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Kittlers
Materialismus, musikalische Erotik und
die Heilung der Schrift
Maren Haffke
1 Klartext
M. Haffke (B)
Universität Bayreuth, Bayreuth, Deutschland
E-Mail: maren.haffke@uni-bayreuth.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 171
J. Schröter und T. A. Heilmann (Hrsg.), Friedrich Kittler. Neue Lektüren,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-35324-7_11
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2 Kittlersound
Im Juni 2008 hält Friedrich Kittler einen Vortrag in der Tate Modern in Lon-
don, der Großes ankündigt: Preparing the Arrival of the Gods heißt die Rede,
deren deutsche Übersetzung 2012 postum unter dem Titel Das Nahen der Götter
vorbereiten (Kittler 2012a) in einem gleichnamigen Band als Text veröffentlicht
wird. In dem Buch steht der Vortrag neben drei weiteren Arbeiten Kittlers, die
wie die Londoner Lecture seiner Liebe zur Musik gewidmet sind: Ein Inter-
view mit Frank M. Raddatz von 2010, Dionysios Revisited (Kittler und Raddatz
2012), sowie Kittlers beide heute wohl bekanntesten der Musik gewidmeten
Aufsätze, Der Gott der Ohren (Kittler 2012b) (1984, 1982 in noch etwas ande-
rer Fassung erstveröffentlicht als Pink Floyd Brain Damage), und Weltatem.
Über Wagners Medientechnik (Kittler 2012d), Kittlers 1984 gehaltene Freiburger
Antrittsvorlesung als Privatdozent, erstmals publiziert 1987.
Zwischen den Texten liegen 25 Jahre. Es sind 25 Jahre, in denen die deutsch-
sprachige Medienwissenschaft sich institutionalisiert und methodisch diversifi-
ziert. Ebenfalls in dieser Zeit konstituiert sich das interdisziplinäre Feld der
Sound Studies, das sich seit den 1990er Jahren unter anderem als kritische
Aufarbeitung der Musikwissenschaft entwirft. Für die Sound Studies erwei-
sen sich Kittlers Schriften von Beginn an als produktiv: sie gehören zu den
Gründungstexten des Feldes und sind bis heute einflussreich (vgl. Volmar und
Schröter 2013). Während kulturwissenschaftliche Turns in den Literatur- und
Bildwissenschaften während der 1980er Jahre nicht zuletzt in den semioti-
schen Aspekten poststrukturalistischer Theoriebildung mögliche Zugänge zu einer
Reformulierung ihrer Gegenstände ausmachen, erfolgt eine – im weiteren Sinne –
diskursanalytische Auseinandersetzung mit den Methoden und Fragestellungen
der Musikwissenschaft vor allem im deutschsprachigen Raum schon früh über
die materialistischen Medientheorien der 1980er und 1990er Jahre (vgl. Papen-
burg 2008). Kittlers Konzept von Sound als paradigmatische Verkörperung einer
institutionell und medial ausgeschlossenen Materialität jenseits literarischer Signi-
fikation wird in den Sound Studies auch international (Ikoniadu und Wilson
2015; Sale und Salisbury 2015) vielfach aufgegriffen. Innerhalb deutschspra-
chiger Diskurse ist es spezifisch situiert: als Teil einer umfassenden Kritik der
Hermeneutik humanistischer Geisteswissenschaften ebenso wie der Kritischen
Theorie der Frankfurter Schule. Ähnlich wie die literarische Hermeneutik wird
auch die Musikwissenschaft in Folge als Philologie kritisiert: als Philologie, die
ihren Gegenstand verkennt (Scherer 1983).
In den 25 Jahren, die die Texte in Das Nahen der Götter vorbereiten umfas-
sen, erfährt auch Kittlers Perspektive selbst zum Teil subtile, zum Teil deutliche
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„Sie haben es hoffentlich gehört: Es ist dieselbe Musik, von Wagner zu Hendrix,
von Hendrix zu Pink Floyd. Gleichzeitig ist es dieselbe Bühne, ob Musikdrama oder
Lightshow. Syd Barretts Piper at the Gates of Dawn lässt als Morgenröte beginnen,
was Wagner als Götterdämmerung beendet. Brünnhildes großes Finale macht es nur
zu klar, dass Musik ein Ausschnitt aus weltweitem Rauschen ist.“ (Kittler 2012a, S. 22
f.)
1Neben den Autor*innen des französischen Poststrukturalismus werden Tracks, Alben und
Leadsheets von Jazz- und Popmusik zur Referenz schon für Kittlers literaturwissenschaftliche
Texte der späten 1970er Jahre (vgl. Haffke 2015).
Menschen und Singvögel … 175
„Die Götter haben uns verlassen, die Tempel liegen in Trümmern und mit ihnen all jene
Dimensionen, die Hölderlin unter dem ganz unchristlichen Namen des Heils und des
Heiligen beschworen hat. Die Aufgabe des Denkens besteht dann (um es mit Heidegger
zu sagen) im Öffnen wenigstens einiger Räume des Heils, die ein Heiliges gewähren
könnten, das seinerseits der Ankunft der Götter Wege bahnen würde.“ (Kittler 2012a,
S. 12)
‚Heil und Heiliges‘ gewähren bei Kittler Medien, die Klang reproduzierbar
machen: Phonographen, Tonbänder und, in seinen späten Schriften, das griechi-
sche Vokalalphabet. Weil dieses fünf seiner aus dem Phönizischen übernommenen
Buchstaben zu Vokalzeichen für Stimmlaute umdeutet ist es in der Lage, den
Klang von Sang und Dichtung zu erhalten. Dies ist, so Kittlers These, seine
eigentliche Funktion. Kittlers vorsokratisches Griechenland ist eine Welt, die
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Medien nicht für den Markt erfindet, für Arbeit oder Produktion, sondern für
„Wein, Weib und Gesang“ (Kittler 2003, S. 198). So machen die Buchstaben,
wie Kittler in Das Nahen der Götter vorbereiten hervorhebt, unter anderem die
wenigen erhaltenen Verse der antiken griechischen Dichterin Sappho phonetisch
wie rhythmisch speicherbar. Es sind Verse, in denen sie die Göttin Aphrodite
anruft.
Kittler zitiert im Vortrag von 2008 eine Liebesdichtung Sapphos, die einen
Tempelhain besingt, und verweist vor allem auf das „sinnliche und zauberische
Umfeld“ (Kittler 2012a, S. 16), in dem die Dichtung erst verständlich werde. So
betont er zum einen, dass es sich bei Sapphos Versen nicht um Literatur für Lek-
türen handelt, sondern um Gesang, der von einer siebensaitigen Leier begleitet
wird, und zum anderen, dass dieser Gesang bei Sappho nicht in einem Innenraum
stattfindet, sondern draußen, auf einer „heilige[n] Wiese“ (ebd.), wo in der Mor-
gensonne laut Kittler „junge Mädchen“ (Kittler 2012a, S. 16) tanzen. Nicht nur
singt Sappho über Apfelzweige und Rosen, sie tut es „zwischen Blumen, Düften
und sanften Brisen“ (ebd.) und entfaltet laut Kittler so eine spezifische sinnli-
che Effektivität, der es gelingt, die Göttin tatsächlich ‚anwesen‘ zu lassen. Denn
dass Aphrodite wenn richtig gerufen wirklich kommt, so Kittlers Pointe, erkenne
man daran, dass Sapphos im Garten situierter Gesang die Tänzerinnen zur Liebe
verführe. Aphrodite, der Kittler den ersten Band seines unvollendeten Spätwerks
Musik und Mathematik widmet – Musik und Mathematik 1. Hellas 1 Aphrodite
– ist in Kittlers Worten keine „blutleere Metapher“ (ebd., S. 14), sondern eine
„Weise wie die Physis selber sich entbirgt“ (ebd.). Physis, ein Begriff, den Kitt-
ler wie das Programm der Seinsgeschichte der Philosophie Martin Heideggers
(vgl. dazu Breger 2006, S. 119) entlehnt, steht bei Kittler für eine materielle
Natur der Welt, die sich sowohl in der Intimität wie in Medien aktualisiert.
So konzipiert Kittler in seinen späten Schriften auch Technik als eine Form
der Berührung – in einem erotischen Materialismus, dessen Pointe es ist,
mathematische Adressierbarkeit und körperliche Unmittelbarkeit einander direkt
anzunähern. Kittlers Spätwerk ist eine musikalisch-mathematische Ontologie als
Erotik. Sie etabliert dabei eine spezifische und zu Recht als problematisch kriti-
sierte Geschlechterordnung, die – wie Kittler es Zeit seines Schreibens tut – das
Weibliche nahe am Materiellen und Unbewussten positioniert (vgl. Bergermann
2012, S. 83 ff.; Winthrop-Young 2005, S. 55). In Kittlers späten Schriften
geht es um Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität nicht mehr als eine
epistemologisch adressierbare Konstellation der Diskursproduktion wie noch in
Aufschreibesysteme 1800/1900, sondern als ein generatives Prinzip der Reproduk-
tion, dem Kittler ontologischen Status verleiht. Mit dem Dreischritt „die Materie,
das Mütterliche, das Stoffliche“ (Kittler und Raddatz 2012, S. 66) umschreibt
Menschen und Singvögel … 177
Kittler im Interview mit Raddatz 2010 sein Konzept der Substanz der Welt, das
laut ihm durch eine mit Platon einsetzende philosophische Materialitätsverges-
senheit aus dem Denken verdrängt werde, bis die Medien des 20. Jahrhunderts
ihr wieder Recht verschaffen.
Was in dieser Zwischenzeit des „strukturelle[n] Christentum[s]“ (ebd., S. 81)
aus Kittlers Sicht verleugnet wird, nennt er immer wieder ganz direkt Natur.
Wenn bei ihm im 20. Jahrhundert die Götter wiederkommen, deren 2000-jährige
Abwesenheit zwischen Platon und der musikalischen Spätromantik das ‚christli-
che Abendland‘ als verfallsgeschichtliche Episode konstituiert, sieht er darin so
auch nicht weniger als den historisch ersten direkten Zusammenfall von Natur
und Kultur. Dieses seinsgeschichtliche Ereignis wird bei Kittler in einem Pop-
song erreicht, der, wie einst Sappho, eine Wiese besingt. Da der Song nicht nur
ein Vokalalphabet zur Verfügung hat, sondern mit den Medien des 20. Jahrhun-
derts in einem „hoch professionelle[n] Londoner Tonstudio“ (Kittler 2012a, S. 18)
aufgenommen wird, kann dieser den Hain nicht nur in Lyrics besingen, sondern
dem Gesang zugleich Aufnahmen „stereophon gespeicherte[r] Naturgeräusche“
(ebd.) beimischen. Der Song, um den es geht, ist Grantchester Meadows von
Pink Floyds Album Ummagumma von 1969. Kittler schreibt über ihn folgendes:
„Aber weil der Sound nicht einfach eine von akustischer Gitarre begleitete Männer-
stimme ist, sondern ihr zugleich das Rauschen des Flusses, den Gesang der Lerche
und das Eintauchen des Eisvogels unterlegt, taucht Sapphos poetische Ortschaft mit
einem Mal wieder auf. Unter hochtechnischen Bedingungen lassen sich verschiedene
Soundtracks aufnehmen, verstärken und mischen, um die Signifikanten mit ihren Refe-
renten zu koppeln, die Musik mit ihrem Umweltrauschen. Zum ersten Mal in der
Geschichte tendiert der Riss zwischen Kultur und Natur gegen Null. Popsongs und
nur sie können sagen, dass wir zugleich Leiber und Seelen, Menschen und Singvögel
sind. Wie in Helmholtz’ großer Lehre von den Tonempfindungen erzeugt ein blauer
Eisvogel, der ins grüne Wasser taucht, kleine konzentrische Wellen, die immer schon
denen von Radio, Fernsehen und Langspielplatten gleichen. Unter hochtechnischen
Bedingungen sind Frequenzen keine Materialitäten mehr, sondern reine Information,
die sich in beliebigen anderen Frequenzen oder eben Medien umformen, modulieren
und speichern lässt.“ (ebd.)
Dass bei Kittler mit Grantchester Meadows der Riss von Natur und Kultur
geheilt wird, ist in mehr als einer Hinsicht eine interessante Pointe. Timothy
Morton wird in Ecology without Nature anhand desselben Songs Pink Floyd als
„masters of ambient psychedelic kitsch“ (Morton 2007, S. 127) identifizieren.
Dabei ordnet Morton ihre künstlerischen Strategien einer Tradition romantizisti-
scher Ökomimesis zu und weist unter anderem darauf hin, dass Roger Waters’
Lyrics von Grantchester Meadows eine Revision von Teilen des 1816 veröffent-
lichten Gedichtes Kubla Khan von Samuel Tayler Coleridge zu sein scheinen,
der zu den Gründern der englischen literarischen Romantik gezählt wird. Tat-
sächlich ist das Motiv eines zu überwindenden Risses zwischen Natur und Kultur
selbst ein romantisches und taucht als solches auch in Kittlers früheren Schrif-
ten auf – als durch liebevolle Alphabetisierung halluzinatorisch zu erreichendes
Bildungsziel des Aufschreibesystems 1800.
Wir erinnern uns: Die literarische Hermeneutik inauguriert bei Kittler eine
Substitutionsökonomie der inneren Ergänzung, um die diskrete Materialität von
Buchstaben zu Gunsten einer Illusion kontinuierlicher Übergänge von Lauten zu
Bedeuten vergessen zu machen. Denn Buchstaben, so zitiert Kittler Siegmund
Freud, „kommen ja in freier Natur nicht vor“ (Freud in Kittler 1985, S. 39). Es
ist die Mutterstimme, die diese „Naturalisierung des Alphabets über supplemen-
täre Sinnlichkeiten“ (Freud in ebd., S. 39) trägt. Mit ihr rechnet eine Pädagogik,
die als institutionalisierter Phonozentrismus (vgl. Derrida 1983) Signifikanten zu
Lauten und Laute zu Sinn „liquidiert“ (Kittler 1985, S. 140), also verflüssigt, um
einen „unartikulierten Anfang von Artikulation“ (ebd., S. 225) einzurichten. Die-
ser besteht in der psychotechnisch erreichten Illusion, das Medium der Schrift
in seiner radikalen Kontingenz und Äußerlichkeit gewaltlos aus einer Quelle
zu empfangen, die dann ‚Natur‘ oder ‚Frau‘ im Singular genannt wird: „Na-
tur, Liebe, Frau – im Aufschreibesystem von 1800 sind sie synonym“ (ebd.,
S. 90). Entscheidender Faktor dieses Arrangements ist das Prinzip der Mini-
malsignifikate, die ebenjenen Übergang vom Nichtartikulierten zum Artikulierten
als scheinbar natürliche Gliederung der Laute markieren, indem das Kontinuum
der Bedeutung bis in die Einzelsilben verlängert wird. Statt auf die diskrete
Kombinatorik von Signifikanten stoßen alle Zerlegungen auf unterbrechungslose
Augmentationen von Sinn.
Exemplarisch für die beschriebene Anordnung nennt Kittler in Aufschreibesys-
teme 1800/1900 unter anderem das pastorale Setting einer ABC-Fibel, die ihrem
pädagogischen Programm ein Gedicht voranstellt. Dieses erzählt den bruchlosen
Übergang eines Spaziergangs in der Frühlingssonne in die Welt der Signi-
fikanten, Bücher und Lektüren. Kittlers ironischer Kommentar erinnert selbst
ironischerweise an seine spätere Beschreibung von Grantchester Meadows: „Im
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Rauschen ist. Dieses Rauschen wird Kittlers zentraler Begriff seiner musikali-
schen und akustischen Schriften. In ihm koppelt er das Reelle aus Jacques Lacans
struktureller Psychoanalyse an die Störung der Informationstheorie und beides an
den mathematischen Zahlbereich der reellen Zahlen. Dabei ist es ein Begriff, der
zu einigem metaphorischen Gleiten tendiert, der selbst rauscht, und ein weites
konnotativ hoch aufgeladenes Feld aufruft, das bei Kittler insbesondere reich an
Wasser- und Luftmetaphern ist: Flüsse und Hauchen, Wehen und Meer.
Das Rauschen bei Kittler ist vor allem eins: es ist analog. Es markiert damit
nicht nur die absolute Grenze der Literatur, sondern auch die „internen Leis-
tungsgrenzen“ (Kittler und Virilio 2002, S. 155) einer Digitaltechnik, die Kittler
wie die Schrift der Dichtung als Teilmenge dessen bestimmt, was laut Kittler
ihr Objekt ist. Computer bei Kittler rechnen nicht nur, Computer berechnen die
Natur:
„Das Rauschen ist weiß Gott nichts Digitales. Es gibt auch keinen digitalen Rausch-
generator. Vielleicht kann es gar keinen geben. Das Rauschen hat mit reellen Zahlen,
mit dem Analogen und mit einigermaßen stetigen Prozessen zu tun. Der Körper gehört
bestimmt auch zu dieser Gattung von nicht in natürlichen sondern in reellen Zahlen
verfaßten Wesen. Die stillschweigende Unterstellung der Computerwelt und der Phi-
losophie, das Objekt dieser Berechnungsmaschine, die Natur, sei wie der Computer
letztlich digital verfaßt ist unhaltbar. Mit der digitalen Technologie sind die Dinge
nicht an ihren Endpunkt gekommen. Wenn die Natur keine Turingmaschine ist, dann
ist die, obwohl universal und diskret, nicht die Antwort auf alle Welträtsel. Alles was
jetzt unter dem Titel ‚paralleles Rechnen‘ in Umlauf ist, sind Approximationen an
nicht mögliche Analogtechnik.“ (Kittler und Maresch 1992, S. 6 f.)
Kittlers Rauschen als Natur, das hier zur Referenz auch der Digitaltechnik wird,
markiert in seinen Arbeiten ab den 1990er Jahren einen Hoffnungstopos und ein
Glücksversprechen – die Hoffnung, dass in den Berechnungen der uns laut Kittler
immer schon umstellenden und unsere Sinne strategisch unterlaufenden digitalen
Kriegsmaschinen ein Rest bleiben wird, der auf diskret-kombinatorischem Weg
uneinholbar ist. Dieser Rest, der uns bleibt, und der wir bleiben, weil er uns
als Körper umfasst, bedeutet in Kittlers späteren Schriften zunehmend das Leben
und Überleben selbst.2 Glück oder Heil, wie Kittler später schreibt, verspricht
2 „Es gibt im Grunde nur ein paar weitsichtige Physiker, die sagen, das Prinzip der Digi-
talisierung ist wunderbar, hat aber interne Leistungsgrenzen, die alle Werbung wegleugnet,
und die bestehen in dem schlichten Satz, daß die Natur selber kein Computer ist und daß
deshalb bestimmte komplexe Phänomene des Menschen, der Natur prinzipiell, außerhalb
der Berechenbarkeit des heute herrschenden Paradigmas liegen. Das ist eigentlich die ein-
zige vernünftige Hoffnung, die ich hegen kann, daß wir nicht am Ende der Weltgeschichte
angekommen sind.“ (Kittler und Virilio 2002, S. 155)
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die Möglichkeit, diesen Rest sinnlich direkt zu erfahren, in ihn einzutauchen und
damit Lust und Rechnen eins werden zu lassen – ein Rechnen, das mit reellen
Zahlen umgeht und die dem Diskreten laut ihm konstitutiv entgehende Mate-
rialität der Welt beschreiben kann. Es ist dieses Glück, das Kittler akustischen
Medien zuschreibt, weil sie laut ihm in der Reproduktion, Analyse und Synthese
von Frequenzen unseren Sinnen Welt als Rauschen oder ‚Umweltrauschen‘ direkt
zugänglich machen.
Nun stellt sich die Frage, wie Kittlers Rauschen als Natur sich zum Rau-
schen der Informationstheorie verhält. Denn Kittler scheint es weniger um die
konkreten Reibungen und materiellen Bremsungen von Flüssen durch Kanäle zu
gehen, die etwa Michel Serres in seiner ebenfalls die Informationstheorie rezi-
pierenden Schrift Der Parasit als Prinzip des Rauschens als Störung beschreibt3 ,
sondern um das Subsummiert- und Aufgehoben-Sein in etwas, das nicht aufhören
wird zu strömen. Um die Tatsache also, dass jeder Kanal immer schon als Teil-
menge eines Flusses beschreibbar ist. Kittlers Differenz von Symbolischem und
Reellem beschreibt keine spezifischen medialen Relationen, sondern einen Riss,
dessen Offenheit Unmittelbarkeit verspricht. So werden bei Kittler nicht nur die
literarische Hermeneutik, sondern auch die philosophische Ästhetik und in letzter
Konsequenz die Künste selbst im historischen Moment technischer Reproduzier-
barkeit von Licht und Schall im Grunde obsolet, weil Kittler ihre Strategien als
Ausschnitte einer allgemeinen technischen Beschreibbarkeit identifiziert, die laut
ihm zu Beginn des 20. Jahrhunderts von analogen Medien freigesetzt wird.
„Der Grund liegt in den unscheinbaren mathematischen Gleichungen, mit denen unter
Medienbedingungen alle Paramater aller Musik anschreibbar gemacht worden sind.
Diese Gleichungssysteme, auch wenn sie für einzelne hochstufige Ebenen von Musik
noch unvollständig sein mögen, sind auf so elegante und triviale Art richtig, daß
keine Geschichte und keine Philosophie an ihnen noch irgend rütteln könnten. Es
gibt mithin keine absehbare Möglichkeit, diese Gleichungssysteme […] durch andere
Bestimmungen abzulösen, sondern nur die Möglichkeit, sie wie in der Mathematik
üblich, in noch allgemeinere Theoreme zu integrieren. Es kann fernerhin auch keine
Musik geben, die solchen Messungen und Algorithmen entginge, wie das die nicht-
europäischen Musiken unter Bedingungen philosophischer Ästhetik durchaus getan
3 „Gegeben seien zwei Stationen und ein Kanal. Sie tauschen, wie man sagt, Nachrichten aus.
Wenn die Beziehung glückt, perfekt, optimal, unmittelbar, dann hebt sie sich als Beziehung
auf. Wenn sie da ist, existiert, so weil sie mißlungen ist. Sie ist nur Vermittlung. Die Relation
ist die Nicht-Relation. Und eben dies ist der Parasit. Der Kanal trägt den Fluß, aber er kann
sich als Kanal nicht aufheben, und er bremst den Fluß mehr oder weniger. Vollkommene,
optimale, gelungene Kommunikation bedürfte keiner Vermittlung. Der Kanal verschwände
in der Unmittelbarkeit. Es gäbe gar keine Transformationsräume mehr. Wo Kanäle sind, ist
auch Rauschen. Kein Kanal ohne Rauschen.“ (Serres 1987, S. 120)
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haben. Im Gegenteil, die europäische Musik und ihre Philosophien schrumpfen nach-
träglich zu Teilmengen einer allgemeinen Meßbarkeit, die es erst erlaubt, ihnen Platz
und Grenzen zuzuweisen.“ (Kittler 1995, S. 84)
Anders als Serres interessiert sich Kittler nicht für die konkreten Verhältnisse
von Energie und Information, die das verlustreiche Generieren spezifischer Daten
aus dem Rauschen beschreiben, sondern für retrograd verabschiedete und damit
gleichsam stillgestellte Filtermengen eines vorgängigen Strömens, welches ein
Erlösungsversprechen unmittelbarer Erfahrbarkeit absichert. Diese Emphase des
Ausschnitthaften führt zu spezifischen Unschärfen, die sowohl sein Medien- als
auch sein Kunstverständnis betreffen. So verunklart Kittlers Emphase akustischer
Reproduktion die Medialität der Mechanismen musikalischer Produktion. Denn
in welchem Verhältnis die operationalen Verfahren der Erzeugung von Musik zu
ihrer Beschreibbarkeit als akustisches Phänomen stehen bleibt hier offen. Dabei
trägt ironischerweise gerade Kittlers emphatisch materialistische Perspektive auf
eine allgemeine Messbarkeit, indem diese vor allem als Markierung der Begrenzt-
heit der menschlichen Perzeption (und verschiedener ästhetischer Verfahren) als
‚Teilmenge‘ eingesetzt wird, einen repräsentationalistischen Kunstbegriff. Denn
Kittler proklamiert eine defacto Konkurrenz von Musik und Akustik, indem er das
Ziel von beidem darin identifiziert, Geräusche zu speichern und zu manipulieren.4
Kittlers Differenzierung von Musik und Technik als zwei konkurrierende Verfah-
ren einer Beschreibung der Welt wird dabei etabliert, indem eine Beschränkung
von ‚Künsten‘ auf symbolische Verfahren betont wird:
„Wahrscheinlich liegt die Autonomie und Folgenlosigkeit der Künste eben darin, daß
sie auf der Basis von endlichen Codes arbeiten. […] Die Musik manipulierte keine
Zufallsgeräusche dieser Erde, geschweige denn das Rauschproblem analoger Simu-
lationen. Beides hätte sie mit Unendlichkeiten konfrontiert. Statt dessen schrieb der
Komponist einen aus dreißig erlaubten Akkorden und wußte dabei schon, welchem
anderen Akkord er vorhergegangen sein würde. […] Aber dieser Prozeß, zumindest
bei Literatur und Musik, lief allein im Code, in dem, was Lacan das Symbolische
genannt hat.“ (Kittler und Rötzer 1989, S. 109 f.)
4 „Niemand kann die Sterne selber manipulieren. Eben deshalb manipulierte die Lyrik das
entsprechende Wort: sie brachte die ‚Sterne‘ in Versfüße einer Alltagssprache und reimte sie
auf ‚Ferne‘. Nicht viel anders reduzierte die Musik reale Klänge oder gar Geräusche, weil
sie so nicht speicherbar waren, auf Intervalle. Nur so kam der Klang auf Papier oder auf die
Klaviertastatur, die ja das Notenintervallpapier nochmal war. Nicht viel anders schließlich das
Tafelbild, das dreidimensionale Gegenstände zweidimensional auf die Leinwand und ihren
Rahmen abbildete. Für die Wahrnehmung der Kunstkonsumenten jedenfalls blieb immer
meßbar, daß Fiktion vorlag und nicht daß, was sie fingiert.“ (Kittler und Rötzer 1989, S. 108)
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Dass Musik ein medial beschränkter Versuch ist, die Geräusche der Welt zu repro-
duzieren ist jedoch keinesfalls selbstverständlich. So scheint es auffällig, dass
als ‚Zusammenfall von Natur und Kultur‘ in Das Nahen der Götter vorbereiten
ein Musikstück thematisiert wird, das mit Field Recordings von Vogelzwitschern
arbeitet – und nicht etwa die Generierbarkeit beliebiger Frequenzen im Syn-
thesizer. Letzteres hätte in Kittlers argumentativem Framework durchaus Sinn
gemacht. Denn bei analogen Synthesizern handelt es sich schließlich um nichts
anderes als um musikalisch implementierte Analogcomputer, die Spannungen mit
Spannungen steuern (vgl. Enders 2005, S. 29). Synthesizer sind mithin eine ein-
fache Version jener laut Kittler noch ‚nicht möglichen Analogtechnik‘, die laut
ihm anders als digitale Computer verlustlos mit dem Rauschen der Natur rechnen
kann. Wenn in Grantchester Meadows Frequenzen laut ihm nicht mehr Materiali-
täten sind, sondern ‚reine Information‘, verweist Kittler aber nicht auf die analoge
Synthese, sondern auf die Aufzeichnung von ‚Naturgeräuschen‘. Kittler offenbart
hier eine spezifische Tendenz zu einer referentiellen Ästhetik.5 Diese wird nicht
zuletzt durch sein emphatisch indexikalisches Konzept medialer Aufzeichnung
als Spurensicherung vorgängiger Datenströme ermöglicht, welches die Spezifik
der sensorischen Generierung und Zurichtung besagter Daten zu Gunsten der
Betonung einer Kontinuität der Signale zurückstellt. Sensoren wie das Mikro-
phon ermöglichen bei Kittler, dass die Natur gewaltlos und scheinbar frei von
technischen Entstellungen in die Maschinen zieht:
„In der Informatik unterwirft man keine Natur. Man nimmt sie, wie sie kommt, als
Input. Sie wird weder unterworfen noch tyrannisiert. Man ist froh über jedes Mikro-
fonsignal, das man meinetwegen musikalisch auch noch bearbeiten kann, indem man
den tausend existierenden Instrumenten noch fünfundzwanzig andere dazwischen
hinzufügt – der Trick am Synthesizer.“ (Kittler und Maresch 1992, S. 9)
Aufzeichnungsmedien am Werk sind, die Field Recordings (ob von Wiesen oder
Städten, Bächen oder Straßenlärm) anfertigen. Kittler fragt nicht, was es heißt,
dass der Vogelsound in Grantchester Meadows im Loop läuft, oder welche media-
len Räume die Stereophonie zwischen Mikrofonumgebung, Mehrkanaltechnik
und Lautsprecherkonstellation konkret erzeugt. Es geht nicht um die Verfah-
ren der Dämmung und Leitung, Adressierung und Steuerung, die in analoger
und digitaler Technik damit beschäftigt sind, spezifische Übergänge und Rela-
tionen zwischen Messen und Zählen, Rauschen und Information, Frühlingserde
und Buchstaben einzurichten. Es geht um eine angemessene Form der Repro-
duktion dessen, was Kittler unter Welt versteht. Kittler wählt ein Beispiel, das
einen Darstellungs-Bezug aufweist. Ihm geht es darum, hörbar (und sichtbar) zu
machen, was laut ihm jenseits eines bestimmten Verständnisses von Signifikation
liegt und liegen muss, weil gerade diese Jenseitigkeit Heil verspricht.
So ist Kittlers Rauschen der Welt tatsächlich eher Natur im romantischen
Sinn als Umwelt im ökologischen (vgl. Morton 2007, S. 2 ff.; Sprenger 2014,
S. 7 ff.). Dabei behalten die Bezüge von Kunst und Medien auf diese Natur bei
Kittler trotz und wegen seiner emphatisch antihumanistischen Hinweise auf die
Begrenztheit menschlicher Perzeption ein ambivalentes Verhältnis zur Wahrneh-
mung. Denn für Kittler sind weniger konkrete Verhältnisse von Messbarkeit und
Perzeption – Akustik und Psychoakustik, Optik und Visualität – von Interesse,
sondern eine spezifische Problematisierung menschlicher Erkenntnis, die er in sei-
ner Mediensystematik anhand der Kategorie des Imaginären verhandelt: Kittler
will ein Hören jenseits des Verstehens6 , und ein Sehen jenseits der Gestalter-
kennung7 . Erst wenn die laut ihm zu überwindende menschliche Neigung in der
Welt immer nur sich selbst zu erkennen aus der Gleichung genommen wird zeigt
sich für Kittler „eine Natur, die kein Menschenauge je zuvor als Ordnung erkannt
hatte“ (Kittler 2002, S. 297): in Datenströmen, die zwischen der Welt und den sie
6 Es ist der Phonograph, das laut Kittler so hört – ohne Bewusstsein: „Die Eigenschaft
Bewußtsein, die Guyau dem Gehirn zuschreibt, um es als einen unendlich vervollkommneten
Phonographen zu feiern, würde ganz im Gegenteil zu einem unendlich schlechten führen.
Statt die akustischen Zufallsereignisse, die gerade zum Schalltrichter dringen, in aller Entro-
pie und Echtzeit zu hören, würde Guyaus bewußter Phonograph sie verstehen wollen und
damit verfälschen. Unterschobene Identitäten oder Bedeutungen oder gar Bewußtseinsfunk-
tionen kämen wieder ins Spiel. Daß der Phonograph nicht denkt, ist seine Ermöglichung.“
(Kittler 1986, S. 55 f.)
7 „Alle Phänomene der Gestalterkennung laufen bei Lacan unter dem methodischen Titel des
Imaginären und zwar mit der Pointe, daß sie ebenso automatisch wie trügerisch sind.“ (Kittler
2002, S. 39)
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8 „…also, wovon ich träume, ist, daß die Maschinen, vor allem die jetzige und intelligente
Maschinenzeit, wie sie Turing 1936 im Geist erfunden hat, daß die gar nicht für uns Menschen
so sehr ist, wir sind sozusagen viel zu groß gebaut, sondern daß sich da die Natur, dieser
leuchtende erkennende Teil der Natur mit sich selbst rückkoppelt.“ (Kittler und Kluge 2002,
S. 270)
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als digitalen Höhepunkt der Kunstgeschichte identifiziert, finden die doch, wie
er 1989 im Interview mit Kunstforum zugibt, „selbst manche Mathematiker kit-
schig“ (Kittler und Rötzer 1989, S. 109). Und nicht umsonst ist es eine bestimmte
Achse musikalischer Verfahren, für die Kittler sich bis zuletzt besonders interes-
siert: effektintensive Rockmusik als elektronische Verwirklichung dessen, was er
als Träume der Romantik identifiziert. Kittler schreibt seit der zweiten Hälfte der
1980er Jahre nicht mehr über die musikalischen Avantgarden. Auch die künst-
lerischen Avantgarden wertet er ab – als marktförmig. Medienstatus erkennt er
neben Mandelbrots „Wolken und Ufer[n], Korallen und Schwämme[n]“ (ebd.) der
figurativen Malerei weiblicher Modelle zu, indem er diese als Anwendung einer
erotischen Optik durch eine männlich und heterosexuell identifizierte Camera
Obscura einsetzt. Es sind junge Frauen als Verkörperung der Physis selbst, deren
Münder Kittler im „Fluchtpunkt des Begehrens“ (Kittler 2002, S. 12) platziert –
so wie Jan Vermeers Mädchen mit dem roten Hut im Vorwort zur russischen
Übersetzung von Optische Medien, denn: „Wozu ward die Perspektive denn
erfunden?“ (ebd.).
„Sie blickt uns an – und nicht wir sie. Sie ist nicht klassisch schön, mehr wie eine
Neunzehnjährige aus den Niederlanden, damals als die Mädchen erst mit vierzehn
menstruierten. Ihre Augen bleiben klein und schmal. Dafür ihr Mund. Sie hat geküßt,
schon mehr als einen Mann. Sie hat geliebt und liebt auch jetzt. Sonst würde sie
den Maler nicht so sinnlich anschaun. Kunst, die denkt, ist immer Kunst, die ihr
Zusammenspiel mit Medien weiß und freilegt. In Medien geborgen, läßt sie die Physis
sich entbergen. Alles andere, seit Picasso, Warhol und Konsorten nennen wir den
Marktwert.“ (ebd.)
Es sei hier nicht unkommentiert, dass dieses Zitat, das ein Mädchen im Tee-
nageralter sexualisiert, in mehr als einer Hinsicht problematisch ist.9 Dabei ist
die Provokation des offen ausgesprochenen Begehrens in eine diskursive Kon-
stellation eingetragen, die möglichen Widerspruch als Teil einer Kopplung von
Puritanismus und Kapitalismus vereinnahmt, die Kittler in seinen späten Schrif-
ten immer wieder als spezifisch US-amerikanisch identifizieren wird.10 Kittlers
klare Abgrenzung von den als ökonomisch abgewerteten Avantgarden ist, wie
9 Es ist nicht die einzige Stelle in Kittlers späterer Arbeit, die sich der Frage der sexuellen Reife
von Teenagermädchen widmet. „Bei Tokio Hotel muss es ganz furchtbar sein. Die Mädchen
werden immer jünger und ziehen immer lieber ihre Slips aus. Schon mit 14, habe ich mir
erzählen lassen.“ (Kittler und Raddatz 2012, S. 73)
10 „Für einen historischen Moment fegten Englands Popmusiker alles hinweg, was die kapi-
schon erwähnt, nicht von Beginn seines Schreibens an klar. Autor*innen, die
Kittlers Konzepte für ihre eigenen Arbeiten produktiv machen konnten, haben
seine Begriffe durchaus für medienwissenschaftliche Annäherungen an die musi-
kalischen Avantgarden eingesetzt, etwa um kombinatorische Verfahren bei John
Cage zu analysieren (Sanio 1995, S. 50). Auch in Kittlers frühen Schriften, die im
Sammelband Baggersee veröffentlicht sind, geht es neben Richard Wagner, Pink
Floyd und Jimi Hendrix zudem um Arnold Schönberg (Kittler 2015, S. 41 f.).
Noch in Aufschreibesysteme widmet Kittler der Zwölftonmusik einen andert-
halbseitigen Exkurs, in dem er Schönbergs Technik als symbolisches Medium
des Aufschreibesystems 1900 bestimmt und damit als diskret-kombinatorisches
protodigitales Verfahren, das einen Bruch mit der Romantik ausbildet, denn: „Per-
mutationen von Permutation […] schneiden jeden Naturbezug ab“ (Kittler 1985,
S. 254).
Diese Möglichkeit eines (referenzlosen) digitalen musikalischen Paradigmas,
das die eigene Zeichenlogik durchrechnet statt Kontinuitäten zu Vogelzwitschern
und Wasserrauschen zu simulieren, wird Kittler nach Aufschreibesysteme nicht
verfolgen. Kittler schreibt weder über musikalische Kombinatorik (für die neben
Schönberg und Cage auch die Barockmusik ein naheliegender und in Aufschrei-
besysteme sogar angedeuteter Gegenstand wäre (ebd., S. 58) noch über die
materiellen Texturen abstrakter Synthesizer-Experimente (möglicher Gegenstand
eines referenzlosen Noise-Konzeptes) oder die Ökologie-Konzepte der Environ-
mental Music (möglicher Gegenstand eines referenzlosen Umwelt-Konzeptes).
Kittler schreibt davon, dass Liedtexte in Musikdramen und Rockmusik die Natur
als Rauschen besingen, und dass akustische Medien dieses Rauschen hörbar
machen und verewigen. Ähnlich wie in Optische Medien erscheint die physi-
sche Welt in Kittlers späten der Musik gewidmeten Schriften dabei vor allem
in zwei Figurationen: als Meereswellen – und das heißt als jenseits menschli-
cher Gestalterkennung mathematisch beschreibbares Rauschen. Und als schöne
junge Frauen im Fluchtpunkt eines Begehrens, das Kittler abseits des Marktes
positioniert. Diese beiden Pole konstituieren dabei keine spezifischen medialen
Relationen, sondern die Hoffnung auf Erlösung durch eine im Rauschen immer
schon enthaltene Ordnung, deren unmittelbarer Auf- und Untergang Kittlers spe-
zifisches Heilsversprechen ist. Daten werden in Kittlers späten Schriften nicht
gemacht, sie werden freigelegt und strömen in die Speicher. Man kann sie als
reine Informationen genießen, oder mit ihnen im Rauschen ertrinken. Beides
geschieht verlustlos.
dürfen nie vergessen, dass frömmste Puritaner, weil sie aus merry old england fliehen mussten,
ihr Schreckensregiment stattdessen als die USA errichtet haben.)“ (Kittler 2012a, S. 26)
Menschen und Singvögel … 189
5 Aufgehen, Untergehen
11„Wie schon Friedrich II., Kaiser von Deutschland und König von Sizilien, so treffend
bemerkte, beweist die Natur, dass jegliches Wesen auf Erden nur aus der Vereinigung eines
Mannes und einer Frau entstehen kann. […] Von den Göttern zu unseren Eltern, von ihnen
zu uns und den Kindern – nicht anders läuft die große Kette des Seins.“ (Kittler 2012a, S. 19)
190 M. Haffke
13 Dabei erinnert die von Kittler zitierte Stelle seines Lehrers Johannes Lohmann über das
pythagoreische Komma mehr an Serres Definition des Rauschens als an Kittlers: „Die Irratio-
nalität dieses geometrischen Mittels ist die Bedingung der Möglichkeit von Musik überhaupt
(und nicht irgendwelche technischen Apparaturen, psychologische Motivationen oder physi-
kalische Formeln, wie die modernen Positivisten meinen) – die nichts weiter tut, als diesen
irrationalen Punkt in Näherungswerten zu ‚umspielen‘ –, ihre ‚raison d’être‘. ‚Gäbe‘ es die-
sen irrationalen Punkt anders als im unendlichen Spiel der Näherungswerte, so würde sie mit
einem Schlage dahinfallen!“ (Lohmann 1970, S. 77)
14 „An den Ufern des Swanee River, nur zum Beispiel, verewigte Edisons Phonograph nicht
nur den gleichnamigen Blues und die N****, die ihn sangen; auch die Maschinengeräusche
des Dampfboots und der Fluss selber waren zu hören.“ (Kittler 2012a, S. 23)
192 M. Haffke
Kittler proklamiert, durch den Mitschnitt bleibe die „kompositorische Seite von
Musik der mechanischen Aufzeichnung selber überlassen“ (Kittler 2013, S. 37)
identifiziert er die Produktion von Musik direkt mit ihrer Reproduktion.
Damit wird die Agency und Autor*innenschaft von historisch marginalisierten
Musiker*innen aberkannt. Diese argumentative Strategie zeigt die Limitierung
von Kittlers Theorie auch dann, wenn das vermeintliche ‚Analphabetentum‘
romantisiert wird. Denn die Terminologie des ‚Analphabetischen‘, die in Anleh-
nung an Kittlers Alphabetisierungsthese aus Aufschreibesysteme auf eine angeb-
liche Abwesenheit von Signifikation als Bedingung materieller Fülle verweist,
nimmt rassistische Zuschreibungen in Kauf und verdeckt die komplexe Mediali-
tät und Materialität der tatsächlichen kompositorischen Verfahren von Jazzmusik
zugunsten einer Metaphorik freien Flusses. Kittlers problematischer Zugriff auf
Jazz verweist wie seine Geschlechterordnung auf die grundsätzliche Problematik
eines Medienbegriffes, der das Konzept einer Reproduktion vorgängigen Strö-
mens an die Frage einer vermeintlichen An- oder Abwesenheit von ‚Bewusstsein‘
knüpft und diese Kopplung naturalisiert und ontologisiert. Ungeachtet möglicher
Intentionen Kittlers entbehren seine Bezugnahmen auf Jazz einer Einsicht in des-
sen mediale Produktion und erkennen letztlich den Nachkommen der Sklaverei de
facto das Bewusstsein ab – nur so kann sich das Begehren des weißen männlichen
Autors nach Selbstauslöschung formulieren.
Auch Kittlers Romantisierung psychischer Erkrankungen ist in dieser Hin-
sicht problematisch. Diese werden ebenfalls als Quelle materiellen Rauschens
identifiziert, wie im Fall der als „Hirnschaden-Musik“ (Kittler 2012b, S. 54)
bezeichneten Arbeit des psychisch erkrankten Syd Barret mit der Band Pink
Floyd. Nicht erst Kittlers philhellenische Ursprungsphantasie seiner späten Schrif-
ten zeigt also, dass Systematik und Begriffsarbeit seiner Theorie von ihren
politischen Implikationen nicht zu trennen sind. Sie betreffen die Bedingun-
gen der Möglichkeit seines Medienbegriffes. So scheitert Kittlers vermeintliche
Anthropozentrismuskritik schon daran, die Vergeschlechtlichung und Rassifizie-
rung des ‚Menschen‘, den es auszutreiben gelte, zu erkennen: nicht alle können
bei Kittler ertrinken, manche werden zu Wasser erklärt. Es ist nicht zuletzt diese
Invisibilisierung seiner eigenen Konstruktionen, die in der Gegenüberstellung von
Materialität und Signifikation als absolute Differenz (und nicht als Relation) eine
Wiedereinführung jener Repräsentationslogiken ermöglicht, die Kittler zu verab-
schieden vorgibt. Möchte man, wie die Sound Studies, mit Kittler arbeiten, ist
dies zu bedenken. Nicht jeder Materialbegriff gibt ein Medienkonzept.
Menschen und Singvögel … 193
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194 M. Haffke