar nicht mehr in Augenschein genom-
men werden müssen, Einfluss ausgeübt.
Dispositive sind im engeren Sinn keine Strategien von Subjekten, sondern
„Strategien von Kräfteverhältnissen“ (Foucault 1978: 123). In diesen Strategien
werden disparate Interessen gebündelt und vormals unterschiedliche Ereignisse
in einen Zusammenhang gebracht, eine Art strategische Vereinheitlichung und
Sinnstiftung, sodass der Notstand, auf den das Dispositiv bezogen ist, gemindert
wird. Wichtig ist, dass diese Strategien in einem engen und wechselseitigen
Verhältnis zu Wissenssystemen stehen. So wie das Wissen die Stütze des Dis-
positivs ist, so stützt das Dispositiv das Wissen (vgl. ebd.) Explizites und expli-
ziertes Wissen basieren auf einer abstrakten Ordnung sprachlich-symbolischer
Aussagesysteme. Dieses innerhalb eines Diskurses prozessierte Wissen be-
zeichnet Foucault erstens als Gesamtheit der diskursintern festgelegten „Verhal-
tensweisen, Eigentümlichkeiten und Abweichungen“, zweitens als den kons-
truierten „Raum, in dem das Subjekt die Stellung einnehmen kann, um von
Gegenständen zu sprechen“ (Foucault 1981: 259), von denen der Diskurs han-
delt. Drittens bezeichnet Wissen „das Feld von Koordinationen und Subordina-
tionen der Aussagen“ unter diskursiver Regelwerke, durch die die Begriffe „er-
scheinen, bestimmt, angewandt und verändert werden“ (Foucault 1981: 260).
Diskurse fungieren als strukturierte Verbindungspunkte zwischen dem
Denken, dem Sprechen, dem Handeln, dem Ausüben von Macht des Subjekts.
Diskurse gewähren Handlungsmöglichkeiten und schränken sie ein. Aber das
Nicht-Diskursive, das sprachlich Nicht-Ausgedrückte, das allenfalls (noch)
gedacht oder gegenständlich dargestellt wird, begrenzt oder vereitelt die Ausü-
bung von Handlungen, von sozialer Macht. Als nicht-diskursiv wird ein Wissen
bezeichnet, das etwa in nicht-schriftlicher Form oder nicht explizit ausgesagt
vorliegt. Es kann symbolisch, in Form einer Denkregel, eines Gebäudes oder
einer Institution dargestellt sein.
Der strategische Wert eines Dispositivs besteht darin, dass es das sozusa-
gen bereits Vorstrukturierte unter Bedingungen einer veränderten (Not-)Lage
neu- und weiterstrukturiert. Die komplexe Gesamtheit von strategischen Interes-
sen und Durchsetzungsmitteln ermöglicht die Funktion eines Machtdispositivs
und erhält es aufrecht. Das Dispositiv ist eine Formation, die Machthandlungen
strukturell so begünstigt, dass die Notlage, auf die sich das Dispositiv bezieht,
gemindert wird. Zugleich produzieren Dispositive ihrerseits Macht. Macht ver-
wirklicht sich in einem Dispositiv, sofern das Dispositiv Bedingungen bereit-
66 Paul Mecheril und Bernhard Rigelsky
stellt für eben diese Verwirklichung (vgl. Hubig 2000: 6). Subjekte werden zwar
strategisch einer bestehenden Struktur einverleibt. In diesem Sinne sind Disposi-
tive, die einwandfrei funktionieren, Strategien ohne Subjekte, also Strategien
ohne Strategen (vgl. Foucault 1978: 132ff.). Dennoch kann das Subjekt zu einer
„strategischen Wiederauffüllung“ (Foucault 1978: 121) des Dispositivs beitra-
gen. Wir wollen hier nun mit dem Ausdruck 'Ausländerdispositiv' das Bündel
von Vorkehrungen, Maßnahmen und Interpretationsformen verstehen, mit dem
es gelingt, die Unterscheidung zwischen natio-ethno-kulturellem Wir und Nicht-
Wir plausibel, akzeptabel, selbstverständlich und legitim zu machen.
Das Ausländerdispositiv antwortet einem strategischen Regelungsbedarf,
der dadurch entsteht, dass die imaginierte Einheit ‘Nation’ durch Prozesse, die
nicht allein mit Migrationsphänomenen einhergehen und aus ihnen resultieren,
bei denen Phänomene des faktischen und symbolischen Überschreitens und
Infragstellens der nationalen Grenze aber eine prominente Rolle spielen, in eine
Krise gerät. Diese Krise – nennen wir sie nationaler Notstand – lässt sich in
einer simplen Frage wiedergeben: ‘Wer sind wir?’ Die Vorstellung des nationa-
len Wir bedarf fortwährend funktionierender Imaginationspraxen: nationale
Wettbewerbe wie der Grand Prix d´Eurovison oder die Fußball-WM, mit ihren
Autos und Häuser schmückenden Fahnen und nervösen Fähnchen, der regressi-
ven Freude, dem johlenden Taumel und der untröstlichen Ernüchterung, mit
ihrer karnevalesken Hemmungslosigkeit, mit ihren von der Bekleidungsindust-
rie diktierten Farbcodes, eine der simpelsten und meist verbreiteten Kodierun-
gen überhaupt, bei der es ähnlich wie im Krieg möglich ist, dass ‘wir’ gewinnen
oder verlieren; schulischer Geschichtsunterricht; Medienberichte; Wir sind
Papst. Insofern handelt es sich bei der Nation – wie bei, formal gesehen, allen
Identitätsformen – um ein Krisenphänomen, oder genauer: um eine Selbster-
schaffung in der Krisenbewältigung. Imaginationspraxen dieser Art sind insbe-
sondere dann vonnöten, wenn das phantasierte Wir in eine besondere Krise
gerät, sei dies nun eine durch die mediale Inszenierung der sogenannten Globa-
lisierung nahegelegte Krise oder eine die aus der öffentlichen Thematisierung
dessen erfolgt, dass als fremd geltende Menschen und ihre Lebensweisen sich
dauerhaft in dem Raum niederlassen, der als eigener beansprucht und phanta-
siert wird.
Das Ausländerdispositiv ist mithin ein sich dem Strategienbündel der Nati-
on gegenüber komplementäres strategisches Manöver. Das Ausländerdispositiv
spiegelt das nationale Dispositiv. Für den deutschen Fall kann man sogar be-
haupten, dass sich Ausländer- und nationales Dispositiv wechselseitig stützen
und hervorbringen. Das Ausländerdispositiv reagiert somit nicht auf den Um-
stand, dass sich in Deutschland zu viele Nicht-Deutsche aufhalten und es einer
statistischen und bevölkerungspolitischen Regulation bedarf, sondern darauf,
Nationaler Notstand, Ausländerdispositiv 67
dass das, was Deutschland ist, als Krisenphänomen in Erscheinung tritt: Wenn
wir uns verlieren, wer sind wir dann noch? Der in dieser Frage enthaltenen Dro-
hung – es klang bereits an, dass dies eine schattenhafte Furcht vor dem Anderen
der Identität, Nicht-Identität ist, die für Identität überhaupt, für kollektive Identi-
tät in einer besonderen und nationale Identität in einer übersteigerten Weise
konstitutiv ist – sind abfangende, mindernde und beschwichtigende Strategien,
Praxen und Symbolisierungen zugeordnet, deren Zusammenhang, das Gefüge
ihrer Relationen das Ausländerdispositiv ins Leben ruft.
Wir können drei operative Merkmale unterscheiden, die das Wesen des
Ausländerdispositivs kennzeichnen: erstens unterscheidet es mittels Bezeich-
nungs-, Visibilisierungs- und Überwachungspraxen sowie der allseitigen Legi-
timität staatlicher Kontrollen zwischen natio-ethno-kulturellem Wir und Nicht-
Wir, zweitens wird der Unterscheidung eine institutionalisierte, systematisch
differentielle Behandlungsweise von Wir und Nicht-Wir zugeordnet und da-
durch sozial verwirklicht und schließlich werden diese Differenzierungen –
deren Zusammenspiel und Verhältnis man sich wie ein Mobile vorstellen kann –
fortwährend als legitime Unterscheidungen/Behandlungen ausgegeben. Das
Ausländerdispositiv ist das Netz, das zwischen kulturellen, institutionellen,
bürokratischen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und medialen Ereignissen
gespannt ist, in denen ein natio-ethno-kulturelles Wir sich von seinem Anderen
scheidet. Das Ausländerdispositiv ermöglicht sprachliches, und etwa in Institu-
tionen, vergegenständlichtes Wissen (darüber, wer wir sind, wer wir nicht sind
und wer sie sind), ein Wissen, das das Dispositiv festigt, ohne es jemals zu fixie-
ren. Als heterogene strategische Konstellation umfasst das Ausländerdispositiv
wissenschaftliche Aussagen (etwa der Migrationssoziologie, die in jüngster Zeit
wieder verstärkt von der Unvermeidbarkeit der Assimilation spricht, der Inter-
kulturellen Pädagogik, die sich zuweilen affirmativ, dann wiederum kritisch auf
das Thema ‘MmM’ bezieht), Institutionen, sich in den unterschiedlichen Ge-
bäuden der Städte (zum Beispiel je höher die Wohngebäude in Westdeutsch-
land, desto höher der Anteil der MmM) spiegelnde Zugehörigkeitsverhältnisse,
Gesetze, Regelungen und administrative Maßnahmen, „kurz: Gesagtes ebenso-
wohl wie Ungesagtes“ (Foucault 1978: 120). Gemeinsam ist diesem „entschie-
den heterogenen Ensemble“ (ebd.), dass es als Effekt ein bestimmtes Verständ-
nis der eigenen Zugehörigkeit, ein bestimmtes Welt- und Selbstverhältnis kons-
tituiert. Die strategische Funktion dieses Dispositivs besteht in einer differentiel-
len Identifizierung, sowohl einer epistemischen als auch einer – so könnte man
‘unfoucaultianisch’ sagen – libidinösen Operation, die Grundlage des von kei-
nem Plan ausgearbeiteten Verwaltens der Körper und Biografien ist. Und sie
besteht darin, trotz einer allseitigen Rhetorik universalistischer Ethik und Rechte
die faktische Systematik und Methodik (materiell und symbolisch) ungleicher
68 Paul Mecheril und Bernhard Rigelsky
4
Das interaktive Geschehen im Projektunterricht wurde bezogen auf Prozesse der Aushandlung
von Zugehörigkeit untersucht. Datengrundlage der Untersuchung waren Beobachtungsprotokol-
le sowie Interviews mit den beteiligten AkteurInnen (vgl. Kroeger/Mecheril 2004).
5
Bei den acht in diesem Sammelband vorgestellten Geschichten handelt es sich um auf Inter-
views basierende biografische Texte über Erfahrungen von Menschen, die biografisch mit dem
Umstand ‘Migration’ assoziiert sind und in Deutschland leben (Mecheril 1996).
70 Paul Mecheril und Bernhard Rigelsky
Sie bekommt „Komplexe“, ja trägt sogar den Gedanken an „Mord“ in sich (da-
bei bleibt unklar, ob sie Selbstmord meint – zumindest in der Kombination mit
„Komplexen“ scheint diese Interpretation nicht unplausibel) und würde „lieber
ein Schwein heiraten“, als nach den Regeln und Vorschriften dieser Gruppe
leben zu müssen. Entsprechend positiv konstruiert Pinar das Bild der zweiten
Gruppe, der unter anderem die deutschen Mädchen angehören. Während sie die
erste Gruppe als „streng-religiös“ charakterisiert, spricht sie dieser Gruppe die
Charakteristika „frei-demokratisch“ zu. Diese Eigenschaften sieht Pinar eindeu-
tig als erstrebenswert an: „Türkische Mädchen sollten sich frei machen, sollten
leben wie deutsche Mädchen“.
Wir bezeichnen dieses System von Zugehörigkeitszuschreibungen als ‘di-
chotom’, da Pinar zwei Gruppen konstruiert, die sich gegenüberstehen: Entwe-
der gehört man der einen oder aber der anderen Gruppe an – nach dieser Kons-
truktion sind beispielsweise Mehrfachzugehörigkeiten, Schattierungen und Gra-
de der Zugehörigkeit nicht möglich. Als ‘reduktionistisch’ beschreiben wir das
System, weil Pinar beide Gruppen auf wenige charakteristische Eigenschaften
reduziert, die sich gegenseitig ausschließen: streng versus frei, religiös versus
religionsfrei.
Neben diesem Ordnungssystem wird in Pinars Beitrag noch ein zweites
Schema der Unterscheidung ersichtlich, das mit den Kategorien ‘Kollektiv’ und
‘Individuum’ operiert. Im Zentrum dieses Systems von Zugehörigkeitszuschrei-
bung steht der Begriff ‘Freiheit’, den Pinar häufiger in ihrer Erzählung verwen-
det: Als Individuum besteht Pinar auf ihren persönlichen Freiheiten, die vorran-
gig darin bestehen, etwas alleine zu unternehmen und „Weiblichkeit zu zeigen“
– diese Freiheiten werden jedoch von unterschiedlichen kollektiven Rahmungen
beschnitten: Familie, Religion, türkische community. Insofern verläuft dieses
Sortiersystem zum Teil quer zum ersten System: denn auch die von Pinar als
„frei“ charakterisierte Gruppe stellt ein restringierendes Kollektiv dar.
Die diskursive und nicht-diskursive Wissens-Melange, die ein Ausländer-
dispositiv ausmacht, wirkt strukturierend auf die durch die Lektüre der Schilde-
rungen von Aye Yilmaz und dem pädagogischen Rahmen des Sprechens über
Zugehörigkeitserfahrungen ermöglichten Selbst- und Weltdarstellungen von
Pinar. Entweder ist man frei und nicht-ausländisch oder gehemmt und gefangen
in all dem, was ein Leben als Ausländerin ausmacht. Das ‘Ausländer’ komple-
mentierende Andere, ‘Nicht-Ausländer’, wird von Pinar verknüpft mit einem
Leben, das sich frei, demokratisch, allein und ungebunden von starren familiä-
ren und anderen sozialen Restriktionen gestalten lässt. Das türkische Ausland,
das durch Pinars Erzählung und das gesamte Arrangement ins ‘Inland’ geholte
‘Ausland’, die türkisch-ausländischen Elemente werden eindeutig negativ kono-
tiert. Innerhalb des dichotomen Schemas wird mit zum Teil drastischen Begrif-
72 Paul Mecheril und Bernhard Rigelsky
fen wie ‘Mord’, ‘Komplexe’, ‘Schwein’, ‘streng’ oder ‘unfrei’ eine unmissver-
ständliche Abwertung der Daseinsform ‘Ausländer’ vorgenommen. Diskursive
und nicht-diskursive Informationen, Erfahrenes, reduktionistisches Alltagswis-
sen, Gesagtes, nichtverbal Kommuniziertes etc. fließen ineinander und erzeugen
ein System separierter und bipolar organisierter Zugehörigkeiten, in denen den
Zugehörigkeitspolen eindeutige Wertungen, Maße der Anerkennung, der Wür-
de, der Lebbarkeit und Attraktivität zugewiesen sind.
Während Pinar durch die beiden Ordnungssysteme ihrem alltäglichen Le-
benskontext eine Struktur, der Alltagswelt einen Sinn gibt, der insofern ein
sozialer Sinn ist als er eine soziale Herkunft hat und kommunikativ anschlussfä-
hig und plausibilisierbar ist, geht es in einem zweiten Schritt in Pinars Erzäh-
lung darum, wie sie sich selbst verortet, zu was/wem sie sich zugehörig erklärt,
welche Zugehörigkeiten sie in Bezug auf ihre eigene Person konstruiert. Wie
artikuliert Pinar in diesen Ordnungssystemen ihre eigenen Zugehörigkeiten?
Schon die Einordnung ihres engeren Familienkontextes, ihrer Eltern, in die
kontrastierten Zugehörigkeitssysteme erscheint nicht unproblematisch. Denn
Pinar charakterisiert ihre Eltern als „demokratisch“, die sie gleichwohl mit ein-
schränkenden Regeln und „Sprüchen“ konfrontieren. Durch die Charakterisie-
rung ihrer Eltern als „demokratisch“, setzt Pinar ihre Eltern von ihren traditio-
nell denkenden Verwandten in der Türkei als aufgeklärter, moderner denkend
ab. Doch schon die Kombination ‘demokratisch – religiös’ sprengt die Grenzen
des hier relevanten oppositionell konstruierten Sortiersystems. Eindeutig un-
möglich wird die einfache Zuordnung ihrer Eltern zu einer der beiden Gruppen,
wenn sie trotz „demokratischer” Einstellung „Regeln” aufstellen oder Pinar
gegenüber „Sprüche” machen (was genau die „Sprüche” zum Inhalt haben,
bleibt unklar). Pinar vermengt hier Probleme, die charakteristisch für Generatio-
nenkonflikte sind, mit kulturellen Vorstellungen, die sie ihren Eltern zuschreibt.
Ihre Darstellung der Differenzen und Probleme zu bzw. mit ihren Eltern kann
daher als kulturalisierend beschrieben werden. Die Ursachen für Unterschiede
werden nicht in den unterschiedlichen konjunktiven Erfahrungsräumen der
Generationen (vgl. Mannheim 1980) gesucht, denen Pinar bzw. ihre Eltern an-
gehören, sondern vielmehr werden kulturelle Zugehörigkeit (hier vor allem
religiöse Einstellungen) als ursächlich angesehen. Die Konstruktivität kulturali-
sierender Erklärungsmuster wird hierbei daran ersichtlich, dass Pinar das
Hauptargument, die religiöse Zugehörigkeit ihrer Eltern, etwas später wieder
relativiert, indem sie Religion als „gut“ beschreibt, die sie „respektiert“.
Gleichwohl bleibt das kulturalisierende Argument wirkungsmächtig, was auch
durch die anschließenden Reaktionen der Mitschüler bestätigt wird. Verantwort-
lich für den Konflikt wird „Kultur und Religion“ (der Eltern) gemacht.
Nationaler Notstand, Ausländerdispositiv 73
6
Dabei haben die Jugendlichen den Faden von Pinars Argumentation durchaus in einer ersten
Reaktion auf ihre Geschichte aufgenommen. Ihre geschilderten Erfahrungen werden jenseits na-
tionaler Zugehörigkeit auf ‘individuelle Entscheidungen’ der Eltern bezogen. Wir sehen in sol-
chen Hinweisen wichtige Anknüpfungspunkte für eine zwar differenzbezogene, gleichwohl im
Hinblick auf ‘ethnische Interpretationen’ zurückhaltende Pädagogik.
76 Paul Mecheril und Bernhard Rigelsky
7
Isabell Diehm und Frank-Olaf Radtke (1999: 127) weisen darauf hin, dass die Kategorie ‘Aus-
länderpädagogik’ letztlich erst in der Kritik an der Ausländerpädagogik entsteht: „Die systema-
tische Beschreibung der `Ausländerpädagogik´ selbst war bis auf wenige Ausnahmen motiviert
durch die Absicht, sie als pädagogische Praxis zu überwinden. Ihre Konstitution als Gegenstand
der Beobachtung und Reflexion begann mit dem Versuch, sie zu überwinden.“
Nationaler Notstand, Ausländerdispositiv 77
In dieser historischen Situation wollen wir am Ende dieses Textes den Ausdruck
Ausländerpädagogik unter einem anderen Blickwinkel als Instrument der Ana-
lyse und der Kritik wieder einführen, ‘resignifizieren’, wenn man so will.8 Eine
Gesellschaft, in der die informellen und formellen Praxen der Konstruktion des
ausländischen Anderen nach wie vor von großer Bedeutung sind, bedarf einer
‘Ausländerpädagogik’. Diese Pädagogik hat nun aber nicht die assimilativ för-
dernde Behandlung der Zielgruppe der Innen-‘AusländerIn’ im Blick, ihr
kommt es vielmehr darauf an, die Kritik an der Unterscheidung von ‘Ausländer’
und ‘Nicht-Ausländer’ so zum Ausgangspunkt pädagogischer Einwirkung zu
machen, dass diese Bedingungen der Möglichkeit würdevollen Handelns von in
der deutschen Migrationsgesellschaft als natio-ethno-kulturelle Andere gelten-
den Personen (AusländerInnen) stärkt und vielleicht sogar schafft. Die be-
schwichtigende Vokabel MmM lenkt von dem Umstand ab, dass die deutsche
Migrationsgesellschaft AusländerInnen kulturell produziert, also eine Position,
die prekäre Zugehörigkeit subjektiv und intersubjektiv mit dem natio-ethno-
kulturellen Zugehörigkeitsstatus assoziiert: Ich bin nicht fragloses Mitglied im
natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitskontext Deutschland, bin nicht fraglos in
diesem Handlungsraum wirksam sowie nicht fraglos biographisch und histori-
sierend an den Kontext gebunden und diese relevante Nicht-Fraglosigkeit ist mit
meinem natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsstatus assoziiert (vgl. ausführlich
Mecheril 2003, insbesondere Kap. IV und VI).
Einer ‘Ausländerpädagogik’ geht es um die Analyse und Kritik der formel-
len und informellen Prozesse, der interaktiven Praxen und institutionellen Me-
chanismen, die ‘Ausländer’ als gesellschaftlichen Typ hervorbringen. Im Hinb-
lick auf diese ‘ausländerpädagogische’ Leitlinie können zumindest drei Kritik-
perspektiven unterschieden werden:
Diese dreigliedrige Kritik kann als die erste Maxime der Ausrichtung verstan-
den werden, die wir hier ‘Ausländerpädagogik’ nennen. Die kritische Analyse
8
Methodisch und erkenntnispolitisch plädieren wir für eine kontextsensible Verwendung von
Begriffen: ‘Jede Zeit verdient ihre eigene Kritik’ – auch semantisch.
78 Paul Mecheril und Bernhard Rigelsky
Literatur
Both Canada and Germany are multi-cultural societies, but with different ap-
proaches to this reality.2 In this chapter, I explore the question of how young
people understand and define their social positions, and how much the process is
influenced by the societies they live in. I use material from a qualitative research
project in one German and one Canadian secondary school. Young people with
and without migrant backgrounds3 shared their experiences and analyses with
me, discussing issues of belonging on a number of levels. Drawing on some of
these discussions, I seek to show if and how structural differences on the nation-
state level materialise in the way participants reproduce different discourses on
‘national’ belonging. Statements of the Canadian participants are central here,
and complemented by the comparative perspective of their German counter-
parts.
1
I would like to thank the young people who kindly shared their knowledge, experiences and
time with me, and the teachers and staff at both schools involved in the project. I extend my
thanks to the University of Bremen, the Gesellschaft für Kanada-Studien, the European Net-
work for Canadian Studies and the International Council for Canadian Studies for their gener-
ous support. Last but not least, I thank J. Seipel for her critical comments.
2
In Germany, young people of migrant background make up one-third of all young people, and
40 per cent of the 15-year-olds in the Western German city-states (Boos-Nünning/Karakaolu
2005: 11).
3
This term describes young people who migrated themselves or whose parents or grandparents
migrated across nation-state borders. As I show in this paper, it is closely linked to German
ideas and practices of belonging and citizenship, where so-called 3rd generation immigrants are
still considered ‘foreign’.
82 Irina Schmitt
Socio-political settings influence the roles ascribed to youth and young people
within societies. Hébert points out that:
[youth] then are viewed as objects of enculturation in which they have little to say about being
heavily socialized as members of a particular cultural group. In short, this bulldozer approach
to enculturation leaves no room for agency, free will, or autonomy. A cultural theory of social
relations, on the other hand, is linked to democratic conceptions of citizenship from which
flows a principle of equality as sameness. (Hébert 2005: 105)
How, then, do young people describe their place within societies? One basis for
comparing the self-positionings of Canadian and German young people is the
distinctly different political culture of each society. While both Canada and
Germany are federal democracies with a long history of immigration, the con-
cepts used to make sense of this plurality are remarkably different
(Motte/Ohliger/Oswald 1999). Canada differs from Germany especially because
of the Policy of multiculturalism that was introduced in 1971, following strug-
gles between Québec and the federal government in Ottawa (Harzig 2004: 241-
255; Schmitt 2002: 40-61). At the same time, other state-sanctioned strategies of
discrimination such as homophobia were addressed. Since its instigation, the
Policy has been regularly revised; part of the revision process has been a more
informed interest in multiple marginalisations. However, during the 1990s there
have been severe cuts in funding, which have especially affected regular activi-
ties financed though of the multiculturalism programs. Also, some critics argue
that the Policy is based on an essentialising notion of identity and group belong-
ing focusing on ‘heritage’ (Juteau 1997: 97-8; Bannerji 2000: 65).
In Germany, on the other hand, the reality of a multi- or even transcultural
society is mainly discussed against a background of the notion of the ‘integra-
tion’ of immigrants, and multiculturalism as a policy concept has not been en-
gaged in a substantial way.4 Only recently has it become possible to speak about
Germany as a society of immigration (Einwanderungsland). In particular, the
refusal of so-called ‘guest workers’ to return to their countries of origin follow-
ing the recruitment ban of the 1970s necessitated a critical re-conceptualisation
of German society.
Plurality was and is considered problematic or at best exotic, and German
approaches to multiculturalism never gained the force of the Canadian govern-
ment initiative. Today, both conservatives and liberals are sceptical of the con-
cept. On the other hand, younger people with migrant backgrounds especially
4
On multiculturalism as a philosophy, political concept and social praxis, see Hoerder (1995:
61).
“It’s just a name”? 83
criticise the implicit and explicit practices of exclusion in German society, and
point out that the power of definition still lies with the so-called majority
(Kanak Attak 1998). Current debates demonstrate the need for re-
conceptualisations of ‘German-ness’ as well as the extreme difficulty of finding
such a new definition. Scholars with migrant backgrounds in particular have
taken up the task of translating postcolonial theories into the German context, in
order to understand the continuity of such debates (Steyerl/Gutiérrez Rodríguez
2003).5 Similarly, queer theory is engaged in approaching issues of inclusion
and exclusion not only regarding gender and sexuality, but also analysing struc-
tures of exclusion that refer to essentialising notions of ethnicity (see e.g.
Haschemi Yekani/Michaelis 2005: 7-16; El-Tayeb 2003).
Another noteworthy aspect is that while the differences between the Cana-
dian and the German school system explain some of the differences in school
careers of students of migrant backgrounds, Davies points out that the Canadian
comprehensive school system is not free of inequalities (Davies 2004: 174ff).
As in Germany, Canadian students depend on their own and their parents’ or
guardians’ abilities to create specific social and cultural capital (Hébert 2005:
107-108). Socio-economic position is far more relevant in determining educa-
tional success than gender or ethno-cultural belonging.6 The significant ‘excep-
tion’ is students of First Nation background, who as a group are strongly stereo-
typed according to racialised characteristics (Davies 2004: 173-174).7 In Ger-
many, migrant background – not citizenship status – and socio-economic status
are still decisive in the transition from primary to secondary school (Go-
molla/Radtke 2002: 219-253).8 Also, children of migrant background make up a
significant proportion of students at schools for children with learning disabili-
ties (Powell/Wagner 2001).
5
This leads to another issue: especially within feminist postcolonial and intersectional debates,
we are rightfully reminded that theorists of colour and migrant theorists are often cited as writ-
ing about the specific rather than being read as analysing issues of general importance. This is
often done by specific practises of citation. By pointing out that migrant theorists are the avant-
garde of postcolonial theoretical and activist work in Germany, I wish to point to another,
though related, aspect: that mainstream/non-migrant theorists tend to take fewer academic risks.
6
I thank Yvonne Hébert for valuable comments regarding recent changes in the landscape of
schooling.
7
There is an aspect of ethno-cultural stratification that is not adequately presented here. Canadi-
ans belonging to the First Nations generally are discriminated against and disadvantaged (Bat-
tiste/Semaganis 2002: 109).
8
The debate on how socio-economic status and migrant background interrelate is important.
Modood writes about the ‘counter-intuitive’ relation between scholastic overachievement of
non-white British students and their ethno-cultural and socio-economic position in society (Mo-
dood 2005: 190).
84 Irina Schmitt
Differences in the school systems and policies are illuminating when read as ex-
pressions of nation-state approaches to the inclusion of different social groups. For
example, in Germany as well as in Canada, schools’ and students’ lack of success
is often an indicator of high unemployment and regional as well as individual pov-
erty.9
During the school year 2004-05, I participated in the everyday life of a secon-
dary school in a Northern German city. Here, young people from age 12 to 17
(grades 7 to 9) took part in the project. The German school was ‘semi-
comprehensive’, with the three most common types of education in the same
building (Schulzentrum), as well as classrooms for children with (learning) dis-
abilities, and regular shared ‘project’ periods. In spring 2005, I also visited a
Junior High School in a western Canadian city. Due to the relatively short time I
could spend in Canada, the project was restricted to a smaller group of grade 8
students.
While established ethnographic methods, including face-to-face interviews,
focus groups, participant observation and a field diary, were central to the pro-
ject, an open questionnaire, drawings and, in the case of the German school,
tape and photo diaries, complemented them. The aim was to offer the partici-
pants a number of methods; ideally, they would participate in all the different
stages of the process, but they were free to choose the approaches most interest-
ing and acceptable to them. In both schools, participation was voluntary. Also, I
took a number of measures to try to de-centre the power relationship between
the young participants and myself as an adult researcher. For example, partici-
pants could decide to turn off the mini-disc recorder used during our talks, and
were encouraged to ask their own questions at any time during the project. In
both schools, I was welcomed into the staff room during the times when I was
9
Choosing Canada and Germany as sites for comparison reflects a recent debate: While in Can-
ada, and especially the province in which the research took place, students performed very well
in the international PISA study, students in the German Bundesland chosen for the research are
ranked low nationally and internationally (e.g. OECD 2003). One outcome of PISA is the
knowledge that the German school system re-/produces social stratifications, and that children
of migrant background are often disenfranchised at a very early age. In Germany as well as in
Canada, the PISA results differed widely between the regions. In Canada, especially the poorer
Atlantic provinces ranged below the national average. The German school involved in this re-
search project was situated in one of the poorer regions with high unemployment and poor PISA
results.
“It’s just a name”? 85
not meeting students. This gave me the opportunity to be a part of the ‘adult
world’ of the schools as well.10
In our meetings, students discussed the role of their (parental) homes, their
peers, and school in their lives. In the focus group meetings in particular, the
influence of gender in their self-positionings and the way these young people
conceptualised ethno-cultural and national belonging were central to our discus-
sions. The analysis of the data focuses on the discourses the participants used to
discuss and describe their own positions.
Youths appear, but as potential adults rather than in their own right. (Amit-Talai 1995: 224)
How could young people appear in the project ‘in their own right’? Research
methodology is never simply a set of interchangeable tools. It is always a reflec-
tion of intrinsic (theory, academic disciplines, individual knowledge) and extrin-
sic (ethics process, time, resources) factors. Here, I will briefly outline the ra-
tional behind the methodology used in this research.
From the outset, it was clear that I would choose the methods of data col-
lection from similar projects in Hamburg and London (Back/Räthzel/Hierony-
mus 2008), and Calgary (Hébert 2005). From a large set of methods developed
in those projects that focused on visual and audio techniques, I chose those most
useful for my research, and adapted them to the project. The methods were de-
signed to allow participants to define their own key identifying aspects as much
as possible.
Mecheril reminds us that a research strategy that focuses exclusively on
youth with migrant backgrounds could re-produce processes of ethnification
(2003: 9-13; Mecheril/Scherschel/Schrödter 2003). Ethnification processes are
tangible especially in German but also to a certain extent in Canadian society.
Therefore, I decided against pre-set categories of participants. The aim was to
analyse how young people produce and perform their own belonging, without
fixing the categories of identification beforehand.
The usefulness of combining a number of data collection methods became
evident on three levels. Firstly, during the research process, some methods were
used to support others. For example, the drawings produced by the students
were used as a basis for the face-to-face interviews. Secondly, some of the
young people deliberately decided against some of the methods and adapted the
process to their own needs. Some might consider this letting go of a well-
structured research plan chaotic; in the context of this research it transferred
10
Ca. 110 students took part in the project; they completed 93 questionnaires and 85 drawings,
participated in 62 interviews and 17 focus group discussions, and recorded 32 photo and cas-
sette diaries; this is complemented by three research diaries.
86 Irina Schmitt
some of the power inherent in such a project to the participants. Thirdly and
most importantly, these ethical concerns are also of value in terms of the pro-
duction of material and knowledge. As the participants knew that they could
influence the research process, they not only trusted the researcher with the
information ascertained through direct questions, but also let me be part of their
networks, thus presenting as well as discussing their opinions and decisions with
me. On the level of analysis, the different positions presented by the participants
together form a complex narrative.
On the following pages, I present passages from interviews and group
meetings. They point to one significant aspect, the conceptualisations of ‘na-
tional identities’ or national belonging as more or less inclusive of citizens of
migrant background. Many factors are important to understand how belonging –
to groups, networks or states – is constructed, and to focus on any single aspect
means to leave out important influences and explanations. However, this com-
partmentalisation might be excused for the sake of analysis and presentation.
In this statement, Kay expressed her wish to integrate Canadian and Chinese
models of identification. The way she phrased it, she has some choice in decid-
ing just how important being Chinese or being Canadian is for her. Chinese
culture, in her view, provides her with traditions and material culture, as well as
a set of values. When asked about what exactly she meant by values, she spoke
about her mother’s rules regarding her education.
11
All names are pseudonyms chosen by the participants. The cities are called G-Town (in Ger-
many) and C-Town (in Canada). Short transcription guidelines: ‘–’ = short pause; Weird =
strong emphasis; /laughs/, /noise/, /rustle/ = non-verbal occurrence; @do your schoolwork@ =
words spoken laughing.
“It’s just a name”? 87
Kay: Well the Canadians are just, like, the freedom part of, how the freedom, think
whatever you should think and be – who you are, and Chinese – like – @do
your schoolwork@ do like and be true to your family. Yeah.
Researcher: Yeah. Does that ever like are there ever situations when that clashes? (…)
Kay: Ya, there are some times when it clashes. Like, like, for example education
and freedom. Like, ya and so – like, you have, like, both I think Canadian and,
like, Chinese ‘follow what your parents say’. Like, because you should have,
like, respect for them, after all they are your parents. And so I have to follow
that one when that clashes. So I have to follow my mum and she says educa-
tion. So I have to, like, do that.
12
Dyson notes that recent young Chinese immigrants to Canada follow their parents in their high
aspirations in education, and critically reflects on research regarding the effects of discrepancies
between Chinese and Canadian cultures (2005: 50-51).
88 Irina Schmitt
Kay: I go to China Town. Well, my mum has a shop down there, so I don’t go down
there to be in China Town, but I have to go there to, like, volunteer there.
Researcher: Uh.
Kay: Yeah, I volunteer [in] a shop.
Researcher: what kind of shop is that?
Kay: It’s like a silk flower shop, and it sells many flowers and like the lottery and
stuff.
Researcher: Uh huh, alright, and how do you like that?
Kay: I, well, yeah, it’s nice to be around like your Chinese culture and like, like
once you’re in school, and out in this community, you don’t see much of it,
and so when you’re down there, like you’re reminded of, of – of your culture I
guess.
For Kay, going to China Town is not mainly about spending her free time there,
rather it is a task – she has to help in her mother’s shop. My question –“how do
you like that?” – was referring to her helping in the shop. However, in her reply
Kay explains that going to China Town reminds her of what she regards as an
important part of her cultural belonging. Interestingly, at this point in our con-
versation she changed to a more indirect way of speaking, making her statement
at once more general and less personal than other statements she made in the
interview: if any Chinese-Canadian person goes to China Town, they will be
reminded of their culture.
Her hesitation in phrasing her sentence at this point might have been due to
the fact that she has to help her mother in her shop, her doubts about my know-
ledge of Chinese-Canadian culture, or because she felt she was expected to
apply a certain terminology in the interview situation.13 Looking for the correct
words to describe exactly what China Town reminds her of, she chose ‘culture’.
That she chose that term might serve as an indicator of her personal understand-
ing of the role of cultural belonging within the framework of (multi-) culture in
Canada. In this context, ‘cultural difference’ is not necessarily a marker of sub-
altern status. On the other hand, it might refer to the ways that culture and mul-
ticulturalism are used to define groups and individuals in Canada, easy if not
always accurate markers. Kay qualified this reference by saying “I guess”; by
doing so she questioned the use of the concept of culture. In her earlier remarks
she had mainly used ‘values’ and ‘value systems’ to describe the differences she
experienced.
In the disputes with her mother, the opposition of values was given an ad-
ditional quality when she described the different opinions linked to generational
difference. Therefore, I asked her about her mother’s motives for coming to
Canada:
13
In our talk, I had introduced the topic of ‘being Chinese’ following Kay’s statement in the
questionnaire that she was Chinese, not as an ascription based on her features or her name.
“It’s just a name”? 89
Researcher: Do you know why she moved? Does she talk about that?
Kay: Why she moved? Well I think – yes, do you think I know what happened?
Well okay, like my great-grandfather, he worked in the Pacific, Canadian Pa-
cific Railway
Researcher: Ah!
Kay: Yeah, and so then, like, his vision was to bring his entire family to Canada for,
like, more, for more opportunities, to like work in [a] new land, to start, like,
to start life sort of, like, renewed. And so then, like, he was working there and
so he, like, [unclear] all my family to Canada. And so, I don’t think she really
had a choice, but I don’t think she, like, really denied it, either, and so she was,
like, okay, let’s go.
In telling this story, Kay established the interrelation of her family’s history in
the larger framework of Canadian history. Her great-grandfather had worked at
the Canadian Pacific Railway (CPR) and later realised his “vision” of bringing
the entire family to Canada. Today, most members of the family live in Canada,
some in the U.S., and only one cousin returned to China. The construction of the
CPR is one of the founding myths of the Canadian nation-state, as the railway
was built to connect European settlements East and West of the continent. It
allowed the transportation of people and goods, and was the central means for
further expansion as well as another means for Canadian national distinction
from the U.S. (Harzig 2004: 100f.). Over the last few decades, and officially
instigated through the multiculturalism policy, Canadian history has been re-
written to represent the contributions of non-Anglo- and non-Franco-Canadian
immigrants to the nation-building process. Kay’s story shows the importance of
this re-writing: a re-evaluation of one of the key national myths means that the
story of the CPR has also become the story of the Chinese workers who built
it.14
While for her mother, coming to Canada had not been her own choice, Kay
was able to speak of her social position by simple reference to what she knows
is general knowledge. Because of her grandfather, Kay can tell her family’s
story as a story of belonging to Canadian society. The importance lies not in the
facts of the family (hi)story, but in Kay’s telling of her family’s story as part of
the larger narrative. By referring to Canadian iconography, she relies on the
evocative quality of the history in which she situates her family.
14
Chinese presence in Canada has been recorded since 1788; today, history books and websites
represent Chinese-Canadian history (Li 1998). However, Harzig remarks that the recognition of
the Chinese railway workers is still erratic (2004: 90).
90 Irina Schmitt
Statements by participants in the German school visited for this research project
pointed to the tendency in dominant perceptions to exclude people of migrant
background from the concept of German-ness. Arsu, a 12-year-old grade 7 girl
who was born in Germany and whose parents emigrated from Turkey, was criti-
cal about the way she is positioned in German society. In our meetings, she
presented herself as confident and lively. She made the following statement
during a focus group meeting, where she vividly discussed her opinion with
three friends.
Also ich kapier eins nicht, zum Beispiel wenn meine Eltern in der Türkei geboren wurden (...)
und wir wachsen hier auf, und das ist in, also in Deutschland sind wir aufgewachsen, und un-
sere Eltern nicht, deswegen, wegen unseren Eltern werden wir Ausländer ...
(There is one thing I don’t get, for example if my parents were born in Turkey (...) and we
grow up here, and that is in, well, in Germany we grew up, and our parents didn’t, therefore,
because of our parents we become foreigners ...) 15
Arsu’s questions about cultural belonging in German society were aimed at the
very heart of the social framework, when she questioned the tradition of ius
sanguinis (principle of blood, or descent) that renders her and many of her peers
‘foreigners’ (Ausländer). The term Ausländer is still widely used, regardless of
actual citizenship status, and is generally ascribed to people who ‘look foreign’,
as many participants in the project explained. Arsu de-essentialised common
notions of belonging by stating that she and others “become foreign” (“werden
wir Ausländer”). To point to the processuality of (not) belonging is an important
assertion that exposes the way that social positions are ascribed and constructed.
Arsu considers her exclusion from German-ness illogical. Opening her debate
almost rhetorically with “There is one thing I don’t get” Arsu indicates her sin-
cere interest in the issue as well as her irritation with the position ascribed to
her. She also highlights her rejection of the rationale that denies her access to
full membership in German society, beyond the legalistic aspect of citizenship.16
Current understandings of German history do not – yet – allow her to tie her
personal story to the dominant narrative. By applying this legalistic line of rea-
soning, she claims a position within the German social framework, from where
she can critique existing norms and rules. By her own definition, she belongs to
German society, even if this society fails to fully recognise her, making her
criticism of structural exclusion all the more poignant. This structural exclusion
15
Author’s translations.
16
See for example Motte/Ohliger (2004) for a re-writing of German history. Official narratives
still adhere to traditional understandings of German-ness and belonging.
“It’s just a name”? 91
is, as other participants pointed out, paired with the more blatant performance of
ascription of non-belonging. While explicit racism or ethno-cultural bias in the
school context was not discussed by the Canadian participants, students in the
German setting spoke of two incidents in which their ethno-cultural background
was used for negative ascription by teachers.
Alex, another grade 7 student of migrant background, is strong minded,
eloquent and has a keen sense of irony and humour. She speaks a number of
languages at home, and during the research regularly demonstrated her ability to
switch languages and codes. She spoke of an influential exchange with a tea-
cher:
Ja, die labern so Alter, sagt sie zu mir, wie heißt die Frau (…) halt irgendwie so, was meint sie
zu mir? „Du kannst kein Deutsch“ (...) mein Vater stand neben-neben mir, ich, ich guck sie so
an, ich so „wie bitte? Ich kann kein Deutsch?“ Sie so „Nö, du kannst kein Deutsch!“ Ich so ja
„OK, dann kann“, ich so voll fett mit Kaugummi so, ja „OK, dann kann ich halt nich, ne?“
Vater guckt mich so an, (...) mein Vater meint so, „Doooch, sie kann Deutsch!“ Dann meint
sie, „Jaa, aber sie ist ’ne Ausländerin, sie kann nicht so gut Deutsch“ (...) und letztens, immer
wenn ich sie gesehn hab hatte ich immer Sprachfehler!
(Yeah, they babble, man, she tells me, what’s that woman’s name? (…) Well anyway, what
did she tell me? “You cannot speak German” (…) My father was standing next-next to me,
and I look at her, “I beg your pardon? I cannot speak German?” She said, “Nope, you cannot
speak German!” I was “Okay, then”, totally phat, with chewing gum so, “okay, then I can’t,
can I?” Father looks at me, (…) my father says, “Yeeees, she can speak German!” Then she
says, “Yes, but she’s a foreigner, she cannot speak German so well” (…) and recently, when-
ever I saw her I always had a language problem!)
Alex’s account of this teacher’s assumption that, as a foreigner, she would al-
ways lack language competence, seemed at first, rather shocking. On second
thoughts, it merely reflects current discourses of generalised language insuffi-
ciencies (Schmitt 2005). While I assume that most teachers do not intend to be
racist, Alex’s account of this incident shows the force that such ascriptions can
have.
Interestingly, it was not the teacher’s ascription of foreign-ness that irri-
tated Alex, and she described herself as a ”proud foreigner”in another situation.
What she finds absurd is the assumption that her language ability is insufficient
because of her migrant background. Her way to handle the situation was to
perform what she perceived to be a typical ‘foreigner’ persona: she acted decid-
edly ‘cool’, chewing gum and ironically agreeing with the teacher. However,
this pattern remained active, and whenever she saw the teacher afterwards, she
was unable to use correct grammar. Her use of a stereotyped presentation was
no longer a choice, driven by her sense of irony, but an involuntary reaction to
the teacher’s assumption.
92 Irina Schmitt
In a group meeting at the Canadian school, Reno, Tannis, and Isabel discussed
their concepts of national belonging. The students enjoyed the group setting and
took the discussion into their own hands many times during the meeting. The
girls, Tannis and Isabel, are both outspoken and eloquent. In an earlier inter-
view, Isabel had expressed strong moral values and beliefs. Reno’s parents both
had migration experiences, and his father lived in the U.S. at the time of the
research. He expressed a liberal position on a number of issues. All three stu-
dents were born in Canada. Taking up my question of what ‘Canadian’ means
for them, they debated the concept:
Isabel: It’s just a name.
Tannis: Yeah, I mean, like, to be Canadian
Reno: What kind of question is this?
Tannis: like /commotion, Isabel tries to speak at the same time/ like, being Canadian
isn’t like a religion or something; like being Canadian means you live some-
place where you /commotion, Isabel, Tannis, and Reno speaking at the same
time/ (…)
Isabel: You may have more freedom
Tannis: yeah yeah
Isabel: a horrible government that commits huge scandals on you, but other than that,
I think it’s fun.
Tannis: It’s amazing
Isabel: I know.
Researcher: But isn’t that an answer to my question, you’re saying it’s not really that rele-
vant apart from the fact that you live here.
Reno: But, who cares? We live here.
Isabel: Yeah.
This debate went on, and the students discussed the more commonly deployed
icons of Canadian-ness, like Molson’s beer and unity, ending this thread of the
discussion with a fit of hilarity.17 The students criticised my apparent interest in
defining Canadian-ness; my question regarding national or cultural belonging is
superfluous in their eyes. As the conversation went on, they discussed Cana-
dian-ness in the comparison with the U.S., which is seen as much more impor-
tant in defining ‘national’ belonging. Isabel’s ironic statement about recent po-
litical scandals showed her scepticism about the then liberal federal govern-
ment’s competence.
17
The reference to Molson’s beer is partly due to an advertising campaign in the early 1990’s run
by the company to market a beer called ‘Canadian’. In this ad, a young white man enters a huge
stage and speaks emphatically about being Canadian – as opposed to U.S. American – and ends
with “My name is Joe. I am Canadian”. The examples used in this advert have become part of
general discourse of what it means to be Canadian.
“It’s just a name”? 93
The students explained that for them, being Canadian has more to do with prac-
tical aspects – “you live someplace” – than an identity trait or greater influence,
like religious belonging, would be. Other students supported this position. For
these students, belonging on a national level is defined by the mere fact of loca-
tion as well as by the possibility to take it for granted as a positive yet unobtru-
sive framework. The need to define belonging on an ethno-cultural level did not
occur to them, and the question was therefore irrelevant.
20
However, the homepage of the German Ministry of the Interior has a section on immigration
that states: “Immigration has history – immigration happens now – immigration is the future”
(http://www.zuwanderung.de/). This presentation might indicate changes in political discourse,
yet ‘integration’ into German society – not re-conceptualization of German-ness – is still cen-
tral.
“It’s just a name”? 95
weakened civil liberties and, predictably, “refugees and immigrants are the
hardest hit” (O’Neill 2004: 4). In Canada, nationalistic symbolism and discourse
is growing more fervent, and in Germany debates on how the loyalty of citizen-
ship applicants can be tested have attracted a great deal of media attention. In
both Germany (2005) and Canada (2006 and 2008), governments led by conser-
vatives were elected. Future research might show how these changes are influ-
encing public discourses and individual strategies of self-positioning and be-
longing.
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96 Irina Schmitt
Verspätet und nur sehr zögerlich hat die Bundesrepublik begonnen, sich selbst
als Einwanderungsgesellschaft zu verstehen. Wenngleich sich die Realität nach
mehr als vierzig Jahren verstetigter Immigration schon lange verändert hatte,
vollzog sich erst mit der Novellierung des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr
2000 ein Wechsel auf der politischen Ebene. Der heterogen gewordenen Gesell-
schaft wurde halbherzig Rechnung getragen, indem „dem ethno-nationalen
Abstammungsprinzip ein jus soli an die Seite“ gestellt wurde (Mannitz 2003:
152). Doch trotz der politischen Reformansätze ist die bundesrepublikanische
Gesellschaft realiter weit davon entfernt, ihr Selbstverständnis zu modernisie-
ren. Zugehörigkeit wird weiterhin vorrangig über die Herkunft (im Zweifelsfall
die Herkunft der Großeltern) definiert und die Normalvorstellung darüber, was
eine Deutsche/ein Deutscher ist, lässt wenig Spielraum. Diese hegemoniale
Selbstdefinition ist mit einem engen, homogenisierenden und statischen Kultur-
begriff verbunden, der den Mythos aufrechterhält, Kultur sei als Bestand gege-
bener Elemente zu verstehen, der eindeutig ist und für alle Mitglieder einer
kulturellen Gruppe (national oder ethnisch bestimmt) Verbindlichkeit besitzt
(vgl. hierzu kritisch Sökefeld 2004). Die wiederkehrenden Diskussionen um die
‘deutsche Leitkultur’1 oder aber der baden-württembergische Einbürgerungs-
Fragebogen sind beredte Beispiele dafür, wird doch hier eine ‘deutsche’ bzw.
eine ‘muslimische’ Kultur zugrunde gelegt. Analog zu diesem Kulturverständnis
findet sich ein breiter Diskurs, der Zuordnungen jenseits solcher Eindeutigkeiten
pathologisiert. Das Bild des/r jugendlichen MigrantIn, der/die ‘zwischen zwei
1
So griff im Herbst 2005 Bundestagspräsident Norbert Lammert diesen Begriff wieder auf und
forderte erneut eine Debatte (Kölner Stadtanzeiger vom 9.11.2005). Wenngleich er die Existenz
einer deutschen Leitkultur einschränkt, postuliert er jedoch eine bundesrepublikanische Kultur,
die ganz wesentlich von christlichen Glaubensüberzeugungen geprägt sei. Ironischerweise leite-
te er aus diesen die Unantastbarkeit der Menschenwürde sowie die Gleichberechtigung der Frau
ab.
100 Erika Schulze
Stühlen sitzt’ (vgl. Kunz 2000) und die flankierende pädagogische Literatur
hierzu lassen sich beispielhaft nennen2.
Blickt man nun jenseits dieser Mythen in die Quartiere, so zeigt sich eine
bundesrepublikanische Gesellschaft, vor allem im städtischen Kontext, die vor-
rangig durch Heterogenität und Pluralisierung geprägt ist. Die Gesellschaft hat
sich in zahlreiche Milieus, Lebensstilgruppen und Kulturen ausdifferenziert und
der Einzelne bewegt sich in wechselnden Kontexten, die ebenso wechselnde
Zugehörigkeiten mit sich bringen (vgl. Bukow/Nikodem/Schulze/Yildiz 2001;
Schulze 2003). Das Dach einer verbindlichen gemeinsamen Kultur hat sich
längst aufgelöst - sofern es überhaupt jemals in dieser idealisierten Form be-
standen hatte. Globalisierung und Migration haben diese Transformationspro-
zesse verstärkt und zudem dazu geführt, dass transnationale Bezüge an Selbst-
verständlichkeit gewonnen haben.
In diesem Spannungsfeld von gelebter Realität einerseits und mehrheitsge-
sellschaftlichen Mythen andererseits bewegen sich in besonderer Weise migran-
tische Jugendliche der zweiten oder dritten Generation. Mehrfachverortungen
(vgl. Riegel 2006) sind für die Jugendlichen selbstverständlich gelebter Alltag,
sie entwerfen lokale Zugehörigkeiten zu den Orten, an denen sie leben, zu den
Orten, denen ihre Eltern entstammen; sie definieren nationale oder auch religiö-
se Zugehörigkeiten und entwickeln transnationale Bezugsräume (vgl. Römhild
2003: 11). Und nicht zuletzt beziehen sich die Jugendlichen identifikatorisch auf
die jeweiligen Lebenskontexte, in denen sie sich bewegen, wie etwa jugendkul-
turelle Gruppen.
Doch entgegen dieser alltäglich gelebten multiplen Zugehörigkeiten sehen
sich die Jugendlichen unter dem mehrheitsgesellschaftlichen Blick mit der Er-
wartung einer eindeutigen ‘nationalen’ Verortung im Herkunftskontext der
Eltern konfrontiert. Entsprechend bleibt das Zugehörigkeitsgefühl zur bundesre-
publikanischen Gesellschaft fragil bzw. wird gesellschaftlich verweigert. In
diesem Spannungsfeld erhält der ‘Ort’ für die Definition von Zugehörigkeit eine
besondere Bedeutung. So beginnt Sacharija P., ein junger Mann, den ich im
Rahmen eines Forschungsprojektes3 interviewte, das Gespräch mit einer Auf-
zählung für ihn bedeutsamer Orte. Auf meine Bitte hin, sich zunächst erst ein-
mal vorzustellen, führt er sich folgendermaßen ein:
2
Diese tiefe Verankerung des Bildes eines zwischen den Stühlen sitzenden migrantischen Ju-
gendlichen zeigt sich nicht zuletzt auch an den Dekonstruktionen, die begrifflich an das Bild
anknüpfen. „Auf allen Stühlen“ (Otyakmaz 1995) oder „Der dritte Stuhl“ (Badawia 2002) las-
sen sich hier als Beispiele anführen.
3
Diese und die folgenden Beispiele entstammen Interviews, die im Rahmen des Forschungspro-
jektes „Wege in das Alltagsleben. Zur Positionierung allochthoner Jugendlicher im urbanen All-
tag“ geführt wurden. Dieses Projekt, das zwischen 2001 und 2004 durchgeführt wurde, befasste
sich vor allem mit Bildungswegen allochthoner Jugendlicher.
„Und ich fühl mich als Kölner, speziell als Nippeser“ 101
Okay, also mein Name ist Sacharija. Ich wohne hier in der Gernsheimer Straße in Ostheim
und lebe seit 17 Jahren in Köln. Bin in Belgien geboren, Brüssel genau zu sein. Und meine
Familie kommt aus der Türkei. Bin aber kein Türke, sondern Aramäer. Und ja, seitdem sind
wir hier. ((lacht)) Noch was?
In dieser kurzen Sequenz verortet sich Sacharija mehrfach und weitgehend orts-
gebunden – an seinen Wohnort, seinen Geburtsort und in Hinblick auf die Her-
kunft seiner Eltern. Dabei scheint ihm nicht nur die Zuordnung zu verschiede-
nen Orten aufgrund der familiären Migrationsgeschichte notwendig zu sein.
Auch die konkreten lokalen Zurechnungen erweisen sich als sperrig, erfordern
eine suchende Konkretisierung. So werden alle drei Bezugspunkte ausdifferen-
ziert - die Stadt in Hinblick auf Stadtteil und Straße, das Geburtsland in Hinb-
lick auf die Geburtsstadt, die Herkunft der Eltern in Hinblick auf ihre Zugehö-
rigkeit zu einer religiösen Minderheit innerhalb der Türkei4. Eine solche su-
chende Konkretisierung wird auch bei Tarik K. sichtbar. Auch er definiert seine
Zugehörigkeit lokal und hebt hierbei den Stadtteil hervor, in dem er aufgewach-
sen ist:
War noch nie auf dem Fernsehturm, noch nie auf dem Kölner Dom, hab Höhenangst. Da be-
trachte ich mir das immer aus der Ferne. Und ich fühl mich als Kölner, also trotz, und also als
Kölner, speziell als Nippeser. Man kennt hier allmählich alle Leute.
Tarik bezieht sich zunächst auf die gesamte Stadt, obwohl er einschränkt zwei
zentrale Symbole5 niemals besucht zu haben. Zutreffender erscheint ihm jedoch
seine Zugehörigkeit zu einem kleinräumigeren Ort, zu dem Stadtquartier, in
dem er seit seiner Kindheit wohnt. Vor dem Hintergrund seiner gelebten All-
tagswelt betont er, sich vor allem als ‘Nippeser’ zu fühlen und vertieft dies in
seinen weiteren Erzählungen mit Kindheits- und Jugenderinnerungen im Quar-
tier6. In der identifikatorischen Bezugnahme von Jugendlichen auf ihr Quartier
4
Auf diese Weise greift er zugleich der bekannten Frage des „Wo kommst du eigentlich her?“
vor, einer Frage, die im dominanten Diskurs in Hinblick auf Kinder oder Jugendliche mit Mig-
rationshintergrund zumeist mit der Herkunft der Eltern oder Großeltern beantwortet wird. In ei-
nem Unterrichtsbesuch in einer Kölner Grundschule konnte ich am Unterricht einer jahrgangs-
übergreifenden Klasse teilnehmen. Innerhalb eines Gesprächskreises stellten sich die SchülerIn-
nen der Klasse vor. In diesem - eingeübten und für die Zuhörer aufgeführten - Ritual führten
sich alle autochthonen Kinder mit Vornamen und der Herkunftsstadt Köln ein. Die allochthonen
SchülerInnen hingegen stellten sich mit Namen und der Herkunftsland ihrer Eltern vor. So sa-
ßen sich in der Klasse Elvira aus Köln und Pedro aus Spanien gegenüber - obwohl beide in
Köln geboren und aufgewachsen waren.
5
Vor allem dem Kölner Dom kommt in dieser Stadt eine hohe symbolische Bedeutung zu. Es ist
das Wahrzeichen der Stadt, besungen in zahlreichen Karnevalsliedern. Insbesondere für die al-
teingesessene Kölner Bevölkerung älterer Jahrgänge ist der Dom ein Synonym für Heimat.
6
Auch national kodierte Verortungen sind bedeutsam für Tarik, sie werden jedoch zugleich
gebrochen. Wiederholt bezeichnet er sich als Türke, um diese Kategorisierung an anderer Stelle
102 Erika Schulze
oder den Straßenzug, in dem sie leben (vgl. hierzu auch zum Beispiel Rebholz
2002; Riegel 2004/2006) spiegelt sich ein ‘Heimatgefühl’ angesichts ihrer dort
gemachten lebensweltlichen Erfahrungen und ihrer Einbindung in soziale Netze.
Diese lokale Bezugnahme bietet einen Ausweg aus dem Dilemma, sich in einer
Gesellschaft verorten zu müssen, die gerade dies verweigert. Sie ermöglicht eine
alternative Zugehörigkeit jenseits einer nationalen Kodierung, die den Jugendli-
chen nicht zugestanden und/oder von ihnen nicht gewünscht wird. Das Potential
des konkreten Orts liegt in seiner ‘Kleinräumigkeit’, seinem ‘Jenseits’ großer
Erzählungen und ethno-nationaler Kollektive. Nichtsdestotrotz erweist sich die
Verortung im Stadtquartier vielfach als ein für die Jugendlichen widersprüchli-
cher Prozess. Häufig sind die Quartiere, in denen sie leben, marginalisierte
Stadtviertel, die im öffentlichen Diskurs, in den Medien und im Alltagswissen
der Bevölkerung über einen sehr schlechten Ruf verfügen.
Ich möchte im Folgenden anhand der Zugehörigkeit zu einem Quartier, das
in hohem Maße stigmatisiert ist, diesem widersprüchlichen Prozess nachspüren.
Den Ausgangspunkt bildet ein Interview mit zwei 16-jährigen Jugendlichen –
Beliz und Faruk – die in einem rechtsrheinischen Quartier Kölns leben. Vor dem
Hintergrund des gesellschaftlichen Mehrheitsdiskurses über marginalisierte
Quartiere soll gezeigt werden, welche Strategien die beiden Jugendlichen entwi-
ckeln und wie sie sich in einem Quartier positionieren, das für sie Heimat, für
den Rest der Stadt jedoch ein gefährlicher Ort ist (vgl. hierzu auch Schulze/
Spindler 2006).
Die Gernsheimer Straße, das Viertel, in dem Beliz und Faruk leben, ist ein Stra-
ßenzug von Hochhäusern, die in den 1970er Jahren in einem rechtsrheinischen
Außenbezirk Kölns errichtet wurden und in denen rund 2.600 Menschen woh-
nen. Der Straßenzug liegt etwas abseits von dem eigentlichen Kern des Stadt-
teils und hebt sich auch architektonisch deutlich von diesem ab. Seine Bewoh-
nerInnenstruktur ist geprägt durch einen hohen Anteil von Kindern und Jugend-
lichen, mehr als ein Viertel von ihnen ist unter 18 Jahren alt. Vor allem Men-
schen mit Migrationshintergrund haben hier eine Wohnung bezogen. Mehr als
die Hälfte der BewohnerInnen verfügt über eine andere als die deutsche Staats-
angehörigkeit, hinzu kommen zahlreiche Menschen, die als AussiedlerInnen in
die BRD migriert sind. Die Armut in der Gernsheimer Straße ist hoch, viele
Menschen sind arbeitslos, rund 38% der Haushalte beziehen Sozialhilfe (ge-
wieder zu dekonstruieren. So führt er beispielsweise in einer längeren Sequenz aus, dass der
Begriff ‘Türke’ angesichts der Multiethnizität der Türkei untauglich sei.
„Und ich fühl mich als Kölner, speziell als Nippeser“ 103
Vor den Toren der feinen Dom- und Medienstadt Köln herrscht Krieg. Immer öfter gehen Ju-
gendgangs verschiedener Stadtteile und Wohnbezirke aufeinander los, versetzen friedliche
Anwohner in Angst und Schrecken. (...) Einige der Gangs sind multi-kulturell zusammenge-
setzt, andere wiederum ziehen unter türkischer oder russischer Führung in den Kampf. Nicht
selten gibt es fließende Übergänge zur organisierten Kriminalität8.
Das medial produzierte Wissen9 um diese Viertel als ‘gefährliche Orte’, hat
seine Spuren im Alltagswissen hinterlassen. Man ‘kennt’ diese Quartiere also
selbst dann, wenn man sie selbst nie betreten hat.
Doch nicht nur die Medien, auch die Wissenschaft arbeitet an der Produk-
tion dieser Bilder mit. Im Kontext der ‘Verfallssemantik’ stadtsoziologischer
Diskussionen (vgl. Krämer-Badoni 2002) fokussiert ein nicht unerheblicher
Anteil dieser Disziplin in den letzten Jahren vor allem die wachsenden Segrega-
tionstendenzen innerhalb der Städte und thematisiert die zunehmende Polarisie-
rung von Arm und Reich und die strukturelle ‘Abkopplung’ randständiger Quar-
tiere. Wenngleich dies in kritischer Absicht erfolgt, so ist damit doch häufig
eine defizitorientierte, wenn nicht sogar stigmatisierende Sichtweise auf diese
Stadtviertel verbunden. Denn rasch gerät die Bevölkerung ins Visier: Die Kon-
zentration der sogenannten A-Gruppen – hiermit werden ‘Ausländer, Arme,
allein Erziehende und Arbeitslose’ bezeichnet – in den verarmten Quartieren
7
Diese Zahlen entstammen der Broschüre von Herbert Schubert, Sandra Nüß und Holger Spie-
kermann (2003).
8
Der Ankündigungstext entstammt der Dokumentation „Ohne Gang bist du nichts! Überlebens-
kampf am Stadtrand“, die der WDR 2002 ausstrahlte.
9
Der mediale Diskurs hat weitreichende Folgen, da er, wie Jäger u. a. formulierten „nicht nur
und nicht in erster Linie Realitäten abbildet, sondern vielmehr selbst Realität ist und als Appli-
kationsvorgabe für gesellschaftliches und individuelles Handeln funktioniert, (Mas-
sen)Bewusstsein nicht nur informiert, sondern formiert“ (Jäger u .a. 1999: 19). Die Medien
selbst sind Teil einer Wirklichkeitskonstruktion (vgl. Champagne 1997: 82).
104 Erika Schulze
Die Chancenlosigkeit schulmüder und kulturell desorientierter Jugendlicher auf dem Arbeits-
markt schlägt sich beispielsweise in einem zunehmenden Vandalismus und in wachsender
Kleinkriminalität nieder. Die Nachbarschaften sind dabei tatsächlich überfordert, weil sich die
Menschen in ihre Wohnungen zurückziehen, die Regeln eines geordneten Miteinanders preis-
geben und die Hauseingänge sowie Freiflächen der Verwahrlosung und Verschmutzung über-
lassen. Dadurch wachsen die Kinder und Jugendlichen in einem Umfeld auf, in dem das Er-
lernen normgerechten Handelns und der Erwerb von Wertorientierungen kaum möglich ist
und die anomischen Bedingungen ihre Randständigkeit verstärken. (Schubert/Nüß/ Spieker-
mann 2004)
10
„Überforderte Nachbarschaften“ ist der Titel einer Studie, die 1998 im Auftrag des GdW Bun-
desverband deutscher Wohnungsunternehmen erstellt wurde. Erwähnenswert ist diese Studie
vor allem aufgrund des politischen Einflusses dieses Gutachtens, dessen Titel inzwischen zu ei-
nem geläufigen Begriff avanciert ist.
11
Zur Kritik der Ghettometapher vgl. Caglar (2001).
„Und ich fühl mich als Kölner, speziell als Nippeser“ 105
In der oben skizzierten hegemonialen Sichtweise bleibt wenig Raum für die
Alltagsnormalität im Quartier, ebenso wie für die Ressourcen und Kompetenzen
seiner BewohnerInnen. Aus dieser Perspektive mutet eine Skizzierung ihres
Alltagslebens, wie sie von Beliz im Interview vorgenommen wird, fast befremd-
lich an:
Und meine jüngere Schwester, die geht in die 7. Klasse, hat nicht sehr viel vor, also ich weiß
es zumindest noch nicht, und dann hab ich noch nen kleinen Bruder, der geht in die Grund-
schule. So, ähm in meiner Freizeit bin ich meistens hier, wenn ich nicht gerade zu Hause bin,
Hausaufgaben, und ähm, hier habe ich genügend Freunde, ich bin meistens im Veedel oder
hier im Gummiplatz, eben Fußball spielen, das mach ich eigentlich gerne, ja und ähm Mitt-
wochs hab ich hier die Gruppe, dann gehn wir ins Internet, kochen, Kino und alles.13
Beliz wie auch Faruk sind in der Gernsheimer Straße aufgewachsen. Faruk ist
im Alter von einem Jahr in die Straße gezogen, wo er seitdem wohnt. Beliz lebte
acht Jahre dort und zog erst kurz vor dem Interview in einen anderen Stadtteil
um. Beide Jugendlichen betonen ihre Zugehörigkeit zu der Straße, in der sie
leben – wohlgemerkt nicht zu dem Stadtteil, in den diese Straße eingebettet ist.
Ihre Identifikation ist kleinräumiger, was sich durch die architektonische wie
auch diskursive Abtrennung der Straße von dem Rest des Stadtteils erklärt.
Beliz wie auch Faruk bezeichnen sich selber als „Gernsheimer“. Dass sie hier-
mit keine Ausnahme darstellen, sondern exemplarisch für viele dort lebende
Jugendliche stehen, zeigt nicht zuletzt eine mehrere Jahre zuvor existierende
Jugendclique, die sich selbst als „TNGOG“ – The New Generation of Gern-
sheimer – bezeichnete. An dieser Zugehörigkeit zur Gernsheimer Straße hat
auch der Umzug von Beliz nichts geändert:
12
Wie Loic J.D. Wacquant anhand des amerikanischen Ghetto-Diskurses ausführt, resultiert aus
einer solchen Sichtweise, die den Stadtteil primär als einen „desorganisierten Ort“ beschreibt,
eine Tendenz der Exotisierung seiner BewohnerInnen und eine Betonung seiner extremsten As-
pekte (Wacquant 1998: 195).
13
Beliz schildert hier ihren Alltag zwischen den Quartieren, da sie umgezogen ist – allerdings in
einen Stadtteil, der ähnlich stigmatisiert ist wie die Gernsheimer Straße.
106 Erika Schulze
Ja und ich wohn jetzt zwar in Porz, aber ich fühl mich immer noch so als ob ich, ich gehör zu
der Gernsheimer. (...) Ja, ich hab mal hier gewohnt, ich war schon immer in der Gernsheimer
und so, und ich will auch in der Gernsheimer bleiben. Das ist einfach so.
Die Beheimatung von Beliz und Faruk in der Gernsheimer Straße beruht vor-
rangig auf ihrem Aufwachsen an diesem Ort und ihren dortigen sozialen Netz-
werken – hier kennen sie Plätze, Orte und Menschen. Zugleich steht diese Be-
heimatung jedoch in einem Spannungsverhältnis zu den Stigmatisierungsprozes-
sen, denen dieser Ort ausgesetzt ist. Die Stigmatisierung der Gernsheimer Straße
hat einen festen Platz im Alltag von Faruk und Beliz. Sie berichten von zahlrei-
chen Situationen, in denen sie auf Reaktionen stoßen, die diese Straße als prob-
lematischen Ort, seine BewohnerInnen als abweichend und gefährlich kenn-
zeichnen. Diese Reaktionen begegnen ihnen von MitschülerInnen und LehrerIn-
nen, seitens des Jugendamts, von Gericht und Polizei. So berichtet beispielswei-
se Beliz von MitschülerInnen, die symbolisch oder auch reell auf Distanz gehen,
wenn sie von ihrem Wohnort hören:
Da war ich auf der Schule, ehm, da gabs mal so ne SV-Sitzung, ich war da Klassensprecherin,
da musste ich hingehn, und dann mussten wir unsere Namen sagen, Name, Adresse, mussten
wir halt sagen, ja und meine Schwester war dann auch da, weil die auch Klassensprecherin
war, eine Klasse höher oder zwei, was weiß ich, na und dann hat meine Schwester dann ge-
sagt, ja ihren Namen, und dann Gernsheimer Straße. Da schreckte eine zusammen, öh, da
macht dann so, und versteckt sich so aus Witz hinter der Wand. Das ist schon, ist zwar nichts
Besonderes, aber man, man sieht schon, dass die Gernsheimer bekannt ist.
Doch auch im Umgang mit den institutionellen Vertretern erfahren die Jugend-
lichen Stigmatisierung und Diskriminierung:
B: Das ist auch so, also die denken wirklich, die denken, die schreiben erst mal auf: Name,
Nationalität,
F: Woher
B: Woher, wenn du, wenn man dann sagt, Türke zum Beispiel, ich komme aus der Gern-
sheimer Straße, aus Ostheim, dann wird man direkt als asozial abgestempelt. Das ist
so, das wird auch immer so bleiben.
Weil ich war auch, ich musste auch einmal als Zeuge aussagen, (...) da meinte der Polizist:
Woher kommst du? Der wusste ja woher ich komme, aus Gernsheim und so, dann sagt der,
ich glaub dir irgendwie nicht. Ich sag wieso können Sie mir nicht glauben? Ja, ich hab doch
die Wahrheit erzählt. Ja, ist schwer, du kommst grad von der Gernsheimer, und was hört man
da, vieles, was da gelaufen ist früher und viele sitzen jetzt im Knast.
„Und ich fühl mich als Kölner, speziell als Nippeser“ 107
Herkunft wird institutionell abgefragt und reicht aus, um als Problemfall katego-
risiert zu werden. Damit erfahren die Jugendlichen einen doppelten Ausgren-
zungsprozess: aufgrund ihrer ethnisch-nationalen Herkunft (oder der ihrer El-
tern) einerseits, aufgrund ihrer räumlich-lokalen Herkunft andererseits. Beide
Stigmata – Türke und Gernsheimer – werden von ihnen dabei als unveränderlich
erlebt. So wie sich die ethno-nationale Herkunft als Zwangskorsett bis in die x-
te Generation erweist, ist der Ruf bestimmter Viertel resistent gegenüber Verän-
derungsprozessen.
Im Wissen darum, wie beharrlich das gesellschaftliche Bild ihres Viertels
ist, entwickeln die beiden Jugendlichen unterschiedliche Strategien, um damit
umzugehen. Zum einen entwerfen sie ein Gegenbild – eine Strategie, die auch
innerhalb des Interviews wirksam wird. Sie führen die Gernsheimer Straße als
ihren Lebensort mit seinem gewöhnlichen Alltag und als Ort vor, den sie schät-
zen und an dem sie sich zu Hause fühlen. Die beiden machen deutlich, dass
ihnen an ihrem Viertel liegt, dass, „egal wie es dort ist“, sie dazu stehen, „Gern-
sheimer“ zu sein. Darüber hinaus heben sie ihren Lebensort als einen besonde-
ren Ort hervor, als einen, der sich durch einen außergewöhnlichen Zusammen-
halt seiner BewohnerInnen – vor allem der jugendlichen BewohnerInnen – aus-
zeichnet.
Das ist die einzige Straße, so die zusammenhält, so kann man sagen, die sich nicht verrät also,
aber da in Ossendorf oder in Bilderstöckchen da oder irgendwo anders (...), das sind keine
richtigen Freunde, aber hier findste irgendwie auch richtige Freunde.
Trotz dieser Hervorhebung der positiven Seite des Quartiers mit den inhärenten
Idealisierungen, benennen Beliz und Faruk auch problematische und negative
Aspekte, baulicher Art ebenso wie vorhandene Gewalt oder Kriminalität. Einen
solchen differenzierenden Blick auf die Straße und seine BewohnerInnen for-
dern sie auch seitens der Mehrheitsgesellschaft ein. Gefragt, zu welchen Maß-
nahmen sie greifen würden, wenn sie die Macht und den Einfluss hätten, im
Quartier Veränderung vorzunehmen, formulieren sie neben konkreten baulichen
Vorschläge vor allem die Forderung nach einem respektvollen Umgang mit den
BewohnerInnen der Gernsheimer Straße:
B: Man darf die Leute nicht auseinanderreißen, das ist falsch, die sind so zusammenge-
wachsen, die kann man nicht auseinanderreißen, das ist das Schlimmste überhaupt, was
man machen kann. Man kann höchstens, hier die ganzen Hochhäuser, das ist, sieht
ziemlich asozial aus, die Wände sind vollgekritzelt, vielleicht mal etwas erneuern oder
so.
F: Die Hochhäuser, die Hochhäuser sind so, wir sind darin aufgewachsen, die jetzt wieder
abreißen, das würd jetzt Zeit brauchen, viel Geld. Also so lassen, aber innendrin, da voll
die Graffitis und so, das, oder, das ist auch nicht wichtig, vielmehr den Leuten, also sie
108 Erika Schulze
auf der Straße mal ansprechen, nicht so, was ist das denn für einer, mal schief angu-
cken. Was tun, vieles mehr tun.
Doch im Wissen um die Persistenz des Bildes ihrer Straße entwickeln Beliz und
Faruk auch Alltagspraxen, die das Stigma aufgreifen, es spielerisch einsetzen
und situativ zu ihrem Vorteil nutzen (vgl. Riegel 1999), wie sich zum Beispiel
in der folgenden Passage zeigt:
B: Also wenn die (die Mitschüler; ES) gehört haben, dass ich aus der Gernsheimer bin,
dann sind die schon so ein bisschen so zurückgegangen, da also …
F: Also bei mir in der Schule...
B: Also das hat mir nicht geschadet, sag ich mal so (...).
F: Also in der Schule spricht sich das rum, und so, dass die, aber wir machen nichts, die
ham auch Respekt, die wollen extra Freundschaften mit uns, wir machen nix, sagen wir
mal so.
F: Und dann, nach Schlägereien siehst du was die machen mit dir, so Deutsche, die guck-
en, die beachten dich so, wenn du mal reinkommst, irgendwo, gucken die dich so an
und so, dann hast Hass und so, dann nimmst du den Namen so, der kommt so, der ruft
dich der Name, jetzt müssen wir was tun und so, wir müssen jetzt Respekt schaffen so,
so als ob die dauernd auf seinem Revier sind. Sowas. Jeder bleibt, jeder Hund bleibt
auf seinem Platz.
14
Faruk berichtet, dass ein Großteil der ehemaligen Mitglieder inzwischen drogensüchtig, in Haft
oder auch abgeschoben sei.
„Und ich fühl mich als Kölner, speziell als Nippeser“ 109
Reaktion zum Beispiel darauf, dass Andere es sich anmaßen, sich in ihre Ange-
legenheiten einzumischen – in diesem Fall ist es die Schlägerei – und sie des-
halb zu verurteilen. Der Druck, dem er sich dadurch ausgesetzt sieht, dass jegli-
che Aktion der Gernsheimer Jugend von außen als asozial bezeichnet wird –
hier repräsentiert durch „die Deutschen“ – legitimiert es für ihn, das Stigma
auch als negative Kraft einzusetzen.
3 Schlussgedanken
dem er – unter Zuhilfenahme von Stilisierungen – seine Sicht auf die ausgeg-
renzten Viertel zu Gehör bringt und in den öffentlichen Diskurs einfügt.
In meinem Block läuft das Business, das keiner sieht.
In meinem Block pumpt Blaulicht Adrenalin.
In meinem Block sprechen wir unsern eigenen Slang.
In meinem Block sind die Jungs wie meine zweite Fam.
In meinem Block träumt jeder von dem großen Geld.
Mein Block, mein Revier, mein Heim, meine Welt.
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Who Do You Hang Out With?
Peer Group Association and Cultural Assertion
among Second-Generation Italians in Switzerland
Susanne Wessendorf
1 Introduction
1
There is no agreement on how to define the ‘second generation’. Here, I use the term to describe
the children of migrants in a host country, as well as those who came to the host country during
early childhood and attended school there.
2
www.gentediaare.ch.
114 Susanne Wessendorf
audience, events are promoted with a specifically Italian flavour, their web-page
is in both Italian and German, and there are various Italian ‘ethnic markers’. For
example, each member of the team presents himself on an Italian Vespa
(scooter), some of the names of the parties are in Italian (e.g. Ritmo Mediterra-
neo) and the entries in the guestbook where party-goers and friends write short
notices are in Italiondo, a mix of Italian and Swiss German. Gentediaare is one
of a number of second-generation Italian associations in Switzerland that cele-
brate their Italian background, especially in the realm of house music and party
culture.
This phenomenon of ‘making culture’ among migrant youth has been ob-
served in a number of contexts, including among South Asians and Latin
Americans in North America (Itzigsohn 2000; Purkayastha 2005), and Sikhs and
Caribbeans in Britain (Alexander 1992; Hall 2002). These studies criticise the
equation of community, culture and ethnic identity in multiculturalist dis-
courses, which described ethnicity as a ‘fact of life’ and as a natural distinction
that explains cultural difference. Ethnicity has been de-essentialised in a large
body of anthropological and sociological literature, showing that migrants and
their descendants are not fixed in their ethnic identity, but that they are con-
stantly negotiating and making sense of the cross-cutting cleavages of plural
social systems (Baumann 1996; Baumann/Sunier 1995; Eriksen 2002; Hall
1995). Studies have shown, for example, the situational and creative nature of
“making culture”, especially among migrant youth (Alexander 1992; Hall 2002;
Alund 1991), and how diasporic people create new identities and cultural forms,
known for example as ‘creolised’, ‘syncretic’, ‘alternate’ or ‘hybrid’ (Hall 1990;
Rutherford 1990; Vertovec/Cohen 1999; Werbner/Modood 1997).
To describe such diverse forms of social and cultural affiliations and identi-
fications, Anthias (2002) proposes the concept of ‘multiple positionalities’ to
understand identity as process rather than possessive property, taking into ac-
count structural factors as well as agency and practice.
This chapter looks at such multiple positionalities, conceptualising ‘posi-
tionality’ as the way in which individuals position themselves in relation to
peers of various cultural backgrounds, co-ethnics and kin. Positionalities are
shaped by the institutional surroundings in which individuals grow up as well as
by structural factors, and they can change according to situation and during the
life-course.
The aim of this chapter is not only to focus on how migrant youth ‘make
culture’ and create new cultural forms and identities, but also to show how and
why some members of the second generation consciously distance themselves
from co-ethnics. The reasons underlying such different positionalities are
closely related to association with specific peer groups. These peer groups are
Who Do You Hang Out With? 115
partly based on shared cultural backgrounds, but are also motivated by factors
unrelated to ethnic origin such as class, common interests, consumer culture or
political orientation.
Some studies of migrant youth tend to picture minority youths’ positionali-
ties primarily as reaction to racial and ethnic ascriptions by others (e.g. Anthias
2002). Despite the importance of race and experiences of discrimination, this
focus reduces migrants to racial and ethnic categories and “results from the
researcher’s choice of boundaries and of what he or she is prepared to take no-
tice of” (Baumann 1999: 153). Furthermore, it carries the danger of hiding other
ways of belonging and affiliations that have nothing to do with regional or eth-
nic origin. If we want to de-essentialise identity and ethnicity, we need to look
at factors that cut across the boundaries of classical social categories such as
ethnicity, race, religion and national origin. Hence, rather than limiting our stud-
ies to factors which lead to the reification of ethnicity, we should try to under-
stand why some individuals of the same national origin or religious orientation
do not reify this same background. Baumann (1996), for example observes what
he calls “cultures of commitment”, groups that cross-cut national, religious and
ethnic identifications, such as socialist or feminist groups, gays and lesbians, or
environmental activists. By studying sites where people come together because
of common interests, rather than their ethnic background, he tackles the reifying
discourses of culture, community or ethnicity. The research presented in this
chapter shows that not only ‘cultures of commitment’, but also peer group asso-
ciations play crucial roles in the positionalities and ways of belonging of mi-
grant youth.
Another way of de-essentialising ethnicity is to look at differences within
groups and analyse why, when and how individuals of the same ethnic origin
and with comparable migration histories ‘make culture’, or do not care about it.
The combination of Baumann’s suggestions that we look at specific sites of both
ethnic reification and cross-cutting ties, and an attempt to look at differences
within one group, helps to explain why and how migrant youth develop diverse
ways of belonging, defined locally in specific places such as the home, public
space, schools and other institutions, as well as transnationally and ethnically
within families and with other co-ethnics, and in the context of transnational ties
to country of origin. Thus, we can tackle the question of why for some people,
ethnic reification becomes important during specific phases of their lives, while
for others it does not. Thereby, notions of the ‘second generation’ as being “be-
tween two cultures” (Hämmig 2000) can be questioned, showing how members
of the second generation form new identities and spaces of belonging that are
116 Susanne Wessendorf
strongly shaped by informal peer group associations.3 These new spaces and
associations may be reactions to constraints within the family, or counter-
discourses against the majority population. They are created in the context of
structural and socio-cultural dynamics within the state and the ethnic social
arenas, but also as conscious choices of belonging to specific groups, be they
ethnic, religious or related to shared interests, political orientation or consumer
culture. Sometimes, these belongings are expressed through the celebration of
cultural difference and pride in acting as ‘cultural’ broker; at other times, mi-
grant background plays no role in the formation of this space.
The findings presented in this chapter draw on qualitative ethnographic re-
search carried out in the German part of Switzerland as well as in southern Italy
during a one-year period between 2004 and 2005. Along with participant obser-
vation, 58 life-history interviews were carried out with descendants of Italian
post-war labour migrants aged between 25 and 40 years old. Twenty-three of the
interviewees had migrated to their parents’ village of origin in southern Italy
(see Wessendorf 2007). In contrast to a lot of research on the second generation,
which focuses on adolescents, the interviewees for this research are adults re-
flecting back on their childhood and adolescence, and the choices they have
made. The research focused on the reasons for different paths of integration, and
the interrelationships of integration and transnationalism among second-
generation Italians of the same socio-economic and cultural backgrounds.
3
The idea of the second-generation growing up ‘between two cultures” originated in the 1970s
(Watson 1977) and has been criticised for its focus on the problems rather than the possible ad-
vantages of being of migrant origin.
Who Do You Hang Out With? 117
soon as their finances would allow it. Swiss immigration policies aimed for the
temporary residency of labour migrants. Under the Gastarbeiter scheme, facili-
ties such as Italian kindergartens, primary and secondary schools, and the teach-
ing of the mother-tongue for Italian children were designed to facilitate their
return. However, the majority of Italian children went to Swiss schools though
they attended the weekly two-hour Italian language classes. Those Italian chil-
dren who did attend all-Italian schools grew up in particularly strong Italian
social networks, speaking Italian in school, with friends during spare time and,
along with the majority of Italian children, at home. Many of these children
maintained their predominantly Italian social networks during adolescence and
adulthood.
Despite economic hardship and uncertain residency status, about two-thirds
of Italian migrants ended up staying in Switzerland because of jobs, their chil-
dren’s education and better health care facilities (Bolzman et al. 1997). How-
ever, they continued to dream of returning to Italy. Because of this dream, they
travelled back and forth between Italy and Switzerland several times a year
together with their children and the summer holidays were usually spent in the
village of origin in Italy. These yearly holidays played an integral part in Italian
children’s upbringing and strongly influenced their identity formation and inte-
gration in Switzerland. The majority of second-generation Italians have positive
memories of these holidays. They enjoyed spending time by the sea, being out-
doors and promenading in the piazza, and their families in Italy did their best to
please their relatives from Switzerland. The summer holidays, around which the
whole year was organised, and the presence of the homeland in both discourse
and practice among Italians in Switzerland, was an important part of Italian
children’s lives. These “transnational social fields” (Levitt/Glick Schiller 2004)
were similar for the majority of Italian children in Switzerland.4 At home, they
spoke Italian or a regional dialect, and weekends in Switzerland were character-
ised by outings with Italian friends or relatives, going to Italian Mass and having
extended Sunday meals.
However, many second-generation Italians’ upbringing differed in terms of
the institutional arrangement in the neighbourhoods, for example regarding the
numbers of other Italian children in the Swiss schools. In most schools, migrant
children were a minority and Italian children developed friendships and net-
works with children of Swiss and other national origins. But in some urban
areas, classes were dominated by Italian children. Similarly, the ethnic composi-
4
Basch et al. (1994) draw on Bourdieu’s notion of ‘social fields’, defining them as “a set of
multiple, interlocking networks of social relationships through which ideas, practices, and re-
sources are unequally exchanged, organized and transformed”. A transnational social field con-
nects actors across borders and includes those who do not move (Levitt 2004: 1009).
118 Susanne Wessendorf
Luca was born in Switzerland in 1972. His parents are Sicilian and migrated to
Switzerland in the early 1960s. They both worked in low-skilled jobs, while
Luca’s grandmother, who also lived in Switzerland, looked after him and sev-
eral of his cousins. Luca spent his first three years of school in an Italian pri-
mary school because his parents planned to return to Sicily. When they reevalu-
ated the possibilities of returning home and decided to stay longer in Switzer-
land, they sent him to a Swiss school. He integrated quickly into the new school
and found a new circle of friends of Italian origin. In his spare time, he played
football with second-generation Italian and some Swiss children in the
neighbourhood, but spent most of his time with his cousins at his grandmother’s
place in another part of town. The time he spent with his extended family is one
of Luca’s happiest childhood memories, and contact with his relatives of the
same age has remained important all through his adolescence and adult life.
During his early teenage years, Luca got into difficulties at school. He had
managed to get into the highest level of secondary school, but could not cope
with the requirements, partly because he received no support at home, because
his parents were going through a marital crisis at the time. During this period,
his parents did not allow him to go out much, and he strongly felt what he calls
120 Susanne Wessendorf
‘the rigorous hand’ of Italian education. When he was 17, he was finally given
more freedom and started going out more often, especially with his cousins and
other Italians from the same part of town. He describes this period of his life and
the friendships he developed during this time as crucial for his later life:
We were always a gang of about 12 or 13, and we went to town together to get our respect and
…. to mark our territory. … And then we formed a group, the ‘Latinos’, with other Italians
and Spanish guys, we were about 30, and then the Turks started coming to town and we got
into trouble with them because they provoked us … I went out nearly every night to hang out
with friends. … Well, this time was quite important for me … and I also got into the party
scene. … We went to Raves and Techno Parties every Saturday. The people there were all
secondos5, mainly Spanish and Italian.
Luca was strongly integrated into this group of young people with Italian and
Spanish backgrounds who shared interests in consumer culture (cars, designer
clothes) and music. Their being together was motivated by several factors. It
was based on shared experiences of southern Europeanness within their families
and in the transnational social fields in which they grew up, the negotiation of
the lived Italianness at home, and the Swissness outside the home, for example
at work. Furthermore, the group’s identity was shaped by the conscious segrega-
tion from other migrant youth, such as the Turks, on the grounds of ‘turf-wars’
in inner-city public space, a phenomenon that has been observed in other con-
texts, too (Alexander 2000). The strengthening and performance of male group-
identity in such conflicts was particularly important, the ‘Latinos’ being a male-
only group.
However, it was not only the ‘Latinos’ who provided Luca with a strong
sense of belonging, but also his wider network of kin, in both Switzerland and
Sicily. Luca and his family went to Sicily for holidays every summer. He de-
scribes these holidays as wonderful times of being together in big, lively groups
of relatives. But after a few weeks, he usually longed to go back to Switzerland
to see his friends.
Today, Luca works for an insurance company and has a successful profes-
sional career. His partner is a second-generation Sicilian and they visit Sicily
every year. Up until today, the majority of his friends are of Italian or Italian-
Swiss origin. He explains that his social networks had always been with other
people of migrant (primarily Italian) background
…because they had the same way of thinking as me. … It’s the mentality, the mentality is
really different, especially at the time [in his youth]; now of course, you grow, you get more
mature and you communicate with other people, too. But at the time, it was the communica-
5
The term ‘secondo’ is used both in public discourse and among descendants of migrants to
describe members of the second generation of all backgrounds.
Who Do You Hang Out With? 121
tion …. I just WANTED to be with immigrants, and the Swiss were a bit colder and you re-
lated less to them. I think it’s simply the interests you had, the common interests, you are sec-
ondo, you are an immigrant, and you seek contacts with the same people.
This search for people of the same background is also motivated by experiences
of exclusion in Switzerland. Although not all second-generation Italians had
such experiences, Luca was called names by other children because of his mi-
grant background, which contributed to his feeling of being different. Luca’s life
and his positionalities are characterised by a continuity of strong Italian kin and
peer networks. His extended family provides him with a feeling of embedded-
ness in a transnational social field, and he emphasises that such deep and sus-
tained family connections distinguish Italians from the Swiss. Luca’s way of
“doing family” (Purkayastha 2005) as a means of asserting his ethnicity is char-
acteristic of many second-generation Italians.
Within the Italian peer group, he finds ways to negotiate what he describes
as the strict Italian way of his parents at home, and what he perceives as the cold
mentality of the Swiss. He resolves the feeling of ‘being in-between’ by social-
ising with other adolescents of similar backgrounds and by creating a new eth-
nic repertoire, the ‘Latino’ group, that is different from that of their parents, the
Swiss majority society and other migrants such as the Turks. The Latinos em-
phasise a more spontaneous Latin art of improvisation as counter-discourse
against what they see as ‘petit-bourgeois’ Swiss majority society, characterised
by cleanliness and order, a phenomenon that has also been observed by Wimmer
(2004). Furthermore, Luca’s integration into the second-generation peer group is
motivated by the realisation of a lack of essential ties with Sicily because during
his holidays, he feels the cultural difference between himself and Sicilians who
have never emigrated.
Most importantly, Luca not only shares his experiences of growing up in a
transnational social field with his peers, but also his interest in consumer culture
and leisure activities such as football and clubbing. Sharing such interests is
crucial for sustaining social networks with other members of the second genera-
tion and the assertion of their ethnicity. Other second-generation Italians such as
Pasquale (the House-DJ cited in the introduction of this chapter) confirm this.
Although many Swiss are just as interested in House music and consumer cul-
ture, second-generation Italians have developed their own specific ways of ‘do-
ing ethnicity’ by adding an Italian flair to mainstream culture. They publicly
assert their Italianness through the consumption of Italian products such as Ital-
122 Susanne Wessendorf
ian fashion (Giorgio Armani, ‘Italia’ T-Shirts, etc.), cars (Fiat, Alfa Romeo) and
motorcycles (Ciao, Vespa).6
However, not all descendants of Italian migrants who associate with other
second-generation Italians do so through consumption and common sets of
publicly visible signifiers. Sandro, for example, is a member of the Italian com-
munity of Jehovah’s Witnesses in Switzerland. He explains that in addition to
the cultural links and the shared experiences, his connections to people of Italian
background have been strengthened by shared religion. He emphasises that “just
being Italian” is not enough, but that you need a “double-tie”, a common interest
in addition to the common ethnic background.
Pasquale’s and Sandro’s analysis of their affiliations with co-ethnics is ap-
plicable to the majority of second-generation Italians. However, there is a dif-
ference in the way Sandro and Pasquale live their ‘double-tie’. Sandro grew into
the Italian group of Jehovah’s Witnesses because of his mother’s faith and did
not actively negotiate his belonging and association to the group. In contrast,
Pasquale and Luca negotiated their belongings during specific periods of their
lives, asserting their cultural origins and creating new cultural repertoires. Al-
though their integration into Italian social networks and second-generation peer
groups continued throughout their upbringing, they consciously ‘made culture’
during their adolescence and developed their own ways of dealing with being
different from both the majority society and first-generation Italian migrants.
Pasquale describes this process as follows:
Somehow there was suddenly a shortcoming…. For me, it was suddenly not interesting any-
more to eat with older Italians, and eating was about it. … We wanted to create a meeting
place outside the Italian Associations and the Italian Catholic Mission and the pork-fests, but
with the aim of playing Italian music for Italians.
Pasquale and his friends were very successful with their association and the
events they organised, attracting many members of the second generation who
similarly asserted their identities as descendants of Italian migrants.
The assertion of ethnic identity and the creation of such new patterns of be-
longing and cultural practices have often been interpreted as reactions to racism
and discrimination. While for some second-generation Italians in Switzerland
experiences of exclusion certainly played a role, other contextual factors should
be borne in mind. As mentioned above, second-generation Italians did not suffer
the same degree of discrimination and exclusion as other migrants in Switzer-
land. Today’s positive view of Italianness and Italian life-styles certainly con-
6
For similar patterns of ethnic assertion through the consumption of ‘cultural products’ see Maira
(2002) and Purkayastha (2005). For examples of Swiss-Italian style and fashion see
www.webdjsitalodisco.ch; www.gentediaare.ch; www.djlenoe.ch
Who Do You Hang Out With? 123
Anna was born in Switzerland in 1974. She is the oldest of three sisters. Her
parents migrated from Apulia in southern Italy in the 1960s. Her father worked
in a factory, and her mother worked as a seamstress from home. Anna went to a
Swiss kindergarten and a Swiss primary school. She did not know any German
when she entered kindergarten because she had spent most of her time with
Italian relatives and Italian children in the neighbourhood. However, she learnt
German quickly when she started making Swiss friends at school. Her parents
were very integrated in the Italian social networks in Switzerland and active in
an Apulian association, where they regularly organised social and cultural ac-
tivities. Anna enjoyed these activities as a child, but felt increasingly pushed
into participation as she grew into adolescence. During this time, she joined a
youth group related to the church in her neighbourhood and got to know many
Swiss youngsters. She describes this period during her adolescence as very
important:
A: You know, when it was about finding my identity, I mean, belonging - am I Swiss or
Italian? - it was difficult, it was a phase that I guess every child of migrants
goes through.
SW: How did you resolve it?
A: The youth group was very important. There were extremely creative and active people.
With my Italian friends it was more like, listening to Eros [Eros Ramazotti: a
famous Italian pop star], ..., and make-up, it was somehow more superficial, I
noticed that it wasn’t about creating and developing but instead, about repre-
senting something. In the youth group, it was more about what I really felt like
doing and creating.”
Anna says that during this time she had two options. She had friendships with
other Italians, but realised that she did not share their interests in consumer
culture, Italian fashion, make-up and pop music. Through the youth group, she
learned that other youngsters did things she was more interested in, and she
124 Susanne Wessendorf
describes how getting to know these youngsters was like discovering a new
world. As a result, she spent more and more time with them, including in the
evenings. The friendships with the young Swiss not only triggered her negotia-
tions of belonging, but also led to major conflicts with her parents who did not
understand why she wanted to spend so much time outside the home. The more
they restricted her, the more she protested, until things came to a head and she
moved out of her home at the age of 17. Although this clash was dramatic for
the whole family, Anna says that this was the moment when they, she and her
parents, learned to communicate better and talk about things within the family.
Anna did not move back to her parents’ home, but they managed to resolve the
conflict and find ways to grow close to each other again.
This event also had an influence on her experiences in Italy. Anna had en-
joyed the yearly holidays in Apulia during her childhood. However, when she
grew older, she experienced the many visits to her extended family as stressful
and never felt that she was part of the local community. She felt particularly
exposed when walking through the village streets with her younger sisters and
hearing the women whispering: “Whose daughters are they? Where do they
belong?” “The village was like a stage”, she recounts, “but you had nothing to
do with the stage, only with certain people, but you felt as if you were next to
the stage, you were not really part of the piece.” Rather than feeling integrated
in southern Italy, Anna felt that the atmosphere in public places was sometimes
hostile and unwelcoming. Moving out of home did not make things easier, she
knew that she was now the ‘bad apple’ in her family and that everybody was
talking about her. On the grounds of her experiences in the transnational social
field, i.e. at home, with Italian peers in Switzerland, and in Italy, Anna distanced
herself from other Italians in Switzerland and from Italy during her adolescence,
and she knew that ‘Italian’ was not what she wanted to be. She felt integrated
among the Swiss, and she felt that this was where she really belonged. The fact
that she had not had any experiences of discrimination facilitated this affiliation.
Distancing herself from people of Italian origin became less important with time
and today, she no longer has such strong feelings about Italy and Italians in
Switzerland, and neither does she emphasise her affiliation with the Swiss.
Anna’s adolescence was characterised by both choice and restriction. The
choices were experienced through her Swiss peers, with whom she could follow
her own interests, while the restrictions were experienced through what she
describes as her parents’ “Italian, more rigid way of education”, the villagers in
Italy, and her second-generation peers with what she perceived as their superfi-
cial interests. Importantly, Anna’s “ethnic choices” (Gans 1979; Waters 1990)
were strongly influenced by the more traditional attitudes about gender relations
Who Do You Hang Out With? 125
among Italians in Switzerland, and her parents’ fears of letting their daughter
spend time with youngsters of the opposite sex, particularly in the evenings.
The arena of gender relations is one in which female descendants of Italian
migrants most often disagree with their parents, and more traditional expecta-
tions of female gender roles can lead to conflict within families. At the time of
Italian migration to Switzerland, southern Italian families were characterised by
patriarchal family structures with strict gender roles, compulsory heterosexuality
and a considerable responsibility for kin relations. Much of the anthropological
research on Italian families at the time focused on what was defined as the
‘honour and shame complex’ described as a gender-based division of labour and
morality.7 The categories of honour and shame have been criticised as essential-
ist cultural categories that serve the simplified homogenisation of the Mediter-
ranean as ‘cultural space’. However, even though family relations in both Italy
and among Italian migrants in Switzerland have seen changes (King/Zontini
2000; Meyer-Sabino 2003), honour and shame continue to play an important
role in southern Italian family relations and gender ideologies (Baldassar 1999;
Kertzer 1991).
For Anna, gender relations were important not only in her negotiations
with her nuclear family in Switzerland, but also during her holidays in Italy.
Hence, Anna made her ethnic choices on several grounds. First, the cultural
practices of her parents and other Italians which she experienced as restrictive;
second, a lack of a ‘double-tie’ and shared interests with co-ethnic peers, and
third, the possibilities offered to her by her Swiss peers with whom she shared
many interests. Importantly, her association with Swiss peers cannot be de-
scribed simply as a reaction to the cultural expectations of co-ethnics. Rather,
the process of discovering her own interests and the wish to integrate into a
particular peer group with a particular life-style is an integral part of every per-
son’s adolescence. Unlike Luca, Anna was not interested in ‘doing ethnicity’,
because she did not share the interests of those who called themselves ‘Latinos’,
and her experiences within this social field were not characterised by integration
and belonging, but rather by the pressures and expectations to conform to spe-
cific cultural practices. Anna feels integrated into Swiss society, though the
process of integration was characterised by disruption rather than continuity
because it entailed conflicts within her family. Today, she realises that her par-
ents were more flexible and less rigid than many of their migrant relatives and
7
In fact, the honour and shame complex has been described as one of the major analytic tools for
the exoticisation of Mediterranean societies. See for example Driessen (2002), Greverus, et al.
(2002). For a critical examination of the concept and a historical overview of anthropology’s
use of it, see Giordano (2002).
126 Susanne Wessendorf
friends. They were open to change and to negotiations with their daughter,
which Anna now greatly appreciates.
The difference between Anna’s parents and some other first-generation mi-
grants shows the diversity of how migrants deal with the socio-cultural sur-
roundings they encounter. But despite these variations, there are certain cultural
and social characteristics that migrants of the same ethnic and socio-economic
backgrounds share, and specific ideas of gender relations is one of the most
prevalent examples of them. All in all, parents’ attitudes about gender relations
play a crucial role for second-generation girls and women regarding the possi-
bilities of developing mixed ethnic networks outside the home. Male descen-
dants of Italian migrants are mostly not affected by such restrictions during their
upbringing and can follow their interests in whichever peer group they prefer.
The research presented here shows that many of the conflicts within fami-
lies occur between heterosexual daughters and their parents, and homosexual
sons and daughters and their parents. Such conflicts are not specific to Italian
families, but also take place in Swiss families and families of other back-
grounds. However, the tightly-knit Italian social networks in Switzerland play
an important role in ensuring compliance with cultural norms because of the
public consequences that non-conformist behaviour can entail. In this context,
“family responsibilities take on an almost formal quality of rights and duties
owed to one another by virtue of common membership in a reputation-bearing
social unit” (Berkowitz 1984: 84). Thus, the concern for a family’s honourable
image is one of the main reasons why cultural norms, even if questioned and
criticised on an individual level, are reproduced and sometimes reinforced
within Italian families (Wessendorf 2008).
Negotiations of belonging in relation to co-ethnics are not always as dra-
matic as in Anna’s case and they are not always characterised by disruption.
Some members of the second generation simply drift away from kin and Italian
peers, whether because of the sites and social arenas in which they prefer to
spend their time, or the ethnic composition of their neighbourhoods and the
schools they attend.
4 Conclusion
Anna’s and Luca’s trajectories through adolescence and their changing position-
alities in relation to the transnational social field and the majority society are
representative of many other second-generation Italians’ experiences. Their
trajectories could be interpreted as examples at opposing ends of a continuum of
various patterns of belonging on which descendants of migrants position them-
Who Do You Hang Out With? 127
selves. For example, some members of the second generation have social net-
works in Switzerland dominated by Italians, but do not go to Italy regularly
because they lack ties to their southern Italian relatives, while others have mixed
networks in Switzerland, but continue to go to Italy every year. Some had no
Italian peers as children and entered Italian groups as adolescents; others, like
Anna, entered other networks during this time. Hence, there are different posi-
tions on a spectrum of various second-generation identifications that are not
parallel, but cross-cut by different degrees of transnational involvement. These
patterns are characteristic for many second-generation Italians’ lives. The mi-
croanalysis of their lives shows that, despite shared ethnic and class back-
grounds, there are specific socio-economic, cultural and gender specific reasons
for each pattern, and that the family, immediate social and institutional sur-
roundings and the transnational social field play crucial roles. These factors
shape, for example, the establishment of a ‘double tie’ to co-ethnics and the
making of culture, or the disconnection from people of the same origin.
The cultural practices of migrant youth who grow up within multiple cul-
tural fields are highly context dependent (Alexander 1992; Vertovec/Cohen
1999). Kathleen Hall (1995), for example, shows how second-generation Sikhs
in Britain negotiate their cultural practices according to various contexts such as
the temple, home, market arcades, schools, and night-clubs, spaces which have
also been called “segmented cultural spaces” (Faist 2000). They consciously
decide “the time and space to act English or Sikh”. She emphasises that these
youths’ experiences cannot be explained by simply assessing them as bicultural,
because “this way of framing the issue only serves to reify the concept of cul-
ture”. Rather, their everyday practices are characterised by a fragmented con-
sciousness (Hall 1995:254).
Similarly, second-generation Italians in Switzerland choose such identifica-
tions, be they Italian, Swiss or Latino, in certain contexts. These choices are
shaped by experiences of difference, whether related to other migrants, the ma-
jority society, or to conflicting cultural expectations among co-ethnics. Thus,
experiences of difference play an integral part in the course of most second-
generation Italians’ lives. This is especially prevalent during adolescence, a time
when social affiliations and identifications are negotiated, and when a clear
sense of belonging to a specific group becomes especially important. Even if
reflections about belonging remain important as people grow older, the empha-
sis on affiliations to particular peer groups and the need to be recognised as a
member of the group become weaker. As adults, the cultural and social arenas in
which members of the second generation live, whether Latino and pan-ethnic,
all Italian, or primarily Swiss, continue to play a role, but as facts of life rather
than issue of negotiation and reification.
128 Susanne Wessendorf
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„So genieße ich jetzt das Single-Leben in Frankfurt“
Adoleszente Bearbeitung der Migrationssituation
Marga Günther
Identität als Frau oder Mann ins Zentrum der Adoleszenzentwicklung. Die Ab-
lösung von den Eltern muss bewältigt und die Beziehung zu ihnen modifiziert
werden. Außerdem erhält die Entwicklung einer Berufs- und Zukunftsperspekti-
ve eine besondere Bedeutung. Die adoleszente Auseinandersetzung bietet
grundsätzlich die Möglichkeit, Neues herauszubilden, das heißt, sich von in der
Kindheit erworbenen Mustern zu lösen und neue Bewältigungs- und Bezie-
hungsformen zu entwickeln (vgl. King 2002).
Der Adoleszenzprozess erfolgt meist im Rahmen einer Schul- und Berufs-
ausbildung, während der die Jugendlichen eigene Zeit und Spielräume erhalten,
ihr Leben selbst zu gestalten, in denen sie jedoch noch nicht die volle Verant-
wortung für ihr Handeln übernehmen müssen. Diese Spielräume dehnen sich
durch verlängerte Ausbildungszeiten moderner Gesellschaften entsprechend aus.
Das „Ausbildungsmoratorium“ (Bosse 2000: 54) bietet den Jugendlichen häufig
den Anlass und die Gelegenheit, sich mit der eigenen Gewordenheit neu zu
beschäftigen und stellt ein vielfältiges Experimentierfeld für die Ausbildung
vom elterlichen Modell abweichender Lebensentwürfe dar. Die Adoleszenz ist
daher als „psychosozialer Möglichkeitsraum“ (King 2002: 28ff) anzusehen,
welcher in die jeweiligen realen Bezüge eingebettet ist, in denen Jugendliche
heranwachsen. Faktoren wie die innerfamiliäre Dynamik, die soziale Position
der Familie und die gesellschaftlichen Bedingungen spielen eine wichtige Rolle
sowohl für die Qualität als auch die Dauer der Adoleszenz1. Von adoleszenter
Ablösung und Ausbildung eines „individuierten“ (Bosse 2000: 51) Lebensent-
wurfs kann jedoch erst gesprochen werden, wenn auch eine innere Distanznah-
me und reflexive Auseinandersetzung mit den elterlichen Lebensentwürfen
stattfindet (Bosse 2000, Sauter 2000). Dieser Prozess findet nicht ohne heftige
psychische Krisen statt und ist geprägt von vielfältigen Ambivalenzen, an über-
lieferten Mustern festzuhalten oder Neues zu entwickeln (Bosse 1994: 110ff).
Bedeutender Motor für die kritische Auseinandersetzung mit bisher vertrauten
Mustern sind außerfamilale Bezugspersonen oder Mentoren sowie Gleichaltrige,
mit denen andere Beziehungsmuster ausprobiert werden können. Inwieweit die
Jugendlichen sich bei der Ausbildung ihrer Lebensentwürfe eher an den familia-
len und gesellschaftlichen Aufträgen und Vorbildern orientieren oder ob sie es
schaffen einen neuen Entwurf zu integrieren, hängt wesentlich davon ab, wie
eng oder weit die Spielräume gesteckt sind, in denen ihre adoleszente Ausei-
nandersetzung stattfindet. Hinsichtlich der Entwicklung einer Berufsperspektive
spielt es beispielsweise nicht nur eine Rolle, inwieweit die Eltern ihre berufli-
1
Die Adoleszenz wird hier nicht als phasenspezifische Abfolge von Entwicklungsaufgaben
betrachtet (Mertens 1994; Bohnsack/Nohl 1998), sondern in ihrer komplexen Dynamik der psy-
chosozialen Prozesse wahrgenommen, die nicht unbedingt linear verlaufen und deren Ende
nicht an ein bestimmtes Alter gebunden ist (Erdheim 1982; King 2000).
„So genieße ich jetzt das Single-Leben in Frankfurt“ 133
chen Ziele selbst einlösen konnten oder sie vielleicht an die Kinder delegieren,
sondern auch wie einschränkend oder offen die familiale Haltung gegenüber
anderen Entwürfen der Jugendlichen ist. Der jeweilige Identitätsentwurf, den ein
Mensch in Auseinandersetzung mit seiner individuellen Biografie ausbildet, ist
somit immer auch ein Resultat seiner lebensgeschichtlich erworbenen indivi-
duellen, familialen und soziostrukturellen Erfahrungen und den dadurch ausge-
bildeten „psychischen Ressourcen“ (King 2000: 57).
Auch die Migration setzt sowohl auf individueller wie gesellschaftlicher
Ebene entscheidende Transformationsprozesse in Gang. Lange Zeit beherrsch-
ten normativ geprägte Ansätze die Migrationstheorie und trugen damit zur Ver-
festigung von Ethnisierungsprozessen bei (vgl. Radtke 1991). Neuere Ansätze
der Migrationsforschung betrachten die Umwandlungs- und Neubildungspro-
zesse im Zuge von Migration und erfassen damit die Wechselwirkung zwischen
individueller und gesellschaftlicher Ebene (vgl. Apitzsch 1999). Anhand der
konkreten Lebensgeschichte kann die kreative Auseinandersetzung des Einzel-
nen mit der Migrationssituation untersucht werden. Beachtung finden hierbei
insbesondere die biografischen Ressourcen, die in einem anderen Zusammen-
hang entwickelt wurden und nun, im Rahmen der Migrationssituation in Konf-
rontation mit der Aufnahmegesellschaft, eine besondere Bedeutung erhalten. So
spielt es etwa für die Bewältigung der migrationsbedingten Schwierigkeiten eine
wichtige Rolle, inwieweit jemand als ‘Delegierter’ seiner Familie ins Ausland
geschickt wird, um das Ansehen der Familie zu mehren, oder ob die Migration
eher ein Resultat eigener Motive darstellt. Die Aufnahmegesellschaft ruft bei
MigrantInnen aber auch einen unterschiedlichen Umgang mit ihrer Herkunft
hervor. Afrikanische EinwanderInnen sind ob ihrer Hautfarbe von Ethnisie-
rungsprozessen und Rassismus ganz anders betroffen als etwa AussiedlerInnen
aus der ehemaligen Sowjetunion (vgl. Herwartz-Emden 2003). Der durch die
Migration angestoßene Transformationsprozess kann insofern eine neue Hand-
lungsautonomie bewirken, als sich MigrantInnen mit ihren biografischen Erfah-
rungen und Strukturen auseinandersetzen, sie infrage stellen, instrumentalisieren
oder auch weiterentwickeln. Der Zusammenhang von Adoleszenz und Migrati-
on verweist daher auf besondere Herausforderungen in der Adoleszenz, es han-
delt sich hierbei um eine „verdoppelte Transformation“ (King/Schwab 2000:
211).
Das zentrale Thema der Adoleszenz, die Ablösung von der Herkunftsfami-
lie, erfährt durch die elternunabhängige Migration eine Verschärfung, da die
Trennung radikal vollzogen wird und die gleichzeitig vorhandenen Rückbin-
dungswünsche real nicht erfüllt werden können. Ohne die Sicherheit vertrauter
Beziehungsmuster wird die Verankerung in der zunächst fremden Kultur er-
schwert. Wichtig für den Verlauf dieses Aneignungsprozesses sind die Erfah-
134 Marga Günther
2
Das Geschlechterverhältnis in Guinea ist grundsätzlich patriarchalischer organisiert und unter-
liegt einer strengeren sozialen Kontrolle, als dies in Deutschland der Fall ist (vgl. Günther
2001). Obwohl auch in Deutschland nach wie vor patriarchale Ungleichheitsstrukturen im Ge-
schlechterverhältnis herrschen, bestehen hier jedoch grundsätzlich mehr Möglichkeiten, ver-
schiedene Geschlechterrollen auszuprobieren (vgl. Heß-Meining /Tölke 2005)
„So genieße ich jetzt das Single-Leben in Frankfurt“ 135
Migration stellt für die Jugendlichen daher einen erweiterten adoleszenten Mög-
lichkeitsraum dar, der ihren Entwicklungsprozess entscheidend vorantreiben
kann. Der Verlauf des Migrationsprozesses Adoleszenter wird jedoch wesent-
lich beeinflusst von den bestehenden kulturell-gesellschaftlichen Konstellatio-
nen, in denen er stattfindet (vgl. King/Koller 2009). Wenn das Aufnahmeland
potenziell einen erweiterten adoleszenten Entwicklungsspielraum zulässt – weil
zum Beispiel hinsichtlich ihrer Geschlechtsentwürfe eine größere Gestaltungs-
freiheit gewährt wird – so kann dieser Möglichkeitsraum gleichzeitig auch be-
schränkt werden durch die strukturell vorhandene Diskriminierung in der Ein-
wanderungsgesellschaft, die MigrantInnen oft gerade auf stereotype Ge-
schlechtsrollenmuster festschreibt (vgl. Schröter 2002: 272ff.). Die individuelle
Ausgestaltung dieses Spannungsfeldes hängt wesentlich von den inneren und
äußeren Ressourcen ab, die die Jugendlichen zur Krisenbewältigung mobilisie-
ren können.
2 Fallstudien
Im Folgenden wird anhand von zwei Fallstudien das Zusammenspiel des Ado-
leszenz- und Migrationsprozesses analysiert. Am Einzelfall soll aufgezeigt wer-
den, wie die jeweilige Bearbeitung der Migrationssituation von den adoleszen-
ten Krisen geprägt ist. Die Beispiele entstammen einem Forschungsprojekt
(Günther 2001, 2009a), für das im Jahr 2000 offene biografische Einzelinter-
views geführt wurden, anhand derer die Prozesshaftigkeit von Adoleszenzver-
läufen in der Migration herausgearbeitet wurde. Die Auswertung erfolgte in
Anlehnung an die Ethnohermeneutik (vgl. Bosse 1998; Bosse/King 1998), die
Elemente der Sequenzanalyse (vgl. Oevermann 1993) mit dem szenischen Ver-
stehen (vgl. Lorenzer 2002) sowie der Analyse der Forschungssituation (vgl.
Günther 2009b) verbindet. Damit können sowohl der manifeste Sinn der mitge-
teilten Äußerungen wie auch Teile der unbewussten bzw. abgewehrten Bot-
schaften erfasst werden, die bei der Ausbildung von Lebensentwürfen gleichsam
wirksam sind3.
Bei den Fallstudien handelt es sich um eine junge Frau, Aida Sangaré, und
einen jungen Mann, Abou Baldé4, die beide zum Zeitpunkt des Interviews
dreiundzwanzig Jahre alt sind. Sie wuchsen in Guinea auf, absolvierten dort ihr
Abitur und kamen anschließend zur Aufnahme des Studiums nach Deutschland.
3
Das qualitative Forschungsdesign ist den Grundsätzen einer reflexiven Hermeneutik (vgl. Bosse
2001; King 2004; Günther 2009b; Kerschgens 2007) verpflichtet und findet eingebettet in eine
Interpretationsgruppe statt.
4
Sämtliche Namen und persönlichen Daten wurden anonymisiert
136 Marga Günther
Beide stammen aus Familien, die der Elite ihres Herkunftslandes angehören und
über entsprechendes kulturelles, soziales und ökonomisches Kapital verfügen,
welches ihnen erlaubt, ihren Kindern eine höhere Schulbildung sowie ein Aus-
landsstudium zu ermöglichen. Die Gespräche werden zunächst jeweils anhand
ihrer zentralen Themen zusammengefasst und analysiert. Danach folgt ein Ver-
gleich beider Bewältigungsstrategien.
Aida ist dreiundzwanzig Jahre alt, lebt seit fast fünf Jahren in Deutschland und
studiert Politikwissenschaften. Sie beginnt ihre Erzählung mit dem Zeitpunkt
ihrer Migration und ihrer ersten Zeit in Deutschland. Ihre Eltern hätten nicht
gewollt, dass sie ins Ausland geht, weil eine der älteren Schwestern Aidas ihr
Studium in Kalifornien abgebrochen habe und nach Guinea zurückgekehrt sei.
Sie hätten Aida ein Auslandsstudium nur in Deutschland erlaubt, weil sie ge-
hofft hätten, Aida durch die sprachliche Hürde in Guinea halten zu können.
Doch Aida habe sich dadurch nicht abschrecken lassen und sei schließlich im
Alter von achtzehn Jahren in die Obhut eines Cousins nach Dresden geschickt
worden, mit dem die Eltern Aida gerne verheiratet hätten. Dort habe sie den
Sprachkurs und das Studienkolleg besucht, die Voraussetzungen zur Aufnahme
eines Studiums. Im Studentenwohnheim habe sie neben ihrem Cousin mit zahl-
reichen anderen StudentInnen aus Guinea zusammengelebt, von denen Aida
sich aber bald distanziert habe. Sie schildert, dass sie von ihnen in dasselbe
Rollenmuster gedrängt wurde, wie es in Guinea üblich sei, welches sie jedoch
ablehne: die Mädchen kochten und wuschen für die Männer, vernachlässigten
darüber ihr Studium und blieben hauptsächlich unter sich. Aida habe sich ein
anderes Leben als Frau vorgestellt und ihre Einstellung diesbezüglich auch
offen geäußert. Damit sei sie jedoch auf Ablehnung bei ihren FreundInnen ge-
stoßen und habe sich bald als Außenseiterin gefühlt. Anders als ihre Landsleute
habe sie gezielt den Kontakt zu Deutschen gesucht, in Dresden damit jedoch
kaum Erfolg gehabt. Aida habe sich dort stattdessen stets „wie ein Außerirdi-
scher auf der Straße“ behandelt gesehen. Gemeinsam mit ihrem damaligen
guineischen Freund sei sie darum nach eineinhalb Jahren nach Köln gegangen.
Dort sei sie aber von ihrem Freund weiter in ihrer Freiheit beschränkt worden,
sodass sie sich schließlich von ihm getrennt habe und allein nach Frankfurt
gekommen sei. Hier lebe sie nun seit drei Jahren und fühle sich sehr wohl. Aida
sagt über ihr jetziges Leben:
Ich bin der Meister meines Lebens halt, ich hab meine Freiheit, das ist mir wichtig.
„So genieße ich jetzt das Single-Leben in Frankfurt“ 137
Freiheit und Selbstbestimmtheit sind immer wieder Thema des Gesprächs. Aida
erzählt, dass sie sehr liberal erzogen worden sei:
Ich durfte tun, was ich wollte, solange ich gute Noten hatte. [Hmhm] Nicht übertrieben aber,
also schon lange bin ich daran gewöhnt, meine eigenen Entscheidungen zu treffen. [Hmhm]
Und da wenn ich die an jemand anderen übergeben muss, dann kann ich mich daran nicht ge-
wöhnen. (lacht)
Sie komme aus einer großen Familie – viele Onkels und Tanten seien nach
Amerika und Europa emigriert – in der die Frauen eine hohe Wertschätzung
erfahren, häufig hohe berufliche Positionen im In- und Ausland besetzen und
über die Familienangelegenheiten mindestens mitbestimmen. Aida macht deut-
lich, dass dies in Guinea normalerweise nicht üblich sei und sie überdies aus
einer traditionell bedeutenden Familie stamme, da ein Urgroßvater ein hochran-
giger Religionsführer gewesen sei. Aus diesem Bewusstsein, welches in ihrer
Familie stets betont worden sei, schöpfe sie ein gewisses Maß an Selbstsicher-
heit, welches ihr in Deutschland helfe, sich gegen Diskriminierungserfahrungen
zu behaupten. Aidas Vater habe in Frankreich studiert und jahrelang eine Firma
in einer kleinen Stadt der Küstenregion Guineas geleitet, während die Mutter
mit den insgesamt vier Töchtern in der Hauptstadt geblieben sei. Ihren Vater
beschreibt Aida als gutmütig und tolerant, die Mutter hingegen habe „ein bis-
schen Show abgezogen“. Sie habe ihren Kindern einerseits große Selbstständig-
keit gewährt, andererseits aber auch die eher einschränkenden kulturellen Werte
und Normen Guineas betont und war stets darauf bedacht, dass ein Abweichen
von den gesellschaftlichen Konventionen nach außen nicht sichtbar wurde. Aida
betrachtet ihre Eltern heute aus einer anderen Perspektive und erkennt ihre eige-
ne Entwicklung, die durch die Migration nach Deutschland möglich wurde:
Aida: Ich war letztes Jahr … wenn man dort, das war schon ein bisschen da ko-
misch, nach drei Jahren zu sehen, wie die Leute sind. Da war ich als Beobach-
ter .. irgendwie. [Du bist da ...] Letztes Jahr, ja bin ich hingeflogen.
MG: War das das erste Mal?
Aida: Ja, war das erste Mal. War ganz schön und und ... aber ... [Aber?] Mein Leben
ist nun mal in Frankfurt (lacht)
MG: Und was war da jetzt komisch?
Aida: Die Leute .. oder oder oder vor allem auch mit den Eltern auch zu reden als
Erwachsene. Auf einmal .. man man traut sich jetzt mehr zu sagen, über Sex
zum Beispiel so das ist ja, das ist ober-, es wird, ist Tabu, darüber wird nie nie
nie gesprochen. [Hmhm] Aber auf einmal konnte man ein bisschen darüber
sprechen.
Aida distanziert sich in dieser Szene deutlich von dem Leben ihrer Heimat, die
sie als „Beobachter“ besucht habe. Ihr ist es wichtig, zu betonen, dass sie ein
eigenes Leben in Frankfurt hat, das sich deutlich von dem in Guinea unterschei-
138 Marga Günther
det. Ihre Distanz zu den Eltern und deren Konventionen demonstriert sie bei
ihrem Besuch auch, indem sie absolute Tabus bricht. Sie empfindet es als Er-
leichterung, endlich über für sie wichtige Themen wie Sex zu sprechen und
dadurch in der Beziehung zu den Eltern mehr Autonomie gewonnen zu haben.
Aida erzählt, sie sei anfangs von ihren Eltern in Deutschland finanziert
worden. Doch nach einiger Zeit habe sie entschieden, selbst für ihren Unterhalt
zu arbeiten und sei sehr froh über ihre dadurch gewonnene Unabhängigkeit. Die
Wahl ihres Studienfaches Politik begründet Aida mit der politischen Aufgeklär-
theit ihrer Familie, die sich sowohl darin ausdrücke, dass ausländische Zeitun-
gen gelesen würden, als auch darin, dass einige Familienangehörige Politik in
Guinea aber auch auf internationaler Ebene betreiben würden. So habe sich
schon sehr früh ihr Interesse an diesem Fach entwickelt.
Aida kommt immer wieder auf ein Thema zu sprechen, das sie zurzeit sehr
beschäftigt: Partnerschaft und Heiraten. Einerseits schildert sie den Druck von
außen, da ihre Familie und ihre FreundInnen sie drängen würden, einen Mann
zum Heiraten zu finden. Aida weist diese Erwartungen jedoch zurück und
schätzt den zusätzlichen Spielraum, den ihr die Migration zur Erprobung alter-
nativer Lebensformen ermöglicht:
…brauche ich schon einen, der .. einen sehr starken Charakter hat (lacht) aber wo finde ich so
was? (lacht) ... Das ist das Problem unter den Jungs hier.
Zusätzlich spielt es eine große Rolle, woher der Mann kommt, beziehungsweise
wo er seine Zukunft sieht. Aida zitiert ihre guineischen FreundInnen, die über
sie sagen:
Sie selbst ist sich diesbezüglich noch nicht so sicher und wägt das Für und Wi-
der zwischen afrikanischen und deutschen Männern ab. Ganz realistisch setzt sie
sich mit ihrem Aufenthaltsstatus auseinander, der vorsieht, dass sie nach Been-
digung ihres Studiums nach Guinea zurückkehren muss. Einzige Möglichkeit,
dies zu verhindern, wäre die Heirat mit einem deutschen Mann, die Aida aber
„So genieße ich jetzt das Single-Leben in Frankfurt“ 139
als reine Zweckheirat ablehnt. Grundsätzlich glaubt sie aber, durch die Heirat
mit einem deutschen Mann mehr Freiheit und Selbstbestimmtheit zu erhalten als
dies mit einem Guineer möglich sei, weil die familiären Zwänge in Deutschland
geringer und die gesellschaftliche Toleranz für freie Partnerschaften größer
seien. Aida kann sich zurzeit nicht vorstellen, nach Guinea zurückzukehren,
denn:
Ihr selbstbestimmtes Leben in Frankfurt ist Aida sehr wichtig. Sie habe hier
zwar auch guineische und afrikanische FreundInnen, lege aber Wert darauf, dass
sie ebenso Kontakt zu vielen anderen Leuten hat. Im Vergleich zu Dresden, aber
auch Berlin fühle sie sich in Frankfurt nicht so sehr wie eine „Außerirdische“.
Zwar werde sie auch hier manchmal komisch angeguckt, komme aufgrund ihrer
Hautfarbe in eine Disco nicht rein oder werde gefragt, ob sie deutsch spreche,
grundsätzlich würde sie sich aber daran gewöhnen und habe hier weniger Angst:
Aida versucht eine Verbindung zwischen der guineischen und der deutschen
Welt zu finden. Der Rückhalt in der Gruppe ihrer guineischen Freunde, die sie
gelegentlich in Dresden oder Berlin besucht, sei ihr sehr wichtig und gebe ihr
das Gefühl, die Heimat zu besuchen. Jedes Mal empfände sie dabei aber auch
eine Erleichterung darüber, dass sie ein von ihnen unabhängiges Leben in
Frankfurt lebe und nicht einfach die guineische Lebensweise in Deutschland
fortsetze.
Zusammenfassend stellt sich Aidas Adoleszenzverlauf folgendermaßen
dar: Aida hat durch die freiheitliche und tolerante Atmosphäre ihrer Familie eine
starke innere Selbstständigkeit und Unabhängigkeit entwickeln können und
strebt einen möglichst selbstbestimmten Lebensentwurf an. Ihr Freiheitsdrang
wird von der Familie jedoch gleichzeitig beschränkt, da sie die Anpassung an
die guineischen Konventionen fordert. Dennoch erwirkt Aida die Erlaubnis zur
Migration direkt nach ihrem Abitur. Im Laufe ihres Adoleszenzprozesses setzt
Aida sich intensiv mit ihrem bisherigen Leben auseinander und versucht – an-
ders als die Mutter – ihre Selbstbestimmtheit auch öffentlich durchzusetzen.
Aidas zentrales Adoleszenzthema ist die Frage, wie sie ihr Ziel eines freien und
selbstbestimmten Lebens bei gleichzeitiger Bindung an einen Partner verwirkli-
chen kann. In der Migration erfährt ihre Identitätssuche durch die äußere Tren-
nung von den Eltern und dem erweiterten adoleszenten Entwicklungsspielraum
in Deutschland einen deutlichen Schub, denn sie kann freier mit verschiedenen
Entwürfen von Weiblichkeit experimentieren. Sie eignet sich gezielt neue Le-
140 Marga Günther
Abou Baldé ist dreiundzwanzig Jahre alt, lebt seit neun Monaten in Deutschland
und besucht zurzeit einen Sprachkurs. Abou beginnt seine Erzählung mit seiner
Kindheit, die er zunächst im Dorf seiner Eltern verbracht habe. Abou sei das
jüngste von sieben Kindern seiner Eltern und von seiner Mutter sehr verwöhnt
worden. Es gebe zahlreiche Verwandte, die sowohl in Guinea als auch im Aus-
land verstreut lebten. Um die Schule besuchen zu können, sei er mit sieben
Jahren in die Hauptstadt zur Familie einer Cousine umgezogen. Die Cousine sei
Französischlehrerin gewesen und habe ihm in der Schule viel geholfen. Außer-
dem habe er von ihr „eine gute Erziehung“ erhalten. Die Cousine ist für Abou
eine wichtige moralische Instanz, an deren Vorgaben er sich noch heute orien-
tiert, wie im Verlauf des Gesprächs mehrmals deutlich wird. In emotionaler
Hinsicht konnte ihm die Cousine den Verlust der Mutter jedoch nicht ausglei-
chen. Abou erzählt, dass er nach dem Abitur in eine andere Stadt umgezogen
sei, um dort Wirtschaft zu studieren. Er habe aber nach einigen Monaten das
Studium abgebrochen und sei nach Conakry zurückgekehrt, denn „das Leben
dort ist schwer“. Was schwer war, erzählt er nicht. Abou habe dann Ilse5 ken-
nengelernt und sie um Hilfe bei der Beschaffung eines Visums nach Deutsch-
land gebeten. Abou begründet seine Motivation, nach Deutschland zu kommen,
mit den Erfahrungen und Erwartungen seiner Brüder und Cousins, die nach
einem Auslandsstudium angesehene Positionen in Guinea besetzen:
Und sie haben mir erzählt, wie das Leben hier ist, es ist nicht leicht, aber muss man sich be-
mühen. Für das Leben zu eh zu kämpfen und ehm ein gutes Diplom zu haben, für einen guten
Job.
5
Über Ilse, einer Bekannten der Autorin, kam der Kontakt zu Abou zustande. Sie besucht Guinea
regelmäßig und ist mit einem Cousin Abous befreundet, der nach seinem Studium in Deutsch-
land heute in leitender Position in einer Firma in Conakry arbeitet.
„So genieße ich jetzt das Single-Leben in Frankfurt“ 141
Abous Visum für Deutschland sei zunächst abgelehnt worden. Auch ein Ver-
such, mithilfe einer Cousine zum Studium in die Schweiz zu gehen, sei geschei-
tert. Abou habe darauf gelassen reagiert:
Okay, kein Problem […] Dann ich lasse einfach die Reise nach Europa oder Amerika eh …
ich lasse das einfach.
Abou sei daraufhin in die Elfenbeinküste gegangen und habe dort eine EDV-
Ausbildung begonnen und nach einiger Zeit einen Anruf von seiner Schwester
aus Guinea erhalten:
Abou: Dann, einfach eh meine Schwester eh eh Ilse hat eh Guinea angerufen und hat
gesagt ich kann nach Conakry kommen und für mein Visum zu bekommen.
[Hmhm] Sie hat alles hier gemacht, sie hat eh die Botschaft angerufen, sie hat
alles hier in Ordnung gemacht [Hmhm] Und die Leute hier haben gesagt, mei-
ne Antwort ist positiv. Ich kann einfach nach Guinea eh eh fliegen und mein
Visum zu bekommen. [Hmhm] Ich habe gesagt: okay, kein Problem. (lauter)
Aber ich hatte Angst vor dieser Frau.
MG: Ja. In der Botschaft.
Abou: In der Botschaft. Weil sie viele Probleme an die Leute dort macht, ja? [Hmhm]
Und ich habe gesagt, okay, besser ist hier bleiben und mein Studium hier ma-
chen und nach Guinea eh zurück eh fliegen und eh ... dort eine kleine Arbeit
eh suchen, ja.
MG: In der Elfenbeinküste das Studium weiter machen?
Abou: Ja, ja. Aber ... meine Familie haben gesagt, besser ist, wenn du eh ... hier eh
nach Conakry fliegst und dein Visum bekommst und gehst nach eh nach eh ...
Deutschland. Du kannst dein Studium dort weiter machen und gut lernen. Weil
eh die … die Möglichkeiten sind eh besser, die Opportunitäten sind eh viel
besser, als wenn du in der Elfenbeinküste bleibst, ja? [Hm] Ich habe gesagt
okay, kein Problem, ich bin nach Conakry geflogen ... und eh, ich habe eine
Chance gehabt.
Abou hatte sich offensichtlich gut damit arrangiert, eine Ausbildung in der El-
fenbeinküste zu machen, so dass er das Visum für Deutschland gar nicht mehr
nutzen wollte. Seine Angst vor der Frau auf der Botschaft ist hier als Angst vor
der Migration insgesamt zu verstehen, wegen der er die geringeren Berufsaus-
sichten einer Ausbildung in der Elfenbeinküste in Kauf nehmen wollte. Seine
Familie drängt ihn jedoch, nach Deutschland zu gehen, um die besseren Mög-
lichkeiten dort zu nutzen. Abou folgt schließlich der Meinung seiner Familie
und macht sie sich zu eigen, indem er das Visum für Deutschland selbst als
Chance ansieht, als er im Alter von zweiundzwanzig Jahren migriert. Die Re-
geln und Handlungsanweisungen seines familiären Umfeldes scheinen stärker
zu wirken als seine Angst vor der Migration. Über sein Leben in Deutschland
sagt Abou:
142 Marga Günther
Das Leben ist nicht so leicht hier. Ich bemühe mich, zu lernen.
Er habe Glück gehabt, weil Ilse ihm eine große Hilfe sei – sowohl beim Erler-
nen der Sprache wie auch mit den Lebensgewohnheiten der Deutschen vertraut
zu werden. Sie wohne in seiner Nähe und verbringe viel Zeit mit Abou. Seit
Abou vor einigen Monaten kein Geld mehr von seiner Familie erhalten habe,
unterstützt Ilse ihn finanziell und vermittelt ihm Jobs, damit er selbst für seinen
Unterhalt sorgen könne. In Abous Erzählung ist große Dankbarkeit für Ilse
spürbar, gleichzeitig aber auch ein enormer moralischer Druck, den er ihr gege-
nüber empfindet. Ilse gibt Abou praktische Anweisungen im täglichen Leben
und erwartet deren Einhaltung. Abou braucht sie als Moralinstanz, weil die
deutsche Lebensweise ihn stark verunsichert:
Eh, man man lernt eh diese europäische Kultur [Hm] und man denkt, eh ist sie die wichtige,
die gute Kultur? Und man vergisst ih- eh ihr eh ihre Selbstkultur, ja? Wenn man in einer gan-
zen Familie lebt, [Hm] wo man zusammen essen kann, zwanzig Leute, mit den Händen
[Hmhm] und einfach, du gehst .. eh nach Ausland, Ausland eh [ins Ausland] ins Ausland, ja ...
(holt tief Luft) du lebst, du lebst allein, nur allein in deiner Wohnung oder mit deiner Frau,
nein mit deiner Freundin, ne? [Hmhm] und lernt man, wie man allein essen kann, oder nur das
Leben ist sehr eh ruhig und allein. Du machst alles allein. Und du vergisst deine deine Kultur!
MG: Hast Du es schon mal gemacht? ... Statt dem teuren das billige gekauft?
Abou: Nein, nein, nein.
MG: Also, es ist schwer aber...
Abou: Es ist schwer, trotzdem mache ich richtig. [Hm] Schweinefleisch, ich kann
nicht sagen, ich esse es nicht. [Hm] Aber, das hängt von der Situation ab.
[Hm] Manchmal kaufe ich, weil ich es nicht weiß, welches Fleisch es ist. Aber
puh, so ist das. Muss man sich anpassen.
Abou möchte ‘richtig’ handeln, weiß aber nicht mehr, an wen er sich anpassen
soll. Ohne ein stützendes Umfeld, das ihm sagt, was er tun soll, fühlt Abou sich
verloren und in Versuchung, ‘falsch’ zu handeln.
„So genieße ich jetzt das Single-Leben in Frankfurt“ 143
Aida und Abou kommen aus Großfamilien, in denen Migration eine wichtige
Rolle spielt. Für beide bedeutet die Migration nach Deutschland die Konfronta-
tion mit neuen, unvorhersehbaren Schwierigkeiten, die sie erstmals alleine und
getrennt von ihrem Herkunftskontext bewältigen müssen. Zur Bewältigung
dieser Krisen entwickeln sie jedoch – entsprechend ihrer inneren und äußeren
Ressourcen – jeweils verschiedene Strategien. Diese lassen sich grundsätzlich
vergleichen, obgleich Aida bereits mehr als vier Jahre und Abou erst neun Mo-
nate in Deutschland leben, denn erfasst werden sollen die spezifischen Bearbei-
tungsmuster, die sich aus den jeweiligen Bedingungen des adoleszenten Mög-
lichkeitsraums vor und nach der Migration ergeben. Anhand der Herausforde-
rungen adoleszenter Migration (vgl. Günther 2009a), der jeweiligen Migrati-
onsmotivation, dem Umgang mit Trennungserfahrungen und Fremdheitsgefüh-
len, den Geschlechtsentwürfen sowie der räumlichen Verortung werden nun die
Ergebnisse der Fallanalysen kontrastierend diskutiert.
Aidas Migrationswunsch ist so stark, dass sie ihn gegen den Widerstand
der Eltern durchsetzt. Sie nutzt die Migration aktiv, um sich in Deutschland
allmählich ihren eigenen Freiraum schaffen und ihren eigenen Lebensentwurf
auszubilden zu können. Abou hingegen hat als Delegierter seiner Familie deut-
lich geringere innere Antriebe zur Bewältigung der Migrationssituation. Diese
drücken sich in der Verzögerung und damit altersmäßig späteren Ausreise aus
und bleiben zunächst auf deren Bildungsaspiration beschränkt.
Die Trennung von ihrer Familie empfindet Aida grundsätzlich als Erleich-
terung und Herausforderung. Ihre zahlreichen Verwandten und guineischen
FreundInnen in Deutschland bieten ihr den nötigen Rückhalt, um Gefühle von
Heimweh aufzufangen, gleichzeitig sind sie aber auch eine Belastung, weil sie
Aida in die in Guinea vorherrschenden weiblichen Rollenmuster drängen. Aida
sucht offensiv neue Bindungen mit Deutschen, und verankert sich immer mehr
in der neuen Welt. Für Abou bedeutet die Trennung von seinem vertrauten Um-
feld den Verlust seiner inneren Sicherheit, die er durch die Anbindung an Ilse zu
kompensieren versucht. Die innere Ablösung von seiner Familie wird durch die
äußere Trennung eher erschwert als ermöglicht.
Mit alltäglichen Fremdheitsgefühlen als Schwarze in Deutschland und den
damit verbundenen Diskriminierungserfahrungen geht Aida realistisch um. Sie
kann hier an Erfahrungen des Anders-Seins in Guinea anknüpfen und akzeptiert
„So genieße ich jetzt das Single-Leben in Frankfurt“ 145
sie als einen Bestandteil ihres Lebens in Deutschland. Den inneren und äußeren
Fremdheitsgefühlen begegnet sie mit einem sicheren Gefühl dafür, wer sie ist
und was sie möchte. Bei Abou hingegen verstärken sich die inneren Gefühle der
Fremdheit durch die migrationsbedingten Fremdheitserlebnisse, wodurch seine
Verunsicherung wächst. Der Wegfall des identitätsstiftenden, eng geknüpften
familiären Netzes offenbart seine Fremdheit sich selbst gegenüber, die er durch
Orientierung an von außen gesetzte Normen zu überwinden versucht.
Mit ihrer räumlichen Verortung setzt Aida sich offen auseinander. Als Kri-
terium legt sie dabei ihren Weiblichkeitsentwurf an, dessen Verwirklichung sie
in Deutschland als eher möglich einschätzt. Abou ist, auch aufgrund der kurzen
Zeit, die er bisher in Deutschland lebt, innerlich noch zu sehr an seine Her-
kunftskultur gebunden, so dass die Frage, wo er einmal leben möchte, für ihn
keine Relevanz hat.
Auch hinsichtlich ihrer Geschlechtsentwürfe unterscheiden sich beide Ju-
gendlichen deutlich. Aida entwirft sich als emanzipierte Frau und stellt die Be-
dingungen und Möglichkeiten dazu ins Zentrum ihrer adoleszenten Auseinan-
dersetzung. Die Migration bietet ihr die Chance, ihrem Ziel näher zu kommen.
Eigene Vorstellungen über seine Rolle als Mann sind bei Abou dagegen weniger
sichtbar. Er folgt den männlichen Vorbildern seiner Familie, die sich durch ein
Auslandsstudium hohes berufliches und privates Ansehen in Guinea erwarben.
Die Migration bedeutet auch hinsichtlich seiner Männlichkeit eine Verunsiche-
rung, weil er seine Position im Geschlechterverhältnis selbst ausfüllen muss.
Das Geschlecht spielt bei der Bearbeitung der Migrationssituation beider
Jugendlicher eine zentrale Rolle. Aida gerät im Zuge ihrer adoleszenten Ausei-
nandersetzung in ein konflikthaftes Verhältnis zu den in ihrer Familie transpor-
tierten kulturellen Werten, als dass sie einen von den Konventionen abweichen-
den Weiblichkeitsentwurf ausbilden möchte und die kompromisshafte Lösung
ihrer Mutter ablehnt. Hieraus resultiert einerseits die Ausbildung innerer Res-
sourcen im Umgang mit Andersartigkeit, andererseits eine höhere Motivation,
ihren Weiblichkeitsentwurf durch Migration zu verwirklichen. Damit ist Aida
für die Neuorientierung der Geschlechterverhältnisse im Aufnahmeland gut
gerüstet und kann in der Migration eine doppelte Chance sehen, die ihr neben
einer qualifizierten Ausbildung die Emanzipation von den Weiblichkeitsentwür-
fen in Guinea ermöglicht und ihre Motivation begründet, sich auch mit Diskri-
minierungserfahrungen im Aufnahmeland offen auseinanderzusetzen.
Für Abou besteht dagegen aufgrund seiner privilegierten Position im Ge-
schlechterverhältnis in Guinea weniger Anlass, einen abweichenden Lebens-
entwurf zu entwickeln, er arrangiert sich mit der Anpassung an die traditionellen
Vorgaben, welche eine automatische Statusverbesserung mit zunehmenden
Alter bewirkt. Sein Männlichkeitsentwurf erfordert wenig Handlungsautonomie,
146 Marga Günther
weil der kulturelle Rahmen eine klare Orientierung auch für Krisen bietet. Erst
die Migration veranlasst ihn, sich mit verschiedenen Männlichkeitsentwürfen
auseinanderzusetzen, da ihn die selbstbewusste und fordernde Haltung der glei-
chaltrigen Frauen irritiert. Seine grundsätzliche migrationsbedingte Überforde-
rung provoziert hier jedoch eher eine Anbindung an bekannte Männlichkeits-
muster als eine Integration auch neuer Anteile.
Zusammenfassend bewirkt die Migration bei Aida aufgrund ihrer vorhan-
denen inneren und äußeren Ressourcen eine deutliche Erweiterung ihres adoles-
zenten Entwicklungsspielraums, den sie schöpferisch ausgestalten kann. Die
selbst erkämpfte Migration bietet ihr die Chance, freier mit ihren Lebensentwür-
fen zu experimentieren und die Grenze zu ihrer Herkunftsfamilie deutlicher zu
markieren. Abou dagegen erfährt durch die Migration eine Einschränkung sei-
nes adoleszenten Entwicklungsspielraums, weil er aufgrund seiner geringeren
inneren Freiheit (vgl. King 2000) bei gleichzeitig fehlender sozialer Unterstüt-
zung von den erweiterten Spielräumen in Deutschland überfordert ist. Als Dele-
gierter seiner Familie wird seine Adoleszenzentwicklung durch die Autonomie-
anforderungen des Aufnahmelandes zunächst blockiert statt gefördert, weil er
aufgrund seiner Anpassungsbestrebungen keine eigenen Lebensentwürfe entwi-
ckelt.
3 Fazit
liche Quelle für kreative Potenziale darstellen kann, sofern genügend innere
Ressourcen zu ihrer Bewältigung vorhanden sind. Die Ablehnung der kulturell-
gesellschaftlich zur Verfügung stehenden Geschlechterentwürfe begünstigt die
adoleszenten Trennungstendenzen und fördert die Auseinandersetzung mit dem
Fremden, wie sie in der Migration doppelt gefordert wird. Insofern kann Ge-
schlecht ein bedeutender Motor für die schöpferische Bewältigung des adoles-
zenten Migrationsprozesses darstellen. Die jeweiligen Lebensentwürfe adoles-
zenter Migranten sind Ausdruck von Identifizierungen sowie des Ringens um
Eigenständigkeit und gleichzeitig Lösungen für häufig widersprüchliche gesell-
schaftliche Konstellationen.
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148 Marga Günther
Thus, integration, identity formation and self-perception are not isolated proc-
esses. They are determined by the trivial practices of everyday life. They are
often unreflective or semi-conscious negotiations with culturally and ethnically
different ‘others’, as well as with the given social, political and economic struc-
tures, the ethnic-familial structures and the two sets of education that second-
generation immigrant adolescents usually face. The resulting hybridisation and
multiculturality become an important force in identity formation (see Bukow
1996: 122). Migrants and their offspring are not victims necessarily driven into
social exclusion and at the mercy of a hostile social environment but sovereign
individuals, social and political actors in a multi-ethnic, multicultural society,
who develop a variety of strategies to cope with their situations. Migration is no
longer an exception and, as Filipinos tend to define it, a sacrifice, but a matter of
rational choice and a fact of everyday life. Immigrants of different ethnic and
national backgrounds strive for equality with the populations of their host coun-
try, but not necessarily for homogeneity.
This paper begins with a description of the methodology and the empirical
basis of the study. This is followed by a short overview of the history of Philip-
pine labour migration to Austria and the available statistical data, which con-
tribute to a better understanding of the social backgrounds and starting points of
the second-generation Austro-Filipinos discussed later on. Then the paper exam-
ines how traditional Filipino values and standards are passed on to second-
generation immigrants by their parents, how these affect their identity formation
and self-perception, and how young Austro-Filipinos cope with growing up with
two worlds of socialisation, that of their family and that of the Austrian school
system and their native Austrian peers. The next section asks whether they live
in an ethnically closed environment or are able to establish ethnically open net-
works of social relationships. Finally, the paper deals with the question of the
extent to which the high degree of legal integration, their education and their
social positioning affects the national identity of second-generation Filipino
immigrants, engenders a feeling of belonging and furthers their meaningful
participation in and their influence on Austrian affairs. The concluding section
summarises the findings.
While this study draws on available migration literature, it also owes much to a
close monitoring of the Philippine migrant community in Austria and to infor-
mal conversation with community members; it is based on 42 open-structured,
guided interviews with Austro-Filipino adolescents aged 14-25 years. The inter-
Austro-Filipino Youth 151
views were conducted in Vienna, which hosts an estimated 70 per cent of all
Filipino immigrants and their offspring in Austria, between January and mid-
June 2006. Twenty-four respondents were female, 18 male. The table below
shows the age and gender of the interviewees.
Philippine immigration to Austria began with the first wave of labour migration
initiated by the Austrian government. In 1973, a bilateral agreement was made
between the city of Vienna and the Philippine Department of Labor, under
which the Viennese municipal administration consented to admit a number of
young, single, Filipina nurses, in line with the city’s needs. The agreement was
concluded for an unspecified period of time and an unstated number of nurses to
be admitted. The municipal government agreed to shoulder the travel expenses
as well as the costs of a two-month intensive language course, after which the
nurses should take up their full-time employment. It treated Philippine nursing
diplomas as equivalent to Austrian diplomas and entered into three-year con-
tracts with the Filipinas, promising that the contracts could be extended and that
the nurses could eventually gain civil servant status like Austrian nurses. By
1985, when the agreement expired without any formal termination, about 400
Filipina nurses had extended their work permits indefinitely. However, the ac-
tual number of nurses in Austria was much higher than the original entrants and
also included males since, starting in 1975, many relatives of the original immi-
grants had come to Austria, entering with tourist visas, but intending to stay and
acquire work permits. Others came to join their relatives and found employment
in other fields, very often in fairly menial jobs (see Reiterer 2003: 8). The estab-
lishment of a UN headquarters in Vienna eventually offered further career op-
portunities, ranging from professional positions to maintenance and security
jobs. The employment of Philippine migrants to Austria became more diverse
but was still mainly limited to the tertiary sector. However, early Filipina immi-
grants have, with few exceptions, found better jobs than their male counterparts.
The specific circumstances of labour migration for Philippine nationals, the
educational background of the migrants, its originally predominantly female
Austro-Filipino Youth 153
character, and the ensuing intermarriages with native Austrians, which acceler-
ated the nationalisation process, have created life conditions for the second-
generation immigrants that differ significantly from those of other ethnic immi-
grant groups.1 Austro-Filipinos of the first and second generations seem to be
legally and socially better integrated in Austria than other immigrant groups
from non-Western countries. Early Philippine migrants into Austria, due to
favourable conditions in the receiving country and their formal training, have
mostly found secure and skilled employment. Thus, they enjoy a better socio-
economic status and a higher degree of acceptance by the native population than
other early immigrant groups and are concentrated in the Austrian middle class.
They enjoy a decent standard of living, enabling them to provide their children
with further education and to send remittances to relatives in the Philippines.
Still, some of them take up multiple and sometimes menial jobs to improve their
income and to enhance their social status inside the community (see Gonzales
1998: 104).
Philippine migration to Austria is economically and not politically moti-
vated. This apoliticism and its economic importance for the Philippines enable
the migrant community to maintain close contacts with the Philippine embassy
in Vienna and to define their relationship to the Philippine government, which
has instituted measures to address the growing labour outflow and to protect the
welfare of overseas migrant workers. It has also enacted important legislation
for the reintegration of returnees and created a special status for permanent resi-
dents of Philippine origin abroad (see Ogena 2004).
1
In Austria, citizenship is a precondition for political and many social rights.
154 Gisela M. Reiterer
Definitions of the term ‘second generation’ vary widely among researchers (see
Widgren 1982). In this essay, it is used synonymously with the term Austro-
Filipino youth, with the latter meant to emphasise their high degree of legal and
structural integration and in many cases, their dual ethnic roots. It covers de-
scendants of Philippine migrants in Austria, who came to the country before the
age of twelve, or who were born here of Filipino parentage or of mixed mar-
riages.
‘Guesstimates’ by the Philippine embassy in Vienna put the number of mi-
grants of Philippine descent in Austria at 25,000-30,000, but this seems to be an
overstatement. The Austrian census of 2001 lists a population of 8,881: 2,714
males and 6,167 females, who cited the Philippines as their country of birth.
With respect to their nationality, 3,368 residents in Austria are Philippine na-
tionals (1,323 males and 2,045 females) (see Statistik Austria 2004a). Alto-
gether, 5,582 residents said that their everyday language with family members,
friends and acquaintances is Filipino (or one of the Philippine vernaculars). Of
these, 1,721 still hold Philippine passports, while the others are ‘naturalised’
Austrians; 1,281 were born in Austria (see Statistik Austria 2004b). Compiled
data from the Austrian Statistical Yearbooks show that between 1981 and 2004,
7,922 Filipinos were naturalised (see Reiterer 2004: 11). In Vienna, around
three-quarters of Filipino migrants have acquired Austrian citizenship. Between
1991 and 2000, the citizenship rate among migrant Filipinos was around 10 per
cent and thus among the highest of all migrant groups (see Waldrauch/Sohler
2004: 172).
4 Brought up as Filipinos
The interviewees unanimously said that they were brought up by their parents
according to Philippine standards and tradition, even if their fathers are native
Austrians. This means that as far as children are concerned, the households are
matrifocal and organised around the mother. Generally perceived, she “is the
prime source of nurture, goodness, dependability, teaching, and authority, she is
considerate, anticipating the feelings of her children and knows what is good for
them” (Mulder 1997: 30). While she sacrifices herself for her children and
somehow becomes their superego, their father is an authoritarian and often dis-
tant figure with a great claim to respect. Female and male spheres in life are thus
seen as complementary. While women are the moral agents, caring mothers who
carry the greatest responsibility in socialisation, fathers are the procreators
whose main roles are that of providers and disciplinarians (see Medina 2001:
Austro-Filipino Youth 155
223). The special conditions of migration, however, force them to be more in-
volved in childcare and household chores.
Filipinos tend to talk about their “group culture” (Torres-D’Mello 2001:
60), which means that the individuals are not supposed to define themselves
apart from each other but rather as members of a closed group. Successful and
smooth interpersonal affairs bring reassurance, recognition and rewards. Self-
esteem depends on how a person is perceived by others. This experience of
“dependent subjectivity” (Mulder 1997: 21) makes people see others as exten-
sions of themselves; this is especially often the case in the parent-child relation-
ship. Parents identify with the failures and successes of their children and regard
their behaviour as reflective of their upbringing. Obligation to place family first
and foremost implies an unquestioning acceptance of parental authority, which
is also a form of debt-of-gratitude for the parents’ sufferings and sacrifices for
their children, the duty to repay that love through loyalty, obedience, and living
up to their expectations (see Medina 2001: 219). Children are seen as an asset
who, with the material needs of their immigrant parents virtually guaranteed,
now must tend to their emotional needs. Thus, possessiveness, overprotection,
mutual dependence, and traditional gender roles still feature in the education of
second-generation Filipino migrants, and are apt to create ‘unindividuated’ egos
and to complicate identity formation (see Mulder 1997: 21).
Recent cultural events inside the Filipino migrant community in Austria
have intended to inculcate a sense of Philippine values and cultural identity and
to create a collective memory among the second generation. It was the Rizal-
Blumentritt Society that began to stress the importance of explaining Philippine
history, culture and values properly to second-generation Filipino immigrants so
that they will understand their roots and carry on community work.2 However,
the culture and history lessons of the association were not well received by the
young ones and were eventually terminated.
2
Ferdinand Blumentritt was a Filipinologist and Czech civil servant in the Habsburg monarchy
and a close friend of José Rizal, the most important Philippine national hero, whose endeavours
for Philippine emancipation from Spain Blumentritt supported. Rizal was executed for alleged
subversion by the Spanish authorities in the Philippines in 1896.
156 Gisela M. Reiterer
and the Austrian school system. Thus, as they say, they soon learned two differ-
ent forms of behaviour, Filipinised and Westernised, which allow them to get
along with their family on the one hand and to be accepted as equals by their
native Austrian peers on the other.
Being brought up in a traditional Filipino way, in the tradition of debt-of-
gratitude and being accustomed to obey or at least not to contradict their par-
ents, children are not supposed to raise questions even when they feel discon-
certed by the ‘old ways’ of their parents, which seem irrelevant to their present
situation. While small children who are already often more at ease with Austrian
than with Filipino standards comply with their parents’ expectations, intergen-
erational conflict crops up in the early years of adolescence. For many of the
respondents, the interviews of this study were their first open reflections on their
situation and the strategies they adopt to cope with it. Male interviewees, espe-
cially the older ones, were more outspoken on this subject than the girls and
young women. However, as community members revealed, conflict is usually
more pronounced between parents and their female children, due to gender dif-
ferences in education. Familiar with the growing legal rights of Austrian adoles-
cents, which Filipino parents frequently are unwilling to accept, clashes become
frequent. Authoritarian parental behaviour, conflicts over staying out late and
choice of friends, constraints on their erotic/sexual relationships, forced atten-
dance of Philippine cultural events, intense control of their movements and
general behaviour in public, and gossiping are the main bones of contention.
According to respondents of 16 years and older, problems seem to intensify with
age. Then, the desire to escape the constraints of the family grows. Tired of the
gossiping and being concerned with privacy, which is usually not permitted in
the fairly close Austro-Filipino community, four of them said they completely
stopped taking part in community events.
While boys are granted the liberties they would have in the Philippines
even in the field of sexual relationships, girls are brought up with many more
constraints. They report that they are not only supposed to support their family
in the daily household chores and to shoulder responsibilities for younger sib-
lings, but also to live up to the moral expectations of their parents. Liberties
granted to boys are not granted to girls. This ‘double standard’ often leads to
fierce rebellion of the girls and young women. One community leader reported
that some girls have even filed suits against their parents who do not respect
their legal rights, while parents sometimes turn to the youth welfare office for
help. On the other hand, either the younger female respondents especially have
internalised their parents’ expectations, at least for the time being, or they are
simply afraid of talking openly about controversial topics. Girls from mixed
marriages feel less constrained by their education and are more willing to com-
Austro-Filipino Youth 157
ply with parental expectations. They also agree that their education is somewhat
more liberal, since their fathers turn out to be mitigating influences.
4
This was confirmed by an analysis of the PISA-survey 2000 (see Bacher 2005).
Austro-Filipino Youth 159
and helps him to cope with his present position. His Filipino mother did not
actively take part in this ‘education project’.
While the respondents agree that a university degree may lead to more in-
teresting job prospects, better income and higher social status, only three of the
young women and six of the young men said that they plan to or would like to
complete a degree at a tertiary institution. The others are less achievement-
oriented and motivated. They claim that a university degree means too much
work, is too stressful, too difficult, too expensive, and takes too long. They
would lose several years’ earnings while remaining dependent on their parents,
who might not be willing to support them financially. Besides, for most of their
job aspirations a university degree is not necessary. Actually, while some of the
younger ones are still undecided on their career aspirations, nine girls intend to
become nurses, two architects, one a doctor, two flight attendants, and the others
would like to work as secretaries. Of the boys, two would like to become musi-
cians, one an architect, one a lawyer, one an economist, six engineers, three
intend to work at the airport, and one as a physiotherapist. Thus, they more or
less comply with the wishes of their parents’, who, however, would like to see
more of their children in the health sector as a fairly secure employment option.
First-generation community members, however, claim that Filipino migrant
parents often press their offspring to start earning early and to forego further
formal education. For many, the migration project seems to be completed when
their children find a relatively secure job. Thus, their flexibility is limited by
their formal training, the conditions of the labour market and by their own inter-
ests and desires. The number of university degrees among second-generation
Austro-Filipinos will probably be smaller than among their parents. This does
not necessarily mean a downward social movement, considering the differences
between the education systems of the two countries. As mentioned above, in the
Philippines, nurse-training is a university degree, whereas in Austria it is not. At
present, however, a social upward movement cannot be seen either.
Although 95 per cent of the respondents say that it is important to have Filipino
friends, they all have native Austrian friends and friends who belong to other
immigrant groups, too. Ethnically mixed relationships are formed at an early
age, since working parents send their children to kindergarten and childcare
centres. However, among young men, the typical barkada or male Filipino
friendship group is still widespread and very important. In school, some of them
feel rejected and treated unequally by schoolmates and teachers alike. But gen-
erally they feel well accepted by native Austrians, and their perceptions of dis-
crimination are low.
As one of them said, life becomes more difficult and tensions with parents
increase when partners are chosen. Although “eurogamy” (Hall 2001: 90), in-
termarriage between Filipinas and white men, is common, there is a growing
tendency for Filipino migrant parents in Austria to prefer partners for their chil-
dren from within their own ethnic community. With an increased number of
community members and a more equal sex ratio, choice has also increased.
Economic aspects are still important, but economic security among community
members is relatively high. Second-generation immigrants feel, however, di-
vided about this issue. Adolescent boys feel more constrained in this respect
than girls. One third of the male and one quarter of the female respondents pre-
fer ethnic Filipinas and Filipinos as partners. They say that the latter are more
familiar with their mentality, their expectations and their life-style. They think
that Filipinos are emotionally warmer, more sympathetic and caring and less
complicated than Austrians. They do not have to explain everything to them.
Four of the girls and four of the boys would opt for Austrians and hope thereby
to minimise the heavy social control and interference exerted by their relatives.
The others indicate no preferences.
Although Austro-Filipino adolescents complain that first-generation Phil-
ippine migrants live in a ethnically fairly closed set of relationships and their
contacts with native Austrians do not usually extend beyond work and family,
where the father is a native Austrian, parents do not pose many obstacles to the
interethnic friendships of their children. This fact they attribute to long-standing
Westernisation, traditional Filipino hospitality, practical necessity, and their
hope that interethnic friendships will bring some advantages. If parents want
their children to blend into Austrian society, they must accept that they will
adapt to Austrian standards.
Austro-Filipino Youth 161
8 Austrian or Filipino?
Positive identifications with either Austria or the Philippines are only two poles
of an emotional continuum that allows other forms like dual identity or margin-
ality. But affiliations may change over the years. The six interviewees of mixed
parentage acknowledge that they have some Philippine roots, but say that they
are clearly Austrians. Austria is their only home. While they sometimes, though
not regularly, visit the Philippines as tourists and appreciate what the country
has to offer them, they would not like to live there for a long time or forever.
Only the hotel manager says that he might use personal connections there to
establish his own business in the tourist industry, but would stay for only two to
three years and then put a manager in charge. Nor do they plan to migrate to
another country, since, they say, living standards in Austria are high, and they
do not miss anything here, but they also do not totally exclude the possibility of
emigration in case of good job opportunities. Their relationships with relatives
in the Philippines are rather reserved due to lack of contact, communication
problems and different world views. As they report, even their parents have
stopped sending regular remittances to relatives in the Philippines. They them-
selves might eventually send presents on special occasions as their parents still
do. Of the other 36 respondents, who usually visit the Philippines every two to
three years, 15 girls describe themselves as having Filipino roots since they still
have family in the Philippines or spent a few years of their childhood there. Four
say they do not feel their roots are in the Philippines, and two are not sure. Two
say they are Austrians and Austrians only. One, who stresses her strong bonds
with the Philippines and the freedom she experiences there but misses in Aus-
tria, claims a purely Filipino identity and considers the Philippines her home.
The rest claim a double identity, but still say that Austria is their home, since
most of them were born here, enjoy the economic advantages, have their friends
here and feel integrated. Eight can imagine living in the Philippines at least for
some time. Ten of the male respondents claim roots in the Philippines, while
three deny them and two are not sure. All but two consider Austria their home.
These two say they are Filipinos, the others feel ‘in between’, but only five can
imagine living in the Philippines. Of these five, one has not been there yet.
When asked what creates their double identity, respondents mention fam-
ily, education, skin colour and physiognomy on the Filipino side, and country of
birth and upbringing, school, friends, socio-economic position and living stan-
dards, and familiarity with national customs and values on the Austrian side.
However, transnational affiliation is low and will only grow if their parents
return to the Philippines. Although envisioned by many, this will not often ma-
terialise. As one respondent said, parents will probably stay when their children
162 Gisela M. Reiterer
get married in Austria; first, to be near their family and second, to support them
in bringing up their children by taking over the baby-sitting and thus enabling
them to stay employed and to earn.
Although admitting that they consider Austria their home, Austro-Filipino
adolescents show little concern for Austrian culture, politics and social affairs
and have no plans to become active in any of these fields themselves. Having
found their place in Austrian society and being fairly contented with life, they
are eager to maintain non-confrontational stances that allow smooth interper-
sonal and interethnic relationships.
9 Conclusion
iour for the Filipino and Austrian environments. However, their parents’ expec-
tations also work to their advantage. Second-generation Filipino immigrants
usually grow up in an ethnically open environment. Accustomed to interethnic
contacts from an early age, they are able to form multiethnic networks of social
relationships, which further their integration and their identification with Aus-
tria.
A large majority of second-generation Austro-Filipinos feel well integrated
and consider Austria their home, while maintaining part of their Filipino iden-
tity. For them, integration means equality but not homogeneity. Although the
integration process may not yet be complete, it has proved successful so far.
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„Kinder statt Inder“
Normen, Grenzen und das Indernet
Urmila Goel
Das Thema Inder beziehungsweise Indernet war akut bei Schröder, der seine Green-Card-
Kampagne im Jahr 2000 gestartet hat. Wir haben gemerkt, dass sich ganz viele Leute plötzlich
über die Inder unterhalten haben, aber nicht nur in positiver sondern auch in negativer Hin-
sicht: „Es kommt die IT-Schwemme“; „Es kommen die ganzen Green-Card-Inder“, usw. Und
dann Rütgers: „Kinder statt Inder“ und solche Sachen. Dann lass uns doch einfach mal eine
Aktion starten. Erstmal vielleicht unsere gemeinsamen Seiten vernetzen miteinander, dass wir
so ein gemeinsames Ding daraus machen und dann diese ganzen lustigen Comics vielleicht
mal online stellen. Informationen über Indien und so, Newsletter und was weiß ich alles. Noch
nicht als Portal, das hatten wir uns noch gar nicht vorgestellt.
1
Mehr Informationen zu dem von der Volkswagen Stiftung geförderten Forschungsprojekt auf
http:www.urmila.de/forschung.
166 Urmila Goel
Andersgemachten beeinflussen, wie ihnen widerstanden wird und wie sie repro-
duziert werden. Der Fokus liegt dabei auf den Prozessen des Othering, also des
Andersmachens.
Othering steht auch bei der Gründung des Indernets Pate. Im Sommer 2000
fehlen der deutschen Wirtschaft hoch qualifizierte IT-SpezialistInnen. Der da-
malige Bundeskanzler Gerhard Schröder kündigt eine ‘Green-Card’-Aktion an
und spricht dabei insbesondere von ‘indischen’ ExpertInnen. Die konservative
Opposition will die Zuwanderung verhindern. Sie reagiert mit einer Kampagne,
die schnell unter dem Slogan ‘Kinder statt Inder’ bekannt wird. Zum ersten Mal
in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland stehen (potenzielle) ‘indi-
sche’ ZuwanderInnen im Mittelpunkt einer öffentlichen Debatte. Zum ersten
Mal stehen sie im Zentrum einer rassistischen Kampagne. Zum ersten Mal wird
‘InderInnen’ aufgrund ihrer ‘Herkunft’ öffentlich eine untergeordnete Rolle
zugeteilt.2 Viele ‘Deutsche’ irritiert es sehr, dass Deutschland SpezialistInnen
gerade aus Indien, einem ‘Entwicklungsland’ braucht. Dies widerspricht ihrem
Bild von den ‘Deutschen’, die als ‘fortschrittlich’ definiert werden, auf der einen
Seite und den ‘Anderen’, die als ‘traditionell’ definiert werden, auf der anderen
Seite. Bald werden dann auch biologistische Erklärungen dafür angeboten, dass
die ‘InderInnen’ besonders mathematisch begabt seien. In ‘deutschen’ Printme-
dien werden unzählige Cartoons veröffentlicht, die mit den Begriffen ‘Internet’
und ‘Inder’ spielen. Viele ‘InderInnen der zweiten Generation’ in Deutschland
verfolgen die öffentliche Debatte (vgl. Goel 2000).
Mit ‘InderInnen der zweiten Generation’ bezeichne ich all jene, die über-
wiegend in Deutschland sozialisiert wurden und hier als ‘InderInnen’ markiert
werden. Der Begriff Generation bezieht sich hierbei auf den Zeitpunkt der Mig-
ration. Die MigrantInnen sind die ‘erste Generation’, jene, die in Deutschland
sozialisiert wurden, die ‘zweite’. Der Begriff muss damit von dem Begriff der
Generation, die sich auf Altersklassen bezieht, getrennt gedacht werden. Auf-
grund der spezifischen Migrationsgeschichte von ‘InderInnen’ nach Deutsch-
land (vgl. Goel 2006a, 2008c) wurden bis in die 1970er nur vereinzelt ‘InderIn-
nen der zweiten Generation’ geboren. Ab Mitte der 1970er steigen die Gebur-
tenzahlen erheblich an. So gibt es einige ‘InderInnen der zweiten Generation’,
die schon über 40 Jahre sind, der größte Teil aber müsste etwa zwischen 15 und
30 Jahren alt sein.
Diese Definition der ‘zweiten Generation’ verwende ich, da sie am besten
die Gruppe von Menschen umfasst, die ich an Orten der ‘zweiten Generation’
(Heft und Goel 2006), insbesondere auf dem Indernet, bei ‘indischen’ Partys
und Jugendseminaren für die ‘zweite Generation’, beobachtet habe. Neben den
2
Zu Rassismustheorien siehe zum Beispiel Mecheril (2004); Mecheril (2003); Terkessidis
(2004).
„Kinder statt Inder“ 167
[j]ede Bezeichnung [...] in ihrer Art (un)angemessen, weil sie (nur) bestimmte Aspekte fokus-
siert und als Bezeichnung die phänomenale oder explanative Signifikanz des Gesichtspunkts
suggeriert.
Die gilt auch für den hier benutzten Begriff der ‘zweiten Generation’. Er ist
angemessen, weil er sich sowohl mit der Selbstbeschreibung Vieler deckt sowie
Grundlage der Othering-Erfahrungen ist, die hier analysiert werden sollen.
Unangemessen ist er, weil er essentialisiert und Menschen auch gegen ihren
Willen kategorisiert (vgl. Heft und Goel 2006).
Eindeutig als ‘Inder der zweiten Generation’ verstehen sich drei junge
‘Norddeutsche’, die im Sommer 2000 Anfang Zwanzig sind, die bereits erwähn-
ten Cartoons zu den ‘Computer-Indern’ sammeln, sie per E-Mail weiterschicken
und sie auf ihre persönlichen Webseiten stellen. Diese Sammlung von Cartoons
ist der erste Schritt zum Internetportal Indernet. Die politische Debatte rund um
die Einführung der Green-Card ist ein Anlass für den Beginn des Projekts. Sie
ist aber nicht der einzige Grund, wie einer der beiden anderen Gründer mir er-
zählt:
Ich denke, dass mehrere Faktoren zusammenkamen. Also, das eine war natürlich, dass sowie-
so gerade das Internetzeitalter anfing, wir irgendwie Kontakt über E-Mail hatten. Dann hat na-
türlich auch die Green-Card-Debatte das Indien- zusammen mit dem Internetthema gepusht.
Das war so, dass diese ganzen Sachen ein bisschen zusammen kamen. Das Andere, was auch
dazu kam, dass wir in so einem Alter waren, wo man sich auf einmal ein bisschen mehr Ge-
danken über Indien macht, wo man vorher eher so pragmatisch gelebt hat.
3
Mit ‘weiß’ bezeichne ich jene, die in der rassistisch strukturierten deutschen Gesellschaft zur
Norm gehören und ‘weiße’ Privilegien besitzen (vgl. Eggers et al. 2005).
168 Urmila Goel
fen eigener Räume, verbunden mit Selbstdarstellung, ist nicht nur spezifisch für
das Internet. Wie Riegel (2004: 109) ausführt, ist beides auch kennzeichnend für
Jugendkulturen:
Jugendkulturen bieten Jugendlichen einen Ort der Zugehörigkeit, ein Wir-Gefühl und einen
Raum für Selbstinszenierungen.
Der virtuelle Raum bietet sich damit zur Ausbildung ‘ethnischer’ Jugendkultu-
ren an. Das Internet eröffnet sowohl für Repräsentation wie für das gemeinsame
(Aus-)Leben der ‘ethnischen’ Identität einen Raum. Zum einen kann mit weni-
gen Ressourcen eine eigene Öffentlichkeit geschaffen werden, zum anderen
können NutzerInnen sich im Internet mit Anderen treffen, von denen sie an-
nehmen, dass sie so sind wie sie selbst.
Das Indernet nutzt dies. Auf der Ebene der Repräsentation tritt es auf der
Startseite als das „Indienportal für Deutschland“ auf. Es bietet Informationen
rund um Indien und ‘Indien in Deutschland’, also über all das, was in Deutsch-
land passiert und als ‘indisch’ markiert wird. Schnell erwirbt sich das Indernet
hierbei einen Expertenstatus. Bereits im Herbst 2000 wird ihm dieser in einem
Artikel über das Internetportal (Gries 2000) zugeschrieben. Im Rahmen des
‘Indienbooms’ im Jahr 2003 erscheinen weitere journalistische Beiträge in Zei-
tungen, Hörfunk und Fernsehen, in denen die RedakteurInnen des Indernets als
ExpertInnen zitiert werden, und die auf der Startseite des Internetportals verlinkt
werden. Immer wieder richten SchülerInnen Anfragen an die Redaktion, um
mehr Informationen über ‘Indien’ zu bekommen. Auch im Forum werden re-
gelmäßig Fragen zu den beiden ‘Indien’ gestellt, beantwortet und diskutiert. Vor
allem aber dient das Forum dem (Aus)Leben ‘ethnischer’ Identität. Hier treffen
sich ‘InderInnen der zweiten Generation’, hier sind sie weitgehend unter sich,
unterhalten sich, hängen zusammen ab, sie ‘sind’ einfach (Goel 2005). Miller
und Slater (2000: 11) nennen dies „expansive realisation“. Im Indernet können
die NutzerInnen das werden, was sie denken das sie wirklich sind, auch wenn
sie es möglicherweise nie waren: ‘InderInnen’ (der zweiten Generation in
Deutschland). Das Indernet ermöglicht ihnen dies nicht nur on-, sondern auch
offline. Hier finden die NutzerInnen eine Liste der aktuellen Veranstaltungen,
insbesondere der ‘indischen’ Partys. Dieser Veranstaltungskalender stellt online
die notwendigen Informationen zur Verfügung, um sich auch offline in einem
eigenen Raum unter ‘Gleichen’ bewegen zu können.
Ob sich allerdings im virtuellen Raum eine eigene Jugendkultur entwickeln
kann ist schwer zu beurteilen. Riegel (2004: 108) definiert letztere wie folgt:
Von einer Jugendkultur wird dann gesprochen, wenn Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Welt-
anschauung, des soziokulturellen Orientierungs- und Deutungssystems, sowie der Lebenspra-
170 Urmila Goel
xen und des Lebensstils (Aktivitäten, Kleidung, symbolischer Handlungen, Sprache) zwischen
Jugendlichen bestehen und als solche kultiviert werden.
2 Andere Deutsche
be’ unterscheiden. (vgl. Mecheril 2003; Eggers et al. 2005; Terkessidis 2004)
Die unmarkierte, unbenannte Norm in Deutschland sind die ‘Weißen’, für die
bei Mecheril der fiktive Idealtyp des ‘Standard-Deutschen’ steht. Sie genießen
strukturelle Vorteile und Privilegien. Sie müssen sich um ihr ‘Weißsein’ keine
Gedanken machen und es auch nicht benennen. ‘Schwarze’ und ‘People of Co-
lour’ müssen dies aber. Sie sind markiert in Deutschland, machen regelmäßig
Rassismuserfahrungen, müssen mit subtilen und offenen Diskriminierungen
rechnen.4 ‘Deutschsein’ ist implizit gleichgesetzt mit ‘Weißsein’. Im Umkehr-
schluss gilt: Wer nicht ‘Weiß’ ist, kann nicht ‘deutsch’ sein. Damit wird den
‘InderInnen der zweiten Generation’ das ‘Deutschsein’ verwehrt. Es gibt für sie
keine Möglichkeit zu akzeptierten ‘Deutschen’ zu werden. Aufgrund ihrer
‘Hautfarbe’, ihres Namens und/oder ihrer Vorfahren werden sie immer als ‘An-
dere’ markiert sein. Es wird ihnen die natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit zu
Deutschland verweigert. Gleichzeitig unterliegen sie aber der gesellschaftlichen
Norm, eine eindeutige natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit haben zu müssen.
Sie müssen sich daher nicht nur mit der Verweigerung der ‘deutschen’ ausei-
nandersetzen, sondern auch noch eine andere suchen5. Es gibt verschiedene
Möglichkeiten für sie dies zu tun. Sie können die externen Kategorisierungen
übernehmen, negieren oder aber etwas Neues schaffen. Die Konstruktion ‘ethni-
scher’ Identität verläuft dabei immer in einem transaktionalen Prozess zwischen
interagierenden Fremd- und Selbstdefinitionen (Jenkins 1997). Das Indernet
bietet vor diesem Hintergrund einen Raum, in dem Erfahrungen von verwehrter
Zugehörigkeit explizit und implizit ausgetauscht (Goel 2005) und neue ‘ethni-
sche’ Identitäten (vgl. Hall 1992) ausgehandelt werden können.
Offen rassistische Diskurse wie ‘Kinder statt Inder’ sind für die meisten
‘InderInnen der zweiten Generation’ in Deutschland bisher noch die Ausnahme.
Von offenen rassistischen Ausgrenzungen betroffen sind insbesondere männli-
che Sikhs, die aufgrund ihres Turbans häufig mit ‘Muslimen’ verwechselt wer-
den und dann Islamophobie erfahren (Nijhawan 2006). Subtilere Formen des
Rassismus sind hingegen für fast alle alltägliche Normalität. Dabei spielen, wie
Battaglia (1995) darstellt, scheinbar unproblematische Fragen wie „Wo kommst
Du her?“ eine zentrale Rolle (vgl. auch Ferreira 2003). Diejenigen, die von der
fiktiven Norm des ‘Deutschen’ als abweichend angesehen werden, werden im-
mer wieder auf diese unterstellte Abweichung angesprochen. Sie müssen sie
anerkennen und erklären, ohne dass dabei ihre Privatsphäre respektiert wird
(vgl. Riegel 2004). So sind ‘InderInnen der zweiten Generation’ zum Beispiel
regelmäßig mit der Frage konfrontiert, wo sie denn herkommen. Die Antwort
‘Karlsruhe’ wird in der Regel nicht akzeptiert, es wird weiter gefragt, bis die
4
Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Kritische Weißseinsforschung (vgl. Eggers et al. 2005).
5
Vgl. Goel 2006b zur Rolle von Staatsbürgerschaft.
172 Urmila Goel
‘richtige’ Antwort: ‘Indien’ kommt. Nach demselben Muster werden sie gefragt,
ob sie ‘Indisch’ können und bedauert, wenn sie es nicht können. Sie werden
außerdem als ExpertInnen zu ‘Indien’ angesehen, sollen immer wieder ‘Indi-
sches’ erklären und erfahren Ungläubigkeit und Bedauern, wenn sie diesen
Status nicht einnehmen (können). Den Fragen liegen Vorstellungen von eindeu-
tiger natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit zugrunde. Wäre für die Fragenden
(Mehrfach-)Zugehörigkeit denkbar, würden sie die Antwort ‘Karlsruhe’ akzep-
tieren und sie würden die ‘InderInnen der zweiten Generation’ nicht so ver-
ständnislos dafür bedauern, dass sie so ‘wenig’ über ihre ‘Heimat’ wissen. Es
sind gerade die Reaktionen auf ihre Antworten, die den ‘Anderen Deutschen’
zeigen, dass sie nicht als zugehörig angesehen werden. Ihnen wird so immer
wieder deutlich gemacht, dass die Fragenden fest davon ausgehen, dass sie
woanders hingehören.
Das Indernet bietet den ‘InderInnen der zweiten Generation’ einen Raum,
in dem sie sicher vor diesen Fragen sind. Hier sind sie und ihre natio-ethno-
kulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeit die Norm. Wenn hier die sonst üblichen
Fragen gestellt werden, ist der oder die Fragende der oder die markierte ‘Ande-
re’, der- oder diejenige, der/die von der Norm abweicht (Goel 2005). Da hier
‘Indischsein’ die Norm ist, ist es nicht mehr der dominante Marker. Die Nutze-
rInnen werden hier als Individuen jenseits ihrer natio-ethno-kulturellen Zugehö-
rigkeit wahrgenommen, so wie dies offline der Normalfall für ‘Weiße’ ist. Ab-
gesehen von dieser ungewöhnlichen Erfahrung der natio-ethno-kulturellen
Norm bietet das Indernet den NutzerInnen auch die Möglichkeit, offline besser
im Fragespiel zu bestehen. Ohne eine zusätzliche Informationsquelle verfügen
sie in der Regel über ähnlich wenig Ahnung zu Südasien wie die Fragenden. Die
‘InderInnen der zweiten Generation’ sind schließlich auch vorwiegend in
Deutschland sozialisiert, haben eine deutsche Schulbildung genossen und
‘deutsche’ Medien konsumiert. Nur wenige der Eltern, die aus Südasien migriert
sind, können über das Alltägliche, das selbst Erlebte hinaus fundiertes Wissen
über ‘Indien’ vermitteln. Nicht alle, die ‚indisch’ markiert werden, haben Kon-
takt mit Menschen aus Südasien. Das Indernet ist einer der wenigen Orte, an
denen sie ohne eine Gefahr des Gesichtsverlusts vor ‘Deutschen’ ihre Fragen zu
‘Indien’ stellen und Informationen sammeln können. Diese können sie dann
offline benutzen, um nicht mehr bedauert zu werden, dass sie über ihre ‘Heimat’
so wenig wissen. Um diese Funktion zu erfüllen, ist es nach meinem Eindruck
unerheblich, ob die auf dem Indernet angebotenen Informationen mit dem, was
in ‘Indien’ passiert, übereinstimmen (was sie häufig nicht tun). Wichtig scheint
vielmehr, auch wenn das nicht so reflektiert wird, dass Fragen selbstbewusst
beantwortet werden können und damit die permanente Beschämung durch das
Nicht-Antworten-Können vermieden wird.
„Kinder statt Inder“ 173
... prinzipiell kann bei uns jeder mitmachen, der Spaß an der Sache findet und bereit ist, sich
zu engagieren. Dabei spielt es also keine Rolle, welche Herkunft, Religion oder welches Alter
man besitzt.6
Studenten oder auch Leute ab einem gewissen Alter fühlen sich nicht mehr hingezogen. Wo-
bei es beim Indernet eigentlich schon die Intention gibt, durch alle Altersschichten hindurch in
der zweiten Generation Leute ansprechen zu können. Aber das gelingt nicht so.
Nach den Angaben in den Profilen der registrierten ForumsnutzerInnen sind die
meisten zwischen 15 und 25 Jahre alt. Das Indernet ist vom Design, dem Stil,
der Sprache sowie den technischen und inhaltlichen Angeboten her ein Jugend-
portal. Es macht Angebote für Jugendliche und junge Menschen, die auf der
Suche sind, die experimentieren wollen.
Das Medium Internet baut zusätzlich noch eine Altersgrenze auf. Je jünger
die NutzerInnen sind, desto mehr sind sie mit ihm aufgewachsen und sehen es
6
Aus der Projektbeschreibung vom 24.02.2006.
174 Urmila Goel
Suedasien.info ist wissenschaftlich, akademisch, für Leute, die was wissen wollen mit Hinter-
grund, und auch politisch extrem engagiert sind. Ich würde sagen, jetzt mal ganz einfach kate-
gorisierend, suedasien.info ist DIE ZEIT und Indernet der Stern.
Das Indernet ist also eher für NutzerInnen gemacht, die leicht zu konsumierende
Informationen bekommen und dabei unterhalten werden möchten. Kritische
Reflexion und Hintergründe werden auf dem Indernet weder geboten noch ge-
fordert. Potenzielle NutzerInnen, die diese haben möchten, fordern sie nicht
vom Indernet, sondern suchen sich andere Quellen. Wobei allerdings die Ein-
schätzung über die Qualität der Informationen auf dem Indernet stark differiert.
Sie sind mit dem individuellen Vorwissen zu Indien und dem Grad der indivi-
duellen Fähigkeit zur Medienkritik verbunden. Eine Beobachterin des Indernets,
die in einem entwicklungspolitischen Verein tätig ist, erzählt aus ihrem Verein:
Irgendjemand meinte, das Indernet sagt das so, und das ist so in Indien. Dann habe ich gesagt,
was macht dich da so sicher, dass das so ist in Indien. Das sind drei Jungs, die sind hier gebo-
ren und aufgewachsen. Die sind zwar Inder aber ... dann habe ich diese Perspektive mit rein
gebracht und dadurch ist das Gespräch so ein bisschen gekippt. Die Perspektive hatten die
nicht, konnten die auch nicht haben. Die gehen davon aus, das ist von drei Indern gemacht und
die werden schon wissen, was sie da schreiben. So nach dem Motto. Das fand ich halt ein bis-
schen bedenklich.
4 Natio-ethno-kulturelle Grenzziehungen
Also, ob ich jetzt Inderin bin oder Deutsche oder beides. Ich würde sagen alle sind angespro-
chen.
Sie fühlt sich wohl auf dem Indernet, versteht es nicht als einen abgeschotteten
Raum der ‘zweiten Generation’. Die gelegentlichen abwertenden Bemerkungen
über ‘Weiße’ im Forum, wie zum Beispiel die Bezeichnung „Kartoffeln“,
scheint sie entweder nicht wahr zu nehmen oder als nicht weiter relevant zu
betrachten.
Auch die Ausgrenzung jener, deren Eltern aus einem nicht-indischen Land
Südasiens stammen, ist geringer als ich vermutet hatte. Nicht nur unter den
LurkerInnen, also jenen NutzerInnen, die nicht aktiv in Erscheinung treten,
sondern auch unter den aktivsten PosterInnen und selbst in der Redaktion gibt es
sie, insbesondere solche mit ‘pakistanischem’ Bezug. Angesichts der sonst wei-
thin kultivierten ‘indisch-pakistanischen Feindschaft’ ist dies auf den ersten
Blick verwunderlich. Eine ehemalige Redakteurin erzählt:
Also, die haben mich, Gott sei Dank, sehr zu meiner Überraschung, alle sehr, sehr positiv auf-
genommen. Richtig gemerkt hat man das eigentlich nie. Man denkt halt, man ist die einzige
Pakistani da in der Runde, aber nie wurde ich anders behandelt oder so. Man denkt immer
wieder, vielleicht könnte irgendwann mal irgendein doofer Kommentar kommen, oder dass
ich dann total gereizt bin auf einmal oder so, aber es war wirklich eine Familie.
Diese Offenheit geht allerdings nicht so weit, dass die Redaktion generell auf
islamophobe und anti-pakistanische Äußerungen auf dem Indernet achtet. An-
176 Urmila Goel
fangs übernimmt die oben zitierte Redakteurin aus eigenem Antrieb diese Auf-
gabe, später machen dies auch NutzerInnen (Goel 2005).
Die NutzerInnen und RedakteurInnen des Indernets mit nicht-indischem
südasiatischem Bezug scheinen das Internetportal nicht so stark auf die Repub-
lik Indien, sondern mehr auf eine ‘indische’ Kultur zu beziehen. Dies wird auch
durch ihre Sozialisation in Deutschland bedingt sein. Hier ist das Wissen über
die Diversität des indischen Subkontinents sehr eingeschränkt, die kleineren
Länder Südasiens werden kaum wahrgenommen. So werden ‘SüdasiatInnen der
zweiten Generation’ von ‘weißen Deutschen’ meist pauschal als ‘InderInnen’
wahrgenommen und als solche ausgegrenzt (Goel 2005). Da viele Mitglieder
der ‘zweiten Generation’ das weitgehende Unwissen über Südasien der anderen
‘Deutschen’ teilen bzw. gegenüber den Zuschreibungen machtlos sind, nehmen
viele die Kategorie ‘InderInnen’ an. ‘Indien’ wird auf diesem Weg ein wichtiger
Bezugspunkt für sie. Viele NutzerInnen mit nicht-indischem südasiatischem
Bezug nutzen allerdings zusätzlich auch andere natio-ethno-kulturell definierte
Interneträume wie das ‘pakistanische’ Forum pak24.de. Hier treffen sie auch auf
jene, die sich stärker ‘national’ definieren und das Indernet gar nicht nutzen.
Auch innerindische Grenzen werden auf dem Indernet zumindest vorüber-
gehend aufgehoben. Während die Eltern sich noch stark in regional-ethnischen
Kontexten organisieren, verstehen viele NutzerInnen und auch die RedakteurIn-
nen es als einen wesentlichen Erfolg des Indernets, dass diese Schranken über-
wunden werden. Gelegentlich auftretenden Flames zwischen ‘Nord’- und ‚Süd-
inderInnen’ stören sie daher besonders. Eine ehemalige Redakteurin mit einem
‘deutschen’ Elternteil hat allerdings ein andere Grenze erfahren:
Die Redaktion war doch, zumindest anfangs, sehr indisch, rein indisch. Ich war dann praktisch
der Mischling.
Sie fühlte die ‘deutsche’ Seite nicht ausreichend vertreten. Auch ich machte in
einem Interview die Erfahrung, dass Mitglieder der ‘zweiten Generation’, die
nicht zwei ‘indische’ Elternteile haben, nicht fraglos als zugehörig angesehen
werden.
Die stärkste und am wenigsten auffällige Ausgrenzung geschieht allerdings
gegenüber jenen, die sich nicht natio-ethno-kulturell kategorisieren lassen wol-
len. Eine ‘Inderin’ der zweiten Generation begründete mir gegenüber ihre Ab-
neigung des Indernets wie folgt:
Abgesehen davon, dass ich andere Quellen nutze, um mich über Indien/Südasien zu informie-
ren, ist mir nicht klar, warum ich mich auf eine Site begeben soll, die sich schon dem Namen
nach vor allem an Menschen mit bestimmter Ethnizität wendet.
„Kinder statt Inder“ 177
Diese Einstellung ist mir auch in anderen Interviews begegnet. Das Indernet
erscheint als ein Raum der ‘zweiten Generation’, ist aber tatsächlich nur ein
Raum derer, die sich (auch) ‘indisch’ definieren (wollen) (vgl. Goel 2005b;
Paske 2006). Die Anderen nutzen dieses Internetportal nicht und hinterlassen
damit auch nicht ihre Sichtweisen an diesem virtuellen Ort. Auf dem Indernet
lassen sich also nur diejenigen beobachten, die natio-ethno-kulturelle Zuschrei-
bungen akzeptieren und (adaptiert) annehmen.
Direkt im Zusammenhang mit dieser strukturellen Tendenz zu ethnisieren,
festzuschreiben und Kategorien zu reproduzieren, steht eine Tendenz zu ‘indi-
schem’ Patriotismus und eine Anfälligkeit für Hindu-Nationalismus7 (vgl. Goel
2008a). Viele der ‘InderInnen der zweiten Generation’ machen sich auf die
Suche nach einer eindeutigen natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit. Da diese
ihnen in Deutschland verwehrt wird, sind sie besonders offen für Angebote aus
‘Indien’. Sie verfügen aber nicht über ausreichend Informationen und Einsich-
ten, um diese kritisch bewerten zu können. So fühlt sich auch der Designer des
Indernets von der hindu-nationalistischen Ideologie angesprochen, obwohl er
sich in Deutschland als ‘Linker’ definiert und sich gegen Gewalt ausspricht.
Seine Affinität zu der extremen Ideologie hat Auswirkungen auf das Layout des
Indernets. Insbesondere ist, wie er im Interview erläutert, die Hindiversion des
Portals als ein politisches Statement zu verstehen. Es soll durch seine Existenz
die Landessprache Hindi fördern, auch wenn es kaum NutzerInnen gibt, die
Hindi lesen (wollen). Auch einige NutzerInnen im Forum zeigen klar eine Nähe
zu hindu-nationalistischem Gedankengut. Zudem sind viele redaktionelle Bei-
träge zu ‘indischer’ Politik unkritisch und reflektieren die gesellschaftlichen
Auseinandersetzungen und Diskriminierungen in Indien nicht. Dazu sagt die
bereits zitierte entwicklungspolitisch engagierte Beobachterin:
Ich meine es war irgendein Artikel, da ging es auch um den Hindu-Nationalismus. Ich kann
das leider nicht mehr rekonstruieren, was das war. Es hatte so den Anschein dieses indischen
Nationalismus, nicht den Hindunationalismus, dass Inder stolz sein können auf ihr Land, und
so weiter und so fort. Das wurde ein bisschen exzentrisch betrieben. So ein bisschen so wie
bei der ersten Generation kam mir das vor. Das hat mich ein bisschen davon abgeschreckt. Ich
glaube es kam auch noch was zu Ayodhya und zum Ram-Tempel8, wo Dinge erklärt wurden,
sehr sachlich und sehr nüchtern. Wo ich mir so dachte: Nein, so kann man das auch nicht dar-
stellen, so in dieser Einseitigkeit.
7
Hindu-Nationalismus ist eine rechtsextreme politische Bewegung in Indien, die den ‘Hindus’
die Vormacht im Staat einräumen will und die Pogrome gegen ‘Muslime’ durchgeführt hat (vgl.
dazu Jaffrelot 1996).
8
Im Dezember 1992 haben Hindu-NationalistInnen die Babri Moschee in der nordindischen
Stadt Ayodhya abgerissen, um dort einen Tempel für den hinduistischen Gott Ram zu bauen.
Diese gezielte Provokation der ‘Muslime’ und Mobilisierung der ‘Hindus’ hat zu massiven
Pogromen gegen ‘Muslime’ geführt.
178 Urmila Goel
Vernachlässigt hatte ich zu Beginn meiner Forschung auch die Frage von Gen-
der, da sie mir in meiner teilnehmenden Beobachtung erst nicht als relevant
erschien. Im Forum scheinen beim Blick auf die Profile der registrierten Nutze-
rInnen und den Selbstpositionierungen in den Diskussionen beide Geschlechter
gleich stark engagiert. Unter den aktiven PosterInnen sind Frauen und Männer
ziemlich ausgeglichen anzutreffen. Auch in der Redaktion sind einige Frauen
von Anfang an vertreten. Trotzdem ist das Indernet für NutzerInnen, die sich
mit feministischen Ansätzen auseinandersetzen, eher unattraktiv, wie eine Beo-
bachterin mir beschreibt:
Die Frauenrubrik habe ich mir angeguckt, aber ich fand es immer unerträglich. ... wenn ich
mich richtig erinnere war die einzige Frau im Redaktionsteam auch für diese Frauensachen
dann natürlich zuständig und das hat mir nicht so wirklich gefallen.
Damals wäre das für mich eher so ein heterosexuelles Portal gewesen, das ich nicht benutzt
hätte.
Ein dreißigjähriger ehemaliger Nutzer, der vor kurzem sein Coming-out hatte,
geht noch weiter:
… das war mit ein Grund, weshalb mein Nutzerverhalten sich verändert hat, weil ich habe das
[sein Schwulsein; UG] auf dem Indernet nicht wiedergefunden ... und darüber hinaus fand ich
das oft sehr schwulenfeindlich.
Insbesondere in den Foren ist ‘schwul’ ein gängiges Schimpfwort, das unhinterf-
ragt und umkommentiert genutzt wird. Gelegentliche Threads zu Homosexuali-
tät bleiben im Konjunktiv und provozieren immer wieder mehrere PosterInnen
dazu, Homosexuelle als ‘krank’ und ‘unindisch’ zu bezeichnen. Die Redaktion
selbst ist offen für Artikel über Homosexualität und veröffentlicht diese auch,
9
Vgl. Heft 2005 zu sexistischen Beiträgen auf dem Internetportal asiazone.de.
180 Urmila Goel
wenn sie angeboten werden. Sie zeigt sich aber sonst nicht sensibel für das
Thema. So hat sie bei einer Aktion den Slogan „Ist Shah Rukh Khan schwul?“
als reines Marketingmittel genutzt, ohne sich zu überlegen, welche Bedeutung
das für homosexuelle NutzerInnen haben könnte. Der oben zitierte ‘schwule’
Nutzer fühlte sich durch diese Aktion abgeschreckt:
... eine Enttäuschung. Ich meine ich wusste, dass er nicht schwul ist, weil ich weiß zufällig,
dass er verheiratet ist. Gut, das hat nichts zu bedeuten. Aber ich hatte schon mein Interesse
oder meine Neugier auf das, was dahinter steckt. Und als ich gemerkt habe, dass es nur Wer-
bung ist … Das hat nur meine These bestätigt oder belegt, dass es nicht unbedingt eine schwu-
lenfreundliche Seite ist.
Die feministische Beobachterin würde das Indernet nicht als homophob be-
zeichnen, und führt aus:
Ich finde es oft schwer, zu trennen zwischen Homophobie, was für mich von der Definition
eine starke Aggression ist, und Heteronormativität. Das sind für mich zwei verschiedene Din-
ge. An diese Heteronormativität kann man sich schnell so dermaßen gewöhnen, dass man
dann auch, wie ich zum Beispiel sage, nichts Homophobes wahrnimmt. Man kann aber auch,
wenn man gewillt ist, Heteronormativität als Homophobie interpretieren und auslegen.
Die Grenzen, an die ‘InderInnen der zweiten Generation’ im Alltag stoßen, sind
natio-ethno-kulturell definiert. Um diesen Grenzziehungen zu entgehen, haben
sie sich einen eigenen Raum geschaffen. Dabei haben sie die Grenzen aber nicht
aufgehoben, sondern nur so weit verschoben, dass sie nicht mehr daran stoßen,
dass sie für sie nicht mehr direkt fühlbar sind. Grenzen, wie die des Alters oder
der Heteronormativität, sind keine, die für die Gründer, RedakteurInnen oder die
meisten NutzerInnen bedeutsam sind. Fast alle, die das Indernet machen oder
nutzen, befinden sich innerhalb dieser Grenzen und erfahren sie daher nicht. Die
Grenzen werden daher auch implizit akzeptiert, zum Teil sogar noch gefestigt
und führen damit zu einer weitgehend unreflektierten Ausgrenzung von ‘Ande-
ren’.
Das Indernet ist kein Gegenentwurf zur Mehrheitsgesellschaft, entwirft
keine oppositionelle politische Position. Es etabliert keine widerständige Ju-
gend(sub)kultur (vgl. Riegel 2004: 109). Heteronormativität und Geschlechter-
„Kinder statt Inder“ 181
10
Siehe http://kanak-attak.de/.
182 Urmila Goel
Literatur
In letzter Zeit sind jugendliche MigrantInnen oft in die Kritik geraten, weil sie
gewaltbereit und unangepasst seien und damit dem in den westeuropäischen
Staaten üblichen Verhaltenskodex nicht entsprächen. So gibt es in der Schweiz
immer wieder Diskussionen über ‘jugoslawische Autoraser’, die von der An-
nahme ausgehen, männliche Jugendliche aus den Länder des ehemaligen Jugos-
lawien hätten aus ihren spezifischen Sozialisationsbedingungen heraus besonde-
re Mühe, sich in der hiesigen Gesellschaft zu integrieren. Unter dem Zwischen-
titel „Gewaltbereit auch jenseits der Strae“ stellte beispielsweise die Wochen-
zeitung „Weltwoche“ (9/04) die rhetorische Frage: „Hat, wer im Straßenverkehr
Straftaten begeht, auch sonst eine tiefere Hemmschwelle, Gewalt und Aggressi-
on auszuüben?“ Und im folgenden Abschnitt wird dazu gleich ein passendes
Beispiel präsentiert:
Anfang Januar bremsten sich zwei Autos auf der A7 bei Frauenfeld gegenseitig aus. Bei der
Autobahnausfahrt zwangen die drei 24-jährigen Serben den nachfolgenden Schweizer anzu-
halten und attackierten ihn mit Faustschlägen. Der sechsunddreißigjährige Mann trat aufs
Gaspedal, erfasste einen der Angreifer und verletzte ihn schwer. Die beiden Serben luden ih-
ren Kollegen ins Auto und versuchten, den Schweizer zu verfolgen, der hatte sich aber inzwi-
schen der Polizei gestellt.
1
Zitiert nach FAZ-NET: www.faz.net/s/Rub61EAD5BEA1EE41CF8EC898B14B05D8D6/
Doc~E3D91B1CDBB6E482892017AA2EB29D963~ATpl~Ecommon~Sspezial.html
186 Heinz Moser
Der Diskurs, der hinter solchen Beispielen steht, geht von einer binären Zu-
schreibung von ‘hier’ und ‘dort’, von ‘Migranten’ und ‘Einheimischen’ aus:
Wer ‘draußen’ seine Wurzeln hat, wächst unter anderen Sozialisationsbedin-
gungen auf und erwirbt Normen, Werte und Verhaltensvorbilder, welche der
Lebensart der einheimischen Bevölkerung nicht entsprechen. Vor allem im
Berliner Fall geistert dazu auch der Begriff ‘Ausländerghettos’ durch die Presse,
in denen sich MigrantInnen zusammenballten, sich separierten und ein eigenes,
von der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung unabhängiges Leben führten.
Unterstellt wird dabei, dass sich EinwanderInnen letztlich nicht integrieren
wollen und deshalb in Parallelgesellschaften leben, die sich räumlich, sozial und
kulturell von der Mehrheitsgesellschaft abschotten. Diese ‘Parallelgesellschaf-
ten’ folgen Regeln, welche letztlich mit den Prinzipien der westlichen Demokra-
tien nicht übereinstimmen. Insbesondere soll sich in den abgeschotteten Zirkeln
der Parallelgesellschaften der islamische Fundamentalismus eingenistet haben.
So heißt es in einem Bericht des ZDF mit dem Titel „Nachwuchs für die Paral-
lelgesellschaft“2: „Über tausend Fahnder schlugen im Mai 2005 gleichzeitig zu:
Sie durchsuchten Moscheen und Koranschulen des Verbandes der Islamischen
Kulturzentren (VIKZ). Die Staatsanwaltschaft Köln ermittelt wegen des Ver-
dachts der Steuerhinterziehung in Millionenhöhe.“
Begriffe wie ‘Ghetto’ oder ‘Parallelgesellschaft’ erscheinen mir allerdings
problematisch. Sie beziehen sich auf das Konzept eines Lebens in der Diaspora,
das heute kaum mehr im Sinne der klassischen Diaspora zu finden ist. Dieser
aus dem Griechischen stammende Begriff geht von einem Zentrum aus, von
welchem her die Menschen sich zerstreuen und im Exil Gemeinschaften bilden,
um ihre ursprüngliche Kultur weiter zu leben (vgl. Brah 1996). Im Zeitalter der
Globalisierung gibt es gegenüber diesem Modell der klassischen Diaspora ein
Gegenbild, nämlich das Beispiel des ‘nomadischen Migranten’, der, wie bei-
spielsweise manche Angestellte von internationalen Firmen, immer wieder an
einen anderen Ort zieht, ohne dass er irgendwo noch Wurzeln schlägt (vgl. Mac
an Ghaill/Haywood 2003). Aber auch MigrantInnen aus der dritten Welt, die aus
Armut ihre Länder verlassen und ohne spezifisches geografisches Ziel ein bes-
seres Leben suchen, gehören zu dieser Kategorie. Die Zerstreuung in der globa-
len Welt scheint die fixen Ursprünge aufgelöst zu haben. Das Leben findet in
den Gebäuden internationaler Konzerne statt, die überall gleich aussehen, und in
denen alle die gleiche Sprache – nämlich Englisch – sprechen.
Letztlich greifen jedoch beide Modelle zu kurz – jenes der nomadisieren-
den MigrantInnen wie jenes der Bildung klassischer diasporischer Gemeinschaf-
ten in der Fremde. Letztere bilden heute höchstens imaginäre Gemeinschaften
2
Vgl. die Angaben auf der ZDF-Webseite: www.zdf.de/ZDFde/inhalt/3/0,1872,2337315,00.html
Lebensperspektiven im Kontext 187
mit einer Zugehörigkeit, die in der Realität längst nicht mehr so stabil ist, wie es
aus der Distanz erscheinen mag. Etwas polemisch merkt beispielsweise Robins
(2004: 121) aus der Perspektive seines in England durchgeführten Forschungs-
projekts an, dass TürkInnen in England eben mehr seien als programmierte
Akteure einer türkischen nationalen Gemeinschaft. So ist es in der Migrations-
forschung weitgehend Konsens, dass man Kultur nicht statisch als homogenes
und hermetisch geschlossenes System zu betrachten hat. Identität ergibt sich
nicht naturwüchsig, sondern ist ausgehandelt bzw. konstruiert und nimmt hybri-
de Formen an (vgl. Auernheimer 2003: 106 f.)
Die einfachen Antworten und idealtypisch konstruierten Modelle reichen
jedenfalls nicht aus, wenn man die Resultate einer von uns in der Schweiz
durchgeführten Studie ernst nimmt, die insbesondere die Rolle der Medien bei
der Identitätsentwicklung von Kindern und Jugendlichen in den Mittelpunkt
stellt. Dabei geht es mit Bezug auf den soeben skizzierten Diskussionskontext
um die im Migrationszusammenhang immer häufiger diskutierte Frage nach den
Ressourcen zur Aufrechterhaltung von zunehmend selbst hybridisierten ‘Kul-
turgemeinschaften in der ‘Fremde’ (Hepp 2006: 79).
Das Projekt „Die Funktion der Medien bei der Konstruktion sozialer Identitäten
in einem multikulturellen Setting“ wurde von 2004 bis 2006 gemeinsam von
dem Publizistikwissenschaftlichen Institut der Universität Zürich (IPMZ) und
der Pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH) durchgeführt.3 In diesem Zu-
sammenhang wurde erstmalig in der Schweiz das Verhältnis von Migration und
Mediennutzung untersucht. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses standen
folgende Fragen:
Welche Rolle besitzen die Medien im Leben von Jugendlichen mit Migrati-
onshintergrund im Vergleich zu ihren Schweizer Peers? Inwiefern bestehen
Gemeinsamkeiten und Unterschiede?
In welchem Ausmaß ist der Medienumgang bestimmt durch den Migrati-
onshintergrund der Jugendlichen im Vergleich zu anderen Faktoren wie
Geschlecht, Bildung und familiärer Hintergrund?
3
Das Projekt war Teil des Nationalen Forschungsprogramms «Kindheit, Jugend und Generatio-
nenbeziehungen im gesellschaftlichen Wandel» (NFP 52). Eine Kurzzusammenfassung findet
sich auf der Website des NFP 52:
www.nfp52.ch/d_dieprojekte.cfm?Projects.Command=details&get=23
188 Heinz Moser
Welche Rolle spielen klassische und moderne Medien in Hinblick auf per-
sonale Identität und soziale Integration in türkischen/kurdischen Familien?
Heute müssen wir feststellen: in bestimmten Stadtteilen vieler Großstädte haben wir die Ten-
denz zur Ghettobildung. Es entstehen so Parallelgesellschaften, die sich abschotten. Es entste-
hen festgefügte Kommunikationskreise, die sich heute zudem über Satellitenfernsehen und -
radio ihre alte Heimat in die Wohnung holen können. Dies führt wiederum zu einer Verfesti-
gung dieser Parallelgesellschaften.6
Verallgemeinert man diese These, so könnte man vermuten, dass die ‘türkische
Identität’ der MigrantInnen gerade durch die leichte Zugänglichkeit zu türki-
schen Medien noch gestärkt wird – dies vor allem bei Zuwanderern der ersten
Generation. Bei der zweiten Generation, so die oft kolportierte These, führe dies
häufig zu schwierigen Identitätskonflikten.7
Fragen der Identitätsentwicklung bzw. Fragen danach, wie stark diese von
ethnischen Einflüssen geprägt ist, standen neben dem Medienthema im Mittel-
punkt der qualitativen Untersuchung. Diese Aspekte werden auch im Zentrum
des vorliegenden Beitrags stehen, während die Bedeutung der Medien etwas
stärker in den Hintergrund rückt (vgl. dazu Moser 2005). Im Folgenden werden
daher wesentliche Projektergebnisse zum Umgang mit Sprache, zur Frage der
Zugehörigkeit und Integration sowie zu den kulturellen Orientierungen der Ju-
gendlichen vorgestellt werden.
Die Interviews mit den Eltern machen deutlich, dass sich die befragten Migran-
ten und Migrantinnen um die deutsche Sprache bemühen, dass ihnen aber –
besonders zu Beginn – das Erlernen der Sprache nicht immer leicht fällt. Das
wird an der Familie G. deutlich, die zum Zeitpunkt der Interviews gerade drei
Jahre in der Schweiz lebte. Die Anteilnahme am gesellschaftlichen Leben be-
zieht sich hier – vor allem was die Medien betrifft – stark auf Angebote in türki-
scher Sprache. Dies ist allerdings weniger ein bewusster Akt des Festhaltens an
der kulturellen Tradition oder eine Verweigerung der Integration. Vielmehr
spiegeln sich darin die unterschiedlichen Sprachkompetenzen in diesen beiden
Sprachen: Man nutzt jene Angebote, die man ‘besser’ versteht. Dabei interes-
6
http://www.stmas.bayern.de/migration/integrationsforum/id-sinn.pdf
7
Oftmals werden diese Identitätskonflikte in den Medien zusätzlich emotional aufgeladen und
skandalisiert, etwa wenn auf mögliche Fälle verwiesen wird, in denen Mädchen in die Türkei
verschleppt und wo sie dann sehr jung und vielleicht sogar gegen ihren Willen verheiratet wür-
den. Vgl. hierzu etwa die in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ geführte Diskussion, die sich un-
ter anderem an dem Buch von Necla Kelek entzündet hat (Die Zeit 09.02.2006). Ganz unabhän-
gig von der tatsächlichen Existenz solcher Fälle werden damit Bedrohungsängste mobilisiert,
die an Mythen und Motive des Kindsraubs durch Fremde anknüpfen und hierdurch ihre Wir-
kung entfalten.
190 Heinz Moser
Wir nutzen am häufigsten Fernseher und Internet. Ich schaue mir am meistens die Nachrichten
an. Ich schaue gleichviel auf Deutsch wie Türkisch. Es gibt TV-Sport, was ich mir gerne an-
schaue. Es kann ihnen interessant vorkommen, aber es gibt schöne Programme wie Tom und
Jerry, die ich mir anschaue. Für mich ist es schwierig, einen klassischen Filme oder ein Film
auf Deutsch zu verstehen. Zum Beispiel ein Cartoon ist einfacher zu verstehen.
Herr G. löst also sein Problem dadurch, dass er mit dem Comic ein Genre wählt,
in dem das sprachliche Verständnis durch visuelle Bilder unterstützt wird und
die Sprachverwendung nach einfachen Mustern erfolgt. Die Schwierigkeit mit
der deutschen Sprache wird in ähnlicher Weise von seiner Frau bestätigt. Als
Hausfrau, die wenig Zeit außer Haus verbringt, hat sie aber noch größere
Schwierigkeiten, Deutsch zu verstehen und zieht, wie sie im Interview sagt,
Programme auf Türkisch vor.
Die hier deutlich werdende genderspezifische Komponente ist ein durchge-
hender Befund in den Familieninterviews: Die Mütter haben meist größere
Sprachschwierigkeiten als die Väter – sofern sie nicht selbst außer Haus einer
Erwerbstätigkeit nachgehen.8 So meint Frau C., die bereits seit den Achtziger-
jahren in der Schweiz lebt:
Ich schaue mir eher den türkischen TV-Sender Kanal D an: Nachrichten, Serien Filme, z. B.
Haziran gecesi, Cocuklar Duymasin. Auch Musikprogramme interessieren mich, insbesondere
im TRT-INT, da gibt’s manchmal gute Musik, so Volksmusik und so ... Zeitungen lese ich
täglich auf Türkisch: Hürriyet, Milliyet. Auf Deutsch werfe ich eher bei Gelegenheit einen
Blick in den Tages-Anzeiger.
Ganz anders dagegen Frau D., die im Berufsleben steht und eine ganze Reihe
von deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften nennt, die sie nutzt:
Radio höre ich an der Arbeitsstelle, wo es den ganzen Tag durch läuft. Eher im Hintergrund
natürlich. Das ist meistens das Lokalradio Zürisee. Zeitungen lese ich schon, auch eher an der
Arbeitsstelle, nur auf Deutsch, es sind Tages-Anzeiger, 20 Minuten und so. Zeitschriften, wie
Stern, Spiegel, und Frauenzeitschriften Bunte, Gala und Annabella.
Insgesamt scheint es so, dass die Eltern sich durchaus um den Erwerb von Fä-
higkeiten in der deutschen Sprache bemühen. Einige berichten in diesem Zu-
8
Es ist also weniger das Geschlecht als solches, das hier relevant ist, sondern die aus der ge-
schlechtsspezifischen Arbeitsteilung resultierenden Tatsache, dass Frauen, wenn sie zurückge-
zogen in der Familie leben, weniger mit Situationen in Kontakt kommen, in denen Deutsch
unabdingbar ist und hierdurch die Sprachkompetenz implizit gefördert wird.
Lebensperspektiven im Kontext 191
sammenhang von Deutschkursen, die sie besucht haben. Daneben pflegen sie
aber auch weiterhin die Kontakte zu türkischen Bekannten und Verwandten und
sie nutzen die türkischsprachigen Medienangebote (Zeitungen und Fernsehen).
Allerdings hat der Sprachgebrauch weniger eine ideologische Grundlage, viel-
mehr geht es um Verständigung: Man möchte die Fernsehsendungen verstehen
bzw. sucht gezielt solche Angebote. Aber auch von türkischen Verwandten und
Bekannten erhält man Unterstützung, bzw. man hält sich vorwiegend an sie,
wenn man weniger gut Deutsch spricht. Eine solche pragmatische Ausrichtung
gilt letztlich auch für den Umgang mit der deutschen Sprache im Alltag. Unters-
tützt durch die eigenen Kinder und Verwandte versucht man hier so gut wie
möglich sich die für den Alltag notwendigen Sprachkompetenzen anzueignen.
Wie man sich dabei gegenseitig aushilft, zeigt das folgende Interviewzitat von
Herrn A.:
Dies hat einen weiteren Grund: Manchmal habe ich Schwierigkeiten, die Sprache oder einzel-
ne Begriffe (in Deutsch; Erläuterung des Verfassers) zu verstehen. Dann lasse ich sie mir von
den Kindern erklären. Umgekehrt helfe ich ihnen beim Türkischen, weil sie in türkischer
Sprache nicht so gut sind.
Bei den Kindern und Jugendlichen der zweiten Generation hat sich die Sprach-
nutzung allerdings wesentlich verändert, da sie viel stärker deutschsprachig
orientiert sind. Die quantitative Studie des IPMZ hat zum Zusammenhang von
Mediennutzen und Sprachverhalten folgende Ergebnisse erbracht:
vor allem
vor allem deutsch beides gleich
Herkunftssprache
Radio 77 7 16
Zeitung 80 5 15
Zeitschriften 80 5 15
Bücher 80 5 15
Surfen 63 10 27
E-mail 59 12 29
Chatten 59 11 30
Fernsehen 49 11 40
Video 58 10 32
DVD 62 9 29
Telefonieren 45 13 42
SMS 49 11 40
Insgesamt belegen die Resultate eine hohe Präferenz für deutschsprachige Me-
dien bei den Kindern und Jugendlichen. Fernsehen, Telefonieren und SMS sind
hingegen Medien, wo die Befragten auch intensiver die Herkunftssprache ein-
setzen (insbesondere mit der Nennung: „beides gleich“). Es handelt sich hierbei
192 Heinz Moser
um diejenigen Medien, die oft auch in der näheren Familie eingesetzt werden
bzw. die zur informellen und situationsbezogenen Kommunikation dienen – dies
gegenüber den mehr in der deutschen Sprache genutzten Medien, die in erster
Linie im Rahmen einer formellen Kommunikation verwendet werden (Zeitun-
gen, Zeitschriften und Bücher)9. Dass in der Familie – mit Eltern, die der Her-
kunftssprache noch näher stehen – häufiger in der Sprache des Heimatlandes
kommuniziert wird, findet sich in den qualitativen Interviews immer wieder. So
meint etwa eines der befragten Mädchen:
Also bei uns daheim, also entweder reden wir Deutsch oder Türkisch, also wir dürfen nicht
beides miteinander reden, weil mein Bruder ist (...) (die Heilpädagogin sagte, entweder spre-
chen sie Deutsch oder Türkisch, damit es für den Bruder kein Durcheinander gibt) (...) also
wir reden meistens Türkisch, weil meine Mutter Deutsch nicht versteht.
Insgesamt zeigen viele Jugendliche aber eine große Fähigkeit, je nach Situation
von der einen in die andere Sprache zu ‘switchen’, wobei sie dazu auch situati-
onsbezogen Regeln entwickeln, wie es der folgende Jugendliche berichtet:
Ja bei mir ist es eigentlich, auf der Straße, wenn ich einen sehe und ich ihn von irgendwoher
kenne oder er mich anspricht, kommt es darauf an, wie er mich anspricht, dann rede ich auch
so weiter. Aber wenn ich zum Beispiel merke, dass er ein Türke ist, und wenn ich merke, dass
er nicht merkt, dass ich auch einer bin, dann spreche ich ihn kurz mit einem Wort so Türkisch
an, dann kann er so reden wie er will, aber sonst mit Kollegen10 rede ich eigentlich Schwei-
zerdeutsch, aber wenn es etwas ist, das nicht alle verstehen sollten, dann sage ich schon auf
Türkisch.
Die Sprache ist einer der Indikatoren, der angeführt wird, wenn es um Fragen
der Integration geht. Denn mit der Sprache, so die Annahme, erlerne man auch
jene Verhaltenscodes, welche zu kompetentem gesellschaftlichen Verhalten
befähigen. Sprache scheint – ganz im Sinn der Theorien des 19. Jahrhunderts
vom Volk als lebendigem Organismus (Herder) – den Geist einer kulturellen
Sprachgemeinschaft zu repräsentieren. Auf der empirischen Ebene belegen die
dargestellten Projektdaten dagegen zweierlei: Einerseits brauchen Integrations-
prozesse eine lange Zeit – im Allgemeinen sehr viel mehr, als dies von Politi-
kern veranschlagt wird, welche sich eine rasche und vollständige Integration der
9
Im Unterschied zum Fernsehen, das über die Satellitenanbindung Sender aus den Herkunftslän-
dern direkt zugänglich macht, werden solche Möglichkeiten beim Radio seltener genutzt. Es ist
eher Musikmedium, wobei im Zentrum die lokalen bzw. schweizerischen Sender stehen.
10
‘Kollege’ ist ein umgangssprachlicher Ausdruck für FreundInnen
Lebensperspektiven im Kontext 193
Ich habe überall – in der Türkei und im übrigen Ausland (England, Deutschland, USA, Aust-
ralien usw.) – Verwandte und Freunde, meine Familie lebt aber in der Schweiz, ich, meine
Mutter (Vater ist verstorben; Erläuterung des Verfassers) und Geschwister. Betreffend Bezie-
hungen kommt in erster Linie die Familie. Hier habe ich auch viele Freunde aus verschiede-
nen Ländern oder verschiedener Herkunft (Schweiz, Spanien, Portugal, Griechenland, Ex-
Jugoslawien usw.).
Ja, wir haben Verwandte auf der ganzen Welt. Verwandte, also in Frankreich, in London, also
London, England, in Basel, Bern, Kanton Schwyz, St. Gallen, überall haben wir Verwandte.
Die besuchen wir auch immer wieder.
Neben den direkten Besuchen ist für ihn aber auch der Kontakt über die moder-
nen Medien wichtig – vom Videofilm bis hin zu SMS, Chat und Festnetz-
Telefon, die helfen, Kontakte in diesem breit gefächerten Netz aufrecht zu erhal-
ten und zu organisieren.
194 Heinz Moser
Was bedeutet nun diese Netzwerkstruktur der Kommunikation für den Prozess
der Identitätsbildung? Was bedeutet hier ‘nationale Identität’ und welche Funk-
tion kommt ihr in Zeiten der Entwicklung globaler Gesellschaften zu? Ver-
schwunden ist die Identifikation mit nationalen Symbolen jedenfalls nicht, was
sich empirisch etwa an großen Sportereignissen wie Europa- oder Weltmeister-
schaften deutlich zeigt. T-Shirts. Nationalhymnen, Fahnen etc. machen die ‘na-
tionale Identität’ zu einem öffentlich wahrnehmbaren Ereignis. Auf der anderen
Seite scheinen die Zeichen nationalen Selbstbewusstseins dennoch vieles von
ihrer emotionalen Bedeutung verloren zu haben, die sie zu den Zeiten der Do-
minanz des klassischen Nationalstaatsgedankens erhalten hatten. Im Zeitalter
der Globalisierung scheinen nationale Embleme vorwiegend zum Material für
die individuelle Identitätsbildungen zu werden – indem man sich als Fan der
eigenen Nationalmannschaft mit den dazu nötigen Accessoires ausstattet. Natio-
nale Embleme unterscheiden sich damit nur noch graduell von allem anderen
symbolischen Material, das man benutzt, um den persönlichen Stil zu unterstrei-
chen. Dies zeigt sich schon daran, dass man ‘die Pferde wechselt’, wenn die
eigene Mannschaft – etwa die schweizerische bei der Fußballweltmeisterschaft
2006 – aus dem Turnier ausschied. Man ‘versorgt’ sich dann mit den Emblemen
einer anderen Mannschaft und trägt im Stadion, vor dem Großbildschirm und
auf der Straße die Farben Italiens oder Frankreichs. Jedenfalls scheint Nationali-
tät in solchen Zusammenhängen mehr zum individuellen Merkmal der Fanper-
sönlichkeit zu werden, als dass sie auf eine ‘innere Verbundenheit’ mit einem
geschlossenen Territorium seiner Bevölkerung hinweist, dem man sich ‘mit
Haut und Haar’ verpflichtet fühlt. In welche Widersprüche dies Vertreter von
traditionellen Nationalitätskonzepten führen kann, hat die Journalistin Gisela
Blau beschrieben, welche die Reaktion der rechtskonservativ orientierten
Schweizerischen Volkspartei (SVP) auf die Realität einer multikulturell zu-
sammengesetzten (Schweizer) Nationalmannschaft folgendermaßen kommen-
tiert:
Die Schweizerische Volkspartei (SVP) hat allerdings Ende der letzten Woche ein unfreiwilli-
ges Eigengoal geschossen – sie veröffentlichte am 23. Juni eine Kurzmitteilung, in der sie der
Schweizer Fußballnationalmannschaft zur Qualifikation für die Achtelfinals gratuliert: „Das
ist Schweizer Qualität.“ Und: „Wir sind stolz auf euch“. Tatsächlich? Obwohl rund die Hälfte
des WM-Kaders aus Secondos besteht? (tachles, 30.Juni 2006)
Doch kommen wir zurück auf die Resultate unserer qualitativen Befragungen,
um die Frage der Zugehörigkeit noch weiter zu differenzieren. In einer Inter-
viewpassage aus einem Gesprächen mit den FreundInnen der Jugendlichen aus
den befragten türkischen Familien, antworteten diese auf die Frage der Inter-
viewerin, was sie sagen, wenn sie gefragt werden, woher sie kommen:
Lebensperspektiven im Kontext 195
Se: Türkei.
M: Spanien, ich sag den meisten, ich bin halb Spanierin.
Interviewerin: Aber ihr sagt nicht, beispielsweise, Winterthur?
M: Aha..., so haben sie das gemeint...
Interviewerin: Nein, ich meine alles.
Sa: Wenn man nach der Nationalität fragt, dann sag ich Italien und Tunesien.
Sonst s ag ich Winterthur.
Einer der Jugendlichen (Sa) fügt erklärend hinzu, das Erste, was ihm zur Her-
kunft in den Sinn komme, sei zwar die Nationalität. Frage man ihn aber, ‘wo-
her’ er komme, dann sei das die Stadt Winterthur. Ganz ähnlich hat Suki Ali in
einer englischen Untersuchung mit Migrantenkindern deutlich gemacht, dass
‘Heimat’ für die Kinder ein geografischer Ort darstellt, der dort lokalisiert ist,
wo man lebt (Ali 2003: 126f.). Heimat im Sinn von ‘Herkunft’ dagegen sei ein
imaginierter Ort, der durch die Erzählungen der Eltern und den damit in Verbin-
dung stehenden Emotionen verbürgt sei. Mit ‘Heimat’ und ‘Nationalität’ ist
damit ein Spannungsfeld angedeutet, das nicht mit einfachen Zuordnungen zu
‘hier’ und ‘dort’ aufgelöst werden kann.
Auch wer sich zum Beispiel erfolgreich um den schweizerischen Pass be-
müht hat und eingebürgert ist, hat oft Mühe, sich als ‘Schweizer’ zu bezeichnen.
So meint der Jugendliche Aslan auf diese Frage:
Also, wenn jetzt einfach einer kommt fragt, woher bist du, dann sage ich „Schweizer“. Ich ha-
be den Schweizer Pass, ich bin hier geboren. Ich gehe nur in den Ferien in die Türkei. Aber
wenn ich jetzt zum Beispiel einen kenne so, ein Kollege, dann sage ich manchmal schon, ich
bin eigentlich Türke, weil meine Eltern auch beide türkisch sind und in der Türkei geboren
sind, und ich meine, dann bin ich eher halb halb.
Wie man sich bezeichnet bzw. welche Nationalität Aslan in den Vordergrund
stellt, hängt von der Situation ab, in der er sich befindet. Letztlich behandelt es
das Merkmal ‘Nationalität’ nicht als extern zugeschriebenes Merkmal, sondern
es ist für ihn ein Identitätsmarker, den er selbst setzt – etwa wenn er sich in der
Schweiz eher als Schweizer zu erkennen gibt, in der Türkei aber als Türke.
Allerdings ist ein solches Verhalten oft auch mit Stolpersteinen verbunden, wie
ein Ausschnitt aus den Peer-Group-Interviews mit Jugendlichen belegt:
Interviewerin: Stellt euch vor ihr seid im Ausland in den Ferien und jemand sagt zu Euch
„die Schweizerin“. Wie fühlt ihr euch dabei? Was macht euch zu Schweize-
rInnen?
A: Die Kleider.
[lachen]
A: nein, ich weiß...
Interviewerin: Ja, als ersten Eindruck sicher.
A: Ja.
Se: Nein, wie du dich benimmst und so, deine Bewegungen.
196 Heinz Moser
‘Schweizer bzw. Schweizerin sein’ ist also nicht allein eine Frage der Sprache,
auch der Kleiderstil und das Verhalten lassen die Jugendlichen bis hin zu den
Körperbewegungen am türkischen Urlaubsort als Fremde erscheinen, auch wenn
sie sich selber in der Schweiz als Türke oder Türkin bezeichnen. Es ist im Sinne
Bourdieus (1987: 171 ff.) offensichtlich der ‘Habitus’ der Jugendlichen, ver-
standen als ein kollektiv erworbenes System unbewusst funktionierender Denk-
und Verhaltensstilen, das den nach außen vermittelten Ausdruck prägt.
Letztlich zeigt sich damit, dass MigrantInnen – auch dann, wenn sie bereits
eingebürgert sind – immer noch ‘dazwischen’11 stehen, so wie es Ergün be-
schreibt:
Ja, ich bin dazwischen. Also ich bin jetzt, also meine Eltern sagen immer. „Vergiss unsere
Kultur nicht“, zum Beispiel weil ich so ein Haarteil habe, weil ich Ohrenringe habe, also zu
unserer Kultur passt nicht, zum Beispiel gibt es keine Ohrenringe. Und dann, als ich Ohren-
ringe machen ließ, haben viele Leute anders reagiert auf mich, oder. Und dann habe ich ge-
sagt, „das ist mir egal“. Schließlich bin ich das. Ich mache, was ich will, schaut ihr lieber zu
euch. Und nachher wegen den Haaren, immer die Frage „bist du ein Mädchen“? Nein, das ist
mein Style.
Der Schluss dieses Zitats zeigt nochmals deutlich, wie in einer Zeit, wo Soziali-
sation immer mehr den Charakter von Selbstsozialisation annimmt (vgl. dazu
die Diskussion in Hoffmann/Merkens 2004), Identitäten verstärkt Züge der
Selbstkonstruktion annehmen. Gebündelt in Selbstzuschreibungen wird dies
deutlich in einem unverwechselbaren ‘Style’, den man für sich in Anspruch
nimmt – wobei dieser allerdings auf einer volatilen Basis steht – etwa wenn
sich, wie in der Beobachtung von Se., die ‘Türkin’ durch Benehmen und Ver-
halten schnell als Ausländerin verrät. Denn bei allen Möglichkeiten, für sich
einen eigenen ‘Style’ zu konstituieren, kann der Habitus als Ausdruck lebensge-
schichtlicher Erfahrung nicht einfach übersprungen werden. Denn Ergüns Posi-
tion entspricht keinem gesellschaftlichen Ort, an dem sie Anerkennung erfährt;
sie ist von da her als Selbstkonzept individuell auch problematisch.
Für die Eltern der befragten Migrantenkinder ist diese Situation ‘gesell-
schaftlicher Ortlosigkeit’, die auf einer doppelten Ausgrenzung (sowohl von der
Herkunftsgesellschaft wie in der aufnehmenden Gesellschaft) beruht, nicht un-
wesentlich anders. Auch wenn sie sich stärker am Heimatland orientieren, das in
ihrer Erinnerung noch lebendiger ist, fühlen sie sich ihrer Heimat nicht automa-
tisch mehr verpflichtet. Die engere Beziehung ist nicht einfach mit einem nos-
talgischen Blick verbunden, sondern aus der Distanz fallen – nicht zuletzt durch
11
Dieses ‘Dazwischen’ bezieht sich allerdings nicht auf die sogenannte Kulturkonfliktthese,
sondern vielmehr auf das intergenerative Verhältnis, das immer auch durch kulturelle Differen-
zen und Heterogenität bestimmt ist. Dies wird unter anderem in der folgenden Interviewpassage
deutlich.
Lebensperspektiven im Kontext 197
die Medien vermittelt – auch die negativen Seiten vermehrt auf. So sind sich die
Eltern A. einig:
Sie (die türkischen Medien; Erläuterung des Verfassers) bringen nur Lügen! Nur in Zusam-
menhang mit den Verkehrsunfällen, wie viele Personen dabei getötet oder wie viele Personen
bei Streitigkeiten erschossen wurden und Ähnliches erzählen sie eher wahrheitsgetreu. In die-
sem Punkt sind die europäischen Medien unvergleichbar besser als die türkischen.
Eher ist es so, dass die befragten Eltern die Kluft noch schmerzhafter spüren,
weil sie ihrer Herkunftskultur noch näher stehen. So meint Frau A:
Wir sind überall fremd. In die Türkei gehen wir ferienhalber. Spätestens nach drei Wochen
Aufenthalt wird es für mich in der Türkei langweilig. Ich bin mit 11 hierher gekommen. Rei-
sen oder Weltreisen und so würde ich schon oft unternehmen, wenn das möglich wäre. Aber
leben möchte ich doch in der Schweiz. Hier bin ich mit dem Leben zufrieden. Aber Sonne und
Meer wäre nicht schlecht.
Die Schlussfolgerung, dass man letztlich doch in der Schweiz leben möchte
wird von einigen, vor allem den Müttern, noch dadurch unterstützt, dass sie
betonen, sie wollten primär dort leben, wo auch ihre Kinder seien – und dies sei
die Schweiz. Offensichtlich gelingt es, am Wohnort eine hybride – aus globalen,
lokalen und herkunftsbezogenen Einflüssen bestehende – Form des Lebens zu
gestalten, welche letztlich allen anderen Möglichkeiten vorzuziehen ist.
Wie schwierig es unter diesen Umständen überhaupt noch ist, ‘Heimat’ und
‘Wurzeln’ eindeutig zu unterscheiden und festzulegen, zeigt das Beispiel von
Frau F. Ihre ‘Wurzeln’ ortet sie in der Schweiz, während sie die Türkei als
‘Heimat’ betrachtet. Und sie beobachtet dabei ihre Schwester, welche in die
Türkei zurückgekehrt ist und dennoch die Schweiz als eigentliche Heimat – als
„ihr Dorf“ bezeichnet:
Natürlich ist die Türkei meine Heimat und möchte auch dort leben. Für immer in die Türkei
zu gehen, ist sehr schwierig. Unsere Wurzeln werden hier sein. Ich sehe hier als Garantie für
mich. Meine Eltern und meine Schwester sind zurückgekehrt und haben die Schweiz immer
noch nicht vergessen. Sie reden von der Schweiz als ‚ihr eignes Dorf’. Sie lebten 20 Jahre in
der Schweiz. Wenn mein Vater hierher kommt, ist er sehr glücklich und meint, dass er zurück
in sein Dorf gekehrt ist.
Fasst man die komplexe Situation der Definition von Zugehörigkeiten zusam-
men, so zeigen die Interviews, dass sich die befragten MigrantInnen am ehesten
dem Wohnort verbunden fühlen, sich dabei aber auch am imaginierten Ort der
Herkunft orientieren, wie er in den Erzählungen der Familie und in den Medien
präsent ist, zu denen man einen direkten Zugang hat. Dieser Wohnort ist aller-
dings nicht einfach als jene Stelle zu definieren, wo man ‘weder hier – noch
198 Heinz Moser
dort’ ist. Er ist vielmehr jene Stelle, wo sich die Beziehungsnetze miteinander
verbinden und als eigener Knotenpunkt in transnationalen Netzwerken erschei-
nen. Diese transnationalen Gemeinschaften repräsentieren einerseits die ur-
sprüngliche Heimat, die aber selbst keinem geografischen Ort12 mehr entspricht,
sondern über den ganzen Globus zerstreut ist. Als Fixpunkt ist diese Heimat nur
noch in den eigenen Imaginationen aufzufinden, sie wird abgelöst durch ein
Gefühl des ‘Dazwischen’ das allerdings nicht nur als Verlust zu charakterisieren
ist, sondern hybride Lebensformen ermöglicht (zum Beispiel den ‘eigenen Sty-
le’ von Ergün), die auch neue Lebenschancen in einer zunehmenden globalisier-
ten Welt ermöglichen.
Am Beispiel der Zugehörigkeit sollte deutlich werden, wie komplex die Identi-
tätsentwicklung von Migrantenkindern und -jugendlichen verläuft. Dabei sind
die kulturellen Orientierungen weder einseitig auf die Herkunftskultur noch auf
die Kultur des ‘Aufnahmelandes’ zu reduzieren. Dies wurde insbesondere in den
Teilstudien des qualitativen Projekts deutlich, in denen die beteiligten Jugendli-
chen Aspekte ihres eigenen Lebens mit Hilfe von Fotos darstellten und sich
anschließend im Gespräch dazu äußerten. Neben den Bezügen zur schweizeri-
schen Kultur und zur originären Herkunftskultur zeigte sich die Präsenz einer
globalen Jugendkultur, welche die beiden erstgenannten übergreift – und zwi-
schen unterschiedlichen Sprachen und Kulturen einen gemeinsamen Zusam-
menhang schafft. Die Figuren der Disney-Filme, die Lebensweise, wie sie in
amerikanischen Fernsehserien vorkommt, internationale Pop-Musik etc. stellen
eine übergreifende Verbindung zwischen unterschiedlichen ethnischen Herkünf-
ten, zwischen einheimischen und Jugendlichen mit Migrationshintergrund her.
Dabei entwickeln sich oft auch neue hybride Formen – etwa der Mundart-Rap
von schweizerischen Jugendlichen oder ethnopopmusikalische Formen wie
Arabeske in der Türkei.
Die folgenden Bilder aus dem Fotomaterial des Projekts13 verdeutlichen die
drei genannten kulturellen Orientierungen:
12
Auch wenn es diesen Ort noch gibt und einige der Verwandten dort leben, so fungiert er vor
allem als ideeller Bezugspunkt und Ort des Begehrens der zerstreuten MigrantenInnenpopulati-
on.
13
Die Fotos wurden von den Forschenden und den Jugendlichen gemeinsam aufgenommen. Sie
sollten die Jugend- bzw. Kinderzimmer möglichst vollständig erfassen und als „embodied spa-
ces“ die Welt dieser Jugendlichen darstellen.
Lebensperspektiven im Kontext 199
Abbildung 1/links zeigt das Poster der Großstadt Hongkong. Hier möchte Se-
vinc gerne einmal als Sängerin auftreten. Der Wunsch, einmal international
anerkannter Popstar zu werden, dürfte sich von jenem einheimischer Mädchen
nicht unterscheiden. Auch die auf dem zweiten Bild (Abbildung 1/rechts) darge-
stellte Bettwäsche im Disney-Look, wie sie im Kinderzimmer von Rukiye zu
finden ist, zeigt bis hin zu Farbe ‘pink’, den Einfluss einer globalen Kultur, die
die Märkte weltweit mit ihren Produkten erobert hat.
Abbildung 2: Heimatkultur
200 Heinz Moser
Abbildung 2/links zeigt Rukyie mit türkischen Fahnen, die sie in ihrem Zimmer
aufbewahrt. Hier scheint die Nähe zur ehemaligen Heimat und zu deren Emb-
lemen am Nächsten – und doch auch dadurch gebrochen, dass diese Zeichen der
nationalen Kultur mit jenen auf den beiden anderen Ebenen zu einem ‘Style’
verbunden sind, der für jenen Individualisierungsschub steht, den die westlichen
Gesellschaften – und darin eingeschlossen auch viele MigrantInnenfamilien – in
den letzten Jahrzehnten erfahren haben. Das vierte Bild (Abbildung 2/rechts)
zeigt die kurdische (Haupt)Stadt Diyarbakr als Ort der Sehnsucht und einer
imaginierten Kultur, die in der Realität nur mehr schwer erreichbar ist. Denn
Sevinc ist das Kind einer kurdischen Flüchtlingsfamilie, die es sich schon aus
politischen Gründen nicht leisten kann, die ehemalige Heimat zu besuchen.
Auf der Abbildung 3/1 wird dies deutlich, indem die in der Schule gebastelten
Katzen zu den von Sevinc bezeichneten ‘Lieblingsgegenständen’ gehören. Ru-
kyie dagegen hat ihre Schulkameradinnen fotografiert und dokumentiert damit,
dass sie sich in der Schule mit ihren schweizerischen Kolleginnen und denjeni-
gen mit Migrationshintergrund wohl fühlt. Das Bild scheint darüber hinaus im
Sinne der weiter oben dargestellten Problematik der Zugehörigkeit auszudrü-
cken, dass Heimat letztlich über Menschen, die einem nahe stehen, definiert
wird. Gegenüber der imaginierten Heimatkultur, die aufgrund ihrer Ferne we-
sentlich durch Zeichen und Symbole (der türkischen Fahne von Rukkyie oder
dem Bild des für Sevinc unerreichbaren Diyarbakir) dargestellt wird, ist die
lokale Kultur vermehrt auch über die Zugehörigkeit zu anderen Jugendlichen
und zu Peer-Groups definiert, mit denen man täglich in Kontakt steht.
Zusammenfassend sind nochmals die drei in unserer qualitativen Untersu-
chung herausgearbeiteten Bezugspunkte für die Identität(skonstruktion) hervor-
zuheben:
globale (Jugend-)Kultur
lokale Kultur
originäre Kultur der familiären Herkunft14
Jugendliche mit
Was ist ‘in’ Schweizer Jugendliche
Migrationshintergrund
Toll aussehen 93% 94%
Markenkleidung tragen 81% 86%
Treu sein 81% 77%
Karriere machen 71% 79%
Verantwortung überneh- 69% 69%
men
Technik 59 % 62%
14
Diese Einflüsse der originären Kultur sind ebenfalls nicht als homogene Elemente einer einheit-
lichen türkischen Kultur zu verstehen. Sie unterscheiden sich je nach Schicht, Religionszugehö-
rigkeit oder Region (Stadt – Land), welcher die MigrantInnen zugehörig sind.
202 Heinz Moser
5 Fazit
Fasst man die Resultate der hier referierten Untersuchung zusammen, so finden
sich kaum Belege für Thesen vom ‘Medien-Ghetto’ bzw. von parallelgesell-
schaftlichen Strukturen: Einerseits sind diasporische Lebensverhältnisse heute
nicht mehr als ausgeprägte Zentrums-Peripherie-Beziehungen strukturiert.
Vielmehr handelt es sich um transnationale Gemeinschaften, die sich weit über
den ganzen Erdball erstrecken und nicht ausschließlich auf die Bewahrung der
ursprünglichen Wurzeln fixiert sind, sondern Verwandtschafts- oder Lokalitäts-
netze15 darstellen, die sich über die staatlichen Grenzen hinweg gegenseitig
unterstützen. Der gemeinsame Ursprung spielt dabei im Sinne der Betonung
15
Unter ‘Lokalitätsnetzen’ sind transnationale Netz zu verstehen, in denen sich zum Beispiel
Leute aus demselben Dorf wiederfinden.
Lebensperspektiven im Kontext 203
einer imaginierten Gemeinschaft eine wichtige Rolle; er wird dabei aber durch
die kulturellen Einflüsse aus dem gegenwärtigen Leben ergänzt.
Auf der anderen Seite hat die Zürcher Untersuchung gezeigt, dass das Le-
ben der befragten Familien und Jugendlichen nicht so ausschließlich durch die
Normen und Lebensweise einer vergangen Heimat bestimmt ist, wie es die
These von der Parallelgesellschaft unterstellt: Einflüsse aus dem lokalen Milieu
und aus einer globalen (Jugend-)Kultur spielen eine ebenso wichtige Rolle.
Dadurch manifestiert sich auch eine gewisse Ortlosigkeit, die sich bis weit in die
zweite Generation der sogenannten ‘Secondos’ erstreckt. Auch wer den Schwei-
zer Pass erworben hat oder bereits in der Schweiz geboren ist, fühlt sich noch
‘ortlos’, als sich keiner der Kulturen umfassend zugehörig. Gleichzeitig sind
diese Jugendlichen aber auch Teil einer ‘glokalen’ Jugendkultur, die in vielem
ähnlich oder gleich zu derjenigen der Einheimischen bzw. zu jener von anderen
MigrantInnengruppen ist.
Trotz dieser Befunde muss hier jedoch einschränkend angemerkt werden,
dass die These von den Parallelgesellschaften in Deutschland vor einem anderen
sozialgeschichtlichen und gesellschaftlichen Hintergrund diskutiert wird als in
der Schweiz. Denn in der Schweiz gibt es weniger Ballungsgebiete oder Stadt-
teile, in denen sich bestimmte Gruppen von MigrantInnen ‘massieren’. Aller-
dings gibt es Untersuchungen, die vermuten lassen, dass auch in Deutschland
eine ähnliche soziale Dynamik vorherrscht, die nicht mit der traditionalen Ghet-
to-These übereinstimmt. Die Komplexität der Verhältnisse macht die Studie von
Ayhan Kaya (2001) deutlich, welche die Lebenssituation von Jugendlichen in
Berlin-Kreuzberg, eines der größten städtischen Gebiete mit türkischer Bevölke-
rung außerhalb der Türkei, beschreibt. Die Autorin geht dabei ausführlich auf
das Leben in Kreuzberg ein – einer „türkischen ethnischen Enklave“ (Kaya
2001: 88ff.) mit einem entwickelten sozialen Netzwerk für die türkische Ge-
meinschaft (von Dönerständen, türkischen Restaurants und Reisebüros bis hin
zu türkischen Vereinen und Organisationen, in denen man sich auf Türkisch
beraten lassen kann). Dennoch bezeichnet Kaya die Diaspora in Kreuzberg
letztlich als „multilokal“, bzw. als „synkretistische Kultur“ im Grenzland. Die
im Wesentlichen symbolische Orientierung an einem imaginierten Ort der eige-
nen Herkunft wird dadurch konterkariert, dass als Heimat – ähnlich wie in unse-
rer Untersuchung – weder Deutschland noch die Türkei bezeichnet wird sondern
Kreuzberg – nämlich der Ort, wo man lebt. Zusammenfassend meint Kaya:
„Das Gefühl, gleichzeitig ‘zuhause und vom Heimatland entfernt’ oder ‘hier und
dort’ zu sein, enthüllt eine Form des ‘doppelten Bewusstseins’ in der Vorstel-
lungswelt der diasporischen Jugendlichen. Das Erkennen des multilokalen Cha-
rakter oder des ‘doppelten Bewusstseins’ wird zum zentralen Aspekt ihrer Iden-
titätsbildung und Artikulation“ (Kaya 2001: 139). Wenn wir daher im Sinne der
204 Heinz Moser
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Teil II
Aushandlungsprozesse um Ethnizität und Geschlecht
Traditions- und Kulturbildung im Migrationskontext
Asiye Kaya
Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit den Fragen nach der geschlechtsspezi-
fischen Traditions- und Kulturbildung im Migrationskontext. Es wird am Bei-
spiel einer Mutter-Tochter-Falldarstellung ersichtlicht, welche Bedeutung die
Lebenserfahrung einer in der Türkei aufgewachsenen Mutter als Trägerin der
‘Herkunftskultur’ für die Lebensgeschichte ihrer in der BRD heranwachsenden
Tochter hat. Die Daten wurden im Rahmen einer biografietheoretischen Studie
erhoben.1
Beim biografischen Ansatz werden Biografien als ‘sozialweltliche Orien-
tierungsmuster’, sowohl als individuelle als auch als kollektive Konstruktionen
betrachtet, die Gesellschaftlichkeit und Subjektivität verbinden (vgl. Fi-
scher/Kohli 1987; Alheit 1995; Rosenthal 1995/2002; Fischer-Rosenthal 1996).
Dieser Ansatz geht davon aus, dass sich in jeder einzelnen Biografie – als Be-
standteil der Sozialwelt – die Gesellschaft abbildet. Mit anderen Worten: „Man
kann eine konkrete Gesellschaft betrachten und studieren, indem man eine ein-
zige Biographie betrachtet und studiert“ (Fischer-Rosenthal 1996: 49). Die Ana-
lyse der Biografien ermöglicht uns zu erfahren, wie eine Gesellschaft in ihrer
Geschichte im Ablauf eines Lebens erlebt, und im Handeln von Gesellschafts-
mitgliedern modifiziert wird. Das gilt auch für die Erforschung des Erlebens der
Migration. In dem vorliegenden Beitrag wird am Beispiel zweier Frauengenera-
tionen gezeigt, wie Migrantinnen und ihre Töchter sich an kollektiver Kulturbil-
dung, das heißt an der Alltagspraxis innerhalb ihrer „Einwanderergesellschaft“2
1
An dieser Stelle möchte ich mich für die finanzielle Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung
für die Durchführung meiner Studie bedanken. Für eine ausführliche Darstellung der Studie sie-
he Kaya (2006).
2
Bei diesem von Friedrich Heckmann (1981) geprägten Begriff der ‘Einwanderergesellschaft’
geht es um die Orientierung der Einwanderer. Damit meint der Autor, dass die Ethnizität und
kulturelle Orientierungen nichts Statisches sind und sich in der Migration nicht auf die Her-
kunftsgesellschaft richten, sondern in der Aufnahmegesellschaft eine neue strukturelle Form
entwickeln. Demzufolge handelt sich bei dieser Terminologie der Einwanderergesellschaft nicht
um eine sich von der Mehrheitsgesellschaft abwendenden MigrantInnengruppe, sondern um die
210 Asiye Kaya
Entstehung einer aus der Geschichte klassischer Einwanderungsländer bekannte ethnische Ko-
lonie.
3
Dabei geht es nicht um die Essentialisierung von ‘Herkunftskulturen’, sondern um den biografi-
schen Anteil, der zur Herstellung von Traditionen und deren Ausformung in der Gesellschaft
beiträgt.
4
Siehe dazu für den türkischen Kontext: Kray (1985); Mhcyazgan (1986); Pfluger-
Schindelbeck; (1989); Delaney (1991); Herwartz-Emden (1995); Bora (2001); Oktay (1999);
Tunç (1998) und zu verallgemeinernden im westlichen Forschungsraum (abgesehen von einigen
Arbeiten in den Sozialwissenschaften, überwiegend mit dem psychoanalytischen Ansatz er-
forscht): Gilligan (1992);Friday (1979); Eichenbaum/Orbach (1985); Burger/Seidenspinner
(1988); Fischer (1991); Debold/Malavé/Wilson (1994). Kritisch dazu siehe Chodorow (1985).
Vgl. auch Kaya 2005/2006.
Traditions- und Kulturbildung im Migrationskontext 211
2 Fallbeispiel
Das was ich bei meiner Ankunft in Deutschland gesehen hab, war sehr (2) sehr fremd für
mich.6
Neziha stammt aus einer traditionellen semibäuerlichen Familie aus dem mittle-
ren Anatolien der Türkei. Sie ist in einer Familienstruktur aufgewachsen, in der
viele Generationen (und mehrere Familien) zusammenleben und es eine deutli-
che Grenze zwischen dem Leben der Frauen als ‘innere Domäne’ und dem Le-
ben der Männer als ‘äußeren Raum’7 gibt. In ihrer Großfamilie sunnitischer
Herkunft8 in der Türkei hat der Glaube keine institutionelle Bedeutung (das
heißt, es findet keine religiöse Erziehung in der Moschee statt), sondern ledig-
lich eine traditionelle Bedeutung, die im Rahmen von Sitten und Gebräuchen in
den Alltag integriert ist. Aufgrund der Binnenmigration innerhalb der Türkei ist
Migration in Nezihas Familien- und Lebensgeschichte – sie war zum Zeitpunkt
der Migration sechs Jahre alt – bereits eine vorhandene Erfahrung und hat eine
positive Bedeutung für sie. Immigration bedeutet für sie eine Verbesserung des
5
Alle Namen und einige andere wiedererkennbaren Daten wurden anonymisiert. Im Rahmen
meines Forschungsprojekts habe ich mit Neziha und ihrer Tochter Meral jeweils zwei biogra-
fisch-narrative Interviews geführt. Alle vier Interviews wurden auf Wunsch der Biografinnen
auf Türkisch geführt. Bis auf das letzte Interview mit Meral, das in ihrer Moscheeorganisation
stattfand, führte ich alle Interviews in der Wohnung der Familie. Für eine detaillierte Darstel-
lung der Lebensgeschichte der Mutter siehe Kaya (2006).
6
Bei der Transkription der Interviewabschnitte gelten nicht die gewöhnlichen Grammatikregeln.
Die gesprochene Sprache wird nach bestimmten Transkriptionsregeln geschrieben. Dies ver-
deutlichen folgende Beispiele:
, = kurzes Absetzen; (2) = Pause; Dauer in Sekunden; sagte = wollte = schneller Anschluss;
viel- = Abbruch; ja: = Dehnung; NEIN = laut; MICH = sehr laut; ‘komm’ = Zitat innerhalb ei-
nes Zitats; >komm< = leise; ( ) = Inhalt der Äußerung ist unverständlich, Länge der
Klammer entspricht etwa der Dauer der Äußerung; ((lachend)) = Kommentar der Transkribie-
renden; //hm// = Äußerungen der Interviewerin; (…) = Auslassungen; (ihre Mutter) = sinnge-
mäße Ergänzungen bei den Übersetzungen; [ihre Tochter] = Erläuterungen der Interviewerin;
[Fasten] = Übersetzung von einzelverwendeten türkischen Wörtern.
7
Zu den erwähnten Lebensräumen siehe auch Herwartz-Emden (1998).
8
Der Begriff Sunnitum ist abgeleitet vom arabischen Wort Sunna, das die Sammlungen der
Traditionen des Propheten Mohammed und seine schriftlich überlieferten Worte und Taten im
Koran bezeichnet. Ein sunnitischer Mensch ist in diesem Zusammenhang eine Person, die nach
der Lehre des Mohammed lebt und handelt. Das Sunnitentum ist an feste Prinzipien gebunden.
In ihm werden die vom Propheten aufgestellten Regeln als unveränderlich, unumstößlich und
nicht diskutierbar betrachtet. Es wird davon ausgegangen, dass man sich unter allen Umständen
an diese notwendigen Regeln zu halten habe. Die religiöse Zugehörigkeit der Sunniten wird
häufig in der türkischen Literatur als orthodoxer Islam bezeichnet. Vgl. Radtke (1996); Busse
(1996); Spuler-Stegemann (1996).
Traditions- und Kulturbildung im Migrationskontext 213
Mein Schwiegervater war hier (2) er hatte eine deutsche Geliebte [dost9] (1) das habe ich
gleich am ersten Tag (am ersten Tag meiner Ankunft in Deutschland) als SEHR FREMD
EMPFUNDEN. Ich wusste zwar, aber noch dazu es live zu sehen war=ungewohnt für mich
sehr UNGEWÖHNLICH also solches Verhalten. DAS WAS ICH BEI MEINER ANKUNFT
IN DEUTSCHLAND GESEHEN HAB, WAR SEHR (2) sehr fremd für mich.
Neziha ist zu diesem Zeitpunkt erst 16 Jahre alt und diese Erfahrung beeinflusst
ihre Einstellung zur hiesigen Gesellschaft in der Hinsicht, dass sie distanziert
bleibt. Sie fühlt sich in ihrer neu gegründeten Familie moralisch bedroht und
verwirklicht sich selbst in ihrer Frauenrolle. Sie gestaltet ihre Wohnsituation
ihren Gewohnheiten in der Türkei entsprechend neu und wird Mutter. Verstärkt
übernimmt sie die aus der Herkunftsfamilie vertraute Trennung zwischen der
‘inneren’ und der ‘äußeren’ Welt. Die innere Welt bzw. der innere Raum ist mit
der Kernfamilie verbunden, die äußere Welt ist zunächst alles, was außerhalb
ihres Familienlebens liegt. Weitere wichtige Erfahrungen sind ihre mehrmaligen
Verluste durch Tot- und Fehlgeburten.
Diese Erfahrungen kränken sie in ihrem Selbstbild als gebärfähige Frau.
Sie sucht soziale Kontakte bzw. weibliche Kontakte. Außerhalb der Nachbar-
schaft findet sie diese für sie stabilisierenden Anbindungen in der Moschee. Die
9
Das türkische Wort ‘dost’ bedeutet grundsätzlich eine sehr enge und vertrauensvolle Freund-
schaft zwischen zwei Menschen. Dennoch hat sie bezüglich eines Verhältnisses zwischen Mann
und Frau auch eine andere Bedeutung. In diesem Kontext deutet es auf eine Beziehungsform
zwischen einem Mann und einer Frau hin, die lediglich auf einer unehelichen sexuellen Bezie-
hung basiert. Abgesehen davon, dass diese von der Gesellschaft unmoralisch empfunden wird,
werden besonders Frauen in solchen Beziehungen von der Gesellschaft missachtet.
214 Asiye Kaya
Religion ermöglicht den sozialen Raum und den Umgang mit den Verlusterfah-
rungen. Die Fallanalyse zeigte, dass je mehr Verlusterfahrungen Neziha macht,
sie desto religiöser wird. Mit anderen Worten, die Religion wird zu einer Form
der Bewältigung und Kompensation von Verlustsituationen. Der religiöse Raum
wird bis zur Geburt ihrer Tochter Meral zur Erweiterung des inneren Raums
(Familie), somit auch zu einem ‘Frauenraum’. Die Moschee als ein öffentlich
organisierter Raum ist für sie in diesem Zusammenhang ein Ort der Hilfe, der
Öffnung zur Welt, ein Ort der Sprache und sozialen Bindung, die ihr wichtigen
Halt geben. Nicht zuletzt hat ihre Religiosität auch Macht- bzw. Moralaspekte.
Religion ist Ausdruck ihrer Moral, sie ist eine wichtige moralische Instanz in
schwierigen Situationen. Nezihas Religiosität ermöglicht es ihr auch, ihrem
Mann gegenüber eine Machtposition bzw. die Rolle einer Autoritätsperson zu
erreichen. Durch ihren Einfluss wird er in den folgenden Jahren auch religiös
und wird Mitglied der religiösen Gemeinde. In der weiteren Entwicklung erfüllt
die Religion später die Funktion zur Erhaltung und Stärkung der Bindung der
Eltern an ihre Kinder, die sich durch das alltägliche Erleben der deutschen
(christlichen) Mehrheitsgesellschaft und durch die Beteiligung der Kinder an ihr
möglicherweise immer mehr abschwächen könnte.
Anders als Neziha es in ihrer Herkunftsfamilie erlebt hat, verfolgt sie in der
Erziehung ihrer Kinder ein Konzept, das sich auf den guten Kontakt bzw. auf
den guten Dialog mit ihren Kindern gründet. Eine Mutter, so Neziha, bindet die
Familie und der Dialog, besonders zwischen Mutter und Kind, bildet den Kern-
punkt ihres Erziehungskonzepts. Insbesondere bei der Erziehung ihrer Tochter
Meral, die sie neun Jahre nach ihrer ersten Entbindung sowie nach mehreren
Tot- und Fehlgeburten gebiert, spielt Religion eine vielfältige, bedeutsame Rol-
le. Sie erlebt ihre Tochter Meral sowohl als Geschenk ihrer Religiosität als auch,
insbesondere in weiteren Jahren, als ihren Stolz in der Moschee. Ihre Tochter
erschafft sich eine besondere Stellung in der Moschee, nimmt an vielen Aktivi-
täten und Programmen teil. Neziha begleitet ihre Tochter dabei, insbesondere zu
den Anlässen, die abends außerhalb der Moschee stattfinden. Dies ermöglicht
ihr eine zunehmende Teilnahme am öffentlichen sozialen Leben. Durch die
Anbindung ihrer Tochter an die religiöse Gemeinde erhält sie selbst auch in
ihrer eigenen Gemeinde Anerkennung bzw. Lob als eine gute Mutter.
Vor diesem Hintergrund möchte ich nun etwas ausführlicher auf den Prozess der
Anbindung zwischen Mutter und Tochter durch die Religion und die religiösen
Bindungen aus der Perspektive von Merals Lebensgeschichte eingehen. Meral
Traditions- und Kulturbildung im Migrationskontext 215
wurde 1985 in Deutschland geboren. Sie war zum Zeitpunkt der Datenerhebung
(2001-2002) das einzige Mädchen in ihrer Familie und Verwandtschaft in
Deutschland, was ihr als ein erwünschtes Kind einen besonderen Status gibt.
Ihre Selbstpräsentation im ersten Interview war sehr stark durch die Gegen-
wartsperspektive geprägt, die eine Spannung von Moschee versus Schule bein-
haltet. In dieser Spannung der Eingangspräsentation fehlt die Familie. Sie stellte
sich als eine autonome, leistungsfähige und vor allem als eine ‘besondere’ Per-
son dar, die mit Schule und Moschee zwei, jeweils durch den Schulwechsel
gekennzeichnete, sich zunehmend voneinander trennende Lebensbereiche hat.
Die jeweiligen Schulwechsel führen auch zu einer stetig zunehmenden religiö-
sen Anbindung, Meral vermeidet es aber, dies in ihrer Präsentation zusammen-
hängend darzustellen. Sie stellt ihre erfolgreichen sozialen Bindungen in der
Moschee als eigene Entscheidung und Leistung dar. Sie vermeidet es jedoch,
über die abnehmende schulische Leistung seit der siebenten Klasse, das heißt,
seitdem sie in der Schule ein Kopftuch trägt, zu reden. Die Trennung zwischen
der Schule und der Moschee ist am deutlichsten, wenn es um die sozialen Be-
ziehungen, vor allem um Freundschaften geht, wenn sie diese in Kontrast zuei-
nander stellt bzw. sie als Folie für bestimmte Aussagen benutzt. Es waren also
die Themen Leistung und soziale Bindung sowie Anerkennung, und zwar au-
ßerhalb der Familie, die sie vor allem beschäftigten.
Auf der Handlungsebene wird Meral von ihren Eltern bewusst für beide Gesell-
schaften erzogen und ihr Leben ist durch Religion (die mehr durch die Mutter
gefördert wird) und Ausbildung (die mehr durch den Vater gefördert wird) ge-
kennzeichnet. Ihre Eltern geben ihr einen schwer zu realisierenden Auftrag:
Einerseits soll sie sich durch die deutsche Schulbildung zu etwas Besonderem
entwickeln, andererseits soll sie sich aber nicht entsprechend der deutschen
christlichen Kultur entwickeln, sondern sie soll zur Moschee gehen, mit Beginn
ihrer Pubertät ein Kopftuch tragen und sich an die Normen halten, die dem Is-
lam entsprechen und die besonders durch die Mutter repräsentiert werden. Diese
Parallelität existiert bis zur siebenten Klasse, als sie beginnt, im schulischen
Lebensraum ein Kopftuch zu tragen. Danach gewinnen – durch die sich gegen-
seitig bedingende Spannung zwischen Schule und Moschee – die Bindungen
innerhalb des Lebensraums ‘Religion’ immer mehr an Bedeutung. Durch das
Kopftuch stehen sich hier die traditionell-religiöse Familien- bzw. Gemeinde-
216 Asiye Kaya
struktur und die nicht familiale Außenwelt bzw. Schule gegenüber. Meral fühlt
sich in der Schule wegen ihres Aussehens vor allem von den LehrerInnen nicht
akzeptiert, verachtet und erniedrigt. In dem folgenden langen Zitat erzählt sie
über die unterschiedlichen Diskriminierungserfahrungen durch ihren Ge-
schichtslehrer:
... (3) Äh manche Lehrer haben hm also na: haben na dings [ey10] =haben dings [ey]
((schluckt)) Fremdheit (2) wenn sie es AUCH nicht ganz, direkt zeigen ES GIBT AUSLÄN-
DERFEINDLICHKEIT, man merkt das also an ihrem Verhalten. Bei ihren Worten gibt es na-
türlich nichts (2) Aber: hm, ich habe den Geschichtsunterricht sowieso nie gemocht (2) Wenn
dazu noch dieser Lehrer kam, dann bleibt also nichts (2) Weiß nicht mein mündliches Deutsch
ist nicht so gut. Deswegen tue ich auch nicht oft (mich melden) mit (2) etwas: bleibe ich zu-
rück also ich melde mich nicht bei allem, weil ich denke ich kann was falsches sagen.
//hmhm// (2) Hm, etwas hat mich sehr genervt, ich habe mich lange Zeit am Unterricht nicht
beteiligt also überhaupt nicht kann ich sagen. Ich dachte ich melde mich mal. Habe mich ge-
meldet. Dann hat der Lehrer gesagt: ehm ‚ja‘ sagt er von dings [ey] ‚bist du vom na Urlaub
zurück gekommen‘ und so ‚du hast dich gut ausgeruht‘ also hast ein gutes, dings [ey] ge-
macht, und ich, er hat mich also offensichtlich RUNTER GEMACHT (erniedrigt). Wenn es
eine Deutsche oder sag ich mal jemand ohne Kopftuch gewesen wäre würde er ihm sagen ‚du
fängst an dich zu bewegen‘ und so ‚mach weiter‘ und so aber, ich habe mich gemeldet (2) er
hat mich gleich so na dings [ey] gemacht, RUNTER GEMACHT (erniedrigt) ALSO (2) nach
dem Motto du machst seit ein paar Monaten nichts (2) weiß nicht er kommt in die Klasse
schon durch seine Blicken weißt du was er sagen will, er guckt mich an und dann auch ich gu-
cke dorthin also ((lächelt)) gegenseitig ((lachend)) (2) einmal kommt er in die Klasse (2) ehm,
guckt mein Kopftuch an, das war in einer auffälligen Farbe (...) dann guckt er so nachdem
Motto ‚hast du ein neues Kopftuch gekauft’ so. Also ich saß hinten hab nichts gehört vorne
saß eben die bosnische Freundin, die ich vorhin meinte, er hat mit ihr gesprochen, ‚ja’ ‚hat er
gesagt ehm ‚sie trägt immer dasselbe Kopftuch’ das stimmt überhaupt nicht (…) so schlecht
redet er immer (3) So ist es also wie ich sagte dieser Lehrer hat mehr, hat gegen Ausländer
etwas dings [ey] (3) Das lässt er merken also (3) Weil sowieso JEDER MERKT es wie er mit
mir umgeht, deswegen wenn ich seinen Unterricht, wenn ich auch versuchen sollte mich in
Geschichte zu verbessern (3) Egal was ich mache er wird mir eine fünf geben. Also ich habe
bei dem Lehrer KEINE CHANCE (2). Es gibt nichts was ich tun kann.
Wie sie auch an einer anderen Stelle erzählt, macht sie besonders schlechte
Erfahrungen mit den Lehrern der Fächer Deutsch und Geschichte. Diese Fächer
werden aufgrund ihrer starken national(-staatlichen) Ausrichtung von vielen
Immigrantenkindern als problematisch betrachtet. Neben Literatur und (sprach-)
historischen Aspekten ist hier vermutlich auch ein expliziter und/oder impliziter
10
Özdek (2000) bezeichnet das türkische Wort ey generel als „discourse marker“ und gibt an-
hand der Beispiele unterschiedliche Anwendungsformen von diesem als Füllwort „used tempo-
rarily until the speaker finds the right word“, als diskurs marker „presence of mutual knowledge
by everyone sharing the same world“ und als „planning marker“ sowie als „topic-
introducing/topic-raising“ (396-397). Zur Bedeutung der (Mutter)Sprache für die Interaktion
zw. der Biografin und der Interviewerin vgl. Riegel/Kaya (2002).
Traditions- und Kulturbildung im Migrationskontext 217
11
Stuart Hall bezeichnet die Geschichte, die Sprache und die Literatur als „die drei Stützsäulen
der nationalen Identität und Kultur“ (Hall 2000: 102). Vgl. auch Tillman (1999: 174).
12
Es handelt sich hierbei um Kinder, die in Deutschland geboren sind, aber trotzdem als auslän-
disch bezeichnet werden.
13
Erste Überlegungen zur Existenz und Bedeutung des heimlichen Lehrplans gehen auf Anfang
des 20. Jahrhunderts zurück – Tillman verweist hier auf Bernfeld (1925). Das Thema wurde je-
doch erst seit den 60er Jahren von SozialwissenschaftlerInnen aufgegriffen und weiter entwi-
ckelt (für eine detaillierte Darstellung vgl. Tillmann 1999: 168-182). Für diese Untersuchung
hat dieses Konzept im Zusammengang mit der Ideologiebildung durch die Unterrichtsinhalte
eine Relevanz. Durch den heimlichen, oft auch durch den manifesten, Lehrplan wird eine kultu-
relle Hegemonie durchgesetzt und gestützt, durch die die ‘Kulturen der Unterdrückten’ zum
Schweigen gebracht werden. In ihrem Artikel „Erziehung und Toleranz“ stellt Diehm (2000:
268-269) in ihrer Analyse über die Repräsentation von Migrantenkindern in Schulbüchern fest,
dass auch in diesen Darstellungen ein ‘heimlicher Lehrplan’ herrscht. Sie schreibt, dass die
Thematisierungsmuster dieser Schulbücher entweder Menschen als ‘Ausländer’ und ‘Deutsche’
ethnisch oder national kodieren und auf diese Weise in ‘Wir’- und ‘Sie’-Gruppen auseinander-
dividieren. Vgl. dazu auch Mannitz/Schiffauer (2002: 87-100), Mannitz (2002: 101-138).
218 Asiye Kaya
Hm, ich kann sagen, dass wir DIE RECHTE HAND VON HODSCHA sind 6-7 Mädchen.
Meral erfährt zwar schon früh eine religiöse Erziehung, die explizite Spannung
zwischen ihrer religiösen Orientierung und der Aktivitäten in Schule und Frei-
zeit beginnt jedoch erst, nachdem sie in der Moschee in eine geschlechtsspezifi-
sche Peergruppe kommt und somit immer mehr Zeit in der Moschee verbringt.
Zuerst befreundet sie sich eng mit einem Mädchen aus der Moschee, das bald
für sie sowohl in Bezug auf zukünftige berufliche Perspektiven (Ausbildung als
Erzieherin) als auch für die Bindungen in der Moschee eine Vorbildfunktion
bekommt. Anschließend geht Meral mit ihrer Freundin und mit der Mädchen-
gruppe aus der Moschee auf Umrefahrt14. Anders als während der Klassenfahrt
ist sie hier in Bezug auf Geschlecht, Religion und Nation in einer homogenen
Gruppe. Nach der Fahrt verbringt sie immer mehr Zeit in der Moschee und die
Schule verliert mehr und mehr an Bedeutung.
Die Umrefahrt spielt eine wichtige Rolle bei der Entstehung dieser starken
emotionalen Bindung an Religion und Moschee. Mit anderen Worten ist die
Umrefahrt ein Wendepunkt in ihrer religiösen Vergesellschaftung. Die Moschee
entwickelt sich in diesem Rahmen zu einer Art funktionalem Äquivalent der
Peergruppe. Meral hat die Schlüssel zu den Räumen in der Moschee mit weite-
ren drei oder vier Mädchen. Nach dem Unterricht in der Moschee dürfen sie
allein eine Stunde in diesem Raum verbringen. Sie haben damit einen geschütz-
ten Raum zur Verfügung und können sich hier unterhalten. Meral findet in die-
ser Organisation eine soziale Familie, in der sie ihre emotionalen und sozialen
Bedürfnisse erfüllt bekommt. Über ihre Freundinnen in der Moschee sagt sie:
Wir sind auch jeden Tag, mit alle Mädchen zusammen (2) ich meine wenn ich sie einen Tag
nicht sehe vermissen wir uns ((lächelt)).
Sie bezeichnet an einer anderen Stelle die Beziehung zu ihnen wie die zwischen
Schwestern. Sie findet hier nicht nur eine soziale Familie, sondern sie wird auch
von den Autoritäten ihrer religiösen Gemeinde gelobt und übernimmt Verant-
14
Pilgerfahrt nach Mekka, die außerhalb der heiligen Besuchzeit stattfindet.
Traditions- und Kulturbildung im Migrationskontext 219
wortungen in der Organisation, kommt in die Elitegruppe der Moschee und wird
eine der Vertrauenspersonen der Hodscha15:
hm, ich kann sagen, dass wir DIE RECHTE HAND VON HODSCHA sind 6-7 Mädchen.
Meral hat eine Vorbildfunktion für andere Mädchen in der Moschee. Als einzige
Tochter ist sie ebenfalls weibliche Repräsentantin ihrer Familie. Durch die
Anerkennung in der Moschee und die Diskriminierungserfahrungen, etwa bei
der Erfahrung des impliziten Rassismus in der Schule, festigt sich bei ihr eine
dichotome Denkweise. Meral zieht eine klare Grenze, nicht nur zwischen dem
Deutschen und dem Türkischen, sondern auch zwischen praktizierenden und
nicht-praktizierenden Musliminnen, anhand ihrer Peerbeziehung. Meral sagt
dazu:
also ich bin (2) sehr, glück(lich)=also ziemlich zufrieden dass ich solche Freundinnen aus der
Moschee habe weil (4) man wird BEI DEN GUTEN auch gut und bei den Schlechten schlecht
also zum Beispiel, wenn ich zur Zeit keine Freundinnen von der Moschee hätte (2) weiß ich
nicht ICH HÄTTE AUCH WIE DIE MÄDCHEN IN DER SCHULE SEIN KÖNNEN weiß
nicht also //hmhm// (4) Im Vergleich zu ihrem (2) Verhalten, zum Beispiel ICH PASSE nicht
zu deren Verhalten also weiß nicht.
also nachdem unsere Beziehung mit Freundinnen sich vertieft hat, haben sich auch unsere
Familien kennengelernt weiß nicht, wir sind ziemlich intim16 also.
Meral führt ihr Elternhaus im Interview zum ersten Mal in Zusammenhang mit
ihren Freundinnen in der Moschee ein. Über die Freundinnen hat sie die Mög-
lichkeit, ihre Eltern in ihr öffentliches soziales Leben einzuführen. Es bilden
sich generations- und geschlechtsspezifische Beziehungen. Besonders die Müt-
ter entwickeln eine Vertrauensbeziehung untereinander, sodass sie teilweise die
Begleitung ihrer Töchter bei den Programmen der Moscheegemeinde, welche
außerhalb der Moschee stattfinden, abwechselnd übernehmen.17 Da sich Meral
durch ihr Aktivwerden in der Moscheegemeinde ihrer Mutter einen besonderen
Zugang zur Außenwelt erschließt, wird sie von ihr bei ihren Aktivitäten beson-
15
Hodschas sind die religiösen Führer im sunnitischen Islam. In diesem Beispiel handelt es sich
um einen weiblichen Hodscha.
16
Sie verwendet das Wort ‘intim’ für eine enge Beziehung zwischen ihr und den Mädchen in der
Moschee und nicht in seiner sexuellen Bedeutung.
17
Zu den Themen ‘Mitmütter’ und den Kreis von Müttern siehe Debold/Malave/Wilson (1994).
220 Asiye Kaya
ders unterstützt. Das Konzept der Eltern, dass sie Meral beides ermöglichen und
sie in beiden Bereichen – also sowohl in ihrer religiösen als auch in ihrer schuli-
schen Entwicklung – erfolgreich wird, ist jedoch bis zum Zeitpunkt des Inter-
views nicht gelungen, da Meral sich immer mehr von der Schule distanziert.
Die Ergebnisse der Falldarstellung haben gezeigt, dass nicht die Eltern die
Spannung produzieren, sondern die Spannung wird durch die Diskriminierung
bzw. den impliziten Rassismus in der Schule und die Identifikation mit der Mo-
schee erzeugt. Die Familie ist nicht die Quelle der Erfahrung einer dichotomen
Welteinteilung, sondern die Dichotomie entsteht im Kontext der Schule und im
Kontext der Moschee. Die Familie ist eher diejenige, die Meral in beiden Berei-
chen unterstützt. Nichtsdestotrotz gehört die Familie zum Leben, das durch die
Moschee thematisiert und präsentiert wird.
Sie ist nicht wie ich zur Moschee gegangen also (3) Deswegen BESITZT meine Mutter WE-
NIGER WISSEN ALS ICH …
Nach dieser ausführlichen Prozessdarstellung kehren wir noch einmal zum An-
fangspunkt, also zur Bindung und zur neuen Traditions- und Kulturbildung bei
Mutter und Tochter, zurück. Auf die Frage, was eine muslimische Frau für sie
ausmache, antwortet Meral:
Eine muslimische Frau (3) für mich (3) wie ich sagte also ich, selbst achte mehr auf die religi-
ösen Sachen. Vielleicht in manchen Themen kann ich sogar NOCH MEHR als meine Mutter
machen. //hm// Weil ich finde es auch etwas normal (2) Sie ist nicht wie ich zur Moschee ge-
gangen also (3) Deswegen BESITZT meine Mutter WENIGER WISSEN ALS ICH also in
manchem Thema. //hm// ICH HABE FÜR MEINE MUTTER AUCH VERSTÄNDNIS ICH
MEINE ICH MACHE IHR AUCH KEINEN VORWURF. Natürlich hätte ich mich darauf ge-
freut, dass meine Mutter zur Moschee geht (1). wenn meine Mutter sich eigentlich dies ge-
wünscht hätte (3) Äh unter der Woche zum Beispiel machen sie für Frauen Unterricht.
Meral stellt sich als bessere und ausgebildete Muslimin über ihre Mutter und
erlebt die in Mutter-Tochter-Beziehungen gewöhnliche Konkurrenz durch die
Religion. Ihr Wissen über die Religion macht einen bedeutenden Aspekt ihrer
Bindung an ihre Glaubensgemeinde aus. Meral betrachtet sich im Vergleich zu
ihrer Mutter, die ihre Form der Religiosität auf traditionale Weise erlernt hat, als
über ihre Religion ‘mehr wissend’ und daher den Islam bewusster, stärker ref-
lektierte Weise praktizierend. Obwohl Meral die Fähigkeiten ihrer Mutter als
Mutter und ‘Hausfrau’ anerkennt, distanziert sie sich von der Lebensgeschichte
ihrer Mutter als Frau und spricht ‘etwas uninteressiert’ mit ‘Vermutungen’ über
Traditions- und Kulturbildung im Migrationskontext 221
sie. Meral macht den Eindruck, ihre Mutter käme von einer anderen Kultur, die
sie weder kennt noch an der sie interessiert ist. Sie sagt:
(2) Meine Mutter (1) ging früher sogar nicht zum Deutschkurs, es ist nicht lange also ein=seit
ein zwei Jahren geht sie also [benennt die Kurse] (3) Ich weiß nicht ihr=ihr Leben ist anders
gekommen, meins kam anders jetzt. Ich kann mich mit ihr nicht vergleichen, das Leben mei-
ner Mutter und meines //hm// (2) Äh ((schluckt)) meine Mutter hat keinen Beruf in der Hand,
in der Türkei hat sie wohl nach fünfter Klasse oder so (die Schule) verlassen weiß nicht also
sie hat nichts in der Hand (3) Ich, kann mir nicht vorstellen also dass ich von morgens bis
abends zu Hause sitze so ein Leben kann ich mir nicht vorstellen (2) Ich würde mich auf jeden
Fall irgendwo betätigen, wenn nicht eine Arbeit was weiß ich würde ich in die Frauengruppe
der Organisation eintreten werde etwas tun. Wenn ich auch nicht arbeiten sollte (2) Meine
Mutter tut auch nicht das, zur Zeit (2) Jetzt GEHT SIE ZWAR zum Deutschkurs ABER
TROTZDEM.
Meral hat eine Vorstellung von einem Frauenbild das sie anstrebt, indem sie
ausgebildet, berufstätig und sozial aktiv ist. Das deutet darauf hin, dass das
angesehene Frauenbild in der deutschen Mehrheitsgesellschaft auch in der Mo-
schee akzeptiert wird. Mit anderen Worten, die Moschee, die die Frauen der
Muttergeneration vor 25 Jahren in ihrem ‘inneren Raum’ gestärkt hat, bietet
heute den Töchtern einen ‘öffentlichen Raum’, indem sie das angesehene Frau-
enbild in der Glaubensgemeinde nach den Strukturen und Erwartungen der
deutschen Gesellschaft erweitert. Vor diesem Hintergrund ist zu sehen, dass
Meral ihre Mutter als eine ‘unfähige’ Frau präsentiert, die nichts ‘leistet’ und
den ganzen Tag zuhause sitzt und daher ihrem ‘Frauenbild’ nicht entspricht.
Wie Meral sich von den Freundinnen in der Schule abgrenzt, weil diese eine
andere Lebensweise und Moralvorstellung haben, grenzt sie sich auch stark von
ihrer Mutter als Frau ab. Sie stellt sich als erwachsene Frau einen anderen Le-
bensinhalt vor als denjenigen ihrer Mutter. In diesem Zusammenhang ermögli-
chen die religiöse und schulische Bildung Meral, sich von dem durch ihre Mut-
ter repräsentierten Frauenbild zu distanzieren.18
Der Bereich ‘Religion’ bzw. die ‘religiösen Bindungen’ spielen bei der Bezie-
hung zwischen Meral und ihrer Mutter eine wichtige Rolle. Die Religion und
die religiösen Bindungen, die sich an ihrer gemeinsamen Glaubensgemeinde
manifestieren, haben für die Lebensgeschichte von Mutter und Tochter jeweils
18
Merals diesbezügliche Einstellung stimmen mit den Ergebnissen der Untersuchung von Berrin
Özlem Otyakmaz (1999) überein, dass die Mädchen türkischer Herkunft sich als „emanzipierter
als die vorige Generation“ bezeichnen.
222 Asiye Kaya
eine andere Bedeutung, die es jedoch beiden zum Schluss ermöglicht, gemein-
sam mit anderen Frauen und mit Unterstützung ihrer Gemeindeorganisation,
eine neue Tradition und ‘(Beziehungs-)Kultur’ zu bilden. Meral befindet sich in
der Pubertät, in einem Lebensabschnitt, wie Chodorow (1985) sagt, in dem sie
mit all den sozialen und psychologischen Bedingungen des Frauseins konfron-
tiert wird. Das Fallbeispiel zeigt, dass sich mit der Einprägung der unter den
Migrationsbedingungen entstandenen (religiösen) Gemeindenorientierung neue
Traditionen von Frauenbeziehungen bilden, in denen sich Mutter und Tochter
gegenseitig unterstützen und begleiten. Sie entwickeln eine neue Form der in-
tergenerativen Frauenbeziehung. Das heißt, während die Mütter ihre Töchter ins
Frauenleben begleiten, werden sie von ihren Töchtern auf dem Weg in die Auf-
nahmegesellschaft begleitet. Dabei findet auch eine Rollenumkehrung statt,
durch die die Mutter in gewisser Weise zur Tochter ihrer eigenen Tochter wird.
Die Mütter werden von ihren Töchtern ermutigt, sich der Aufnahmegesellschaft
neu zuzuwenden, sodass sie teilweise anfangen, wie Neziha 26 Jahre nach ihrer
Ankunft in Deutschland, Deutschkurse zu besuchen, sogar beginnen, sich durch
kleine Heimarbeiten am Berufsleben zu beteiligen. Diese neue Kultur der Frau-
enbeziehung, die hier entstanden ist, ist durch Solidarität zwischen den Frauen-
generationen gekennzeichnet und eine neue Möglichkeit für die Muttergenerati-
on, mit Hilfe ihrer Töchter in der deutschen Gesellschaft noch einmal ‘neu an-
zukommen’. Somit haben die Töchter die Rolle einer Transformatorin für die
Müttergeneration übernommen, und das sowohl für die Moscheegemeinde als
auch für die Gesellschaft.
Merals Mutter kennt sich mit deutschen Institutionen bzw. deutscher Öf-
fentlichkeit nicht aus. Daher kann sie den Alltag ihrer Tochter außerhalb des
Familienlebens und der Moschee nicht teilen. Die Religion und die religiösen
Bindungen ermöglichen der Mutter jedoch ihre Tochter an sich zu binden. Dies
wird der Mutter auch dadurch ‘erleichtert’, als dass zum einen ihre Tochter in
der Schule von den Lehrern entmutigt und ausgegrenzt wird, und sie daraufhin
ein distanziertes Verhältnis zur Schule aufbaut. Zum anderen ermöglichen die
Religion und die religiösen Bindungen Meral, anders als früher ihre Mutter in
diesem Lebensabschnitt (Adoleszenz), sich sowohl mit ihrer Mutter zu identifi-
zieren, mit ihr konkurrieren, als auch sich von ihr abzulösen.19 Ihr größeres
Wissen über ihren Glauben und ihre dadurch bewusster reflektierte Form von
Religiosität, die durch die Anerkennung und Akzeptanz ihrer Moscheegemeinde
weitere Bestätigung erhält, ermöglicht ihr, eine gewisse Form der Überlegenheit
über ihre Mutter zu erlangen. Ferner grenzt sie sich mit ihrer bewusster reflek-
tierten Form der Religiosität als aktiv Handelnde und (religiös) gebildete Frau
19
Zur Bedeutung der Bindung, Konkurrenz und Ablösung für eine Mutter-Tochter-Beziehung
siehe die Literaturangaben in Fußnote 4.
Traditions- und Kulturbildung im Migrationskontext 223
von dem durch ihre Mutter repräsentierten Frauenbild ab (vgl. Otyakmaz 1999),
das sich dadurch auszeichnet, dass die Mutter die islamische Religion auf tradi-
tionale Weise gleichsam ‘passiv’ übernommen hat und ein Leben als bloße
Hausfrauen führt. In diesem Zusammenhang positioniert sie sich selbst in einer
Weise, die dem Frauenbild der deutschen Mehrheitsgesellschaft eher entspricht.
Hier kennzeichnet idealerweise nicht die Traditionalität, sondern die Modernität
und die aktive Teilnahme am öffentlichen Leben das Alltagsleben der Frauen. In
Bezug auf diese gesellschaftliche Positionierung kommt auch Nilüfer Göle
(1995) in ihrer Studie über Frömmigkeit bei studierenden sunnitischen Frauen in
der Türkei zu ähnlichen Ergebnissen.
4 Schlussbetrachtung
Der vorliegende Beitrag versucht, ausgehend von der Frage, welche Bedeutung
die Lebenserfahrung einer in der Türkei aufgewachsenen Mutter als Trägerin
der ‘Herkunftskultur’ für die Lebensgeschichte ihrer hier in der BRD heran-
wachsenden Tochter hat, die Entstehung einer neuen Tradition bzw. Bildung
einer (Beziehungs-)Kultur der Mutter-Tochter-Beziehung in der Migration auf-
zuzeigen und zu analysieren. Das Fallbeispiel zeigt, dass eine Mutter-Tochter-
Beziehung besonders in der Migration in Wechselbeziehung mit den gesell-
schaftlichen Institutionen betrachtet werden muss, durch die diese Beziehung
geformt wird. An dieser Stelle ist auf die Untersuchungen von Helma Lutz
(1995/1999/2000) zu Migrantinnen in den Niederlanden sowie die Untersu-
chungen von Lena Inowlocki (1993/1995/1999) zu drei Frauengenerationen
jüdischer Herkunft in der Diaspora und der religiösen Orientierung der jüdi-
schen Mädchen hinzuweisen, die zu ähnlichen Befunden kommen. Dieses Fall-
beispiel zeigt ebenfalls, dass ein Mutter-Tochter-Paar die Möglichkeit der sozi-
al-religiösen Welt innerhalb der Moschee als einen neuen (Sozial-)Raum, der
sich nach dem Frauenbild der hiesigen Gesellschaft umgeformt und verändert
hat, wahrnimmt und wie dies zur Entstehung einer neuen Tradition in den inter-
generationalen Frauenbeziehungen im Migrationskontext beitragen kann. Die
Bindung zwischen Meral und ihrer Mutter Neziha entsteht in einem solchen
Raum, der in Anlehnung an Homi Bhabhas Formulierung als „third space“20,
20
Homi Bhabha betrachtet alle Formen von Kulturen im ständigen Prozess der Mischung (Hybri-
dität), denn keine Kultur an sich ist umfassend. In ihrer jeweiligen Darstellung wird sie wie eine
Sprache ‘übersetzt’ und während dieser Verschiebung verändert sich ihre Struktur. Er bezeich-
net den Ort, wo diese Verschiebung bzw. Mischung durch die ‘Übersetzung’ stattfindet als
„third space“. Er schreibt: „ (...) for me the importance of hybridity is not to be able to trace two
original moments from which the third emerges, rather hybridity to me is the ‘third space’
which enables other positions to emerge. This third space displaces the histories that constitute
224 Asiye Kaya
als Ort, an dem die (unterschiedliche) Kultur übersetzt wird, bezeichnet werden
kann. Darüber hinaus ist diese Bindung zwischen Mutter und Tochter auch eine
Bindung zwischen zwei Frauengenerationen. In Anlehnung an die empirischen
Daten ist abzuleiten, dass es bei der Beziehung zwischen diesen Frauen nicht
um die Religion als solche geht, sondern die Religion wird instrumentalisiert,
um einen Raum zu schaffen, um am öffentlichen Leben teilzunehmen. Frauen
und ihre Töchter haben in der Moschee einen Frauenraum, in dem sie ihre Er-
fahrungen austauschen. Dort erfährt die Müttergeneration, die wegen ihrer Mig-
rationbedingungen an den Institutionen der deutschen Gesellschaft vielfach
nicht aktiv teilnahmen kann, immer mehr über die deutsche Gesellschaft. Mutter
und Tochter entwickeln auf diese Weise ‘gemeinsam’ eine Selbstverwirklichung
in der Moschee. Es findet hier also ein generationenübergreifender Dialog statt.
Dieser Dialog zwischen Müttern und Töchtern ist als Wandlungsprozess zu
begreifen, der Tradition und Kultur gleichermaßen einschließt.
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„Da ist halt einfach so ‘ne Bindung“
Familiäre Ablösungsprozesse junger Frauen im
generationenübergreifenden Einwanderungskontext
Susanne Gerner
In der Migration ist die Bildung von Lebensentwürfen in die mehrere Genera-
tionen umfassende Migrationsgeschichte einer Familie und das damit verbunde-
ne soziale Erbe eingebettet. Im Zuge der Adoleszenz werden die mit der familiä-
ren Herkunft vermittelten Normen, Werte und immateriellen Ressourcen, aber
auch Bindungen und Lebensentwürfe, in einem reflexiven Prozess subjektiv
angeeignet und überformt. Die heranwachsende Generation wird so zum Träger
des kulturellen Wandels und das familiäre Beziehungsgefüge ist der biografi-
sche Ort, an dem die Bildung neuer Lebensentwürfe intergenerativ verhandelt
wird.5
Der individuelle Handlungsspielraum kann in diesem Zusammenhang als
„psychosozialer Möglichkeitsraum“ (King 2002) begriffen werden, in dem das
5
Zum theoretischen Konzept des sozialen Erbes siehe ausführlich Ziegler 2000.
232 Susanne Gerner
11
Lales Eltern brechen mit kollektiven Heiratskonventionen und Loyalitätsansprüchen, die Lale
so umreißt: „In der Türkei gibt es sehr viele ethnische Minderheiten (...) Und jeder will nur sei-
ne eigenen Leute“. Die Familienkonflikte im Kontext der historischen Erfahrungen der armeni-
schen bzw. kurdischen Minderheit ausführlich zu analysieren, kann hier nicht geleistet werden.
Das Partnerwahlmuster und die Konversion der Mutter deuten jedoch auf den Versuch hin, eine
im regionalen Kontext an die armenische Herkunft geknüpfte gesellschaftliche Opferposition zu
überwinden.
234 Susanne Gerner
2.1 Lales Weg in die Autonomie: „Ich bin schon damals ein bisschen
aufsässig gewesen“
Lale zeigt sich retrospektiv als eine Adoleszente, die mit der weiblichen Traditi-
on, die ihre Altersgenossinnen repräsentieren, bricht. Von deren Lebensent-
wurf12 grenzt sie sich entschieden ab: „Ich wusste von Anfang an, das ist nichts
für mich“. Auf der Suche nach dem, was sie selbst will, entscheidet sich Lale für
Bildung. Während eines Berufsvorbereitungsjahres beschließt sie, den Haupt-
schulabschluss nachzuholen und besucht anschließend die Abendrealschule. Der
Blick in ihre Herkunftsfamilie zeigt, dass sie damit zugleich ein familiäres Mus-
ter aufgreift: Bildung als Mittel zur gesellschaftlichen Etablierung.13
In der Abendschule lernt Lale ihren Freund und späteren Ehemann kennen.
In ihre Ehe scheint sie einerseits hineinzuschlittern, andererseits forciert sie
aktiv den Gang der Dinge. Lale beschreibt sich in ihrer Erzählung als eine Frau,
die sich nicht unterordnen möchte und daher unweigerlich mit den Konventio-
nen in Konflikt geraten muss. Als ihre Eltern „dahinterkommen“, dass sie einen
Freund hat, kommt eine rasche Dynamik in Gang, bei der Selbst- und Fremdbe-
stimmung nahe beieinander liegen. Lale soll heiraten. Da ihr Freund weder
Kurde noch Armenier, sondern „ein echter Türke“ sei, rechnet sie damit, dass
ihre Eltern eine Ehe mit ihm ablehnen. Um deren Handeln zuvorzukommen
beschließt sie, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen:
L: Und ich hab nur gedacht (lacht), bevor ich da in der Türkei jetzt irgendjemanden heira-
te, den ich nicht kenne, dann heirate ich doch lieber den Bruder von meiner Freundin,
der ist ja eh, mag mich ja sowieso und ich kenn den ja und ach, ich bin schon damals
so ein bisschen aufsässig schon gewesen (schmunzelt und lacht). Ja, und dann hab ich
den einfach dann gefragt, ob der nicht mit mir heiraten will (lacht) –
I: Das war aber nicht der, mit dem du dann auch heimlich getroffen hast?
L: Doch, doch. (I: Das war der?), der war der. Aber ich hab ihn halt gefragt (lacht), ob er
mit mir (I: Du hast ihn gefragt! Lacht) ja, ne, hat er gesagt, war erst mal ein bisschen so
erschrocken, ne, weil er das jetzt auch nicht gewohnt war, dass er jetzt von ´ner Frau
einen Antrag kriegt (lacht), weil – hat sich ein bisschen vielleicht auch in seiner männ-
lichen Ehre äh verletzt gefühlt. Na ja, jedenfalls war er total begeistert (I: Mhm.), also
nach dem ersten Schrock und dann hab ich gesagt, dann lass uns gehen und heiraten.
Keine Zeit verlieren (…)
12
„(…) entweder in ´ne Fabrik und dann irgendwann heiraten und äh Kinder kriegen oder als
Verkäuferin, das wär´ ja noch besser oder als Frisörin.“
13
Lale betont im Interview, dass ihre Mutter schnell Deutsch gelernt habe. Auch ihre Töchter
beschreiben ihre Großmutter als eine hinsichtlich Bildung ambitionierte Frau, die z. B. den Ko-
ran auf Arabisch lese und Kreuzworträtsel löse. In der Herkunftsfamilie von Lales Vaters finden
sich mehrere Akademiker. Lales Vater unternimmt diesbezüglich jedoch keine Anstrengungen.
In Lales Darstellung ist es insofern die Mutter, die das familienbiografische Muster repräsentiert
und weitergibt.
„Da ist halt einfach so ‘ne Bindung“ 235
Lales Erzählung wirkt wie eine Abenteuergeschichte, die ihr selbst Vergnügen
bereitet. Mit der Flucht und heimlichen Vermählung spielt sie auf einen häufig
praktizierten Konventionsbruch an, mit dem junge Paare eine selbst gewählte
Ehe gegen den Willen der Familien durchzusetzen versuchen14. Obwohl die
Szenerie durchaus romantische Assoziationen nahe legt, bleiben Lales Gefühle
für ihren Mann dabei unklar und nebensächlich. Ihr geht es in ihrer Schilderung
um etwas anderes: Mithilfe ihres Humors und einer spannenden Dramatik in-
szeniert sich Lale als junge Rebellin und hebt ausdrücklich ihre Autonomiebe-
strebungen hervor. Sie ist die maßgebliche Akteurin, die sich ihren Partner aus-
wählt, den Zeitpunkt der Heirat bestimmt und diese initiiert. Den kulturellen
Konventionen sowie innerfamiliären Regeln und Hierarchien widersetzt sie sich
mehrfach. Sie hat heimlich einen Freund, bricht die Endogamieregel, hintergeht
ihre Eltern bei der Partnerwahl und kehrt in der Beziehung zu ihrem Freund die
Geschlechterkonventionen um. In ihrer Erzählung zeigt sich eine Wiederholung
des an Selbstbestimmung orientierten Heiratsmusters ihrer Mutter. Wie diese
bricht Lale in ihrer Geschichte aus einer weiblichen Opferposition aus. Drohen-
de Fremdbestimmung wandelt sie in Selbstbestimmung um. Deutlich wird hier
jedoch auch ihr begrenzter Handlungsspielraum: Die bevorstehende Eheschlie-
ßung scheint festzustehen und Lale bleibt die Wahl zwischen einem unbekann-
ten Mann aus der Türkei, den ihre Eltern aussuchen, und ihrem Freund, von dem
sie immerhin weiß, dass er sie mag. Die mit der Situation als Kehrseite verbun-
dene Erfahrung von Ohnmacht und der Ernst der überstürzten Entscheidung
verbergen sich dabei in der Reaktion des Freundes, in der Schreck und Schock
als „Schrock“ zusammenkommen.
14
Lales Beschreibung entspricht der Brautentführung (türkisch: kz kaçrma), bei der von den
Brautleuten heimlich eine Heirat initiiert wird. Im türkischen Sprachgebrauch werden unter die-
sen Begriff drei Formen gefasst: die Entführung der Braut gegen ihren Willen (kz kaçrma im
wörtlichen Sinne), das gemeinsame Weglaufen des Paares (kaçma oder kaçma) und das Weg-
laufen der Frau zum Mann (oturakalma). Die Entführung einer Braut gegen ihren Willen, stellt
einen Straftatbestand dar (vgl. Straßburger 2003: 235ff.). Das Thema der Flucht eines Paares
kehrt auch in den Interviews mit anderen Frauen wieder. Obwohl diese Form der Partnerwahl
eine Ehrverletzung und damit einen Affront gegen die Familien darstellt, legen die Erzählungen
der Interviewpartnerinnen nahe, dass er in Anbetracht der geschaffenen Tatsachen und mit zeit-
lichem Abstand auch in der Zustimmung der Eltern münden kann. Trotz damit verbundener
Konflikte und Risiken stellt das Weglaufen des Paares insofern eine im traditionellen Heirats-
system verankerte kulturelle Nische dar, in der ein Abweichen von Partnerwahlkonventionen
möglich wird.
236 Susanne Gerner
Mit ihrer Heirat vollzieht Lale eine abrupte, übergangslose Trennung von ihrer
Herkunftsfamilie. Der damit verbundene Ablösungsprozess setzt sich in ihrer
Ehe fort. In die Phase ihrer Familiengründung ragen alte, bereits mit der Heirat
der Eltern verbundene Konflikte hinein und werden erneut ausgetragen. Obwohl
Lales Eltern ihre Partnerwahl selbst gegen den Willen ihrer Familien und kol-
lektive Loyalitätsbindungen durchsetzten, weigern sie sich ihrerseits, Lales
Mann und ihre Ehe anzuerkennen. Den widersprüchlichen Loyalitätswünschen
beider Eltern kann Lale nicht entsprechen. Sie spricht in diesem Zusammenhang
von einer „Fehde“ zwischen ihren Eltern, die sich jeweils einen kurdischen bzw.
armenischen Schwiegersohn vorstellen. Ihre gänzlich davon abweichende Part-
nerwahl bringt schließlich beide Eltern gegen sie und ihren Mann auf:
L: (…) meine Eltern haben mir das immer wieder gesagt, wie schlimm das für sie gewe-
sen ist, was ich da getan hätte, aber meinem Mann auch immer deu- immer deutlich
gemacht, also dass sie – er nie in dieser Familie willkommen sein würde (I: Hmm.) und
ähm, aber dass sie mich aber auch nie gehen lassen würden (I: Mhm.) Ich – hab ich bis
heute nicht durchgeblickt, was das sollte.
L: Ich wollte selbstständig sein, ich wollte einen Beruf haben, ich wollte mein eigenes
Geld verdienen, und (…) Kinder wollte ich haben. (I: Hmm.) Aber ich wollte nicht ir-
gendwie ähm mich vor meinem Mann ducken oder jetzt sag ich mal so gehorchen.
Die Situation eskaliert, als sich ihr Mann zunehmend in Spielschulden verstrickt
und ihr gegenüber gewalttätig wird. Nach der Geburt der zweiten Tochter be-
„Da ist halt einfach so ‘ne Bindung“ 237
schließt Lale, sich von ihm zu trennen und bereitet sich gezielt auf eine unab-
hängige Existenzsicherung vor. Einem Kurs zur beruflichen Orientierung folgt
die Ausbildung zur Kinderpflegerin mit der Aussicht auf Einstellung in einer
Kindertagesstätte. Damit schlägt Lale den ersehnten Weg in ein selbstbestimm-
tes Leben ein.
Als geschiedene Frau und allein erziehende Mutter muss sich Lale nicht nur mit
dem eigenen Scheitern, sondern in ihrem sozialen Umfeld auch mit Schuldzu-
weisungen und Diffamierungen auseinandersetzen. Die Spannungen in der Be-
ziehung zu ihren Eltern bleiben auch nach der Scheidung ungelöst. Sie verschär-
fen sich zudem, nachdem ein zweiter Beziehungsversuch mit einem türkischen
Mann ebenfalls scheitert. In dieser Situation versucht Lale, sich endgültig von
einem Selbstbild zu trennen, das sie im Kontext ihrer Herkunft mit der Unte-
rordnung unter die elterlichen Erwartungen und eine männlich dominierte Ge-
schlechterordnung verbindet und im Hinblick auf die deutsche Gesellschaft mit
Fremdzuschreibung und Ungleichheit assoziiert: Sie möchte „nicht mehr die
türkische Frau“ sein. Sowohl zu ihrer Herkunft, als auch zur deutschen Gesell-
schaft hat Lale ein gebrochenes Verhältnis. Familiäre Bindung und soziale
Anerkennung bleiben in beiden Sphären unvereinbar mit subjektiver Selbstbe-
stimmung. Einen Ausweg sucht sie in der Strategie, ihre durch die Ehe unterb-
rochene Bildungs- und Berufskarriere weiter zu verfolgen. Zur Zeit der Inter-
views arbeitet Lale in der Migrationsberatung, studiert Sozialarbeit und bildet
sich therapeutisch weiter.
In Lales Lebensentwurf erhält Bildung eine Doppelfunktion: Sie dient zum
einen dazu, weibliche Autonomiebestrebungen umzusetzen und sich zum ande-
ren über qua Geschlecht definierte Zuschreibungen hinwegsetzen zu können.
Gleichzeitig verknüpft Lale damit die Bestrebung, sich sowohl innerhalb des
eigenen Herkunftsmilieus als auch innerhalb der deutschen Gesellschaft jenseits
ethnischer Fremdzuschreibungen oder kollektiver Loyalitätsanforderungen posi-
tionieren und einen anerkannten Status erwerben zu können.
238 Susanne Gerner
Lales Tochter Ebru lebt zur Zeit der empirischen Erhebung mit ihrer jüngeren
Schwester zusammen bei der Mutter. Zu ihrem Vater, der inzwischen wieder
verheiratet ist, hält sie ebenfalls regen Kontakt. Lebensgeschichtlich befindet
sich Ebru in einer Phase, die sie im ersten Interview bilanzierend als „Weg“ der
fortschreitenden Verwirklichung eigener Wünsche und Ziele, wie zum Beispiel
der Führerschein und das Abitur, charakterisiert:
E: Und sonst ist halt mein nächstes Ziel vielleicht also die Uni erfolgreich abzuschließen
und dann irgendwo `ne schöne Arbeitsstelle zu finden. Wodurch dann, wodurch ich
dann vielleicht meine Zukunft ein bisschen abgesichert habe, was Festes in der Hand
habe, einfach unabhängig bin und auf eigenen Beinen stehen kann. (I: Hm.) Das ist so
mein nächstes Ziel.
Mit ihrem Studium möchte sich Ebru den Zugang zu einer „schönen Arbeitsstel-
le“ verschaffen. Dabei orientiert sie sich an einem Berufsbild, das sie durch ihre
Mutter bereits kennt. An anderer Stelle führt sie aus, dass sie „mit Migranten“
im Bereich der Schulsozialarbeit oder Migrationsberatung arbeiten möchte und
sich eine Arbeit wünscht, die ihr Spaß macht. Wie im Lebensentwurf ihrer Mut-
ter ist Bildung für Ebru eine Ressource, die Selbstbestimmung und Unabhän-
gigkeit ermöglicht. Dieses Ziel verbindet sie mit dem Wunsch, ihre Zukunft
abzusichern. Zwischen den beiden Metaphern „etwas Festes in der Hand haben“
und „auf eigenen Beinen stehen“ öffnet sich ein Spannungsfeld, das eine innere
Ambivalenz zum Ausdruck bringt: Das noch unkonturierte Ziel der Unabhän-
gigkeit ist mit Unsicherheiten verbunden, gegen die sich Ebru wappnen möchte.
Berufliche Bildung und eine Arbeitsstelle stellen in ihrem Lebensentwurf dafür
die Voraussetzungen dar. Anders als ihre Mutter sucht Ebru eine Möglichkeit,
ihre Autonomiewünsche mit dem Bedürfnis nach Sicherheit und Anbindung zu
vereinbaren.
Zu Ebrus Lebensentwurf gehört es zudem, „auf jeden Fall“ später einmal
eine eigene Familie zu gründen. Es wäre für sie in ihren Worten allerdings „das
Letzte“, sich noch während ihres Studiums zu verloben oder gar vor dem Stu-
dienabschluss zu heiraten. Ihre Haltung begründet sie dabei so:
E: Also wenn ich jetzt vielleicht von der Familie aus unter Druck gesetzt worden wäre
oder halt vielleicht mir das Gefühl nicht gegeben ähm wäre, dass halt Beruf oder die
ähm Uni in erster Linie im Vordergrund steht, (I: Hmm.) dass das sehr wichtig ist,
würd´ ich vielleicht anders denken. (I: Mhm.) Aber im Moment also weiß ich zum ers-
ten, was ähm alles auf mich zukommen würde, wenn ich jetzt vor der Uni heiraten
würde, (I: Hmm.) also von meiner Mutter und von meinem Vater aus, was da für
„Da ist halt einfach so ‘ne Bindung“ 239
Schwierigkeiten auf mich zukommen würden, da denk ich mir lieber: Nee (lacht), war-
teste noch paar Jahre. Aber auch halt ähm, weil ich halt einfach auch nicht so das Be-
dürfnis habe jetzt direkt zu heiraten und – (I: Hmm.) ich mein, ich kann so auch einen
Freund haben von meiner Mutter aus.
An dieser Stelle ist nicht eindeutig, von welchen Schwierigkeiten Ebru ausgeht,
sollte sie vor dem Abschluss ihres Studiums heiraten wollen. Sie betont jedoch,
dass in ihrer Erziehung der Ausbildung ein übergeordneter Stellenwert einge-
räumt wird. Daher liegt nahe, dass Ebru mit den Widerständen ihrer Eltern
rechnet, denen daran liegt, dass sie vor einer Heirat ihr Studium abschließt. Den
Konflikt mit den Eltern möchte sie nicht riskieren. Ihre Einschätzung liegt je-
doch auch im Wissen um die gescheiterte Ehe ihrer Eltern begründet. Ebru er-
wähnt an anderer Stelle, dass sie weiß, was ihre Mutter „durchgemacht hat“. Die
Geschichte ihrer Mutter scheint Ebru eine Warnung zu sein. Vor den Ungewiss-
heiten und Risiken, die eine Ehe mit sich bringt, möchte sie sich schützen.
Ebru befindet sich in der Phase der Ablösung von ihrer Herkunftsfamilie.
Sie hat sehr klar umrissene Lebensentwürfe vor Augen, auf die sie sich zielstre-
big zubewegt: ihren zukünftigen Beruf und eine eigene Familie. Damit knüpft
sie an den Lebensentwurf ihrer Mutter an. Auf dem Hintergrund der Ambiva-
lenz zwischen ihrer Zielsetzung und den damit verbundenen Befürchtungen und
Unkalkulierbarkeiten gewährt sich Ebru jedoch zunächst Zeit. Sie möchte lieber
„noch paar Jahre“ warten. Die Frage nach dem richtigen Tempo und Zeitpunkt
für wichtige Weichenstellungen steht in enger Verbindung mit der Dynamik des
inneren Prozesses, in dem sich Ebru befindet. Im Unterschied zu ihrer Mutter,
die mit ihrer Heirat eine Trennung von der Herkunftsfamilie übergangslos und
abrupt vollzieht, ist der umsichtige Umgang mit Zeit bei Ebru eine biografische
Strategie, um sich einen Übergangsraum zu verschaffen, in dem sie verschiede-
ne Bedürfnisse gegeneinander abwägen kann. In den Gesprächen erhält er eine
bedeutende Rolle im Zusammenhang mit einem zentralen Autonomiekonflikt.
Auf die Rückfrage der Interviewerin, ob es Situationen gab, in denen Ebru ge-
gen den Willen ihrer Eltern handelte, kommt sie auf einen aktuellen Konflikt zu
sprechen, um den das Gespräch in allen drei Interviews immer wieder kreist.
Ebru trifft sich seit zwei Jahren mit ihrem Freund Cüneyt. Ihre Mutter weiß von
der Beziehung; vor ihrem Vater verheimlicht Ebru jedoch, dass sie einen Freund
hat. In Ebrus Partnerwahl wiederholt sich ein aus der Familiengeschichte be-
kanntes Muster: Ebru geht davon aus, dass die Eltern ihren Freund ablehnen -
die Mutter, weil er als Asylbewerber keinen gesicherten Aufenthalt besitzt, der
240 Susanne Gerner
Vater, weil Cüneyt einer kurdischen Familie angehört. Die Haltungen ihrer
Eltern verweisen dabei ebenfalls auf bereits bekannte Motive im Zusammen-
hang mit Partnerwahlentscheidungen: das Ziel der gesellschaftlichen Etablie-
rung (bei der Mutter) und die Verbindlichkeit kollektiver Loyalitäten (beim
Vater)15.
Im Zusammenhang mit ihrer Beziehung zu Cüneyt setzt sich Ebru mit
komplizierten Verwicklungen auseinander. Ihre breit ausgeführten Überlegun-
gen lassen dabei an eine komplexe Diplomatie denken, mit der sie ihre eigenen
Interessen zu wahren versucht, ohne die Loyalität gegenüber ihren beiden El-
ternteilen zu verletzen. Das Thema führt außerdem mitten hinein in familienge-
schichtliche Widersprüche und Konflikte.
Das Verhältnis zu ihrem Vater charakterisiert Ebru als „für einen türkischen
Vater sehr gute“ und außergewöhnliche Beziehung. Sie muss dem Vater gege-
nüber ihr Verhalten nicht ändern16 und kann ihm „alles erzählen“. Dennoch gibt
es, wie sie zusammenfassend festhält, Ausnahmen:
E: Und also das was ich sagen möchte ist einfach, dass wir halt schon ‘ne ganz besondere
ähm Bez-, also ich hab schon ‘ne ganz andere besondere Beziehung zu meinem Vater,
aber so in manchen Dingen ist es halt dann wieder genau umgekehrt. Also genauso wie
auch bei den anderen türkischen Familien.
Vater eine voreheliche Beziehung der Tochter offiziell nicht tolerieren, wenn er
darüber in Kenntnis gesetzt wird. Obwohl er selbst vor der Ehe eine Beziehung
pflegte, befürchtet Ebru daher, dass ihre voreheliche Beziehung für ihn inakzep-
tabel sei, solange sie nicht in einen formellen Rahmen eingebettet werde: ein
gegenseitiges Kennenlernen der Familien und ggf. die Vereinbarung einer späte-
ren Heirat. Sein Wissen um den Konventionsbruch könne daher – wie auch in
der Geschichte ihrer Mutter – gewollt oder ungewollt in der Eheanbahnung
münden. Ebru selbst möchte sich zum gegebenen Zeitpunkt jedoch nicht auf
eine dauerhafte Bindung an ihren jetzigen Freund festlegen. Der gegenseitigen
Offenheit innerhalb der Vater-Tochter-Beziehung sind demnach durch die Kon-
ventionen äußere Grenzen gesetzt, die Ebru in ihrem Handeln berücksichtigt. So
greift sie auf ein bereits von ihren Eltern gelebtes Handlungsmuster zurück und
verheimlicht ihre Beziehung vor dem Vater.17
Mit dem Vater über ihre Beziehung zu sprechen kommt für Ebru dem
Schritt gleich, ihr einen für alle Beteiligten verbindlichen Status zu verleihen.
Wann sie sich das vorstellen kann, beschreibt sie so:
E: Also für mich ist der richtige Zeitpunkt, wenn ich ähm so weit bin, also wenn ich erst
mal (I: Mhm.) so weit bin, also jetzt nicht meine Mutter oder mein Vater, sondern ich
so weit bin und sagen kann: Ja okay, wenn ich jetzt damit an die Öffentlichkeit oder an
die Bek- Verwandten und an die Bekannten, also das an die ähm Glocke hänge, (I:
Mhm.) dass ich dann halt ähm innerhalb von einem oder anderthalb Jahren auch viel-
leicht also mit ihm zusammen leben möchte (I: Mhm.) und bereit bin zu heiraten. (…)
also jetzt nicht nur wegen Cüneyt, egal wer es wäre.
Von ihrer Beziehung möchte Ebru den Vater dann in Kenntnis setzen, wenn sie
sich innerhalb eines absehbaren Zeitraums vorstellen kann, zu heiraten. Ihre
Partnerwahl lässt sie dabei noch offen. Vor allem hebt sie hervor, dass sie den
„richtigen Zeitpunkt“ selbst definieren möchte. In dem „so weit sein“ deutet
sich die Vorstellung einer inneren Entwicklung an, die noch nicht abgeschlossen
ist. Ebrus hinsichtlich des Verlaufs sehr genaue Vorstellung ist in der zeitlichen
Dimension noch unbestimmt. Während sie den Zeithorizont für eine Eheschlie-
ßung im weiter oben aufgeführten Zitat an den Abschluss des Studiums knüpft,
spricht Ebru hier von ihrem subjektiven Empfinden, nach dem sie ihre Ent-
scheidung ausrichten möchte. Mit der Geheimhaltung ihrer Beziehung gegenü-
ber dem Vater möchte sich Ebru einen zeitlichen Handlungsspielraum sichern,
der ihr ermöglicht, Erfahrungen mit ihrem Freund zu machen und zunächst
17
Straßburger weist auf die „Nicht-Verbalisierung oder Verheimlichung“ als eine gängige Strate-
gie hin, die jungen Türkinnen und Türken die Gelegenheit biete, sich mit Angehörigen des an-
deren Geschlechts zu treffen, ohne den Grundsatz der Geschlechtertrennung und sexuellen Un-
berührtheit offen zu verletzen (vgl. Straßburger 2003: 28). Dennoch sind m. E. mit diesem Lö-
sungsmuster innere Konflikte verbunden, wie hier am Beispiel von Lale und Ebru gezeigt wird.
242 Susanne Gerner
unbestimmt bleiben zu können. Damit verbunden ist jedoch ein Bruch der ge-
genseitigen Offenheit in der Beziehung zwischen Vater und Tochter. In diesem
Zusammenhang weist Ebru darauf hin, dass es auch aufseiten des Vaters mögli-
cherweise ein mit dem ihrigen korrespondierendes Schweigen gibt:
E: Also ganz (unverständlich) weiß ich zum Beispiel auch wenn Väter, also türkische Vä-
ter von der Beziehung der Tochter wissen, also dass es eigentlich überhaupt nicht in
Frage kommt (I: Mhm.), aber dass die dann auch ganz oft dann so tun als ob wüssten
sie’s nicht. Weil die einfach nicht mit dieser Situation konfrontiert werden möchten.
Also vor allem nicht, wenn die- wenn’s noch zu früh für ‘ne Heirat oder also für ‘ne
Hochzeit ist. (I: Mhm.) Deswegen also, das ist das ein- aus diesem Grund werd ich ihm
das nicht erzählen.
E: Das einzige was ähm, also womit ich vielleicht kämpf –, ich weiß nicht, vielleicht
dramatisiere ich das (I: Mhm.) oder geh vom Schlimmsten aus, was meinen Vater jetzt
betrifft, ja, weil irgendwo denk ich mir ähm, also die Beziehung, die wir haben also,
„Da ist halt einfach so ‘ne Bindung“ 243
die so kaputt zu machen (I: Hmm.) nur wegen einem Ma-, also das würd ich selber
nicht in Kauf nehmen (I: Hmm.) und ich weiß nicht, ob er das auch riskieren möchte.
In dieser Sequenz bringt Ebru die Bedeutung und Exklusivität zum Ausdruck,
die ihre Beziehung zum Vater für sie selbst, aber auch – so ihre Vermutung –
für ihn hat. Dabei wird sichtbar, dass sie unsicher ist, welche Konsequenzen die
Beziehung zu ihrem Freund in diesem Zusammenhang hat. Mit der Hinwendung
zu einem Mann scheint für Ebru grundsätzlich die Gefahr verbunden zu sein,
dass die Bindung zum Vater Schaden nehmen könnte. Insofern zeichnet sich
hier ein innerer Ablösungskonflikt ab, der die Phantasie birgt, schlimmstenfalls
zwischen Vater und Freund wählen zu müssen. Diese Vorstellung verweist
zugleich auf die Geschichte der Eltern, bzw. der Mutter, in der es nicht gelang,
zwischen den Bindungen jeweils zu Ehemann und Eltern eine Brücke zu schla-
gen.
Dieser innere Konflikt verschwindet in den Interviews hinter den sowohl
widersprüchlichen als auch umfang- und facettenreichen Ausführungen ihrer
diplomatischen Erwägungen. Ebrus Strategie, den Status quo zu wahren, dient
einer äußerst fragilen Balance, mit der sie die kulturell begründeten Loyalitäts-
anforderungen mit ihrem eigenen Lebensentwurf vereinbaren möchte. Ihr Ablö-
sungsprozess wird jedoch von einer tiefer liegenden Ambivalenz, in der es um
die Frage nach der Tragfähigkeit der Bindung zu ihrem Vater geht, begleitet. Da
sich diese erst allmählich aus Ebrus kulturellen Deutungen herausschälen lässt,
kann in dieser Hinsicht von der kulturellen Überlagerung eines Trennungs- bzw.
Ablösungskonflikts gesprochen werden.
Bezieht man in diesem Zusammenhang Ebrus Auseinandersetzung mit ih-
rer Mutter mit ein, zeigt sich jedoch, dass die Orientierung an den kulturellen
Konventionen Ebru auch dazu dient, Handlungsspielräume in der Beziehung zu
ihrem Freund zu wahren.
Während Ebru es nicht wagt, mit dem Vater über ihren Freund zu sprechen,
gelten in der Beziehung zu ihrer Mutter andere Regeln. Ebrus Mutter gestattet
Ebru ausdrücklich, einen Freund zu haben. Sie möchte jedoch über die Bezie-
hung informiert werden. Auch hier geht es darum, einen Ansehensverlust in der
Öffentlichkeit zu vermeiden. Im Vergleich zum Vater sind die Regeln jedoch
umgekehrt. Während ihm das Schweigen der Tochter Möglichkeiten eröffnet,
trotz eines Konventionsbruchs sein Gesicht zu wahren, ist für die Mutter ent-
scheidend, Kenntnis über den Freund der Tochter zu besitzen, bevor in ihrem
Umfeld darüber geredet wird. Die Erfüllung dieser Erwartung ist der Maßstab,
an der sich Ebrus Loyalität ihr gegenüber bemisst. Dennoch gibt es auch zwi-
244 Susanne Gerner
schen Mutter und Tochter eine Praxis der Geheimhaltung, durch die Ebrus Frei-
raum in der Beziehung zu ihrem Freund begrenzt wird. Als die Mutter von Eb-
rus Freund erfährt, bittet sie Ebru, ihm gegenüber zu verschweigen, dass sie von
der Beziehung weiß. Mit dem Schweigegebot möchte auch die Mutter verhin-
dern, dass es zu einer unerwünschten Eheanbahnung kommen könnte:
E: Und ähm meine Mutter hat halt das Befürchten ähm, sie befürchtet, dass wenn ich dem
Cüneyt sage: „Ja meine Mutter weiß Bescheid.“ Dass die dann halt sofort hier antanzen
und um die Hand anbeten. (I: Mhm.) Verstehst du?
I: Die Familie von ihm oder?
E: Die Familie von ihm. (I: Ach soo.) Dass die dann halt drängeln wird. (…)
I: Und wär das so? Oder könnte das sein, dass das so wäre, dass die dann alle kommen
und jetzt sofort um deine Hand anhalten?
E: Nee aber meine Mutter denkt, dass der – dass es dem Cüneyt ja um seinen Aufenthalt
geht.
E: Ich sag immer: „Nee, die weiß das nicht.“ Und er sagt immer, was heißt drängt, aber er
sagt immer: „Dann sag’s doch wenigstens deiner Mutter, (I: Ja.) dann können wir uns
halt öfters treffen und dann kann ich auch mal nach Stadt B kommen.“
„Da ist halt einfach so ‘ne Bindung“ 245
18
Inwiefern die Partnerwahlkonflikte für Ebrus Großeltern eine Motivation für die Migration
dargestellt haben mögen, ist hier empirisch nicht überprüfbar. Es gibt aber Hinweise darauf. La-
le erwähnt, dass sich die Beziehungen innerhalb des armenischen Zweigs in Deutschland ent-
spannt hätten.
246 Susanne Gerner
E: Und das ist zum ersten Mal ‘ne Entscheidung, die ich wirklich auch für mich selber tref-
fen möchte (…) wo ich mich dann vielleicht gegen die durchsetzen werde, aber auch
erwarte, dass ähm die das einfach so akzeptieren.
4. Zusammenfassung
19
Anders als es z. B. Hummrich in ihrer Untersuchung feststellte, sind im hier vorgestellten Fall
vorrangig die Mütter die treibende Kraft im Bildungsprozess der Töchter und Initiatorinnen für
Statustransformation (vgl. Hummrich 2002: 309f.).
„Da ist halt einfach so ‘ne Bindung“ 247
Literatur
Parallelgesellschaft’ bemüht, ohne danach zu fragen, wie sich die Situation aus
der Perspektive der betroffenen Mädchen und Frauen gestaltet. Hierdurch wird
ihre gesellschaftlich randständige Lage verstärkt: Die Reduktion auf einen Op-
ferstatus führt dazu, dass die Handlungsfähigkeit der Mädchen und Frauen kaum
erörtert und sie so ihrer Subjektivität beraubt werden. Ebenso bleiben mit der
Fokussierung auf vermeintlich kulturelle bzw. migrationsbedingte Ursachen (im
Sinne eines Kulturkonflikts zwischen Eltern und Töchtern) andere Faktoren und
Machtverhältnisse in der Einwanderungsgesellschaft unberücksichtigt2, die sich
mit der familialen Konfliktkonstellation überlagern und ebenso Einfluss auf die
Handlungs- und Emanzipationsmöglichkeiten der (jungen) Frauen haben.
In diesem Beitrag steht die biografische Erzählung einer jungen Frau im
Mittelpunkt, deren Eltern als ArbeitsmigrantInnen aus der Türkei nach Deutsch-
land gekommen sind und die unter Repressionen und Handlungseinschränkun-
gen durch den Vater zu leiden hat.3 Exemplarisch an diesem Fall wird heraus-
gearbeitet, was es für eine heranwachsende Frau bedeuten kann, unter restrikti-
ven familiären Verhältnissen in der Migration ihren Weg ins Erwachsenenleben
und die gesellschaftliche Integration zu meistern, mit welchen Schwierigkeiten
sie dabei zu kämpfen hat und welche Handlungsstrategien dabei relevant sein
können. Dabei wird insbesondere der Frage nachgegangen, welche Rolle in
dieser Konfliktsituation die Geschlechter-, Ethnizitäts- und Generationenver-
hältnisse spielen und welche Bedeutung die Migrationsituation sowie strukturel-
le und soziale Ein- und Ausgrenzungsprozesse im Einwanderungsland für die
Handlungsmöglichkeiten der jungen Frau haben.
An diesem Fall wird deutlich, dass die Situation der jungen Frau nicht auf
kulturelle Dimension zu reduzieren ist. Es zeigt sich vielmehr exemplarisch die
Überlagerung und Interdependenz von verschiedenen Segmentierungslinien und
Ungleichheitsverhältnissen, was auch als intersectionality bezeichnet und kon-
zeptrionell gefasst wird (vgl. Crenshaw 1994, Lutz 2001). Mithilfe der Intersek-
tionalitätsanalyse werden das Zusammenspiel und die Gleichzeitigkeit von ver-
2
Durch die Fokussierung auf die ‘Kultur der Anderen’ wird zum einen von bestehenden Macht-
ungleichheiten und Gewaltformen im Geschlechterverhältnis innerhalb der Mehrheitsgesell-
schaft und einheimischen Familien abgelenkt, zum anderen dient die Konstruktion ungleicher
Geschlechterbeziehungen in der ‘Kultur der Anderen’ als Argument für deren Ausgrenzung
(vgl. Jäger 1996).
3
Diese Fallanalyse ist Teil einer sozio-biografischen Untersuchung zu Orientierungen und Hand-
lungsformen von jungen Frauen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland aufgewachsen
sind (vgl. Riegel 2004). Thematische Schwerpunkte dieser Studie bilden die subjektive Bedeu-
tung von jugendkulturellen Ausdrucksformen, Räumen und Szenen, Neuorientierungen im Üb-
ergang von der Jugend zum Erwachsenwerden, Vergesellschaftung in Auseinandersetzung mit
ethnisierten und vergeschlechtlichten Fremdzuschreibungen, subjektive Verortungen und Be-
zugnahme auf verschiedene Zugehörigkeitskontexte, Bewahren von Handlungsfähigkeit und
Formen des Widerstands im Spannungsfeld von Integration und Ausgrenzung.
Zwischen Kämpfen und Leiden 251
4
Diese Kategorien summieren sich jedoch nicht einfach auf, sondern bekommen durch ihr Zu-
sammenspiel eine eigene Qualität, die möglicherweise mit Bindestrich Formulierungen am bes-
ten zu fassen ist: zum Beispiel ethnisiert-vergeschlechtlichte Fremdzuschreibungen (vgl. Riegel
2003,2004).
5
Der subjektive Möglichkeitsraum ist als phänomenologischer Aspekt von der ‘objektiven
Realität’, dem objektiven Möglichkeitsraum, zu unterscheiden. Diese Unterscheidung zwischen
subjektivem und objektiven Möglichkeitsraum impliziert keine Bewertung (im Sinne von rich-
tig und falsch), sondern verweist darauf, dass die gesellschaftlichen Bedingungen und Bedeu-
tungen nur als Teilausschnitt, als subjektive Perspektive, zu sehen ist, das heißt die Realität be-
reits vom Subjekt interpretiert ist.
6
Die Intersektionalitätsanalyse ist somit ein adäquates Mittel, nicht nur um das Zusammenspiel
unterschiedlicher Macht- und Ungleichheitsverhältnisse (sowie damit verbundener Verteilungs-
kämpfe) zu analysieren, sondern auch das Zusammenspiel von subjektivem und objektivem
Möglichkeitsraum eines Subjekts. (Zum Zusammenhang von objektiven und subjektiven Mög-
lichkeitsraum vgl. Holzkamp: 1983; speziell für die Analyse von Orientierungen und Hand-
lungsmöglichkeiten von jungen Migrantinnen s. Riegel 2005: 71ff. u. 118ff.). Dies ermöglicht
das Zusammendenken einer mehr strukturalistischen Perspektive (gesellschaftliche und soziale
Voraussetzungen und Ungleichheitsverhältnisse) mit der einer auf das Subjekt (und dessen Sub-
jektpositionierungen/Identitäten und Handlungsweisen in diesen Verhältnissen) gerichteten
Analyseebene sowie das damit im Zusammenhang stehende Aushandeln von Zugehörigkeiten.
7
Die empirische Grundlage bilden ein 2,5-stündiges, narrativ-biografisches Interview sowie
mehrere Begegnungen und Treffen mit der Interviewten. Anzumerken ist, dass das Interview
von mir als einer weißen deutschen Forscherin geführt und auch die Fallrekonstruktion von mir
252 Christine Riegel
vorgenommen wurde. Diese Konstellation – Autochthone forscht mit jungen Frauen mit Migra-
tionshintergrund – ist sowohl hinsichtlich der Interviewaussagen (dem Gesagten und Nicht-
Gesagten) als auch hinsichtlich der Interpretation zu berücksichtigen. Zum situativen Kontext
des Interviews ist zu sagen, dass trotz eines vertrauensvollen Verhältnisses Tülin immer be-
wusst war, dass sie im Interview mit mir, einer Angehörigen der deutschen Mehrheitsgesell-
schaft spricht, was an verschiedenen Stellen des Interviews deutlich wurde. Dieses (ungleiche)
Verhältnis zwischen Forscherin und Gesprächspartnerin wurde im Rahmen der Gesamtstudie
reflektiert (vgl. Riegel 2004: 149ff.). Zur vergleichenden Diskussion der Forschungserfahrun-
gen einer autochthonen und einer allochthonen Forscherin vgl. den Beitrag von Riegel/Kaya
(2002).
Zwischen Kämpfen und Leiden 253
Tülin ist zum Zeitpunkt des Interviews 19 Jahre alt und befindet sich in der
Ausbildung zur Zahntechnikerin. Sie lebt seit ihrer Geburt zusammen mit ihrer
Familie in einer süddeutschen Großstadt. Ihre Eltern sind schon Jahre vor ihrer
Geburt als ArbeitsmigrantInnen aus der Türkei nach Deutschland gekommen.
Der Vater arbeitet seitdem im Produktionsbereich einer großen Firma. Er sieht,
laut Aussagen der Tochter, das Migrationsprojekt allein unter wirtschaftlichen
Gesichtspunkten. So investiert er das in der Emigration erwirtschaftete Geld in
Hotels in der Türkei, mit der Absicht, dass seine Kinder einmal diese überneh-
men sollen. Tülins Mutter ist für die Betreuung dieser Hotels zuständig und
verbringt deshalb viel Zeit in der Türkei und ist während der Sommermonate
ganz abwesend. Tülin hat noch zwei ältere Brüder, mit denen sie aufgrund der
beengten Wohnverhältnisse, auch noch zum Untersuchungszeitpunkt, als junge
Frau, das Zimmer teilen muss.
Tülins Erzählung ihrer Lebensgeschichte wird davon bestimmt, dass sie ihr
bisheriges Leben als unglücklich und problembeladen betrachtet. Sie sagt: „ja,
eigentlich bin ich nur durch Probleme und so aufgewachsen“. Diese Probleme
beziehen sich vor allem auf ihre Familiensituation und explizit auf das Verhält-
nis zu ihrem Vater. Sie beschreibt ihn als tyrannisch, autoritär und lieblos gege-
nüber der gesamten Familie. Ihr Alltag ist durch die Kontrolle und die Verhal-
tenseinschränkungen des Vaters geprägt, egal ob sie sich in der Wohnung auf-
hält, oder ob sie sich außerhalb seiner unmittelbaren Aufsicht befindet.
Dann hock ich mich ins Wohnzimmer, dann steht er vom Wohnzimmer auf, geht in mein
Zimmer und guckt in meine Taschen, ob ich Zigaretten oder so habe. Das ist halt immer so,
Spionage ist das.
Er möchte nicht, dass sie in der Freizeit alleine aus dem Haus geht, sondern nur
in Begleitung der Mutter oder der Brüder. Dabei fungiert insbesondere der jün-
gere Bruder als Aufpasser seiner Schwester, der versucht, ihr Verhalten in der
Freizeit und im Freundeskreis zu kontrollieren. Die einschränkende Situation
spitzt sich für Tülin in der Zeit zu, in der ihre Mutter in der Türkei ist. In dieser
Zeit wird sie teilweise auch zuhause eingesperrt bzw. ihr wird der Schlüssel
entzogen, damit es auffällt, wenn sie allein das Haus verlässt. Die Kontrolle und
die auferlegten Einschränkungen sind für Tülin nicht nur unbequem, sondern
auch mit Angst besetzt. Diese Angst bestimmt ihre gesamte Lebenssituation und
überschattet selbst die Bereiche, in denen der Vater nicht direkt präsent ist.
Auch heute als volljährige Frau hat sich an ihrer Situation nicht viel geändert.
254 Christine Riegel
Manchmal denke ich mir, ja, jetzt bist du 19, jetzt kannst rausgehen und so, aber bei meinem
Vater kann man nicht rausgehen. Also der findet dich überall und da kriegst du voll Angst.
Also wenn er dich irgendwo erwischt, dann bist du dran und so.
Ja und dann will ich rausgehen, lässt er mich nicht raus, er sagt, ein türkisches Mädchen soll
nicht rausgehen, was denken die anderen Leute. Bei uns ist es so, wenn ein türkisches Mäd-
chen heiraten sollte, dann kommen halt die Eltern von dem Jungen, also von dem Bräutigam,
die fragen halt die Nachbarn und so, die türkischen Nachbarn, wie das Mädchen so ist. Und
mein Vater meint halt, ja, wenn die dich fragen, also wenn die anderen fragen, wie die Tülin
so ist, die werden alle sagen, die ist nur von morgens bis abends draußen und so, obwohl das
gar nicht stimmt.
Tülin geht hier erklärend auf die Perspektive des Vaters ein.8 Sie verweist auf
seine Argumentation, die sich auf einen ethnisierten Werte- und Verhaltensko-
dex für ‘türkische Mädchen’ bezieht. Dabei wird deutlich, dass er nicht (nur) um
das Wohlergehen seiner Tochter besorgt ist (bzw. eine andere Vorstellung darü-
ber hat), sondern um seinen Ruf als Vater – gegenüber türkischen Bekannten.
Auch wenn Tülin selbst in dieser Erklärung auf den türkischen Kontext ver-
weist, verbleibt sie in ihrer Begründung für den Konflikt zwischen sich und
ihrem Vater nicht in der Dimension der kulturellen Differenz (zwischen
Deutschland und der Türkei), sondern verweist auf einen Antagonismus zwi-
schen Stadt und Land – dem städtischen Raum, in dem sie aufgewachsen ist,
und dem Dorf, von wo der Vater kommt. Sie wertet die Restriktionen des Vaters
– anders als dieser selbst – nicht in einem nationalen und kulturellen Zusam-
menhang, sondern schreibt dies seiner Lebensgeschichte zu. „Der ist ja vom
Dorf praktisch gekommen und der hat richtig des Dorf-Ding immer im Kopf.“
Sie hält seine Verhaltensnormen für veraltet und nicht dem Leben in einer deut-
schen Großstadt entsprechend, auch nicht dem von Töchtern aus türkischen
Einwanderungsfamilien.
So erlebt sie ihre eigene Situation auch im Vergleich zu anderen türkischen
Mädchen im Stadtteil als ungewöhnlich: „Meine Freundinnen, zum Beispiel
8
Mir gegenüber, einer Interviewerin, die nicht aus der Türkei kommt, hält sie das Verhalten des
Vaters für erklärungswürdig. In diesem Zusammenhang verweist sie auf einen kulturellen Zu-
sammenhang, der sich von meinem unterscheidet. Diese Erklärung des kulturellen Kontextes
führt sie mit „bei uns ist es so“ ein.
Zwischen Kämpfen und Leiden 255
Mihriban und Reside und Aischa, die durften immer weggehen.“ Sie leidet dar-
unter, dass sie durch die Restriktionen des Vaters vom sozialen Leben und den
Aktivitäten ihrer Peer-Group weitgehend ausgeschlossen ist. Das Wissen um
ihre von anderen abweichende Situation macht sie traurig, denn sie spürt, dass
sie dadurch zur Außenseiterin wird.
So, ich will nicht, also zwischen meinen Freunden die Kleine sein. Ich will auch etwas haben
und so. Also die sollen nicht dauernd sagen, he, guck mal, Tülin darf wieder nicht raus, und,
such mal ne Ausrede, und so. Und das wollt ich nicht.
Sie schämt sich für die erniedrigende und eingeschränkte Lage, in der sie sich
befindet. Für sie ist es nicht nur kränkend, von anderen bemitleidet und nicht
ernst genommen zu werden, sie fühlt sich von ihnen auch nicht in ihrer Situation
verstanden.
Das Verhältnis zu ihrem Vater ist jedoch nicht nur durch Wut und Trauer
über seine Reglementierungen und die Verhaltenseinschränkungen geprägt. Was
ihr in diesem Verhältnis am meisten fehlt, ist die Anerkennung und Liebe des
Vaters:
Ich hab halt nie, ich hab, ehrlich gesagt hab ich meinen Vater noch nie, dass er zu mir ge-
kommen ist und so, meine Tochter, wie geht’s dir, oder so, hat er noch nie gesagt. Das gab‘s
halt nie bei uns. Weil, in seinem Kopf war halt immer: Arbeiten, Geld verdienen, unser Hotel
gründen, unseren Kinder halt alles geben was die wollen. Aber wir hatten halt keine Liebe.
Das hat halt voll gefehlt und ich glaub mal, das ist das Wichtigste.
Die Bedürfnisse und Wertevorstellungen von Tülin und ihrem Vater gehen
deutlich auseinander und spitzen das ungleiche Verhältnis zwischen beiden zu:
Arbeiten, Geld und materielle Werte auf der Seite des Vaters stehen der Sehn-
sucht von Tülin nach Liebe und emotionaler Zuwendung gegenüber. Die elterli-
che Liebe ist jedoch das, was sie sich am meisten wünscht und am deutlichsten
vermisst. Im Rückblick auf ihr bisheriges Leben sagt sie: „Und wenn ich jetzt
denke, so andere Kinder, wie schön die aufwachsen können, in Liebe und so, (.)
das gab’s bei mir nicht.“
Tülin leidet offensichtlich in mehrfacher Hinsicht: unter den Einschrän-
kungen ihres Bewegungs- und Handlungsspielraums; darunter, dass sie dadurch
von anderen Jugendlichen nicht ernst genommen wird; am meisten schmerzt sie
es jedoch, dass sie von ihrem Vater keine Liebe erfährt. So ist die vordergründi-
ge Botschaft ihrer erzählten Lebensgeschichte die des Leidens, der Entbehrung
und der Resignation: „Das Leben ist so Scheiße“. Im Subtext ihrer Erzählung
werden jedoch auch Seiten des Widerstands gegenüber dem Vater sowie Strate-
gien deutlich, sich Handlungsfreiräume zu erkämpfen.
256 Christine Riegel
Auch wenn sie sehr unter den Einschränkungen, der Kontrolle und dem psychi-
schem Druck des Vaters leidet, hat sie ihm gegenüber Formen des offenen und
des subtilen Widerstands entwickelt. Bereits als Kind hat sie nach Möglichkei-
ten gesucht, um sich minimale Freiräume zu verschaffen und sich der Kontrolle
des Vaters, und später auch der Brüder, zu entziehen.
Ja, dann bin ich immer abgehauen und so. Bin immer, also, hab gesagt ich geh in die Schule,
bin rausgegangen, bin erst abends um fünf nach Hause gekommen. Ja genau, ich weiß noch.
Da war ich fünfte oder sechste Klasse, da war Frühlingsfest. Ja und da hab ich gesagt, ich geh
in die Schule, Mittagschule. Ich musste dann fünf Uhr zehn daheim sein. Ich war Frühlings-
fest, hab dort also Breakdance und so rumgefahren. Ja und dann musste ich um fünf Uhr zehn
daheim sein. Aber es wurde schon fünf vor und ich hab’s nicht gecheckt und so. Ich musste
voll rennen. Ich weiß noch, ich bin hier halt durch den Park, voll hoch gerannt und so, und
mein Vater war vor der Schule.(.) Ja. (.) Und er wollte mich abholen kommen. Und es ist
schon fünf Uhr fünfzehn und ich sehe ihn vor der Schule, ich muss von unten hochgehen, dass
er mir glaubt, das ich von der Schule komme. Ja, das war halt auch voll der Film. Bin ich halt
voll außen rum gelaufen, da war ich also fünf Uhr fünfundvierzig daheim und dann kam er,
nach so fünfzehn Minuten. Der so, von wo bist denn du gekommen, und so. Und da musste
ich halt ne kleine Ausrede finden. Da hab ich gesagt, ja, wir waren mit der Schule in der
Stadtbücherei. Wir sind vom U.-Platz praktisch gekommen. Da hat er das mir auch abgekauft.
Also praktisch ich wurde nie erwischt, egal was ich gemacht habe.
In dieser detaillierten Erzählung, die auch auf die Eindrücklichkeit dieses Erleb-
nisses für Tülin hinweist, wird deutlich, was es für sie bedeutet, wenn sie ver-
sucht, sich kleine Freiheiten zu ergattern: sie muss lügen, verheimlichen, Ausre-
den erfinden, die Schule schwänzen. Den Vater zu hintergehen, erfordert exak-
tes Timing (was auch an den genauen Zeitangaben in der Erzählung deutlich
wird) sowie eine gute Kenntnis der Gewohnheiten des Vaters. Dies gibt dem
Ganzen zwar einen gewissen Nervenkitzel und eine Extravaganz, wie sie mit
der Formulierung „das war voll der Film“ jugendsprachlich verdeutlicht. Dieser
Vergleich mit einem Film verweist jedoch auch darauf, dass die gesamte Situa-
tion auch für sie selbst etwas Irreales und eigentlich Unvorstellbares hat. Auch
wenn sie eine Genugtuung empfindet, den Vater immer wieder überlisten zu
können und es so schafft, sich kleine Freiräume zu erschleichen, ist diese ‘Frei-
zeit’ immer auch durch eine ständige Anspannung und der Angst geprägt, vom
Vater entdeckt zu werden.
Auch in anderen Bereichen greift sie zum Mittel der Lüge und der Täu-
schung, um ihre Interessen durchzusetzen, wenn diese mit den Normen der
Zwischen Kämpfen und Leiden 257
Familie divergieren, zum Beispiel wenn diese ihr den Kontakt zu KurdInnen
verbieten und ihr vorschreiben wollen, dass sie nur mit einem Türken eine Part-
nerschaft haben kann. Vor dem Hintergrund, dass in der Familie generell schnell
Ärger aufkommt, erscheint es ihr strategisch günstiger, keine Grundsatzdiskus-
sion zu provozieren und gegenüber den Eltern den Schein aufrechtzuerhalten,
dass alles nach ihrem Willen und ihren Vorstellungen verläuft. Als sie das erste
Mal durch die Prüfung in der Wirtschaftsschule fiel, getraute sie es sich nicht,
dies ihrem Vater zu sagen, da sie befürchtete, dass er ihr verbieten würde, weiter
zur Schule zu gehen und die Klasse zu wiederholen. Deshalb legte sie sich eine
gute Begründung zurecht:
Und dann hab ich, ging ich halt wieder auf die Schule, weil ich meinem Vater dann gesagt
hab, ich bin erst 17, ich bin noch nicht 18 und in Deutschland darf man nicht unter achtzehn,
also man muss in die Schule gehen, praktisch. Und der hat mir es halt irgendwie abgekauft
und so. Ja und dann bin ich halt ein Jahr wieder dort hingegangen, hab meinen Abschluss von
dort genommen.
In diesem Fall hat sie die Unwissenheit und das Desinteresse des Vaters bezüg-
lich des deutschen Bildungssystems sowie seine mangelnden sprachlichen
Kenntnisse bewusst zu ihrem Vorteil genutzt und ihm falsche Tatsachen aufge-
tischt.
Im Täuschen, Verheimlichen und Lügen sieht Tülin Strategien, um gege-
nüber ihrem Vater und ihrem Bruder noch ein gewisses Maß an Freiheit zu
erwirken, ihre Interessen durchzusetzen oder sich manchmal einfach nur den
Alltag zu erleichtern. Ihr Fazit ist: „Ich muss halt immer lügen, wenn ich was
mache.“ Die Strategie des Lügens und Täuschens ist ihr jedoch bewusst und sie
reflektiert darüber, weshalb dies für sie notwendig ist. Dabei steht sie diesen
Strategien durchaus ambivalent gegenüber. „Und das tut mir auch weh, warum
soll ich lügen, wenn ich auch die Wahrheit sagen könnte.“ Sie betrachtet ihre
Situation als unwürdig, weil sie zu einem Verhalten gezwungen wird, das sie
nicht unbedingt will. Das Mittel der Lüge oder der Täuschung ist für sie jedoch
eine Notwendigkeit um handlungsfähig zu bleiben, auch wenn sie darunter lei-
det.
Berrin Özlem Otyakmaz (1995) hat dieses Phänomens des Belügens der
Eltern, um sich Freiräume zu verschaffen, ebenfalls in ihrer Studie über das
Selbstverständnis junger türkischer Migrantinnen herausgearbeitet. Sie bezeich-
net die Strategie von jungen Frauen und Mädchen, sich hinter dem Rücken der
Eltern Freiheiten zu erkämpfen, als „Drehtür-Lüge“ oder „Zwei-Welten-
Modell“ (Otyakmaz 1995: 124). Allerdings wird in ihrer Untersuchung wenig
deutlich, dass das Belügen und Täuschen der Eltern für die Töchter auch
schmerzvoll ist bzw. sein kann. Otyakmaz bemerkt vielmehr, dass es für die
258 Christine Riegel
Am Ende ihrer Schulzeit hat Tülin erkannt, dass sie an ihrer Situation grundsätz-
lich etwas ändern muss. Eine Möglichkeit, sich vom Einfluss des Vaters zu
befreien, sieht sie in ihrer eigenen finanziellen Unabhängigkeit, die sie über eine
qualifizierte Berufsausbildung erreichen will. Noch bevor sie die Ausbildung
beginnt, eröffnet sie ein eigenes Bankkonto.
Ja, ich war auch die einzige, die mein Konto selber eröffnet hat. Ja, ich bin einfach, gleich als
ich 18 wurde, als ich meine Ausbildung angefangen hab, bin ich gleich in die Bank gegangen,
hab mein Konto eröffnet. Mein Vater war da in der Türkei. Und dann ist er gekommen und hat
gemeint, ja, musst du eigentlich nicht deiner Ausbildungsstelle die Kontonummer geben. Ich
so, hab ich doch schon, und er so, ach so, wusstest du meine Kontonummer. Er wollte, dass
ich mein Geld ihm überweise, weil meine Brüder das immer gemacht haben. Und ich hab ge-
sagt, nö, ich hab sie ihnen schon gegeben, ich weiß deine Kontonummer nicht. Er hat gewar-
tet, einen Monat, das Geld ist nicht gekommen und dann hat er mal bei mir die Karte gesehen.
Ja, hat er mich ein bisschen vollgelallt, hat gesagt, ja, warum, und so. Da hab ich gesagt, ich
will auf meinen eigenen Füßen stehen.
Die Eröffnung eines eigenen Kontos ist für Tülin nicht nur die Voraussetzung
für ihre finanzielle Eigenständigkeit, sondern darüber hinaus ein symbolischer
Akt des offenen Widerstands. Anders als in vorherigen Situationen, wollte und
konnte sie das eigene Konto nicht verheimlichen, sondern stellte sich der Konf-
rontation mit dem Vater als Zeichen ihrer Loslösung.
9
Die Mädchen der Untersuchung von Otyakmaz sind im Durchschnitt etwas jünger als die jun-
gen Frauen in meiner Untersuchung, die zum Untersuchungszeitraum zwischen 17 und 19 Jahre
alt sind.
Zwischen Kämpfen und Leiden 259
Eine ganz besondere Rolle spielt für diese Entscheidung das Verhältnis zu ihrer
Mutter. Zu ihr hat Tülin eine sehr innige und vertrauensvolle Beziehung. Die
Familie zu verlassen würde jedoch bedeuten, dass sie dann auch ihre Mutter
verlieren würde, was sie jedoch unter keinen Umständen möchte.
Das Verhältnis von Tochter und Mutter ist dadurch geprägt, dass sich beide
in einer ähnlichen Situation befinden. Beide leiden unter dem Vater und dessen
Lebensvorstellungen, den patriarchalen Normen und seiner Kontrolle. Das Mo-
ment des Leidens ist für Tochter und Mutter das zentrale Lebensgefühl.12
10
vgl. die Daten des Statistischen Bundesamts, in: Mitteilungen der Beauftragten der Bundesre-
gierung für Ausländerfragen (1999/2000) bzw. Granato (1997).
11
Welch zentralen Stellenwert der ständige Kampf in ihrem Leben hat, wurde für Tülin ganz
aktuell im Interviewkontext deutlich und auch für mich unmittelbar erfahrbar: Sie musste sich
die Teilnahme am Interview erst erkämpfen. Erst durch Tricks und Ausreden gegenüber dem
Vater war ihr es möglich, das Haus zu verlassen. Dies war für Tülin, wie sie sagt, keine schöne
Erfahrung, zumal sie sich im ersten Moment gezwungen sah, auch mich zu belügen, indem sie
zunächst sagte, dass sie unsere Verabredung vergessen hätte. Auch hier wurde die Scham für ih-
re Situation und für das Verhalten des Vaters deutlich. Diese ganz aktuelle Erfahrung ist sicher-
lich auch in das Interview eingeflossen.
12
Tülin bringt dies an verschiedenen Stellen des Interviews zum Ausdruck. „Bei mir gibt es kein
Tag, wo ich nicht weine. Das ist es bei mir. Ich weine jeden Tag wegen (.) aber auch, wenn
mein Vater nicht schreit, weine ich so, weil, ich denk mir, sag mal, was für ein Leben hab ich
denn. Ist das ein Leben?“ Wenn sie über die Situation der Mutter spricht, verwendet sie fast die
gleichen Worte: „Also sie weint jeden Tag, echt. Bei der hört es gar nicht mehr auf und so.“
Zwischen Kämpfen und Leiden 261
Das ist so für mich eine sehr gute Freundin. Ich sehe sie nicht mehr so als Mutter, ich sehe sie
als sehr gute Freundin. Ich kann ihr alles anvertrauen, sie weiß alles über meinen Freund, sie
weiß, was ich mit ihm alles mache und so. Ich(,) ehrlich gesagt, wie eine Freundin. Also nicht
mal so gut sind meine Freundinnen. (.) Ja, darum bin ich eigentlich echt froh, dass ich sie hab.
Weil würde ich sie nicht haben, dann wäre ich richtig am Ende. Denn von meinem Vater hab
ich einen Arschtritt bekommen, von meinen Brüdern, von meinen Freunden, und also die Ein-
zige ist eigentlich meine Mutter. Und Aischa und Yeliz, wie ich gesagt hab. Also würden die
nicht da sein, wäre es für mich echt schlimm. Da hätte ich auch gar keine Lust mehr zum Le-
ben.
An dieser Stelle wird die exklusive Position der Mutter offensichtlich: Sie ist die
Einzige, von der Tülin Liebe erfährt und auf die sie sich verlassen kann. So
muss diese auch die Aufgabe einer Freundin übernehmen. Die solidarische Hal-
tung der Mutter wurde auch für mich unmittelbar erfahrbar, da sie es Tülin er-
möglicht hat, den Interviewtermin wahrzunehmen. Denn Tülin durfte nur in
ihrer Begleitung das Haus verlassen. Sie hat dafür ihren Mann belogen und sich
darüber hinaus auch die gesamte Dauer des zweistündigen Interviews Zeit ge-
nommen und auf ihre Tochter gewartet (sie war jedoch nicht beim Interview
dabei). Der Mutter war es offensichtlich wichtig, ihrer Tochter dieses Interview
zu ermöglichen. Der ständige Kampf, einen Weg zu finden, teilweise gemein-
sam, aber immer gegen die (anderen) Interessen des Vaters, vereint die beiden
Frauen.
So sind auch in den Umgangsweisen von Mutter und Tochter Parallelen zu
erkennen. Die Mutter hat ebenfalls Strategien des Verheimlichens und Täu-
schens gegenüber ihrem Mann entwickelt, um das Leben mit ihm zu bewältigen
und zu erleichtern. Tülin erzählt:
Sie darf auch nicht rauchen. Sie tut auch heimlich rauchen. Darum ist sie grad auch hierher
gekommen, dass er sie nicht sieht.
262 Christine Riegel
Ähnlich wie Tülin spielt sie die ihr zur Verfügung stehenden Freiräume aus, auf
die ihr Mann keinen unmittelbaren Zugriff bzw. Einblick hat. Stellen für Tülin
der Arbeitsplatz und das Berufsleben einen Freiraum dar, so haben für ihre Mut-
ter die Aufenthalte in der Türkei eine solche Bedeutung. Dort legt sie beispiels-
weise – ohne das Wissen ihres Mannes – Geld für ihre Kinder zur Seite.
Hier zeigt sich in mehrfacher Hinsicht die unterstützende Funktion der
Mutter gegenüber ihren Kindern. Ursula Apitzsch (1990) hat diese Konstellati-
on, dass die Mutter mit ihren Kindern einen Pakt gegen den dadurch in der Fa-
milie isolierten Vater eingeht, als spezifisch für MigrantInnenfamilien heraus-
gearbeitet. Eine besondere Bedeutung kommt in Fällen wie dem vorliegenden
der gegenseitigen Unterstützung und Solidarität zwischen der Mutter und Toch-
ter zu, die über das Mutter-Kind-Verhältnis hinausgeht und auch als Frauensoli-
darität im Widerstand gegen die Dominanz und Unterdrückung durch männliche
Familienmitglieder zu werten ist.
Beide, Mutter und Tochter, versuchen, ihre minimalen Freiräume auszu-
weiten, jedoch erscheint es für sie nicht möglich, grundsätzlich etwas an ihrer
Situation zu ändern, indem sie den Vater bzw. die Familie verlassen. Tülin
zeichnet das Bild einer sich für ihre Kinder aufopfernden Mutter:
Und meine Mutter, die Arme, die konnte auch nie lachen. Die hat auch viel mitgemacht. Die
hat oft zu uns gesagt, würdet ihr nicht da sein, würde ich ihn schon lang, halt auf ihn verzich-
ten und so.
Und auch Tülin ist es aus Loyalität nicht möglich, die Familie zu verlassen. Ihre
Rücksicht und Verantwortung geht so weit, dass sie aus Solidarität, möglicher-
weise auch aus Dankbarkeit oder Schuldgefühlen gegenüber der Mutter, ihr
eigenes Leben und ihre Interessen ebenso zurückstellt.
Konkreter Anlass, zu überlegen, ob sie aus der Familie ausbrechen solle,
war für Tülin, als sie einen kurdischen Freund hatte, mit dem die Familie (auch
die Mutter) nicht einverstanden war. Obwohl sie starke Gefühle für ihren
Freund hatte und auch jetzt noch an ihm hängt, sah sie, nachdem ihre heimliche
Beziehung aufgedeckt wurde, keine andere Möglichkeit, als mit der Familie zu
brechen oder mit ihm Schluss zu machen. Für letzteres entschied sie sich.
Das wollt ich halt nicht, weil ich meine Eltern voll liebe, über alles. Ja, ich hab halt auch im-
mer gesagt, zu meiner Mutter, wäre sie nicht da, da würde ich schon lang weg sein.
In den Handlungsweisen der Mutter und der Tochter finden sich nicht nur Paral-
lelen, auch ihre beiden Schicksale überlappen sich. Beide verbleiben aus Rück-
sicht aufeinander in der sie belastenden Familiensituation, in der sie sich gleich-
zeitig gegenseitig stützen, um ihre Lage besser ertragen zu können. In ihrer
Zwischen Kämpfen und Leiden 263
Für Tülin ist es jedoch nicht nur die Liebe und Solidarität zur Mutter, die sie in
der Familie hält. Sie empfindet auch Loyalität gegenüber dem Vater: „Weil egal
wie Scheiße mein Vater ist und so, das ist mein Vater. Da kann man nichts ma-
chen.“ Die Familie stellt für sie so etwas wie eine feste Größe dar, die durch
nichts in Frage gestellt werden kann. Im Kampf um die Liebe und Anerkennung
des Vaters ist sie auch bereit, hinsichtlich ihrer Zukunftspläne Zugeständnisse
zu machen.
Weil meinen Brüdern, denen geht’s am Arsch vorbei, was mein Vater macht und so. Ich
versteh auch meinen Vater. Er hat’s für uns gemacht, er hat’s gut gemeint und so. Darum, ich
überleg auch manchmal, ja, sag mal, das ist doch nicht schlimm, wenn ich verheiratet bin und
ich zwei Monate mal runter geh und die Kunden so reinhole und so, praktisch. Das ist doch
gar nicht schlimm, ich verdien mein Geld so, indem ich im Büro sitze, hab für mein Leben
lang einen Job praktisch für den Sommer. Aber (.) einerseits denk ich auch, wie lange soll das
so weitergehen.
13
Es ist anzunehmen, dass nicht nur für Tülin diese enge Beziehung wichtig ist, sondern dass auch
die Mutter ihrerseits versucht, die starke emotionale Bindung zu ihrer Tochter aufrechtzuerhal-
ten, unter anderem, um sie in der Familie zu halten. Über das Moment des gemeinsamen Lei-
dens kann die Mutter die Loyalität der Tochter herausfordern, um diese damit auch an sich zu
binden (zu dieser Dynamik vgl. auch Flaake 2001). Darüber hinaus vermittelt sie der Tochter –
als Rollenmodell – ihre eigene Opfer- und Leidens-Situation als Ehefrau sowie ihre aufopfernde
Haltung als Mutter, die für ihre Kinder ihre Ehe aufrechterhält. Dabei besteht die Gefahr, dass
sich die Parallelen auch in die Zukunft der Tochter fortsetzen: sowohl hinsichtlich der Abhän-
gigkeit von der Familie als auch hinsichtlich der Rolle der Frau als aufopfernde Mutter. Das
Moment des Leidens würde somit in der weiblichen Linie der Familie weiter tradiert.
264 Christine Riegel
Die empathische Haltung gegenüber den Erwartungen des Vaters bringt sie in
ein weiteres Dilemma, denn sie weiß, dass sie so in der Abhängigkeit zum Vater
verbleibt – auch als Erwachsene. Der Konflikt zu ihren eigenen Bedürfnissen –
eigentlich will sie nicht in das Hotelgewerbe des Vaters einsteigen, wie er dies
für sie und ihre Brüder geplant hat – spiegelt auch den Zwiespalt in der Bezie-
hung zum Vater wider: das Streben nach Autonomie einerseits, der Wunsch
nach Anerkennung und Liebe von Seiten des Vaters andererseits. So sagt sie
„ich will auf meinen eigenen Füßen stehen (..) und ich will meinem Vater zei-
gen, dass ich es auch schaffe.“ Sie versucht, einen lebbaren Kompromiss zu
finden. Mit Blick auf ihre bisherigen Erfahrungen und die Beziehung zum Vater
ist das allerdings ein schwieriges Unterfangen.
Betrachtet man die Beziehung zu den Eltern, wird deutlich, dass die Fami-
lie – die Solidarität zur Mutter und der Kampf um die Liebe des Vaters – für
Tülin die Bürde darstellt, die sie davon zurückhält, ihre Potenziale und Mög-
lichkeiten der Emanzipation zu nutzen und ihr Leben nach ihren Bedürfnissen
zu gestalten. Darüber hinaus sind jedoch auch noch andere Faktoren bedeutsam,
die es ihr erschweren, sich von den einschränkenden Banden ihrer Herkunftsfa-
milie zu lösen. Diese liegen nicht in der Familie selbst, sondern in fehlenden
Möglichkeiten der Verortung jenseits der Familie.
Tülin fehlt in Deutschland eine soziale Gemeinschaft, zu der sie sich zugehörig
fühlt. Von ihrer jugendlichen Peer-Group ist sie durch ihre Freizeiteinschrän-
kungen oft ausgeschlossen und auf eine verwandtschaftliche Struktur kann sie in
Deutschland nicht zurückgreifen. Denn ihre Verwandten leben in der Türkei:
Also hier haben wir echt niemanden, sei es meiner Mutters Seite, sei es meines Vater seine
Seite. Wir haben niemand hier. Das ist halt Scheiße.
Ihre soziale Isolation spitzt sich durch ihre Lebenssituation in der Migration zu
und korrespondiert mit einer Erfahrung, weder in Deutschland noch in der Tür-
kei als zugehörig anerkannt zu werden.
Wenn ich so nach Deutschland komm, dann sagen die, also die älteren Deutschen oder so, die
sagen halt die Ausländer sind da. Und wenn wir dann Türkei gehen, dann sagen die die Deut-
schen sind da. Also ich fühl mich echt nirgendwo (.) zuhause.
Ihre Erfahrung, nirgends beheimatet zu sein, bezieht sich darauf, dass sie nir-
gendwo emotionale Geborgenheit, Wertschätzung und Anerkennung erfahren
konnte, weder durch den Vater, noch im Freundeskreis, noch in der deutschen
oder türkischen Gesellschaft. So ist die Frage der Zugehörigkeit für sie auch
kein rechtlich oder formal zu lösendes Problem.
Also ich denk zwar, okay, hier kann man jetzt Ding, wenn ich jetzt in Deutschland bin, hier
kannst du jetzt locker einen deutschen Pass kriegen, dann kann ich gleich mit zu den, wie
heißt noch mal, ah, Wahlen. Und in Türkei könnt ich das jetzt mit meinem türkischen Pass
und so, aber (.), Ich finde das gehört gar nicht dazu. Ich weiß nicht, ich fühl mich echt nir-
gendwo daheim. (...) Das ist irgendwo voll komisch. (.) Für mich ist das wichtigste, egal wo,
aber Hauptsache mit meiner Mutter, also dass ich meine Mutter nicht verliere.
Ich bin (...) viel enttäuscht worden, (5sec) habe aber noch nicht aufgegeben (5 sec) und ich
liebe meine Familie über alles. (...) Egal, was für einen Stress ich hatte, egal was.
5 Resümee
Die Lebenslage von Tülin verweist auf einen Möglichkeitsraum, der auch für
andere junge Frauen in einer vergleichbaren Lebenssituation handlungsrelevant
und für den Transformationsprozess ins Erwachsenenleben bestimmend ist.
Darin konkretisiert sich das Zusammenwirken und die Überlagerung von ver-
schiedenen Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen (‘intersection’), unter
anderem entlang der sozialen Segmentierungslinien Geschlecht, Ethnizität,
266 Christine Riegel
14
Für die Lebenslage Tülins sowie deren Handlungsmöglichkeiten sind noch andere Kategorien
relevant, die in diesem Zusammenhang jedoch nicht explizit im Rahmen dieser Intersektionali-
tätsanalyse diskutiert werden: unter anderem Klasse (aus Arbeiterfamilie), Lebensort (ethnisch
gemischtes Arbeiterviertel einer Großstadt), Beruf (Ausbildung zu einem technischen Beruf),
Alter usw.
15
Diese werden generell nicht nur an politischen Verteilungskämpfen sichtbar, sondern auch an
individuellen Annerkennungskämpfen sowie dem Aushandeln von Verfügungsmöglichkeiten
über die eigenen Lebensbedingungen. Diese Kämpfe werden zwischen Tülin und ihrem Vater
ausgetragen, es finden jedoch auch Zuschreibungs- und Aushandlungsprozesse im sozialen Um-
feld und im öffentlichen Raum statt, die sich wiederum auf die Situation von Tülin auswirken,
sie ihrerseits auch versucht, Einfluss zu nehmen.
16
Dieser intergenerative Interessenskonflikt um die Ziele der Migration sowie die unterschiedli-
che Bedeutung von Einwanderungsland und Herkunftsland stellt für viele MigrantInnenfamilien
ein Konfliktpotenzial dar, wobei ein solcher Konflikt nicht zwangsläufig zu einer gewalt- und
autoritätsförmigen Bewältigung, wie in diesem Falle, führt. Gleichzeitig muss bemerkt werden,
dass der Rückkehr- bzw. Migrationswunsch ins Herkunftsland auch von der jüngeren, der soge-
nannten zweiten, dritten oder vierten Generation geäußert und verwirklicht wird (vgl. Kontos
2000; Gontovos 2000; Riegel 2004), wobei dies auch nicht immer im Einklang mit den Erwar-
tungen und Vorstellungen der Eltern steht.
Zwischen Kämpfen und Leiden 267
19
Hier zeigt sich die Kontextabhängigkeit der jeweiligen sozialen Positionierung im Verhältnis zu
den verschiedenen sozial relevanten Segmentierungslinien. Befindet sich Tülin hinsichtlich ih-
rer Kompetenzen in Sprache und Bildung sowie den erforderlichen Voraussetzungen, um adä-
quat in der Mehrheitsgesellschaft agieren zu können, im Rahmen ihrer Familie auf der überle-
genen Seite, sieht das im Kontext der Mehrheitsgesellschaft anders aus.
20
Die Zurückhaltung von Ausbildungsbetrieben, junge Migrantinnen einzustellen, liegt unter
anderem in stereotypen Zuschreibungen begründet, zum Beispiel wenn bei Bewerberinnen auf-
grund deren (vermuteten) ethnischen Herkunft oder nationalen Zugehörigkeit mangelnde
sprachlichen Kompetenzen, Bildungsaspiration bzw. Integrationsbereitschaft angenommen wird
oder Schwierigkeiten mit der Familie erwartet werden. Darüber wird in der Regel bereits bei der
Selektion der Bewerbungsunterlagen geurteilt, bevor die BewerberInnen überhaupt die Gele-
genheit haben, sich persönlich vorzustellen.
Zwischen Kämpfen und Leiden 269
21
Auch bei Tülin gestaltete sich die Ausbildungsplatzsuche nicht einfach. Nach Beendigung der
bürokaufmännischen Fachschule (entspricht Realschulabschluss) hat sie zunächst nur eine Stel-
le als Einzelhandelskauffrau bekommen, einem Beruf, der, wie sich bald herausstellte, nicht ih-
ren Interessen und Fähigkeiten entsprach. Damit gab sie sich jedoch nicht zufrieden, sondern
suchte nach Ausbildungsbeginn weiter und fand die Möglichkeit, in einer Zahntechniker-Praxis
zur Probe zu arbeiten (was sie an ihren freien Tagen und ohne das Wissen ihres Vaters machte).
Schließlich wurde sie dort übernommen und fand so ihren heutigen Ausbildungsplatz erst auf
Umwegen und mit viel Engagement.
270 Christine Riegel
22
Gleichzeitig deutet sich im biografischen Verlauf an, dass der Widerspruchsgeist und alternative
Lebensmodelle mit zunehmendem Alter an Bedeutung verlieren. Dieses Phänomen konnte ge-
nerell in der Gesamtuntersuchung zu Orientierungs- und Handlungsformen von jungen Migran-
tinnen beobachtet werden (vgl. Riegel 2004: 329f.).
Zwischen Kämpfen und Leiden 271
Erfolg. So gelingt es ihr immer wieder, die männliche Dominanz und patriarcha-
le Herrschaft in der Familie zu durchbrechen. Sie überschreitet in ihren Wider-
standsformen ’weibliche’ Geschlechterrollenzuweisungen und damit verbunde-
ne Verhaltensweisen und zeigt sich gegenüber dem Vater auch sehr viel wider-
ständiger als ihre Brüder. Dies kann zu einer Erschütterung männlicher Hege-
monie in der Familie sowie zu einer Veränderung der Machtverhältnisse beitra-
gen.23
Tülin, so wurde deutlich, ist nicht nur Opfer, sie ist auch Agierende, die um
Freiheiten und Handlungsmöglichkeiten kämpft. Im Widerstand gegen die Ver-
haltenseinschränkungen durch den Vater werden sowohl subtile Strategien, wie
die der List, der Täuschung und des Verheimlichens relevant, ebenso offene
Formen des Protests und Ungehorsams. Bereits in verschiedenen anderen Stu-
dien wurden die Umgangsweisen von Migrantentöchtern mit repressiven Erzie-
hungsstilen und einschränkenden Lebensverhältnissen herausgearbeitet. Dabei
wurde jedoch in der Regel von einer Gegensätzlichkeit und Ausschließlichkeit
von verschiedenen Typen des Umgangs ausgegangen: entweder Anpassung oder
Rebellion (vgl. beispielsweise die Studien von Pörnbacher 1999; Riesner 1990).
In den Umgangsweisen von Tülin wurde deutlich, dass jedoch nicht von einer
typischen Handlungsweise gesprochen werden kann, vielmehr liegt das Typi-
sche im Spannungsverhältnis von verschiedenen Handlungsformen: Elemente
von Rebellion, Widerstand und Kampf um Autonomie wechseln sich mit Ele-
menten der Anpassung, Unterordnung und Resignation ab. Scheinbar gegensätz-
liche Handlungsstrategien zeugen jedoch nicht von Orientierungslosigkeit oder
Handlungsinkonsistenz, sondern vielmehr davon, in widersprüchlichen Konstel-
lationen und äußerst belastenden Lebenssituationen handlungsfähig zu bleiben –
und auch auf diese verändernd wirken zu können.
Ein wesentlicher Dreh- und Angelpunkt für eine Veränderung der Lebens-
situation von Frauen wie Tülin liegt jedoch darin, welche subjektiven Möglich-
keiten und Perspektiven sie unter den gegebenen Verhältnissen zur eigenständi-
gen Entwicklung und Löslösungen sehen. Solange sie in Deutschland als (ras-
sialisierte) Andere und als Nicht-Zugehörige betrachtet und behandelt werden
und ihnen ihre gesellschaftliche Integration – als Heranwachsende mit Migrati-
onshintergrund – strukturell und sozial erschwert wird, sind ihrer sozialen Ver-
ortung jenseits der Familie Grenzen gesetzt. Vor diesem Hintergrund kann es
für sie naheliegend sein, im Zweifelsfall auf die Herkunftsfamilie und deren
unhinterfragbare Zugehörigkeit zurückzugreifen – mit all den damit verbunde-
nen Schwierigkeiten und Einschränkungen. Hier wird deutlich, dass die Frage
23
Die weibliche Solidarität zwischen Mutter und Tochter stärkt dieses Widerstandspotenzial,
wirkt jedoch hinsichtlich Tülins Autonomiebestrebungen lähmend. Diesbezüglich ist eine enge
Mutter-Tochter-Beziehung mit Ambivalenzen verbunden.
272 Christine Riegel
des Widerstands oder der Anpassung nicht nur vom individuellen Widerstands-
potenzial der jungen Frauen abhängt, sondern auch von der Verfügung über
(alternative) Handlungs- und Verortungsmöglichkeiten im gesellschaftlichen
Raum.
Die Unterstützung von jungen Frauen in dieser Lebenslage kann sich nicht
darauf beschränken, im öffentlichen Diskurs Zwangs- und Gewaltverhältnisse in
eingewanderten Familien zu verurteilen, vor allem nicht, solange die Situation
kulturalisiert wird und die Frauen auf einen Opfer-Status reduziert werden. Eine
solch einseitige Perspektive und Wahrnehmung lenkt nicht nur von ungleichen
Macht- und Gewaltverhältnissen im Geschlechterverhältnis innerhalb der eige-
nen Gesellschaft ab und macht sie zum ‘kulturellen Sonderfall’, sondern ver-
kennt die Frauen und Mädchen in ihrer Subjektivität und Handlungsfähigkeit
sowie ihrem Integrations- und Partizipationspotenzial. Ein Bild, von dem sich
junge Migrantinnen immer wieder distanzieren müssen (vgl. Riegel 2003) und
das, wie der vorliegende Fall eindrücklich zeigt, auch nicht zutreffend ist. Un-
terstützungsangebote von Frauenorganisationen sowie Zufluchtsstätten sind
wichtige und notwendige Maßnahmen, es ist jedoch vor allem erforderlich,
gesamtgesellschaftlich für Frauen und Mädchen mit Migrationshintergrund die
sozialen und strukturellen Voraussetzungen zu schaffen, damit sie in dem Land
in dem sie leben, gleichberechtigt partizipieren und selbstbestimmte Lebens-
perspektiven entwickeln können – und sich nicht gezwungen sehen, auf
Zwangs- und Abhängigkeitsverhältnisse als Zugehörigkeitsstrukturen zurück-
greifen zu müssen.
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Zwischen Kämpfen und Leiden 273
1
Notions reflected in the German sociological classic “Verlockender Fundamentalismus. Türk-
ische Jugendliche in Deutschland” by Wilhelm Heitmeyer and colleagues (1997). How promi-
nent such ideas remain today can be seen in the public discussions generated by books like Die
verlorenen Söhne (Kelek 2006), that argue in a similar vein.
2
For a recent account, see for example Riegel (2004).
3
However, recent scientific publications about migrant boys in Germany might indicate a shift
towards a growing interest in the topic (e.g. Spindler 2006).
276 Paul Scheibelhofer
This task is tackled here by a brief discussion of research in the field, followed
by an outline of a feasible way to approach the topic. The paper concludes with
a discussion of research findings on male Turkish youth in Vienna.
There has been little mutual interest between the fields of migration studies and
masculinity studies so far. Masculinity is seldom discussed within migration
studies and vice versa. Most of the work on masculinity in the context of migra-
tion seems to be primarily motivated by a will to find the causes of problems
identified in western societies as described above. In these texts, one recurring
answer to the question of why migrant men are the way they are, is found in the
observed presence of racism and discrimination in migrant men’s lives. The
very constructs of masculinity that these boys and men develop are thus seen as
responses to their subordinated position in society. In this regard, we find two
slightly different phenomena. On the one hand, it has been argued that certain
aspects of the culture of the boys’ parents are used to foster their self-esteem.
Philippe Burgois (2003: 8) argues, for example, that Puerto Rican men in the
United States mainly construct their masculinities around a certain cultural defi-
nition of respect prevalent in Puerto Rico. On the other hand, another common
way of dealing with experienced discrimination is to adopt aspects of popular
stereotypes about foreign men. O’Donnell and Sharpe (2000: 58) state that Afri-
can-Caribbean boys in London schools react to discrimination by adopting a
stereotypical macho style. Although this entails the dangers of fulfilling what-
ever negative connotations exist regarding Black masculinity, it also gives the
boys a certain status within classrooms.
Studies dealing with the masculinities of Turkish boys in the German-
speaking context argue that a specific concept of male honour as found in
‘Turkish tradition’ is of particular relevance. This view is prominent in
Hermann Tertilt’s (1996) work on a youth gang called Turkish Power Boys. In
his ethnographic study, Tertilt claims that prevalent views of masculinity within
the gang are rooted in the “rural origins” (dörfliche Herkunftswelt, ibid. 216) of
their Turkish culture. Ralf Bohnsack (2001) makes a similar point in his small
study of Turkish boys in Germany. Although he argues that diverse ways exist
as to how the concept of honour manifests itself in the boys’ identity-constructs,
he found that it was relevant to all of the boys of the second and third Turkish
generation that he interviewed.
Thus, however sparse the literature on masculinity in the context of migra-
tion remains today, some useful insights can be drawn from it. The claim that
A question of honour? 277
As far as studies of migrants and their children are concerned, newer approaches
that build on post-structuralist critiques of rigid concepts of culture, space and
identity (see Hauser-Schäublin/Braukämper 2002b: 9) have led to fruitful in-
sights. Rather than contemplating the homeless souls4 of second-generation
migrants, scholars have begun to look for hybridity (Bhabha 1990) in their life-
worlds. In a similar vein, Stuart Hall (1999) proposes, as a contrast to a primor-
dial understanding of ethnic identity, the concept of new ethnicities, which high-
lights the imagined nature of ethnic identity. With such a view of ethnicity as
constantly in need of negotiation and re-construction, scholars have criticised
4
See for example the volume edited by Antonio Morten (1988), titled Vom heimatlosen Seelenle-
ben.
278 Paul Scheibelhofer
5
For a thorough discussion of this critique refer to Connell/Messerschmidt (2005).
A question of honour? 279
6
Eventually, R.W. Connell herself edited a volume of the journal Feminism & Psychology on
discursive approaches to the study of masculinities, however critical she remains of some as-
pects of this approach (Connell 2001: 7).
280 Paul Scheibelhofer
3 Three case-studies
In the following, the stories of three young men of Turkish migrant background
living in Vienna are presented.7 These case studies highlight both commonalities
and differences between phenomena found.
Mesut, who was 17 years of age at the time of the interview, came to Vienna
when he was six, and he fits rather neatly into the popular picture of Turkish
boys in Austria – at least at first sight. His father was an unskilled worker, his
mother runs the household. Mesut himself attends a vocational school for con-
struction workers. When he recounts stories of his schooling in Vienna, he re-
calls that he always had problems meeting the demands of teachers. Friendships
with other Turkish boys turned out to be a valuable resource both emotionally
and pragmatically as they supported him in dealing with these problems. Today
he feels that he is a ‘bad learner’ and if he did badly enough to have to repeat a
year now, he would leave school and start working. He does not care too much
about what that job would be. To him, the most important aspect of working is
that it will earn him money to buy a car, a house and to support his future fam-
ily. Today, all of Mesut’s close friends are second-generation Turks and he
describes this as normal.
It’s always the same. Turks hang out with Turks, Croatians with other Croatians and Austrians
with Austrians. I was always friends with Turks.10
No matter where I live … in Austria, Turkey or elsewhere. It’s religion, I can’t just say I leave
it behind. I have to do what is written in the Koran.
Hakan, who was 18 years old at the time of the interview, was born in Vienna.
His father works in a factory; his mother is a cleaner. Hakan recounts that his
parents deliberately chose a white elementary school for him. In retrospect, he
values this, because “Turks”, as Hakan puts it, “always stick together”. In his
opinion, this is the reason why they have problems at school. At present, Hakan
attends a Higher Technical School. However, when he finishes school he will
not continue on the technical track but plans to study journalism. He became
interested in that field when he started to participate as a volunteer in a Turkish
web-radio programme located in Vienna. Hakan describes the need for a Turk-
282 Paul Scheibelhofer
ish radio station that not only broadcasts Turkish music but also covers political
topics related to Turkey:
In my opinion, we want to hang together. We want to tell the people: we are not separated,
just because you are in America and we are in Austria.
In this view of community, the will to maintain plays a more important role than
primordial identity-markers such as country of birth. Hakan, who was born in
Vienna and plans to stay there, can imagine himself as part of a transnational
Turkish diaspora. The web-radio functions as a medium to overcome geographic
dispersion. Taking an assimilationist approach, this engagement could be seen
as hampering Hakan’s integration, but the contrary could be true. Regarding
discourses on Turkish EU-accession, for example, Hakan experienced Austrian
news coverage of the topic as biased and at times apparently racist. He recounts
that the web-radio to him is a valuable source of information on which he has
built his opinion on the subject. This has enabled him to participate in domestic
Austrian discourses. Talking about friendships, Hakan says that “every friend is
the same”, no matter if they are Austrian or Turk. His friends just have to be
“good persons”, who do not drink nor smoke. In this very brief compilation of
decisive moments in Hakan’s narrative, his pragmatism in dealing with ethnic
identifications becomes obvious. While he thinks that too many Turks in one
place can be problematic for their schooling, he longs to be part of a transna-
tional diaspora of Turks. Finally, he claims that ethnic background plays no role
at all in intimate social relations with friends.11
I would argue that a certain degree of pragmatic flexibility can also be
found in Hakan’s masculinity-construct. Hakan’s answer to the question of what
it is that makes him a man:
To be the ruler at home. Let’s say … I can protect my family. A man should take care of his
family, bring money, work … like my father.
11
His ethos of good persons is informed by Islamic norms and values, but it does not create
boundaries along lines of ethnic origin or religion.
A question of honour? 283
culine ideals have not lost meaning but at the same time they are flexibly ar-
ranged to meet his interests and realities of his life-world.
Bülent (age 24) was born in Austria but attended elementary school in Turkey
before returning to Austria at the age of ten. His mother is a housewife, his fa-
ther a warehouseman. Bülent experienced his return to Vienna as the beginning
of a grim period of his life. While he was very good at school in Turkey, he
faced grave problems at school in Austria. Here, he learned to be satisfied with
merely passing exams and lost interest in school as well as any special future
job. Thus, his decision to start a bricklayer’s apprenticeship was made without
much ambition. In this period Bülent, like Mesut, had a broad circle of Turkish
friends.
But Bülent’s life changed dramatically when he and his friends were asked
by youth-workers to shoot a film on their everyday life hanging out in parks and
streets. Even after Bülent had finished his bricklayer apprenticeship, he did not
stop making films. Not only did he become ever more serious in his techniques,
but he became ever more critical of the world around him, which he captured in
his short movies, criticising, for example, the exclusion of women from many
Turkish cafés. At the age of 20, Bülent quit his job and moved out of his par-
ents’ place and stopped seeing most of his former friends. He literally distances
himself from his earlier life – becoming more of an observer than a participant:
I have seen and learned a lot. A lot has changed in my life. I’m not a Turk anymore … and not
a bricklayer either. I don’t live with my parents any more. And I’d also say that I am not reli-
gious any more.
Bülent criticises the “Turkish society”, as he calls it, in Vienna. Turks, in his
view, do not live for their own interests but according to a picture that other
Turks have of them, and they are always worried about losing prestige. Today,
Bülent has no close friends. Earlier friendships with Turks, which once were
very important to him, he now sees as restrictive:
Now I am very critical. Now I can be critical. But in earlier days, I was like they are. But I
have read and learned a lot. And then you think about what is right. I could never have such
thoughts as long as I was among them.
Bülent, who claims that he has “learned to be alone”, depicts himself as a self-
determined individual as opposed to the “typical Turk,” who is without his own
284 Paul Scheibelhofer
Concerning the role that ethnicity plays in the young men’s stories, it becomes
obvious that the metaphor of being trapped between cultures does not capture
the lived complexity. Rather, we see that discourses of culture and ethnicity are
negotiated and diversely appropriated. What being Turkish means to these youth
varies considerably. In the structure of their narratives, we find that discourses
of stability and homogeneity exist side by side with more flexible ones. Thus, in
both Mesut’s and Bülent’s views, Turkish-ness is understood as a stable cate-
gory. Still, we have seen that this congruence can lead to rather contrary strate-
gies for dealing with ethnic identifications. While commitment is normal and
inevitable to Mesut, Bülent had to break with what he describes as Turkish in
order to adopt a radical individualism. Hakan, on the other hand, takes diverse
positions when narrating belonging. This enables him to participate in such
different discourses as that of the problematic Turkish youth at one point and of
valuable transnational Turkish communities at another.
Considering the temporality of identifications, we see that narratives of be-
longing can be subject to fundamental changes in different biographical periods.
And, as the data indicates, these changes have to be seen in relation to the prob-
lems, opportunities and interpretations experienced. Thus, to understand Me-
sut’s and (in earlier times) Bülent’s valorisation of Turkish friendships and the
supposedly unique ethos of reciprocity embedded therein, we should also take
into account their structurally problematic situation at the time this view
emerged. The relational character of ethnic identifications can also be seen in
the complex effects of opportunities such as to shoot a film or to participate in a
web-radio programme. While the radio offered Hakan a means to imagine and
actively construct a transnational Turkish community, Bülent used the camera to
observe and radically criticise his surroundings.
There is a decisive difference between stating that narratives of belonging
may take essentialist forms (as we found in Mesut’s and Bülent’s example) and
A question of honour? 285
analysing the young men’s ethnic identifications in essentialist ways. The latter
approach leads to a focus on problems that are seemingly embedded in their
Turkish background. An analysis as proposed here rather demands investigation
of the dynamics between structural aspects of young men’s life-worlds and the
ways that they deal with that context.
The masculinity-constructs that we find in the stories of these young men
are diverse and certainly cannot be understood as an un-reflected enactment of
some traditional concept of male honour. It is true that all those interviewed
grew up in a context where hegemonic masculinities build on ideas of male
honour. This concept of honour organises the social relations between a man
and his surroundings. Thus it demands respect for elders and their decisions.
According to the interviewees, this applies especially to the father and gives him
the final word in decisions concerning the family. This in turn guarantees that
the ability to care for ones’ family is central to masculinity-constructs. While
the aspect of caring manifests itself most prominently in the expectation that
men should assure the economic welfare of the family, it also entails caring for
the prestige of the family.
As becomes apparent through the analysis, the question of honour plays a
role for all the young men interviewed. In one way or another, the interviewees
face the question and negotiate its relevance to their lives. The narratives pre-
sented above show the striking range encountered in the study. Recounting
Mesut’s story of how he would leave his wife if she ever betrayed him can be
read as an instance of the above-mentioned care for family prestige. In this
story, it is not e.g. the broken heart that makes Mesut leave – an argument we
would expect within the frame of romantic love. For him, the penalty of break-
ing up is not motivated by (hurt) feelings, but because norms have been broken.
Here, it is regulations and expectations of the social surroundings that are piv-
otal to the relationship. But the centrality of male honour is far from uncritically
accepted or adopted by the men discussed here. The idea of becoming a pater
familias making the ultimate decisions concerning the family is not an unprob-
lematic future vision for these young men. While both Mesut and Bülent criti-
cise the idea forthrightly, Hakan finds himself “in the middle” between adopting
the vision of pater familias and rejecting it.
The question of honour plays a decisive role in the life of all three youth.
But the question is not settled. Rather we see that it is valorised and de-valorised
in their narratives. Its meaning is not fixed but subject to negotiation in which
the young men themselves play an active role.
286 Paul Scheibelhofer
5 Concluding remarks
that claims about their nature should be made with all due caution. The ap-
proach taken in this paper shows that the ways in which the Turkish youths
construct belonging are not only diverse but also complex. Thus, rather than re-
producing the essentialist notion of belonging that we found in Mesut’s story
(by analysing it as rooted in Turkish tradition), we understand it as a discursive
strategy of positioning. This opens the way to analysing how the narration of
tradition and stability is actualised in Mesut’s biographical context and what
fissures exist beneath the discursively constructed surface.
When drawing wider conclusions from the analysis of three case studies,
however thoroughly made, we must be cautious of over-interpretation. Still,
certain dynamics found in the stories have aspects of general relevance. Treating
the stories of the three young men as three different forms of tactics for claiming
space, we have seen that ideas of strict ethnic boundaries, alongside which
someone’s actions must be oriented, do exist and can be utilised when narrating
identity and belonging. Bearing in mind that such ideas are prominent in the
familial and other social contexts of most of these young men, this comes as no
big surprise. Nonetheless, we have also shown two aspects that should not dis-
appear from the picture. On the one hand, forms of active reconstruction and
negotiation of what it means to be a Turkish migrant youth can be found in all
stories - however stable these narratives might seem at first sight. Maintaining
continuity always entails aspects of re-invention. And in the case of these young
men, a tendency perhaps best described as individualisation of ethnic identifica-
tions seems to be at work. This leads us to another point discussed in this article
– the relevance of the social context for narratives of location and positionality.
As discussed above, the ways in which these narratives are constructed changes
in relation to problems and opportunities encountered. These findings show that,
rather than simply analysing the ways in which certain persons with migrant
background define themselves at a given point in time (as is frequently done in
survey studies etc.), we must try to grasp both the narratives and the context in
which they are produced. It may then become intelligible why certain, e.g. stra-
tegically essentialist, ways are ‘appropriate’ in order to claim social space.
Concerning the vocabulary of men’s studies, the analysis of the young
men’s biographies and positioning has shown that the concept of marginalised
masculinities must be used in a way that can account for contradictory subject
positions. These boys find themselves in complex webs of power-relations as
they grow up in a patriarchal world, but labelled as other in ethnic and class
terms. Thus, while they may gain a “patriarchal dividend” (Connell 1999: 95) in
exerting power over sisters or future wives, the power relation to white women
is not as simple - let alone white men. Doing masculinity is always an act of
translocational positionality, i.e. a power game with multiple sites of struggles.
288 Paul Scheibelhofer
This is certainly also true for men who are ascribed marginalised positions by
dominant discourses. To fully understand the masculinity-constructs we find
here, the complex and contradictory nature of the social world in which boys
and men of migrant background live must be acknowledged. Only then can the
dynamics of masculinities in the context of migration be fully grasped and criti-
cally analysed.
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Eine andere Seite männlicher Gewalt
Männlichkeit und Herkunft als
Orientierung und Falle
Susanne Spindler
Intersectionality ist eine Subjekttheorie, die Identitäten auf Kreuzungen von Differenzlinien
lokalisiert; gleichzeitig werden soziale Positionierungen untersucht, die nicht eindimensional,
sondern das Produkt von simultanen, sich kreuzenden Mustern und Verhältnissen sind (...). In
einen solchen theoretischen Kontext können auch Ansätze der neueren Männerforschung in-
tegriert werden, die die Herstellung von Geschlecht und Ethnizität in den Blick nehmen müs-
sen. (Lutz 2004: 482)
In diesem Kontext ist besonders die von Raewyn Connell2 bearbeitete Theorie
der hegemonialen Männlichkeit hilfreich, die sie basierend auf dem Hegemo-
niebegriff Antonio Gramscis entwickelt hat (vgl. Connell 2000/2005). Darin
zeigt sie auf, wie durch Geschlecht in Zusammenhang mit weiteren Faktoren,
etwa der Herkunft, Hegemonie hergestellt und erhalten wird. Nicht nur Frauen
werden dabei untergeordnet, sondern auch andere Männer. Denn hegemoniale
Männlichkeit bedarf auch anderer Männlichkeiten, bedarf der Zustimmung und
Anerkennung der Ideale. Sie wird zum umkämpften Feld, um das herum sich
die unterschiedlichen Männlichkeiten anordnen und positionieren. Ihre Kehrsei-
te sind die subordinierten Männlichkeiten, deren Herstellung ich im Folgenden
aufzeigen werde.
Die Analyse beruht auf den Lebensgeschichten inhaftierter Jugendlicher
mit Migrationshintergrund.3 Die jugendlichen Biografen erzählen in den Inter-
2
früher: Robert W. Connell.
3
Dabei greife ich auf Material und Ergebnisse des Forschungsprojekts „Die Überrepräsentation
allochthoner Jugendlicher in Untersuchungs- und Strafhaft. Kriminalitätskarrieren allochthoner
Jugendlicher” zurück, an dem ich an der Universität zu Köln von 1999 bis 2002 beteiligt war. In
der Untersuchung haben wir mit 24 inhaftierten Jugendlichen und Heranwachsenden mit Migra-
tionshintergrund lebensgeschichtliche Interviews geführt. Der Lebensmittelpunkt der Jugendli-
chen war vor der Inhaftierung Köln. Forschungsziel war es, die Lage der Jugendlichen und das
Bedingungsgefüge ihrer ‘Kriminalitätskarrieren’ zu analysieren. Die Ergebnisse sind veröffent-
Eine andere Seite männlicher Gewalt 293
views aus ihrem Alltag und beschreiben dabei vielfältige gesellschaftliche Er-
fahrungen. Deren Analyse erlaubt einen Blick hinein in familiäre Konstellatio-
nen, aber weist auch weit darüber hinaus in andere Bereiche des Alltags, die das
jugendliche Leben prägen. Die Analysen zeigen, wie Geschlecht kontextuell
und in Interaktionen produziert und reproduziert wird und dabei in gesellschaft-
liche Machtverhältnisse eingebunden ist. Im Folgenden möchte ich durch einige
Ausschnitte aus den Biografien Entwicklungsprozesse gewalttätiger Männlich-
keit darstellen und analysieren. In einem ersten Schritt zeige ich auf, inwiefern
die Jugendlichen in einer marginalisierten und zunehmend reduzierten Lage
leben, in der ihr männliches Geschlecht als Ressource besonders relevant wird.
Sie legen sich männliche Attribute zu, die ihrer eigenen Orientierung dienen.
Dabei zeigen sich Modifikationen der hegemonialen Männlichkeitsformen, die
sie allerdings in Ermangelung von Alternativen statt mit legitimierter Gewalt
mit illegitimer Gewalt ausstatten. Daran anschließend werde ich in einem zwei-
ten Schritt aufzeigen, inwiefern die Jugendlichen in ein Zusammenspiel von
rassistischer Abwertung mit geschlechterhierarchisierendem Zuschnitt einge-
bunden sind. Dies werde ich am Beispiel des Einsatzes der Dominanz von Ver-
tretern männlichen Geschlechts in verschiedenen Milieus verdeutlichen, dem
pädosexuellen und dem Gefängnismilieu. Nicht nur Ethnisierung kommt hier
zum Tragen, sondern zudem eine Abwertung der Jugendlichen aufgrund des
Geschlechts.
Die marginalisierte Lage der Jugendlichen lässt ihr männliches Geschlecht als
Ressource und Orientierung zunehmend wichtig werden. Da sie nicht über legi-
timierte Macht hegemonialer Männlichkeit verfügen, statten sie ihre Lage mit
illegitimer Gewalt aus. Anhand zweier zentraler Bereiche, der familiären Dy-
namik und der schulischen und beruflichen Situation, soll diese Handlungsstra-
tegie nachfolgend näher untersucht werden.
Die familiäre Situation der Interviewten ist durch prekäre Umstände gekenn-
zeichnet. Sie alle leben in benachteiligten Stadtgebieten und die Arbeitssituation
licht in Bukow et al. 2003. Ausführlich zur Analyse des Zusammenhangs von Rassismus, Ge-
schlecht und Kriminalisierung vgl. Spindler 2006, worauf auch dieser Aufsatz basiert.
294 Susanne Spindler
der Eltern ist sehr schwierig: entweder sind sie arbeitslos oder sie arbeiten unter
Bedingungen, die sich durch Ausbeutung, starke Vergeschlechtlichung und
unsichere Arbeitsverhältnisse auszeichnen, so arbeiteten die Väter zum Beispiel
als ungelernte Hilfsarbeiter, die Mütter als Reinigungsfrauen. Die Migrationssi-
tuation verstärkt den Hintergrund einer unterprivilegierten Klassensituation: Die
Familien leben oft zurückgezogen oder ausgegrenzt sowie ökonomisch benach-
teiligt.
Dies spitzt sich in Flüchtlingsfamilien noch zu. Flüchtlinge haben entweder
keine Arbeitserlaubnis oder wenn sie eine haben, dann sind die Umstände, Ar-
beit zu finden, durch den Inländer- und Europäerprimat extrem erschwert.
Konkret bedeutet das, dass Flüchtlinge nur dann eingestellt werden dürfen,
wenn erwiesenermaßen kein anderer Bewerber diese Stelle ausfüllen möchte
oder kann. Die Flüchtlingsfamilien leben oft auf sehr engem Raum, mit einge-
schränkten Bewegungsfreiheiten auch nach außen; dadurch sind sie zwangswei-
se auf sich als Familie zurückgeworfen.
Ihr Familienleben entspricht weder dem, was die Jungen von ihren Eltern
erwarten noch dem Leben, das sie bei den Eltern anderer Jugendlicher sehen.
Gerade die Auseinandersetzungen mit den Vätern lassen erkennen, dass an das
männliche Geschlecht bestimmte Vorstellungen gekoppelt sind. Verschiedene
Erfahrungen der Jugendlichen stehen hier nebeneinander: Hüseyin, ein kurdi-
scher Flüchtling, ist enttäuscht, nach Jahren der Trennung vom Vater beim Wie-
dersehen nicht den erwarteten starken Mann in Deutschland zu finden, sondern
einen Vater, der vor allem durch sein Alter gezeichnet ist und den er kaum mehr
erkennt. Adnan, Sohn eines Gastarbeiters, erzählt viel über den Vater, dessen
Rückkehrpläne in die Türkei und vergleicht seine gesellschaftlichen Positionen
in der Türkei und in Deutschland. Er kommt dabei zu dem Schluss, dass dieser
sich zwar in der Türkei, aber nicht in Deutschland gut etablieren konnte. Solche
Thematisierungen betreffen auf die ein oder andere Weise Probleme der gesell-
schaftlichen Stellung der Eltern in der Bundesrepublik; die Jugendlichen neh-
men wahr, dass die Eltern auf der sozialen Bedeutungsskala unten rangieren
(vgl. Findeisen/Kersten 1999: 141) und die Väter daher nicht als ein einfach
nachzuahmendes männliches Vorbild dienen können.
Auch wenn die Väter in der Familie versuchen, die Stellung als Familien-
oberhaupt zu wahren, so müssen sie diese immer wieder legitimieren. Hüseyin
schildert das, wenn er über das Leben und die Kontrolle im Flüchtlingsheim
erzählt und über den Vater, der keine Arbeit findet.4
4
Die Zeichen im Zitat bedeuten: (...) = Passage ausgelassen, (( ))/ / Kommentierung eines
Phänomens, Kennzeichnung von Beginn und Ende; kursiv = betont
Eine andere Seite männlicher Gewalt 295
H: Hm ja, die warten auf mich, wenn ich rauskomm, muss ich mit dem Familie kümmern.
I: Was heißt das für Sie?
H: Kümmern, also Familie, so mein Vater so, sehen Sie, kann nich schreiben un lesen,
meine Mutter is ja auch die gleiche. (I: Hm). Und nirgendwo hingehn, so Arbeitsamt
oder Sozialamt oder weiß ich nich oder irgendwo, die können nich Deutsch sprechen
außer ich. (...) ((leise)) /Weil der (der Vater, Anmerkung der Verfasserin), der krieg
schon Arbeit, ich mach den sofort klar wenn ich-/ (I: Bitte?) Ich-, der kriegt schon Ar-
beit, wenn ich rauskomme, dann mach ich für den klar, dann arbeit ich mit Bäckerei.
Ich arbeite auch soundso acht Stunden jeden Tag hier, un wenn ich rauskomm draußen
auch.
Während der Inhaftierung kann er seinen Aufgaben, wie Ämtergänge für die
Familie oder Wohnungssuche, nicht nachkommen. Hüseyin hat das Gefühl, als
Sohn für die Familie verantwortlich zu sein, sie unterstützen zu müssen und
damit väterliche Funktionen zu ersetzen. Aus dieser Situation folgt für Hüseyin
keine Orientierungslosigkeit, wie dies King (2002: 96) für solche Situationen
vermutet, sondern er richtet seine Handlungen gezielt daran aus, die Schwächen
der Familie auszugleichen. In solchen Situationen entwickeln die Jugendlichen
neue Verhaltensweisen, denn sie können eben nicht einfach ‘traditionelle’ Ent-
würfe und familiäre Regeln übernehmen. Sie würden nicht zur Situation passen
bzw. die Eltern können ihnen keine Entwürfe vorleben, die ihnen als Vorlage
dienen könnten. Die Orientierung Hüseyins entlang der Linien Verantwortung
und Stärke zeigt die Konformität mit und die Zustimmung zu hegemonialen
Männlichkeitsbildern. Aufgabe ist es, die familiären Schwächen in einer Situati-
on, die von Ethnisierung gekennzeichnet ist, auszugleichen, wofür allerdings
kaum Ressourcen zur Verfügung stehen. Gleichzeitig verdeutlichen andere
Biografien, dass sich die Jugendlichen von ihren Familien distanzieren. Sie
wollen sich damit eine Möglichkeit schaffen, sich von deren nicht-hegemonialer
gesellschaftlicher Positionierung abzusetzen. Sie wenden sich zum Beispiel
einem Freundeskreis und Cliquen zu, suchen gemeinsam mit jungen Männern,
die sich in einer ähnlichen Situation befinden, nach anderen Lebensformen.
Ihr Anderssein als die Väter untermauern sie zusätzlich dadurch, dass sie
gesellschaftliche Zuschreibungen an Geschlechterverhältnisse in Migrantenfa-
milien annehmen. Gerade die Konstruktionen von Geschlechterdifferenzen, von
patriarchalen Vätern und unterdrückten Müttern, haben durch ihre gebetsmüh-
lenartige Wiederholung auch die Kinder der MigrantInnen erreicht. Die Jugend-
lichen pauschalisieren Verhaltensweisen ihrer Eltern durch die Brille gesell-
schaftlicher Zuschreibungen. Herkunft, mit Traditionalität und Rückständigkeit
verbunden, steht dabei im Mittelpunkt, auch wenn sie bestehende Konflikte in
ihren Familien vor allem als Generationenkonflikte bezeichnen. In einem Pro-
zess der Selbstethnisierung sehen sie patriarchale Väter und starke Geschlech-
tertrennungen vor allem als ein ‘ethnisches’ Spezifikum an und schließen damit
296 Susanne Spindler
den Kreis reziproker Interpretation. Sie versuchen sich aus diesem Kreislauf zu
befreien, indem sie sich selbst aus diesen Zuschreibungen ausnehmen. Das kann
ihnen aber kaum gelingen: Je älter sie werden, desto mehr erleben sie, dass die
Zuschreibungen auch sie einschließen. Nicht zuletzt dadurch wird ihnen die
besondere Bedeutung der Geschlechtskonstruktionen für ihren Alltag deutlich.
Im Hinblick auf die familiäre Situation verdeutlichen die Biografien daher, wie
Geschlecht relevant wird und den Jugendlichen als Orientierungsmuster dient:
als Übernahme einer männlich attribuierten Rolle der Stärke im familiären Ge-
füge und in der Zuschreibung einer ethnisierten Form der Männlichkeit an die
Väter.
Die schulische und in Folge die berufliche Situation aller Interviewten ist, eben-
so wie die familiäre, durch Reduktion auf den ‘Ausländerstatus’ und Marginali-
sierung gekennzeichnet. Die Ausrichtung des deutschen Schulsystems auf Ho-
mogenität und auf die Bedürfnisse einer Mittelschicht setzt Maßstäbe – diejeni-
gen, die davon abweichen, werden als ‘Problem’ betrachtet, strukturelle Diskri-
minierungen sind im Schulwesen ebenso verankert wie ein defizitorientierter
Blick (vgl. Auernheimer 2003, Gomolla 2005). Der enge Zusammenhang zwi-
schen Klassenzugehörigkeit, Migrationshintergrund und mangelnden Bildungs-
chancen im deutschen Schulsystem ist spätestens nach den PISA-Studien (vgl.
Fußnote 1) unbestritten.
Für Flüchtlinge entstehen aus diesen strukturellen Grundlagen des deut-
schen Schulsystems nochmals besondere Schwierigkeiten. Die Schule themati-
siert sie als ‘Seiteneinsteiger’, ihr Verbleib in der Bundesrepublik ist noch unsi-
cher. Aber auch Kinder mit Migrationshintergrund der zweiten oder dritten
Generation, die meist in Stadtbezirken der Unterschichten leben, nimmt die
Schule nicht ressourcenorientiert wahr. Vielmehr werden Defizite aufgrund der
‘anderen Kultur’, der Mehrsprachigkeit – oder auch der unterstellten Nicht-
Sprachigkeit –, der Wohnumgebung und der sozialen Herkunft thematisiert.
Emre erzählt, wie er als Schüler aufgrund seines Wohnortes stigmatisiert wurde:
Allein wo ich herkam und so als die in dat Klassenbuch am ersten Tag geschrieben haben die
Frage „aus welcher Straße kommst du“ und dat war direkt Nachbarstraße, die größte Asistraße
is das, die neben der Schule also wo ich wohn, hab ich gesagt „F.-Straße“. Haben se mich erst
mal alle angeguckt ((leise))/dann fingen die an „oh dat is bestimmt gefährlich, is bestimmt n
Verbrecher.“/
Eine andere Seite männlicher Gewalt 297
ler mit Migrationshintergrund hin. Diesen setzen sie ein Bild ‘der deutschen
Gesellschaft’ entgegen, das im Hinblick auf das Geschlechterverhältnis als
gleichberechtigt imaginiert wird. Diese Zuschreibung der Existenz patriarchaler
Geschlechterverhältnisse allein an Migrantenfamilien lässt die anhaltende Wir-
kung der Ungleichheitskategorie Geschlecht in der Bundesrepublik verblassen.
Für die Jugendlichen ist der soziale Raum Schule daher auf vielfache Wei-
se von ‘Niederlagen’ bestimmt und mit Versagen und Misserfolg verbunden. In
ihren Erzählungen über die Schule beschäftigen sich die Jugendlichen mit ihren
vor allem negativen Erfahrungen und den damit verbundenen Konsequenzen.
Denn sie wissen, dass sie mit nur schlechtem oder gar keinem Abschluss auf
dem regulären Arbeitsmarkt kaum eine Chance haben werden. Und zugleich
wissen sie, dass Arbeit für die Platzierung als Mann seine Bedeutung gewahrt
hat, denn:
Erwerbsarbeit ist nach wie vor zentraler Bestandteil (nicht nur) männlicher Identität. (...) Statt
sie endlich abzulösen, werden Arbeitsmann und Macht-Mann im Kontext von Globalisierung
und Neoliberalismus in ihrer Widersprüchlichkeit sogar noch aufgewertet: Auf der einen Seite
gewinnen zentrale männliche Attribute wie Orts- und Reproduktionsunabhängigkeit, Bin-
dungslosigkeit, Risikofreudigkeit, Einsatzbereitschaft, Dominanzbereitschaft eine noch größe-
re Bedeutung, auf der anderen Seite erfahren immer mehr Männer die Kehrseite dieser Bilder:
Sie sind konfrontiert mit Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung und sozialem Abstieg. (Döge 2000:
21f)
Erzählen die Jugendlichen beispielsweise von ihren Vätern, wird deutlich, wel-
chen Wert sie auf deren Arbeitstugenden legen und welche Bedeutung diese für
ihre eigene Männlichkeitsvorstellung haben. Auch sie erleben sich unter dem
Druck der Aufwertung männlicher Attribute in Hinblick auf die Erwerbsarbeit,
stehen aber schon früh auf der von Döge beschrieben anderen Seite.
Die Ausrichtung männlicher Identifikation an Arbeit entspricht gesell-
schaftlichen Vorgaben; erreichen die Jugendlichen solche Ziele nicht, kann dies
zu einer Krise führen, die ihre Männlichkeit insgesamt betrifft. In einer Situation
der Ressourcenlosigkeit, fehlender Perspektiven und Misserfolge erleben sie
dies als vergeschlechtlichte Krisensituation, die sie eben dort auch bearbeiten,
also auf einer geschlechtlichen Ebene. Dieser Prozess mündet teilweise in einen
übersteigerten Ausdruck von Maskulinität. Institutionell halbherzige Angebote
der Integration, wie es beispielsweise die Jugendwerkstatt darstellt, sind für sie
kein Ausweg. Abdul erzählt, dass er in der Jugendwerkstatt weder einen Sinn
für seine Zukunft entdecken konnte noch mit der dort herrschenden Disziplinie-
rung klarkam.
Einen scheinbaren Ausweg aus dieser Situation bietet der Weg in illegali-
sierte Märkte wie beispielsweise das Drogenmilieu. Für die Jugendlichen stellt
dies eine sinnhafte Form der Bearbeitung ihrer als zwanghaft erfahrenen Lage
Eine andere Seite männlicher Gewalt 299
dar. In einigen Biografien finden sich dann durchaus auch ‘erfolgreiche’ Karrie-
ren innerhalb des illegalen Milieus. In den biografischen Erzählungen der Ju-
gendlichen zeigt sich etwa die Konstruktion eines Arbeitsethos, und wie sie sich
durch diese Arbeit Macht, Bestätigung und Erfolg versprechen. Die Realisie-
rung dieser Ambitionen ist jedoch vielfach begrenzt: Sie ist räumlich begrenzt
auf den Kontext eines spezifischen sozialen Milieus, und strukturell und zeitlich
begrenzt aufgrund der repressiven Bedingungen, denen diese Milieus durch die
gesellschaftlichen Ordnungsmächte, vor allem durch die Polizei, ausgesetzt
sind. Trotz der Schwierigkeiten innerhalb des Milieus und trotz seiner Instabili-
tät, sehen die Jugendlichen mit Migrationshintergrund hierin oftmals die einzige
Option, sich ökonomisch zu etablieren und sich symbolisch mit mehr Macht
auszustatten. Sie produzieren damit eine zwar fragile, aber dennoch innerhalb
des Systems wirkende ‘inoffizielle’ Form hegemonialer Männlichkeit. Bei der
Produktion und Annäherung an hegemoniale Männlichkeit spielt die Gegner-
schaft eine wichtige Rolle. So kommt beispielsweise dem Abarbeiten an einem
mit Macht ausgestatteten und Männlichkeit verkörpernden Gegner, beispiels-
weise der Polizei, eine besondere Bedeutung zu. Damit zeigen die Jugendlichen
ihre Zustimmung zu und ihre Anerkennung dieser Form männlicher Macht,
auch wenn sie das Abarbeiten daran zu Verlierern prädestiniert.
In den verschiedenen Kontexten des jugendlichen Lebens wird deutlich, dass die
marginalisierte Lage Geschlecht als Ressource relevant werden lässt. Die Ju-
gendlichen versuchen, diese mit verschiedenen Attributen anerkannter Formen
von Männlichkeit auszustatten. Die marginalisierte Lage der Jugendlichen wird
auf unterschiedliche Weise jedoch auch zur Konstruktion von Macht miss-
braucht. Rassistische und vergeschlechtlichte Zuschreibungen sind die Mittel,
diese zu erzeugen. Dies wird im Folgenden am Beispiel des pädosexuellen Mi-
lieus und des Gefängnismilieus konkretisiert.
Bilder ‘richtiger’ Männlichkeit werden nicht nur über das Bild des ‘Arbeits-
mannes’ hergestellt, sondern auch über Gegenbilder. Bestimmte Erfahrungen
und Verhaltensweisen, wie Homosexualität oder Opfer-Sein, werden als nicht
zugehörig zu Männlichkeitsvorstellungen angesehen. Einige der Biografen ha-
ben Opfererfahrungen durch mehrfache Formen von Gewalt, was es notwendig
300 Susanne Spindler
H: Die behandeln uns wie ein Hund hier, weiß ich nich, wir sind immer korrekt zu den
Beamten oder zu wen wat weiß ich zu eine andere, aber die sind nich so korrekt.
I: Hm, und Sie haben gesagt, die hätten Hass auf Ausländer.
H: Ja, eine Chef bei uns, nicht große Chef da vom ganzen Metallwerkstatt da is so groß
Metall, da arbeiten mindestens fünfzig Leute. (...) Ja er sitzt ganze Zeit da und der
macht nur Leute an so t’schuldigung, is schwul so, der macht Leute an so und das...
I: ((unterbricht)) ach so, der macht die wirklich an?!
H: Ja, der macht einen Leute an so ((leise)) /un das is das find ich total scheiße/.
I: Und kann man gar nichts dagegen machen?
H: Was kann man dafür machen, wir sind Gefangene, wir ham kein Recht dazu. (...)
I: Sind Sie denn auch mal angemacht worden von dem.
H: Ich bin von diesem Chef angemacht ja...
I: Ja...
H: Hm...
I: Und was hat der da gemacht?
H: Ja so komische Hand dings, weiß ich nich (2) ((schmunzelnd)) /und da war ich dann
Dreck/ (5) ((leise)) /was solln wir machen/ ja Fehler is bei mir, ich weiß nich warum
ich hier reinkomme.
Hüseyin weist hier auf die Verstrickung der Behandlung als Gefangener im
Arbeitsverhältnis mit Rassismus5 und Sexismus hin und sieht sich auf allen
Ebenen als unterlegen. Bei der Arbeit sieht er sich dem Chef und seiner Willkür
ausgeliefert, als Migrant dessen rassistischer Behandlung und in dieser Zwangs-
situation zusätzlich dessen sexualisierten Übergriffen. Der Rassismus als Mittel
zur Konstruktion von Unterlegenheit des ‘Ausländers’ ergänzt die Konstruktion
der Unterlegenheit als Mann. Das Männersystem stellt Unterlegenheit durch
Entmännlichung her – die Gleichsetzung der Jugendlichen mit einem Tier, ei-
nem Hund, wie Hüseyin und viele andere Jugendliche die Behandlung kenn-
zeichnen6, verleihen dem Nachdruck. Beide Konstruktionen können wechselsei-
tig eingesetzt werden, sie passen ineinander und verstärken einander gegensei-
tig. Dieser Macht sieht sich Hüseyin vollkommen ausgeliefert, schreibt sich aber
die Schuld an der Situation selber zu: „Fehler is bei mir“. Daran zeigt sich auch
der Erfolg einer Körperpolitik, die die Seele aufgegriffen hat, sie gerinnt zum
„Bezugspunkt einer bestimmten Technologie der Macht über den Körper“ (Fou-
cault 1976: 41). Die Macht zielt nach innen, wird zu einer Form der inneren
Kolonisierung. Sie produziert eine ‘Seele’ des Abweichlers, des Anderen, des
Versagers, des Unterdrückten und Kontrollierten, die Teil des Selbstbildes der
Jugendlichen wird. Diese ‘Seelen’-Ausrichtung sorgt dafür, dass den Inhaftier-
ten die Verteidigung ihres Handelns und ihres biografischen Werdens nicht nur
5
Darauf weist zum Beispiel folgende Passage im Interview hin: Hüseyin: „…der sitzt da, so wat
weiß ich, acht Stunden neun Stunden, wenn einer redet oder wenn einer dahin geht oder Toilette
geht, dreht er auch zu drei Stunden (ab ge) zu. Jaa, der hat n Hass auf Ausländer.“
6
Ömür beispielsweise sieht eine Analogie zwischen dem Hofgang im Gefängnis und dem Gassi-
führen von Hunden.
Eine andere Seite männlicher Gewalt 303
institutionellen Kontext der Schule relevant: Struktur und Personal halten ihnen
ständig ihr ‘Anderssein’ vor Augen: Weder ihre Herkunft noch ihre Ge-
schlechtskonstruktionen, die familienbedingt ‘machohaft’ seien, gingen mit den
bestehenden gesellschaftlichen Normvorstellungen konform. Über die eigene
patriarchale Durchdringung der Institution wird dabei hinweggesehen. Die Ju-
gendlichen brechen die Schule vielfach früh ab – für die sich schon abzeichnen-
de Verweigerung einer ‘legalen’ Männlichkeit bedeutet dies eine weitere Ver-
festigung, denn ohne Schulabschluss wird eine erfolgreiche Eingliederung in
den Arbeitsmarkt weiter erschwert. Die Jugendlichen müssen nun andere Räu-
me suchen, um sich zu positionieren. Rassismus legt sich immer mehr über die
jugendlichen Geschlechtskonstruktionen, indem er ihre Männlichkeit als abwei-
chende thematisiert. An den Jugendlichen verübte sexualisierte Gewalt macht
körperlich-rassistische Erfahrungen deutlich und ihre Männlichkeit zu einer
‘unterworfenen Männlichkeit’. Der kindliche bzw. jugendliche Körper, vor
allem wenn an ihm im sexualisierten Milieu Gewalt und Rassismus ausgelebt
werden, wird so zu einem ‘ethnischen Körper’.
Nach der Verweigerung anerkannter Männlichkeit suchen die Jugendlichen
Auswege, dazu gestalten sie ihre Männlichkeit vielfach gewalttätig aus. Ihnen
stehen dabei nur wenige Ressourcen zur Verfügung, hierzu gehört vor allem
Gewalt, die in ihrem Alltag eine Form von Normalität darstellt. So schließen sie
sich teilweise in Cliquen zusammen, die als Männerbünde männliches Ge-
schlecht und migrantische Herkunft zum Merkmal der Zugehörigkeit definieren.
Gewalttätige Männlichkeit können die Jugendlichen hier gemeinsam ausleben.
Im Prinzip agieren sie wie andere Männerbünde auch – bloß sind sie am anderen
Ende der Skala hegemonialer Männlichkeit situiert. In ihren Auseinanderset-
zungen arbeiten sie sich dann allerdings an Repräsentanten hegemonialer Männ-
lichkeit und staatlicher Macht ab, an ‘starken’ Gegnern, wie beispielsweise der
Polizei. Dies kann als Versuch interpretiert werden, sich überlegener Männlich-
keit anzunähern, tatsächlich entfernt es sie aber immer weiter davon. Ihre un-
terworfene Männlichkeit verkehren sie in Gewalt, körperliche Auseinanderset-
zungen sind ihr Mittel. Für einen Gegner wie die Polizei reicht das sicher nur
bedingt und eng begrenzt auf einzelne wenige Kontexte und Situationen. Struk-
turell sind sie in dieser Auseinandersetzung vielmehr stets die Unterlegenen, die
durch männliche Milieus oder Institutionen immer wieder auf ihre untergeord-
nete Stellung verwiesen werden. Gewalttätigkeit als Ausdruck von Männlichkeit
ist für die Jugendlichen eine mögliche Reaktion, mit der sie Ausschluss und
Unterordnung mit der ihnen verbleibenden Ressource Geschlecht begegnen
wollen. Diese Gewalt verstärkt den Prozess jedoch, denn sie ist gesellschaftlich
nicht erlaubt und bringt ihnen zum wiederholten Mal den Vorwurf ein, ihre
Männlichkeit nicht im Griff zu haben.
Eine andere Seite männlicher Gewalt 305
Damit werden sie zur Gefahr: Grund genug, sie aus- oder wegzuschließen. Das
Gefängnis kann damit als ein vorläufiger Endpunkt marginalisierter Männlich-
keit angesehen werden. Ordnungen von über- und unterlegener Männlichkeit
sind hier unverrückbar festgelegt. Daher werden eigene Ausformulierungen von
Geschlecht immer belangloser, Aufbegehren macht subjektiv immer weniger
Sinn. Wenn selbst das Geschlecht nicht mehr wichtig sein darf, führt das in
letzter Konsequenz zu einer subjektiv erlebten und strukturell sich vollziehen-
den ‘Ent-Männlichung’.
Um die Relevanz von Geschlecht im vorliegenden Kontext auszuloten, hat
sich die Anwendung einer intersektionelle Analyse als dienlich erwiesen, denn
mit ihr geraten auch institutionelle sowie Milieukontexte in den Blick, die ober-
flächlich betrachtet weder mit der Kategorie Geschlecht noch mit Herkunft in
Verbindung stehen. Die intersektionelle Analyse fordert auch ein, auf den ersten
Blick offenkundige Differenzerklärungen zu hinterfragen, um die soziale Posi-
tionierung des Subjekts zu analysieren, damit auch Identitätskonstrukte, die an
der Kreuzung von Differenzlinien liegen, zu analysieren (vgl. Lutz/Davis 2005:
231). Die Arbeit mit Biografien eignet sich dafür, da sie kontextbezogen die
Position des Sprechers/der Sprecherin bestimmt und auch ihrer Entwicklung und
Wandlung Raum lässt.
Betrachtet man die Eingebundenheit einiger Jugendlicher in sexualisierte
Milieus, ihre Auseinandersetzungen mit der Polizei und im Gefängnis, so wird
deutlich, dass es um ihre in Bedrängnis geratene Männlichkeit geht. Die Not-
wendigkeit der Ausdifferenzierung der Kategorie Mann wird dabei sichtbar:
Männlichkeit, auch wenn sie mit Gewalt gepaart ist, kann nicht, einem Automa-
tismus gleich, mit Macht oder Patriarchat gleichgesetzt werden. Andere Linien
durchkreuzen diesen Zugang zu gesellschaftlicher Macht – auch wenn für die
Jugendlichen die Herstellung von Macht durch Geschlecht immer noch am
ehesten realisierbar scheint. Vor allem der Blick auf das pädosexuelle Milieu
zeigt, dass Hierarchien eben auch unter Männern ausgearbeitet werden. Die
Gewalt, die die Jugendlichen dann in ihren Taten anwenden, lässt sich als Aus-
druck des Zusammenspiels der biografischen Situation, ihrer besonderer Prob-
lemlagen aufgrund der Herkunft und ihres Widersetzens gegen die gesellschaft-
liche Einordnung verstehen, die wesentlich geschlechtlich bedingt ist und damit
großen Einfluss auf die Subjektpositionierung bekommt.
Und eben auch im Hinblick auf den Migrationshintergrund zeigen sich bei
den Jugendlichen weitere Differenzlinien, die im Hintergrund wirken: Das für
Inhaftierte im Allgemeinen und für inhaftierte Jugendliche im Besonderen an-
gestrebte Ziel einer ‘Resozialisierung’ ist für Migranten nicht vorgesehen. Zu
ihrer Verurteilung als Verbrecher kommt die Verurteilung als ‘Ausländer’: Für
Migranten gelten nicht nur besondere Regelungen in der Haft, sondern das Aus-
306 Susanne Spindler
ländergesetz wirkt sogar über die Haftzeit hinaus durch die (drohende) Abschie-
bung.7 Hier wird nun endgültig deutlich, dass sie nicht dazu gehören sollen. Die
Definition nicht als Jugendlicher oder als junger Mann, sondern als ‘Ausländer’
steht im Mittelpunkt und das spiegelt sich auch in Bezug auf die Zuschreibung
von Körperlichkeit und das eigene Erleben des Körpers wider:
Die Herausbildung von Formen der Männlichkeit und der Bedeutung männlicher Körper ist in
der globalen Gesellschaft immer noch mit Rassismus verbunden. ‚Rasse‘ wurde und wird
nach wie vor als Hierarchie der Körper verstanden und dies verbindet sich unauflöslich mit
einer Hierarchie von Männlichkeiten. (Connell 2000a: 82)
Der Körper, wie ihn Connell hier als Kreuzungspunkt von Macht versteht, wird
zum Anlass für Differenzierungen und damit verbundenen Hierarchisierungen
genommen. In den jugendlichen Biografien zeigt sich, wie Geschlecht und
‘Ethnizität’ relevant werden und Rassismus und Vergeschlechtlichung unmittel-
bar aufeinander bezogen sind. Der ‘eigene’ und der ‘andere’ Körper spannt die
Jugendlichen in das hegemoniale System von Männlichkeiten ein. So produzie-
ren sie auch mittels ihres Körpers Gegenentwürfe, ziehen sich auf ihn zurück,
machen ihn zum ‘bedrohlichen ethnischen’ Körper.
Die Reduktion der Jugendlichen auf Körperlichkeit und bestimmte damit
verbundene Ausdrücke von Maskulinität haben ihre Genese in diversen lebens-
geschichtlichen Kontexten. Zugleich zeigt sich in den Biografien, dass immer
mehr Möglichkeiten zur Lebensgestaltung wegfallen und dies die Reduktion
vorantreibt. Männlichkeit wird zu einer letzten verbleibenden Ressource, die sie
rigoros ausbeuten, die sie bearbeiten müssen, indem sie ihre Körper überbeto-
nen. Sie werden zur Gefahr, unkontrollierbar, bedrohlich; etwas anderes, als den
Körper in seiner symbolischen Bedeutung zu überhöhen, bleibt ihnen kaum
übrig (vgl. Lenz et al. 2004: 8). Immer mehr auf den eigenen Körper zurückge-
7
Die Ausweisung begründet der Staat mit der Annahme, dass der weitere Verbleib des ‘Auslän-
ders’ eine potenzielle Gefahr darstellen könnte. Nach § 47 II AuslG schiebt der Staat in der Re-
gel diejenigen ‘Ausländer’ ab, die gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen und diejenigen,
die zu einer Jugendstrafe von über zwei Jahren ohne Bewährung verurteilt werden. Verbindlich
wird eine Abschiebung bei einer Jugendstrafe ab drei Jahren (§47 I AuslG). 1997 saß jeder vier-
te inhaftierte Jugendliche ohne deutschen Pass wegen eines Betäubungsmittel-Delikts im Ge-
fängnis (vgl. Wirth 1998: 282). Die Interviewpartner fallen meist unter den Kriterienkatalog:
Viele verbüßen längere Strafen, die oft mit Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz ver-
bunden sind. Auf die von mir interviewten Jugendlichen trifft ein besonderer Ausweisungs-
schutz (§48 AuslG) faktisch nicht zu. Auch die Kinder von Gastarbeitern haben aufgrund der
vorangegangenen Straffälligkeit meist nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis, da erst ab dem
16. Lebensjahr unabhängig vom Aufenthaltsstatus der Eltern eine verfestigte Aufenthaltsge-
nehmigung vorgesehen war. Zugleich sind sie damit automatisch aus dem Einbürgerungsverfah-
ren der Eltern ausgeschlossen (vgl. Tekin 2003: 311).
Eine andere Seite männlicher Gewalt 307
worfen realisieren sie allerdings auch, dass dieser kein Bestandteil eines großen
‘gemeinsamen Körpers’, des ‘nationalen Körpers’, der imaginierten weißen
‘Volksgemeinschaft’ ist. Diese produziert sich jedoch über jene Abgrenzung zu
ihnen und weiteren Anderen. Sie schreibt damit zugleich Hierarchien in die
Körper ein – die jugendlichen Körper sind nicht ihre ‘Privatsache’, sondern ein
hochpolitisiertes Konstrukt.
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Symbolische Kämpfe von Jungen mit türkischem
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Martina Weber
Wir wollen solche Menschengruppen, welche aufgrund von Ähnlichkeiten des äußeren Habi-
tus oder der Sitten oder beider oder von Erinnerungen an Kolonisation und Wanderung einen
subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinschaft hegen, derart, dass dieser für die
Propagierung von Vergemeinschaftung wichtig wird, dann, wenn sie nicht ‚Sippen‘ darstellen,
‚ethnische‘ Gruppen nennen, ganz einerlei, ob eine Blutsgemeinschaft vorliegt oder nicht
(Weber 1956 [1922]: 307).
310 Martina Weber
Ethnizität wird hier als eine relationale Kategorie verstanden. Sie umfasst nicht
nur den subjektiven Glauben an die eigene Abstammungsgemeinschaft, sondern
auch Differenzkonstruktionen, nach denen andere Menschen fremden ethnischen
Gruppen mit entsprechenden kulturellen Merkmalen zugeordnet werden. Dabei
bedingen sich Selbst- und Fremdethnisierung wechselseitig, indem sich ethni-
sche Gruppen über ihre eigenen kulturellen und historischen Eigenheiten in
Abgrenzung zu anderen definieren.1
Ethnische Unterscheidungen stehen in Einwanderungsgesellschaften nicht
gleichwertig nebeneinander, sondern sind hierarchisch organisiert. In Deutsch-
land zeigen sich ethnisierende Fremdheitskonstruktionen und damit verbundene
Abwertungen insbesondere im Bezug auf MigrantInnen aus der Türkei. Im
common sense wird bei dieser Bevölkerungsgruppe insbesondere das Bild einer
rigiden Frauenunterdrückung kolportiert. Die teilweise dramatischen Beschrei-
bungen der Lebensverhältnisse stützen sich auf zwei (kombinierbare) Erklä-
rungsmuster: Islamische Religionszugehörigkeit legitimiere weibliche Nachran-
gigkeit (vgl. u. a. König 1989; Riesner 1990; Scheinhardt 1985). Vormoderne
Formen der Geschlechterbeziehungen würden die Frauen und Mädchen dem
Diktat von Ehemännern, Vätern, Brüdern und anderen männlichen Verwandten,
denen sie zu Gehorsam verpflichtet seien unterwerfen (vgl. u. a. Esser 1982;
Schneider-Wohlfahrt 1982; Straube 1987).
Die Popularität der Vorstellung ‘typisch türkischer’ Geschlechterkonzepte
fand vor allem in den 1980er Jahren in zahlreichen Publikationen Verbreitung.
Die Perspektive dieser Literatur ist vor allem von den Konzepten der ausländer-
pädagogischen Fördermaßnahmen dieser Zeit bestimmt. Seit dem Anwerbe-
stopp für ausländische Arbeitskräfte im November 1973 verfolgten die Regie-
rungen der Bundesrepublik eine ausländerpolitische Doppelstrategie: Auf der
einen Seite wurde durch immer weitere Verschärfungen des Ausländer- und
Asylverfahrensgesetzes versucht, den Zuzug von AusländerInnen, später auch
von AussiedlerInnen, zu begrenzen, auf der anderen Seite wurde eine Fülle von
Projekten staatlich finanziert, die Beratungs- und Kursangebote für die Integra-
tion von MigrantInnen bereitstellten. Im Umfeld dieser ausländerpädagogischen
Maßnahmen entstanden in großer Zahl pädagogische, vor allem sozialpädagogi-
sche, Veröffentlichungen, die Hintergrundwissen für dieses neue pädagogische
Betätigungsfeld zur Verfügung stellen wollten. Diese Berichte gaben aber auch
– gerade, wenn sie dramatisch ausfielen – den Projekten Begründungen für die
Akquise öffentlicher Fördergelder. Einen Schwerpunkt bildete hier die Betrach-
tung der Lebenslagen von Frauen und Mädchen aus der Türkei, da davon ausge-
1
Zum Konzept der Ethnisierung vgl. Bukow/Llaryora 1988.
Ethnisierung und Männlichkeitsinszenierungen 311
gangen wurde, diese Gruppe habe besondere Schwierigkeiten bei ihrer Integra-
tion in die bundesrepublikanische Gesellschaft.2
Seit dem Anschlag auf das New Yorker World Trade Center am 11. Sep-
tember 2001 erfährt diese Debatte eine Renaissance in Deutschland. Im gegen-
wärtigen Mainstream stehen Medienberichte über das Vorrücken eines politisch
gefährlichen Islamismus. Im Zuge dieser Debatte herrscht auch ein großes pub-
lizistisches Interesse an Frauen mit Kopftuch, an sogenannten ‘Ehrenmorden’
oder an der ‘fremden Braut’ (vgl. Kelek 2005), die den Nachweis dafür erbrin-
gen sollen, dass sich ehemalige MigrantInnen aus der Türkei nicht mehr um
Integration bemühten und sich stattdessen in eine vermeintliche ‘Parallelgesell-
schaft’ zurückgezogen hätten. Erneut wird in solchen Schilderungen des Lei-
dens von Frauen das Bild erzeugt, dass Männer mit türkischem Migrationshin-
tergrund Profiteure eines kulturell bedingten Patriarchats seien.
Nicht thematisiert wird in diesem Zusammenhang die zunehmende He-
rausbildung einer ethnischen Unterklasse. Diese zeigt sich unter anderem in den
Bildungsverläufen, besonders bei Jungen mit türkischem Migrationshintergrund,
die besonders ungünstige Bedingungen aufweisen. Sie erreichen weniger höhere
Bildungsabschlüsse und besuchen häufiger Sonderschulen; die Arbeitslosigkeit
ist bei diesen Jugendlichen doppelt so hoch wie bei autochthonen (vgl. Bednarz-
Braun/Heß-Meining 2004; Ianelli 2003). Eine solche ethnisch codierte Klassen-
lage bildet die sozialen Rahmenbedingungen für Männlichkeitsinszenierungen.
zen. Durch ihre Lebensstile demonstrieren die AkteurInnen ihre soziale Position
und entschlüsseln die der Anderen (vgl. Bourdieu 1992a). Unterschiedliche
Praxen koexistieren nicht gleichberechtigt, sondern stehen miteinander in Kon-
kurrenz um Legitimität. Sozial bedeutend wird das ökonomische, kulturelle und
soziale Kapital als symbolisches Kapital, als der Grad der sozialen Wertschät-
zung der Kapitalarten bzw. der seines Besitzers und seiner Besitzerin (vgl.
Bourdieu 1997: 311). Das symbolische Kapital steigert oder schmälert den Ge-
winn, der aus ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital gezogen wer-
den kann. In legitimen Formen verleiht es Macht und die Fähigkeit zur Ausbeu-
tung. Dem stehen in der Hierarchie entgegengesetzt die illegitimen Ressourcen
des „stigmatisierten Paria gegenüber, der – wie der Jude zur Zeit Kafkas oder
heute der Schwarze in den Ghettos oder der Araber oder Türke in den Arbeiter-
vierteln der europäischen Städte – mit dem Fluch eines negativen symbolischen
Kapitals geschlagen ist“ (ebd.: 310).
Doch nicht nur das mobilisierbare Kapitalvolumen, die Menge der akku-
mulierten Kapitalien und dessen Anerkennung entscheiden über die Position in
den Gesellschaftshierarchien. Konkurrenzkämpfe werden in unterschiedlichen
sozialen Feldern ausgetragen, in denen bestimmte Kapitalarten dominieren, zum
Beispiel das kulturelle Kapital im Feld der Bildung. Es kommt somit darauf an,
die jeweils passende Kapitalkonfiguration, die Zusammensetzung nach einzel-
nen Kapitalarten, zu haben und diese geschickt einzusetzen. Diesen „Sinn für
das Spiel“ bezeichnet Bourdieu als den Habitus der AkteurInnen. Er wird in
Sozialisationsprozessen verinnerlicht und ist auf das Feld abgestimmt durch
einen langwierigen dialektischen Prozess, „durch den man ‘sich zu dem macht’,
durch das man gemacht wird, ‘wählt’, was einen wählt, und an dessen Ende die
verschiedenen Felder genau zu den Handelnden kommen, die mit dem für das
reibungslose Funktionieren dieser Felder erforderlichen Habitus ausgestattet
sind“ (Bourdieu 1993: 124).
Die Positionierung der AkteurInnen im Raum und die Abstände zueinander
entstehen in sozialen Kämpfen um die Aneignung und Verteilung knapper Gü-
ter: Kapital und gesellschaftliche Macht. In der Konkurrenz um soziale Positio-
nen werden symbolische Kämpfe um legitime Lebensstile geführt, die als Dis-
tinktionsmerkmale fungieren. Insofern lässt sich neben Kapitalvolumen und -
konfiguration als dritte Dimension die soziale Laufbahn für die Positionierung
des Akteurs/der Akteurin bestimmen. Die MachtinhaberInnen und Alteingeses-
senen in einem Feld bewahren und steigern den Wert ihrer (auch ererbten) Kapi-
talien durch Kontinuität der Spielregeln und -einsätze, sie verfolgen eine Strate-
gie der Orthodoxie. Aufstrebende und Neuankömmlinge im Feld profitieren
eher von einer Unterwanderung der Struktur, um ihre Ressourcen möglichst
Ethnisierung und Männlichkeitsinszenierungen 313
gewinnbringend zur Geltung zu bringen, sie verfolgen eher eine Strategie der
Häresie (vgl. Bourdieu 1992b: 180 ff).
Wie sich soziale Distinktionen auf geschlechtliche Darstellungen und Iden-
tifikationen auswirken, kann im Anschluss an Robert Connells Konzept der
hegemonialen Männlichkeit weiter konkretisiert werden (vgl. Connell 1999).
Demnach konstituiert sich Männlichkeit westlich-kapitalistischer Geschlechter-
ordnungen sowohl in Überlegenheitsansprüchen gegenüber Weiblichkeit als
auch durch die Binnenrelationen innerhalb geschlechtshomogener Hierarchien,
die in symbolischen Kämpfen ausgehandelt werden. Connell stellt heraus, dass
die jeweilige Verfügung über soziale Ressourcen den Möglichkeitsraum für
verschiedene Handlungsmuster von Männlichkeit differenziert.
Hegemoniale Männlichkeit bezeichnet das vorherrschende kulturelle Ideal,
ist mit kultureller Autorität und mit institutioneller Macht ausgestattet und wird
durch die sozialen Führungspositionen in Wirtschaft und Politik repräsentiert.
Die Herrschaft hegemonialer Männlichkeit bezieht sich sowohl auf Frauen als
auch auf männliche Angehörige sozial nachrangiger Gruppen. Untergeordnete
Männlichkeit bezieht sich nach Connell auf solche Männlichkeitsformen, die
symbolisch verweiblicht werden, dies betrifft insbesondere die kulturelle Stig-
matisierung Schwuler. Komplizenhafte Männlichkeit ist ein Handlungsmuster,
das von der hegemonialen Männlichkeit profitiert, aber nicht die Ressourcen für
die Umsetzung dieses Leitbildes hat und damit nicht deren normativen Ansprü-
chen genügt. Gleichwohl profitiert dieser Typus vom Prestige hegemonialer
Männlichkeit, an der er sich orientiert, in Form einer „patriarchalen Dividende“
(ebd.: 100). Komplizenhafte Männlichkeit ist in weiten Teilen der beherrschten
Klassen zu finden, anders gesagt: sie ist statistisch der Normalfall. Männlichkei-
ten differenzieren sich nach Connell schließlich weiter entlang der Kategorie
Ethnizität und sozialer Randständigkeit aus. Er bestimmt damit als vierten Ty-
pus den der marginalisierten Männlichkeit und bezeichnet damit „die institutio-
nelle und physische Unterdrückung [...], welche den Rahmen für die Konstruk-
tion einer schwarzen Männlichkeit bilden“ (ebd.: 101). Hier strukturieren ethni-
sche Diskriminierung und Ressourcenarmut die internen Relationen der Ge-
nusgruppen.
In den nachstehenden Abschnitten werden konkrete Männlichkeitsinszenie-
rungen im Schnittpunkt von sozialer Unterprivilegierung und Ethnisierung be-
leuchtet. Es kommen Jungen mit türkischem Migrationshintergrund zu Wort, die
sich gegen die soziale Position des stigmatisierten Parias wehren. Sie verfügen
über wenig legitimes ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital. Im Kampf
um Anerkennung innerhalb des Systems hegemonialer Männlichkeit bringen sie
physische Stärke und Gewalthandlungen als Ressource ein, um dennoch dem
„männlichen Überlegenheitsimperativ“ (Friebel 1995) zu entsprechen.
314 Martina Weber
Die folgenden empirischen Beispiele sind einer Fallstudie von Cengiz Deniz
(2001) entnommen, in der sechs Jungen mit türkischem Migrationshintergrund
im Alter zwischen 14 und 18 Jahren in biografischen Interviews befragt wurden.
Alle Jungen leben in Erziehungsheimen, ihre Lebensverhältnisse sind von Ar-
mut geprägt. In materieller Hinsicht (ökonomisches Kapital) kämpfen sie mit
Geldknappheit, bildungsbezogen (kulturelles Kapital) haben sie Erfahrungen
des Scheiterns hinter sich,3 aufgrund prekärer Familienverhältnisse (soziales
Kapital) leben sie in Einrichtungen der öffentlichen Erziehung. Ihre Peer-
Groups sind insofern sozial homogen, als dass die Freunde dieser Jungen eben-
falls sozial unterprivilegiert sind. Eine solche Kapitalkonfiguration ist eine
schlechte Startvoraussetzung im Konkurrenzkampf um gesellschaftliche Aner-
kennung. Das wissen die Jungen selbst auch, sie wissen, dass sie nicht über die
passenden Ressourcen verfügen, um den Überlegenheitsanspruch hegemonialer
Männlichkeit zu erfüllen, und somit kaum Chancen haben, auf legitimen (und
legalen) Wegen sozial aufsteigen zu können. Eine Antwort der Jungen auf diese
Lage ist der Zusammenschluss in delinquenten Cliquen.
In der Auseinandersetzung mit ihrer sozialen Lage zeigt sich bei den inter-
viewten Jungen eine Idealisierung physischer Stärke. In der von Armut und
sozialem Ausschluss geprägten Lebenslage wird der Körper zum Kapital, um zu
legitimer Anerkennung zu kommen. Zum Ausdruck kommt dies beispielsweise
im Streben nach sportlichen Erfolgen. So berichtet der achtzehnjährige Levent
etwa:
L: und in der Schule da war ich schon / sehr gut darauf ((schnell)) so mit Sport und alles
... wir hatten da immer so dings gemacht, wie nennt man das immer so diese Jugend-
sport oder ähh [...]
I: ähh Bundesjugendspiele
L: ja / ja Bundesjugendspiele ((erfreut)) / und dann bin ich da immer gelaufen so .. ge-
sprungen und so alles [...] und die haben da so eine extra Urkunde gemacht, ich hab
ich hab da so dann drei Urkunden gekriegt dann so weißt du und die anderen nur ei-
nes. (Deniz 2001: 49)
Dies ist die einzige Interviewpassage, in der Levent von seiner Schulzeit erzählt,
die er in der Sonderschule verbrachte. Es ist ein Erfolgsbericht. Obwohl die
Bundesjugendspiele nur einmal jährlich stattfinden, nehmen sie durch die drei-
malige Nennung „immer“ in der Retrospektive auf den Schulalltag eine heraus-
3
Einer der Jungen besucht zwar die Realschule, wurde aber vom Gymnasium dorthin versetzt;
ein anderer besuchte eine Sonderschule; auch die übrigen verfügen maximal über einen Haupt-
schulabschluss.
Ethnisierung und Männlichkeitsinszenierungen 315
ragende Stellung ein. Levent berichtet stolz, er habe mehr Urkunden als alle
anderen bekommen, und es sei sogar eine extra Urkunde angefertigt worden, um
seine exzellenten Sportleistungen würdigen zu können.
Der Sportstar ist ein Musterbeispiel männlicher Stärke, steht aber auch für
die Hoffnung auf einen Ausweg aus dem Elend der Marginalisierung. Loïc
Wacquant (2003) hat in einer ethnografischen Studie über Boxsport den Sinn
eines harten Sporttrainings für den Paria aus einer US-amerikanischen Vorstadt
detailreich herausgearbeitet. Er beschreibt die Bedeutung des gemeinsamen
Kampftrainings für die sozial Ausgegrenzten:
Das gym [die Boxhalle, d. V.] dient in erster Linie zur Isolation von der Straße und bietet eine
Art Schutzschild gegen die Unsicherheit des Ghettos und die Unbillen des täglichen Lebens.
Es bietet, einer heiligen Stätte vergleichbar, einen geschützten, abgeschirmten und nicht all-
gemein zugänglichen Raum, der es möglich macht, sich den täglichen Leiden einer allzu all-
täglichen Existenz und dem trüben Schicksal zu entziehen, das Kultur und Ökonomie der
Straße für junge Menschen bereithalten, die im schwarzen Ghetto geboren wurden und einge-
schlossen sind, diesem Raum, der allgemein verabscheut wird und sich selbst überlassen
bleibt. (Deniz 2001: 20)
Hier zeigen sich Parallelen zur Praxis der Jungen mit türkischem Migrationshin-
tergrund, die sich zu Straßengangs zusammenschließen: Prügeleien und Überfäl-
le bieten Abenteuer und Ablenkung vom tristen Elend, aber auch Erfolgserleb-
nisse und Momente der Macht. Zwischen dem geregelten Kampfsport mit sei-
nem asketischen Training und der Gewalt der Straße besteht die Gemeinsamkeit
eines plebejischen Männlichkeitskults mit einer Idealisierung und demonstrati-
ven Inszenierung von Eigenschaften wie Stärke, Härte, Aggressivität und
Durchsetzungskraft. Der Unterschied zum Kampftraining im gym besteht darin,
dass Jungen in Cliquen die Etablierten in Angst versetzen und dadurch Macht
über sie ausüben können, wenn sie physisch überlegen und gewalttätig auftre-
ten. Solche Männlichkeitsinszenierungen können als „Kodex der Rache“ (Con-
nell 1999: 138) gesehen werden, die Außenseiter zahlen es denjenigen heim, die
sie missachten und sie versuchen, sich mit Gewalt die Konsumgüter zu ver-
schaffen, die sie auf legalem Weg nicht bekommen können.
Das System hegemonialer Männlichkeit, das im Kontext von sozialer
Randständigkeit modifiziert wird, zeigt sich in der Praxis des ‘Rippens’, der
Überfälle auf der Straße. So betont Tahir im Interview mit Deniz einen männli-
chen Ehrenkodex, indem Frauen, Alte und Kinder als Opfer nicht in Frage kä-
men:
T: und halt ähh bin ich so ähhmm meistens (((zögernd))) so abends losgegangen hab ich
Einbrüche gemacht, damit ich Geld hatte, weißt du.
I: Alleine?
316 Martina Weber
T: Alleine oder mit Freunde, – aus der Clique weißt du und ähhh meistens haben wir Leu-
te gerippt nachts, weißt du, zum Beispiel kam jemand um die Ecke so ein Typ oder so
ein Besoffener, wir haben aber einen Vorteil gehabt, wir haben nie alten Leuten oder
Frauen was getan. Oder Kindern oder Frauen weißt du, wir haben halt nur Männer oder
Jugendliche oder so, haben wir immer gerippt (((schnell))) und wir haben uns meistens
immer so Besoffenen auch, --wir haben den CS-Gas ins Gesicht gesprüht, Portemon-
naie rausgenommen und Tritte gegeben, dann lag der auf dem Boden und dann ging`s
schon ab das. (Deniz 2001: 136)
Deutlich zeigt sich der Sinn für das Spiel im System hegemonialer Männlichkeit
auch innerhalb der homosozialen Subkultur, wenn in körperlichem Kampf
‘Mann gegen Mann’ der Status innerhalb der Gruppe ausgehandelt wird. So
berichtet Levent von seiner Anfangszeit im Jugendgefängnis, dass er dem
„Knastboss in die Fresse gehauen“ habe, in der Folgezeit hätten sich beide
Kontrahenten den Führungsanspruch geteilt (vgl. Deniz 2001: 56). Auch im
Heim habe er sich auf diese Weise Respekt bei den anderen Jugendlichen ver-
schafft. In diesen symbolischen Kämpfen darf man sich nicht an Schwächeren
vergreifen. Im Gegenteil, es gehört zur hegemonialen Männlichkeit innerhalb
der Subkultur, Schwächere zu beschützen, wie Levent berichtet:
L: hier die Kinder ähh hier die Jungs so die haben so Probleme oben gehabt [...] sind die
zu mir gekommen und einer hat dann gemeint, ja der und der, der schlägt mich immer
und dann bin ich da hoch, ihm auf die Fresse gehauen, der der die Kinder geschlagen
hat, na ja und ich bin dann durch alle Gruppen gegangen [...] hab ich dann immer ge-
schrien [...] ey wenn jemand hier noch mal so kleine Kinder schlägt, dem hau ich ein
paar auf die Fresse, also da hat keiner was gemacht [...] na ja dann kamen die Erzieher
noch jetzt zu mir, / Heimleiter weißt du ((amüsiert)) / hat der Heimleiter gemeint, hier
wir sollten dich mal als Sheriff hier mal einstellen, weißt du, was war das denn für eine
Scheiße hab ich dann gemeint ... ja .. also die haben mich dann immer so gesehen, der
Verteidiger der .. Schwachen so weißt du. (Deniz 2001: 71f.)
Auch an anderer Stelle des Interviews berichtet Levent von seinen Erfolgen als
ritterlicher Beschützer, so habe er die Meisterin in seiner Berufsausbildung zum
Maler und Lackierer einmal in einer Diskothek vor den Nachstellungen eines
Gastes bewahrt und sie ein anders Mal mit ihrem Kind vor den Nachstellungen
ihres gewalttätigen Ehemannes beschützt.
In seinem sozialen Umfeld kann Levent immer wieder seine körperliche
Stärke und seinen Kampfesmut nutzen, um Anerkennung zu erhalten. Auch in
seinen Zukunftsplanungen setzt er auf sein Körperkapital. Er hat nicht eine
Anstellung in seinem Ausbildungsberuf vor Augen, sondern entwirft eine kri-
minelle Karriere:
L: ins Fremdenlegionär wenn die mich aufnehmen mach ich da gibt es ja noch Aufnah-
meprüfungen [...] wenn ich dann wieder zurück bin da mach ich mir mach ich eine sehr
tolle so auch was weißt du auch so erst mal so klein anfangen und dann immer größer
Ethnisierung und Männlichkeitsinszenierungen 317
[...] wenn ich also ich schaff das ganz bestimmt zur Mafia weißt du, dann mach ich
schon hoch, ich will dann helfen den Leuten und so weißt du, die so Probleme haben
und auch so Gelder kassieren, wie das Mafia so tut, weißt du normalerweise ... ja schön
ich bin dann in .. in Gefahr weißt du jeden Tag so immer dann so erschossen zu werden
[...] also ich will dann schon was Großes sein weißt du .. und nicht hier .. so klein wie
die alle. (Deniz 2001: 82f.)
Die Genderpraxen, die in der Ethnografie der „Turkish Power Boys“ zum Vor-
schein kommen, sind durch alltägliche Erfahrungen der Stigmatisierung und
durch mangelnde Verfügung über soziale Güter strukturiert. Der Kampf um
Anerkennung ist das Kernthema dieser Jungen. Im Vergleich zu Levent, der im
Interview mit Deniz von der Mafia als Zukunftsvision berichtet, haben sich die
von Tertilt untersuchten Jungen bereits als kriminelle Bande organisiert. Auch
sie träumen davon, als Gruppe später mal groß herauszukommen. So berichtet
Çengizhan im Rückblick:
4
Dabei ist das unterschiedliche Methodendesign der beiden hier vorgestellten Untersuchungen zu
berücksichtigen. Die von Deniz eingesetzten biografischen Interviews bilden die Selbstsichten
der Jungen ab und stellen eine Momentaufnahme dar. Die ethnografische Langzeitstudie, die
Tertilt über zwei Jahre hinweg in der Gruppe durchführte, kann Widersprüchlichkeiten eher ein-
fangen, indem zum Beispiel Selbstsichten der Jungen mit deren tatsächlichen Praxen konfron-
tiert werden.
318 Martina Weber
Vielleicht haben wir das so gemacht, dass wir berühmt werden oder so was. Das hat einer von
uns gesagt, von der Gruppe. Er hat gesagt: „Wir werden berühmt.“ Damals war das okay für
mich, da habe ich kein schlechtes Gefühl gehabt. (Tertilt 1996: 228)
Eine weitere Gemeinsamkeit besteht in der Betonung von Stärke. Hier betonen
die Jungen vor allem die Macht durch das Kollektiv, wie zum Beispiel Veli
formuliert:
Wir sind zurzeit so um die 50, 60 Leute. Das ist, sagen wir mal, um sich den Anderen zeigen
zu können: Guck mal, wie stark ich bin. Sich beweisen, sich den anderen zu beweisen. (Tertilt
1996: 227)
Bei den „Turkish Power Boys“ stehen Eigentumsdelikte auf der Tagesordnung.
Tertilt arbeitet dabei differenzierte Motive der Jungen für Diebstahl und Raub
heraus. Die Bandenmitglieder begründen ihre Eigentumsdelikte zwar auch mit
ihrem Wunsch nach begehrten Konsumgütern, thematisieren daneben aber deut-
lich einen Zusammenhang zu der erlebten Armut und darauf basierender sozia-
ler Konkurrenz, wie zum Beispiel Hayrettin:
So Leute kann ich zum Beispiel sehr gut fertigmachen, die so denken, ich habe eine Chevig-
non-Jacke, die ist besser. [...] Dadurch kam auch dieses Abrippen, das hat auch was damit zu
tun. Die einen haben’s und du nicht. Ja, da nehm ich mir`s halt, da hau ich dem auf die Fres-
se... (Tertilt 1996: 105)
Dass die körperliche Gewalt, die für die Bande eine alltägliche Praxis, nicht nur
ein Spezifikum randständiger Jugendkulturen, ist, sondern dass hier generell
marginalisierte Männlichkeit zum Ausdruck kommt, wird in der Erzählung
Muzaffers deutlich, der von Ermahnungen berichtet, die sein Vater ihm mit auf
den Weg gab, als der Junge einmal auf der Straße verprügelt wurde:
Dann sagt der Vater: „Wozu hast du zwei Hände?!“ Mein Vater ist total ausgeflippt, er hat
gemeint: „Bist du denn dumm oder was? Lässt dich einfach schlagen“, verstehst du, und:
„Hier musst du dich erst recht schlagen in Deutschland, um deine Rechte weiterzubringen.“
(Tertilt 1996: 208)
Der von Muzaffer zitierte Vater formuliert nicht nur sein Verständnis nach legi-
timer Gegenwehr, sondern deutet darüber hinaus auf einen migrationsspezifi-
schen Hintergrund durch die Formulierung, dass der Junge sich in Deutschland
„erst recht schlagen“ müsse. Stärker als die von Deniz interviewten Jungen
stellen die Power Boys ethnische Zugehörigkeit und damit verbundene Stigma-
tisierungserfahrungen heraus. Der Zusammenschluss als Bande und die Ideali-
sierung aggressiver Stärke wird von den Jungen nicht nur als Männlichkeitsideal
und Medium zur Beschaffung ökonomischer Ressourcen beschrieben, sondern
Ethnisierung und Männlichkeitsinszenierungen 319
I. Und zu uns sagen die „Scheißtürken“. Obwohl, wir sind schlimm, okay, damit haben
die auch recht. Aber es gibt auch andere Jungen, die ganz nett sind. Zu denen sagen die
auch „Scheißtürken“, nur, weil andere Türken so was machen. Wenn die zu einem
„Scheißtürke“ sagen, dann meinen die die ganzen Türken, verstehst du. Aber es gibt
auch Türken, die anständig sind, die so was nicht machen. [...] Und zu denen sagen die
trotzdem auch „Scheißtürken“, „Kanaken“, „Raus mit euch aus Deutschland“, „Wir
wollen euch hier nicht haben!“ So hat die ganze Scheiße überhaupt erst angefangen,
verstehst du.
H. Ich würde das nicht so sagen. Ich würde sagen, die Deutschen haben damit angefangen.
Sagen wir, vor zehn Jahren haben die Deutschen damit angefangen: „Türken nehmen
uns die Arbeitsplätze weg, unsere Wohnungen weg ....“ Nicht wegen Schlägerei, To-
kat-machen – da gab es das ja noch nicht. So haben sie angefangen: „Scheißtürken“.
Das haben sie in die Welt gesetzt. Und die Türken haben dann angefangen: „Ihr sagt zu
uns Scheißtürken“, so, dann machen wir jetzt auch Scheiße: „Zieh mal deine Jacke
aus!“ So hat es angefangen. (ebd.: 233)
Beide Jungen beschreiben, dass sie „Scheiße machen“, weil sie ohnehin als
„Scheißtürken“ angegriffen werden. Eine ethnisierende Ausgrenzung treffe das
gesamte Kollektiv „der Türken“, auch diejenigen, „die anständig sind“. Aus
einer solchen Perspektive wird die Desperado-Mentalität verständlich, die Jun-
gen haben nichts zu verlieren, anständig sein lohnt sich von ihrer Warte aus
nicht und so versuchen sie wenigstens, sich so weit wie möglich schadlos zu
halten.
5 Marginalisierte Männlichkeit
Die Studien von Deniz und Tertilt zeigen Männlichkeitsbilder und Selbstinsze-
nierungen von sozial benachteiligten Jungen mit türkischem Migrationshinter-
grund, die durch eine Idealisierung von Gewalt und körperlicher Stärke charak-
terisiert sind. Diese stehen sowohl in engem Zusammenhang mit sozialstruktu-
rellen Hierarchien als auch mit dem von Connell beschriebenen Typus der mar-
ginalisierten Männlichkeit. Wer nicht über soziales Prestige aufgrund seiner
Herkunft verfügt und in ärmlichen Verhältnissen lebt, wer kein oder wenig
symbolisch anerkanntes ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital vorwei-
sen kann, steht am Rande der Gesellschaft. Aufgrund sozialer Schließungspro-
zesse wird er auch künftig kaum Aussicht auf einen Aufstieg im Machtgefüge
haben. Wie in den ausgewählten Interviews mit den Jungen deutlich wurde,
formulieren diese eine Ausweglosigkeit in ihrem Elend. Aufgrund ihrer macht-
losen Position in der Dominanzgesellschaft verfügen sie nicht über die Ressour-
320 Martina Weber
cen, aus eigener Kraft ihre soziale Lage und ihr öffentliches Ansehen zu verbes-
sern. Eine Möglichkeit des sozialen Aufstiegs scheint für viele der Jungen auf
legitimem Wege nicht gegeben. Sie beginnen trotzig um sich zu schlagen und
behaupten auf diese Weise zumindest ihre Würde und Selbstachtung. Innerhalb
ihrer Peer-Groups erhalten sie damit einerseits wechselseitige Anerkennung und
Solidarität von ebenfalls Unterprivilegierten. Andererseits erfahren sie für sich
selbst Momente der Macht, wenn die angegriffenen Bürgerlichen Angst vor
ihnen haben. Ihre Bewältigungsstrategien deuten auf eine self fulfilling prophecy
hin oder mit den Worten des Jungen Hayrettin formuliert: „ „Ihr sagt zu uns
Scheißtürken“, so, dann machen wir jetzt auch Scheiße“.
Es greift zu kurz, solche Männlichkeitsinszenierungen in ethnisierender
Perspektive als ‘typisch türkisch’ zu deuten oder als vormoderne Geschlechter-
konzepte von Einwanderern aus einer patriarchal organisierten Dorfkultur.5 Die
Auffassungen hegemonialer Männlichkeit, die hier zum Ausdruck gebracht
werden, deuten eher auf Lebensbedingungen in sozialer Randständigkeit als auf
ethnisch-kulturelle oder migrationsspezifische Faktoren hin. Parallelen lassen
sich auch in Inszenierungen randständiger Männlichkeit unabhängig von der
Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe finden.6
Ähnliche kollektive Orientierungen, wie sie hier von den Jungen mit türki-
schem Migrationshintergrund zum Ausdruck gebracht wurden, sind auch in
verschiedenen empirischen Studien als Männlichkeitsideale der Unterklasse
analysiert worden (z.B. Willis 1977; Mac an Ghaill 1994; Laberge/Albert 1999;
Phoenix/Frosh 2001). Der moderne Paria in verfestigter Armut ist heutzutage
immer häufiger auch Sohn einer autochthonen Familie im sozialen Brennpunkt.
Den Idealen der hegemonialen Männlichkeit (ökonomischer Erfolg, angesehene
Lebensstile) steht hier die objektive Lebenslage entgegen, die gekennzeichnet
ist durch prekäre Berufstätigkeit oder Arbeitslosigkeit, niedrige formale Bildung
und geringen sozialen Einfluss. Mit Connell können klassenspezifische Hand-
lungsmuster männlicher Delinquenz mit dem Ziel, dem männlichen Überlegen-
heitsimperativ zu entsprechen, als „protestierende Männlichkeit“ (Connell 1999:
132 ff.) bezeichnet werden, verstanden als eine aktive Auseinandersetzung mit
sozialer Unterprivilegierung.
Durch strukturelle Barrieren sind legitime Formen des Kapitalerwerbs
kaum zu realisieren. Mit der Betonung von Körperkapital können im System
hegemonialer Männlichkeit Misserfolge im Erwerb von Geld, Wissen, Prestige
5
Vgl. Geißler 2002.
6
So kommt auch die Schweizer Untersuchung von Anne Juhasz und Eva Mey (2003) anhand
biografischer Interviews mit 64 jungen Männern und Frauen zu dem Ergebnis, dass die Lebens-
situation der Adoleszenten mit Migrationshintergrund eher durch soziale Benachteiligung als
durch (herkunfts-)kulturelle Faktoren geprägt ist.
Ethnisierung und Männlichkeitsinszenierungen 321
und Macht bewältigt werden, oder wie Dieter Karrer formuliert: „wo Ungleich-
heit drückt, muss Natur her“ (Karrer 2000: 131). Mit abenteuerlichen Selbstdar-
stellungen, körperlichen Leistungen im Sport oder bei Prügeleien und Raub-
überfällen kann man innerhalb der Subkulturen symbolisches Kapital akkumu-
lieren, auch mal zu Geld kommen und Macht in kurzzeitigen Interaktionen er-
langen. Aber die Unterklasse bleibt von den relevanten Feldern des Wettbe-
werbs ausgeschlossen, in denen hegemoniale Männlichkeit ausgehandelt und
über die Verteilung gesellschaftlicher Machtpositionen entschieden wird.
Auch wenn solche Männlichkeitspraxen klassenspezifisch sind, ist ethni-
sche Zugehörigkeit gleichwohl nicht völlig bedeutungslos. Sie spielt insofern
eine Rolle, dass Angehörige bestimmter Ethnien sich in besonderer Weise sozia-
ler Stigmatisierung erwehren müssen. In zahlreichen US-amerikanischen Stu-
dien wurden im Bezug auf afroamerikanische Männer Deprivationserscheinun-
gen als Folge dauerhafter ethnischer Stigmatisierung beschrieben, wie etwa
Drogengebrauch, Gewaltbelastung, Verlust des Selbstvertrauens und Suizidan-
fälligkeit (vgl. Kilmartin 2000: 122 ff.).
In Deutschland sind Jungen aus türkischstämmigen Familien eine Risiko-
gruppe für verfestigte Armut und Angriffsziel für ethnische Diskriminierung
und Rassismus. Dennoch gelingt es den meisten, ein sozial unauffälliges Leben
zu führen. Dies muss betont werden, denn in der öffentlichen Aufmerksamkeit
werden die spektakulären delinquenten Praxen als repräsentativ für die gesamte
Gruppe verallgemeinert. Die Begründungen der Jungen in beiden Studien für
ihre delinquenten Praxen verweisen auf eine Strategie der Häresie – auf Wider-
stand gegen Marginalisierung. Vera King nennt solche Versuche der Rehabilita-
tion entwerteter Männlichkeit eine „aggressive Kapitulation“ (King 2005: 64).
Auch wenn die Jungen objektiv auf der Verliererseite in den Verteilungskämp-
fen stehen und ihr Leben von Brüchen, struktureller Benachteiligung und Kri-
minalisierung geprägt ist, wehren sie sich gegen soziale Entwertung und kulti-
vieren eine Art Wagenburg-Mentalität durch solidarischen Zusammenhalt nach
innen und eine feindselige Haltung nach außen.7
Wie könnte ein junger Mann in anderer Form eine optimistische Zukunfts-
planung gestalten, wenn es wahrscheinlich für ihn ist, dass er dauerhaft am
Rande der Gesellschaft leben muss? Wie könnte eine im System hegemonialer
Männlichkeit um Berufserfolg zentrierte Biografie realisiert werden, wenn man
von einer berufsvorbereitenden Maßnahme in die nächste wechselt und wenn
anschließend dauerhaft prekäre Erwerbsarbeit oder der Bezug staatlicher Trans-
ferzahlungen die wahrscheinlichste Zukunftsoption ist? – Nicht alle können
rappen, manche ‘rippen’!
7
Vgl. Spindler 2006: 313f.
322 Martina Weber
Literatur
Die Verknüpfung von Gender und Ethnizitäten stellt seit einigen Jahren eine
neue Herausforderung für die außerschulische Bildungsarbeit dar. Den vielfälti-
gen theoretischen Auseinandersetzungen um die Verknüpfung der beiden Kate-
gorien Gender und Ethnizitäten in der Pädagogik entsprechen bislang kaum
Praxisprojekte (vgl. Aschenbrenner-Wellmann 2004). Das Modellprojekt „res-
pect – antirassistische jungen- und mädchenarbeit – gegen ausgrenzung und
gewalt“2 stellt sich der Herausforderung und integriert beide Kategorien in die
kurzzeitpädagogische Arbeit. Ausgehend von den Projekterfahrungen befasst
sich der vorliegende Beitrag mit juvenilen Darstellungsstilen, die von den Kate-
gorien Gender und Ethnizität durchkreuzt sind. Die Thematisierung geschlech-
tlicher und ethnischer Äußerungen in den Seminaren knüpft an verschiedene
1
Die Namen von Jugendlichen in diesem Artikel wurden von den AutorInnen geändert.
2
respect ist ein Kooperationsprojekt des Bremer JungenBüros und des Bremer BDP- Mädchen-
kulturhauses. Das Projekt startete im Juli 2003. Zielgruppe des Projekts sind Mädchen und Jun-
gen aus 7.-11. Schulklassen in Bremen, die in geschlechtshomogenen Gruppen zum Thema
Rassismus/ Ausgrenzung arbeiten. Sie werden von transkulturellen Männer- und Frauenteams
angeleitet. Die Haupt- und Realschulklassen kommen aus den Bremer Stadteilen mit einem ho-
hen Anteil (50-90%) an migrantischen Jugendlichen. Die dreitägigen Seminare finden außer-
halb der Schule in Jugendfreizeitheimen statt. Die jeweiligen LehrerInnen der Schulklassen sind
nicht im Seminar, aber als Aufsichtspersonen für die Pausen anwesend. Es wurden bis heute ca.
500 Schülerinnen und Schüler erreicht. respect wird seit Juli 2003 (bis voraussichtlich Dezem-
ber 2006) gefördert vom deutschen Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend im Rahmen von „entimon – gemeinsam gegen Gewalt und Rechtsextremismus im Rahmen
des Aktionsprogramms „Jugend für Toleranz und Demokratie - gegen Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“. Die Projektdokumentation ist erhältlich über das
Bremer JungenBüro, info@bremer-jungenbuero.de.
326 Abousoufiane Akka und Ines Pohlkamp
sozialer Positionierung“ (Lutz 2001: 215) einbezogen werden. Die in den 80er
und 90er Jahren von den antirassistischen und antikolonialen feministischen
Bewegungen formulierte Kritik an einer eindimensionalen Ungerechtigkeitsana-
lyse setzt sich seit einigen Jahren in einer akademischen Programmatik (vgl.
Knapp 2005: 71) unter dem Begriff Intersektionalität fort. Von diesen Diskursen
blieb die Pädagogik nicht unberührt.
So versucht Andrea Schmidt dekonstruktivistische Denkansätze für die au-
ßerschulische Mädchenarbeit nutzbar zu machen. In ihrer Untersuchung ausge-
wählter Konzepte von Mädchenarbeit stellt sie ein „Spannungsfeld von Dekons-
truktion und Rekonstruktion“ fest. „Dekonstruktion, indem versucht wird, in der
Arbeit mit Mädchen tradierte Zuschreibungen an Mädchen als gesellschaftlich
hergestellt aufzuzeigen und diese Zuschreibungen zu verändern, und Rekons-
truktion, weil durch den Bezug auf Geschlecht das hierarchische Geschlechter-
verhältnis reproduziert wird“ (Schmidt 2002: 217). PädagogInnen blieben ihrer
Ansicht nach in „verschiedenen Ausprägungen in Dichotomien verhaftet“, vor
allem dann, wenn sie die Selbstinszenierungen der Mädchen als „veränderungs-
bedürftig einstufen und verwerfen“ (Schmidt 2002: 218). Stattdessen plädiert
Schmidt für einen „verstehenden Zugang“ zu den Selbstinszenierungen der
Mädchen, um paradox erscheinende soziale und widerspenstige Praktiken der
Mädchen, wie zum Beispiel das Ritzen der Haut oder das Schminken zu ent-
schlüsseln. Eine sozialpädagogische Begleitung von Jugendlichen kann nach
Ansicht von Corinna Voigt-Kehlenbeck nicht mehr „auf die Stabilisierung von
Geschlechtsidentität ausgerichtet sein“ (Voigt-Kehlenbeck 2001: 250). Ebenso
wie Schmidt spricht sich Voigt-Kehlenbeck für einen Perspektivenwechsel der
PädagogInnen, eine „Haltung der Offenheit“ aus und hält gleichzeitig einen
„Frei-Raum zur Erprobung und (Selbst-)Inszenierung (für) unerlässlich“, um die
„Konflikte und Probleme der Kinder und Jugendlichen im Umgang mit den
Zuschreibungen qua Geschlecht zu erkennen – und ihnen zugleich Raum für
eigene Lösungsvorschläge zu gewähren“ (Voigt-Kehlenbeck 2001: 251). Beide
Analysen geben den Selbstinszenierungen eine prominente Bedeutung. Das gilt
auch für Bettina Fritzsche, die in ihrer Studie zum Pop-Fantum aufzeigt, wie
Mädchen in der Pubertät ihre Gender-Identitäten in Szene setzen und das Er-
wachsenenleben in Bezug auf Geschlecht, Körper und Sexualität proben. In den
respect-Seminaren begegnen die TeamerInnen Jugendlichen, die ihre geschlech-
tlichen Identitäten oftmals überzogen, ausgelassen und unbeständig entlang des
Geschlechterdualismus sowohl als männlich oder weiblich als auch über diese
Zuschreibungen hinaus inszenieren, indem sie Eindeutigkeiten in Bezug auf
Gender-Identitäten vermissen lassen und mit den vielfältigen Facetten der Rol-
lenzuschreibungen spielen und experimentieren. Alte Rollenzuschreibungen
erfahren in diesen „performative(n) Suchbewegungen“ (Fritzsche 2003: 260)
328 Abousoufiane Akka und Ines Pohlkamp
gen entgegengehalten werden. Das Beharren auf ethnische Differenz der hier
aufgewachsenen MigrantInnenkinder ist als eine Antwort auf alltäglich erlebte
rassistische Erfahrung und die Unmöglichkeit zu verstehen, an der Mehrheitsge-
sellschaft teilzuhaben.5
In der Pädagogik sind jedoch bis heute Theorie- und Handlungskonzepte
vorherrschend, die migrantische Jugendliche entweder als defizitär, als kulturel-
le Bereicherung oder als Opfer von Rassismus wahrnehmen. In allen drei Fällen
bleiben sie letztlich Objekte der Dominanzgesellschaft (vgl. Rommelspacher
1995).
Die ‘Ausländerpädagogik’ startete in den 70er Jahren mit der schulpädago-
gischen Sprachförderung für GastarbeiterInnen-Kinder. In den 80er Jahren setz-
te die Pädagogik unter dem Label ‘interkulturell’ auf die Organisation von Be-
gegnungen zwischen den Kulturen, das heißt zwischen den migrantischen und
nicht-migrantischen Menschen. Diese Konzepte wurden von Anfang an als
kulturalistisch, deterministisch und reduktionistisch kritisiert. Die antirassisti-
sche Pädagogik erweitert seit Beginn der 90er Jahre zunehmend den interkultu-
rell-individualisierten Blickwinkel um die gesellschaftliche Dimension. Sie
fordert eine Thematisierung von Ungleichheit und Alltagsrassismus, rechter
Gewalt und staatlicher Politik sowie die Benennung von rassistischen Diskursen
und Ideologien (vgl. Mecheril 2004; Kalpaka 2003).
Paul Mecheril warnt allerdings vor reduktionistischen Tendenzen im Kon-
text von antirassistischer Pädagogik und fordert eine „rassismuskritische Päda-
gogik“, die sich von der binären Wir/Ihr-Logik des Rassismus löst und dekons-
truktiv wirkt, das heißt „der Veränderlichkeit von Bedeutungen Rechnung“ trägt
(Mecheril 2004: 212). Die Konzepte der interkulturellen und antirassistischen
Pädagogik richten sich in Form von Sensibilisierungsarbeit oft an nicht-
migrantische Jugendliche, zum Teil auch an Rechtsextreme und insgesamt
überwiegend an die dominante Mehrheitsgesellschaft, während MigrantInnen
und ihre Lebenswelten in beiden Ansätzen häufig nur als die ‘Anderen’ auftau-
chen.
Die Bedeutung struktureller und individueller Rassismuserfahrungen so-
wohl für migrantische ebenso wie für nicht-migrantische Jugendliche sind im
respect-Projekt grundlegend, wobei die Erfahrungen der von Rassismus Betrof-
fenen in den Seminaren im Vordergrund stehen. Selbstethnisierung wird dabei
nicht als Ausdruck von Desintegration verstanden, sondern als eine Form der
‘Selbstbehauptung’, die sich nicht auf verfestigte Strukturen wie Pass, Sprache,
Kultur oder Religion verlassen kann. Sie muss sich vielmehr ständig mit den
5
Knapp 80% der befragten ´türkischen´ Jugendlichen stimmten 1997 in einer Untersuchung der
Aussage zu: „Du kannst machen was du willst, du wirst nicht dazugehören“ (Heitmeyer, Wil-
hem u.a. (1997), zitiert nach: Rommelspacher (1999: 32).
330 Abousoufiane Akka und Ines Pohlkamp
6
Ralf Vollbrecht weist darauf hin, dass sich die meisten Jugendlichen nicht im Zentrum von
Jugendkulturen aufhalten, sondern sich lediglich an den „modischen Vorgaben und Sinndeutun-
Pädagogik der Oberfläche 331
In den respect Seminaren bilden die Kategorien Gender und Ethnizität zwei
Dimensionen, die den konzeptionellen Rahmen konturieren, in dem die gesell-
schaftliche Verortung der Jugendlichen thematisiert wird. Im Zentrum steht der
Versuch, den Kontakt, das Gespräch, die Begegnung zwischen den Jugendli-
chen zu ermöglichen und sie spielerisch zu Identitätsäußerungen zu ermutigen.
Ziel ist es, eine kritische Auseinandersetzung der Jugendlichen mit sich selbst
und mit gesellschaftlichen Strukturen zu fördern und Prozesse der Selbstaneig-
nung anzustoßen. Insbesondere gilt es, den relationalen und fiktionalen Charak-
ter von Identitäten begreifbar zu machen sowie deren Bedeutungen abzufragen,
um die gesellschaftlichen Bedingungen offen zu legen, die diese Identitäten
nötig machen. Dies in den Rahmen Gender und Ethnizität zu stellen, heißt, die
Äußerungen der Jugendlichen in einen diskursiven Kontext zu setzen, der die
Machtverhältnisse berücksichtigt, die strategischen Bedeutungen auslotet und
die Konsequenzen und Grenzen problematisiert. Die gegenseitigen (Selbst-
)Reflexionen der identitären Entwürfe in den Seminaren sind in diesem Ansatz
als kritische Aufklärung zu verstehen. Im Folgenden wird das Konzept durch
das rahmende Setting sowie durch die Darstellung des pädagogischen Bühnen-
raums vorgestellt.
gen der Jugendkulturen (orientieren) und (...) ihre Angebote im Freizeitbereich vor allem im
Hinblick auf Ausdrucks- und Erlebnisfunktionen (konsumieren)“ (Vollbrecht: 29).
332 Abousoufiane Akka und Ines Pohlkamp
Der durch die Dimensionen Gender und Ethnizität konturierte Raum ist in die-
sem pädagogischen Setting als eine ‘Bühne’ zu verstehen. In diesem Sinne ist
das gesamte Seminar mit den TeamerInnen und Jugendlichen, den Orten, den
Geschichten, den Begegnungen in den Gruppen, Übungen und Pausen eine
‘Bühne’. Dieser Raum ermöglicht den Jugendlichen, Äußerungen und Handlun-
gen in Bezug auf ihre Identität(en) zu präsentieren, damit zu spielen, sie zu
überzeichnen, zu parodieren oder zu wechseln.
Migrantische und nicht-migrantische Jugendliche sollen gleichermaßen mit
den Methoden angesprochen werden, was mit sich bringt, dass die Anweisungen
so formuliert werden müssen, dass sich keine/r der Teilnehmenden ausgegrenzt
fühlt. Wenn etwa die Frage nach den Herkunftskontexten geklärt werden soll,
wird dies über die neutral anmutende Frage gemacht: „Wie oft bist Du umgezo-
gen?“ oder „Wie viele Sprachen sprichst du?“
Die ‘Bühne’ erlaubt es, Erfahrungen antirassistischer und antisexistischer
Selbstbehauptung und rassistische und sexistische Erfahrungen nachzuspielen,
wobei die Jugendlichen bestimmen können, wie viel Intimität sie zulassen. Sie
entscheiden, ob sie sich als Opfer, ZuschauerIn oder als HeldIn zeigen wollen.
Auf der ‘Bühne’ besteht die Möglichkeit, Stereotypen zu karikieren, wobei die
TeamerInnen darauf achten, dass Rassismen und Sexismen nicht verdoppelt und
Grenzen der anderen SeminarteilnehmerInnen nicht verletzt werden.
Die Jugendlichen zeigen sich vielfach von Seiten, die sie im Schulalltag
verborgen halten. Jugendliche, vor denen die Lehrkräfte die TeamerInnen un-
gefragt gewarnt hatten, dass sie aggressiv oder hyperaktiv auffällig seien, ent-
puppten sich mitunter als hilfsbereit und rücksichtsvoll. Unerheblich ist der
Wahrheitsgehalt von Äußerungen. Übertreibungen und Maskeraden sind er-
wünscht. Ans ‘Bühnenlicht’ kommt eine Vielzahl unterschiedlicher, manchmal
scheinbar widersprüchlicher und paradoxer Äußerungen über sich selbst. Die
‘Bühne’ soll ein Experimentierort sein, ein Schauplatz, auf dem Identitäten
theatralisch und spielerisch inszeniert und erprobt werden können. Die Jugend-
lichen werden zu repräsentierenden ExpertInnen ihrer Lebensstile, erklären ihre
Kleidung oder ihre Musik und führen beispielsweise ihre Hip-Hop-Tänze vor.
Ein einfaches Ja-Nein-Spiel, bei dem sich die Jugendlichen – beispielswei-
se auf die Frage: „Bist du ‘Deutsche/r?’“ – durch die Positionierung im Raum
auf eine Antwortseite stellen können, kann ein Teil der Jugendlichen schnell für
sich beantworten. Aber die anschließenden Diskussionen lassen nicht lange auf
sich warten. Am Ende verliert die Beantwortung der Frage zumeist ihre Eindeu-
tigkeit und die SchülerInnen debattieren über Gesellschaft, StaatsbürgerInnen-
schaften, Ausländergesetze und ’Leitkulturen’. Es finden sich in Schulklassen
334 Abousoufiane Akka und Ines Pohlkamp
immer wieder einzelne SchülerInnen, die sich bei diesem Ja-Nein-Spiel aus
Provokation auf eine bestimmte Seite stellen. Es ist oft die Frechheit der Provo-
kation, die zu kontroversen und vielschichtigen Diskussionen über Zugehörig-
keit und ‘Anderssein’ zwischen den Jugendlichen anstiftet. Auf der anderen
Seite beanspruchen die Jugendlichen für ihre Positionen und Identitäten eine
Selbstverständlichkeit, die unserem Anliegen auf dem ersten Blick widerspricht.
Für sie scheint ihr ‘Mädchen’-, ‘Junge’-, ‘Heterosexuell’-, ‘Deutsch’- oder
‘Russisch’-Sein keine verhandelbare und veränderbare Angelegenheit. Gleich-
zeitig bieten sie mit ihren überzogenen Äußerungen, welche die Selbstverständ-
lichkeiten untermauern sollen, zahlreiche Reibungsflächen für Auseinanderset-
zungen über die gesellschaftliche Verfasstheit dieser Identitäten.
3 Repräsentationsformen
Bei der vom Team entwickelten Methode „Klick“ werden Puzzleteile von Port-
raits bekannter Persönlichkeiten an die Wand projiziert, die sich nach und nach
zu einem Gesamtbild vervollständigen. Zu erraten sind MusikerInnen, vornehm-
lich aus dem Bereichen Hip-Hop und R’n’B, ModeratorInnen von Fernsehsen-
Pädagogik der Oberfläche 335
7
Bereits seit einigen Jahren werden die Figuren des 'Zuhälters' und des 'Gangsters' von hiesigen
Künstlern behandelt. Besonders hervorgetreten ist dabei das Berliner Hip-Hop-Label „Aggro
Berlin“, bei dem Künstler wie Bushido unter Vertrag stehen.
336 Abousoufiane Akka und Ines Pohlkamp
sprechen? Welche Rolle spielt mein Vater? Was sind meine beruflichen Wün-
sche? Welche PartnerInnenschaften wünsche ich mir? Wie stehe ich zur Homo-
sexualität? Wie präsentiere ich mich warum? Wie gehe ich mit Konflikten um?
Die dekonstruktivistischen Momente in dieser Übung liegen darin, einer-
seits die Bedingtheit, etwa der Gangsterattitüde, offenzulegen, andererseits die
Jungen die Rolle des erklärenden Referenten einnehmen zu lassen, was diesen
einen reflektierenden Abstand abverlangt. Darüber hinaus ermutigt das Interesse
an diesem Darstellungsstil die Jungen dazu, Facetten ihrer Identität zu zeigen,
die sie anderen Jungen und Männern – getreu dem vorherrschenden Männlich-
keitskonzept – vorenthalten. Diese Facetten sind im Grunde bereits in der Gang-
sterattitüde angelegt, denn das Gangsterbild ist ambivalenter, als es zunächst
erscheinen mag, da etwa Verletzlichkeit, Angst und Bedrohung inhärent sind.
Dabei geht es nicht darum, diese ‘schwächeren’ Momente zu favorisieren oder
als die ‘eigentliche’ Identität zu behaupten, sondern um den Schritt, die Gang-
sterattitüde in ihrer Ambivalenz wahrzunehmen und gegebenenfalls anzuerken-
nen. Erst dieser Schritt ermöglicht es, über (die Angst vor) Verletzungen zu
sprechen. Der Akt des Sprechens über diese Verletzungen und Bedrohungen (re-
)konstruiert ein für die Jungen ungewohntes Männlichkeitskonzept, das zumin-
dest in diesem Setting Bestand hat. Für viele ist es eine neue Erfahrung, sich
überhaupt vor anderen Jungen und Männern so zu zeigen.
len, die sie über die Medien vermittelt bekommen, sondern ebenfalls an ihrem
sozialen Umfeld, von dem sie Anerkennung und Ablehnung erwarten können.
Die Frage, wie ‘sexy’ sich Mädchen kleiden dürfen, spaltet die Meinungen
der Teilnehmerinnen. In einem Seminar wurde die (schulinterne) Frage „Soll
bauchfrei an unserer Schule erlaubt sein?“ aufgegriffen. Es fand eine inszenierte
Diskussion zwischen zwei Kleingruppen statt, die getrennt voneinander jeweils
Pro- bzw. Contrapositionen zum Thema ‘Bauchfrei an Schulen’ gesammelt
hatten. Heftige Debatten ergaben sich nach der Pro/Contra-Vorstellung, in de-
nen es weniger um unterschiedliche ästhetische Empfindungen ging als um die
Konfrontation zweier sich scheinbar unversöhnlich gegenüberstehende Frauen-
bilder, die ihren Ausdruck in der Kleidung finden: Die sexuell integre Frau und
die sexuell aktive Frau. Die Mädchen nutzten die Auseinandersetzung, um ihre
Haltung zu demonstrieren und sich mit ihren Selbstbeschreibungen zu positio-
nieren. Einige Mädchen beanspruchten für sich dieselben Freiheiten, die den
Jungen zugestanden werden. Sie fanden nichts Verwerfliches daran, ihren
Bauch zu zeigen. Sie empfanden es als ungerecht, dass für Jungs und Mädchen
im gesamten Bereich der Sexualität zweierlei Maß angewandt wird. Jede solle
Sex haben, mit wem sie wolle und so oft sie wolle. Sich selbst würden die Mäd-
chen aber nicht als ‘Schlampe’ (‘Bitches’) bezeichnen wollen, obwohl sich
gerade in der Popkultur und im HipHop Künstlerinnen finden, die sich als
‘Bitch’ bezeichnen und sich die Abwertung selbstbewusst aneignen und umkeh-
ren. Vielen Mädchen waren solche Attitüden wohlbekannt, einige bewunderten
sie, ohne sie jedoch für sich übernehmen zu wollen. Zu sehr fürchteten sie die
Ablehnung, die sie mit solch einer Haltung erwarten würden. Die ‘Schlampe’
fungierte als zentrale Abschreckungsfigur, mit denen sich Mädchen nicht nur
von Jungen abgewertet sehen, sondern sich gegenseitig stigmatisieren, um in
Konkurrenz zueinander zu treten. Sich sexy zu kleiden, wie ihre Popidole, ist für
die meisten Mädchen eine Gratwanderung, die mit jedem Kleidungsstück ausba-
lanciert wird.
Anders verhält es sich mit dem Thema ‘Jungfräulichkeit’. Obwohl im Hip-
Hop oder R’n’B selten direkt auf Jungfräulichkeit Bezug genommen wird, er-
laubt das kulturelle Arrangement dieser Popkulturen die Integration von Jung-
frauenattitüden durch die Rezipientinnen. Die reanimierte ‘Jungfräulichkeit’
wird dabei als ein symbolischer Wert verhandelt, mit dem eine ‘weibliche Ehre’
aufrechterhalten werden kann. Vordergründig ist das Thema für muslimische
Mädchen in den Seminaren mit mehr Aussagekraft besetzt, da sie die Relevanz
der Jungfräulichkeit an ihre ethnische Identität koppeln. Laut Auskunft der
Mädchen spielen Repressalien durch die Familie hierbei nur eine untergeordnete
Rolle. Vielmehr treten die meisten Mädchen mit ihren Äußerungen sehr selbst-
bewusst und eigenständig auf. Sie nutzen die Jungfräulichkeitsattitüde, um sich
Pädagogik der Oberfläche 339
mit ihren Vorstellungen von Frausein zu inszenieren. Dass sie mit ihrer Attitüde
einer von Jungen gewünschten Rolle nachkommen, wollen die Mädchen dabei
aus ihrer Perspektive nicht bestätigen. Im Gegenteil: Sie setzen Keuschheit mit
Autonomie gegenüber den Jungen gleich und betrachten ihre Jungfräulichkeit
als eine Stärke. In der Auseinandersetzung mit dem Thema Jungfräulichkeit in
der ‘Bauchfrei’-Kontroverse sowie in anderen Übungen, verläuft die Konfronta-
tion bei diesem Thema nicht nur entlang der muslimischen bzw. nicht-
muslimischen Identität der Mädchen. Es erscheinen vielmehr eine Vielzahl
individueller Begründungen für den Erhalt der Jungfräulichkeit: Die Angst vor
Jungen und Familie, Angst vor Schwangerschaften, Angst vor Sexualität,
Schutz vor Jungen und Männern, Wunsch nach mehr Ehre, Ansehen und Res-
pekt, der Wunsch, „sich für den einen auf(zu)bewahren“ oder die Einhaltung
religiöser Regeln. In den Auseinandersetzungen entstehen Gespräche beispiels-
weise über Ängste, Verhütung, den weiblichen Körper, Sexualität, Hochzeiten
und Hochzeitsnächte, Religionen und sexualethische Anforderungen an Männer
und Frauen. Mit dem Argument, dass immer mehr Frauen ihre ‘verlorene’ Jung-
fräulichkeit durch einen operativen Eingriff ‘wiederherstellen’, problematisieren
die Teamerinnen die Fragilität und Äußerlichkeit dieser Haltung. Es entstehen
Gespräche mit den Mädchen, in denen sexuelle Praxen diskutiert werden, die
beispielsweise der Jungfräulichkeitsattitüde nicht widersprechen oder in denen
die Rollen der Frauen und Männer in den unterschiedlichen Familien bespro-
chen und diskutiert wurden. Das Interesse der Mädchen an den Meinungen und
Positionen der Teamerinnen ist sehr groß. Es bieten sich durch die gegenseitige
Offenheit von Teamerinnen und Teilnehmerinnen verschiedenste Gelegenhei-
ten, sich mit neuen Haltungen und Identitäten zu konfrontieren und Frauenbilder
vorzuschlagen, die sich nicht an den beiden Polen Jungfrau/Schlampe orientie-
ren.
Die dargestellten Beispiele zeigen die Thematisierungen von Gender und
Ethnizitäten im Bereich von Körper, Schönheit, Religion und Sexualität. Die
kulturellen und geschlechtlichen (Selbst-)Zuschreibungen werden in der Ausei-
nandersetzung um die Diskussion ‘Bauchfrei an Schulen?’ deutlich.
In den Aussagen der überwiegend migrantischen Mädchen zeigt sich die
Bedeutungsrelevanz der zunächst ethnisch kodierten ‘Jungfräulichkeit’. Es stellt
sich auf Nachfrage jedoch heraus, dass bei den migrantischen und bei den nicht-
migrantischen Mädchen unterschiedlichste Bedeutungen an diesen Begriff ge-
knüpft werden. Die Erfahrbarkeit von verschiedenen Bedeutungen ermöglicht
die Erfahrbarkeit von Veränderungspotential und hebt die Dichotomie muslimi-
sches Mädchen – nicht-muslimisches Mädchen auf, ohne die Selbstethnisie-
rungspraxis infrage zu stellen. In Bezug auf den präsenten Diskurs einer ver-
meintlich eigenen Verantwortlichkeit der Mädchen für Sexismus und sexuali-
340 Abousoufiane Akka und Ines Pohlkamp
sierte Gewalt durch die Wahl ihrer Kleidung, ihr Verhalten oder ihre Haltung
findet ein sehr persönlicher Austausch zu Themen wie beispielsweise ‘Sexuali-
tät’ oder ‘Sexualisierte Gewalt’ statt. Die sozialen Funktionen von Körper und
Kleidung für die Konstruktion hierarchischer Zweigeschlechtlichkeit werden
den Mädchen versinnlicht. Der Raum in den Gruppengesprächen ermöglicht die
Aufweichung solcher Ordnungslogiken. Begriffspaare wie ‘Muslima – Jung-
fräulichkeit’ oder ‘sexy Kleidung – selbst schuld, wenn du angemacht wirst’
können durch solche Prozesse entkoppelt werden.
5 Szenische Abschlussgedanken
Die Pädagogik der Oberfläche, die den Jugendlichen viel Raum für ihre
Repräsentationen und Lebensstile, wie ‘Gangster’, ‘Bitch’ oder ‘Jungfrau’,
gibt, bedeutet für die Seite der TeamerInnen manchmal, Homophobie oder
Heterozentrismus in stärkerem Ausmaß auszuhalten als in anderen pädago-
gischen Settings. Immer wieder stoßen PädagogInnen im Zuge ihrer offe-
nen Haltung an ihre Grenzen, um einen Umgang mit beispielsweise ge-
waltverherrlichenden oder heterosexistischen Inszenierungen zu entwi-
ckeln. Trotz klarer Positionierung der TeamerInnen erfordert diese pädago-
gische Arbeit ein hohes Maß an Selbstreflexion, um Grenzen zu setzen und
zugleich Offenheit zu bewahren. Dies ermöglicht erst, Situationen bespre-
chen zu können und damit die Repräsentationen der Jungen und Mädchen
produktiv für Auseinandersetzungen zu Rassismus, Sexismus, Gender und
Ethnizitäten zu nutzen.
Die Zusammenarbeit in den transkulturellen Teams führt zu Perspektiver-
weiterungen. Nicht zuletzt durch Auseinandersetzungen und gemeinsame
Konzeptentwicklung gelingt es immer wieder, neue Zugänge zu den Ju-
gendlichen aufzubauen. Diese Zusammenarbeit ist für alle Seiten, das heißt
für die TeilnehmerInnen und für das Team, ein Gewinn.
Für viele TeilnehmerInnen ist es das erste Mal, dass sie mit einem transkul-
turellen Team bzw. überhaupt mit einer migrantischen Pädagogin/einem
migrantischen Pädagogen zusammenarbeiteten. Die Begegnungen in den
Seminaren kennzeichnet die Form der innigen Beziehungen, die von einem
hohen Grad an Vertrauen bestimmt waren. Dies wird zentral durch die
transkulturellen Teams und ihre vielfältigen ‘Bühnenpräsentationen’ her-
gestellt, was sich im Feedback ausdrückt.
342 Abousoufiane Akka und Ines Pohlkamp
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Handlungsformen von jungen Migrantinnen. Eine sozio-biografische Untersuchung. Frankfurt
a. M.: IKO.
344 Abousoufiane Akka und Ines Pohlkamp
Rommelspacher, Birgit (1995): Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin: Orlanda.
Rommelspacher, Birgit (1999): Die Multikulturelle Gesellschaft am Ende oder am Anfang? In:
Bukow, Wolf-Dietrich/Ottersbach, Markus (Hg.) (1999). 21-36.
Schmidt, Andrea (2002): Balanceakt Mädchenarbeit. Beiträge zu dekonstruktiver Theorie und
Praxis. Frankfurt a. M.: Edition Hipparchia.
Schmidt, Siegfried J. (2003): Über die Fabrikation von Identität. In: Kimminich, Eva (Hg.) (2003):
Kulturelle Identitäten. Konstruktion und Krisen. Frankfurt a. M: Peter Lang.
SPoKK (1997) (Hg.): Kursbuch. JugendKultur. Stile, Szenen und Identitäten vor der Jahrtausend-
wende. Mannheim: Bollmann.
Stender, Wolfram/Rohde, Georg/Weber, Thomas (Hg.) (2003): Interkulturelle und antirassistische
Bildungsarbeit – Projekterfahrungen und theoretische Beiträge. Frankfurt a. M: Brandes &
Apsel.
Voigt-Kehlenbeck, Corinna (2001): ... und was heißt das für die Praxis? Über den Übergang von
einer geschlechterdifferenzierenden zu einer geschlechterreflektierenden Pädagogik. In: Fritz-
sche, Bettina/Hartmann, Jutta/Schmidt, Andrea/Tervooren, Anja (Hg.) (2001). 237-254.
Vollbrecht, Ralf (1997): Von Subkulturen und Lebensstilen. In: SPoKK (1997) (Hg.). 22-31.
Zu den Autorinnen und Autoren
Thomas Geisen, Dr. phil., Jhrg. 1968, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der
Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz und am
Institut für Regional- und Migrationsforschung (IRM) tätig. Seine Arbeits und
Forschungsschwerpunkte sind: Migration, Arbeit und Gewalt. Ausgewählte
Veröffentlichungen: Qualitative Research and Social Change. European Con-
texts (co-edited with Pat Cox and Roger Green and author) Houndmills: pal-
grave macmillan. 2008. / Arbeitsmigration. WanderarbeiterInnen auf dem
Weltmarkt für Arbeitskraft (Herausgeber und Autor) Frankfurt a. M.: IKO Ver-
lag. 2005. / Migration, Mobility and Borders. Issues of Theory and Policy (co-
edited with Anthony Andrew Hickey and Allen Karcher and author). Frankfurt
a. M.: IKO Verlag. 2004.
Susanne Gerner, Dipl. Päd., Jhrg. 1970, ist Doktorandin, wiss. Mitarbeiterin und
Lehrbeauftragte im Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Mar-
burg. Sie studierte in Nürnberg und Marburg und verbrachte mehrere For-
schungs- und Studienaufenthalte in Istanbul. Im Rahmen ihrer Dissertation
forscht sie über Trennungsverläufe und Generationen übergreifende Transfor-
mationsprozesse in der Migration. Z. Zt. ist sie tätig im Forschungsprojekt „Di-
versität und Hybridität: Adoleszente Möglichkeitsräume in binationalen Fami-
lien“ (finanziert vom Hess. Ministerium für Wissenschaft und Kunst). Von 1997
bis 2003 arbeitete sie als Sozialpädagogin in der interkulturellen Mädchen- und
Frauenarbeit. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Migration, Jugend, Geschlecht
und Biografie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Selbst- und Fremdbestimmung
im Spiegel der Forschungsbeziehung. In: Figatowski, Bartholomäus/ Kokebe,
Haile Gabriel/ Meyer, Malte (Hg.): The Making of Migration. Münster: Westfä-
lisches Dampfboot. 2007.
346 Zu den Autorinnen und Autoren
Urmila Goel, Dr., Jhrg. 1970, hat am Lehrstuhl für Vergleichende Kultur- und
Sozialanthropologie der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder das von
der Volkswagen Stiftung geförderte Forschungsprojekt „Die virtuelle zweite
Generation – Zur Aushandlung ‘ethnischer’ Identität im Internet“ durchgeführt.
Ihre Forschungsschwerpunkte sind: der Umgang mit Rassismuserfahrungen, die
Konstruktionen von ‘ethnischen’ Identitäten, insbesondere bei MigrantInnen der
zweiten Generation, die Migration aus Südasien nach Deutschland sowie Fragen
der Interdependenz. Ausgewählte Veröffentlichungen: Ausgrenzung und Zuge-
hörigkeit – Die Bedeutung von Staatsbürgerschaft. In: Brosius, Christiane/Goel,
Urmila: masala.de – Menschen aus Südasien in Deutschland. Heidelberg: Drau-
padi. 2006 / Fatima and theinder.net – A refuge in virtual space. In: Fitz, Ange-
lika/Kröger, Merle/Schneider; Alexandra/Wenner, Dorothee: Import Export –
Cultural Transfer – India, Germany, Austria. Berlin: Parthas Verlag. 2005.
Marga Günther, Dr. phil., Soziologin und Sozialpädagogin, Jhrg. 1963, ist
Lehrbeauftragte an der Goethe-Universität Frankfurt und der Ev. Fachhochschu-
le Darmstadt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Jugend- und Adoleszenztheo-
rien, Migrationstheorien, Bedeutung von Körper und Geschlecht in Sozialisati-
onsprozessen, Methoden und Methodologien hermeneutischer Sozialforschung.
Ausgewählte Veröffentlichungen: Adoleszenz und Migration. Adoleszenzverläu-
fe weiblicher und männlicher Bildungsmigranten aus Westafrika. Wiesbaden:
VS Verlag. 2009. / Verhüllte Körper. Die Auseinandersetzung mit Körpernor-
mierungen bei adoleszenten Mädchen. In: Kraus, Anja (Hg.): Körperlichkeit in
der Schule, Bd.2. Oberhausen: Athena. 2009 / Ausgestaltung und Aushandlung.
Die Analyse der Forschungssituation als Erkenntnisinstrument. In: Soziale
Probleme, Zeitschrift der Sektion ‚Soziale Probleme und soziale Kontrolle’ der
DGS, Heft 1. Pfaffenweiler: Centaurus. 2009.
Asiye Kaya, Dr. ist Sozialwissenschaftlerin, Dipl.-Päd. und lebt seit 1992 in
Berlin. Sie studierte Pädagogik an der Gazi Universität in Ankara/Türkei, Erzie-
hungswissenschaften und Sozialwissenschaften an der Humboldt Universität zu
Berlin und Turkologie an der Freien Universität in Berlin. Sie promovierte an
der Georg-August Universität in Göttingen/Sozialwissenschaften. Zurzeit ist sie
am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien (ZtG) an der Humboldt
Universität zu Berlin als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Ihre Forschungs-
schwerpunkte sind: Migrationsforschung, Generationen- und Familienfor-
schung, Kindheits- und Jugendforschung, Geschlechterforschung, Zugehörig-
keiten, qualitative und interpretative Methodologie mit dem Schwerpunkt Biog-
raphieforschung. Ausgewählte Veröffentlichungen: “Migration, Migrant Poli-
cies and Changing Cultures of Belongings - Alevis from Turkey in Germany and
Zu den Autorinnen und Autoren 347
Paul Mecheril, Dr. phil., 1962, Univ.-Prof. für Interkulturelles Lernen und So-
zialer Wandel an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität In-
nsbruck. Lehr- und Forschungsschwerpunkte u.a.: Interkulturelle Bildung, Mig-
rationsforschung, Cultural Studies. Ausgewählte Buchveröffentlichungen: Poli-
tik der Unreinheit. Über die Anerkennung von Hybridität. Wien: Passagen. 2003
/ Prekäre Verhältnisse. Münster: Waxmann. 2003/ Einführung in die Migrati-
onspädagogik. Weinheim/Basel: Beltz. 2004. / Die Macht der Sprachen. Engli-
sche Perspektiven auf die mehrsprachige Schule (herausgegeben mit Thomas
Quehl). Münster u. a.: Waxmann. 2006 / Cultural Studies und Pädagogik. Kriti-
sche Artikulationen (herausgegeben mit Monika Witsch). Bielefeld: transcript.
2006. / Re-Präsentationen (herausgegeben mit Anne Broden) IDA-NRW: Düs-
seldorf. 2007.
Ines Pohlkamp, Dipl. Sozialpädagogin, Kriminologin MA, Jhrg. 1974. Seit 1999
ist Freie Mitarbeiterin der Heimvolkshochschule Alte Molkerei Frille und seit
2002 pädagogische Mitarbeiterin des Bremer JungenBüros. Ihre Forschungs-
schwerpunkte sind: Antisemitismus, Gender/-(De)Konstruktionen, Feminis-
tische Mädchenarbeit und Geschlechterreflektierende/Nicht-rassistische Bil-
348 Zu den Autorinnen und Autoren
Christine Riegel, Dr. rec. soz., Dipl. Pädagogin, Jhrg. 1969, studierte Erzie-
hungswissenschaft und promovierte an der Universität Tübingen. Sie arbeitet
seit Mitte der 1990er Jahre in der internationalen Forschungskooperation „Inter-
nationales Lernen“, u.a. im EU-Projekt „Orientierungen Jugendlicher im Kon-
text von Integration und Ausgrenzung“. Von 2004 bis 2006 war sie Projektleite-
rin im NFP40+ Forschungsprojekt „Prävention von Rechtsextremismus und
ethnisierter Gewalt an Schulen“ an der Universität Fribourg/CH und anschlie-
ßend Oberassistentin im Master-Programm „Geschlecht, Gleichheit und Diffe-
renz im (inter-)kulturellen und sozialpolitischen Kontext“ an der Universität
Fribourg. Seit April 2007 ist sie Akademische Rätin an der Universität Tübin-
gen. Forschungsschwerpunkte: Migration, Gender, Jugend, Intersektionalität,
Rassismus. Ausgewählte Veröffentlichungen: Im Kampf um Zugehörigkeit und
Anerkennung. Orientierungen und Handlungsformen von jungen Migrantinnen.
Eine sozio-biografische Untersuchung. Frankfurt a. M.: IKO. 2004. / Interna-
tional Lernen – Lokal Handeln. Interkulturelle Praxis »vor Ort« und Weiterbil-
dung im internationalen Austausch. Erfahrungen und Erkenntnisse aus Deutsch-
land, Griechenland, Kroatien, Lettland, den Niederlanden und der Schweiz.
Frankfurt a. M./London: IKO Verlag (Autorin und Herausgeberin zusammen
mit Rudolf Leiprecht, Josef Held, Gabriele Wiemeyer. 2001/2006. 2.Aufl.).
Erika Schulze, Dr., Jhrg. 1963, ist Studienrätin im Hochschuldienst an der Uni-
versität zu Köln/Soziologie, Lehrbeauftragte an der Universität Luxemburg und
Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt), wo sie in den
vorangegangenen Jahren in mehreren Forschungsprojekten mitarbeitete. Ihre
Forschungsschwerpunkte sind: Migration, Stadtsoziologie, Jugend, Bildung und
Geschlecht. Aktuelle Veröffentlichungen: Was heißt hier Parallelgesellschaft?
Zum Umgang mit Differenzen (Autorin und Herausgeberin, gemeinsam mit
Wolf-Dietrich Bukow, Claudia Nikodem und Erol Yildiz). Wiesbaden: VS Ver-
350 Zu den Autorinnen und Autoren
lag. 2007 / Zur Gestaltung von Bildung in der Migrationsgesellschaft. Von der
interkulturellen zu einer alltagsweltlichen Orientierung (gemeinsam mit Erol
Yildiz). In: Dirim, Inci/ Paul Mecheril (Hg.): Migration und Bildung. Wissen-
schaftliche Kontroversen. Münster: Waxmann 2009.
Susanne Spindler, Dr., Jhrg. 1971, war von 1998 bis 2002 Mitarbeiterin an der
Forschungsstelle für interkulturelle Studien an der Universität zu Köln/ Soziolo-
gie. Sie war Mitarbeiterin im DFG-Forschungsprojekt „Überrepräsentation von
jugendlichen Migranten in Haft“. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Bildungsrefe-
rentin der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW und als Lehrbeauftragte an der Uni-
versität zu Köln vertritt sie zur Zeit den Lehrstuhl Interkulturalität, Jugendarbeit,
Sozialraum an der Hochschule Darmstadt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind:
Migration, Jugend und Geschlecht. Ausgewählte Veröffentlichungen: Corpus
delicti – Männlichkeit, Rassismus und Kriminalisierung im Alltag jugendlicher
Migranten. Münster: Unrast. 2006.
Martina Weber, Prof. Dr., ist Leiterin des Zentrums für Genderforschung der
Universität Flensburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: ethnografische For-
schungen zu Genderkonstruktionen im Schulalltag, interkulturelle Genderfor-
schung, Reproduktion sozialer Ungleichheit in und durch Bildungsinstitutionen.
Ausgewählte Veröffentlichungen: „Ali Gymnasiu“. Soziale Differenzen von
SchülerInnen aus der Perspektive von Lehrkräften. In: Badawia, Tarek; Ham-
burger, Franz; Hummrich, Merle (Hg): Migration und Bildung – Über das Ver-
hältnis von Anerkennung und Zumutung in der Einwanderungsgesellschaft.
Wiesbaden: VS Verlag. 2005. / Doing Gender im heutigen Schulalltag. Empiri-
sche Studien zur sozialen Konstruktion von Geschlecht in schulischen Interak-
tionen (gemeinsam mit Hannelore Faulstich-Wieland und Katharina Willems).
Weinheim/München: Juventa. 2005. / Heterogenität im Schulalltag. Konstrukti-
on ethnischer und geschlechtlicher Unterschiede. Opladen: Leske + Budrich.
2003.